Das Geschlecht bin ich: Vergeschlechtlichte Subjektwerdung Jugendlicher [1. Aufl.] 9783658308902, 9783658308919

Anhand von schulischen Geschlechtertauschritualen zeichnet die empirische Studie diskursive Mechanismen nach, durch die

269 141 2MB

German Pages IX, 258 [266] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung (Judith Conrads)....Pages 1-13
Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung (Judith Conrads)....Pages 15-28
Theoretische Einbettung: poststrukturalistische Perspektiven auf Geschlecht und Subjektwerdung (Judith Conrads)....Pages 29-52
Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen (Judith Conrads)....Pages 53-80
Analytische Darstellung der Ergebnisse: Erzählungen und Maßnehmen rund um Geschlecht und Selbst (Judith Conrads)....Pages 81-212
Diskussion der Ergebnisse: Vergeschlechtlichte Subjektivierung als geschlechtliche Selbstregulierung (Judith Conrads)....Pages 213-237
Back Matter ....Pages 239-258
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Das Geschlecht bin ich: Vergeschlechtlichte Subjektwerdung Jugendlicher [1. Aufl.]
 9783658308902, 9783658308919

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Geschlecht und Gesellschaft

Judith Conrads

Das Geschlecht bin ich Vergeschlechtlichte Subjektwerdung Jugendlicher

Geschlecht und Gesellschaft Band 76 Reihe herausgegeben von Beate Kortendiek, Essen, Deutschland Ilse Lenz, Bochum, Deutschland Helma Lutz, Frankfurt, Deutschland Michiko Mae, Düsseldorf, Deutschland Michael Meuser, Dortmund, Deutschland Ursula Müller, Bielefeld, Deutschland Birgit Riegraf, Paderborn, Deutschland Katja Sabisch, Bochum, Deutschland Susanne Völker, Köln, Deutschland Heidemarie Winkel, Bielefeld, Deutschland

Geschlechterfragen sind Gesellschaftsfragen. Damit gehören sie zu den zentralen Fragen der Sozial-und Kulturwissenschaften; sie spielen auf der Ebene von Subjekten und Interaktionen, von Institutionen und Organisationen, von Diskursen und Policies, von Kultur und Medien sowie auf globaler wie lokaler Ebene eine prominente Rolle. Die Reihe „Geschlecht & Gesellschaft“ veröffentlicht herausragende wissenschaftliche Beiträge aus der Frauen- und Geschlechterforschung, die Impulse für die Sozial- und Kulturwissenschaften geben. Zu den Veröffentlichungen in der Reihe gehören neben Monografien empirischen und theoretischen Zuschnitts Hand- und Lehrbücher sowie Sammelbände. Zudem erscheinen in dieser Buchreihe zentrale Beiträge aus der internationalen Geschlechterforschung in deutschsprachiger Übersetzung. Die Herausgeber_innen der Buchreihe „Geschlecht & Gesellschaft“ freuen sich über Publikationsangebote. Angenommene Manuskripte werden redaktionell betreut. Bitte senden Sie Ihre Projektanfragen an [email protected] oder an [email protected].

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12150

Judith Conrads

Das Geschlecht bin ich Vergeschlechtlichte Subjektwerdung Jugendlicher

Judith Conrads Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland Zugleich Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum 2019

ISSN 2512-0883 ISSN 2512-0905  (electronic) Geschlecht und Gesellschaft ISBN 978-3-658-30890-2 ISBN 978-3-658-30891-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30891-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Coverabbildung: Kathrin Ahäuser Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung

In diesem Moment, der am Ende eines mehrjährigen intensiven Arbeitsprozesses steht, blicke ich voller Dankbarkeit auf unzählige Erfahrungen des solidarischen Miteinanders und kollegialen Austauschs in verschiedensten fachlichen Zusammenhängen und wissenschaftlichen Netzwerken zurück, die diese Zeit für mich besonders geprägt und mir verdeutlicht haben, wie wichtig es auch und vielleicht gerade in der Wissenschaft ist, sich wertschätzend zu begegnen, in kritisch-kon­ struktiven Dialog zu treten und gemeinsam an einer lebendigen und demokratischen Wissenschaftskultur zu arbeiten. Von den vielen wertvollen Begegnungen können an dieser Stelle nur die herausragendsten genannt werden. An erster Stelle gilt mein Dank meiner Betreuerin und Erstgutachterin Prof. Dr. Katja Sabisch, die mich in meinem Promotionsvorhaben von Beginn an durch ihre fachlichen Anregungen und die zugewandte Betreuung motiviert und unterstützt hat. Mein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Jessica Pflüger für die Übernahme des Zweitgutachtens und den motivierenden Zuspruch in der Abschlussphase der Dissertationsanfertigung. Ohne die jugendlichen Teilnehmenden der Gruppendiskussionen und ihre Offenheit für mein Forschungsanliegen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen, ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Für den intensiven und ungemein bereichernden kollegialen Austausch möchte ich mich in besonderem Maße bei Dr. Christiane Bomert bedanken. Ebenfalls gilt mein Dank für den konstruktiven kollegialen Austausch Dr. Judith von der Heyde, Florian C. Klenk und Dr. Heike Mauer. Auch den Teilnehmenden des Promotionskolloquiums von Prof. Dr. Katja Sabisch bin ich für die stets vertrauensvollen und konstruktiven Sitzungen sehr dankbar. Für die kollegiale und freundschaftliche Unterstützung möchte ich mich bei Dr. Jenny Bünnig bedanken sowie bei meinen weiteren ehemaligen Kolleg_innen der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW, Ulla Hendrix, Jeremia Herrmann, Dr. Meike Hilgemann, Dr. V

VI

Danksagung

Nicole Justen, Jennifer Niegel, Dr. Uta C. Schmidt und Felicitas Schulze; ebenfalls gilt mein Dank Prof. Dr. Anne Schlüter. Dr. Beate Kortendiek drücke ich von Herzen meinen Dank aus, die den Promotionsstein ins Rollen gebracht und insbesondere die ersten Schritte unterstützend begleitet hat. Prof. Dr. Christiane Kunst und Prof. Dr. Helen Schwenken danke ich für die verständnisvolle Unterstützung, die mir den Abschluss der Dissertation auch neben fortlaufender Erwerbsarbeit erleichtert hat. Für die kollegiale Unterstützung gilt mein großer Dank in diesem Zusammenhang Sebastian Bracke. Prof. Dr. Marnina Gonick danke ich herzlich für die Gastfreundschaft und die fachlichen Anregungen. Dr. Mechthilde Vahsen möchte ich für das sorgfältige Lektorat danken. Meinen Eltern Riccarda Thieme-Conrads und Wilhelm Conrads danke ich von ganzem Herzen für ihre unermüdliche und tatkräftige Unterstützung während der gesamten letzten Jahre. Auch Marianne und Josef Lorei sei herzlich gedankt für ihre stetige Unterstützungsbereitschaft. Daneben schließt mein Dank auch meine Freund_innen ein, die mich auf dem Weg zur vorliegenden Arbeit begleitet, bestärkt und aufgemuntert haben. Und schließlich gilt mein inniger Dank Mark Lorei, meinem geduldigen und ermutigenden Begleiter während der gesamten Promotionszeit mit all ihren Höhen und Tiefen – auch wenn im Rückblick glücklicherweise vor allem die Höhen in Erinnerung bleiben.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Erkenntnisinteresse, theoretische Verortung und Fragestellung . . . . . . 3 1.2 Empirischer Kontext: Geschlechtertausch im Rahmen der schulischen „Mottowoche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Aufbau und Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.4 Vorangestellte Reflexionen zur eigenen Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Traditionslinien sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung . . . 2.2 Aktuelle Brennpunkte sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Jugend im Fokus sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Perspektivgewinn Subjektivierungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Implikationen für den eigenen Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theoretische Einbettung: poststrukturalistische Perspektiven auf Geschlecht und Subjektwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Macht, Wissen und Diskurs – die Hinterfragung des Selbstverständlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Subjektwerdung als diskursiver Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Geschlecht und Sexualität als Diskursprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Diskursivierung der (Geschlechts-)Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zusammenführung: die Dekonstruktion vergeschlechtlichter Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 18 20 25 27 29 30 35 43 48 51

VII

VIII

Inhalt

4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . 4.1 Begründung der Forschungsperspektive und Methodik . . . . . . . . . . . 4.2 Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Gruppendiskussionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Grounded-Theory-Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Forschungspraktische Umsetzung: zirkulärer Forschungsprozess . . . 4.3.1 Der Mottotag „Geschlechtertausch“ als empirischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Erhebung der empirischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Auswertung der empirischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Das Sample der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 53 56 57 61 65 65 69 73 77

5 Analytische Darstellung der Ergebnisse: Erzählungen und Maßnehmen rund um Geschlecht und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5.1.1 Geschlecht ist, was du fühlst – diskursive Verlagerung des Geschlechtskerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 5.1.2 Flexible Hülle: der gestaltbare Geschlechtskörper . . . . . . . . . . . 88 5.1.3 Die Figur der Trans* Person als flexible_r Andere_r . . . . . . . . . 94 5.1.4 Jenseits der Zweigeschlechtlichkeit oder „etwas dazwischen“: diskursive Möglichkeitsräume geschlechtlicher Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5.1.5 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . 109 5.2.1 Anders, aber extra – geschlechtliche Non-Konformität als bewusste Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.2.2 Cis by choice, cis by chance – legitime Cis-Geschlechtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.2.3 Wo es bröckelt … Risse in der Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 5.2.4 Das Paradox der tolerierenden Ablehnung . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5.2.5 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung . . . . . . . . 135 5.3.1 Ich bin ich – und das ist auch gut so: das souveräne Selbst und sein Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.3.2 Wer suchet, die_der findet? Dem geschlechtlichen Selbst auf der Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Inhalt

5.3.3 Das leidende Ich und das authentische Ich – geschlechtliche Selbstverwirklichung zwischen Instinkt und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Exkurs: Das Ich auf Arbeit – Perspektiven auf Geschlecht und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Zwischen Klischee und ‚Wahrheit‘ – polarisierte Zweigeschlechtlichkeit als zentraler Maßstab . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Von süßen Mädchen und coolen Mackern: geschlechtsspezifische Handlungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Endstation Mutterschaft: Reproduktion als diskursive Geschlechtergrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Das Miley-Cyrus-Syndrom: adäquate Geschlechtlichkeit und prekäre Weiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Theoretisches Modell der geschlechtlichen Selbstregulierung . . . . . . 6 Diskussion der Ergebnisse: Vergeschlechtlichte Subjektivierung als geschlechtliche Selbstregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zentrale analytische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Analytische Beobachtung I: Von der biologisch fixierten Geschlechtlichkeit zum geschlechtlichen Gestaltungsimperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Analytische Beobachtung II: Paradoxe Gleichzeitigkeit von Desartikulation und Relevanzsetzung von Geschlechterdifferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Analytische Beobachtung III: Individualisierung der Verantwortung – Gender Agency zwischen Autonomie und Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Analytische Beobachtung IV: De-Thematisierung von Diskriminierung durch hetero-advokatorische Toleranz . . . 6.1.5 Zusammenführung der Beobachtungen: Das Verhältnis von Subjekt und Struktur als Verdeckung von Macht und Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

148 156 162 163 164 176 188 197 210 210 213 215 215 218 220 224 228 232

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 IX

Einleitung 1 Einleitung 1 Einleitung

1

Ambivalenzen, Ungleichzeitigkeiten, Widersprüche, Spannungen, Paradoxien – die Liste der Bezeichnungen, die in sozialwissenschaftlichen Diskussionen für eine Beschreibung der gegenwärtig diagnostizierten Geschlechterverhältnisse und -konzeptionen herangezogen werden, ist lang. Sie beziehen sich auf die Beobachtung, dass einer als weitgehend durchgesetzt angesehenen Gleichheitsnorm und einer zunehmend verbreiteten Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt auf der einen Seite anhaltende geschlechtsbasierte Ungleichheiten und eine hierarchische gesellschaftliche Strukturierung anhand der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit auf der anderen Seite gegenüberstehen (vgl. u. a. Lenz/Evertz/Ressel 2017b; Rendtorff/Riegraf/Mahs 2019a). Es lassen sich also gegenwärtig sowohl Gleichstellungserfolge und eine Pluralität von Lebensformen und Seinsweisen feststellen als auch Dynamiken einer Retraditionalisierung von Geschlechterverhältnissen und fortbestehende Hierarchisierungen entlang von Geschlechterdifferenzierungen und Sexualitätskategorisierungen. Im Konkreten lässt sich das exemplarisch auf verschiedenen Ebenen veranschaulichen: Die bipolarisierte und kommodifizierte Einteilung in Prinzessin-LillifeeMädchen und Käpt’n-Sharky-Jungen scheint in geradezu paradoxer Weise den Girls’ und Boys’ Days gegenüberzustehen, in denen Kinder und Jugendliche an jeweils ‚geschlechtsuntypische‘ Berufe herangeführt werden sollen (vgl. u. a. Mahs/ Rendtorff/Warmuth 2015; Faulstich-Wieland 2014). Trotz zunehmender Bildungserfolge von Mädchen* und Frauen*, die bis hin zu plakativen Diagnosen von den „Jungen als Bildungsverlierern“ (Hurrelmann/Schultz 2012) reichen, bleibt die als Gender Pay Gap bezeichnete ungleiche Einkommensverteilung zwischen Frauen* und im Durchschnitt besser verdienenden Männern* weiter bestehen und auch mit Blick auf Karriereentwicklungen zeigt sich für Frauen* die ‚gläserne Decke‘ als weiterhin wirksam (vgl. u. a. Kortendiek et al. 2016, 2019). Die Abkehr vom Modell des männlichen Alleinverdienenden hat in heterosexuellen Paarbeziehungen nicht zu einer entsprechenden Neu-Verteilung der Care- und Hausarbeit geführt, hier © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Conrads, Das Geschlecht bin ich, Geschlecht und Gesellschaft 76, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30891-9_1

1

2

1 Einleitung

übernehmen in der Regel weiterhin Frauen*, auch neben ihrer Erwerbstätigkeit, den Großteil der Aufgaben – und, als besonderes mental load, die Hauptverantwortung (vgl. Alemann/Beaufaÿs/Kortendiek 2017; Koppetsch/Speck 2015). Auf der einen Seite fördern die Integration von sexueller Vielfalt in schulische Bildungspläne oder Initiativen wie Schule der Vielfalt eine Anerkennung von geschlechtlicher und sexueller Pluralität (vgl. u. a. Spahn/Wedl 2018). Diesen stehen auf der anderen Seite organisierte Gegenbewegungen1 sowie Befunde gegenüber, die anhaltende Diskriminierungserfahrungen im Alltag von Menschen mit nicht-konformer Geschlechtlichkeit und Sexualität aufzeigen (vgl. u. a. Krell/Oldemeier 2017; Lenz/ Sabisch/Wrzesinski 2012; Sielert/Timmermanns 2011). Auch die Diskussionen um die Einführung des Geschlechtseintrags „divers“ im Personenstandsregister2 lassen offen, ob sich dieser als Erweiterung, Erosion oder (durch das Hinzufügen einer ‚Ausnahme‘) eher Verfestigung der zweigeschlechtlichen Ordnung deuten lässt (vgl. u. a. Hoenes/Sauer/Fütty 2019). Ausgangspunkt der Studie ist somit die ambivalente „Gemengelage von widersprüchlichen Geschlechterkonzeptionen, sozialen Positionierungen und Erwartungen, gesellschaftlichen Anforderungen und Herausforderungen an die Selbstpositionierung von Gesellschaftsmitgliedern“ (Rendtorff/Riegraf/Mahs 2019a: 1), die mit der gegenwärtigen Geschlechterordnung untrennbar verbunden ist. Aus soziologischer Perspektive liegt angesichts dessen ein Fokus auf die Frage nahe, wie die einzelnen Gesellschaftsmitglieder eben diese Ambivalenzen verarbeiten, und damit auch ein Fokus auf die Herausarbeitung der Bedingungen, unter denen sich Individuen gegenwärtig zu gesellschaftlichen, und dabei immer auch vergeschlechtlichten, Subjekten herausbilden. Denn genauso unabgeschlossen wie die Diskussionen um den zutreffendsten Terminus für die konstatierten Ambivalenzen sind die theoretischen Erklärungsversuche dieser empirischen Beobachtungen, die bislang viele (Forschungs-)Fragen offen lassen. Wie passen aktuelle Vorstellungen einer pluralen Gesellschaft und die im Alltag zu beobachtenden bipolaren Geschlechterbilder sowie die anhaltende Diskriminierung nicht-konformer geschlechtlicher und sexueller Seinsweisen zusammen? In welcher Beziehung stehen egalitäre Geschlechtervorstellungen und 1 So wurde etwa als Reaktion auf das Vorhaben der baden-württembergischen Landesregierung, sexuelle Vielfalt in den Bildungsplan zu integrieren, eine Gegen-Petition gestartet, die zahlreiche Unterzeichner_innen mobilisieren konnte (vgl. Kleiner 2015: 13). 2 Auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 hin wurde das deutsche Personenstandsgesetz Ende 2018 dahingehend geändert, dass intersexuellen Menschen neben den Kategorien „weiblich“ und „männlich“ die Option „divers“ im Personenstandsregister eingeräumt wird (vgl. Sabisch 2019: 2).

1.1 Erkenntnisinteresse, theoretische Verortung und Fragestellung

3

Befunde von anhaltenden hierarchischen Geschlechterverhältnissen zueinander? Und wie hängt das mit der Art und Weise zusammen, wie sich Individuen als vergeschlechtlichte Subjekte, und damit gegenwärtig mehrheitlich als Frau oder Mann, wahrnehmen und entwerfen? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der hier vorgestellten Studie, in der anhand einer qualitativ-empirischen Untersuchung ambivalente Dimensionen vergeschlechtlichter Subjektwerdung herausgearbeitet werden.

1.1

Erkenntnisinteresse, theoretische Verortung und Fragestellung

1.1

Erkenntnisinteresse, theoretische Verortung und Fragestellung

Mit ihrem Fokus auf die Schnittstelle von Geschlecht- und Subjektwerdung leistet die Studie einen Beitrag dazu, die aufgezeigten Ambivalenzen der Geschlechterordnung auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse theoretisch fassbar zu machen und mit gegenwärtigen Subjektivierungsweisen in Verbindung zu bringen. Dabei konzentriert sich die empirische Erhebung auf die Subjektwerdung junger Menschen. Denn fasst man die Jugendphase als „Möglichkeitsraum“ (King 2013: 26), in dem das Ausloten von Potenzialen und die Entwicklung von individuellen Lebens- und Selbstentwürfen zentral sind (vgl. Liebsch 2012: 238f.), und geht man zugleich davon aus, dass „die Lebenslagen von Jugendlichen entlang der Kategorien Geschlecht und Sexualität […] radikal verschieden“ (Hark 1998: 22; vgl. auch Liebsch 2012: 57f.) sind, dann stellt sich vor dem Hintergrund der skizzierten ambivalenten Dynamiken die Frage, wie insbesondere junge Menschen diese unterschiedlichen Entwicklungen und damit verbundene Anrufungen in ihren Lebens- und Selbstentwürfen verarbeiten. Daraus ergibt sich das Forschungsanliegen, zu untersuchen, unter welchen Bedingungen sich jugendliche Subjektwerdung gegenwärtig vollzieht und auf welche Weise Geschlecht dabei thematisiert und relevant (gemacht) wird. Die hierzu eingenommene theoretische Positionierung verortet sich in poststrukturalistischen Zusammenhängen. Es wird insbesondere auf theoretische Konzepte und Denkanstöße zurückgegriffen, die auf Michel Foucaults wissensund machttheoretische Überlegungen sowie Judith Butlers darauf aufbauende heteronormativitätskritische Reflexionen zurückgehen. In dieser Perspektive ist die Produktivität von Sprache zentral und eine der Sprache vorgängige ‚Wirklichkeit‘ nicht zugänglich (vgl. Butler 2001: 101). Poststrukturalistische Ansätze interessieren sich demnach dafür, wie ‚Wahrheiten‘ produziert (vgl. Foucault 1978: 51) und Möglichkeitsräume diskursiv eröffnet und begrenzt werden. Eine wichtige Rolle nimmt dabei, auch in der vorliegenden Arbeit, der Diskursbegriff 3

4

1 Einleitung

ein. Damit verbunden ist die Auffassung einer diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit, die nur durch Sprache vermittelt zu erfassen und stets situiert und machtdurchzogen ist (vgl. Bublitz 2003: 57f.). Auch Geschlecht wird dabei nicht als etwas aufgefasst, das der Mensch per se ‚ist‘ oder ‚hat‘, sondern als etwas, das sich kontingent diskursiv produziert. Dementsprechend kommt sprachlich-diskursiven Aushandlungs- und Herstellungsprozessen von geschlechterbasierten Differenzierungen und Hierarchisierungen in dieser Arbeit eine zentrale Bedeutung zu. Indem die poststrukturalistische Perspektive die Annahme eines autonomen und der Gesellschaft vorgängigen Subjekts verlässt, wird daneben insbesondere die Frage nach der Subjektwerdung selbst relevant. Einer dekonstruktivistischen Perspektive folgend wird der Fokus insbesondere auf die damit einhergehenden Brüche und Widersprüchlichkeiten, auf Ausgeschlossenes und Unsichtbares gelegt (vgl. Degele 2008: 18). Denn dekonstruktivistische Ansätze zielen darauf ab, die Herstellung sozialer Gegebenheiten bzw. allgemein von ‚Wirklichkeit‘ mit Blick auf deren Bedingungsfaktoren zu beleuchten, also Konstruktionen zu dekonstruieren, indem die machtvollen Diskurse in den Blick genommen werden, die erst dazu führen, dass die Gegebenheiten in ihrer gegenwärtigen Ausprägung als richtig, normal, selbstverständlich oder natürlich – und Alternativen als falsch, anormal, undenkbar oder widernatürlich – aufgefasst werden. Die im Verlauf des Forschungsprozesses und im darin erfolgten wechselseitigen Bezug von Empirie und Theorie präzisierte Forschungsfrage lautet demnach: Wie und unter welchen Bedingungen werden junge Menschen zu vergeschlechtlichten Subjekten geformt und wie und unter welchen Bedingungen formen sie sich selbst zu vergeschlechtlichten Subjekten?

1.2

Empirischer Kontext: Geschlechtertausch im Rahmen der schulischen „Mottowoche“

1.2

Empirischer Kontext

Mit Blick auf dieses Erkenntnisinteresse bietet sich eine qualitative Untersuchung an, die Ambivalenzen und Irritationen in den jugendlichen Aushandlungsprozessen rund um Geschlecht besser erfassen kann als standardisierte, quantitative Verfahren. Die Durchführung von Gruppendiskussionen trägt der diskursorientierten Ausrichtung Rechnung, da gerade in der Aushandlung zwischen den jugendlichen Teilnehmenden Geschlechter-Diskurse, als Differenzen oder auch als gemeinsam angestellte Überlegungen oder Einschätzungen und genauso in Form von Auslassungen und Nicht-Gesagtem, einen Ausdruck finden können. Der Forschungsfrage wird daher anhand von zehn Gruppendiskussionen mit Jugendlichen und jungen

1.2 Empirischer Kontext

5

Erwachsenen nachgegangen. Dabei wurden solche jungen Menschen einbezogen, die im Rahmen von schulischen „Mottowochen“ an einem „Geschlechtertauschtag“ teilgenommen haben (vgl. Kap. 4.3.1). Die Mottowoche hat sich als Schüler_inneninitiiertes Ritual seit der Jahrtausendwende zunehmend als fester Bestandteil der Abiturfeierlichkeiten etabliert. Dabei zelebrieren die angehenden Abiturient_innen ihre letzte reguläre Schulwoche und kommen wechselnden Tagesmottos entsprechend verkleidet in die Schule – ein häufig gewähltes Mottothema ist dabei „Geschlechtertausch“. Die im Begriff „Tausch“ implizierte binäre Geschlechterkonzeption bildet dabei die Grundlage für die Verkleidungen, die häufig entlang stereotyper Geschlechterbilder verlaufen. Die gemeinsame Erfahrung am Mottotag diente in den Gruppendiskussionen als gesprächseröffnender Impuls, um unter den Jugendlichen eine nicht problematisierende Diskussion über Geschlecht anzuregen. Damit stand nicht eine Beobachtung der jugendlichen Performances am Geschlechtertauschtag selbst im Fokus der Untersuchung, sondern von Interesse war vielmehr, wie die Jugendlichen die damit verbundenen Erlebnisse und Erfahrungen diskutieren. Darüber hinaus zielte der Anknüpfungspunkt des spielerischen Geschlechtertauschs auch darauf ab, ein offenes Gespräch über Geschlechtervorstellungen sowie vergeschlechtlichte Selbstkonzeptionen und -positionierungen anzuregen. Denn durch die an diesem Tag „auf den Kopf gestellte“ (Zwei-)Geschlechterordnung wurde Geschlecht zu einem gewissen Grad reflexiv gemacht und im Rückblick, so zeigte sich, breit thematisierbar. Der Geschlechtertauschtag als von den Jugendlichen selbst gewähltes und interpretiertes Tagesmotto bot zudem die Gelegenheit, auf Annäherungen an Geschlecht zu rekurrieren, die durch die Jugendlichen selbst vorgenommen worden waren, und somit innerhalb der Erhebung möglichst wenig Auslegungen vorzugeben. Diese Bezugnahme hat sich im Laufe der Untersuchung als instruktiv erwiesen und es zeigte sich, dass die Jugendlichen, ausgehend vom Geschlechtertausch in der Mottowoche, von sich aus weit darüber hinausgehende Aspekte rund um Geschlecht und Sexualität reflektierten und diskutierten. Somit führte die zunächst als Engführung erscheinende Bezugnahme auf den in seiner Darstellung sehr stereotyp ausfallenden Mottotag in der Folge zu einer breiten Thematisierung von jugendlichen Perspektiven auf Geschlecht und Sexualität.

1.3

Aufbau und Ziel der Untersuchung

Die Arbeit gliedert sich in eine Bestandsaufnahme des Forschungsstands, die theoretische Einbettung, die Darlegung des methodischen Vorgehens, die Darstellung der Auswertungsergebnisse sowie eine abschließende kritische Diskussion der 5

6

1 Einleitung

Befunde und des empirisch entwickelten theoretischen Modells der geschlechtlichen Selbstregulierung. Damit folgt sie in ihrem Aufbau der konventionellen Struktur (sozial)wissenschaftlicher Forschungsarbeiten. Der Verlauf des zirkulären Forschungsprozesses (vgl. Kap. 4), in dem sich empirische und theoretische Bezüge abwechselten bzw. einander bedingten und in dem dadurch auch die Absteckung des theoretischen Bezugsrahmens sowie die Präzisierung der Fragestellung erst sukzessive vollzogen wurden, wird somit auf dieser Ebene nicht sichtbar. Dem wird jedoch in den einzelnen Kapiteln Rechnung getragen, sodass zwar nicht die Struktur, aber die Darstellung des Forschungsprozesses und seiner Ergebnisse das zirkuläre Verfahren widerspiegelt. Im Forschungsüberblick (Kap. 2) werden unterschiedliche Forschungsfelder herangezogen, in deren Schnittfeld sich die Arbeit verortet. So steht sie in der Tradition sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung, die innerhalb der letzten Jahrzehnte unterschiedliche Strömungen ausgebildet hat. Es wird dabei insbesondere an dekonstruktivistische Stränge angeknüpft, in denen die Bedeutung von Machtwirkungen für die Herstellung einer vermeintlich selbstverständlichen und/oder naturhaften Geschlechterordnung in den Mittelpunkt rückt (Kap. 2.1). Im Zentrum zahlreicher gegenwärtiger Gesellschaftsanalysen steht das eingangs zitierte Spannungsverhältnis unterschiedlicher Geschlechterkonzeptionen zwischen Persistenz und Wandel, womit sich die vorliegende Arbeit in entsprechende Fachdebatten einordnet (Kap. 2.2). Bisherige Analysen, welche die ungleichen gesellschaftlichen (Zwei-)Geschlechterverhältnisse in den Blick nehmen, legen dabei oft die hierfür als zentral angesehenen Felder der Erwerbs- sowie der Care-Arbeit und eine hiermit verbundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zugrunde. Demgegenüber zeigt die Studie, wie die dort zu beobachtende Herstellung und Aufrechterhaltung einer asymmetrischen Geschlechterordnung sich auch außerhalb dieser Sphären, in der Alltagswelt Jugendlicher und junger Erwachsener, vollzieht. Mit der Konzentration auf jugendliche Untersuchungsteilnehmende wird zudem an sozial- und erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Jugend und Geschlecht angeknüpft. In der Skizzierung aktueller Forschung in diesem Feld erweisen sich empirisch-dekonstruktivistische Herangehensweisen dabei als weitgehende Leerstelle (Kap. 2.3). Durch den empirischen Blick auf konkrete Mechanismen der jugendlichen Subjektkonstituierung leistet die Untersuchung außerdem einen Beitrag zum relativ jungen Forschungsfeld der empirischen Subjektivierungsforschung und schließt mit ihren Befunden zu Bedingungen und Vollzug gegenwärtiger vergeschlechtlichter Subjektwerdung eine Forschungslücke (Kap. 2.4). Damit werden die subjektivierungstheoretischen Arbeiten der letzten Jahre um eine empirische Perspektive auf Subjekt- und Geschlechtwerdung ergänzt, die ihrerseits wiederum einen Beitrag zur Theoriebildung leistet. Dabei zeigt sich

1.2 Empirischer Kontext

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gerade in der Verschränkung der Perspektiven ein Mehrwert, den die Studie durch die Formulierung der Fragestellung in genau diesem Schnittfeld – als dekonstruktivistische Hinterfragung vergeschlechtlichter Selbstverhältnisse junger Menschen in einem empiriebasierten Setting – für ein theoretisches Einfangen gegenwärtiger ambivalenter Geschlechterkonzeptionen und -verhältnisse verspricht (Kap. 2.5). Theoretische Vorannahmen, aber auch im Verlauf des Forschungsprozesses ergänzte theoretische Bezugnahmen, werden im folgenden Kapitel offengelegt (Kap. 3). Im Rahmen der Verortung innerhalb poststrukturalistischer Perspektiven, und hier insbesondere mit Bezug auf Foucault und Butler, wird auf das damit verbundene Verständnis von Macht, Wissen und Diskursen und deren gegenseitige Verwobenheit eingegangen, das grundlegend für poststrukturalistische Annäherungen an ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘ sowie für die dezentrierte Konzeption des Subjekts ist (Kap. 3.1). Anstatt, wie in der Jugendforschung vielfach üblich, auf Sozialisationskonzepte zurückzugreifen, trägt die hier verfolgte Anknüpfung an Subjektivierungstheorien (Kap. 3.2) dem Umstand Rechnung, dass eine poststrukturalistische Perspektive das Selbst nicht voraussetzt, sondern vielmehr dessen Formung als Subjekt in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt. Anders als im sozialisationstheoretischen Paradigma geht es also nicht um die Frage, wie sich Individuen in einem linear gedachten Prozess an (vergeschlechtlichte) gesellschaftliche Erwartungen und Normen anpassen und in diesem Zuge – in der Regel – zu Mädchen und Jungen, Frauen und Männern werden. Vielmehr wird von „kontingenten, prekären und reversiblen Prozessen“ (Liebsch 2019: 13) der Subjektwerdung ausgegangen, in denen (vergeschlechtlichte) Subjekte erst hervorgebracht werden und in denen Handlungsfähigkeit als stets eingebettet in Machtverhältnisse konzipiert wird. Der Untersuchung von Prozessen der Subjektkonstitution kommt damit eine besondere Bedeutung zu, wobei sich insbesondere die Subjektfigur des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2002) als „aktuelle hegemoniale Subjektivierungsweise“ (Bührmann 2005: Abs. 3) im Verlauf der Auswertung als passende analytische Hintergrundfolie abzeichnen wird. Die dekonstruktivistische Herangehensweise wird in der Studie mit einer diskurstheoretischen Annäherung an Geschlecht und Sexualität verbunden. Denn Geschlecht und Sexualität werden als durch diskursive Prozesse hergestellt aufgefasst, die in die jeweilige symbolische, gesellschaftliche und politische (Macht-)Ordnung eingebettet und somit historisch kontingent sind (Kap. 3.3). Eine zentrale Rolle nimmt das Konzept der Heteronormativität (Warner 1991) ein, das die Bedeutung der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit als gesellschaftliches Ordnungssystem herausstellt und kritisch auf damit verbundene Naturalisierungen und Privilegierungen hinweist. Die im Zuge poststrukturalistischer Theorieentwicklung erfolgte Hinterfragung von Essenzialitäten hat auch den (Geschlechts-)Körper in den Fokus der Debatten gerückt, die 7

8

1 Einleitung

hier kurz einordnend umrissen werden (Kap. 3.4). Das Kapitel schließt mit einer zusammenfassenden Darlegung der Implikationen der theoretischen Verortung für den Forschungsprozess und für die Diskussion der Ergebnisse (Kap. 3.5). Hier wird verdeutlicht, wie Subjekt- und Geschlechtwerdung in eins gehen und wie vor diesem Hintergrund die Frage nach jugendlicher Geschlechtlichkeit zugleich auch die Frage nach jugendlichen Selbstverhältnissen impliziert und andersherum die Frage nach jugendlicher Subjektwerdung nicht losgelöst von Geschlechteraspekten betrachtet werden kann. Damit wird auch das Untersuchungsziel der Studie abgesteckt, das darin besteht, auf der Grundlage von poststrukturalistischen Positionen und dekonstruktivistischen Ansätzen nach den Mechanismen und Möglichkeitsbedingungen zu suchen, durch die und unter denen sich Jugendliche und junge Erwachsene gegenwärtig zu vergeschlechtlichten Subjekten konstituieren. Die gründliche Erörterung des methodischen Vorgehens erhält in der qualitativen Sozialforschung eine besondere Bedeutung, da intersubjektive Nachvollziehbarkeit ein zentrales Kriterium ist, um die Befunde zu validieren (vgl. Helfferich 2011: 155f.). Das methodische Vorgehen im Forschungsprozess sowie die diesem Prozess vorangehenden methodologischen Entscheidungen zur Operationalisierung des Forschungsanliegens werden daher im nächsten Schritt dargelegt (Kap. 4). Dabei werden die gewählten qualitativen Forschungsperspektiven vor dem Hintergrund des der Arbeit zugrunde liegenden Erkenntnisinteresses begründet (Kap. 4.1). Innerhalb der Erörterung des Forschungsdesigns (Kap. 4.2) werden das Erhebungsverfahren der Gruppendiskussion (Kap. 4.2.1) sowie die Grounded-Theory-Methodologie als den gesamten Forschungsprozess anleitender Forschungsstil (Kap. 4.2.2) vorgestellt. Die Orientierung an der Grounded-Theory-Methodologie bringt den Anspruch mit sich, an die Erhebung mit einer größtmöglichen Offenheit in Bezug auf die Ergebnisse heranzugehen (vgl. Strübing 2008: 19). Dies schließt jedoch eine theoretische Vorinformiertheit nicht aus, die aber unter dem Stichwort der „theoretischen Sensibilität“ (Strauss/Corbin 1996: 56) offengelegt werden soll – hier zeigt sich die Bedeutung des vorangehenden Kapitels (Kap. 3) zur theoretischen Verortung auch in Bezug auf methodische Gütekriterien. So prägte die Theorie zum einen die Analyseperspektive mit, wurde aber durch Diskussionen und theoretische Weiterentwicklungen der empirischen Ergebnisse selbst wiederum erweitert. Die Darstellung der forschungspraktischen Umsetzung (Kap. 4.3) macht, nach einer Annäherung an den empirischen Kontext der Mottowoche (Kap. 4.3.1), den zirkulären Prozess von Datenerhebung (Kap. 4.3.2) und Datenauswertung (Kap. 4.3.3) transparent. Die Auswertung des empirischen Materials wurde anhand eines mehrschrittigen Codierverfahrens durchgeführt, das darauf abzielte, Schlüsselkategorien zu identifizieren, die im letzten Schritt zur Herausbildung einer zentralen Kernkategorie, der geschlechtlichen Selbstregulierung, führten. Abschließend wird das Sample

1.2 Empirischer Kontext

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vorgestellt, das aus 37 Jugendlichen verschiedener das Abitur anbietender Schulformen in insgesamt zehn Gruppen zu zwei bis sechs Personen besteht (Kap. 4.4). Die in Kap. 5 erfolgende kritisch-analytische Darstellung der Ergebnisse bildet das Herzstück der Studie. Die aus dem empirischen Material erarbeiteten Befunde werden in vier Dimensionen systematisiert und dabei als Erzählungen bzw. als Mechanismus des Maßnehmens gerahmt. Hier werden die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität (Kap. 5.1), die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung (Kap. 5.2), die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung (Kap. 5.3) und das vergeschlechtlichte Maßnehmen (Kap. 5.4) ausgemacht. Die Erzählungen und das Maßnehmen bedingen die Art und Weise, wie die Jugendlichen sich und andere als vergeschlechtlichte Subjekte – etwa als Frau, als Mann oder als „etwas dazwischen“, als homosexuell, als heterosexuell oder als „was auch immer“ – wahrnehmen und positionieren. Die Diskussionen der Jugendlichen machen deutlich: Geschlecht ist für sie nicht (in erster Linie) biologisches Schicksal und es ist auch nicht, was die gesellschaftlichen Strukturen daraus machen, vielmehr ist Geschlecht zu einer individuellen Aushandlungssache geworden. Es wird von den Jugendlichen dabei gerahmt als etwas, was sie individuell empfinden und flexibel gestalten und leben, wobei ein unveränderlicher Geschlechtskern im Inneren die diskursive Grundlage bildet. Damit zeigt sich, wie die Jugendlichen eine autonome Handlungsfähigkeit als diskursive Grundlage setzen, von der aus sie selbstbestimmt den flexiblen Umgang mit der eigenen Geschlechtlichkeit und Sexualität konstatieren. Zielhorizont ist dabei das Ausleben einer authentischen und individuellen Geschlechtlichkeit und Sexualität, durch die sich das Ich selbstverwirklicht. Das immer wieder durchscheinende vergeschlechtlichte Maßnehmen markiert dabei implizite oder explizite Begrenzungen der Handlungsräume, die durch die Erzählungen zunächst diskursiv eröffnet werden. Das Zusammenwirken dieser Dimensionen, und hiermit bewegt sich die Studie dann auf der Ebene der Theoriebildung, wird als geschlechtliche Selbstregulierung gefasst, die als die gegenwärtige Weise verstanden wird, in der die Jugendlichen zu vergeschlechtlichten Subjekten geformt werden und sich selbst zu vergeschlechtlichten Subjekten formen – unter den Bedingungen, die durch die Erzählungen und das Maßnehmen gesetzt werden (Kap. 5.5). Geschlechtliche Selbstregulierung wird dabei im Anschluss an Foucault verstanden als das Zusammentreffen von Techniken der Fremd- und Selbstregierung, durch das sich das vergeschlechtlichte Subjekt als solches erst konstituiert (Foucault 2009: 19). Mit dem Blick auf die vergeschlechtlichte Subjektivierung der Jugendlichen geraten auch Diagnosen gegenwärtiger Subjektivierungsweisen in den Fokus, in denen sich einige zentrale Charakteristika für die (westliche) Gegenwartsgesellschaft herauskristallisieren. Die in diesem Zusammenhang auch im Kontext neoliberaler Logiken diagnostizierten Subjekt9

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1 Einleitung

anforderungen von Flexibilität und Individualität (vgl. Lengersdorf/Meuser 2017: 32; Rendtorff 2014: 283) spielen für die anschließende theoretische Einordnung und Diskussion der Auswertungsergebnisse (Kap. 6) eine zentrale Rolle. Dazu werden die Ergebnisse in vier zentrale analytische Beobachtungen gefasst (Kap. 6.1). Erstens wird ein diskursiver Wandel von einem biologischen Geschlechterdeterminismus zu einem geschlechtlichen Gestaltungsimperativ nachgezeichnet (Kap. 6.1.1). Die zweite Beobachtung setzt sich mit dem sichtbar werdenden Nebeneinander von Hervorhebung und Irrelevanzsetzung von Geschlecht bzw. Geschlechterdifferenzen auseinander (Kap. 6.1.2). Drittens wird diskutiert, inwiefern die Zuschreibung autonomer geschlechtlicher Entscheidungsfreiheit und Handlungsfähigkeit zugleich zur Zuweisung von individueller Verantwortlichkeit für Gelingen oder Scheitern der geschlechtlichen und sexuellen Selbstverwirklichung führen kann (Kap. 6.1.3). Viertens wird herausgestellt, warum die Hervorhebung von Toleranz gegenüber geschlechtlicher und sexueller Vielfalt nicht automatisch zu einem Abbau von Diskriminierung führt (Kap. 6.1.4). In einer Zusammenführung der Beobachtungen wird dargelegt, wie durch die aufgezeigten Mechanismen strukturelle Machtverhältnisse und hierarchisierende Differenzierungen verdeckt werden, die verschiedenen vergeschlechtlichten Subjekten unterschiedliche Positionen und Handlungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Gefüge zuweisen (Kap. 6.1.5). Die Arbeit schließt mit einem resümierenden Fazit sowie einem Ausblick auf offen gebliebene bzw. neu aufgeworfene Forschungsfragen (Kap. 6.2). Das Ziel der Studie war, auf der Grundlage intersubjektiv nachvollziehbarer empirischer Datenbearbeitung eine gegenstandsverankerte Theorie zu entwickeln (vgl. Erhard/Sammet 2018: 48), die einen Beitrag zur theoretischen Einordnung der eingangs skizzierten paradoxen Verhältnisse in Bezug auf die Geschlechterordnung leistet und gegenwärtige Prozesse und Bedingungen vergeschlechtlichter Subjektivierung nachvollziehbar macht. Basierend auf den empirischen Befunden werden die Prozesse der vergeschlechtlichten Subjektivierung als geschlechtliche Selbstregulierung begriffen, die sich im Rahmen der Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, der geschlechtlichen Selbstbestimmung und der geschlechtlichen Selbstverwirklichung sowie des vergeschlechtlichten Maßnehmens und damit im Spannungsfeld von Subjekt und Struktur vollzieht. Die geschlechtliche Selbstregulierung stellt ein im Feld entwickeltes Denkmodell dar, das das Zusammenfallen von Subjekt- und Geschlechtwerdung in diskursorientierter Perspektive auf der Grundlage empirischer Befunde theoretisch greifbar macht. Mit dem Modell kann auf theoretische Weise gefasst werden, wie die zu Beginn aufgezeigten Ambivalenzen, die von den Jugendlichen selbst im Rahmen ihrer Subjektwerdung austariert werden (müssen), in Einklang gebracht werden, wie dieses Unterfangen aber auch ins Straucheln geraten oder gar scheitern kann und wie damit vergeschlechtlichte

1.4 Vorangestellte Reflexionen zur eigenen Position

11

Subjektivierung innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft als per se spannungsgeladen und ambivalent aufgefasst werden kann. Dadurch wird zugleich deutlich, dass die diskursive Dimension Geschlecht für alle Gesellschaftsmitglieder mit ambivalenten (Selbst-)Anrufungen und Machtwirkungen verbunden ist, die nicht allein in Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern und Diskriminierungen für von der heterosexuellen Geschlechterordnung Marginalisierte aufgehen (vgl. auch Kleiner 2015: 16f.). Vielmehr zeigt die Diskussion der empirischen Ergebnisse die Bedeutung einer Verschränkung von gesellschaftstheoretischen und heteronormativitätskritischen Perspektiven, um die machtdurchzogenen gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Die im Rahmen dieser Arbeit entwickelten und diskutierten Befunde liefern somit eine empirisch nachvollziehbare Fundierung diskursorientierter, dekonstruktivistischer Perspektiven auf Geschlecht und erweitern diese mit Blick auf die vergeschlechtlichte Subjektivierung junger Menschen im Schnittfeld von gesellschaftlichen „Ordnungen eines zu präferierenden Subjekt-Seins“ (Geimer/Amling/Bosančić 2019b: 5) und individuellen Verhandlungs- und Verarbeitungsweisen.

1.4

Vorangestellte Reflexionen zur eigenen Position

1.4

Vorangestellte Reflexionen zur eigenen Position

Auch als Forscherin bleibe ich dem gegenwärtigen diskursiven Bezugsrahmen verhaftet, was bestimmte Positionierungen mit sich bringt (vgl. auch Gildemeister/Hericks 2012: 3). Zugleich bedeutet auch das wissenschaftliche Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten und Dekonstruieren von ‚Natürlichkeiten‘ wiederum eine Beteiligung an der Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten (vgl. auch Dzudzek/Kunze/Wullweber 2012: 17; Hark 2011: 394). Daraus folgt die besondere Bedeutung der Offenlegung und Reflexion der eigenen Perspektive im Forschungsprozess (vgl. auch Kap. 4.1). Dies geschieht an mehreren Stellen im Verlauf der Arbeit. Vorab soll hier bereits eine kurze Verortung hinsichtlich politisch-räumlicher Einbettung, des eigenen Wissenschaftsverständnisses und des Sprachgebrauchs der Studie erfolgen. Eine politische und geografische Einschränkung muss für die in dieser Untersuchung eingenommene Forschungsperspektive gemacht werden: Der empirische Blick richtet sich auf die innerdeutschen Gegenwartsverhältnisse – und fokussiert mit Abiturient_innen auch hier nur einen kleinen Ausschnitt. Die theoretische Verortung findet innerhalb westlicher Theoriebezüge statt und ist dementsprechend zentriert. Auch die abschließende Diskussion kontextualisiert die Befunde in den westlichen, insbesondere deutschsprachigen, Fachdebatten. Dies stellt m. E. für das 11

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1 Einleitung

hier dargelegte Erkenntnisinteresse keinen grundsätzlichen Widerspruch dar, soll aber an dieser Stelle im Sinne der Einordnung der Grundannahmen und Befunde transparent gemacht werden. Anknüpfend an die Annahmen einer (poststrukturalistischen) kritischen Sozialwissenschaft wird auch in der vorliegenden Untersuchung Subjekten eine prinzipielle Handlungsfähigkeit und damit gesellschaftliches Veränderungspotenzial grundsätzlich zugesprochen. Demnach wird im Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit ebenfalls nach Möglichkeiten der Erweiterung von Handlungsräumen gesucht. In diesem Sinne wird Wissenschaft auch als Veränderungswissenschaft verstanden. Denn ungeachtet der diskursiven Konstruiertheit sozialer Phänomene sind hiermit verbundene Hierarchisierungen und Ungleichheiten insofern ‚real‘, als sie für die einzelnen Subjekte die Möglichkeitsräume schaffen bzw. verschließen, innerhalb derer sie sich bewegen und überhaupt ‚sein‘ können. Da die immense Bedeutung von Sprache und die Macht von Bezeichnungen dieser Arbeit als zentrale Annahme zugrunde liegt, scheint eine Erörterung zentraler verwendeter (Arbeits-)Begriffe an dieser Stelle angebracht. Die insbesondere in der Ergebnisdiskussion häufig erfolgende terminologische Bezugnahme auf die Differenzierungskategorie der geschlechtlichen bzw. sexuellen (Non-)Konformität verweist auf den Referenzpunkt der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit und damit auf das theoretische Modell der heterosexuellen Matrix (vgl. Kap. 3.3). (Non-) Konformität stellt zugleich als hier verwendeter Analysebegriff insofern eine aus dem Material generierte Unterscheidungskategorie dar, als die damit vollzogene Unterscheidung von heterosexueller Cis-Geschlechtlichkeit3 und Abweichung nicht als analytische Dimension an das Material herangeführt wurde und die Unsrigen und die Anderen nicht vorab bzw. von außen festsetzte. Diese Markierung erwies sich vielmehr als zentrale Differenzierungslinie und Ausgangspunkt für Fremd- und Selbstpositionierungen der Jugendlichen. Im hier verwendeten Konformitätsbegriff schwingt also der Verweis auf die hierarchisierende Konstruktion von Zugehörig-

3 Als „Cis“ (lateinisch für „diesseits“) werden Personen bezeichnet, die sich mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Der Begriff wurde von Volkmar Sigusch in kritisch-reflexiver Analogie zum „Trans“-Begriff vorgeschlagen, um die Konstruiertheit auch der vermeintlich natürlichen ‚Mehrheitsgeschlechtlichkeit‘ herauszustellen (vgl. Sigusch 1992: 138; vgl. auch Meßmer 2017: 2). Der Begriff „Cis“ wird von den Jugendlichen selbst nicht verwendet, es handelt sich also um einen im Rahmen der Analyse hinzugezogenen Terminus, der das implizite geschlechtliche Selbstverständnis eines Großteils der Jugendlichen aufzugreifen und angesichts der damit verbundenen verunsichtbarenden Selbstverständlichkeit explizit zu machen versucht.

1.4 Vorangestellte Reflexionen zur eigenen Position

13

keit, Andersheit und Abweichung mit (vgl. auch Hark 1998: 33f.).4 Gleichzeitig wird hierdurch eine begriffliche Bezugnahme auf Normalität vermieden, die vor dem Hintergrund, dass in der von den Jugendlichen formulierten Normalität auch geschlechtliche und sexuelle Pluralität integriert ist, weniger passend scheint. Und schließlich vermag der Begriff der geschlechtlichen (Non-)Konformität auch solche Abweichungen zu erfassen, die sich innerhalb einer heterosexuellen Cis-Geschlechtlichkeit vollziehen. Auch in der Bezugnahme auf ‚Frauen‘ und ‚Männer‘ wurde sich an die alltagsweltliche binäre Differenzierung angepasst, die für Jugendliche in den meisten Fällen als eindeutige Kategorisierung auch sprachlich verwendet wurde. Der auf eine Hinterfragung bzw. Öffnung dieser Kategorien hinweisende Asterisk – das ‚Gendersternchen‘ – („Frauen*“, „Männer*“ etc.) wird lediglich dann genutzt, wenn der Kontext eine entsprechend offene Annäherung nahelegt oder das gesellschaftlich wirkmächtige Konstrukt der zweigeschlechtlichen Kategorisierung explizit gemacht werden soll.5 Der Terminus Geschlechtlichkeit wird im Rahmen der vorliegenden Studie immer dann verwendet, wenn Bezugnahmen auf Geschlecht in unbestimmter Form erfolgen und sich nicht auf eine präzise Auslegung von Geschlecht (etwa von Geschlecht als Seinsweise oder Praxis) beziehen.

4 5

Demgegenüber wird die Bezeichnung „LGBTQ*“ in Zusammenhängen benutzt, in denen von einer bewussten entsprechenden (Selbst-)Verortung und -Benennung ausgegangen werden kann (vgl. Kap. 2.3). Auch da, wo die geschlechtliche Selbstverortung der Jugendlichen im Rahmen von Diskussion oder Fragebogen nicht eindeutig erfolgte oder wo die Perspektive der Autorin im Mittelpunkt steht, wird der Asterisk verwendet, um eine binäre Zuschreibung zu vermeiden. Da hierzu im Einzelnen ggf. ein Abwägen der Perspektiven erforderlich ist, führt dies z. T. zu einer parallelen Verwendung von binärer und ‚öffnender‘ Bezeichnungsform innerhalb eines Kontexts. 13

Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

2

Für eine fachliche Kontextualisierung des hier verfolgten Forschungsanliegens werden im Folgenden die Traditionslinien, aber auch die aktuellen Forschungsperspektiven der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung nachgezeichnet. Dazu folgt zunächst eine Skizzierung der Entwicklung sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung (Kap. 2.1), dann werden Befunde zu gegenwärtigen Diagnosen geschlechtsbasierter Ungleichheiten umrissen (Kap. 2.2), es werden die verschiedenen Blickwinkel auf Jugend, Geschlecht und Vielfalt dargestellt (Kap. 2.3) und ein kurzer Blick auf das Feld der Subjektivierungsforschung geworfen (Kap. 2.4). Schließlich wird der Forschungsbedarf für die Studie aufgezeigt (Kap. 2.5).

2.1

Traditionslinien sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

2.1

Traditionslinien sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

Einführend erfolgt ein Abriss über die Entwicklung der unterschiedlichen methodischen und konzeptionellen Ausrichtungen der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung, um die in der Untersuchung eingenommene Perspektive der dekonstruktivistischen Annäherung an Geschlecht innerhalb dieser Forschungstraditionen zu verorten. Geschlecht als Untersuchungsgegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung rückte insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Fokus. Dass die – auch in der Wissenschaft – lange Zeit als natürlich aufgefasste Kategorie Geschlecht seit den 1970er-Jahren verstärkt hinterfragt wurde, lässt sich sowohl auf Denkanstöße aus poststrukturalistischen Perspektiven als auch auf das Aufkommen sozialkonstruktivistischer Forschung zurückführen. Insbesondere die 1966 erschienene Studie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1969) gab einen entscheidenden © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Conrads, Das Geschlecht bin ich, Geschlecht und Gesellschaft 76, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30891-9_2

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2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

Impuls.6 Die zugrunde liegenden Annahmen zur menschlich-interaktiven Verfasstheit gesellschaftlicher Strukturen, die zugleich als äußere, objektive Wirklichkeit empfunden würden, wurden in der Folge verstärkt auch in die Untersuchung der Geschlechterverhältnisse eingebracht und ermöglichten neben der Betrachtung von Geschlechterungleichheiten auf struktureller Ebene auch eine Fokussierung auf die diese Verhältnisse erst bedingende Geschlechterdifferenzierung selbst, also auf die hierarchisierende Unterscheidungspraxis in (exakt) zwei Geschlechter.7 In der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschlecht lassen sich vor diesem Hintergrund für die letzten Jahrzehnte im Allgemeinen drei Strömungen ausmachen (vgl. Degele 2008: 14): eine strukturorientierte Gesellschaftskritik, die Geschlecht als sozialstrukturelles Phänomen fasst, strukturelle Ungleichheiten in den dichotom angeordneten Geschlechterverhältnissen fokussiert und diese mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen in Zusammenhang bringt, einen handlungstheoretischen Konstruktivismus, nach dem Geschlecht in Interaktionen prozessual hergestellt wird, und den diskurstheoretischen Dekonstruktivismus, in dem Geschlecht als Ordnungsprinzip auf der Ebene symbolischer Repräsentationen gesehen wird (vgl. Kap. 3.2 und 3.3).8 Gesellschaftskritische Ansätze gehen von der Geschlechterunterscheidung als gesellschaftlich verankerter und Hierarchien produzierender Struktur aus und untersuchen dementsprechend Ungleichheiten und Benachteiligungen, die sich hieraus insbesondere für Frauen, aber, als zunehmend in den Blick geratene Ergänzung, auch für Männer ergeben, sie fokussieren also das Geschlechterverhältnis (u. a. Becker-Schmidt/Knapp 1995; Krüger 2001). In den konstruktivistischen Ansätzen, worunter sich sowohl die handlungs- als auch die diskurstheoretisch orientierten fassen lassen, rückt dagegen die Geschlechterdifferenzierung als solche in den Mittelpunkt der Betrachtung (vgl. Gildemeister/Hericks 2012: 192). Geschlecht – und damit auch die Zweigeschlechtlichkeit –, so fassen es konstruktivistische Ansätze, ist sozial konstruiert und historisch kontingent – und untrennbar mit Hierarchisierungen verbunden. Da die Konstruktionsprozesse aber in der Regel 6

Das englischsprachige Original erschien 1966 unter dem Titel „The Social Construction of Reality“ (Berger/Luckmann 1966). Auch vorher existierten bereits Perspektiven auf die Konstruktion von Geschlecht, so konstatiert Simone de Beauvoir 1949: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (de Beauvoir 1968: 265). 7 Ian Hacking hat in der Folge in seinem 1999 erschienenen Buch „The Social Construction on What?“ eine ansteigende, undifferenzierte und unpräzise Verwendung der „Kampfvokabel“ (Hacking 1999) „soziale Konstruiertheit“ kritisiert. 8 Vgl. für einen ausführlichen Überblick auch Paula-Irene Villa (2011). Villa fügt dieser Aufgliederung außerdem eine leib-phänomenologische Perspektive auf den Geschlechtskörper hinzu.

2.1 Traditionslinien sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

17

versteckt bleiben, erhalten Geschlecht und Geschlechterdifferenzen einen naturhaften Charakter. Diese Konstruktionsprozesse aufzudecken und insbesondere durch eine Hinterfragung alltäglich ‚gewusster‘ Selbstverständlichkeiten sichtbar zu machen, ist folglich ein Anliegen konstruktivistischer Forschung – und auch dieser Studie. Dabei gehen die beiden Stränge jedoch unterschiedlich vor. So zielen sozialkonstruktivistische Ansätze darauf ab, einen Sinn hinter empirisch beobachtbaren Phänomenen menschlichen Handelns zu rekonstruieren (u. a. Gildemeister/ Wetterer 1992; Hagemann-White 1984; Hirschauer 1993). Harold Garfinkel begründete mit seiner handlungstheoretischen Perspektive den Ansatz, nach dem Menschen in Interaktionen permanent Geschlecht erst herstellen (müssen), was im Gegensatz zu der Annahme steht, dass Geschlecht etwas Fixes, per se Gegebenes ist, auf das im alltäglichen Handeln einfach zurückgegriffen werden kann.9 Für sozialkonstruktivistische Ansätze ist das Konzept des Doing Gender zentral, das von Candace West und Don Zimmerman (1987) geprägt wurde, um die interaktive (und unabgeschlossene) Prozessualität von Geschlecht deutlich zu machen. Demnach stellen Menschen in alltäglichen Interaktionen fortwährend Geschlecht her und sind dabei sowohl als Produzent_innen als auch als Rezipient_innen mit spezifischen Wissenshorizonten und Erwartungen in Bezug auf Geschlecht tätig. Dieses den Interaktionen zugrunde liegende Wissen bezeichnen Suzanne Kessler und Wendy McKenna (1978) als Alltagsannahmen von Geschlecht, nach denen davon ausgegangen wird, dass alle Menschen ein biologisch begründetes, also natürliches, Geschlecht haben, welches eindeutig und lebenslang konstant ist, dass es sich dabei um genau eins von ausschließlich zwei Geschlechtern (Frau/Mann) handelt, und dass dieses am Körper, insbesondere an den Genitalien, abgelesen werden kann (vgl. Villa 2003: 20). Eine sich insbesondere in den 1990er-Jahren formierende dekonstruktivistische Perspektive auf Geschlecht, die auch in dieser Studie eingenommen wird, interessiert sich dagegen stärker für die symbolische Ebene und untersucht die Geschlechterordnung nicht in Interaktionen, sondern auf der Ebene von Sprache (u. a. Bublitz 1998; Butler 1991).10 Sie dekonstruiert Festschreibungen, indem sie das Augenmerk darauf richtet, „wie (hegemoniale) Denksysteme Bedeutungen, Normen und Selbstverständlichkeiten herstellen, was sie dabei in den Vordergrund stellen und was sie ausgrenzen“ (Degele 2008: 111). Eine Kritik an sozialkonstruktivistischen Ansätzen 9

In seiner ethnomethodologischen Studie zu Transsexualität untersucht Garfinkel (1967) anhand der Transsexuellen „Agnes“ die Kriterien einer erfolgreichen Geschlechtsdarstellung. 10 Eine vertiefende theoretische Diskussion der für diese Studie zentralen dekonstruktivistischen Perspektiven findet sich in Kap. 3.3. 17

18

2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

lautet vor diesem Hintergrund, dass mit der Untersuchung der Herstellungsprozesse von Zweigeschlechtlichkeit, also der Frage nach dem Wie, das Bestehen der Geschlechterdifferenz hingenommen, also die Frage nach dem Warum und damit nach gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen ausgeblendet werde (vgl. Meißner 2008: 11). Demgegenüber stellen dekonstruktivistische Ansätze Geschlecht und Geschlechterdifferenzierungen als kontingentes Produkt von Machtverhältnissen in den Mittelpunkt. Entscheidende Impulse gaben hierzu Butlers Ausführungen zur heterosexuellen Matrix (Butler 1991) und ihre theoretischen Weiterentwicklungen sowie daran anknüpfende Arbeiten und Kontroversen (vgl. Kap. 3.3). Die sich insbesondere im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts formierenden Queer Studies haben in der Folge die diskursive Verknüpfung von Geschlecht und Sexualität in den Fokus gerückt und insbesondere unter Heranziehung des theoretischen Modells der Heteronormativität (vgl. Kap. 3.3) deutlich gemacht, dass Geschlechterfragen auch untrennbar mit Konzeptionen von Sexualität verbunden sind (vgl. u. a. Hark 2010; Jagose 2005; Kraß 2003; Sedgwick 1990). Somit nähern sich die Ansätze der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung der Untersuchung der Mechanismen der Herstellung und Aufrechterhaltung von Zweigeschlechtlichkeit und/oder damit verbundenen Machtverhältnissen und Ungleichheitsstrukturen – auch in aktuellen Forschungsbezügen, wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird.

2.2

Aktuelle Brennpunkte sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

2.2

Brennpunkte sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

Die in der Einleitung skizzierten gegenwärtig zu beobachtenden widersprüchlichen Entwicklungen innerhalb der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse und -konzeptionen stehen oftmals im Zentrum aktueller sozialwissenschaftlicher Perspektiven auf Geschlecht. Dabei geht es um das Bemühen, subjekt- und gesellschaftstheoretische Perspektiven zusammenzuführen (u. a. Graf/Ideler/Klinger 2013; Rendtorff/Riegraf/Mahs 2019b). Im Sinne einer Einordnung der beobachteten Ambivalenzen rund um Geschlecht hat sich Angelika Wetterers Begriff der „Rhetorischen Modernisierung“ als instruktiv erwiesen, den sie einführte, um die „Diskrepanz zwischen Alltagswissen und Alltagspraxis in arbeitsteiligen Geschlechterarrangements“ (Wetterer 2005) zu beschreiben. Damit konstatiert sie eine Distanz zwischen einem reflexiven und das Reden regulierenden Wissen um die Norm der Geschlechtergleichheit und einem vorreflexiven, handlungsanleitenden Wissen, das hiervon abweichen kann und in dem „noch die ‚alten Verhältnisse‘ bewahrt sind“

2.2 Brennpunkte sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

19

(Wetterer 2010: 10). Die von ihr vertretene Annahme einer als gesamtgesellschaftlich relevant gesetzten Gleichstellungsnorm gilt in der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung als überwiegend unumstritten; in welchem Verhältnis diese zu individuellen Aushandlungen, Praktiken und Subjektivierungsprozessen steht, wird in der Folge unterschiedlich beantwortet bzw. ist noch unabgeschlossen (u. a. Maiwald 2011; Rendtorff/Riegraf/Mahs 2019a; Speck 2019; Villa 2017).11 Die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Ambivalenzen und Paradoxien nimmt häufig spezifische gesellschaftliche Teilbereiche in den Blick, die „als konstitutiv für die Verfasstheit der Geschlechterverhältnisse gelten“ (Bargetz et al. 2017: 19) und die durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung geprägt sind – das Feld der Erwerbsarbeit und jenes der Reproduktions- bzw. Care-Arbeit. Zentrale Diagnosen sind die einer zunehmenden Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit (u. a. Frey et al. 2010; Nickel/Hüning/Frey 2008; Sauer/Penz 2014), welche einer anhaltenden geschlechtsbasierten Ungleichverteilung von Care-Arbeit (u. a. Apitzsch/ Schmidbaur 2010; Aulenbacher/Dammayr 2014; Aulenbacher/Riegraf/Theobald 2014), insbesondere durch die unveränderte Letztverantwortung und Mehrarbeit für Frauen* für diese im Privaten stattfindende Arbeit, gegenüberstehen und somit Ungleichheiten perpetuieren oder, etwa durch den Rückgriff auf migrantische CareArbeiterinnen (u. a. Bomert 2020; Lutz 2008), auf andere Differenzdimensionen verlagern. Vieles weist in den Befunden darauf hin, dass sich die hieraus resultierenden Spannungen und Widersprüche für Frauen* in stärkerem Maß zeigen als für Männer* (u. a. Allmendinger 2011; Lenz/Evertz/Ressel 2017b; Nickel/Hüning/ Frey 2008).12 Empirische und theoretische Perspektiven richten sich vor allem auf Verschränkungen von kapitalistischer bzw. neoliberaler Geschlechterordnung (u. a. Lenz/Evertz/Ressel 2017a; Ludwig 2016; Pühl/Sauer 2018). Mit Blick auf (auch vergeschlechtlichte) Subjektkonstitutionen kristallisieren sich dabei zentrale Orientierungsfolien wie Eigenverantwortung (u. a. Klinger 2014), Selbstoptimierung (u. a. Meßmer 2017; Sieben/Sabisch-Fechtelpeter/Straub 2012; Villa 2008a) sowie Flexibilisierung und Individualisierung heraus (u. a. Beier/Haller/Haneberg 2018; Hark 2019; Lengersdorf/Meuser 2017; Rendtorff 2014; Villa 2017). Diese auch gesellschaftstheoretisch ausgerichteten Debatten verlaufen weitgehend losgelöst von 11 Auch die Klärung der Frage, inwieweit die Gleichheitssemantiken mit gegenläufigen, auch antifeministischen „Backlash“-Tendenzen in Beziehung gesetzt werden können, steht noch weitgehend aus (Ansätze finden sich u. a. in Hark/Villa 2015). 12 Hier folgt die binäre Geschlechteraufteilung sozialstrukturellen Mustern, wobei insbesondere aus Intersektionalitätsperspektive auf eine damit einhergehende unzulässige Verallgemeinerung hingewiesen und demgegenüber die Verwobenheit mit anderen Differenzkategorien wie Behinderung, Bildung, Klasse, Nation, oder ‚race‘ betont wird (vgl. u. a. Castro Varela/Dhawan 2014; Çetin 2012; Collins 2000; Klinger/Knapp/Sauer 2007). 19

20

2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

einem weiteren Forschungsfeld der Geschlechterforschung, dem der jugendlichen Geschlechterbezüge, das im nächsten Kapitel vorgestellt wird.

2.3

Jugend im Fokus sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

2.3

Jugend im Fokus sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

Bisherige empirische Studien aus den Sozial- und insbesondere den Erziehungswissenschaften nehmen Geschlecht im jugendlichen Alltag überwiegend in sozialkonstruktivistischer Perspektive in den Blick. Interaktionistische Ansätze arbeiten, häufig ethnografisch, heraus, wie Geschlecht in jugendlichen Handlungspraxen hergestellt wird, wobei meist die vorab festgelegte Geschlechtsgruppe der Mädchen bzw. jungen Frauen (u. a. King/Flaake 2003; Hackmann 2003) oder Jungen bzw. jungen Männer (u. a. Bereswill/Meuser/Scholz 2007; Budde 2005; Budde/Thon/ Walgenbach 2014; King/Flaake 2005) bzw. die Gruppe ‚beider‘ Geschlechter (u. a. Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004; King 2013) die Grundlage der Untersuchung darstellen. Oft bildet dabei der Sozialraum Schule das Untersuchungsfeld. So zeichnet etwa Jürgen Budde (2005) anhand von konkreten sozialen Praktiken hierarchisierende Männlichkeitskonstruktionen im gymnasialen Schulalltag nach. Es werden aber auch jugendkulturelle Praktiken in spezifischen Settings außerhalb des Schulalltags untersucht, etwa in Bezug auf (Pop- bzw. Fußball-)Fan-Sein von Mädchen bzw. jungen Frauen (Fritzsche 2003; Heyde 2018). Hier werden die Praktiken, in denen eine Auseinandersetzung mit den z. T. widersprüchlichen Anforderungen stattfindet, wie etwa „Ultra“-Fan- und Frau-Sein (Heyde 2018), herausgearbeitet und damit Konstruktionsprozesse von (heteronormativer) Geschlechtlichkeit bzw. Weiblichkeit aufgezeigt. Andere Studien fokussieren auf jugendliche Körperinszenierungen und damit verbundene Er- und Bearbeitungsweisen von Geschlecht (u. a. Bütow/Kahl/Stach 2013; Rose/Schulz 2007; Stauber 2011). Die Studien liefern somit wichtige Aufschlüsse über alltägliche Herstellungsweisen von Geschlecht, insbesondere die (Re-)Produktion von Zweigeschlechtlichkeit durch Praktiken des Doing Gender in jugendlichen Sozialräumen und Lebenswelten sowie hierdurch reproduzierte geschlechtsbasierte Hierarchien und Ungleichheiten. Mit diesem beobachtenden Blick auf Mädchen und Jungen bzw. junge Frauen und Männer sowie die interaktive Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit werden jedoch zugleich Zuschreibungen bzw. Festsetzungen von Zweigeschlechtlichkeit vorgenommen und „vor allem das Herstellen und Bewahren der zweigeschlechtlichen Ordnung in sozialen Praktiken rekonstruiert“ (Kleiner 2015: 51). Ambivalenzen oder Irritationen in Bezug auf die zweigeschlechtliche Ordnung

2.3 Jugend im Fokus sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

21

selbst sind weniger im Blickfeld (vgl. Offen 2013: 31f.); alternative geschlechtliche und sexuelle Seinsweisen „treten lediglich im negativen Zusammenhang, nämlich als Objekte homophober Sprüche, Ausgrenzungen und Marginalisierungen, auf“ (Kleiner 2015: 51). Daneben finden sich Studien, die explizit auf Befunde zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt abzielen und dazu die Lebenslagen von LGBTQ* Jugendlichen13 in den Blick nehmen. Diese sind häufig quantitativ ausgerichtet (u. a. Biechele 2009), erheben als Sekundäranalyse den Forschungsstand (Sielert/Timmermanns 2011) oder bieten einen interdisziplinären Überblick (Schneider/Baltes-Löhr 2015). Auch qualitativ angelegte Untersuchungen widmen sich Erfahrungen junger LGBTQ* Menschen (u. a. Brodersen 2018; Krell/Oldemeier 2017) oder Kindern und Jugendlichen mit LGBTQ* Eltern (u. a. Rupp 2009; Streib-Brzič/Quadflieg 2011). Sie weisen sämtlich auf (weiterhin) bestehende Diskriminierungen und Ungleichheiten für geschlechtlich oder sexuell nicht-konforme junge Menschen hin und zeigen, dass die Lebenswelten, etwa der Schulalltag, für diese Jugendlichen „vielfach mit Erfahrungen der Stigmatisierung, Entwertung und Ablehnung“ (Kleiner 2015: 14) einhergehen (vgl. Krell/Oldemeier 2017; Lenz/Sabisch/Wrzesinski 2012; Sielert/ Timmermanns 2011). Damit spiegeln die Befunde – analog zum eingangs skizzierten Spannungsverhältnis – auch die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Gleichheits- und Vielfaltsnormen und individuellen Lebenssituationen und Erfahrungen wider. Insbesondere pädagogisch-praktisch ausgerichtete Studien zielen darauf ab, „die Beobachtung der fehlenden Sichtbarkeit, Anerkennung und Wahrnehmung sexueller Vielfalt aufzunehmen und stärker ins pädagogische Bewusstsein zu rücken“ (Schmidt/Schondelmayer/Schröder 2015: 11), und verweisen auf die (negativen) Folgen einer nicht ausreichenden Thematisierung und Bearbeitung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt insbesondere für LGBTQ* Jugendliche (vgl. Schmidt/ Schondelmayer/Schröder 2015: 10). Auf diese Weise tragen die genannten Studien einerseits zur Sichtbarkeit und Thematisierung sexueller Vielfalt und damit auch zum Aufzeigen anhaltender, damit verbundener Ungleichheiten bei. Andererseits wird durch die thematische Trennung die Lesart nahegelegt, es handele sich in der kritischen theoretischen und empirischen Auseinandersetzung mit den ausschließenden Machtwirkungen des Systems der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit um spezielle ‚Minderheitenangelegenheiten‘ (vgl. Rawlings 2017: 13; Sedgwick 1990: 1).

13 Das Akronym LGBTQ* wird hier und im Folgenden verwendet, wenn von Personen die Rede ist, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder queer bzw. questioning verorten, womit auf eine gängige, dem Englischsprachigen entlehnte Selbstbezeichnungspraxis zurückgegriffen wird (vgl. Schmidt/Schondelmayer/Schröder 2015: 10). Der Asterisk (*) soll dabei Raum für weitere Selbstverortungen lassen. 21

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2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

Damit zeigt sich mit Blick auf die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft die Tendenz einer separaten Fokussierung auf heteronormative Zweigeschlechtlichkeit oder non-konforme Geschlechtlichkeit (und Sexualität) und häufig auch eine Beschäftigung mit Geschlecht oder Sexualität im jugendlichen Alltag (vgl. Götsch 2014: 93; Offen 2013: 10). Für den vielen Studien zugrunde liegenden Begriff der Heteronormativität kritisiert Christine Klapeer die engführende Sichtweise, „dass es sich dabei um ein Konzept zur Beschreibung der (gesellschaftlichen) Norm der/zur Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität handle, von der insbesondere jene Lebensweisen bzw. Personen ‚betroffen‘ sind, die diesen Normen eben nicht entsprechen (können oder wollen) – Lesben, Schwule, Trans* und Intersex* Personen und Queers“ (Klapeer 2015: 25f.).

Selten stehen dagegen die machtdurchzogenen Interdependenzen von hierarchischen Geschlechterverhältnissen, zweigeschlechtlicher Ordnung und heteronormativen Ein- und Ausschlüssen – und damit auch gesamtgesellschaftliche Bezüge – im Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen (vgl. Klapeer 2015: 31f.). Während in der separierten Analyse vor allem die Herstellungsprozesse von heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit auf der einen und die machtvollen Auswirkungen jener Ordnung für davon abweichende Jugendliche auf der anderen Seite untersucht werden, stehen die machtvollen Auswirkungen der Geschlechterordnung auch für heterosexuelle Cis-Jugendliche sowie die eine ‚Abweichung‘ anderer Jugendlicher erst erzeugenden Herstellungsweisen und damit eine Sicht auf unterschiedliche vergeschlechtlichte Subjektkonstituierungen und -positionierungen kaum im Zentrum der Studien. Zudem gerät in den stärker rekonstruktiven Studien zu Herstellungsweisen von binärer Geschlechtlichkeit durch „die Fokussierung auf Beobachtungen des Doing Gender […] Geschlecht vorrangig als Tun in den Blick, die Ebene der Selbstverhältnisse und subjektiven Deutungen hingegen werden in der Tendenz vernachlässigt“ (Kleiner 2015: 51). In einer dekonstruktivistischen Forschungsperspektive auf Jugend und Geschlecht steht demgegenüber die Frage im Mittelpunkt, wie Jugendliche sich selbst (überhaupt erst) als vergeschlechtlichte Subjekte formen und wahrnehmen. Hier wird untersucht, auf welche Weise Geschlecht im jugendlichen Alltag zur Geltung kommt und welche machtbasierten und strukturell verankerten Ein- und Ausschlüsse damit verbunden sind. Eine kritische Geschlechter- und Sexual-Pädagogik hat dabei seit Beginn des Jahrtausends vor allem auf der Ebene theoretisch-konzeptueller Annäherungen vermehrt dekonstruktivistische Ansätze sowohl für die (Bildungs-)Forschung als auch für die (Bildungs-)Praxis entwickelt (vgl. Fritzsche et al. 2001; Hartmann 2002, 2014, 2016; Jäckle 2009; Plößer 2005; Prengel 2019; Timmermanns 2008; Tuider 2008; für einen Überblick: Pohlkamp 2015). Als zentrales Ziel kann hierbei das der

2.3 Jugend im Fokus sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

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„Entselbstverständlichung“ (Degele 2015) genannt werden: Die Ansätze stellen die strukturierende Bedeutung von Geschlecht und sexueller Orientierung heraus und machen auf die heteronormativen Grundannahmen im (auch pädagogischen) Alltagshandeln aufmerksam. Sie fordern einen stärkeren Fokus auf Diskontinuitäten und Uneindeutigkeiten von jugendlichen Subjektpositionierungen und kritisieren (pädagogische) Konzepte, die stabile (Subjekt-)Festlegungen als Ausgangspunkt nehmen. Das Augenmerk liegt dabei auf „dem Verdrängten und Unterdrückten, dem konstitutiven Außen“ (Hartmann/Messerschmidt/Thon 2017: 17), mit dem Anliegen, Möglichkeitsräume für Handlungs- und Seinsweisen zu erweitern. Dabei wird auch der Identitäts- und (autonome) Subjektbegriff problematisiert: So plädiert Jutta Hartmann (2004) für ein nicht-essentialistisches Verständnis von Subjektivität; Elisabeth Tuider (2004) schlägt vor, anstatt mit dem Begriff der Identität mit dem der Zugehörigkeit zu arbeiten, um den Prozesscharakter von Subjektformungen stärker zu verdeutlichen. Sozialwissenschaftliche Arbeiten, welche die diskursiven Aushandlungen zu Geschlecht und Sexualität im jugendlichen Alltag in qualitativ-empirischer Ausrichtung in den Blick nehmen und dabei eine dezidiert dekonstruktivistische Perspektive einnehmen, mit der auch Brüche und Widerstände in Bezug auf Subjektpositionen innerhalb der Geschlechterordnung aufgedeckt werden können, sind dagegen nur vereinzelt zu finden (etwa Hartmann et al. 2007; Kleiner 2015; vgl. Liebsch 2012: 19). Bettina Kleiner (2015) untersucht die Erfahrungen von LGBTQ* Jugendlichen innerhalb ihres Schulalltags in Anlehnung an Butlers subjekt- und diskurstheoretische sowie heteronormativitätskritische Ansätze und arbeitet sowohl Erfahrungen von Differenz und Zugehörigkeit als auch Handlungspotenziale der Jugendlichen heraus (vgl. Kleiner 2015: 15f.). Sie fragt damit, wie die von ihr interviewten Jugendlichen zu Anderen gemacht werden und wie Subjektpositionen neu besetzt werden können (vgl. Kleiner 2015: 16). Mit ihrem Anliegen, die gemachten Erfahrungen „nicht als Probleme einer Minderheit zu missdeuten, sondern den sozialen und schulischen Ein- und Ausschlussmechanismen Rechnung zu tragen, die diese hervorbringen“ (Kleiner 2015: 16), sowie einer gesellschaftstheoretischen Rahmung, „die Rückschlüsse auf Normen und Normalitätsvorstellungen zulässt“ (Kleiner 2015: 16f.), bindet sie ihre Befunde breit ein. Zentral, auch mit Blick auf die vorliegende Studie, ist ihr die Uneindeutigkeit und Ambivalenz vergeschlechtlichter Subjektpositionen betonendes Ergebnis, „dass Geschlechter und sexuelles Begehren im Rahmen widersprüchlicher gesellschaftlicher, diskursiver und sozialer Verhältnisse entstehen und sich in einem Spannungsfeld von Widerfahrnis und Handlungsmöglichkeiten ereignen“ (Kleiner 2015: 353). Dies legt nahe, sich der Frage nach vergeschlechtlichter Subjektformung in einem möglichst offenen Verfahren zu nähern, um die Widersprüche und Spannungsfelder im Zusammen23

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2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

spiel von subjektiver und gesellschaftlicher Ebene aufzudecken. Während Kleiner mit dem Sample der LGBTQ* Jugendlichen den Blick „gewissermaßen von der Peripherie auf das Zentrum“ (Kleiner 2015: 16) richtet, standen Analysen, die mit dekonstruktivistischer, diskursorientierter Perspektive von eben diesem Zentrum ausgehen, bisher aus, sodass die vorliegende Studie hier eine Lücke füllt. Rekonstruktive Arbeiten, welche die Aushandlungsprozesse von Geschlecht und Sexualität Jugendlicher in einen heteronormativitätskritischen Blick nehmen (Götsch 2014; Offen 2013), geben Hinweise auf entsprechendes Erkenntnispotenzial. So weisen die Befunde von Monika Götsch (2014), die sie anhand von Gruppendiskussionen und Einzelinterviews mit Jugendlichen unterschiedlichen Alters erarbeitet hat, auf eine diskursive Konstanz heterosexuellen und zweigeschlechtlichen Wissens unabhängig von den individuell gemachten Erfahrungen der Jugendlichen hin. Götsch konstatiert, dass darüber „ein relativ stabiles Selbstverhältnis als entweder (homo- oder heterosexuelle_r) Frau oder Mann hergestellt“ (Götsch 2014: 261) wird. Die Frage, wie „Menschen im Laufe ihres Lebens ein solches Selbstverhältnis herstellen, d. h. wie Geschlecht und Sexualität zu einer ‚Existenzweise‘ [werden14]“ (Götsch 2014: 261), wird angerissen, im Rahmen ihrer Studie aber nicht weiter ausgeführt. Eine Lesart von Geschlecht als alltägliche Zugehörigkeitsarbeit findet sich bei Susanne Offen (2013), die mit ihrer Perspektive den Blick auch auf ambivalente Subjektpositionen junger Menschen ermöglicht. Mit ihrem Gedankenspiel „Was wäre, wenn du morgens im anderen Geschlecht aufwachst?“ (Offen 2013: 42), das als Gesprächsimpuls für ihre Gruppendiskussionen mit jugendlichen Schüler_innen fungiert, nutzt Offen, ebenso wie die vorliegende Untersuchung, einen Stimulus, der auf einen Geschlechtertausch fokussiert. Durch den in ihrem Fall ausschließlich gedanklich vollzogenen Geschlechtertausch der Jugendlichen verbleiben deren Bezugnahmen in dieser Hinsicht auf imaginativer Ebene.15 Die auf diese Weise empirisch aufgezeigte Abhängigkeit geschlechtlicher Subjektpositionierung von der Anerkennung durch Andere über genderkonforme Heterosexualität sowie die damit verbundene stetige Ausschlussbedrohung bilden wichtige Befunde, die im Rahmen der vorliegenden Studie gerade im Hinblick auf die Frage, was die Marker für anerkannte Subjektpositionen bzw. Geschlechtlichkeit sind, erweitert werden. 14 Hier verweist Götsch auf Andrea Maihofers Konzept von „Geschlecht als Existenzweise“ (Maihofer 1995). 15 Dagegen wird in der vorliegenden Arbeit mit dem Geschlechtertausch-Mottotag ein erlebtes Ereignis herangezogen, wodurch in den Diskussionen auch konkrete, hiermit verbundene Erfahrungen verhandelt werden. Während zudem in Offens Einstiegsfrage eine binäre Geschlechtlichkeit bereits den Referenzrahmen vorgibt (Offen 2013: 41), wurde in der vorliegenden Studie eine entsprechende Festsetzung vonseiten der Interviewerin vermieden (vgl. auch Kap. 4.3.2).

2.4 Perspektivgewinn Subjektivierungsforschung

2.4

Perspektivgewinn Subjektivierungsforschung

2.4

Perspektivgewinn Subjektivierungsforschung

25

Die sich seit Mitte der 2000er-Jahre im deutschsprachigen Raum verbreitenden subjektivierungstheoretisch basierten Studien verlassen die Vorstellung eines autonomen Subjekts (vgl. Kap. 3.1) und setzen die Untersuchung von Subjektivierungsweisen und Subjektpositionen ins Zentrum (u. a. Bröckling 2007; Bührmann/Schneider 2008; Gelhard/Alkemeyer/Ricken 2013; Keller/Schneider/Viehöver 2012b; Reckwitz 2006). Dabei untersuchen sie „Anrufungen und Adressierungen, gouvernementale Praktiken der Selbst- und Fremdführung oder Technologien des Selbst“ (Alkemeyer/Bröckling 2018: 9) und entwickeln theoretische Modelle gegenwärtiger (oder historischer) Subjektkonstitution. Im Zuge dessen wurden zahlreiche Subjektivierungsweisen identifiziert, wie etwa das postmoderne (Reckwitz 2006), das kreative (Reckwitz 2012) oder das unternehmerische (Bröckling 2002; vgl. Kap. 3.2) Selbst. Diese Annäherungen erfolgten zunächst in erster Linie auf theoretischer Ebene.16 Das führte in den letzten Jahren zunehmend zu Kritik an dem Behauptungscharakter jener Diagnosen, welche die entwickelten theoretischen Modelle selten mit empirisch erhobenen Befunden zusammenbrachten (vgl. Geimer/Amling 2019: 23). Damit einher ging ein Zuwachs von Ansätzen, die einen empirischen Blick auf Akteur_innen und deren Alltagspraxis richten (vgl. z. B. Rose/Ricken 2018; Traue/Pfahl/Globisch 2017). Diese empirischen Subjektivierungsarbeiten untersuchen in konkreten Feldern, durch welche Mechanismen sich die Orientierung der Einzelnen an eben diesen „Ordnungen eines idealen Subjekt-Seins“ (Geimer/ Amling/Bosančić 2019b: 3) konkret vollzieht. Auch innerhalb dieser empirisch ausgerichteten Subjektivierungsforschung wird die Frage nach einem stärker praxeologischen (z. B. Alkemeyer/Budde/Freist 2013) oder diskursorientierten (z. B. Rose 2019) Bezug diskutiert und der diskursiven Subjektkonstituierung in den letzten Jahren vermehrt die Formierung in der Praxis gegenübergestellt.17 Als ein aktueller Versuch einer Zusammenführung der empirisch ausgerichteten Perspektiven auf Subjektivierung lässt sich der Sammelband von Alexander Geimer, Steffen Amling und Saša Bosančić (2019) betrachten, der sowohl normative Ordnungen als auch Alltagspraxis und somit gesellschafts- bzw. diskurstheoretische und praxeologische Dimensionen aufgreift. Gemeinsam ist den in diesem Rahmen entstehenden Forschungen, dass sie den Subjektivierungsbegriff in qualitativ-empirischen Untersuchungen anwenden und damit die bis dato vorwiegend theoriebasierte Annahme der machtvollen diskursiven Subjektwerdung von Individuen im (Alltags-)Feld 16 Die damit verbundenen zentralen theoretischen Grundannahmen zu Prozessen der Subjektwerdung werden in Kap. 3.2 umrissen. 17 Für einen umfassenden Überblick vgl. Geimer/Amling/Bosančić 2019a. 25

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2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

bearbeiten. Sie konzentrieren sich also auf die bisher eher unbeachtete Frage, „inwiefern sich diese implizit als machtvoll gedachten Wirkungen auf der Ebene von tatsächlich lebenden, handelnden und verkörperten Menschen untersuchen und erfassen lassen“ (Bosančić 2016: 96). Dezidiert auf Jugend und/oder Geschlecht fokussierte Subjektivierungsforschung findet sich bisher nur vereinzelt. So konstatiert etwa Marcel Eulenbach (2016), unter Hinzuziehung des Modells des unternehmerischen Selbst, Selbstoptimierung als gegenwärtige Subjektivierungsform Jugendlicher. Dabei zieht er Parallelen zu Diskursen, die „die diskursive Konstruktion des aktiv-eigenverantwortlichen Leistungssubjekts“ (Eulenbach 2016: 158) vermitteln, und zeigt auf diese Weise auf, wie die entsprechenden Anforderungen nicht (erst) im Zusammenhang mit beruflichen Anforderungen wirksam werden, sondern bereits für Jugendliche gelten (vgl. Eulenbach 2016: 157). Damit verbunden sieht Eulenbach eine „Logik des Scheiterns“ (Eulenbach 2016: 152), die sich aus der Zuweisung der individuellen Verantwortung für die Erfüllung dieser Anforderungen an die (jugendlichen) Subjekte ergibt. Er macht hiermit auf ein auch für die vorliegende Untersuchung bedeutsames Spannungsverhältnis aufmerksam, in dem sich die Jugendlichen im Versuch der individuellen Bewältigung von (auch) überindividuellen Problemlagen befinden. Allerdings erfolgen Eulenbachs Ausführungen auf rein theoretischer Ebene und werden nicht mit der empirischen Beobachtung von konkreten Mechanismen verknüpft, welche die von ihm diagnostizierte Subjektivierungsform der Selbstoptimierung im Alltag hervorbringen. Zudem werden die Diagnosen nicht auf ihre Bedeutung für die Geschlechtlichkeit der Jugendlichen hin betrachtet. Eine empirisch-basierte Beschäftigung mit vergeschlechtlichter Subjektwerdung findet sich bei Alexander Geimer und Daniel Burghardt (2019). Sie untersuchen in einem rekonstruktiven Ansatz exemplarisch die mediale Dimension von vergeschlechtlichten Subjektivierungsprozessen anhand einer dokumentarischen Videointerpretation von YouTube-Videos. Ihr darauf basierender Befund geht von „einem disziplinierten Selbst als hegemonialer Subjektfigur“ (Geimer/Burghardt 2019: 235) aus und stellt demgegenüber die Konzeption von „Geschlecht als einer ‚Master-Identity‘“ (ebd.) infrage. Ausgehend vom exemplarischen Charakter der Untersuchung weisen Geimer und Burghardt zugleich auf daran anschließenden weiteren Forschungsbedarf hin, der die Verschränkungen von disziplinierenden und vergeschlechtlichten Subjektanrufungen stärker ausarbeitet und eine – in ihrem Ansatz nicht erfolgende – Kontextualisierung in geschlechtertheoretische Bezüge leistet.

2.5 Implikationen für den eigenen Forschungsprozess

2.5

Implikationen für den eigenen Forschungsprozess

2.5

Implikationen für den eigenen Forschungsprozess

27

In den skizzierten Forschungsfeldern werden Fragen nach den gegenwärtigen Konzeptionen und Verhandlungen von Geschlecht auf unterschiedliche Weise fokussiert. Damit liefern die angeführten Studien relevante gegenwartsbezogene Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen, zu (De-)Konstruktionen von Geschlechtlichkeit, zur Herstellung geschlechtlicher und sexueller ‚Normalität‘ und Andersheit sowie zu Prozessen der Subjektwerdung. Auffallend ist hierbei, dass zwei Blickwinkel bisher jedoch unterbelichtet bleiben: Es zeigt sich, dass die aufgeführten Ansätze ihre Forschungsfragen vorrangig separat bearbeiten und dass eine Verschränkung innerhalb einer Forschungsperspektive damit eine weitgehende Leerstelle bildet. Ein weiteres Desiderat ist darüber hinaus mit Blick auf empirische dekonstruktivistische und subjektivierungsbezogene Perspektiven auf Geschlecht auszumachen. Aus diesen beiden Leerstellen ergibt sich ein Forschungsbedarf dahingehend, vergeschlechtlichte Dimensionen der Subjektkonstitution erstens auf qualitativ-empirischer Grundlage zu dekonstruieren und dabei diskursive Mechanismen aufzudecken, die zweitens im Alltag unterschiedlich positionierter Subjekte Wirkmächtigkeit besitzen. Die hier vorliegende Studie setzt an eben dieser Schnittstelle an. Das gewählte Erhebungsverfahren der Gruppendiskussionen und der damit verbundene Blick auf Aushandlungsprozesse junger Menschen ermöglichen unter Heranziehung dekonstruktivistischer und diskursorientierter Perspektiven jenen Selbstbezügen, Hierarchisierungen, Ein- und Ausschlüssen nachzugehen, die von den Jugendlichen in den Verhandlungen ihrer Geschlechtlichkeit (und Sexualität) auf sprachlich-diskursiver Ebene vorgenommen werden. Auf der Grundlage qualitativ-empirischer Daten lassen sich so die konkreten Mechanismen nachvollziehen, durch die sich die jungen Menschen als vergeschlechtlichte Subjekte konstituieren, und die Aushandlungsprozesse beleuchten, in denen sie als solche auch hierarchisch positioniert sind bzw. werden. Dabei wird mit der Fokussierung auf die jugendliche Alltagswelt auch in Bezug auf gesellschaftstheoretische Befunde eine Erweiterung vorgenommen. Denn die jugendlichen Untersuchungsteilnehmenden sind zum größten Teil (noch) nicht in die Prozesse von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit eingebunden, in denen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als zentrales Fundament von Geschlechterungleichheiten weitgehend festgemacht wird (vgl. Kap. 2.2). Indem die Zusammensetzung des Samples nicht auf der Grundlage einer (angenommenen) konformen oder non-konformen Geschlechtlichkeit oder Sexualität erfolgt und damit diese ‚Gruppen‘ nicht separat adressiert, richtet sich der Fokus zudem „auf die heteronormative Ordnung des Allgemeinen“ (Pohlkamp 2015: 76). Es geht also um die Aushandlung innerhalb der und zwischen den Jugendlichen 27

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2 Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung

unterschiedlicher geschlechtlicher und sexueller Verortungen. Die eingenommene Perspektive ermöglicht damit auch, eine Untersuchung von ungleichen strukturellen (Zwei-)Geschlechterverhältnissen mit der heteronormativen symbolischen (Zwei-) Geschlechterordnung zu verbinden, die aktuell überwiegend getrennt fokussiert werden. Die theoretischen Annahmen, die mit einem solchen Forschungsanliegen verbunden sind, werden im nächsten Kapitel erläutert.

Theoretische Einbettung: poststrukturalistische Perspektiven auf Geschlecht und Subjektwerdung

3

3 Theoretische Einbettung

Die theoretische Verortung dieser Untersuchung steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Denn auch wenn das mit dieser Arbeit verfolgte Ziel im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie lautet, eine in der Empirie begründete Theorie zu erarbeiten, so bedeutet dies nicht, dass im Vorfeld keinerlei theoretische Vorannahmen und Positionierungen seitens der Forschenden existieren. Diese sind vielmehr ausschlaggebend für die Ausrichtung der Fragestellung und spielen ebenfalls für die Auswertung des empirischen Materials eine Rolle. So offen diese auch angegangen wird, wäre es eine Illusion, anzunehmen, dass sich den Daten gänzlich unvoreingenommen angenähert werden kann (vgl. Kap. 4.2.2). Wichtig ist daher, in diesem Kapitel die eigene theoretische Positionierung darzustellen und aufzuzeigen, welche theoretischen Konzepte als erkenntnisleitende Heuristik für die Er- und Bearbeitung des anfänglichen Forschungsinteresses eine Rolle spielten (vgl. Kuckartz 2016: 55). Darüber hinaus fließen in dieses Kapitel bereits theoretische Fokussierungen ein, die sich im Rahmen der Materialauswertung ergeben und die folglich für das theoretische Grundgerüst Bedeutung gewonnen haben. Auf diese Weise wird also inhaltlich vorgegriffen und in der Arbeit ein argumentativer anstelle eines chronologischen Fadens verfolgt. Dazu wird im Folgenden zunächst eine theoretische Verortung innerhalb poststrukturalistischer Perspektiven vorgenommen und ein in dieser Weise gerahmtes Verständnis von Macht, Wissen und Diskursen entwickelt (Kap. 3.1). Ansätze zu Subjektivierung werden vor diesem theoretischen Hintergrund ebenfalls beleuchtet (Kap. 3.2). Anschließend werden diskurstheoretische Annäherungen an Geschlecht in den Blick genommen und es wird aufgezeigt, dass der Diskursbegriff auch für geschlechtertheoretische Überlegungen zentral sein kann (Kap. 3.3), wobei auf das Verhältnis von Diskurs und Körper noch speziell eingegangen wird (Kap. 3.4). Zusammenfassend wird schließlich dargelegt, wie sich die theoretische Verortung zu Anlage und Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung verhält (Kap. 3.5). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Conrads, Das Geschlecht bin ich, Geschlecht und Gesellschaft 76, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30891-9_3

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3 Theoretische Einbettung

3.1

Macht, Wissen und Diskurs – die Hinterfragung des Selbstverständlichen

3.1

Macht, Wissen und Diskurs

Dieser Arbeit, ihrer Fragestellung und ihren Blickwinkeln auf das empirische Material liegt eine poststrukturalistische Perspektive zugrunde, die es in besonderer Weise ermöglicht, Geschlechterwissen und Geschlechterkonzeptionen bzw. Geschlecht allgemein als Diskursives in den Fokus wissenschaftlicher Forschung zu stellen und damit grundlegend hinterfragbar zu machen. In dieser erkenntnistheoretischen Rahmung werden in der vorliegenden Studie gesellschaftliche Prozesse verstanden und interpretiert. Mit Poststrukturalismus werden Ansätze bezeichnet, die sich seit den 1960ern zunächst vor allem in Frankreich in Anlehnung an strukturalistische Perspektiven, aber mit einigen dezidierten Abweichungen hiervon, in den Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt haben.18 Mit dem Strukturalismus teilen sie die zentrale Bedeutung, die sie der Sprache zuweisen, wonach sich Realität erst durch Sprache konstituiert (vgl. Degele 2008: 101). Der Strukturalismus geht dabei von einer zwar arbiträren, jedoch stabilisierenden Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem aus – die Verbindung zwischen beiden wird als nicht natürlich oder zwangsläufig, aber doch geschlossen, fix und einheitlich aufgefasst. Demgegenüber betonen Poststrukturalist_innen deren instabile Beziehung sowie die kontingente Gewordenheit von Dingen aufgrund diskursiver (und somit prinzipiell veränderlicher) Zusammenhänge und heben damit zugleich die Produktivität von Sprache hervor. In dieser „konsequent deontologischen Perspektive“ (Schrage 2008: 4120) ist eine der Sprache vorgängige gesellschaftliche ‚Realität‘ oder ‚Wahrheit‘ nicht erfassbar. Dies heißt auf den Menschen bezogen: Es ‚gibt‘ kein Ich außerhalb der sprachlichen Konstruktion. Im Gegensatz zum humanistischen Menschenbild der Aufklärung, das im Sinne der cartesianischen Subjektivität gerade in der Hervorhebung eines autonomen und ahistorischen Subjekts besteht, ist hier eine Essenz des Menschen außerhalb von Sprache (und somit auch von Sozialität) nicht fassbar. Dementsprechend wird in poststrukturalistischer Sichtweise nicht nach der Realität oder der Wahrheit gesucht, da nicht von dem Vorhandensein dieser einen Realität bzw. Wahrheit ausgegangen wird. Es existieren vielmehr „eine Vielzahl von Realitäts- und Wahrheitsvorstellungen, die um die Deutungshoheit konkurrieren und durch eine gesellschaftlich konstituierte Hierarchie gekennzeichnet 18 Poststrukturalistische Perspektiven gehen auf die Linguistik, insbesondere auf Ferdinand de Saussure, zurück. Nach ihm konstituiert sich Realität erst durch Sprache, verstanden als ein arbiträres „System von Zeichen, in dem einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich ist“ (Saussure 1967: 18).

3.1 Macht, Wissen und Diskurs

31

sind, die einige privilegiert und andere marginalisiert. Realität ist demnach stets ein partikularer und spezifischer Wahrheitshorizont, in den sich verschiedene Machtverhältnisse eingeschrieben haben“ (Dzudzek/Kunze/Wullweber 2012: 16).

Poststrukturalistische Analysen wollen demnach jene machtvollen Mechanismen aufdecken, die das (re)produzieren und stabilisieren, was in der jeweiligen Gesellschaft als Wahrheit oder Selbstverständlichkeit aufgefasst wird. Eine poststrukturalistische Perspektive zielt also nicht darauf ab, einen objektiven Sinn zu rekonstruieren, sondern nimmt die Sinn (erst) stiftenden Machtbeziehungen und deren Effekte sowie die Kämpfe konkurrierender Deutungsansprüche in den Blick. Sie zeigt deren historische Kontingenz und diskursive Konstruiertheit auf – und fragt nach alternativen oder widerständigen Artikulations- und Deutungsmöglichkeiten. Die verschiedenen poststrukturalistischen Ansätze vereinen folgende zentrale Merkmale: Sie teilen die Annahme des Ereignischarakters der Sprache, der historischen Konstitutionsbedingungen von Subjektivität und des performativen Charakters sowie der Historizität von Wahrheitsaussagen (vgl. Schrage 2008: 4120) – also eine allgemeine „Skepsis gegenüber festen, stabil und wohl geordnet erscheinenden sozialen Phänomenen, deren Zustand durch wissenschaftliche Analysen festgehalten werden kann“ (Leinius/Vey/Hagemann 2017: 9).19 Der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault und die US-amerikanische Philosophin und Philologin Judith Butler liefern mit ihren Arbeiten grundlegende Denkansätze für poststrukturalistische und geschlechtersoziologische Perspektiven. Im Folgenden wird erläutert, welche Bedeutung diese Perspektiven für die theoretischen Reflexionen dieser Untersuchung haben. Im Rahmen poststrukturalistischer Analysen wird auf ein erweitertes Machtverständnis zurückgegriffen, das auf entsprechende Überlegungen von Foucault zurückgeht. Dessen im Laufe seines Werks entwickelter und ausdifferenzierter Machtbegriff weicht von dem Verständnis von „Macht als Herrschafts- oder Ermöglichungsmodus“ (Bargetz et al. 2017: 12) ab, also von solchen Ansätzen, die Macht einseitig als Unterdrückung20 rahmen oder im Hinblick auf Möglichkeiten

19 Slavoj Žižek weist in diesem Zusammenhang auf die kontextbezogene Einbettung der eigenen Person und wissenschaftlichen Perspektive hin und macht die gegenwärtige „Vorstellung der allgemeinen Historizität und Kontingenz“ (Žižek 2009: 216) als Produkt eines historisch situierten Denkrahmens deutlich. 20 So fokussieren etwa feministische Analysen, die nach den hierarchischen Geschlechterverhältnissen als Herrschaftsverhältnissen fragen, auf ökonomische und politische Strukturen, die Geschlechterverhältnisse als institutionalisierte Machtverhältnisse festigen (vgl. Bargetz et al. 2017: 13f.). 31

32

3 Theoretische Einbettung

der Ermächtigung21 beleuchten. Vielmehr wird Macht bei Foucault als eine produktive Kraft gesehen, die nicht in ein einfaches Schema von Herrschenden und Beherrschten passt, sondern über symbolische Ordnung und Wissenssysteme operiert (vgl. Bargetz et al. 2017: 12): „Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (Foucault 1983: 94).22 Damit verbunden ist eine kritische Sicht auf gesellschaftliche Wissensbestände – Wissen ist demnach, ähnlich wie Wahrheit und Realität, immer eingebettet in historische Kontexte und Machtstrukturen und somit stets situiertes Wissen23. Eine solche Perspektive fokussiert „auf die Analyse und Kritik der subtilen Techniken, mittels derer bestimmte Wissensformen von Geschlecht, Subjekt, Körpern, Sexualität, Lebensweisen, usw. überhaupt zu gesamtgesellschaftlichen ‚Wahrheiten‘ werden können, die […] gesellschaftliche Ausschlüsse, Hierarchisierungen und Ungleichheiten ermöglichen und legitimieren“ (Ludwig 2012: 122f.).

Macht und (die Produktion von) Wissen sowie deren sprachliche Verfasstheit stehen demnach im Mittelpunkt von poststrukturalistischen Überlegungen. Um die Mechanismen zu fassen, die Wissen und Macht über Sprache zu einem Komplex verbinden, nutzt Foucault den Begriff des Diskurses. Mit diesem bezeichnet er ein historisch kontingentes – aber nicht arbiträres – Gebilde aus Normen, Praktiken und Bezeichnungen, die im Zusammenspiel das zu einem bestimmten Zeitpunkt Denk- und Sagbare als regelhafte Ordnung herausbilden – und im Umkehrschluss ebenso Bereiche des Nicht-Denkbaren und Unsagbaren produzieren. Diskurse sind mit Foucault „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981: 74). Sprachliche Prozesse werden in diesem Sinne von Foucault als wirklichkeitsgenerierend und somit auch als materiell wirksam gesehen. Es handelt sich also bei Diskursen um „Systeme des Denkens und Sprechens, die das, was wir von der Welt wahrnehmen, konstituieren“ (Villa 2003: 20). Somit erlangt der Blick auf Diskurse eine wichtige Bedeutung für „die sprach21 Diese Perspektive zielt auf kollektive Handlungsmacht sowie soziales und politisches Handeln und knüpft an das Machtverständnis von Hannah Arendt an (vgl. Arendt 2003: 45). 22 Der disziplinierende Charakter von Macht, den Foucault in seinen frühen Werken in den Mittelpunkt setzte, wird von der Hervorhebung des produktiven Charakters abgelöst. 23 Donna Haraway macht mit ihrem Konzept des situierten Wissens die grundsätzliche Bedingtheit wissenschaftlichen Wissens deutlich, woraus sich die Bedeutung der eigenen Verortung im Forschungsprozess ergibt (vgl. Haraway 1988). Der Begriff des „situierten Wissens“ lässt sich m. E. darüber hinaus auf alle Wissensformen anwenden.

3.1 Macht, Wissen und Diskurs

33

förmige Konstituiertheit der Sinnhaftigkeit von Welt“ (Keller 2007b: 8). Im Fokus steht dabei nicht primär, was gesagt wird oder damit gemeint sein könnte, sondern unter welchen Bedingungen es zu genau dieser (und nicht einer anderen möglichen) wirklichkeitsstiftenden Aussage kommt, von wem diese artikuliert wird – und von wem nicht (vgl. auch Diaz-Bone 2003: 64). Das bedeutet, „Foucault ist nicht an der Wahrheit oder der Bedeutung einer Aussage interessiert, sondern an deren diskursiver Möglichkeitsbedingung“ (Dzudzek/Kunze/Wullweber 2012: 11; vgl. auch Diaz-Bone 2003: 64). Denn auch Wahrheit ist für Foucault stets kontextbezogen: „Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser Welt wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‚allgemeine Politik‘ der Wahrheit“ (Foucault 1978: 51).

Dabei stellt Foucault – dies wird im Rahmen der vorliegenden Analyse von besonderer Bedeutung sein – den Bezug zum Alltag heraus: Diskursives Wissen wird „im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm sein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muß und das andere in ihm anerkennen müssen“ (Foucault 1999: 246).

Diskurse werden im Rahmen der theoretischen Weiterentwicklung durch Foucault selbst, aber insbesondere durch auf seine Überlegungen aufbauende Autor_innen, nicht auf Sprache begrenzt, sondern als diskursive Praktiken untersucht, durch die Diskurse Subjekte formen (vgl. Keller 2007b: 48).24 Foucaults Diskursbegriff wurde innerhalb poststrukturalistischer Theorieansätze erweitert; Butler als einer weiteren zentralen Bezugsperson poststrukturalistischen Denkens kommt hierbei eine bedeutende Rolle zu. Auch für sie sind sowohl die produktive Macht von Diskursen als auch deren ordnende Funktion zentral (vgl. Gildemeister/Hericks 2012: 210). Demnach stellt ein Diskurs „nicht einfach vorhandene Praktiken und Beziehungen dar, sondern er tritt in ihre Ausdrucksformen ein und ist in diesem Sinne produktiv“ (Butler 1993a: 129). Ihre Produktivität erlangen Diskurse für Butler durch performative Sprechakte, verstanden als solche Aussagen, in denen das Aussprechen bereits die Handlung ist, wie etwa Eheschließungen oder 24 Praxistheorien setzen hier in jüngerer Zeit verstärkt an und plädieren für ein Verständnis von Diskursen als in erster Linie (diskursive) Praktiken (vgl. z. B. Reckwitz 2008; Wrana 2015). Die theoretische Diskussion, inwiefern sich Praktiken in diskursive und nicht-diskursive Praktiken einteilen lassen, wird an dieser Stelle nicht weiterverfolgt, vgl. für einen Vorschlag zur Unterscheidung etwa Bührmann/Schneider (2007) sowie für eine kritische Betrachtung etwa Wrana/Langer (2007). 33

34

3 Theoretische Einbettung

Gesetzestexte oder die Anrufung, d. h. die Benennung von Personen.25 Voraussetzung für das Funktionieren ist die Konvention, innerhalb derer die Sprechakte erst ihre (in einem bestimmten Kontext) allgemeine, d. h. überindividuell anerkannte Bedeutung erhalten. Diskurse konfigurieren also durch die und in der Benennung überhaupt erst die Subjekte, auf die sie sich beziehen. Sie dienen einer handlungsanleitenden Strukturierung der Wirklichkeit. Für Butler geht es darum, „die herrschenden Diskurse darauf hin zu befragen, welche Ordnung, welche Wirklichkeit sie schaffen“ (Gildemeister/Hericks 2012: 211) – wie sie also für die Subjekte wirksam werden und wie sie diese als solche erst produzieren (vgl. Butler 1997: 154). Dabei betont Butler, dass „Macht auch mit der Verwerfung von Wirkungen arbeitet, mit der Produktion eines ‚Außen‘, eines Bereichs, der einschließt, was nicht lebbar und nicht intelligibel ist, und der den Bereich intelligibler Wirkungen begrenzt“ (Butler 1997: 49).

Neuere soziologische und politikwissenschaftliche Ansätze kritisieren in dieser Konzentration auf die Wirkungsmacht von Diskursen eine mangelnde gesellschaftstheoretische Fundierung und versuchen durch entsprechende Erweiterungen, poststrukturalistische Perspektiven für eine kritische Gesellschaftstheorie fruchtbar(er) zu machen (vgl. Dzudzek/Kunze/Wullweber 2012; Lorey/Ludwig/Sonderegger 2016; Maihofer 2007). Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991) unterfüttern den Diskursbegriff in ihrer Weiterentwicklung (bereits 1985) unter Rückgriff auf das konsensuale Machtverständnis des marxistischen Denkers Antonio Gramsci hegemonietheoretisch: Bei ihnen steht der Diskurs für die gesellschaftliche Struktur, die als ein Ergebnis von sozialen Aushandlungsprozessen gesehen wird (vgl. Wullweber 2012: 40). In diesen Prozessen werden verschiedene mögliche Wahrheiten verhandelt und privilegiert oder verworfen; auch können Kompromisse gefasst, Widersprüche integriert und Verschiebungen vorgenommen werden. Die Perspektive ermöglicht, vor allem die Prozesshaftigkeit und Umkämpftheit sozialer Verhältnisse zu berücksichtigen (vgl. Dzudzek/Kunze/Wullweber 2012: 15f.), und figuriert nicht nur Zwang, sondern auch Zustimmung als Wirkungsweise von Macht. Laclau und Mouffe betonen mit diesem Fokus die politische Verfasstheit aller sozialen Phänomene und stellen weniger die sozialen Stabilisierungen von Wissensordnungen als vielmehr die diese ‚Wahrheiten‘ erst produzierenden Strukturierungslogiken in den Vordergrund ihrer Analysen (vgl. Wullweber 2012: 51). Der hier verwendete Diskursbegriff verweist, zusammengefasst, auf die machtdurchdrungene symbolische Dimension der Formierung von sozialer Ordnung und Subjekten (vgl. Angermuller 2014: 75). In der dargelegten und im Forschungsprozess 25 Hierbei bezieht sich Butler auf John L. Austins Sprechakttheorie (Austin 1962).

3.2 Subjektwerdung als diskursiver Prozess

35

eingenommenen diskurstheoretischen Sicht ist die Welt „demnach nicht unmittelbar zugänglich, sondern immer nur über eine symbolisch kodifizierte Ordnung, die diskursiv hergestellt und gegebenenfalls reproduziert bzw. verändert wird“ (Bublitz 2003: 57). Diskurse erzeugen somit „das in der Sprache aufscheinende Verständnis der Wirklichkeit, d. h. was als ‚wahr‘, ‚wichtig‘, ‚richtig‘, ‚möglich‘ und als das jeweilige Gegenteil zu einem historischen Zeitpunkt aufgefasst wird“ (Moser 2010: 15). Auch in der Darstellung und Diskussion der Auswertungsergebnisse wird immer dann auf die Formulierung der diskursiven Herstellung zurückgegriffen, wenn deutlich gemacht werden soll, dass hier eine ‚Wahrheit‘ (re)produziert wird, durch welche die Beteiligten auf die Welt zugreifen. Mit der poststrukturalistischen Abkehr von fixen Kategorien geht ebenfalls eine kritische Beschäftigung mit dem Begriff der Identität einher, da auch ein solcher innerer ‚Kern‘ als diskursiv konstruiert gesehen wird (vgl. Angermuller 2014: 22; Liebsch 2008). So schlägt Katharina Liebsch vor, „den Identitätsbegriff von seinen absichernden, definitorischen und festlegenden Aspekten zu befreien und ihn als vorläufigen, vielfältigen, dynamischen Entwurf des eigenen Tuns und Handelns“ (Liebsch 2001: 22) einzusetzen. Utan Schirmer präferiert den Terminus der „Selbstverhältnisse, verstanden als Formen und Modi der (praktisch-reflexiven) Bezugnahme auf sich selbst“ (Schirmer 2010: 50). Der hierin bereits deutlich werdende reflexiv-produktive Selbstbezug ist für die im Rahmen dieser Arbeit diskutierten Erkenntnisse zentral, weshalb die begriffliche Konzeption des (geschlechtlichen) Selbstverhältnisses (vgl. auch Bosančić 2016; Kleiner 2015; König 2014) gegenüber jener der Identität im Folgenden als Analysebegriff bevorzugt wird.

3.2

Subjektwerdung als diskursiver Prozess

3.2

Subjektwerdung als diskursiver Prozess

Mit der poststrukturalistisch begründeten Dezentrierung des Subjekts rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie sich das Selbst in historisch kontingenten Kontexten und Räumen in Auseinandersetzung mit der Umwelt konstituiert, was mit dem Begriff der Subjektivierung eingefangen werden kann und sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zu einer grundlegenden sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektive entwickelt hat (vgl. Alkemeyer/Budde/Freist 2013; Bröckling 2007; Geimer/Amling/Bosančić 2019a; Lemke 2003; Miller/Rose 1990; Opitz 2004; vgl. auch Kap. 2.5).26 26 Dass auch die Art und Weise der (wissenschaftlichen) Subjektkonzipierung selbst ebenfalls historischem Wandel und gesellschaftlichen Verhältnissen unterworfen ist, 35

36

3 Theoretische Einbettung

Foucault und Butler „beschreiben Subjektwerdung als einen Prozess, in dem Menschen durch machtvolle, historisch-kontingente Wahrheitsordnungen ‚ins Leben gerufen‘ werden“ (Bosančić 2016: 98). In ihren Analysen bilden also nicht die Individuen den Ausgangspunkt, sondern „die Strukturen, die bestimmte Formen von Subjektivität hervorbringen“ (Meißner 2010: 11). Die prinzipielle Unabgeschlossenheit ist demnach für Subjektwerdungsprozesse charakteristisch. Foucault begreift „Subjektivierung als einen Formungsprozess, bei dem gesellschaftliche Zurichtung und Selbstkonstitution in eins gehen“ (Bröckling 2002: 177). Dabei interessiert er sich insbesondere für die Mechanismen, mittels derer Subjekte produziert werden, also für die Techniken von Fremd- und Selbstführung, d. h. für die „konkreten, Diskurse und Praktiken verknüpfenden Verfahren, die aus empirischen Einzelmenschen autonom handelnde Subjekte und an die Erfordernisse der modernen Gesellschaft angepasste Individuen machen“ (Schrage 2008: 4125). Technologien bzw. Techniken des Selbst können dabei verstanden werden als Mechanismen der Selbstführung, durch die Individuen scheinbar autonom und authentisch handeln und damit zu ihrer Subjektwerdung beitragen, und zwar als „Weisen des Sich-Wissens und des Sich-Bearbeitens“ (Schirmer 2010: 50). Es wird somit von „self-regulating capacities of subjects“ (Miller/Rose 1990: 8) ausgegangen. Zugleich sind diese Technologien des Selbst „eingelassen in Macht- und Wissensformationen sowie soziale und materielle Beziehungen und fundamental abhängig von den ‚Schemata‘, die das Individuum ‚in seiner Kultur vorfindet‘“ (Duttweiler 2016: 29). Mit dem Kunstwort der Gouvernementalität bezeichnet Foucault jene Macht-Wissen-Komplexe hinter den politischen Regierungsformen moderner Staaten, die auf eben diese Selbstführung der Bürger_innen zurückgreifen, um jenseits von disziplinierenden Maßnahmen die Bevölkerung in ihrem Sinne zur Initiative und Selbstregulierung anzuregen und zu kontrollieren. Statt über Disziplinierung vollzieht sich die Wirkmächtigkeit also über die Anregung zur Selbstregierung (vgl. Schrage 2008: 4126). Es geht demnach für Foucault darum, „die verschiedenen Formen [zu] analysieren, durch die das Individuum dazu gelangt, sich selbst als Subjekt zu konstituieren“ (Foucault 2009: 18).

darauf weisen Alkemeyer, Budde und Freist in der Einleitung ihres Sammelbandes zu „Selbst-Bildungen“ hin: „Für historisch verfahrende Kulturanalysen sind Veränderungen von Subjektauffassungen von prominenter Bedeutung, weil diese Auffassungen auf Selbstverständnis und Lebenswelt der Menschen schließen lassen. Die Konjunktur und der leidenschaftlich umkämpfte Charakter von Subjektdiskursen zeigen, dass ‚die Fragen nach der Form des Subjekts‘ und der ‚sozial-kulturellen (Selbst-)Modellierung des Menschen‘ für unsere Kultur und Gesellschaft nach wie vor zu den Schlüsselfragen gehören“ (Alkemeyer/Budde/Freist 2013: 10).

3.2 Subjektwerdung als diskursiver Prozess

37

Bei Butler tritt die grundlegende Bedeutung von Sprache deutlich hervor. So ist das Subjekt für sie „die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit“ (Butler 2001: 15). Butlers Argumentation mit Blick auf die Subjektkonstitution dreht sich, in Anlehnung an Louis Althusser, um das Konzept der Anrufung (Interpellation)27. Dieses Konzept ist bei ihr das theoretische Scharnier der Subjektkonstitution, mittels dessen sie „die gesellschaftliche Konfiguration von Subjekten im Zusammenwirken von Fremd- und Selbstformierung“ (Wiede 2014: o. S.) denkt. Auch hier wird kein souveränes, vorgängiges Subjekt angerufen, vielmehr formiert sich das Subjekt erst durch die Anrufung: „Wo ein ‚Ich‘ vorhanden ist, das sich äußert oder spricht und damit eine Wirkung im Diskurs erzielt, da ist zuerst ein Diskurs, der dem ‚Ich‘ vorhergeht und es ermöglicht […]. Deshalb gibt es kein ‚Ich‘, das hinter dem Diskurs steht […]. Das ‚Ich‘ entsteht vielmehr nur dadurch, indem es gerufen wird, benannt wird, angerufen wird“ (Butler 1997: 310).

Dieser Anrufungsakt ist insofern instabil, als er stets missverständlich und offen für Bedeutungsverschiebungen ist. Hier knüpft Butler an die Sprechakttheorie von John L. Austin (vgl. Kap. 3.1) sowie die Ausführungen von Jacques Derrida zur Iteration als einer zitathaften Wiederholung an, die per se eine Varianz in sich birgt und nicht auf ein Original zurückgreift (vgl. Derrida 1988). Für Butler ist somit „jeder ‚Akt‘ ein Echo oder eine zitatförmige Kette, und es ist seine Zitatförmigkeit, die seine performative Kraft ausmacht“ (Butler 1997: 380), woraus sich zugleich eine Handlungsmöglichkeit daraus ergibt, dass diese Wiederholung variiert werden kann (vgl. Butler 1991: 213). Performative Sprechakte haben damit für Butler die „Macht, subjektivierende Wirkungen zu produzieren oder zu materialisieren“ (Butler 1997: 154). Als Beispiel führt sie die performative Geschlechtszuweisung während der Geburt durch den Ausruf „Es ist ein Mädchen/Junge!“ an. Dieser Ausruf kann nur erfolgreich sein, sofern er auf eine abgesicherte, geteilte Vorstellung von Geschlecht zurückgreift und diese somit zitiert hat (vgl. Wiede 2014: o. S.). Das Konzept der Anrufung stellt für Butler ein Erklärungsmodell für Subjekte dar, die stets aus und zugleich innerhalb von Sprache entstehen (vgl. Butler 2001: 101). Butler sieht außerdem das verworfene Andere als konstitutiv für die Subjekterschaffung – hierdurch wird definiert, wer als Subjekt gilt bzw. gelten darf, so „konstituiert sich das Subjekt durch einen bestimmten Prozeß der Ausschließung und Differenzierung“ 27 In Althussers häufig zitierter Beispiel-Szene wird ein Passant vom Polizisten mit dem Ruf „He, Sie da!“ angesprochen – indem er sich umdreht und das Gerufene als für ihn geltend annimmt, wird er zum Subjekt (vgl. Althusser 1977: 142). 37

38

3 Theoretische Einbettung

(Butler 1993b: 44).28 Gleichzeitig wird die zentrale Bedeutung der Anderen im Prozess der Subjektwerdung deutlich – die Abhängigkeit von der Anerkennung durch Andere verweist auf die Angewiesenheit auf Andere als konstitutives Merkmal von Subjektivierung (vgl. Butler 2006: 48). Angeregt durch Butler haben sich innerhalb des poststrukturalistischen Denkens dekonstruktivistische Vorgehensweisen etabliert, die auf Derridas Grundgedanken der Dekonstruktion zurückgehen und „die hegemonialen Ein- und Ausschlußverfahren aufdecken, wodurch Subjektpositionen konstruiert und konstituiert werden“ (Wartenpfuhl 1996: 206f.).29 Mit Nina Degele lässt sich Dekonstruktion weniger als Theorie oder Methode, sondern vielmehr als eine kritische Haltung gegenüber festen Kategorien und Begriffen begreifen (vgl. Degele 2008: 19). Ziel ist das Aufspüren von Verdrängtem, Nicht-Sagbarem und damit das Aufdecken von potenziell anderen Wirklichkeiten und Seinsweisen. Grundlegend für eine dekonstruktivistische Perspektive auf Subjekte und ihre Hervorbringung ist die an Butler anschließende Annahme, dass Prozesse der Subjektwerdung durch ihren performativen Charakter stets unabgeschlossen sind und ihre zitatförmigen Wiederholungen nie völlig identische Reproduktionen darstellen, sondern immer auch die Möglichkeiten der Bedeutungsverschiebungen beinhalten (vgl. Wrana 2015: 13). Daraus erwächst die Sicht auf eine prinzipielle Instabilität von Subjektivität, was wiederum deren kontingenten Konstruktcharakter offenbart – wenn Subjekte immer im Werden sind, dann könnte doch vielleicht auch anderes Werden möglich sein. Ein zentraler Aspekt einer poststrukturalistischen Perspektive, durch den sie sich von der strukturalistischen unterscheidet, ist, dass dem Subjekt eine gewisse Handlungsfähigkeit zugestanden wird.30 Diese steht allerdings nicht unter dem 28 Eine ausführliche Behandlung von Butlers Subjektivierungskonzeption findet sich etwa bei Sabine Hark (1999). 29 Jacques Derrida, auf den die Dekonstruktion zum großen Teil zurückgeht, entwickelte in den 1960er-Jahren ein Vorgehen, das die potenziell unabschließbaren Deutungsmöglichkeiten eines Textes sowie die Machtwirkungen, die zur Ausformung ganz bestimmter Deutungen sowie zum Ausschluss anderer führen, berücksichtigt und somit auch einen politischen Anspruch verfolgt (vgl. Derrida 1976). Mit Dekonstruktion wird folglich das – ursprünglich literaturwissenschaftliche – Verfahren bezeichnet. Dekonstruktivismus wiederum wird als Begriff für die – insbesondere sozialwissenschaftlichen – Perspektiven genutzt, die mithilfe der Dekonstruktion zu Erkenntnissen gelangen wollen. 30 Die Frage nach dem Verhältnis von individueller (oder auch kollektiver) Handlungsfähigkeit und sozialen Strukturen bzw. von individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Begrenzung wird in den letzten Jahren, auch unter dem Stichwort Agency, als Teil der Subjekt-Struktur-Debatte in den Sozialwissenschaften verstärkt diskutiert (vgl. z. B. Bethmann et al. 2012; Bührmann/Schneider 2008; Emirbayer/Mische 1998; Keller/Schneider/Viehöver 2012b).

3.2 Subjektwerdung als diskursiver Prozess

39

Vorzeichen von Autonomie, sondern wird als von Diskursen gerahmt aufgefasst. Durch Diskurse „wird der Denkraum eingezäunt, der Kritik ihre Grenze vorgegeben und letztlich individueller wie kollektiver Handlungsspielraum abgesteckt“ (Michalitsch 2006: 32). Auch für Butler und Foucault ist die Handlungsfähigkeit von Subjekten und damit deren widerständiges Potenzial immer eingebettet in Machtstrukturen zu betrachten (vgl. Bosančić 2016: 101). So weist Butler auf die den Subjekten inhärente Ambivalenz hin, nach der „das Subjekt sowohl als Effekt einer vorgängigen Macht wie als Möglichkeitsbedingung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit entsteht“ (Butler 2001: 19; Herv. i. O.). Damit ist zwar nicht die Annahme eines vollständig (diskurs-)determinierten Subjekts verbunden; das Handeln kann in dieser Lesart für die Subjekte jedoch immer nur aus dem Diskurs heraus erfolgen (vgl. Jäckle 2011: 39). Demnach ist es zentral, „Handlungs- und Veränderungspotentiale nicht in den Individuen zu suchen, sondern die Bedingungen von Handlungsfähigkeit, die über diskursive und/oder interaktionelle Ausschlußmechanismen hergestellt werden, zu benennen und zu verschieben“ (Dunker 1996: 31).

An Butlers Subjektwerdungsperspektive wird, gerade vor dem Hintergrund der Betonung des produktiven Charakters von Macht durch Foucault, z. T. eine Engführung auf Subjektivierung als Unterwerfung kritisiert, Foucaults Perspektive wiederum ist dem Vorwurf – auch vonseiten Butlers – ausgesetzt, er setze den Körper als (vordiskursiven) Ausgangspunkt seiner Überlegungen und essentialisiere ihn dadurch zu einem Teil (vgl. Bosančić 2016: 98ff.). Zentral ist für beide aber die Parallelität der Prozesse von Unterwerfung und Selbstwerdung als Kerncharakteristikum der Subjektivierung. Mit Blick auf Subjektivierungsprozesse wird demnach gefragt, wie Menschen zu Subjekten geformt werden und wie sie sich selbst zu Subjekten formen (vgl. Wiede 2014: o. S.). Subjektivierung kann daher als Bezeichnung für den Prozess gesehen werden, „in dem Menschen bzw. Individuen sich in Wissens-, Macht- und Selbstpraktiken als ein Subjekt zu verstehen lernen, d. h. die Deutungsfigur des ‚Subjekts‘ auf sich zu beziehen lernen, von anderen für sich selbst – in Handlungen und Selbstverständnissen – verantwortlich gemacht werden und schließlich sich selbst entlang dieser Vorgaben zu verstehen und zu gestalten“ (Ricken 2013: 33).

Diese Erkenntnisperspektive auf die Art und Weise, wie Individuen bestimmte Verhältnisse zu sich selbst und ein bestimmtes Verständnis der Beziehung zwischen sich selbst und der Welt nahegelegt werden (vgl. Weedon 1987: 32), ist auch für die 39

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3 Theoretische Einbettung

vorliegende Untersuchung zentral: Insbesondere während der Auswertung des empirischen Materials hat sich im Verlaufe einer zunächst möglichst offenen Herangehensweise zunehmend gezeigt, dass sich mit den konzeptionellen Annahmen der Subjektivierung die Beobachtungen der engen Verbindung von Selbst-Bezügen und Geschlechtlichkeit in den Verhandlungen der Jugendlichen theoretisch fassen lassen und sie somit für den Erkenntnisgewinn äußerst fruchtbar sind (vgl. Kap. 4.3.3). Während sich sozialwissenschaftliche Jugendforschung häufig im Rahmen des Sozialisationsparadigmas bewegt, wird deshalb als Grundlage dieser Studie eine Perspektive auf Subjektivierung präferiert. Dies ergibt sich insbesondere aus dem zugrunde liegenden dezentrierten Subjektbegriff, der sich mit dem Sozialisationskonzept nicht prägnant fassen lässt, denn dieses „betont die Vergesellschaftung im Sinne einer Vereinheitlichung der Individuen über die Verinnerlichung der Normen und Rollenerwartungen“ (Bührmann/Diezinger/Metz-Göckel 2014: 168). Bezogen auf Geschlecht bedeutet das: „In der allgemeinen sozialisationstheoretischen Perspektive werden Personen in der Regel in ein duales Schema als Frau oder Mann hinein ‚sozialisiert‘“ (Bührmann/Diezinger/Metz-Göckel 2014: 169). Aus poststrukturalistischer Sicht ist dieser Ausgangspunkt am Individuum als dem Prozess der Vergesellschaftung Vorgängiges problematisch, weshalb sich das Konzept der Subjektivierung hier als geeigneter herauskristallisiert (vgl. Hartmann 2004: 259; Liebsch 2012: 23). Es fragt nicht nur nach der Vergesellschaftung der Individuen, sondern nach der Subjektwerdung selbst, also der Selbst-Bildung (vgl. Alkemeyer/Budde/Freist 2013), und damit nach der Erlangung von Handlungsfähigkeit, innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und struktureller Machtverhältnisse.31 Der Subjektivierungsbegriff bewirkt, auch gegenüber neueren, die Kritik an der Eingleisigkeit der Normierungsperspektive aufnehmenden Sozialisationsansätzen, noch stringenter die Fokussierung von prinzipiell unabgeschlossenen, komplexen und reziproken Prozessen sowie „eine Perspektivenverschiebung in Richtung der gesellschaftlichen Diskurse und kulturellen Ordnungen, die geschlechtliche Subjekte machtvoll hervorbringen“ (Dausien/Walgenbach 2015: 26). Er wird daher den Ausführungen dieser Arbeit zugrunde gelegt.32 Dabei ist die produktive Macht, die Diskurse im Prozess der Subjektkonstituierung innehaben, zentral: 31 Die Perspektivenverschiebung lässt sich anhand der Modifizierung einer Frage konkretisieren: Während im sozialisationstheoretischen Paradigma gefragt werden würde: „Wie wird ein Individuum (im Aufwachsen innerhalb einer Gesellschaft) zu einem Mädchen/einem Jungen?“, stellt sich die Frage in einer Subjektivierungsperspektive eher folgendermaßen: „Welche Mechanismen führen dazu, dass Individuen (innerhalb einer Gesellschaft) zu (binär) vergeschlechtlichten Subjekten werden?“. 32 In den 1990ern und 2000er-Jahren wurde der Sozialisationsbegriff auch in der Sozialisationsforschung selbst zunehmend als in seiner normierenden Konzeption veraltet

3.2 Subjektwerdung als diskursiver Prozess

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„Das Wissen, der ‚wahre‘ Diskurs, wird hier nicht nur als anleitend und führend gedeutet, sondern als Subjektivität hervorbringend, denn es stellt der Selbst-Konstruktion die Denkfiguren bereit und gibt der Selbstverortung den Horizont vor. Es strukturiert Denken und Fühlen, die Wahrnehmung ebenso wie Verhalten und Handeln bestimmen“ (Michalitsch 2006: 32).

In den Blick geraten in dieser Perspektive „historische Konfigurationen, in denen bestimmte Modelle, das Subjekt zu denken, sich mit spezifischen Verfahren verbinden, es praktisch zu formen“ (Bröckling 2007: 25).33 Dabei drängte sich im Laufe der Analyse eine Denkfigur gegenwärtiger Subjektivierungsweisen als theoretische Hintergrundfolie auf, die für die weitergehenden Überlegungen im Rahmen dieser Arbeit anschlussfähig scheint und aus diesem Grund – als Vorwegnahme entsprechender Erkenntnisse aus der Analyse – bereits an dieser Stelle eingehender behandelt wird: Auf den Gedanken der Subjektivierung aufbauend wurden in den letzten Jahren in zeitdiagnostischen Analysen gegenwärtige hegemoniale Subjektivierungsweisen herausgearbeitet, die dem beobachteten Wandel in Bezug auf Sozialstaat, Arbeit und Familie Rechnung tragen, dabei eine „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling/ Krasmann/Lemke 2000) diagnostizieren und sich um hiermit verbundene Schlagworte wie Individualisierung, Flexibilität und Eigenverantwortung formieren (vgl. auch Alkemeyer/Budde/Freist 2013: 10f.; Boltanski/Chiapello 2003; Opitz 2004; Pühl 2003). Großen Anklang gefunden hat dabei ein Modell,34 das den neoliberalen Kontext seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt: das unter-

und unpassend diskutiert und hat seitdem darauf reagierende Überarbeitungen erfahren (vgl. Liebsch 2012: 17). Auf den Problematisierungen aufbauende neuere Sozialisationsansätze plädieren für eine stärkere Berücksichtigung des aktiven Charakters von Individuen und für „ein Verständnis von Sozialisation, das ein Zusammenwirken von strukturellen Bedingungen und Verarbeitungsweisen der Individuen annimmt“ (Bührmann/Diezinger/Metz-Göckel 2014: 170). Ein aktueller Ansatz zur Integration von Subjektivierungsperspektiven in die erziehungswissenschaftliche Forschung findet sich in Ricken/Casale/Thompson 2019. 33 So lässt sich etwa auch „Individualisierung“ als eine historisch-spezifische Subjektivierungsweise mit spezifischem Wissen und Praktiken fassen, „die es Menschen ermöglicht und die sie genötigt haben, sich als autonome Persönlichkeiten zu begreifen, die eine unverwechselbare Identität besitzen und dieser in ihren Lebensäußerungen einen authentischen Ausdruck zu verleihen suchen, kurzum: die sie dazu gebracht haben, sich als Individuen zu sehen und zu verhalten“ (Bröckling 2007: 25). 34 Uneinigkeit herrscht darüber, ob es sich lediglich um einen Sozialtypus oder um eine neue hegemoniale Subjektivierungsweise handelt (vgl. Keller/Schneider/Viehöver 2012a: 8). Villa sieht im unternehmerischen Selbst „die vorherrschende Vergesellschaftungsform der Gegenwart“ (Villa 2011: 17). 41

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3 Theoretische Einbettung

nehmerische Selbst,35 in dieser deutschsprachigen Begrifflichkeit geprägt von Ulrich Bröckling.36 Das unternehmerische Selbst „benennt die mikropolitische Ratio, auf welche die zeitgenössischen Technologien der Selbst- und Fremdführung zulaufen“ (Bröckling 2002: 179) – diese Ratio richtet sich nach ökonomischen Maßstäben. Die vermeintlich autonome Selbstführung der Einzelnen nimmt hierbei eine zentrale Stellung ein, denn mit „Marktmaximen wie Effizienz, Mobilität und Selbstverantwortung“ (Lengersdorf/Motakef 2010: 81) werden Individuen dazu angehalten, ihr Leben als Projekt zu entwerfen und nach unternehmerischer Logik zu führen. Damit wird auch die produktive und konsensuale Dimension von Macht hervorgehoben, denn der Begriff des unternehmerischen Selbst „bündelt nicht nur einen Kanon von ‚Du sollst dieses‘- ‚Du darfst nicht jenes‘-Regeln, sondern definiert auch die Wissensformen, in denen Individuen die Wahrheit über sich erkennen, die Kontroll- und Regulationsmechanismen, denen sie ausgesetzt sind, sowie die Praktiken, mit denen sie auf sich selbst einwirken“ (Bröckling 2002: 179).

Der damit verbundene appellative bzw. präskriptive Charakter (vgl. Bröckling 2002: 179) des unternehmerischen Selbst macht außerdem das Prozesshafte desselbigen deutlich, was sich für Bröckling im Appell „Werde du selbst!“ (Bröckling 2002: 177) manifestiert. Nach Bröckling wird auch Geschlecht den Flexibilitäts- und Leistungsanrufungen unterworfen (vgl. Bröckling 2002: 191f.). Diese Bezugnahme auf geschlechtliche Implikationen der Subjektivierungsweise des unternehmerischen Selbst verfolgt er allerdings nicht systematisch (vgl. Lengersdorf/Motakef 2010: 88).37 Die Diskussion der empirischen Befunde der vorliegenden Untersuchung lässt sich vor diesem Hintergrund auch als grundlegende Erweiterung der mit dem 35 Bröckling übersetzt den ursprünglich englischen Terminus des enterprising self auch mit „Unternehmer seiner selbst“ (Bröckling 2002: 178) – von der „Unternehmerin ihrer selbst“ (Bröckling 2002: 178) spricht Bröckling lediglich dann, wenn er diese explizit vom männlichen Subjekt unterscheiden will. 36 Der englischsprachige Terminus „enterprising subject“ findet sich bereits bei Nikolas Rose (1996). Ein weiteres Modell ist das postmoderne Selbst nach Andreas Reckwitz (2006), das durch Selbstthematisierungen des Subjekts im Rahmen von Authentizität und Selbstbestimmung gekennzeichnet ist. 37 In einem unter dem Titel „Das unternehmerische Selbst und seine Geschlechter“ erschienenen Artikel (Bröckling 2002) geht Bröckling zwar auf die Dimension Geschlecht ein, beschränkt sich aber auf das Herausarbeiten geschlechtsspezifischer Anrufungen (im konkreten Feld der Ratgeber-Literatur) in Bezug auf die zweigeschlechtlich vorgefasste Gruppe der Frauen und schöpft so das Erkenntnispotenzial, das eine analytische Verschränkung des Denkmodells des unternehmerischen Selbst als gegenwärtiger Subjektivierungsweise mit diskurstheoretischen Geschlechterperspektiven bergen könnte, nicht aus.

3.3 Geschlecht und Sexualität als Diskursprodukte

43

Modell des unternehmerischen Selbst vorgeschlagenen Perspektive auf gegenwärtige Subjektivierung als flexibles und selbstverantwortliches Selbst-Projekt sehen, welche diesen Blickwinkel mit diskurstheoretischen Perspektiven auf Geschlecht zusammenbringt. Diskursorientierte Annäherungen an Geschlecht werden im Folgenden in ihren zentralen theoretischen Grundzügen umrissen.

3.3

Geschlecht und Sexualität als Diskursprodukte

3.3

Geschlecht und Sexualität als Diskursprodukte

Die poststrukturalistische Verortung hat für die Sicht auf und Konzipierung von Geschlecht spezifische Implikationen. So wird – ganz im Einklang mit der poststrukturalistischen Grundannahme, dass es keinen inneren, essenziellen Wesenskern des Menschen bzw. des Menschseins gibt – Geschlecht nicht als etwas aufgefasst, das der Mensch hat und das sich auf spezielle Weise ausdrückt oder das sozial lediglich in bestimmte Bahnen gelenkt wird, sondern als etwas, das sich erst in der Auseinandersetzung zwischen Selbst und Gesellschaft und vermittelt über machtvolle Diskurse formt und fortwährend (re)produziert, also überhaupt erst konstruiert wird. Entsprechend liegt das Augenmerk von poststrukturalistisch gerahmten Untersuchungen wie der vorliegenden nicht auf der Beobachtung von (starren) Geschlechterdifferenzen, sondern auf den Mechanismen und Bedingungen, die bestimmte geschlechtliche Subjektpositionen ermöglichen und nahelegen sowie andere ausschließen oder abwerten bzw. gar nicht erst aufscheinen lassen – kurz: auf den machtdurchzogenen Prozessen, welche die ‚Wahrheit‘ von Geschlecht in der gegenwärtigen Gesellschaft erzeugen. In der empirischen Untersuchung wurden nicht in erster Linie die Praktiken der Geschlechterdifferenzierung oder daraus resultierende Ungleichheiten fokussiert, sondern das Erkenntnisinteresse ist darauf gerichtet, welches Wissen und welche ‚Wahrheiten‘ von Geschlecht bei den Jugendlichen verhandelt werden bzw. aufscheinen. Für die dekonstruktivistische Geschlechterforschung, die meist im poststrukturalistischen Paradigma verortet ist, boten Foucaults in den 1970er- und 1980erJahren veröffentlichte Ausführungen zu Sexualität und Macht sowie die hieran anknüpfenden Überlegungen Butlers zu Geschlecht und Sexualität in den 1990erJahren einen zentralen Ausgangspunkt (vgl. Kap. 2.1). Foucault widmet sich in seiner Arbeit38 der Verknüpfung von Subjektivität und Sexualität über spezifische Machtformationen und zeigt in historischer Perspektive 38 In diesem Zusammenhang ist vor allem sein dreibändiges Werk „Sexualität und Wahrheit“ zu nennen, das er zwischen 1976 und 1984 veröffentlichte. 43

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3 Theoretische Einbettung

auf, „inwieweit Homo- und Heterosexualität als spezifische zeit- und kontextgebundene ‚Diskursprodukte‘ interpretiert werden können und daher keineswegs ‚vorsozial‘ oder ‚natürlich‘ sind“ (Klapeer 2015: 28). Entscheidend ist für ihn, „dass es Macht/Wissen-Komplexe sind, die die verschiedenen sexuellen Identitäten und Praxen als Gegenstände wissenschaftlichen Forschens und gesellschaftliche Tatbestände überhaupt erst erschaffen“ (Engel/Schuster 2007: 137). Zentral in Foucaults Werk ist sein Vorschlag, „Sexualität, Körper und sexuelle Identitäten als Effekt von Macht statt als naturgegeben zu begreifen“ (Ludwig 2016: 15). Dazu zeichnet er den medizinisch-psychiatrischen Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und zeigt, wie hier Sexualität – durch die Konstruktion von Homosexualität als Abweichung sowie, daraus entstehend, Heterosexualität als Normalität bzw. Norm – erst produziert wird (vgl. Foucault 1983: 127). „Die Sexualität ist keine zugrunde liegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten“ (Foucault 1983: 128).

Der Sexualität der modernen (westlichen) Gesellschaften, die Foucault entsprechend seinem produktiven Machtverständnis (vgl. Kap. 3.1) unter dem Blickwinkel einer normalisierenden und weniger einer disziplinierenden Macht sieht, kommt in diesem Verständnis eine zentrale Stellung in „der Herausbildung des Subjekts sowie dessen Unterwerfung durch Disziplinierungs- und Normalisierungspraktiken“ (Engel/ Schuster 2007: 136) zu. Für die Entwicklung dieses modernen Subjekts hebt Foucault als konstitutiv hervor, dass nun Sexualität als Ausdruck des innersten, verborgenen Selbst angesehen wird (vgl. Foucault 1983: 150). Auch in Bezug auf Geschlecht sind seine historisierenden Betrachtungen grundlegend. So zeichnet er nach, wie „mit dem Auftauchen der Idee eines ‚wahren Geschlechts‘ ein medizinisch-juridisches Macht-Wissen entsteht, das eine geschlechtliche Eindeutigkeit der Körper fordert und gegebenenfalls herzustellen trachtet“ (Engel/Schuster 2007: 142). Er verweist also auf die machtvolle Konstruktion binärer (Geschlechts-)Körper und liefert damit eine zentrale Anschlussstelle für Butlers darauf aufbauende Argumentationen. Butler sucht in theoretischer Perspektive nach den diskursiven Zusammenhängen von Geschlecht und Sexualität und unternimmt damit eine zentrale „Theoretisierung der machtvollen Konstitution binär vergeschlechtlichter Subjekte“ (Ludwig 2012: 106). Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die Frage, wie durch Diskurse zwei Geschlechter bzw. binär vergeschlechtlichte Subjekte hervorgebracht werden, „die in einem Über- und Unterordnungsverhältnis gedacht werden und in einen sexuellen Bezug zueinander gestellt werden“ (Gildemeister/Hericks 2012: 212). Zentral

3.3 Geschlecht und Sexualität als Diskursprodukte

45

sind in ihrer Argumentation die Begriffe Zwangsheterosexualität, Naturalisierung und Performativität. In einen Zusammenhang gesetzt werden diese durch das Ordnungsschema der heterosexuellen Matrix (Butler 1991: 219): Gender, sex39 und Begehren werden demnach in der Weise aufeinander bezogen, dass sie gemeinsam ein kohärentes System bilden, welches wiederum auf einem binären Geschlechterverständnis beruht. In diesem System verhalten sich die entsprechend dichotom konstruierten Geschlechter (also Frau und Mann) zueinander komplementär und stehen in einem hierarchischen Verhältnis. Somit werden sowohl das Begehren als auch gender und sex als gegengeschlechtlich konstruiert, was wiederum die Konstruktion von zwei sowohl körperlich als auch sozial klar voneinander unterscheidbaren Geschlechtern bedingt: Eine ‚biologische‘ Frau fühlt und verhält sich wie eine Frau und begehrt Männer – und wird genau deshalb wiederum als Frau gefasst. Damit ist es für Butler die Zwangsheterosexualität40 – das unhinterfragt als gegeben angenommene und auf Zweigeschlechtlichkeit beruhende gegengeschlechtliche Begehren –, welche die Geschlechterordnung stützt und deren Kohärenz erzeugt. Der in diesem Zusammenhang von Michael Warner (1991) geprägte Begriff der Heteronormativität ist als begriffliche Weiterentwicklung zu verstehen, um die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Heterosexualität zu formulieren und aufzuzeigen, dass es sich hierbei nicht lediglich um eine Frage der sexuellen Orientierung handelt, sondern dass heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit als selbstverständliche Norm alle gesellschaftlichen Bereiche und Institutionen durchzieht. Heteronormativität kann damit gefasst werden als „ein binäres, zweigeschlechtlich und heterosexuell organisiertes und organisierendes Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschema, das als grundlegende gesellschaftliche Institution durch eine Naturalisierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit zu deren Verselbstverständlichung und zur Reduktion von Komplexität beiträgt – beziehungsweise beitragen soll“ (Degele 2008: 89).

Die soziale und kulturelle Anordnung der heterosexuellen Matrix gilt nach Butler für alle – auch für jene, die nicht in dieses Schema passten (wie etwa Homosexuelle). Letztere übernehmen in dieser Sicht – und in Anlehnung an Foucaults entsprechen-

39 Die deutsche Übersetzung von Butlers Begriffen „gender“, „sex“ und „desire“ ist hier m. E. unscharf, da sie für „gender“ die Bezeichnung „Geschlechtsidentität“ verwendet und mit dem Identitätsbegriff ein gerade in poststrukturalistischen Perspektiven höchst umstrittenes Konzept einbringt. Daher werden in diesem Zusammenhang Butlers Termini „gender“ und „sex“ im Original verwendet, wobei gender für die Konstruktion eines sozialen und sex für die Konstruktion eines biologischen Geschlechts steht. 40 Den Begriff der Zwangsheterosexualität übernimmt Butler von Adrienne Rich (1989). 45

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3 Theoretische Einbettung

de Ausführungen – nämlich die wichtige Funktion der abweichenden ‚Anderen‘, die das ‚Normale‘ überhaupt erst produzieren. Auf diese Weise werden für Butler intelligible Subjekte geschaffen, wobei Intelligibilität bei Butler als Bezeichnung von denk-, sprech- und lebbaren vergeschlechtlichten Seinsweisen fungiert (vgl. Ludwig 2012: 108).41 Die besondere Bedeutung des Modells der heterosexuellen Matrix liegt darin, zu zeigen, dass die Einzelnen „selbst daran beteiligt sind, ein geschlechtlich und (hetero-)sexuell bestimmtes, anerkanntes Subjekt zu werden […]. Insofern lenkt Butler den Blick auch nochmals stärker auf die alltägliche (Mit-)Konstruktion und Aufrechterhaltung eines Systems der Heteronormativität durch die Subjekte selbst“ (Klapeer 2015: 36f.).

Der Diskurs der Heterosexualität wird durch die Gleichsetzung von Sexualität mit Reproduktionsfunktionen gestützt; diese „privilegieren Heterosexualität nicht nur gegenüber anderen Sexualitäten, sondern suggerieren, dass Sexualität diese eine spezifische ‚natürliche‘ Funktion habe“ (Gildemeister/Hericks 2012: 214). Und genau in dieser Naturalisierung der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit liegt nach Butler das Machtvolle der heterosexuellen Matrix. Damit werden die (sprachlichen) Konstruktionsleistungen im Alltag nicht gesehen bzw. verschleiert, welche die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit erst hervorbringen. Eben für diese Prozesse der Herstellung interessiert sich Butler, d. h., sie untersucht die diskursiven Grundlagen dieser kohärenten Anordnung von sex, gender und Begehren. Hier kommt Butlers Begriff der Performativität als Bezeichnung für „die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt“ (Butler 1997: 22) ins Spiel (vgl. auch Kap. 3.2). Dabei ist die Annahme grundlegend, dass, ganz im Sinne poststrukturalistischer Positionen, von keiner irgendwo schlummernden geschlechtlichen ‚Wirklichkeit‘ ausgegangen werden kann – es gibt demnach kein Geschlechter-Original, sondern nur Kopien, die über performative Akte der Iteration zitiert werden. Auf diese Weise werden zwei Geschlechter performativ produziert: „Die Kategorien ‚Frau‘ oder ‚Mann‘ sind ebenso idealisierte Identitätskategorien, die sich im Subjektivationsprozess als unser scheinbar ursprüngliches ‚Ich‘ darstellen und 41 Auch Peter Wagenknecht weist auf die zentrale Bedeutung der heteronormativen Geschlechterordnung für die Subjektkonstitution und hierarchisierte Subjektpositionierungen hin. Demnach wird durch Heteronormativität der Druck auf die Subjekte erzeugt, sich im Rahmen ihrer Konstituierung „selbst über eine geschlechtlich und sexuell bestimmte Identität zu verstehen, wobei die Vielfalt möglicher Identitäten hierarchisch angeordnet ist und im Zentrum der Norm die kohärenten heterosexuellen Geschlechter Mann und Frau stehen“ (Wagenknecht 2007: 17).

3.3 Geschlecht und Sexualität als Diskursprodukte

47

zugleich (doch nur) Idealisierungen sind, die von uns stets eine Annäherungsleistung an das ‚Frau-Sein‘ bzw. ‚Mann-Sein‘ verlangen“ (Gildemeister/Hericks 2012: 213).

Butler führt zur Illustrierung von Performativität und dem darin enthaltenen Imitationsgedanken subkulturelle Drag-Praktiken an, denn „indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher – wie auch ihre Kontingenz“ (Butler 1991: 202). Für Butler ist Geschlecht somit „eine performativ inszenierte Bedeutung“ (Butler 1991: 61) und erhält durch Diskurse seine Wirkmächtigkeit. Ein Kritikpunkt an Butlers Argumentation ist ihre ausschließliche Fokussierung auf Diskurse: Ihre Ausführungen zur Konstruktion der zweigeschlechtlichen Differenzierung „würden nicht auf die Konstellationen von Geschlechterverhältnissen bezogen, so daß es zur Vernachlässigung einer gesellschaftstheoretischen Dimension komme“ (Bührmann 2001: 134). Insbesondere unter Hinzuziehung einer gesellschaftspolitischen Perspektive rücken daher Erweiterungen und Bearbeitungen des Konzeptes der Heteronormativität aus den letzten Jahren ins Blickfeld (u. a. Hartmann et al. 2007; Klapeer 2015; Ludwig 2012, 2016). Zur Erweiterung ihres vormals starren juridischen Machtverständnisses, das keine Widersprüchlichkeiten innerhalb der heterosexuellen Matrix zulässt, schlägt Butler (1997) zudem selbst eine begriffliche Änderung hin zur heterosexuellen Hegemonie vor. Gundula Ludwig verarbeitet den Begriff schließlich zur heteronormativen Hegemonie, um die strukturierende Macht der Heterosexualität, mit der diese gesamtgesellschaftlich wirkt, zu verdeutlichen (vgl. Ludwig 2012: 111). Im Zusammenspiel mit dem Rekurs auf Hegemonie bringt Ludwig den konsensualen Charakter der hiermit gefassten symbolisch-diskursiven Geschlechterordnung stärker zur Geltung: „Die Übernahme von Heteronormativität in performativen (Alltags-)Praktiken resultiert somit auch in entscheidender Weise aus der breiten gesellschaftlichen Zustimmung zu hegemonialen Wissensformen über das, was ‚normale‘ Frauen und Männer sind, tun, denken und fühlen“ (Ludwig 2012: 117).

Damit steht weniger ein äußerer Zwang als vielmehr die alltägliche (Re-)Produktion des Wissens über Zweigeschlechtlichkeit im Zentrum der diskursiven Machtwirkung. Ludwig setzt als Weiterentwicklung das Konzept in ein Verhältnis zu neoliberalen Entwicklungen und kommt, in Anschluss an Foucaults Differenzierung zwischen Normativität, Normation und Normalisierung, zu dem Schluss, dass statt von einer ausschließenden Normativität eher von einer integrierenden Normalisierung zu sprechen sei, die auch auf politischer Ebene wirksam werde:

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3 Theoretische Einbettung „Normalisierung überwindet die dichotome Anordnung zwischen Erlaubtem und Verbotenem, da Abweichungen innerhalb eines bestimmten Rahmens nicht nur toleriert werden, sondern Element der Machtausübung sind“ (Ludwig 2016: 34f.).

Damit verbunden ist eine „tolerante Heteronormalisierung“ (Ludwig 2016: 40) anstelle einer strikten Heteronormativität, in der die Offenheit und Toleranz gegenüber vormals als (geschlechtlich oder sexuell) deviant Ausgegrenztem konstitutiv ist und „als Ausdruck von ‚Modernität‘, ‚Demokratie‘ und ‚Fortschrittlichkeit‘“ (Ludwig 2016: 40) gesehen wird. Auch vor dem Hintergrund dieser überzeugenden Argumentation Ludwigs scheint die Beibehaltung des Heteronormativitätsbegriffs als analytische und begriffliche Kategorie für diese Studie dennoch sinnvoll und wird daher im Rahmen der Auswertung verwendet. Dabei werden aber der in den hier aufgeführten konzeptuellen Erweiterungen stärker betonte (auch) konsensuale und tolerierende Charakter sowie die gesamtgesellschaftliche Reichweite mitgedacht.

3.4

Die Diskursivierung der (Geschlechts-)Körper

3.4

Die Diskursivierung der (Geschlechts-)Körper

Durch die poststrukturalistischen und diskurstheoretischen Annahmen einer diskursiven Erzeugung von Wirklichkeit rückt auch die Frage nach der Konstitution des Körpers in den Fokus sozialwissenschaftlicher Annäherungen an Geschlecht: „Der Geschlechtskörper als vermeintlicher Garant binärer geschlechtlicher Klassifikationen und Identifizierungen wurde in seiner historischen Wandelbarkeit, in seiner diskursiven Bedingtheit und je spezifischen Konstitution durch wissenschaftliche, soziale und kulturelle Praxen sichtbar“ (Schirmer 2010: 12).

Für das Aufzeigen gesellschaftlicher, geschlechtsbasierter Ungleichheiten sowie insbesondere zur Kritik an der vermeintlichen Natürlichkeit dieser Ungleichheiten war eine (analytische) Trennung von sex und gender, d. h. die Aufteilung von ‚Geschlecht‘ in ein biologisches – und damit dem Sozialen vorgängiges – Geschlecht und ein darauf basierendes gesellschaftlich und kulturell geprägtes – und somit veränderbares – soziales Geschlecht (vgl. Oakley 1972; Rubin 1975), zunächst als hilfreich angesehen worden. Diese Aufteilung wurde allerdings vor allem seit den 1990ern als weiterhin auf biologistischen Vorstellungen basierend kritisiert, da das soziale Geschlecht letztlich doch auf ein binäres und essenzielles biologisches

3.4 Die Diskursivierung der (Geschlechts-)Körper

49

Geschlecht zurückgeführt werde (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992: 207).42 Demgegenüber gibt es für Butler keinen „Rückgriff auf den Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist. Daher kann das Geschlecht keine vordiskursive, anatomische Gegebenheit sein“ (Butler 1991: 26). Es geht daher für sie darum, die „normativen Bedingungen zu klären, unter denen die Materialität des Körpers gestaltet und gebildet wird, und insbesondere, wie sie durch differentielle Kategorien des Geschlechts gebildet wird“ (Butler 1997: 42). Poststrukturalistische Perspektiven stehen deshalb mitunter in der Kritik, den Körper bzw. das Subjekt ganz in Diskurs aufzulösen (vgl. Duden 2010; Schmitz/Degele 2010).43 Am Körper materialisieren sich seitdem zentrale Diskussionspunkte sozialwissenschaftlicher (Geschlechter-)Forschung. Inwieweit ein vordiskursiver Körper denkbar ist, ob also Körperlichkeit als eigene Dimension dem Diskursiven vorangeht, oder der Zugriff auf den Körper als ausschließlich durch Diskurse gerahmt vorstellbar ist, steht, kurz gefasst, im Mittelpunkt dieser Diskussionen. Die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Diskurs wird dabei von unterschiedlicher Seite auf verschiedene Weise beantwortet bzw. problematisiert. Je nach Perspektive wird der Körper dabei etwa als (auch) utopisches Potenzial (Foucault 2013), diskursiver Machteffekt (Butler 1991), soziale Praxis (Villa 2013) oder politische Fläche (Ludwig 2013) gefasst. Gesa Lindemann (1993) hebt mit der phänomenologischen Unterteilung in Körper und Leib auf eine Differenzierung ab, die eine leiblich erfahrbare Wirklichkeit der diskursiv vermittelten körperlichen zur Seite bzw. voranstellt. Viele der kritischen Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Körper und Geschlecht der letzten Jahrzehnte lassen sich dabei in verschiedensten theoretischen Ansätzen verorten. Gouvernementalitätstheoretische Perspektiven auf den Körper fokussieren, im Anschluss an Foucault, darauf, wie Regierungstechniken die Subjekte insbesondere über den Körper erreichen und sie hierdurch zu Selbstführung anregen (z. B. Feiler 2020; Sänger/Rödel 2012). Sie verdeutlichen, wie die

42 Im deutschsprachigen Raum hat Carol Hagemann-White bereits 1988 mit ihrem Aufsatz „Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren …“ mit ihrer „Null-Hypothese“ eine „natürliche“ Zweigeschlechtlichkeit infrage gestellt (Hagemann-White 1988); die Rezeption erhielt jedoch erst in den 1990er-Jahren einen Aufschwung. 43 Auch Butlers „Unbehagen der Geschlechter“ wurde vorgeworfen, die tatsächliche Körperlichkeit (der Menschen) zu ignorieren. Ihr Postulat, dass sex ein Effekt von gender sei, und das damit verbundene Verschwinden eines fest umrissenen Subjekts ‚Frau‘, mit dem Butler Identitätspolitiken auf eben dieser Grundlage zurückweist, wurden kontrovers diskutiert und brachten ihr den Vorwurf der „Entkörperung“ ein, z. B. in Barbara Dudens Kritik „Frau ohne Unterleib“ (Duden 1993). Auf diese hat Butler in „Körper von Gewicht“ (Butler 1997) reagiert und darin ihre theoretischen Perspektiven auf die Verschränkungen von Diskursivem und Materialität eingehender diskutiert. 49

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3 Theoretische Einbettung

Subjekte auf diese Weise von moderner Machtausübung immer auch geschlechtlich und Körper demnach immer auch als Geschlechtskörper adressiert werden (vgl. Ludwig 2013: 84). Theoretiker_innen des (Feminist) New Materialism fordern in Abgrenzung zu poststrukturalistischen Positionen, ein Zusammenwirken von materieller und diskursiver Wirklichkeitsproduktion zu berücksichtigen, wodurch auch das Körperliche eine neue, aktivere und wirkmächtige Bedeutung in Konstruktionsprozessen erhält (z. B. Barad 2005; Haraway 1991). Anne Fausto-Sterling (2000) sieht den Geschlechtskörper als Ergebnis der Wechselwirkung biologischer und sozialer Faktoren. In jüngster Zeit zielen Praxistheorien verstärkt darauf ab, Dichotomien wie die von Subjekt/Objekt, Handlung/Struktur oder Geist/Körper zu überwinden und Diskurs und Materie in Praktiken zusammenzudenken. Dabei unternehmen sie Bezugnahmen auf den Körper, indem sie Praktiken, verstanden als „kleinste Einheit des Sozialen“ (Reckwitz 2003: 290), als stets körperlich bzw. materiell eingebettet auffassen und Geschlecht als an körperliche Praktiken gebunden verstehen (z. B. Brockmeyer et al. 2018; Manz 2013). Diese verschiedenen Annäherungen an den (Geschlechts-)Körper liefern wichtige Anstöße, das komplexe Verhältnis von Diskurs und Körper (und Praxis) in unterschiedlicher Weise zu denken. Die damit verbundenen Diskussionen wurden und werden an anderer Stelle geführt bzw. erörtert (z. B. Hoffarth 2018; Mangelsdorf/ Palm/Schmitz 2013; Villa 2011; Voß 2011); zentral für diese Studie ist stattdessen die Grundannahme, „dass es eine einfache, ‚natürliche‘, von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers nicht geben kann: Der Körper ist nur als wahrgenommener sozial relevant“ (Gildemeister/Hericks 2012: 197). Die Frage, inwiefern daneben etwa von einem somatischen Eigensinn des Körpers (vgl. Alkemeyer/Villa 2010) oder einer vordiskursiven Leiblichkeit (Lindemann 1993) auszugehen ist, soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Grundlegend für die hier vorgenommene Analyse ist vielmehr die Position, dass der Körper „in seiner Unmittelbarkeit nicht zugänglich [ist]“ (Bublitz 2006: 344). Denn davon auszugehen, „dass sich Realität diskursiv vermittelt, bzw. Objekte einen diskursiven Charakter haben, stellt nicht deren Existenz infrage. Vielmehr wird die Kategorie der Form systematisch dekonstruiert, deren historischer, kontingenter und konstruierter Charakter sichtbar gemacht und eine nicht reduzierbare Distanz zwischen Form und Existenz/Substanz betont“ (Wullweber 2012: 42).

Der vergeschlechtlichte Körper in seiner binären Ausprägung steht in dieser Perspektive zur Disposition und lässt sich als historische Machtformation auf seine ihn erst hervorbringenden Mechanismen hin entschlüsseln. Für die hier vorgestellte Untersuchung ist dies insofern relevant, als die Jugendlichen mit Blick auf den Geschlechtertauschtag auch Körperpraxen und -erfahrungen diskutieren, die in

3.5 Zusammenführung

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der hier dargelegten Perspektive als stets eingebettet in und wahrgenommen durch die gegenwärtigen (Geschlechter-)Diskurse aufgefasst werden.

3.5

Zusammenführung: die Dekonstruktion vergeschlechtlichter Subjekte

3.5 Zusammenführung

Im Sinne einer Offenlegung theoretischer (Vor-)Annahmen, die auch bei größtmöglicher Offenheit im Herangehen an das Material – und bereits im Vorfeld in der Formulierung des Erkenntnisinteresses – eine bestimmte Denk- und Wahrnehmungsperspektive bedeuten, wurden in diesem Kapitel poststrukturalistische, diskurs- und subjektivierungstheoretische Positionen nachgezeichnet, die in den Forschungsprozess eingeflossen sind. Zentral für die folgenden Ausführungen ist vor diesem Hintergrund die Annahme, „dass Individuen gegenwärtig ein Verhältnis zu sich selbst (und zwar als ein geschlechtliches Selbst) herstellen müssen […] [und] dass dies nur in Bezug auf je verfügbare Formen geschehen kann“ (Schirmer 2010: 51, Herv. i. O.). Subjekt- und Geschlechtwerdung sind in dieser Perspektive untrennbar miteinander verbunden. Der Diskursbegriff gibt dabei ein Denkwerkzeug an die Hand, das (auch) Geschlecht und Sexualität historisiert und in einem Machtkontext verortet. Dementsprechend kann auf der Grundlage von poststrukturalistischen Positionen nach den diskursiven Möglichkeitsbedingungen und (Macht-)Mechanismen gesucht werden, innerhalb und mittels derer Menschen sich zu vergeschlechtlichten Subjekten formen. Die vom Poststrukturalismus inspirierten dekonstruktivistischen Ansätze legen zudem nahe, insbesondere den Reibungspunkten, Abweichungen, Brüchen und Unsagbarkeiten in der diskursiven Herstellung von Geschlecht und Selbst nachzuspüren und auch solche vergeschlechtlichten Handlungsmöglichkeiten und Seinsweisen freizulegen, die innerhalb der herrschenden Geschlechterordnung keinen Raum haben. Denn die hier eingenommene Sicht auf Subjektwerdungsprozesse „macht die Frage des Subjekts […] zu einer Frage des möglichen und vorstellbaren Anders-sein und Anders-handelns“ (Saar 2013: 26f.). Die Perspektiven auf Subjektivierung lassen Fragen danach anschließen, auf welche Weise vergeschlechtlichte Subjektivierungen verlaufen: An den für die Subjektivierungsperspektive zentralen Fragen: „Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten?“ (Wiede 2014: o. S.) interessiert für diese Studie – vor dem oben ausgeführten Hintergrund, dass Subjekte immer (auch) vergeschlechtlichte Subjekte sind – die zugespitzte Frage: Wie werden Menschen zu vergeschlechtlichten Subjekten geformt und wie formen sie sich selbst zu vergeschlechtlichten Subjekten? Mit der qualitativ-empirischen 51

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3 Theoretische Einbettung

Anlage dieser Untersuchung geht es also zum einen um das „Aufschlüsseln und Aufspüren des wirkungsvollen Vollzugs von Subjektivierung(en) in konkreten sozialen Situationen und Konstellationen“ (Rose 2019: 70). Vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Grundannahmen und dekonstruktivistischer Perspektiven geht es zum anderen – und insbesondere – darum, einen Blick hinter die Hierarchien erzeugenden Selbstverständlichkeiten der (Zwei-)Geschlechtlichkeit zu werfen und dabei die Machtdynamiken aufzudecken, die diese Selbstverständlichkeiten produzieren, also die Bedingungen freizulegen, unter denen die vergeschlechtlichte Subjektwerdung in der beobachteten Form überhaupt möglich ist. Dementsprechend ist die Forschungsfrage folgendermaßen zu erweitern: Wie und unter welchen Bedingungen werden Menschen zu vergeschlechtlichten Subjekten geformt und wie und unter welchen Bedingungen formen sie sich selbst zu vergeschlechtlichten Subjekten? Wie dies in ein Forschungsdesign übersetzt und im Forschungsprozess umgesetzt wird, wird im folgenden Kapitel erläutert.

Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

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In diesem Kapitel wird sowohl die Methodologie der Studie dargestellt als auch der Forschungsprozess selbst im Hinblick auf die Datenerhebung und auf die Auswertung erläutert sowie die Untersuchungsgruppe vorgestellt. Dazu wird zunächst eine Begründung für die gewählten qualitativen Forschungsperspektiven vor dem Hintergrund des verfolgten Erkenntnisinteresses vorgenommen (Kap. 4.1). Darauf folgt die Erörterung des Forschungsdesigns (Kap. 4.2), in dem das Erhebungsverfahren der Gruppendiskussion (Kap. 4.2.1) sowie die Grounded-Theory-Methodologie als den gesamten Forschungsprozess anleitender Forschungsstil (Kap. 4.2.2) vorgestellt werden. Die Darstellung der forschungspraktischen Umsetzung (Kap. 4.3), in der mit Erläuterungen zur schulischen Mottowoche zunächst das empirische Feld abgesteckt wird (Kap. 4.3.1), dient der Nachvollziehbarkeit des zirkulären Prozesses von Datenerhebung (Kap. 4.3.2) und Datenauswertung (Kap. 4.3.3). Abschließend und zugleich überleitend zum Auswertungskapitel wird die Untersuchungsgruppe vorgestellt (Kap. 4.4).

4.1

Begründung der Forschungsperspektive und Methodik

4.1

Begründung der Forschungsperspektive und Methodik

Ausgangspunkt der Untersuchung war ein zunächst breit gefasstes Erkenntnisinteresse, das sich als Forschungsanliegen in der folgenden Frage formulieren lässt: Welche Bedeutung hat – vor dem Hintergrund der eingangs aufgezeigten Ambivalenzen in Geschlechterordnung und -verhältnissen – die Dimension Geschlecht für die Selbstverhältnisse von in Deutschland lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen und auf welche Weise wird Geschlecht von und durch diese jungen Menschen relevant (gemacht)? Die Auswahl der Methoden hatte zu gewährleisten, dass hiermit zielführende Ergebnisse in Bezug auf das Erkenntnisinteresse er© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Conrads, Das Geschlecht bin ich, Geschlecht und Gesellschaft 76, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30891-9_4

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4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

wartet werden können. Da es mit Blick auf die Ergebnisse nicht darum ging, ein repräsentatives Abbild der Jugendlichen und ihrer Geschlechtervorstellungen in Deutschland zu entwerfen, sondern Prozesse nachzuzeichnen, die als charakteristisch für gegenwärtige jugendliche Verhandlungsweisen von Geschlecht herausgearbeitet werden können, wurde auf Methoden der qualitativen Sozialforschung und ein offenes, nicht-standardisiertes Verfahren zur Erhebung empirischer Daten zurückgegriffen (vgl. Pflüger 2013: 98f.). Die in Kap. 3.1 erläuterten theoretischen Grundannahmen zum „Verständnis von sozialer Wirklichkeit und gesellschaftlichen Entwicklungen“ (König 2014: 162), die dieser Arbeit zugrunde liegen, hatten dabei Einfluss auf die Ausgestaltung des Forschungsprozesses: Ausgehend von der dargestellten poststrukturalistischen Verortung richtet sich der heuristische Blick auf die Produktion von Wissen und die Konstruktion von Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang zeigt sich der Diskursbegriff als hilfreich, der auf die Machtverwobenheit dieser Prozesse hinweist (vgl. Kap. 3.1). Im Gegensatz zu akteurszentrierten Modellen wird das Subjekt hier also nicht als Ausgangspunkt betrachtet, von dem aus Sinn über intentionale Sprech- und Handlungspraxen produziert wird. Vielmehr wird der Diskurs als eine machtdurchzogene „soziale Praxis gesehen, die Subjekte, Akteure und Identitäten hervorbringt“ (Angermuller et al. 2014: 19). Mit einer poststrukturalistischen Perspektive ließ sich das Anliegen der Arbeit in Anlehnung an Butler (1991) in der Frage zuspitzen, wie Diskurse Geschlecht für die Jugendlichen intelligibel, „das heißt sozial erfahrbar, lebbar und sinnvoll machen“ (Degele 2008: 139). Diese Ausgangsfragestellung wurde im Zuge der Auswertung den generierten Erkenntnissen und darauf basierenden Fokussierungen entsprechend sukzessive modifiziert und führte zu einer Integration von subjektivierungstheoretischen Perspektiven in das Untersuchungsinteresse (vgl. Kap. 3.2). Für die skizzierte heuristische Ausrichtung erwies sich eine dekonstruktivistische und diskursorientierte (jedoch im vorliegenden Fall nicht diskursanalytische44) Herangehensweise als fruchtbar. In diesem Sinne wurden sowohl rekonstruktive als auch dekonstruktivistische Verfahrensschritte miteinander verkoppelt (vgl. auch Bublitz 2011: 248; Angermüller 2005: 22f.). Denn ihrer theoretischen Ausrichtung nach will die Untersuchung nicht nur die Herstellung von Wirklichkeit rekonstruieren, sondern sie legt zugleich „den Akzent auf die inneren Spaltungen, 44 Mit ihrem Fokus auf die „öffentlich diskutierten, miteinander konkurrierenden und mehr oder weniger kollektiv geteilten Deutungen für politische und soziale Deutungszusammenhänge“ (Schwab-Trapp 2006: 39) nimmt die Diskursanalyse eine andere Ebene in den Blick. Weniger Berücksichtigung finden dabei „die alltäglichen Kommunikationsprozesse im Alltag der Menschen ebenso wie Handlungsroutinen, Selbstverständlichkeiten und Normen sozialen Handelns“ (Schwab-Trapp 2006: 39). Gerade die alltäglichen Selbstverständlichkeiten sind es aber, die im Rahmen dieser Arbeit hinterfragt werden sollen.

4.1 Begründung der Forschungsperspektive und Methodik

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Risse und Löcher des Diskurses“ (Angermüller 2005: 40). Dieser hier verfolgte diskursorientierte, dekonstruktivistische Ansatz berücksichtigt somit „nicht nur das, was in Mainstream-Diskursen explizit auftaucht […], sondern auch das, was ausgeschlossen wird“ (Degele 2008: 18). Geht es in der rekonstruktiven qualitativen Sozialforschung um die systematische, wissenschaftliche Rekonstruktion von alltäglichen Wirklichkeitskonstruktionen, so sucht eine dekonstruktivistisch unterfütterte qualitative Sozialforschung auch nach den (alltäglichen) Wirklichkeitsausschlüssen. Es wird insbesondere danach gefragt: „Was muss, soll oder darf nicht sein, was ist gut oder schlecht und was tritt als ‚Drohung‘, ‚Befürchtung‘ oder als ‚Versprechen‘ auf“? (König 2014: 164). Es gilt somit, den Blick insbesondere darauf zu richten, was (nicht) sag-, denk- und wahrnehmbar – und somit intelligibel – ist und wo Brüche auszumachen sind, die auf einen Wandel in gesellschaftlichen und Machtverhältnissen hinweisen können. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass es nicht darum geht, „eine Verteilungsstruktur von gesellschaftlichen Phänomenen nachzuzeichnen oder gar abzubilden. Das Augenmerk der Analyse liegt vielmehr auf den möglichen Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen, die gegenwärtig sagbar und damit auch lebbar sind“ (König 2014: 165) – sowie auf den Ausschlüssen und Unsagbarkeiten, die damit einhergehen. Mit Blick auf die zu generierenden Ergebnisse ist es eine zentrale Herausforderung qualitativer Forschung, verallgemeinerbare Aussagen über den Untersuchungsgegenstand zu begründen. Aus der dargelegten nicht-standardisierten Herangehensweise folgt, dass dafür nicht die gleichen Kriterien herangezogen werden können wie in der quantitativen Forschung, wo vor allem auf eine Objektivität, Reliabilität und Validität der Ergebnisse abgezielt wird (vgl. Reichertz 2014: 72). Die Gütekriterien qualitativer Sozialforschung gestalten sich anders, denn hier geht es gerade um „einen anzustrebenden angemessenen Umgang mit Subjektivität“ (Helfferich 2011: 155, Herv. i. O.). Die Entwicklung eines einheitlichen Kriterienkatalogs ist hier bisher nicht erfolgt (vgl. Pflüger 2013: 100), es lassen sich aber zentrale Kriterien nennen, deren Berücksichtigung im Sinn einer wissenschaftlichen Qualität der Arbeit unabdingbar sind. Im Vordergrund stehen insbesondere Offenheit, Reflexivität und die Gewährleistung einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit (vgl. Helfferich 2011: 155f.) der Befunde. Zentral für qualitatives Arbeiten ist daher, „die Ergebnisse der Analysen niederzuschreiben und dabei Zuspitzungen, Generalisierungen und Theoretisierungen zu entwickeln“ (Erhard/Sammet 2018: 9), die anhand der schriftlichen Argumentation auch von Dritten nachvollzogen werden können. Eine Offenheit ist sowohl im Hinblick auf eine möglichst unvoreingenommene Herangehensweise an das empirische Material wichtig als auch im Sinne des offenen ‚Eingeständnisses‘, als Forschende dennoch eigene (theoretische) Vorannahmen mitzubringen, die in die Interpretation einfließen (vgl. Kap. 4.2.2). 55

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4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

Die hier eingenommene Perspektive auf die Konstruiertheit von Wirklichkeit sensibilisiert zudem den Blick für den Konstruktionscharakter der Forschung selbst; so trägt die Untersuchung zur Produktion der Erkenntnisse selbst bei (vgl. Pflüger 2013: 99). Auch die generierten Erkenntnisse sind als innerhalb der hier zugleich kritisch hinterfragten Denk- und Wahrnehmungsschemata verortet zu betrachten (vgl. König 2014: 163). Daher ist eine (Selbst-)Reflexion der eigenen Position als Forschende und damit einhergehender Fokussierungen und Beschränkungen in der eigenen Perspektive zentral (vgl. Angermuller/Schwab 2014: 649) und wird in den weiteren Ausführungen dieses Kapitels berücksichtigt. Ein weiterer Aspekt, der in der qualitativen Forschung mit Untersuchungsteilnehmenden nicht außer Acht zu lassen ist, sind ethische Fragen.45 Im – hier vorliegenden – Fall von selbst generierten Redeereignissen sind dabei insbesondere die Prinzipien von informierter Einwilligung und Nicht-Schädigung der Teilnehmenden zentral (vgl. Helfferich 2011: 190). Bei der Erhebung und Auswertung des Materials wurde Wert auf ein Einhalten dieser Prinzipien gelegt. In Bezug auf die in den Gruppendiskussionen zu beobachtenden Machtdynamiken wurde vor dem Hintergrund, dass die Gruppen durch die selbst gewählten Zusammensetzungen in gewissem Maße Alltagscharakter hatten, davon ausgegangen, dass die damit verbundenen möglichen Auf- und Abwertungen dem alltäglichen Miteinander entsprachen, weshalb diese Dynamiken im Rahmen der Diskussionen als unvermeidbar angesehen wurden. Dennoch zeigt sich gerade in der gruppenbezogenen Datenerhebung mit Jugendlichen die besondere Herausforderung für die Interviewenden, die Verantwortung für die Nicht-Schädigung wahrzunehmen und zugleich sprachlich-diskursive Selbstläufigkeit zu bewahren (vgl. hierzu auch Offen 2013: 44).

4.2 Forschungsdesign 4.2 Forschungsdesign

Zur Erarbeitung von Ergebnissen im Sinne des dargelegten Erkenntnisinteresses wurden eigene empirische Daten erhoben mittels Gruppendiskussionen (Kap. 4.2.1) und orientiert an der Grounded-Theory-Methodologie (Kap. 4.2.2).

45 Eine wichtige Richtschnur liefert hier der Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbandes Deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS).

4.2 Forschungsdesign

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4.2.1 Gruppendiskussionsverfahren Mit der Gruppendiskussion wurde ein gruppen- und aushandlungsbezogenes Datenerhebungsverfahren ausgewählt, das es ermöglicht, auf der Mikroebene die diskursiven Aushandlungs- und (De-)Thematisierungsweisen von Geschlecht und die Konstitutionsprozesse von Subjekten innerhalb einer alltagsrelevanten Gruppe zu re- und dekonstruieren (vgl. auch Offen 2013: 40). Bei Gruppendiskussionen handelt es sich nicht um ein strikt festgelegtes Verfahren, vielmehr finden sich unter dieser Bezeichnung verschiedene Formen, die in unterschiedlichen Kontexten zu verschiedenen Zwecken zum Einsatz kommen (vgl. für einen Überblick Lamnek 2005: 18ff.; Loos/Schäffer 2001: 15ff.). Im angloamerikanischen Raum finden gruppenbezogene Erhebungsverfahren in der Sozial- und vor allem in der Marktforschung bereits seit den 1920er-Jahren Anwendung. In der deutschsprachigen empirischen Sozialforschung gehören Gruppendiskussionsverfahren seit den 1950er-Jahren zum methodischen Repertoire und wurden durch Werner Mangold (1960) ausgearbeitet sowie darauf aufbauend mit Ralf Bohnsack (Bohnsack 1989, 2000) theoretisch-methodisch fundiert (vgl. Nentwig-Gesemann 2002: 44). Damit erfolgen die Verfahren bisher vornehmlich in Anlehnung an Wissenssoziologie und dokumentarische Methode. Seit Mitte der 1980er-Jahre werden gruppenbezogene Diskussionsverfahren zur Datenerhebung vor allem in der Jugendforschung eingesetzt und gehören heute zu den etablierten Verfahren empirischer Sozialforschung (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 88ff.). Ziel der Gruppendiskussion ist es, ein möglichst selbstläufiges Gespräch unter den Teilnehmenden anzuregen und auf diese Weise zu Erkenntnissen über deren Aushandlungsweisen bestimmter Themen, Erfahrungen oder Phänomene zu gelangen (vgl. Lamnek 2005: 431). Hierzu wird in vielen Fällen mit einem Stimulus bzw. Impuls gearbeitet, der zu Beginn des Gesprächs gesetzt wird und die Ausrichtung der Diskussion in mehr oder weniger konkreter Form vorgeben soll. Es soll einerseits ein Sprechen über Themen initiiert werden, das auf diese Weise ohne Impuls nicht notwendigerweise erfolgt wäre, und andererseits soll ein von seiner Art und Struktur her möglichst alltägliches Gespräch erzeugt werden (vgl. Geipel 2019: Abs. 15). Der forschenden Person kommt dabei eher die teilstrukturierende Moderationsfunktion als die Funktion einer Interviewperson zu (vgl. Loos/Schäffer 2001: 51).46 Eine zentrale Besonderheit in Gruppendiskussionen, die diese für die hier eingenommene Forschungsperspektive besonders instruktiv macht, ist der 46 Dies trifft für die vorliegende Untersuchung weitestgehend zu. Da aber auch ein in gewissem Ausmaß systematisches, jedoch nicht-statisches Nachfragen zum Einsatz kam, wird im Folgenden in Bezug auf diese Rolle von der Interviewerin gesprochen. 57

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4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

Umstand, dass hier nicht auf ein Individuum und seine Äußerungen fokussiert wird, sondern die aufeinander bezogenen Redebeiträge mehrerer Gesprächsteilnehmender im Mittelpunkt stehen. Bei der Auswahl und Zusammenstellung der Gruppe geht es nicht um möglichst hohe statistische Repräsentativität, sondern, im Sinne einer Anregung von intensiven Aushandlungsprozessen, um die Bildung einer alltagsähnlichen Gruppe (vgl. Loos/Schäffer 2001: 22). Unter der Gegenüberstellung von Emergenz und Repräsentanz lassen sich zwei unterschiedliche traditionelle Grundannahmen von Prozessen in Gruppendiskussionen fassen, und zwar im Hinblick darauf, ob in Gruppendiskussionen die Ergebnisse, von Mangold verstanden als „Gruppenmeinung“ (Mangold 1960: 59ff.), erst durch diese Erhebung und den in diesem Rahmen erfolgten Aushandlungsprozess entstehen (Emergenz) oder hier als bereits Vorhandenes lediglich zutage treten (Repräsentanz) (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 104). Bohnsack (1989) hat mit dem Begriff der „kollektiven Orientierungsmuster“ eine integrative Perspektive geschaffen, die den Prozess- und Strukturcharakter berücksichtigt, und mit der dokumentarischen Methode ein entsprechendes Auswertungsinstrument entwickelt (vgl. Loos/Schäffer 2001: 101). Die dokumentarische Methode, mit ihrer Suche nach den regelgeleiteten, impliziten Wissensbeständen verortet im wissenssoziologischen Paradigma, zielt darauf ab, die geteilten Sinn- und Erfahrungshorizonte zu erfassen. Sie ist gegenwärtig mehrheitlich die Methode der Wahl in der Auswertung von Gruppendiskussionen (vgl. z. B. Nentwig-Gesemann 2010: 259). Dabei geht es insbesondere darum, nicht nur reflektierte Positionen abzufragen, sondern auf der Grundlage der Diskussionsdynamiken auch implizitere Aussagen und Wissensbestände erheben zu können, die sich, in dieser theoretischen Perspektive, als kollektiver Sinn hinter den Äußerungen verbergen (vgl. NentwigGesemann 2002: 45). Für die dieser Arbeit zugrunde liegenden diskurstheoretischen und dekonstruktivistischen Perspektiven ist dieser Ansatz jedoch nicht fruchtbar, da hier das Subjekt in seiner diskursiven (Re-)Produktion im Mittelpunkt steht. Stärker als in der dokumentarischen Methode wird damit der produktive Charakter der Aushandlungen fokussiert, der weniger als Widerspiegelung gemeinsam geteilter Orientierungen denn als Hervorbringungsmoment von Subjektivität betrachtet wird.47 Zentral dafür ist das poststrukturalistische Verständnis von Subjektwerdung als kontinuierlicher Prozess (vgl. Kap. 3.2). In Verbindung mit den diskursorientierten Annahmen von der sprachförmigen Erzeugung von Wirklichkeit und der 47 Für eine intensive methodologische Auseinandersetzung zum Potenzial der Verknüpfung des Gruppendiskussionsverfahrens mit diskurs- und subjektivierungstheoretischen bzw. poststrukturalistischen Perspektiven vgl. die Ausführungen von Karen Geipel (2019).

4.2 Forschungsdesign

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Hervorhebung der Angewiesenheit auf und Anerkennung durch Andere als der Subjektivierung inhärente Dimensionen (vgl. Kap. 3.2) erweisen sich Gruppendiskussionen als geradezu prädestiniert dafür, einer solchermaßen fundierten subjektivierungstheoretischen Analyse Rechnung tragen zu können. Neu ist dabei in Abgrenzung zu bisherigen dokumentarisch-rekonstruktiven Annäherungen, „das Sprechen in Gruppendiskussionen selbst als konstituierend zu verstehen, d. h. als diskursive, performative Praxis, die Bedeutungen im Vollzug produziert, strukturiert und transformiert“ (Geipel 2019: Abs. 40). Die Gruppendiskussionen werden damit als Ort der Subjektkonstitution betrachtet, die sprachlichen Äußerungen der Jugendlichen bilden dabei die diskursive Grundlage der hier zu beobachtenden Subjektivierungsprozesse – im Miteinander-Sprechen formen sich die Jugendlichen fortwährend als (vergeschlechtlichte) Subjekte. Die gegenseitige Bezugnahme der Gesprächsteilnehmenden im Rahmen der Diskussionen bietet zudem die in der Methode verankerte Möglichkeit, sprachlich vollzogenen Prozessen der (Nicht-)Anerkennung durch Andere und damit den machtvollen Praktiken der Abgrenzung, Ein- und Ausschließung oder Bewertung nachzugehen – und somit auch den subjektivierungstheoretisch zentralen Aspekt der gegenseitigen Angewiesenheit (vgl. Butler 2001: 14) zu berücksichtigen. Die damit verbundenen machtdurchzogenen diskursiven Aushandlungs- und (Subjekt-)Konstruktionsprozesse können im Rahmen der Auswertung der erhobenen Daten analytisch herausgearbeitet werden. Somit wird weniger die Herausarbeitung von sozialem Sinn oder intersubjektivem Konsens angestrebt, sondern eher „von einem konstitutiven Dissens“ (Angermüller 2005: 40) ausgegangen, der aufgedeckt werden kann. Trotz des offensichtlichen Erkenntnispotenzials, den die Verknüpfung von diskurs- und subjektivierungstheoretischem Fokus, dekonstruktivistischem und poststrukturalistischem Ansatz und Gruppendiskussionsverfahren mit Blick auf die Untersuchung von Subjektivierungsprozessen bietet, bilden empirische Umsetzungen an dieser Schnittstelle bisher eine Leerstelle (vgl. Geipel 2019: Abs. 2). In der Verortung an eben dieser Schnittstelle schließt die Studie diese Lücke und macht gleichzeitig den Gewinn einer solchen Perspektive deutlich. Im Hinblick auf das Phänomen der Mottowoche und das am Geschlechtertauschtag gewissermaßen explizit zu beobachtende Doing Gender scheint zunächst auch eine teilnehmende Beobachtung, die auf die Handlungspraxen und Interaktionen der Abiturient_innen während der Mottowoche fokussiert, nahezuliegen. Dies würde bedeuten, dass die konkrete Inszenierungs- und Aufführungsebene des Geschlechtertauschs im Vordergrund der Untersuchung stünde. Gerade die oft stereotypen und eindimensionalen Darstellungen würden möglicherweise den Blick auf dahinter liegende Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten verkomplizieren. Durch das gewählte Erhebungsverfahren der Gruppendiskussion können demgegenüber 59

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4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

die Dimension der Aushandlung von Geschlecht sowie die Ebene geschlechtlicher Selbstverhältnisse und ihrer Hervorbringung im Rahmen diskursiver Subjektkonstitution erfasst werden, was durch die reine Beobachtung der Inszenierungspraxis nicht in diesem Maße möglich wäre. Der Fokus auf die sprachlichen Äußerungen und Aushandlungen der in den Gruppen versammelten Jugendlichen eröffnet also erst den Blick auf die diskursiven Prozesse, innerhalb derer sich Subjektivierung vollzieht und „innerhalb derer soziale Codes zu Geschlecht und sexueller Orientierung wirksam werden und in einem […] intelligibel zu machenden Spielraum verhandelbar sind“ (Offen 2013: 50). Zugleich trägt der gewählte Gesprächsimpuls (vgl. Kap. 4.3.2) dazu bei, mit dem Foto, das die Jugendlichen am Geschlechtertauschtag zeigt, die Geschlechterperformance als im Bild festgehaltene Praxis in die Verhandlungen hineinzuholen. Aus dem zugrunde liegenden Erkenntnisinteresse ergibt sich, dass gerade diese Ebene der sprachlich-diskursiven Verhandlung der Jugendlichen in Bezug auf die am Geschlechtertauschtag vollzogenen Inszenierungen und gemachten Erfahrungen von Interesse ist. Mit der poststrukturalistischen Perspektive auf Gruppendiskussionen „können entsprechend machtvolle Prozesse der Konstitution und Verschiebung von Bedeutung(-sordnungen) im Vollzug in den Fokus gerückt sowie damit verbundene Praktiken beschreib- und analysierbar werden, die Individuen als Subjekt hervorbringen“ (Geipel 2019: Abs. 3).

Auch ein dekonstruktivistischer Ansatz ist mit der gewählten Erhebungsmethode gut vereinbar: Wenn Gruppendiskussionen allgemein gefasst werden als „Interaktions- und Kommunikationsgebilde, in denen soziale Wirklichkeit […] erzeugt und konstruiert wird“ (Bock 2010: 122), dann sind sie genau als solche geeignet, nicht nur auf das hin untersucht zu werden, was sich in diesen Prozessen als gemeinsame ‚Wahrheit‘ herauskristallisiert bzw. konstruiert wird, sondern auch auf das, was nicht gesagt bzw. zum Schweigen gebracht wird, und das, was im Rahmen der Gruppe nicht (wahr) sein kann. Ihre Analyse kann also dazu beitragen, „Prozesse des Ausweitens und Differenzierens von Kontexten des Denk- und Sagbaren sowie machtvolle Eingrenzungs- und Ausschließungsbewegungen sichtbar zu machen“ (Geipel 2019: Abs. 53). Durch eine poststrukturalistisch fundierte, diskursorientierte, subjektivierungstheoretische und dekonstruktivistisch ausgerichtete Auswertung von in Gruppendiskussionen erhobenen Daten können, zusammengefasst, in besonders geeigneter, aber bisher unterbelichteter Weise die diskursiven Rahmungen aufgedeckt werden, welche die Denk- und Handlungsräume der Jugendlichen strukturieren, sowie die diskursiven Mechanismen nachgezeichnet werden, die sie als (vergeschlechtlichte) Subjekte hervorbringen.

4.2 Forschungsdesign

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4.2.2 Grounded-Theory-Methodologie Die Auswertung der Daten, aber parallel auch deren sukzessive erfolgende Erhebung, orientiert sich an Ansätzen der Grounded-Theory-Methodologie (vgl. für die konkrete Umsetzung im Rahmen des Projekts Kap. 4.3). Sie gilt als „einer der ersten Versuche in der qualitativen Sozialforschung, von einzelnen Fällen ausgehende Analysen methodologisch zu reflektieren und zu systematisieren“ (Erhard/ Sammet 2018: 421). Beginnend mit der Veröffentlichung von „The Discovery of Grounded Theory“ ihrer Begründer Barney Glaser und Anselm Strauss (1967) hat sie sich innerhalb der qualitativen Sozialforschung inzwischen als weit verbreitetes Verfahren etabliert. Die Positionen von Glaser und Strauss haben sich dabei immer weiter auseinanderentwickelt und zum Entstehen von zwei verschiedenen Strömungen geführt (vgl. ausführlicher Strübing 2008; vgl. auch Mey/Mruck 2011). Da im Rahmen der Grounded Theory48 nur wenige konkrete Vorgaben zum Vorgehen gemacht werden, wird sie eher als Forschungsstil denn als Methode bezeichnet, in dem sich empirische Forschung und Theoriebildung miteinander verschränken. Der Ansatz der Grounded Theory ist „vor allem darauf ausgelegt, eine Theorie zu generieren und zu überprüfen“ (Strauss 1998: 19; Herv. i. O.). Betont werden „die zeitliche Parallelität und wechselseitige funktionale Abhängigkeit der Prozesse von Datenerhebung, -analyse und Theoriebildung“ (Strübing 2008: 14, Herv. i. O.). Die zugrunde liegenden Annahmen einer Veränderlichkeit gesellschaftlicher Phänomene führen zu der Forderung, dass auch die Methode prozessual und die erarbeitete Theorie als prozesshaft aufgefasst werden müssen, um den Aspekt des stetigen Wandels zu berücksichtigen (vgl. Strübing 2008: 86). Bei der Grounded Theory liegen, anders als in anderen Verfahren, im Vorfeld noch keine theoretischen Konzepte vor, auf deren Grundlage bereits vorab Kategorien gebildet werden könnten, auf die hin das Material untersucht werden könnte. Denn hier soll die Theorie nicht bewiesen, sondern für einen bestimmtem Untersuchungsbereich im Forschungsprozess erst erarbeitet werden – als eine in diesen empirischen Daten gegründete Theorie49. Unter dem Begriff der „theoretischen Sensibilität“ (Strauss/Corbin 1996: 56) wird in diesem Zusammenhang die Aus48 Inga Truschkat, Manuela Kaiser-Belz und Vera Reinartz weisen darauf hin, dass es sich bei dem Terminus „Grounded Theory“ genau genommen um das Forschungsprodukt, die generierte Theorie, handelt, und plädieren demgegenüber für den Begriff der „Grounded Theory Methodologie“ als Bezeichnung für das gesamte Verfahren (Truschkat/KaiserBelz/Reinartz 2007: 233). In dieser Arbeit wird dem gängigen Gebrauch entsprechend auch die Kurzform für die Bezeichnung des Vorgehens verwendet. 49 Der englische Begriff Grounded Theory findet mangels überzeugender Übersetzungen auch im deutschsprachigen Raum seine Anwendung (vgl. Pflüger 2013: 105). 61

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4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

einandersetzung mit dem Umstand bezeichnet, dass die Forschenden dennoch mit (auch theoretischem) Vorwissen sowie einer ersten Forschungsfrage in die Datenerhebung (und -analyse) gehen (vgl. Mey/Mruck 2009: 106). Dies ist im Rahmen der Grounded Theory zu explizieren und zu reflektieren und lässt sich verstehen als „Offenheit gegenüber anderen Sichtweisen und Deutungen sowie als Offenheit im Sinne von Reflexionen des eigenen Vorwissens und der vorhandenen ‚Vor-Urteile‘“ (Kuckartz 2016: 55). Die Offenheit kann auch bedeuten, dass die anfängliche Fragestellung im Verlauf der Untersuchung zugespitzt oder nochmals (ggf. stark) modifiziert wird (vgl. Keller 2007b: 112). Zu den elementaren Bausteinen der Grounded Theory gehören das Kodieren und das Schreiben von (analytischen) Memos. Das Anfertigen von Memos begleitet den gesamten Forschungsprozess und ist als Werkzeug zur Theoriegenerierung für die Grounded Theory zentral (vgl. Strauss 1998: 151ff.). Es dient dazu, Gedanken, Erkenntnisse und Hypothesen auch in vorläufigem Status kontinuierlich schriftlich festzuhalten und hiermit eine Grundlage für die Theorieentwicklung zu schaffen. Über das offene, axiale und selektive Kodieren findet ein mehrstufiges Auswertungsverfahren der empirischen Daten statt. Das Kodieren kann dabei „nicht aus dem Subsumieren qualitativer Daten unter existierende Konzepte bestehen, eben weil diese theoretischen Begriffe noch gar nicht vorliegen“ (Strübing 2008: 19). Die Kodierungen werden hier also auf der Basis theoretischer Konzepte und analytischer Kategorien vorgenommen, die erst im Laufe der vergleichenden Analyse der Daten entstehen. Dabei geht es um „gerade jenen Schritt von der alltagspraktischen zur wissenschaftlich-systematischen Materialbearbeitung“ (Strübing 2008: 87). Dies ist zugleich ein Akt, der zwischen einem kreativen Forschungsprozess und einem methodisch-kontrollierten Forschen ausbalanciert sein muss. Vorgegangen wird mit der Methode des ständigen Vergleichens der Daten miteinander. Dieses Verfahren dient als Quelle gegenstandsbezogener theoretischer Konzepte, „indem man verschiedene theoretische Erkenntnisse, die man zunächst an einzelnen Stellen im Material erarbeitet, während des gesamten Forschungsprozesses immer wieder und immer gezielter mit weiteren Beobachtungen konfrontiert“ (Erhard/Sammet 2018: 48). Im offenen Kodieren wird ein erster Überblick verschafft, als dessen Resultat erste Kategorien im Material gebildet werden. Das offene Kodieren dient dem „‚Aufbrechen‘ des Materials“ (Breuer/Muckel/Dieris 2019: 255) durch das Herausarbeiten möglichst kleiner analytischer Einheiten und einzelner Eigenschaften. Das axiale Kodieren soll zu einer interpretierenden Ausarbeitung und systematisierenden Anordnung der zuvor gewonnenen Konzepte und Kategorien50 führen, die über 50 Die begriffliche Differenzierung zwischen Kodes, Konzepten und Kategorien fällt in der Forschungsliteratur unterschiedlich aus (vgl. Pflüger 2013: 107; Truschkat/Kaiser-Belz

4.2 Forschungsdesign

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Dimensionalisierung, also den „Prozeß des Aufbrechens einer Eigenschaft in ihre Dimensionen“ (Strauss/Corbin 1996: 43), an Tiefe gewinnen. Im dritten Schritt, dem selektiven Kodieren, wird durch Verdichtung und intensive Prüfung der Kategorien die Herausbildung einer Kernkategorie angestrebt, „die Bezug zu möglichst vielen anderen Kategorien hat und sie am ehesten zusammenhält“ (Kashkovskaya 2018: 435; vgl. auch Strauss/Corbin 1996: 94). Die Kernkategorie bildet das Zentrum der auf diese Weise generierten Theorie und zugleich die Antwort auf die Forschungsfrage. Die Auswahl der Untersuchungsgruppen orientiert sich in der Grounded Theory am Theoretical Sampling (vgl. Glaser/Strauss 1967), „denn die Auswertung einer bereits durchgeführten Gruppendiskussion kann (und sollte) zu einer empirisch begründeten Modifikation der Fragestellung und der während der Diskussion anzusprechenden Themen führen, aber auch die Auswahl weiterer Gruppen beeinflussen“ (Loos/Schäffer 2001: 59). Das heißt, dass das Sample noch nicht zu Untersuchungsbeginn feststeht, sondern sich nach dem analytischen Stand der sukzessiven Auswertung richtet. Durch das Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung (also der Suche nach einer sehr ähnlichen oder sehr abweichenden Ausprägung) soll das Phänomen dabei sowohl in seiner Breite als auch in seiner Tiefe erfasst werden (vgl. Keller 2007b: 88). Die Sample-Bildung ist dann abgeschlossen, wenn sich eine theoretische Sättigung zeigt, d. h. dann, „wenn die Hinzunahme neuer Fälle nicht mehr nach Veränderung der generierten Theorie verlangen, sondern sie sich in diese integrieren lassen“ (Steinke 1999: 41). Mit dem häufig gewählten Fokus auf soziale Interaktionsprozesse wird die Grounded Theory vorrangig in der Handlungstheorie verortet: „Grounded Theory ist eine handlungs- und interaktionsorientierte Methode der Theorieentwicklung. Ob man Individuen, Gruppen oder Kollektive untersucht, immer gibt es Handlung und Interaktion, die auf ein Phänomen gerichtet ist, auf den Umgang mit ihm und seine Bewältigung, die Ausführung oder die Reaktion darauf“ (Strauss/Corbin 1996: 83).

Diese handlungstheoretische Ausrichtung macht die Grounded Theory zunächst insbesondere für rekonstruktive Ansätze anschlussfähig, die Interaktionsprozesse in sinnverstehender und erklärender Absicht untersuchen (vgl. z. B. Angermuller et al. 2014). Allerdings gibt es in den letzten Jahren auch Vorschläge, den Forschungsstil der Grounded Theory aus der engen handlungstheoretischen Anbindung zu 2007: 247f.). In dieser Arbeit wird mit Konzept das begrifflich gefasste einzelne Phänomen in den Daten bezeichnet. Kategorien werden für die nächsthöhere analytische Anordnungsstufe verwendet, in der verschiedene Konzepte systematisch miteinander in Beziehung gesetzt werden. 63

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4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

lösen und auch für dekonstruktivistische und poststrukturalistische Perspektiven fruchtbar zu machen, die Subjekte als Effekt diskursiver Praktiken und nicht als ihren Ursprung sehen (vgl. Breuer/Muckel/Dieris 2019: 41; Schnabel 2018: 186). Adele E. Clarke (2005) und Kathy Charmaz (2006) plädieren für entsprechende Erweiterungen und haben beispielhafte Umsetzungen vorgelegt (vgl. für einen Überblick Mey/Mruck 2011). Sie zeigen, wie die Grounded-Theory-Methodologie nicht notwendigerweise an eine Handlungstheorie angebunden werden muss, sondern sich auch in der theoretischen Bezugnahme auf poststrukturalistische Perspektiven anwenden lässt. In diesen Ansätzen geht es darum, nach den „sites of silence in our data“ (Clarke 2003: 561, Herv. i. O.) zu suchen bzw. die Verfahrensweisen der Grounded Theory als „tools for studying power and inequality“ (Charmaz 2017: 40) zu nutzen. Dabei wird gerade die enorme Bedeutung des Prinzips der SelbstReflexivität im Forschungsprozess betont (vgl. Charmaz 2017: 35). Eine diskurstheoretische Fundierung lässt sich in diese Perspektive ebenfalls integrieren (vgl. etwa Angermuller et al. 2014), denn „innerhalb der Methodologie der qualitativen Sozialforschung bietet die Grounded Theory einige nützliche Reflexionen und Hilfestellungen zur Vorgehensweise, die sich auf unterschiedlichste Forschungsinteressen und -methoden beziehen lassen. Davon kann auch die Diskursforschung profitieren“ (Keller 2007a: Abs. 31). Angeknüpft wird im Rahmen dieser Arbeit vor allem an die der Grounded Theory zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Vorannahmen; nach diesen befindet sich Realität „ebenso wie die Theorien über sie in einem kontinuierlichen Herstellungsprozess, kann also nicht als immer schon gegebene ‚Welt da draußen‘ vorausgesetzt werden“ (Strübing 2008: 38). Demnach können auch Theorien nicht universal sein, sondern müssen den Aspekt des Wandels immer beinhalten. Auch das Ziel, Ergebnisse zu generieren, die auch eine praktische Relevanz besitzen, teilt diese Arbeit mit Prämissen der Grounded Theory, denn „[a]ngestrebt wird soziologische Theoriebildung nicht um ihrer selbst willen, sondern mit dem Ziel einer verbesserten Handlungsfähigkeit der Akteure im Untersuchungsbereich“ (Strübing 2008: 85). Dabei geht es im Rahmen dieser Studie jedoch nicht um die Entwicklung konkreter Handlungsempfehlungen, sondern um das Aufzeigen von diskursiven Möglichkeitsräumen und das Aufdecken von Mechanismen der Öffnung und Schließung von Handlungsmöglichkeiten.

4.3 Forschungspraktische Umsetzung: zirkulärer Forschungsprozess

4.3

Forschungspraktische Umsetzung: zirkulärer Forschungsprozess

4.3

Forschungspraktische Umsetzung: zirkulärer Forschungsprozess

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Da es sich, wie dargelegt, im Rahmen der Grounded Theory bei Datenerhebung und -auswertung sowie Theoriebildung um einen zirkulären Prozess handelt, zielt die auf die Erläuterung des empirischen Kontextes (Kap. 4.3.1) folgende Unterteilung in Erhebungsphase (Kap. 4.3.2) und Auswertungsprozess (Kap. 4.3.3) lediglich auf die Übersichtlichkeit in der Darstellung ab, muss aber für den erfolgten Forschungsprozess parallel gedacht werden.

4.3.1 Der Mottotag „Geschlechtertausch“ als empirischer Kontext Die Mottowoche stellt für die vorliegende Untersuchung insofern den empirischen Kontext dar, als das gemeinsame Erlebnis dieser Woche, und hier im Speziellen des Mottotags „Geschlechtertausch“, in den Gruppendiskussionen als gesprächseröffnender Stimulus diente, um unter den Jugendlichen eine möglichst offene Diskussion über ihre Geschlechtervorstellungen anzuregen. Im Folgenden wird daher die Entwicklung der Schüler_innen-initiierten Feierlichkeiten rund um den Schulabschluss der Hochschulreife als Annäherung an das empirische Feld skizziert. Das Phänomen der Mottowochen an Schulen51 in Deutschland ist relativ neu, hat sich jedoch in wenigen Jahren als Bestandteil des juvenilen Zelebrierens der letzten regulären Schultage vor den Abiturprüfungen bereits fest etabliert. Der höchste Schulabschluss wird zwar seit jeher auch durch einen feierlichen Abschluss entsprechend gewürdigt, der somit die Funktion eines Übergangsrituals52 einnimmt (vgl. Liebsch 2012: 214; Soeffner 1989: 70f.). Das Ausmaß dieser Feierlichkeit hat 51 Der Sozialraum Schule wird in dieser Arbeit lediglich als Hintergrundfolie der Mottowoche berücksichtigt, die einen grundlegenden Teil der bisherigen Lebenswelt der teilnehmenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen darstellt, sodass viele der diskutierten Erfahrungen in diesem Raum stattgefunden haben. Für eine vertiefte theoretische Auseinandersetzung mit Schule als institutionellem Ort von (auch) geschlechtlicher Subjektbildung vgl. u. a. Jäckle 2009 und Kleiner 2015. 52 Mit Übergangsritualen werden Zeremonien bezeichnet, die von Gesellschaftsmitgliedern durchgeführt werden, die von einer Gruppe bzw. Welt in eine andere, ihnen bis dahin verschlossene, wechseln und die z. B. einen Statuswechsel vor dem Hintergrund bildungs- oder qualifizierungsbedingter Leistungen bedeuten. Dabei zeichnen sich gegenwärtige Rituale weniger durch eine Beständigkeit aus, vielmehr werden sie „regelmäßig neu inszeniert, und solche Neuerfindungen können in Jugendkulturen besonders gut beobachtet werden“ (Liebsch 2012: 213f.). 65

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jedoch eine deutliche Entwicklung durchlaufen. Der Abiturball, der häufig mit der Zeugnisübergabe verbunden ist, wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zelebriert (vgl. Cantauw 2011: 12).53 Seit den 1950er-Jahren finden vereinzelt auch Abitur-Umzüge durch die Straßen statt. Der ‚Abi-Streich‘, d. h. das spielerische (und in der Regel durch die Schulleitung geduldete) Außer-Kraft-Setzen der schulischen ‚Normalregelungen‘ durch die Abiturient_innen am letzten regulären Schultag, ist seit den 1970er-Jahren zu beobachten.54 Seit den 1980er- und insbesondere den 1990er-Jahren hat der Abi-Streich nochmals deutlich an Show- und Eventcharakter zugenommen und enthält meist eine Bühneninszenierung, Sketche, Spiele, Musik- und Tanzeinlagen (vgl. Cantauw 2011: 13). Zu Beginn dieses Jahrtausends begannen die ersten Abiturstufen an deutschen Schulen, Mottowochen – als bisher jüngstes Element der Abiturbräuche – zu organisieren.55 Diese etablierten sich im Laufe der 2000er-Jahre bundesweit als fester Bestandteil an vielen deutschen Gymnasien und anderen zur Hochschulreife führenden Schulformen, sodass aktuell die Mottowoche für Schüler_innen in Deutschland fast durchweg zum Abschluss der Oberstufe selbstverständlich dazugehört (vgl. Kreuter 2017: o. S.). Sie wird von den Schüler_innen selbst organisiert, wobei diese auf das Placet seitens der Schulleitung angewiesen sind (vgl. Höher 2011: 25).56 Im Vordergrund der Mottowoche scheinen das gemeinsame Erleben der Abiturient_innen und die Verbundenheit durch die gemeinsame Verkleidung sowie das gemeinsame Ausbrechen aus dem regulären Schulalltag und damit die Abgrenzung zur Institution Schule und den dort verbleibenden Schüler_innen und Lehrkräften zu stehen (vgl. Kreuter 2017: o. S.). 53 Der Abiturball steht interessanterweise im völligen Kontrast zu den Mottowochen und dem Abi-Streich, hier versuchen die Schulabgänger_innen in der Regel, sich möglichst „erwachsen“ zu geben, und präsentieren sich – meist entlang klassischer Geschlechtervorstellungen – traditionell in festlicher Kleidung. 54 Dies ist auch im Zusammenhang mit der Oberstufenreform von 1972 zu sehen, in deren Zuge die Klassenverbände in der Oberstufe aufgelöst wurden, was den Zusammenhalt als Jahrgangsstufe verstärkte und die letzten Schuljahre als eigene Phase prägte (vgl. Cantauw 2011: 12). 55 In den USA gibt es die Tradition der Mottowoche, als gemeinschaftsstiftende „Spirit Week“ für alle Schüler_innen zu Beginn eines Schuljahres angelegt, bereits seit Längerem. Sie scheint für die anfänglichen Mottowochen in Deutschland eine Vorbildfunktion gehabt zu haben (vgl. Höher 2011: 23). 56 Alkoholkonsum und Ausgelassenheit bis hin zum Exzess bzw. „Paraden, Partys, Polizeieinsätze“ (Libuda 2016: o. S.; so betitelte die Rheinische Post 2016 einen Rückblick auf die Mottowochen an nordrhein-westfälischen Schulen) prägen die letzten Schultage in der medialen Wahrnehmung der vergangenen Jahre. Mittlerweile werden die Mottowochen teilweise als ein solches Ausmaß an bewusster Grenzüberschreitung wahrgenommen, dass sie an einigen Schulen durch die Schulleitung explizit beschränkt werden.

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Kern der Mottowochen sind die Verkleidungen; die Schüler_innen der Abschlussstufe einigen sich dazu im Vorfeld auf verschiedene Tagesmottos. Häufig werden die Mottos für die ersten vier Wochentage bestimmt, der darauffolgende letzte Schultag steht an den meisten Schulen unter einem Gesamtmotto des Abiturjahrgangs. In der Auswahl der Mottos zeigt sich eine stufen- wie schulübergreifende Konstanz, nach der viele Mottos immer wieder auftauchen. Aktuelle politische oder gesellschaftliche Ereignisse finden in der Regel keinen Eingang in die Themenwahl, somit wird „kein besonderer Wert auf Originalität gelegt und auch nicht auf ambitionierte (bzw. provokative), politische, soziale oder kulturelle Themen“ (Höher 2011: 19). In den Mottowochen der jugendlichen Untersuchungsteilnehmenden waren die am häufigsten vertretenen Tagesmottos – neben „Geschlechtertausch“ – „Helden der Kindheit“ und „Asi“. Daneben nahmen die Jugendlichen u. a. an den Mottotagen „Bad Taste“, „Business“, „Hippies“ oder „Pimps and Bitches“ bzw. „Nutten und Zuhälter“ teil.57 Die Mottos zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie einerseits in – temporärer oder prinzipieller – Distanz zum ‚eigentlichen‘ Leben der Jugendlichen zu stehen scheinen, andererseits jedoch auf gemeinsam geteilte Wissensbestände und Vorstellungen rekurrieren. Das ‚Andere‘ gewinnt hierbei anscheinend seinen Reiz gerade aus der vermeintlichen Gewissheit, nichts mit der eigenen – aktuellen – Lebenswelt zu tun zu haben. So werden bei den Mottotagen „Erster Schultag“ oder „Helden der Kindheit“ vergangene Lebensphasen dargestellt oder thematisch berührt, beim „Seniorentag“ geht es um eine Lebensphase, die in der (fernen) Zukunft liegt. Bei Mottos wie dem „Asi-Tag“ hingegen funktioniert die Distinktion nicht über den temporären Faktor, sondern über soziale Differenzierung.58 Hier scheint, wie auch beim „Mafiatag“ oder dem Motto „Pimps and Bitches“, die Abgrenzung in prinzipieller Art zu erfolgen. Dabei ist der Rückgriff auf stereotype Bilder und Darstellungsweisen an den meisten Mottotagen die Regel und auch am Geschlechtertauschtag zu beobachten, an dem der ‚Tausch‘ als Wechsel im Rahmen eines eindeutigen binären Gegensatzes zwischen weiblich und männlich umgesetzt wird. Das Motto Geschlechtertausch hebt sich jedoch insofern von einem Großteil der anderen ab, als die an diesem Tag eingenommene ‚Rolle‘ sich – alltagsgeschlechtlichen Annahmen zufolge – zwar prinzipiell von der eigenen Person

57 Dies deckt sich zum großen Teil mit den Mottos, die auch in einer 2011 erschienenen Studie zu gegenwärtigen Abitur-Ritualen exemplarisch genannt werden: Erster Schultag, Hippie, Gangster und Bitches, Tiertag, Helden der Kindheit, Asi-Tag, Oktoberfest, Geschlechtertausch, Bad Taste und VIP (vgl. Höher 2011: 18). 58 Auf die mit diesem und ähnlichen Mottos verbundenen klassistischen Implikationen wird in Kap. 5.4.4 eingegangen. 67

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unterscheidet, aber zugleich aus dem alltäglichen Umfeld gegriffen ist. Während die übrigen Mottos meist den gemeinsamen Rekurs auf ein ‚externes‘ Thema beinhalten, findet hier eine Bezugnahme der Jugendlichen untereinander statt, da sie, das wird in der Auswertung (Kap. 5) deutlich, gegenseitig als Repräsentant_innen des ‚anderen‘ Geschlechts fungieren. Die Beschäftigung mit dem Mottotag Geschlechtertausch stellt somit eine Gesprächssituation her, die „eine Distanz zum Selbstverständlichen ermöglicht und dabei eine Kommentierung des Alltäglichen ermöglicht“ (Offen 2013: 52). Zugleich verschafft sie – so die durch die Exploration des Phänomens der Mottowoche gestärkte Annahme – einen für die Jugendlichen in der Regel positiv besetzten Diskussionszugang.59 Der Rekurs auf die Erfahrungen der Jugendlichen während des temporären Geschlechtertauschs zum Ende der Schulzeit bietet somit einen Ansatz, auf entdramatisierende und nicht-problematisierende Weise Geschlechterkonzeptionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nachzuspüren. Auch wenn es sich bei der Mottowoche um ein außergewöhnliches Ereignis im Leben der Jugendlichen handelt, so bilden Alltagserfahrungen in den Diskussionen die zentralen Bezugspunkte – und auch der Mottotag Geschlechtertausch funktioniert, so ist aus den Beobachtungen zu schließen, insbesondere über die Vergleichsfolie des Alltags, der an diesem Tag ‚auf den Kopf gestellt‘ wird. Somit sind es trotz des exzeptionellen Charakters des Geschlechtertauschtags vor allem das Alltagswissen und die alltäglichen, machtdurchzogenen Aushandlungen der jungen Menschen, auf die über den gewählten empirischen Zugang fokussiert wird.60 Dabei wird neben Geschlecht, bzw. damit verwoben, von den Jugendlichen immer wieder auch 59 Die hiermit verbundene Vorannahme, dass die Mottowoche für die beteiligten Schüler_innen in der Regel ein positiv konnotiertes Ereignis darstellt, wurde zumindest mit Blick auf das Sample der Untersuchung bestätigt. Demgegenüber lassen die Befunde, gerade auch angesichts des eigenen dekonstruktivistischen Anspruchs, auch Unsagbarund Unsichtbarkeiten mitzudenken, offen, inwieweit die Mottowoche und einzelne Tage wie etwa der Geschlechtertauschtag von einzelnen Jugendlichen negativ erlebt werden und z. B. mit Ausschluss- oder Diskriminierungserfahrungen verbunden sind. Berichte wie die von René in der Weiden-Gruppe (Kap. 5.2.3) oder über Finn/Sabrina in der Linden-Gruppe (Kap. 5.3.2) lassen aber erahnen, dass die hier zugrunde liegende Vorannahme nicht uneingeschränkt gültig ist und in der allgemeinen Vor-Abitur-Euphorie der Mottowoche nicht alle Schüler_innen eingeschlossen sind. 60 Die hier untersuchte Spielart von Geschlechtertausch unterscheidet sich von anderen Geschlechtertausch- bzw. Cross-Dressing-Varianten; diese finden sich etwa in subkultureller Form als Drag-Praktik (vgl. z. B. Schirmer 2010; Torr/Bottoms 2010) oder als dramaturgisches Mittel wie jenes der „Hosen-Rolle“ im Theater (vgl. z. B. Ponte 2013). Eine ausführliche Abhandlung über Cross-Dressing als kulturelles Phänomen westlicher Gesellschaften liefert Marjorie Garber (1993).

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Sexualität verhandelt. Die zugrunde liegenden theoretischen Annahmen verweisen ebenfalls auf das komplexe Zusammenspiel von Geschlecht mit Sexualität und Begehren in einer gemeinsamen (Macht-)Ordnung (vgl. Kap. 3.3). Somit kommt auch diesen Dimensionen in der vorliegenden Studie eine zentrale Bedeutung zu.

4.3.2 Erhebung der empirischen Daten Zur Exploration des Untersuchungsfeldes und insbesondere zur Ermittlung der infrage kommenden weiterführenden Schulen, d. h solchen, an denen die Mottowoche des aktuellen Abiturjahrgangs einen Geschlechtertauschtag beinhaltete, wurde eine Internetrecherche in Form einer intuitiven Suche (vgl. Steinhaus 1998: 89ff.) betrieben.61 Die Gruppendiskussionen wurden zwischen Februar 2016 und Juli 2018 in verschiedenen nordrhein-westfälischen Städten durchgeführt. Die erste Gruppendiskussion, die zugleich einen explorativen Charakter hatte, kam über private Kontakte zustande. Hier lag die Mottowoche zum Zeitpunkt der Diskussion bereits zwei Jahre zurück. In allen anderen Fällen wurde die Datenerhebung kurz nach (bzw. in zwei Fällen während62) der Mottowoche durchgeführt. Auf der Grundlage der Vorrecherchen wurden zur Gewinnung von Untersuchungsteilnehmenden Schüler_innenvertretungen auf lokaler und regionaler sowie vereinzelt auf Schulebene angeschrieben (je nach verfügbaren Kontaktdaten erfolgte dies per E-Mail oder Facebook), Schulleitungen per E-Mail kontaktiert und in geringerem Umfang schriftliche Aushänge in einzelnen Schulen verteilt. Daneben wurden auch einzelne Jugendliche, deren Einbindung in eine Mottowoche und den Geschlechtertauschtag durch die oben angeführten Internetquellen ersichtlich war, per E-Mail oder Facebook kontaktiert, sofern die entsprechenden Kontaktdaten ebenfalls internetöffentlich zugänglich waren. Die Kontaktaufnahme über die Schulleitungen erwies sich als weitgehend erfolglos; lediglich eine Gruppendiskussion ist durch die entsprechende Vermittlung zustande gekommen. Zielführender 61 Dazu wurden Schulwebseiten besucht, lokale und regionale Online-Presseartikel zur Mottowoche gesichtet sowie Facebook- und Instagram-Recherchen über entsprechende Schlagworte (Mottowoche; Geschlechtertausch) angestellt (berücksichtigt wurden hier sowohl Accounts von Einzelpersonen als auch von Abiturjahrgängen und Schulen). 62 Ein lediglich zur Kontaktanbahnung verabredetes Treffen mit Schüler_innenvertreter_innen fand in einem Berufskolleg statt, an dem zur selben Zeit die Mottowoche durchgeführt wurde und, wie sich vor Ort herausstellte, der Geschlechtertauschtag das Motto des Tages war. Daraufhin kamen, in Absprache mit dem zuständigen Lehrpersonal, ad hoc zwei Gruppendiskussionen mit einigen der beteiligten Schüler_innen zustande. 69

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war die direkte Adressierung der Jugendlichen. So konnten über die Vermittlung durch Schüler_innenvertretungen auf lokaler und regionaler Ebene drei Gruppendiskussionen durchgeführt werden. Als effektivstes Vorgehen stellte sich daneben die Kontaktaufnahme zu einzelnen Abiturient_innen mittels individueller, persönlicher Ansprache via Facebook heraus, die dann wiederum die Akquirierung von Mitdiskutierenden übernahmen – hierüber kam die Hälfte der Diskussionen zustande. Anfängliche forschungsethische Bedenken einer Annäherung auf diese Weise, die möglicherweise als übergriffig empfunden werden könnte, wurden durch den Umstand ausgeräumt, dass sämtliche zugrunde liegenden Informationen und Kontaktdaten internetöffentlich waren und eine Kommunikation über diese Sichtbarkeit und Anonymität zugleich letztlich unverbindlich genug schien – so wurden auch zahlreiche Anfragen nicht oder abschlägig beantwortet. Die Diskussionen fanden an unterschiedlichen Orten statt, im Klassenzimmer (3), der eigenen Wohnung (2), dem Elternhaus (1), einem Universitätsinstitut (2) sowie im öffentlichen Raum (2, Theaterfoyer und Stadtbibliothek). Größtenteils war die Wahl den Jugendlichen selbst überlassen, lediglich in den beiden Ad-hocDiskussionen war die Schulumgebung durch die Situation bereits vorgegeben. Stets wurde angeboten, die Diskussion bei den Teilnehmenden zu Hause durchzuführen, daneben wurde immer entweder – falls vorhanden – ein konkreter alternativer, institutionell angebundener Raum oder die Suche eines öffentlichen Raums offeriert sowie eine Offenheit für Vorschläge und Wünsche vonseiten der Teilnehmenden artikuliert. Die Unverbindlichkeit der Teilnahme durch die Verortung der Gruppendiskussionen außerhalb eines institutionellen Rahmens machte sich darin bemerkbar, dass einzelne Teilnehmende zu den vereinbarten Terminen nicht erschienen, sodass einige Treffen in geringerer Personenanzahl als ursprünglich geplant oder erst nach erneuter Terminvereinbarung stattfanden. Den Jugendlichen war die Zusammensetzung der Gruppen selbst überlassen, um möglichst die Bildung von „Realgruppen“ (Loos/Schäffer 2001: 44) zu erreichen. In Anlehnung an das Theoretical Sampling wurde nach der Durchführung einiger Diskussionen auf der Basis erster Kodiersitzungen entschieden, im Sinne einer maximalen Kontrastierung den Kreis der beteiligten Schulformen zu verbreitern. Dahinter stand die Annahme, dass mit unterschiedlichen Schulformen und -profilen auch die Zusammensetzungen der Schüler_innen, etwa im Hinblick auf Milieuunterschiede, variieren. Im Zuge dessen wurden eine Montessori- und eine Gesamtschule in das Sample aufgenommen. Daneben wurde auf eine Einbindung von Schulen unterschiedlicher geografischer Verortung (von ländlich bis großstädtisch) Wert gelegt. Der Rahmenablauf der Treffen war einheitlich und wird im Folgenden kurz vorgestellt.

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Zu Beginn informierte die Interviewerin63 mündlich über den geplanten Ablauf der Diskussion und das Untersuchungsinteresse, wobei Letzteres an dieser Stelle noch eher vage als auf das Phänomen der Mottowoche und exemplarisch des Geschlechtertauschtags angegeben wurde, um eine möglichst richtungsoffene Diskussion zu gewährleisten. Außerdem bot die Interviewerin an, nach Abschluss der Diskussion ausführlicher Auskunft zum Forschungsprojekt zu geben. Dann erfolgte die Zusicherung der vertraulichen Behandlung der Daten und der Anonymisierung der Transkripte, die Abfrage der Einwilligung zur Verarbeitung und Veröffentlichung der Daten in anonymisierter Form sowie der Hinweis auf die Freiwilligkeit der Teilnahme und aller Redebeiträge. Nach der Einholung der Zustimmung für das skizzierte Vorgehen startete die Aufnahme. Der Diskussionseinstieg erfolgte (mit Ausnahme der beiden in situ durchgeführten Diskussionen) über die gemeinsame Betrachtung eines von den Jugendlichen oder der Interviewerin mitgebrachten Fotos des Geschlechtertauschtages64, das die Teilnehmenden oder andere Schüler_innen der Stufe zeigte.65 Dieser Stimulus führte meist zu belustigten Reaktionen der Jugendlichen. Mit der Aufforderung der Interviewerin, das Bild zu erläutern, begann die Diskussion.66 In der Gesprächsführung wurde sich an den von Bohnsack formulierten reflexiven Prinzipien (vgl. Bohnsack 2000: 212ff.) orientiert. Dabei ging es insbesondere darum, eine Eigenläufigkeit der Diskussion zu fördern, indem nur wenige, hauptsächlich immanente Nachfragen gestellt wurden, die auf Erzählungen oder Beschreibungen (nicht aber argumentative Stellungnahmen) abzielten und bewusst vage formuliert wurden. 63 Es handelt sich hierbei stets um meine Person; um die Funktion in diesem Prozess deutlicher herauszustellen, wird hier und im Folgenden aber die Bezeichnung in der 3. Person gewählt. 64 In den Diskussionen wurde fast immer der Mottotag Geschlechtertausch fokussiert, im Fall der explorativen Diskussion (Magnolien-Gruppe) gab stattdessen das Motto „Pimps und Bitches“ den Gesprächsimpuls – da dieses Motto, wenn auch auf andere Weise, ebenfalls eine vergeschlechtlichte Dimension erkennen ließ, erschien eine Integration der entsprechenden Diskussion in den Auswertungsprozess im Rahmen des Erkenntnisinteresses gewinnbringend. 65 Häufig wurde dabei auf die Frage nach einem Foto des Mottotages von den Jugendlichen auf einen ganzen Fotoordner in ihrem Laptop zurückgegriffen, sodass sie sich während der Diskussion oft nicht auf ein einzelnes Foto konzentrierten, sondern je nach Diskussionsinhalt auch zu weiteren Bildern oder auch Videos wechselten, was im Sinne des Dynamikerhalts der Diskussion nicht durch die Interviewerin unterbrochen wurde. 66 Zugleich wurde mit dieser Frage eine vergeschlechtlichte Vorabkategorisierung durch die Interviewerin vermieden, vielmehr wurde den Jugendlichen überlassen, wie sie auf die Geschlechterinszenierungen – und die dabei zu beobachtenden geschlechterstereotypen Darstellungen – Bezug nehmen. 71

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Die Selbstläufigkeit fiel in den Gruppen unterschiedlich aus und war gerade in jenen sehr hoch, in denen sich die Teilnehmenden auch als Freund_innen (und nicht lediglich Stufenkamerad_innen) präsentierten. In einer späteren Phase der Diskussion wurde zur Phase der exmanenten Nachfragen übergegangen und die Interviewerin schnitt Bereiche an, die in der Gruppe noch nicht thematisiert wurden, jedoch für das Erkenntnisinteresse von Bedeutung schienen. Abschließend wurden – in einigen Diskussionen – in einer direktiven Phase durch die Interviewerin Widersprüche oder Irritationen angesprochen, um an dieser Stelle auch argumentative Reaktionen zu erzeugen. Wenn das Gespräch um den Untersuchungsgegenstand zum Erliegen gekommen war, wurde die Aufnahme beendet. Die Diskussionen dauerten zwischen 40 und 90 Minuten. Im Anschluss erläuterte die Interviewerin etwas ausführlicher ihr Forschungsprojekt, sofern dies von den Jugendlichen erwünscht war. Abschließend wurde ein Kurzfragebogen zur Erhebung soziodemografischer Daten verteilt, der von den Teilnehmenden vor Ort (ohne Namensnennung) ausgefüllt wurde.67 Als Interviewerin nahm ich die Rolle einer teilstrukturierenden Moderatorin ein (vgl. Kap. 4.2.1), was in erster Linie eine Selbstläufigkeit der Diskussion anregen, daneben jedoch auch, wo im Sinne des Forschungsfokus notwendig, ein Nachfragen ermöglichen sollte. Zugleich wurde ich von den Jugendlichen auf ganz unterschiedliche Weise adressiert und involviert. So schien mir in einigen Fällen die Rolle einer Autoritätsperson (etwa Lehrerin) zugesprochen zu werden, in anderen Fällen schien ich als interessierte Außenstehende wahrgenommen zu werden, gelegentlich wurde ich als Mitdiskutantin auf Augenhöhe involviert. Dementsprechend schien auch die Gesamtatmosphäre für die Teilnehmenden mal eher einer formellen (Unterrichts-) Situation, mal mehr einem informellen Austausch zu ähneln. Eine zentrale methodologische Herausforderung (nicht nur) der Geschlechterforschung ist die Reifizierung, also der Umstand, dass das in die Untersuchung hineinprojiziert wird, „was man eigentlich erforschen möchte, nämlich [in diesem Fall, J. C.] die Bedeutung von Geschlecht im Alltag“ (Degele 2008: 133; vgl. auch 67 Der Fragebogen wurde selektiv ausgewertet und konnte dadurch ergänzende Informationen zu Alter und Geschlecht der Teilnehmenden liefern. Die darin abgefragte Selbstverortung der eigenen Geschlechtlichkeit sollte einen möglichst großen Antwortspielraum geben. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass ein ausschließlich freies Textfeld in diesem Zusammenhang (zu) verwirrend erscheinen könnte und auch, um eine Vergleichbarkeit zu erreichen, wurden verschiedene Antwortmöglichkeiten (Frau, Mann, eher Frau, eher Mann, Sonstiges) vorgegeben, daneben aber auch ein freies Textfeld zur optionalen Nutzung eingefügt. Auf eine Frage nach einem Migrationshintergrund wurde verzichtet, um hier nicht Besonderheiten zu schaffen bzw. eine entsprechende Selbstkategorisierung aufzudrängen (vgl. auch Offen 2013: 59).

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Behnke/Meuser 1999: 42). Dieser Herausforderung wurde im Rahmen der Studie in Anlehnung an Nina Degele und Gabriele Winker (2007) begegnet: Sie setzen die im Untersuchungsfokus stehenden Differenzkategorien „nicht einfach als relevant voraus, sondern berücksichtigen, ob und wie die Interviewpersonen sie benennen oder eben auch nicht“ (Degele/Winker 2007: 15). Dementsprechend ist die geschlechtliche Zusammensetzung der Gruppen in sämtlichen Fällen zufällig bzw. durch die Jugendlichen selbst gewählt. Eine vergeschlechtlichte Adressierung der Jugendlichen erfolgte seitens der Interviewerin nicht ex ante, sondern erst auf der Grundlage der während der Diskussion vorgenommenen Selbstverortungen. Die inhaltliche Relevanzsetzung von Geschlecht innerhalb der Diskussionen ist daneben vom Phänomen des Geschlechtertauschtags selbst geprägt.

4.3.3 Auswertung der empirischen Daten Die Audiodaten wurden nach üblichen Transkriptionsregeln transkribiert (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2013: 399f.; Loos/Schäffer 2001: 55ff.) und im Anschluss anonymisiert.68 Bei der Anonymisierung der Vornamen wurde versucht, eine Ähnlichkeit in der sprachlich-kulturellen und ggf. geschlechtsspezifischen Bedeutung beizubehalten (vgl. Offen 2013: 58); von den Jugendlichen selbst gewählte Spitznamen oder Kurzformen wurden dabei ebenfalls auf diese Weise berücksichtigt. Die Vergabe der Gruppennamen erfolgte im Nachhinein und losgelöst von gruppenspezifischen Merkmalen; die Orientierung an botanischen Bezeichnungen diente lediglich einer einheitlichen Benennungsart. Die weitere Bearbeitung der schriftlichen Daten fand mithilfe des Software-Programms MAXQDA statt. Entsprechend der Orientierung an der Grounded Theory wurde das Material in einem dreistufigen Prozess kodiert, wobei die einzelnen Schritte z. T. parallel verliefen und die erfolgte separate Darstellung lediglich der Übersichtlichkeit dient. Im ersten Schritt, dem offenen Kodieren, wurden die Daten erstmalig gesichtet. Dies verschaffte einen eher breiten und noch wenig geordneten Zugang zum Material 68 Zentrale, für das Verständnis wichtige Transkriptionszeichen werden im Folgenden kurz angeführt: @ markiert Lachen bzw. lachendes Sprechen; in (( )) werden außersprachliche Gesprächshandlungen und in [ ] Nebenhandlungen gesetzt; > < zeigt eine besondere Sprechweise an, in ( ) wird die jeweilige Sprechweise erläutert; mit ∟ werden Überlappungen von Redebeiträgen gekennzeichnet; eine sinkende Intonation wird mit . und eine steigende mit , angegeben; fett gedruckte Wörter markieren laut Gesprochenes; betonte Äußerungen sind unterstrichen; mit = werden Verschleifungen angegeben; Pausen werden je nach Länge mit (.) bei nur kurzem Absetzen sowie mit (1) etc. bei Pausen in entsprechender Sekundenanzahl notiert. 73

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und es wurde eine große Anzahl an untereinander noch unverbundenen Konzepten erarbeitet. Es wurde darauf geachtet, hier möglichst offen vorzugehen und nicht „‚fremde‘ Konzepte oberflächlich an die Daten heranzutragen, diese also nur als Illustration schon ‚gewusster‘ Konzepte zu benutzen“ (Strübing 2008: 20). Zugleich gaben die eigene theoretische Verortung und das Forschungsinteresse eine Hintergrundfolie vor, auf deren Grundlage die Analyse und entsprechende Fokussierungen stattfanden. So entstanden besonders dichte Kodierungen vor allem an Stellen, in denen die Jugendlichen die konkreten Erfahrungen ‚im anderen Geschlecht‘, die Verkleidungspraxen und die damit verbundenen Geschlechterbilder schilderten. Durch die Technik des Vergleichens wurde versucht, die unterschiedlichen Facetten eines gefundenen Phänomens möglichst umfassend herauszuarbeiten und bereits ansatzweise eine Dimensionalisierung vorzunehmen, um eine analytische und perspektivische Vielfalt und Breite zu erzeugen (vgl. Breuer/Muckel/Dieris 2019: 270). So erhielt etwa das Konzept „Wertungen“ nach und nach Dimensionen wie „einfach“, „schwer“, „passend“, „unpassend“, „richtig“, „falsch“, „positiv“, „negativ“, „extrem“ oder „zu sehr“. Durch die auf diese Art bearbeiteten und zu Kategorien gebündelten Konzepte wurde die zweite Kodierphase eingeleitet, das axiale Kodieren. In diesem Schritt wurden Beziehungen zwischen den Kategorien und Konzepten herausgearbeitet und immer wieder im Material vergleichend geprüft, modifiziert und ausgeweitet. So konnten Zusammenhänge rekonstruiert und, im dekonstruktivistischen Sinne, auch Brüche und Widersprüche aufgedeckt werden. Dabei wurde zunehmend auf Relevanzen geachtet, die sich im Zuge der Analyse herauskristallisierten und die Forschungsfrage weiter zuspitzten. So führten die herausgearbeiteten Kategorien rund um Selbst-Bezüge der Jugendlichen etwa dazu, Geschlecht im Material verstärkt als im Prozess der Selbstkonstitution eingebettet zu lesen. Durch die sukzessive stattfindenden Phasen von Datenauswertung und -erhebung sowie Theoriebildung konnten die hierdurch erfolgten Schwerpunktsetzungen auch in die weiteren Erhebungen einfließen, was u. a. dazu führte, dass in den folgenden Diskussionen weniger die detaillierte Beschreibung der Verkleidungspraxen fokussiert wurde, sondern stärker Dimensionen der Selbst-Darstellung sowie der Bewertung in den Blick genommen wurden und eine verstärkte theoretische Beschäftigung mit Subjektivierungsansätzen erfolgte (vgl. Kap. 3.2). Auch das Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Ebene geriet, auf der Grundlage der bereits kodierten Diskussionen, im Forschungsverlauf stärker in den Vordergrund. Auf die Erstellung und Anwendung eines Kodierparadigmas als Hilfsgerüst für das axiale Kodieren (vgl. Strauss/Corbin 1996: 78ff.) wurde im Rahmen dieser Arbeit verzichtet, da es für die Analyse als zu statisch und mit seiner interaktionistischen Fokussierung als wenig zielführend erachtet wurde. Im Zuge des axialen Kodierens kristallisierten sich mehrere zentrale Kategorien heraus, etwa

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„das Selbst“, „Materialität/Körper“, „Sexualität“, „Flexibilität“ oder „Maßnehmen“. Sie wurden untereinander in Bezug gesetzt, wobei auch die grafische Darstellung der Kategorien mit ihren Eigenschaften, Dimensionen und Beziehungen in Form von manuell angefertigten Schaubildern aufschlussreich war. Durch die hier gezogenen Verbindungen, Zuordnungen und Relevanzsetzungen ergaben sich dann Hinweise auf mögliche Schlüsselkategorien als diejenigen Kategorien, die innerhalb dieser Bezüge als besonders zentral auftauchten. Diese wurden anschließend genauer untersucht. Dafür wurden alle bisherigen Diskussionen einer erneuten Kodierung unterzogen, welche die durch die Schlüsselkategorien erfolgte Schwerpunktsetzung und Perspektive fokussierte und dabei explizit das theoretische Vorwissen mit einbezog, sodass hier sowohl induktiv als auch deduktiv vorgegangen wurde (vgl. auch Mey/Mruck 2009: 105; Pflüger 2013: 107f.). So entstanden z. B. Kategorien, die sich in der theoretischen Rückbindung als anknüpfbar an gegenwärtige Subjektivierungsmodelle unter neoliberalen Vorzeichen erwiesen, einerseits induktiv aus dem Material. Andererseits stießen sie ein Weiterdenken in diese Richtung und entsprechende theoretische Rückkopplungen an, die den Prozess der eigenen Theoriebildung wiederum voranbrachten. Nachdem auf diese Weise Kategorien verdichtet und zentrale Schlüsselkategorien gefunden worden waren, ging es beim dritten Kodierschritt, dem selektiven Kodieren, darum, eine Kernkategorie herauszuarbeiten und anhand dieser einen roten Faden durch die Daten zu finden (Keller 2007b: 102). Dabei wurden auch die bisherigen Kodes überarbeitet, und zwar auf eine einheitliche und abstraktere Analyseperspektive hin, die ab diesem Zeitpunkt durch die Kernkategorie der „geschlechtlichen Selbstregulierung“ gerahmt war. Es wurde systematisch geprüft, ob sich anhand dieser Kernkategorie alle zentralen Schlüsselkategorien integrieren und sinnvoll miteinander in Beziehung setzen lassen und das hierdurch entstehende theoretische Modell zur Klärung der Forschungsfrage führt (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 205). Dadurch konnte ein theoretisches Modell entwickelt werden, das eine Antwort auf die sich sukzessive zugespitzte Forschungsfrage gibt – Wie und unter welchen Bedingungen werden die Jugendlichen zu vergeschlechtlichten Subjekten geformt und wie und unter welchen Bedingungen formen sie sich selbst zu vergeschlechtlichten Subjekten? – und hierzu die zentralen Schlüsselkategorien auf eine solche Weise in argumentative Beziehungen setzt, dass sie sich im Sinne der Kernkategorie integrieren lassen. Die finalen Schlüsselkategorien – geschlechtliche Flexibilität, geschlechtliche Selbstbestimmung, geschlechtliche Selbstverwirklichung und das vergeschlechtlichte Maßnehmen – bilden im Resultat die Grundlage für die Darstellung der Auswertungsergebnisse in Kap. 5. In der anschließenden Diskussion der Befunde (vgl. Kap. 6) geht es darum, „die Ergebnisse der Datenanalyse mit dem Wissen über Kontexte, gesellschaftliche Prozesse u. a. m. in Beziehung zu setzen“ 75

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(Keller 2007b: 111), sowie „um Bilanzierungen, Bezüge zum und Einbindungen in den allgemeineren sozialwissenschaftlichen Diskussionskontext“ (Keller 2007b: 112). Begleitend zum gesamten Kodierprozess wurden Memos verfasst, in denen Gedanken, theoretische Bezüge und Fragen festgehalten wurden. Dieses methodische Schreiben wurde während der Auswertung immer wieder als Denk- und Analysewerkzeug herangezogen und floss in die Generierung der Theorie mit ein. Die Vorstellung von Theorie(bildung) als Prozess wurde in diesem Arbeitsschritt besonders deutlich. Auch ein fachlicher Austausch über Zwischenergebnisse in unterschiedlichen kollegialen Bezügen war im Sinne eines reflexiven Theoriebildungsprozesses von großer Bedeutung für eine kritische Überprüfung und Diskussion der durch die Kodierung aus dem Material gezogenen Schlussfolgerungen. Eine Typenbildung, wie sie im Rahmen der Grounded Theory vielfach für die Bündelung der Ergebnisse vorgeschlagen bzw. vorgenommen wird, bietet sich vor dem dekonstruktivistischen Hintergrund hier nicht an, da eher Brüche und Diskontinuitäten als die Entwicklung eines homogenen Gebildes im Vordergrund stehen (vgl. Angermüller 2005: 41). Im Zusammenhang dieser Untersuchung fiel daher die Entscheidung für eine Herausarbeitung von zentralen Erzählungen zur Aufbereitung der Ergebnisse (vgl. Götsch 2014: 102f.; Karstein/Hanfland 2018: 279). Im Sinne einer Selbstreflexion des Forschungsprozesses erfolgen abschließend einige kritische Anmerkungen in Bezug auf das eigene methodische Vorgehen. Durch das Offenlegen der theoretischen Vorannahmen werden diese keinesfalls verneint, aber transparent gemacht. Im Forschungsprozess wurde, angelehnt an das sensibilisierende Konzept, diesem Umstand durch ein Reflektieren der eigenen Vorannahmen und den Versuch einer auch vor diesem Hintergrund bewahrten Offenheit in der Annäherung an das Material konstruktiv begegnet. Das Theoretical Sampling war durch die erschwerte Auffindbarkeit und die limitierten Zugänge zu den potenziellen Untersuchungsteilnehmenden eingeschränkt. Dennoch wurde ein Sample erreicht, das eine gewisse Vielfalt abbildet und eine Erschließung des Untersuchungsgegenstands in angemessenem Ausmaß ermöglichte, was insbesondere bedeutet, „eine analytische Aussagekraft über den Einzelfall hinaus [zu] erreichen“ (Pflüger 2013: 109). Mit Blick auf die Reichweite der vorliegenden Erkenntnisse ist zu berücksichtigen, dass sich das Sample phänomenbedingt aus einer relativ69 bildungshomogenen Gruppe, nämlich Abiturient_innen, zusammensetzte. Da die

69 Diese Einschränkung wird gemacht, da sich hier – auch von den Jugendlichen selbst vorgenommene – Differenzierungen ausmachen lassen, insbesondere zwischen dem Gymnasium und anderen Schulformen (vgl. Dumont et al. 2014). Durch den Einbezug unterschiedlicher Schulformen und geografischer Regionen konnte trotz großer Gemeinsamkeiten dennoch eine relative Heterogenität der Teilnehmenden erreicht werden.

4.4 Das Sample der Untersuchung

77

Fähigkeit der (Selbst-)Reflexion durch Bildungsprozesse und -institutionen gefördert wird (vgl. Liebsch 2012: 72) und in den hier gewonnenen Ergebnissen eine zentrale Stellung einnimmt, bleibt offen, auf welche Weise die Befunde eine Aussagekraft auch außerhalb der hier im Fokus stehenden Bildungsmilieus haben. Somit wäre die Frage nach theoretischer Sättigung im Lichte dieser Einschränkung zu betrachten.

4.4

Das Sample der Untersuchung

4.4

Das Sample der Untersuchung

An den zehn Gruppendiskussionen waren insgesamt 37 Jugendliche70 und junge Erwachsene im Alter zwischen 17 und 26 Jahren71 beteiligt. Die im Folgenden verwendete Bezeichnung der Teilnehmenden als Jugendliche greift insofern auf einen breit gefassten Jugendbegriff zurück, der sich in dieser Untersuchung auf sämtliche Teilnehmende, auch die jungen Erwachsenen, bezieht (vgl. auch Liebsch 2012: 16). Die Gemeinsamkeit macht sich dabei weniger am Alter als vielmehr an der spezifischen Phase zwischen schulischer Bildung und weiterführender Bildung bzw. Berufseinstieg fest, in der sich die Teilnehmenden befinden. Von den Untersuchungsteilnehmenden verorteten sich auf dem schriftlichen Fragebogen 21 als „Frau“, elf als „Mann“, zwei als „eher Frau“, zwei als „eher Mann“ und eine Person als „Sonstiges“. Eine Person gab zusätzlich zu „eher Mann“ im freien Antwortfeld „nach Lust & Laune“ an. Trotz dieser größeren Diversität bzw. Uneindeutigkeit in den schriftlichen Antworten war in den Diskussionen fast durchweg eine eindeutige Positionierung als Frau oder Mann zu erkennen.72 Die Gruppen hatten eine Größe von zwei bis sechs Personen und unterschiedliche geschlechtliche Zusammensetzungen. 70 Mit Blick auf die Forschungsethik konnte bei den beteiligten Minderjährigen von einer Einsichts- und damit auch der Einwilligungsfähigkeit ausgegangen werden (vgl. Brock/ Rathjen 2013: 175), sodass auf eine Einholung einer Einverständniserklärung der gesetzlichen Vertreter_innen verzichtet wurde. 71 Die Beteiligung der (insgesamt 12) Über-20-Jährigen ergibt sich aus der Beteiligung der Berufskollegs, in denen die Alterszusammensetzung deutlich gemischter war, sowie der erst in zeitlicher Distanz zur Mottowoche stattgefundenen Diskussion in der Magnolien-Gruppe. 72 Dabei sind mehrere Gründe denkbar: Zum einen wurde der Fragebogen erst im Anschluss an die Diskussion ausgeteilt und aus den Kommentaren einzelner Teilnehmender ist zu schließen, dass die Diskussion teilweise dazu angeregt hat, über die eigene geschlechtliche Verortung zu reflektieren, und so möglicherweise hier eine ‚neue‘ vorgenommen wurde, die so in der bisherigen Positionierung noch nicht enthalten war. Ein weiterer Aspekt ist in der Anonymität der Fragebögen zu sehen, sodass die geschlechtliche Positionierung hier, anders als die verbale Positionierung während der Diskussion, 77

78

4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

Tab. 4.1

Das Sample im Überblick

Gruppe Dahlien-Gruppe

Schulform Montessori-Gymnasium

Geranien-Gruppe

Gymnasium

Hasel-Gruppe

Gymnasium

Iris-Gruppe

Berufskolleg

Jasmin-Gruppe

Berufskolleg

Kamelien-Gruppe

Gymnasium

Linden-Gruppe

Gesamtschule

Magnolien-Gruppe

Gymnasium

Oleander-Gruppe

Gymnasium

Weiden-Gruppe

Berufskolleg/ Gymnasium

Teilnehmende Emmy Eske Iwona/Iwo Fabienne Mona Natalia Lina Rosa Thomas Andrea Denise Ian Jesko Max Sebi Aaron Chris Danny Fine Maja Catherina Dunja Jan Lisa Markus Jessica Samuel Viola Alissa Lieselotte Martha Saida Caro Franziska Helen Mirko René

Region Großstadt Kleinere Großstadt in Metropolregion Kleine Mittelstadt in Metropolregion Große Mittelstadt im ländlichen Raum

Große Mittelstadt im ländlichen Raum Kleine Mittelstadt in Metropolregion

Große Mittelstadt am Rande von Metropolregion Kleinere Großstadt im ländlichen Raum Kleinere Großstadt in Metropolregion Ländliche Kleinstadt

nicht mit einer Offenlegung entsprechender non-konformer Verortungen verbunden ist. Und schließlich ist die hier zu beobachtende Diskrepanz möglicherweise auch ein Hinweis auf die parallele Gleichzeitigkeit von Offenheit und Grenzziehungen in Bezug auf Geschlecht, die in Kap. 6.1.2 ausführlicher diskutiert wird.

4.4 Das Sample der Untersuchung

79

Durch den Fokus auf die Mottowoche als Abiturritual waren die infrage kommenden Schulformen auf solche mit Sekundarstufe II begrenzt. In diesem Rahmen wurde eine größtmögliche Heterogenität angestrebt, sodass in das Sample fünf Gruppen mit Gymnasiast_innen, drei Gruppen mit Berufskolleg-Schüler_innen73, eine Gruppe mit Gesamtschüler_innen sowie eine Gruppe mit Montessori-Gymnasiast_innen einflossen. Auch weisen die Schulen eine unterschiedliche geografische Verortung auf: Fünf sind in einer kleinen bis großen Mittelstadt, drei in einer kleineren Großstadt, eine in einer Großstadt und eine in einer Kleinstadt situiert, einige davon im ländlichen, andere im eher städtischen Raum.74 Tab. 4.1 stellt die Gruppen überblicksartig vor. Viele der Teilnehmenden befanden sich zum Zeitpunkt der Diskussion in der Wartephase zwischen den schriftlichen (und größtenteils auch bereits mündlichen) Abiturprüfungen und der Ergebnisverkündung. Alle haben (mindestens) einmal an der Mottowoche teilgenommen, die in den meisten Fällen innerhalb der letzten Wochen stattgefunden hat. Mit Ausnahme der Weiden-Gruppe75 besuchten alle Teilnehmende einer Diskussion dieselbe Stufe. Alle Gruppenzusammensetzungen wurden von den Jugendlichen selbst vorgenommen. Teilweise waren es nach eigenen Angaben freundschaftliche Kontakte, teilweise handelte es sich in der Zusammensetzung eher um Stufenbekanntschaften. Dabei waren die (zahlenmäßig überwiegenden) Diskussionen, die in freundschaftlichem Kreis verliefen, von einem intensiveren Austausch über einzelne Themen geprägt und fanden stärker unter (impliziter) Berücksichtigung von Gesprächsregeln des gegenseitigen Zuhörens, Ausredenlassens und Aufeinander-Eingehens statt. Die beiden Ad-hoc-Diskussionen im Klassenraum sind dagegen davon geprägt, dass sich die Teilnehmenden im Moment des Geschlechtertauschs – und somit in einer außeralltäglichen Situation – befanden, was sich in z. T. aufgekratztem und übermütigem Diskussionsverhalten äußerte; zudem wurden die Erfahrungen der Mottowoche hier in situ und nicht im Rückblick diskutiert. Insgesamt schienen sich abhängig 73 Hierunter wird auch die Weiden-Gruppe gezählt, in der die beiden Teilnehmenden unterschiedliche Schulen (Berufskolleg bzw. Gymnasium) besuchten; der Geschlechtertauschtag fand am Berufskolleg statt. Die Teilnehmenden der Berufskollegs absolvierten alle die schulische Ausbildung zur_zum Erzieher_in (in Verbindung mit dem Erwerb der Hochschulreife). 74 Da sich die Teilnehmenden in den Diskussionen z. T. auf ihre geografische Verortung und damit verbundene Erfahrungen beziehen, wird die geografische Verortung hier aufgeführt. 75 Die beiden Teilnehmenden der Weiden-Gruppe haben ihre Mottowoche zwar zeitgleich, jedoch an zwei unterschiedlichen Schulen und Schulformen erlebt, das Motto „Geschlechtertausch“ war nur in einem der beiden Fälle (an Renés Schule) vertreten. 79

80

4 Methodologische Rahmung und methodisches Vorgehen

von der Diskussionsatmosphäre unterschiedlich große (Möglichkeits-)Räume für die Artikulation von (alternativen) Gedanken und Reflexionen zu Geschlechteraspekten zu öffnen. Im Gegensatz zu Offens Studie mit einem bildungsheterogen zusammengesetzten Sample etwas jüngerer Jugendlicher der 9. und 10. Klasse (Offen 2013) fielen durchweg die größtenteils gemäßigte bzw. kontrollierte Rede- und Ausdrucksweise und das weitgehende Fehlen von offensiven Beleidigungen und explizit diskriminierenden Adressierungen auf. Zugleich wurden diskriminierende Bezeichnungen in reflexiv-distanzierten Alltagsbeschreibungen wiedergegeben und somit als selbstverständlicher Bestandteil sonstiger Alltagserfahrungen deutlich (vgl. z. B. Kap. 5.2.3). Die Diskussionen schienen sich somit als Raum zu erweisen, in dem von den Jugendlichen geteilten – und möglicherweise in diesem Setting auch erwarteten – Ansprüchen an (eigene) Offenheit und Toleranz in besonderem Maße entsprochen wurde. Hier deutet sich möglicherweise eine besondere (Bildungs-) Privilegiertheit an, die sich in der Fähigkeit ausdrückt, die eigene Kommunikation (als Redeweise und Gesprächsverhalten) kontextspezifisch zu gestalten – was sowohl ein Wissen über die Erwartungen innerhalb dieses Kontextes als auch die Fähigkeit und Bereitschaft, diesen Erwartungen zu entsprechen, voraussetzt. Im nächsten Kapitel folgt die Vorstellung und Diskussion der zentralen Befunde, die im Verlauf des erläuterten zirkulären Forschungsprozesses herausgearbeitet wurden.

Analytische Darstellung der Ergebnisse: Erzählungen und Maßnehmen rund um Geschlecht und Selbst

5

5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

„Geschlecht ist, was ihr draus macht“ – so lässt sich plakativ der Geschlechterdiskurs der Jugendlichen aus den Gruppendiskussionen fassen. Geschlecht, so scheint es, ist zu einer gestaltbaren Ressource geworden, die aufs Engste mit den Selbstverhältnissen der Jugendlichen und mit ihrer Subjektkonstitution verknüpft ist. Es lassen sich in den Diskussionen unterschiedliche Bezugnahmen auf und Konzeptionierungen von Geschlecht erkennen sowie verschiedene Dramatisierungsgrade von damit verbundenen Differenzierungen, Hierarchisierungen und Positionierungen. Die Dimensionen, die im Zuge der Auswertung des Materials als zentrale Referenzpunkte der Jugendlichen sichtbar wurden, greifen ineinander, überschneiden und bedingen sich, werden jedoch im Folgenden zur Übersichtlichkeit nacheinander dargestellt. Sie werden als drei Erzählungen bzw. als Mechanismus des Maßnehmens bezeichnet, die eigene Machtwirkungen besitzen und entfalten, indem sie bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen nahelegen und andere verstellen.76 Die Erzählungen und das Maßnehmen können somit verstanden werden als „machtvolle Praktiken des Ordnens von Bedeutungen, die Individuen als (bestimmte) Subjekte an-erkennbar werden lassen“ (Geipel 2019: 46).77 Sie erweisen sich in den 76 Dieser produktive Charakter der Erzählungen ist für die vorliegende Untersuchung zentral, denn: „A narration is never a passive reflection of a reality“ (Trinh 1991: 13). Somit sind die Erzählungen der Jugendlichen nicht als ‚Abbild‘ einer ‚Wirklichkeit‘ zu betrachten, sondern als Mechanismen der Herstellung und Wahrnehmung ihrer Wirklichkeiten. 77 Im Anschluss daran ließe sich auch von diskursiven Praktiken sprechen (vgl. auch Bublitz 2003: 45ff.; Keller 2007b: 48; Wrana 2015: 129). Da aber die Diskussion, ob neben diskursiven auch von nicht-diskursiven Praktiken auszugehen ist und wie dann beide jeweils zu fassen wären, an dieser Stelle nicht weiterverfolgt wird (vgl. Kap. 3.1), wird im Anschluss an Foucault vorrangig auf den Begriff der Techniken – und, in eigener Lesart, auf den Begriff der Mechanismen – zurückgegriffen. Daneben werden, ebenfalls mit Foucault, aber auch Praktiken als eben jene Mechanismen verstanden, durch © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Conrads, Das Geschlecht bin ich, Geschlecht und Gesellschaft 76, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30891-9_5

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82

5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Diskussionen als diskursiv unhintergehbar und stecken den Rahmen dessen ab, was als wahr, richtig und angemessen angesehen wird, was denk- und sagbar ist und was nicht. Damit sind sie als die diskursiven Mechanismen zu fassen, durch welche die Jugendlichen sich als vergeschlechtlichte Subjekte konstituieren, und verweisen zugleich auf die Möglichkeitsbedingungen, unter denen dies geschieht. Mit der begrifflichen Anknüpfung an Diskurse bzw. Diskursives sollen dabei das diskursorientierte Verständnis der Produktion von Wirklichkeit durch Sprache, die immer in bestehende Machtverhältnisse eingebettet ist, und damit verbundene Annahmen der Subjektwerdung verdeutlicht werden (vgl. Kap. 3.1). Es handelt sich um die Erzählungen (1) der geschlechtlichen Flexibilität, (2) der geschlechtlichen Selbstbestimmung und (3) der geschlechtlichen Selbstverwirklichung sowie (4) das vergeschlechtlichte Maßnehmen. Die begriffliche Unterteilung in Erzählungen und (den Mechanismus) Maßnehmen ist unscharf, da im Rahmen dieser Arbeit alle vier Dimensionen als (Fremd- und Selbst-)Techniken der Subjektivierung gelesen werden, also als die diskursiven Mechanismen, die den Jugendlichen „bestimmte Verhältnisse zu sich selbst nahelegen“ (Geimer/Amling/Bosančić 2019b: 3f.) und zu ihrer Konstituierung als vergeschlechtlichte Subjekte führen. In den drei Erzählungen tritt der appellative Charakter dieser Mechanismen stärker hervor, während beim Maßnehmen das disziplinierende Element deutlicher zu erkennen ist. Daher wurde für die Analyse eine begriffliche Unterscheidungsform gewählt, deren Dimensionen im Folgenden überblicksartig vorgestellt werden: 1. Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität In den Verhandlungen der Jugendlichen wird der Geschlechtskern im Inneren der Einzelnen verortet. Das geschlechtliche Empfinden hat demnach gegenüber einer körperlichen Geschlechtlichkeit einen bedeutenderen Stellenwert, was mit der Annahme einer individuellen Gestaltbarkeit von Geschlecht verbunden ist (Kap. 5.1). 2. Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung Das autonome Verfügen über die eigene Geschlechtlichkeit wird in allen Gruppendiskussionen betont. Den Einzelnen wird damit auf der Basis einer angenommenen Wahl- und Handlungsfreiheit eine Selbstverantwortung für die eigene Geschlechtlichkeit zugesprochen, die als Gender Agency gelesen werden kann (Kap. 5.2).

die Diskurse „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981: 74; vgl. Kap. 3.1).

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

83

3. Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung Das Selbst steht in den Gruppendiskussionen für den authentischen und unveränderlichen Kern der Individuen. Das geschlechtliche Empfinden wird dabei von den Jugendlichen als Teil dieses Innersten verhandelt, an dem sich die eigene Geschlechtsgestaltung idealerweise ausrichtet (Kap. 5.3). 4. Das vergeschlechtlichte Maßnehmen In den Diskussionen scheinen immer wieder, latent oder explizit, diskursive Maßstäbe auf, in denen die Erzählungen durch Normierungen und Naturalisierungen eine Begrenzung erfahren. Über Bezugnahmen auf das Kriterium der Angemessenheit wird zwischen anerkannter und abgewerteter Geschlechtlichkeit unterschieden (Kap. 5.4.). Im komplexen Zusammenspiel dieser Dimensionen entfaltet sich eine gegenwärtige Form vergeschlechtlichter Subjektivierung. Diese kann, so das zentrale Ergebnis der Untersuchung, als geschlechtliche Selbstregulierung bezeichnet werden, und befindet sich im Spannungsfeld von (individueller) Freiheit und (strukturellem) Zwang, von Persistenz und Wandel (Kap. 5.5). In den Aushandlungen der Jugendlichen macht sich dieses Spannungsfeld vor allem durch Brüche, Irritationen und Widersprüche bemerkbar, die innerhalb der Erzählungen und des Maßnehmens aufscheinen. Gerade auf diese wird in den folgenden Kapiteln ein besonderer Fokus gelegt.

5.1

Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

5.1

Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

In den Diskussionen der Jugendlichen wird an vielen Stellen in einer Weise auf Geschlecht Bezug genommen, die sich – in unterschiedlichsten Ausprägungen – als Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität fassen lässt. Geschlechtliche Flexibilität ist so zu verstehen, dass Geschlechtlichkeit hinterfragbar wird und bisherige Alltagsannahmen zu Geschlecht teilweise erodieren, insbesondere im Hinblick auf die alltagsweltlich angenommene Kongruenz und Konstanz von Geschlechtskörper und Geschlechtsempfinden (vgl. Kap. 2.1). Geschlecht wird dann nicht (mehr) als feste und kohärente Konstante, sondern als in gewissem Maße modifizierbar erlebt. Dabei findet eine diskursive Verlagerung der ‚wahren Geschlechtlichkeit‘ ins Innere des Subjekts statt: Nicht der Körper selbst und seine Materialität werden mehrheitlich als entscheidend für die individuelle Geschlechtlichkeit erzählt, sondern das je eigene Empfinden (Kap. 5.1.1). Die Flexibilitätserzählung wird gespeist durch Diskurse rund um die körperliche 83

84

5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Gestaltbarkeit und ein Wissen über erweiterte Körpertechnologien, durch die für die Jugendlichen eine körperliche Geschlechtlichkeit verhandel- und modifizierbar wird (Kap. 5.1.2). Dies geht in den Diskussionen mit einer häufigen Bezugnahme auf Trans* Menschen und damit auch einer Normalisierung der Praxis der operativen Geschlechtsangleichung einher. Trans* fungiert dabei in spezifischer Weise als das ‚Andere‘, welches sich als konstitutiver Bestandteil der Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität herausstellt (Kap. 5.1.3). Daneben werden – wenn auch insgesamt in geringerem Maße und eher konzentriert in einigen wenigen Gruppen – weitere Räume des Denk- und Lebbaren geöffnet, die für die Jugendlichen mit einer Flexibilität hinsichtlich Geschlechterkonzeptionen verbunden sind (Kap. 5.1.4).

5.1.1

Geschlecht ist, was du fühlst – diskursive Verlagerung des Geschlechtskerns

Durch den Gesprächsimpuls des Geschlechtertauschtags und die damit verbundene Frage, was diesen Tag ausmacht bzw. wodurch sich die Jugendlichen an diesem Tag vom Alltag unterscheiden, werden von den Jugendlichen immer wieder Fragen einer Verortung von Geschlecht und sexueller Orientierung in den Individuen verhandelt: Es zeigt sich das Bemühen der Jugendlichen, die performativen Anteile, die zur Darstellung des ‚anderen‘ Geschlechts herangezogen werden, zu verbalisieren, aber zugleich das jeweils ‚eigentliche‘ Geschlecht nicht gänzlich ‚verschwinden‘ zu lassen, was häufig zu der allgemeineren Frage führt, welche Substanz die subjektive Geschlechtlichkeit hat. Dabei lässt sich, wenn auch nicht stringent und widerspruchsfrei, eine Tendenz zu einer Verortung einer Geschlechteressenz im Inneren des Subjekts ausmachen: Dem Empfinden wird ein ganz besonderer Stellenwert für die eigene Geschlechtlichkeit zugesprochen, das Gefühl gilt als entscheidendes – und legitimierendes – Kriterium für die geschlechtliche Zuordnung von Personen. So zeigt es sich auch in der Dahlien-Gruppe, als die Funktionsweise des Geschlechtertauschtages der Mottowoche in Abgrenzung zu einem ‚richtigen‘ „Gendertausch“ (hier im Sinne von Trans* gemeint) diskutiert wird: Eske: So über K=das Äußere und Kleidung zu definieren , ob jemand eine Mann @eine Mann@ @@ Emmy: ∟@@@ Eske: @ein Mann oder eine Frau ist@ ist ja da irgendwie ähm (.) das Hauptthema gewesen . Iwona: ∟Mja Emmy: Ja Eske: und das ist ja nicht Thema des (.) Gendertausches . es ist ja nicht das Thema ähm (3) ja wie sagt man das? Emmy: Das drückt das nicht richtig aus .

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

85

Eske: Ja (.) das=darum geht es ja nicht dabei . wenn=wenn ein Mann eine=eigentlich eine Frau ist , und eine Frau eigentlich ein Mann ist (.) ähm das=das (.) sagt . das Äußere sagt ja über mich nicht . ob ich mich jetzt männlich fühle oder weiblich fühle . und das ist halt (.) von der Gesellschaft so (.) Iwona: ∟Ja Emmy: ∟Ja Eske: irgendwie wenn man ’n Kleid trägt ist man direkt weiblich und ’ne Frau , aber . ein Mann kann Iwona: ∟Ja Eske: ja auch ein Kleid tragen . obwohl er sich als Mann fühlt (.) und das (.) da finde ich , ist es schwierig , vom Äußeren kann man zwar irgendwie so’n Mittelding . ja finden (.) ’ne Frau, die äh ’ne enge Hose trägt . aber dazu Hoodie oder sowas ist vielleicht ’n Mittelding (.) aber (.) ähm (.) Emmy: ∟ Mmmh Eske: man kann ja nicht sehen , wie das=wie die (.) wie die das im Menschen drinnen aussieht . also ob der Mensch jetzt wirklich sich als Frau fühlt , als Mann oder gar nicht weiß (.) was er davon jetzt Iwona: ∟Ja Eske: ist oder was komplett Anderes ist (.) deswegen ist das eigentlich nur (.) was wir da gemacht haben (2) nja das . was man nach außen hin präsentiert . gewesen (.) also nicht Gendertausch im eigentlichen Sinne vom (.) Geistigen her . sondern eigentlich nur vom (.) ähm ich zeig jetzt heute , dass ich ein Mann bin . und äh morgen bin ich dann wieder ’ne Frau . Iwona: Mmmh (Dahlien-Gruppe)

Hier zeichnet sich eine Geschlechterkonzeption ab, die von einem essenziellen Geschlechtskern ausgeht und diesen im Inneren der Einzelnen verortet („man kann ja nicht sehen , wie das=wie die (.) wie die das im Menschen drinnen aussieht“). In der Bezugnahme auf die ‚wirkliche Geschlechtlichkeit‘ grenzt sich Eske unter Zustimmung von Iwona und Emmy von der Logik des Geschlechtertausch-Mottotags, eine (zwei)geschlechtliche Zuordnung über das Aussehen vorzunehmen, ab („das Äußere sagt ja über mich nicht . ob ich mich jetzt männlich fühle oder weiblich fühle“) und hebt demgegenüber das individuelle Empfinden als ausschlaggebend hervor („also ob der Mensch jetzt wirklich sich als Frau fühlt , als Mann oder gar nicht weiß (.) was er davon jetzt ist“). Dadurch wird explizit die Gegenüberstellung von Äußerem und Innerem vollzogen, wobei Letzteres dann als (allein) ausschlaggebend für die Geschlechtszugehörigkeit gesehen wird. Das Innere wird dabei als auch über Wissen zugänglich gerahmt: Geist (Wissen) und Empfinden (Fühlen) bilden hier also keinen Widerspruch zueinander, sondern eine dem Äußeren gegenübergestellte Einheit. Zunächst findet diese Argumentation innerhalb eines zweigeschlechtlichen Rahmens statt, dann aber zeigen sich im Verlauf auch Anklänge zu einer Durchbrechung („oder gar nicht weiß (.) was er davon jetzt ist oder was komplett Anderes ist“). Mit solcherlei Rekursen auf nicht-binäre Geschlechtervorstellungen, die sich in der Dahlien-Gruppe insgesamt häufiger finden, bildet diese Gruppe eine Ausnahme, nur ganz vereinzelt lassen sich in anderen Gruppen 85

86

5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

ähnliche Anklänge finden (vgl. Kap. 5.1.4). Während im obigen Diskussionsauszug das Aussehen speziell auf die Kleidung bezogen wird, zeigt sich an anderen Stellen derselben Gruppe, dass das Äußere vor allem in Bezug auf körperliche Merkmale gedacht wird, so etwa in Eskes folgender Gegenüberstellung, in der sie sich auf Trans* Menschen bezieht: Und sie sind ja dann von Geburt an von ihrem Kopf her ein Mann . oder eine Frau (.) und wenn nun mal eben das . das Gefühl , der Geist . nicht zum Körper passt , dann ist das ja von der Natur gegeben , dass diese Person so denkt (.) und . man kann ja den Geist nicht verändern (Eske, Dahlien-Gruppe)

Hier wird der innere (Geschlechts-)Kern wieder sowohl im emotionalen Bereich als auch im Denken („Kopf“) bzw. im „Geist“ verortet; diese Dimensionen bilden gemeinsam einen – unveränderlichen, naturhaften – Gegensatz zum Körperlichen als flexibler Hülle. Legt man die bisherigen Alltagsannahmen von Geschlecht zugrunde (vgl. Kap. 2.1), so lässt sich hier eine Veränderung konstatieren: Auch mit der diskursiven Verschiebung des Geschlechtskerns ins Innere der Subjekte wird weiterhin das Argument der Natürlichkeit für das Geschlecht herangezogen, dies erfolgt nun aber in umgekehrter Weise: Wo bisher der Körper als unumstößliche natürliche Gewissheit galt, werden hier der Geist und das Gefühl in diesem Lichte gesehen, denn diese seien „ja von der Natur gegeben“ und ließen sich „nicht verändern“. Das eigene Gefühl ist Letztbegründung mit naturhaftem Charakter und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Gemäß dieser Verschiebung ist auch der entscheidende Referenzpunkt für die Diskussion der Frage, woran die Jugendlichen ihre eigene, auch am Mottotag konstant bleibende Geschlechtlichkeit festmachen, nicht der geschlechtliche Körper, sondern das geschlechtliche Empfinden, so in der Oleander-Gruppe: Ich fühl mich halt nicht als Mann (Franziska, Oleander-Gruppe)

oder der Kamelien-Gruppe: Aber ich fand jetzt, so wirklich (.) männlich (.) gefühlt hat man sich jetzt=also hab ich mich nicht . […] also man hat sich schon noch (.) weiblich gefühlt […] also es=man war halt immer noch Mädchen irgendwie (Lisa, Kamelien-Gruppe).

Samuel betont in der Linden-Gruppe zwar die bei ihm selbst vorhandene Übereinstimmung zwischen angeborenem (also möglicherweise als körperlich verstandenem) und gefühltem Geschlecht: Ich bin halt als Junge geboren und so fühl ich mich halt auch (Samuel, Linden-Gruppe)

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

87

Aber in dem Nachschub „und so fühl ich mich halt auch“ zeigt sich die auch für Samuel bestehende Notwendigkeit, die eigene (Cis-)Geschlechtlichkeit durch den Bezug auf seine innere Empfindung zu legitimieren; die Aussage enthält somit implizit die Möglichkeit, dass das ‚gefühlte‘ Geschlecht auch vom ‚angeborenen‘ Geschlecht abweichen könnte – was in dieser Gruppe an anderer Stelle durch die konkrete Bezugnahme auf eine Trans* Person in der Stufe auch ganz explizit in den Bereich des Sagbaren rückt (vgl. Kap. 5.2.1). Häufig bleibt offen, woran sich das geschlechtliche Empfinden festmacht, wodurch also – in den meist binär gedachten Rahmungen – definiert wird, ob es sich um ein ‚weibliches‘ oder ‚männliches‘ handelt bzw. was es konkret bedeutet, sich männlich oder weiblich zu fühlen; die Begründung erfolgt, wie auch in den zitierten Äußerungen, vielmehr nach tautologischem Prinzip: sich weiblich bzw. männlich zu fühlen bedeutet einfach, sich als Frau bzw. Mann (wohl) zu fühlen. Dies ist diskursiv möglich durch die Figurierung der Geschlechtspole weiblich und männlich, die für nicht weiter expliziertes subjektives Empfinden stehen. Dort, wo die Jugendlichen das geschlechtliche Empfinden inhaltlich ausführen, ist es meist stark angelehnt an traditionelle, binäre Zuschreibungen und stereotype Vorstellungen von Geschlecht (vgl. auch Kap. 5.4.1), so etwa in der Oleander-Gruppe: Caro: Ich bin wirklich Mädchen durch und durch . das . können die zwei . bezeugen also ich liebe es Helen: ∟Ja Caro: Kleider zu tragen ich liebe es mich extrem zu schminken ich liebe pink . hab ’n pinkes Franziska: ∟Pink Helen: ∟Pink . Blümchen Caro: Schlafzimmer ((holt Luft)) also . ich bin wirklich Mädchen durch und durch . (Oleander-Gruppe)

Mit dem mehrmals wiederholten Satzelement „ich liebe“ zieht Caro ein starkes positives Empfinden als Beleg der eigenen – inneren – Geschlechtlichkeit („Mädchen durch und durch“) heran – und zitiert in der Aufzählung der Objekte dieser Liebe ein stereotypes Weiblichkeitsbild, das durch den Bezug auf die Gefühlsebene seine Legitimation und individuelle ‚Wahrheit‘ erhält.78 Ebenfalls mit Bezug auf positive Gefühle, hier das Wohlfühlen (vgl. auch Kap. 5.2.1 und 5.2.2), betonen Mona und Natalia in der Geranien-Gruppe, warum sie außerhalb von speziellen Kostümierungskontexten keinen Grund sähen, sich „jetzt mal als Junge“ zu verkleiden: 78 Zugleich lässt die Verstärkung „durch und durch“ darauf schließen, dass Mädchensein hier eine graduelle Zuschreibung ist: Wenn Caro „durch und durch“ Mädchen ist, dann ist es anscheinend auch möglich, nur ein bisschen Mädchen zu sein. 87

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Natalia: Ich glaub , von alleine kommt man auch (.) einfach nicht drauf (.) also . ich @würde jetzt Mona: ∟Mmmh Natalia: nicht auf den Gedanken kommen@ ja (.) verkleide ich mich jetzt mal als Junge . oder halt (.) als irgendwas anderes . jetzt außer vielleicht (.) dann zu Anlässen wie Karneval oder sowas äm (.) ja verkleidet man sich dann gerne (.) das ist dann ja auch wieder die Aufgabe von einem, dann sich zu verkleiden, also . das ist auch nichts Gezwungenes . sondern man macht das ja freiwillig . und das macht ja Spaß . aber (.) trotzdem (.) kommt man so einfach auf die Idee nicht . weil man sich dann . auch selbst vielleicht dann in seinem Körper wohlfühlt . und dann (.) halt nichts anderes sein will . sondern halt nur wenn das (.) ja wenn der Anlass dazu da ist (3) Mona: Ja@ (Geranien-Gruppe)

Hier wird die Kongruenz von Geschlechtsempfinden und Geschlechtskörper als Begründung und damit implizit als normatives Ziel angeführt. Natalias generalisierende man-Form („trotzdem (.) kommt man so einfach auf die Idee nicht . weil man sich dann . auch selbst vielleicht dann in seinem Körper wohlfühlt . und dann (.) halt nichts anderes sein will“) deutet auf den verallgemeinernden Charakter ihrer Aussage hin, die eine kohärente Geschlechtlichkeit als Normalzustand setzt. Außerhalb von spezifischen Rahmen wie der Mottowoche sehen Mona und Natalia eine geschlechtliche Flexibilität im Sinne einer Modifikation der äußeren Geschlechtlichkeit, das lässt sich im Umkehrschluss als implizite Aussage herauslesen, also nur für diejenigen Anderen als relevant (und möglicherweise legitim) an, die dadurch eine bis dato nicht vorhandene Übereinstimmung von körperlichem und gefühltem Geschlecht erreichen wollen. Geschlecht scheint für die Jugendlichen insbesondere durch die emotionale Ebene bestimmt zu werden. Emmys in der Dahlien-Gruppe betonte Toleranzanrufung „also jeder (.) ist so in Ordnung wie er sich fühlt“ verdeutlicht exemplarisch die Verortung der Legitimationsgrundlage der eigenen Geschlechtlichkeit auf der Ebene der Empfindung.

5.1.2 Flexible Hülle: der gestaltbare Geschlechtskörper Die beobachtete diskursive Verschiebung von einer äußeren hin zu einer inneren Geschlechtsessenz geht, so lässt sich in den Diskussionen an vielen Stellen beobachten, mit einer flexibilisierten Konzeption des Körpers einher: Die Jugendlichen heben eine Gestaltbarkeit in Bezug auf Geschlecht hervor, die insbesondere als eine Flexibilität im Hinblick auf das körperliche Geschlecht, im Sinne eigener Gestaltungsmöglichkeit, erzählt wird. So verhandeln etwa Mirko und René den

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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Zusammenhang – und die mögliche Diskrepanz – von ‚gefühltem‘ und ‚körperlichem‘ Geschlecht vor der Folie körperlicher Modifizierbarkeit: René: Wie kannst du denn entscheiden . ob du eine Frau sein willst oder nicht , wenn du nicht mal weißt (.) wie Frauen wirklich sind? Mirko: ∟Wenn ich weiß- wenn ich merke . dass ich mich nicht wohlfühle mit dem Ding zwischen meinen Beinen und . und ich habe . den Willen und die Möglichkeit zu entscheiden , ja hmm René: ∟Ja richtig Mirko: ich will dieses Ding nicht mehr zwischen meinen Beinen haben . schneid mal ab . René: Richtig . (Weiden-Gruppe)

Hier lässt sich eine Konzentrierung der Geschlechtlichkeit in einem körperlichen Merkmal („Ding zwischen meinen Beinen“), dem Penis – der aber nicht explizit benannt wird –, ausmachen, das dann zum Ausgangspunkt von Gestaltbarkeit wird. Das körperliche Geschlecht behält also weiter eine Bedeutung, wird aber als veränderbar gerahmt: Indem Geschlecht bzw. Männlichkeit hier pars pro toto am Penis festgemacht wird, wird eine geschlechtliche Anpassung über dessen Modifikation diskursiv möglich. Den Penis zu entfernen bedeutet hier dann, das Geschlecht zu wechseln. Entscheidend für die eigene Geschlechtlichkeit, und damit dem körperlichen Geschlechtsmerkmal vorgelagert, ist das ((Un-)Wohl-)Fühlen in Bezug auf diesen vergeschlechtlichten Körper („dass ich mich nicht wohlfühle mit dem Ding zwischen meinen Beinen“). Über die Aussage „ich habe . den Willen und die Möglichkeit zu entscheiden“ findet zudem eine ganz zentrale Agency-Selbstzuschreibung und damit die Konstatierung von (eigenem) Wollen und Können als Grundlagen für die Konstitution des geschlechtlichen Selbst statt, die den diskursiven Raum für die (eigene) geschlechtliche Gestaltbarkeit erst eröffnen. Geschlecht – als das Ausleben der inneren geschlechtlichen Empfindung – wird auf diese Weise als Wahlkategorie gefasst, in der die eigene Handlungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit herausgestellt wird (vgl. auch Kap. 5.2.1). Die betont gelassene Erzählweise über den imaginierten Geschlechtswechsel („ich will dieses Ding nicht mehr zwischen meinen Beinen haben . schneid mal ab“) lässt auf ein Bemühen vonseiten Mirkos schließen, eine Selbstverständlichkeit der Aussage zu vermitteln, wobei Mitdiskutant René die Erzählung durch zustimmende Einwürfe stützt. Die dadurch ausgedrückte Normalität der Praxis operativer Geschlechtsumwandlung, die zugleich als Herausstellung der eigenen Offenheit für geschlechtliche Vielfalt gesehen werden kann, wird auch hervorgehoben, wenn Mirko an anderer Stelle auf die Jugend als geschlechtliche ‚Findungsphase‘ eingeht:

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Und ich mein , wenn man im jugendlichen Alter drauf kommt (.) hmmm (.) ich fühl mich nicht wohl , dann (.) lass dich umoperieren . mein Gott . na und? (Mirko, Weiden-Gruppe)

Auch in anderen Diskussionen fällt der selbstverständliche Rekurs auf Körpertechnologien als Maßnahmen zur Geschlechtsgestaltung auf 79. So wird in der Dahlien-Gruppe eine körperliche Gestaltungsfreiheit in ähnlicher Weise verhandelt: Iwona: Und wenn man sich ’n Penis dranmachen will , dann hat man eben danach einen . Emmy: Ja . Eske: Genau . (Dahlien-Gruppe)

Hier wird ebenfalls der Penis (der in diesem Fall hinzugefügt wird) in den Blick genommen, auch wenn dies losgelöst von einer konkreten Bezugnahme auf MannSein bzw. Frau-Sein erfolgt, wodurch die Funktion des Penis als (binärer) Geschlechtsmarker von Iwona bewusst durchbrochen zu werden scheint.80 Denn die Referenzpunkte für körperbezogene (Zwei-)Geschlechtszuschreibungen – und dementsprechend auch für körperliche Geschlechtsmodifikationen – sind bei den Jugendlichen in der Regel diejenigen, die als die ‚primären Geschlechtsorgane‘ gelten. In der Iris-Gruppe, in der die Diskussion am Geschlechtertauschtag selbst stattfand, wird auf diese Weise das Weibliche körperlich festgezurrt: Jesko: Ich bin ja keine Frau . Denise, Sebi, Ian: @@@ Jesko: Ich seh nur so aus . Ian: Ja . I81: Und warum nicht? Jesko: Biologisch wär das nicht (.) machbar jetzt gerade . Denise: @@ Ian: Dir fehlt die Gebärmutter . 79 Die ambivalente Erosion und Neufiguration des Körperlichen für die Geschlechtsverortung lässt sich ebenfalls im Zusammenhang mit der zunehmenden Sichtbarkeit und Normalisierung von Möglichkeiten sehen, über den Einsatz von Körpertechnologien ‚body enhancement‘ zu betreiben (vgl. Villa 2011; Meßmer 2017), sowie mit unter den Jugendlichen vorhandenen Kenntnissen hierüber. Für Villa wird die Gestaltung des Geschlechtskörpers „zunehmend zum Imperativ der Optimierung“ (Villa 2011: 17), was sie als systematischen „Teil von Normierungs-, Ungleichheits-, Exklusions- und letztlich Herrschaftsprozessen“ (ebd.) deutet. 80 Iwona gehört zu den wenigen Jugendlichen, die an mehreren Stellen explizit die Geschlechterbinarität reflektieren und hinterfragen (vgl. auch 5.1.4). 81 Die Abkürzung „I“ steht hier und im Folgenden für die Interviewerin.

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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Denise: ∟@Ja also auf die Schnelle nicht , ne@ Ian: @@ Jesko: ∟Ja . genau . und ich hab keine Vagina . Sebi: @ Ian: @ Jesko: ∟und nicht so schöne echte Brüste die sind nur . [Hier wird das Gespräch auf die Neujustierung des Mikrofons gelenkt, danach wird wieder angesetzt:] I: Und bei den anderen? Sebi: Ja , also ich @@ Ian: ∟Du hast halt auch schon noch ’n Schnipopi ne , Sebi: @Ich fühl mich jetzt nicht wie ’ne Frau . nur weil ich so angezogen bin@.@@ Jesko: Wollt ich grad sagen . wir sind trotzdem nur weiter die assigen Typen . ne , @@ Ian: @@ Sebi: @@ (Iris-Gruppe)

In dieser Suche Jeskos nach einer geschlechtlichen Essenz, um zu begründen, warum sein Geschlechtertausch am entsprechenden Mottotag kein ‚wirklicher‘ ist, klingt, trotz der vermeintlich schließenden Bezugnahme auf ein biologisches Frausein, die Option der Körperbearbeitung zur Geschlechtsgestaltung zumindest an: Durch die temporären Einschränkungen von Jesko, Denise und Ian („jetzt gerade“; „so auf die Schnelle nicht“; „schon noch ’n Schnipopi“) sowie die Verwendung des mit Aktivität verbundenen Verbs „machbar“, scheint, auch wenn diese Einwürfe möglicherweise in erster Linie scherzhaft gemeint sind, doch eine Ahnung von möglicher – aber eben zeitaufwendiger – Veränderbarkeit der zunächst als konstant erscheinenden Merkmale durch. Sebi ergänzt im Anschluss außerdem „@ich fühl mich jetzt nicht wie ’ne Frau . nur weil ich so angezogen bin@.@@“. Der die Passage abschließende Hinweis auf das eigene Fühlen ( „jetzt nicht wie ’ne Frau“) scheint auch hier – noch vor den ebenfalls aufgezählten körperlichen Merkmalen – das letztlich entscheidende Argument für die eigene Geschlechtlichkeit zu sein. Die diskursive Verlagerung auf das Innere bedeutet also nicht, dass das Körperliche für das Geschlecht keine Rolle mehr spielt. Im Gegenteil, anatomische bzw. biologische Aspekte werden auf die Frage nach Geschlechtsunterscheidungen auch in den übrigen Gruppen fast durchweg genannt („alles Körperliche“, „die Geschlechtsmerkmale“, „diese biologischen Unterschiede“ (Oleander-Gruppe); „von der Biologie her“ (Geranien-Gruppe); „der Körperbau einfach“ (Linden-Gruppe), „vom biologischen Standpunkt aus“ (Weiden-Gruppe)), jedoch wird diesem Umstand für das eigene geschlechtliche Empfinden – als der für die eigene Geschlechtsverortung entscheidenden Dimension – keine zwangsläufige Wirkmächtigkeit zugesprochen. Die Flexibilität besteht also genau genommen darin, sich über die als biologisch gerahmten Geschlechtsmerkmale ggf. so hinwegzusetzen, dass das ‚äußere‘ Geschlecht 91

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

dem innerlich empfundenen Geschlecht entspricht. Mit dieser Verschiebung der Geschlechtsessenz ins Innere lässt sich paradoxerweise zugleich eine Reifizierung der körperlichen Geschlechtlichkeit ausmachen – denn als gestaltbar und somit frei gewählt erzählt wird das Körperliche zum potenziellen Produkt und damit zum sichtbaren Ausweis der eigenen (inneren) Geschlechtlichkeit. Dass diese Flexibilität bei den Jugendlichen meist in zweigeschlechtlicher Rahmung erzählt wird, zeigt sich exemplarisch in der Dahlien-Gruppe, wenn Eske in einem imaginären Szenario mit einem Freund beschreibt: Und genauso ist es ja egal , ob diese=ob jetzt eine Person ähm männlich oder weiblich ist für die Persönlichkeit . wie die Person sich eben fühlt (.) und äh (.) ich mein . wenn jetzt äh (.) ’n Freund von mir ankommen würde und sagen würde . ja ich bin eigentlich ’ne Frau und (.) ich würde mich auch gerne wie ’ne Frau kleiden und (.) einfach ’ne Frau (.) nach außen hin auch sein (.) dann würde das ja nichts daran verändern . (Eske, Dahlien-Gruppe)

Hier wird ebenfalls wieder von einem inneren, ‚eigentlichen‘ Geschlechtskern ausgegangen, den zu definieren jeder Person selbst zugestanden wird, und impliziert, dass die äußere Geschlechtlichkeit dann entsprechend angepasst werden kann. Somit wird die Wahl, auf vergeschlechtlichte Weise fühlend („wie sich die Person eben fühlt“) und im geschlechtlich ‚entsprechenden‘ Körper zu leben („einfach ’ne Frau (.) nach außen hin auch sein“), als eine freie Entscheidung aufgefasst, welche die binäre Geschlechterordnung aber nicht von Grund auf ins Wanken bringt, sondern in die Dimensionen von Äußerem und Innerem differenziert und von einer kontingenten Kombination dieser Dimensionen ausgeht – mit der auszumachenden Norm, eine (am Geschlechtsempfinden orientierte) Kohärenz herzustellen (vgl. Kap. 5.3.3). An einigen wenigen Stellen wird die Körpergestaltung zudem auch mit explizitem Bezug auf Modifikationen im Rahmen von Cis-Geschlechtlichkeit82 diskutiert, wie Emmy dies in der Dahlien-Gruppe auf Nachfrage der Interviewerin („Und wenn sich ’ne Frau die Brüste vergrößern lässt?“) tut: Also ich find, es gibt halt (.) da gibt’s halt auch für mich Unterschiede (.) es gibt einmal diese krankhafte Vergrößerung , wenn sich welche wirklich (.) so (.) also richtig großes (.) großes Körbchen . was wirklich für den (.) äußeren Betrachter sehr unnormal wirkt, ähm dann=das find ich dann hat (.) also sowas kann ich halt nicht nachvollziehen . aber ich kann halt verstehen wenn jemand so (.) sich total unwohl fühlt . weil er total kleine Brüste hat . und er würde (.) sich gerne halt ein oder zwei Körbchengrößen mehr machen , damit er sich wohler fühlt in seiner Haut (Emmy, Dahlien-Gruppe)

82 Der Begriff „Cis“ wird von den Jugendlichen selbst nicht verwendet (vgl. Kap. 1.4).

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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Auch hier wird das Wohlfühlen als Legitimationsinstanz herangezogen („wenn jemand so (.) sich total unwohl fühlt“), wobei Normalitätsmaßstäbe („also richtig großes (.) großes Körbchen . was wirklich für den (.) äußeren Betrachter sehr unnormal wirkt“) und eine implizite Vorstellung von anerkannter Weiblichkeit bzw. des adäquaten weiblichen Körpers („weil er total kleine Brüste hat . und er würde (.) sich gerne halt ein oder zwei Körbchengrößen mehr machen“) hier ein entscheidenderes normatives Gewicht zu haben scheinen (vgl. Kap. 5.4.4).83 Die Verschiebung der körperlichen Geschlechtlichkeit in den Bereich des Veränderbaren hat in der Dahlien-Gruppe darüber hinaus zur Folge, dass auch der eigene ‚Geschlechtskörper‘ verhandelbar und damit letztendlich auch begründungsbedürftig erscheint: Eske: Ich find äh (.) ich find’s schön (.) wie eine Frau auszusehen @ähm@ wenn das jetzt nicht zu eitel klingt , aber ähm es ist=es ist einfach (.) ja ich find den weiblichen Körper schön . ähm . und ich Emmy: ∟Ach kannst du ruhig sagen@ Eske: kann mir nicht vorstellen (.) einen männlichen Körper zu haben . Emmy: ∟Ja Eske: @Tatsächlich@. ähm deswegen (.) also , find ich schon . äußerlich (.) hab ich damit keine Probleme und (.) innerlich (.) hatte ich damit jetzt auch noch nie irgendwie Berührungspum=punkte oder . Probleme oder so . (2) Emmy: Ja . (Dahlien-Gruppe)

Hier kommt Eske mit Verweis auf ihre eigene Zufriedenheit mit dem weiblichen Körper und Aussehen zu dem Schluss, durch ihre Kohärenz von innerlicher und äußerlicher Übereinstimmung mit ihrem Frauenkörper keine entsprechenden Reibungspunkte zu haben – diese schreibt sie implizit jenen zu, die sich in ihrem vergeschlechtlichten Körper nicht wohlfühlen. Dass die flexible Gestaltbarkeit in diesen Fällen nicht nur als Option entworfen wird, sondern auch zum Leistungsimperativ werden kann, zeigt sich in derselben Gruppe exemplarisch, wenn Eske erklärt, „weil einfach der Körper passt halt nicht zum Geist und dann muss man eben den Körper verändern“. Insgesamt, so zeigen die Beispiele, erfolgt der Rekurs auf eine körperliche Flexibilität bei den Jugendlichen mehrheitlich in der Thematisierung von Abweichungen von der Heteronorm (oder, vereinzelt, „Extremfällen“ innerhalb Cis-Geschlechtlichkeit). In diesen Fällen wird eine Modifizierung der körperlichen Geschlechtlichkeit von

83 Die sprachliche Bezugnahme auf „er“ erfolgt hier, so ist aus dem Kontext zu schließen, als generisches Maskulinum und bezieht sich in der Thematisierung von Brustvergrößerungen auf Cis-Frauen. 93

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

den Jugendlichen als notwendig, legitim oder zumindest nachvollziehbar angesehen – mit dem Ziel, eine einheitliche oder ‚normale‘ Geschlechtlichkeit herzustellen.84 Alltägliche performative Geschlechterpraktiken durch Körpergestaltungsarbeit (wie etwa Rasieren, Frisieren, Sport, Ernährung oder Kleidung) zum Herstellen und Aufrechterhalten einer (moderaten) heteronormativen (Cis-)Geschlechtlichkeit werden in diesem Zusammenhang nur vereinzelt erwähnt – und verbleiben so meist im Bereich des Unhinterfragten, gar des Naturhaften.

5.1.3 Die Figur der Trans* Person als flexible_r Andere_r Als prototypisch für die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität erweist sich in den Diskussionen die Figur der Trans* Person85. Dabei liegt die Bezugnahme auf Trans*86 zum einen bereits durch den Diskussionsimpuls des Geschlechtertauschtags nahe, wodurch in den Gruppen eine transvestische Erfahrung der Teilnehmenden fokussiert wird.87 Aber auch darüber hinaus scheint es, dass Trans* für die Jugendlichen als Sinnbild für geschlechtliche Vielfalt schlechthin fungiert. So nehmen sie häufig gerade dann auf Trans* Bezug, wenn geschlechtliche Diversität expliziert und/oder die eigene Offenheit demgegenüber ausgedrückt werden soll. Die Bezeichnungspraxis ist dabei uneinheitlich – so ist etwa von Transgender, Transvestiten und Transsexuellen die Rede –, womit die Jugendlichen jedoch auf eine

84 Somit zeigt sich, wie der „Handlungsspielraum hinsichtlich Körper […] verflochten mit und […] eingeschränkt durch die Dominanz einer heteronormativen Geschlechterordnung“ (Lenz/Sabisch/Wrzesinski 2012: 14) ist. 85 Der Terminus der Figur wird in diesem Zusammenhang bewusst gewählt, da es sich in den meisten Diskussionen nicht um Verhandlungen von konkreten Trans* Erfahrungen oder Trans* Begegnungen handelt, sondern um die Heranziehung eines Bildes – eben der Figur – von Trans*, das über die verschiedenen Gruppen hinweg Gemeinsamkeiten aufweist. 86 Während die Jugendlichen begrifflich uneinheitlich vorgehen, wird hier, wenn nicht explizit die Wortwahl der Jugendlichen wiedergegeben wird, entsprechend aktuellen Selbstbezeichnungen von Trans* gesprochen, womit je nach Kontext sowohl Trans* Personen als auch Trans* Seinsweisen gemeint sein können – Trans* wird hier zudem adjektivisch wie substantivisch verwendet (vgl. Franzen/Sauer 2010: 7). 87 Die einzige Gruppe, in der keinerlei Bezugnahmen auf Trans* ausgemacht wurden, ist die Magnolien-Gruppe, bei der das impulsgebende Tagesmotto nicht „Geschlechtertausch“, sondern „Pimps and Bitches“ war.

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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gemeinsame Figur zurückzugreifen scheinen.88 Dabei lassen sich unterschiedliche diskursive Reichweiten der geschlechtlichen Flexibilität ausmachen. So findet sich in verschiedenen Diskussionsmomenten die Festschreibung eines ‚eigentlichen‘ Geschlechts der Trans* Person, das nicht mit dem Trans* Geschlecht identisch ist. Das ist etwa bei Jessica in der Linden-Gruppe zu beobachten: I: Und wieso (.) jetzt wa-äh Transgendertag was , warum . diese Entwicklung eventuell? Jessica: Ich weiß es nicht weil ich find das ist einfach immer mehr Thema (.) heut ist das einfach Viola: ∟Ja . das stimmt Jessica: immer mehr Thema so . wenn man auch so in der Gesellschaft kuckt immer mehr die sich umoperieren lassen oder Hormone dafür nehmen oder einfach nicht mehr das Geschlecht sein wollen das sie eigentlich sind (Linden-Gruppe)

Die Interviewerin knüpft hier an einen perspektivischen Ausblick an, den die Jugendlichen der Linden-Gruppe auf die Frage nach der Zukunft des Geschlechtertausch-Mottotages gegeben haben – sie vermuten eine mögliche Änderung hin zu einem „Transgendertag“. In diesem Diskussionsabschnitt übernimmt Jessica die Definitionshoheit über die Geschlechtlichkeit von Trans* („nicht mehr das Geschlecht sein wollen das sie eigentlich sind“), demzufolge das Trans* Geschlecht dann ein uneigentliches ist. Das „eigentliche“ Geschlecht wird hier also nicht am eigenen (inneren) Empfinden festgemacht, aber in seinem Ursprung nicht weiter begründet.89 Jessica drückt zudem ihre Wahrnehmung aus, dass Trans* nicht nur zunehmend stärker thematisiert wird, sondern auch, dass es immer mehr Trans* Personen gibt („wenn man auch so in der Gesellschaft kuckt immer mehr“). Die sich hier abzeichnende gestiegene Sichtbarkeit von Trans* scheint auch mit einer medialen Präsenz von Trans* Personen zusammenzuhängen. So werden in mehreren Diskussionen TV-Auftritte von Trans* angeführt, wie etwa in der Geranien-Gruppe: Bei Germanys Next Topmodel dieses Jahr @@ da hat äh zum Beispiel eine (.) Transe mitgemacht (.) und äh der Mann . dem ist das wirklich super (.) ge=gelungen, wie eine Frau auszusehen […] natürlich hat er übertrieben (.) durch die ganzen OPs . und (.) die langen Haare . und (.) all die Arbeit . die dahintersteckt (Mona, Geranien-Gruppe)

Hier fällt die Verwendung der pejorativen Bezeichnung der „Transe“ auf, die für Mona ein selbstverständlicher (Alltags-)Begriff zu sein scheint. Hier, so ist im Ge88 Die begrifflichen Differenzierungen lassen hier eher auf eine uneinheitliche Bezeichnungspraxis in der (medialen) Öffentlichkeit als auf eine bewusste Bezugnahme auf unterschiedliche Trans* Definitionen schließen. 89 Hier deutet sich eine diskursive Begrenzung der Flexibilitätserzählung an. 95

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

samtzusammenhang der Diskussion zu vermuten, ist die abwertende Konnotation nicht unbedingt bewusst intendiert, bleibt aber durch die Begriffsreproduktion im Diskurs erhalten.90 Die Trans* Frau, die in dem – in Publikumszahlen – erfolgreichen TV-Format „Germany’s next Topmodel“91 mitwirkte, wird von Mona zwar als „eine Transe“ eingeführt, dann aber wird von ihr als Mann (der es geschafft habe, „wie eine Frau auszusehen“) gesprochen und sie im Folgenden auch mit männlichem Pronomen bedacht. Es wird also deutlich, dass sie von Mona als Mann und eben nicht als Frau wahrgenommen wird, dementsprechend wird auch alle ‚Weiblichkeitsarbeit‘ („all die Arbeit . die dahintersteckt“), die sie vollzieht, als solche „entlarvt“ und als „übertrieben“ aufgefasst, so wie es anscheinend für die anderen (Cis-) Teilnehmerinnen des TV-Formats nicht gilt. Ähnliche Schlussfolgerungen werden von Emmy in der Dahlien-Gruppe gezogen: Und ich glaub aber halt . bei (.) Männern , die gerne Frauen wären . da müssen dann halt, also die schminken sich glaub ich so krass . damit man (.) weil man sieht ja schon total ’n anatomischen Unterschied zwischen einem weiblichen Gesicht und einem männlichen Gesicht (.) und ich glaube dann schminken die sich halt auch (.) so krass . damit dieses Weibliche hervorkommt (.) wirklich . obwohl das halt gar nicht äh (.) wie sagt man da, (.) ähm gar nicht natürlich ist oder halt so wie jede Frau jetzt rumrennt . sondern einfach dieses ek=dieses Extreme (.) davon (Emmy, Dahlien-Gruppe)

Emmy entwirft Trans* Frauen hier als homogene Gruppe von „Männern, die gerne Frauen wären“, deren Geschlechtsdarstellung generalisierend als „dieses Extreme“ bewertet wird. Diese Aussage wird mit dem Verweis auf fixe anatomische Geschlechtsausprägungen („einem weiblichen Gesicht und einem männlichen Gesicht“) begründet, die einen ‚tatsächlichen‘ Geschlechtswandel diskursiv verunmöglichen. Hier stößt die Erzählung der flexiblen körperlichen Gestaltbarkeit an diskursive Grenzen. Geschlechtliche Flexibilität bedeutet in diesem Sinne (die Fähigkeit), sich über die eigentliche Natur des körperlichen Geschlechts hinwegzusetzen und den Körper nach eigenen Wünschen – und damit nach dem eigenen geschlechtlichen Empfinden – zu gestalten, ohne das hierdurch imitierte ‚Original‘ wirklich zu erreichen.92

90 Der Begriff kann als Selbstbezeichnung auch positiv angeeignet sein, ist aber hier nicht in diesem Kontext zu lesen. 91 Gerade in Bezug auf die im Format (re)produzierten Frauenbilder ruft die Sendung auch starke Kritik hervor (vgl. Stach 2013). 92 Im Gegensatz zu Butlers Ausführungen zur Zitatförmigkeit von Geschlecht ohne das Vorhandensein eines Originals (vgl. Kap. 3.2 und 3.3) scheint hier die Gewissheit zugrunde zu liegen, dass ein solches Original existiert. Demgegenüber finden sich in der konkreten Auseinandersetzung mit Erfahrungen am Geschlechtertauschtag auch

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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In der Dahlien-Gruppe wird Trans* daneben (zeitlich den Ausführungen Emmys vorausgehend) auch als das Ergebnis der (vollständigen) Transition von einem Geschlecht zum anderen verhandelt. Hier zeigt sich, dass unterschiedliche Anknüpfungen an die Flexibilitätserzählung durchaus auch innerhalb einer Diskussion – und Person – erfolgen können: Eske: Oder dass man auch (.) ähm Frauen (.) sieht . die eben früher ein Mann waren . und das auch nach außen tragen und sagen . ich bin eine Frau und äh sich dann auch so kleiden (.) und da sieht man ja auch (.) die (.) kleiden sich nicht anders als wir . nur weil sie eben äh vorher ein Mann waren . Emmy: ∟Ja Eske: und jetzt eben eine Frau sind . die . ziehen sich genauso . manchmal . männerhaft an äh wie wir Iwona: ∟Mmmh Eske: das eben manchmal sagen um das jetzt so auszudrücken . (Dahlien-Gruppe)

Mit der Beschreibung von Trans* Menschen als „Frauen […] die eben früher ein Mann waren“ wird hier durch Eske eine geschlechtliche Diskontinuität denk- und sagbar; mit dem Nachsatz „jetzt eben eine Frau sind“ (und der mehrmaligen Verwendung des entdramatisierend wirkenden Füllwortes „eben“) wird dieser Umstand explizit normalisiert. Geschlechtliche Flexibilität und körperliche Transformierbarkeit scheinen hier also anders diskutiert zu werden, als dies im vorherigen Beispiel Emmy getan hat. Eskes Hervorhebung, dass sich Trans* Frauen „genauso . manchmal. männerhaft“ kleiden, wird sowohl von Iwona als auch von Emmy bestätigt. Zugleich ist in der damit verbundenen Vergleichsfolie („wie wir“) eine Form der „Ver-Anderung“ (Bargetz/Ludwig 2015: 18) erkennbar, und zwar in Bezug auf diejenigen, „die früher ein Mann waren“, in Abgrenzung der eigenen „wir“-Gruppe (derjenigen, die immer schon Frauen sind).93 Das „wir“ fungiert also als impliziter, exklusiver Referenzrahmen für Cis-Frauen. Während hier in Bezug auf Trans* von einem Wechsel von einem Geschlecht zum anderen ausgegangen wird, findet sich bei vielen der Jugendlichen eine Rahmung, die noch stärker an die Verortung einer emotionalen Geschlechteressenz anknüpft und nach der die Trans* Frau dem inneren Empfinden nach immer schon eine Frau und der Trans* Mann seit jeher ein Mann war, so wie es bei René in der Weiden-Gruppe anklingt: Momente, die den Rückgriff auf ein ‚Original‘ ansatzweise infrage stellen (vgl. Kap. 5.4.1). 93 Der Begriff der Ver-Anderung wurde, als eine Übertragung des englischsprachigen „Othering“ (vgl. hierzu ausführlich Fereidooni/El 2017: 478ff.), zur kritischen Betrachtung von rassifizierenden und neokolonialisierenden Prozessen eingeführt und dabei auch in einen Zusammenhang mit ein- und ausschließenden Prozessen der Heteronormalisierung – zur Integration bestimmter und Abgrenzung anderer Lebensweisen bzw. Menschen – gesetzt (vgl. Bargetz/Ludwig 2015: 18; vgl. auch Reuter 2002: 146). 97

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Jetzt versetz dich mal in die Rolle eines Transvestiten . der auf die Welt kommt und (.) s=sich einfach falsch fühlt (René, Weiden-Gruppe)

Die Bezugnahme läuft insbesondere über die Erzählung des „falschen“ oder „richtigen“ Körpers und damit über den Umstand, „dass du wirklich halt (.) quasi dich im falschen Körper fühlst“ bzw. „dass Menschen auch (.) keine Ahnung, im falschen Körper geboren sein (.) können“ (Mirko, Weiden-Gruppe). Der Rekurs auf das Dasein und Empfinden „im falschen Körper“ flankiert somit die diskursive Verschiebung der Geschlechtsessenz vom Körperlichen auf das Fühlen: Der Maßstab für die Kriterien ‚falsch‘ oder ‚richtig‘ wird im Inneren verortet und damit in die Definitionsmacht der Individuen selbst gelegt. Dies wird in den Diskussionen häufig mit einer normativen Zielsetzung verbunden: Dann geht’s dann einfach darum . im richtigen Körper halt zu stecken (Emmy, Dahlien-Gruppe)

Der Diskurs um das Befinden im „falschen“ und das daraus abgeleitete Bestreben nach dem „richtigen Körper“ scheint ein unter den Jugendlichen breit geteiltes Wissen zu sein, das in der Jasmin-Gruppe durch eine kurze Anspielung bei allen Teilnehmenden aufgerufen und gemeinsam als Scherz verarbeitet werden kann, der durch die implizierte Abwegigkeit einer eigenen ‚Betroffenheit‘ die darin vollzogene Ver-Anderung verdeutlicht: Chris: @Wir sind endlich im richtigen Körper angekommen@ Alle: @@ (Jasmin-Gruppe)

Die hier anklingende Anrufung von geschlechtlicher Vereindeutigung als Seinsziel lässt sich in den meisten Bezugnahmen auf Trans* erkennen und wird in Kap. 5.3.3 genauer betrachtet. Im Rekurs auf die Maßstäbe ‚falsch‘ und ‚richtig‘ deuten sich dabei eine Reproduktion von zweigeschlechtlichen Normalitätsvorstellungen und eine Pathologisierung von Trans* Körpern vor einer ‚vereindeutigenden‘ Modifikation an. Daneben wird Trans* von den Jugendlichen immer wieder auch als eigene Seinsweise verhandelt und damit die Trans* Person als Dritte_r_s – neben Frau und Mann – konfiguriert. So berichtet Jessica in der Linden-Gruppe: Jessica: Am Ende haben wir uns dann als Transgender ausgegeben indem wir dann die Haare @rausgelassen haben@ @ (Linden-Gruppe)

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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„Transgender“ bildet hier für Viola und Jessica im Rahmen der Geschlechtsinszenierung am Geschlechtertauschtag eine separate Kategorie, die auf andere Weise dargestellt wird als jene von Frau bzw. Mann.94 Diese Perspektive auf Trans* wird auch in der Geranien-Gruppe in der Beurteilung der Verkleidung eines Mitschülers von allen geteilt: Fabienne: @Ich fand Sascha sah’n bisschen aus wie ’ne Transe @@ Mona: ∟@Ja @ja stimmt Natalia: ∟@ ∟Ja (Geranien-Gruppe)

Dass auch hier mit der „Transe“ zugleich eine ganz spezifische, bedeutungsaufgeladene Figur gemeint ist, wird in Monas weiteren Ausführungen umso deutlicher, wenn sie Trans* in Gegenüberstellung zum Geschlechtertausch der Mottowoche erörtert: Aber wenn man das wirklich will . und (.) zu einer Transe werden (.) würde zum Beispiel . dann (.) macht man sich ja ernsthafte Gedanken und nicht für ein paar Stunden . ja was soll ich denn morgen anziehn (Mona, Geranien-Gruppe)

Die Flexibilität scheint hier dahin zu gehen, sich für ein Trans* Dasein entscheiden zu können, was aber in diesem Verständnis nicht gleichbedeutend damit ist, Frau oder Mann zu sein. Die Separierung erfolgt auf sprachlicher Ebene u. a. über den distanzierenden und zugleich eine eindeutige Spezifik erzeugenden Artikel „diese“, so etwa in Bezug auf „diese Transgender-Richtung“ (Emmy, Dahlien-Gruppe), „diese Sache mit den Transgender“ (Franziska, Oleander-Gruppe) oder „diese Männer, die Transvestiten“ (René, Weiden-Gruppe). Was in den letztgenannten Beispielen besonders deutlich zutage tritt, aber prinzipiell in allen Diskussionen der Jugendlichen zu beobachten ist, ist eine kontinuierliche Ver-Anderung von Trans*. Diese fußt auf der Konstruktion, dass die geschlechtliche Flexibilität ‚zwischen‘ den Geschlechtern eine (abgegrenzte) Gruppe spezifisch differenter Anderer betrifft, die entsprechend flexibel sein können bzw. müssen. Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität liest sich folglich vor allem als Gewinnzuschreibung gegenüber denjenigen, die aufgrund ihrer eigenen Differenz auf diese Flexibilität zur Herstellung einer geschlechtlichen Eindeutigkeit ‚angewiesen‘ sind – die aber von den Jugendlichen mehrheitlich nicht ‚in den 94 In diesem Fall durch die Gleichzeitigkeit – und implizierte Widersprüchlichkeit – von langen Haaren und angemaltem Bart. Diese Perspektive erscheint insofern besonders überraschend, als alle am Geschlechtertauschtag Partizipierenden – in einer breiten Auslegung des Begriffs – als Trans* gelesen werden könnten. 99

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

eigenen Reihen‘ erwartet werden. So berichtet Emmy in der Dahlien-Gruppe im Zusammenhang mit dem Geschlechtertauschtag über ihre Stufe: Es ist wirklich niemand . der das ernst nimmt . also der sich wirklich (.) lieber als Frau fühlen würde und sich dementsprechend auch kleidet . der würde sich auch anders verhalten (.) also der würde das dann wahrscheinlich so mit Stolz mit sich rumtragen . und (.) das war halt eher Veralberung. (Emmy, Dahlien-Gruppe)

Emmy spricht diese Aussage nachdrücklich („wirklich“) als Wahrheit aus und zieht damit eine Grenze zwischen sich und ihren Mitschüler_innen auf der einen und dem Menschen, „der das ernst nimmt“, auf der anderen Seite – und den sie ganz selbstverständlich nicht innerhalb ihrer Stufe verortet. Eine ähnliche implizite Gewissheit scheint auch hinter der scherzhaften Äußerung von Rosa aus der Hasel-Gruppe zu stecken, die sich auf die Erkennbarkeit hinsichtlich der Ausgangsgeschlechtlichkeit der Schüler_innen am Geschlechtertauschtag bezieht: Rosa: Aber dadurch . dass wir die ja alle kennen , wissen wir ja . ob männlich oder weiblich @ Lina: ∟@ Ja Rosa: Eigentlich . @@ außer da ist jetzt noch irgendwo noch was @@ Lina: ∟@@ Thomas: ∟@@ (Hasel-Gruppe)

Mit dem von Rosa lachend hinzugefügten und von Lina und Thomas ebenfalls mit Lachen aufgenommenen „außer da ist jetzt noch irgendwo noch was“ scheint eine scherzhafte Anspielung darauf stattzufinden, dass in der Stufe möglicherweise jemand noch eine andere, ‚versteckte‘ Geschlechtlichkeit hat – wobei die unausgesprochene Selbstverständlichkeit mitschwingt, dass dies nicht der Fall ist. Diese Ver-Anderung geht in den Diskussionen mit einer ebenfalls fast durchweg zu findenden entdramatisierenden Rhetorik einher, mit der die eigene Offenheit gegenüber jenen Anderen ausgedrückt wird, wie es hier exemplarisch anhand der Iris-Gruppe veranschaulicht wird: I: Und könntet ihr euch vorstellen . dass das aber auch mehr als ’ne Verkleidung wär , also nicht unbedingt für euch einfach grundsätzlich . wenn jetzt jemand weiterhin so auftauchen würde . und sagen würde . ich bin jetzt (2) Andrea: Dann ist er halt transsexuell. Ian: ∟Ja warum denn nich? (.) Also davon kenn ich schon genug . Jesko: Wenn das so Leute sind die sich darin wohlfühlen (.) gerne . (Iris-Gruppe)

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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Trans* als Seinsweise wird hier durch eine betonte Gleichgültigkeit normalisiert bzw. explizit goutiert oder über persönliche Bekanntschaften mit Trans* Personen als Selbstverständlichkeit hervorgehoben. Wie brüchig die hier diskursiv hergestellte Normalität von Trans* ist, wird in Kap. 5.2.3 exemplarisch deutlich, in dem diese Stelle mit einer anderen innerhalb derselben Gruppe kontrastiert wird.

5.1.4 Jenseits der Zweigeschlechtlichkeit oder „etwas dazwischen“: diskursive Möglichkeitsräume geschlechtlicher Flexibilität Konkrete Reflexionsmomente, in denen weitere alternative Geschlechtervorstellungen, die sich aus der Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität ergeben (können), verhandelt werden, finden sich in den Diskussionen nur sehr vereinzelt – mit Ausnahme der Dahlien-Gruppe, in der insbesondere von Iwona immer wieder explizit Setzungen von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität hinterfragt und in der Gesamtgruppe diskutiert werden. Das geschieht vor allem im Hinblick auf eine flexible Ausprägung innerhalb einer binären Geschlechterordnung: Iwona: Ja also (.) da muss ich jetzt persönlich sagen (.) ich bin weder (.) s=ich weiß nicht . also ich persönlich finde nicht . dass ich die weiblichste Person des Planeten bin (.) und (.) ich fühl mich ja auch in Kleidern zum Beispiel überhaupt nicht wohl (.) weshalb ich auch (.) es schwierig fand . dann (.) diesen Gendertauschtag vor allem ja umzusetzen . weil ich ja normalerweise nicht feminin rumlaufe . und dann diesen (.) gerade dieses Wort Tausch (.) an sich impliziert das ja auch (.) nicht . dass es von A zu B muss . aber (.) so (.) dann denkt man halt . ok Männlein Weiblein . aber (.) ich fand’s einfach schwer . weil ich (.) mich nicht viel mehr anziehen musste wie sonst . deswegen hab ich mich auch für das Schicke entschieden . anstatt mich fürs (.) ja (.) wie’n Asi anzuziehen (.) ja . I: Dann wär’s eigentlich auch (.) also wär’s denn dann auch denkbar . dass man sich (.) wenn man jetzt als Frau sonst immer Hosen trägt . an dem Tag dann (.) ein Ballkleid anzieht? Iwona: Hab ich tatsächlich sogar überlegt . I: @@ Iwona: Einfach weil (.) es wäre zwar nicht unbedingt ’n Gendertausch . aber (.) ich weiß nicht . einfach (.) es war ja auch (.) du bist nicht du . wenn du Abi machst (.) und (.) wenn Nicht-ich-sein impliziert . dass ich dann (.) mich maskuliner anziehen muss . als ich es sonst tue (.) dann kann ich ja genauso gut auch femininer rumlaufen . I: Das war noch speziell der Spruch an dem Tag? Eske: Genau . Iwona: Ja . Eske: Du bist nicht du . wenn du Abi machst . (Dahlien-Gruppe)

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Hier reflektiert Iwona darüber, was das stufeninterne spezifische Motto des Geschlechtertauschtages („Du bist nicht du . wenn du Abi machst“) auf Iwo selbst bezogen für die Geschlechtsdarstellung an diesem Tag bedeutet. Iwo schlussfolgert, dass Iwo sich vor diesem Hintergrund sowohl „maskuliner“ als auch „femininer“ anziehen könnte – und skizziert damit eine flexible(re) Bandbreite von Geschlechtsdarstellung auch in zweigeschlechtlicher Rahmung. Sich selbst verortet Iwona dadurch auf einem Kontinuum zwischen den Polen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘, beiden könnte Iwo sich in der Verkleidung des Geschlechtertages annähern. Iwo gehört damit zu den wenigen, die sich explizit als geschlechtlich non-konform verorten und eine solche Position nicht nur in Bezug auf Dritte oder in ‚theoretischer Auslebung‘ thematisieren. Die Bezugnahme auf sich selbst als „Person“ lässt sich dabei so lesen, dass Iwona dadurch das eigene ‚Selbst‘ zunächst nicht als vergeschlechtlicht setzt, sondern Geschlechtlichkeit hier als zusätzliches Attribut fasst – und damit nicht zuletzt auch deren kontingenten (Konstruktions-)Charakter deutlich macht.95 Die Sagbarkeit dieser Art, geschlechtliche Flexibilität zu erzählen, scheint aber auch für Iwo weder einfach noch eindeutig, darauf deuten bereits der geständnishafte Einstieg („Ja also (.) da muss ich jetzt persönlich sagen“) und das darauffolgende Ringen um die Verbalisierung der eigenen Positionierung („ich bin weder (.) s=ich weiß nicht . also ich persönlich finde nicht“). Mit dem Beginn „ich bin weder“ scheint Iwo den an späterer Stelle der Diskussion dann explizit erwähnten Zwischenraum zwischen den Polen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ – bzw. durch die explizite Abgrenzung „weder“ sogar ein gänzliches Außerhalb davon – anzuvisieren96, bricht jedoch ab und führt stattdessen mit der Formulierung „ich persönlich finde nicht . dass ich die weiblichste Person des Planeten bin“ fort – wodurch sich Iwos vorher angesetzte Ausführung grundlegend ändert: Während die nur angedeutete Verortung „ich bin weder“ einen definitorischen Charakter hat, der von einer selbstbestimmten Entscheidung über die eigene Geschlechtlichkeit auszugehen scheint (vgl. Kap. 5.2), nimmt der schließlich zu Ende geführte Verortungsversuch eine deutlich andere Form an: Hier wird ausschließlich der weibliche Pol als Referenzrahmen benutzt, wodurch Iwona eine vergeschlechtlichte Zuschreibung der eigenen Person als weiblich zunächst annimmt, um sie von diesem Punkt aus dann wiederum relativieren bzw. den Handlungsspielraum innerhalb dieser 95 Vor diesem Hintergrund ist (selbst)kritisch zu betrachten, dass die Interviewerin (in meiner Person) in der Zwischenfrage die Definition der „Frau“ einbringt – und diese damit implizit auch auf Iwona bezieht. 96 Zu einem späteren Zeitpunkt führt Iwona, bezugnehmend auf die Kategorien weiblich und männlich, aus: „ich (.) bleib einfach lieber in dieser Lücke dazwischen“ (vgl. Kap. 5.2.1), und vollzieht damit eine deutlich entschiedenere Selbst-Verortung als an dieser Stelle.

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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Zuschreibung diskursiv erweitern zu können. Diese Relativierung findet in einer abgeschwächten und nicht so definitiven Form wie im ersten Anlauf statt und arbeitet mit der Verneinung des Superlativs („nicht […] die weiblichste Person des Planeten“), was einerseits Spielraum für das Maß der Weiblichkeit lässt, andererseits auf die umgangssprachliche Konnotation verweist, dass Iwona sich als nicht bzw. kaum weiblich verortet; dies erfolgt als eine Annäherung ex negativo, was ein gewisses Verfehlen des als Maßstab gesetzten Kriteriums Weiblichkeit – und somit eine Selbstdefinition durch Scheitern – implizieren könnte. Auch enthält die Einleitung „ich weiß nicht . also ich persönlich finde nicht“ deutlich weniger (Selbst-)Definitionsmacht als der vorherige Ansatz und wird explizit als eigene Einschätzung (in die auch ein Irrtum eingeschlossen ist) dargelegt, sodass die Aussage zögerlicher endet, als sie begonnen hat. Mitdiskutantin Emmy schließt an die Erzählung der Flexibilität innerhalb – und gemessen an – der geschlechtlichen Bipolarität an: Emmy: Es gibt ja zum Beispiel auch halt dann Mädchen . die halt auch normal (.) so’n bisschen (.) im männlicheren Stil rumlaufen , weil die sich dann halt einfach wohler fühlen (.) oder halt auch keine Iwona: ∟Ja Emmy: Ahnung . Jungs die sich dann halt auch anders anziehen oder so (.) aber halt jetzt . nicht in diese Transgender-Richtung , sondern halt immer noch äh (.) ja trotzdem . weil die halt diesen Stil mögen (Dahlien-Gruppe)

Auch hier wird ein Kontinuum zwischen den Attributen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ aufgespannt, auf dem sich die Einzelnen ebenfalls flexibel, aber, anders als bei Iwona, auf der Grundlage eines eindeutigen, binär gerahmten Geschlechts verorten lassen. Aus dem Kontext innerhalb der Diskussion liegt die Lesart nahe, dass die Einordnung „normal“ hier für alltäglich (im Vergleich zum Geschlechtertauschtag) steht.97 Die kurz darauf vorgenommene Abgrenzung zur „Transgender-Richtung“, die mit „sondern halt immer noch äh“ im Unkonkreten verbleibt, deutet dennoch eine heteronormative Vergleichsfolie an. In der Iris-Gruppe wird in ähnlicher Weise ein Kontinuum im Rahmen der Bipolarität verhandelt und dabei, etwa durch Füllwörter wie „halt“ oder „ja auch“, eine Selbstverständlichkeit dieser geschlechtlichen Bandbreite impliziert:

97 Hiermit wird, so ist zu vermuten, indirekt auch Mitdiskutant_in Iwona adressiert, ohne dies explizit herauszustellen. 103

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Max: Manche Frauen sind auch femininer . manche sind halt auch . einfach normaler (.) gemütlicher (.) also das kannste nicht so sehen und ich mein . es gibt so einige @@@es gibt so@ ich finde . es gibt aber auch so einige Typen . die dann schon sehr feminin rüberkommen auch so im Alltag. aber Ian, Andrea: ∟@@ Denise: Es gibt ja auch genug (.) Frauen . die aussehen wie ’n Junge . Sebi: Ja . Jesko: Mmmh (Iris-Gruppe)

Die auffallende Gegenüberstellung „femininer“ und „normaler, gemütlicher“ Frauen deutet eine androzentrische Perspektive an, in der das weiblich Markierte das Andere und das (implizit) männliche Markierte das ‚Normale‘ ist. Dies lässt Weiblichkeit als Maskerade (vgl. Rivière 1994; Weissberg 1994) erscheinen, was vor dem Hintergrund aktueller Weiblichkeitsanrufungen auf eine ambivalente Situation für die jugendlichen Frauen* schließen lässt (vgl. Kap. 5.4.4). Etwas vorsichtiger wirkt in der Geranien-Gruppe Monas unter Verweis auf historische Entwicklungen erfolgende Einschätzung, dass eine Annäherung der vergeschlechtlichten Praktiken von Frauen und Männern (in Bezug auf Kleidung und Schminke) zwar prinzipiell denkbar, aber gegenwärtig noch nicht „normal“ und „alltäglich“ ist: Ich könnt mir auch vorstellen . dass das (.) sich in den kommenden Jahren so stark verändern könnte . dass Männer und Frauen eventuell wirklich (2) ähnliche Sachen tragen . also wirklich Männer auch mal irgendwann mal anfangen (.) könnten Röcke zu tragen (.) also . klar jetzt ist das noch witzig und jetzt lacht man darüber (.) aber (.) früher hat man auch bestimmt über die Tatsache gelacht . dass Frauen (.) keine (.) Hosen tragen würden , aber mittlerweile tragen wir Hosen . und das ist vollkommen normal und (.) alltäglich (.) und man hinterfragt auch nicht . warum das heute so ist . und früher anders (.) und in ein paar Jahren könnte sich das auch auf (.) das männliche Geschlecht auswirken . dass Männer (.) mal (.) schminken- sich schminken . und (.) das normal ist und alltäglich und nichts worüber man (.) reden würde (2) ja. (2) (Mona, Geranien-Gruppe)

Eine ähnliche Gegenwartseinschätzung scheint auch Renés Äußerung zugrunde zu liegen: Und ich hätte kein Problem damit . n=mal eine Woche als Mann und eine Woche als Frau rumzulaufen . einfach nur . weil (.) weil man sich dann auch ’n Stück weit freier fühlt . oder nicht? (René, Weiden-Gruppe)

Eine abwechselnde männliche und weibliche Performance wird hier von René als denkbare Möglichkeit dargestellt, eigene Geschlechtlichkeit auszuleben. Durch seine Konjunktiv-Formulierung („hätte“) sowie den Kontext der übrigen Diskussion (vgl.

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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auch Kap. 5.2.3) wird allerdings deutlich, dass die Umsetzung unter den gegenwärtigen (gesellschaftlichen) Bedingungen für ihn keine machbare Option darstellt. Auffallend ist hier die Assoziation der skizzierten flexibleren Geschlechterperformance mit dem Gefühl von persönlicher Freiheit, wobei René diese Einschätzung abschließend mit einem nach Vergewisserung suchenden „oder nicht?“ selbst infrage stellt – auch hier scheint die Verbalisierung eigener (potenzieller) Non-Konformität mit Unsicherheiten verbunden zu sein. Zusammen mit Iwona in der Dahlien-Gruppe bildet er damit im Bezug der diskursiv eröffneten geschlechtlichen Flexibilität auf die eigene Person eine Ausnahme in den Diskussionen. Neben diesen Verhandlungen flexibler Spielräume innerhalb der zweigeschlechtlichen Ordnung finden sich auch einige wenige Passagen, in denen die Geschlechterbinarität als solche explizit zum Thema gemacht und diskursiv aufgebrochen wird. Wieder ist es vor allem die Dahlien-Gruppe, die diesen Gedanken in der Diskussion Platz einräumt, etwa, wenn entsprechende Reflexionsimpulse eines Lehrers ausführlich diskutiert werden: Iwona: Ja es ist ja alles prinzipiell (.) weitgehend sehr wenige (.) Menschen denken über dieses Binäre einfach hinaus (.) das hatten wir ja auch in Mathe (.) ich weiß nicht . ob du dich dran erinnern kannst Eske: ∟Ja Iwona: aber da (.) ein Lehrer von uns . als wir ein Beispiel hatten (.) mit äh (.) ich weiß gar nicht mehr was das für’n Thema war Eske: ∟mit Mädchen und Junge . zum Thema Stochastik . Iwona: ∟Genau. ∟Ja genau (.) und dann auch so . ja alle (.) Frauen . und dann sagte er auch . oder welche die sich als Frauen definieren . klar steht da nicht unbedingt jeder auf der=des (.) auf Dings . aber (.) allein dieses Gefühl dass irgendeiner Eske: ∟ Ja ∟Ja Iwona: i=aus’m Kollegium das wirklich akzeptiert . und in den Unterricht einbringt . was ich sonst (.) Eske: ∟Ja Iwona: in meinem (.) Unterricht sonst nie mitbekommen habe . Emmy: Aber hat der das ernst gemeint oder? Eske: Ja Iwona: Ja Eske: Er schrieb auch mal an die Tafel (.) ähm bei solchen bei Aufgaben (.) Mädchen und (.) Iwona: ∟Mmmh Eske: Nicht-Mädchen . also er schrieb nicht Mädchen und Jungen so sondern er schrieb Mädchen und Iwona: ∟Ja Eske: Nicht-Mädchen (.) das heißt alle . die sich als Mädchen fühlen (.) und alle die eben in irgendeiner Form (.) kein Mädchen sind . aber auch alles dazwischen Iwona: ∟Und er hatte das ja auch noch ausgeführt Eske: Genau (.) und er sagte wir sollen aufhören in diesen binären Systemen zu denken . sondern auch Iwona: ∟Ja

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Eske: mal rangehen und sagen (.) ähm (.) es gibt so viel dazwischen und warum sollte er als=warum Emmy: ∟Ja Eske: sollte er als Lehrer das (.) Recht haben . so hinzugehen und zu sagen . Mädchen und Jungen (.) Iwona: ∟Ja Eske: ähm und nicht äh (.) Mädchen und Nicht-Mädchen oder Jungs und Nicht-Jungs . das ist Emmy: ∟Ich find da auch, man sollte diese Vielfalt einfach schätzen anstatt (äh) immer noch so weiterzudenken . Eske: ∟Mmmh Emmy: weil ich find . das ist eigentlich schön . dass jeder anders ist. also jeder ist individuell (.) und jeder (.) fühlt sich halt anders . und (.) ich finde das ist ja vollkommen in Ordnung . also jeder (.) ist so in Ordnung wie er sich fühlt oder wie er sich kleidet . und ich find das ist eigentlich (.) was Schönes Eske: ∟Ja Emmy: an ’ner Gesellschaft . wenn’s so viel=viel äh (.) so viel (.) Vielfalt gibt Eske: Ja Emmy: Ja. I: Und wie hab’n die dann- (.) wie hat denn die Klasse dann reagiert auf- (.) oder wie reagiert die auf den Lehrer? Eske: Also (.) ich glaube die meisten fanden’s (.) haben es nicht so zur Kenntnis genommen . oder Iwona: ∟Ja Eske: fanden’s übertrieben . weil (.) ich glaube für=also (.) entweder ist es (.) nicht akzeptiert (.) das Iwona: ∟Mmmh Eske: Thema (.) oder es ist von allen so als (.) selbstverständlich hingenommen . so als (.) äm . von vielen ist das . wenn sie das akzeptieren . so dargenommen (.) ja (.) e=es ist selbstverständlich dass es Mann und Frau und irgendwas anderes gibt . und es ist selbstverständlich dass es homosexuelle und heterosexuelle Menschen gibt (.) und ich glaub . da hab’n viele gar nicht so gemerkt dass der Lehrer das (.) provokant so’n bisschen ähm (.) vor die Klasse gebracht hat (.) damit (.) ja damit auch mal ’n paar vielleicht merken . äh dass andere vielleicht das (.) ernster nehmen und darüber auch mehr nachdenken . Iwona: Fandest du das echt provokant? Ich fand das eigentlich eher nur . dass er so denkt . d=dass er Eske: ∟Ja was heißt provokant? Mehr so das Zeigen . Iwona: weiß dass es untergeht . Eske: ∟mehr so das Zeigen (.) also nicht=nicht irgendwen damit provozieren wollen . sondern es is so’n . Deutlichmachen dass es das gibt und dass man darüber nachdenken muss Iwona: ∟Mmmh ∟Ja Emmy: Mmmh Iwona: Mmmh (3) (Dahlien-Gruppe)

Das Maß der reflexiven Verhandlung erscheint hier deutlich ausgeprägter als in anderen Diskussionen. Das Hinterfragen der Zweigeschlechtlichkeit findet auf einer deutlich intensiveren Reflexionsebene statt als in den restlichen Gruppen und wird auf eine allgemeinere Diskussion über Denken in Binaritäten ausgeweitet. Der Lehrer wird hierbei von Iwona und Eske als Impulsgeber präsentiert, der anhand

5.1 Die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität

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der Hinterfragung der Zweigeschlechterkategorien durch eine ‚Neueinteilung‘ in „Mädchen und Nicht-Mädchen oder Jungs und Nicht-Jungs“ sowie die Betonung von „so viel dazwischen“ eine Hinterfragung des binären Denkens ganz bewusst angeregt habe. Dabei scheint insbesondere für Iwona der Möglichkeitsraum, den Iwo durch diese Thematisierung geöffnet sieht, zentral zu sein („und dann sagte er auch . oder welche die sich als Frauen definieren . klar steht da nicht unbedingt jeder auf der=des (.) auf Dings . aber (.) allein dieses Gefühl dass irgendeiner i=aus’m Kollegium das wirklich akzeptiert . und in den Unterricht einbringt“). Die darin enthaltene – nicht zu Ende ausgeführte – Einschränkung („klar steht da nicht unbedingt jeder auf“) lässt zugleich auf ein Bewusstsein Iwonas dahingehend schließen, dass (punktuell) erweiterte Denk- und Sagbarkeiten nicht automatisch auch in entsprechende Handlungen münden bzw. andere Begrenzungen weiterhin wirksam sein können. Damit geht Iwo über die sonst üblichen und auch bei Emmy zu beobachtenden Toleranzbekundungen hinaus, die in der Zustandsbeschreibung einer offenen Gesellschaft weiterhin existierende Ungleichheiten und Diskriminierungen ignorieren. Auch Eske gibt eine solche differenzierte Einschätzung wieder, wenn sie auf Nachfrage der Interviewerin mutmaßt, dass das von ihr bekundete weitgehende Desinteresse der Mitschüler_innen an den entsprechenden Ausführungen des Lehrers bei einigen auf eine ablehnende Position, bei anderen aber auch auf eine (zu) selbstverständliche Annahme einer vielfältigen Geschlechtlichkeit und Sexualität zurückzuführen sein könnte („von vielen ist das . wenn sie das akzeptieren . so dargenommen (.) ja (.) e=es ist selbstverständlich dass es Mann und Frau und irgendwas anderes gibt . und es ist selbstverständlich dass es homosexuelle und heterosexuelle Menschen gibt“). Dies, so ist hier implizit zu folgern, wird von Eske und Iwona vor allem als Rhetorik eingestuft: Beide einigen sich am Ende nach kurzer Aushandlung dahingehend, das Anliegen des Lehrers in einer Anregung von (aktiven) Reflexionsprozessen zu sehen. Eske und Iwona sind damit zwei der wenigen Teilnehmenden, die wünschenswerte Zustände in Bezug auf eine größere geschlechtliche Flexibilität verhandeln und zugleich die Diskrepanz zur gegenwärtigen Situation deutlich machen. Dies wird auch im folgenden Auszug deutlich: Aber mittlerweile hab ich auch (.) immer öfter auf den Straßen . zum Beispiel wenn ich jemanden sehe , dann ist es so . is äh (.) weiblich oder männlich so . das kann man ja nicht abstreifen dass man direkt sieht und das denkt (.) aber (.) man kann sich ja selbst schon irgendwie dran gewöhnen dass man das nicht denken kann (.) oder sollte (.) oder muss (.) aber es gibt auch da wieder (.) mittlerweile halt vereinzelne Personen (.) bei denen man sich einfach (.) auch auf den ersten Blick nicht sicher sein kann (.) sei es wegen der Frisur und allem Drum und Dran . aber es gibt einfach auch (.) Menschen . bei denen würd ich das persönlich gar nicht erkennen können (Iwona, Dahlien-Gruppe)

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Der Beobachtung, dass die äußerlichen Geschlechterunterscheidungen teilweise abnehmen, schiebt Iwona das Eingeständnis vorweg, selbst ebenfalls die alltägliche zweigeschlechtliche Einteilung vorzunehmen, und appelliert dann, sich diese ‚automatische‘ Kategorisierung abzugewöhnen. Auch in der Kamelien-Gruppe wird, hier in Bezug auf sexuelle Orientierung, durch Catherina eine Kritik an gegenwärtigen vereindeutigenden Kategorisierungsprozessen artikuliert, die von den Mitdiskutantinnen der Gruppe bestätigt wird: Catherina: Das ist halt zuviel dieses (.) Labeling glaub ich . dass man sich zu schnell in irgend ’ne Dunja: ∟Ja Catherina: Kategorie halt äh (.) setzen möchte . und dass man nicht irgendwie akzep- also dass man Lisa: ∟Mmmh Catherina: irgendwie (.) dass da noch so ’ne Akzeptanz fehlt . dass man (.) auch irgendwo einfach dazwischen ist (.) so . schwul . lesbisch . bi . was auch immer . Lisa: ∟Mmmh Dunja: ∟Ja (Kamelien-Gruppe)

Mit dem „Labeling“ scheint Catherina hier auf binäre geschlechtliche und sexuelle Einordnungen zu rekurrieren und deren vereindeutigenden Charakter zu kritisieren. Mit der Bezugnahme auf ein „dazwischen“ findet somit auch hier, wenn auch nur kurz angerissen, eine Hinterfragung der Zweigeschlechtlichkeit statt – verbunden mit dem Hinweis, dass dieser Zwischenraum (noch) keine breite Akzeptanz erfährt. In diesem Kontext bleibt unklar, inwiefern Catherinas Nachschub „schwul . lesbisch . bi . was auch immer“ als eine beispielhafte Aufzählung der soeben kritisierten eindeutigen Zuordnungen zu verstehen ist, die hier diskursiv aufgebrochen werden sollen, oder als Positivbeispiele für Zwischenräume, die sich außerhalb der üblichen (heteronormativen) Kategorien bewegen.

5.1.5 Zwischenresümee Es finden sich unterschiedliche und durchaus auch widersprüchliche Annäherungen an Geschlecht, die sich als eine allgemeine Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität zusammenführen lassen. Zentral ist in diesen Verhandlungen der Jugendlichen die diskursive Öffnung eines Spielraums in Bezug auf Geschlechtlichkeit: Geschlecht wird als gestaltbar gerahmt; geschlechtliche Flexibilität bedeutet in diesem Sinne, dass Geschlecht hinterfragbar bzw. verhandelbar – und somit letztendlich in seiner jeweiligen Ausformung auch begründungsbedürftig – wird. Stabiler Bezugspunkt ist in dieser Rahmung das Geschlechtsempfinden. Geschlecht behält damit als zentrale

5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

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und essenzielle – und weiterhin in der Regel binäre – Unterscheidungskategorie zur Ausformung des Selbst seine Gültigkeit, jedoch verlagern sich die hierfür entscheidenden Merkmale vom Körperlichen auf die Ebene des Gefühls. Diese Verschiebung des Geschlechtskerns ins Innere bedeutet aber nicht, dass der Körper seine Signifikanz als Geschlechtsmarker verliert – er wird jedoch flexibilisiert in dem Sinne, dass darüber, so die diskursive Rahmung, im Modus der Gestaltbarkeit verfügt werden kann: Der Körper gilt nun nicht mehr als Schicksal, sondern, in letzter Konsequenz, als selbst entworfener Ausdruck des inneren geschlechtlichen Empfindens, was in der Figur der Trans* Person seinen symbolischen Ausdruck findet. Darüber hinaus scheinen sich über die Flexibilitätserzählung punktuell auch Diskussionsräume innerhalb sowie jenseits von Zweigeschlechtlichkeit zu öffnen. Es zeigt sich also eine ambivalente Situation: Einerseits wird Geschlecht diskursiv flexibilisiert, andererseits scheint die heteronormative Zweigeschlechter-Ordnung auch in dieser neuen Rahmung ihre diskursive Wirksamkeit weitgehend zu behalten – allerdings erscheint sie nun in neuem Licht: dem der Selbstbestimmung, wie das nächste Kapitel veranschaulicht.

5.2

Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

5.2

Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

Es zeigt sich bei den Jugendlichen dieses Samples durchweg die Tendenz, ihre Geschlechtlichkeit und Sexualität als selbstbestimmt und somit als Frage des eigenen Willens zu rahmen. Die Bezugnahmen auf Geschlecht erfolgen dabei in ganz unterschiedlicher Weise, mal geht es um vergeschlechtlichte Praktiken, mal um sexuelle Orientierung, mal um geschlechtliches Sein oder (zwei)geschlechtliche Einordnung. Konstant steht aber die freiwillige Entscheidung und damit die Autonomie im Zentrum, die der Geschlechtlichkeit – im Idealfall – zugrunde liegt. Das Bedürfnis, das eigene Selbst autonom und individuell zu entwickeln bzw. zu behaupten, lässt sich als Gegenwartsdiagnose auch auf andere Bereiche beziehen und wird dabei u. a. sowohl als spezifisch für die Jugendphase (vgl. Kap. 1.1) als auch als Charakteristikum gegenwärtiger westlicher Gesellschaften thematisiert (vgl. Kap. 3.2). Die hier diskutierten Befunde verdeutlichen, wie durch die Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität die Anrufungen von Selbstbestimmung und Individualität in spezifischer Weise auch für den Bereich der Geschlechtlichkeit geltend gemacht werden (können). Denn (erst) wo Geschlecht überhaupt verhandelbar wird, gerät es auch in den Wirkungsbereich des Selbstbestimmungsdiskurses.

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Die Jugendlichen erzählen geschlechtliche Selbstbestimmung hauptsächlich im Rekurs auf geschlechtliche und sexuelle Non-Konformitäten, wobei die Freiwilligkeit das entscheidende Kriterium für anerkannte Geschlechtlichkeiten und Sexualitäten darstellt (Kap. 5.2.1). Die Erzählung wird in den Gruppen daneben teilweise aber so gestaltet, dass auch heterokonforme Cis-Geschlechtlichkeiten explizit als individuell und selbstbestimmt entworfen werden (können) (Kap. 5.2.2). Dass die Erzählungen dabei innerhalb der Gruppen oder auch der einzelnen Jugendlichen nicht reibungslos und widerspruchsfrei verlaufen, illustrieren Materialauszüge, die Brüche und Unsagbarkeiten aufscheinen lassen (Kap. 5.2.3). Ähnlich widersprüchlich scheint sich zuweilen das Verhältnis von Toleranzanrufungen, die auf der Selbstbestimmungserzählung fußen, und eigener, hiervon abweichender Positionierung zu gestalten (Kap. 5.2.4).

5.2.1 Anders, aber extra – geschlechtliche Non-Konformität als bewusste Entscheidung Zentraler diskursiver Referenzpunkt in den Ausführungen der Jugendlichen zu Geschlechtlichkeit und Sexualität ist die eigene Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, die von ihnen in den Diskussionen immer wieder explizit betont oder implizit vorausgesetzt wird. Das geschieht an vielen Stellen, indem Abweichungen von der Heteronorm als freiwillig und ungezwungen – und dadurch legitim – herausgestellt werden. Mit Blick auf die Performance am Geschlechtertauschtag hebt etwa Natalia in der Geranien-Gruppe hervor: Ja also . ich hab mich eigentlich immer in den Tagen wohlgefühlt . aber dann trotzdem . als ich dann in meinen chilligen Klamotten@ zuhause dann war , hab ich mich trotzdem dann auch wiederum wohlgefühlt und war halt froh . dass ich dann aus der Verkleidung raus war . also ich hab mich dann äm mit beiden identifiziert . sag ich mal . so (.) es war nicht so . dass ich mich irgendwie äm (.) ja in irgendwas reingezwungen gefühlt hab . oder so . sondern ich hab mich dann trotzdem immer wohlgefühlt (Natalia, Geranien-Gruppe)

Neben der Betonung, sich nicht „in irgendwas reingezwungen“ zu haben, erfolgt hier wieder – mehrmals – der Rekurs auf das eigene Wohlfühlen (vgl. Kap. 5.1.1). Wenig später bekräftigt Natalia den fakultativen Charakter ihres Geschlechtertauschs am entsprechenden Mottotag: „Also (.) das ist auch nichts Gezwungenes . sondern man macht das ja freiwillig . und das macht ja Spaß“. Wichtig scheint also, jegliche Art von Zwang zurückzuweisen, wie auch Lina aus der Hasel-Gruppe betont, wobei in diesem Fall die Klischeehaftigkeit der Darstellung im Vordergrund steht:

5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

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I: Glaubt ihr denn , dass es so’n Geschlechtertauschtag als Mottotag irgendwie (.) in 20 oder in 50 Jahren noch geben wird? Lina: Nja also ich glaub jetzt nicht . dass das irgendwie was ist . was verwerflich ist . weil das so die . Rollenklischees (.) bestätigt (.) weil das ist ja w-wie . wir sind uns ja alle im Klaren dass Frauen nicht alle so rumlaufen, und Männer auch nicht und dass (.) das nicht . nicht so einheitliche Rollenbilder . dass es die nicht gibt . aber es macht ja einfach nur Spaß . es ist ja nicht so . dass das jetzt so irgendwie (.) dass wir uns damit in unsere Rolle einfügen wollen oder sowas (Hasel-Gruppe)

Die Frage der Interviewerin scheint Lina zu veranlassen, sich gegenüber einem von ihr darin wahrgenommenen Vorwurf zu positionieren, durch den Geschlechtertauschtag würden „Rollenklischees (.) bestätigt“. Die mit Blick auf die Mottowoche auch in dieser Gruppe berichtete stereotype Darstellung des jeweils ‚anderen‘ Geschlechts ist demnach für sie dadurch gerechtfertigt, dass diese Darstellung allein dem Vergnügen dient und keine Anpassung an ‚Geschlechterrollen‘ bedeutet. Daneben wird das selbstbestimmte Ausleben der eigenen Geschlechtlichkeit für den Alltag hervorgehoben. Auch in diesen Bezugnahmen werden, ähnlich wie innerhalb der Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität, vor allem Abweichungen adressiert und legitimiert, wie es in der Dahlien-Gruppe zu erkennen ist: Eske: Aber mittlerweile sieht man ja auch öfter immer auf Youtube . dass die Leute das (.) Iwona: ∟Mmmh Eske: heraustragen . dass man sieht dass Männer sich schminken (.) dass Männer auf Youtube Tutorials drehen . in denen sie sich schminken (.) genau (.) und sich (.) und trotzdem sagen . sie sind Iwona: ∟Und es gut können. Eske: trotzdem nicht äh (.) keine Frau . oder sie wollen trotzdem keine Frau sein (.) sie sind ein Mann und sie wollen sich eben schminken . (Dahlien-Gruppe)

Iwona und Eske verhandeln hier unter Heranziehung (sozial)medialer Erfahrungen („auf Youtube“) vergeschlechtlichte Praktiken und deren selbstbestimmte Aneignung durch das ‚andere‘ Geschlecht („dass Männer sich schminken“) als Anzeichen eines Wandels innerhalb cis-geschlechtlicher Positionierungen. Die Selbstverständlichkeit nicht-heteronormativer Geschlechtlichkeit, hier in Bezug auf Trans*, wird auch in der Iris-Gruppe in breiter Übereinstimmung betont: Max: Ja wenn=wenn sich jemand outet und sagt . ich fühl mich wohler in Frauenklamotten . und ich fühl mich wohl im Frauenkörper . soll er gerne machen . Jesko: ∟Völlig in Ordnung ∟ Auf jeden Max: Also wirklich. Ian: Gar kein Thema Sebi: Ja. 111

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Max: Es ist jedem selbst überlassen . wie er das gerne machen möchte (.) und das ist mir scheißegal . (Iris-Gruppe)

Max, Jesko, Ian und Sebi bekräftigen hier einstimmig und nachdrücklich eine Offenheit gegenüber Trans* Personen.98 Die Selbstbestimmungserzählung macht so zunächst einen Raum auf, intelligible Geschlechtlichkeit auch jenseits heteronormativer Vorstellungen zu verhandeln. Während dies in den meisten Gruppen auf abstrakte Weise geschieht und Bezugnahmen etwa auf Trans*, wie im obigen Beispiel der Iris-Gruppe, in einem allgemeinen Sinne erfolgen (vgl. auch Kap. 5.1.3), findet in der Linden-Gruppe eine längere Auseinandersetzung mit persönlichen Erfahrungen der Teilnehmenden im Zusammenhang mit einer Trans* Person (Finn/Sabrina) aus der eigenen Stufe statt. Dies wird von den Jugendlichen mit einer allgemeinen Entwicklung hin zu einer größeren geschlechtlichen Vielfalt, hier speziell auf Trans* bezogen, in Verbindung gebracht: Also das wird jetzt halt wirklich immer mehr und mehr Thema wir hatten sogar eine Person im Jahrgang die das (.) Thema halt für sich halt auch hatte wo s- äh . sie nicht wusste ob sie lieber ein Junge oder doch lieber ein Mädchen sein möchte (.) (Viola, Linden-Gruppe)

In dieser Formulierung wird Finn/Sabrina – hier geschlechtsneutral als „eine Person“ tituliert – die Entscheidungsfreiheit über die eigene Geschlechtlichkeit (also, „ob sie lieber ein Junge oder doch lieber ein Mädchen sein möchte“) zugesprochen, womit die Argumentation sich in die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung einfügt. Das „sogar“ macht dennoch den Status der Besonderheit deutlich, den Finn/Sabrina damit erhält, und impliziert die selbstverständliche Annahme, dass niemand sonst aus der Stufe „das Thema halt für sich hat“. Der Bezug auf die selbstbestimmte – und damit implizit legitime – Geschlechtlichkeit wird von Viola auch in der folgenden Fortführung ihrer Ausführungen beibehalten, wobei unklar ist, ob das weibliche Personalpronomen hier weiterhin an „eine Person“ angelehnt oder auf eine Rahmung als ‚eigentlich weiblich‘ zurückzuführen ist: Äähm (.) ja und . wirklich von den Lehrern wurde sie dann auch so genannt und dann im nächsten Schuljahr dann aber nicht mehr weil sie sich dann auch halt wieder nicht sicher war ob sie nicht (.) doch lieber wieder ’n Mädchen sein will dann wurde sie auch wieder Sabrina genannt oder Finn wie man . das wollte da hat sie gesagt das könnt ihr euch aussuchen (Viola, Linden-Gruppe)

98 Dass die durch diese betonte Offenheit implizierte problemlose Lebbarkeit von geschlechtlicher Non-Konformität zu hinterfragen ist, wird durch die Einbettung des Zitats in den breiteren Gruppendiskussionszusammenhang in Kap. 5.2.3 deutlich.

5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

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Auch hier wird Finn/Sabrina die Definitionshoheit über die eigene Geschlechtlichkeit zugesprochen, und zwar als freie Wahl zwischen (genau) zwei Geschlechtern. Durch Violas Formulierung („ob sie nicht doch lieber wieder ’n Mädchen sein will“) wird im Umkehrschluss auch Finns/Sabrinas Jungensein ernst genommen, denn nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage nach der ‚Rückkehr‘ zum Mädchen-Sein in der Form aufwerfen. Die geschlechtliche Flexibilität basiert hier also auf der autonomen Entscheidung der Einzelnen über ihre Verortung im Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit. Die Zuweisung der Selbstbestimmung als zentrale Entscheidungs- und Legitimationsinstanz vor allem für geschlechtliche und sexuelle Abweichungen von der Heteronorm findet sich in dieser und anderen Gruppen immer wieder auch in Einschüben wie „wenn sie das möchte ja dann soll sie doch machen“ (Jessica, LindenGruppe), „man muss halt (.) so für sich selber entscheiden, was einem da wichtig ist“ (Lisa, Kamelien-Gruppe), „jedem seine Sexualität“ (Aaron, Jasmin-Gruppe). Dies geschieht meist aus einer ‚nicht betroffenen‘ Perspektive gegenüber Dritten heraus. Dabei ist der Verweis auf die Selbstbestimmung, auch das machen die Beispiele deutlich, häufig mit einer Leistungsanforderung („soll“, „muss“) verbunden, die aus der Handlungsoption eine Handlungsnorm bzw. -pflicht werden lässt. Auffallend ist neben diesen Bezugnahmen auf Dritte, dass vereinzelt auch diejenigen Jugendlichen, die sich als nicht der Heteronorm entsprechend positionieren, die Selbstbestimmungserzählung aktiv gestalten bzw. darauf zugreifen, was darauf schließen lässt, dass diese Erzählung (in Bezug auf eigene erlebte ‚Abweichungen‘) auch empowernden Charakter haben kann: Iwona: Also ich würd mich persönlich jetzt (.) irgendwie nicht mal einsortieren . also (.) @das war vielleicht auch ein bisschen offensichtlicher mit der Zeit@ Eske: Mmmh Iwona: Aber (.) keine Ahnung also (.) dass ich körperlich ’ne Frau bin , das ist ja jetzt kein Geheimnis . aber (.) ich würd jetzt nicht sagen dass ich (.) ’ne typische Frau bin (.) definitiv nicht . ich würd auch nicht sagen dass ich mich männlich fühle . einfach (.) ich seh’s (.) bei mir selbst einfach nicht ein (.) zu sagen , ich entscheide mich für A oder für B . ich (.) bleib einfach lieber in dieser Lücke dazwischen (.) Eske: ∟Ja Iwona: und wenn ich dann Lust hab , rosa anzuziehen , dann ziehe ich rosa an . und wenn ich Lust hab auf ’ne weite Hose , dann zieh ich ’ne weite Hose an . so . Eske: ja (Dahlien-Gruppe)

Iwonas hier erfolgte Selbstpositionierung jenseits der Geschlechterbinarität beginnt fast wie ein ‚Geständnis‘ („das war vielleicht auch ein bisschen offensichtlicher mit der Zeit@“). Dabei schreibt Iwo zwar den eigenen Körper als Träger eines bestimmten 113

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

(weiblichen) Geschlechts fest, sieht aber hieraus keine zwangsläufigen Folgen für ihre Geschlechtlichkeit – hier als geschlechtliches Selbst – erwachsen, sondern betont, „einfach lieber in dieser Lücke dazwischen“ zu bleiben, wodurch Iwo sich einer eindeutigen zweigeschlechtlichen Zuordnung entzieht. (Wobei die „Lücke dazwischen“ dennoch die Pole weiblich und männlich aufspannt, was durch die Kleidungswahl Rosa und weite Hose noch implizit verstärkt wird.) Somit wird auch hier die eigene Geschlechtlichkeit als Frage der eigenen Entscheidung herausgestellt, woraus für Iwona Handlungspotenzial zu erwachsen scheint („und wenn ich dann Lust hab […] dann“). Hier zeigt sich exemplarisch für die Momente, in denen die Erzählung (und Anrufung) der geschlechtlichen Selbstbestimmung in Bezug auf geschlechtliche Non-Konformität auf sich selbst angewendet und positiv gewendet wird, ein Möglichkeitsraum für vielfältige geschlechtliche Seinsweisen, der mit den Annahmen von Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung einhergeht und nicht mit einer negativ geprägten Ver-Anderung verbunden ist. Auf diese Weise werden geschlechtliche Nicht-Konformitäten durch den Verweis auf deren selbstbestimmtes Zustandekommen legitimiert. Eine ähnliche Argumentation, wenn auch mit anderen Bezugspunkten, lässt sich in der Oleander-Gruppe finden: Also wenn ich will bin ich halt das . ’n totales Mädchen und sonst (1) ich bin halt auch eher offen sag meine Meinung (Franziska, Oleander-Gruppe).

Für Franziska, die während der gesamten Diskussion sowohl von ihren Mitdiskutantinnen als auch durch sich selbst immer wieder als von der Weiblichkeitsnorm abweichend marginalisiert wird (vgl. Kap. 5.4.4), scheint es hier wichtig zu sein, ihre eher ‚jungenhafte‘ Geschlechtlichkeit als eigene Entscheidung zu präsentieren, die sie selbst kontrolliert und die nicht aus einem Unvermögen, sondern dem freien Willen erwächst. Dies tut sie bezeichnenderweise, indem sie betont, auch ein „totales Mädchen“, also im in der Gruppe herrschenden Wahrnehmungsrahmen geschlechterkonform, sein zu können („wenn ich will“). Die Selbstbestimmung der Abweichung wird hier also implizit über den Bezug auf die Selbstbestimmung der Konformität ausgedrückt. Was hier außerdem auffällt, ist der Widerspruch, der zwischen Mädchensein und der Tendenz, offen die eigene Meinung zu sagen, aufgemacht wird. Auch Mirko rekurriert auf eine selbstbestimmte – aus „Spaß“ erfolgte – Abweichung seinerseits von heteronormativen Geschlechterpraktiken im Alltag: Und (.) naja . ich hab halt auch Spaß daran gehabt mir die Augenlider zu schminken (.) ich fand’s schön (.) es gab aber noch andere Menschen die gesagt haben ja cool . steht dir . cool dass du’s machst . macht ja sonst keiner (Mirko, Weiden-Gruppe)

5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

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Mirko betont die eigene Entscheidung (anhand von ästhetischen Kriterien und der Grundlage des Spaßhabens) für die von heteronormativen Männlichkeitsvorstellungen abweichende Praktik des Schminkens, ergänzt dies aber auch noch um den Zuspruch Dritter. Das selbstbestimmte Handeln wird für ihn in diesem Fall also noch dadurch aufgewertet, dass es auch von anderen positiv anerkannt bzw. sogar besonders herausgestellt wird, wodurch das erfolgreiche Abweichen von der Norm (durch ein ästhetisch gelungenes Ergebnis und den bewiesenen Mut zur Abweichung) unterstrichen wird.99 Ein Unterschied lässt sich hier m. E. an verschiedenen Sprecher_innenpositionen festmachen. Während Iwona sich in der Diskussion explizit jenseits heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit verortet und auch über damit einhergehende negative Konsequenzen im Alltag berichtet und Franziska von ihren Mitdiskutandinnen – und durch sich selbst – fortwährend als die Andere her(aus)gestellt wird, scheint Mirko in seiner privilegierten Situierung als heterosexueller Cis-Mann gefestigt100 – mit Anne McClintock ließe sich hier von einem „privileged display of gender ambiguity“ (McClintock 1995: 68) sprechen. Vor diesem Hintergrund scheinen die jeweils berichteten geschlechtlichen Ambivalenzen und Non-Konformitäten unterschiedliche Dramatisierungsgrade und soziale Folgen zu haben. Durchgehend zentral ist dabei aber für alle drei, jegliche Art von Zwang zurückzuweisen und die eigene Gender Agency, verstanden als die Fähigkeit, die eigene Geschlechtlichkeit nach eigenen Wünschen zu formen und auszuleben bzw. das Geschlecht zu sein, was mensch sein möchte, in den Vordergrund zu stellen. Ähnliches lässt sich für den Bereich der Sexualität beobachten, auch hier werden die Selbstbestimmung und der Spaß als entscheidende Kriterien für eine ‚richtige‘ Sexualität betont: Mirko: Wenn=wenn ich mir Frauenkleider anziehen würde und abends in die Disco gehe und irgend ’nen Typen aufreiße und mit ihm schlafe . na und? René: Naja .

99 Aus den übrigen Ausführungen im Rahmen der Diskussion ist zu erfahren, dass das hier berichtete Schminken im Kontext einer Selbstpräsentation entsprechend der GothicSubkultur erfolgte. Dunja Brill (2006) weist auf das in dieser Szene zu beobachtende Phänomen hin, dass hier einerseits androgyne Ausdrucksformen (als ‚männlicher‘ Gothic-Stil) und andererseits zugleich deutliche heteronormative Ordnungsmuster zu erkennen sind. 100 In der Gruppendiskussion innerhalb der Weiden-Gruppe lässt sich sogar sehr deutlich ein Doing Heterosexuality (vgl. auch Kimmel 2007: 81) beobachten, was durch nachdrückliche Berichte eigener (hetero)sexueller Erfahrungen sowie eine heterosexuell fundierte Interaktion Mirkos gegenüber der Interviewerin deutlich wird. 115

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Mirko: Dann passiert (.) blöd gelaufen . und es ist ja nix falsch . oder (.) was heißt blöd gelaufen . es ist ja=es macht mich ja nicht falsch . René: Nein. Mirko: Weil ich (.) ja frei in der Entscheidung war . ob ich das tun soll oder nicht (.) ich hab das ja nicht aus irgend ’nem Zwang heraus getan . ich hab’s getan , weil ich Bock drauf hatte (.) also ist es ja nicht falsch . René: Richtig . Mirko: Weil ich Bock drauf hatte (Weiden-Gruppe)

Hier imaginiert Mirko ein Szenario, in dem er sich selbst als geschlechtlich und sexuell non-konform einfügt. Dabei gibt er sich zunächst gleichgültig („na und?“), was hier im Sinne einer betonten Offenheit dieser Vorstellung gegenüber gelesen werden kann. Der Nachschub „blöd gelaufen“ lässt dann jedoch ein Unbehagen aufscheinen, was Mirko aber umgehend selbst hinterfragt und mit dem Hinweis korrigiert, dass es ihn ja „nicht falsch“ mache. Der Maßstab für eine ‚richtige‘, anerkannte und intelligible Sexualität ist auch hier die selbstbestimmte Handlung („weil ich (.) ja frei in der Entscheidung war . ob ich das tun soll oder nicht (.) ich hab das ja nicht aus irgend ’nem Zwang heraus getan“) und die – wiederholt artikulierte – eigene Motivation („Weil ich Bock drauf hatte“). Das Imaginieren der Folgenlosigkeit des geschlechtlich und sexuell von der Heteronorm abweichenden Handelns lässt auf latente Privilegien schließen, die den Hintergrund von Mirkos Sprech- und Denkposition bilden; diese kommen jedoch nicht zur Sprache und bleiben somit unsichtbar, was insbesondere dann deutlich wird, wenn diese Positionen mit Diskriminierungserfahrungen des Mitdiskutanten René ‚kollidieren‘ (vgl. Kap. 5.2.3). Die imaginäre Ebene ist auch in der Kamelien-Gruppe der Ort, an dem NonKonformität vor allem verhandelt wird: Im Zukunftsausblick werden hier, basierend auf der Annahme einer gesellschaftlichen Entwicklung hin zu größerer geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, punktuelle nicht-heterosexuelle Erfahrungen als selbstverständlich(er) und aus eigener Motivation (hier ebenfalls mit „Bock drauf“ artikuliert) und damit selbstbestimmt verhandelt. Dunja: dass man sich halt ausprobiert . dieses (.) dass du nicht sagst . ok ich hab sie jetzt ja dass ich Jan: ∟Ja ∟Das glaub ich kommt auch Dunja: jetzt=jetzt mit ’ner Frau was hatte , heißt jetzt nicht , dass ich die ganze Zeit lesbisch bleibe . Lisa: ∟Ja Jan: ∟Ja Dunja: sondern das heißt . boa . ich hab mal Bock drauf . so gesehen @@ @hab’s mal ausprobiert@ Catherina: ∟Ja .

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Lisa: Hat sich ergeben (.) hat mir gefallen . hat mir nicht gefallen . ja . Dunja: Ja . (Kamelien-Gruppe)

Auffällig ist hierbei Dunjas Betonung, dass es sich um ein Ausprobieren handelt, das nicht zwangsläufig in eine konstante Kategorisierung als homosexuell münden müsse – womit die unhinterfragte Einordnung als ‚eigentlich‘ heterosexuell implizit mitschwingt (vgl. auch Kap. 5.3.3). Ob sich damit generell gegen eine binäre Kategorisierung der sexuellen Orientierung gewendet wird, bleibt an dieser Stelle offen. So kann die Aussage als Ausblick dahingehend aufgefasst werden, dass sexuelle Praktiken und Orientierungen nicht mehr als die Individuen definierenden Konstanten dargestellt werden (sollten). Eine andere Lesart lautet, dass hier homosexuelle Erfahrungen denkbar werden (sollen), die aus der Sicherheit der Heterosexualität heraus gemacht werden können, ohne dadurch automatisch selbst zur_zum Anderen (nämlich homosexuell) zu werden.

5.2.2 Cis by choice, cis by chance – legitime Cis-Geschlechtlichkeit Die Erzählungen von geschlechtlicher Flexibilität und Selbstbestimmung zeigen sich auch dahingehend wirkmächtig, dass – zumindest in der reflexiven Thematisierung im Rahmen der Gruppendiskussionen – auch heteronormative Cis-Geschlechtlichkeit begründungs- oder legitimationsbedürftig wird. In der Folge wird die Selbstbestimmungserzählung, das zeigt sich an verschiedenen Stellen, auch herangezogen, um eine geschlechtliche Konformität zu begründen oder eine (stereo-)typische Geschlechtlichkeit zu rechtfertigen. Das kann zum einen, ähnlich wie in den Verhandlungen von Non-Konformitäten, über den Verweis auf die eigene Gender Agency, also die Fähigkeit, Geschlecht selbstbestimmt und selbstkontrolliert zu leben, herausgestellt werden, wie es etwa Caro betont: Ich finde jedes Mädchen hat halt irgendwo auch ’ne männliche Seite in sich . o-obwohl ich so’n Mädchen durch und durch bin ha- kann ich halt auch anders . ne (Caro, Oleander-Gruppe)

Diese Äußerung folgt auf eine positive Hervorhebung der überzeugenden Jungenperformance von Caro am Geschlechtertauschtag und unterstreicht, dass (auch) diese Geschlechtlichkeit im Rahmen ihrer Fähigkeiten liegt und aktiv und bewusst von ihr ausgefüllt werden kann. Im Umkehrschluss ist dann die eigene Geschlechterkonformität ebenfalls als bewusste Entscheidung zu fassen, die selbstbestimmt getroffen wird. Die Argumentation klingt ähnlich wie bei ihrer Mitdiskutantin 117

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Franziska (vgl. Kap. 5.2.1). Beide argumentieren, dass sie „halt auch“ anders können, wenn sie wollen. Während Franziska damit ihre alltägliche ‚Abweichung‘ vom Frauenbild legitimiert, bildet der Rekurs auf die Selbstbestimmungserzählung bei Caro die Legitimationsgrundlage dafür, „Mädchen durch und durch“ zu sein. In der Dahlien-Gruppe wird die Erfüllung von Geschlechterklischees ebenfalls als (möglicher) Ausdruck von Selbstbestimmung verhandelt: Iwona: Es gibt sicherlich Männer . die (.) dieses (.) Stereotyp wirklich verkörpern und sich damit wohlfühlen . und auch Frauen die einfach (.) gerne rosa tragen und gerne wasserstoffblonde Haare haben . das ist dann halt einfach so (.) und wenn die sich viel schminken möchten , dann sollen sie’s tun (.) aber es ist einfach wichtig auch (.) im Hinterkopf mindestens zu behalten . dass da (.) zwischen einfach noch sehr . sehr . sehr viel Platz ist und nicht einfach alles neben’nander gedrückt ist . Eske: Ja Iwona: Ja (Dahlien-Gruppe)

Diese Zuschreibung von Gender Agency im expliziten Bezug auf stereotype Geschlechtlichkeit dient hier allerdings (das machen auch die Worte „sicherlich“ und „aber“ deutlich) als Überleitung zur Hervorhebung eines erweiterten Geltungsbereiches der geschlechtlichen Selbstbestimmung im Sinne einer geschlechtlichen Vielfalt. Mit Bezugnahme auf die Selbstbestimmungserzählung öffnet Iwona damit den Raum des Denk- und Sagbaren sowohl für eine (explizit) legitime heteronormative als auch für intelligible ‚alternative‘ Lebensweisen. Der Entwurf einer selbstbestimmten Geschlechtskonformität findet jedoch in größerem Maße über einen weiteren Argumentationsstrang statt: Die vorrangige Form, der aus der Flexibilitäts- und der Selbstbestimmungserzählung erwachsenden ‚Notwendigkeit‘, auch Cis-Geschlechtlichkeit und Heterosexualität zu legitimieren, nachzukommen, scheint die zu sein, eine cis-geschlechtliche Seins- und eine heterosexuelle Begehrensweise als kontingente Produkte individueller und selbstbestimmter, aber geschlechtsneutraler Entscheidungen und Vorlieben zu fassen. Was Regine Gildemeister und Katja Hericks in Bezug auf die Auswahl der Beziehungspartner_innen ausführen, lässt sich in diesem Licht auch auf das geschlechtliche Selbstverhältnis ausweiten: „Partnerwahl heute […] gilt als ein ausschließlich individuelles Geschehen, das ganz und gar auf individuellen Vorlieben und Sehnsüchten beruht. […] Allein der Verweis auf ein soziales Muster scheint die Individualität als Person in Frage zu stellen und wird deshalb nachdrücklich von sich gewiesen […]. Die Konkurrenz von Individualitätsanspruch und Geschlecht verdeckt […] häufig, dass sich die Kategorie Geschlecht immer noch als Wahrnehmungsfolie und Verhaltenserwartung Bahn bricht“ (Gildemeister/Hericks 2012: 304).

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So erscheint Eskes Geschlechtskonformität vor dem Hintergrund der angenommenen individuellen Wahlfreiheit als rein zufällig: Also ich glaub . bei mir kam das sehr stark davon . dass (.) mir das alles angeboten wurde (.) ähm besonders durch meinen Bruder weil wir nicht weit auseinander sind . wir haben dann immer alles so zusammen (.) gemacht irgendwie . und dann hab ich mich (.) entschieden . mag ich das oder mag ich das nicht . und wenn ich’s nicht mochte , dann (.) hab ich eben mit meinem Bruder nicht Pirat gespielt sondern mit meinem Puppenhaus gespielt (.) und wenn ich darauf keine Lust hatte dann hab ich Fußball gespielt oder dann hab ich (.) äh irgendwelche männlicheren Filme gekuckt (1) also (.) ich finde es kommt mehr darauf an , man bekommt es angeboten und (.) man entscheidet sich dann dafür . was macht einem am meisten Spaß (.) und als Kind . macht man das ja noch ein bisschen unabhängig davon , ob man männlich oder weiblich ist . weil man das einfach nicht (.) man kennt’s ni=noch nicht so . wie wir das heute kennen . (Eske, Dahlien-Gruppe)

Hier wird die geschlechtliche Selbstbestimmung von Eske in der Weise erzählt, dass der eigenen Geschlechtszugehörigkeit keine Wirkungsmacht für die eigene Entwicklung zugesprochen wird („man entscheidet sich dann dafür . was macht einem am meisten Spaß. und als Kind . macht man das ja noch ein bisschen unabhängig davon , ob man männlich oder weiblich ist“) bzw. dass das eigene (vergeschlechtlichte) Sein ganz individuell und auf der Grundlage freier Entscheidungen ausgelebt wird („und dann hab ich mich (.) entschieden . mag ich das oder mag ich das nicht“). Dem Umstand, dass die ursprünglichen Spiel(zeug)-Zuordnungen sehr geschlechterstereotyp ausfallen (Eske spricht von ihrem Puppenhaus und dem Fußball- bzw. Piratenspiel mit ihrem Bruder), wird in Bezug auf die angenommene Wahlfreiheit dabei keine Rechnung getragen, vielmehr wird die egalitäre Erziehung betont. Ähnliches hat Sarah Speck in Interviews mit Eltern herausgearbeitet: „Die Individualisierung stellt eine entproblematisierende Deutungsstrategie angesichts des geschlechterstereotypen Spielverhaltens […] dar […]: Geschlechtstypische Muster gelten als Ausdruck einer individuellen Charaktereigenschaft“ (Speck 2019: 87); vor dem Hintergrund eines eigenen egalitären Anspruchs wird daraus die Orientierung „Geschlecht darf keine Rolle spielen“ (ebd.). Es wird also explizit nicht (mehr) in dem Sinne argumentiert: Weil ich ein Mädchen bin, habe ich gern mit Puppen gespielt, sondern: Ich hatte alle Wahlmöglichkeiten und habe trotzdem auch gern mit Puppen gespielt – folglich aus ganz individuellem Interesse heraus. Dabei zeigt sich, dass es sich bei den unterschiedlichen Perspektiven (bewusste oder zufällige Geschlechterkonformität) nicht um klar abgegrenzte Positionierungen handelt, sondern die Jugendlichen zur Hervorhebung der eigenen Selbstbestimmung – je nach Kontext – durchaus auf beide Argumentationen zurückgreifen, um ihre Position mit der Selbstbestimmungserzählung in Einklang zu bringen. Das betont

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auch Caro, die sich in der Oleander-Gruppe, wie oben bereits gezeigt, an vielen Stellen explizit als „Mädchen durch und durch“ präsentiert: Ähm (1) es ist einfach das was mir gefällt . und das leb ich dann aus in dem Moment und . denke gar nicht bewusst darüber nach ob das ’ne weibliche oder männliche Rolle ist sondern einfach das was ich mag (2) Ja (Caro, Oleander-Gruppe)

Die Rahmung der Geschlechtlichkeit als „weibliche oder männliche Rolle“ liest sich in diesem Zusammenhang anders als die offensive Positionierung als „Mädchen durch und durch“; hier scheint es Caro wichtig, sich von einer Anpassung an die mit dem Bild der Geschlechterrolle verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen und einer bewussten Orientierung an gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen oder -normen freizusprechen. Deren Einflüsse auf Geschlechtlichkeit und Sexualität werden in dieser Erzählung also stillgestellt – und zwar nicht, indem ihre Existenz explizit verneint wird, sondern durch die Betonung eines gegenüber diesen Einflüssen resistenten Selbst. Eske macht dies an einer weiteren Stelle der Diskussion in der Dahlien-Gruppe ein weiteres Mal deutlich: Eske: Ich glaub , dass . ich fühl mich . wohl mit dem ähm (.) äußeren Geschlecht , also mit dem ähm weiblichen biologischen Geschlecht und mit dem was damit verbunden wird von der Gesellschaft (.) deswegen ähm hab ich auch noch nie mir so darüber Gedanken gemacht wie beeinflusst das Emmy: ∟Mmmh Eske: überhaupt (.) mein (.) Leben . so ob ich jetzt männlich oder weiblich bin (.) aber an sich (.) denk ich schon , dass es so das (.) erste Bild von dem (.) von einem selber beeinflusst , was Leute von einem haben (.) aber im Endeffekt ähm (2) glaub ich . nja (.) bin ich schon relativ gefestigt darin , was ich gerne mag und was ich gerne mache , dass es mich glaub ich se=wenig beeinflusst ob das jetzt typisch männlich ist oder typisch weiblich (1) außer es kommt jetzt zu (.) Sportarten wie Rugby oder @sowas@ . @@ aber . ja sonst . ja (Dahlien-Gruppe)

Auch hier wird das äußere – als das weibliche biologische – Geschlecht diskursiv verhandelbar und die Übereinstimmung mit der (inneren) Geschlechtlichkeit durch den Verweis auf das eigene Wohlfühlen dargelegt. Zugleich reflektiert Eske darüber, dass die eigene Geschlechtskonformität (hier expliziert als Kohärenz zwischen Empfinden („Wohlfühlen“), dem „weiblichen biologischen Geschlecht“ und „dem, was damit verbunden wird von der Gesellschaft“) der Grund sein könnte, bisher noch nicht über mögliche Zusammenhänge zwischen dem eigenen Leben und der Geschlechtszugehörigkeit nachgedacht zu haben – was an dieser Stelle dann erfolgt. Dabei wird zwar einerseits eine Außenwirkung des eigenen Geschlechts eingeräumt („an sich (.) denk ich schon , dass es so das (.) erste Bild von dem (.) von einem selber beeinflusst, was Leute von einem haben“), andererseits werden

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eigene Vorlieben und Handlungen als weitgehend unabhängig von der eigenen Geschlechtszugehörigkeit gesehen.101 Der Fokus auf individuelle Neigungen und eine selbstbestimmte Orientierung in Verbindung mit einer angenommenen Entscheidungsfreiheit macht eine geschlechtstypische Ausprägung des Selbst damit zu einer zufälligen Angelegenheit und schließt zugleich gesellschaftliche Macht(ein-) wirkungen darauf weitgehend aus. In der Weiden-Gruppe klingt, analog zu Geschlecht, die Figurierung einer zufälligen Heterosexualität an, wenn Mirko, erneut auf rein gedanklicher Ebene, die eigene sexuelle Flexibilität beschreibt: Ja gut ich würd genauso was mit ’nem Mann anfangen (.) wie mit ’ner Frau (.) ich würd jetzt nicht mit ’nem Mann schlafen aber (2) ’s gibt auch schöne Männer . so is nicht (Mirko, Weiden-Gruppe)

Mirko scheint hier erneut auf die Entdramatisierung eines eigenen – wieder imaginierten – homosexuellen Verhaltens abzuzielen und betont zunächst, er würde „genauso was mit ’nem Mann anfangen“ (die heterosexuelle Fundierung wird dabei durch den Vergleich „wie mit ’ner Frau“ deutlich), wobei er dann ganz selbstverständlich und ohne weitere Erläuterung die Einschränkung hinzufügt, dass dies keinen Geschlechtsakt mit einem Mann beinhalten würde. Es zeigt sich ein schwieriger Spagat, den Mirko zu vollziehen versucht: Einerseits scheint es ihm, zumindest auf verbaler Ebene, sehr wichtig zu sein, für sich selbst eine selbstbestimmte und – zumindest theoretisch – vielfältige Sexualität zu proklamieren, andererseits besteht er auf seinen heterosexuellen Begehrensweisen, die er auch in der imaginierten Form beibehält. Die Lösung scheint hier zu sein, das eigene heterosexuelle Begehren als kontingente Entscheidung zu präsentieren – als selbstbestimmte Sexualität, die nur ‚zufällig‘ in heterosexuellen Bahnen verläuft. Als besonderer Clou der Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung entpuppt sich somit, dass sowohl geschlechtliche und sexuelle Non-Konformität als auch Konformität als explizit selbstbestimmt gerahmt werden (können). Auf die Verwerfungen und Ausschlüsse, die dessen ungeachtet jene Anderen treffen, denen eine unangemessene Geschlechtlichkeit zugeschrieben wird, wird in Kap. 5.4.4 eingegangen.

101 Als Ausnahme, in welcher der Geschlechtszugehörigkeit doch eine Bedeutung zugesprochen wird, wird von Eske der Bereich des Sports, und hierbei exemplarisch die Sportart Rugby, aufgeführt. Das wäre einer näheren Betrachtung wert, kann aber an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden (vgl. aber die Ausführungen zur polarisierten Zweigeschlechtlichkeit in Kap. 5.4.1). 121

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

5.2.3 Wo es bröckelt … Risse in der Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung Wenn auch in allen Gruppen durchgängig auf die Erzählung der Selbstbestimmung zurückgegriffen bzw. diese mitgestaltet wird, so scheinen dabei immer wieder Brüche und Leerstellen auf, welche die Entsprechung der in der Erzählung enthaltenen Selbstbestimmungsanrufung für die Jugendlichen als nicht so reibungslos erscheinen lassen, wie sie vordergründig entworfen wird. Die Artikulation dieser Widersprüche scheint, so machen die im Folgenden aufgeführten Beispiele deutlich, vor dem wirkmächtigen Selbstbestimmungsdiskurs nicht leicht zu fallen. I: Und was glaubt ihr , was es=was wäre wenn jetzt ähm (.) jemand . also jetzt ist ja die Schule für euch zu Ende . aber wenn trotzdem jemand jetzt nach dem (.) nach der Mottowoche weiterhin dann in diesem Geschlechtertausch-Outfit in die Schule käme? (2) Markus: @Hm@ Dunja: Ich glaub , erstmal würde man komisch kucken (.) auch selbst . auch wenn man gar nicht so (.) Lisa: ∟Mmmh Dunja: böse sein möchte . sag ich mal . aber (.) wenn man (.) ich mein wenn jetzt ’n Junge gemerkt Lisa: ∟Mmmh Dunja: hat dass er eigentlich lieber sich wie’n Mädchen anzieht . dann (.) soll er’s machen . soll selbst (.) seinen inneren Frieden damit finden . dann wird es auch von den anderen (.) akzeptiert (.) aber ich glaub das dauert bei unserer Gese=Gesellschaft vielleicht ’n bisschen (.) wahrscheinlich angs=anfangs wird er (.) ausgelacht und man wird mit dem Finger auf ihn zeigen . oder ihnCatherina: ∟Er ist dann halt schon außerhalb der Norm oder einfach so . Dunja: ∟Ja genau . ∟Aber es gibt immer Leute die ihn akzeptieren oder sie auch akzeptieren werden . und (.) das ist eigentlich (.) dass man versucht das halt (.) äm gar nicht so (.) schlimm zu sehen oder gar nicht so anders zu sehen als (.) wenn’s halt ist . oder er macht sich halt ’n Spaß draus und versucht uns alle einfach ein bisschen zu veräppeln @@ Markus: Ja ich glaube aus dem Grund (.) äh der Sorge . dass man dann nicht akzeptiert werden würde in so ’nem Fall macht man sich an so ’nem Tag dann . an diesem Geschlechtertagtausch gerade dann Dunja: ∟Mmmh Markus: auch so über sich selber so sehr lustig . damit man jetzt nicht den Anschein bei anderen erweckt , ok der macht das jetzt ernsthaft . der lässt das zu nahe an sich ran . der (.) der fühlt . d=der also der ist das jetzt richtig (.) in der Grundschule zum Beispiel hatte ich überwiegend weibliche F=Freunde in der Schule . ja da ist mein Onkel irgendwann nach der zweiten Klasse mal zu meinem Vater gegangen und hat gesagt pass auf , dat der Junge nicht schwul wird . das ist einfach so Jan: ∟ @@ Lisa: ∟@@@ Markus: das=das wird nicht akzeptiert bei uns in der Gesellschaft und äh (.) ja (.) das wär komisch Lisa: ((leises Kichern)) Markus: und (2) man sagt dann zwar (.) soll er machen , aber ähm grundlegend ist das glaub ich eher Dunja: ∟Ja .

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Catherina: ∟Mmmh Markus: so ’ne Grundhaltung so , das ist jetzt irgendwie falsch eigentlich . Jan: Ja . (Kamelien-Gruppe)

Die Antwort auf die Frage der Interviewerin nach den Reaktionen der Jugendlichen der Kamelien-Gruppe auf eine Person, die den Geschlechtertausch auch außerhalb des Anlasses der Mottowoche weiterführen würde, erscheint vor dem Hintergrund der in den Diskussionen häufig beobachteten deutlichen rhetorischen Hervorhebung der eigenen Offenheit überraschend, wenn nicht gar erfrischend, direkt bzw. ungefiltert („erstmal würde man komisch kucken (.) auch wenn man gar nicht so böse sein möchte“). Auch hier wird also die eigene Toleranz betont, allerdings lediglich als Anspruch, der in der konkret imaginierten Situation im ersten Moment, so die hier geäußerte Vermutung, nicht unbedingt eingelöst werden kann. Was dann folgt, lässt sich als ein Lavieren zwischen der Bezugnahme auf einen Soll- und einen Ist-Zustand im Hinblick auf geschlechtliche Selbstbestimmung beschreiben: Auf der einen Seite formuliert Dunja das selbstbestimmte Ausleben der eigenen (inneren) Geschlechtlichkeit als normative Anrufung („dann (.) soll er’s machen“), was dann automatisch zu einer allgemeinen Akzeptanz führen würde. Auf der anderen Seite werden aber im unmittelbaren Anschluss gesellschaftliche Sanktionen als Folge dieser Abweichung von der Norm aufgezählt. Hier scheinen der eigene Toleranzanspruch und die Einschätzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in einem Widerspruch zu kollidieren, der von Dunja auch in den darauffolgenden Versuchen („aber es gibt immer Leute die ihn akzeptieren oder sie auch akzeptieren werden und (.) das ist eigentlich (.) dass man versucht das halt (.) äm gar nicht so (.) schlimm zu sehen oder gar nicht so anders zu sehen“) nicht gänzlich gelöst werden kann. Auch in der Passage zu Homosexualität, die Markus mit dem Bericht einer eigenen biografischen Kindheitserfahrung einleitet (und damit die bisher durch die Mitdiskutant_innen eingenommene ‚unbetroffene‘ Perspektive auf gewisse Weise durchbricht), in der innerhalb seiner Familie die Sorge formuliert wird, dass er „schwul wird“, wird von ihm, unter allgemeiner Zustimmung der übrigen Diskussionsteilnehmenden, in Bezug auf die Anrufung der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung zwischen einem normativen Idealzustand und der Realität differenziert, denn, so Markus, „man sagt dann zwar, soll er machen“ (gemeint ist hier die Auslebung der Homosexualität), aber tendenziell sei die „Grundhaltung so , das ist jetzt irgendwie falsch eigentlich“. Hier wird also die Anrufung der (homo)sexuellen Selbstbestimmung mit dem Verweis auf gesellschaftlich verankerte Homophobie kritisch infrage gestellt.

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In der Iris-Gruppe gerät die Stabilität der Selbstbestimmungserzählung ebenfalls ins Wanken, als diskutiert wird, ob das Rocktragen, das von den Jungen der Gruppe am Geschlechtertauschtag als äußerst bequem herausgestellt wird, für diese auch im Alltag infrage käme. Sebi: Also wär’s=wär’s mir halt total scheißegal was halt . alle andern Leute denken . also was (.) teilweise halt auch so ist (.) aber so weit ist es noch nicht . dass ich dann auch- ähm dass ich noch=dass ich schon ’n Rock trage . tragen würde . so . @@ (verschämtes Lachen) Ian: Das geht auch erst wenn (.) wenn RTL abgesägt wird . Sebi, Jesko: @@ I: Warum? Warum wär’s nicht scheißegal? Und warumSebi: ∟Ja wie gesagt . weil (2) einerseits denk ich so (.) kann ja eigentlich scheißegal sein was alle Leute denken so aber andererseits ist es dann=dann doch nicht so . ne? @@ keine Ahnung Ian, Jesko: @@ I: Und was=was meint ihr , was kämen da sonst für Reaktionen? (3) Andrea: Dumme Blicke. Max: Empörung. Denise, Ian: @@@ Sebi: ∟Empörung. ja. @@ Jesko: ∟Man muss ja mal kucken , so Ian, Andrea: @@ Sebi: ∟>@Der zieht sich an wie ’ne Frau.@< (hänselnder Tonfall) Andrea: ∟@ Jesko: Macht du es=machst du es alleine so , wirst du auch gefragt so: >he, warum bist du denn so , Ian: ∟@@ Jesko: häh bist du Transe was?< (abwertender Tonfall) Andrea: Dann heißt es wahrscheinlich bist du schwul oder so . Jesko: Ja . bist schwul , bist Transe , oder sonstwas (.) Transe , kommt sowas halt . (Iris-Gruppe)

Hier offenbart sich ein innerer Konflikt, dessen Offenlegung von Sebi mit einem verschämten Lachen begleitet ist, was darauf schließen lässt, dass dessen Reflexion bzw. Artikulation Überwindung kostet: Einerseits betont Sebi, dass ihm die Meinung anderer „halt total scheißegal“ wäre, aber er schränkt dies dann selbst im Hinblick auf die vorgestellte Abweichung von der vergeschlechtlichten Kleidungsnorm ein. Hier treffen also der eigene Anspruch auf Selbstbestimmung (auch) in Bezug auf die eigene Geschlechtlichkeit – hier in Form der vergeschlechtlichten Praktik des Sich-Kleidens – und das Gefühl, auch Normen bzw. dem Bedürfnis der Anerkennung durch Dritte unterlegen zu sein, in Sebi aufeinander. Auf Nachfrage der Interviewerin wird von Sebi erneut der vorher bereits genannte Widerspruch verbalisiert, ohne diesen allerdings auflösen zu können bzw. ohne konkret benen-

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nen zu können, warum das, „was alle Leute denken“, als wirkmächtiger empfunden wird als der eigene Anspruch, sich selbstbestimmt darüber hinwegzusetzen. Die von den Jugendlichen auf die anschließende Frage der Interviewerin nach erwarteten Reaktionen auf das alltägliche Tragen non-konformer Kleidung gegebenen Antworten machen dann eine als selbstverständlich angenommene Sanktionierung dieser Abweichung deutlich: Neben „Empörung“ lassen auch die in diesem Kontext pejorativ zu interpretierenden Zuschreibungen „Transe“, „schwul“ und „wie ’ne Frau“ darauf schließen. Diese als Äußerungen Dritter wiedergegebene stigmatisierende Position wird von den Jugendlichen an dieser Stelle zwar nicht explizit geteilt, aber, das zeigt auch die sich hier entfaltende Dichte und Entschiedenheit der Wortbeiträge, erscheint gedanklich und verbal problemlos abrufbar. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Gesprächsteil über Trans*, der ein wenig später in derselben Gruppe stattfindet (vgl. Kap. 5.2.1), als nicht so widerspruchsfrei lesen, wie auf verbaler Ebene dargestellt: I: und könntet ihr euch vorstellen, dass das aber auch mehr als ’ne Verkleidung wär, also jetzt nicht unbedingt für euch einfach grundsätzlich, wenn jetzt jemand weiterhin so auftauchen würde, und sagen würde, ich bin jetzt, (2) Andrea: Dann ist er halt transsexuell Ian: ∟Ja warum denn nich? (.) Also davon kenn ich schon genug. Jesko: Wenn das so Leute sind die sich darin wohlfühlen . gerne. also wenn- Max wenn du dann doch mal irgendwann dein Frauenkostüm findest und du dazu stehst, dassIan, Sebi: ∟@@@ Max: ∟Ja wenn=wenn sich jemand outet und sagt . ich fühl mich wohler in Frauenklamotten . und ich fühl mich wohl im Frauenkörper . soll er gerne machen . Jesko: ∟Völlig in Ordnung ∟Auf jeden Max: Also wirklich. Ian: Gar kein Thema Sebi: Ja. Max: Es ist jedem selbst überlassen . wie er das gerne machen möchte (.) und das ist mir scheißegal . (Iris-Gruppe)

Während im vorherigen Diskussionsteil das von Sebi formulierte Eingeständnis erfolgte, sich in den eigenen Kleidungspraktiken zur Vermeidung von Abwertungen und Sanktionen an bestehende Geschlechternormen anzupassen, scheinen nun, wo es um die Adressierung der geschlechtlichen Selbstbestimmung Dritter aus der Sicherheit der Heterokonformität heraus geht, dieser soziale Druck und die erwarteten Konsequenzen der Abweichung gänzlich ‚vergessen‘. Das Herausstellen der eigenen Offenheit gegenüber geschlechtlicher Vielfalt und das damit verbundene Anknüpfen an die Selbstbestimmungserzählung scheinen hier auf Kosten der Anerkennung gesellschaftlicher Zwänge und normativer Einschränkungen zu gehen. 125

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Zudem lässt sich neben der betonten Offenheit eine in der Praxis der Diskussion vollzogene Abwertung von Trans* ausmachen: So wird von Jesko in der konkreten Bezugnahme auf Mitdiskutant Max vordergründig die eigene Akzeptanz gegenüber einem – hier nur angedeuteten – imaginären Trans* Sein von Max hervorgehoben. In diesem Kontext und durch die Rahmung durch allgemeines Gelächter ist jedoch nicht zu übersehen, dass diese Aussage auch als scherzhafte Provokation gegenüber Max (der als Einziger der Runde nicht verkleidet zum Geschlechtertauschtag gekommen ist) gemeint ist; die Trans* Person wird so zur Witzfigur degradiert. Bei genauerem Hinsehen lässt sich somit, das verdeutlicht dieser Auszug exemplarisch, auf rhetorischer Ebene (und im praktischen Vollzug der Diskussionsteilnahme) stellenweise eine subtile Abwertung nicht-heterokonformer Geschlechtlichkeit und Sexualität beobachten, die hier über Trans* als das verworfene Andere verläuft. Dies kann aber zugleich – das ist allen hier untersuchten Gruppen gemeinsam – nur auf der Folie der Toleranzproklamation formuliert werden. Selbst wenn also Beiträge der Jugendlichen implizit auf eine Abwertung nicht-heterokonformer Geschlechtlichkeit oder Sexualität hindeuten, wird auf der verbalen Ebene die eigene Toleranz plakativ konstatiert (vgl. auch Kap. 5.2.4). Auch in der Weiden-Gruppe findet die von René vorgenommene Skizzierung erwarteter Konsequenzen von Abweichungen von der vergeschlechtlichten Kleidungsnorm wenig Gehör – und kollidiert darüber hinaus mit der an einer früheren Stelle durch Mitdiskutant Mirko abgegebenen Gegenwartsbeschreibung einer toleranten Gesellschaft („aber mittlerweile ist es ja so, dass es alles eigentlich (.) naja (.) recht offen geworden ist. (.) dass quasi jeder alles tragen kann“): René: Es ist Norm , dass Frauen auch im (.) Rock zur Arbeit kommen dürfen wenn’s warm ist (.) es ist Norm , wenn=dass Frauen weiß ich nicht (.) Stöckelschuhe . High Heels und alles wunderschöne (.) was vielleicht auch (.) mir stehen würde @ tragen dürfen (.) und (.) es ist nicht die Norm , dass Jungs das tun (.) ich mein (.) wenn ich jetzt im Minirock so durch die Straße gehe , würd ich wahrscheinlich Mirko: ∟Na gut du könntest René: hier in [Name der Kleinstadt] verprügelt . @@ Mirko: Na ja du könntest ’n Schottenrock anziehen . das wär was anderes . @@ René: Das ist zum Beispiel wieder was ganz anderes . Mirko: Ja . das , René: ∟@Das ist ja extra ’n Rock für Männer@. Mirko: @ja das ist Tradition@ das ist ja wieder ’n Traditionsding (.) da kannst du ja Tradition pflegen und Schottenrock tragen @@ (Weiden-Gruppe)

Hier fallen zunächst die drastischen Sanktionen auf, die René im Gedankenspiel als Reaktion der Umwelt in seiner Heimatstadt auf das eigene Tragen von Frauenkleidung im Alltag entwirft, und zwar in Form von physischer Gewalt („würd ich

5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

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wahrscheinlich hier in [Name der Kleinstadt] verprügelt“). Was die Dramatik der Aussage verschärft, ist die Wiedergabe in der 1. Person, womit sich die Darstellung von der in den übrigen Gruppen mehrheitlich erfolgten Imagination geschlechtlicher und sexueller Abweichungen – und daraus resultierender Abwertungen – aus ‚unbetroffener‘, distanzierter dritter Perspektive unterscheidet. Die Äußerungen lassen sich so auch vor dem Erfahrungshintergrund tatsächlich erlebter – und in der Diskussion berichteter – eigener Diskriminierungen aufgrund einer nichtheterokonformen Geschlechtlichkeit und Sexualität lesen,102 die von René nicht durch einen allgemeinen Toleranzappell und die Anrufung der geschlechtlichen Selbstbestimmung weggeredet werden (können). Hier wird zudem (körperliche) Verletzbarkeit auch im Hinblick auf Männer diskutiert, während diese Thematik in den übrigen Gruppen, wenn überhaupt, ausschließlich in Bezug auf Frauen (als potenzielle Opfer und daraus resultierend speziell schutzbedürftige Individuen) verhandelt wird. Was ebenfalls ins Auge fällt, ist Mirkos indifferente Reaktion auf die geschilderten (gleichwohl lediglich imaginierten) Sanktionen: Er geht darauf nicht ein, sondern stellt Überlegungen dahingehend an, wie das hier vergeschlechtlichte Kleidungsstück (der Rock) doch noch zu einem männlich konnotierten werden könnte (nämlich als Schottenrock), und scheint damit der Diskussion um weiterhin existente Diskriminierungen auszuweichen. Noch deutlicher wird dies im folgenden Dialog in derselben Gruppe; hier zeigt sich exemplarisch, wie die Dominanz der (bzw. einer bestimmten) Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung zur Unterdrückung derjenigen Stimmen führen kann, die sich nicht reibungslos in diese Erzählung einfügen (lassen): I: Und hier an dem Tag habt ihr gesagt , oder hast du gesagt . früher . habt ihr euch (.) wohlgefühlt so (.) aber es wär jetzt trotzdem (.) nicht (.) würde daraus nicht entstehen dass ihr auch an anderen Tagen so rumlauft , obwohl ihr euch da so wohlgefühlt habt? Mirko: ∟@Mhmhmh@ (zustimmendes akustisches Schmunzeln)

102 René berichtet im Nachgespräch im Anschluss der Diskussion von der homosexuellen Beziehung, in der er zu diesem Zeitpunkt lebt. Während der Diskussion wird er zwar von Mirko, nicht aber durch sich selbst explizit als homosexuell positioniert, weshalb auch in dieser Untersuchung die vereindeutigende Einordnung Renés als homosexuell vermieden wird. Dennoch scheint es aufgrund der von René in Verbindung mit eigener geschlechtlicher und sexueller Nicht-Konformität gemachten und in die Diskussion eingebrachten Erfahrungen für die Nachvollziehbarkeit der Interpretation wichtig, zu verdeutlichen, dass es sich hierbei, anders als bei vielen anderen Diskussionsteilnehmenden, nicht um rein imaginierte Abweichungen und Reaktionen handelt, sondern diese mit konkreten Erfahrungen aufgrund einer nicht-heteronormativen Seinsweise in Zusammenhang stehen. 127

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

René: Ähm (2) ich sag mal ganz ehrlich (2) ich würde es tun (.) ich würd es tun . klar (.) ich=ich f=find es sowieso komisch . oder . halt ’n bisschen (.) ich würd mich auch gerne schminken (.) obwohl ich’s nicht (.) vielleicht schwul bin . Mirko: Warum tust du’s nicht? René: Ja . das ist die Sache . warum tut man’s nicht (.) und genau sind wir an dem Punkt (.) warum? Mirko: ∟Ja ich tu’s . René: Warum? Mirko: Ich tu’s . Weißt du . René: ∟Ja (2) richtig (.) aber ich weiß nicht (.) irgendwie (.) ist das halt dieses=dieses unterbewusste Lenken (.) so ich mach es nicht , weil ich weiß , dass mein=mein Sozialleben (.) eingeschränkt wird dadurch (.) oder ich . oder ich vielleicht vieles verliere , was ich mir aufgebaut Mirko: ∟ Tja, meins nicht ich hab drauf geschissen René: habe , aufgrunddessen dass die Leute in unserem . oder meiner oder eurer Umgebung diese Meinungen teilen wie dieser Familienvater in dem Stadtpark103 zum Beispiel . Mirko: Is nicht ok . darfst du nicht . René: ∟Da=darfst du nicht . is nicht ok . Mirko: ∟Und du . du machst es dann nicht . René: ∟Und du machst es niMirko: ∟Und du, du, du machst es dann nicht . René: Ich mach es dann nicht . Mirko: ∟Warum machst du’s dann nicht? René: Weil ich haltMirko: ∟Weil du nicht negativ auffallen willst . wenn’s grad mal nur spaßeshalber ist René: Nee weil ich mir halt . d=d=d=da kommen zum Beispiel auch s=solche Gedanken wie , ja das klingt jetzt extrem hart . aber Existenzängste zum Beispiel . Mirko: >Existenzängste< (spöttisch) René: Hast du dir mal überlegt wie es ist , als Schwuler im Kindergarten zu arbeiten? (.) Das geht nicht (.) wenn die das herausfinden , werfen die dich raus (.) Mirko: Kein Scheiß? René: Das ist kein Scheiß . Mirko: He , das ist genauso wie mit dem Blutspenden . René: Richtig . du darfst als Schwuler auch kein Blut spenden. Mirko: >haaa< (empört) (Weiden-Gruppe)

Anknüpfend an die positiven Erfahrungen am Geschlechtertauschtag ‚gesteht‘ René („ich sag mal ganz ehrlich“) die grundsätzliche Bereitschaft bzw. den Wunsch, auch im Alltag eine weiblich konnotierte (Selbst-)Inszenierung vorzunehmen. Durch seine Formulierung („würde“) hebt er zugleich hervor, dass dies keine realistische Option 103 Zuvor hatte René von einem Erlebnis am Geschlechtertauschtag berichtet, an dem ein Vater sein Kind bei einer zufälligen Begegnung mit René und einem ebenfalls verkleideten Stufenkameraden im Park mit den Worten „rede nicht mit diesen Menschen, die sind nicht normal“ davon abgehalten habe, sich ihnen zu nähern.

5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

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für ihn darstellt – und führt als Gründe konkrete Diskriminierungserfahrungen und -ängste bei geschlechtlicher oder sexueller Non-Konformität an. Mit dem Verweis auf Momente eigener geschlechtlicher Abweichung unter Inkaufnahme sozialer Sanktionen104 („ich tu’s“; „ich hab drauf geschissen“) entwirft Mitdiskutant Mirko als Reaktion eine hierarchisierte Gegenüberstellung zwischen ihm als im Hinblick auf eine (Geschlechter-)Inszenierung selbstbestimmt und René als an Geschlechternormen angepasst. Zentral ist in dieser gesamten Passage das konfligierende Aufeinandertreffen von individualisierender und struktursensibler Perspektive und ein sich darin offenbarendes deutliches Machtgefälle. So wechselt René in der Suche nach Begründungen für das Nicht-Ausleben des von ihm geäußerten Wunsches von der 1. in die 2. bzw. 3. Person und damit in die verallgemeinernde indefinite ‚du‘- bzw. ‚‚man‘-Form („warum tut man’s nicht?“; „du machst es dann nicht“), womit er den diskutierten Konflikt (und auch damit verbundene persönliche Erfahrungen) als ein überindividuelles Problem rahmt, das nicht nur ihn betrifft. Dadurch verdeutlicht er auch, dass die Gründe nicht in seiner Person, sondern – das lässt sich aus dem Verweis auf sein Sozialleben und seine beruflichen Perspektiven ableiten – auf gesellschaftlicher und struktureller Ebene zu suchen sind. Mirko hingegen hebt immer wieder auf eine rein subjektive Ebene ab und drängt René durch wiederholtes und nachdrückliches Beharren auf einem persönlichen, definiten „Du“ („du . du machst es dann nicht“) dazu, eine rein subjektive Perspektive einzunehmen, in die dieser sich letztlich ‚ergibt‘ („ich mach es nicht“). Dies führt in der Folge dazu, dass René einem Legitimationsdruck ausgesetzt ist, der aus der individuellen Verantwortungszuschreibung erwächst, die eigene Geschlechtlichkeit selbstbestimmt zu gestalten und ungeachtet sozialer Normen auszuleben. Doch auch die individuelle Begründungsebene nutzt René, um auf gesellschaftliche Faktoren und strukturelle Machwirkungen („Existenzängste“; „hast du dir mal überlegt wie es ist als Schwuler im Kindergarten zu arbeiten?“) hinzuweisen, muss sich dabei jedoch in mehreren Anläufen gegen hartnäckige Zurückweisungsversuche Mirkos durchsetzen: Mirkos Orientierung an der Erzählung der Selbstbestimmung scheint hier so wirkmächtig, dass er selbst ganz konkrete Diskriminierungserfahrungen seines Freundes René zunächst nicht und dann nur widerstrebend als solche anerkennen kann. Es lässt sich hier auch die Lesart einnehmen, dass beide Jugendliche – auf unterschiedliche Weise – an die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung anknüpfen: Mirko, indem er auf das selbstbestimmte Widersetzen gegenüber gesellschaftlichen Geschlechternormen pocht; René, indem er die Antizipierung gesellschaftlicher Sanktionen und deren aktive Vermeidung durch eine entsprechende 104 Hier scheint Mirko auf seine bereits erwähnte ‚Schminkphase‘ anzuspielen. 129

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Ausrichtung bzw. Regulierung seiner eigenen Geschlechtlichkeit und Sexualität als selbstbestimmten Umgang mit einer diskriminierenden Umwelt rahmt („ich mach es nicht , weil ich weiß , dass mein=mein Sozialleben (.) eingeschränkt wird dadurch (.) oder ich oder ich vielleicht vieles verliere , was ich mir aufgebaut habe“). Auffallend ist zudem, dass René seinen in irrealer Form artikulierten Wunsch, sich auch im Alltag zu schminken, direkt mit der Einschränkung versieht, „obwohl ich’s nicht vielleicht schwul bin“. Er setzt damit die Assoziationen von weiblicher Inszenierung (durch Männer) mit Homosexualität voraus und es scheint ihm wichtig zu sein, sich hiervon abzugrenzen – allerdings nicht, indem er homosexuelles Begehren strikt von sich weist, sondern, so lässt sich an dieser Stelle interpretieren, um zu betonen, dass diese Verbindung nicht zwangsläufig gezogen werden sollte. Dies impliziert die Zielvorstellung, sich geschlechtlich (auch) nicht-konform inszenieren zu können, ohne dass dies von anderen automatisch mit einer bestimmten sexuellen Orientierung in Verbindung gebracht werden würde. Auch mit Blick auf Normierungszwänge innerhalb eines heterosexuellen, cisgeschlechtlichen Seins scheint der Selbstbestimmungsdiskurs Unsagbarkeiten bzw. ‚Schwersagbarkeiten‘ zu produzieren. So etwa, als in der Oleander-Gruppe Geschlechterklischees, die am Geschlechtertauschtag bewusst zitiert würden, diskutiert werden, woraufhin die Interviewerin mit Blick auf den Alltag der Jugendlichen fragt: I: Hat das dann mal hat das auch irgend’nen . Einfluss? Franziska: Eigentlich nicht nee Caro: Also bei mir erst recht nicht wie gesagt ich bin . Mädel durch und durch (.) und Helen: ∟Also dass wir jetzt irgendwas Weibliches spielen oder so . Ja (.) ich glaub schon wenn ich jetzt irgendwie . feiern gehe oder so dass ich dann (.) Caro: ∟Nee Helen: Ja ich bin halt nicht so dass ich jetzt so in der Öffentlichkeit auch mit hohen Schuhen durch die Gegend (1) tackeln würde oder so Caro ist da schon anders , aber @@ ne , das bin dann auch nicht Caro: ∟@ ∟Mpph Helen: so richtig . ich (.) oder . ja . Franziska: Ja also . bei mir geht’s in erster Linie darum . also ich will mich . eigentlich . nicht verstellen ich mag’s nicht irgendwie , und äh deswegen . also ich f- mach mich auch wirklich gerne mal schön ich zieh auch mal gern ’n Kleid an . das bin auch in dem Moment dann wirklich ich weil ich das in dem Moment gerne mache . aber ich würd’s jetzt . nie irgendwie so machen . also . bei mir ist Caro: ∟Ja Franziska: es . tagesabhängig wie ich mich fühle auf was ich Lust hab . und deswegen . mach ich das eigentlich nicht mit dem Klischee also . wenn ich mich mal wirklich auch richtig schön schminken Caro: ∟Mmh Franziska: möchte >ja ok dann mach ich das halt auch< (mit höherer Stimme) (.) aber sonst nö ist mir das relativ egal dann ist mir auch die Meinung von den anderen eigentlich auch relativ egal ob

5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

131

die mich jetzt als (.) ja vollwertiges Mädchen ansehen oder nicht . aber . das . Ich-selbst-Sein ist mir dann schon wichtiger als mit irgendwelchen Klischees zu spielen definitiv (Oleander-Gruppe)

Helen nimmt die durch die Frage der Interviewerin intendierte Reflexionsanregung auf und benennt Situationen, in denen, analog zum Geschlechtertauschtag, die ‚eigene‘ (Cis-)Geschlechtlichkeit ebenfalls bewusst inszeniert wird – „also dass wir jetzt irgendwas Weibliches spielen oder so“. Dabei hat sie es allerdings schwer, Anerkennung für ihre Argumentation zu finden, in der sie es ‚wagt‘, auch Momente ‚nur‘ gespielter Weiblichkeit (hier das Tragen hoher Schuhe anlässlich von Feiern) zu formulieren. Franziska und Caro stellen dem ihre selbstbestimmte Geschlechtlichkeit als absolut gegenüber und verwehren sich gegen jegliche Zuschreibung einer Anpassung an Geschlechternormen oder -klischees – als solche scheint die von Helen thematisierte Weiblichkeitsinszenierung hier von den beiden verhandelt zu werden.105 Auffallend ist, dass alle Gruppenmitglieder in ihrer Argumentation auf ein authentisches Selbst (vgl. Kap. 5.3.3) zurückgreifen – Helen, um ihre Abgrenzung von der ‚klassischen‘ Weiblichkeitsinszenierung zu rechtfertigen („das bin dann auch nicht so richtig . ich“), Caro („wie gesagt ich bin . Mädel durch und durch“) und Franziska („das bin auch in dem Moment dann wirklich ich weil ich das in dem Moment gerne mache“), um ihre eigene Selbstbestimmung hinter der Weiblichkeitsinszenierung zu betonen. Auch in der Hasel-Gruppe wird eine Wirkmächtigkeit von Geschlechternormen von Lina nur vorsichtig artikuliert: Auch so=so in der Gesellschaft irgendwie (.) dass ich ’ne Frau bin , das ändert ja schon vieles so . weil (.) Gleichberechtigung . hab’n wir ja eben schon drüber geredet . ist halt nicht (.) immer noch nicht so (.) präsent wie es (.) sein könnte oder sollte und deswegen ist es für mich schon irgendwie was anderes ’ne Frau zu sein , als wenn ich jetzt ’n Typ wär (.) weil auch so . so klar . ich will jetzt nicht unbedingt jedes Klischee erfüllen . aber trotzdem hat man ja so seine Rolle , in die man sich so’n bisschen (2) nicht einfügen muss , aber (.) automatisch irgendwie einfügt . und (.) also so seh ich das (Lina, Hasel-Gruppe)

Lina stellt hier Bezüge zwischen Gesellschaft und ihrem Frausein her und macht in diesem Zusammenhang auf die noch nicht ‚so präsente‘ Gleichberechtigung aufmerksam, die für ihr geschlechtliches Sein Folgen habe – welche das sind, bleibt

105 Hier deutet sich bereits die Gratwanderung an, die für eine erfolgreiche, aber nicht zu aktiv inszenierte heteronormative Weiblichkeitsperformance gelingen muss, worauf in Kap. 5.4.4 vertiefend eingegangen wird. 131

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

in dieser vagen Formulierung unausgesprochen. Sie bringt damit aber die gesellschaftliche mit der individuellen Ebene zusammen und zieht somit strukturelle Faktoren als entscheidend für ihr vergeschlechtlichtes Selbst heran. Die Artikulation scheint aber, wie etwa das häufig verwendete „irgendwie“ und „so“ sowie der Abschluss der Passage durch ein relativierendes „also so seh ich das“ vermuten lassen, nicht leicht zu fallen; auch das schlussfolgernde Zugeständnis an eine Anpassung an Geschlechternormen erhält dadurch eine eher zaghafte Form („so klar . ich will jetzt nicht unbedingt jedes Klischee erfüllen . aber trotzdem hat man ja so seine Rolle , in die man sich so’n bisschen (2) nicht einfügen muss , aber (.) automatisch irgendwie einfügt“). Auch hier tritt also der Zwiespalt zwischen dem Eingeständnis, (auch) sozialen Geschlechtererwartungen („seine Rolle“) zu entsprechen, und dem Anspruch, sich dennoch nicht als völlig fremdbestimmt aufzufassen, zutage.

5.2.4 Das Paradox der tolerierenden Ablehnung Die Selbstbestimmungserzählung scheint für die Jugendlichen, das wurde bereits sichtbar, untrennbar mit einer Toleranzanrufung verbunden: Toleriert wird, was aus Selbstbestimmung erfolgt. Dies kann, wie bei Caro in der Oleander-Gruppe, zur gleichzeitigen Artikulation widersprüchlicher Positionierungen führen: Ich find es momentan ’ne sehr . starke (.) Entwicklung zu . dass die Grenzen überschwemm- also . beispielsweise super Conchita Wurst , das is’n Mann der sich weiblich fühlt , ich habe da keine Vorurteile gegenüber also jetzt bitte nicht falsch verstehen . ich finde es persönlich nicht gut , das ist ’ne persönliche Meinung , aber ähm . ich verurteile diese Menschen nicht . aber es ist halt in unserer Gesellschaft (.) was . ich finde in den letzten (1) paar Jahren so wirklich . sehr krass sich entwickelt hat (Caro, Oleander-Gruppe).

Caros die Passage eröffnende, aber von ihr selbst abgebrochene Einschätzung, „dass die Grenzen überschwemm-“ hebt auf (binäre) Geschlechtergrenzen ab und impliziert eine Ablehnung der in diesem Zusammenhang konstatierten Erosion, was wiederum der Flexibilitätserzählung entgegenstehen würde – und möglicherweise genau deshalb auch nicht gänzlich sagbar scheint.106 Wenig später führt Caro dies weiter aus:

106 Die Wortwahl erinnert zudem an den aktuellen Flüchtlingsdiskurs und lässt, so wäre zu interpretieren, auf ein allgemeines Unbehagen dahingehend schließen, dass, in dieser Perspektive, eine ‚Normalität‘ auf den verschiedensten Gebieten ins Wanken gerät.

5.2 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung

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Ich verurteile die Menschen nicht , also . ich bin der Meinung jeder Mensch soll . das aus sich machen was er möchte , aber . ähm (.) ich persönlich finde es nicht gut ich bin in einer christlichen Familie großgeworden , und ähm . und ich lebe den Glauben auch , und für uns gibt es halt wirklich . Ehe Mann Frau und das soll auch so eingehalten werden . ähm . in dem Bild bin ich aufgewachsen das Bild find ich richtig , und . ich bin trotzdem der Meinung , jeder Mensch soll das aus seinem Leben machen was er möchte , aber ähm (.) ja ich v- ich versteh’s nicht und ich . find das auch nicht gut . das muss ich dazusagen . aber es ist ’ne persönliche Meinung und . ich respektiere alle Menschen die da irgendwas anderes zu sagen also (Caro, Oleander-Gruppe)

Hier erfolgt mit wiederholtem, fast wortgleichem Rekurs auf die geschlechtliche Selbstbestimmung („jeder Mensch soll . das aus sich machen was er möchte“; „jeder Mensch soll das aus seinem Leben machen was er möchte“) die rhetorische Betonung der Toleranz gegenüber nicht-heterokonformer Seinsweisen – wofür exemplarisch Conchita Wurst herangezogen wird107. Diese Toleranzversicherung scheint dann das Sagbarkeitsfeld auszuweiten, sodass im Anschluss die eigene Geringschätzung geschlechtlicher Abweichungen artikuliert werden kann, die, ebenfalls wiederholt, als (‚selbstbestimmte‘) „persönliche Meinung“ herausgestellt und dadurch (als Ausdruck der eigenen Selbstbestimmung) legitimiert wird. Caro vollzieht also den Spagat zwischen zwei widersprüchlich anmutenden Positionen – einer Toleranzproklamation gegenüber geschlechtlicher Vielfalt und zugleich deren Abwertung. Im Rahmen der Selbstbestimmungserzählung lässt sich aber für Caro beides parallel vereinbaren, sodass dieser Widerspruch von ihr nicht aufgelöst und ihre eigene Position zugleich nicht zur Diskussion gestellt werden ‚muss‘.108 Auch in der Linden-Gruppe werden von Samuel eine tolerierende und eine kritische Position in Bezug auf Trans* parallel verhandelt, allerdings mit einer anderen Auflösung:

107 Die Person hinter der Kunstfigur „Conchita“ (die bis 2015 unter dem Namen Conchita Wurst auftrat und 2014 den „Eurovision Song Contest“ gewann), Thomas Neuwirth, nutzt in der Figur Conchita weibliche Personalpronomen und definiert sich als Privatperson als (cis-)männlich, wird aber in den Diskussionen häufig als Beispiel für Trans herangezogen. 108 In Caros Äußerungen fällt zudem auf, dass sie das von ihr vertretene heteronormative Geschlechterkonzept nicht absolut setzt, sondern als eine (gruppenspezifische) Auffassung darstellt, die sie auf ihren christlichen Glauben zurückführt („für uns gibt es halt wirklich . Ehe Mann Frau“), wobei der normative Charakter dieses Konzepts deutlich wird („und das soll auch so eingehalten werden“; „das Bild find ich richtig“). In mehreren Diskussionsgruppen werden exkludierende heteronormative Geschlechtervorstellungen mit dem Christentum in Verbindung gebracht; dies wäre einer näheren Betrachtung wert, wird aber im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiterverfolgt. 133

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Samuel: Aber ich find das aber auch irgendwie halt immer . halt so’n bisschen komisch (.) weil ich es mir halt überhaupt nicht vorstellen . kann . also (.) ich bin halt als Junge geboren und und so fühl ich Jessica: ∟Mhmh (verneinend) Samuel: mich halt auch (.) und (.) ich kann mir halt nicht vorstellen dass ich . so (2) sag ich mal . was Viola: ∟ja Samuel: da im Kopf vorgeht dass man sich dann nicht so . als (.) Junge oder Mädchen fühlt (.) deswegen . war das für mich auch komisch sag ich mal sie dann halt Finn zu nennen (.) weil sie ist halt einfach ein @Mädchen@ (.) und . ja ich hab da halt auch ’n bisschen andere Einstellung , also Jessica: ∟Mmmh Samuel: ich hab da nichts gegen soll jeder machen was er (.) worauf er Bock hat so aber (.) ja is halt komisch so dann halt ’n Mädchen mit ’nem Jungennamen anzusprechen und der das halt auch noch will (2) is ungewohnt sag ich mal weil man so (.) klar kriegt man das so mit so aber (.) so im direkten Kontakt (.) war das halt (.) ich glaub auch das einzige (.) also die einzige, die ich . ja vielleicht auch so kenne (.) die das halt so (.) sich sag ich mal unsicher war (.) das ist halt auch einfach neu einfach für mich so gewesen (Linden-Gruppe)

Zunächst werden von Samuel die eigene Irritation und das Unverständnis, die Finns/Sabrinas Geschlechtlichkeit in ihm auslösen, geäußert (zugleich zeigt sich hier die Begrenzung der Flexibilitätserzählung durch das fremddefinierende „weil sie ist halt einfach ein @Mädchen@“). Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung – und damit auch die unhintergehbare Toleranzanrufung – scheint aber so wirkmächtig, dass Samuel seinen mit impliziter Abwertung („ich hab da halt auch ’n bisschen andere Einstellung“) verbundenen Ausführungen das Zugeständnis der geschlechtlichen Selbstbestimmung folgen lässt („ich hab da nichts gegen soll jeder machen was er (.) worauf er Bock hat so aber“). Dies klingt zunächst, vor allem angesichts des einschränkenden „aber“ am Ende, erneut nach einer rein rhetorischen Toleranzproklamation, entpuppt sich aber hier als Ausgangspunkt einer Reflexion Samuels über das eigene Unbehagen und dessen mögliche Ursachen („is ungewohnt sag ich mal“) mit der seine anfängliche Positionierung relativierenden Konklusion, dass die persönlichen Erfahrungen mit Finn/Sabrina als einer Trans* Person „halt auch einfach neu einfach“ für ihn gewesen seien. Die von Samuel selbst anscheinend empfundene Diskrepanz zwischen eigener (möglicherweise stärker affektiven) Positionierung und (ebenfalls eigener) Toleranzproklamation führt hier also zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit diesem Widerspruch. Die geschilderten Passagen sind zwei der wenigen Fälle, in denen ein Unbehagen bzw. eine Abwertung gegenüber Formen geschlechtlicher Vielfalt explizit formuliert wird. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass diese ambivalenten Positionen damit Ausnahmen darstellen, vielmehr deutet vieles darauf hin, dass sie im Rahmen der hier ausgebreiteten Erzählungen selten explizit verhandelt werden. Die aus dem Rekurs auf die geschlechtliche Selbstbestimmung erfolgende Toleranzsetzung kann,

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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wie hier deutlich wird, Sagbarkeitsräume für die Artikulation von Ambivalenzen schließen, aber auch schaffen – wobei der Umgang mit diesen dann, auch das zeigt sich, unterschiedlich ausfallen kann.

5.2.5 Zwischenresümee Im Rahmen der Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung steht bei der Verhandlung von Geschlecht nicht (mehr) die Frage der (hetero-)geschlechtlichen Konformität oder Abweichung im diskursiven Zentrum, sondern die selbstbestimmte Geschlechtlichkeit. Da diese von den Jugendlichen weiterhin fast durchgängig zweigeschlechtlich bzw. heteronormativ gerahmt wird, geht es in den Diskussionen vor allem um die selbstbestimmte (hetero-)geschlechtliche Konformität oder Abweichung. Diskursiver Maßstab ist die selbstbestimmte Individualität, die sich auf der Grundlage einer angenommenen Wahlfreiheit entfaltet. Anerkannte Geschlechtlichkeit ist dann eine solche, die ohne Zwang und freiwillig – also selbstbestimmt – erfolgt; dies kann sowohl eine heterokonforme als auch non-konforme Geschlechtlichkeit legitimieren. Abgewertete (aber ggf. dennoch intelligible) Geschlechtlichkeit ist demnach eine, die fremdbestimmt, aus Zwang oder Anpassung heraus erfolgt. Dabei wird meist implizit vorausgesetzt, dass dem Selbstbestimmtsein-Dürfen und -Sollen auch ein Selbstbestimmtsein-Können (und -Wollen) zur Seite steht – die Selbstbestimmungsanrufung erfolgt somit vor der selbstverständlichen Annahme der Selbstbestimmungsmöglichkeit – was wiederum zu Reibungspunkten führen kann, wenn Begrenzungen dieser Handlungsräume verhandelt werden. Inwieweit in den Verhandlungen der Jugendlichen gewisse ‚Zielvorgaben‘ zu erkennen sind, auf die selbstbestimmt hingearbeitet werden ‚soll‘, wird im folgenden Kapitel nachgezeichnet.

5.3

Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

5.3

Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

Das (Aus-)Leben der eigenen Geschlechtlichkeit wird von den Jugendlichen an vielen Stellen mit dem (Aus-)Leben des eigenen Selbst in Verbindung gebracht. Dies lässt sich mit den bisherigen Erzählungen in Zusammenhang bringen: Aus der Figurierung der Geschlechtlichkeit als in gewissem Grad selbst(bestimmt) gestaltbar und der Verortung des geschlechtlichen Kerns im Inneren ergibt sich die Möglichkeit, diesen Kern aufzuspüren, das eigene Leben entsprechend zu ge135

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

stalten und dadurch das geschlechtliche Selbst zu verwirklichen, woraus sich die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung ergibt. Ein essenzieller Subjektkern, das Selbst, wird dabei von den Jugendlichen als unhintergehbarer Referenzpunkt des eigenen Seins gefasst. Dieser Referenzpunkt wird als untrennbar mit Geschlecht verknüpft oder explizit davon losgelöst verhandelt (Kap. 5.3.1). Das Selbst kann bzw. muss aus Sicht der Jugendlichen ggf. erst aufgespürt werden, was insbesondere für Fälle geschlechtlicher und sexueller Non-Konformität relevant gemacht wird (Kap. 5.3.2). Der Rekurs auf die Verwirklichung des Selbst als die Auslebung des geschlechtlichen Selbst erfolgt dann als Vereindeutigungs- oder Authentizitäts-Anrufung (Kap. 5.3.3). Als für die Jugendlichen im Rahmen allgemeiner Bezugnahmen auf Selbstverwirklichung relevanter Bereich erweisen sich eigene Berufsperspektiven, die hier mit Blick auf die eigene Geschlechtlichkeit exkursartig verhandelt werden (Kap. 5.3.4).

5.3.1 Ich bin ich – und das ist auch gut so: das souveräne Selbst und sein Geschlecht In den Diskussionen der Jugendlichen scheinen durchweg Vorstellungen von einem Selbst auf, das als essenzieller Kern des einzelnen Menschen und zugleich individueller Ausdruck des Ich gefasst wird. Dieses Selbst wird als souverän und ursprünglich (im Sinne von dem Subjekt vorgängig) und damit als unabhängig von äußeren Einflüssen oder äußerlichen Ausprägungen gesehen und von den Jugendlichen neben dem expliziten Bezug auf das Ich oder das Selbst auch als Persönlichkeit oder Charakter adressiert. Das Selbst- oder Ich-Sein bildet somit den unabweislichen Bezugspunkt der eigenen Person, wie es im folgenden Beispiel bei Lieselotte aus der Magnolien-Gruppe sichtbar wird: Also . ich war war immer noch ich so @ (Lieselotte, Magnolien-Gruppe)

Lieselotte stellt die Kontinuität ihres Ich-Seins auch während der Mottowoche heraus. Ähnlich klingt es bei Aaron in der Jasmin-Gruppe109: Ich sitz hier halt und bin . der ich sonst auch bin (Aaron, Jasmin-Gruppe)

Dabei kristallisieren sich in den Diskussionen unterschiedliche Annäherungen an dieses Ich heraus: Zum Teil wird es als eine individuelle Essenz ausgemacht, 109 Hier fand die Gruppendiskussion am Tag des Geschlechtertausches selbst statt.

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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die losgelöst von der Geschlechtlichkeit bzw. dieser vorgängig entworfen wird. Andere Äußerungen lassen auf den diskursiven Rückgriff auf ein Selbst schließen, das als solches bereits ein geschlechtliches ist. Dabei zeigt sich bei den Jugendlichen gelegentlich ein Changieren zwischen diesen Bezugnahmen, sodass der Kern des Selbst uneindeutig bleibt. Als gemeinsam geteiltes Wissen bleibt die Annahme der Individualität und Ursprünglichkeit, die mit dem Selbst und somit allen seinen (Ver-)Äußerungen verbunden ist. Im Kontext des Geschlechtertauschtages zeigt sich eine diskursive Anknüpfung an ein Selbst, das geschlechtsunabhängig konstant bleibt und durch den Geschlechtertausch nicht ‚berührt‘ wird, etwa in der Weiden-Gruppe. René zieht hier den Charakter als unveränderlichen – und ‚geschlechtsneutralen‘ – Teil der eigenen Person heran: René: Klar man ist , sobald man diese Kleider anhatte , und (.) in diese Rolle geschlüpft ist , war man auch im Endeffekt ’ne andere Person (.) man hat ’ne Rolle übernommen , wie man so im Endeffekt gar nicht ist . aber im Endeffekt war man trotzdem derselbe Mensch . man war=der Charakter war derselbe (.) die Art zu reden war dieselbe (.) vielleicht hat man mal aus Spaß so dieses >ha< (hoch kieksende Stimme) @ äh gemacht . aber im Endeffekt (.) das einzige was sich wirklich verändert hat waren (.) die Kleider (.) das Aussehen war echt (.) das Lachen war echt (2) die Handlungen die wir getätigt haben waren echt , alles . an uns war echt (.) ich mein , auch mit diesen Kleidern die wir getragen haben waren wir echt . @ wenn wir das so sagen möchten (.) ich mein , was ist denn daran verfälscht? Ich mein , nur weil ich jetzt ’n anderes Erscheinungsbild habe , heißt das nicht , dass ich ein anderer Mensch bin (.) und (.) so war’s auch bei mir . ich=klar , ich hab mich in dem Moment schon ’n bisschen wie so ’ne Frau gefühlt (.) bin auch so gelaufen auf einmal (.) lag glaub ich an den Schuhen mehr @@ weil (.) anders kann man auf diesen Schuhen nicht laufen . aber . ähm trotz Mirko: ∟@ René: alledem war ich immer noch René (.) und (.) trotz alledem hatt ich dieselben Freunde und (.) hab geredet und gelacht wie sonst auch (.) wie (.) wie an anderen Tagen auch (.) also ich find , an dem Tag war nichts verfälscht . (Weiden-Gruppe)

Die „Person“ und „Rolle“, die an dem Tag andere waren, werden von René vom eigenen „Charakter“ unterschieden, der an diesem Tag, ebenso wie der „Mensch“ hinter dem ‚anderen Erscheinungsbild‘, „derselbe“ geblieben sei. Daran ändert für ihn auch die Tatsache nichts, dass er sich „schon ’n bisschen wie so ’ne Frau gefühlt“ hat: Das Selbst-Sein – was hier über den Bezug auf den eigenen Vornamen („trotz alledem war ich immer noch René“) fokussiert wird – scheint also für ihn losgelöst von der Geschlechtlichkeit zu sein. Mit der nachdrücklichen Betonung, dass „an dem Tag […] nichts verfälscht“ und „alles . an uns […] echt“ war, heben sich Renés Schlussfolgerungen von denen vieler anderer Jugendlicher ab, die auf die (auch Renés Ausführungen vorangehende) Frage der Interviewerin, inwiefern 137

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

sie am Geschlechtertag sie selbst waren, mehrheitlich ihre an dem Tag empfundene Distanz zum eigenen Ich unterstreichen, und lassen auf eine positive Bewertung eines ‚authentischen‘ Seins schließen (vgl. Kap. 5.3.3). Auch in der Jasmin-Gruppe deutet sich im resümierenden Rückblick auf den Geschlechtertauschtag ein vager Bezug auf ein geschlechtsloses innerstes Ich an. Denn nur basierend auf der Annahme, dass das Selbst der Geschlechtlichkeit vorgängig ist und die (zwei-)geschlechtliche Ausprägung damit gewissermaßen kontingent, kann eine Aussage wie die folgende überhaupt getätigt werden: Also wir haben uns schon so gedacht . als Ju=als Junge würden wir uns nicht wohlfühlen (.) wir sind schon froh @dass wir Mädels sind@ (Fine, Jasmin-Gruppe)

Fine separiert hier auf verbaler Ebene das „wir“ vom Mädchen- oder Jungesein. Auch hier wird diskursiv auf ein unveränderliches Ich zurückgegriffen, das aber in diesem Fall ‚glücklicherweise‘ mit einem Empfinden ausgestattet ist, das der jeweiligen Geschlechtlichkeit entspricht. Die Vorstellung eines ‚geschlechtsneutralen‘ inneren Selbst, das mit einer vergeschlechtlichten Ausprägung in Verbindung gebracht wird, klingt ebenfalls in Monas Überlegungen an, die sie in der Geranien-Gruppe zur Art der Geschlechterinszenierung am Mottotag anstellt: Ja ob das nicht unterbewusst irgendwie sowas ist , wohin man (.) wozu man te=tendiert . oder (.) ob das jetzt nicht irgendwie deine Umsetzung von (.) deinem möglichen Selbst als Junge ist (.) ja . (Mona, Geranien-Gruppe)

Auch diesen Ausführungen scheint der Rekurs auf ein geschlechtsloses Kern-Ich zugrunde zu liegen, was ermöglicht, Aussagen zum „möglichen Selbst als Junge“ zu machen. Hier zeigt sich exemplarisch, wie der Subjektkern zwar geschlechtslos, aber zugleich in der Ausprägung bzw. im Zugriff nur in vergeschlechtlichter Form denkbar ist. In der Dahlien-Gruppe artikuliert Emmy ähnliche Gedanken: Und halt ähm (.) nicht (.) also (.) wenn ich ’n Junge wäre , würd ich mich auch nicht so anziehen . also (.) ich war ja auch total (.) stark verkleidet , aber wenn ich (.) also (.) das wär überhaupt nicht mein Style als Junge deshalb . ich glaub , da war halt eher so wirklich der Aspekt der Verkleidung im Vordergrund . (Emmy, Dahlien-Gruppe)

Emmy greift hier mit dem Gedankenspiel „wenn ich ’n Junge wäre“ und den darauffolgenden Ausführungen eines damit in Verbindung stehenden Kleidungsstils ebenfalls auf ein Selbst zurück, das vom Geschlecht abstrahiert werden kann. Sie kommt dabei in Modefragen zu einem anderen Schluss als Mona, was die Ähnlichkeit der Verkleidung mit einem möglichen eigenen „Style als Junge“ betrifft.

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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In Ausführungen, die sich nicht konkret auf die Erfahrungen am Geschlechtertauschtag beziehen, finden sich ähnliche Bezüge auf ein geschlechtsloses Selbst. Das zeigt sich im Folgenden exemplarisch bei Eske, die in der Dahlien-Gruppe die unveränderliche Persönlichkeit hinter der Geschlechtlichkeit – und hier auch hinter der sexuellen Orientierung – betont: Wie Emmy grad schon sagte , bin ich der Meinung , warum sollte man hingehen und sagen (.) ja bist du schwul , das ist doch egal . ähm für diese Person egal . wer diese Person ist (.) und genauso ist es ja egal ob diese=ob jetzt eine Person ähm männlich oder weiblich ist für die Persönlichkeit (Eske, Dahlien-Gruppe)

In allen Ausführungen wird sichtbar, dass das Selbst zwar im Kern als geschlechtslos entworfen wird, in der jeweiligen subjektiven Ausprägung dann aber ausschließlich vergeschlechtlicht denk-, sag- und lebbar scheint. Eine andere diskursive Konfigurierung des Selbst erfolgt mit dem Rekurs auf einen vergeschlechtlichten Subjektkern: Hier wird Geschlecht mitgedacht, wenn es um das innerste Ich geht.110 In dieser Perspektive unterscheidet sich die Inszenierung der Jugendlichen am Geschlechtertauschtag etwas vom eigenen Selbst, weil es bereits vergeschlechtlicht gedacht ist und deshalb nicht mit der am Mottotag dargestellten Geschlechtlichkeit übereinstimmt. Diese diskursive Rahmung wird in der Kamelien-Gruppe deutlich: I: Und wenn ihr da bei dem Tanzen ähm (.) hier das mit dem Hochspringen und so und aber glei=selbst gesagt habt , eigentlich hättet ihr das andersrum (.) wahrscheinlich dann nicht gemacht , so . also könnt ihr euch das dann erklären , warum (.) man’s aber so rum gemacht hat , obwohl=obwohl ihr sagt, andersrumDunja: Weil’s halt (.) so gesehen (.) lächerlich ist . also (.) ich bin ja kein Junge . lie=lieber so tun , Lisa: ∟Dann lieber Jan: ∟ ((leises Gemurmel)) Dunja: als ob ich mich- also lieber so tun , als ob ich wer anderes wär , dann verkleide ich mich ja auch (.) is schon klar , dass ich das nicht selbst bin . und dann tanz ich auch wie’n Junge , als wenn ich ich selbst bin und mich dann vor=auf der Bühne so gesehen lächerlich machen muss . Jan: Ja Lisa: Ich glaub , dann bringt man das vielmehr mit dem . also mit dem wirklichen Ich in Verbindung , 110 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Angabe der Jugendlichen, den Geschlechtertauschtag als einen der intensivsten Mottotage empfunden zu haben (vgl. Kap. 5.4.4): Wenn das Selbst ein essenziell vergeschlechtlichtes ist, dann wird nachvollziehbar, warum der Tag als am Weitesten entfernt von der eigenen Wirklichkeit bzw. dem eigenen Ich wahrgenommen wurde. Dass daneben auch der sogenannte „Asi-Tag“ dazu zählte, lässt auf eine nicht nur vergeschlechtlichte, sondern auch klassenbezogene Figurierung des Selbst schließen. 139

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Dunja: ∟Ja Lisa: auch die anderen denken . also man kann es sich halt dann auch vorstellen , dass die anderen denken , oh ja . das hat sie jetzt (.) für=also . quasi selber gemacht und dass dann halt quasi diesen (.) Move jetzt mal auf den Arsch hauen halt wirklich mit ’ner (.) mit sich selber in Verbindung bringen (.) und so hat man halt immer noch . ja es war ein Geschlechtertausch , es war=man war verkleidet (.) und dann ist es noch so’n bisschen wie Schichten vor einem , dass man’s halt wirklich nicht so komplett mit sich selber in Verbindung bringt , sondern halt so . die Situation noch mit reinspielt . und dass deswegen immer gesagt wird , ja war halt ’n Geschlechtertausch , war was anderes , glaub ich . Dunja: Ja Catherina: Das ist so ’ne Distanz einfach . Lisa: Ja genau . (3) (Kamelien-Gruppe)

Dunja erläutert hier, ergänzt von ihren Mitdiskutant_innen, ihre Vermutung, warum ein von der Stufe aufgeführter Tanz im Rahmen der ‚gegengeschlechtlichen‘ Inszenierung („wie’n Junge“) als weniger peinlich empfunden wurde, „als wenn ich ich selbst bin“. Durch diese Gegenüberstellung setzt sie die eigene Geschlechtlichkeit mit dem Selbst-Sein gleich. In der von den Jugendlichen gemeinsam gestalteten Passage wird die empfundene und abschließend von Catherina auch explizit artikulierte „Distanz“ zur am Geschlechtertauschtag dargestellten Person deutlich: Letztere wird nach Lisa nicht richtig „mit dem wirklichen Ich“ assoziiert, da das in der Verkleidung angenommene Geschlecht „wie Schichten“ davor gelegen habe. Der Geschlechtertausch ermöglicht somit eine Abweichung vom eigenen Selbst, das in der Folge nur ein geschlechtliches sein kann. Eine ähnliche Rahmung scheint auch hinter dem speziell für den Geschlechtertauschtag entworfenen Leitspruch in der Stufe der Dahlien-Gruppe zu stehen: Iwona: Es war ja auch (.) du bist nicht du . wenn du Abi machst (.) und (.) wenn Nicht-ich-sein impliziert . dass ich dann (.) mich maskuliner anziehen muss . als ich es sonst tue (.) dann kann ich ja genauso gut auch femininer rumlaufen . I: Das war noch speziell der Spruch an dem Tag? Eske: Genau . Iwona: Ja . Eske: Du bist nicht du . wenn du Abi machst . (Dahlien-Gruppe)

Bei Iwona klingt eine Bezugnahme auf das eigene Selbst an, das nicht grundlegend durch Geschlecht markiert ist (vgl. Kap. 5.1.4). Das Motto („Du bist nicht du . wenn du Abi machst“) ist dagegen als deutliche, geradezu plakative Anknüpfung an ein geschlechtlich fundiertes Selbst zu lesen, das durch den Geschlechtertausch temporär verändert wird – wenn auch das Augenzwinkern dabei nicht zu über-

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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sehen ist, das die ‚Erschütterung‘ des Selbst im Rahmen des Mottotages als rein spielerisch erahnen lässt. Hier treffen mit Iwonas Perspektive und dem Leitspruch unterschiedliche Annäherungsweisen an das Selbst aufeinander. In der Oleander-Gruppe wiederum herrscht Einvernehmen über das Vorhandensein eines eindeutigen geschlechtlichen Ichs, das sich, so sind sich Franziska, Helen und Caro einig, am Geschlechtertauschtag trotz der ‚anderen‘ Inszenierung Bahn gebrochen hat: Franziska: Die Musik hat natürlich auch dazu gepasst halt so typische Frauenmusik so Spice Girls Helen: ∟Alle Typen stehen drumrum rum Franziska: und Backstreet Boys und ((holt Luft)) aber da musste man schon . eigentlich hätten wir ja Caro: ∟Ja Franziska: eher so bei den Backstreet Boys tanzen müssen , ham wir auch aber trotzdem kam bei uns dann so ziemlich Frau durch und wir haben eher die Spice Girls Helen: ∟@ Caro: ∟@bei Wannabe waren alle Sicherungen durch Franziska: Ja . also bei dem Lied können wir uns eigentlich nicht mehr halten trotz . Männerklamotten Caro: ∟Ja Helen: Ja (Oleander-Gruppe)

Das Durchdringen des ‚eigentlichen‘ Geschlechts („so ziemlich Frau“) wird hier – wenn auch in eher scherzhafter denn dramatisierender Form – als unkontrollierbar skizziert, womit sich eine Rahmung der Geschlechtszugehörigkeit als untrennbarer Bestandteil des Ichs andeutet. Dies wird begleitet von einer geschlechtsspezifischen Deklarierung bestimmter Popgruppen bzw. Lieder als „Frauenmusik“, die dieses geschlechtliche Selbst in den Jugendlichen unaufhaltbar hervorgerufen habe. In der Hasel-Gruppe wird das Durchscheinen der als ‚normal‘ bezeichneten Geschlechtlichkeit durch Thomas ähnlich verhandelt, hier am Beispiel des männlichen Kerns: Und wenn Jungen auch irgendwie was imitiert haben , was jetzt äh diesen normalen männlichen Charakterzügen irgendwie widerspricht , dann hat man trotzdem irgendwie noch . so . durchgesehen dass das jetzt ’n Mann ist (Thomas, Hasel-Gruppe)

Mit der Formulierung „dann hat man trotzdem irgendwie noch . so . durchgesehen“ wird das Geschlecht als eine tiefliegende, fest verankerte Essenz adressiert, die sich nicht gänzlich verdecken lässt. Mit dem Verweis auf die „normalen männlichen Charakterzüge“ wird diese Essenz konkretisiert und als untrennbarer Teil des Selbst (hier als Charakter gefasst) figuriert.

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Somit variieren die Bezugnahmen auf das Selbst und die eigene Geschlechtlichkeit in der Art der Verbindung, die zwischen ihnen gezogen wird. Den in den Diskussionen der Jugendlichen aufscheinenden unterschiedlichen Perspektiven, sowohl jenen, die von einem geschlechtsvorgängigen Seins-Kern ausgehen, als auch denen, die das Selbst bereits als vergeschlechtlicht fassen, ist aber gemein, dass das innere Ich als etwas Ursprüngliches gewusst wird, das als individuelle Essenz vorhanden und gesellschaftlichen Einflüssen vorgängig ist. Ebenfalls lässt sich durchweg beobachten, dass die Auslebung des Selbst bzw. das Selbst in seiner Ausprägung als Subjekt von den Jugendlichen ausschließlich vergeschlechtlicht diskutiert wird. Es scheint also genau genommen in keiner der hier vorgefundenen Perspektiven ein geschlechtsneutrales Sein denkbar, sondern der „Zugriff“ auf das eigene Selbst ist immer ein vergeschlechtlichter. Auf diese Weise erhält die Geschlechtlichkeit bei den Jugendlichen durchweg einen ontologischen Charakter und wird – sofern authentisch (vgl. Kap. 5.3.3) – als individueller Ausdruck des autonomen Selbst gefasst.

5.3.2 Wer suchet, die_der findet? Dem geschlechtlichen Selbst auf der Spur Vor dem Hintergrund der Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität, nach der die Kongruenz von ‚äußerem‘ und ‚innerem‘ Geschlecht nicht mehr naturhaft und zwangsläufig besteht, wird die Ergründung des Inneren diskursiv möglich oder sogar notwendig. Dies wird in den Diskussionen durch vielfache Bezugnahmen auf das Finden des geschlechtlichen Selbst sichtbar. Es geht in diesen Ausführungen der Jugendlichen darum, sich Klarheit über die innere Geschlechtlichkeit oder Sexualität, die hier als ebenso essenziell aufscheint, zu verschaffen. Dies lässt sich etwa in der Kamelien-Gruppe beobachten: I: Und glaubt ihr , dass es äh den Mottotag Geschlechtertausch in (.) sagen wir mal . 20 . 30 Jahren noch geben wird? Jan: Ja. Lisa: ∟Ja Dunja: Ja Catherina: Ja Dunja: Und ich glaub , dass dann vielleicht auch einige zu si=@zu sich finden so gesehen@ Lisa: @@ Dunja: vielleicht wirklich warum nicht , also dassJan: ∟Glaubst du , es wird . zu einem späteren Zeitraum mehr (.) geben , die als Junge gerne Mädchen wären?

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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Dunja: Ich glaub schon (.) weil’s normaler dann ist . (2) (Kamelien-Gruppe)

Dunja entwirft hier ein Zukunftsszenario, in dem mehr Menschen in Bezug auf ihre Geschlechtlichkeit „zu sich finden“, und begründet das mit sich im Wandel befindlichen Normen, die derzeit einen potenziellen Wunsch, „als Junge gern Mädchen“ zu sein, beschränken. Das Selbst erweist sich hier als etwas, das zwar essenziell, aber manchmal nur latent vorhanden ist und aufgedeckt werden kann. Die Phase des Aufspürens des geschlechtlichen Selbst wird in mehreren Gruppen insbesondere als Phase des geschlechtlichen und sexuellen Ausprobierens diskutiert. Diese Phase wird meist mit der Jugendzeit in Verbindung gebracht, wobei unter den Teilnehmenden differiert bzw. nicht immer eindeutig ist, ob sie diese als bereits hinter ihnen liegend oder sie gerade betreffend auffassen. Auch hierfür lässt sich die Kamelien-Gruppe exemplarisch heranziehen: Lisa: Und ich find so , man (.) entdeckt ja so wirklich so (.) mit wem man jetzt @zusammen sein will@ und (.) sch=Zukunft (.) ist ja erst so nach der Pubertät. in der Pubertät probiert man sich ja auch Catherina: ∟Mmmh Jan: ∟Ja . Lisa: irgendwie aus , und kuckt halt , was jetzt wirklich zu einem passt (.) weil wenn man halt Dunja: ∟Ja . Lisa: die ganze Pubertät gesagt bekommt , das ist illegal . dann probiert man sich nicht aus . und ich Dunja: ∟Ja . Lisa: glaube , deswegen gibt’s auch in der (.) Generation über uns . viele noch . die vielleicht schon schwul sind oder lesbisch , die’s aber nicht zugeben können und vielleicht auch (.) jetzt in ’ner Dunja: ∟Ja Lisa: glücklichen Beziehung sind , aber innen drin eigentlich wissen , dass sie vielleicht doch (.) Catherina: ∟Mmmh Lisa: schwul oder lesbisch sind (Kamelien-Gruppe)

Die „Pubertät“ scheint hier ein Terminus zu sein, der ein Ausprobieren und einen gewissen Freiraum bereits diskursiv beinhaltet. Das Erkunden der eigenen Sexualität wird zwar in diesem Rahmen zunächst als für jede_n relevant diskutiert („man (.) entdeckt ja so wirklich so (.) mit wem man jetzt @zusammen sein will@“). Implizit scheint dabei aber das Ausprobieren auf nicht-heterokonforme Erfahrungen und die Klärung der Frage zu zielen, ob man „vielleicht doch schwul oder lesbisch“ ist. Heterosexualität scheint also hier die selbstverständliche, aber unausgesprochene Vergleichsfolie bzw. Basis zu bilden. In Lisas auf allgemeine Zustimmung stoßenden Ausführungen zeigt sich die Rahmung von Homosexualität als Teil des inneren Kerns, der entweder aufgedeckt oder – hier werden gesellschaftliche 143

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Machtwirkungen in Betracht gezogen – unterdrückt wird.111 Der Rekurs auf das Ausprobieren impliziert zugleich das Münden in eine Eindeutigkeit, wobei dieses ‚Ziel‘ der Vereindeutigung von Lisa nochmals expliziert wird: „und [man] kuckt halt , was jetzt wirklich zu einem passt“. Es zeichnet sich somit hier als Ideal ab, Geschlechtlichkeit oder Sexualität in Übereinstimmung mit dem, was „innen drin eigentlich“ gewusst wird, zu gestalten und zu leben. Auch in der Linden-Gruppe wird die Jugend durch Viola als allgemeine Phase des geschlechtlichen Ausprobierens verhandelt. Da diese Ausführungen im Kontext der Thematisierungen von Erfahrungen mit Finn/Sabrina, einer Trans* Person der Stufe (vgl. Kap. 5.2.1), stattfinden, lässt sich hier wieder die diskursive Nähe zwischen der Verhandlung des zunächst richtungsoffen formulierten geschlechtlichen Erkundens und geschlechtlichen Abweichungen ausmachen:112 Andererseits ist es einfach diese Zeit wo man sich ausprobiert wo man weiß . ich bin hier noch in der Schule hier kann ich das in meinem Job kann ich nicht sagen ich bin einmal so einmal so (.) ich glaub es ist einfach diese Ausprobierzeit diese Zeit wo man sich denkt ich werd jetzt erwachsen (.) ich mein da wurden wir alle gerade mal volljährig in der zwölften Klasse und ich glaub da denkt man so (.) ich glaub ich muss jetzt mal langsam auch wissen ob ich jetzt eher (.) ’n Mann sein möchte oder eine Frau sein möchte (Viola, Linden-Gruppe)

Auch bei Viola wird die Vereindeutigung als Anrufung expliziert, und zwar als die Entscheidung, „ob ich jetzt eher (.) ’n Mann sein möchte oder eine Frau sein möchte“, und dadurch als Wissens- und Willensfrage gerahmt. Durch den Vorschub „ich glaub ich muss jetzt mal langsam auch wissen“ erhält die Aussage zudem einen stark normativen Charakter – insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Aussage zwar in der ersten Person formuliert wird, aber im oben angeführten Zusammenhang der Diskussion, so ist anzunehmen, auf Finn/Sabrina gerichtet ist. Der Zugriff auf das geschlechtliche Selbst scheint damit etwas anders aufgefasst zu werden – es wird zwar auch als durch Ausprobieren ergründbar dargestellt, jedoch wird hier 111 Mit dem Verweis auf die „Generation über uns“ deutet sich hier ein in den Diskussionen häufig aufscheinendes Temporalitätsdenken an, das mit einem Fortschrittsgedanken verbunden ist und in der Trias von einer rückständigen Vergangenheit über eine – je nach Perspektive deutlich oder zumindest etwas – offenere Gegenwart hin zu einer Zukunft verhandelt wird, in der geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Teil der ‚Normalität‘ entworfen werden. 112 Schule wird dabei, in Abgrenzung zur Arbeitswelt, als Raum beschrieben, in dem ein solches Ausprobieren möglich ist. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass Viola hier nicht über ein eigenes Ausprobieren berichtet, sondern die ‚Sicherheit‘ des Sozialraums Schule in Bezug auf geschlechtliche Non-Konformität aus ‚nicht betroffener‘ Perspektive heraus beschreibt.

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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ein stärkerer aktiver Entscheidungsanteil für das Frau- oder Mannsein zugewiesen. Damit sind wieder deutliche Anknüpfungen an die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität und Selbstbestimmung zu finden, und die Annahme eines Selbst, das sich nur geschlechtlich verwirklichen kann. Diese (zweigeschlechtlich begrenzte) Wahlfreiheit wird als Zukunftsszenario ebenfalls in der Kamelien-Gruppe betont: Lisa: Äh (.) ich könnte mir schon vorstellen , dass es irgendwie (.) normaler wird , wenn man halt sagt , ok . ich hatte fünf Beziehungen und zwei davon waren halt schwul oder lesbisch (.) also dass man halt nicht mehr so ist , ok (.) ich hatte ’ne schwule Beziehung oh Gott ich bin (.) oder ich jetzt lesbisch Catherina: ∟Ja Dunja: ∟Mmmh Markus: ∟Ja . Lisa: ich bin jetzt irgendwie völlig (.) komisch oder schräg (.) ich glaub so gerade in der Pubertät oder so , wenn man sich dann halt einfach ausprobiert ist es halt normaler . und dann (.) später kann man halt sich entweder für das eine oder für das andere entscheiden (.) obwohl ich (.) immer noch glaube dass so die normale (.) Mann-Frau-Beziehung (.) >normal bleiben wird< (vorsichtig fragend), Catherina: Ja . Jan: Wird auch für immer normal bleiben glaub ich Catherina: Mmmh Dunja: Ja aber (.) dass man sich halt ausprobiert (Kamelien-Gruppe)

Hier werden von Lisa, Catherina, Jan und Dunja gemeinsam zukünftige Normalitäten in Bezug auf geschlechtliche und sexuelle Seinsweisen ausgehandelt. Dabei vermutet Lisa einerseits eine abnehmende Einheitlichkeit subjektiver sexueller Orientierungen, verortet die skizzierte sexuelle Flexibilität dann aber vor allem in der Pubertät und damit wieder in einer Phase des Ausprobierens, der sich eine Entscheidung „entweder für das eine oder für das andere“ anschließt. Auf diese Weise wird erneut die Anrufung der abschließenden Vereindeutigung (hier allerdings mit „kann“ als Option ausgedrückt) formuliert. In der von Lisa zunächst zögerlich hervorgebrachten, von den anderen dann aber entschieden bestätigten Annahme, dass das heterosexuelle Beziehungsmodell „immer normal bleiben“ wird, wird nochmals deutlich, dass sich das Ausprobieren implizit vor allem auf Momente der Abweichung bezieht: Die Phase des Ausprobierens ist der abgetrennte Rahmen, in dem sexuelle Non-Konformität auch ‚ohne Konsequenzen‘ gelebt werden kann. Vor dem Hintergrund des mit den Ausführungen verbundenen Zukunftsblicks liest sich das auf die Gegenwart bezogene Statement Lisas, „also dass man halt nicht mehr so ist, ok (.) ich hatte ’ne schwule Beziehung, oh Gott ich bin, (.) oder ich jetzt

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

lesbisch, ich bin jetzt irgendwie völlig (.) komisch oder schräg“, als recht drastische Zustandsbeschreibung heutiger sanktionsmächtiger Heteronormativität.113 Meist geht es in den Diskussionen, das wird in den genannten Beispielen deutlich, wenn geschlechtliche Selbstfindung als solche thematisiert wird, um Momente des Entdeckens einer geschlechtlichen oder sexuellen ‚Abweichung‘, wodurch das heterokonforme Sein zur impliziten Default-Grundlage wird: Die Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit muss nicht gefunden werden, sondern wird als Normalfolie angenommen.114 Das deutet sich auch in der Weiden-Gruppe an: Ich hab ’ne Doku darüber gekuckt . über (.) also >Geboren im falschen Körper< heißt das . und da waren auch halt Kinder die (.) wie gesagt . das beginnt alles bei denen ab dem zehnten Lebensjahr (.) wo dann halt so die Selbstfindungsphase (.) einschreitet . so halt die Sexualität und worauf steh ich , worauf steh ich nicht (.) wo das halt alles so langsam Fuß fasst in unseren Köpfen (.) und (.) bei den meisten war’s dann halt natürlich so dass die Eltern das null toleriert haben und wirklich auch (.) schon von Anfang an so die Erziehung getätigt haben dass das Kind eigentlich gar nicht irgendwie diese=diese Ambition aufbringen kann (.) das zu wollen . aber es ist trotzdem passiert (.) unabhängig vom Umfeld . also . denk ich schon dass irgendwas in uns drin (.) dazu beiträgt dass wir so werden sollen , weil so . vielleicht ist es ’n Gendefekt, man kann=weiß es nicht (René, Weiden-Gruppe)

Auch hier wird die ‚Entdeckung‘ der eigenen Geschlechtlichkeit und Sexualität als „Selbstfindungsphase“ bezeichnet, womit René, anders als in der an anderer Stelle erfolgten Diskussion des Selbst als unabhängig von Geschlecht (und Sexualität), hier das Selbst bzw. „irgendwas in uns drin“ mit Geschlecht und Sexualität in einen biologisierenden Zusammenhang bringt. Die fokussierte abweichende Form stellt er sogar pathologisierend als möglichen „Gendefekt“ dar.115 Auch in der Dahlien-Gruppe steht die Entdeckung der ‚Abweichung‘ im Vordergrund der Verhandlungen sexueller Selbstfindung:

113 Dies scheint jedoch keinen Einfluss auf die Anrufung der sexuellen Selbstverwirklichung zu haben, die das Ausleben von Homosexualität (bereits) in der Gegenwart adressiert (vgl. Kap. 5.3.3). 114 Hier lässt sich eine Analogie zur binären Geschlechteraufteilung sehen, nach der die Frau das „andere Geschlecht“ (Beauvoir 1968) bzw. überhaupt ein ‚Geschlecht‘ ist und der Mann die ‚geschlechtlose‘ Norm; ähnlich wird hier das innere Ich häufiger bei jenen als vergeschlechtlicht gedacht, die nicht der heterosexuellen Cis-Geschlechtlichkeit entsprechen, als bei jenen, die mit dieser konform gehen und bei denen eher von einem ‚neutralen‘ Selbst ausgegangen wird. 115 Vor dem Hintergrund von Renés eigenen homosexuellen Erfahrungen ist diese Pathologisierung, die sich sowohl auf Trans* als auch auf Homosexualität zu beziehen scheint, als möglicherweise auch für die eigene Wahrnehmung recht dramatisch oder zumindest gravierend zu lesen.

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Emmy: Also ich find . vor allem das Umfeld macht’s dann halt aus (.) wie sich auch ’ne ganze Generation weiterentwickeln kann (.) und welche Einstellung man . weitervermitteln kann (.) und ähm (.) ich find auch Offenheit . wenn man einem Kind halt dann Offenheit (.) beibringt in der Erziehung . macht’s dem Kind auch viel leichter . also was Iwon- äh Iwo grad meinte . dass wenn man ähm (.) zum Beispiel dann für sich selber entdeckt , ok ich bin doch homosexuell (.) aber @ wenn man dann äh aber selber (.) von zu Hause gelernt bekommen hat . ja das ist aber unmenschlich . sowas Iwona: ∟@Die Dominosteine fallen und fallen und fallen@@ Eske: ∟ @ Emmy: gibt’s gar nicht . also diese negative Einstellung halt (.) anerzogen bekommen hat , dann macht man sich ja selber damit fertig (1) ich glaub es gibt auch . bestimmt genügend Beispiele von Menschen die sich dann selber damit (.) fertigmachen. es gibt auch (.) auch in Serien (.) gibt’s ja oft diesen Fall . dass man dann (.) dass die das dann entdecken , aber gar nicht selbst damit klarkommen (Dahlien-Gruppe)

Die einen imaginierten Moment der sexuellen Selbstfindung ausdrückende Aussage „ok ich bin doch homosexuell“ lässt wieder auf eine heteronormative Hintergrundfolie schließen, durch die der Prozess der Selbstfindung zum Prozess der Findung der eigenen Andersheit wird. Heterosexualität (und Cis-Geschlechtlichkeit) muss, so scheint implizit durch, nicht entdeckt werden – ebensowenig, wie es ihr gegenüber einer positiven „Einstellung“ bedarf.116 Hier wird also die (homo-)sexuelle Orientierung diskursiv als essenziell bzw. schicksalhaft gesetzt, doch der eigene Umgang damit ist wiederum offen und die erfolgreiche Bewältigung, im Sinne der homosexuellen Selbstverwirklichung, in Emmys Sicht von einem unterstützenden Umfeld und einer Erziehung zur Offenheit abhängig. Es zeigt sich zudem exemplarisch, wie eine nicht-heterosexuelle Selbstpositionierung im Rahmen der Diskussion nur indirekt bzw. andeutungsweise erfolgt, und zwar durch Iwonas Einwurf „@ Die Dominosteine fallen und fallen und fallen@@“, als Emmy – aus ‚unbeteiligter‘ Perspektive – vom Entdeckungsmoment der Homosexualität (Dritter) berichtet.117 116 Die Ergebnisse decken sich mit Götschs (2014) Befunden aus ihrer Studie zu heteronormativen Erzählungen Jugendlicher, dass die (meisten) Jugendlichen, indem sie ihre Toleranz für Homosexualität oder Trans* erklären, damit ungesagt ihre eigene Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit manifestieren – gerade, dass dies nicht markiert werden muss, macht die Heteronormativität umso deutlicher, denn demnach ist „Heterosexualität so selbstverständlich, dass sie keiner Anerkennung bedarf“ (Götsch 2014: 158). 117 Perspektiven auf nicht-heterosexuelle Sexualitäten und damit verbundene (Diskriminierungs-)Erfahrungen werden dennoch sowohl von Iwona in der Dahlien- als auch von René in der Weiden-Gruppe immer wieder in die Diskussionen eingebracht. Aber während andere Jugendliche des Samples selbstverständlich von ihren heterosexuellen Erfahrungen oder Beziehungen berichten – ohne sie explizit als solche zu definieren –, findet sich keine offene Bezugnahme auf eigene homosexuelle Alltagserfahrungen 147

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Es scheint also leichter zu fallen, nicht-heterokonforme Selbstverwirklichung für Andere zu proklamieren, als sich selbst dementsprechend zu verorten.

5.3.3 Das leidende Ich und das authentische Ich – geschlechtliche Selbstverwirklichung zwischen Instinkt und Autonomie Bezüge auf die Findung oder Entdeckung des Selbst werden in den Diskussionen nahezu kontinuierlich begleitet von Anrufungen, das eigene Leben und die eigene Person (ausschließlich) entsprechend diesem innersten Ich zu gestalten. In der Oleander-Gruppe wird das von Franziska deutlich formuliert: Das . Ich-selbst-Sein ist mir dann schon wichtiger als mit irgendwelchen Klischees zu spielen definitiv (Franziska, Oleander-Gruppe).

Das Ich-selbst-Sein als Leben im Einklang mit dem inneren Selbst wird so zum Wert an sich und zum normativen Ziel – was aber, das beinhaltet die Aussage implizit, auch verfehlt werden kann und deshalb der eigenen Gestaltung bedarf. Wie in den Ausführungen zur Phase des Ausprobierens bereits deutlich wurde, wird die explizit geschlechtliche Selbstverwirklichung meist in Bezug auf geschlechtliche oder sexuelle „Abweichungen“ Dritter gedacht. Dabei kristallisiert sich, wie ebenfalls gezeigt wurde, insbesondere das Ziel der Vereindeutigung von innerem und äußerem Geschlecht (bzw. von gefühlter und gelebter Sexualität) heraus: Der – meist in Verbindung mit Trans* (vgl. Kap. 5.1.3) – auftretende Diskurs, „dass Menschen auch (.) keine Ahnung, im falschen Körper geboren sein (.) können“ (Mirko, WeidenGruppe), schafft in Verbindung mit der Anrufung der Selbstverwirklichung den Leistungsimperativ, im Sinne eben jener Selbstverwirklichung auf die ‚Korrektur‘ des Körpers und damit auf eine Herstellung der zweigeschlechtlich fundierten Kongruenz von innerem und äußerem, gefühltem und körperlichem Geschlecht hinzuwirken. Dies zeigt sich exemplarisch in der Diskussion, die in der DahlienGruppe zwischen den drei Teilnehmenden Eske, Iwona und Emmy stattfindet:

und eine entsprechende nicht-heterosexuelle Positionierung; nicht-heterosexuelle Sprecher_innenpositionen werden in den Diskussionen nur indirekt eingenommen.

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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Eske: Also (.) im gewissen Maße ist es ja von der Natur gegeben , jetzt nicht die ähm Angleichung aber (.) ähmIwona: ∟der Wunsch Emmy: ∟der Instinkt Eske: dieser Wunsch . genau . weil ja viele (.) ähm Transgendermenschen (.) kann man das so sagen? Iwona: Ja . Eske: Also viele Menschen . ja (.) äh eben weil sie sind einfach kein (.) Mann oder keine Frau . und es ist ja nicht dass die (.) an einem Tag aufwachen und sagen (.) ich hätt jetzt Lust ’n Mann zu sein . Iwona: ∟Mmmh Eske: sondern das ist ja über die Jahre hinweg ähm (.) bemerken die das oder (.) es wird=dringt ja immer mehr an die Oberfläche . und sie sind ja dann von Geburt an von ihrem Kopf her ein Mann (.) Emmy: ∟Ja . Eske: oder eine Frau (.) und wenn nun mal eben das . das Gefühl . der Geist (.) nicht zum Körper passt . dann ist das ja von der Natur gegeben dass diese Person so denkt (.) und . man kann ja den Geist nicht verändern . man kann ja nicht hingehen und sagen , nee äh das ist falsch wie man denkt Iwona: ∟versuchen viele Leute trotzdem . Eske: , ja man (.) ja und das ist einfach der fa=die falsche Herangehensweise. dann soll man doch den Menschen ermöglichen das Leben zu führen was sie führen müssen oder wollen . womit sie glücklich sind . und wenn man eben den Geist nicht verändern kann dann verändert man eben (.) die Umstände . den Körper . und ähm natürlich . ist es ähm (.) dann nicht ein . natürlicher weiblicher oder Emmy: ∟ja. Eske: männlicher Körper aber (.) der Geist . die Gedanken sind dann ja trotzdem natürlich . deswegen Emmy: ∟Ja und die s=werden dann befriedigt . und das ist dann ja eigentlich so das (.) Schöne doch . Eske: ∟Ja ∟Ja . ∟Ja . Iwona: Das ist mir hier zu pädagogisch @ Eske, Emmy: @@@ (Dahlien-Gruppe)

Hier wird die Übereinstimmung von innerem und äußerem Geschlecht als Grundlage eines glücklichen Lebens verhandelt. Ziel der geschlechtlichen Selbstverwirklichung ist dementsprechend eine Vereindeutigung innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit. Dabei werden während der Diskussion die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität (auch wenn der Körper nach der verändernden Gestaltung kein „natürlicher weiblicher oder männlicher“ ist – was zählt, ist die Natur im Inneren) und Selbstbestimmung (nach der die Menschen das Leben führen (können), das sie „wollen“) mit dem Ziel der Auslebung des geschlechtlichen Selbst (verortet im „Gefühl“ bzw. „Kopf“ oder „Geist“, also im Innersten) in Einklang gebracht. Als Resultat dieser diskursiven Aushandlung entsteht eine Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung, deren Erreichen „Transgendermenschen“ dann „glücklich“ und „befriedigt“ sein lässt. Die uneindeutige Beschreibung, dass diese ein bestimmtes Leben „führen müssen oder wollen“, lässt dabei auf eine ambivalente Weise schließen, diese 149

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Selbstverwirklichung zu rahmen, die sich im Material häufig findet: Zum einen erlangt gerade das (Aus-)Leben geschlechtlicher Non-Konformität häufig Legitimation über die Argumentation des schicksalhaften, passiven Ausgeliefertseins gegenüber einem naturhaften geschlechtlichen Drang, der „von Geburt an“ und „von der Natur gegeben“ ist und der sich immer mehr durchsetzt. Somit wäre das entsprechende Leben eines, das aufgrund dieses unhintergehbaren „Instinkts“ gelebt werden muss. Andererseits aber scheint parallel dazu auch der Diskurs der (geschlechtlichen) Selbstbestimmung durch, nach dem das (Aus-)Leben der Non-Konformität vom Wollen des Subjekts abhängt. Dabei zeigt sich allerdings die Tendenz, die Trans* Person eher passiv zu figurieren: Das (Aus-)Leben-Können ihres geschlechtlichen Selbst wird von Dritten abhängig gemacht („dann soll man doch den Menschen ermöglichen“). Hier wird eine paternalistisch-advokatorische Haltung sichtbar, nach der Trans* Personen der Ermöglichungshilfe durch andere bedürfen. Auch in dieser Diskussion deutet sich wieder eine Vermischung von normativem Ideal und Ist-Zustand an: Während Eske Trans* Diskriminierung als „falsch“ verurteilt und damit diskursiv stillstellt, scheint Iwona durch den Einwurf „versuchen viele Leute trotzdem“ hervorheben zu wollen, dass die Diskriminierungen nicht aus der Welt sind, ‚nur weil‘ ein entsprechendes normatives Ideal formuliert wird. Diesem Einwand begegnen Eske und Emmy mit einer Bestärkung ihrer Toleranzappelle. Iwonas weitgehende Enthaltung und abschließender ironisch-distanzierender Kommentar („das ist mir hier zu pädagogisch“) lässt, im Zusammenhang mit Iwos sonstigen Äußerungen, die Iwos Gender Agency in Bezug auf (Iwos) geschlechtliche Non-Konformität hervorheben118, auf ein Unbehagen gegenüber dieser Art der viktimisierenden Toleranzverhandlung der Mitdiskutantinnen schließen. Das Ziel der geschlechtlichen Selbstverwirklichung ist in deren Perspektive, einen inneren Leidensdruck zu beseitigen, was sich in den Gruppen z. T. in ähnlichen metaphorischen Umschreibungen ausdrückt. So wird in der Dahlien-Gruppe mit Blick auf geschlechtliche und sexuelle Diversität betont: Eske: Wenn man mit dem was man (.) einfach ist und was man fühlt . äh (.) @ mit sich selbst im Reinen ist (.) dann ist es glaub ich einfacher (2) Emmy: Ja (Dahlien-Gruppe)

118 Mit der geschlechtlichen Selbstverortung „in der Lücke dazwischen“ (vgl. Kap. 5.2.1) positioniert sich Iwona gegen die hier nachgezeichneten Anrufungen der geschlechtlichen Vereindeutigung.

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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Auch Dunja hebt in der Kamelien-Gruppe hervor: Aber (.) wenn man (.) ich mein . wenn jetzt ’n Junge gemerkt hat dass er eigentlich lieber sich wie’n Mädchen anzieht , dann (.) soll er’s machen . soll selbst (.) seinen inneren Frieden damit finden (Dunja, Kamelien-Gruppe)

Für den „inneren Frieden“, also zur Überwindung eines negativen Grundzustandes, ist die Schaffung einer Kohärenz von äußerer und innerer Geschlechtlichkeit grundlegend, was auch René in der Weiden-Gruppe als Argumentationsgrundlage dient, wenn er von seinem Bemühen berichtet, bei einem christlichen Klassenkameraden Verständnis für Trans* Personen zu erzeugen: Jetzt versetz dich mal in die Rolle eines Transvestiten der auf die Welt kommt und (.) s=sich einfach falsch fühlt (.) hier in dieser Welt (.) und dann hab ich ihm gesagt . je= jetzt stell dir mal die Frage (.) wenn er sich falsch fühlt und diesen Gedanken ihn innerlich kaputtmacht und ihn jeden Tag plagt , so (.) ist es dann ’ne Sünde wenn er=wenn er s=seinen inneren Frieden finden möchte , wenn er sein=seine (.) sein=sein Soll auf dieser Welt (.) sucht und (.) inwiefern . was hat (.) Gott da was zu sagen , ich mein . äh (.) klar es heißt (.) so wie du auf die Welt kommst so sollst du leben (.) aber wenn du . als jemand anders auf die Welt kommst (.) dann stellt sich immer noch die Frage . ist es jetzt Gottes Wille gewesen dass du dich dein Leben lang schlecht fühlst , oder äh ist es Gottes Wille , dass du deinen richtigen Weg findest , weil er vielleicht einen Fehler gemacht hat (.) ja und dann (.) wusste er halt nicht mehr was er darauf antworten soll @@ (René, Weiden-Gruppe)

Auch hier wird der von René dargestellte Leidensdruck von ihm zur Legitimation von Trans* herangezogen und die Unhintergehbarkeit dieses innersten Empfindens betont („wenn er sich falsch fühlt und diesen Gedanken ihn innerlich kaputtmacht und ihn jeden Tag plagt“). Dabei wird das Naturhafte dieser inneren Geschlechtlichkeit betont, die einen ontologischen Charakter erhält und, als vergeschlechtlichtes Selbst, im Unterschied – und zugleich vorrangig – zum bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht stehen kann („aber wenn du . als jemand anders auf die Welt kommst“). Auffallend sind Renés (nur an dieser Stelle erfolgende) argumentative Bezugnahmen auf den christlichen Gott, was sich, so ist aus dem Kontext zu schließen, aus der hier berichteten Auseinandersetzung mit einem in Renés Augen streng christlichen Mitschüler ergibt. Das eigene geschlechtliche Empfinden wird von René mit „Gottes Wille[n]“ abgeglichen und ein argumentativer Weg gefunden, beides zu vereinbaren: „oder äh ist es Gottes Wille , dass du deinen richtigen Weg findest , weil er vielleicht einen Fehler gemacht hat“. Hier dient also die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung dazu, religiös fundierte heteronormative Vorstellungen argumentativ auszuhebeln. In diesen für Toleranz werbenden Positionierungen findet sich zugleich die Tendenz, geschlechtlich non-konforme Personen zu pathologisieren und zu vik151

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

timisieren: Sie erleiden in diesen Perspektiven einen inneren Druck, von dem sie nur durch das Ausleben ihrer (‚abweichenden‘) Geschlechtlichkeit oder Sexualität befreit werden können. Dadurch geraten sie in einen toleranzbedürftigen Status, in dem ihnen dann von den Jugendlichen – meist aus nicht ‚betroffener‘ Perspektive heraus – Anerkennung zugesprochen wird. Diese viktimisierende und ver-andernde Advocacy-Perspektive auf geschlechtlich oder sexuell ‚Abweichende‘ lässt sich, so wird hier argumentiert, auch als hetero-advokatorische Toleranz fassen.119 Dabei finden gleichzeitig implizit Ausschlüsse gegenüber denjenigen statt, die sich der (Anrufung der) Vereindeutigung entziehen – und die als nicht-intelligible geschlechtliche Seinsweisen in den Diskussionen gar nicht ‚mitgedacht‘ werden. Daneben gibt es, wenn auch seltener, weniger dramatisierende Bezugnahmen auf non-konforme geschlechtliche Selbstverwirklichung, wie etwa bei Helen in der Oleander-Gruppe: Ich find wenn die Leute glücklich sind sollen die glücklich sein @also mich. interessiert das dann nicht ob die Person eigentlich ’n Bart hätte . und äh (.) vielleicht eigentlich @keine Brüste oder so@ also mir ist das . in dem Fall dann auch egal (Helen, Oleander-Gruppe)

Hier erfolgt die Argumentation weniger über eine defizitzuschreibende Sicht und ohne Rekurs auf einen Leidensdruck, sondern anhand des normativen Maßstabs „glücklich sein“.120 Die Anerkennung wird dabei über das Ausdrücken der eigenen Gleichgültigkeit vollzogen, womit eine stärkere Normalität – die eben keiner besonderen Toleranz bedarf – impliziert wird. Diese aus positiven Begründungen schöpfende Bezugnahme auf geschlechtliche Selbstverwirklichung findet sich in den Gruppen vor allem in Momenten, in denen keine Spannungen zwischen innerem und gelebtem geschlechtlichen und sexuellen Selbst bzw. Sein gesehen werden, also beim Blick auf (häufig die eigene) heterokonforme Geschlechtlichkeit und Sexualität. Hier scheinen andere Faktoren für ein erfülltes, selbstverwirklichtes Leben in den Mittelpunkt gesetzt zu werden: die eigene Authentizität, die Freiwilligkeit und das Spaßhaben. 119 Götsch (2014) fasst dies unter dem Begriff der „Norm der tolerierenden Heterosexualität“; m. E. wird damit aber der Umstand der Heterosexualität als zu bewusst konzipiert, er ist ja eben die unsichtbare (und damit meist unausgesprochene) Normalitätshintergrundfolie. Der Terminus beinhaltet aber eine zentrale Beobachtung: Nur Heterosexuelle können als die „Normalen“ gegenüber Homosexuellen als den „Anderen“ tolerant sein, nicht umgekehrt. 120 Im Umkehrschluss kann das zwar auch auf die Zuschreibung eines ‚unglücklichen‘ Lebens vor den angesprochenen körpergeschlechtsgestaltenden Maßnahmen schließen lassen, jedoch bleibt diese mögliche Deutung hier weitaus impliziter als der Leidens-Bezug der vorherigen Beispiele.

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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Caro: Ich sag auch nicht dass ich mich für irgendwen verstelle , sondern . es ist einfach meins ich (.) bin gerne in dieser weiblichen Rolle drin , ähm (.) und (1) ja ich würde nicht sagen dass ich damit irgendnen Klischee bestätige oder wie auch immer . sondern wie Franziska gesagt hat es ist einfach . s bin ich . ich- s . bin ich selbst . und ähm . ich mach das nicht um irgendwem zu gefallen oder um irgendwie die weibliche Rolle zu bestätigen ((holt Luft)) oder öh auch andersherum irgendwie ’ne männliche Rolle sondern ähm (1) es ist einfach das was mir gefällt . und das leb ich dann aus in dem Moment und . denke gar nicht bewusst darüber nach ob das ’ne weibliche oder männliche Rolle ist sondern einfach das was ich mag (2) Ja Helen: ∟A- ich denk mal da gibt’s auch andere . Wenn man je- sich jetzt so unsere Stufe auch ankuckt Franziska: ∟Mmh Caro: ∟Mmh Franziska: Ja . undHelen: ∟Ich glaub da sind auch Leute bei Franziska: Ja . die sich vor allen Dingen auch für andere halt verstellen (und?) Helen: ∟Ja . Zum Beispiel diese . extreme Zicken.clique da , da ist eine bei die . wär glaub ich wenn die da jetzt nicht bei denen . wäre wär die glaub ich nicht- würd die sich nicht so weiblich benehmen oder so Franziska: ∟Ja Caro: ∟Ja . richtig Helen: So was zum Beispiel . Ja Caro: Gruppenzwang (1) bei vielen ne , also . das find ich (.) äh Gruppenzwang macht halt schon viel Helen: ∟Ja (Oleander-Gruppe)

Geschlechteraspekte werden für Caro in Bezug auf die eigene Person an dieser Stelle – ähnlich, wie es auch schon im Rahmen der Selbstbestimmung beobachtet wurde – zunächst als freiwillig („gern in dieser weiblichen Rolle“), dann aber als nebensächlich bzw. zufällig („denke gar nicht bewusst darüber nach ob das ’ne weibliche oder männliche Rolle“) gefasst.121 Als „Rolle“ ist Weiblichkeit nicht essenzieller Teil des innersten Selbst, sondern eine kontingente Ausprägung dessen. Die Selbstverwirklichung bedeutet somit hier, entsprechend dem inneren Ich zu leben, ohne sich einem äußeren Zwang (worunter für Caro auch Geschlechternormen zu fallen scheinen) anzupassen. Anders als in der Thematisierung von Abweichungen wird hier dem innersten Selbst kein geschlechtlicher ‚Instinkt‘ zugeschrieben (der die Selbstbestimmtheit in der Selbstverwirklichung diskursiv schmälern würde).

121 An anderer Stelle präsentiert sich Caro aber auch als „Mädchen durch und durch“ (vgl. Kap. 5.2.2), was stärker nach einer Verortung der Geschlechtlichkeit im Selbst klingt. Es zeigt sich also, dass die Bezugnahmen auf und Anknüpfungen an die Erzählungen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht immer konsistent sind bzw. variieren können. 153

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Geschlechtliche Selbstverwirklichung ließe sich hier demnach so fassen, dass die eigene Geschlechtlichkeit als ‚zufälliges‘, zugleich freiwilliges Ergebnis der individuellen Auslebung des eigenen Selbst entsteht – und somit zwar kontingent, aber autonom und ich-ursprünglich ist. Im Rahmen dieser Verhandlung einer anerkannten geschlechtlichen Seinsweise (verstanden als das Ergebnis einer gelungenen geschlechtlichen Selbstverwirklichung) zeigt sich darüber hinaus, dass sich auch innerhalb einer konformen Geschlechtlichkeit Formen finden, die intelligibel sind, aber weniger Anerkennung finden bzw. eine Abwertung erfahren: In der von Caro, Helen und Franziska gemeinsam gestalteten Weiterführung wird eine Abgrenzung zwischen der eigenen Gruppe und denen vorgenommen, die sich aus „Gruppenzwang“ heraus „auch für andere halt verstellen“, was in diesem Fall konkret auf Mitschülerinnen bezogen ist, die sich „so [extrem] weiblich benehmen“.122 Es scheint hier das Bedürfnis der drei Jugendlichen durch, die eigene – auch vergeschlechtlichte – Subjektivität als selbstbestimmte Verwirklichung des individuellen, authentischen und autonomen Selbst zu figurieren. In der Jasmin-Gruppe wird ebenfalls, als die Geschlechtsdarstellung am Mottotag diskutiert wird, explizit auf ein eigenes „Verstellen“ Bezug genommen, wobei die Teilnehmenden zu unterschiedlichen Schlüssen kommen: Chris: Ich bleib einfach ich und hab meinen Spaß dabei . Aaron: @ Fine: Mmmh Chris: Also (.) ich verstell mich jetzt nicht irgendwie . nur um . irgendwie einen rauszuhauen (.) ich bleib einfach ich (.) ja . (2) Chris, Fine, Maja: @@@ Danny: @Mir macht das Verstellen aber voll Spaß@ @@ Chris: Ja man hat seinen Spaß dabei . aber man bleibt trotzdem noch seine Person . Aaron: @ (Kichern) (Jasmin-Gruppe)

Chris’ Betonung, sich nicht (für eine Pointe) zu verstellen, und dem selbstreferenziellen Bezug „ich bleib einfach ich“ stellt Danny das Spaßhaben am „Verstellen“ entgegen – und betont damit dessen freiwilligen Charakter. Das wird dann von Chris zusammengeführt, indem der Spaß zugestanden wird, aber die eigene Authentizität – selbst in der Verkleidung – weiterhin betont wird. Speziell in Bezug auf

122 Auf die schwierige Gratwanderung, die damit insbesondere für Mädchen und Frauen mit einer anerkannten geschlechtlichen Seinsweise einherzugehen scheint, wird in Kap. 5.4.4 genauer eingegangen.

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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den Geschlechtertauschtag scheinen damit die Jugendlichen teilweise in diskursive Spannungsfelder zu geraten: Während in der Beschreibung der Inszenierung im Rahmen der Verkleidung die bewusste Übertreibung und die Distanz zum eigenen Ich betont wird, scheint es dann, wenn die Diskussionen expliziter um das eigene Selbstsein kreisen, wichtig zu sein, dieses Selbstsein als authentisch und unbeeinflusst zu rahmen. In der Weiden-Gruppe wird die Authentizitäts-Anrufung sogar explizit verbalisiert, als es um die durch die Interviewerin angestoßene Reflexion der eigenen ‚Echtheit‘ am Geschlechtertauschtag geht: René: Aber wenn man zu der Frage kommen will , was ist echt , so wie er schon sagt . wenn man dazu gezwungen wird und es überhaupt gar nicht will und es=jemand dieses Interesse auch gar nicht (.) aufbringen kann oder möchte , dann ist es . für mich . falsch . dann ist es nicht echt. dann ist es gelenkt (.) erzwungen und das wäre für mich falsch . Mirko: ∟Man braucht Authentizität @ René: Authentizität . ja Mirko: Genau , die braucht man . (Weiden-Gruppe)

Auch hier bildet der Bezug auf eine ungezwungene Authentizität eine normative Grundlage, auf der (hier nur implizit adressiertes) geschlechtliches oder sexuelles Sein oder Handeln seine Anerkennung oder Abwertung erhält. Dadurch wird das ‚authentische Ich-selbst-Sein‘ zum Wert an sich und zum Garanten (auch) für die eigene geschlechtliche Selbstverwirklichung. Unaufgelöst bleibt in den Diskussionen häufig, inwiefern der ‚Zugriff‘ auf dieses geschlechtliche oder vergeschlechtlichte Selbst, also dessen Auslebung, als selbstbestimmter Akt oder als Entsprechung des inneren Drangs gefasst wird – hier scheinen unterschiedliche Anknüpfungspunkte an die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität und Selbstbestimmung auf: Mal steht das Wollen im Vordergrund – demnach lässt sich die Geschlechtlichkeit nach eigenen Wünschen gestalten –, mal das Fühlen, wonach dann Geschlecht zwar immer noch gestaltbar, aber durch die Ausrichtung am naturhaften Empfinden determinierter erscheint. Ebenfalls bleibt diskursiv unabgeschlossen, inwieweit Geschlecht im ursprünglichen Selbst verankert (vgl. Kap. 5.3.1) ist. Es zeigt sich in den Diskussionen aber die Tendenz, in Momenten, in denen die eigene Handlungs- und Entscheidungsfreiheit verhandelt wird, das Selbst als prinzipiell geschlechtsneutral zu rahmen, wodurch die eigene Individualität – auch in Bezug auf die weiterhin mitgedachte, aber dann nachrangige Geschlechtlichkeit – stärker hervortritt. Hier zeigt sich eine gewisse Inkonsistenz mit Blick auf die parallel zu beobachtende diskursive

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Verinnerlichung der Geschlechtlichkeit (vgl. Kap. 5.1.1).123 Demgegenüber lässt sich in der Verhandlung non-konformer Geschlechtlichkeit und Sexualität Dritter bzw. Anderer ein konsequenterer Rekurs auf einen vergeschlechtlichten Kern ausmachen, der hier die legitimatorische Grundlage für die Ausgestaltung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung bildet. Es steht dann meist weniger im Fokus der Diskussion, das Lebensziel selbstbestimmt zu gestalten, sondern die Erfüllung der eigenen „Natur“ (ggf. auch gestalterisch) einzulösen. Dem Verständnis für das Los der VerAnderten, sich ihrem abweichenden Ich entsprechend anpassen zu „müssen“ bzw. selbstbestimmt anpassen zu können, um ein zufriedenes Leben zu führen, wird dabei keine Analogie einer Anpassung in Cis-Geschlechtlichkeit und Heterosexualität gegenübergestellt. Die eigene heterokonforme Geschlechtlichkeit wird vielmehr als unabhängig vom innersten Selbst – und zugleich als selbstbestimmter Ausdruck dessen – gerahmt. Das cis-geschlechtliche Empfinden ist dann kontingenter, aber authentischer Ausdruck des individuellen Ich. Konstant scheint aber die Anrufung zu gelten, die mit der Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung einhergeht: Bleib so wie du bist . verstell dich nicht (Lisa, Kamelien-Gruppe)

Damit wird eine Individualität und Einzigartigkeit betont, die für die Jugendlichen auch in Bezug auf ihre Geschlechtlichkeit eine besondere Bedeutung innehat.

5.3.4 Exkurs: Das Ich auf Arbeit – Perspektiven auf Geschlecht und Beruf Immer wieder nehmen die Jugendlichen im Reflektieren über ihre Geschlechtlichkeit Bezug auf berufliche Perspektiven. Die Art und Weise dieser Bezugnahme lässt auf eine Figurierung des Selbst schließen, das sich auch durch Arbeit verwirklicht. Hier steht weniger eine geschlechtliche Selbstverwirklichung, sondern vielmehr eine berufliche Selbstverwirklichung vor dem Hintergrund bzw. ‚trotz‘ der eigenen Geschlechtlichkeit im Fokus. Dieser Zusammenhang, so wie ihn die Jugendlichen herstellen, wird im Folgenden exemplarisch beleuchtet. Jan zeigt in der Kamelien-Gruppe das Spannungsverhältnis auf, das sich für ihn aus der Diskrepanz zwischen geschlechtsspezifischen beruflichen Erwartungen von 123 Der diskursive Bezug auf ein ebenfalls im Inneren verortetes geschlechtliches Empfinden scheint losgelöst von den expliziten Rekursen auf ein geschlechtsneutrales Ich zu stehen und für die Jugendlichen keinen diskursiven Widerspruch zu bilden.

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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Familie und Gesellschaft auf der einen und dem Anspruch, das eigene Leben auch beruflich nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, auf der anderen Seite ergibt: Jan: Ja . aber ich find (.) auch so dieses . Erwartungen , wie wir eben hatten . sind halt (.) heutzutage immer noch (.) mega, weil mein Onkel . ist zum Beispiel zu Hause . und meine Tante hat Karriere Lisa: ∟Ja . Jan: gemacht und verdient das Geld (.) und trotzdem . wenn wir dann alle zusammen am Tisch sitzen , und die so dadrüber reden . sieht man halt immer noch bei meinem Opa dass er es (.)irgendwie doch Dunja: ∟@ Jan: nicht so toll findet dass seine Tochter jetzt voll Karriere gemacht hat und nicht zu Hause sitzt . aber (.) der Mann zu Hause sitzt und sich um die Kinder kümmert . was (.) keine Ahnung . heutzutage Lisa: ∟Mmmh Jan: ist das normal (.) jeder soll machen wie er will . von mir aus können auch beide arbeiten Dunja: ∟Ja Jan: nur (.) die Kinder (.) aber (.) dass man deswegen dann immer noch (.) so (.) na nicht verachtende Blicke . das kann man auch nicht sagen . aber so (1) ja verständnislose Blicke kriegt . warum das jetzt Lisa: ∟verständnislose Blicke Jan: so ist und warum (.) der Mann n=n=nichts @aus seinem Leben gemacht hat@ und dass die Lisa: ∟@ Jan: Hand (.) alles in der Hand der Frau liegt und der zu Hause sitzt (3) keine Ahnung ich glaub , das dauert auch noch viele viele Jahre bei uns bis sich das ändert . Lisa: ∟Mmmh (Kamelien-Gruppe)

In Jans Ausführungen werden „Karriere“ und „Kinder“ als Aspekte von Selbstverwirklichung (als dem, was man „aus seinem Leben gemacht hat“) verhandelt, die Frauen und Männern auf unterschiedliche Weise als solche zugestanden werden. Von den traditionellen Geschlechtervorstellungen seines Großvaters grenzt sich Jan in der Darstellung seiner eigenen egalitären Position124 ab und kommt dabei zu dem – passiv bis fatalistisch formulierten – Schluss, dass die skizzierten traditionellen Erwartungen weiterhin bestehen und es „noch viele viele Jahre“ dauert, „bis sich das ändert“. Dass er dennoch in seinen Bericht über eine nicht-stereotype Arbeits- und Sorge-Verteilung in seiner Familie die Aussage einfließen lässt, „heutzutage ist das normal (.) jeder soll machen wie er will . von mir aus können auch beide arbeiten“, macht die Ambivalenz sichtbar, die auch schon in Kap. 5.2.3 deutlich wurde: Die Möglichkeit der Selbstverwirklichung unabhängig von geschlechtsspezifischen Zuweisungen wird sowohl als deskriptive Zustandsbeschreibung („heutzutage ist das normal“) als auch als normative Anrufung eingebracht („jeder soll machen wie

124 Im selbstverständlichen Bezug auf ‚die‘ Frau und ‚den‘ Mann wird zugleich die implizite Heteronormativität sichtbar, die dem skizzierten Familienmodell zugrunde liegt. 157

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

er will“). Andererseits werden zugleich abwertende Reaktionen („verständnislose Blicke“) hervorgehoben, wonach die Anerkennung von beruflich-reproduktiven Lebensentwürfen teilweise weiterhin geschlechtsabhängig erfolgt. Dass das geschilderte Szenario im Spannungsfeld von beruflicher Selbstverwirklichung und geschlechtsspezifischen Erwartungen für Jan selbst als großer Druck empfunden wird, wird an anderer Stelle nochmals besonders deutlich, in der innerhalb derselben Gruppe die unterschiedlichen Leistungserwartungen an Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männer diskutiert werden: Jan: dass Jungs so erwartet werden . ja klar . die sind sag ich mal die bad boys die rumsitzen , Dunja: ∟Ja Catherina: ∟im Sport gut , aber in der Schule Dunja: ∟@Genau@ @@@ Jan: sonst keine . sonst keine Hausaufgaben machen (.) ja dass wir hinten rumsitzen und ohne Catherina: ∟@Ja@ @@ Dunja: ∟@Ja@ Lisa: ∟Ja Jan: Hausaufgaben da ankommen , dass dass dass . aber dann plötzlich nach der Schule bei uns so der Schalter umgelegt wird und wir so (.) megagut studieren und ’n megaguten Job haben Lisa: ∟Mmmh Jan: und dann halt echt das Geld verdienen , obwohl’s (.) ja keine Ahnung . warum dürfen wir Lisa: ∟ ((bestätigender Laut)) Jan: in der Schule nicht (.) äh auch gut sein , sag ich mal . und später (.) dann (.) vielleicht ’n Dunja: ∟@ Jan: Job haben der uns Spaß macht , aber nicht so viel Geld bringt . oder so (.) und nicht auch Catherina: ∟Ja Lisa: ∟Ja Jan: erst mal so nach der Schule kucken (.) was müssen . können wir noch machen oder was interessiert uns wirklich , ein Freiwilliges Soziales Jahr (.) anstatt direkt anfangen zu studieren , weil halt die Eltern immer sagen . ja du weißt du musst Geld verdienen später . und du brauchst ’n guten Lisa: ∟Ja Jan: Job . und das Catherina: Mmmh Dunja: Jep (6) (Kamelien-Gruppe)

Jan knüpft an die dem Ausschnitt vorangehenden Ausführungen von Lisa und Catherina über das gesellschaftliche Bild von Mädchen als guten und fleißigen Schülerinnen an und nimmt die diskutierte Geschlechterungleichheit im Bildungsund Berufssystem ebenfalls in den Blick, allerdings mit einem anderen Fokus:

5.3 Die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung

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Er zeichnet eine gewissermaßen automatische Entwicklung der Jungen von den schulischen „bad boys“ hin zu erfolgreichen Studenten und gutverdienenden Berufstätigen, kritisiert aber den Erfolgs- und Leistungsdruck, der auch für ihn selbst als Adressat („wir“) dieser damit implizierten Anrufung verbunden scheint.125 Für das Berufsleben entwirft er dann ein Gegenbild zur männlichen ‚Karriere‘, in dem Männer ihre beruflichen Pläne eher nach Neigungen oder sozialem Engagement gestalten können, und damit dann ggf. später einen „Job haben der uns Spaß macht , aber nicht so viel Geld bringt“. Das „auch“ impliziert dabei den Vergleich zu Frauen, die in dieser Hinsicht als freier entworfen werden. Es zeigt sich also auch hier ein diskursives Anknüpfen an Selbstverwirklichung (auch) in beruflicher Hinsicht und die Verschränkung mit der eigenen Geschlechtszugehörigkeit. Ähnliches findet sich in derselben Gruppe bei Lisa – hier unter anderen (Geschlechter-)Vorzeichen: Bei meinem Freund seh ich’s halt . bei dem war immer klar . also die Mama war halt zu Hause, und das ist halt auch irgendwie normal gewesen (.) und das war schon (.) so , dass ich halt ganz klar gesagt hab . nö ich will arbeiten . ich will keine Kinder . ich will erstmal Karriere machen (.) und das ist schon , wenn du das so sagst . dann ist erstmal (.) oh ok , also dann merkt man schon wie die anderen so’n bisschen zucken und fragen . häh (.) du bist doch (.) ’ne Frau und du kriegst doch auch Familie . >das ist doch einfach so< (spöttisch) (.) und bei Jungs ist halt einfach . >ja mach dein Ding< (gewichtiger Tonfall) (.) find=mach Karriere . irgendwie ist das schon anders (.) aber man muss halt . so für sich selber entscheiden was einem da wichtig ist . und ich glaube . das hat halt einfach so viel damit zu tun wie man geprägt ist von der Familie und was die Eltern einem da auch einfach vorleben (Lisa, Kamelien-Gruppe)

In Lisas Ausführungen hängen berufliche Perspektiven und das eigene Geschlecht ebenfalls durch damit verbundene spezifische Erwartungen der „anderen“ eng zusammen. Doch auch wenn der hieraus für sie entstehende Erwartungsdruck von ihr reflektiert wird („also dann merkt man schon wie die anderen so’n bisschen zucken und fragen . häh (.) du bist doch (.) ’ne Frau und du kriegst doch auch Familie . >das ist doch einfach sohä und hier und da und . wie sitzt meine Frisur , und wie Fabienne: ∟ja ∟@@ ∟@ Mona: sitzt das Makeup< (betont übertrieben gesprochen) @und äh . und die Mädchen waren dann (.) ja >hallo . na , wie geht’shey ja (.) du siehst ja voll gut aus< (nachahmender Tonfall) (Jessica, Linden-Gruppe)

Wenig später wird erneut die „Normalität“ und zugleich Unabwendbarkeit dieser Erfahrung unterstrichen: Viola: Ja das ist normal . also in der Disco pff (2) da kann man auch so viel machen wie man will und Jessica: ∟Ja . auf jeden Fall Viola: sagen und tun und zeigen (Linden-Gruppe)

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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Männliches Verhalten wird in der überspitzten Darstellung am Mottotag sehr häufig auf Frauen bezogen und scheint auf der Ermächtigung über sie vor dem Hintergrund sexueller Konnotationen zu beruhen. Geschlechtlichkeit wird hier also vor allem als heterosexualisiertes Dominanzverhältnis produziert: Die hierarchisierte Gegengeschlechtlichkeit scheint für die Performances an dem Tag der primäre Anknüpfungspunkt zu sein. Die Jugendlichen stellen dabei einen engen diskursiven Zusammenhang zwischen Männlichkeit und sexueller Macht auf der einen und zwischen Weiblichkeit und Ohnmacht auf der anderen Seite her, was sich z. T. auch in ihren berichteten Alltagserfahrungen widerspiegelt.141 Ebenso ‚selbstverständlich‘, wie hier die Alltagserfahrungen von Frauen gemeinsam verhandelt werden, erwähnen mehrere männliche Teilnehmende in verschiedenen Gruppen eigene Erfahrungen von (sexualisierter) Objektisierung in ihrer Frauenverkleidung am Geschlechtertauschtag. So berichtet etwa Thomas in der Hasel-Gruppe: @Mir wurde dauernd an die Brüste gefasst@ (.) ich hatte halt auch ein bisschen was vorn drin (Thomas, Hasel-Gruppe).

Ähnlich klingt es bei Samuel in der Dahlien-Gruppe: Samuel: Ich wurd halt dann den ganzen Tag angemacht so (.) und dann wurd mir am Arsch gefasst und @@@ Viola, Jessica: @@@ I: Und das war ’ne neue Erfahrung? Samuel: Nja , Viola: @ Samuel: ∟@ (1) Und an meine Sockenbrüste wurd mir (.) ge.fackt=gepackt @@ uups @ ja . und Jessica: ∟@@ Samuel: äh (.) ja war halt komisch so das (.) Gefühl . also ich wusste ja ich . also ich kenn die ja (.) deswegen war das halt nicht so schlimm, aber (.) trotzdem irgendwie (.) Jessica: ∟Eigentlich hat es ihm gefallen , will er damit sagen aber er gibt es nicht zu Viola: ∟Hat es dich denn . hat es dich denn zum Nachdenken gebracht wie du mit Frauen bald umgehen wirst? Samuel: Ach . ich bin immer Gentleman . (2) (Linden-Gruppe) 141 Zugleich findet sich in den Diskussionen keine explizite Bezugnahme auf aktuelle (auch medial verhandelte) Debatten wie die unter dem Motto „Nein heißt nein“ durchgeführten Kampagnen zur 2016 erfolgten Änderung des deutschen Sexualstrafrechts oder die seit 2017 vor allem in den Sozialen Medien aktive #MeToo-Bewegung. 183

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Hier wird der Tag im ‚anderen‘ Geschlecht auch mit Blick auf die körperliche Erfahrung verhandelt: Der Zugriff Dritter auf den eigenen Körper und die eigene Ohnmacht scheint für viele Jungen, so bestätigt es Samuel auf die konkrete Nachfrage der Interviewerin, eine neue Erfahrung gewesen zu sein. Die Formulierungen unterstützen den Eindruck der Passivität, die mit den auf diese Weise gemachten Erfahrungen ‚als Frau‘ einherzugehen scheint. Auffallend ist, dass mit den hier berichteten Erfahrungen zunächst keine Verurteilung verbunden ist, sondern dies für die Teilnehmenden zur Erfahrungswelt des dargestellten Geschlechts anscheinend dazugehört. Die Neckerei durch Jessica („eigentlich hat es ihm gefallen“) scheint auf ein impliziertes trans- oder homosexuelles Empfinden anzuspielen – dessen Unterstellung hier erneut den Kern des Scherzes bildet. Ebenfalls eher scherzhaft, aber dennoch auf einer reflexiven Ebene, schließt die Frage Violas an, mit der sie eine Übertragung der individuellen Erfahrungen am Mottotag auf allgemeine Positionierungen im Geschlechterverhältnis anregt, wobei der Rahmen das hierarchisierte Verhältnis, in dem Männer „mit Frauen […] umgehen“, bleibt. Samuels Antwort „ich bin immer Gentleman“ knüpft daran an und impliziert ein ganz spezifisches, nämlich ungleiches und heteronormatives, Verhältnis zwischen Frau und Mann – wobei sich hiermit zugleich von einem sexuell übergriffigen Verhalten abgegrenzt wird. Die geschlechtliche Selbstbestimmung könnte in diesem Fall so gelesen werden, sich als Mann ‚freiwillig‘ im eigenen heterosexuellen Begehren zu kontrollieren und das Begehrensobjekt – die Frau – gemäßigt, nämlich wie ein „Gentleman“, zu ‚behandeln‘. In der Jasmin-Gruppe wird, ebenfalls ausgehend von den Erfahrungen der Teilnehmenden in der Frauenverkleidung am Mottotag („ja . also man wird auch (.) einem oft hinterhergepfiffen“, Chris), in kritischer Reflexion auf Alltagserfahrungen von Frauen übergeleitet: Aaron: Frauen finden’s ja auch nicht schön wenn man immer blöd angemacht wird (.) so isses doch . Fine: Ja (Gemurmel) Maja: Ja wenn einem hinterpfiffen wird denkt man sich auch nur so . nicht hinkucken . nicht reagieren Fine: ∟sondern einfach geradeaus gehen . Maja: ∟weitergehen Chris: Ja . (Jasmin-Gruppe)

Aarons Argumentation, dass Frauen „immer blöd angemacht“ würden und dies „auch nicht schön“ fänden, schließen sich Maja und Fine an und führen ihre Umgangsweisen in diesen Fällen aus, die in der Darstellung („nicht hinkucken . nicht

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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reagieren . weitergehen“; „einfach geradeaus gehen“) sehr resignativ klingt und in der man-Form verallgemeinernden Charakter erhält, mit dem Maja dies als generelle Erfahrung für (alle) Frauen ausweist. Es scheint also in den Gruppen häufig ein geteiltes Wissen zu sein, dass Frauen im Alltag sexualisierten Übergriffen ausgesetzt sind. Oder anders ausgedrückt: Der männliche Anspruch auf die sexuelle Verfügbarkeit von Frauen wird zwar vereinzelt kritisiert, aber – und das sticht besonders hervor – von den Jugendlichen insgesamt zugleich als selbstverständliche Tatsache verhandelt. Die zweigeschlechtliche Zuweisung von Aktivität und Passivität in Verbindung mit heterosexueller Dominanz mündet in der Geranien-Gruppe in eine allgemeine drastische Diskussion geschlechtsspezifischer weiblicher Verletzlichkeit bzw. Verletzungsoffenheit und männlicher Täterschaft: Mona: Man hat ja so eine Ausstrahlung als Mädchen (.) als Mädchen ist man nicht so (.) also das Natalia: ∟Ja Mona: typische Mädchen ist nicht . ist eher die die beschützt werden sollte als die Beschützerin (.) und die hat dann sowas . Verletzliches und . etwas was behutsam behandelt werden sollte (.) das kann man nicht in Worte fassen , das ist einfach . das hat mit der Ausstrahlung zu tun . als dass man das jetzt äh Natalia: ∟Ja Mona: festmachen könnte an dem Aussehen oder (.) ja vielleicht an dem Aussehen schon , weil die ja Natalia: ∟Ja Mona: kleiner sind die Mädchen und schlanker und . zierlicher. und . einen feineren Knochenbau Fabienne: ∟@ ∟Mmmh Mona: haben als die Jungs Fabienne: Ja (.) vielleicht einfach , dass man auch . ruhiger ist . und (2) @nicht so draufgängerisch@ I: Und könnte man denn diese Ausstrahlung kopieren oder übernehmen? (2) Natalia: Ich glaube nicht (.) also weil (.) ich weiß nicht . also es liegt einfach so immer an den Zügen . sag ich mal und die kann man irgendwie nicht (.) äm ja verändern , weil (.) die meisten Jungens haben halt dann äm (.) mehr Muskeln als die Mädchen oder halt (.) ja ein’ breiteren Körperbau . und einfach äm (.) ja sehen dann (.) also haben dann zum Beispiel breitere Schultern . und sind halt dann an den Hüften zum Beispiel nicht äm so rund wie dann äm einige Mädchen . also (.) ich find dann . äm die Züge machen sehr viel aus . und das sieht man einfach , selbst wenn man=wenn man versucht dann halt das mit den Klamotten zu verstecken (4) I: Sehn das die anderen auch so? (2) Mona: Also ich find vor allem (.) um das Thema ma=mal so anzusprechen , die Jungs hab’n ja (.) oder Männer allgemein haben ja die Gelegenheit , äh eine Frau zu vergewaltigen . und dann f- ham die eher (.) so eine Stärke . oder eine Macht über die Frau als die Frauen über einen (.) Jungen (.) sie können das ja auch machen , aber das ist ja nicht (.) wirklich (.) jetzt so (.) krass wie bei (.) Jungen oder Männern . und dann (.) is man (.) finde ich jetzt (.) ’n bisschen unterlegen (.) also dem Geschlecht unterlegen (.) und da (.) hat man auch so’n bisschen eher Respekt vor . indirekten Respekt . man hat natürlich nicht vor jedem Mann einen Respekt , aber (.) man hat schon eine indirekte Angst . find ich (.) irgendwo (.) ganz- also wenn man ehrlich zu sich selbst ist , find ich . hat man irgendwo Angst weil (.) wenn ich mir auch vorstelle allein zu reisen (.) ist der erste Aspekt , der mir dann einfällt 185

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

(.) ist das nicht gefährlich für mich als Mädchen . allein (.) als blondes Mädchen . blauäugig . was ja (.) typisches Klischee fü=auch für (.) so (.) zarte Mädchen ist und schwache Mädchen (.) ja . das ist so . was mir auch oft so in den Sinn kommt , weil ich auch selbst mal reisen wollte . oder reisen will . und dann denkt man direkt an dieses (.) ja (.) Unterlegensein und . Schwächersein . (3) (Geranien-Gruppe)

Mona, Natalia und Fabienne betonen hier übereinstimmend die grundsätzliche weibliche Verletzbarkeit und Schutzbedürftigkeit, die sie – an dieser Diskussionsstelle – an einer bestimmten, aber nicht näher definierten Ausstrahlung sowie an Körperlichem als essenziellem Geschlechterunterschied festmachen, der hier als unveränderlich diskursiviert wird (wobei eine Relativierung durch die Erwähnung stattfindet, dass das skizzierte männliche Körperbild auf „die meisten Jungen“ zutrifft). Die mit „mehr Muskeln“ und einer „breiteren“ ebenso wie mit einer „schlanker[en]“, „zierlicher[en]“ und „feiner[en]“ Erscheinung in der Regel verbundene Arbeit am eigenen Körper und entsprechendes vergeschlechtlichtes Schönheitshandeln werden dabei durch Naturalisierung verunsichtbart. Monas Überleitung zur Thematisierung einer generellen weiblichen sexuellen Verletzungsoffenheit („um das Thema ma=mal so anzusprechen“) lässt darauf schließen, dass ihre folgenden Ausführungen für sie nicht leicht zu artikulieren sind und sie sich dazu zunächst überwinden muss. Hier nennt sie dann als Kern des Geschlechterverhältnisses – als dadurch per se hierarchische Beziehung – die potenzielle Fähigkeit von (allen) Männern, Frauen zu vergewaltigen, also die prinzipielle (sexuelle) Verletzungsmacht der Männer und die grundsätzliche (sexuelle) Verletzungsoffenheit der Frauen („Männer allgemein haben ja die Gelegenheit , äh eine Frau zu vergewaltigen“). Die Wirkmächtigkeit dieser Figuration scheint für Mona so stark zu sein, dass das damit verbundene Risiko bzw. eine daraus erwachsende Angst für Frauen in ihren Augen in jeder zwischengeschlechtlichen Beziehung mitschwingt. In dieser Perspektive kann es damit kein gleichberechtigtes bzw. hierarchiefreies Verhältnis zwischen Frauen und Männern geben, da es immer zugleich ein potenzielles Gewaltverhältnis ist. Und obwohl Mona die ihr selbst zugeschriebene Schwäche als „typisches Klischee“ markiert, scheint sie diese zugleich als handlungseinschränkend zu empfinden.142 Während dieses heterosexualisierte Machtverhältnis hier auf körperliche Geschlechterunterschiede zurückgeführt – und damit diskursiv essenzialisiert – wird, finden sich in derselben Diskussion auch Anknüpfungspunkte an ein verändertes Erleben der eigenen (Ohn-)Macht im (gleichgebliebenen) Körper. So berichten 142 Implizit deutet sich hier außerdem in der geäußerten Empfindung der besonderen persönlichen Gefährdung „als blondes Mädchen . blauäugig“ auf potenziellen (Welt-) Reisen der rassifizierte und koloniale Topos der durch den Schwarzen Mann bedrohten weißen Frau an (vgl. u. a. Dietrich 2007; Hark/Villa 2017).

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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die drei Jugendlichen, dass sie sich am Geschlechtertauschtag in der männlichen Verkleidung anders gefühlt haben: Fabienne: Ich glaub jeder von uns wollte auch schon mal so (.) für’n Tag oder so ein Junge sein . das war halt ziemlich cool dann mal in diese Rolle hineinzuschlüpfen , aber es war halt nicht wirklich so , als wär man ein Junge im Endeffekt , aber (.) es kam dem denk ich schon . ziemlich nah . also das war schon eigentlich ganz cool (.) das mal so zu machen (.) die (.) Gelegenheit dazu zu haben , sich so @zu verkleiden@ (.) Mona: Ja . man fühlt sich auch ein bisschen stärker . und ein bisschen wie ein Beschützer . und nicht wie ein (.) armes Mädchen , was Hilfe braucht . und was die (.) von der Stärke des anderen angewiesen ist . und (.) ja (.) I: Und wodurch ist das gekommen? (2) Fabienne: Ich denk mal . hauptsächlich durch die Klamotten , Natalia: Ja Mona: Ja (2) (Geranien-Gruppe)

Fabienne fügt kurz darauf hinzu: Ich find das kann man sehr gut daran festmachen auch (.) dass es ja auch nur im Kopf so ist . ja ich bin ein Mädchen , ich bin . schwächer . ich äh . weiß nicht @bin weniger wert vielleicht@ . aber dass es ja nicht unbedingt so sein muss (.) dass es halt sich wirklich mehr im Kopf abspielt (Fabienne, Geranien-Gruppe)

Mona artikuliert das Gefühl einer machtvolleren und überlegenen Positionierung („wie ein Beschützer“) gegenüber ihrer sonstigen Verortung als „armes Mädchen , was Hilfe braucht“, was alle drei auf Nachfrage auf die Verkleidung bzw. die Kleidung zurückführen. Von Fabienne wird zudem herausgestellt, dass auch das in dieser Gruppe als Konsens diskutierte Gefühl von Schwäche und Minderwertigkeit, was für alle drei mit dem (eigenen) Mädchensein einhergeht, „ja auch nur im Kopf so ist“ und dass es zugleich „ja nicht unbedingt so sein muss“. Auch hier werden also körperbezogene Erfahrungen am Geschlechtertauschtag diskutiert. Dabei werden eigene vergeschlechtlichte Empfindungen in reflexiver Distanz hinterfragt und als z. T. von den eigenen Geschlechtervorstellungen konstruiert verhandelt. Vergeschlechtlichte hierarchische Positionierungen scheinen teilweise mit der Verkleidung übernommen zu werden, Macht wirkt hier also durch die Performance. Es deutet sich hier eine Sicht der Jugendlichen auf die „Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität“ (Butler 1991: 202) an, die Butler als durch Travestie offenbart

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

sieht (vgl. Kap. 3.3).143 Indem die Diskussionsteilnehmerinnen am Mottotag mit der Verkleidung auch ein Macht- und Überlegenheitsgefühl des ‚anderen‘ Geschlechts übernahmen, wurden diese Empfindungen für sie, zumindest im Moment der Diskussion, als losgelöst von Mannsein oder Männlichkeit denkbar – und somit vormals vergeschlechtlichte Zuschreibungen nun als kontingente Ausprägungen verhandelbar. Allerdings scheinen diese Erfahrungen für die jugendlichen Diskussionsteilnehmenden nicht zu einer Reformulierung der alltäglichen Geschlechtervorstellungen und eigenen Geschlechtlichkeit bzw. zu einer Relativierung körperlicher geschlechtsspezifischer Zuschreibungen zu führen. So erweisen sich diese außerhalb von Reflexionsmomenten wie dem oben angeführten für die Jugendlichen als weiterhin sehr präsent und wirksam. Mit der polarisierten Zweigeschlechtlichkeit und der damit verbundenen geschlechtsbasierten Öffnung und Schließung von Handlungsspielräumen finden die Erzählungen von geschlechtlicher Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eine diskursive Einhegung, die Positionierungen außerhalb dieser stark umgrenzten Binarität schwerer erscheinen lassen. In Bezug auf die Verletzbarkeit zeigt sich bereits der diskursive Körperbezug. Beides findet im Rekurs auf Fortpflanzung bzw. Reproduktion als Ursache der Verletzlichkeit einen Kristallisationspunkt, der eine zentrale diskursive Begrenzung der Erzählungen von geschlechtlicher Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung darstellt und im Folgenden ausgeführt wird.

5.4.3 Endstation Mutterschaft: Reproduktion als diskursive Geschlechtergrenze Eine weitere zentrale diskursive Eingrenzung erfahren die Erzählungen über Bezugnahmen rund um Reproduktion, wenn die Annahmen grundsätzlicher Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit an eine diskursive Schranke stoßen. Insbesondere Mutterschaft wird dabei durchweg als biologisch begründete, unhintergehbare Essenz des Frauseins – und damit als das zentrale Unterscheidungsmerkmal zwischen Frauen und Männern – angeführt. So wird in der Oleander-Gruppe die Frage nach Geschlechterunterschieden mit Verweis darauf beantwortet:

143 Die von Butler unter der Bezeichnung „Travestie“ bezeichneten Cross-Dressing-Praktiken sind, anders als der Mottotag, dezidiert im subkulturellen Kontext verortet.

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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Franziska: Ja und dass wir halt Kinder kriegen (1) so was halt natürlich . das- das ist einfach Caro: ∟Ja Helen: ∟Ja Franziska: nicht . biologisch . natürlich . änderbar . Das ist halt einfach so . (Oleander-Gruppe)

Zentrale Geschlechtsunterschiede sind – darin sind sich Franziska, Caro und Helen einig – somit jene, die als „biologisch“ oder „natürlich“ konstant angesehen werden. Mit Rückgriff auf die Biologie wird durch den Bezug auf Mutterschaft eine naturalisierende Argumentation der Geschlechterunterscheidung angeführt, die der flexiblen Geschlechtsgestaltung ihre unüberschreitbare Grenze setzt – und im Umkehrschluss etwa Trans* Frauen implizit vom Frausein ausschließt. Durch die Konstatierung „dass wir [als Frauen] halt Kinder kriegen“ wird zudem eine zwangsläufige und kausale Verbindung zwischen Frausein und Reproduktion gezogen, die über eine reine Gebärfähigkeitszuschreibung hinausgeht – wie hier sind in den meisten Argumentationen der Jugendlichen Frauen nicht nur diejenigen, die Kinder kriegen können144 , sondern diejenigen, die Kinder kriegen. So betont auch Natalia in der Geranien-Gruppe: „Frauen bekommen Kinder“. Die an anderen Stellen so hervorgehobene individuelle Entscheidung wird in Bezug auf das Kinderkriegen also weniger prominent gemacht. Die Partizipation von Frauen an der Fortpflanzung (hier bezogen auf Schwangerschaft und Geburt) sowie der damit assoziierte Kinderwunsch können somit als Pflicht bzw. Anrufung gelesen werden, die implizit, oder, wie im folgenden Fall durch Mirko in der Weiden-Gruppe, auch explizit formuliert wird: Mirko: Frauen (.) sind (.) ja (.) ihr müsst Kinder kriegen . I: ((ausatmen)) Mirko: Is halt so . ne , I: Müssen wir? Mirko: Ihr müsst sie nicht unbedingt . aber (.) es ist von der . von der (.) vom biologischen Standpunkt her so (.) gesehen , dass ihr dazu da seid , Kinder zu kriegen , und wir sie zu zeugen (Weiden-Gruppe)

144 Nicht (mehr) fruchtbare oder nicht gebärfähige Frauen (und Mädchen) oder Trans* Frauen kommen in den Argumentationen nicht vor. Zudem wird im Kontext der Diskussionen deutlich, dass „Kinder kriegen“ ausschließlich auf eigene biologische Kinder bezogen ist. 189

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Hier wird durch die Nachfrage145 der Interviewerin die vermeintliche Zwangsläufigkeit des Gesagten zum Thema gemacht. Als Antwort wird von Mirko die Biologie als Argument herangezogen, mit der eine vergeschlechtlichte Seinsbestimmung vorgenommen wird. So wird nicht nur betont, dass biologisch gesehen (nur) Frauen Kinder kriegen und (nur) Männer Kinder zeugen, sondern vielmehr, dass das auch jeweils das (vergeschlechtlichte) Seinsziel ist: Reproduktion wird zur Daseinsberechtigung des vergeschlechtlichten Subjekts schlechthin. Die Binarität „Kinder zu kriegen“ und „sie zu zeugen“ wird als der zentrale Unterscheidungspunkt innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit und zugleich als Grenze der Flexibilität im Hinblick auf die körperliche Geschlechtlichkeit (und deren Anpassung an das Innere) angesehen. Zugleich wird der Selbstverwirklichung hier eine klare Zielmarke gesetzt – die Reproduktion und die damit verbundenen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen. Auch in der Linden-Gruppe wird, in der Begründungssuche für geschlechtssegregierte Berufe, von Samuel die Mutterrolle qua Geschlecht zugeschrieben: Viola: Frauen sind da halt eher so (.) feinfühliger Samuel: Ich würd auch vielleicht sagen einfach so das . Mütterliche einfach so vielleicht einfach dass man äh (.) auch (.) ich weiß nicht ich bin da halt ein Mann . aber äh (.) wenn man vielleicht auch noch Viola: ∟Ja ja genau . genau Jessica: ∟Mmmh Samuel: (.) keine F=Mutter ist oder so hat=vielleicht trotzdem einfach so (2) die Veranlagung dafür . weiß ich nicht also ich (.) (Linden-Gruppe)

Samuels Bezug auf Frauen, die „noch keine F=Mutter ist“, entwirft Mutterschaft als unhintergehbare geschlechtliche Bestimmung der Frau – hier ließe sich sogar der enthaltene Versprecher, der das Wort „Frau“ erahnen lässt, so deuten, dass das Frausein mit Mutterschaft diskursiv gleichgesetzt wird – wer „noch keine“ Mutter ist, ist auch „noch keine“ Frau. Auch Samuels Mitdiskutantin Viola bekräftigt kurz darauf nochmals: Ja also F- äh . Frauen (.) also die meisten wollen ja irgendwann mal Kinder haben also dieses Mütterliche ist ja dann irgendwie in jeder Frau dann irgendwo drin (Viola, Linden-Gruppe). 145 In dieser Diskussion, welche die Interviewerin mit zwei Männern durchführte, wurde die Interviewerin mehrmals direkt als ‚Vertreterin‘ der Geschlechtergruppe der Frauen adressiert; im vorliegenden Ausschnitt nimmt sie diese vergeschlechtlichte Zuordnung auf, um aus dieser Position heraus die damit verbundene inhaltliche Zuweisung von Mirko zu hinterfragen – womit sie für einen Moment die Rolle der eher außenstehenden Diskussionsbeobachterin oder ‚neutralen‘ Moderatorin verlässt und aktiv in die Diskussion eintritt.

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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Während Viola zunächst ihre eigene generalisierende Zuschreibung eines prinzipiellen Kinderwunsches bei „Frauen“ mit der Ergänzung „also die meisten“ relativiert, schließt sie ihre Argumentation mit einer essenzialisierenden Folgerung auf „dieses Mütterliche“ als „in jeder Frau“ zu Verortende. Die hier auf das Naturhafte des Mütterlichen rekurrierenden Argumente scheinen von den Jugendlichen vergleichsweise zögerlich und vorsichtig („vielleicht“; „weiß nicht“; „irgendwie“; „irgendwo“) hervorgebracht zu werden. Möglicherweise lässt das auf ein Diskurswissen der Jugendlichen schließen, wonach Rekurse auf die Natur in diesem Zusammenhang nicht spannungsfrei sagbar scheinen. Der Aspekt der (geschlechtlichen) Selbstbestimmung – und jener der Flexibilität – fällt demnach in vielen Diskussionen rund um Reproduktion heraus und der geschlechtlichen Selbstverwirklichung wird eine bestimmte Richtung vorgegeben, Mutterschaft wird hier primär als naturalisierte Folge des Frauseins verhandelt. Wie schwierig vor diesem Hintergrund die Artikulation davon abweichender Selbstkonzepte zu sein scheint, zeigt sich, als in der Hasel-Gruppe eine Entscheidung gegen eigene Kinder erörtert wird; ein Kinderwunsch wiederum erscheint nicht begründungsbedürftig: Rosa: Was . du willst keine Kinder? Lina: (verneinend) Mhmh . Rosa: Echt nicht? Lina: Mhmh (.) Ich will Tante werden . Rosa: ∟Das kommt noch . Lina: Ja . das kommt noch (.) ja . das sagen mir immer alle (.) aber . ich weiß nicht . ich hab da irgendwie keinen Bock drauf (.) so ich will lieber Rosa: ∟Das kommt noch Lina: ∟Jaja (.) ich will lieber irgendwie äh @Spaß haben@. @@@ (Hasel-Gruppe)

Zunächst zeigt sich durch das hier formulierte Bestehen auf dem Wunsch der Kinderlosigkeit eine Flexibilität im Hinblick auf die soziale Bestimmung qua Geschlecht. Hier könnte also eine Dimension von geschlechtlicher Flexibilität im Hinblick auf die Mutterrolle gesehen werden, die nicht (mehr) automatisch aus der Geschlechtszugehörigkeit erwächst, sondern auf der eigenen Entscheidung beruht. Lina stellt somit die Selbstverständlichkeit von Eltern- bzw. Mutterschaft infrage. Durch den von ihr geäußerten Wunsch, Tante zu werden, scheint zudem zwar eine alternative Bezugnahme auf intergenerative Beziehungen und die eigene Rolle darin auf – Lina imaginiert in dieser Vorstellung ihre zukünftige Beziehung zu Kindern nicht über Elternschaft, aber dennoch über verwandtschaftliche Gefüge –, diese 191

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

findet jedoch anscheinend bei den anderen keine gleichwertige Anerkennung zur (biologischen) Eltern- bzw. Mutterschaft. Die hier anklingende Flexibilität wird schnell in ihre Grenzen verwiesen: Mit ihrem zweifachen Einwurf „das kommt noch“ setzt sich Rosa über die von Lina selbst(bestimmt) geäußerte Absicht, keine Kinder zu bekommen, argumentativ hinweg und schreibt das Entstehen eines Kinderwunsches bei ihrer Gesprächspartnerin als zwangsläufige und unhinterfragbare Entwicklung fest. Linas Argumentation scheint von ihr gar nicht wirklich wahrgenommen zu werden. In der Artikulation einer Alternative zur Mutterschaft deutet sich hier also weniger eine Unsagbarkeit als eine Unempfänglichkeit an. So macht auch dieser Dialog deutlich: Kinderkriegen wird fast durchweg als weibliche Seinsbestimmung gelesen, sodass lediglich Abweichungen hiervon erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig erscheinen und eine selbstbestimmte Entscheidung gegen Kinder sich nicht auf anerkannte Weise in die Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung einfügt. Auch Folgen von Mutterschaft, also Hürden und Begrenzungen, die für die Jugendlichen aus der Verbindung von Frausein und Mutterschaft erwachsen, werden (ebenfalls vor dem Hintergrund der Zwangsläufigkeit dieser Verbindung) thematisiert und in ihren gesellschaftlichen Verankerungen diskutiert; diese werden durch die Rückführung auf die Reproduktionsbestimmung letztlich ebenfalls wieder biologisiert. Irgendwie äm wird halt den Mädchen immer so dieses . äm . ja verletzliche und zerbrechliche und so zarte und schöne Ideal nachgesagt . also dass die Men- dass die Mädchen halt nur . schön sind und die Männer dann halt stark . und die dann äm beschützen müssen . also . das sind halt immer diese Klischees . und äm (.) ja vor allem bei den (.) Mädchen ist das . also ich glaub , das ist einfach biologisch. sag- also . das macht ja auch irgendwo Sinn, dass das Mädchen dann (.) äm (2) ja es macht biologisch Sinn , dass äm das Mädchen dann . äh (.) ja wie soll ich das sagen , (2) also ich versteh das schon von der Biologie her . weil Mädchen müssen ja . also beziehungsweise Frauen . bekommen Kinder . und (.) müssen dann äm in der Zeit von dem (.) von irgendjemandem beschützt werden . aber trotzdem äm hat sich das halt äm (.) ja als negatives Ideal fe=festgesetzt (Natalia, Geranien-Gruppe).

Während Natalia das Bild der schwachen und verletzlichen Frau zunächst kritisch als Klischee herausstellt, führt sie anschließend mit Rekurs auf die Reproduktion als biologische Bestimmung der Frau eine naturalisierte Herleitung an, mit der sie die Schutzbedürftigkeit der Frau und den Beschützer-Status des Mannes begründet. Die Unumgehbarkeit der Mutterschaft wird hier durch die Korrektur der eigenen Formulierung doppelt deutlich („weil Mädchen müssen ja . also beziehungsweise Frauen . bekommen Kinder“), wonach es sich bei der Beteiligung an der Reproduktion bei Frauen um eine Pflicht bzw. um einen Automatismus handelt.

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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In der Hasel-Gruppe wird die enge Verknüpfung von Frauen und „Kinderkriegen“ mit gesellschaftlichen Faktoren in Verbindung gebracht: Lina: Aber ich glaub , dass Männer einfach generell irgendwie . nicht . das Gefühl haben , dass sie von Kindern (.) also ich glaub, dass generell Frauen vom Kinderkriegen mehr eingeschränkt sind als Männer . also so in der Gesellschaft so . wo wir leben (.) weil Frauen meistens dann irgendwie . mit Thomas: ∟Ja ∟Klar Lina: ihrem Job aufhören oder weniger arbeiten oder . Babypause machen oder was auch immer und . die meisten Männer arbeiten ja dann einfach weiter . so . und . wie Rosa das schon gesagt hat kommen dann irgendwie abends nach Hause , und kümmern sich ’n bisschen um das Kind , aber generell ist ja die Frau diejenige . die dann wirklich so die . meiste Verantwortung . dafür trägt und sowas . (Hasel-Gruppe)

Der stärkere Kinderbezug der Frau und daraus für sie erwachsende Nachteile werden von Lina146, unter Zustimmung von Thomas, zunächst auf rein gesellschaftlicher Ebene mit Blick auf die tendenziell unterschiedlichen Lösungen der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung zwischen Frauen und Männern diskutiert, nach denen „die meiste Verantwortung“ für die Kinderbetreuung bei den Frauen liegt.147 Dass sich die skizzierte Einschränkung insbesondere auf den Bereich der Erwerbsarbeit bezieht, macht nochmals dessen Bedeutung für die eigene Selbstverwirklichung im Leben der Jugendlichen deutlich. Kurze Zeit später erfolgt dann aber auch in dieser Gruppe der Bezug zu biologischen Argumenten und ein Anknüpfen an den Diskurs der spezifischen Mutter-Kind-Beziehung: Rosa: Naja . aber was ich sagen wollte . ähm ist , dass=dass Männer letztendlich zu dem Kind nicht so ’ne krasse Bindung haben wie die Mutter (.) weil die Mutter , keine Ahnung . ja die ganze Schwangerschaft und so . und ich glaub dass da die Bindung einfach krasser ist . und wenn dann . den Lina: ∟Ja wahrscheinlich . Rosa: Männern das zu viel wird . oder die schaffen das nicht , und (.) so dann könn=sagen die eher mal , dass sie dann weg sind als dann die Frau sagt zu ihrem Kind , ich bin dann mal weg . (.)@ Lina: ∟Ja . ∟Ja .

146 Lina ist es auch, die an anderer Stelle mit dem Verweis auf den Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung und Spaß begründet, warum sie keine Kinder bekommen möchte. Es stellt sich die Frage, ob dies möglicherweise mit den hier von ihr skizzierten gesellschaftlichen Einschränkungen im Zusammenhang steht, die in ihrer Perspektive aus der Mutterschaft ‚zwangsläufig‘ für Frauen erwachsen. 147 Diese Betrachtung lässt sich mit der Perspektive von Jan (Kap. 5.3.4) kontrastieren, der ähnliche gesellschaftliche Erwartungen hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wiedergibt, aber demgegenüber gerade die für ihn als Mann daraus erwachsende Eingeschränktheit und den Leistungsdruck als negative Folgen betont, denen er sich durch die Anrufung des Familienernährers ausgesetzt fühlt. 193

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Thomas: ((atmet hörbar aus)) (.) Lina: Ja . (Hasel-Gruppe)

Nachdem zunächst gesellschaftliche Aspekte diskutiert werden, durch die der Umstand, Kinder zu haben, für Frauen und Männer mit unterschiedlichen Erfahrungen und mit größeren Einschränkungen für Frauen verbunden wird, werden (auch) von Rosa zuletzt wieder biologische Begründungen („die ganze Schwangerschaft und so“) für eine engere Beziehung zwischen Mutter und Kind im Vergleich zum Vater-Kind-Verhältnis angeführt, wobei Lina zustimmt. Strukturelle Ungleichheiten (Karriereunterbrechung bei Müttern durch größere Sorgeverantwortung) werden somit im letzten Schritt auf biologische Unterschiede (eine aus der Schwangerschaft erwachsende engere Mutter-Kind-Beziehung) zurückgeführt. Letztlich wird auch hier die traditionelle Arbeitsteilung als Resultat von Biologie bzw. Natur diskutiert. Geschlechtliche Selbstbestimmung und (berufliche) Selbstverwirklichung scheinen vor diesem Hintergrund, zumindest für Frauen, einen Endpunkt zu haben. Die hier beobachteten geschlechtlich fixierten, naturalisierten Zuweisungen von vergeschlechtlichten Reproduktionsfunktionen folgen zudem der Tendenz der unsichtbaren Väter: Männer werden von den Jugendlichen hauptsächlich als (dadurch immerhin punktuell aktive) ‚Erzeuger‘ – oder als tendenziell abwesende Väter148– figuriert, bleiben aber in allen weiteren Folgerungen und Argumentationen rund um Reproduktion weitgehend unberücksichtigt. Auf (aktive) Vaterschaft wird kaum rekurriert. Die naturalisierte Geschlechteressenz hat also auf diskursiver Ebene für die Frauen tiefgreifendere Folgen als für die Männer: Elternschaft wird in der biologisierten Form vor allem als Mutterschaft verhandelt. Damit erfolgt durch den Rekurs auf Mutterschaft als diskursiver Grenze der geschlechtlichen Flexibilität eine Rückführung aller zuvor geöffneten Perspektiven auf die Biologie als unhintergehbaren Endpunkt (insbesondere) für Frauen.149 Das geht teilweise einher mit einer Mystifizierung von Mutterschaft (auch aus männlicher Sicht), so betont Thomas in der Hasel-Gruppe: „also viele Frauen sagen , dass die Geburt ihr schönster Moment war“. Eine Selbstverwirklichung jenseits von Mutterschaft erscheint in dieser Perspektive folglich fragwürdig. 148 Zur sozialwissenschaftlichen Diskussion um abwesende Väter vgl. u. a. Toppe 2009. 149 Eine umfangreiche theoretische Analyse des Zusammenhangs von „Fortpflanzung und Geschlecht“ findet sich in Daniela Heitzmanns gleichnamiger Studie (2017). In dieser fokussiert sie „auf die soziale Hervorbringung des Verweisungszusammenhangs zwischen dem Phänomen Fortpflanzung und der Geschlechterdifferenzierung in weiblich/ männlich“ (Heitzmann 2017: 11) und stellt dabei die wirkmächtige „Gleichsetzung von Frau und Mutter“ (ebd.: 10) heraus.

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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Damit erfolgt eine biologisierte Letztbegründung für die zweigeschlechtliche Ordnung – und letztendlich auch für deren heterosexuellen Charakter. Denn der Bezug auf die Fortpflanzung als Geschlechtskern hat noch eine weitere Konsequenz, und zwar hinsichtlich der Flexibilität von Sexualität: In Mirkos oben bereits angerissener Argumentation einer reproduktiven Seinsbestimmung qua Geschlecht wird im weiteren Verlauf die Vorstellung der ‚Natürlichkeit‘ von Heterosexualität (gegenüber der ‚unnatürlichen‘ Homosexualität, die nicht zur Fortpflanzung beiträgt) vollzogen – was zu einer Spannung zwischen biologistischen und moralischen Positionen führt: Es ist von der . von der (.) vom biologischen Standpunkt her so (.) gesehen , dass ihr dazu da seid , Kinder zu kriegen150, und wir sie zu zeugen (.) noch ’n Punkt mehr , warum es un- (.) natürlich ist . unnatürlich in Anführungsstrichen . mir scheißegal , ob du ’n Mann vögelst151 oder nicht . warum Homoehen halt so kritisch gesehen werden (.) also vom biologischen Standpunkt aus (Mirko, WeidenGruppe)

Auffallend ist hier das konfligierende Zusammentreffen zweier Diskurse: Auf der einen Seite ist Mirko bemüht, seiner eigenen moralischen Offenheit gegenüber Homosexualität sehr explizit Ausdruck zu verleihen. Andererseits verleitet ihn die Bezugnahme auf biologisch begründete Argumente dazu, eine Ablehnung von (institutionalisierten) homosexuellen Beziehungsformen durch unbenannte Dritte zumindest auf rationaler Ebene nachzuvollziehen. Somit bleibt trotz der demonstrativ eingenommenen Distanz das von Mirko angeführte naturalisierende Argument für ihn selbst wirksam bestehen – dieser Widerspruch kann, zumindest auf argumentativer Ebene, von ihm nicht aufgelöst werden. Ähnliche Ambivalenzen finden sich in der Kamelien-Gruppe. Lisa: und ich glaube , deswegen gibt’s auch in der (.) Generation über uns . viele noch . die vielleicht schon schwul sind oder lesbisch , die’s aber nicht zugeben können und vielleicht auch (.) jetzt in ’ner Dunja: ∟Ja Lisa: glücklichen Beziehung sind , aber innen drin eigentlich wissen , dass sie vielleicht doch (.) Catherina: ∟Mmmh Lisa: schwul oder lesbisch sind (.) und ich glaube , bei uns ist einfach so jetzt die Zeit , dass wir halt sagen ok . wir kucken einfach (.) was passt . was wir sind . und dass wir dann (.) später das auch freier ausleben können. Catherina: Mmmh

150 Hier adressiert Mirko die Interviewerin als Vertreterin der Gruppe der Frauen. 151 Dabei richtet sich Mirko an seinen Mitdiskutanten René. 195

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Jan: Ja aber ich glaub , es wird halt auch nicht (.) so viel noch dazu kommen . klar . ich glaub , es werden noch ’n paar Prozent dazu geben , aber (.) irgendwann ist es halt auch (.) gegen die Natur (.) so . gesehen . weil (.) eigentlich ist ja in uns drin . uns fortzupflanzen . und das geht halt (.) nunmal Catherina: ∟Mmmh ∟Mmmh Jan: heutzutage nur , wenn (.) Mann und Frau . sich verliebt haben (.) und deswegen wird (.) denk ich (.) ja ich kann jetzt nicht magische Grenze . aber irgendwo wird halt ’ne Grenze sein . wo es (.) Catherina: ∟Ja . Jan: immer noch genügend Leute geben wird (.) dieLisa: ∟Ja ich glaub . es ist nicht . die ganze Welt wird lesbisch oder schwul Dunja, Catherina, Markus: @@@ Catherina: Nein nein nein @@ (Kamelien-Gruppe)

Mit der Festschreibung der Reproduktion als – hier allgemein menschliche und nicht nur weibliche – Bestimmung und innerer Drang geht eine diskursive Begrenzung sexueller Vielfalt einher, die Heterosexualität im Vergleich zu Homosexualität als statistisch wahrscheinlicher entwirft. Wie in der Weiden-Gruppe scheint es auch hier im Rückgriff auf die Biologie unproblematisch, Homosexualität als „gegen die Natur“ anzuführen, obwohl die Gruppe an anderen Stellen die Bedeutung von und Offenheit gegenüber geschlechtlicher und sexueller Vielfalt hervorhebt und diese Passage durch Lisas Vision einer größeren Freiheit in Bezug auf sexuelle Selbstverwirklichung eingeleitet wird.152 Jans Kriterium des (heterosexuellen) Verliebtseins als gegenwärtige Voraussetzung menschlicher Fortpflanzung lässt auf das Bemühen schließen, den (heterosexuellen) Sexualakt auf unverfängliche Weise zu beschreiben, aber auch auf die Wirkmächtigkeit der heterosexuellen Matrix (vgl. Kap. 3.3), die einzelne Vorgänge in ein kohärentes Lebenskonzept zusammenbringt und somit den – inzwischen nicht selten technisch erzeugten – Befruchtungsvorgang mit einem romantisierten Bild der heterosexuellen Zweierbeziehung als untrennbar und naturhaft miteinander verbunden figuriert. Am Beispiel von Reproduktion und Elternschaft zeigt sich also eindrücklich, wie „sich die Zwei-Geschlechter-Ordnung und das Regime der Heterosexualität gegenseitig bedingen, stabilisieren und ihrer ‚Naturhaftigkeit‘ vergewissern“ (Bauschke-Urban/Conrads/Tuider 2016: 8). Die folgenden Ausführungen, in denen Iwona in der Dahlien-Gruppe genau diese heteronormative Verknüpfungslogik kritisch hinterfragt, sind insgesamt der einzige Moment, in dem im Rahmen der Diskussion um Homosexualität und 152 Auch Degele stellt den diskursiven Zusammenhang von Reproduktion und heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit im Alltagswissen heraus: „Wie sollte – so das Alltagswissen – die Menschheit auch weiter bestehen können, gäbe es keine Heterosexualität?“ (Degele 2008: 89).

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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mögliche Ablehnungsgründe dem Argument der naturhaften Fortpflanzung diskursiv entgegnet wird: Iwona: einfach weil . der einzige Gegenpunkt ist ja die Fortpflanzung . aber dann würde man ja . generell (.) die Liebe zwischen zwei oder auch mehr Menschen . einfach darauf reduzieren , Kinder zu produzieren . auch wenn das irgendwo . das ist, worauf . die Natur oder jede Spezies irgendwie baut . und find ich nicht dass es darauf ankommt . wenn man . mit jemandem auch zusammen sein will , dann will man ja nicht unbedingt ‚ ok ich bin jetzt mit der Person zusammen . ich muss in zwei Tagen ’n Emmy: ∟Jaja Eske: Iwona: Kind zeugen . sondern . dann liebt man diese Person einfach egal ob zeugungsfähig oder nicht Eske: ∟@@ ∟Ja . (Dahlien-Gruppe)

Iwona räumt zwar ebenfalls der Fortpflanzung den Status dessen ein, „worauf die Natur oder jede Spezies irgendwie baut“, findet aber einen diskursiven Weg aus dem daraus für die übrigen Jugendlichen erwachsenden Dilemma: Iwo separiert diese Zielsetzung explizit von (menschlichen) Liebesbeziehungen und argumentiert gegen das Argument der Reproduktion als Kernzweck der intimen Beziehung. Einer naturalisierten zweigeschlechtlichen Beziehung als Reproduktionsbündnis setzt Iwo das Modell einer Beziehung „zwischen zwei oder auch mehr Menschen“ entgegen, deren (Legitimations-)Grundlage Iwo in der gegenseitigen „Liebe“ und nicht darin sieht, „Kinder zu produzieren“. Diese Art der diskursiven Loslösung von einer teleologischen Ausrichtung auf die Fortpflanzung stellt eine Ausnahme dar. In Bezug auf den diskursiven Endpunkt Reproduktion figuriert der Körper in den Diskussionen, das zeigen die übrigen Beispiele, fast durchweg „als Basis und letzte Wahrheit des Geschlechts“ (Villa 2011: 85). Insbesondere Mutterschaft wird damit zum biologisierten Schicksal der Frau und Frausein gerät zum biologisierten Schicksal durch die Mutterschaft. Die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung erhalten hierdurch eine ‚selbstverständliche‘ Eingrenzung.

5.4.4 Das Miley-Cyrus-Syndrom: adäquate Geschlechtlichkeit und prekäre Weiblichkeit Die Jugendlichen bringen, sowohl in Verbindung mit dem Geschlechtertauschtag als auch darüber hinaus, immer wieder den allgemeinen Maßstab der Angemessenheit ein (vgl. auch Offen 2013: 84), auf dessen Grundlage eine Beurteilung der Performances erfolgt. In Bezug auf die Mottowoche wird eine temporäre – und 197

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

durch die ritualisierte Rahmung anerkannte – Abweichung von einem adäquaten Alltagsauftreten hervorgehoben. Dabei eint die Jugendlichen eine selbstverständliche Bezugnahme auf eben jenen Maßstab der Angemessenheit im Alltag und damit eine Legitimierung von dort wirksamen Handlungsbegrenzungen – von einem ‚rebellischen‘ Hinterfragen entsprechender Normsetzungen scheinen zumindest diese Teilnehmenden weit entfernt. So machen Lina und Thomas in der Hasel-Gruppe die Attraktivität der Mottowoche an dem punktuellen und anlassbezogenen Abweichen von alltäglichen Wertmaßstäben fest: Lina: Ich glaube auch dass das einfach witzig ist . so die- die . so zum Beispiel der Asi-Tag oder sowas ist jetzt (.) so (2) politisch vielleicht nicht ganz korrekt , so’n Asi-Tag zu machen (.) aber es ist halt einfach witzig und macht Spaß und irgendwie natürlich werden bei so Mottotagen auch immer so Klischees bedient . aber (.) es ist halt auch einfach witzig (.) so (.) deswegen find ich das jetzt auch nicht so schlimm (.) weil wir . wissen ja , dass (.) es . nicht so ist im-im wirklichen Leben . und das dann so als Mottotag zu machen macht halt einfach Spaß irgendwie (.) Thomas: Ich würde auch sagen . der äh der Reiz , den das macht irgendwie (.) ist so ähm (.) was (.) nicht gegen die Regel zu verstoßen . aber so (.) gegen wie Werte zu verstoßen die normalerweise (.) ja so während eines Schultags dann (.) ja (.) vertreten sind (.) beispielsweise ein angemessenes Outfit oder sowas . das dann äh durch so einen Asi- Asi-Tag dann völlig äh umgekrempelt wird (.) ich glaube das ist so’n bisschen so (.) das . was die Leute daran . reizt. daran dann mitzumachen . (Hasel-Gruppe)

Deutlich wird in diesem Auszug der konsensuale Rekurs auf – nicht weiter erläuterte – schulisch-alltägliche Kleidungsnormen und, darauf basierend, die klassen- bzw. milieubezogene Abgrenzung von der diskursiven sozialen Kategorie der ‚Asis‘, die als vollkommen anders und deplatziert im Schulalltag figuriert werden. Ähnliche abgrenzende und deutlich ver-andernde Bezugnahmen auf das Konstrukt der ‚Asis‘ finden sich auch in anderen Gruppen immer wieder. In der Geranien-Gruppe wird auf die Exzeptionalität des Geschlechtertauschtages verwiesen, der einer als „nicht angemessen“ aufgefassten vergeschlechtlichten Performance temporäre Legitimität verleiht: Mona: Ja und ich glaube . jedes Mädchen und jeder Junge hat ein paar (.) irgendwo tief vergrabene Charakterzüge die . das andere Gesch= also typisch für das andere Geschlecht sind . ja und dann (.) legt man auch den Fokus mehr darauf dass man jetzt darauf achtet ein bisschen lauter zu sein . was man ab und zu schon mal ist . aber (.) sich einfach zurückhält . weil das nicht angemessen ist in dem Moment (.) ja. (4) I: Und (.) könntet ihr euch vorstellen das nochmal (.) zu wiederholen bei ’nem anderen Anlass? (.) Fabienne: @ Mona: @@ Ja@ Fabienne: ∟Hmm

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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Natalia: @ Wenn es einen passenden Anlass @geben würde@ ohne dass es . dann gleich . unpassend Mona: ∟@ Ja @ ja Natalia: also (.) ich mein . @man hat ja nur einmal die Mottowoche . und da gibt man sich natürlich auch Mühe@ und möchte auch mitmachen (.) ich könnt mir das schon vorstellen . aber ich glaub nicht dass @das dann nochmal so ein’ Anlass gibt@ . @ (Geranien-Gruppe)

Die Jugendlichen nehmen hier explizit Bezug auf ein Verhalten oder Ereignis, das „angemessen“, „passend“ oder eben „unpassend“ in Bezug auf eine bestimmte Geschlechtlichkeit sein kann – woran sich das festmacht, bleibt weitgehend offen. Dabei werden von Mona Aspekte genannt, die für sie (als Frau) „nicht angemessen“ und daher mit einer Selbstdisziplinierung verbunden sind. Deutlich wird also, dass für die Jugendlichen unterschiedliche Maßstäbe der Angemessenheit für Frauen und Männer bestehen. Die Mottowoche wird in diesem Kontext von Natalia als willkommener und zugleich einzigartiger Anlass für eine männliche Performance gesehen. Der angemessenen und moderaten Geschlechterperformance im Alltag wird häufig eine als übertrieben und extrem aufgefasste Inszenierung am Geschlechtertauschtag entgegengesetzt. So formuliert Lina in der Hasel-Gruppe mit Blick auf den Mottotag als Selbstverständlichkeit: „es wird natürlich alles immer extrem dargestellt“. Emmy fasst es in der Dahlien-Gruppe so zusammen: Also ich würd sagen dass halt bei uns so (.) die g=totalen gegensätzlichen Pole vertreten waren (.) die totale Tusse und dann äh (.) der totale Asi (.) also wirklich das Extremste vom Extremsten dargestellt wurde . hauptsächlich (Emmy, Dahlien-Gruppe).

Hier wird erneut die soziale Klassifizierung „Asi“ herangezogen, die in diesem Fall für ein bestimmtes Männlichkeitsbild steht. Der Subtext scheint zu sein, dass dieses Bild als nicht für die eigene soziale ‚Klasse‘ zutreffend gesehen, sondern der abgewerteten Gruppe der ‚Asis‘ zugschrieben wird. In der Geranien-Gruppe wird der Mottotag als gewissermaßen gemäßigt bezeichnet, indem zweigeschlechtliche „Extremfälle“ genannt werden, die nicht performt worden seien: I: Das heißt irgendwie, dass ihr die Klischees nicht total ausgereizt habt, oder so vielleicht , oderMona: Vielleicht wären das ja die ek=Extremfehl-fälle gewesen die man hätte darstellen können (.) also dass Frau (.) Prostituierte ist und dass der Mann irgendwie Straftäter ist . im Gefängnis oder (.) was auch immer . Natalia: Ja (Geranien-Gruppe)

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Im gedanklichen Entwurf vergeschlechtlichter Extremfälle nennt Mona spontan „Prostituierte“ und „Straftäter“, d. h., die Frau wird als sexuell konsumierbar gerahmt, der Mann figuriert als Täter. Das entspricht in der Tendenz der auf heterosexuelle Attraktivität abzielenden Frau und des unkontrollierten, machtvollen Mannes auch den Zuordnungen in anderen Gruppen, die mit Blick auf die Verkleidungen am Geschlechtertauschtag erfolgen. So wird das Extrembild der Frau beschrieben als „so übertrieben das Tussige […] am liebsten nackt“ (Helen, Oleander-Gruppe), „dieses . schlampige ähm (1) extrem extrovertierte . Verhalten“ (Caro, Oleander-Gruppe), „wenn man das jetzt grob ausdrücken will @Nutte“ (René, Weiden-Gruppe), „Megatussen“ (Andrea, Iris-Gruppe), „die Übertreibung der Jungs […] wie ’ne Nu- wie ’ne Nutte“ (Max, Iris-Gruppe), oder auch „fast ’ne Barbie“ (Iwona, Dahlien-Gruppe). Männliche Extremtypen sind für die Jugendlichen „diese Machos“ (Helen, Oleander-Gruppe), „Macker […] so richtig cool“ (Rosa, Hasel-Gruppe), „maskulin Macho“ (Emmy, Dahlien-Gruppe) oder „so typisch asi- (.) äh machomäßig“ (Eske, Dahlien-Gruppe). Die Anrufung der Angemessenheit bzw. Mäßigung bezieht sich also auf alle Jugendlichen; die damit verbundenen Erwartungen und auch das Maß der Abwertung scheinen sich jedoch für Frauen und Männer zu unterscheiden. Während für Frauen wie Männer negative Extremtypen existieren, fällt auf, dass vor allem auf die überspitzte Weiblichkeitsdarstellung am Mottotag häufiger und ausführlicher abgrenzend Bezug genommen wird. Das Negative scheint dabei insbesondere über ein zugeschriebenes Übermaß an heterosexueller Attraktivitätsperformance zu laufen. Hierfür scheint der in der Oleander-Gruppe gezogene Vergleich mit dem Popstar Miley Cyrus im folgenden Beispiel paradigmatisch: Helen: Ich würd sagen der hat schon fast getwirkt . also I: ∟gewas? Helen: getwirkt mit dem- ja wie beschreibt man das? Caro: ∟Hintern gewackelt . wie MaHelen: ∟Ja aber . wie Miley Cyrus so @@ also . ziemlich übertrieben Franziska: schlampig . sorry . tschuldigung Helen: ∟Ja Caro: ∟Mmh (zustimmend) Helen: Einfach nur den Hintern an irgendwelchen Typen reiben @@ Caro: Ja und halt auch tiefer gehen ne , also wirklich so . mit den Reizen äh Helen: ∟Mmh ∟spielen Franziska: ∟Ja . genau Caro: Ja (2) also das . das war so denk ich mal (3) @ da wollt der mal einfach mal irgendwie so zeigen dass der das auch kann Helen, Franziska: ∟Ja

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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Franziska: im Mittelpunkt stehen Helen: Mmh Caro: Ja richtig . das das isses ja Franziska: ∟Blicke auf sich ziehen Helen: ∟von den Typen insbesondere Franziska: ∟es genießen Caro: Ja . (Oleander-Gruppe)

In der begleitenden Beschreibung eines Videos, das am Geschlechtertauschtag aufgenommen wurde und die Geschlechterperformance eines Mitschülers zeigt, greifen Helen, Caro und Franziska zum Vergleich auf die vor allem unter Jugendlichen populäre US-amerikanische Musikerin und Schauspielerin Miley Cyrus zurück. Diese scheint für alle drei die typische (prominente) Vertreterin eines ganz bestimmten und ambivalenten Frauenbildes zu sein: Die Tanzperformance des Mitschülers wird als „fast schon getwirkt“ beschrieben, was auf Nachfrage der Interviewerin als spezifische Bezeichnung für eine „ungezügelte“ und heterosexuelle Verfügbarkeit suggerierende Tanzinszenierung von Frauen erläutert wird. Dies geht mit einer deutlich negativen Bewertung der drei Jugendlichen einher, die dieses Verhalten einhellig als „schlampig“153 titulieren, wobei der darin enthaltene moralische Vorwurf weniger an die darstellenden Jungen als vielmehr an die hierbei zur Orientierung dienenden Frauen gerichtet zu sein scheint. In der dann folgenden konkreten Ausführung der als „schlampig“ bewerteten Performance fällt das ausnahmsweise hohe Aktivitätslevel auf, das Frauen hier zugeschrieben wird – die aber genau dadurch eine Abwertung erfahren. Das dargestellte Verhalten zeichnet sich durch die heterosexualisierte Relationalität aus und macht die unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe deutlich: Während die sexuellen Übergriffe von männlicher Seite zwar ebenfalls negativ konnotiert sind, scheinen mit ihnen keine moralischen Maßstäbe verbunden zu sein. So wird in keinem Fall etwa das offensive ‚Anmach‘Verhalten der als Jungen verkleideten jungen Frauen als „schlampig“ bezeichnet. Ein aktives sexuelles Verhalten in der ‚Frauenrolle‘ dagegen wird auf moralischer Ebene deutlich abgewertet und von den drei Diskussionsteilnehmenden gemeinsam in aller Ausführlichkeit beschrieben. So werden die sexuelle Wahllosigkeit („an irgendwelchen Typen reiben“) sowie der unhinterfragte Umstand betont, dass Frauen „Reize“ haben, denen eine sexuell anziehende Wirkung auf Männer zugesprochen wird. Die hiermit verbundene weibliche Aktivität, nämlich das bewusste Erhöhen der eigenen heterosexuellen Attraktivität durch bestimmte Bewegungen, ist die 153 Die von Franziska direkt angefügte doppelte Entschuldigungsformel lässt auf ein Wissen darüber schließen, dass diese Bezeichnung nicht unproblematisch ist. 201

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

‚Spitze‘ des Verwerflichen. In der dann folgenden, von Franziska als Aufzählung vorgenommenen und von Caro und Helen ergänzten Spezifizierung der konkreten Weiblichkeitsinszenierung des Mitschülers wird ein gemeinsames, einheitliches Bild abgewerteter Weiblichkeit entworfen: Eine Aufmerksamkeit für sich selbst zu beanspruchen („im Mittelpunkt stehen“), auf eine Außenwirkung abzuzielen („Blicke auf sich ziehen“) bzw. spezieller noch dem male gaze154 zu entsprechen („von den Typen insbesondere“), und dabei auch noch eigene Befriedigung zu erleben („es genießen“) – und das alles vor dem Hintergrund der eigenen bewussten heterosexuellen Attraktivitätsinszenierung –, scheinen hier die negativen Fixpunkte verworfener Weiblichkeit darzustellen. „Schlampig“ zu sein steht hier also nicht lediglich dafür, sexuelle Verfügbarkeit zu signalisieren, sondern auch sexuelle Handlungsmacht anzudeuten. Geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung scheinen für Frauen in dieser Perspektive strikten moralischen Maßstäben unterworfen. Popstar Miley Cyrus scheint in ihrer Ambivalenz für das damit verbundene Spannungsverhältnis zu stehen: Einerseits wird Anerkennung für junge Frauen (insbesondere) über heterosexuelle Attraktivität erreicht, andererseits birgt diese auch immer die Gefahr, auf der Skala der geschlechtlichen Angemessenheit als „übertrieben“ eingeordnet und als „schlampig“ abgewertet zu werden.155 In der Iris-Gruppe sind es junge Männer, die auf abgewertete Weiblichkeit Bezug nehmen: Ian: Also ich seh schon aus wie ’ne adrette Dame . ich seh nicht aus wie ’ne Nutte und hab meinen Andrea: ∟@ Ian: Rock hier oben Denise: @@ Jesko: Und ich seh auch nicht aus wie ’ne Nutte . Ian: Hallo (Gemurmel) Jesko: Ich bin ein schönes Mädchen . (Iris-Gruppe)

Ian und Jesko grenzen sich innerhalb ihrer Frauendarstellung explizit vom Aussehen der „Nutte“ ab – und scheinen dabei temporär ähnlichen Bewertungsmaßstäben 154 Der Begriff des male gaze, des männlichen Blicks bzw. des männlichen Starrens, wurde von Laura Mulvey (1975) für den filmwissenschaftlichen Bereich geprägt, lässt sich aber auch auf andere Bereiche übertragen: Er bezeichnet den kontrollierenden, aktiven Blick des heterosexuellen Mannes als Betrachter auf die Frau als objekthafte Betrachtete und eine entsprechende Ausrichtung dieser Gesamtfiguration. 155 Eine ausführliche Gegenüberstellung jugendlicher Erzählungen von „Prinzessinnen“ und „der ‚Schlampe‘“ als spezifische weibliche Subjektpositionen findet sich bei Götsch (2014: 224ff.).

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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adäquater Weiblichkeit unterworfen zu sein wie den von den Teilnehmenden der Oleander-Gruppe aufgezählten. Der in den Diskussionen immer wieder erfolgende Rekurs auf die Prostituierte ist, wie im obigen Beispiel, von deutlicher Abwertung geprägt und bezieht sich nicht nur auf eine Berufsbezeichnung für Sexarbeiterinnen. Vielmehr steht hier, ähnlich wie die Transe (vgl. Kap. 5.1.3), die „Nutte“ für eine ganz spezifische Figur, die in diesem Fall abgewertete, heterosexualisierte Weiblichkeit per se symbolisiert. Zudem zeigen sich in dieser Figur klassistische Züge, was etwa in der Geranien-Gruppe deutlich wird, wo die Abgrenzung zu „Asi“ und „Prostituierten“ parallel erfolgt: So begründet Fabienne die Wahl ihrer „Asi“-Verkleidung, die am Mottotag „Asi vs. Business“ eine von zwei Optionen darstellt, mit der einmaligen Gelegenheit, die sich durch den Mottotag für eine solche Inszenierung geboten habe: Fabienne: Also es ist nicht so dass ich mich mit Asi mehr identifizieren könnte . ich dachte mir nur , du kannst ein einziges Mal im Leben dich richtig ekelhaft verkleiden und (.) das wollte ich dann auch Mona: ∟Ja Fabienne: einfach machen und dann einmal @so in die Schule kommen@ (Geranien-Gruppe)

Fabiennes Erläuterung ihrer Bevorzugung der „Asi“-Verkleidung macht die soziale Hierarchisierung und Distinktionsausbildung sichtbar, mit der die Jugendlichen eine prinzipielle Distanz zur in abwertender Abgrenzung konstruierten Klasse der ‚Asis‘ einnehmen.156 Natalia ergänzt die vergeschlechtlichte Komponente der entsprechenden Verkleidung: Man schminkt sich einfach auf die schlimmste . Art und Weise, (.) was einer Prostituierten wahrscheinlich nahe kommen könnte so (Natalia, Geranien-Gruppe)

156 In der Gesamtschau der Diskussionen fällt auf, dass die Mottotage „Geschlechtertausch“ und „Asi“ oft zusammen genannt und Gemeinsamkeiten in Abgrenzung zu anderen Mottotagen aufgezeigt werden. Es dreht sich häufig um die Frage der Nähe zum eigenen Leben, die in beiden Fällen speziell und ambivalent zu sein scheint: Einerseits werden die beiden Tage oft als diejenigen genannt, die im größten Kontrast zum Alltag stehen, andererseits bzw. oft auch gleichzeitig wird die ‚Verwechslungsgefahr‘ an diesem Tag als am größten gesehen. Das Risiko, so zu wirken, als würde man es ‚ernst meinen‘, scheint in beiden Fällen mit der Angst vor einer eigenen Abwertung verbunden zu sein. Am ‚Asi-Tag‘ bedeutet dies die soziale Deklassierung, am Geschlechtertauschtag scheint dies vor allem die Sorge zu sein, als Trans* und somit als geschlechtlich abweichend eingeordnet zu werden. 203

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

In der Verbindung sozialer Hierarchisierung mit Figurationen von (abgewerteter) Weiblichkeit zeigt sich eine Verschränkung von Klasse und Geschlecht, die in den Diskussionen immer wieder zu beobachten ist und als deren Kulminationspunkt die Prostituierte erscheint.157 Dass die Diskussionsteilnehmenden auch an ihrer eigenen und der Weiblichkeitsperformance der Mitschülerinnen Maß nehmen, zeigt sich exemplarisch in der Magnolien-Gruppe. Hier wird die verneinende Antwort der Teilnehmerinnen auf die Frage der Interviewerin, ob am diskutierten Mottotag „Pimps und Bitches“ auch Mädchen als „Pimps“ und Jungen als „Bitches“ erschienen sind, näher erläutert: Lieselotte: Ich denke das war der Grund warum viele nicht als Pimps gegangen sind . weil zum Saida: ∟Ja Lieselotte: Beispiel jemand wie Kathy Keller oder so auch dann gerne zeigt . was er hat , und dann Alissa: ∟@Ja das stimmt@ Saida: ∟Ja@ Lieselotte: möglichst wenig anhat ich . weiß nicht also ich . hatte ja jetzt nicht so ’nen riesen Ausschnitt also ich hab jetzt schon nicht so gedacht , ich mein das Motto gibt ja auch vor dass ich jetzt vielleicht Saida: ∟Ja Lieselotte: nicht , meinen riesen Schlabberpulli anzieh sondern . ja schon irgendwas Passendes aber Alissa: ∟@ Lieselotte: ich hab jetzt halt nicht so (.) Saida: ∟nicht darauf gezielt unbedingt gut auszusehen Lieselotte: ∟Ja . ja genau genau sieht man ja @ Alissa, Martha: ∟@ Saida: Aber einige (.) glaub ich schon . also die das Motto dann auch benutzt haben @@ Lieselotte: ∟Auf jeden Fall Alissa: ∟Ich glaub echt ∟viele waren so . sind da so voll drin aufgegangen hatt ich auch das Gefühl dass die sich so . richtig drauf gefreut haben Saida: ∟Ja Alissa: mal ihre kürzesten Klamotten anziehen zu können die sie . im Schrank gefunden haben (1) Saida: ∟Ja ∟Ja Lieselotte: ∟Ja I: Das ist jetztMartha: ∟Viele hatten auch nur ’nen BH an Alissa: @@ja das@

157 Dies bildet einen Anknüpfungspunkt für weitere, im Rahmen dieser Studie jedoch nicht leistbare intersektionale Analysen, die unter Hinzuziehung weiterer ungleichheitsgenerierender Differenzierungs-Kategorien erfolgen könnten (vgl. Kap. 6.2).

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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Martha: Also , es war schon echt (1) Saida: ja (Magnolien-Gruppe)

Hier differenzieren die jungen Frauen der Gruppe, auf Nachfrage der Interviewerin, zwischen den Mitschülerinnen, die „das Motto dann auch benutzt haben“, um einen (sexuellen) Attraktivitätsgewinn zu erzielen, und sich selbst, die „nicht darauf gezielt [haben] unbedingt gut auszusehen“ – und damit zwischen abgewerteter und adäquater Weiblichkeit, wobei die Abwertung nach ähnlichem Muster wie im obigen Beispiel der Oleander-Gruppe verläuft: Mit „möglichst wenig“ oder „auch nur ’nen BH an“, „kürzesten Klamotten“ und einer Vorfreude auf den Tag werden Aspekte einer (zu) aktiven Inszenierung sexuell-attraktiver Weiblichkeit verurteilt. Zugleich deutet das eingeräumte „ja schon irgendwas Passendes“ die schwierige Gratwanderung an, welche die jungen Frauen (nicht nur) an diesem Mottotag vollziehen müssen: Auf der einen Seite gilt für sie die Anrufung einer Weiblichkeitsinszenierung, die in gewissem Maß (auch) auf (sexuelle) Attraktivität abzielt.158 Auf der anderen Seite ‚darf‘ dies nicht zu aktiv und bewusst verfolgt werden. Eine selbstbestimmte Inszenierung der eigenen Sexualität und Attraktivität ist also verwerflich – die Selbstbestimmung wird somit gefasst als freiwillige Mäßigung. Im Umkehrschluss liegt deren Verfehlung in der individuellen Verantwortung bzw. wird als eigene Schuld zugewiesen. Der folgende Ausschnitt verdeutlicht exemplarisch, über welche Argumentation die damit verbundene Abwertung erfolgen kann: Jessica: Zum Beispiel bei uns im Jahrgang gibt’s auch @ein Mädchen@ . das muss ich jetzt einfach sagen Lena . die war einfach auch (.) die war so (2) jaaa hmm Viola: ∟@ ∟@@ Samuel: ∟anstrengend Jessica: Ja . die war wirklich anstrengend also sie ist dann immer- I: ∟also generell , oder , Jessica: Genau . sie ist dann auch immer zu den Jungs (.) und wir wissen eigentlich dass sie ’ne Beziehung hat und dann keine Ahnung . dann kam die immer auch zu Samu , und machte immer >ach Viola: ∟>ooh SamuDas stimmt nicht< (fast flüsternd) Helen: Obwohl du ja schon auch übertrieben hast wie hier an- aber . das man muss das einfach zeigen Caro: ∟Ja . das stimmt ∟Ja Franziska: ∟Ja Helen: find ich ne , Franziska: ∟Ja vor allen Dingen für mich war’s halt ’n bisschen schwer . weil ich renn halt auch in der Schule oft so eigentlich genau mit diesen gleichen Sachen rum die ich da anhatte . und irgendwas musste ich dann ja noch machen dass ich nicht einfach wieder normal rumlaufe deswegen musste ich mir ja den Bart ankleben und die Haare so machen (.) ja und also ich muss sagen , einige Caro: ∟@@ Helen: ∟@@@ Franziska: haben mich auch gesagt du rennst ja , also zu mir , du rennst ja nicht anders rum als sonst . ich muss sagen , das war manchmal ’n bisschen verletzend gewesen @ das stimmt schon , aber . sie Caro, Helen: ∟@@ Franziska: hatten recht @ (2) sie hatten recht Helen: ∟Ja ∟eigentlich schon . Caro: ∟@ ∟Ja (Oleander-Gruppe)

Der Auszug illustriert exemplarisch die andauernde Dynamik innerhalb der Oleander-Gruppe, nach der Franziska sowohl von den beiden Mitdiskutantinnen

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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als auch von ihr selbst immer wieder als geschlechtlich abweichend positioniert wird, und zwar im Hinblick darauf, dass sie als heterosexuelle Cis-Frau (dennoch) nicht dem ‚klassischen‘ Frauenbild entspricht. Dies erfolgt, wie auch hier, meist auf scherzhafte Weise, scheint jedoch – wie ebenfalls hier – von Franziska mit einer Abwertung verbunden zu sein. Ihren Widerspruch zu Caros Aussage, dass für Franziska „der Geschlechtertauschtag nichts Neues“ war – womit genau genommen eine Aberkennung eines eindeutigen Subjektstatus als Frau verbunden ist –, formuliert sie sehr leise. Helens vermittelndes und auf Zustimmung stoßendes Zugeständnis, dass Franziska beim Geschlechtertauschtag „schon auch übertrieben“ habe, hebt implizit positiv hervor, dass Franziskas Männlichkeitsinszenierung gespielt und dementsprechend nicht ‚echt‘ war. Dies scheint auch in Franziskas nachfolgenden Ausführungen zentral zu sein, in denen sie die Bedeutung von künstlichem Bart und Frisur als spezifisch männliche Erkennungszeichen betont, mit denen sie sich am Geschlechtertauschtag von ihrer Alltagserscheinung abgegrenzt hat und über die sie sich im Umkehrschluss als Frau positioniert. Dem von ihr als „verletzend“ dargestellten Urteil dritter („du rennst ja nicht anders rum als sonst“) räumt sie letzten Endes aber Gültigkeit ein – Franziskas Geschlechtlichkeit scheint also für sie selbst unter großem Druck zu stehen. Zumindest in der Oleander-Gruppe scheint es kein anerkanntes alternatives Frauenbild – und keine entsprechend anerkannte Subjektposition – zu geben: Trotz eigener alternativer Erfahrungen erfährt das Geschlechterbild also keine Erweiterung, stattdessen werden diese Erfahrungen als individuelle Abweichung von der Norm und spezifische Besonderheit in die bipolarisierten Geschlechterbilder integriert. Es scheint für die jungen Frauen* einen großen Druck zu geben, sich von einem bestimmten (zu) extremen Weiblichkeitsbild abzugrenzen und zugleich spezifischen Weiblichkeitsnormen, insbesondere in Bezug auf heteronormative Attraktivitätsvorstellungen, zu entsprechen.159 Exemplarisch zeigt sich dies in der gemeinsamen Verhandlung von Rosas Geschlechtlichkeit in der Hasel-Gruppe: Lina: Also, also ich will jetzt auch nicht sagen dass Rosa irgendwie . so den klassischen Weiberklischees @ entspricht . aber @schon mehr als irgendwie (.) andere . Rosa: ∟Nee würd ich auch nicht sagen . ∟Ja (Hasel-Gruppe)

159 Hark weist auf die Einbettung dieser Weiblichkeitsanrufungen in die neoliberale Logik hin: So gehe es immer auch darum, „den kommerzialisierten, vielfältig medial produzierten und transportierten Anrufungen perfektionierter und optimierter heterosexualisierter (mütterlicher) Weiblichkeit nachzukommen“ (Hark 2019: 175). 207

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

Hier ist es zunächst hauptsächlich Lina, die Rosas Geschlechtlichkeit – in der dritten Person – verhandelt, wobei ihr Rosa beipflichtet. Dabei fällt bereits das Balancieren auf dem Grat zwischen zu viel und zu wenig Entsprechung der „klassischen Weiberklischees“ und die in dieser Begrifflichkeit mitschwingende Abwertung von Weiblichkeit auf. Kurze Zeit später nimmt Rosa selbst eine Einordnung ihrer eigenen Geschlechtlichkeit vor: Rosa: Aber so (.) das heißt ja jetzt im Gegenzug aber auch nicht dass ich (.) ähm gar nicht . was die Klischees angeht . also . ich (.) erf- erfüll bestimmt auch (.) irgendwelche Frauenklischees. jetzt vielleicht nicht so extrem wie die . anderen (.) oder (.) ja keine Ahnung (.) es ist halt alles so (.) ich weiß nicht wie man’s sagen soll . (2) ne , wisster Bescheid . Lina: @ Thomas: @ (Hasel-Gruppe)

Rosa bemüht sich selbst um eine Verortung in einem Bereich gemäßigter Geschlechtlichkeit. Diese bewegt sich zwischen den Polen, „Frauenklischees“ entweder „gar nicht“ oder „extrem“ zu erfüllen, wobei die Präzisierung ihrer Selbstbeschreibung in vagen Formulierungen verläuft. Eine Positionierung des eigenen vergeschlechtlichten Selbst scheint somit für Frauen* vor allem aus der Abgrenzung abgewerteter Geschlechtlichkeiten zu erfolgen, wohingegen sich in den Diskussionen kaum Bezüge auf positive Formen von Weiblichkeit finden lassen. Das wird auch in der Geranien-Gruppe deutlich, als Fabienne auf die Frage der Interviewerin antwortet, die hier an die Ausführungen der Jugendlichen zu den am Geschlechtertauschtag verkörperten Extrembildern anschließt. I: Warum ist dann das Herausragende dann (.) eher negativ (.) konnotiert? (2) Fabienne: Ich denk mal dass es erstmal einfacher ist (.) und (.) ich weiß nicht . wenn man das jetzt . also wenn man sich jetzt irgendwie positiv verkleiden wollen . also sich positiv als Frau verkleiden wollen würde . könnte man dann irgendwie sagen . ja ich bin heute ganz zurückhaltend . und (.) ich weiß nicht . aber das war halt irgendwie keiner . die waren halt mehr so (.) @tussihaft@ . @ (Geranien-Gruppe)

Als für sie hier vielleicht einzig denkbare positive Weise der Frauendarstellung am Mottotag nennt Fabienne die Charakterisierung durch die Aussage „ich bin heute ganz zurückhaltend“. Aktive, positive Frauenbilder scheinen ihr in diesem Moment nicht zur Orientierung zur Verfügung zu stehen. Seltener wird in den Gruppen auf Mannsein bzw. Männlichkeit Bezug genommen, wie in der folgenden Passage in der Iris-Gruppe:

5.4 Das vergeschlechtlichte Maßnehmen

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Ian: Und jeder Mann hat auch nen Bart auf jeden so Denise, Jesko: @@ Andrea: Au Mann @@ Jesko: Sebi hat auch kein Bart und ist trotzdem ’n Mann . Ian: Ja. Andrea: @ Max: ∟Irgendwo ja schon Alle: @@ Ian: Irgendwo@ Sebi: @Irgendwo schon (Iris-Gruppe)

Hier scheint eher das Mannsein als solches ‚in Gefahr‘ zu sein bzw. abgesprochen zu werden, während es bei Frauen* darum geht, eine angemessene Weiblichkeit zu verkörpern. Dass auch die jungen Männer* in ihrer vergeschlechtlichten Subjektivität Druck und Risiken ausgesetzt sind, deutet sich an dieser und anderen Stellen – allerdings deutlich weniger prägnant – an.160 Die Befunde aus den Gruppendiskussionen lassen somit darauf schließen, dass die hier beteiligten jungen Frauen* in einem besonderen Spannungsverhältnis (zwischen nicht zu viel und nicht zu wenig Weiblichsein) leben, was mit dem Terminus prekäre Weiblichkeit gefasst wird.161 Ihre Selbstdisziplinierung scheint stärker, ihre Position unsicherer und ihre Abhängigkeit von der Definitionsmacht anderer größer zu sein als die der jungen Männer*.162 Sie sind demnach der Anforderung ausgesetzt, auf einem schmalen Grat Weiblichkeit so darzustellen, dass sie den verschiedenen Maßstäben entspricht und nicht zu abgewerteter Weiblichkeit wird. Offen bleibt dabei, inwieweit solche prekären Verortungen in Bezug auf Frauen eher an aktuelle Diskurse anknüpfbar sind und sich Perspektiven, die auch Männlichkeiten und Mannsein als unter Druck oder bedroht erscheinen lassen, für die Jugendlichen möglicherweise als schwerer denk- und sagbar erweisen.

160 In diesem Zusammenhang sind auch Jans Ausführungen zu den Erwartungszwängen an die männliche Erwerbsarbeit (vgl. Kap. 5.3.4) oder Renés erwartete Sanktionen im Falle einer nicht-geschlechtskonformen Kleidungswahl (Kap. 5.2.3) zu betrachten. 161 Prekarität kann dabei mit Butler gefasst werden als „ungleiche Verteilung von Gefährdetheit“ (Butler 2016: 40). 162 Dabei ist allerdings auch die Geschlechtlichkeit innerhalb der Interviewsituation zu berücksichtigen: So ist es durchaus denkbar, dass sich die männlichen* Diskussionsteilnehmenden in den Gesprächssituationen (in denen die Interviewerin bereits durch ihre Selbstvorstellung eindeutig als Frau positioniert war) weniger geöffnet haben als etwa die Teilnehmerinnen in ‚geschlechtshomogenen‘ Diskussionsgruppen. 209

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

5.4.5 Zwischenresümee Die hier nachgezeichneten polarisierten Geschlechtervorstellungen sind in dieser Form nicht neu (vgl. u. a. Götsch 2014). Auffallend ist in den Diskussionen allerdings der Kontrast zu den ebenfalls im Material entdeckten Erzählungen geschlechtlicher Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sowie der diskursive Umgang mit diesen Widersprüchlichkeiten, die zusammen eine parallele Gleichzeitigkeit der Öffnung und Schließung von Möglichkeitsräumen für geschlechtliche Seinsweisen bewirken: Die Jugendlichen sprechen einerseits Geschlechterklischees und stereotypen Vorstellungen fast jeglichen Realitätsbezug ab, und zwar meist mit dem Verweis auf die selbstbestimmte Individualität. Andererseits rekurrieren sie immer wieder auf bipolarisierte vergeschlechtlichte Zuschreibungen. Der Dramatisierungsgrad der Geschlechterdifferenz nimmt dabei tendenziell zu, je mehr der Reflexionsgrad abnimmt, was jedoch nicht bedeutet, dass der Rekurs auf geschlechtstypisierende Vorstellungen lediglich latent erfolgt. Vielmehr werden die damit verbundenen Widersprüche z. T. von den Jugendlichen selbst reflektiert und kommentiert, aber nicht aufgelöst. Sowohl in die Thematisierung des Mottotages als auch des Alltags mischen sich also Distanzierungen gegenüber Geschlechterklischees mit deren Reproduktion durch geschlechterstereotype Zuschreibungen als Teil von Realitätsverhandlungen. Insgesamt zeigt sich, dass für die Jugendlichen anhand des Aspekts der Angemessenheit ein Rahmen vorliegt, der – auf ‚freiwilliger Basis‘ – anerkannte von abgewerteter Geschlechtlichkeit trennt. Dadurch wird eine geschlechtliche (Selbst-)Disziplinierung als eigene Entscheidung gerahmt und es werden geschlechtsspezifische Handlungsbegrenzungen legitimiert. Eine maßvolle Regulierung der eigenen Performance wird dabei positiv hervorgehoben, Extreme scheinen in vielen Fällen verwerflich zu sein. Auf welche Weise sich die dargestellten Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sowie die Dynamiken des vergeschlechtlichten Maßnehmens zu einem Denkmodell gegenwärtiger vergeschlechtlichter Subjektivierung zusammenführen lassen, wird im Folgenden erläutert.

5.5 Theoretisches Modell der geschlechtlichen Selbstregulierung

5.5

Theoretisches Modell der geschlechtlichen Selbstregulierung

5.5

Theoretisches Modell der geschlechtlichen Selbstregulierung

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Für die in den Gruppendiskussionen aufscheinende Weise der Jugendlichen, Geschlecht und Sexualität als Teil von Selbstverhältnissen zu verhandeln, kristallisierten sich, wie in den vorangehenden Kapiteln dargelegt, die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sowie das vergeschlechtlichte Maßnehmen als zentral heraus. Das komplexe Zusammenwirken dieser Dimensionen, das unter analytischer Ausdifferenzierung aufgezeigt wurde, lässt sich, so das zentrale Ergebnis dieser Arbeit, unter dem Begriff der geschlechtlichen Selbstregulierung fassen. Im Rückbezug auf theoretische Subjektivierungskonzepte werden hiermit die Prozesse, Mechanismen und Techniken bezeichnet, in und mit denen die Jugendlichen sich zu vergeschlechtlichten Subjekten formen. Selbstregulierung lässt sich dabei mit Foucault (2009: 19) als Bezeichnung für den Prozess fassen, in dem sich Techniken der Fremd- und Selbstregierung treffen, und zwar im auf diese Weise erst als solchem konstituierten Subjekt.163 Über die Erzählungen und das Maßnehmen treffen ‚in den Jugendlichen‘ verschiedenste und widersprüchliche Erwartungen, Anrufungen, Vorstellungen und ‚Wahrheiten‘ in Bezug auf vergeschlechtlichte Seinsweisen aufeinander und werden von den Jugendlichen produktiv verarbeitet. Dieses Zusammenspiel steckt zugleich den Denk- und Wahrnehmungshorizont – und damit den Rahmen der Möglichkeitsbedingungen – ab, innerhalb dessen sich die vergeschlechtlichte Subjektkonstitution der Jugendlichen vollzieht. In der analytischen Auswertung des empirischen Materials konnte somit anhand konkreter diskursiver Techniken aufgedeckt werden, wie diese Mechanismen „die Handlungsoptionen der Individuen mobilisieren, einschränken oder kanalisieren, kurz: wie sie die Selbststeuerungspotenziale steuern“ (Bröckling 2007: 27). Geschlecht wird, das ist die zentrale These dieser Arbeit, gegenwärtig über die geschlechtliche Selbstregulierung im Subjekt (re)produziert. Oder anders ausgedrückt: Gegenwärtige Subjektivierung verläuft stets (auch) über geschlechtliche Selbstregulierung. Das Modell der geschlechtlichen Selbstregulierung leistet somit einen Beitrag dazu, die in der Einleitung skizzierten gegenwärtigen ambivalenten Diskurse um Geschlecht und sexuelle Orientierung theoretisch zu fassen und zu diskutieren. Es

163 Selbsttechnologien bzw. die Arbeit am Selbst werden aktuell vielfach auch unter dem Stichwort der Selbstoptimierung (vgl. Villa 2008a) diskutiert. Dieser Begriff trifft im Zusammenhang der hier diskutierten Befunde m. E. nicht ganz zu, da in den Verhandlungen der Jugendlichen eher eine geschlechtliche Angemessenheit als ein geschlechtliches Optimum im Vordergrund steht. 211

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5 Analytische Darstellung der Ergebnisse

macht ein permanentes Spannungsfeld deutlich, in dem sich die Jugendlichen in Bezug auf ihre Geschlechtlichkeit befinden. Diese hier eingenommene Perspektive auf geschlechtliche Selbstregulierung als gegenwärtige vergeschlechtlichte Subjektivierungsweise wird im folgenden Kapitel näher ausgeführt und in Auseinandersetzung mit weiteren theoretischen und empirischen Befunden abschließend diskutiert.

Diskussion der Ergebnisse: Vergeschlechtlichte Subjektivierung als geschlechtliche Selbstregulierung

6

6 Diskussion der Ergebnisse

Anliegen dieser Arbeit war es – das hat sich im Zuge des Forschungsprozesses herauskristallisiert –, Mechanismen der Subjektivierung Jugendlicher sichtbar zu machen. Es ging darum, die machtdurchzogenen Prozesse zu beleuchten, die junge Menschen durchlaufen, um als Subjekte anerkannt zu werden und um sich selbst als Subjekte wahrzunehmen. Berücksichtigt wurden dabei auch „die Ambivalenzen und Brüche jeder Subjektwerdung“ (Alkemeyer/Budde/Freist 2013: 15). Ausgehend von der Frage nach den jugendlichen Verhandlungen von Geschlecht und vor dem theorie- und empiriebasierten Hintergrund der Annahme, dass Subjekte nur als geschlechtliche Subjekte intelligibel sind und Subjektivierung immer auch vergeschlechtlichte Subjektivierung bedeutet, ging es im Speziellen darum, die Dynamiken nachzuzeichnen, innerhalb derer sich Menschen zu vergeschlechtlichten Subjekten formen. Die Auswertung der Gruppendiskussionen ermöglichte, konkrete Prozesse vergeschlechtlichter Subjektwerdung „analytisch im Hinblick auf ihre Hervorbringungslogiken bzw. Erzeugungsweisen aufzuschlüsseln“ (Geipel 2019: Abs. 46). Die Ergebnisse dieser Untersuchung legen nahe, diese Prozesse der vergeschlechtlichten Subjektivierung als geschlechtliche Selbstregulierung zu fassen, die sich im Rahmen der Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sowie des vergeschlechtlichten Maßnehmens vollzieht. Über den Modus der geschlechtlichen Selbstregulierung werden Wahrheiten sowie Ein- und Ausschlüsse produziert, die über die Erzählungen und das Maßnehmen und insbesondere in deren Zusammenspiel ihre Wirkung entfalten und diskursive Möglichkeitsbedingungen für intelligible geschlechtliche Seinsweisen schaffen. Die auf diese Weise erzeugten (Un-)Sagbarkeiten stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Subjekte artikulieren und sich überhaupt als solche konstituieren und wahrnehmen können. Durch die vorliegende Untersuchung konnte empirisch aufgezeigt werden, was bislang vornehmlich theoriebasiert diskutiert wird: Anhand des Materials wurden die diskursiven Mechanismen und Bedingungen nachgezeichnet, durch die und unter denen junge Menschen zu vergeschlechtlichten © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Conrads, Das Geschlecht bin ich, Geschlecht und Gesellschaft 76, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30891-9_6

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6 Diskussion der Ergebnisse

Subjekten (geformt) werden. Es wurden Ein- und Ausschlüsse aufgedeckt, die in diesen Prozessen vollzogen werden, und die ganz konkreten Auswirkungen, Ausgestaltungen und Aushandlungen verdeutlicht, die diese machtdurchdrungenen Prozesse im Alltag der Jugendlichen zeitigen. Die Ambivalenzen, Gleichzeitigkeiten und Widersprüchlichkeiten, die in der Darstellung der Ergebnisse sichtbar wurden, sind der geschlechtlichen Selbstregulierung inhärent und bilden somit einen konstitutiven Teil der Subjektpositionen der Jugendlichen. Mit dem Denkmodell der geschlechtlichen Selbstregulierung geraten Mechanismen in den Fokus, durch die diese ambivalenten Dynamiken in den einzelnen Subjekten zusammentreffen.164 Zugleich wird in dieser Perspektive deutlich, warum das Kitten der Ambivalenzen nicht reibungslos gelingen kann. Mit dem hier verfolgten empirischen Blick „auf die diskursive Situiertheit menschlicher Selbstverhältnisse“ (Bosančić 2016: 95) kristallisieren sich aktuelle Geschlechterkonzeptionen heraus, die sich mit dem neoliberalen Paradigma verbinden lassen. Dieses scheint gegenwärtig eine zentrale Stellung dafür einzunehmen, „wie wir als vergeschlechtlichte Subjekte konstituiert werden“ (Hark 2019: 175). Die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind anschlussfähig an die „gegenwärtig sozialwissenschaftlich diagnostizierten Subjektanforderungen von Autonomie und Authentizität“ (Wiede 2014: o. S.), die in der Figur des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2002) als Denkmodell für eine neoliberale Subjektivierungsweise zusammenlaufen (vgl. Kap. 3.2). Geschlechtliche Selbstregulierung verläuft nach ähnlichen Maximen wie die Figuration des unternehmerischen Selbst, denn „über eine selbstbestimmte Sexualität und ein selbstbestimmtes geschlechtliches Ich soll das neoliberale Subjekt sich gänzlich entfalten“ (Ludwig 2017: 95). Mit Blick auf das neoliberale Paradigma lassen sich in der geschlechtlichen Subjektkonstitution der Jugendlichen Parallelen ziehen zur Hervorhebung der Flexibilisierung und individuellen Entscheidungsfreiheit – und auch zur Zuweisung der Verantwortung, diese Entscheidungen im ‚richtigen‘ und ‚angemessenen‘ Sinn zu treffen. Das vergeschlechtlichte Subjekt 164 Einen exemplarischen, frühen Überblick über divergierende kultur- und sozialwissenschaftliche Annäherungen an den Begriff der Ambivalenz bietet Marnina Gonick (2003: 162f.). Sie reichen von der Betonung von dessen subversivem Potenzial in Bezug auf Subjekte und (Möglichkeits-)Räume (z. B. Bhabha 1994; Trinh 1991) bis hin zu einer kritischen Perspektive auf seine Nutzbarmachung durch privilegierte (Subjekt-)Positionen und seine Stabilisierung von Machtstrukturen (z. B. Ahmed 1999; McClintock 1995). Auch Zygmunt Baumans (2005) Ausführungen zur Akzeptanz von Ambivalenz als Charakteristikum der von ihm zugrunde gelegten ‚Postmoderne‘ seien in diesem Zusammenhang erwähnt, obwohl der Autor sich dabei nicht dezidiert mit Geschlechterfragen beschäftigte (vgl. auch Villa 2008b).

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

215

der Gegenwart, so wird am Beispiel der jungen Abiturient_innen nachgezeichnet, konstituiert sich damit entlang dieser Orientierungslinien neoliberaler Logik und unterwirft sich zugleich, als Kehrseite der Medaille des neoliberalen Freiheitsversprechens, den damit einhergehenden Imperativen sowie Ein- und Ausschlüssen in einem gleichsam ‚autonomen‘ Akt. Die vorliegende Untersuchung konnte somit empirisch aufzeigen, auf welche Weise die mit dem unternehmerischen Selbst verbundene Subjektivierungsweise und die vergeschlechtlichte Subjektivierung zusammen einhergehen.

6.1

Zentrale analytische Beobachtungen

6.1

Zentrale analytische Beobachtungen

Im Folgenden werden die zentralen Beobachtungen aus der empirischen Untersuchung diskutiert, die sich mit Fokus auf das Zusammenspiel der Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sowie des vergeschlechtlichten Maßnehmens ergeben. Damit zeigt sich zugleich das analytische Potenzial des theoretischen Konzepts der geschlechtlichen Selbstregulierung mit Blick auf die Bedingungen und Mechanismen, unter und mit denen intelligible Subjekte geformt und deren Handlungsräume abgesteckt werden.

6.1.1

Analytische Beobachtung I: Von der biologisch fixierten Geschlechtlichkeit zum geschlechtlichen Gestaltungsimperativ

In den Verhandlungen der Jugendlichen wurde deutlich, dass Alltagsannahmen einer stabilen und kohärenten biologischen Geschlechtlichkeit (vgl. Kap. 5.1.2) von Annahmen der eigenen geschlechtlichen Gestaltbarkeit abgelöst werden. Es zeigt sich ein vergrößerter Möglichkeitsraum für körperliche Geschlechtsgestaltung, der insbesondere Trans* in den Bereich der legitimen geschlechtlichen Seinsweisen integriert (vgl. Kap. 5.1.3) und die Definitionsmacht über die eigene Geschlechtlichkeit in die Individuen verlagert (vgl. Kap. 5.1.1). Vereinzelt sind dabei diskursive Loslösungen von der zweigeschlechtlichen (Selbst-)Verortung zu erkennen (vgl. Kap. 5.1.4); insgesamt verbleiben die Verhandlungen der Jugendlichen aber fast durchgängig im zweigeschlechtlichen Rahmen. Daraus ergibt sich in den Verhandlungen der Jugendlichen eine weitere Konsequenz: Durch das wirkmächtige Zusammenspiel der Erzählungen erwächst aus der Anrufung zur geschlechtlichen Selbstbestimmung in Verbindung mit den Annahmen der Flexibili215

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6 Diskussion der Ergebnisse

tät der körperlichen Geschlechtlichkeit und der Zielsetzung einer geschlechtlichen Selbstverwirklichung gemäß dem inneren, dichotom gerahmten Geschlechtsempfinden die Erwartung, die eigene Geschlechtlichkeit auf diese Weise zu gestalten (vgl. Kap. 5.3.3). Im Rahmen der geschlechtlichen Selbstregulierung wird also ein biologistisches Alltagsverständnis von Geschlecht durch Vorstellungen einer Gestalt- und Formbarkeit abgelöst, die zugleich zum Imperativ der Gestaltungsarbeit werden – geschlechtliche Gestaltungsmöglichkeit wird zur geschlechtlichen Gestaltungsnotwendigkeit. Diese Gestaltungsarbeit kann dann etwa in Form von (operativen) Maßnahmen von Trans* Menschen zur Vereindeutigung innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit, aber auch als (oft naturalisierte bzw. verunsichtbarte) Cis-Praktiken zur Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der zweigeschlechtlichen Konformität erfolgen.165 Die in den Erzählungen der Jugendlichen hervorgehobene geschlechtliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, die Gender Agency, gerät somit zugleich zum Leistungsimperativ (vgl. auch Kap. 6.1.3), ähnlich, wie es Hark und Villa in Bezug auf Angela McRobbies neoliberale Frauenfigur des „Top Girls“ (McRobbie 2010) konstatieren: „Hier wird das ‚Yes, you can!‘ […] zu einem ‚Yes, you must!‘“ (Hark/Villa 2010: 12). Für die geschlechtliche Selbstregulierung der Jugendlichen scheint dementsprechend der Leitsatz zu gelten: Wie ich geschlechtlich fühle, so gestalte ich mich bzw. so sollte ich mich gestalten. Eine Geschlechtlichkeit, die sich nicht in die Dichotomie weiblich–männlich einordnen lässt, scheint dabei allerdings kaum mit den Erzählungen vereinbar zu sein, da in den Gruppendiskussionen letztlich fast immer eine Kohärenz im Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit die Orientierungsfolie bildet. In den jugendlichen Verhandlungen vom inneren Geschlecht als authentischem Ausdruck des eigenen Selbst deutet sich damit eine Differenzierung von Geschlecht im Sinne der Sex-Gender-Unterscheidung (vgl. Kap. 3.4) an, jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. Denn in der ursprünglichen Unterscheidung war die Annahme zentral, dass gender, verstanden als das soziale Geschlecht oder auch die Geschlechtsidentität, gesellschaftlich konstruiert und demnach, anders als das mit sex bezeichnete biologische bzw. körperliche Geschlecht, auch veränderbar ist (zur in der Folge kritischen Auseinandersetzung mit dieser Aufteilung innerhalb der Geschlechterforschung vgl. Kap. 3.4). In den Verhandlungen der Jugendlichen wird nun aber eine innere Geschlechtlichkeit als angeborenes, konstantes Geschlecht aufgefasst; sex, also das körperliche Geschlecht, wird dagegen als veränderbar konfiguriert 165 Anna-Katharina Meßmer diskutiert dies in ihrer Studie (2017) am Beispiel kosmetischer Intimchirurgie an „Cis-Genitalien“ (Meßmer 2017: 2) und zeigt, wie diese Praktiken und die damit verbundene medikalisierte Ästhetik mit Subjektpositionen und Selbstverhältnissen in Verbindung stehen.

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

217

(vgl. auch Villa 2013: 237f.). Somit erscheint nicht mehr gender als das kulturelle Resultat von sex, sondern vielmehr sex als das kulturelle Resultat von gender. Wenn durch die Sex-Gender-Unterscheidung in der Frauen- und Geschlechterforschung die Aussage möglich gemacht werden sollte, dass der Körper zwar weiblich oder männlich ist, aber das soziale Geschlecht und damit auch das Geschlechtsempfinden sozial konstruiert bzw. strukturell-kulturell hergestellt und – ganz zentral – veränderbar ist, dann ist die mit den gegenwärtigen Erzählungen verbundene Aussage geradezu eine konträre: Die innere Geschlechtlichkeit ist (dichotom) weiblich oder männlich und unveränderlich, und der Körper kann entsprechend gestaltet werden. Mit dieser diskursiven Verschiebung bleibt ein zweigeschlechtlich fundierter Essenzialismus erhalten, der ein – binär gerahmtes – Geschlechtsempfinden als ursprünglichen ‚Geschlechtskern‘ und somit als sozialen, kulturellen und Machteinflüssen vorgängig figuriert.166 Dadurch werden binäre Geschlechterunterschiede – und letztlich auch damit verbundene Machtverhältnisse – trotz Annahmen von (vorrangig körperlicher) Flexibilität festgeschrieben. Denn das innere Geschlecht steht nun für die geschlechtliche Authentizität – und damit für eine individuelle, autonome und letztendlich unveränderliche Wahrheit. Mit Butler lässt sich hier von einem „gendered self“ (Butler 1991: 48) sprechen, dem die „Vorstellung von der unvergänglichen Substanz als fiktive Konstruktion“ (ebd.) zugrunde liegt. Wenn die Jugendlichen nun eine körperliche Gestaltbarkeit verhandeln, die sich nach dem inneren geschlechtlichen Empfinden richtet, dann spiegelt in der Konsequenz das Körpergeschlecht als selbstbestimmt gestaltet das innere Geschlecht wider; der „Körper wird zu einem Display, auf dem die Arbeit an sich als Ausdruck des eigenen Selbst – seines Willens, seiner Disziplin, seiner Idealvorstellungen, seines ‚Charakters‘ – sichtbar wird“ (Duttweiler 2016: 29). In den Gruppendiskussionen sind somit sowohl die diskursive Verlagerung einer Geschlechtsessenz in das Innere als auch eine körperliche Fundierung von Geschlechtsunterschieden als zwei Seiten desselben Phänomens zu beobachten.167 Mit Blick auf die ausgewerteten Daten ist Villas Argumentation einer „De-Ontologisierung des Geschlechtskörpers“ (Villa 2013) nur bedingt zuzustimmen, da im (diskursiven) Ergebnis, dem vergeschlechtlichten Körper, diese diskursive Logik des selbstbestimmten Zustandekommens in der Regel in Vergessenheit zu geraten scheint. Auch die gegenwärtig in ähnlichen Untersuchungskontexten (Bereswill/ 166 Dies gilt sowohl für geschlechtsangleichende Trans* Maßnahmen als auch für solche geschlechtliche (Körper-)Arbeit, die den cis-geschlechtlichen Körper den bipolaren Vorstellungen konformer Weiblichkeit bzw. Männlichkeit anpasst. 167 Der spezifische Stellenwert, den ‚biologische‘ Mutterschaft für die diskursive Begrenzung der Gestaltbarkeit einnimmt, wurde in Kap. 5.4.3 diskutiert. 217

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6 Diskussion der Ergebnisse

Liebsch 2019; Lenz/Evertz/Ressel 2017a) aufgestellte These, es handle sich bei der Lesart, „dass Zweigeschlechtlichkeit eine soziale Ordnung ist, die variiert und damit grundsätzlich transformiert werden kann“ (Bereswill/Liebsch 2019: 17), inzwischen um einen „Gemeinplatz“ (ebd.), lässt sich im hier untersuchten Material nicht bestätigen. Vielmehr bildet Zweigeschlechtlichkeit für die Jugendlichen fast durchweg die Orientierungsfolie des Gestaltungsimperativs; die Flexibilität gilt „nur innerhalb des Rahmens einer weiterhin als natürlich angenommenen Zweigeschlechtlichkeit“ (Ludwig 2017: 97). In diesem Sinne werden „die Regulierungsverfahren der Geschlechter-Kohärenz“ (Butler 1991: 49) wirksam, durch welche die (eindeutige) Geschlechtlichkeit hervorgebracht wird. Geschlecht wird dadurch jedoch, das zeigt sich auch in der vorliegenden Studie, in gewissem Grad verhandelbar und die eigene Geschlechtlichkeit damit auch begründungsbedürftig, was nachfolgend diskutiert wird.

6.1.2 Analytische Beobachtung II: Paradoxe Gleichzeitigkeit von Desartikulation und Relevanzsetzung von Geschlechterdifferenzen In den Diskussionen der Jugendlichen tritt ein hohes Maß an reflexiver Verfügbarkeit von Wissen über Diskurse um geschlechtliche Gleichheit und sexuelle Vielfalt zutage. In diesem Kontext werden geschlechtsspezifische Unterschiede weitgehend verneint, sexuelle Diversität anerkannt sowie geschlechtliche und sexuelle Non-Konformitäten legitimiert. Zugleich finden sich, wie insbesondere in Kap. 5.4 deutlich wurde, jedoch immer wieder implizite und explizite Rekurse auf binäre Geschlechtsdifferenzen, die sich von biologischen Faktoren über Fähigkeitszuschreibungen bis hin zu Interessen und Bedürfnissen erstrecken und jeweils geschlechtsspezifische Erwartungen und Verhaltensmaßstäbe an Frauen und Männer nach sich ziehen, sowie auf eine naturhafte Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit, welche die Legitimität von nicht-heterosexuellen und nicht-cis-geschlechtlichen Seinsweisen – wenn auch meist nur implizit – infrage stellt. Es konnte also in den Diskussionen beobachtet werden, dass bipolarisierte und heteronormative Zuschreibungen einerseits in reflexiver Distanz von sich gewiesen und andererseits als bedeutungsvoll angenommen und reproduziert werden. Dabei zeigt sich, dass die in diesem Zusammenhang diskursiv und performativ zitierten Geschlechterbilder bipolar strukturierte Geschlechterhierarchien (re-) produzieren (vgl. Kap. 5.4.2), die mit geschlechtsspezifischen Handlungsräumen verbunden sind. Insbesondere die – auch körperbezogenen – dichotomen (und vermeintlich überwundenen) Zuschreibungen von weiblicher Schwäche, Passivität

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

219

und Verletzbarkeit sowie männlicher Stärke, Aktivität und Verletzungsmächtigkeit fallen dabei auf, ebenso die heterosexualisierte Komplementarität dieses Gefüges, die ihre Letztbegründung in der menschlichen Fortpflanzung findet (vgl. Kap. 5.4.3; vgl. auch Degele 2008: 89). Damit erfahren die Erzählungen von geschlechtlicher Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eine diskursive Einhegung, die Positionierungen außerhalb dieser Dichotomie schwerer bzw. prekärer erscheinen lässt. Dieser bipolare Geschlechterdiskurs erweist sich in den Diskussionen als äußerst stabil und scheint auch durch körperlich-praktische Erfahrungen am Geschlechtertauschtag (an dem für einige Jugendliche Macht oder Ohnmacht in Umkehrung zu geschlechtsspezifischen Alltagserfahrungen spürbar wurde) letztlich nicht ins Wanken gebracht zu werden (vgl. Kap. 5.4.2). Somit sind es „gerade macht- und gewaltvolle Diskurse, die ‚den‘ Körper erst zu jenem machen, als den wir ihn alltäglich wahrnehmen und leben“ (Ludwig 2013: 87). Erweiternd anknüpfen lässt sich an Wetterers Begriff der „Rhetorischen Modernisierung“ (vgl. Kap. 2.2), mit dem sie die „Diskrepanz zwischen Alltagswissen und Alltagspraxis“ (Wetterer 2005: 75) in Bezug auf Geschlechterverhältnisse beschreibt. Mit Blick auf Mittelschichtmilieus stellt sie damit analytisch eine anhaltende geschlechtsdifferenzierende Praxis einer egalitätsorientierten Rhetorik entgegen, die bestehende Ungleichheitsstrukturen verdeckt. Im empirischen Material der vorliegenden Studie zeigt sich jedoch, dass sich die Spannungslinie nicht einfach zwischen Offenheit in der Rhetorik und Beharrung in der Praxis ziehen und auch nicht als temporaler Entwicklungsgedanke zwischen fortschrittlicher Kultur und rückständigen Strukturen aufmachen lässt (vgl. auch Degele 2004: 73f.; Rendtorff/Riegraf/Mahs 2019a: 5). Die These der Diskrepanz zwischen Gleichheit proklamierenden Äußerungen und konservativer Praxis scheint damit in Bezug auf die beobachteten Dynamiken der Jugendlichen des Samples zu kurz zu greifen. Vielmehr zeigt sich die Widersprüchlichkeit in den Aushandlungen der Jugendlichen deutlich komplexer und äußert sich in einer Verwobenheit divergierender Wahrheiten, Ansprüche und Aussagen – und möglicherweise Handlungspraxen. Diese können einerseits reibungslos nebeneinander stehen, sofern sie kontextspezifisch und somit separat aufgerufen werden. Das paradoxe Verhältnis zwischen der Artikulation von Gleichheit bzw. weitgehender Unterschiedslosigkeit der Geschlechter und den ebenfalls hervortretenden Positionen zu geschlechtsspezifischen Ausprägungen wird andererseits vereinzelt von den Jugendlichen kommentiert, wenn die unterschiedlichen ‚Wahrheiten‘ aufeinandertreffen (vgl. Kap. 5.4.1). Dabei wird häufig in einer reflexiv-ironischen Brechung auf ‚Geschlechterklischees‘ Bezug genommen, wodurch Distanzierung und Heranziehung zugleich möglich werden. Ähnliches scheint in Bezug auf geschlechtliche und sexuelle Pluralität auf: Die Jugendlichen weisen z. T. auf eine Diskrepanz eigener Toleranzansprüche und 219

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6 Diskussion der Ergebnisse

anders gearteter Empfindungen oder Verhaltensweisen hin (vgl. Kap. 5.2.3 und 5.2.4). Die Befunde zeigen also, dass die Widersprüche, anders als von Wetterer gefasst, teilweise explizierbar sind (vgl. auch Götsch 2014: 256). Zugleich ist diese „womöglich paradoxe Gleichzeitigkeit […] weder aufzulösen noch zu hintergehen“ (Villa 2017: 79). Es kristallisiert sich somit als ein zentraler, der geschlechtlichen Selbstregulierung inhärenter Widerspruch jener des paradoxen Nebeneinanders von Handlungsräume erweiternden und Handlungsräume begrenzenden Verhandlungen von Geschlecht heraus – dies wird „als das spezifische Merkmal der aktuellen Geschlechterverhältnisse sichtbar“ (König 2014: 171). Dabei ist gerade das weitgehende Funktionieren – und somit die Persistenz – dieses Nebeneinanders prägnant, das durch verschiedene diskursive Scharniere (vgl. z. B. Kap. 5.2.3, 5.2.4 und 5.4.3) gewährleistet wird. Indem etwa geschlechtstypische Ausprägungen als kontingente, individuelle Charakterausformungen gelesen werden, erübrigt sich eine Heranziehung geschlechtsbezogener struktureller Erklärungsmuster, die auf eine Engführung auf geschlechtsspezifische Handlungsräume hinweisen könnten (vgl. Kap. 5.2.2). Die Widersprüche werden dadurch zwar nicht aufgelöst, aber verdeckt oder zumindest „gewissermaßen erträglich“ (Speck 2019: 78) gemacht. Auf den hier aufscheinenden Individualitätsdiskurs wird in der folgenden Beobachtung genauer eingegangen.

6.1.3 Analytische Beobachtung III: Individualisierung der Verantwortung – Gender Agency zwischen Autonomie und Angemessenheit Durch das in den Gruppendiskussionen beobachtete und auch in anderen Befunden (u. a. Lenz 2017: 188) konstatierte Reflexivwerden von Geschlecht wird die Geschlechtlichkeit der Jugendlichen zugleich begründungs- bzw. legitimierungsbedürftig. Was sich dabei mit dem Gestaltungsimperativ bereits andeutet und sich, so wird im Folgenden ausgeführt, auch als diskursive Brücke zwischen den Gleichheitsansprüchen und Konformitätsausprägungen herausstellt, ist eine Individualisierung der Auslebung der eigenen Geschlechtlichkeit, die sich im Anknüpfen der Jugendlichen an die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung vollzieht. Dahinter steht die auf autonomes Handeln und authentische Empfindung rekurrierende Botschaft: Jede_r hat die eigene Geschlechtlichkeit selbst in der Hand und, gemäß der eigenen Empfindung, die Definitionsmacht darüber. Ob als Konformität oder Abweichung, bei den Jugendlichen wird die jeweilige Geschlechtlichkeit immer wieder mit Wahlfreiheit und selbstbestimmter Entscheidung verbunden. Die Gender Agency

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

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macht die jungen Menschen in ihren Verhandlungen zu Agent_innen der eigenen Geschlechtlichkeit. Damit wird ein Raum für die Artikulation und Anerkennung unterschiedlicher geschlechtlicher und sexueller Seinsweisen aufgemacht. In Bezug auf non-konforme Geschlechtlichkeit und Sexualität kann das bedeuten, dass diese nicht als Defizit abgewertet, sondern als selbstbestimmte Weise anerkannt werden, die eigene geschlechtliche oder sexuelle ‚Bestimmung‘ zu fühlen und zu leben. Es eröffnen sich Möglichkeiten zur Erweiterung von Handlungspotenzial bzw. Selbstermächtigung, was sich in den Diskussionen etwa dann zeigt, wenn sich einzelne Jugendliche in ihrer geschlechtlich und sexuell non-konformen Selbstverortung positiv auf die eigene Gender Agency beziehen und darin auch – überwiegend – Anerkennung erhalten (vgl. z. B. Kap. 5.1.4 und 5.2.1). Es werden also von den Jugendlichen auch geschlechtliche Subjektpositionen jenseits der Heterokonformität verhandelt oder entsprechende Selbstverortungen vorgenommen, die in Anknüpfung an die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung artikuliert und legitimiert werden (können). Ein grundsätzliches Hinterfragen der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit scheint ebenfalls, durch den Rekurs auf geschlechtliche Flexibilität, ganz vereinzelt, in gewissem Grad denk- und sagbar. Wenn auf der einen Seite die Botschaft lautet, dass jede_r die eigene Geschlechtlichkeit selbst in der Hand hat, dann impliziert das auf der anderen Seite: Jede_r ist für die eigene Geschlechtlichkeit verantwortlich – und folglich an einem Misslingen der geschlechtlichen Selbstverwirklichung selbst schuld. Das mögliche Scheitern schwingt in den Erzählungen immer mit, sie bilden Anrufungen und öffnen diskursive Möglichkeitsräume, aber zugleich bergen sie auch das Risiko einer Verfehlung, was in den Diskussionen als individuelles Versagen verhandelt und ggf. sanktioniert wird. Nicht erreichte Anerkennung der eigenen geschlechtlichen oder sexuellen Seinsweise, eine unauthentische Geschlechtlichkeit oder Sexualität oder die misslungene Vereinbarung eigener Selbstkonzepte mit den sozialen – vergeschlechtlichten – Erwartungen und Optionen werden somit individuellem Versagen zugeschrieben. Denn die „Individualisierung glücklichen Gelingens, das Versprechen, dass wir jeden Erfolg uns ganz alleine zuschreiben können, stellt mithin nur die Vorderseite des ebenso möglichen, radikal der Einzelnen zugerechneten Scheiterns dar“ (Hark 2019: 175). Diese diskursive Logik lässt sich durchweg in den Diskussionen beobachten und scheint sowohl bei Jugendlichen wirksam zu sein, die sich geschlechterkonform präsentieren, als auch bei denen, die eigene geschlechtliche Abweichungen thematisieren. Die Äußerungen der Jugendlichen beziehen sich in diesem Zusammenhang somit häufig darauf, sich individuell bestmöglich in die Gegebenheiten einzupassen – ein Bestreben, an den Strukturen aktiv etwas zu ändern, ist in den Diskussionen nicht 221

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6 Diskussion der Ergebnisse

zu finden. Modifikationen am geschlechtlichen Selbst sind möglich (und ggf. auch erwünscht), aber Modifikationen am System werden nicht in Betracht gezogen. Es geht also in der geschlechtlichen Subjektkonstitution der Jugendlichen vor allem um das erfolgreiche Einfügen „innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse und ohne radikale Umgestaltung heteronormativ organisierter Geschlechterverhältnisse und -arrangements ‚von unten‘“ (Hark 2019: 175f.). Handlungsfähigkeit wird von den Jugendlichen dementsprechend eher im Sinne von individuellem Gestaltungspotenzial innerhalb der gegebenen Strukturen gesehen, gesellschaftliche Verhältnisse stehen nicht im Fokus: Im Rahmen der geschlechtlichen Selbstregulierung suchen sie für die Formung und Auslebung der eigenen Geschlechtlichkeit individuelle Handlungsstrategien als subjektive Lösungswege innerhalb der bestehenden (Geschlechter-)Ordnung. Es zeigt sich hier also der „Versuch einer permanenten Anpassung an Umstände, die man nicht zu verantworten hat, für deren Wirkung man aber dennoch verantwortlich gemacht wird“ (Duttweiler 2016: 32). Das gilt auch für die Jugendlichen, die in den Diskussionen explizit und z. T. unter Heranziehung eigener Erfahrungen auf strukturelle Zusammenhänge diskutierter geschlechtlicher Ungleichheiten Bezug nehmen: Sie greifen in ihrer Suche nach Lösungswegen trotzdem auf individuelle Handlungsstrategien zurück, um den artikulierten Herausforderungen unter den gegebenen Umständen zu begegnen. Deutlich werden so auch „Verquickungen neoliberaler Freiheitsversprechen, Flexibilisierungstendenzen und Individualisierungsbestrebungen mit queeren [und feministischen, J. C.] Forderungen“ (Bauschke-Urban/Conrads/Tuider 2016: 10). Durch den Verweis auf individuelle Handlungs- und Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die eigene Geschlechtlichkeit und Sexualität scheint es in den Verhandlungen der Jugendlichen damit schwerer, eine mögliche Wirksamkeit bestehender geschlechtsbezogener Normen und Machthierarchien zu diskutieren, auch dort, wo dies von einzelnen Jugendlichen versucht wird. Der Widerstand scheint sich hier gegen die Einschränkung der Erzählungen zu richten, die etwa ein Zugeständnis begrenzter individueller Selbstbestimmtheit implizieren würde. Auch hier offenbart sich die „gesellschaftliche Tabuisierung der argumentativen Bezugnahme auf Andere, erst recht auf ‚Strukturen‘ oder ‚Verhältnisse‘“ (Villa 2017: 79). Durch diese Stillstellung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und die De-Thematisierung von strukturellen Ungleichheiten werden überindividuelle Bedingungen für die Lebbarkeit unterschiedlicher geschlechtlicher und sexueller Seins- und Lebensweisen weitgehend ausgeblendet. Diese „verheißungsvolle Botschaft von individueller Handlungsmacht und Wahlfreiheit überdeckt, dass Strukturen Handlungsmacht eingrenzen, denn indem die Verantwortung an die Subjekte zurückgespielt wird, erscheint alles möglich“ (Beier/Haller/Haneberg 2018: 8). Dass geschlechterhierarchische und heterosexualisierte Machtverhältnisse dennoch für die Jugendlichen

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

223

spürbar sind, auch wenn sie selten expliziert werden, deutet sich in den Verhandlungen vor allem dann an, wenn die Erzählungen brüchig oder widersprüchlich werden (vgl. insbesondere Kap. 5.2.3). Hier trägt eine dekonstruktivistische Perspektive dazu bei, die hiermit verbundenen Irritationen und Reibungspunkte aufzudecken und somit auch das zum Vorschein zu bringen, was hier gerade nicht gesagt wird, nicht gesagt werden kann oder nicht gesagt werden darf. Gesellschaftliche (Macht-)Strukturen werden durch die Zuschreibung individueller Verantwortlichkeit aber nicht nur verdeckt: Über den in den Erzählungen enthaltenen individualisierenden Rekurs auf Autonomie und Authentizität legitimieren und stabilisieren sich auch geschlechtsspezifisch begrenzte Handlungsräume. Denn in diesem Zusammenhang werden auch konforme Geschlechtlichkeiten von den Jugendlichen nicht im Kontext einer gesellschaftlichen, hierarchischen Geschlechterordnung diskutiert, sondern als individueller Ausdruck des Selbst, wodurch Geschlechterdifferenzierungen irrelevant (gemacht) und Thematisierungen von darauf beruhenden Ungleichheiten verunmöglicht oder zumindest erschwert werden (vgl. auch Speck 2019: 67). Geschlechtliche Konformität erscheint in diesem Licht als zufällig bzw. frei gewählt und als kontingente Entscheidung, und zwar auf der Grundlage des authentischen und autonomen Selbst (vgl. 5.2.2). Diese – punktuelle – De-Thematisierung von Geschlecht (vgl. auch Klinger 2014; Rendtorff 2015) kann somit „paradoxerweise die Hierarchisierung zwischen den Geschlechtern weiter verschärfen“ (Soiland 2013: 95). Die Fokussierung auf die individuelle Ebene hat zudem zur Folge, dass die Jugendlichen in Momenten, in denen es darum geht, (zwei-)geschlechtlich basierte Handlungsbegrenzungen oder -konformitäten als selbstbestimmt zu legitimieren, weniger den Maßstab der Normen oder Normalität anführen als vielmehr mit einer durch geschlechtliche Authentizität begründeten und durch geschlechtliche Autonomie umgesetzten geschlechtlichen Angemessenheit argumentieren: Geschlechtlichkeit wird als selbstbestimmte, individuelle Ausprägung des inneren, authentischen Selbst gesehen, in deren Rahmen sich geschlechtliches Maßhalten entlang geschlechtstypischer Muster angesichts eines nicht weiter begründungsnotwendigen Bedürfnisses nach Angemessenheit freiwillig vollzieht. Somit zeigt sich hier auch der konsensuale Charakter, den das Verhältnis von strukturellen Rahmungen und individuellen Fügungen einnehmen kann (vgl. Kap. 3.1). Eine adäquate Geschlechtlichkeit (und Sexualität) ist demnach für die Jugendlichen mit einem freiwilligen bzw. selbstbestimmten Einhalten bestimmter Grenzen – und der Abwertung entsprechender Überschreitungen – verbunden (vgl. z. B. Kap. 5.4.4). In Anschluss an Ludwig (vgl. Kap. 3.4) lässt sich, ausgehend von diesen empirischen Beobachtungen, für die geschlechtliche Selbstregulierung festhalten, dass diese nicht über die Festschreibung von Erlaubtem und Verbotenem verläuft, sondern „von 223

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6 Diskussion der Ergebnisse

einem Mittelwert ausgeht, von welchem aus das Akzeptable und dessen Grenzen definiert werden“ (Ludwig 2017: 99). Das in den Gruppendiskussionen beobachtete vergeschlechtlichte Maßnehmen geht so ebenfalls im individualisierenden Diskurs auf. Mit der Orientierung an einer autonomen, authentischen und angemessenen Geschlechtlichkeit werden zugleich die strukturellen Dimensionen der (selbst-) disziplinierenden Maßnahmen ausgeblendet, welche die Grundlage (auch) für konforme Geschlechtlichkeiten bilden. Geschlechtliche Selbstregulierung, so lässt sich mit Bröckling folgern, der diese Diagnose mit Blick auf die Subjektivierung des neoliberalen Selbst aufstellt, „erweist sich hier als Kunst des Balance-Haltens“ (Bröckling 2002: 182). Inwiefern dieser Balanceakt gelingt, hängt insbesondere von den hierzu vorhandenen Ressourcen ab, die den Jugendlichen in unterschiedlichem Maß zur Verfügung stehen und die wiederum, hier zeigt sich eine zirkuläre Paradoxie, auch von den Subjektpositionen abhängen, die im Rahmen der geschlechtlichen Selbstregulierung eingenommen werden, wie in der nächsten Beobachtung nochmals verdeutlicht wird.

6.1.4 Analytische Beobachtung IV: De-Thematisierung von Diskriminierung durch hetero-advokatorische Toleranz Immer wieder wird von der Mehrheit der Jugendlichen die Toleranz gegenüber verschiedenen geschlechtlichen und sexuellen Seinsweisen betont. Bezugspunkt sind auch dabei die Erzählungen geschlechtlicher Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, welche die Entscheidungs- und Handlungshoheit über die Geschlechtlichkeit und Sexualität in den Individuen verorten. Somit steht in den Verhandlungen der Jugendlichen vordergründig eine tolerierende Annäherung an Geschlecht und Sexualität im Vordergrund, was sich mit Ludwigs Konzept der toleranten Heteronormalisierung fassen ließe (vgl. Kap. 3.3). Die Anerkennung von geschlechtlicher Non-Konformität und sexueller Vielfalt ist in den Diskussionen deshalb diskursiv unhintergehbar. Bezugnahmen auf erlebte oder imaginierte sexuelle oder geschlechtliche Abweichungen sind dementsprechend begleitet von Offenheitsbekundungen und/oder Entdramatisierungen. Im Zuge dessen öffnen sich Denk- und Sagbarkeitsräume für diverse geschlechtliche und sexuelle Seinsweisen, die von den Jugendlichen während der Gruppendiskussionen in unterschiedlichem Maße genutzt werden, um entsprechende Subjektpositionierungen und Praktiken zu artikulieren und reflektieren. Dies geschieht sowohl im Rekurs auf eigene Erfahrungen als auch in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen konkreter Dritter sowie als Diskussion von imaginierten Situationen. Dabei werden

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

225

mit Bezug auf die Erzählungen diverse geschlechtliche Seins- und sexuelle Lebensweisen legitimiert und im Rahmen der Gruppendiskussionen denk- und sagbar.168 Allerdings lässt sich in diesen Toleranzbekundungen der Jugendlichen eine Tendenz ausmachen, die als Vermischung normativer Idealvorstellungen mit dem Status quo oder als Verwechslung von Soll- und Ist-Zustand in Bezug auf die Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt bezeichnet werden kann: Die proklamierte Toleranz wird als gesamtgesellschaftlich bereits (durch-)gesetzt gefasst. Analog zur von Bettina Heintz (2001) konstatierten Tendenz, „von der Norm der Gleichberechtigung auf faktische Gleichheit zu schließen“ (Heintz 2001: 15), lässt sich dieser (Kurz-)Schluss auch für die Norm der Toleranz von Vielfalt und die faktische Toleranz von Vielfalt feststellen. Durch das deskriptive Heranziehen des normativen Ideals einer geschlechtlich und sexuell toleranten Gesellschaft, ohne dieses als solches und damit als (noch) nicht erreicht zu rahmen, wird die Artikulation bestehender Diskriminierung und Ungleichheiten in den Diskussionen erschwert. Mit der diskursiv gesetzten Toleranz scheint individuelle Handlungsfreiheit als gegeben, sodass anhaltende strukturelle Ungleichheiten und Diskriminierungen verdeckt werden, die für unterschiedliche Subjektpositionen auf unterschiedliche Weise handlungsbegrenzend wirken.169 Indem die Toleranzbekundung, ähnlich wie die Gleichberechtigungsannahme, „eher eine Autonomieunterstellung ist, denn das Avisieren einer Autonomieentwicklung“ (Speck 2019: 87), erwächst vor dem Hintergrund der angenommenen Handlungsfreiheit vielmehr ein Leistungsimperativ zur geschlechtlichen und sexuellen Selbstverwirklichung. In diesem Zusammenhang ist der appellative Charakter hinter der Toleranzsetzung zu erkennen: Anknüpfend an die Erzählung der geschlechtlichen Selbstverwirklichung wird in Verbindung mit der Setzung, dass geschlechtliche Flexibilität und sexuelle Selbstbestimmung – in unserer heutigen Gesellschaft170 – problemlos und anerkannt lebbar sind, das 168 In diesem Zusammenhang fiel auf, dass in der Magnolien-Gruppe (in der den Einstiegsimpuls der gemeinsam erlebte „Pimps-und-Bitches-Tag“ bildete) kaum Bezüge zu den Erzählungen von Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung beobachtet werden konnten, aber viele diskursive Maßregelungen erfolgten. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich durch den Rekurs auf die Erfahrung des Geschlechtertausches in den übrigen Diskussionen ein größerer Denk- und Sagbarkeitsraum in Bezug auf intelligible Geschlechtlichkeit öffnete und die Fokussierung auf abgewertete Formen von Geschlechtlichkeit, insbesondere Weiblichkeit, in der Thematisierung des „Pimpsund-Bitches-Tages“ durch die Magnolien-Gruppe stärker zu einer diskursiven Schließung entsprechender Möglichkeitsräume führte. 169 Ähnliches stellt Sara Ahmed (2012) mit Blick auf die Institutionalisierung von Diversity fest. 170 So wird etwa in der Oleander-Gruppe geschlechtliche Pluralität als „heutzutage in der Gesellschaft“ (Franziska) bzw. „in unserer Gesellschaft“ (Caro) verbreitet diskutiert und 225

226

6 Diskussion der Ergebnisse

Ausleben der authentischen – und binär-kohärenten – Geschlechtlichkeit und Sexualität auch in der Non-Konformität zur Anrufung (vgl. Kap. 5.3.3). Das führt zu dem paradoxen Umstand, „dass eine eigentlich oder ehemals emanzipatorische Dynamik in ihren Effekten gegenläufig […] sein kann“ (Villa 2017: 66). Indem weniger gesagt wird „Alle sollten geschlechtlich und sexuell so leben können, wie sie wollen“ als vielmehr „Alle können geschlechtlich und sexuell so leben, wie sie wollen“ und implizit „Alle sollen geschlechtlich und sexuell so leben, wie sie wollen“, richtet sich der Fokus in Fällen, in denen das nicht gelingt bzw. nicht möglich ist, dann nicht auf die verunmöglichenden (strukturellen) Umstände, sondern auf das zugeschriebene individuelle Versagen. Vor diesem Hintergrund finden die vereinzelten Stimmen in den Gruppendiskussionen wenig Gehör, die auf anhaltende Ungleichheiten bzw. auf Diskriminierung oder mangelnde Anerkennung aufgrund geschlechtlicher oder sexueller Non-Konformität hinweisen. Sie werden mit Verweis auf die Norm bzw. Existenz der Toleranz stillgestellt, was in den Gruppendiskussionen in der konkreten Aushandlung zwischen den Jugendlichen immer wieder beobachtet werden konnte (vgl. z. B. Kap. 5.2.3 und 5.3.3). Gleichzeitig werden Ohnmachts-, Ungleichheits- und Diskriminierungserfahrungen abgesprochen oder als individuelle Problematik betrachtet (vgl. auch Klapeer 2015: 40). Was bereits der Toleranzbegriff impliziert – beruht doch die Toleranzbedürftigkeit auf einer weiterhin wahrgenommenen, und im ursprünglichen Wortsinn geduldeten, Andersheit und die (Möglichkeit der) Toleranzbekundung auf einer Position der Überlegenheit – lässt sich mit dem Konzept der Ver-Anderung genauer in den Blick nehmen (vgl. Kap. 5.1.3): Die Bezugnahme der jugendlichen Diskussionsteilnehmenden auf geschlechtlich oder sexuell abweichende Seinsweisen (sowohl dann, wenn sie personalisiert, als auch dann, wenn sie in abstrakter Weise erfolgt) geht häufig mit der Tendenz einher, diese als besonders – eben anders – auszuweisen und sich damit diskursiv abzugrenzen. Die Diskussionen der Jugendlichen verlaufen die eigene Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt in der Kamelien-Gruppe in Zusammenhang gesetzt mit der Beobachtung, „in anderen Ländern ist es ja noch überhaupt nicht so“ (Lisa). In der Dahlien-Gruppe wird bezüglich der Akzeptanz von Homosexualität gemutmaßt, „dass es ähm da auch Probleme gibt mit den ganzen Kulturen in diesem Fall . denn Deutschland ist ja auch immer m=multikultureller geworden in den letzten Jahren“ (Eske), und in der Geranien-Gruppe wird betont, dass „auch bei den Moslems zum Beispiel . dass die äh dass die Frauen auch unterlegen sind“ (Mona). Über den Bezug auf die eigene Gesellschaft und Kultur finden bei den Jugendlichen somit immer wieder abgrenzende Ausschlüsse statt, die z. T. über homonationale (vgl. Puar 2007) und/ oder antimuslimische (vgl. z. B. Çetin 2012) Diskurse verlaufen und darüber die eigene (moralische) Fortschrittlichkeit hervorheben (vgl. auch Kap. 6.2). Diese Verschiebung von „Homophobie und Sexismus ins Wo-Anders“ (Bauschke-Urban/Conrads/Tuider 2016: 11) bezeichnet Kira Kosnick (2014) als „heteronormatives ‚Othering‘“.

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

227

somit weitestgehend so, dass die von ihnen konstatierte Erweiterung geschlechtlicher und sexueller Spielräume vor allem spezielle bzw. andere (geschlechtlich und sexuell nicht-konforme) Menschen betrifft. Auch die Jugendlichen, die sich selbst geschlechtlich oder sexuell (auch) abweichend positionieren, vollziehen dabei häufig die eigene Ver-Anderung. In der Konsequenz wird ihnen aufgrund dieses Status eine besondere Bedürftigkeit – nach Toleranz und ggf. Ermöglichungshilfe – zugeschrieben, die implizit die (Hetero-)Normalität der übrigen Jugendlichen stärkt. Trotz aller Offenheitsbekundungen nehmen die ver-anderten Jugendlichen also weiterhin eine Sonderstellung ein und erfüllen gerade als solche eine wichtige Funktion im hierarchisierten Geschlechtergefüge. Denn genau genommen ist die geschlechtliche Flexibilität der Anderen erst die Voraussetzung dafür, dass die eigene, reflexiv und legitimierungsbedürftig gewordene (Konform-)Geschlechtlichkeit als selbstbestimmt angesehen – und damit innerhalb der Anerkennungslogiken der geschlechtlichen Selbstregulierung anerkannt – werden kann: Wenn alle können, wie sie wollen, ist auch geschlechtliche Konformität und das damit verbundene Selbstverhältnis Ergebnis einer freien Entscheidung. Die geschlechtlich und sexuell Abweichenden bilden dafür einen Teil des Legitimationsrahmens, da sie ‚beweisen‘, was alles möglich ist. Sie sind damit, so lässt sich mit Butler (1993b: 44) folgern, als die Anderen für den über Differenzierungen verlaufenden Prozess der Subjektkonstitution grundlegend (vgl. Kap. 3.3). Hier offenbart sich eine „inhärente Gewaltsamkeit dieser Subjektivierungsweise, die das Subjekt seine Autonomie darüber erlangen lässt, dass es seine Abhängigkeiten verleugnen und an Andere verweisen kann“ (Meißner 2014: o. S.). Die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität und Selbstbestimmung, die insbesondere in der Figur der_des Trans* einen symbolhaften Ausdruck finden (vgl. Kap. 5.1.3), und die damit verbundenen Toleranzbekundungen dienen also (auch) dazu, Subjekte in ihrem geschlechtskonformen So-Sein zu bestätigen. Die Legitimation erfolgt hier also nicht über die Bezugnahme auf eine Norm bzw. Normalität (vgl. auch Hartmann 2004: 260), sondern auf eine davon explizit unabhängige, individuelle Selbstbestimmtheit. Auch in Bezug auf Sexualität zeigt sich bei den Jugendlichen häufig der Widerspruch, die Liberalität gegenüber homosexuellen Praktiken theoretisch auch für sich selbst zu proklamieren, sie in der konkreten Auslebung jedoch, auf die eigene Person bezogen, von sich zu weisen, wodurch ein eigenes heterosexuelles Begehren als selbstbestimmte, aber kontingente Entscheidung markiert wird.171 Von einer komfortablen Hetero171 Auch Offen (2013) weist in ihrer Studie zu Geschlecht und sexueller Orientierung in der Adoleszenz darauf hin, „wieweit eine verbale Aufgeschlossenheit für Pluralisierungstendenzen in der Lage ist, deutliche persönliche Abgrenzungen für das eigene Leben zu umschließen und über die persönliche Distanzierung (‚also, ich hab da kein Problem 227

228

6 Diskussion der Ergebnisse

sexualität172 aus formulieren viele der Jugendlichen dabei nicht nur ihre Toleranz gegenüber non-konformer Geschlechtlichkeit und Sexualität, sondern artikulieren auf dieser Grundlage (Handlungs-)Erwartungen und (Gestaltungs-)Anrufungen im Hinblick auf geschlechtlich und sexuell deviante Subjekte (vgl. Hark 1999). Sie rahmen dies als Förderung der Durchsetzung der geschlechtlichen oder sexuellen Selbstverwirklichung der ‚Betroffenen‘. Dies wurde in Kap. 5.3.3 mit dem Begriff der hetero-advokatorischen Toleranz gefasst. Hiermit soll zum einen die hierarchische, machtvolle Positionierung der Toleranzaussprechenden verdeutlicht werden. Daneben vermag der Terminus der hetero-advokatorischen Toleranz zum anderen stärker als jene Begriffe, die an eine Normalisierung anknüpfen, den appellativen Charakter auszudrücken, der mit diesem Mechanismus verbunden ist. Durch die so verfasste ‚Toleranz‘ werden letztlich heteronormativ fundierte Imperative an die Toleranzempfangenden weitergegeben und weiterbestehende diskriminierende Strukturen verunsichtbart. Geschlechtliche Selbstregulierung verläuft somit auch über hetero-advokatorische Toleranz und Ver-Anderung, wodurch die Ausübung von Selbstbestimmung und die Erlangung von Anerkennung als auf rein individueller Ebene leistbar gefasst werden. Die Fragen, wie diese Ebene in gesellschaftliche (Macht-)Strukturen eingebettet ist, gerät dabei in den Hintergrund.

6.1.5 Zusammenführung der Beobachtungen: Das Verhältnis von Subjekt und Struktur als Verdeckung von Macht und Ungleichheit Die vorangehenden Beobachtungen sind insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von Subjekt und Struktur zu diskutieren, das in der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung wieder verstärkte Aufmerksamkeit findet (vgl. u. a. Graf/ Ideler/Klinger 2013; Rendtorff/Riegraf/Mahs 2019b; vgl. auch Kap. 2.2).173 Dieses Verhältnis ist im Rahmen der geschlechtlichen Selbstregulierung geprägt von einer weitgehenden diskursiven Entkopplung der Subjekte von strukturellen, vergeschlechtlichten und heteronormativen Machtverhältnissen durch eine Indimit, aber ich selbst auf keinen Fall‘) einen subtilen Ausschluss bei gleichzeitiger Zitation toleranten Vokabulars zu vollziehen“ (Offen 2013: 40). 172 Hier erfolgt eine Anlehnung an Marjorie Garbers Begriff der „komfortablen Binarität“ (Garber 1993: 31) der Geschlechterordnung, die durch von ihr untersuchte Cross-Dressing-Praktiken irritiert werde. 173 Zugleich lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Struktur oder auch Handlung und Diskurs als ‚Dauerbrenner‘ der sozialwissenschaftlichen Theoriedebatten bezeichnen.

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

229

vidualisierung der Verantwortlichkeit für die eigene Geschlechtlichkeit. Damit ist es in den Verhandlungen der Jugendlichen durchweg eine individuelle Frage, wie (erfolgreich) die Ausgestaltung und Auslebung der eigenen Geschlechtlichkeit vor dem Hintergrund einer angenommenen Wahl- und Gestaltungs- bzw. Handlungsfreiheit gelingt, die zentrale Auswirkungen struktureller Machtverhältnisse und Ungleichheiten auf subjektiver Ebene ausblendet. Geschlechtliche Selbstregulierung, das machen die Ausführungen deutlich, vollzieht sich in einem Spannungsfeld von gesellschaftlichen Machtstrukturen und individuellen Aushandlungen. Es kristallisieren sich in den Verhandlungen der Jugendlichen vor allem zwei Mechanismen der Stillstellung struktureller Ungleichheiten und Machtverhältnisse heraus: So werden z. T. die strukturelle Einbettung von Subjektpositionen und die Machtverwobenheit von Geschlecht nicht als solche wahrgenommen und somit die geschlechtliche Selbstbestimmung und -verwirklichung – für alle – als eine vollkommen individuelle, autonome Angelegenheit gefasst. Als weitere Perspektive zeigt sich die Tendenz, gesellschaftliche vergeschlechtlichte Machtverhältnisse als äußere Zwänge – etwa in Form von Hierarchien, Normen oder Stereotypen – zu betrachten, zugleich aber die eigene Geschlechtlichkeit (in Abgrenzung von Anderen, vermeintlich Angepassteren) als unbeeinflusst hiervon bzw. demgegenüber resistent und somit nicht durch sozialen Druck gesteuert wahrzunehmen, d. h., anzunehmen, „that a subject can choose to stand outside the conditions of her own regulation“ (Gonick 2000: 254). Demgegenüber lässt sich in den Diskussionen der Jugendlichen in geringerem Umfang auch eine Sichtbarmachung der Auswirkungen gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse feststellen, wobei hier ebenfalls zwei Varianten identifiziert werden konnten. So finden sich in den Diskussionen Stimmen, die auf strukturelle (Geschlechter-)Ungleichheiten und deren Folgen verweisen, etwa in der Arbeitswelt oder im Familienmodell (vgl. z. B. Kap. 5.3.4). Die Jugendlichen benennen einerseits teilweise gesellschaftliche Missstände in Bezug auf Geschlecht oder Sexualität. Doch auch sie verhandeln die Auswirkungen dann andererseits stets als individuelle Herausforderungen des erfolgreichen Umgangs mit den strukturellen Gegebenheiten und ggf. des Bewältigens damit verbundener Hindernisse und nicht als gesellschaftliche Ungleichheits- und Machtfragen. Auch hier werden die entsprechenden Handlungsstrategien (und -verantwortlichkeiten) also auf rein individueller Ebene verortet. Daneben zeigt sich bei einigen Jugendlichen ein Blick auf als eingrenzend und beschränkend erlebte Geschlechterhierarchien und heteronormative Strukturen, der von einer weitgehend resignativen Haltung diesen gegenüber geprägt ist und einen potenziellen Wandel lediglich in der Zukunft verortet, ohne sich dabei eigene Anteile daran zuzusprechen (vgl. z. B. Kap. 5.4.1). Gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse werden also nicht immer invisibilisiert, aber der Umgang damit wird in die Verantwortung der Ein229

230

6 Diskussion der Ergebnisse

zelnen gelegt, sodass die „Bewältigung […] nicht als strukturelle gesellschaftliche, sondern überwiegend als individuelle Problematik erscheint“ (Rendtorff/Riegraf/ Mahs 2019a: 2). Eine gesellschaftliche Fundierung von individuell erfahrbaren Ungleichheiten wird somit entweder de-thematisiert oder bleibt, durch die Zuweisung der individuellen Verantwortlichkeit des Umgangs damit, unangetastet. Die neoliberale Anrufung der ‚Schmied_innen des eigenen Glücks‘ führt, so scheint es, bei den Jugendlichen nicht dazu, mit eben jenem allen Individuen zugeschriebenen Potenzial zur Arbeit am eigenen geschlechtlichen Selbst auch eine Arbeit an den geschlechterhierarchischen Strukturen vorzunehmen. Die Positionen der Jugendlichen sind also geprägt von einer Gender Agency, die sowohl die Handlungsmacht als auch die Handlungsverantwortung für die eigene geschlechtliche Seinsweise in den Individuen verortet. Unsichtbar werden dadurch nicht zuletzt Privilegien als Handlungsoptionen ermöglichende und Diskriminierungen als Handlungsräume beschränkende Bedingungen und damit individuelle Ausprägungen struktureller Machtverhältnisse. So scheint etwa punktuelle geschlechtliche oder sexuelle Non-Konformität (sei es als Gedankenspiel oder in der Praxis) gerade dort leichter bzw. unproblematischer zu sein, wo die grundsätzliche (Selbst-)Verortung im privilegierten Rahmen der heterosexuellen Cis-Geschlechtlichkeit und entlang ‚klassischer‘ (Zwei-)Geschlechtervorstellungen erfolgt.174 Dies macht vereinzelte geschlechtliche ‚Grenzüberschreitungen‘ weniger riskant als in Fällen, in denen die Geschlechtlichkeit einer Ver-Anderung unterliegt und somit per se von Ausgrenzung bedroht ist. Sichtbar wird in den Diskussionen, wie Privilegien einer gefestigten Konform-Geschlechtlichkeit von den Jugendlichen genutzt werden, um (gedanklich oder praktisch) punktuelle vergeschlechtlichte Grenzüberschreitungen oder -verschiebungen bzw. -ausdehnungen zu vollziehen, ohne einen Anerkennungsverlust oder andere Sanktionen zu riskieren. Damit werden wiederum die Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung gestärkt. Somit zeigt sich neben allen Toleranz- und Offenheitsbekundungen: Diejenigen Jugendlichen, bei denen die Anknüpfung an die Erzählungen am reibungslosesten funktioniert, sind die, die sich in ihrer geschlechtlichen und sexuellen Verortung am passendsten in die heterosexuelle Matrix (vgl. Butler 1991: 219) einzufügen scheinen – und dadurch von den Privilegien einer gefestigten Konform-Geschlechtlichkeit profitieren. Zugleich sind es die Jugendlichen, welche die Allgemeingültigkeit der Erzählungen am stärksten hervorheben. Geschlechtlich und sexuell non-konforme Positionen und damit verbundene Erfahrungen werden zwar immer wieder in die Diskussionen 174 Ähnliches stellt Budde im Rahmen seiner Untersuchung von Männlichkeitskonstruktionen im Schulalltag fest (vgl. Budde 2005: 236).

6.1 Zentrale analytische Beobachtungen

231

eingebracht, sowohl als Bericht über Dritte als auch als eigene Positionierungen. Als Inbegriff der toleranten Gesellschaft und der selbstbestimmten Subjekte werden sie in der Regel von den Jugendlichen anerkannt oder sogar positiv hervorgehoben. Diese Stimmen finden allerdings innerhalb der Diskussionen immer dann schwerer Gehör, wenn sie sich nicht reibungslos in die Erzählungen einfügen, sondern auf weiter andauernde Diskriminierungen hinweisen. Bestehende (Geschlechter-)Hierarchien und Machtverhältnisse innerhalb des zweigeschlechtlichen Ordnungsrasters – die auch Subjektpositionen heterokonformer Cis-Geschlechtlichkeit in ein Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander setzen – werden auf diese Weise ebenfalls schwer thematisierbar. So zeigen sich in den Gruppendiskussionen einerseits immer wieder Momente, in denen, auch mit Blick auf eigene Erfahrungen, auf anhaltende asymmetrische Geschlechterverhältnisse hingewiesen wird und hierbei insbesondere die daraus erwachsenden Benachteiligungen und Handlungsbegrenzungen für Frauen* herausgestellt werden. Hier zeichnet sich eine weiterhin patriarchal fundierte Geschlechterordnung ab. Dies gerät dann aber immer wieder in unauflösbaren Widerspruch zum eigenen Anspruch an Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, die aus den Erzählungen von geschlechtlicher Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung als Versprechen (und gleichsam Aufforderung) erwachsen. Das Maßnehmen zeigt sich dabei als ein Mechanismus, über den entsprechende Einhegungen vorgenommen und durch den mit dem Verweis auf Angemessenheit Vorstellungen von bipolarisierter Geschlechtlichkeit und individueller Autonomie in Einklang gebracht werden. Darüber hinaus wird der intersubjektive Charakter der (vergeschlechtlichten) Selbstverhältnisse deutlich, da diese eben nicht allein in einer Fokussierung auf das eigene Ich aufgehen, sondern auch ganz grundlegend von der Anerkennung anderer abhängig sind, und Subjektpositionierungen dementsprechend immer auch mit Kämpfen um Anerkennung und Zugehörigkeit verbunden sind (vgl. Gonick 2000: 250). Butlers theoretische Argumentation, dass gerade diese Abhängigkeit verwerflich scheint bzw. verleugnet wird (Butler 2001: 14f.), sowie Villas zugespitzte Formulierung, „individuelle Autonomie ist der Fetisch unserer Gegenwart“ (Villa 2017: 79), werden hier empirisch konkret beobachtbar. Die Hervorhebung „neoliberaler Narrative von Gleichheit, Vielfalt und Toleranz“ (McRobbie 2010: 55) im Rahmen der Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verläuft tendenziell über die Verdeckung von überindividuellen Handlungsbedingungen in Zusammenhang mit Geschlecht und Sexualität und trägt so zur Stabilisierung und Reproduktion der damit verbundenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei. Die Jugendlichen arbeiten, das konnte empirisch aufgezeigt werden, selbst an der Stabilisierung, Ordnung und zugleich Invisibilisierung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Hierarchien und Ungleichheitsstrukturen 231

232

6 Diskussion der Ergebnisse

mit, indem sie davon unabhängig autonome Handlungsfähigkeit auf individueller Ebene verorten. Die Erzählungen können, wenn auch in deutlich geringer ausgeprägtem Maß, neben einem ungleichheitsstabilisierenden und Handlungsräume begrenzenden auch einen emanzipatorischen und Handlungsräume erweiternden Charakter haben. Dies hängt davon ab, ob die Anknüpfungen unter Stillstellung struktureller Ungleichheiten erfolgen oder als Handlungspotenzial innerhalb von artikulierten gesellschaftlichen Machtverhältnissen entworfen werden, wobei auch in letzterer Perspektive die Handlungsverantwortung weiterhin auf individueller Ebene verortet wird. Durch die Dominanz einer Selbstbestimmungserzählung, die sich dem Blick für strukturelle Beschränkungen dieser Erzählungen verschließt, entsteht in den Diskussionen jedoch tendenziell eine Unsichtbarmachung von mit Geschlecht und Sexualität verbundenen strukturellen Ungleichheiten und Machtverhältnissen. Mit sehr unterschiedlicher Gewichtung zeigt sich so in den Verhandlungen der Untersuchungsteilnehmenden eine Gleichzeitigkeit der Öffnung und Schließung von Möglichkeitsräumen – als denk-, sag- und lebbare Räume – für (unterschiedliche) geschlechtliche Seinsweisen.

6.2

Resümee und Ausblick

6.2

Resümee und Ausblick

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung waren Beobachtungen zur Gleichzeitigkeit von Persistenz und Wandel in Bezug auf Geschlecht und Geschlechterverhältnisse. Sie wurden mit einem Fokus auf die Geschlechtlichkeit von Jugendlichen verbunden. Aus der poststrukturalistisch fundierten Herangehensweise wurde das Erkenntnisinteresse abgeleitet, wie Jugendliche Geschlecht verhandeln bzw. wie es zu ‚ihrem‘ Geschlecht bzw. zur Konstitution als vergeschlechtlichte Subjekte kommt. Eine dekonstruktivistische Sicht auf Geschlecht ermöglichte dabei eine Bezugnahme auf Geschlecht, die nicht (nur) danach fragt, wie Jugendliche sich als vergeschlechtlichte Subjekte formen, sondern auch, welche Möglichkeiten, Geschlecht zu denken und zu leben – d .h. zu sein –, in diesem Prozess der Subjektwerdung auf welche Weise ein- und ausgeschlossen werden. Denn die „Dekonstruktion der (vergeschlechtlichten) Körper und Subjekte eröffnet den Raum für die Frage, welche Formen von Subjekt-‚Sein‘ überhaupt als lebbar gelten – und was die Bedingungen dafür sind“ (Ludwig 2013: 91). Im Verlauf der qualitativen Auswertung der erhobenen Daten fokussierte sich in einer zirkulären Beschäftigung mit Material und Theorie das Untersuchungsinteresse dementsprechend auf die Frage, inwiefern Geschlecht in gegenwärtige Prozesse der Selbstkonstitution

6.2 Resümee und Ausblick

233

– die Subjektivierung – integriert ist. In diesem Sinne formte sich für die Studie die konkrete Forschungsfrage heraus, wie und unter welchen Bedingungen junge Menschen zu vergeschlechtlichten Subjekten geformt werden und wie und unter welchen Bedingungen sie sich selbst zu vergeschlechtlichten Subjekten formen. Die Antwort, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung gefunden wurde, lautet: durch geschlechtliche Selbstregulierung. Geschlechtliche Selbstregulierung wird hier als das komplexe und machtvolle Zusammenwirken der Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sowie des vergeschlechtlichten Maßnehmens aufgefasst, die sich im Rahmen der Auswertung des empirischen Materials als zentrale Mechanismen herauskristallisiert haben. Auf diese Weise wurden die konkreten Fremd- und Selbsttechniken aufgedeckt, mittels derer die Jugendlichen sich im Spannungsfeld von Subjekt und Struktur zu vergeschlechtlichten Subjekten konstituieren. Dabei konnte gezeigt werden, wie Geschlecht als symbolische Ordnung weiterhin binär strukturiert und heteronormativ geprägt ist und auf welche Weise darauf basierend ein- und ausschließende Selbst- und Fremdpositionierungen vollzogen werden. Geschlecht als geschlechtliche Selbstregulierung zu fassen – und das ist das Zentrale an diesem Denkmodell – macht deutlich, dass geschlechtliche Subjektivierung grundsätzlich mit Ambivalenzen verbunden ist und dass das aus der „Kopräsenz des Unvereinbaren“ (Bröckling 2002: 192) entstehende Spannungsverhältnis nicht nur für einige, sondern für alle Gesellschaftsmitglieder besteht. Zugleich ermöglicht diese Perspektive, die unterschiedliche Positionierung verschiedener vergeschlechtlichter Subjekte im gesellschaftlichen Machtgefüge zu berücksichtigen und unterschiedliche Dramatisierungsgrade und Handlungsräume sowie diesbezügliche Verschiebungen sichtbar zu machen. Das Konzept der geschlechtlichen Selbstregulierung macht den unabgeschlossenen Charakter von Geschlecht innerhalb eines stetig im Werden befindlichen Selbst deutlich und umfasst damit sowohl Momente der Persistenz als auch des (gesellschaftlichen) Wandels. Indem nachgezeichnet wurde, wie das Zusammenspiel der Erzählungen der geschlechtlichen Flexibilität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sowie des vergeschlechtlichten Maßnehmens z. T. in sich stimmig ist und reibungslos oder über diskursive Reparaturen funktioniert, z. T. aber auch in unaufgelöstem Widerspruch verbleibt, zeigen sich die dieser vergeschlechtlichten Subjektivierungsweise inhärenten Ambivalenzen und Spannungen, die zugleich die gesellschaftlichen Dynamiken und Ungleichzeitigkeiten und damit „die immanente Ambiguität der gegenwärtigen Veränderungen“ (Villa 2017: 66) widerspiegeln. Aus einer Einschränkung, die sich im Hinblick auf die auf Geschlecht fokussierte Perspektive dieser Arbeit ergibt, lässt sich weiterer Forschungsbedarf identifizieren: In den diskursiven Ein- und Ausschlüssen der Jugendlichen deuteten sich neben 233

234

6 Diskussion der Ergebnisse

der Differenzierungskategorie Geschlecht bzw. Sexualität auch andere ungleichheitsgenerierende Kategorisierungen an, die in der Auswertung im Rahmen dieser Arbeit jedoch nur am Rande Berücksichtigung fanden. So machte sich etwa eine hierarchisierende Abgrenzung auf der Grundlage von schicht- bzw. milieu- oder klassenbezogenen Zuschreibungen in den Rekursen auf den „Asi-Mottotag“ und der damit verbundenen selbstverständlichen Abwertung von als ‚Asis‘ klassifizierten Menschen bemerkbar. Verschränkungen zeigten sich hier zwischen klassen- und geschlechtsbezogenen (Ab-)Wertungen etwa in der Figur der Prostituierten (vgl. Kap. 5.4.4). Die auf den Status als Abiturient_innen bezogene wiederholte Selbstpositionierung der Jugendlichen als die „Hoffnung dieses Landes“175 lässt zudem auf eine bildungsbezogene Differenzierung schließen, die mit einem daraus erwachsenen eigenen Elitenbewusstsein verknüpft zu sein und für die jugendliche Subjektkonstitution eine Rolle zu spielen scheint. Im Bemühen der Jugendlichen, sich auch mit Blick auf Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen als emanzipiert, plural und fortschrittlich zu präsentieren, fanden sich auch ver-andernde Abgrenzungen insbesondere gegenüber muslimischen Menschen ebenso wie gegenüber eigenen Mitschüler_innen, denen eine grundsätzliche Intoleranz qua ‚Kultur‘ zugeschrieben wurde (vgl. Kap. 6.1.4).176 Was an dieser Stelle lediglich kurz – und damit unzureichend – angerissen wird, lässt auf einen anschließbaren Forschungsbedarf in intersektionaler – dabei jedoch gleichbleibend machtkritischer – Perspektive schließen, in der die Herstellung und Verschränkungen verschiedener machtvoller Differenzierungen in ihrer Interdependenz für die Subjektkonstitution der Jugendlichen betrachtet werden. Hierdurch könnten auch innerhalb der Gruppen der Jugendlichen weitere Differenzierungslinien und damit verbundene Ein- und Ausschlüsse aufgedeckt werden, die im hier eingenommenen Blick bisher möglicherweise verborgen blieben.

175 So drückt es Iwona in der Dahlien-Gruppe aus. 176 In den Diskussionen scheint daneben an mehreren Stellen der Verweis auf eine christlich begründete Ausgrenzung gegenüber Menschen aufgrund von Geschlechtlichkeit oder sexueller Orientierung auf (vgl. Kap. 5.3.3). Dies wird in diesen Fällen allerdings mit der Kirche als Institution oder konkreten Einzelpersonen in Verbindung gebracht, es findet hierüber keine verallgemeinernde Zuschreibung gegenüber Christ_innen als Gesamtgruppe der Gläubigen statt. Anders verhält es sich in Bezug auf Muslim_innen. Diesen wird in einigen Aussagen der Jugendlichen per se eine Rückständigkeit in Bezug auf Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen zugeschrieben – eine Beobachtung aktueller politischer und gesellschaftlicher Gegensatzkonstruktionen, die sich auch in der von Koray Yılmaz-Günay (2014) in kritischer Distanz formulierten analytischen Zuspitzung „Muslime versus Schwule“ widerspiegelt.

6.2 Resümee und Ausblick

235

Was in Kap. 6.1.2 bereits anklang und in Kap. 5.2.4 als „Paradox der tolerierenden Ablehnung“ analysiert wurde, ist ein an einigen Stellen aufscheinendes – und expliziertes – Unbehagen der Jugendlichen mit (bestimmten) abweichenden geschlechtlichen Seinsweisen, das mit den eigenen Ansprüchen an Toleranz in Widerspruch geriet und zu ambivalenten Positionen führte, was entweder ausgeblendet wurde oder Anlass für eigene Reflexionen war. Vor dem Hintergrund des Untersuchungssettings, in dem sich die Jugendlichen bemüht zeigten, sich als offen und pluralistisch auszuweisen, kann davon ausgegangen werden, dass die hier nur in Einzelfällen artikulierte tolerierende Ablehnung sich in anderen Kontexten möglicherweise noch stärker äußert und somit neben den in den Erzählungen und dem Maßnehmen gefassten Beobachtungen eine weitere wichtige Dimension darstellt, die intensiver untersucht werden könnte. Hier scheint im Hinblick auf mögliche anschließende Forschungsfragen auch die Hinzuziehung der affektiven Dimension instruktiv, um der „widersprüchlichen und spannungsreichen Affektorganisation von Geschlechterklassifikationen“ (Hark 2019: 177) nachzuspüren und „Heteronormativität [auch] als affektive (Ver-)Führung“ (Bargetz et al. 2017: 21) in den Blick zu nehmen. In den Diskussionen der Jugendlichen wurde immer wieder auf eine grundsätzliche Verletzbarkeit von Frauen Bezug genommen. Dies erfolgte sowohl in Selbstpositionierungen von Teilnehmerinnen als auch in gemeinsam geteilten Fremdzuschreibungen. Das wirft die Frage auf, ob, unabhängig von statistischen Gegebenheiten, die Adressierung weiblicher Vulnerabilität in der Selbst- und Fremdwahrnehmung breiter anknüpfbar ist als eine Verhandlung der Verletzbarkeit anderer Subjektpositionen oder Bevölkerungsgruppen. Dies könnte im Zusammenhang mit bestehenden gesellschaftspolitischen Diskursen um weibliche Verletzbarkeit stehen, an die, so scheint es, von den Jugendlichen ohne Anerkennungsverlust angeknüpft werden kann. Dagegen scheinen Risiken und Vulnerabilitäten in Bezug auf andere geschlechtliche Seinsweisen bzw. – im binären Ordnungsmuster der Jugendlichen – in Bezug auf Jungen und Männer generell schwerer artikuliert werden zu können bzw. weniger ins Wahrnehmungsschema zu passen. Da in den Diskussionen dennoch Momente aufscheinen, in denen auch Männer (insbesondere marginalisierte) als verletzungsoffen gefasst werden (vgl. Kap. 5.2.3), könnten weitere Forschungsfragen hieran anschließen und zu einer differenzierte(re)n Sicht auf die Vulnerabilität unterschiedlicher Subjektpositionen beitragen. Dafür können auch die jüngeren Arbeiten Butlers herangezogen werden, in denen sie von der grundsätzlichen Verletzlichkeit – und damit auch Prekarität – menschlichen Lebens ausgeht, den relationalen Charakter betont und die Anerkennung der Verletzbarkeit als Voraussetzung der Vermenschlichung hervorhebt (vgl. z. B. Butler 2005, 2010; vgl. auch Lorey 2012; Woltersdorff 2011). 235

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6 Diskussion der Ergebnisse

Das mit der Figur des unternehmerischen Selbst verbundene neoliberale Paradigma wurde zwar als Hintergrundfolie herangezogen, jedoch – damit stellt diese Untersuchung allerdings keine Ausnahme dar – nicht systematisch aufgegriffen. Forschungsbedarf zeigt sich dementsprechend in einer Zusammenführung der aufgezeigten Mechanismen der geschlechtlichen Selbstregulierung mit einer Analyse neoliberaler Politiken und Programmatiken, die den Rekurs auf eine neoliberale Logik empirisch konkretisiert. So ließe sich fragen, inwiefern (bereits) die Jugendlichen als neoliberale Subjekte adressiert werden und auf welche Weise die geschlechtliche Selbstregulierung sich hier einfügt. Dies könnte etwa im Hinblick auf die Formung von vergeschlechtlichten Subjekten betrachtet werden, die den neoliberalen Umbau des Sozialstaats durch heterosexuelle Paarbeziehungen und geschlechtliche Arbeitsteilung auffangen. Auch ließe sich analysieren, wie sich die kommerzialisierten Anrufungen als und an junge Frauen und Männer konkret ausgestalten. Der Impetus hinter der im Material vorgefundenen Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung ist, das wurde deutlich, ein anderer als jener, der etwa den feministischen Kampf um Selbstbestimmung der Frauenbewegungen ausmacht(e). So bedeutet in diesem gegenwärtigen Sinne „Autonomie nicht mehr nur Befreiung, sondern ist auch zur sozialen Verpflichtung geworden“ (Waldschmidt 2003: 18). Mit Blick auf die damit verbundenen ambivalenten Anknüpfungen an die Begriffe von Selbstbestimmung und Agency, die im Rahmen der Arbeit lediglich in Ansätzen herausgearbeitet wurden, bieten sich Anschlussstellen für eine theoretische Weiterentwicklung aktueller Selbstbestimmungs- bzw. Agency-Konzepte an, die in interdisziplinärer Ausrichtung entsprechende soziologische Überlegungen und Perspektiven feministischer Theorie etwa mit Arbeiten aus den Disability Studies sowie den Rechtswissenschaften und der Philosophie zusammenbringen könnte. Dabei scheinen insbesondere solche Ansätze instruktiv, die ein relationales und kontextuelles Verständnis von Selbstbestimmung betonen und damit Autonomie und Angewiesenheit sowie Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen in ein Verhältnis zueinander setzen (vgl. u. a. Emirbayer/Mische 1998; Globisch 2018; Raithelhuber 2012; Rössler 2017; Waldschmidt 2012). Eine praxisbezogene Implikation haben die Forschungsergebnisse dahingehend, dass eine Toleranzfokussierung von pädagogischen Konzepten zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt zu hinterfragen ist (vgl. auch Klapeer 2015: 41f.). Denn die Proklamation von Toleranz gegenüber Diversität, das machen die vorliegenden Befunde deutlich, scheint nicht den Kern der Konfliktlinien zu treffen und kann dazu führen, dass bestehende Diskriminierungen hinter der Toleranzannahme verborgen bleiben. Auch die mit der Toleranzausrichtung verbundene Engführung auf LGBTQ* Personen als ‚betroffene‘ Gruppe lenkt den Blick von der hierarchischen

6.2 Resümee und Ausblick

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Eingebundenheit aller im Rahmen der heteronormativen Geschlechterordnung ab und kann hetero-advokatorischer Toleranz Vorschub leisten. Dadurch wiederum kann, das hat sich im empirischen Material gezeigt, die Verantwortung für eine individuelle Verarbeitung letztlich LGBTQ* zugewiesen werden. Wichtiger scheint die Schaffung von Diskussionsräumen zu sein, in denen die Selbstverständlichkeit der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit hinterfragt und eine Sensibilität für Privilegien gefördert wird und in denen auch Ambivalenzen konstruktiv artikuliert und diskutiert werden können.177 Eine relationale Bezugnahme auf die Gender Agency kann in diesem Rahmen dazu führen, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und zugleich deren strukturelle Einbindung zu verdeutlichen, sodass der Agency-Gedanke weder in der Annahme völliger Autonomie auf- noch in strukturellem Fatalismus untergeht. Dies kann für schulische und außerschulische Bildungskontexte wie auch für Felder der sozialarbeiterischen Jugendarbeit relevant sein. Auch im Hinblick auf an Jugendliche und junge Erwachsene gerichtete Gleichstellungs- bzw. Frauenfördermaßnahmen, deren Ausgangsbasis die ungleichen gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse sind, ist vor dem Hintergrund der Befunde zu fragen, inwiefern diese angesichts der individualisierenden Bezugnahmen der Jugendlichen auf ihre eigene Geschlechtlichkeit verfangen. Nicht zuletzt kann das Modell der geschlechtlichen Selbstregulierung dabei helfen, eine alltagsweltliche Erfahrung einzuordnen: Wenn Geschlecht untrennbar mit dem innersten Selbst verbunden wird und Subjektivierung immer auch vergeschlechtlichte Subjektivierung ist, dann kann dies einen Erklärungsansatz dafür liefern, warum Wandel in Geschlechter- und Sexualitätsverhältnissen oftmals auf so intensive Reaktionen von Unbehagen oder Abwehr stößt. Denn mit der Bearbeitung von Geschlechterkonzeptionen und -verhältnissen wird an den diskursiven Grundfesten dessen gerüttelt, was im Zentrum des durch geschlechtliche Selbstregulierung konstituierten Subjekts verortet wird: das authentische geschlechtliche Selbst.

177 Solche Konzepte verfolgen z. B. die in Kap. 2.3 vorgestellten Ansätze einer kritischen Geschlechter-Pädagogik. 237

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