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German Pages 288 Year 2021
Hannah Speicher Das Deutsche Theater nach 1989
Theater | Band 140
Für Sebastian & Clara
Hannah Speicher, geb. 1985, lebt in Berlin und forscht zur Theater- und Dramengeschichte. Sie hat zur Gegenwartsdramatik nach 1989, zur ostdeutschen Theaterlandschaft und zu Grundthemen der Dramenanalyse publiziert. Von 2013-2020 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft der Universität Trier.
Hannah Speicher
Das Deutsche Theater nach 1989 Eine Theatergeschichte zwischen Resilienz und Vulnerabilität
Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2020 von der Universität Trier, Fachbereich II: Sprach-, Literatur und Medienwissenschaft unter dem Titel »Die Transformation des Deutschen Theaters in Berlin nach 1989 zwischen Resilienz und Vulnerabilität« als Dissertationsschrift angenommen. Die Drucklegung wurde unterstützt vom »Forschungszentrum Europa« der Universität Trier.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagcredit: Faust-Zitat – »Verweile doch« – als Leuchtschrift vor dem Deutschen Theater am Tage der Wiedereröffnung nach aufwändiger Sanierung in Berlin im Jahr 2009. IMAGO images / Bernd Friedel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5617-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5617-0 https://doi.org/10.14361/9783839456170 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagung ............................................................................. 9 1. 1.1 1.2 1.3
1.4
Einleitung........................................................................... 11 Das D/deutsche Theater nach 1989 (Problemaufriss) ................................. 11 Resilienz als Analysekategorie und normative Handlungsorientierung (Theoretischer Rahmen) ............................................................. 15 Die Studie als Beitrag zu einer theaterhistorischen Organisationsforschung (Methodische Innovation) ................................... 17 1.3.1 Kontextualisierung als Problem der Theatergeschichtsschreibung ............. 17 1.3.2 Inszenierungen als Bilder der Organisation und die dichte Beschreibung nach Clifford Geertz ............................ 20 1.3.3 Eine kurze Quellenkritik...................................................... 24 Der Spur einer künstlerischen Idee durch die Organisation folgen (Aufbau der Arbeit) ................................................................. 29
2.
Arbeitswelt (Stadt-)Theater und die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Theatersystem (Forschungsstand) ................................. 33 2.1 Theaterarbeit in Stadt- und Staatstheatern nach 1989 ............................... 33 2.2 Stadttheater in der DDR: Produktionsbedingungen und Feldlogiken................... 42 2.2.1 Die Logiken der Theaterfelder in BRD und DDR................................ 43 2.2.2 Spezifische Produktionsbedingungen des DDR-Theaters ...................... 46 3.
Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater in der ersten Hälfte der 1990er Jahre: Kurzfristige Erfolge durch die Verweigerung des Resilienz-Imperativs........................................................... 3.1 Hamlet/Maschine als Bild für die Stasis des Deutschen Theaters in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ............................................... 3.2 Die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Theater und Heiner Müller für Hamlet/Maschine (1. Ebene, Hausdramaturgie) .................................... 3.2.1 Das Zustandekommen der Zusammenarbeit zwischen Heiner Müller und dem Deutschen Theater ................................................
49 49 59 59
3.2.2 Der Probenprozess von Hamlet/Maschine .................................... 62 3.2.3 Die Verschränkung der Wendeereignisse mit dem Probenprozess im Spiegel von Christoph Rüters Dokumentarfilm Die Zeit ist aus den Fugen .................................................... 66 3.3 Die Hamletmaschine als Revolutionsdrama und metatheatraler Kommentar (2. Ebene, Textanalyse) ............................................................. 74 3.3.1 Revolution der Form vs. Revolution der Gesellschaft .......................... 74 3.3.2 Die Revolution der Form und die Dekonstruktion des Prätextes Hamlet ........ 76 3.3.3 Hamletmaschine als inhaltliches Revolutionsdrama ........................... 79 3.3.4 Die Verhandlung von Autorschaft und der Institution Theater in der Hamletmaschine....................................................... 82 3.3.5 Heiner Müller = Hamlet ...................................................... 82 3.3.6 Schuld und Scham angesichts der eigenen Privilegien ....................... 86 3.3.7 Der Tod des Autors, Krieg gegen das Publikum und die Geburt des Zuschauers .............................................. 89 3.4 Hamlet/Maschine zwischen anti-positivistischer Zeitreflexion und Wendekommentar (3. Ebene, Inszenierungsanalyse) ............................ 92 3.4.1 Die visuelle Dramaturgie von Hamlet/Maschine zwischen Klimakatastrophe, Raum-Zeit-Verzerrungen und Kriegsästhetik .............. 94 3.4.2 Erich Wonders Bühnenbild als Klimakatastrophe und Zeittunnel .............. 96 3.4.3 Zeit- und Bildschichtungen im Kostümbild................................... 102 3.4.4 Hamlet/Maschine als Kommentar auf die Wende und die Rolle der DDR-Intellektuellen ..................................................... 105 3.4.5 Hamletmaschine als Assoziationsgenerator ...................................107 3.4.6 Stasis und Zirkularität als geschichtsphilosophische Implikationen ........... 113 3.5 Das diskursive Nach- und Eigenleben von Hamlet/Maschine (4. Ebene)................ 121 3.5.1 Die Rezeption von Hamlet/Maschine im Spannungsfeld des Ost-West-Diskurses ..................................................... 121 3.5.2 Heiner Müllers biografische Resilienz nach 1989 ............................. 132 4.
Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre: Resilienz durch Emergenz und camoufliertes Übersetzen .................................................... 141 4.1 Die Drastik von Thomas Ostermeiers Inszenierung von Shoppen und Ficken als Gegenbild zum lethargischen Zustand des Deutschen Theaters in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ................................................ 141 4.2 Die Gründung der Baracke und die Entdeckung junger britischer Dramatik (1. Ebene, Hausdramaturgie) ....................................................... 145 4.2.1 Die Konzeption der Baracke als emergentes Phänomen ..................... 145 4.2.2 Personalentscheidungen, Umbau der Baracke und Spielplangestaltung ....... 149
4.3 Shoppen und Ficken von Mark Ravenhill als prototypisches In-yer-face-Drama (2. Ebene, Textanalyse) .......................................... 154 4.3.1 Das In-yer-face-Theater der British Brutalists zwischen Cruel und Cool Britannia .......................................... 154 4.3.2 Figurenkonstellationen zwischen abwesender Heterosexualität und fehlenden Vaterfiguren ................................................ 158 4.3.3 Die Messer-Szene als textliche Leerstelle.................................... 163 4.3.4 Zeitdiagnose und Kapitalismuskritik in Shoppen und Ficken ................. 166 4.4 Gewaltexzess und Drastik in Ostermeiers Version von Shoppen und Ficken (3. Ebene, Inszenierungsanalyse)........................... 169 4.4.1 Gespensterhaftes in Raumpraxis, Musik und Spielweise ...................... 171 4.4.2 Close Reading der Messer-Szene ............................................ 177 4.4.3 Gary als queeres Gründungsopfer für Ostermeiers Neorealismus ............. 180 4.5 Das diskursive Nach- und Eigenleben von Shoppen und Ficken (4. Ebene) ............ 182 4.5.1 Rezeption durch die Zuschauer und die Theaterkritik ........................ 182 4.5.2 Der Neue Realismus als dramatische Strömung und Steigbügel für Ostermeiers Selbstinszenierung als Häretiker ............................ 186 5.
Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf um das Deutsche Theater in der Spielzeit 2004/05: Künstlerische Erfolge und die Affirmation des Resilienz-Imperativs ..........................................197 5.1 Emilia Galotti als Bild der Organisation: Ästhetische und ökonomische Reduktion ...........................................197 5.2 Wilms’ Berufung und Michael Thalheimers Emilia Galotti als Eröffnungspremiere (1. Ebene, Hausdramaturgie) ............................... 204 5.2.1 Wilms’ umstrittene Berufung in der Spielzeit 1999/2000 ...................... 204 5.2.2 Die erste Spielzeit von Wilms, das Konzept der Offenheit und Pluralität und das Zustandekommen der Zusammenarbeit mit Michael Thalheimer ..................................................... 206 5.2.3 Michael Thalheimers Proben zu Emilia Galotti ................................210 5.3 Emilia Galotti als paradoxer Theatertext (2. Ebene, Textanalyse) ..................... 213 5.3.1 Die paradoxe Praxis des Texts: Günther Heegs Ansatz zu Emilia Galotti ......................................214 5.3.2 Die Überschreitung des Ideal-Maßvollen durch die (Komödien-)Maschine Emilia Galotti ......................................216 5.3.3 Die Dominanz der Sprache über den Körper: Emilia Galotti als Gewebe gespenstischer Stimmen ...........................221 5.3.4 Was blenden Heeg und Thalheimer aus? Politische und Literatursoziologische Deutungen ............................ 224 5.4 Thalheimers Emilia Galotti und das Theater der Reduktion (3. Ebene, Inszenierungsanalyse) .................................................. 231
5.4.1 Spielfassung, Bühne und groteske Körperlichkeit als Übersetzungen der Paradoxie des Texts ................................. 233 5.4.2 Das Spiel mit Dissonanz und Harmonie ..................................... 240 5.5 Das diskursive Nachleben von Emilia Galotti im Ost-West-Kulturkampf um das Deutsche Theater im Jahr 2004 (4. Ebene) ..................................... 245 5.5.1 Die Chronologie des ›Berliner Kulturkampfs‹, die Berufung und der Rücktritt von Christoph Hein (Juni 2004 – Dezember 2004) ........... 246 5.5.2 Künstlerische Erfolge durch das Quartett der Unterschiede und Wilms’ biografische Resilienz ........................................... 255 6.
Die Nachwendegeschichte des Deutschen Theaters zwischen Resilienz und Vulnerabilität (Zusammenfassung der Ergebnisse) ...... 259
Literaturverzeichnis ................................................................... 263 Verzeichnis der Interviews (chronologisch) ............................................ 285
Danksagung
Zuerst möchte ich mich bei Prof. Dr. Franziska Schößler und Prof. Dr. Ulrich Port für die hervorragende Betreuung dieser Arbeit bedanken. Auch gilt all den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein besonderer Dank, die sich mit mir zu Interviews getroffen und mir ein vielschichtiges Bild von den Wendejahren am Deutschen Theater vermittelt haben. Ohne diese Einblicke wäre die vorliegende Arbeit so nicht möglich gewesen. Gleiches gilt für Herrn Karl Sand, der mir den Zugang zum Archiv des Deutschen Theaters ermöglichte. Meinen Eltern, meiner Oma sowie meinen Freundinnen und Freunden danke ich für ihre liebevolle Rückendeckung und Ermutigungen während der Zeit, in der ich an dieser Dissertation gearbeitet habe. Unvergessen bleiben besonders die Korrekturarbeiten ›in letzter Minute‹ von Karin, Kathrin, Thommy und Isa. Nicht zuletzt muss ich besonders Sebastian erwähnen. Dank dir für deine unermüdliche Unterstützung, deine vielen Korrekturarbeiten, deine inspirierenden und witzigen Kommentare und die schöne gemeinsame Zeit ›Rücken an Rücken‹ in unserem Homeoffice – und danke an Flocki, den besten (Büro-)Hund der Welt!
1. Einleitung
1.1
Das D/deutsche Theater nach 1989 (Problemaufriss)
Das 1883 von einer Schauspieler-Sozietät in der Berliner Schumannstraße 14 gegründete, von Otto Brahm und Max Reinhardt zu internationaler Bekanntheit geführte, von den Nazis vereinnahmte und nach 1945 zum Staatstheater der DDR erkorene Deutsche Theater (DT)1 in Berlin ist nach 1989 ein zentraler Austragungsort der Kämpfe darum, was staatlich subventioniertes Theater in der neuen Berliner Republik sein soll: Wie und unter welchen Bedingungen wird Theater produziert? Welche Theaterstile sollen in der neuen Bundeshauptstadt Berlin dominant sein? Welche Stücke und Ästhetiken werden Teil des nationalen Gedächtnisses? Soll das Deutsche Theater ein dezidiert Ost-Berliner oder ein gesamtdeutsches Nationaltheater werden? Wer übernimmt Leitungspositionen? Und kann eine ost- oder westdeutsche Biografie ausschlaggebend für Personalentscheidungen sein? Die Intensität, mit der die Debatten und Konflikte um das deutsche Theater am Deutschen Theater mal produktiv, mal destruktiv ausgetragen wurden, macht das Haus zu einem spannenden Fallbeispiel für die Frage nach Resilienz und Vulnerabilität auf dem Berliner Theaterfeld nach 1989 und zu einem Brennglas für ökonomische, soziale und künstlerische Nachwende-Diskurse. Ein genauer Blick auf die Transformation der ostdeutschen Theater ist besonders angebracht, weil die Ergebnisse der allgemeinen Transformationsforschung zu 1989 – wie Antje Dietze es in ihrer Arbeit zur Berliner Volksbühne herausgestellt hat2 – nicht ohne weiteres auf die Berliner Theaterlandschaft übertragen werden können: Die Theaterlandschaft Ost-Berlins ist in den Neunzigern – ganz anders als die Judikative, die Wirtschaft, die Verwaltungen oder auch die Universitäten3 der untergegangenen DDR – nicht von einem radikalen Elitentransfer betroffen und im Einigungsvertrag §35 wird der Erhalt der kulturellen Substanz der DDR sogar wörtlich fest1 2 3
Vgl. Alexander Weigel: Das Deutsche Theater. Eine Geschichte in Bildern. Berlin 1999, S. 8. Antje Dietze: Ambivalenzen des Übergangs. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin in den neunziger Jahren. Göttingen 2014. Raj Kollmorgen: Ostdeutschland. Beobachtungen einer Übergangs- und Teilgesellschaft. Wiesbaden 2005, S. 212.
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Das Deutsche Theater nach 1989
geschrieben, auch weil die DDR-Theaterkultur in der Wendezeit im Westen hohe Reputation genoss: Viele DDR-Theaterschaffende waren aktiv an der ›Friedlichen Revolution‹ beteiligt, die Theater hatten in der Vorwendezeit – ähnlich wie die Kirchen – Räume für Gespräche und Debatten zur Verfügung gestellt und es wurden zeitkritische Stücke wie Volker Brauns Die Übergangsgesellschaft 4 gespielt, die die Wende forcierten.5 Auch Ensemblemitglieder des Deutschen Theaters waren konkret an diesen Prozessen beteiligt, so zum Beispiel an der Organisation der ersten offiziell angemeldeten Groß-Demonstration der DDR-Geschichte (s. Abbildung 1).
Abbildung 1: Aufruf des Verbands der Theaterschaffenden zur Demonstration gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte am 4. November 1989 in Berlin, zu der sich eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz versammelte.
Quelle: Bestand Bürgerbewegung/Herbst 1989, Havemann Gesellschaft, [www.havemann-gesellschaft.de/index.php?id=424, (22.08.2019)].
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5
Die DDR-Erstaufführung in der Regie von Thomas Langhoff, dem späteren DT-Intendanten, fand am 30. März 1988 am Maxim-Gorki-Theater statt. Vgl. Ingeborg Pietzsch: ›Übergangsgesellschaft‹ von Volker Braun in Leipzig und Weimar. In: Theater der Zeit 44 (1989) 8. Vgl. zu den ›oppositionellen Leistungen‹ des DDR-Theaters vor der Wende: Ralph Hammerthaler: Die Positionen des Theaters in der DDR. In: Christa Hasche [u.a.] (Hg.): Theater in der DDR. Chronik und Positionen. Berlin 1994, S. 153-261; Skadi Jennicke: Theater als soziale Praxis. Ostdeutsches Theater nach dem Systemumbruch. Berlin 2011, S. 25; Angela Kuberski (Hg.): Wir treten aus unseren Rollen heraus. Dokumente des Aufbruchs Herbst ›89. Berlin 1990; Laure de Verdalle: Das Theater in der DDR und sein Publikum. Rückblick auf eine zweideutige Beziehung. [www.melissa.ens-cachan.fr/IMG/pdf/Das_Theater_und_sein_Publikum.pdf (14.08.2012)].
1. Einleitung
Die ostdeutsche Theaterkultur ist nach 1989 in der Berliner Theaterszene noch stark sichtbar: Anfang der Neunziger Jahre wurden beispielsweise drei der fünf auch heute noch existierenden Sprechtheater-Bühnen von in der DDR sozialisierten Theatermachern geleitet, nämlich das Deutsche Theater von Thomas Langhoff (1991-2001), die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz von Frank Castorf (19922017) und das Berliner Ensemble in Teilen von Heiner Müller (er war von 1992 bis zu seinem Tod 1995 Mitglied des Leitungskollektivs). Unmittelbar nach der Wende wurden – für den Vereinigungsprozess untypisch – außerdem zwei West-Berliner Theater geschlossen: die Freie Volksühne schloss 1992 und das Schiller-Theater 1993. Anders als die Volksbühne, die unter der Leitung von Frank Castorf explizit von der Kulturpolitik – durch ein Gutachten von Ivan Nagel – den Auftrag bekam, eine Symbiose aus Ost- und West-Theater zu schaffen und das selbstbewusst umsetzte, wurde Thomas Langhoff am Deutsche Theater in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre vom Kultursenator Ulrich Roloff-Momin darin unterstützt, das Haus im Zeichen von Kontinuität und im Modus des Festhaltens an der DDR-Identität zu führen. Dieser Führungsstil produzierte zwar kurzfristige Erfolge, auch beim westdeutschen Publikum, führte jedoch langfristig zu Irritationen und Vulnerabilitätserfahrungen. Diese Arbeit wird daher unter anderem zeigen, dass Langhoffs Versuch die Identität des Hauses statisch zu bewahren, zum Verlust eben dieser Identität führte. Auch wird dargelegt, warum der Erfolg der Baracke, der 1996 gegründeten Nebenspielstätte unter der Leitung von Thomas Ostermeier, die zu einem zentralen Innovationsgenerator für das gesamtdeutsche Theaterfeld Ende der Neunziger Jahre wurde, nicht auf die Reputation des Hauses abfärben konnte. Erst mit der Übernahme der Intendanz durch Bernd Wilms (2001-2008) wird das Haus in den überregionalen Feuilletons gewürdigt, gerät dann jedoch durch den Kultursenator Thomas Flierl (PDS) unter heftigen Beschuss. Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 bedeutet für die Theaterschaffenden der nicht mehr existierenden DDR, darauf möchte ich explizit hinweisen, eine doppelte Krise: Zum einen ist der Bestand ihrer Theaterhäuser, die Finanzierung ihrer Arbeitsplätze und ihre künstlerische Identität gefährdet, denn die Berliner Republik kann und will sich das dichte Theaternetz der DDR nicht leisten, zum anderen müssen sich die ostdeutschen Theater in das System der westdeutschen Stadt- und Staatstheater integrieren, das sich wiederum selbst seit den 1970er Jahren in »schwelenden Struktur- und Legitimitätskrise[n]«6 befindet: Die Krisen sind dabei vielfältig und tiefgehend: Da ist natürlich die Krise ums Geld, denn das wird weniger. Da ist die Krise ums Publikum, denn auch das erodiert (zumindest bei den öffentlichen Theatern). Da ist die Strukturkrise, denn die Thea-
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Dietze: Ambivalenzen des Übergangs, S. 169.
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Das Deutsche Theater nach 1989
terlandschaft ist stark institutionalisiert. Da ist eine weitere Strukturkrise, die interne, denn die Arbeitsweisen und Personalstrukturen sind stark veraltet und dies alles mündet in eine Legitimationskrise zu der dem Deutschen Bühnenverein bisher nicht unbedingt so bedeutend mehr eingefallen ist als »Theater muss sein!«.7 Hinzu kommt, dass seit 1989, in Berlin besonders durch »die vereinigungsbedingte Haushaltskrise und die Koordinationsprobleme zwischen Bund und Land bei der Hauptstadtkulturfinanzierung«8 , ein Innovationen fördernder Ausbau von Subventionen für den Kultursektor als undenkbar gilt: Dass der Strukturkrise der Theater nur mit Kürzungen, Fusionierung und dem Rückbau von Strukturen begegnet werden kann, gilt – so zeigt es diese Arbeit – selbst bei vielen Theaterschaffenden als common sense. Aus dieser Beobachtung leitet sich eine wichtige Grundannahme der vorliegenden Arbeit ab, nämlich die, dass sich parallel mit dem omnipräsenten Krisendiskurs im deutschsprachigen Theater ein (kulturpolitischer) Resilienz-Imperativ herausgebildet hat, der lautet: ›Seid krisenfest! Baut nicht die Belastungen ab, sondern erhöht eure Belastbarkeit!‹.9 Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es also, den spannungsreichen Transformationsprozess des Deutschen Theaters in den Jahren 1989-2008 vom selbstbewussten Staatstheater der DDR zu einem pluralistischen Theater in der Mitte der neuen Bundeshauptstadt nachvollziehbar zu machen: Dazu werden drei Inszenierungen als Fallbeispiele bzw. Bilder des Deutschen Theaters und Knotenpunkte von organisatorischen, kulturpolitischen und künstlerischen Entscheidungen bearbeitet, die relevante Stationen und Umschlagspunkte des Transformationsprozesses des Deutschen Theaters markieren: Diese sind Heiner Müllers achtstündige, als DDREndspiel bezeichnete Doppelinszenierung von Hamlet und Hamletmaschine unter dem Titel Hamlet/Maschine in der Spielzeit 1989/90, Thomas Ostermeiers drastische Inszenierung von Mark Ravenhills Shoppen und Ficken in der Spielzeit 1998/99 und Michael Thalheimers Erfolgs-Inszenierung von Lessings Emilia Galotti aus der Eröffnungsspielzeit von Bernd Wilms 2001/02. Der Analyse dieser drei Fallbeispiele vorgeschaltet wird im Folgenden das theoretische und methodische Fundament umrissen, auf dem diese Arbeit basiert und das sich aus den diesen drei Komponenten zusammensetzt: erstens der Theorie der Resilienz, zweitens der methodischen Innovation Inszenierungen als Bilder 7
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Silvia Stolz: Kulturpolitikforschung und Theater. Gastspieltheater – das unbekannte Wesen. In: Daniel Gad, Katharina M. Schröck u. Aron Weigl (Hg.): Forschungsfeld Kulturpolitik – eine Kartierung von Theorie und Praxis. (Hildesheimer Universitätsschriften, Bd. 39). Hildesheim 2019, S. 267-272, hier: S. 267. Dietze: Ambivalenzen des Übergangs, S. 225. Vgl. zum gesamtgesellschaftlichen Resilienz-Imperativ: Stefanie Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit. Bielefeld 2019.
1. Einleitung
der Organisation zu lesen, um die Schnittstelle von Ästhetik und Organisation beschreibbar machen zu können, und drittens dem Aufbau der Arbeit entlang der Spuren, die die untersuchten künstlerische Ideen durch den Organisationszusammenhang des Deutschen Theaters (von der Planung bis zur Realisation und Rezeption) gezogen haben.
1.2
Resilienz als Analysekategorie und normative Handlungsorientierung (Theoretischer Rahmen)
Da das Resilienz-Konzept in »den vergangen Jahren [eine] drastisch angestiegene internationale mediale wie wissenschaftliche Diffusion«10 erfahren hat und zunehmend als Schlagwort im öffentlichen Diskurs, zum Beispiel in der Ratgeberliteratur, auftaucht, sich aber auch als Analysekategorie in sehr disparaten Forschungsfeldern11 findet,12 bedarf der Resilienz-Begriff für die Operationalisierung im Rahmen dieser Arbeit einiger Klärung: Ursprünglich geht der Begriff auf die Werkstoffphysik des 19. Jahrhunderts zurück, so der Soziologe Ulrich Bröckling in seinem Aufsatz Resilienz. Über einen Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts: Resilienz beschreibt hier die Eigenschaft elastischer Materialien, nach Verformung wieder in ihre Ausgangsposition zurückzukehren. Überträgt man diese Vorstellung auf biologische, technische, soziale oder ökologische Systeme, bedeutet Resilienz das Oszillieren um einen Gleichgewichtszustand, den ein System im Fall von Abweichungen aus eigener Kraft durch geeignete Adaptionen wiederherzustellen sucht – das Prinzip der Homöostase. In einem weiteren Sinne beschreibt Resilienz das Vermögen eines Systems, Störungen und andere Stressoren zu absorbieren oder ihnen
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Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus., S. 11. Vgl. außerdem Matthias Weiß, Silja Hartmann u. Martin Högl: Resilienz als Trendkonzept. In: Maria Karidi, Martin Schneider u. Rebecca Gutwald (Hg.): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. Wiesbaden 2018, S. 13-32. »Resilient sollen nicht nur Subjekte sein, sondern auch Familien, Städte, Unternehmen, Ökosysteme, Regierungen, Finanzmärkte und Technologien.« Vgl. Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus, S. 12. Für einen Überblick zum Resilienzdiskurs vgl. Ulrich Bröckling: Resilienz. Über einen Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts. [https://soziopolis.de/daten/kalenderblaetter/beobachten/kul tur/artikel/resilienz/(1.9.2019)]; Martin Endreß u. Andrea Maurer (Hg.): Resilienz im Sozialen. Theoretische und empirische Analysen. Wiesbaden 2015; Maria Karidi, Martin Schneider u. Rebecca Gutwald (Hg.): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. Wiesbaden 2018.
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Das Deutsche Theater nach 1989
standzuhalten, ohne einen »Regimewechsel« zu vollziehen, das heißt unter Aufrechterhaltung seiner grundlegenden Struktur und Funktionen.13 Zeitgenössisch wird der Resilienz-Begriff (von resilire, zurückprallen) also als Metapher genutzt, die, wie es die Soziologin Stefanie Graefe in ihrem 2019 erschienenen Essay Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit 14 herausstellt, suggeriere, dass das »Objekt der Einwirkung (im Falle menschlicher Resilienz also: das Subjekt) […] strukturell reaktiv und passiv«15 sei. Ausgehend von diesen metaphorischen Implikationen zeigt Graefe zudem, dass der Resilienzdiskurs ein spezifisches Subjektideal produziert, dass als Verschärfung des in der Gegenwart dominierenden Ideals des »unternehmerischen Selbst« gelesen werden kann: Das »neoliberale Skript der wünschenswerten Persönlichkeit«16 verschiebt sich – besonders in den letzten beiden Dekaden, so auch Ulrich Bröckling – vom Credo lebenslanger »Selbstoptimierung und Leistungsbereitschaft« hin zum Ideal eines Menschen, der niemals »gegen das an[kämpft], was ist« – denn das ist aus der Perspektive der Psychologie Ressourcenverschwendung – »dafür aber emotional flexibel auf [die] unterschiedliche[n] Belastungssituationen reagieren […] kann«17 , die sich in einer als volatil, unsicher, komplexen und mehrdeutig erlebten Welt ergeben. Das resiliente Ideal-Subjekt versucht daher nicht die Ursachen für die multiplen Krisen der Gegenwart anzugehen und zu verstehen, sondern vergrößert die eigene Belastbarkeit und verbessert seine Bewältigungsstrategien. Scheitern Akteure an diesen Anforderungen, so kommt der Gegenbegriff zur Resilienz ins Spiel: das Subjekt erfährt Vulnerabilität. Die Fokusverschiebung (weg von den Krisen-Ursachen) steht auch in engem Zusammenhang mit dem seit 1989 virulenten Diskurs, dass der Kapitalismus als Gesellschaftsordnung alternativlos geworden sei. Und so wie die Künstlerkritik der 1970er Jahre,18 mit ihrem Ruf nach mehr Autonomie für die Subjekte, in einer flexibilisierten und entgrenzten Arbeitswelt mündete, ist die Herausbildung des resilienten Ich-Ideals als Vereinnahmung der Kritik am Flexibilisierungszwang, der mit dem Subjekt-Regime des unternehmerischen, kreativen Selbst einhergeht, zu deuten. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es daher auch, zu untersuchen, inwiefern die Theaterarbeit in einer öffentlich subventionierten Theaterinstitution – analog
13 14 15 16 17 18
Bröckling: Über einen Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts, S. 2. Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus. Ebd., S. 161. Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus (Frankfurter Adorno-Vorlesungen). Frankfurt a.M. 2007, S. 124. Zitiert Nach: Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus, S. 169. Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus, S. 10. Luc Boltanski u. Eve Chiapello: The New Spirit of Capitalism. In: International Journal of Politics, Culture, and Society 18 (2005), S. 161-188; Luc Boltanski u. Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2006.
1. Einleitung
zur Künstlerkritik der 1970er – unintendiert an der Etablierung eines neuen, resilienten Subjektideals mitwirkt. Wenn Graefe in ihrem Resilienz-Essay fragt, »wie Erschöpfung als soziales Phänomen und Resilienz als einigermaßen neues Leitbild zueinander in Beziehung stehen«, geht es dieser Arbeit darum, zu zeigen, wie das Deutsche Theater in Berlin zu einem Diffusionsagenten des kulturpolitischen Resilienz-Imperativs werden konnte. Der analytischen Unschärfe, die sich daraus ergibt, dass Resilienz ein »Grenzbegriff ist, der zwischen analytischer Beschreibungskategorie und normativer Handlungsorientierung changiert«,19 begegne ich durch folgende analytische Trennung: Wenn im Rahmen dieser Arbeit vom Resilienz-Imperativ gesprochen wird, ist damit die diskursiv erzeugte normative Handlungsorientierung gemeint, mit gleichbleibenden oder sich verringernden finanziellen Mitteln die öffentlichen Theater krisenfest zu machen; wenn hingegen von biografischer Resilienz gesprochen wird, dann geht es um die Analyse konkreter Strategien von ost- wie westdeutschen Akteuren, die eigene berufliche Position, Karriere oder Künstler-Identität unter veränderten Bedingungen erfolgreich fortzuschreiben.
1.3 1.3.1
Die Studie als Beitrag zu einer theaterhistorischen Organisationsforschung (Methodische Innovation) Kontextualisierung als Problem der Theatergeschichtsschreibung
Bis in die 1970er Jahre hinein ist die deutschsprachige Theatergeschichtsschreibung hauptsächlich darum bemüht, herausragende Inszenierungen der Vergangenheit zu rekonstruieren. Der Impuls für die Öffnung zu einer den sozialen Hintergrund des Theaters (als staatlich subventionierter Kunst- und Arbeitsform) beleuchtenden Theatergeschichte geht im deutschsprachigen Raum von der DDRTheaterwissenschaft aus, genauer aus dem Umfeld der Berliner und Leipziger Theaterwissenschaft.20 Joachim Fiebach und Rudolf Münz halten zu Beginn der 1980er Jahre fest, dass ihrer Ansicht nach theatergeschichtliche Prozesse nur angemessen beschrieben werden können, wenn man »das gesellschaftlich-künstlerische Phänomen Theater als Einheit von Kunstkonzeption, Kunstpraxis, Kunst-
19 20
Bröckling: Über einen Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts, S. 2. Vgl. hierzu den Überblick in: Rudolf Münz: ›Gegenüber dieser Geschichte, die mehr zu machen als gemacht ist, steht weiterhin die traditionelle […] Geschichte – ein Kadaver, den es noch zu töten gilt.‹ Das Leipziger Theatralitätskonzept als methodisches Prinzip der Historiographie älteren Theaters. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft. Tübingen 1994, S. 28-40; Konstanze Heininger: ›Ein Traum von großer Magie. Die Zusammenarbeit von Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt. München 2015, S. 16.
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Das Deutsche Theater nach 1989
institution und Kunstrezeption in seiner konkret-historischen Entwicklung«21 begreift. Es steht zu vermuten, dass es gerade die historisch-materialistische Perspektive der DDR-Theaterwissenschaftler ist, die aus der Logik des Marx’schen Basis-Überbau-Theorems heraus (dem ja auch die DDR-Theaterwissenschaft verpflichtet war) die materialistische Basis in den Fokus rücken lässt und so die Produktions- und Arbeitsbedingungen des Theaters reflektiert. Auch das Leipziger Theatralitätskonzept, das Rudolf Münz 1989/1994 zusammenfassend fixiert hat, spiegelt diese (im Vergleich mit der westdeutschen Theaterwissenschaft früher einsetzende) Bereitschaft, sich mit den sozialen und politischen Kontexten des Theaters auseinanderzusetzen.22 Nach Münz ist es Aufgabe der Theatergeschichte, die Beziehungen und Konfigurationen zwischen diesen Dimensionen von Theatralität an historischen Knotenpunkten zu beschreiben. Theatergeschichtsschreibung in dieser Auslegung versteht sich somit […] als eine Kombination von Kunst-, Politik-, Sozial- und Alltagsgeschichte [und] […] zielt auf eine Prozesstheorie des symbolischen Austauschs theatraler Formen, welche den Blick auf das ökonomische und ideelle Kapital, die Herrschaftsstrukturen und deren Diskursivierungen freigibt, welche hinter theatralen Verhaltensweisen stehen.23 In der west- (bzw. dann gesamtdeutschen) Theaterwissenschaft wird die Debatte um die kontextualisierende Perspektive, die strukturanalog zum Konflikt zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte geführt wird, vermehrt erst in den 1990er Jahren diskutiert (vielleicht auch als Effekt der Wiedervereinigung) und nimmt ihren Ausgang nicht bei historisch-materialistischen, sondern bei quellenkritischen und methodischen Überlegungen zur Theatergeschichtsschreibung generell. So schreibt Hans-Peter Bayerdörfer 1990, es sei das Problem der positivistischen Theatergeschichte, dass sie nicht erkenne, dass ihr Gegenstand »nur im Moment [seines]
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Joachim Fiebach u. Rudolf Münz: Thesen zu theoretisch-methodischen Fragen der Theatergeschichtsschreibung. In: Helmar Klier (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbstverständnis. Darmstadt 1981, S. 310-326. Entsprechend unterscheiden die Leipziger Wissenschaftler (nach Münz) vier Arten der Theatralität: erstens die Theaterkunst im Sinne des Kunsttheaters einer Zeit, zweitens das NichtTheater, also die jeweils zeitgenössischen theaterkritischen bzw. -feindlichen Diskurse, die, so die These, immer auch vom Kunsttheater rezipiert werden, drittens das Theater im Alltag, hier sind die sozialen Rollenspiele gemeint, und das ›andere‹ Theater, also all jene vom Nationaltheater ausgeschlossenen Spielweisen. Vgl. Münz: ›Gegenüber dieser Geschichte, die mehr zu machen als gemacht ist, steht weiterhin die traditionelle […] Geschichte – ein Kadaver, den es noch zu töten gilt.‹, S. 28-40. Rudolf Münz: Theatralität und Theater. Zur Historiografie von Theatralitätsgefügen. Berlin 1998, S. 71f..
1. Einleitung
Sich-Ereignens Wirklichkeit«, somit »radikale Geschichtlichkeit« sei.24 Auch HansThies Lehmann problematisiert den ephemeren Charakter jeder Aufführung, verweist jedoch zugleich auf die Potentiale des Kontextualisierens und des schlüssigen Konstellierens von Quellen: […] die vergangene Inszenierung [kann] nicht mehr Gegenstand neuer Erfahrung werden, wohl aber bleibt sie Gegenstand der Theatergeschichte, weil bei sinnvoller Formulierung des wissenschaftlichen Ziels durchaus mehr möglich ist, als Stoff für den antiquarisch gesonnenen Verehrer alles Vergangenen bereitzustellen. Photodokumente, Erinnerungen, Kritiken und die Erkundung des zeitgenössischen künstlerischen und kulturellen Umfelds machen es vielfach durchaus möglich, mit der Rekonstruktion so weit zu gelangen, daß man über die ästhetische Tendenz einer Inszenierung, das implizite Theaterkonzept sowie ihr Verhältnis zu zeitgenössischen Kunstproduktionen in anderen Feldern ein Bild entwerfen kann.25 Peter W. Marx hat die Ergebnisse der methodischen Debatten, die in den letzten 25 Jahren an diese Einwände angeknüpft haben, in seiner Monographie zu Max Reinhardt überblicksartig dargestellt. Er nennt neben der Historisierung und Pluralisierung des Theaterbegriffs die Abkehr von der Fixierung auf das HöhenkammTheater und die Öffnung der Perspektive für alle Ebenen des Theaters.26 Immer deutlicher wird in den Debatten hervorgehoben, dass »die Analyse des Verhältnisses von Inszenierungen zu dem Theater als Produktions- und Rezeptionsort«27 ein Desiderat darstellt. So fordert auch Christopher B. Balme, die kulturellen, nicht-ästhetischen und ökonomischen Aspekte der Theater(-arbeit) in die Theatergeschichtsschreibung zu integrieren, ohne sich jedoch »nur für die wirtschaftliche Basis [zu] interessieren und das Verhältnis zum Überbau nur mit pejorativem Unterton zu diskutieren«.28 Auch Bernd Stegemann (als Theaterpraktiker) fordert, die »Auswirkung der Produktionsbedingungen auf die Gestalt ästhetischer Ereignisse [stärker zu] reflektier[en]«.29
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Hans Peter Bayerdörfer: Probleme der Theatergeschichtsschreibung. In: Renate Möhrmann u. Matthias Müller (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung. Berlin 1990, S. 41-64. Hans-Thies Lehmann: Die Inszenierung. Probleme ihrer Analyse. In: Zeitschrift für Semiotik 11 (1989) 1, S. 29-49, hier: S. 31. Peter W. Marx: Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur. Tübingen 2006, S. 21. Ebd., S. 19. Christopher B. Balme: Die Marke Reinhardt. Theater als modernes Wirtschaftsunternehmen. In: Roland Koberg (Hg.): Max Reinhardt und das Deutsche Theater. Texte und Bilder aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums seiner Direktion. Leipzig, S. 41-49, hier: S. 49. Bernd Stegemann: Wäre das schlimm. Debatte um die Zukunft des Stadttheaters XI. Bernd Stegemann plädiert für das Künstlertheater. [www.nachtkritik.de/index.php?op-
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Das Deutsche Theater nach 1989
Die wiederkehrende Frage in dieser Methodendiskussion ist also, mit welchen Mitteln man den sozialgeschichtlichen und organisationssoziologischen Aspekten gerecht werden kann, ohne dabei die Eigenlogik der ästhetischen Ereignisse aus dem Fokus zu rücken.30 Meinen Vorschlag zu dieser Debatte, nämlich Inszenierungen als Bilder der sie hervorbringenden Institution zu lesen, werde ich im folgenden Unterkapitel diskutieren.
1.3.2
Inszenierungen als Bilder der Organisation und die dichte Beschreibung nach Clifford Geertz
Meine Grundüberlegung für die Analyse der Schnittstelle von Organisation, Institution und Ästhetik besteht darin, dass Inszenierung und Aufführungen (auch) als Bilder der sie hervorbringenden Organisation gelesen werden können: Diese Perspektive ist von Gareth Morgans Bilder der Organisation31 , einem kanonischen Text der Organisationsforschung inspiriert. Morgan zeigt in seiner Studie, wie Metaphern die Selbstbeschreibungen von Organisationen dominieren und das Denken und Handeln in Organisationen beeinflussen. Die dominanten sprachlichen Bilder lassen wiederum Rückschlüsse darauf zu, wie eine Organisation aufgebaut ist und inwiefern sie Veränderung zulässt. Morgan geht auf verschiedene prototypische Metaphern ein, so werden Organisationen unter anderem als Maschinen, als Organismen, als Gehirne, als Kulturen oder auch als psychische Gefängnisse beschrieben. Meine These ist nun, dass Theaterhäuser wie das Deutsche Theater insofern als besondere Organisationen zu betrachten sind, als sie als komplexe Arbeitszusammenhänge ihre (eigenen) Bildwelten kreieren und öffentlich machen. Selbstverständlich ist nicht jede Inszenierung ein aussagekräftiges, selbstreflexives ›Bild der Organisation‹; doch gehe ich – auch gestützt durch die Ergebnisse der Expert/innen-Interviews, die ich für diese Arbeit geführt habe – davon aus, dass es immer wieder dazu kommt, dass Inszenierungen durch die sprachlichen wie visuellen Bildwelten, die sie entwerfen, in der Lage sind, den in einem Theaterhaus kursierenden Mentalitäten und Selbstbeschreibungen Ausdruck zu verleihen und – vice versa – von diesen hervorgebracht werden. Damit wird die Transformationsund Organisationsgeschichte des Deutschen Theaters nach 1989 über ihre ›Bilder‹ erzählbar und die Wechselwirkungen zwischen der Organisations- und der Kunst-
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tion=com_content&view=article&id=9220:debatte-um-die-zukunft-des-stadttheaters-xibernd-stegemann-plaediert-fuer-das-kuenstlertheater&catid=101:debatte&Itemid=84 (27.4.14)]. Marx: Max Reinhardt, S. 19. Gareth Morgan: Bilder der Organisation. Stuttgart 2008.
1. Einleitung
ebene geraten in den Blick.32 Diese Überlegungen haben die Auswahl der untersuchten Inszenierungen maßgeblich bestimmt: Es wird in der Arbeit gezeigt, dass die Stasis von Heiner Müllers Hamlet/Maschine mit der Verweigerung des ResilienzImperativs durch Thomas Langhoffs Führungsstil in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre korrespondierte, dass die drastische Skandalszene in Shoppen und Ficken der dringenden Notwendigkeit eines Neuanfangs ein Bild gab und dass Michael Thalheimers radikal reduzierte Inszenierungssprache in Emilia Galotti den ökonomisch-organisatorischen Reduktionen entsprach, die für Wilms’ (den ResilienzImperativ affirmierenden) Führungsstil typisch waren. Um die Inszenierungen in meinem Korpus als zentrale Bilder des Deutschen Theaters lesen zu können, knüpfe ich zusätzlich an das Konzept der ›dichten Beschreibung‹ von Clifford Geertz an. Geertz’ Methode wird in der Forschung bereits seit Jahrzehnten als Werkzeug diskutiert und erprobt, mit dem eine Integration von Inszenierungsrekonstruktionen, sozialen, kulturellen und materiellen Kontexten möglich sein soll:33 Überlegungen zur Anwendbarkeit der ›dichten Beschreibung‹ in den Theaterwissenschaften gab es zunächst dort, wo außereuropäisches Theater untersucht wird; hier liegt die Rezeption ethnologischer Theorien auf der Hand, wird jedoch meist nicht in einem umfassenden, das Verhältnis von Ästhetik und Institution reflektierenden Sinn angewendet. Doch gerade auch angesichts der Beschäftigung mit innereuropäischem Theater liefert die ethnologische Theorie ein methodisches Rüstzeug, was insbesondere die Dissertationen von Stefanie Husel zum Theater von Forced Entertainment und von Peter W. Marx zur kulturellen Erinnerung im Theater von George Tabori, Tadeusz Kantor und Rina Yerushalmi zeigen.34 Marx betont wie Husel, dass es das mikroskopische Verfahren der ›dichten Beschreibung‹ sei, das diese Methode für die post-positivistische Theatergeschichte prädestiniere. Unter der mikroskopischen Inszenierungsrekonstruktion versteht Marx eine analytische Bewegung, die (dem hermeneutischen Zirkel nicht unähnlich35 ) zwischen Einzelbeobachtungen im Kontext von bestimmten Inszenie32
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Die Geschichte des Deutschen Theaters ist natürlich auch abhängig von den unterschiedlichen Ansätzen und Stilen der jeweils zuständigen Kultursenatoren. Die für diese Arbeit relevanten sind Ulrich Roloff-Momin, parteilos für die SPD (24. Januar 1991 – 25. Januar 1996), Peter Radunski, CDU (25. Januar 1996 – 9. Dezember 1999) und Thomas Flierl, PDS (17. Januar 2002 – 23. November 2006). Christopher B. Balme: Kulturanthropologie und Theatergeschichtsschreibung: Methoden und Perspektiven. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft. Tübingen 1994, S. 45-57. Stefanie Husel: Grenzwerte im Spiel. Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie ›Forced Entertainment‹. Eine Ethnografie. Bielefeld 2014; Peter W. Marx: Theater und kulturelle Erinnerung. Kultursemiotische Untersuchungen zu George Tabori, Tadeusz Kantor und Rina Yerushalmi (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Bd. 27). Tübingen [u.a.] 2003. Gemeint ist hier der hermeneutische Zirkel nach Dilthey »demzufolge das Ganze aus der Perspektive seiner Teile und vice versa zu betrachten sei«. Vgl. Volker Gottowik: Clifford Geertz
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rungen und Aussagen und größeren politischen, gesellschaftlichen oder künstlerischen Zusammenhängen ›rein- und rauszoomen‹ kann. Von Geertz ethnografischer Methode übernehme ich neben dem mikroskopischen Verfahren zudem seine zwischen dem Kultur-als-Text-Paradigma und der Akteurszentrieung changierende Perspektive: Clifford Geertz’ theoretische Überlegungen zu seiner interpretativen Kulturtheorie liegen nicht als geschlossenes System vor, sondern manifestieren sich (zu unterschiedlichen Teilen) in seinen empirischen und programmatischen Arbeiten und Aufsätzen. Gleichwohl hat Geertz’ Denken in den vergangenen Jahrzehnten eine wirkmächtige, aber nicht unproblematische Rezeption gerade in jenem Teil der cultural studies erfahren,36 der sich auf das Kultur-als-Text-Paradigma stützt, das Geertz in seinem Aufsatz zum balinesischen Hahnenkampf Deep play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf (1972)37 ausformuliert und zur Anwendung gebracht hat. Geertz definiert hier die ethnographische Methode als den »Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ›eine Lesart entwickeln‹)«38 und veranschaulicht das anhand seiner Auslegung des balinesischen Hahnenkampfs. Er deutet das balinesische Ritual als einen Akt der »Gefühlsschulung«39 der Zuschauenden. Im Hahnenkampf-Aufsatz bleibt Geertz’ Perspektive somit weitestgehend einer klassisch objektivierenden Ethnologie verpflichtet und die Kultur-als-Text-Vorstellung evoziert ein (nicht immer luzide) nachvollziehbares Interpretationsverfahren, innerhalb dessen die Stimme des Forschenden Autorität bleibt, ohne dies sichtbar zu machen.40 Überblickt man jedoch die weiteren Schriften von Geertz, so zeigt sich, dass sein Denken keinesfalls einseitig dem Kultur-als-Text-Paradigma zuzurechnen ist,
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und der Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie. In: Hans-Martin Gerlach (Hg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität. (Daedalus, Bd. 16). Frankfurt a.M. [u.a.] 2004, S. 155-167, hier: S. 162. Thomas Bierschenk: Zidanes Kopfstoß: Tanz des roten Felsenhahns oder ritualisierte Beleidigung unter Sportlern? Die Ethnologie zwischen kulturalistischer Spekulation und empirischer Sozialforschung. Arbeitspapier Nr. 108. Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz 2009, S. 8. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Dichte Beschreibung. Frankfurt a.M. 1983, S. 7-44, hier: S. 15. Ebd. Bierschenk: Zidanes Kopfstoß: Tanz des roten Felsenhahns oder ritualisierte Beleidigung unter Sportlern? Die Ethnologie zwischen kulturalistischer Spekulation und empirischer Sozialforschung, S. 254. In Geertz eigenen Worten wird dieser Zusammenhang dargestellt durch das Bild, der Forscher schaue dem Einheimischen bloß über die Schulter. Vgl dazu. »Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen.« Vgl. dazu Geertz: ›Deep play‹, S. 259.
1. Einleitung
sondern immer auch Anteile einer akteurszentrierten Perspektive enthält. So formuliert er in ›Aus der Perspektive des Eingeborenen‹: Zum Problem des ethnologischen Verstehens als Reaktion auf den Skandal um die Veröffentlichung der Tagebücher von Bronisław Malinowski, dass es das Ziel der ethnographischen Methode sein muss, zu erfahren, »wie die Leute, […] sich selbst als Person definieren«41 und »wie sie sich überhaupt selber verstehen«42 . Andreas Reckwitz verweist in seiner metatheoretischen Reflexion zur Transformation der Kulturtheorie entsprechend darauf, dass die Geertz-Rezeption ambivalent ist und zwischen dem akteurszentrierten und dem Kultur-als-Text-Paradigma changiert; das sei jedoch kein Missverständnis in der Forschung, sondern in den Texten von Geertz angelegt.43 Geertz’ Kritiker wenden daher in der Regel gegen ihn ein, dass diese Ambivalenz hinsichtlich der Frage nach der Akteurszentrierung eine Schwäche der Theorie wäre.44 Da im Kontext dieser Arbeit jedoch gerade die Integration zwischen Theater als Text (Ästhetik) und Theater als sozialer Praxis von Akteuren (Institution, Organisation) geleistet werden soll, wird die logische Inkonsistenz der Geertz’schen Theorie im Rahmen der vorliegenden Arbeit heuristisch gewinnbringend angewendet: So wie Geertz in seinem Aufsatz ›Deep Play‹. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf fragt, was der Hahnenkampf für die Balinesen bedeutet, frage ich, was eine Inszenierung für die sie hervorbringende Theaterorganisation (verstanden als die Summe ihrer Mitarbeiter) bedeutet. Ich lese die Inszenierungen somit als ›Manuskripte‹ der Organisation, schaue dabei jedoch metaphorisch gesprochen über die Schultern der Akteure, in dem ich meine Interpretationen zur Bedeutung der einzelnen Inszenierungen als Bilder des Deutschen Theaters stets im Abgleich mit den Akteursperspektiven formuliere. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass sich meine Methode daraus zusammensetzt, dass ich von Geertz das mikroskopische Verfahren der ›dichten Beschreibung‹ übernehme, also die (de-)kontextualisierenden Zirkelbewegung zwischen kleinen und kleinsten Einzelbeobachtungen,45 und zusätzlich an ihn anknüpfe, indem ich Wirklichkeit ›from the native’s point of view‹ rekonstruiere, ohne dabei in den geistigen Horizont der Betreffenden eingesperrt zu bleiben. Dies wiederum ermöglicht es den stark wertenden Ost-West-Diskurs auszuhebeln und
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Geertz: ›Aus der Perspektive des Eingeborenen‹, S. 293. Ebd., S. 292. Vgl. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Vgl. zur Übersicht der postmodernen und postkolonialen Einwände gegen Geertz: Bierschenk: Zidanes Kopfstoß: Tanz des roten Felsenhahns oder ritualisierte Beleidigung unter Sportlern?, S. 8f. Vgl. zur Bedeutung der Umfelder für die Theaterarbeit aus neoinstitutionalistischer Perspektive: Friederike von Cossel: Entscheidungsfindung im Kulturbetrieb am Beispiel der Spielplangestaltung am Theater. München 2011.
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Kultur dynamisch zu beschreiben, gleichzeitig aber auch die Ebenen von Organisation, Inszenierung und Rezeption mit demselben Werkzeug, nämlich jenem der Interpretation, bearbeiten zu können. Dieses Vorgehen bildet sich auch in der Diversität meiner Quellen ab, die im folgenden Unterkapitel einer kurzen Quellenkritik unterzogen werden: So habe ich unter anderem sowohl mit Theatertexten, -statistiken, Aufführungsmitschnitten oder journalistischen Interviews gearbeitet, als auch eigenständig Expertinnen-Interviews erhoben und ausgewertet.
1.3.3
Eine kurze Quellenkritik
Es ist ein »Allgemeinplatz«46 und ein ritualisierter Vorgang47 in der theatergeschichtlichen Forschung, zunächst auf die großen methodischen Probleme, auf die Flüchtigkeit des Gegenstands und die annähernde Unmöglichkeit eines jeden theaterhistorischen Vorhabens hinzuweisen, zeichnet sich das Theater als Kunst doch gerade durch seine Nicht-Reproduzierbarkeit, seinen ephemeren Charakter aus. Im Kontext dieser Arbeit kommt hinzu, dass nicht nur mit einer historischen, sondern auch mit einer strukturellen Unschärfe umgegangen werden muss: Zwar stellt Theater mit der Aufführung grundsätzlich Öffentlichkeit her und gibt sich so der Beobachtung und dem Blick des Forschers/der Forscherin preis, doch fand ein großer Teil jener Theaterarbeit, die in dieser Arbeit untersucht werden soll, gerade im Verborgenen, oder zumindest im nicht explizit Öffentlichen statt. Denn wie Annemarie Matzke festgestellt hat, sind es gerade die Praktiken der Vorbereitung, des Organisierens, des Probens, Erarbeitens oder Entwerfens […], [m]it [denen] am Theater gearbeitet wird, als Arbeit an der Aufführung und als Arbeit an der Institution ›Theater‹.48 Während dieses Problem in der Analyse einer zeitgenössischen Theaterorganisation methodisch durch die teilnehmende Beobachtung49 gelöst werden kann, ist der unmittelbare Zugriff auf die ›verborgene‹ Theaterarbeit (also die Arbeit ›hinter‹
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Erika Fischer-Lichte: Probleme der Aufführungsanalyse. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen [u.a.] 2001, S. 233-265, hier: S. 233. Zur Kritik dieses Rituals vgl. Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Zürich 2007. Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld 2012, S. 18. Die Teilnehmende Beobachtung verstehe ich als Methode »bei der der beobachtende Forscher mit den Menschen im beobachtenden Feld interagiert, an den ihn interessierenden Prozessen teilnimmt und sie in Beobachtungsprotokollen beschreibt.« Vgl. Jochen Gläser u. Grit Laudel: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen. Wiesbaden 2006, S. 37.
1. Einleitung
der Aufführung) für den hier zu bearbeitenden Untersuchungsgegenstand und zeitraum zunächst verstellt. Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über die unterschiedlichen Quellenarten geben, die trotzdem eine Analyse des Deutschen Theaters in den Jahren 1989 – 2008 ermöglichen.
Interviews Im Jahr 2015 habe ich sieben Expert/innen bzw. Zeitzeugen-Interviews mit Menschen geführt, die in unterschiedlichen Positionen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten am Deutschen Theater beschäftigt waren. In diesen Gesprächen, die ich für die vorliegende Arbeit teiltranskribiert und ausgewertet habe, konnte ich mir Expertenwissen aus dem Inneren des Deutschen Theaters erschließen und Inspiration für mögliche Forschungsfragen gewinnen. In der methodologischen Auseinandersetzung um die Oral History und die Ansätze der Mikrogeschichte50 wird dem Zeitzeugeninterview diese ›inspirierende‹ Eigenschaft dezidiert zugeschrieben. Das Zeitzeugen- oder Experteninterview kann neue Fragen aufzuwerfen, die die Forschung bis dato nicht gestellt hat und die sich aus den Antworten der Zeitzeugen ergaben [und] auch ein Widerspruchspotenzial gegenüber bisherigen Forschungsergebnissen [sind].«51 Da meine Forschungsfrage sowohl auf die Rekonstruktion der Veränderungen für die Theatermacher nach 1989 zielt, als auch auf die Frage nach Habituseffekten und Resilienzstrategien der Akteure beinhaltet, orientierte ich mich in der Konzeption dieser Interviews an der (aus der Debatte um die Oral History hervorgegangenen) methodischen Drei-Teilung des Interviews (nach Breckner52 ). Dieser Interviewtypus beginnt immer mit einer einleitenden erzählgenerierenden Frage, die in meinem Fall immer lautete: »Wie sind Sie an das Deutsche Theater gekommen?«. Darauf folgt eine Phase des Nachfragens zum Erzählten (möglichst auch erzählgenerierend). Abgeschlossen habe ich das Interview mit vorbereiteten (Leitfaden-)Fragen, bei denen es besonders darum ging, danach zu fragen, welche Inszenierungen und künstlerischen Ereignisse als herausragend erinnert wurden.
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Das Zeitzeugeninterview ist grundsätzlich sehr beliebt in der Ostdeutschland-Forschung und Zeitgeschichte: »Wenn Martin Sabrow feststellt, dass die Erinnerung an die DDR heute nicht nur in einem Modus funktioniert, sondern Vielfalt zugelassen ist und neben dem ›Diktaturgedächtnis‹ auch ein ›Arrangementgedächtnis‹ und ein ›Fortschrittsgedächtnis‹ bestehen, […] dann hat die Oral History daran einen nicht geringen Anteil.« Julia Obertreis (Hg.): Oral history. Stuttgart 2012, S. 17. Ebd., S. 11. Roswitha Breckner: Von den Zeitzeugen zu den Biographen. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews. In: Julia Obertreis (Hg.): Oral history. Stuttgart 2012, S. 131-151.
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Sowohl das Konzept des ›Experten‹ als auch das des ›Zeitzeugen‹ beruht auf der Vorstellung, dass der/die Befragte über ein spezielles Wissen hinsichtlich bestimmter Erfahrungs- und Handlungswissensbestände verfügt und als (bewusster wie unbewusster) Träger »interner Wissensstrukturen und Wissenskonstruktionen«53 fungiert. Während ein Teil der Organisationssoziologie diese Eigenschaften im Kontext von Organisationen nur den beruflichen Funktionseliten zuschreibt, zeigt sich in der jüngeren methodischen Debatte eine Pluralisierung des Expertenbegriffs.54 Deshalb habe ich versucht möglichst verschiedene innerbetriebliche Perspektiven in der Auswahl der Gesprächsteilnehmer zu berücksichtigen. Bei der Zusammenstellung meines Samples stütze ich mich daher auf die Definition von Bogner und Menz, nämlich dass Experte ist, wer in einer Organisation relevant werden kann.55 Die folgenden Personen haben sich dankenswerter Weise zu einem Gespräch mit mir bereit erklärt: Rosemarie Schauer (Stellvertretende Intendantin und kaufmännische Leiterin bis 2000), Alexander Weigel (Produktionsdramaturg von Hamlet/Maschine und langjähriger Hausdramaturg), Thomas Martin, (Assistent für Hamlet/Maschine), Michael Eberth (Chefdramaturg in den Jahren 199196), Klaus Siebenhaar (Leitung der Öffentlichkeitsarbeit unter Thomas Langhoff), Bernd Stempel (Schauspieler von 1989 bis heute) und Peter Schmeißer (unter Langhoff Assistenz von Siebenhaar und Schauer, 2015 im Zuschauerservice beschäftigt).56 In der Durchführung der Interviews galt es neben den geschlechts- und statusspezifischen Interaktionseffekten57 auch abzuwägen, wie stark man im narrativen 53
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Alexander Bogner u. Wolfgang Menz: Experteninterviews in der qualitativen Sozialforschung. Zur Einführung in eine sich intensivierende Methodendebatte. In: Alexander Bogner (Hg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen 2002, S. 7-31, hier: S. 26. Michael Meuser u. Ulrike Nagel: ExpertInneninterviews. Vielfach erprobt, wenig bedacht. In: Detlef Garz (Hg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung. Opladen 1991, S. 441-471, hier: S. 443. Vgl. Alexander Bogner u. Wolfgang Menz: Das theoriegenerierende Experteninterview. Erkenntnisinteresse, Wissensform, Interaktion. In: Alexander Bogner (Hg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen 2002, hier: S. 73. Viele der Gesprächstermine ergaben sich darüber, dass mir Interviewpartner einen Kontakt zum nächsten Gesprächspartner vermittelten. Das war insofern sehr hilfreich, als es durch die zeitliche Distanz schwer war, Kontakte herzustellen. Problematisch daran war jedoch, dass ich die Auswahl der Gesprächspartner nur bedingt steuern konnte. So befindet sich leider nur eine Frau in der Gruppe, obwohl ca. 30 Prozent der Angestellten am DT weiblich sind. Neben dem Geschlecht beeinflussen auch die weiteren sozialen Kategorien (Ethnie, Alter, Status- und Klassenzugehörigkeit) die Interviewsituation, was bei Durchführung und Auswertung im Rahmen dieser Arbeit mitgedacht wurde: So wurde in der Literatur mehrfach darauf hingewiesen, dass gerade das Interview mit Managern (und als solche verstehen sich häufig auch Theaterintendanten) stark durch divergierende Relevanzsysteme zwischen Befragtem und Fragendem, sowie durch Alters- und Statusunterschiede ›belastet‹ werden kann.
1. Einleitung
Teil des Interviews in den Redefluss des Befragten eingreift: Der ›reinen Lehre‹ nach soll die Interviewerin im narrativen Interview grundsätzlich als weiße Wand fungieren und sich nicht in die Erzählung des Interviewten einmischt. Diese Vorstellung lässt jedoch außer Acht, dass die Erzählung des Befragten, schon allein durch die Situation und Anwesenheit des Interviewers vorstrukturiert ist und in jedem Fall (implizit) entlang den Kriterien einer ›guten Geschichte‹ oder einer ›guten Performance‹ konstruiert sein kann. Methodisch problematisch können Zeitzeugeninterviews außerdem sein, weil die Reliabilität von Erinnerung prekär ist. So hat Harald Welzer in seiner Kritik des Zeitzeugeninterviews mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Erinnerung an Erlebnisse und Geschehnisse, die in Interviews erzählt werden, eines ganz sicher nicht sind: Erlebnisse und Geschehnisse, wie sie in der historischen Situation geschehen und erlebt worden sind.58 Welzer zufolge haben Erinnerungen häufig soziale Quellen und auch NichtErlebtes kann als visuelle Erinnerung beim Befragten präsent sein. Daraus folgte für mich als Interviewerin, mich nicht nur auf die Inhalte des Gesprächs zu konzentrieren, sondern auch darauf, wie die Befragten Vergangenheit erzählten und modulierten.
Aufführungsmitschnitte Da die im Kontext dieser Arbeit untersuchten Theaterarbeiten nicht mehr im Repertoire des Deutschen Theaters zu finden sind, kann die Rekonstruktion der Inszenierungen nur in der sich ergänzenden Konstellation von unterschiedlichen »medialen Übersetzungen«59 der Theaterarbeit geleistet werden, in deren Mittelpunkt in allen drei Fallbeispielen der Videomitschnitt einer Aufführungen steht; erfreulicherweise hat man am Deutschen Theater bereits Mitte der Achtziger Jahre damit begonnen, Aufführungen auf Video mitzuschneiden, sodass mir das Archiv des Deutschen Theaters eine Aufzeichnung von Heiner Müllers Hamlet/Maschine und der Generalprobe von Thomas Ostermeiers Shoppen und Ficken zur Sichtung
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Doch die Behauptung, dass nur alte, promovierte Männer erfolgreich Experteninterviews führen können, greift angesichts dessen zu kurz, dass gerade (strategisches und bewusstes) ›naives‹ Fragen, die »ertragreichsten Antworten«, also die Deutungsmuster der Befragten, hervorbringen kann. Vgl.Bogner/Menz: Das theoriegenerierende Experteninterview, S. 88f.; Rainer Trinczek: Experteninterviews mit Managern. Methodische und methodologische Hintergründe. In: Christian Brinkmann (Hg.): Experteninterviews in der Arbeitsmarktforschung. Diskussionsbeiträge zu methodischen Fragen und praktischen Erfahrungen. (Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Bd. 191). Nürnberg 1995, S. 59-67. Harald Welzer: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung. In: Julia Obertreis (Hg.): Oral history. Stuttgart 2012, S. 247-260, hier: S. 247. Husel: Grenzwerte im Spiel, S. 33.
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zur Verfügung stellen konnte. Ein Mitschnitt von Thalheimers Emilia Galotti wiederum ist in der Theateredition auf DVD erschienen.60 Im Fall von Hamlet/Maschine und Emilia Galotti handelt es sich um typische Fernsehmitschnitte.61 Die Aufnahmen sind mit mehreren Kameras aufgenommen und im Nachhinein bearbeitet und geschnitten, während Shoppen und Ficken – wahrscheinlich für den hausinternen Gebrauch wie z.B. für Wiederaufnahmeproben – mit einer fixierten Kamera in Zentralperspektive aufgenommen wurde. Im ersten Fall ist von einer stärkeren interpretativen Überformung des Materials durch den Erstellenden auszugehen als im zweiten Fall. Aber auch solche Aufnahmen, die durch das Ausbleiben von Schnitten Objektivität suggerieren, stellen eine spezielle Sichtweise bzw. Interpretation dar, denn es gilt, was Stefanie Husel (phänomenologisch) zur Videoaufnahme herausgestellt hat: Im Gegensatz zum menschlichen Beobachter sieht die Videokamera nichts, vielmehr speichert sie in sturer Breite Lichtdaten. Die menschliche Beobachterin im Zuschauerraum ist unterdessen in ihrem Sehen gezwungen, Aufmerksamkeit zu fokussieren, dabei einzelne Blickpunkte auszuwählen und ganz konkret die Augen über das Bühnengeschehen wandern zu lassen. Sie ist auf diese Weise nicht zuletzt körperlich ins Aufführungsgeschehen involviert, nimmt Atmosphären, Gerüche, Temperatur u.v.a. wahr und wird vom Verhalten der Umsitzenden beeinflusst.62 Trotz dieser Einschränkungen und der Erkenntnis, dass »es offensichtlich nicht möglich [ist], ganze empirische Theateraufführungssituationen ›mit nach Hause‹ zu nehmen«,63 stellt die Verfügbarkeit von Videomaterial natürlich grundsätzlich einen Gewinn für die theaterwissenschaftliche Forschung dar. Auch Hans-Thies Lehmann hat bereits in den frühen Neunzigerjahren genau auf diese Ambivalenz der Analyse von Videomaterial verwiesen, indem er betonte, dass das Video einerseits durch das Vor- und Zurückspulen »eine neue Intensität der Konfrontation mit dem Objekt ermögliche«,64 wodurch der theaterwissenschaftliche Blick sich dem »selbstverständlichen Vorgehen des Philologen [annähere], einen Text mehrfach, in Passagen Wort für Wort, strukturierend, abwägend, vergleichend Revue passieren zu lassen«.65 Andererseits jedoch, sei das Video eben immer um »wesentliche Wahrnehmungsdimensionen (Raumerfahrung, Zeitrhythmus…)«66 verkürzt. 60 61 62 63 64 65 66
Hans Rossacher: Gotthold Ephraim Lessing. Emilia Galotti (DVD). Berlin 2002. Emilia Galotti wurde von Hans Rossacher für den ZDF Theaterkanal gefilmt. Der Mitschnitt von Hamlet/Maschine wurde von Christoph Rüter im Auftrag des Deutschen Theaters erstellt. Husel: Grenzwerte im Spiel, S. 31f. Ebd., S. 31. Lehmann: Die Inszenierung. Probleme ihrer Analyse, S. 31f. Ebd. Ebd.
1. Einleitung
Weitere Quellen Die Wahrnehmungslücke, die sich im Fall dieser Arbeit durch die Historizität ihres Materials ergibt, kann, wie bereits erwähnt, nur durch ergänzendes (Text-)Material aufgefüllt werden. Daher wurden die Interviews und Analysen der Videomitschnitte natürlich auch mit den ›klassischen‹ Quellen der Theatergeschichte konstelliert: Hier sind vor allem die vom Deutschen Theater selbst publizierten Chroniken zu nennen,67 verschiedene Materialsammlungen zu Probenprozessen,68 die jährlich erhobenen Theaterstatistiken des Bühnenvereins,69 journalistisch publizierte Interviews mit Theaterschaffenden, Theaterkritiken und Zeitungsartikel sowie die den Inszenierungen zu Grunde liegenden Dramen- und Theatertexte einschließlich der literaturwissenschaftlichen Forschung.
1.4
Der Spur einer künstlerischen Idee durch die Organisation folgen (Aufbau der Arbeit)
Auch wenn bisherige theaterwissenschaftliche Analysemodelle selten das Theater als Organisation oder Institution reflektieren,70 wäre es falsch, zu behaupten, dass bisherige Aufführungs- oder Inszenierungsanalysen gar keine Kontextualisierungen ihres Gegenstands vorgenommen hätten. In der Theaterwissenschaft verweist bereits die Trennung zwischen den Termini Inszenierungs- und Aufführungsanalyse implizit darauf, dass die ›unsichtbare‹ Theaterarbeit ein wichtiger Gegenstand des Fachs sein muss: Denn als Inszenierungsanalyse wird (in Abgrenzung zur Aufführungsanalyse) dasjenige Vorgehen bezeichnet, das aus der sichtbaren Aufführungsarbeit Rückschlüsse über die ›unsichtbaren‹, der Aufführung vorgeschalteten Entscheidungen tätigt, also z.B. den Bühnenentwurf oder das Regiekonzept rekonstruiert.71 Demnach sind die Theater-Analysen, die in dieser Arbeit vorgelegt
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Vgl. Roland Koberg u. Oliver Reese (Hg.): Deutsches Theater Berlin 2001-2008. Band II: Chronik. Leipzig 2008; Weigel: Das Deutsche Theater. Vgl. zum Beispiel Stephan Suschke: Müller macht Theater. Berlin 2003; Stephan Pabst u. Johanna Bohley (Hg.): Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers. Berlin 2018. Vgl. die vom Bundesverband Deutscher Bühnenverein publizierten Theaterstatistiken: Bundesverband Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik. Köln, insbesondere die Hefte 26 (1990/91) – 40 (2007/08) u. 52 (2016/17). Vgl. zu neuen und innovativen Ansätzen in dieser Forschungsrichtung das Kapitel »III. Theaterwissenschaftliche Organisations- und Institutionsforschung« In: Benjamin Wihstutz u. Benjamin Hoesch (Hg.): Neue Methoden der Theaterwissenschaft. Bielefeld 2020, S. 183-270. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Tübingen 1995; Erika Fischer-Lichte: Probleme der Aufführungsanalyse. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen 2001, S. 233-265; Erika FischerLichte: Die Aufführung als Text (Semiotik des Theaters Bd. 3). Tübingen 2009.
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werden, als Inszenierungsanalysen zu verstehen und nicht als Analysen einzelner Aufführungen. Ein markantes Beispiel der kontextualisierenden Theateranalyse, das mein Vorgehen inspiriert hat, ist Guido Hiß’ Modell der Transformationsanalyse. Hiß kontextualisiert, indem er die Übersetzungen zwischen Text und Inszenierung fokussiert und die Rezeptionsgeschichte(n) von Drama und Aufführung stark in die Analyse einbindet.72 Hiß’ Analyse beginnt bei der Textvorlage einer Inszenierung und nimmt diese insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten für die Mis-en-Scène in den Blick, um dann zusammen mit der Rezeptionsgeschichte des Dramas ein mögliches Spektrum an Deutungsmöglichkeiten abzustecken. Im nächsten Schritt wird dann die Inszenierung (anhand der Aufführung) auf ihr Verhältnis zur Vorlage und den Rezeptionsgeschichte(n) befragt. Hiß macht auf diese Weise intermediale Übersetzungsprozesse sichtbar. Auch für meine Analysen spielen solche Übersetzungsprozesse eine Rolle, jedoch liegt die Innovation dieser Arbeit darin, nicht nur den Transfer des künstlerischen Inhalts vom Text über die Inszenierung bis zur Aufführung zu verfolgen, sondern die Analyse um weitere Ebenen der Theaterarbeit zu erweitern, wie sie für ein deutschsprachiges Stadttheater spezifisch sind. Konkret bedeutet das, dass die nun folgenden ›dichten Beschreibungen‹ von Hamlet/Maschine, Shoppen und Ficken und Emilia Galotti so angelegt sind, dass in jeder Fallstudie der Weg der jeweiligen künstlerischen Ideen durch den Apparat des Deutschen Theaters hindurch nachverfolgt wird, um so den verschiedenen Ebenen und Dimensionen der im Stadttheater organisierten Theaterarbeit Rechnung tragen zu können. Hierzu ist jede der drei Fallstudien, die den Hauptteil der Arbeit bilden, entlang des folgenden transformatorischen Ebenenmodells gegliedert: Die erste Ebene, die ich untersuche, nenne ich die Ebene der Hausdramaturgie. Hier rekonstruiere ich die hausinternen Prozesse und Entscheidungen, die dem Zustandekommen der jeweiligen Inszenierung vorgelagert waren: Dazu gehört die Zusammenstellung von künstlerischen Teams genauso wie die Stückauswahl und der Probenprozess. Auf der zweiten Ebene nehme ich dann eine Text- bzw. Dramenanalyse vor, wodurch ich dem Umstand gerecht werden möchte, dass sowohl durch den Probenprozess als auch durch die außerhalb der Probe stattfindende Textarbeit von Regisseuren und Dramaturgen bedeutungstragende Eingriffe an den dramatischen Textvorlagen vorgenommen werden. Um diese sichtbar zu machen, sind meine Textanalysen so aufgebaut, dass ich versuche, ein möglichst breites Deutungsspektrum des jeweiligen Dramas oder Theatertexts zu entfalten. Die dritte Ebene bildet dann die Inszenierungsanalyse auf der Basis des Aufführungsmitschnitts. Hier arbeite ich sowohl die ästhetische Eigenlogik der Inszenierung heraus als auch die Elemente,
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Vgl. Guido Hiß: Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse. Berlin 1993.
1. Einleitung
die sie zu einer Metapher bzw. einem Bild des Deutschen Theaters in der jeweiligen Phase des Transformationsprozesses machen. Dieses Vorgehen begründet sich durch die Annahme, dass die Inszenierung auch ein Übersetzungsprodukt aus den Prozessen der beiden vorgelagerten Ebenen (Hausdramaturgie und Textanalyse) ist. Jedes Analysekapitel schließt mit der vierten Ebene, auf der ich das diskursive Nach- bzw. Eigenleben verorte, das jede Inszenierung mit ihrer Premiere auch außerhalb des Kontexts des Deutschen Theater entfaltet. Dieses kann sowohl in der Rezeption durch das Publikum oder die Theaterkritik stattfinden, als auch in ästhetischen oder in kulturpolitischen Debatten. Dieser Ebene ordne ich zusätzlich die Analyse von biografischer Resilienz zu und zeige am Beispiel der Akteure Heiner Müller, Thomas Ostermeier und Bernd Wilms, wie man sich als Theaterschaffender erfolgreich auf dem Theaterfeld des wiedervereinigten Deutschlands positionieren konnte. Bevor ich mit der Analyse der genannten Inszenierungen und Prozesse beginne, werden in der Form eines Forschungsstand zwei weiter wichtige Kontexte der Arbeit entfaltet, nämlich die Arbeitswelt der deutschsprachigen Stadt- und Staatstheater und die unterschiedlichen Feldlogiken von ost- und westdeutschen Theatersystem.
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2. Arbeitswelt (Stadt-)Theater und die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Theatersystem (Forschungsstand)
2.1
Theaterarbeit in Stadt- und Staatstheatern nach 1989
Ausgehend von der Beobachtung, dass Kreativarbeiterinnen und -arbeiter und Künstlerarbeitsmärkte im gegenwärtigen Kapitalismus zunehmend zentral in die Wertschöpfungskette eingebunden werden, sind in der letzten Dekade die Arbeitsbedingungen von Theaterkünstlerinnen und -künstlern vermehrt zum Gegenstand von Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaften geworden. Im deutschsprachigen Raum ist die Theaterarbeit sowohl im Kontext von Performancekunst bzw. ›Freier Szene‹ zum Gegenstand geworden als auch in ihrer staatlich subventionierten und institutionalisierten Form der Stadt- und Staatstheater. Im Folgenden möchte ich einen Überblick über die Forschungspositionen innerhalb dieses neu entstandenen Forschungszweigs geben, zu dem die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag liefern soll. Dezidierte Analysen zur Arbeitswelt der Stadt- und Staatstheater finden sich in den Untersuchungen des Betriebswirts und Arbeitsforschers Axel Haunschild. Haunschild begründet mit seinem in 2002 erschienenen Überblicksartikel Das Beschäftigungssystem Theater. Bretter, die die neue Arbeitswelt bedeuten? das Feld einer am Kreativitätsdispositiv ausgerichteten Theaterarbeitsforschung. Haunschild argumentiert, dass sich das Stadt- und Staatstheater für die »Analyse von institutionellen Voraussetzungen und organisationalen Konsequenzen flexibler Beschäftigungsformen« besonders eigne, da das Theater von jeher ein Arbeitszusammenhang sei, in dem das »Normalarbeitsverhältnis nie die Dominanz besessen hat wie in ›klassischen‹ Unternehmungen«.1 Was Haunschild allerdings ausblendet, ist, dass das Theater der DDR für Theaterkünstler eine Annäherung an ein solches Normalarbeitsverhältnis garantierte. Auf die spezifischen Bedingungen und 1
Axel Haunschild: Das Beschäftigungssystem Theater – Bretter, die die neue Arbeitswelt bedeuten? (Diskussionspapier/Arbeitsbereich Personalwirtschaftslehre, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Universität Hamburg, 1/2002). Hamburg 2002, S. 1.
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Feldlogiken des DDR-Theaters werde ich im anschließenden Kapitel noch genauer eingehen. Haunschild stützt seine Erhebung auf 15 teilstrukturierte Interviews und vielzählige informelle Gespräche. Er definiert künstlerische Beschäftigungsverhältnisse nicht als prekär, denn prekäre Arbeitsverhältnisse würden in der Regel unfreiwillig eingegangen, so Haunschild. Deshalb bezeichnet er die Arbeit am Theater als contingent work, das heißt als Arbeitszusammenhang, in dem vage, verschwommene Beschäftigungsverhältnisse dominieren, denen sich ›freiwillig‹ untergeordnet werde.2 Was das öffentlich subventionierte Stadt- und Staatstheater für die Arbeitsforschung so interessant mache, so Haunschild weiter, sei die Frage, wie die Künstler mit der paradoxen Anforderungsstruktur umgehen, die zwischen der (historisch durch die Kunstfreiheit legitimierten) Flexibilität der Beschäftigungsverhältnisse und der aus der Tradition der Hoftheater stammenden starken hierarchischen Organisation, die der Ensemblestruktur eingeschrieben ist, changiere. Für die künstlerisch Beschäftigen bedeutet das auf der einen Seite Freiheit, Autonomie und Mobilität, auf der anderen Seite aber auch Ungewissheiten und persönliche Härten bei Nichtverlängerungen von Verträgen. Am Theater kommt hier die Eingliederung in stark hierarchische Strukturen sowie zeitliche und räumliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit hinzu. Dauerhafte Beschäftigung in (unterschiedlichen) vagen Beschäftigungsverhältnissen setzt dauerhafte Anstrengungen voraus, die eigene employability zu erhalten.«3 Theaterschaffende sind demnach in besonderem Maße von Zukunftsunsicherheit betroffen, sie gehen intensive Arbeitsbeziehungen ein, in denen eine 60-StundenWoche und festgelegte sechs Wochen Urlaub im Sommer die Regel sind. Die starke soziale Bindung innerhalb der Arbeitsbeziehungen erschwert den Kontakt außerhalb des beruflichen Umfelds. Besonders Schauspielerinnen und Schauspieler müssen zwischen den widersprüchlichen Ansprüchen vermitteln, da ihre Position im Gefüge der Stadt- und Staatstheater eine in besonderem Maße subalterne ist. Sie ist abhängig von den künstlerischen Entscheidungen der Intendanten, Regisseure und Dramaturgen. Daher interessiert Haunschild sich besonders für die Motivationen von Schauspielerinnen und Schauspielern, an ihrem Beruf festzuhalten. Die Interviews lassen den Schluss zu, dass die Unsicherheiten, die der Beruf mit sich bringt, durchaus als Problem wahrgenommen werden, jedoch durch die Idee des Theaters »als (großer) Familie«4 und den Kunstanspruch legitimiert werden. 2 3 4
Vgl. ebd., S. 4. Ebd., S. 19. Ebd., S. 10.
2. Arbeitswelt (Stadt-)Theater und die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Theatersystem
Zudem suchen die Künstlerinnen und Künstler die Einbindung in überorganisationale Karrierenetzwerke, um die Unsicherheiten des Beschäftigungsverhältnisses zu kompensieren. Diese Beziehungsnetze wirken jedoch auf organisationsrelevante Entscheidungen zurück und sind so immer eine Gefährdung für die Kohäsion der Organisation. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ist daher die Frage interessant, wie Theater ihren Zusammenhalt gewährleisten, obwohl ihre Kernbelegschaft, sprich die Künstlerinnen und Künstler, in vagen Beschäftigungsverhältnissen mit flexiblen Verträgen arbeiten. Ein Faktor, der wohl letztlich die Kohäsion verstärkt, besteht darin, dass ökonomische Kalküle im Theater nicht beim Namen genannt werden und dass Personalführung nur implizit durch die Intendanten geleistet wird, um der Theaterarbeit nicht »den Zauber der Genialität, Einzigartigkeit und Unberechenbarkeit«5 zu nehmen. Was die Kohäsion der Organisation Theater nach Haunschild darüber hinaus gewährleistet, sind institutionelle Regeln und Vereinbarungen, die zwischen den Tarifparteien, also den Theatern, der Bühnengenossenschaft und dem Bühnenverein geschlossen wurden, um »die dargelegten vagen Beschäftigungsverhältnisse [zu] begrenz[en]«.6 2006 hat Doris Eikhof mit ihrer Studie Transorganisationale Arbeit am Theater. Eine empirische Untersuchung marktvermittelter Arbeitsformen7 diesen Zusammenhang weiter ausgeführt und empirisch überprüft. Eikhof verweist wie auch Haunschild darauf, dass sich die Akteure im deutschsprachigen Stadttheaterbetrieb immer in einem Spannungsfeld von intraorganisationaler und transorganisationaler Arbeit bewegten. Theaterschaffende sind, um erfolgreich zu sein, gezwungen, zwischen den (intraorganisationalen) Anforderungen der sie jeweils beschäftigenden Institution und den (transorganisationalen) Netzwerken, die aus Projektarbeiten und Gastverträgen entstehen, zu vermitteln. Eikhof kann für die Gegenwart nachweisen, dass die transorganisationalen Netzwerke stärker über das persönliche Weiterkommen entscheiden als die Bindung an ein einzelnes Theater dies leisten kann. Daraus folgt logischerweise, dass sich Theaterschaffenden in erster Linie nicht mit dem Theater identifizieren, an dem sie beschäftigt sind, sondern mit ihrem Karrierenetzwerk. Eikhofs blinder Fleck besteht darin, dass sich dieser Befund für das DDR-Theater umdreht, denn durch die langfristigen Verträge des DDRTheatersystems war eine viel höhere Identifikation mit dem beschäftigenden Haus gegeben. Es ließe sich vermuten, dass dieses Identifikationsverhältnis von bereits zu DDR-Zeiten engagierten Theaterschaffenden deutlich über 1989 hinausweist. So könnte z.B. der Kampf der Beschäftigten der Volksbühne gegen die Intendanz von
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Ebd., S. 15. Ebd., S. 18. Doris Ruth Eikhof: Transorganisationale Arbeit am Theater: Eine empirische Untersuchung marktvermittelter Arbeitsformen. In: Deutscher Studienpreis (Hg.): Mythos Markt? Wiesbaden 2006, S. 139-155.
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Chris Dercon als Nachwirkungen dieser Logik begriffen werden. Im Kontext der vorliegenden Arbeit gilt daher zu klären, ob sich die Identifikation mit dem Betrieb, konkreter die Bindung an die »Theaterfamilie Deutsches Theater«, nach 1989 für die Akteure resilienz- oder vulnerabilitätssteigernd auswirkte. Zwei Jahre nach Erscheinen des ersten Überblickartikels publiziert Haunschild gemeinsam mit Doris Eikhof unter dem Titel Arbeitskraftunternehmer in der Kulturindustrie8 einen erweiterten Forschungsbericht zur Arbeitswelt Theater, der nicht nur im wegweisenden Sammelband von Hans Pongratz und Günter Voß zum Arbeitskraftunternehmer erschienen ist, sondern auch in Theater heute9 , wodurch die Studie relativ leicht auch von den ›betroffenen‹ Theaterschaffenden rezipiert werden konnte. Ihre Erhebung fußt auf Interviews, die am Hamburger Thalia Theater, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und am Schauspiel Hannover durchgeführt wurden. Haunschild und Eikhof konzentrieren sich hier erneut auf die Arbeitsbedingungen von Schauspielerinnen und Schauspielern. Der Bericht greift viele der Ergebnisse aus dem ersten Artikel von Haunschild auf, doch lässt sich eine stärkere Engführung auf die Analogien und Gemeinsamkeiten beobachten, die zwischen den Arbeitsbedingungen der Theaterschaffenden und dem Konzept des »Arbeitskraftunternehmer« herrschen. Zudem betonen die Autoren stärker den ökonomischen Druck, der auf den Kunstinstitutionen lastet. Haunschild und Eikhof können somit zeigen, dass, obwohl dem Stadt- und Staatstheater große Reformbedürftigkeit attestiert wird, die Arbeitsweisen am Theater, gemessen an postfordistischen Ansprüchen, im Grunde »auf der Höhe der Zeit«10 sind. Theaterarbeit ist ihren Ergebnissen nach charakterisiert durch Projektarbeit, zwischenbetriebliche Mobilität, die Zusammenstellung der Belegschaften aus eher festen und eher locker angebundenen Mitarbeitern, starke Eigenverantwortung der Arbeitnehmer für ihre Beschäftigungsfähigkeit (employability).11 Ganz dem Konzept des Arbeitskraftunternehmers entsprechend, begreifen die Theaterschaffenden ihre Arbeitsweise »als Chance zur aktiven Gestaltung der eigenen Arbeit und damit des Lebens insgesamt«.12 Zudem ist es die Ausrichtung 8
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Axel Haunschild u. Doris Ruth Eikhof: Arbeitskraftunternehmer in der Kulturindustrie. Ein Forschungsbericht über die Arbeitswelt Theater. In: Hans J. Pongratz u. G. Günter Voß (Hg.): Typisch Arbeitskraftunternehmer? Befunde der empirischen Arbeitsforschung. (Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 56). Berlin 2004, S. 93-113. Ders.: Arbeitwelt Theater. Die Arbeitskraft-Unternehmer. [https://www.kultiversum.de/Scha uspiel-Theaterheute/deutsches-Theater-Struktur-Subvention-Beschaeftigungsverhaeltnis.ht ml?p=2&print=1 (26.6.2016)]. Ebd. Ebd. Ebd.
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an einem »bohèmehaften Lebensstil«,13 die es ermöglicht, sich »gegen das profane Leben der anderen, und seien sie noch so theaterinteressiert«,14 abzugrenzen. Dass der Vorbildcharakter der Theaterarbeit weniger auf der materiellen Ebene zu suchen sei als auf einer ideologischen, betont Haunschild auch in seinem Aufsatz Ist Theaterspielen Arbeit?.15 Denn das Organisationsprinzip »Ensemble« mit seinen auf den künstlerischen Prozess ausgerichteten handwerklich arbeitenden Betrieben ist nicht ohne Weiteres übertragbar auf hochindustrialisierte Produktionsweisen.16 Was das Beschäftigungssystem Stadttheater jedoch deutlich werden lässt, ist, dass der Lebensstil der Theaterkünstler, »der Stabilität und Routinen sowie bürgerliche Tugenden weitgehend ablehnt«, den Umgang mit den »existierenden Widersprüchen« zwischen Leben und Markt erleichtert.17 Theaterkünstler bejahen die Entgrenzung ihrer Arbeit, so Haunschild weiter, und es bestehe wenig Interesse an einer Work-Life-Balance. Hieran wird einmal mehr die Gemeinsamkeit zwischen Theaterarbeit und postfordistischem Regime deutlich. Zugunsten eines Lebensstils, der der klassischen Bohème sehr ähnlich ist, werden die ökonomischen Bedingungen der Arbeit und die damit verbundenen Einschränkungen ausgeblendet.18 Die einzige interdisziplinäre Studie, die darüber hinaus auch noch belastbare Befunde für den Zusammenhang von Ästhetik und Institution liefern konnte, hat Haunschild zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Franziska Schößler vorgelegt. Mit ihrer Studie zu den Genderspezifischen Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater 19 konnte das Autorenduo zeigen, wie der klassische Stückekanon auch heute noch geschlechtsspezifisch die Arbeitsbedingungen am Stadtund Staatstheater präfiguriert. Während überproportional viele Frauen in den Ausbildungsinstitutionen ausgebildet werden, sieht der Kanon deutlich weniger anspruchsvolle Rollen für Frauen als für Männer vor. Das bedeutet, die »Arbeitsbedingungen sind über den Kanon institutionalisiert und künstlerisch legitimiert«:20 Schauspielerinnen verdienen häufig weniger als ihre männlichen Kollegen, ihre Karrieren enden früher und wie in fast allen Berufsfeldern sind auch im Theater
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Ebd. Ebd. Axel Haunschild: Ist Theaterspielen Arbeit? In: Franziska Schößler (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. (Theater, Bd. 8). Bielefeld 2009, S. 141-156. Vgl. zu diesem Gendanken auch: Haunschild: Das Beschäftigungssystem Theater – Bretter, die die neue Arbeitswelt bedeuten? Haunschild: Ist Theaterspielen Arbeit?, S. 151. Ebd., S. 154. Haunschild u. Schößler: Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater. Ebd., S. 269.
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die Fürsorgepflichten asymmetrisch verteilt, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Schauspielerinnen besonders erschwert. Eine weitere für diese Arbeite relevante Studie, die jedoch nicht mit dem Kreativitätsdispositiv argumentiert, sondern mit dem Neoinstitutionalismus, ist Friederike von Cossels Dissertation Entscheidungsfindung im Kulturbetrieb am Beispiel der Spielplangestaltung am Theater.21 Von Cossel profiliert den Neoinstitutionalismus für die Forschung zum Stadttheater, um das organisationale Handeln im staatlich subventionierten Theater besser beschreibbar zu machen. In ihrer Analyse legt von Cossel den Schwerpunkt auf Entscheidungsfindungsprozesse in der Spielplangestaltung. Hieran kann sie sowohl zeigen, dass die Legitimität stiftenden Umfelder der Theaterarbeit die Kulturpolitik, das Publikum und die Theaterkritik sind, als auch, dass diese Umfelder stets konfligierende Ansprüche an die Organisation stellen. Eine stärker theaterhistorische Perspektive auf das System subventionierter Stadt- und Staatstheater findet sich bei Christopher Balme. Er schreibt dezidiert gegen »de[n] Mythos eines seit zweihundert Jahren staatlich subventionierten Theatersystems« an. Er betont, dass die Anfänge des subventionierten Stadttheatersystems »im freien Markt der Kulturindustrie«22 zu finden seien. Ausgehend von den großen Liberalisierungstendenzen des 19. Jahrhunderts seien die europäischen Theater nach und nach »aus dem Patronatssystem herausgelöst und zum Gewerbe erklärt«23 worden. Für das institutionalisierte europäische Theater des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts ist eine Koexistenz von durch Länder und Kommunen bezuschussten und »marktwirtschaftlich organisierte[n]«24 Theatern charakteristisch. Häufig werde deshalb verkannt, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ästhetische Qualität des Theaters nicht im Widerspruch zu dessen marktförmiger Organisationsweise habe stehen müssen.25 So wie die vorliegende Arbeit wählt Balme auch das Deutsche Theater Berlin als Fallstudie und konkretisiert das Zusammenspiel von Markt und Staat anhand der Gründung des Deutschen Theaters Berlin unter der Intendanz von Max Reinhardt: Denn »[o]bwohl emphatisch der Kunst gewidmet, war Reinhardts Theater-
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Friederike von Cossel: Entscheidungsfindung im Kulturbetrieb am Beispiel der Spielplangestaltung am Theater. München 2011. Christopher B. Balme: Theater als Kulturindustrie. Globale Perspektiven in einer reflexiven Moderne. In: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der darstellenden Künste. (Theater, Bd. 61). Bielefeld 2013, S. 3355, hier: S. 39. Ebd., S. 40. Ebd. Eine Sichtweise, die heute für das Kino gilt.
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imperium rein kapitalistisch organisiert«.26 1905 kaufte Reinhardt das Gebäude in der Berliner Schumannstraße für 2.450.000 Mark, was heute einem Wert von 15 bis 20 Millionen Euro entspräche. Die Finanz- und Wirtschaftswelt der Zeit sah in Reinhardts (ästhetisch ambitioniertem) Theatervorhaben ein »investitionssicheres Wirtschaftsunternehmen«27 ; unter anderem investierten die Brauerei Königsstadt, der Zeitungsverleger August Huck sowie Emil Rathenau, Direktor der AEG.28 Die ökonomische Hochphase erlebte das Deutsche Theater vor dem Ersten Weltkrieg. In der Weimarer Republik – durch die Einführung einer 15-prozentigen Lustbarkeitssteuer und durch die Weltwirtschaftskrise – geriet das Haus in eine finanzielle Schieflage. Unter den Nationalsozialisten ging der Theaterkonzern dann in Staatsbesitz über, indem ein Gesetz erlassen wurde, das die Lustbarkeitssteuer bis 1926 rückwirkend erhob.29 Doch nicht nur das Deutsche Theater, sondern »alle bedeutenden Stadt- und Staatstheater«30 wurden im Anschluss an die Machtergreifung Hitlers verstaatlicht bzw. kommunalisiert. Balme hält entsprechend fest: Die beispiellose deutsche Theaterlandschaft, die heute führende Politiker als Teil des Weltkulturerbes vor weiteren Sparmaßnahmen beschützen wollen, findet eigentlich erst nach 1933 ihre volle Entfaltung.31 Die Verstaatlichung bzw. Kommunalisierung der Theater ist nach Balme ein Prozess, der sich im Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus auf drei Ebenen verstetigt bzw. sich aus drei diskursiven Quellen speist: Auf kunstphilosophischer Ebene verfestigt sich zunehmend die Idee eines »Kultur- statt Geschäftstheaters«.32 Im Zuge der rapiden Urbanisierung der deutschen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht auf stadtplanerischer Ebene die »Übereinkunft über die öffentliche Funktion einer Stadt und deren ›Bringschuld‹ gegenüber den Bürgern«, die zum Neubau der »meisten heute noch existierenden 26
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Christopher B. Balme: Die Marke Reinhardt. Theater als modernes Wirtschaftsunternehmen. In: Roland Koberg (Hg.): Max Reinhardt und das Deutsche Theater. Texte und Bilder aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums seiner Direktion. Leipzig 2005, S. 41-49, hier: S. 42. Leonhard M. Fiedler (Hg.): Welttheater Reinhardt. Bauten, Spielstätten, Inszenierungen (Materialien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, Bd. 27). München 1983, S. 16. Spannend ist hier, dass gerade »Rathenaus Interesse an Reinhardts Theaterunternehmen […] nicht durch reine Lust an der Theaterkunst motiviert« war, sondern die AEG »bereits mehrere Patente von Reinhardt und seinen Mitarbeitern für Bühnen- und Beleuchtungstechnik erworben« hatte. Balme: Die Marke Reinhardt, S. 41. Eine weitere noch heute wirkende Steuerreform der Nationalsozialisten war die Realsteuerreform, die es den Kommunen zugestand, die Grund- und Gewerbesteuer zu erheben. Erst dadurch waren Kommunen überhaupt in der Lage, kostspielige kulturelle Institutionen (wie die Theater) zu tragen. Balme: Die Marke Reinhardt, S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43.
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öffentlichen Kultureinrichtungen wie Theater, Museen und Tiergärten«33 führt. Ergänzt werden diese beiden die Kommunalisierung der Theater forcierenden Diskurse um eine »intensiv geführte sozialdemokratische Debatte über die soziale Funktion des Theaters«,34 die vor allem auf den Sozialdemokraten Ludwig Seelig zurückgeht. 1915 legte dieser mit der Denkschrift Geschäftstheater oder Kulturtheater?, die im Vorwärts erschien, seine »Reformidee der Kommunalisierung der Theater«35 dar. Seelig entwickelt den Gedanken, dass ästhetische Qualität den Schutz des Staates bedürfe, dass Kunst Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge sei, und er betont, dass es die Lage der am Theater Beschäftigten zu verbessern gelte. All das mündet in seiner Formel: »Es gibt nur ein Mittel, um das Theater seiner Kulturbestimmung zuzuführen: das ist seine Sozialisierung!«36 Eine theoretische Reflexion der Verbindung zwischen einem ›Neuen Geist des Kapitalismus‹ und der zeitgenössischen Performancekunst leisten die Arbeiten der Performancetheoretikerin Bojana Kunst, Professorin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. In ihrer 2015 erschienen Monografie Artist at Work diagnostiziert Kunst (gestützt auf zeitgenössische Theorie, nicht auf empirische Erhebungen) eine »ambivalent closeness of art and capitalism«.37 Ausgehend von dem Befund, dass »creativity and artistic subjectivity […] at the centre of the contemporary production of value«38 seien, steht die/der international agierende Performancekünstler/in als postfordistisches Ideal-Ich im Zentrum der Arbeit. Ihrer Analyse nach sind Kunst und Leben (verstanden als das Zusammenspiel von Subjektivität, Sozialität, Zeitlichkeit und Bewegung) in ein nahezu deckungsgleiches Verhältnis geraten. Nichtdestotrotz betont sie die Widerstandspotenziale gelungener Kunst durch die Imagination eines »life yet to come«.39 Ferner fordert sie von der zeitgenössischen Kunst, sich nicht an ökonomischen Kriterien messen zu lassen; lässt dabei aber offen, ob Künstler/innen sich strategisch auf den ökonomischen Diskurs einlassen sollten, um für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Kritisch gegen Kunsts Thesen lässt sich einwenden, dass sie mit dem Ausdruck ›artist‹ letztlich immer nur internationale Performancekünstlerinnen und -künstler und deren Arbeitsbedingungen meint. Insofern reflektiert sie nicht, dass die Produktion für den internationalen Kunstmarkt bzw. in Abhängigkeit von den großen Museen nur eine von vielen künstlerischen Existenz- und Arbeitsweisen ist.
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Ebd. Ebd. Ebd., S. 44. Ebd. Bojana Kunst: Artist at Work. Proximity of Art and Capitalism. Winchester 2015, S. 8. Ebd. Ebd., S. 176.
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Eine Theaterkulturen vergleichende Perspektive fehlt in Artist at Work gänzlich. An keiner Stelle geht Kunst auf die spezifischen, im Vergleich zur Freien Szene sichereren Beschäftigungsbedingungen von in Stadt- und Staatstheatern tätigen Künstlern ein. Trotzdem beansprucht sie mit ihren Thesen Allgemeingültigkeit, wenn sie behauptet, über den Künstler und Kunst im Kapitalismus generell zu sprechen. Die Anlage und Ausgestaltung ihrer Arbeit ist daher als Symptom einer Theaterwissenschaft zu lesen, die das Stadt- und Staatstheater trotz seiner immensen materiellen Stärke und Reichweite als Forschungsgegenstand nur marginal wahrnimmt. Dies zeigt auch ein weiterer Aufsatz von Kunst, den sie unter dem Titel The Institution between Precarization and Participation40 publiziert hat. Obwohl hier die Institution im Titel genannt wird, bezieht sie sich ohne einen weiteren Kommentar oder eine abgrenzende Begründung ausschließlich auf Produktionshäuser ohne feste Ensembles und mit deutlich kleineren Budgets als die Stadttheater, also auf Häuser wie das HAU in Berlin, Kampnagel in Hamburg oder den Mousonturm in Frankfurt. Teile der Ergebnisse aus diesem Aufsatz sind jedoch auch auf das Stadttheater anwendbar und sollten hier deshalb kurz wiedergegeben werden: Kunst diagnostiziert, dass die institutionalisierte Theaterarbeit seit den 1990er-Jahren von zwei sich bedingenden Phänomenen maßgeblich bestimmt sei, nämlich von der zunehmenden Prekarisierung der Gesellschaft41 und der Häufung von partizipativer Kunst: Ihre These ist, dass sich das Publikum in partizipativer Kunst als eine Gemeinschaft erfahre, in der man zusammen sein könne, ohne die Risiken von ›echter‹ Gemeinschaft (er-)tragen zu müssen. Kunst deutet das gestiegene Interesse an partizipativer Kunst somit als Reaktion auf den sich nach 1989 verstetigenden Prekaritätsdiskurs, der sich in einer omnipräsenten ökonomischen Verunsicherung und Destabilisierung der Gesellschaft (durch einen permanenten Krisendiskurs) niederschlägt. Die Autorin deutet diese Form von Prekarisierung als eine ideologische Formation, die neoliberale politische Programme leichter durchsetzbar mache. Partizipatorische Kunst, wie sie heute fast jedes Stadt- und Staatstheater fördere und produziere, zeige demnach die paradoxe Struktur biopolitischer Subjektivierung auf: Das Subjekt will sich schützen vor allen potenziellen Bedrohungen, blendet jedoch aus, dass der Andere, von dem die Unsicherheiten und Gefahren 40 41
Bojana Kunst: The Institution between Precarization and Participation. In: Performance Research 20 (2015) 4, S. 7-14. Kunst legt den Begriff der Prekarisierung im Anschluss an Isabelle Lorey in dreifacher Hinsicht aus. Sie unterscheidet erstens eine sozial-ontologische Bedeutung des Begriffs (precariousness) (Leben ist immer prekär, ohne andere Menschen können wir nicht überleben), von zweitens einer politisch-machttheoretischen Perspektive (precarity) (Machtasymmetrien entlang der Konfliktlinien class, gender, ethnicity, nationality produzieren Unsicherheit) und drittens von der governmentalen Bedeutung (precaristaion), gemeint ist hier der Modus biopolitischer Subjektivierung und neoliberaler Regierung. Vgl. Kunst: The Institution between Precarization and Participation, S. 7f.
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ausgehen, gleichzeitig ontologisch konstitutiv ist für das eigene Sein. Kunstinstitutionen sind nach Kunst besonders prädestiniert für die Reproduktion dieser Logik, weil sie unmittelbar der »governmental precarization«42 ausgesetzt seien. Im Zuge der Normalisierung des Prekaritätsdiskurses ist die Institution selbst Modell für unsichere Arbeitsbedingungen geworden. Kunst fordert daher von den Institutionen: Disobedience in this perfection, where vulnerability is not exposed to be protected, but where in vulnerability we are actually not alone: No clouds of experience, but institutions that intervene with their material strength, being able to be changed and influenced by what they create, organize and put into practice.43 Die bis hierhin geleisteten Ausführungen sollten gezeigt haben, dass Theater als institutionalisierte Kunstform aufs Engste mit der sie rahmenden Gesellschaftsordnung verbunden ist, dass die künstlerischen Arbeitsweisen durch gesellschaftliche Wirklichkeiten bestimmt sind und in diesem Sinne als ideologisch betrachtet werden können. Die Stadt- und Staatstheater können in dieser Hinsicht mit Althusser sogar als »Ideologische Staatsapparate«44 begriffen werden, insofern in ihnen Ideologie in Form von »Praxen […] und Rituale[n]«45 erscheint. Gleichwohl übergehen die bisher referierten Ansätze systematisch die spezifische Geschichte und die Produktionsbedingungen des DDR-Theaters – und das, obwohl nach der Wiedervereinigung ein Drittel der gesamtdeutschen Stadt- und Staatstheater auf dem Terrain der vormaligen DDR standen und somit eine Vielzahl der nach 1989 tätigen Theaterschaffenden eine vom Westen unterschiedliche künstlerische Sozialisation erfahren hatte.
2.2
Stadttheater in der DDR: Produktionsbedingungen und Feldlogiken
Im Folgenden wird der Forschungsstand zum Stadt- und Staatstheater in der DDR referiert. Hierzu sollen zunächst Forschungsansätze vorgestellt werden, die über Institutionengeschichtliches hinausgehend die unterschiedlichen Logiken der Theaterfelder in DDR und BRD vergleichen. Mit einem Blick auf die Literatur zu den konkreten Produktionsbedingungen des DDR-Stadt- und Staatstheaters wird der Forschungsüberblick abgeschlossen.
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Ebd., S. 13. Ebd. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Teil 1. Hamburg 2010. Stuart Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation. Hamburg 2004.
2. Arbeitswelt (Stadt-)Theater und die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Theatersystem
2.2.1
Die Logiken der Theaterfelder in BRD und DDR
Um die Differenzen, die zwischen den beiden Theaterlandschaften in der BRD und der DDR herrschten, über Einzelbeobachtungen hinaus beschreibbar zu machen, bieten sich Ansätze an, die mit Pierre Bourdieus Feldtheorie arbeiten. Im Folgenden werden zwei dieser Ansätze vorgestellt. Zunächst sei hier auf Tanja Bogusz’ Dissertation Institution und Utopie. Ost-WestTransformationen an der Berliner Volksbühne46 verwiesen. Aufbauend auf der Feldtheorie von Bourdieu, hat Bogusz eine Heuristik entworfen, mittels derer sie zunächst die beiden Kunstfelder in Ost und West voneinander abgrenzt, um dann genauer die Spezifik des jeweiligen theatralen Felds in den Blick zu nehmen.47 Nach Bogusz ist die Kunst in der Bundesrepublik auf einem (informellen, schwach institutionalisierten) Kunstmarkt organisiert, auf dem ästhetische Polyvalenz und Innovation als Hauptkriterien für Qualität gelten. Daraus ergebe sich, so Bogusz weiter, ein Professionsethos, das sich aus dem L’art-pour-l’art-Gedanken speise und die Position des Künstlers als eine absolut autonome imaginiere, dessen Praxisorientierung, mit Bourdieu der Nomos, auf permanenter symbolischer Revolution, Distinktion, strategischer Kooperation und Abweichung beruhe.48 Demgegenüber ist Kunst in der DDR immer als staatliche Auftragskunst definiert gewesen, innerhalb derer die Künstler stark institutionell eingebunden und gefördert wurden. Maßstab für künstlerische Qualität (aus Sicht des Ministeriums für Kultur bzw. der SED) ist hier der sozialistische Realismus; nicht jedoch als fixe, abgeschlossene ästhetische Kategorie gedacht, sondern als partiell wandelbare. Die Position der Künstler im sozialistischen Gesellschaftsrahmen ist immer eine teil-autonome, die sowohl die monetäre als auch ideelle Wertschätzung und Abhängigkeit der Künstler als (und durch) die Elite ausdrückt, auf deren Auflösung zugunsten einer »Popularisierung die staatssozialistische Kulturvorstellung letztlich zielte«.49 So spricht Bogusz auch davon, dass im sozialistischen Kulturrahmen »die Avantgarde selbst zum Nomos deklariert wurde«, im Sinne einer »Veralltäglichung des Utopischen«; eine Avantgarde mithin, die »grundsätzlich politischer als ihre französischen Vorbilder«50 zu sein hatte. Künstlerische Strategien, die Kritik ermöglichen, sind hier Affirmation, Aushandlung, Abweichung, der Zusammenschluss zu Arbeitskollektiven und gute Beziehungen zu Entscheidungsträgern. 46 47
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Ebd. Ohne auf ihn zu verweisen, aktualisiert Bogusz mit ihrem Ansatz grundsätzliche Einsichten in die differenten Feldlogiken, die sich schon in Peter Weiss’ programmatischen 10 Arbeitspunkten eines Autors in der geteilten Welt findet. Peter Weiss: Rapporte. Frankfurt a.M. 1980, S. 14-23. Bogusz: Institution und Utopie, S. 117. Ebd., S. 68. Ebd., S. 117.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Während – im Bourdieu’schen Sinne – dem Westkünstler somit das symbolische Kapital die wichtigste Kapitalsorte ist, ist es für den Ostkünstler sein soziales Kapital. In Anwendung auf das staatlich subventionierte Theater in beiden deutschen Staaten zeigt sich, dass das Theater im Sozialismus keinen grundsätzlich anderen Feldregeln unterliegt als die anderen Künste: Nomos des Feldes ist der politische Auftrag der Kunst. Für die Bundesrepublik gilt hingegen, dass das öffentliche Theater, im Gegensatz zur bildenden Kunst oder dem Buchmarkt, auch nur ein teilautonomes, da nicht vermarktbares Feld ist; zwar ist permanente symbolische Revolution auch Nomos des theatralen Feldes, doch die Entscheidungsträger in westdeutschen Theatern sind stark eingebunden in (Abhängigkeits-)Netzwerke mit der kommunalen Kulturpolitik und der Bewertung durch (über-)regionale Theaterkritiken und das Publikum. Neben die ästhetischen Kriterien treten so vielfältige weitere Praxisorientierungen wie die Auslastung, der Bildungsauftrag, das Profil und das Selbstverständnis einer Stadt oder eben auch Kritikererfolge. Das bundesrepublikanische Theater hat also anders als das DDR-Theater keinen einheitlichen sozialen Auftrag, befindet sich jedoch in seinen Praktiken immer in einem (nicht immer transparenten) vieldeutigen Aushandlungsprozess mit seinen Umfeldern.51 Skadi Jennicke, die sich in ihrer Dissertation Theater als soziale Praxis. Ostdeutsches Theater nach dem Systemumbruch52 auch auf Bourdieu und Bogusz stützt, ignoriert diese Differenz zwischen den Künsten im Westen und unterstellt dem westdeutschen Theater ungebrochen ästhetische Innovation als Nomos. Betrachtet man zudem die Vielzahl an Bühnen in mittleren und kleineren Städten im Westen, deren Hauptaugenmerk nicht auf ästhetischer Innovation liegt, zeigt sich, das Jennickes Abgrenzung eine grundlegende Skepsis gegenüber allen postdramatischen (in ihrer Logik ›westlichen‹) Ästhetiken eingeschrieben ist. Ein von Bogusz und Jennicke in ihren Ansätzen zu wenig beachtetes Differenzkriterium zwischen den beiden Feldern ist die Institutionskritik. Formal war innerbetriebliche Demokratie (die keine grundlegende Kritik äußerte) in den DDRTheaterhäusern stärker verankert als im Westen. 1967 gab es die ersten Mitbestimmungsexperimente innerhalb des offiziellen DDR-Theaterbetriebs. Zentrale Figur im Kontext der DDR-Mitbestimmungsdebatte war der Schauspieler Horst Schönemann, der 1967 Intendant am Landestheater Halle wurde und schon in den Fünf-
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Bei Bogusz heißt es: »Die symbolische Macht liegt hingegen im Feld der Presse, der Theaterkritik. Die Verbindung zwischen Politik und Presse bestimmt die organisatorische Struktur des Theaterfeldes wesentlich.« Ebd., S. 138. Im Streit um die Besetzung der Intendanz des Deutschen Theaters durch Christoph Hein im Jahr 2004 manifestiert sich beispielsweise der Einfluss der großen überregionalen Feuilletons. Skadi Jennicke: Theater als soziale Praxis. Ostdeutsches Theater nach dem Systemumbruch. Berlin 2011.
2. Arbeitswelt (Stadt-)Theater und die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Theatersystem
zigerjahren als Regisseur und Oberspielleiter am Stadttheater Senftenberg erste Mitbestimmungsmodelle erprobt hatte.53 Dabei boten ihm die zumindest dem Papier nach zugesicherten Strukturen der Gewerkschaft Kunst den Anknüpfungspunkt, Mitbestimmung auch dort zu etablieren, wo die künstlerischen Entscheidungen fielen. Und so ermöglichte er den Schauspielerinnen und Schauspielern in Halle Einflussmöglichkeiten auf den »Spielplan, Inszenierungskonzeptionen einschließlich Besetzung, Entwicklung neuer Stücke [und die] Auswertung der Inszenierungen«.54 Auf breiter Basis konnten die Potenziale der in den DDR-Theatern angelegten Mitbestimmung und Mitsprache jedoch erst in der Wendezeit entfalten, als die Beschäftigten ihre Rechte nutzten, »um ungeliebte Leitungskader loszuwerden«55 oder sich wie im Fall des Deutschen Theaters (zwar auf informellem Weg) einen eigenen Intendanten, nämlich Thomas Langhoff, zu wählen. Im Westen wirkte sich die allgemeine Politisierung der Gesellschaft im Zuge von 1968 dezidiert auf die Arbeitsstrukturen der Theater aus. Die Proteste gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 griffen auch die Theater in die politische Debatte über, was bei den Theaterschaffenden zu einer vermehrten Auseinandersetzung mit der eigenen Institution führte.56 Das Manifest der beiden Schauspieler/innen Barbara Sichtermann und Jens Johler über den Geist des deutschen Theaters, das noch im selben Jahr erschien, machte die Stoßrichtung dieser Kritik klar. Man fragte sich, wie das Theater Diskussionspartner der Gesellschaft sein [könne], wenn die Diskussion innerhalb jener Gesellschaft, die das Theater selbst ist, nicht stattfindet?57 Die Debatte, die Sichtermann und Johler lostraten, bestimmte nachhaltig das institutionelle Gefüge der westdeutschen Theaterlandschaft, sowohl durch den Einfluss der neu gegründeten ›Mitbestimmungstheater‹ (wie der Schaubühne Berlin 53 54
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Christoph Funke, Peter Ullrich u. Horst Schönemann: Anregung oder Was ist heute revolutionär? Ein Theaterabend unter Leitung von Horst Schönemann. Berlin 1970. Peter Ullrich: Hallenser Anregungen zur Theaterdemokratie 1966-1972. In: Henning Rischbieter (Hg.): Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990. Berlin 1999, S. 158-162, hier: S. 159. Thomas Irmer: Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR. Ein kurzer Abriss mit längeren Interviews. Berlin 2003, S. 149. Vgl. zur Bedeutung der Verabschiedung der Notstandsgesetze für die Mitbestimmungsdebatte: Dorothea Kraus: Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt a.M. 2007, S. 134f. Barbara Sichtermann u.Jens Johler: Über den autoritären Geist des deutschen Theaters. In: Theater heute (1968) 4, S. 2-4, zitiert nach: Schößler: Einführung in die Dramenanalyse, S. 225. Sichtermann und Johler begründen den Mangel an Demokratie und Mitbestimmung zudem institutionsgeschichtlich, da das deutsche Theater als staatlich abhängiges Subventionstheater per se arbeitsteilige Hierarchien produziere. Vgl. zum Verlauf der Mitbestimmungsdebatte im Westen: Kraus: Theater-Proteste, S. 302-346.
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Das Deutsche Theater nach 1989
oder des Schauspiels Frankfurt) als auch durch das Entstehen einer vielfältigen OffTheater-Szene. Das Infragestellen des »Das macht man halt so«58 war im Westen also konstitutiv für die Politisierung des Theaters in den 1960er- und 1970er-Jahren, die sowohl neue Ästhetiken als auch Arbeitsweisen hervorbrachte. Institutionskritik im Osten war hingegen nur formal möglich und entfaltete sich erst in Gänze im Zuge der Politisierung der DDR-Theater in der Wendezeit.
2.2.2
Spezifische Produktionsbedingungen des DDR-Theaters
Auch wenn im Folgenden die Besonderheiten des DDR-Theatersystems herausgestellt werden sollen, muss zunächst auf die hohe Kongruenz zwischen DDR- und BRD-Theatersystem insbesondere hinsichtlich der Probenabläufe59 und der hierarchischen Strukturen60 hingewiesen werden. Die Stadt- und Staatstheater in Ost wie West verstanden sich nämlich als organisatorische Knotenpunkte für die langfristige projektförmige Planung von Kunstereignissen. Theaterbetrieb hieß in beiden deutschen Teilen: Ein Stück wird ausgewählt, geprobt, kommt heraus, es wird gespielt, evtl. in der nächsten Saison noch einmal wieder aufgenommen und dann (als Projekt) abgeschlossen. Auf der einen Seite ergibt das Nebeneinander unterschiedlicher Projekte in unterschiedlichen Entwicklungsstadien ein heterogenes Zeitgefüge; auf der anderen Seite bedarf diese Form der Projektarbeit eines extremen Maßes an Synchronisierung und Vorausplanung (1-2 Jahre).61
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Diese Formulierung wählt Heiner Goebbels als Formel für das, was er unter Institutionskritik versteht, nämlich das Infragestellen »[a]uch [der] Techniken, mit denen auf den Bühnen gesprochen und gesungen und getanzt wird, wie sie in Schauspielschulen und Tanz- und Opernklassen gelehrt werden« und den »letzten Endes ideologisch[en]« und »unhinterfragbare[n] Voraussetzung künstlerischer Arbeit«. Heiner Goebbels: Zeitgenössische darstellende Kunst als Institutionskritik. Über das Verhältnis zum Zuschauer, zu den Arbeits- und Produktionsverhältnissen. In: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der darstellenden Künste. (Theater, Bd. 61). Bielefeld 2013, S. 27-32, hier: S. 29. Gemeint ist hier der gängige Ablauf von der Bauprobe/Konzeptionsprobe über die Phase der Probe auf einer Probebühne bis zur Endprobenphase auf der Bühne. Die Endprobenphase unterteilt sich in eine ›Alles mit Allem‹-Probe, die Hauptproben und die Generalprobe. Diese Struktur variiert natürlich hinsichtlich der Frage, aus wie vielen Sparten ein Haus besteht. Im Ost- wie West-Schauspiel finden sich zum Beispiel die folgenden Positionen in einer meist festgefügten Hierarchie (als Auswahl): Intendant, Betriebsdirektor, Technische Leitung, Werkstättenleitung, eventuell ein Oberspielleiter, Chefdramaturgen, Dramaturgen, Regisseure, Assistenten. Haunschild: Das Beschäftigungssystem Theater – Bretter, die die neue Arbeitswelt bedeuten?, S. 6.
2. Arbeitswelt (Stadt-)Theater und die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Theatersystem
Der Essay Die Positionen des Theaters in der DDR von Ralph Hammerthaler versammelt einschlägig die Produktionslogiken und Debatten des DDR-Theatersystems: Hammerthaler zeigt deutlich, wie das Kunstsystem der DDR in seiner konkreten Ausgestaltung dem sozialistischen Zentralismus sowjetischer Provenienz entsprach, was bedeutet, dass sich [i]n der zentralistischen Struktur der DDR […] die Bühnen nach dem Ministerium für Kultur einerseits und der Parteiführung der SED andererseits zu richten [hatten]. Letztere war die eigentlich ausschlaggebende Instanz, da das gesamte Staatssystem auf ihrer führenden Rolle aufbaute.62 Wiederholt beschäftigten sich die höchsten Gremien der Partei mit einzelnen Theaterarbeiten, »als stehe die Existenz des Staates auf dem Spiel«63 ; hierin spiegelt sich die DDR-spezifische Dialektik von politischer Wert- und Überschätzung des Theaters wider. Staat und Kunst standen gerade nicht in einem festen, starren Gefüge zueinander, sondern es herrschte, darauf verweis Darnton, ein dynamisches Verhältnis zwischen einer »formale[n] Struktur, in der die Planung an oberster Stelle stand, und ein[em] menschliche[n] Netz, in dem Menschen die Regeln umbogen«.64 Personell fest verankert (und nur partiell dissimuliert) war jedoch die Überwachung der Theaterarbeit durch Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit.65 Weiter wurde die Theaterarbeit staatlich reguliert durch das Monopol für den Vertrieb von Theatertexten, das beim Henschel Verlag lag. Zudem gründete sich 1966 der Verband der Theaterschaffenden als Selbstverwaltungsorganisation,66 diese konnte jedoch kaum ernsthafte ›Lobbyarbeit‹ für die Theaterkünstler gegenüber den staatlichen Stellen vollziehen.67 Ein besonderes Charakteristikum des DDR-Theaters, auf das Hammerthaler verweist, war die hohe personelle Kontinuität an den Theatern, die sich durch den
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Ralph Hammerthaler: Die Positionen des Theaters in der DDR. In: Christa Hasche [u.a.] (Hg.): Theater in der DDR. Chronik und Positionen. Berlin 1994, S. 153-261, hier: S. 153. Ebd., S. 245. Robert Darnton: Aus der Sicht des Zensors. Von der Überwachung der Literatur. In: Lettre International 3 (1990) 3, S. 9, hier: S. 9. Barrie Baker: Theatre censorship in Honecker’s Germany. From Volker Braun to Samuel Beckett. Oxford, New York 2007; Laura Bradley: Cooperation and Conflict: GDR Theatre Censorship, 1961-1989. Oxford 2011. Tanja Bogusz: Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne. Bielefeld 2007, S. 130. In der Gewerkschaft Kunst der DDR, die zu den Gewerkschaften des FDGB gehörte, waren Künstler- und Kulturschaffende der DDR organisiert. Wie alle Gewerkschaften der DDR war auch die Gewerkschaft Kunst nach dem Grundsatz »Ein Betrieb – eine Gewerkschaft« aufgebaut, weshalb der Rahmentarifvertrag dann für alle Theaterbeschäftigten galt.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Rahmenkollektivvertrag ergab, der 1972 in Kraft trat und bis auf wenige Sonderregelungen für alle am Theater Beschäftigten galt. Im Westen finden sich meist mehrere Tarifverträge für ein Haus – je nachdem, wie viele Sparten das Haus hat, gibt es unterschiedliche Tarifverträge für Orchester, Sänger, Verwaltung, Technik und Schauspieler.68 War man hingegen in der DDR länger als ein Jahr engagiert, war man auch als Künstler unbefristet beschäftigt. Die Aufhebung der Befristung der künstlerischen Verträge wurde innerhalb der Theaterwelt nicht nur positiv gesehen, gerade im Theaterverband mehrten sich kritische Stimmen, die die künstlerische Qualität bedroht sahen.69 Auch wenn die Fülle an unbefristeten Verträgen im DDR-Theater häufig eine Überalterung der Ensembles70 mit sich brachte und teils künstlerische Prozesse lähmte, soll hier festgehalten werden, dass die großzügige Subventionierung des Theaterbetriebs (gerade als Ausdruck der Wertschätzung der Künstler) das Bild eines Kultur-, Theater- und Leselandes verfestigen bzw. erzeugen sollte. So zeichnete sich die Theaterarbeit in der DDR tatsächlich durch eine großzügigere Zeitökonomie71 als im Westen aus, die auch deutlich längere Probenund Vorbereitungszeiten vorsah. Auch waren in den Arbeitszusammenhängen der Häuser bestimmte Sozialräume integriert, die eine Verschränkung von Arbeit und Leben erleichtern sollten: So gab es an den meisten Theatern eine betriebseigene Sauna oder den Frauenraum.72
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Vgl. zum Tarifsystem der DDR-Theater: Rahmenkollektivvertrag über die Arbeits- und Lohnbedingungen in den Theatern, Puppentheatern, Varietes, Kabaretts, Orchestern, staatlichen Ensembles, Stadthallen und Kulturpalästen der DDR. Berlin 1972. Vgl. Knut Lennartz (Hg.): Die deutsch-deutschen Theaterbeziehungen. Fragen und Probleme in der Zusammenarbeit der Theater der DDR und der Bundesrepublik Deutschland: 6 Podiumsgespräche. Köln 1990, S. 29. Gerade für das Deutsche Theater ist das ein stark auf die Produktionsbedingungen zurückwirkender Umstand. In den Interviews wird vielfach betont, dass man, einmal am Deutschen Theater angekommen, nicht mehr dort weg wollte, weil das Haus die »Spitze der Pyramide« war. So umfasst das Ensemble vor der Wende fast 80 Schauspieler, deren Altersstruktur einen Schwerpunkt oberhalb von 40 Jahren hatte. Wollte man neue Schauspieler engagieren, musste das Ensemble vergrößert werden. Bogusz: Institution und Utopie, S. 67. Vgl. Interview mit Peter Schmeißer.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater in der ersten Hälfte der 1990er Jahre: Kurzfristige Erfolge durch die Verweigerung des Resilienz-Imperativs
3.1
Hamlet/Maschine als Bild für die Stasis des Deutschen Theaters in der ersten Hälfte der 1990er Jahre
Das folgende Kapitel widmet sich Heiner Müllers Regiearbeit Hamlet/Maschine (Premiere: 24. März 1990), einer achtstündigen Doppelinszenierung von Wilhelm Shakespeares Hamlet 1 zusammen mit Müllers Die Hamletmaschine (1977). Geprobt wurde Hamlet/Maschine vom 29. August 1989 bis zur Premiere am 24. März 1990, was bis auf wenige Tage exakt der Zeitraum war, der zwischen der ersten Montagsdemonstration in Leipzig am 4. September 1989 und der freien, die Wiedervereinigung vorbereitenden Volkskammer-Wahl am 18. März 1990 lag. Für die vorliegende Arbeit ist die Inszenierung in mehrerlei Hinsicht ein spannender Untersuchungsgegenstand: Hamlet/Maschine ist durch die historische Koinzidenz Wendetheater in Reinform, denn das Projekt wurde zwar noch unter DDR-Bedingungen geplant und begonnen, die Premiere fand jedoch im Frühjahr 1990 zu dem Zeitpunkt statt, als die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten schon besiegelt war. Der gesamte Probenprozess war so einem permanenten gesellschaftlichen Wandel ausgesetzt und die Frage, für welchen Staat und
1
Müller inszeniert in Hamlet/Maschine seine eigene Hamlet-Übersetzung aus dem Jahr 1977. Diese hatte er gemeinsam mit Matthias Langhoff für eine Hamlet-Inszenierung von Benno Besson an der Berliner Volksbühne im Jahr 1977 erstellt. Müller und Langhoff verzichten in ihrer Übersetzung auf die Akt- und Szeneneinteilung von Shakespeare und teilen den Plot in zwanzig Szenen ein. Zur Orientierung für den Leser werden die Akt und Szenenangaben aus der Schlegel-Übersetzung angegeben. Vgl. William Shakespeare: Hamlet. Aus dem Englischen von Heiner Müller. Mitarbeit: Matthias Langhoff. Berlin 2005. Unverkäufliches Manuskript des Henschel Schauspiel Theaterverlags; William Shakespeare: Hamlet. Aus dem Englischen von August Wilhelm Schlegel. Revidiert und kommentiert von Jürgen Krätzer (Suhrkamp BasisBibliothek, Bd. 132). Berlin 2015.
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Das Deutsche Theater nach 1989
für welches Publikum man produziert, war permanent prekär. Müller wiederum reagierte auf den Wandel mit widerständiger Verweigerung und einer Inszenierung, die wie eine Art Benjamin’sche (Revolutions-)Notbremse2 funktioniert: Dem Tempo des politischen Umbruchs außerhalb des Theaters und dem Aktivismus der (reformsozialistisch engagierten) Schauspieler/innen entgegnet Müllers Abend mit radikaler Stasis. Der Euphorie der Wendezeit wird in Hamlet/Maschine durch die inszenatorische Gleichsetzung von Stalin und der Deutschen Bank eine klare (geschichtsphilosophische) Absage erteilt. Die Statik und das MonumentalFatalistische der Inszenierung sowie Müllers mediale Selbstinszenierung als prophetischer Wendeskeptiker (in den die Inszenierung flankierenden Interviews) lassen sich, so die Grundannahme des folgenden Kapitels, als Bilder bzw. Metaphern für die Organisationskultur des Theaters in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre lesen; jener Zeit, in der das Theater stark auf seiner ostdeutschen Tradition beharrt und auch Eingriffe in seine organisatorische Struktur weitestgehend abwehrt. Ich gehe hier von einem Wechselverhältnis zwischen Müllers Ästhetik und der sie hervorbringenden Organisation aus: Einerseits hat sich Müllers Inszenierung ins kollektive Gedächtnis des Deutschen Theaters eingeschrieben und das Haus geprägt, andererseits ist die Inszenierung aber auch das Ergebnis der Mentalität des Deutschen Theaters. Wie sehr das Deutschen Theater von Stasis und einem selbstbewussten Beharren auf der eigenen künstlerischen Herkunft geprägt war, zeigt sich beispielsweise am nur wenige Monate nach der Premiere von Hamlet/Maschine lancierten, internen Positionspapier des künstlerischen Betriebsdirektors Peter Hahn. Hahn legte eine zehnseitige Betriebsanalyse vor, die der Leitung schwerwiegende Versäumnisse bei der Anpassung an die neuen gesellschaftlichen Bedingungen vorwirft. Er deutet die sich abzeichnende Haltung der Leitung, DDR-Strukturen bewahren zu wollen, als fahrlässige Verweigerung und führt den ausbleibenden Wandel darauf zurück, dass »die politische Vergangenheit die Leitungsmitglieder voneinander abhängig macht und unmittelbaren Einfluss auf ihren Führungsstil und die Erneuerungsfähigkeit des Theaters hat«3 . Dieter Mann, 1990 noch Intendant des Hauses, kündigt Hahns Vertrag bereits nach fünf Monaten fristlos, der »ruppige Ton«4 und der Inhalt des Papiers wurden inoffiziell als Gründe dafür gehandelt. Der nur wenige Monate nach dem Mauerfall stattfindende Streit um Hahns Papier
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In den Notizen und Vorarbeiten zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte schreibt Benjamin: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Abhandlungen. Bd. 3. Dritter Teil. Frankfurt a.M. 1974, S. 1232. Stefan Matzig: Ein deutsches Theater. In: TAZ vom 5.12.1990. [www.taz.de/!1741815/(28.3.19)]. Ebd.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
ist paradigmatisch für eine Vielzahl von Konflikten, die sich durch die Zusammenführung der beiden deutschen Kunst- bzw. Theaterfelder ergeben: Zu nennen ist hier zum Beispiel der Nomoskonflikt um die Frage, wie weit ökonomische Überlegungen die Theaterarbeit tangieren dürfen bzw. müssen, aber auch die Kämpfe um die Deutungshoheit auf dem neuen gesamtdeutschen Theaterfeld, die sich vielfach an der moralischen Abwertung der ostdeutschen Künstler/innen entzünden werden – was ich noch am Beispiel des deutsch-deutschen Literaturstreits genauer ausführen werde. Wichtig für meine These, dass Hamlet/Maschine eines der zentralen Bilder des Deutschen Theaters nach 1989 ist, ist die Erkenntnis, dass sich die organisatorische Stasis des Deutschen Theaters, also der Zeitraum ohne größere organisatorische Veränderung, von den letzten beiden Spielzeiten unter der Leitung von Dieter Mann (1989/90 und 1990/91) über die gesamte Intendanz von Thomas Langhoff (1991-2001) erstreckt; erst 2001 übernimmt Bernd Wilms und sorgt, wie ich es in der dritten Fallstudie zeigen werde, für nachhaltige Veränderungen und eine Zuspitzung des Ost-West-Kampfs um das Haus. Lediglich die Gründung der Baracke (1996/97), die ich als zweites Fallbeispiel besprechen werde, bildet hier eine Ausnahme: An der in den Jahren 1996-1999 existierenden Nebenspielstätte wird der Ost-West-Kulturkampf, der im Haupthaus ausgetragen wird, intermittiert, und Formen der marketingorientierten Theaterfinanzierung (Sponsoring und Mäzene) werden ausgetestet. Empirisch belegen lässt sich die von mir behauptete organisatorische Stasis des Deutschen Theaters mit der hohen Konstanz der Ensemblestruktur. Dass die Neunzigerjahre am Haus von einer aus Perspektive der westdeutschen Theater ungewöhnlich hohen personellen Konstanz geprägt waren, zeigt die Entwicklung der Beschäftigungszahlen: Die Grafiken zeigen, dass Langhoff das gesamte Personal in seiner ersten Spielzeit (1991/92) von 425 zunächst auf 371 Mitarbeiter/innen reduzierte und den Wert bis zu seiner vorletzten Spielzeit (1999/2000) auf diesem Niveau halten kann. Der gleiche Trend zeigt sich auch, wenn man sich die Entwicklung im Schauspielensemble anschaut: Bis zur Spielzeit 1998/99 verkleinert sich das Ensemble nur um zehn Personen, von 76 Festengagierten in der Spielzeit 1990/91 auf 66 in der Spielzeit 1998/99. Die drastischeren Einschnitte vollzogen sich alle erst mit der Jahrtausendwende: In der Übergangsspielzeit zu Wilms verzeichnet das gesamte Theater
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Die Daten stammen aus den jährlich vom Bundesverband Deutscher Bühnenverein publizierten Theaterstatistiken. Vgl. Bundesverband Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik. Köln, hier die Hefte 26 (1990/91) – 40 (2007/08) u. 52 (2016/17). Die Daten stammen aus den jährlich vom Bundesverband Deutscher Bühnenverein publizierten Theaterstatistiken. Vgl. Bundesverband Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik. Köln, hier die Hefte 26 (1990/91) – 40 (2007/08) u. 52 (2016/17).
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Das Deutsche Theater nach 1989
Abbildung 2: Entwicklung der Beschäftigungszahlen für das gesamte Theater nach 1989
Quelle: Eigene Darstellung5
Abbildung 3: Entwicklung der Beschäftigungszahlen (Schauspieler/innen) nach 1989
Quelle: Eigene Darstellung6
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
nur noch 322 Mitarbeiter/innen und 49 Schauspieler/innen. Die Abgänge lassen sich zum Teil mit der Altersstruktur erklären. Viele Schauspieler/innen gingen um die Jahrtausendwende in Rente und ihre Stellen wurden nicht neu besetzt,7 weil der Senat im Laufe der 1990er Jahre den Druck erhöhte, die Finanzen zu konsolidieren – am Ende seiner Intendanz beliefen sich die Schulden des Deutschen Theaters auf 4,7 Millionen Mark.8 Mit seiner letzten Spielzeit bereitet Langhoff also schon die Personaleinschnitte vor, die Wilms, so werde ich es im dritten Kapitel diskutieren, für seinen Konsolidierungskurs dringend benötigt. Wilms wird das Schauspielensemble auf 40 Personen verkleinern und in seiner ›schlanksten‹ Spielzeit das Haus mit nur noch 271 Mitarbeiter/innen führen; das sind 154 Personen weniger als in der letzten DDR-Spielzeit. Es zeigt sich also deutlich, dass die personelle (Über-)Ausstattung9 typisch war für die DDR-Theater: Das Theater in der DDR war – vergleichsweise – noch reicher als das der Bundesrepublik. Die Verwaltungen und Dramaturgien waren und sind luxuriös überbesetzt. Großprojekte wie […] Heiner Müllers ›Hamlet/Maschine‹ […] wurden über Jahre hin vorbereitet und dann monatelang, mitunter mehr als ein Jahr probiert. […] Möglich war das nur, weil der SED-Staat, wie in anderen Bereichen, jenseits aller ökonomischen Erwägungen subventionierte.10 Betrachtet man zusätzlich noch die Fluktuation der Schauspieler/innen und fragt, wie viel Prozent derjenigen, die in einer Spielzeit engagiert waren, auch drei Jahre zuvor schon am Haus unter Vertrag waren, zeigen sich tiefgreifende Unterschiede zwischen vor und nach 1989, wie die Zusammenstellung der von Adeline Monzier11 ermittelten Werte auf der nächsten Seite zeigt. 1987/88 waren 95,8 Prozent der Schauspieler/innen auch schon drei Jahre zuvor im Ensemble, 2002 sind es nur noch 50 Prozent. Langhoff hält die Quote zwischen 88 Prozent und 75 Prozent auf hohem Niveau. Dies erklärt sich dadurch, dass, anders als im Westen, wo der Normalvertrag Bühne bzw. der Normalvertrag Solo es
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Vgl. dazu das Interview mit Bernd Stempel, Schauspieler am Deutschen Theater von 1989 bis heute, vom 5.6. 2015. Vgl. Günter Götz: Miese Inszenierung der Politik. Radunski feuert Langhoff. In: Neues Deutschland vom 21.01.1999. [https://www.neues-deutschland.de/artikel/747591.miese-insze nierung-der-politik.html (14.12.2018)]. 1985 waren am Deutschen Theater 77 Schauspielerinnen und Schauspieler, 5 ständige Regisseure, zwei Gastregisseure und eine erstaunlich große Anzahl von Dramaturg/innen, nämlich 9, fest engagiert. Vgl. Monzier: Das Deutsche Theater zwischen 1984 und 2002, S. 17. Michael Merschmeier: Pleite und Geier. Geld und Gagen im Theater der ehemaligen DDR. In: Theater heute 32 (1991) 2, S. 1-4, hier: S. 3. Adeline Monzier: Das Deutsche Theater zwischen 1984 und 2002. (Magisterarbeit) 2003, S. 49.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Spielzeit
Prozentsatz der Schauspieler/innen, die drei Jahre zuvor schon im Ensemble waren
1987/88
95,8
1990/91
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1993/94
87,5
1996/97
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2000/01
75
2002/03
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zulässt, dass Schauspielerverträge immer befristet sind, das lebenslange Engagement (wie in der Einleitung beschrieben) im Osten seit 1972 durch den Rahmenkollektivvertrag der arbeitsrechtliche Regelfall war. Hieraus erklärt sich auch das hohe Durchschnittsalter vieler DDR-Ensembles, was gerade in den 1980er Jahren auch innerhalb der DDR als Problem diskutiert wurde.12 Die Wahrnehmung und Bewertung dieser hohen personellen Konstanz divergiert stark zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen: Während der Senat (mit den gleichen Argumenten wie sie schon in Hahns Positionspapier zu finden waren) möglichst eine Reduzierung der durch die jährliche Tarifanpassung besonders kostenintensiven Beschäftigungszahlen forderte, wird die Ensemble-Politik von Mann und Langhoff von den Mitarbeitern als eine solidarische Errungenschaft der DDR wertgeschätzt; das gilt auch für die Leitungsmitglieder – so zeigt es beispielsweise mein Interview mit der kaufmännischen Leiterin Rosi Schauer.13 De facto zahlte sich der solidarische Zusammenhalt des Ensembles nach 1989 besonders für Schauspielerinnen über 40 – einer vom westdeutschen Theatersystem stark benachteiligten und prekarisierten Gruppe – aus. Aus dieser Perspektive erklärt es sich auch, warum die Kritik an den unbefristeten Verträgen, die es ja gerade in der letzten Dekade der DDR auch gab, mit 1989 von ostdeutscher Seite kaum mehr vorgebracht wird: Die Entscheidungsträger am Deutschen Theater ziehen die Bewahrung des Ensembles den neuen Möglichkeiten, auf flexiblere Verträge umzustellen, vor. Hinzu kommt auch, dass man durch das westdeutsche Starsystem unter Druck gerät, weil besonders renommierte und bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler auf eigenen Wunsch hin das Haus verlassen, da die großen West-Häuser
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Vgl. zur Diskussion der Unterschiede zwischen dem Rahmenkollektivvertrag der DDR und dem westdeutschen Theatervertragssystem: Knut Lennartz (Hg.): Die deutsch-deutschen Theaterbeziehungen. Fragen und Probleme in der Zusammenarbeit der Theater der DDR und der Bundesrepublik Deutschland: 6 Podiumsgespräche. Köln 1990. Vgl. Interview mit Rosemarie Schauer, Kaufmännische Leitung bis 2000, 15.4.2015.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
mit meist dreifach höheren Gagen locken.14 Es wechseln in der Spielzeit 1990/91 unter anderem Ulrich Mühe, Michael Gwisdek, Katja Paryla, Dieter Montag und Christian Grashof an andere Theater.15 Grashof – heute Ehrenmitglied des Deutschen Theaters – wechselte jedoch schon zwei Spielzeiten später wieder zurück ans Deutsche Theater, da das Schillertheater, einer der größten Konkurrenten um die Rolle des tonangebenden Berliner Repertoire-Theaters, geschlossen wurde. Die Kultur des Festhaltens an der eigenen künstlerischen Prägung der ostdeutschen Künstler nach 1989 wird, so meine These, durch zwei sich gegenseitig verstärkende sozialpsychologische Phänomene gestützt: Einerseits dominierte im Ensemble des Deutschen Theaters das über Jahrzehnte gewachsene Selbstbewusstsein, als Staatstheater der DDR das renommierteste Theater des Landes zu sein; eine Haltung, die zuweilen in Arroganz kippen konnte.16 Zum anderen war man sich jedoch durch die politische Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung in der Wendezeit – schließlich hatte man die Alexanderplatz-Demonstration vom 4. November 1989 mitorganisiert – sicher, in der friedlichen Revolution ›auf der richtigen Seite‹ gestanden zu haben. Hierdurch war es den Ensemblemitgliedern möglich, sich ungebrochen positiv auf die Geschichte des Deutschen Theaters zu beziehen. In dieser Linie könnte man Hamlet/Maschine auch als eine Katharsis lesen, da die Inszenierung die kritisch-loyalen Macht-Verstrickungen der DDR-Künstler/innen thematisierte und sie so symbolisch von Schuld und Scham befreite. Hinzu kam außerdem, dass auch von Seiten der Kulturpolitik auf eine ostdeutsche Leitung am Haus Wert gelegt wurde bzw. dass die Tendenz zu Beständigkeit und Konstanz nach 1989 auch kulturpolitisch gewollt wurde. So hält der damalige parteilose, aber für die SPD nominierte Kultursenator Ulrich Roloff-Momin in seinem Buch Zuletzt: Kultur fest: Mit den Entscheidungen über die Intendanten sollte an den Ost-Bühnen die durch die Wende und Vereinigung eingetretene Phase der Verunsicherung ein Ende haben. Ich hatte mir die Maxime gestellt: Wo es nur ging, wollte ich unbelastete Intendanten aus der DDR mit ostdeutschen Theatererfahrungen etablieren. Beispiel Deutsches Theater. Der damalige Intendant, der Schauspieler Dieter Mann, der das Haus seit 1984 führte, sagte mir bei meinem ersten Besuch: »Wenn Sie einen neuen Intendanten haben, trete ich sofort zurück.« Mann vollbrachte in der
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Merschmeier berechnet in Theater heute für die unmittelbare Zeit nach der Wende ein »1:3«Verhältnis zwischen Ost- und West-Gagen. Merschmeier: Pleite und Geier. Geld und Gagen im Theater der ehemaligen DDR, S. 4. Matzig: Ein deutsches Theater. Im Spiegel vom 13.4.1998 nennt Langhoff das Ensemble eine Truppe »von einer unglaublichen, geheimnisvollen Arroganz, die jeder zu spüren kriegt.« Jürgen Leinemann: Eine geheimnisvolle Arroganz. [www.spiegel.de/spiegel/print/d-7862034.html (7.3.2019)].
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Das Deutsche Theater nach 1989
Zeit der Nachwende Großartiges. Er hielt das Ensemble zusammen und verhinderte ein Abrutschen der künstlerischen Qualität des Hauses. Wir waren uns beide einig, daß Thomas Langhoff, der damals ein lukratives Angebot aus Wien hatte, der geeignete Kandidat sei, eigentlich galt das in der gesamten Theaterszene der Stadt als Selbstverständlichkeit.17 Obwohl für die gesamte Zeit der Intendanz Langhoff gilt, dass – mit Ausnahme der Baracke – keine Konzepte entwickelt werden, wie in der neuen, pluralistischen Gesellschaft ein relevantes Theater gemacht werden kann, sind die ersten Jahre seiner Intendanz als durchaus erfolgreich zu bewerten.18 In der Spielzeit 1991/1992 wird das Deutsche Theater von Theater heute zum Theater des Jahres gewählt. Hauptsächlich wird hiermit noch die Leistung von Dieter Mann geehrt. 1993 erhält Thomas Langhoff den Preis des Internationalen Theaterinstituts. In der Begründung heißt es, Langhoff habe das Haus an einen »festen Platz in der Spitzenposition deutschsprachiger Bühnen geführt«, und er verkörpere »eine rar gewordene Qualität: Die Verbindung künstlerischer Meisterschaft mit integrierendem, ensemblestiftendem Wirken«. Auch wenn Hahn also bereits 1990 in seinem Papier vor einer organisatorischen und künstlerischen Krise am Deutschen Theater warnt, fällt die öffentliche Wahrnehmung des Zustands des Hauses in der ersten Hälfte der 1990er Jahre positiv aus. Die Abwehr von tiefgreifenden Veränderungen am Deutschen Theater führt also tatsächlich zunächst dazu, dass eine größere Krise verhindert werden kann. Die Zuschauerzahlen sind in Ordnung und die ästhetische Qualität wird öffentlich nicht weiter moniert – erst in der zweiten Hälfte der Neunziger manifestiert sich die Krise in einer kreativen Lähmung.19 Ab der Mitte der Neunzigerjahre erhöht sich der Druck auf die Leitung, den – »aus pädagogischen Gründen«20 erst 2013 vom Senat ausgeglichenen – Schuldenberg abzutragen. Die einzige Spielzeit mit auffallend schlechten Zuschauerzahlen ist die Spielzeit 2000/01, in der es im Vergleich mit der Vorsaison zu einem Einbruch der Besucherzahlen um fast 50.000 Zuschauer kommt. Ich kann den Einbruch nur damit erklären, dass dadurch, dass Wilms schon 1999 zum Nachfolger von Langhoff be-
17 18
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Ulrich Roloff-Momin u. Ingolf Kern: Zuletzt: Kultur. Berlin 1997, S. 45. Langhoff engagierte zu Beginn seiner Intendanz Frank Castorf und Heiner Müller als Hausregisseure. Hätten beide nicht ab 1992 eigene Intendanzen übernommen, hätte aus dem Zusammenspiel ihrer Regiesprachen sicherlich auch ein neues Konzept für Theater nach 1989 entstehen könne. Vgl. Götz: Miese Inszenierung der Politik. Radunski feuert Langhoff. Stefan Kirschner: Berlin baut beim Deutschen Theater Schulden ab. In: Berliner Morgenpost vom 28.3.2013. [www.morgenpost.de/kultur/berlin-kultur/article114836624/Berlinbaut-beim-Deutschen-Theater-Schulden-ab.html (1.12.16)].
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
stellt wurde, Langhoff für die Übergangsspielzeit kein ambitioniertes Programm mehr vorlegte.
Abbildung 4: Übersicht über die Entwicklung der Zuschauerzahlen (gerundet) seit 1990/91
Quelle: Eigene Darstellung21
Die Anpassungsprozesse am Deutschen Theater nach 1989 lassen sich also wie folgt zusammenfassen: Langhoffs Beharrungspolitik konnte Einsparungen und Entlassungen zwar um einige Jahre verzögern, jedoch nicht verhindern. Zwar konnte die Verweigerung des Resilienz-Imperativs zunächst kurzfristige Erfolge produzieren, doch wird auf lange Sicht dadurch nur der Handlungsbedarf verdeckt. In der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre gerät das Haus unter der Leitung von Thomas Langhoff daher massiv in eine finanzielle und auch künstlerische Krise. Nur die Gründung der Baracke unterbricht die Krise nochmals, doch kann der Erfolg von Ostermeiers kleiner Spielstätte, soviel sei hier schon vorweggenommen, nicht nachhaltig auf das Deutsche Theater zurückwirken. Das künstlerische Programm, das »machtgestützt« durch das Haupthaus und im Austausch mit den am Haus Beschäftigten entstand, migriert mit Thomas Ostermeier an die Berliner Schaubühne, als er zum Intendanten eben dieser Bühne berufen wurde.
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Die Daten stammen aus den jährlich vom Bundesverband Deutscher Bühnenverein publizierten Theaterstatistiken. Vgl. Bundesverband Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik. Köln, hier die Hefte 26 (1990/91) – 40 (2007/08) u. 52 (2016/17).
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Das Deutsche Theater nach 1989
Langhoffs (ostdeutsch markiertes) Führungskonzept büßt im Verlauf der 1990er stark an Legitimität ein. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sein westdeutscher Nachfolger, Bernd Wilms, der zuvor das Maxim-Gorki-Theater in die ›neue Zeit‹ geführt hatte, Langhoffs Posten übernimmt. Der Ansatz, durch Beharrung die ostdeutsche Identität des Deutschen Theaters bewahren zu können, kann somit als gescheitert gelten: Das Beharren auf alten Konzepten und Identitäten produziert den gegenteiligen Effekt, nämlich den Identitätsverlust. Die Organisationskultur des Deutschen Theaters in den Neunzigerjahren wurde bis hierhin so ausführlich beschrieben, um die Auswahl von Hamlet/Maschine als einem der zentralen Bilder der Institution zu plausibilisieren und die nun folgende Analyse des Theaterereignisses zu grundieren. Die dichte Beschreibung von Hamlet/Maschine ist, wie ich es in der Einleitung erarbeitet habe, entlang meines mehrstufigen Analysemodells aufgebaut; das bedeutet, dass im Folgenden der Weg der künstlerischen Ideen und Konzepte zu Hamlet/Maschine durch die Institution nachgezeichnet werden soll. Ich beginne hier mit dem Zustandekommen der Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Theater und Heiner Müller Ende der Achtzigerjahre und werde dann herausarbeiten, wie es zu der Auswahl und Kombination der Stücke Hamlet und Die Hamletmaschine im Jahr 1989 kam. Hieran anschließend werde ich nachzeichnen, wie die Probenarbeit ablief: Hier geht es sowohl um die Spezifik von Müllers Arbeitsweise als auch um die Verflechtung der Theaterarbeit mit den sich außerhalb des Theaters abspielenden Ereignissen der sogenannten Friedlichen Revolution. Wie in der Einleitung ausgeführt, beginnt meine Auseinandersetzung mit der künstlerischen Struktur des Theaterereignisses Hamlet/Maschine mit einer Textanalyse von Müllers Hamletmaschine, die das Deutungsspektrum des Texts und die Potentiale für die Mise-en-scène ausloten wird. Auf der nächsten Ebene werde ich dann meine Inszenierungsanalyse von Hamlet/Maschine vorlegen, die zwei sich diametral gegenüberstehende Lesarten präsentiert, wodurch der ästhetischen Komplexität von Müllers Theaterereignis entsprochen werden soll. Zunächst werden diejenigen Elemente der Inszenierung dargestellt, die den direkten Zeitbezug zu den Wendeereignissen torpedieren. Das sind besonders das Bühnen- und das Kostümbild. Anschließend werde ich dann die gegenteilige Perspektive einnehmen und zeigen, dass Hamlet/Maschine als skeptisch-fatalistischer Wendekommentar inszeniert ist. Abgeschlossen wird meine dichte Beschreibung von Hamlet/Maschine mit einem Ausblick auf das diskursive Weiter- und Nachleben von Hamlet/Maschine. Hier wird es neben einer Analyse der Rezeption von Hamlet/Maschine durch die einschlägige Theaterkritik besonders um Müllers biografische Resilienz gehen: Auf den Umbruch von 1989 reagiert Müller nämlich mit einem (karrierefördernden) Gattungswechsel. Er schreibt nach 1989 keine Dramen mehr, sondern wendet sich der Lyrik,
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
den kleinen Formen und dem Interview zu.22 Paradoxerweise erlangt Müller damit als Intellektuellenfigur genau in jenem Moment gesamtdeutsche Popularität, als er sein dramatisches Schaffen beendet. Müller gelingt als einzelnem Akteur also das, was dem Deutschen Theater als Organisation nicht gelingt. Er kann, vor allem durch Paradoxierung und Internationalisierung, auf dem gesamtdeutschen Kulturfeld eine eigenständige Position als DDR-sozialisierter, ostdeutscher Künstler besetzen.
3.2
3.2.1
Die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Theater und Heiner Müller für Hamlet/Maschine (1. Ebene, Hausdramaturgie) Das Zustandekommen der Zusammenarbeit zwischen Heiner Müller und dem Deutschen Theater
Die Geschichte der DDR und die ihrer Theater verlaufen in der Vorwendezeit asynchron: Je weiter die Finalitätskrise des sozialistischen Staats voranschreitet, desto produktiver und ästhetisch reizvoller wird die Theaterarbeit. Ab der Spielzeit 1987/88 finden sich in den Spielplänen der DDR-Theater zunehmend Stücke, die noch wenige Jahre zuvor kaum eine Spielerlaubnis erhalten hätten, hier vor allem Stücke aus dem Kanon der klassischen Moderne (z.B. Becketts Warten auf Godot 23 ), ostdeutsche zeitkritische Dramen (z.B. Volker Brauns Die Übergangsgesellschaft 24 ) und die sowjetischen Glasnost/Perestrojka-Stücke (z.B. Michail Schatrows Diktatur des Gewissens25 ).26 Aus dieser Periode sind auch Heiner Müllers drei vielbeachtete Regiearbeiten am Deutschen Theater, Der Lohndrücker (1988), Hamlet/Maschine (1989/90) und Mauser (1991), hervorgegangen. Alle drei Arbeiten basieren auf Theatertexten von Müller, die in der DDR bis dahin als Tabutexte galten: Hamletmaschine und Mauser waren durch die offiziellen Stellen für Inszenierungen gesperrt und Der Lohndrücker fand
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Vgl. Stephan Pabst: Post-Ost-Moderne. Poetik nach der DDR. Göttingen 2016, S. 27. Samuel Beckett: Warten auf Godot. Frankfurt a.M. 2013. Volker Braun: Die Übergangsgesellschaft. In: Peter Reichel (Hg.): Die Übergangsgesellschaft. Stücke der achtziger Jahre aus der DDR. Leipzig 1989, S. 63-92. Michail Schatrow: Diktatur des Gewissens. Stückabdruck. In: Theater der Zeit (1987) 10, S. 4764. Vgl. zu den Spielplantendenzen im DDR-Theater der Achtzigerjahre: Dag Kemser: Zeitstücke zur deutschen Wiedervereinigung . Tübingen, München, S. 6-20; Laure de Verdalle: Das Theater in der DDR und sein Publikum. Rückblick auf eine zweideutige Beziehung. [www.melissa.ens-cachan.fr/IMG/pdf/Das_Theater_und_sein_Publikum.pdf (14.08.2012)], S. 8.
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Das Deutsche Theater nach 1989
als scheinbar antiquiertes Produktionsstück keinen Anklang bei Regisseuren. Allen drei Inszenierungen von Müller war gemein, dass sie die Wendeereignisse nicht direkt, sondern über den Weg einer Auseinandersetzung mit der (sozialistischen) Geschichte thematisierten. Eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der drei Theatergroßprojekte kam dem damaligen Intendanten des Deutschen Theaters, Dieter Mann, zu. Mann, selbst Schauspieler und von 1964 bis 2005 festes Mitglied des Ensembles (davon in den Jahren 1984 bis 1991 als Intendant), genoss stets ein hohes Ansehen beim Ensemble und zeichnete im Falle Müllers besonders für die außerordentlich großzügige finanzielle Ausstattung der Produktionen und die Zubilligung weitreichender Freiräume verantwortlich. So ermöglichte er zum Beispiel, dass die »mit hohem ›Devisen‹-Aufwand verbundene Zusammenarbeit Müllers mit dem österreichischen Bühnenbildner Erich Wonder«27 für Lohndrücker und Hamlet/Maschine realisiert werden konnte. Im Interview bemerkt Alexander Weigel hierzu scherzhaft, dass Mann auf diese Weise unbeabsichtigt an der »finanziellen Krise der DDR mitgearbeitet«28 habe. Initialzündung für die Zusammenarbeit zwischen Müller und dem Deutschen Theater waren die Feierlichkeiten der Stadt Berlin zu ihrem 750-jährigen Bestehen im Jahr 1987. Das Deutsche Theater konzipierte hierfür ein Lessing-Projekt (Lessing und kein Ende). Um Müller in das Projekt integrieren zu können, argumentierte die Dramaturgie des Deutschen Theaters bei den öffentlichen Stellen, dass dieses Projekt ganz im Sinne Lessings nur mit starkem Bezug zur Gegenwartsdramatik durchgeführt werden könne; so wurde eine Zusammenarbeit mit Volker Braun und Heiner Müller, den damals profiliertesten zeitgenössischen Dramatikern, möglich. Als es dann daran ging, die Zusammenarbeit zu konkretisieren, setzte Müller entgegen dem Plan der Dramaturgie, der vorsah, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei zu bringen, eine Inszenierung von seinem frühen Stück Der Lohndrücker durch. Dass Hamlet/Maschine und Mauser darauf folgen sollten, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Im Interview mit mir betont Alexander Weigel, langjähriger Dramaturg von Müller, die Provokation, die von Müllers Lohndrücker-Idee ausging: In Anbetracht des sich durch Glasnost und Perestrojka ankündigenden Wandels wirkte der Vorschlag anachronistisch, ein Produktionsstück aus den 1950er Jahren auf den Spielplan zu bringen, das zudem noch als staatliche Auftragsarbeit entstanden war. Doch Müller insistierte an diesem Punkt darauf, dass Der Lohndrücker – richtig inszeniert – »Raum für alles lasse, was die DDR ausmachte«29 , besonders für den Riss zwischen Arbeiterklasse und Partei. Da der Stückvorschlag bei den meisten 27 28 29
Alexander Weigel: Das Deutsche Theater. Eine Geschichte in Bildern. Berlin 1999, S. 305. Interview mit Alex Weigel, Dramaturg von Hamlet/Maschine, 25.2.2015, Berlin. Ebd.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Regisseuren auf geringe Begeisterung stoßen würde, schlug Mann vor, dass Müller – der zuvor schon an der Volksbühne Macbeth und den Auftrag inszeniert hatte – selbst Regie führen solle.3031 Müllers Interesse an der Übernahme der Regieaufgabe wurde zudem wohl durch seine sich um 1989 herum andeutende dramatische Schreibkrise verstärkt. Müller sei es, so Weigel, in dieser Phase nicht mehr um das Produzieren neuer Texte gegangen, sondern um die »Übermalung seiner ehemaligen Werke«32 und damit auch um eine Prüfung der eigenen Stücke, von denen Müller selbst »nicht mehr überzeugt war«33 . Der Lohndrücker war für Müller sowohl produktions- wie rezeptionsseitig ein Erfolg. Weigel betont, dass Müller mit der Arbeit »zeigen konnte, was er im Theater anders machen wollte«, die Erarbeitung des Stücks war »kollektives Theater im besten Sinne«34 : In seiner Geschichte des Deutschen Theaters in Bildern fasst Alexander Weigl den Erfolg der Inszenierung so zusammen: [Der Lohndrücker] wird zur politisch und ästhetisch eindrucksvollen kritischen Darstellung der Geschichte der DDR – und implizit ihrer Gegenwart. Sie endet mit der Metapher zeremonieller Umarmung, die in Erwürgen übergeht, sich quälend wiederholend, zwischen dem ›Helden der Arbeit‹ (Dieter Montag) und dem ›Parteisekretär‹ (Michael Gwisdek). Die Kritik wagt nicht, die Aktualität zu reflektieren und retiriert in die Erinnerung an die Schwierigkeiten früherer Zeiten. […] Einladungen zum ›Theater der Welt‹ in Hamburg, zum Theatertreffen in (West-)Berlin und zum ›Théatre des Nations‹ in Paris bringen das Deutsche Theater wieder international ins Gespräch.35 Unter dem Eindruck der Luxemburg-Liebknecht-Demo im Jahr 1988, bei der 120 Oppositionelle verhaftet wurden, veranstaltete das Deutsche Theater – weiterer Beleg für die relative Unabhängigkeit der Theater in der Vorwendezeit – eine Matinee mit Volker Braun und Heiner Müller. Müller konnte dort seinen Text Wolokolamsker Chaussee V: Der Findling. (nach Kleist)36 – unter der »Bedingung […]: keine Diskussion«37 – verlesen. Der Text parallelisiert die sozialistischen Krisen von 1968
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31 32 33 34 35 36 37
Alexander Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs. Heiner Müller und das Deutsche Theater. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Heiner Müller. (Text + Kritik, Bd. H. 73). München 1997, S. 155178, hier: S. 1163. Ebd., S. 163. Interview mit Alex Weigel vom 25.2.2015. Ebd. Ebd. Weigel: Das Deutsche Theater, S. 304. Der Text erschien zusammen mit den anderen Teilen: Heiner Müller: Wolokolamsker Chaussee I–V. In: Peter Reichel (Hg.): Theatertexte. Berlin 1989, S. 227-264. Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen – eine Autobiographie. Köln 1994, S. 351.
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Das Deutsche Theater nach 1989
(Prager Frühling) und 1989 und machte so für die Anwesenden deutlich, dass »der Verlust der Jugend und die Abkehr der Kinder von ihren Vätern«38 eines der drängenden Probleme des realexistierenden Sozialismus war. An diese Erfahrung mit neuen Spielräumen anknüpfend schlägt Müller in der ersten Jahreshälfte 1988 (als die Wende noch nicht vorauszusagen war) dem Deutschen Theater die Doppelinszenierung von Shakespeares Hamlet (in seiner eigenen Übersetzung) und seiner Hamlet-Dekonstruktion Hamletmaschine vor. Hamlet war mit Faust einer der großen Stoffe, an denen sich DDR-Regisseure im Zeichen einer »sozialistischen Klassikererneuerung«39 seit den 1970er Jahren abarbeiteten. Müller hatte 1977 für eine Inszenierung von Benno Besson an der Berliner Volksbühne Hamlet übersetzt und in dieser Zeit eine regelrechte Hamlet-»Obsession« entwickelt, die in seinem metatheatralen bzw. das Drama verabschiedenden Theatertext Hamletmaschine kulminierte. Die Idee, nun beide Texte zusammenzubringen und die mit Aufführungsverbot belegte Hamletmaschine zu spielen, war unter DDR-Bedingungen ein provokanter Plan, der jedoch durch die politischen Veränderungen durchkreuzt wurde. Mit dem Wechsel des gesellschaftlichen Referenzrahmens durch den Systemumbruch und der schieren Fülle an täglichen Ereignissen ereilte, zugespitzt formuliert, die Hamletmaschine bei ihrer Aufführung durch den Autor im Jahr 1990 das Schicksal des Hamlets aus der Hamletmaschine (1977). Dort sagt der Hamletdarsteller: Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nichts angeht. Mich interessiert es auch nicht mehr. Ich spiele nicht mehr mit… Wie die konkrete Arbeitsweise in den Proben aussah und welche Wechselbeziehungen es zwischen der Theaterarbeit und dem sich rasant ändernden gesellschaftlichen Bezugsrahmen gab, wird in den nächsten beiden Kapiteln genauer ausgeführt.
3.2.2
Der Probenprozess von Hamlet/Maschine
Die Proben zu Heiner Müllers Hamlet/Maschine fanden parallel zur ›heißen Phase‹ der Wende statt; also genau in jenem Zeitraum von Sommer 1989 bis Frühjahr 1990, der die großen Bürgerrechtsdemonstrationen und den Fall der Mauer sowie die ersten (die Wiedervereinigung einleitenden) freien Volkskammerwahlen umspannte. »Der Einbruch der Zeit in das Spiel«40 , der sich durch diese Konstellation
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Weigel: Das Deutsche Theater, S. 305. Ebd., S. 74. Mit dieser Formel, die dem Untertitel von Carl Schmitts Hamlet-Buch (Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel) entnommen ist, beschreibt Müller mehrfach im Dokumentarfilm von Christoph Rüter die Situation, in der sich die Inszenierung von Hamlet/Maschine
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
vollzog, führte dazu, dass sich die Produktion und Rezeption von Hamlet/Maschine in stetig wechselnden Kontexten (Bürgerrechtsbewegung, Friedliche Revolution, Systemumbruch) und Systemen (BRD und DDR) verorten musste und als »Abschluss und Aufhebung eines für [den DDR-]Staat charakteristischen Verhältnisses zwischen Autor und Theater bzw. zwischen Autor/Theater und Partei/Staat«41 gelesen werden kann. Die Tatsache, dass die in der Inszenierung agierenden Schauspieler die Wendeereignisse durch ihr politisches Engagement mit vorantrieben – viele waren aktiv in die Organisation der großen Alexanderplatzdemonstration vom 4.11.1989 eingebunden –, führt zu einer weiteren Verschränkung von Bühne und Realität.42 Diese historisch einmalige Koinzidenz von Theaterproben und radikalem politischen Wandel veranlasste verschiedene Akteure dazu, den Entstehungsprozess zu dokumentieren: Zu nennen sind hier sowohl an der Produktion Mitwirkende, wie der Dramaturgieassistent Stephan Suschke und der Dramaturg Alexander Weigel, als auch Produktionsexterne, wie der Filmemacher Christoph Rüter.43 Dies ist bemerkenswert, da die theaterhistorische Forschung bei der Rekonstruktion von Arbeits- und Probenprozessen ansonsten mit einer wesentlich geringeren Materialdichte umgehen muss. Das zeigt sich in dieser Arbeit auch darin, dass für die anderen beiden Fallstudien die Arbeitsweise auf den Proben nicht so dicht rekonstruiert werden konnte. Im Folgenden soll es nun um eine genauere Betrachtung der Proben zu Hamlet/Maschine gehen. Hierzu werde ich zunächst etwas allgemeiner versuchen den Regiestil von Müller zu beschreiben, wozu ich mich besonders auf Weigels Ausführungen stütze. In einem zweiten Schritt werde ich dann Christoph Rüters filmische Dokumentation der Proben zu Rate ziehen, um die Parallelität der Ereignisse darzustellen und die Verschränkung der Proben mit dem politischen Engagement der Akteure, besonders der Schauspieler/innen, nachvollziehbar zu machen. Heiner Müller ist, so zeigen es zumindest meine Interviews, all jenen, die mit ihm am Deutschen Theater gearbeitet haben, als ein freundlicher, stiller und äu-
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43
ereignete. Vgl. Christoph Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. DVD-Video (Filmedition Suhrkamp, Bd. 12). Frankfurt a.M. 2009. Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs, S. 155. Beschreibungen und Analysen der Inszenierung finden sich unter anderem hier: David Barnett: Resisting the Revolution: Heiner Müller’s Hamlet/Machine at the Deutsches Theater, Berlin, March 1990. In: Theatre research international 31 (2006) 2, S. 188-200; Katharina Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers. Tübingen 1998; Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs. Wichtige Materialsammlungen, die die produktionsinternen Dokumentationen bündeln, sind: Martin Linzer, Peter Ullrich u. Sibylle Bergemann: Regie: Heiner Müller. Material zu Der Lohndrücker 1988, Hamlet/Maschine 1990, Mauser 1991 am Deutschen Theater Berlin. Berlin 1993; Stephan Suschke: Müller macht Theater. Berlin 2003; Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs.
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Das Deutsche Theater nach 1989
ßerst respektvoller Regisseur in Erinnerung geblieben,44 den insbesondere eine außergewöhnliche Hochachtung für alle Formen der (Theater-)Arbeit ausmachte. So beschreibt Weigel Müller als Regisseur wie folgt: Das Auffallendste war seine Zurückhaltung und Bescheidenheit bei größter Intelligenz. Und die große Anerkennung, die er jeder Art von Arbeit entgegenbrachte. Die Techniker haben ihn auch unglaublich geliebt. Er hat zum Beispiel speziell eine Einführung für die Techniker gemacht.45 An den Erinnerungen zeigt sich, dass Müller es tatsächlich gelang, sein theoretisches Verständnis von Theater als einer kollektiven und demokratischen Arbeit, die auch einen aktiven Zuschauer fordert, in eine Praxis zu überführen.46 Alexander Kluge beschreibt das Verhältnis der einzelnen Gewerke und Künste mit dem Bild von »Kunstwerke[n], die wie Eiswürfel aneinanderkleben«47 . Kluges Metapher verdeutlicht, dass Müller in seiner Arbeit als Regisseur im traditionellen Stadt- und Staatstheaterbetrieb auf die Autonomie jedes Bühnenmittels pochte und damit die Vorstellung des Regisseurs als alleinigem Urhebergenie unterminierte. So erinnert sich Müllers Bühnenbildner Erich Wonder beispielsweise, dass Müller seinen Bühnenbildentwurf für Hamlet/Maschine ohne Kritik oder Feedback unmittelbar als eigenständiges Kunstwerk »akzeptiert […] und nicht mehr darüber gesprochen«48 habe. Neben der großen Autonomie, die Müller allen Mitwirkenden zugestanden hat, waren Geduld und Langsamkeit typisch für seinen Regiestil. Während Müllers Hierarchieskepsis – Hierarchieverweigerung wäre ein zu starker Begriff – ungewöhnlich für das DDR-Theater war – das analog zum Stadt- und Staatstheater der BRD straff organisiert war –, hält Wonder Müllers Zeitbegriff für das Ergebnis des DDR-Theaterkultur: Er kämpft nicht, sondern wartet ab. Das hatten alle Leute hier [am Deutschen Theater], die hatten kein Zeitmaß. […] Und Heiner Müller hatte auch ein anderes Zeitverhältnis. Keine Eile zu inszenieren, sondern er hatte Zeit.49
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Vgl. dazu die Interviews mit Rosemarie Schauer, langjährige stellvertretende Intendantin und kaufmännische Leiterin bis 2000, 15.4.2015, mit Thomas Martin, Assistenz für Hamlet/Maschine, 4.6.15, und mit Alex Weigel vom 25.2.2015. Interview mit Alex Weigel vom 25.2.2015. Barnett: Resisting the Revolution: Heiner Müller’s Hamlet/Machine at the Deutsches Theater, Berlin, March 1990, S. 190. Alexander Kluge: Der Panther läuft immer schräg aufwärts. Bühnenbildner Erich Wonder über Heiner Müllers Zeitgefühl (Videointerview). [https://kluge.library.cornell.edu/de/conve rsations/mueller/film/1935/segment/2059 (21.2.2019)]. Ebd. Ebd.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Müller sah den Zweck des Probens mit den Schauspieler/innen darin, große Mengen an Material zusammenzutragen, und er verweigerte über einen langen Zeitraum konsequent das Fixieren von Arrangements. Auch waren der Probenbeginn und das -ende nie klar definiert. Schleichend ging allgemeines Geplauder in die Probenarbeit über. Dies wurde, so Weigel, produktiv in der Vermischung von den persönlichen Realitäten der Mitwirkenden und dem Stück, was für ein starkes Gefühl der Rückbindung zwischen außertheatraler Wirklichkeit und den Bühnenvorgängen sorgen sollte.50 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Müllers Probenkonzept darauf fußte, Regieentscheidungen so lange es ging zu vermeiden, weshalb Weigel ihn auch einen »Maulwurf-Regisseur«51 nennt, der zudem »überhaupt nicht so Zirkus machen konnte, wie Regisseure das so machen. [Er] war regelrecht ungeschickt«52 . Besonders problematisch war Müllers Ansatz für die konkrete Rollenarbeit mit den Schauspieler/innen. Müller hoffte darauf, durch an Ratlosigkeit grenzende Offenheit unbewusste Vorgänge zu aktivieren, was jedoch derart stark das (handwerkliche) Bedürfnis der Schauspieler nach psychologischen Erklärungen ignorierte, dass sich einige der Schauspieler zu sehr »gebraucht, wenn nicht mißbraucht«53 fühlten. Dass die Inszenierung trotzdem gelang, liegt sicher auch daran, dass Müller aufgrund seiner Reputation als Dramatiker und Regisseur des Lohndrückers das Vertrauen des Ensembles nie ganz verlor und dass die Inszenierung zu einem beachtlichen Teil von Erich Wonders Bühnenbild getragen wurde. Denn durch die Produktionsabläufe beim Bühnenbildbau war Müller früh dazu gezwungen, sich mit Wonder zu treffen und ein Konzept abzusprechen. Lohndrücker und Hamlet/Maschine vergleichend sieht Weigel die spezifischen Probleme der Arbeit an Hamlet/Maschine darin, dass die Methode, die beim Lohndrücker erfolgreich war, nicht einfach auf Hamlet übertragen werden konnte, weil es beim Lohndrücker viel um richtig gesetzte Pausen und ums Schweigen ging, während es bei Hamlet um die rhythmische Dichte von Versen ging, was mehr Kommunikation zwischen Regisseur und Ensemble erfordert.54 Zudem hatte Der Lohndrücker noch Müllers volle Konzentration, einzig als Störfaktor erlebte man die »Westjournalisten«55 , während es bei Hamlet/Maschine wesentlich schwerer war, »streng an den Proben zu bleiben, […] weil die Schauspieler so ein großes Interesse an der ›Revolution‹ hatten«56 . Bei Mauser, seiner dritten Arbeit am Deutschen Theater, war
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Interview mit Alex Weigel vom 25.2.2015. Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs, S. 174. Interview mit Alex Weigel vom 25.2.2015. Ebd. Ebd. Interview mit Alex Weigel vom 25.2.2015. Ebd.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Müller schon so sehr in der Arbeit als Präsident der Akademie der Künste eingespannt, dass die Inszenierung nicht mehr gelang, so Weigel. Um der folgenreichen Verschränkung des politischen Engagements des Ensembles und der künstlerischen Arbeiten unter der Regie von Heiner Müller näherzukommen, möchte ich nun Christoph Rüters Dokumentarfilm Die Zeit ist aus den Fugen genauer betrachten. Rüters Film ist zugleich eigenständige künstlerische Auseinandersetzung mit der Figur Müller als auch wichtige (theater-)historische Quelle, da der Film zum einen die Probenarbeit audiovisuell dokumentiert – wie gesagt ein ›seltenes Glück‹ für die theaterhistorische Forschung – und parallel dazu die ›Wende in der Wende‹ nachvollziehbar macht; also jenen historischen Prozess, der den Umschwung der Ausrichtung der Protestbewegung(en) in der DDR von reformsozialistischen Bestrebungen hin zu einer nationalen Einheitsbewegung meint: Dass Reformsozialist/innen großen Anteil an der Friedlichen Revolution hatten, sich jedoch deutlich gegen eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stellten, dem wird in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur kein Platz eingeräumt.57
3.2.3
Die Verschränkung der Wendeereignisse mit dem Probenprozess im Spiegel von Christoph Rüters Dokumentarfilm Die Zeit ist aus den Fugen
Die Bilder der Alexanderplatz-Demonstration vom 4. November 1989 sind zu einer Ikone der sogenannten Friedlichen Revolution geworden: Fünf Tage vor dem Mauerfall versammelte sich in Ost-Berlin eine halbe Million Menschen und demonstrierte friedlich für Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Dass es sich bei den Organisator/innen der Massenkundgebung um rund einhundert Theaterschaffende (darunter federführend Jutta Wachowiak vom Deutschen Theater und Wolfang Holz vom Berliner Ensemble) handelte, ist weniger bekannt.58 Dabei zeigt das Zustandekommen der Demonstration, die als erste ihrer Art offiziell angemeldet und durch staatliche Stellen genehmigt worden war, zu einem nicht unwesentlichen Teil die Sonderrolle der DDR-Theaterschaffenden in der Wendezeit: Einerseits griffen die Künstlerinnen und Künstler engagiert auf dem Feld der Politik ein, stellten – wie die Kirchen59 ‒ Räume für Gespräche und Debatten zur Verfügung 57 58 59
Vgl. Martin Sabrow: Der vergessene ›Dritte Weg‹. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2010) 11. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009, S. 452-460. Die evangelische Amtskirche hatte bereits 1978 vom Staat ›begrenzte kirchliche Selbstständigkeit‹ zuerkannt bekommen, sodass davon auszugehen ist, dass sich die Kirchen fast zehn Jahre vor den Theatern räumlich und ideell öffneten und deutlich mehr Bedeutung für den Wandel hatten. Auch spielt hier die ambivalente Position der Theaterkünstler zwischen Kritik und Loyalität mit dem Staat eine Rolle, die so nicht mit den Kirchen vergleichbar ist. Vgl.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
und forcierten durch ihre ästhetische Praxis den sich ankündigenden Wandel, andererseits – und das zeigt die Tatsache, dass die Demonstration staatlich genehmigt worden war – befanden sich die Theaterschaffenden nicht in Totalopposition zum System, sondern zielten mit ihrem Engagement auf ein reformsozialistisches Programm, das die Lebensverhältnisse in der DDR verbessern und nicht deren Abschaffung bewirken sollte.60 Christoph Rüters Film Die Zeit ist aus den Fugen61 dokumentiert diese politischen Vorgänge zusammen mit den Proben zu Heiner Müllers Doppelinszenierung Hamlet/Maschine. Rüter begann erst mit der Aufzeichnung der Proben, als die Parallelen zwischen dem Hamlet-Stoff und dem Niedergang des Staatssozialismus im Oktober 1989 deutlich zutage traten. Im Oktober radikalisierten sich die Proteste, die ihren Ausgang bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig genommen hatten. Auf Geheiß von Erich Mielke verhaftete die Polizei am 7. Oktober 1989, dem 40. Geburtstag der DDR, unzählige Demonstranten in Dresden. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse begann Rüter spontan und zunächst noch ohne Filmförderung das Projekt. Der westdeutsche Dramaturg und Filmemacher Rüter betont im Rückblick, dass er keinen »besserwisserischen«62 Film über die Situation in der DDR drehen wollte und daher auf eine zusätzliche Kommentierung des Films verzichtete. Bewusst nahm er für die Dreharbeiten die Perspektive des Ensembles des Deutschen Theaters ein, das in den Monaten nach der Alexanderplatz-Demonstration vom 4. November 1989 begreifen musste, dass die aufbegehrende Bevölkerung keinen besseren Sozialismus anstrebte, sondern den Anschluss an die Bundesrepublik und an die D-Mark wollte.63 Durch den intensiven Gebrauch der »damaligen Möglichkeiten elektronischer Bildbearbeitung«64 mittels »Inserts, Bildeinblendungen, Splitscreens und Tonbrücken«65 kombiniert Rüter Gespräche mit den Schauspieler/innen, Interviews mit
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Thomas Klein: Gegenöffentlichkeit. Oppositionelle Wirkungsformen und staatliche Abwehrstrategien in der DDR. In: Leonore Ansorg (Hg.): ›Das Land ist still – noch!‹ Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971-1989). Köln, Weimar 2009, S. 227-248. Vgl. zu den ›oppositionellen Leistungen‹ des DDR-Theaters vor der Wende: Skadi Jennicke: Theater als soziale Praxis. Ostdeutsches Theater nach dem Systemumbruch. Berlin 2011, S. 25. Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. Christoph Rüter: Was man auf der Bühne gesagt hat, kann man nicht mehr zurücknehmen. Christoph Rüter erinnert sich an die Dreharbeiten zu ›Die Zeit ist aus den Fugen‹: Begleitheft zur DVD ›Die Zeit ist aus den Fugen‹, S. 5-13, hier: S. 11. Vgl. zur Kluft zwischen DDR-Bevölkerung und -Künstlern: Markus Joch: Zwei Staaten, zwei Räume, ein Feld. Die Positionsnahmen im deutsch-deutschen Literaturstreit. In: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 363-378. Manuel Koeppen: Abschied ohne Ankunft. Der frühe Wendefilm. In: Inge Stephan u. Alexandra Tacke (Hg.): Nachbilder der Wende. Köln 2008, S. 174-197, hier: S. 183. Ebd.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Heiner Müller und Fernsehbilder mit Probenausschnitten (schwarz-weißes Videobild) sowie Aufführungsmitschnitten (in Farbe). Durch dieses Verfahren verdoppelt der Film die Ästhetik der dokumentierten Inszenierung: Denn so wie die Hamletmaschine in Hamlet/Maschine bereits als ein (Revolution und Drama verabschiedender) Kommentar zu Hamlet angelegt ist, kommentiert der Film die Inszenierung durch fremdes und eigenes Bildmaterial. Die Zeit ist aus den Fugen dokumentiert mithin den Riss zwischen den DDR-Künstler/innen und der DDR-Gesellschaft, der durch die Sonderrolle der Theater in den Jahren vor der Wende verdeckt wurde, deren Basis die assoziative und im Grunde vage bleibende Ablehnung der herrschenden Klasse bildete. Die ostdeutschen Theaterkünstler/innen und die Reformbewegung teilen also die gemeinsame Erfahrung, dass auch die stärksten Kritiker in der DDR erkennen mussten, stärker auf die DDR bezogen zu sein als die eben noch überwiegend loyale Bevölkerung. Versinnbildlicht wird ›dieses Drama‹ im Film durch eine Szene aus der Hamlet-Inszenierung, die gegengeschnitten wird mit Fernsehmaterial66 zu den Wendeereignissen: Hamlet (Ulrich Mühe) spricht, gefolgt von einem lauten Schrei, den Satz: »Jetzt bin ich allein.«. Manuel Koeppen nennt den Film zu Recht eine ›Hommage‹ an Heiner Müller als den ›spiritus rector‹ des Montage- und Zitatverfahrens.67 In Anlehnung an das Ende des Hamlets, wo Hamlet Horatio bittet, das Geschehene weiterzuerzählen, etabliert Rüter ›seinen‹ Horatio als Kommentator, der sowohl über den Stand der Proben Auskunft gibt, als auch den Verlauf der Wende analysiert. Koerbel tritt im Film konsequent sowohl im Kostüm als auch im Habitus der Horatio-Rolle auf und vor wechselnder Kulisse (im und um das Deutsche Theater, in der U-Bahn, unter dem Potsdamer Platz) kommentiert er die Lage (immer schon aus der Perspektive einer ›gescheiterten Revolution‹) und spricht improvisiert-imaginierte Texte, die bezeichnenderweise keine Müller-Texte sind. Horatios Auftritte wirken – im Gegensatz zu den Äußerungen der anderen Schauspieler im Film ‒ als Produkt bewusster Inszenierung (sei es durch Rüter oder durch Koerbel
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Jutta Wolfert untersucht in ihrer Dissertation zum Wendetheater, wie die DDR ›durch‹ das Fernsehen ›im‹ Fernsehen unterging. Ihrer These nach übernimmt das Fernsehen in den Nachwendetheatertexten die Autorität über die Öffentlichkeit – eine Lesart, die auch auf die Montage der Fernsehbilder in Rüters Film angewendet werden kann. Die ›nachholende‹ Liberalisierung des Fernsehens kann mitunter als Ursache für die rasante Marginalisierung der Theater im Osten gelten. Vgl. Jutta Wolfert: Theatertexte zwischen Medien und Revolution 1989-1996. Achternbusch, Berg, Braun, Bukowski, Chatten, Czeslik, Von Düffel, Enders, Goetz, Kroetz, Marber, Mueller, Müller, Rathenow, Reinshagen, Schneider, Specht, Teschke, Wildenhain. Berlin 2004; Jutta Wolfert: Zwischen Medien und Revolution. Ein Streifzug durch die Theatertexte der Wende. In: Artur Pełka u. Stefan Tigges (Hg.): Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945. Bielefeld 2011, S. 117-127. Koeppen: Abschied ohne Ankunft, S. 183.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
selbst) und stehen so in grundlegender Differenz zu den Genreregeln des Dokumentarfilms. Den ersten längeren Kommentar zur Lage bei den Proben beginnt der (auf einer Treppe sitzende) Horatio mit den Worten »Ich war Horatio«68 und verweist durch diese Aneignung des ersten Satzes der Hamletmaschine zunächst auf die metatheatrale (dem Prinzip der Hamletmaschine verpflichtete) Verfasstheit seiner Figur. Das ›Prinzip Hamletmaschine‹ (das auch für das Verhältnis von Koerbel zu seiner Rolle Horatio gilt) bestimme ich mit Erika Fischer-Lichte als die metatheatrale Auseinandersetzung der Figuren hinsichtlich der Frage, ob sie »den Rollen folgen, die anderswo für sie entworfen und niedergelegt sind oder [ob] sie mit den überlieferten Rollentwürfen brechen [sollen]«69 . Zum Stand der Proben äußert er sich kritisch: Die Proben seien »sehr oft langweilig«70 für die Schauspieler, die wie Maschinen sein müssten, weil es keinen direkten Kontakt zum Regisseur gebe. Ein Schrei Ophelias auf der Bühne zwingt Horatio, seinen Bericht für die Kamera zu unterbrechen. Die Grundstruktur des Films wird so in ihr Gegenteil verkehrt: Diesmal ist es nicht die Wirklichkeit, die ins Theater einbricht, sondern der Einbruch der Probe in die Realität des Interviews, was wiederum Horatio zu folgender metatheatralen Reflexion bewegt: Ich habe eben Ophelia schreien hören. Ich muss gleich zurück und noch mal kurz auftreten, weil ich hier nämlich einen Brief habe, aus England von Hamlet. Ich kenne den Inhalt natürlich, aber Theater ist, wenn man noch mal über die Bühne geht und ihn vorliest.71 Das Paradox des Schauspielers, der sein Wissen um die Vorgänge auf der Bühne leugnen muss, wendet Horatio in seinem nächsten Kommentar auch auf die politischen Vorgänge kurz vor und nach dem Mauerfall an. Er sitzt auf dem Bühnenrand neben einem Fernseher, der Ausschnitte aus der Tagesschau vom 10. November 1989 zeigt. Gegen die Bilder der neuen Medien-Öffentlichkeit, in der die »Deutschen als das glücklichste Volk der Welt« erscheinen, spricht er den folgenden Text, der sich auf den Umstand bezieht, dass die Demonstration vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz auf Betreiben des Ensembles des Deutschen Theaters offiziell angemeldet wurde: Also einigen Leuten war ab Mitte Oktober bekannt, dass es wieder ein großes deutsches Datum geben wird, so Anfang November. Der 6. wäre ganz gut gewe68 69
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Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. Erika Fischer-Lichte: Zwischen Differenz und Indifferenz. Funktionalisierung des MontageVerfahrens bei Heiner Müller: Avantgarde und Postmoderne. Prozesse struktureller und funktioneller Veränderungen. Tübingen 1991, S. 231-246, hier: S. 236. Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. Ebd.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Abbildung 5: Horatio (Jörg-Michael Koerbel) auf der Bühne des Deutschen Theaters.
Quelle: Christoph Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. DVD-Video (Filmedition Suhrkamp, Bd. 12). Frankfurt a.M. 2009.
sen, aber da gehen ja alle arbeiten, das ging also nicht. Jedenfalls wurde die Genehmigung für die Revolution für den 4. gegeben, von 10 Uhr bis 14 Uhr, dann wurden noch mal anderthalb Stunden dazugegeben.72 Mit dem Bild der genehmigten Revolution diskreditiert Horatio im Nachhinein das Engagement für die Demonstration. Die Gewaltfreiheit der ›friedlichen Revolution‹ erscheint ihm der Garant für eine reibungslose ›Okkupation‹ der Reform- und Protestbewegung durch westliche Interessen gewesen zu sein: Die Bevölkerung besetzte das Stadtzentrum bewaffnet mit scharf geladenen Transparenten, aber von der Bühne herunter sprachen wieder die Falschen, also die Richtigen. Also die, wo es danach abbricht, und dann kommt doch der Deutsche. Also die Revolutionäre wurden gleich zu Helden gemacht, also noch bevor sie es sein konnten. Das war sehr geschickt, aber die waren sehr gutwillig, die wollten das ja gar nicht. Jedenfalls hat’s geklappt. Und dann kam die Fahne. Außerdem sollte es ja eine Revolution werden nicht nur in einem Teil Deutschlands, aber damit war nun gar nicht mehr zu rechnen. Ab Dezember sowieso nicht mehr. Statt einer Revolution war es wieder nur die Demokratie. Ist ja auch nicht schlecht.73 72 73
Ebd. Ebd.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Ähnlich wie Müller, der diesen Tag im Gespräch mit Alexander Kluge als »das Theater der Befreiung von einem Staat, der nicht mehr existierte«74 bezeichnet, zielt Koerbels/Horatios Kommentar darauf ab, die Tage vor dem Mauerfall als inszeniertes Spektakel zu entlarven. Ein solches Denken umkreist dabei immer wieder die Frage, wie die Zukunftsvorstellung eines Dritten Wegs, die die DDR-Protestbewegung bis zum Fall der Mauer einte, so widerstandslos schnell durch das Phantasma einer gemeinsamen deutschen Identität ersetzt werden konnte: [A]ngenommen, man mischt sich unter das Volk und kann plötzlich nichts anderes als mit rufen: Wir sind das Volk. Dann kann einem passieren, dass man sich plötzlich umguckt, als hätte man missverstanden, weil die Anderen plötzlich was anderes rufen. Ein kleines Wort hat sich geändert. Es ist nicht mehr das Original. Plötzlich rufen alle ringsum: Wir sind EIN Volk. Sie rufen ja nicht: Wir sind ein Volk. Da ist so eine fremde Betonung drin, die verrät es auch. Das kommt von außen, die Wortänderung als ein Exportartikel. Aber es wird alles seinen deutschen Weg gehen, also früher sagte man seinen sozialistischen Gang, jetzt geht es seinen deutschen Weg.75 In seiner Perspektive erscheint die Wiedervereinigung als Akt der Kolonialisierung durch den Westen, der das Konstrukt einer gesamtdeutschen Identität als Exportartikel in die DDR geliefert habe. Anders als zum Beispiel Volker Braun, der sich durch den vermeintlichen Konsumtrieb seiner Mitbürger betrogen fühlte, werden die Oppositionellen bei Rüter auf diese Weise zu »Opfer[n] […] einer Revolution von oben als Erbteil deutscher Geschichte«76 . So produziert die komplexe Zitat- und Montagestruktur des Films immer wieder ein »Pathos der Vergeblichkeit«77 , das diejenigen auszeichnet, die sich in den Monaten vor der Wende gegen die Politik Helmut Kohls (im Film als der ›Fortinbras mit dem birnenförmigen Kopf‹ bezeichnet) zur Wehr setzten. Schon am 23. November verfassten die Ensemblemitglieder des Deutschen Theaters folgenden offenen Brief an Helmut Kohl: Geehrter Herr Bundeskanzler! Mit zunehmender Verärgerung beobachten wir Ihren Einsatz für Demokratie in der DDR, hören Ihren Ruf nach freien Wahlen in unserem Land, von denen Sie die wirtschaftliche Zusammenarbeit abhängig machen wollen. Das Volk der DDR hat seine Reformen selbst erkämpft und wird das auch künftig tun. In dem hart geführten Dialog mit unserer Regierung und der SED benötigen wir keine politische Schützenhilfe von Ihrer Regierung oder Ihrer Partei. […] Über die wirtschaftliche Überlegenheit der Bundesrepublik besteht
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Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 278. Ebd. Koeppen: Abschied ohne Ankunft, S. 185-186. Ebd., S. 186.
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Das Deutsche Theater nach 1989
kein Zweifel, aber wir lehnen es ab, wenn sich der Bundeskanzler an die Spitze einer Bewegung stellt, die aus dem Mut und der politischen Reife eines Volkes in unserem Land entstanden ist. Wir haben nichts dagegen, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, für freie Wahlen auf die Strasse [sic!] gehen, aber wir wollen Sie nicht unter den Trittbrettfahrern unserer Reformbewegung sehen. Davon haben wir im eigenen Land genug. Was sollen das außerdem für freie Wahlen sein, die mit dem Geld der Bundesrepublik erkauft werden? Die Menschen hier sind durchaus in der Lage, freie Wahlen ohne Druck aus dem Westen einzufordern.78 Das Ausstellen der Theatralität der historischen Ereignisse dient letztlich dazu, das ›Drama‹ der politisch engagierten Künstler/innen und Reformsozialist/innen als ein reales behaupten zu können. Diese Sicht teilen auch die anderen am Projekt Beteiligten, wie zum Beispiel Ulrich Mühe, der im Interview, das er mit Hans Modrow führt, sein Leben in der DDR und das Scheitern des Dritten Wegs auf der Folie der Hamlet-Figur deutet: In meiner 36-jährigen DDR-Geschichte ist der 4. November das glücklichste Datum, nur 5 Tage später ist etwas ins Rollen gekommen, was für mich vergleichbar ist mit dem letzten Bild in Hamlet, als eigentlich mehr oder weniger durch Zufall die Katastrophe ausgelöst wird und keiner als Sieger übrigbleibt.79 Im Unterschied zu den Schauspielern wird Müller im Film durchgehend als prophetische Leitfigur inszeniert, die »die Lage immer analytisch-dialektisch im Griff«80 zu haben scheint. Neben Müllers Fähigkeit, sich im Interview virtuos dialektisch zu inszenieren, die ich im letzten Unterkapitel zu Hamlet/Maschine noch genauer untersuchen werde, unterstützt gerade auch die Montagetechnik die Aufrechterhaltung der Aura Müllers: Selbst in der Szene, die ihn ausgepfiffen und ausgebuht auf der Kundgebung vom 4. November zeigt,81 wird durch den Gegenschnitt im Splitscreen mit einer Probensequenz aus der Hamletmaschine (Ulrich Mühe und Jörg Gudzuhn sprechen die Sätze: ›Ich bin ein Privilegierter. Mein Ekel ist ein Privileg.‹) seine politisch-literarische Selbst- und anscheinende Weitsicht bestätigt.
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Verdalle: Das Theater in der DDR und sein Publikum, S. 12. Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. Rüter: Was man auf der Bühne gesagt hat, kann man nicht mehr zurücknehmen, S. 12. Müller las im Anschluss an seine Feststellung, dass »ein Ergebnis bisheriger DDR-Politik […] die Trennung der Künstler von der Bevölkerung durch Privilegien« gewesen sei, einen Aufruf für die Gründung freier Gewerkschaften vor, den er vorher spontan von zwei jungen Demonstrierenden übergeben bekommen hatte. Die darin enthaltene Warnung vor der drohenden Arbeitslosigkeit passte nicht zu der euphorischen Stimmung auf dem Platz. Vgl. Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Abbildung 6: Müller auf der Kundgebung vom 4. November im Splitscreen mit Aufnahmen, die Ulrich Mühe und Jörg Gudzuhn bei der Probe einer Passage aus der Hamletmaschine zeigen.
Quelle: Christoph Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. DVD-Video (Filmedition Suhrkamp, Bd. 12). Frankfurt a.M. 2009.
Hier nimmt der Film also das vorweg, was die Wiedervereinigung für Müllers Rolle als Künstler bedeutete, denn (wie sonst vielleicht nur noch Frank Castorf) gelang es ihm, seine persönliche Sonderrolle auch unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen zu aktualisieren und zu einer künstlerischen Symbol- und Identifikationsfigur für eine »widerspenstige ostdeutsche DDR-Identität«82 zu werden. Rüters Film zeigt außerdem deutlich, dass die Hamletmaschine der Schlüssel zu Müllers Hamlet-Interpretation ist. Ähnlich sieht es auch Katharina Keim: Sie weist nach, dass in Hamlet/Maschine der Hamlet-Teil und das HamletmaschinenIntermezzo in einem redundanten Verhältnis stehen. Müllers Hamlet-Auslegung geht, so Keim, in keinem Moment über den in der Hamletmaschine angelegten Hamletkommentar hinaus. An diese These knüpfe ich im Folgenden dadurch an, dass ich, bevor ich die Inszenierung rekonstruieren und analysieren werde, zunächst auf die Hamletmaschine als Text eingehen werde. Die nun folgende Textanalyse ist dabei so aufgebaut, dass ich zunächst einen Überblick über die Forschung geben werde, um dann die Themen und Potentiale für eine Inszenierung im Jahr 1989 durch den eigenen Autor auszuloten.
82
Cha u. Schmidt: Interkulturalität, Theorie und Praxis, S. 25.
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Das Deutsche Theater nach 1989
3.3
Die Hamletmaschine als Revolutionsdrama und metatheatraler Kommentar (2. Ebene, Textanalyse)
3.3.1
Revolution der Form vs. Revolution der Gesellschaft
Heiner Müllers nur neun Seiten umfassender Theatertext Hamletmaschine83 wird seit seiner Entstehung 1977 (und seinen ersten Aufführungen im Jahr 1978 in Brüssel, 1979 in Paris und Essen und 1986 in New York durch Robert Wilson) intensiv als einer der zentralen Texte von Heiner Müller diskutiert. Hieran hat mitunter HansThies Lehmanns Rezeption von Müller als »Postdramatiker par excellence«84 und der Hamletmaschine als exemplarischem Gründungstext der Postdramatik großen Anteil.85 Im Anschluss an Lehmann wird Die Hamletmaschine vielfach als Theatertext gelesen, dessen große Qualität es sei, die dramatische Form zu sprengen, ohne dabei den Bezug auf Politik und Geschichte gänzlich zu negieren.86 Surrealistische Regieanweisungen und Nebentexte, die kaum auf einer Bühne umsetzbar sind, und ein monologisch-chorischer Haupttext, der vielfältigste politische, philosophische und ästhetische Kontexte abruft, verdichtet und verschränkt, machen den Text zu einem »undurchdringlichen Gespinst«87 . Die Hamletmaschine gilt in der Forschung daher auch als der enigmatisch-komplexe Höhepunkt der postdramatischen Ästhetik in den 1970er Jahren, was sich in Bezeichnungen wie Müllers »schwierigste[m] Text«88 oder »one of the most obscure dramas in the contemporary canon«89 zeigt. Aufgrund der radikalen Offenheit und ästhetischen Komplexität des Texts betonen viele der Interpretinnen und Interpreten die grundsätzliche Unmöglichkeit einer umfassenden Deutung des Texts. So stellt zum 83 84
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Heiner Müller: Hamletmaschine. In: Der Auftrag und andere Revolutionsstücke. Stuttgart 2005, S. 38-46. Hanna Klessinger: Postdramatik. Transformationen des epischen Theaters bei Peter Handke, Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 209). Berlin 2015, S. 3. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999; Hans-Thies Lehmann: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten (Recherchen, Bd. 12). Berlin 2012. Vgl. hierzu die literaturgeschichtliche Darstellung von Jürgen Schröder: ›Postdramatisches Theater‹ oder ›neuer Realismus‹. Drama und Theater der neunziger Jahre. In: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 2006, S. 1080-1120. Klessinger: Postdramatik, S. 160. Walter Hinderer: Arbeit an der Gegenwart. Zur deutschen Literatur nach 1945. Würzburg 1994, S. 334. David Barnett: Collective Dramaturgy. A Marxist Challenge to the Modern Stage. Or: Heiner Müller’s Political Theatre of Destruction. In: Ian Wallace (Hg.): Heiner Müller: Probleme und Perspektiven. Bath-Symposium 1998. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 48). Amsterdam, Atlanta, GA 2000, S. 45-56, hier: S. 45.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Beispiel Hanna Klessinger in ihrem Forschungsüberblick zur Hamletmaschine heraus, dass die Fülle möglicher Assoziationen […] sich zu keinem einheitlichen Bild fügen [lässt]. Die Reihe fragmentarischer Gedanken- und Wahrnehmungssplitter folgt vielmehr einer Traumlogik, notdürftig zusammengebunden unter dem titelgebenden Hamlet-Bezug.90 Jede Deutung der Hamletmaschine negiert zwangsläufig andere wichtige Aspekte des Texts. Zudem verkompliziert sich die Auslegung dadurch, dass Müller selbst – darauf werde ich noch genauer in meinem Kapitel zum Nachleben von Hamlet/Maschine eingehen – in unzähligen Selbstäußerungen eine Fülle an konträren und kontradiktorischen Deutungsangeboten geliefert hat, sodass sehr unterschiedliche Interpretationen mit Zeugnissen des Autors gestützt werden können. Müller äußert zum Beispiel in der passenderweise als Gesammelte Irrtümer betitelten Zusammenstellung von Interviews und Gesprächen, dass Die Hamletmaschine als eine »Selbstkritik des Intellektuellen«91 zu lesen sei. Dahingegen findet man in der Autobiografie Krieg ohne Schlacht Müllers Aussage, dass es unmöglich sei, »den Stoff in die Welt des sogenannten real existierenden Sozialismus-Stalinismus zu transportieren«.92 Der inhaltlichen Offenheit des Texts steht dessen strenge Segmentierung in fünf Teile (als Zitat des fünfaktigen Tragödienmodells) gegenüber. Die Teile tragen die folgenden Überschriften: »1 FAMILIENALBUM«, »2 DAS EUROPA DER FRAU«, »3 SCHERZO«, »4 PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND« und »5 WILDHARREND/IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG JAHRTAUSENDE«. Es treten in diesen ›Akten‹ jedoch keine Figuren im herkömmlichen Sinn auf, sondern es gibt eine, wie Norbert Otto Eke es beschreibt, »mit dem realen Autor Heiner Müller nicht identische Textinstanz, die sich in den jeweiligen Laut-Sprechern Hamlet, Ophelia, Hamletdarsteller jeweils verschieden und monologisch artikuliert.«93 Im Folgenden möchte ich – bevor ich die für meine Analyse besonders relevanten Aspekte des Texts (nämlich die Kritik am DDR-Theater und die Reflexion von Autorschaft in der Hamletmaschine) untersuche – einen Überblick über die bisherige Forschung zur Hamletmaschine geben. Meines Erachtens lässt sich der Forschungsstand nämlich sehr gut anhand von zwei zentralen Deutungsmustern strukturie-
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Klessinger: Postdramatik, S. 160. Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Frankfurt a.M. 1996, S. 103. Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 294. Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Stuttgart 2015, S. 136.
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Das Deutsche Theater nach 1989
ren, die sich aus dem Begriff des Revolutionsdramas94 entfalten lassen. Auf der einen Seite ordne ich alle Ansätze ein, die Die Hamletmaschine als Dekonstruktion des Prätexts Hamlet und damit als eine (bahnbrechende) Revolution der Form lesen. (Mit dieser Lesart eng verbunden ist Lehmanns Argumentation zur Postdramatik.) Demgegenüber sehe ich jene Ansätze, die ihren Schwerpunkt auf die zeithistorischen Bezüge legen und Die Hamletmaschine als inhaltliches bzw. konkret historisches Revolutionsdrama lesen, das heißt als Allegorie auf den Kalten Krieg und die Finalitätskrise des realexistierenden Sozialismus. Revolution ist für die zweite Gruppe von Interpretinnen und Interpreten in erster Linie ein gesellschaftliches, kein ästhetisches Phänomen. Selbstverständlichen greifen die beiden Deutungsmuster in vielen Interpretation ineinander. Trotzdem setzten die Interpretinnen und Interpreten auf der Achse »Revolution der Form vs. Revolution der Gesellschaft« Schwerpunkte, was sich, wie gesagt, im Aufbau des nun folgenden Überblicks niederschlägt.
3.3.2
Die Revolution der Form und die Dekonstruktion des Prätextes Hamlet
William Shakespeares Hamlet war für Heiner Müller seit seiner Schulzeit »eine Obsession«.95 Um diese zu überwinden, schrieb er während der Arbeit an seiner Hamlet-Übersetzung für Benno Besson96 einen kurzen Text, mit dem er »versuchte, Hamlet zu zerstören«97 bzw. einen »Schrumpfkopf«98 des Hamlets vorzulegen. Diesen Selbstaussagen nachgehend wird Hamletmaschine als Dekonstruktion des Prätextes Hamlet von der Forschung entsprechend viel diskutiert. Die dekonstruktivistische Lesart der Hamletmaschine betont in der Regel besonders die Nähe von Müllers Ästhetik zum Denken von Michel Foucault und anderen französischen, zumeist poststrukturalistischen, Philosophen und Philosophinnen wie Roland Barthes, Jacques Derrida, Julia Kristeva und Jean Baudrillard.99 Die94
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Passenderweise erscheint Die Hamletmaschine bei Reclam in einer Sammlung von Müllers Revolutionsstücken. Vgl. Heiner Müller: Hamletmaschine. In: Der Auftrag und andere Revolutionsstücke. Stuttgart 2005, S. 38-46. Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 1. Interviews und Gespräche. Frankfurt a.M. 1996, S. 102. Müller verfasst seine Übersetzung ursprünglich für die Inszenierung von Benno Besson an der Berliner Volksbühne im Jahr 1976. Michael Hamburger und Adolf Dresen führten daraufhin einen Plagiatsprozess gegen Müller, weil es große Übereinstimmungen mit ihrer Greifswalder Fassung von 1964 gab. Siehe dazu: Alexander Karschnia: Hamlet. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 218-221, hier: S. 219f. Müller: Gesammelte Irrtümer 1, S. 102. Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 294. Irène Bonnaud: Frankreich. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 367-371, hier: S. 369; vgl. Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 46; Luc Lambrechts: Vom Aufstand der post-
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
se Interpretinnen und Interpreten fokussieren besonders diejenigen ästhetischen Strategien, mittels derer die Dezentrierung des Subjekts ins Bild gesetzt wird. So schreiben Genia Schulz und Hans-Thies Lehmann schon 1979, also im Jahr der deutschsprachigen Erstaufführung: Hamletmaschine ist ein Text, in dem das schreibende Subjekt sich in einer Serie von Identitäten, die ineinander übergehen, zersetzt: Shakespeare, Ophelia, Hamlet, Vater, Mutter, Hure, Sohn; Aufständischer und Machthaber.100 Bernhard Greiner knüpft hier inhaltlich an und zeigt am Beispiel von Robert Wilsons Inszenierung aus dem Jahr 1986 – diese Inszenierung gilt in der Theaterwissenschaft bis heute als Referenzinszenierung –, dass die Entstehung von (bürgerlicher) Subjektivität (als historischem Phänomen der Renaissance) der zentrale Gegenstand von Müllers Dekonstruktion ist. Deshalb sei Müllers Hamlet-Obsession auch kein Zufall. Denn schon Hamlet zeige, so Greiner, einen (Anti-)Helden, der unter dem Druck der Aufgabe, ein Subjekt zu werden, »zerbricht, dissoziiert«101 , was Greiner an Hamlets Worten: »Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, Daß ich zur Welt, sie einzurichten kam!«102 festmacht. Als Dekonstruktion der Tragödie vom großen, melancholischen Einzelnen, der sich aufreibt zwischen der »Theorie (des Neuen) und Praxis (des Alten)«103 , spielt Die Hamletmaschine die HamletKonstellation in unzähligen Varianten durch, unterläuft sie und zeigt, dass personelle Autonomie nur ein Diskurseffekt ist. Ein weiteres zentrales Verfahren von Müller sieht Greiner darin, dass sich die Zeichen in der Hamletmaschine konsequent einer einfachen Bedeutungszuweisungen sperren: Die Sprache denotiere keine Allegorien; das heißt, der Text funktioniere nicht über eindeutig zu entschlüsselnde rhetorische Figuren, sondern über das Prinzip der »metaphorischen Vergegenwärtigung«104 . Greiner knüpft hier an Müller an, der die Metapher als dasjenige in der Sprache definiere, das »nicht redu-
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modernen Bilder. Bilddramaturgie als ästhetische Überwindung der Hyperrealität in Heiner Müllers ›Die Hamletmaschine‹. In: Gerd Labroisse u. Dick van Stekelenburg (Hg.): Das Sprach-Bild als textuelle Interaktion. Amsterdam, Atlanta, GA 1999, S. 327-346, hier: S. 327. Genia Schulz u. Hans-Thies Lehmann: Heiner Müller. Stuttgart 1980, S. 149. Bernhard Greiner: Die Hamletmaschine: Heiner Müllers Shakespeare Factory und Robert Wilsons Inszenierung. In: Deutsch-Amerikanisches Institut Carl-Schurz-Haus (Freiburg) und Georg-Scholz-Haus (Waldkirch) (Hg.): Die Postmoderne – Ende der Avantgarde oder Neubeginn? Eggingen 1991, S. 75-96, hier: S. 77. Shakespeare: Hamlet. Aus dem Englischen von August Wilhelm Schlegel, S. 38. Eke: Heiner Müller, S. 135. Greiner: Die Hamletmaschine: Heiner Müllers Shakespeare Factory und Robert Wilsons Inszenierung, S. 78.
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Das Deutsche Theater nach 1989
zierbar, […] nicht rückführbar auf eine Bedeutung«105 sei. Metaphern sind deshalb so wichtig für Müller, da sie das Nicht-Disziplinierbare in der Sprache sind, was auch im folgenden Aphorismus von Müller zum Ausdruck kommt: »Der Autor ist klüger als die Allegorie, die Metapher klüger als der Autor.«106 Zudem identifiziert Greiner die folgenden ästhetischen Strategien als richtungsweisend für Müller: die Dekonstruktion von Figur und Handlung, die monologische Rede, Intertextualität und die Enthierarchisierung der dramatischen und theatralen Mittel.107 Schon Anfang der Neunzigerjahre beschreibt Greiner genau jene Verfahren, die knapp zehn Jahre später bei Lehmann für die Postdramatik-Diskussion entscheidend werden: Ähnliches gilt übrigens auch für Katharina Keims Dissertation Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, die ein Jahr vor Lehmanns Postdramatischem Theater erschienen ist.108 Lehmann knüpft also mit seinen Arbeiten zu Müller an die Argumente der poststrukturalistisch informierten Literaturwissenschaft an, geht aber insofern über sie hinaus, als er Die Hamletmaschine als das Musterbeispiel für die Politizität der Postdramatik etabliert.109 Hierzu liest Lehmann Die Hamletmaschine als Auseinandersetzung mit »der politischen Bewusstseinsgeschichte der deutschen Gesellschaft«.110 In dieser Perspektive stellt Müllers Neunseiter den Versuch dar, eine Welt abzubilden, die sich mit dem Niedergang des Kommunismus »in Unübersichtlichkeit und Undefinierbarkeit«111 befinde. Antagonismen, wie sie für die bürgerliche Dramatik üblich waren und sich in Formen wie dem Duell, dem Kampf oder der feindlichen Begegnung äußern, gehen bei Müller »unter in einem Prozess, der zwischen Geschichte, Naturprozess und Maschinerie keinen Unterschied mehr zu machen erlaubt«112 . Müllers Geschichtspessimismus und sein zyklisches Geschichtsverständnis erforderten, so Lehmann weiter, andere Form als eine lineare. Hieraus folgt für Lehmann, dass Die Hamletmaschine nicht wegen ihrer Themen
105 Heiner Müller: Werke – Band 10: Gespräche 1. 1965-1987. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt a.M. 2008, S. 165. 106 Heiner Müller: Rotwelsch. Berlin 1982, S. 141. 107 Greiner: Die Hamletmaschine: Heiner Müllers Shakespeare Factory und Robert Wilsons Inszenierung, S. 76. 108 Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 45-78. 109 Hanna Klessinger betont, dass Müllers zentrale Rolle in der Postdramatik-Diskussion auch daher rührte, dass Lehmann sich schon vor der Arbeit an Postdramatisches Theater viel mit Müller beschäftigt hatte. Die fast schon reflexhafte Zuordnung ›Hamletmaschine → Postdramatik‹ ist dabei von nachfolgenden Forschungsbeiträgen oft ohne genauere Analysen übernommen worden. Hinzu kommt, dass die Dichotomie von Postdramatik und Politik ein Problem einer verkürzten Lehmann-Rezeption ist. Vgl. hierzu Klessinger: Postdramatik, S. 160. 110 Lehmann: Das Politische Schreiben, S. 349. 111 Ebd., S. 347. 112 Ebd., S. 346.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
politisch sei, sondern aufgrund ihrer Form, die er als eine revolutionäre »Unterbrechung der Regel[n]«113 liest. Es wird nun im Folgenden darum gehen, zu zeigen, wie andere Autoren diesem Deutungsmuster entgegnen, indem sie mit einem Revolutionsbegriff operieren, der sich auf historische Realitäten und geschichtsphilosophische Probleme bezieht.
3.3.3
Hamletmaschine als inhaltliches Revolutionsdrama
Walter Hinderer ordnet in seiner Literaturgeschichte zur deutschsprachigen Literatur nach 1945 Die Hamletmaschine in eine Gruppe ein mit Müllers Stücken Der Auftrag und Mauser: Die Gemeinsamkeit der drei Stücke, so Hinderer, sei nicht formal, sondern thematisch: Alle drei Stücke handelten von »Revolution und Tod […] [und] von Auftrag und Verrat«114 . Die Hamletmaschine ist vor diesem Hintergrund immer auch als Erinnerungstext lesbar, der eine Auseinandersetzung mit dem Kalten Krieg sowie der russischen Revolution und ihren nicht abgegoltenen utopischen Potentialen leistet. Norbert Otto Eke zeigt am Beispiel des 4. Teils der Hamletmaschine »PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND«115 wie Müller im Rückgriff auf Ernst Bloch den Wärmestrom der russischen Oktoberrevolution (ungarisch Buda = deutsch Ofen) in die Kältemetapher einer »böse[n] Erkältung«116 transformiert. So heißt es in diesem Abschnitt: Der Ofen blakt im friedlosen Oktober/A BAD COLD HE HAD OF IT JUST THE WORST TIME/JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A REVOLUTION117 Darüber hinaus ist Die Hamletmaschine mit Eke lesbar als eine Auseinandersetzung mit dem »Phantasma« einer Revolution von unten bzw. mit der Hoffnung auf historische Umwälzungen ausgehend von den »Opfern der Geschichte«.118 Für diese Argumentation wird besonders die Opheliafigur relevant, und zwar als revoltierende »Projektions- und Wunschfigur« des intellektuellen Melancholikers Hamlet, der »schuldhaft in die (gewalttätige) Geschichte verstrickt[…] und durch Privilegien kompromittiert[…]«119 ist. In Sätzen wie »Dann laß mich dein Herz essen, das meine Tränen weint.«120 zeige sich, so Eke, das projektive Verhältnis zwischen Hamlet und Ophelia. 113 114 115 116 117 118 119
Ebd., S. 19. Hinderer: Arbeit an der Gegenwart, S. 343. Müller: Hamletmaschine, S. 42. Eke: Heiner Müller, S. 139. Müller: Hamletmaschine, S. 42. Eke: Heiner Müller, S. 139. Janine Ludwig: Frauenfiguren. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 69-82, hier: S. 71. 120 Müller: Hamletmaschine, S. 40.
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Eine vieldiskutierte und abschließend nicht klärbare Frage ist jedoch, ob die Opheliafigur nicht doch auch mehr sein kann als eine Kontrastfigur zu Hamlet, da sie schließlich einen revolutionären Ausweg durch ihre (weibliche) Revolte entwirft.121 Was dafür spricht, Ophelia als Allegorie für eine Revolution der Subalternen zu lesen, ist die Entwicklung, die die Figur im Text macht: Von ihrer durch den Hamlettext vorgegebenen Rolle als Selbstmörderin und Opfer wandelt sie sich schon im zweiten Teil des Stücks (DAS EUROPA DER FRAU überschrieben) zu einer Aggression nach außen tragenden Figur, die die Insignien der weiblichen Reproduktionsarbeit (Heim und Bett) zertrümmert. Die Schlüsselstelle hierfür ist diese: Ich bin Ophelia. Die der Fluss nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten.122 Durch den Parallelismus der Relativsätze wird Ophelia zur »Präfigur«123 jener realen Frauenfiguren, auf die der Text in den Parataxen anspielt, angefangen bei Rosa Luxemburg (»Die der Fluss nicht behalten hat.«), über Ulrike Meinhof (»Die Frau am Strick«) und Susan Atkins (»Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE) hin zu Müllers zweiter Ehefrau Inge Müller (»Die Frau mit dem Kopf im Gasherd«). Provokant an Müllers Reihung ist, dass er sehr unterschiedliche Schicksale (Luxemburg wurde ermordet, Müllers Frau Inge hat sich selbst getötet) dem Ophelia-Narrativ unterordnet, es aber zugleich im nächsten Satz (»Gestern habe ich aufgehört mich zu töten«124 ) wieder aufhebt. Kulminationspunkt des weiblichen Aufbegehrens in Müllers Text ist der letzte Teil, in dem Ophelia sich in Elektra verwandelt und ein »archaisch-mythisches Rachedenken«125 affirmiert, gleichzeitig aber körperlich absolut gelähmt ist: Sie sitzt im Rollstuhl unter Wasser in der Tiefsee126 und zwei Männer in Arztkitteln schnüren sie in Mullbinden ein. In diesem Zustand der völligen körperlichen Stasis wird ihr Begehren nach Revolte
121 122 123
Klessinger: Postdramatik, S. 162. Müller: Hamletmaschine, S. 40. »Für sie alle wird Shakespeares Ophelia zur Präfigur als die Frau, die aus der Fremdbestimmung der Welt der Männer mit der sie durch tiefe emotionale Beziehungen verbunden ist, nur im Tod einen Ausweg gefunden hat.« Vgl. Eva C. Huller: Griechisches Theater in Deutschland. Mythos und Tragödie bei Heiner Müller und Botho Strauß. Köln 2016, S. 207. 124 Müller: Hamletmaschine, S. 40. 125 Frank-Michael Raddatz: Dämonen unterm Roten Stern. Zur Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers. Stuttgart 1991, S. 193. 126 Schulz und Lehmann lesen die Tiefsee in der Hamletmaschine als (psychoanalytischen) Ort des ›Tief-Sehens‹. Vgl. Genia Schulz u. Hans-Thies Lehmann: »Es ist ein eigentümlicher Apparat. Versuch über Heiner Müllers ›Hamletmaschine‹«. In: Theater heute (1979) 10, S. 11-14, hier: S. 12.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
radikal-regressiv. Sie vollzieht die folgende (wirkungslose) Sprachhandlung: »Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. […] Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.«127 Ophelias Wunsch, die Welt aufzuheben, ist doppelt lesbar, nämlich entweder als Akt anarchistischer Gewalt, die Müller für das Erreichen einer neuen Gesellschaft für zwingend notwendig hielt, oder als Sehnsucht nach einem Untergang der Welt. Egal welche der beiden Auslegungen man favorisiert, die Textstelle macht deutlich, dass Ophelia den »Feminismus ebenso zurück[weist] wie die männliche Vorherrschaft, gegen die sie immer revoltierte«128 . Ihre ambivalente Position zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Revolution und Reaktion setzt den Müller’schen Geschichtspessimismus und sein zirkuläres Geschichtsverständnis ins Bild. Durch die ambivalente Haltung der Opheliafigur unterläuft Müller zudem die binäre Geschlechtercodierung129 , wie sie große Teile der bürgerlichen Gesellschaft prägt, aber auch in Stücken von anderen DDR-Dramatikern, wie Peter Hacks oder Volker Braun, ihre Spuren hinterlassen hat. Bei Braun etwa wird den Frauenfiguren ihre Fähigkeit zur Revolte130 durch ihre Naturhaftigkeit ermöglicht, mithin durch ihre Unfähigkeit, sich in der Öffentlichkeit zu verstellen. Problematisch an einer solchen sozialistischen Auf- bzw. Umwertung von Weiblichkeit ist, dass sie im binären Geschlechterdenken der bürgerlichen Gesellschaft verharrt.131 Bei Müller hingegen findet keine Naturalisierung der Frauen statt, doch sollte hier einschränkend bemerkt werden, dass auch er aus der »Andersartigkeit der Frau […] revolutionäres Potential ableitet«132 ; dadurch jedoch, dass Müller die Geschlechterdifferenz aus einem konkreten gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnis (Heim und Bett) ableitet und nicht aus der Natur, unterläuft er meines Erachten deutlich die bürgerliche Ordnung der Geschlechter.
127 128
Müller: Hamletmaschine, S. 46. Jean-Pierre Morel: Repräsentation, Demokratie. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 39-45, hier: S. 42. 129 Vgl. zur »Erfindung« der binären Geschlechtscharaktere im 18. Jahrhundert: Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. (Industrielle Welt, Bd. 21). Stuttgart 1976, S. 363-393. 130 Eine aus dieser Perspektive problematische Frauenfiguren ist zum Beispiel Mette in Brauns Die Übergangsgesellschaft. 131 Vgl. zur Kritik an den Frauenfiguren bei Hacks und Braun: Duncan Smith: Peter Hacks and Volker Braun. Two Views of Classicism and Marxist Orthodoxy. In: GDR Monitor (1980/81) 4, S. 14-22, hier: S. 18. 132 Ludwig: Frauenfiguren, S. 75.
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Ferner wurde von feministischer Seite gegen Müller hervorgebracht, dass seine Frauenbilder immer auf Brutalität und Sadismus basierten und dass seine Frauenfiguren (auch wenn sie ambivalente Figuren seien) weiterhin Männerphantasien blieben.133 Janine Ludwig zeigt hier jedoch überzeugend, dass die Stärke von Müllers Texten ist, dass sie die Frauenfiguren immer schon als Projektion markierten. 134
3.3.4
Die Verhandlung von Autorschaft und der Institution Theater in der Hamletmaschine
Bevor ich Müllers eigene Inszenierung der Hamletmaschine in den Blick nehmen werde, möchte ich zunächst noch das metatheatrale und metadramatische Potential der Hamletmaschine als Text ausloten. Die Befragung des Textes unter dieser Perspektive halte ich für den Fortgang der Argumentation für besonders vielversprechend, da Müller für Hamlet/Maschine in der Doppelrolle von Autor und Regisseur fungierte. Es geht im Folgenden also darum, den Theatertext Hamletmaschine daraufhin zu untersuchten, inwiefern der Text Autorschaft und die Institution Theater konzeptualisiert, reflektiert und/oder problematisiert.
3.3.5
Heiner Müller = Hamlet
Befragt man Die Hamletmaschine auf die in dem Text geleistete Reflexion von Autorschaft, so sind es besonders die folgenden zwei Ebenen, die eine Interpretation zu behandeln hat: Erstens die selbstreflexive Auseinandersetzung Müllers mit den Privilegien eines männlichen, kritisch-loyalen Schriftstellers in der DDR und zweitens die Spuren der (poststrukturalistischen) Debatte um den Tod des Autors. Ich werde hierzu zunächst Die Hamletmaschine als einen Text lesen, der die Vorstellung vom Autor als (sozialistischem) Schöpfergenie durch eine maschinelle Dramaturgie ersetzt und demontiert. Paradoxerweise führt diese subjektkritische Ästhetik in der Rezeption zu einer Ikonisierung des ›realen‹ (DDR-)Autors Heiner Müller.135
133
134 135
Petra Waschescio: Vernunftkritik und Patriarchatskritik. Mythische Modelle in der deutschen Gegenwartsliteratur. Heiner Müller, Irmtraud Morgner, Botho Strauß, Gisela von Wysocki. Bielefeld 1994. Ludwig: Frauenfiguren, S. 75. In dieser Paradoxie zeigt sich eine Ähnlichkeit zur literaturtheoretischen Debatte um den Tod des Autors allgemein: Obwohl die Literaturtheorie seit Jahrzehnten die Problematik des Autorschaftsbegriffs diskutiert, nutzt ihn die literaturwissenschaftliche Praxis ungebrochen. Vgl. dazu Fortis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez u. Simone Winko: Autor und Interpretation. Einleitung. In: Fotis Jannidis [u.a.] (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. (Universal-Bibliothek, Bd. 18058). Stuttgart 2000, S. 7-29, hier: S. 7.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Dreh- und Angelpunkt einer Interpretation, die Die Hamletmaschine als Auseinandersetzung mit Autorschaft lesen will, ist die Annahme einer textlichen Gleichsetzung bzw. einer Verschmelzung der Hamletfigur und Heiner Müllers Position als etabliertem DDR-Künstler: Für eine solche Deutung spricht, dass bereits der Titel Die Hamletmaschine als Einschreibung der Initialen des Autors lesbar ist: »H.M. = Heiner Müller = Hamletmaschine«136 . Auch beginnt der Text unmittelbar mit einer Verschränkung beider Sphären, also der Hamletvorlage und dem realexistierenden Sozialismus. Unter der Überschrift »1 FAMILIENALBUM« beginnt der Text mit den Worten Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA; im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein, Mörder und Witwe ein Paar, im Stechschritt hinter dem Sarg des Hohen Kadavers die Räte, heulend in schlecht bezahlter Trauer.137 Die Exposition, die dieser Nicht-mehr-Hamlet liefert, amalgamiert Elemente aus Shakespeares Hamlet (»Mörder und Witwe ein Paar«) mit einem sozialistischen Staatsbegräbnis; Assoziationen zur Beisetzung Stalins (als dem Hohen Kadaver) am 5. März 1953 liegen nahe. Müllers Verfahren der Hybridisierung von Hamlet und dem realexistierenden Sozialismus basiert jedoch nicht nur auf einem losen Zusammenfügen der Kontexte, sondern arbeitet dezidiert mit dem Mittel der Persiflage und der Aneignung von Shakespeare-Zitaten – diese sind dann meist in Majuskeln gedruckt: So greift Müllers Text beispielweise einen Satz aus der Rede von Hamlet auf den ermordeten Vater auf, nämlich »He was a man. Take him for all in all.« und wandelt ihn ab zu »ER WAR EIN MANN NAHM ALLES NUR VON ALLEN.«. Hierdurch verweist der Satz nicht mehr auf die charakterliche Größe von Hamlets Vater, sondern weckt Assoziationen zu Stalin und der Zwangskollektivierung der Bauern in der Sowjetunion in den 1930er Jahren.138 Ein weiterer Effekt der Verarbeitung des Hamlets zeigt sich darin, dass Müllers Text Motive aus der Vorlage aufnimmt und drastisch überbietet: Der Nicht-mehr-Hamlet aus dem 1. Teil beispielsweise wandelt sich vom Ekel und Verachtung für die eigene Mutter Empfindenden (die Mutter ist schließlich mit dem Mörder ihres Ehemanns, Hamlets Vater, ein Paar geworden) zum brutalen Tabubrecher: Aus der Ich-Perspektive schildert er, wie er den Leichnam des Toten, der entweder der Vater oder der Über-Vater Stalin ist, einem kannibalischen Ritual zuführt:
136 137 138
Karschnia: Hamlet, S. 218. Theo Girshausen: Die Hamletmaschine. Heiner Müllers Endspiel. Köln 1978, S. 38. Helmut Altrichter: Kleine Geschichte der Sowjetunion. 1917-1991 (Beck’sche Reihe, Bd. 1015). München 2013, S. 73-74.
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Ich stoppte den Leichenzug, stemmte den Sarg mit dem Schwert auf, dabei brach die Klinge, mit dem stumpfen Rest gelang es, und verteilte den toten Erzeuger FLEISCH UND FLEISCH GESELLT SICH GERN an die umstehenden Elendsgestalten.139 An dieser Stelle lässt sich ferner zeigen, dass die in Majuskeln gesetzten Einschübe jedoch nicht immer nur Shakespeare-Zitate sind: »FLEISCH UND FLEISCH GESELLT SICH GERN« ist ein Homonym zum Sprichwort »Gleich und Gleich gesellt sich gern«. Eine Verfremdung, die das kannibalische Ritual, das hier beschrieben wird, auch als »Kommunion einer sozialistischen Brüderhorde in Vaters Fleisch und Blut«140 erscheinen lässt oder, mit Bataille, die ambivalenten Affekte beim Verspeisen des »heiligen Opfers« in einer Festgemeinschaft verbalisiert.141 Neben den exemplarisch gezeigten intertextuell-überblendenden Verfahren ist das Motiv des in die Krise geratenen Intellektuellen der wichtigste thematische Knotenpunkt, der die Gleichsetzung von Hamlet und Müller begründbar macht.142 Während Hamlets Krise ausgelöst wird von einer Staatskrise (der Mord am König), ist die (Identitäts-)Krise der Hamlet(darsteller)figur die des Künstlers, dessen Kunst nicht mehr relevant zu sein scheint. Eine deutliche Vorwegnahme der künstlerischen Krise, mit der viele etablierte DDR-Künstlerinnen und -Künstler im Zuge von 1989 umgehen mussten. (Diesen Zusammenhang werde ich in meiner Inszenierungsanalyse noch genauer beschreiben.) Die Hamletmaschine ist damit auch zeitgeschichtlich als Ausdruck der Enttäuschung über die Unveränderbarkeit der DDR und als bissiger Kommentar auf die Stagnation der Ära Honecker lesbar: Das Jahr, in dem Müller Die Hamletmaschine abschloss, also 1977, war das Jahr, in dem Wolf Biermann ausgebürgert wurde. Diese staatliche Aktion stellte für viele Kulturschaffende in der DDR eine Zäsur dar, denn sie enttäuschte die übriggebliebenen Hoffnungen auf einen politischen Wandel.143 Diese Kritik am Auseinanderfallen von Utopie, staatlicher Kulturpolitik und Kunst lässt sich zum Beispiel gut an der folgenden, resignativen Aussage der von Müller als Hamletdarsteller ausgewiesenen Figur nachvollziehen:
139 Müller: Hamletmaschine, S. 38. 140 Hendrik Werner: Im Namen des Verrats. Heiner Müllers Gedächtnis der Texte (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 345). Würzburg 2001, S. 137. 141 Georges Bataille: Der heilige Eros. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1974, S. 67. 142 Michael D. Richardson: Allegories and Ends: Heiner Müller’s »Hamletmaschine«. In: New German Critique 98 (2006) 98, S. 77-100, hier: S. 80. 143 Heinrich Mohr: »Das gebeutelte Hätschelkind«. Literatur und Literaten in der Ära Honecker. In: Gert-Joachim Glaeßner (Hg.): Die DDR in der Ära Honecker. Politik, Kultur, Gesellschaft. (Schriften des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 56). Opladen 1988, S. 609-632.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nichts angeht. Mich interessiert es auch nicht mehr. Ich spiele nicht mehr mit.144 Antithetisch zur Resignation schwingt hier auch die emanzipatorische Haltung des Hamletdarstellers mit, sich der durch den Klassikerkanon vorgegebenen Rolle zu verweigern; hierin zeigt sich das wie bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnte und von Erika Fischer-Lichte diagnostizierte metatheatrale »Prinzip Hamletmaschine«145 . Dieser Effekt, ein kritisches Verhältnis zum klassischen Kanon zu provozieren, wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass sich in der Hamletmaschine verschiedene Traditionen der deutschsprachigen Hamletrezeption überkreuzen und verfremdend aufeinander wirken. So finden sich neben Stellen, die Hamlet (ganz im Sinne der einschlägigen bürgerlichen Interpretation) als Melancholiker und Träumer146 figurieren, Anspielungen auf Nietzsches und Brechts Hamlet-Lektüren sowie den Topos ›Deutschland ist Hamlet”147 und die psychoanalytische Deutung, nach der Hamlets Melancholie aus seinem verleugneten, homosexuellen Begehren entspringt: Für Brecht ist Hamlet gerade dezidiert kein Melancholiker, sondern eine Figur, in der die neue Theorie, die ihm in Wittenberg vermittelt wird, mit der alten Praxis des englischen Feudalismus in Konflikt gerät. Mit Brechts Worten ist Hamlet daher »einfach ein Idealist, den der Zusammenprall mit der realen Welt aus der Bahn schleudert. Der Idealist, der zum Zyniker wird.«148 Dem entgegen steht Nietzsches Lesart, die Hamlet als dionysischen Menschen begreift, der »in 144 Müller: Hamletmaschine, S. 42. 145 Vgl. Fischer-Lichte: Zwischen Differenz und Indifferenz, S. 236. 146 Nach Franz Loquai beginnt diese Deutungslinie mit der Beschreibung von Hamlet in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hier heißt es: »Staunen und Trübsinn überfällt den Einsamen [Hamlet]; er wird bitter gegen die lächelnden Bösewichter, schwört, den Abgeschiedenen nicht zu vergessen, und schließt mit dem bedeutenden Seufzer: Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward sie wieder einzurichten. In diesen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakespear habe schildern wollen: eine große That auf eine Seele gelegt, die der That nicht gewachsen ist. […] Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zu Grunde, die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer.« Johann Wolfgang v. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Bd. 22. Weimar 1899, hier: S. 75f. 147 Vgl. zur Deutungslinie, die Hamlet als Allegorie auf die verspätete Nation Deutschland liest: Franz Loquai: Hamlet und Deutschland. Zur literarischen Shakespeare-Rezeption im 20. Jahrhundert (Metzler-Studienausgabe). Stuttgart 1993. 148 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal vom 11.12.1940. In: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 26. Frankfurt a.M. 1993, S. 447.
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das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte«149 geblickt hat und nur noch Ekel empfindet. Insgesamt gesehen ist Die Hamletmaschine jedoch näher an Brecht als an Nietzsche, denn während es bei Nietzsche um einen »allgemeinen Selbstzweifel des Denkenden«150 geht, betreibt Die Hamletmaschine dezidiert eine »Denunzierung der eigenen Privilegien«151 , wobei hier insbesondere die Affekte Schuld und Scham eine zentrale Rolle spielen. Darum soll es im nächsten Unterkapitel gehen.
3.3.6
Schuld und Scham angesichts der eigenen Privilegien
Ein wichtiger Aspekt für die Problematisierung der Figur des Intellektuellen sind in der Hamletmaschine Müllers »eigene Schuldgefühle gegenüber den Privilegien der Intelligenz in der DDR«152 . Diese werden besonders deutlich in der folgenden (für die »Zerreißung der Fotografie des Autors« bekanntgewordenen) Textstelle aus dem 4. Teil »PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND«. Hier heißt es in der Figurenrede des Hamletdarstellers: […] In der Einsamkeit der Flughäfen Atme ich auf Ich bin Ein Privilegierter Mein Ekel Ist ein Privileg Beschirmt mit Mauer Stacheldraht Gefängnis Fotografie des Autors. Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten Zerreißung der Fotografie des Autors. Ich breche mein versiegeltes Fleisch auf. Ich will in meinen Adern wohnen, im Mark meiner Knochen, im Labyrinth meines Schädels. […] Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. […] Hamletdarsteller legt Kostüm und Maske an.153
149 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder: Griechenthum und Pessimismus: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 3.1. Berlin 1972, hier: S. 52. 150 Christian Klein: Der Intellektuelle und die Intelligenz. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 27-30, hier: S. 29. 151 Ebd. 152 Ebd., S. 28. 153 Müller: Hamletmaschine, S. 45.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Die Passage beginnt mit dem Verweis auf die Reiseprivilegien, das gängigste Symbol für die besonderen Möglichkeiten, die das DDR-Regime vielen DDRKünstler/innen (wie der Autorin Christa Wolf oder dem Regisseur Thomas Langhoff) zubilligte. Der Text zeigt dabei, dass bereits der (Selbst-)Ekel Teil des Privilegs ist und dass die Künstlerprivilegien in einem dialektischen Verhältnis zu den Lebensbedingungen der sozialistischen Mehrheitsgesellschaft stehen: »Mauer[- und] Stacheldraht[-]Gefängnis«154 produzieren das Privileg – das Privileg schützt die Mauer. Müller, der schon in den 1970ern in die USA reisen konnte, verkörperte die Gruppe von Künstlern, die aufgrund ihrer ambivalenten Stellung häufig als kritisch-loyale Künstler bezeichnet werden, als Extrem: Zum einen war seine Ästhetik derart umstritten bei den staatlichen Stellen, dass viele seiner Texte verboten waren und/oder als nicht spielbar galten; zum anderen schmückte sich das Regime gerne mit Müller als potentiellem Anwärter auf den Literaturnobelpreis und gewährte ihm viele Freiheiten. Auch von anderen DDR-Schriftstellern, wie etwa Volker Braun, wurde er als Musterbeispiel des kritisch-loyalen Künstlertypus wahrgenommen, kritisiert oder persifliert.155 Die zitierte Passage aus der Hamletmaschine ist damit als pointierte Selbstkritik zu lesen. Der Hamletdarsteller reagiert auf die ambivalente Position der sozialistischen Künstler zwischen Kritik und Affirmation affektiv und transformiert seine Schuldgefühle in radikale Lebensverweigerung – er möchte nicht mehr essen, trinken, atmen, lieben – und sich radikal in seinen eigenen Körper zurückziehen, er will in seinem Inneren »wohnen«. Die Flucht vor dem eigenen Bewusstsein kulminiert in der Sehnsucht danach, die titelgebende (Hamlet-)Maschine zu werden. Etwas später im Text heißt es zudem: Ich sehe […] mich […] meine Faust gegen mich schütteln. Ich hänge mein uniformiertes Fleisch an den Füßen auf. […] Ich bin die Schreibmaschine. […] Ich bin mein Gefangener. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. […] Ich bin die Datenbank.156 Das Zitat zeigt, dass sich die Sehnsucht nach der Maschinenwerdung des Hamletdarstellers (den Tod in Kauf nehmend) weiter konkretisiert: Er möchte sowohl 154 155
156
Ebd. Die Schriftstellerfigur Anton aus Volker Brauns Die Übergangsgesellschaft ist als Persiflage auf Müller, seine Reiseprivilegien und seine destruktive Ästhetik lesbar: Zwar lautet das literarische Credo der Figur, dass die »Literatur […] nur einen Sinn [habe], das wieder wegzureißen, was die Ideologen hinbauen«, und doch konterkariert er sich selbst durch sein Handeln, wenn er immer wieder »zufrieden die Wand« des Hauses prüft und innerhalb des Stücks stets eine außenstehende und beobachtende Position zu den anderen Figuren einnimmt. Braun: Die Übergangsgesellschaft, S. 72. Müller: Hamletmaschine, S. 43-44.
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eine analoge »Schreibmaschine« als auch eine digitale »Datenbank« sein; beides textbezogene Maschinen, die die poststrukturalistische Annahme einer Sprache, die ihren eigenen Diskurs produziert, illustrieren.157 Zudem ist die Idee eines Maschinenmenschen auch als Antithese zum von der Aufklärung propagierten autonomen Subjektbegriff lesbar. Die Transformation Hamlets in eine Maschine lese ich daher als Ausdruck der Skepsis gegenüber dem bürgerlichen Vernunft- und Subjektbegriff. Durch die Ablehnung des bürgerlichen Subjektbegriffs steht Die Hamletmaschine in einer Traditionslinie mit der Schrift L’homme machine (1748) des mechanistischen Materialisten Julien Offray de La Mettrie. La Mettrie argumentiert hier, dass Menschen und Tiere (sehr komplexe) Maschinen seien. Es ist nicht nachgewiesen, dass Müller diesen Text kannte – doch lässt der Titel von La Mettries Text (durch die Buchstabenfolge HM in L’homme machine) diese Assoziation zu. Thomas Weitin hat Müllers Maschinenprogramm außerdem hinsichtlich der Geschlechtercodierung produktiv gemacht. Da dies gerade auch für die Inszenierung der Hamletmaschine interessant wird – Müller inszeniert die Hamletmaschine mit 5 Frauen und 2 Männern – sollen Weitins These hier kurz referiert werden. Er schreibt: Während Hamlet angesichts seines zentrumslosen ›leeren Sprechens‹ in Melancholie versinkt, betritt mit Ophelia ein Subjekt die Bühne, dass die fremde Rede in eine performative Sprachgewalt verwandelt, die auch und gerade ohne essentielle Selbstfixierung aktiv werden kann. Ophelia gelingt die Verwandlung zur Hamletmaschine, zu der sich Hamlet außerstande zeigt.158 Weitins Argumentation ist grundiert von der Annahme, dass Medientechniken geschlechtlich codiert seien. Als männliche Medientechnik bezeichnet er eine Kommunikation, die den Anderen nicht erscheinen lässt, und einseitige Kommunikation ist, wie zum Beispiel das Fernsehen. Für eine weibliche Medientechnik gilt ihm Brechts Radiotheorie als Musterbeispiel, weil hier die Empfänger auch zu Sendern werden. Die Hamletmaschine sei nun so konstruiert, dass »die weibliche Sprach- und Medientechnik der männlichen überlegen«159 sei. Hamlet verliere sich in »Selbstbezüglichkeit«, nehme »Medien nur unter der Perspektive eines Fernsehzuschauers wahr, der Entfremdung fürchtet und seinen kulturkritischen Ekel pflegt«.160 Ophelias sprachgewaltige Rede(n) richteten sich hingegen »[a]n die Me-
157
Bisher wenig von der Forschung diskutiert wurde, dass Müllers Text hier schon Ende der 1970er Jahre auf den Digitalisierungsdiskurs (»Datenbank«) verweist. 158 Thomas Weitin: Technik, Ökonomie, Maschine. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, hier: S. 107. 159 Ebd. 160 Ebd.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
tropolen der Welt«161 und seien zu verstehen als »Medienrevolte, die an die Stelle der Utopie einer idealen, unmittelbaren Kommunikationsgemeinschaft die eines je schon medial vermittelten gemeinsam[en] Erscheinens setzt«.162 Wichtig im Zusammenhang mit Müllers Maschinendramaturgie ist zudem, zu betonen, dass sie nicht mehr an dem Ideal einer »Ganzheitsmaschine«163 orientiert ist, wie es noch bei Theweleit heißt, sondern das Modell einer »serielle[n] Konnexionsmaschine«164 im Anschluss an Deleuze und Guattari aktualisiert: Müllers Theaterprogrammatik fußt somit auf einem Prozess der »permanenten Verarbeitung fremden Materials, [der] die Heterogenität zum Prinzip erhebt.«165 Alle in der Hamletmaschine angeschnittenen Themen und Motive sind somit als Material und Rohstoffe für Die Hamletmaschine zu verstehen, die von dieser ins Spiel gebracht werden, ohne dass dabei ein fertiges Produkt erzeugt wird. Alle Maschinen-Texte von Müller enden nämlich dort, wo sie wieder von vorne beginnen könnten.166 Somit bietet sich der Begriff einer maschinellen Dramaturgie als übergreifender Schlüssel zu Müllers Poetik an: »Maschine« sei, so Renata Plaice, »das Schlüsselwort des Dramas, das die Begriffe des Autors ersetzt«.167 Dieses Argument lässt sich auch wieder zu der am Anfang des Kapitels beschriebenen Amalgamierung von Heiner Müller mit dem eigenen Text in Beziehung setzen: Der Autor Heiner Müller wird zur Hamletmaschine; oder mit den Worten von Plaice: »Der Autor als eine grundlegende und ursprüngliche Ich-Instanz des Textes, als ein möglicher Leiter des Spiels findet in Hamletmaschine keinen Platz mehr«168 .
3.3.7
Der Tod des Autors, Krieg gegen das Publikum und die Geburt des Zuschauers
An diesem Punkt lohnt sich ein Blick zurück auf die »Zerreißung der Fotografie des Autors«169 , wie sie in Müllers Nebentext gefordert wird. Diese steht in klarem Zusammenhang mit der Debatte um den ›Tod des Autors‹, die in den 1960er Jah-
161 162 163
164 165 166 167
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Müller: Hamletmaschine, S. 46. Weitin: Technik, Ökonomie, Maschine, S. 107. Klaus Theweleit: Männerphantasien. 1. frauen, fluten, körper, geschichte 2. männerkörper. zur psychoanalyse des weißen terrors. Mit einem neuen Nachwort des Autors. Frankfurt a.M. 2018, S. 154. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti-Ödipus. Frankfurt a.M. 2016, S. 502. Ebd. Lehmann: Das Politische Schreiben, S. 347. Renata Plaice: Spielformen der Literatur. Der moderne und der postmoderne Begriff des Spiels in den Werken von Thomas Bernhard, Heiner Müller und Botho Strauß (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 699). Würzburg 2010, S. 127. Ebd., S. 126. Müller: Hamletmaschine, S. 45.
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ren in Frankreich von Roland Barthes mit dem Aufsatz Der Tod des Autors (1968)170 begründet und von Michel Foucault ein Jahr später in seinem Barthes in Teilen kritisierenden Vortrag Was ist ein Autor? 171 (1969) fortgeführt wurde. Barthes und Foucault reflektieren den historischen Wandel von Kreativitäts- und Autorschaftskonzepten, weisen die Vorstellung vom Künstler als Genie als eine Erfindung der Renaissance aus und verabschieden literaturtheoretisch die Vorstellung vom Autor als souveränem Urheber eines Texts.172 Roland Barthes propagiert zudem ein neues Autorschaftsmodell, das entsprechend (historisch wie systematisch) nicht mehr von einem Autorgenie (das Modell Shakespeare) ausgeht, sondern nur noch einen kompilatorischen Schreiber (scripteur) annimmt, der sich einer écriture automatique bedient – worunter auch die Müller’sche Maschinendramaturgie fallen kann. Eng verbunden mit der Absage an den souveränen Autor ist die Zentrierung auf den Leser bzw. Rezipienten als sinnstiftender Instanz. So heißt es bei Barthes: »Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben.«173 Barthes bringt seine Model in seinem bekannten, polemischen Schlusssatz auf den Punkt: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.«174 Hier ließe sich natürlich einwenden, dass der Nebentext bei Müller gerade nicht den Tod des Autors fordere, sondern nur die Zerstörung einer Fotografie, also einer öffentlichen Repräsentation des Autors Heiner Müller. Hier lässt sich jedoch mit Foucault argumentieren, dass die »Zerreißung der Fotografie des Autors« als Zerstörung der »Autorfunktion«175 gelesen werden kann. Foucault unterscheidet dezidiert zwischen dem Eigennamen eines Autors, also der privaten Person (die für den Diskurs nicht relevant ist), und dem Autornamen als Funktion eines Diskurses bzw. als Ergebnis einer Konstruktion und psychologisierenden Projektion, die für die Beglaubigung und Kohärenz eines Diskurses eminente Bedeutung hat. Diese Autorfunktion, als das eigentlich Relevante, soll in der Hamletmaschine zerstört werden, nicht der Mensch mit dem Namen Heiner Müller.
170 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis [u.a.] (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. (Universal-Bibliothek, Bd. 18058). Stuttgart 2000, S. 185-193. 171 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Fotis Jannidis [u.a.] (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. (Universal-Bibliothek, Bd. 18058). Stuttgart 2000, S. 198-229. 172 Die Vorstellung vom Erzähler als Genie entstand im Zuge der Entdeckung des Individuums in der Renaissance: »Der Autor ist eine moderne Figur, die unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der Reformation den Wert des Individuums entdeckte.« Barthes: Der Tod des Autors, S. 186. 173 Ebd., S. 192. 174 Ebd., S. 193. 175 Foucault: Was ist ein Autor?, S. 211.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Ähnlich wie Barthes bedient sich Müller einer drastischen, fast martialischen Sprache, wenn es um die Neuordnung des Verhältnisses zwischen Theaterproduzenten und -rezipienten (als den Entsprechungen von Autor und Leser) geht. In den Gesammelten Irrtümern 2 findet sich folgendes Statement von ihm, in dem er fordert, dass Theater Krieg gegen das (deutsche) Publikum sein müsse: Alles, was man in Deutschland macht, muß kriegerisch sein, muß als Krieg verstanden werden. Und Theater ist nicht möglich in Deutschland, außer als Krieg gegen das Publikum. Es gibt keine demokratische Tradition, weder bei uns noch in der Bundesrepublik. Das Publikum versteht nur Krieg. Und da gibt es eine schwache Hoffnung, daß man das Publikum genügend angreift, so daß es sich wehrt. Das ist die einzige Hoffnung.176 Von hier aus betrachtet ist die ästhetische Komplexität und ›Unspielbarkeit‹ der Hamletmaschine daher immer auch als eine Form der Kritik an der Institution Theater und am DDR-Theatersystem im Speziellen zu verstehen. Das heißt, in ihre antitheatrale Form ist sowohl der Kampf gegen das »spießige und verstaubte DDRTheater«177 eingeschrieben, als auch die Aufforderung an das »Publikum als KoAutor oder Ko-Produzent« aktiv zu werden in einem »kollektiven (gesellschaftlichen) Selbstverständigungsprozess«178 . Nimmt man dieses Konzept des ›koproduzierenden Zuschauers‹ ernst, ergibt sich daraus auch eine neue Perspektive auf den Geschichtspessimismus und Defätismus, der Die Hamletmaschine durchzieht. Die Negativität ist dann nicht mehr nur als »bloße Figuration des Scheiterns ohne Ausblick auf ein Utopisches« zu verstehen, wie Norbert Otto Eke richtig angemerkt hat, sondern »als Aufforderung und Provokation zur Praxis«.179 Zeitgeschichtlich speist sich Müllers Vertrauen auf die Zusammenarbeit zwischen Bühne und Publikum sicher auch aus einem Spezifikum der DDRTheaterkultur. Im Zuge der Finalitätskrise des DDR-Sozialismus konzentrierten sich die sozialen Erfahrungen und Erwartungen der Zuschauer/innen zunehmend auf politische, die SED-Herrschaft in Frage stellende Aspekte, woraus sowohl bei den Produzent/innen als auch bei den Rezipient/innen das Gefühl erwuchs, »eins zu sein [ohne] Unterschied zwischen Bühne und Zuschauerraum«.180 Im Folgenden wird es daher auch dezidiert darum gehen müssen, zu zeigen, wel-
176 177 178
Müller: Gesammelte Irrtümer 2, S. 20. Interview mit Alex Weigel vom 25.2.15. Norbert Otto Eke: Geschichte und Gedächtnis im Drama. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 52-58, hier: S. 55. 179 Eke: Heiner Müller, S. 143. 180 Jennicke: Theater als soziale Praxis, S. 25.
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chen Einfluss 1989 auf das Bühne-Publikum-Verhältnis hatte und wie sich dieses konkret auf die Aufführungen der Hamlet/Maschine auswirkte. Müllers Form der Institutionenkritik fügt sich also als essenzieller Baustein in die Müller’sche Poetik ein. So sieht auch Patrick Primavesi Institutionenkritik als einen zentralen Aspekt, der Müllers poetisches Programm in die Nachfolge der Theater-Avantgarde(n) aus den 1920er und 1970er Jahren setzt: Müllers Texte zeigten »die Einsicht, dass nur ein Denken, das sich der institutionalisierten Verwaltung von Wissen entzieht,[…] gegen die jeweils vorherrschenden Konventionen und Zwecksetzungen der Apparate gewandt«181 sein könne. Zum Abschluss dieser Textanalyse möchte ich zwei Punkte festhalten und betonen: 1.) Die Hamletmaschine illustriert pointiert Barthes’ und Foucaults Thesen zum Tod des Autors. 2.) Hieraus lässt sich ein (den Zuschauer aktivierendes) Theaterund Autorschaftskonzept ableiten, das eine emanzipierende und utopische Perspektive auf den Text freilegt, die ansonsten immer Gefahr läuft von der Negativität und dem Defätismus des Texts verdeckt zu werden. In den nun folgenden Kapiteln zur Inszenierung und zum diskursiv-medialen Nachleben der Hamletmaschine wird es mir darum gehen, zu zeigen, wie Müller es gelingt, seinen eigenen Text so zu inszenieren, dass er als eine Prophetie in einer testamentarischen Inszenierung erscheint. Auch muss danach gefragt werden, ob und wie sich Müllers ›Zuschaueraktivierung durch Krieg‹ in der Inszenierung niederschlägt. Darüber hinaus möchte ich dann zeigen, wie Müller es im Zuge von 1989 gelingt, mittels Paradoxierung, Internationalisierung und Selbsthistorisierung Resilienz für seine eigene Biografie zu generieren. Dieser Prozess lässt sich mit einer Abwandlung von Barthes’ Schlusssatz zusammenfassen: Die Geburt des gesamtdeutschen Künstlers Heiner Müller ist zu bezahlen mit dem Tod des DDR-Autors Heiner Müller.
3.4
Hamlet/Maschine zwischen anti-positivistischer Zeitreflexion und Wendekommentar (3. Ebene, Inszenierungsanalyse)
Heiner Müllers Hamlet/Maschine ist das letzte große Theaterereignis der DDR und beendet eine Geschichte deutsch-deutscher Hamlet-Inszenierungen, die im Dezember 1945 am selben Ort, also am Deutschen Theater, mit Gustav von Wangenheims Hamlet begonnen hatte. Die beiden Inszenierungen lassen sich »spiegelbildlich aufeinander beziehen, jeweils als Ausdruck eines Epochenumbruchs, der
181
Patrick Primavesi: Theater des Kommentars. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 45-52, hier: S. 45.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
beide Teile Deutschlands zugleich betrifft«182 , so Michael Bachmann. Die Verbindung von deutscher Geschichte mit dem Hamlet-Stoff ist spätestens seit Ferdinand Freiligraths Hamlet-Gedicht (und der darin enthaltenen Losung »Deutschland ist Hamlet!«) ein Topos, den Müller in den die Inszenierung flankierenden Interviews wahlweise reflektiert, affirmiert oder unterminiert.183 Denn die zeitgeschichtliche Aktualität des Stoffs, die seiner Theaterarbeit natürlich auch große mediale Aufmerksamkeit bescherte, ist aus Müllers Perspektive immer auch eine Gefahr für die ästhetische Qualität des Abends. So betonte er in öffentlichen Statements von Beginn der Probenarbeit an, dass der Hamletstoff durch die hohe Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Umbruchs einer »fatalen Aktualität«184 ausgesetzt sei, die drohe Shakespeares Tragödie auf den Niedergang der DDR zu verkleinern. Die Parallelen zwischen dem Hamletstoff und dem Vereinigungsprozess waren allzu offensichtlich, wie auch Alexander Weigel im Interview mit mir betonte: Ein Staat ist in der Krise, das wird angezeigt durch das Erscheinen eines Geists, der auf die blutige Vergangenheit hinweist. Dann der Auftrag an einen Intellektuellen, der es nicht schafft, weil er viel zu nah an der Macht ist. Es vergeht und vergeht die Zeit und damit vergeht auch der Sinn und am Ende kommt der Nachbar und sammelt das Reich ein. Das war die Geschichte der DDR und der BRD. Da war die Gefahr ständig so ein Aha-Theater zu machen.185 Müller ließ den Text nahezu ungekürzt spielen; nur den Schluss veränderte er, indem er Fortinbras’ Schlussworte durch das Gedicht Fortinbras’ Klage von Zbigniew Herbert ersetzte, was einer »Verabschiedung des idealistischen Prinzips Hamlet zugunsten der freien Marktwirtschaft«186 gleich kam. Gleichzeitig zeichnet sich Hamlet/Maschine, wie auch schon der Text Die Hamletmaschine, durch derart große Interpretationsspielräume, Assoziationslastigkeit und rätselhafte Elemente aus, dass jeder Versuch, alle Elemente der Inszenierung in einer Deutung zu berücksichtigen oder zu bündeln, scheitern muss.
182
Michael Bachmann: Hamlet in den Westzonen und der BRD bis zur Wiedervereinigung (1945-1990). In: Peter W. Marx (Hg.): Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen, S. 173-189, hier: S. 173. 183 Heiner Müller, der im Westen schon im Laufe der Achtzigerjahre zu einem Literatur-Popstar avanciert war, stand während der Probenarbeit zu Hamlet/Maschine stark im Fokus der Medien und wurde häufig zum Stand der Arbeit befragt. Weigel berichtet im Interview entsprechend davon, dass die Proben immer wieder durch westliche Presseteams gestört worden seien. 184 Barnett: Resisting the Revolution: Heiner Müller’s Hamlet/Machine at the Deutsches Theater, Berlin, March 1990, S. 189. 185 Interview mit Alex Weigel vom 25.2.2015, Berlin. 186 Bachmann: Hamlet in den Westzonen und der BRD bis zur Wiedervereinigung (1945-1990), S. 173.
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Meine nun hier vorliegende Analyse geht daher zwei diametral entgegengesetzten Spuren nach, die Müller – Paradoxierung ist seine zentrale Interviewstrategie – selbst in (die Probenarbeit flankierenden) Interviews als Schlüssel zu Hamlet/Maschine ins Gespräch gebracht hat: Das eine Deutungsangebot, dem ich hier nachgehen werde, ist, Hamlet/Maschine als philosophische Reflexion über die Relativität von Zeit und ein antipositivistisches Zeitkonzept zu lesen. Diese Ebene wird besonders über die Visualität der Inszenierung verhandelt, deshalb werden in diesem Teil des Kapitels besonders das Bühnen- und das Kostümbild analysiert. Das zweite Angebot, das Müller öffentlich immer wieder macht, ist Hamlet/Maschine als Kommentar auf die Wendeereignisse und als einen »Einbruch der Zeit in das Spiel« zu lesen. Für diese Auslegung ist besonders das Hamletmaschinen-Intermezzo (von Müller als Unterbrechung in den vierten Akt montiert) relevant. Es wird gezeigt, wie die Hamletmaschine als Assoziationsgenerator fungiert, der die Problematik der kritisch-loyalen DDR-Künstler/innen als eines der Grundthemen des Abends verankert.187 Die Basis der folgenden Ausführungen ist eine Aufführungsaufzeichnung, die Christoph Rüter im Auftrag des Deutschen Theaters erstellt hat und die mir das Deutsche Theater freundlicherweise zur Sichtung zur Verfügung gestellt hat.188
3.4.1
Die visuelle Dramaturgie von Hamlet/Maschine zwischen Klimakatastrophe, Raum-Zeit-Verzerrungen und Kriegsästhetik
Dass die Auseinandersetzung mit Zeit als physikalisch-philosophischem Phänomen zentral ist für Hamlet/Maschine, wird schon durch die schiere Länge des Abends offenbar, denn einschließlich der drei Pausen dauerte das Event sieben Stunden und fünfzehn Minuten. Zum Teil wurde die Inszenierung (der Hamletvorlage wörtlich entsprechend) sogar von Mitternacht bis in den frühen Morgen gespielt und endete mit einem gemeinsamen Frühstück. Die Zuschauer/innen partizipierten also an einem für den Theaterrahmen ungewöhnlichen, tradierte Wahrnehmungsmuster sprengendem Zeiterlebnis, weshalb man Hamlet/Maschine auch als eine »durational performance«189 bezeichnen könnte. Analog zur Länge der Inszenierung kann auch die Größe des Bühnenbilds als eine Provokation der Institution gelesen werden, die der Spannung zwischen der Bühne und den politischen Ereignissen außerhalb des Theaters einen Ausdruck verleiht. Das
187 Vgl. zu den Interviews: Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. 188 Aus dem Material lässt sich schließen, dass es sich nicht um die Premiere handeln kann. Denn laut Abendzettel der Premiere war Horatio mit Jörg-Michael Koerbel besetzt. Im Mitschnitt wird Horatio jedoch von Martin Wuttke verkörpert. 189 Paul Allain u. Jen Harvie: The Routledge companion to theatre and performance. London 2014, S. 221.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Bühnenbild drängte über das »wohltemperierte Maß«190 des Deutschen Theaters hinaus, so der Theaterkritiker Thomas Irmer, und war eigentlich zu groß für das Deutsche Theater, was die optischen Proportionen betraf. […] Die Bühne ist nicht besonders groß, aber auch nicht klein. Ein großes Theater, das noch eine gewisse Intimität hat. Das Bühnenbild – aus meiner Erinnerung – schien den Rahmen zu sprengen, was aber eigentlich nur die ganze Idee noch unterstützt. Wenn sich das optisch schon so vermittelt hat, dass diese Produktion sozusagen aus dem Theater herausdrängt, dann ist das genau das, was gerade stattfand. Das Bühnenbild war rätselhaft, kraftvoll und es wandelte sich immer wieder.191 Hinzu kommt, dass es Wonder, so sagt er es im Interview mit Alexander Kluge, besonders darum ging, ein Bühnenbild zu entwerfen, das »den Samt und das Brokat [stört]«192 und am Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit des DDRStaats rührt: Das Deutsche Theater, das wurde gerade renoviert von der Regierung in Gold und rotem Samt. Und wenn man hin gegriffen hat, da war dahinter Beton und im Westen ist da noch eine Stoffunterlage. Es war alles billig. […] Und das war das Lieblingstheater von Honecker. Ich habe das Theater gestört. Ich habe eine Eisenschiene gebaut, die ging von der Hinterbühne bis zum Lüster in der Mitte vom Zuschauerraum. Und darauf fuhr ein Wagen mit grellem Licht, der einen wahnsinnigen Lärm gemacht hat.193 Für Wonder ist die Renovierung des Deutschen Theaters das Symbol für den Zustand der DDR: Hinter der kitschig-bürgerlichen Fassade von Honeckers Lieblingstheater sei »alles billig«, allenfalls karger Beton. Wonders Bühnenlandschaft ist daher als eine provokative Unterbrechung des ›schönen Scheins‹ der DDR zu verstehen – auch wenn der Staat, gegen den sich die Provokation richtete, im Augenblick der Premiere schon nicht mehr existierte. Gleichzeitig jedoch hatte Wonders Bühnenbild den Effekt, die Inszenierung von den aktuellen Wendebezügen zu entfernen.194 Hieran anknüpfend soll nun die These entfaltet werden, dass die visuelle Dramaturgie der Inszenierung Hamlets
190 Barbara Kaesbohrer: Die sprechenden Räume. Ästhetisches Begreifen von Bühnenbildern der Postmoderne. Eine kunstpädagogische Betrachtung, S. 163-164. 191 Ebd. 192 Kluge: Der Panther läuft immer schräg aufwärts. 193 Ebd. 194 Vgl. zu dieser Argumentation Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers; Peter W. Marx: Hamlets Reise nach Deutschland. Eine Kulturgeschichte. Berlin 2018; Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs.
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metaphorischen Ausspruch vom Ende des 1. Akts »Die Zeit ist aus den Fugen«195 zum Anlass nimmt, eine Welt zu imaginieren, in der sich unterschiedliche historische Zeiten verschränken und überlagern, wo es zu Erfahrungen der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem kommen kann und Zeit (in Anlehnung an die Physik nach Einstein) als relativ erscheint. Im Folgenden wird daher Wonders Bühnenbildkonzept in den Fokus rücken: An ausgewählten Szenenbildern wird – im Anschluss an Peter W. Marx – zu zeigen sein, wie das Bühnenbild als ein »Zeittunnel«196 funktioniert und wie »die Wahrnehmung des Zuschauers […] verfremde[t] [wird], um sie zu neuen Perspektiven zu führen«197 .
3.4.2
Erich Wonders Bühnenbild als Klimakatastrophe und Zeittunnel
Das Bühnenbild von Hamlet/Maschine ist ein autonomer Kunst- und damit postdramatischer Bühnenraum, der keine Raumkonzepte aus den beiden Textvorlagen – Hamlet und Hamletmaschine – übernimmt, sondern auf einer konzeptionellen Idee basiert, die Wonder und Müller im Rahmen ihres zu großen Teilen enthierarchisierten Arbeitsverhältnisses198 gemeinsam entwickelten: Müller machte Wonder die Vorgabe, dass der Theaterabend als Eiswürfel beginnen und in einer Wüste enden solle.199 Die visuelle Dramaturgie des Stück folgt damit der Logik einer radikalen Klima-Erwärmung. Wonder nahm Müllers Metapher des Eiswürfels wiederum wörtlich und ließ die Bühne zu Beginn der Aufführung tatsächlich als spitz auf die Zuschauer zulaufenden Eiswürfel erscheinen. Dieser optische Eindruck entstand durch raffiniert positionierte Gazevorhänge, die diagonal auf die Bühnenkante zuliefen und die gesamte Höhe der Bühne einnahmen. In diesem überdimensionalen Eiswürfel spielte sich dann der gesamte erste Akt des Hamlet ab. Im Verlauf des Stücks sammelt sich jedoch immer mehr Wasser auf dem Bühnenboden, wodurch das Abtauen des Eiswürfels suggeriert wurde. Das Stück endet wiederum in einer glühenden Wüste, mit rotem Sand auf dem Boden und in gleißend-goldenes Licht
195
In der Schlegel-Übersetzung heißt es »Die Zeit ist aus den Fugen; Fluch der Pein,/Sie einzurenken geboren zu sein!« Shakespeare: Hamlet. Aus dem Englischen von August Wilhelm Schlegel, S. 38. Bei Müller heißt es: »Die Zeit ist aus den Fugen, Fluch und Gram/Daß ich zur Welt sie einzurenken kam« Shakespeare: Hamlet. Aus dem Englischen von Heiner Müller., S. 28. 196 Marx: Hamlets Reise nach Deutschland, S. 318. 197 Ebd., S. 319. 198 Die Arbeitsbeziehung zwischen Heiner Müller und dem österreichischen Bühnenbildner Erich Wonder war, wie Alexander Kluge es in einem Interview mit Wonder im Jahr 1996 (ein Jahr nach Müllers Tod) beschreibt, nicht von der für das Stadttheater typischen »DirektorAbteilungsleiter-Hierarchie« geprägt. Vgl. Kluge: Der Panther läuft immer schräg aufwärts. 199 Ein beliebter Scherz während der Proben war zu sagen: »Das beginnt als Eiswürfel und endet als Brühwürfel.« Vgl. ebd.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
getaucht. In der Mitte zwischen diesen beiden Klimaextremen findet die Hamletmaschine statt. Dabei funktioniert dieser Teil als surreales Scharnier, das den großen Zeitsprung zwischen den Szenen (Akt IV.4 und 5) überbrückt und Kälte- und Hitzewelt verbindet. Im von mir gesichteten Aufführungsmitschnitt zeigt sich zwischen Anfang (Abbildung 7), Mitte (Hamletmaschine, Abbildung 8) und Ende (Abbildung 9) deutlich ein visueller Kontrast in Form einer Transformation von einer »in einem Eiswürfel eingeschlossenen, kalten, blaugrauen archaischen Welt […] in die heiße gelbrote, ›postmoderne‹ Architektur einer Machtzentrale auf sandigem Wüstenboden«200 .
Abbildung 7: Erster Auftritt des Geists (Akt I.1): Die senkrechte Linie in der Bildmitte ist die Kante des durch Gazevorhänge angedeuteten Eiswürfels
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter.201
Die Klimazustände teilen den Abend auch inhaltlich ein, und zwar in die folgenden drei Abschnitt: Der erste und bei weitem längste Teil geht bis zur vierten Szene des IV. Akts, dem Durchzug von Fortinbras’ Truppen durch Dänemark; darauf folgt die Hamletmaschine und abgeschlossen wird die Inszenierung mit den letzten fünf Szenen202 von Shakespeares Stück – der Katastrophe, die mit Opheli200 Linzer [u.a.]: Regie: Heiner Müller, S. 75. 201 Der Abdruck aller Aufführungsbilder von Hamlet/Maschine, Shoppen und Ficken und Emilia Galotti erfolgt mit der Genehmigung des Deutschen Theaters. 202 Das sind die beiden Szenen des fünften Akts plus die letzten drei Szene aus dem vierten Akt (IV.5-7).
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Abbildung 8: Die Szene »1 FAMILIENALBUM« aus dem Hamletmaschinen-Intermezzo (eingefügt zwischen Akt IV.4 und 5)
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter.
Abbildung 9: Auftritt von Fortinbras (Mitte, hinten) in der Schlussszene (Akt V.2). Ophelia (Margarita Broich) und Claudius (Jörg Gudzuhn)
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
as Wahnsinn ihren Anfang nimmt. Wonders Bühnenbild strukturiert somit den Abend entlang der Klima-Thematik, obwohl sie keine direkte Entsprechung im Hamletplot hat, jedoch passenderweise die Katastrophe in glühendem Rot inszeniert. Und auch ohne den expliziten Bezug lassen sich zwischen Wonders Bühnenlandschaft und den Positionen und Themen von Müllers Werk Verbindungslinien ziehen: Der Klimawandel, der sich auf der Bühne vollzieht, kann sowohl als direkter Bezug auf die durch die Industrialisierung hervorgebrachte Klimakatastrophe gelesen werden. Mit dieser kapitalismuskritischen Perspektive ist auch die Vorstellung einer sich wehrenden Natur assoziiert. Die Klimametapher lässt sich aber auch zeithistorisch als Verweis auf das politische »Tauwetter« von 1989 und als messianisch-düstere Absage an die Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts verstehen. Die zeithistorischen Bezüge werde ich in der zweiten Hälfte dieser Analyse noch genauer ausführen. Neben der Klimametaphorik ist die zweite zentrale Dimension von Wonders Bühnenraum die des Zeittunnels, der nicht nur abstrakte Erdzeitalter wie Eisund Heißzeit miteinander verbindet, sondern insbesondere durch den Einsatz von Techniken der Illusionsmalerei die Überblendung von unterschiedlichen historischen Zeiten und kulturellen Räumen in Szene setzt. Wie Wonder mit Chronotopoi arbeitet, die durch optische Täuschungen, Verzerrungen und Bildüberlagerungen einem nicht-positivistischen, relativen Zeitbegriff Raum geben, werde ich nun an zwei Szenen, der Mausefallen-Szene und der Totengräber-Szene, darlegen.
Abbildung 10: Das Bühnenbild der Mausefallenszene
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter.
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Die Mausefallenszenen (III.3), die ja eigentlich auf Helsingör spielt, wird durch den Prospekt in einen endlosen U-Bahnschacht203 (ein offensichtliches Symbol für industrielle Urbanität) versetzt und mit dem Gemälde von Jacopo Tintoretto Die Bergung des Leichnams des heiligen Markus (1562-1566) überblendet. Besonders deutlich lässt sich das auf der linken Bühnenhälfte erkennen. Hier wird die Architektur aus Tintorettos Gemälde mit einer runden U-Bahn-Tunnelarchitektur direkt überblendet (s. Abb. 10). Wonders Bühnenbild macht hier also den U-Bahntunnel ganz wörtlich zum Zeittunnel, in dem das Martyrium des Evangelisten Markus in Alexandria im Jahre 62 und die Renaissance (als Entstehungszeit des Gemäldes und des Hamlets) mit der U-Bahn als Emblem moderner Urbanität überblendet werden. Dass Wonder das Tintoretto-Gemälde zum Teil seines Bühnenbilds macht, ist sicher auch von Müllers Renaissance-Begeisterung inspiriert. Müller hat sich während der Arbeit an Hamlet/Maschine nachgewiesenermaßen intensiv mit der italienischen Renaissance beschäftigte. So schreibt Wolfgang Storch im Heiner-Müller-Handbuch: In [den] Werken [der Renaissance] fand er den Einsatz, die Welt neu zu denken, zu erforschen, zu erobern, und dieses Material wollte er wieder fruchtbar machen. […] Eingeschrieben in die Werke der italienischen Renaissance […] ist allerdings auch die Inbesitznahme des Künstlers, seine Demütigung.204 Auch andere Szenen der Inszenierung stattet Wonder mit Trompe-l’oeil-Malereien aus, die die Perspektive des Raums ins Unendliche fliehen lassen. Katharina Keim hat hierbei die Struktur beobachtet, dass Wonder all jenen Szenen Tiefe gibt, die in öffentlichen Räumen (wie dem Audienzzimmer) spielen; private Szenen wiederum werden nicht durch den Prospekt erweitert.205 Keim verknüpft diese Beobachtung schlüssig mit der Zeitdarstellung bei Müller: »Mit der Differenz von Enge und Weite im Bühnenbild korrespondieren die unterschiedlichen Zeitbegriffe: Die Zeit des Individuums ist begrenzt und die historische Zeit ist grundsätzlich offen.«206 Raum und Zeit sind in Wonders Bühnenwelt also – wie in der Physik nach Einstein – keine unabhängigen Größen, sondern werden als sich bedingende Phänomene inszeniert. Mein zweites Szenenbeispiel, die Totengräber-Szene, nutzt auch die Mittel der Illusionsmalerei, erzielt damit aber noch einen etwas anders gelagerten Effekt, nämlich den einer für das Theater ungewöhnlichen Blickumkehr:207 Die Bühne
203 Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 243. 204 Wolfgang Storch: Die Bildenden Künste. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 113-121, hier: S. 115. 205 Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 243. 206 Ebd. 207 Ebd., S. 244.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Abbildung 11: Totengräber-Szene: Die Bühne wird zu Ophelias subjektiver Kamera
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter.
wirkt während der Totengräberszene im V. Akt nämlich wie durch eine subjektive Kamera gefilmt, die den Zuschauer dazu zwingt, die Perspektive der toten Ophelia einzunehmen (s. Abbildung 11). Peter W. Marx beschreibt das Verfahren, das diesen filmischen Effekt herstellen kann, so: Die Bühne ist hier schwarz umrahmt, verengt zu einem Loch nach oben, durch das man, in perspektivischer Verzerrung, Bäume und Steindenkmäler sehen kann. Als die beiden Totengräber erscheinen, deren Zylinder ebenfalls perspektivisch verzerrt sind, wird klar, dass Wonder/Müller den Zuschauer optisch auf den Grund des Grabes versetzen, der Blick geht die ausgehobene Grube hoch, gewissermaßen von der Schwelle des Jenseits her sieht das Publikum, wie die Katastrophe rasend an Fahrt aufnimmt.208 Die Bühne unterminiert hier also den Voyeurismus der Zuschauer und erzwingt eine Identifikation mit der ›Schöne Leiche”209 Ophelia. Damit stellt sich das Bühnenbild imposant dagegen, Ophelias Tod als Abspaltungsfigur ästhetisch konsumierbar zu machen, was, wie ich ausführlicher noch im Rezeptionskapitel diskutieren werde, jedoch nicht ungebrochen für die gesamte Inszenierung gilt. 208 Marx: Hamlets Reise nach Deutschland, S. 319. 209 Vgl. zu diesem Topos: Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München 1994.
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3.4.3
Zeit- und Bildschichtungen im Kostümbild
Auch das Kostümbild (Christine Stromberg) lässt sich im Hinblick auf die Verfahren der Zeit- und Bildschichtungen untersuchen. Zwar sind im Überblick über die gesamte Inszenierung die Kostüme – mit Ausnahme von Fortinbras’ Hauptmann – durchaus schlicht gehalten, das heißt, dass auf überbordende Details weitestgehend verzichtet wird. Trotzdem konnotieren die Kostüme unterschiedliche Zeiten und zitieren (so wie Wonders Bildsprache) Kunstwerke aus verschiedenen Epochen. Das Spektrum der Kostüme reicht dabei von für die späten Achtzigerjahre typischer Alltagskleidung über den Look von »diensteifrige[n] politische[n] Funktionäre[n]«210 in (Hosen-)Anzügen zu historisierenden, ja sogar phantastischen Kostümen. Hamlet trägt zum Beispiel einen dreiteiligen schwarzen Herrenanzug, mal mit bodenlangem Wintermantel, mal nur die Weste ohne Hemd. Durch die Schlichtheit und das Fehlen von markanten Details wirkt der Anzug zeitlos, er könnte dem 19. genauso wie dem 20. Jahrhundert entlehnt sein. Zudem gibt es durch das Kostüm keine Verweise auf Hamlets Zugehörigkeit zum Adel. Die meisten Szenen weisen kein einheitliches Kostümbild auf, das heißt, dass sehr unterschiedlich konnotierbare Kostüme in den Bühnensituationen aufeinandertreffen, was dazu beiträgt, die eingangs beschriebene »fatale Aktualität« des Hamletstoffs zu verhindern und Assoziationsräume zu vergrößern. Was im Umkehrschluss auch bedeutet, dass keine der Hauptfiguren durch das Kostüm eindeutig auf eine historische Zeit festgelegt ist. Die Verzahnung des Kostümbilds mit der bildenden Kunst wird besonders prägnant in der letzten Szene vor der eingeschobenen Hamletmaschine, in der es zur Begegnung zwischen Hamlet und dem Hauptmann von Fortinbras’ Truppen kommt. Die Szene, die bei Shakespeare die Nebenhandlung um die Feindschaft zwischen Fortinbras und Claudius fortführt, wird von Müller, Wonder und Stromberg bildgewaltig inszeniert und macht offensiv Krieg, Kampf und Maskulinität zu Themen, die dann auch wieder in der anschließenden Hamletmaschine auftauchen. Hier zunächst ein Standbild aus der Videoaufzeichnung: Als Rundhorizont ist die stark vergrößerte Fotografie eines Kriegsflugzeugs im Prospekt aufgezogen, das für den Laien nicht näher bestimmbar ist, aber unmittelbar den Zweiten Weltkrieg als Kontext aufruft. Dieser konkrete historische Verweis steht in Kontrast zu den vier Figuren, die um den toten Polonius (Dieter Montag) arrangiert sind: Vorne rechts steht Hamlet (Ulrich Mühe) in seinem unauffälligen Anzug, daneben Rosencranz (Frank Lienert) und Güldenstern (Thomas Neumann), beide mit Melone – eine Kopfbedeckung, die an verschiedenen Stellen im Stück auftaucht und sowohl an Dick und Doof denken lässt (was zu den vielen SlapstickEinlagen im Stück passt) als auch an René Magrittes Melonenmänner. Wiederum 210 Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 241.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Abbildung 12: Hamlet trifft auf den Hauptmann von Fortinbras’ Truppen (IV.4)
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter.
im Kontrast zu den drei bereits Genannten steht der Hauptmann, der – eigentlich eine Nebenfigur bei Shakespeare – zur dystopischen, an Science-Fiction erinnernden Kriegsmaschine vergrößert wird. Wonder und Stromberg entwarfen für diese Figur gemeinsam mit dem Maskenbildner Wolfgang Utzt eine Replik der Kriegerskulptur aus der Installation All you Zombies: Truth before God des US-amerikanischen Künstlers Robert Longo. Longos ›Monster‹ wurde 1986 bei der Documenta ausgestellt und besteht aus aberwitzig vielen kleineren und größeren Dingen, die (toxische) Maskulinität symbolisieren und wie die Überreste einer Schlacht wirken: Patronenhülsen und Geschosse, Schrauben, Muttern, aber auch Spielzeugsoldaten und religiöse Halskettenanhänger sind zu erkennen. Hier ein Standbild der Replik: In Longos Installation ist die Kriegerfigur auf einem Sockel vor einem als Rundhorizont drapierten Theater- oder Operninnenraum positioniert. Die Skulptur auf dem Sockel im Vordergrund ist ein Hybridwesen aus Mensch, Tier und Maschine und ist, obwohl sie auf den ersten Blick hypermaskulin und aggressiv wirkt – jede Körperöffnung ist eine Waffe –, nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Der Krieger hat sowohl Brüste als auch einen Penis. Zur Ambivalenz der Figur passt auch ihre Körperhaltung: Der Oberkörper strebt martialisch-stark nach oben und in der linken Hand hält die Figur ein Schwert; die Beine hingegen sind unsicher abgeknickt, verdreht und mit der rechten Hand stützt sich die Kriegerfigur zusätzlich auf eine E-Gitarre. Ober- und Unterkörper bilden somit einen starken Kontrast und das nicht nur zwischen Stärke und Schwäche, sondern auch zwischen
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Abbildung 13: Nahaufnahme der Replik von Longos Kriegerskulptur für Hamlet/Maschine
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter und Deutsches Theater Berlin.
Ernst (Schwert) und Ironie (E-Gitarre). Betrachtet man die gesamte Komposition der Installation, das heißt, das Spannungsverhältnis zwischen der verstörenden Körperlichkeit der Skulptur und dem die bürgerliche Hochkultur repräsentierenden Rundhorizont, so lässt sich diese mit Jennifer Gonzales beschreiben als »the extreme manifestation of the body at war in the theatre of politics«211 . Müllers Hauptmann ist eine detailreiche Replik von Longos Krieger, doch während Longos Arbeit deutliche Ambivalenzen produziert, vereindeutigt Müller die Figur zur hypermaskulinen Kriegsmaschine: Die ironischen Elemente, wie die EGitarre, fehlen und ebenso die Brüche in der Körpersprache und -haltung, denn Horst Weinheimer verkörpert die Figur als aufrecht schreitenden, mächtigen Krieger. Diese fast ins Comichafte gehende Überzeichnung des Hauptmanns lässt sich nur schwer an den Hamlettext rückbinden, da – wie bereits gesagt – der Hauptmann nur eine Nebenfigur bei Shakespeare ist. Gleichwohl ist sie für Müllers Gesamtkonzeption ein wichtiges Scharnier: Erstens, da die Zusammenkunft mit dem Hauptmann der Auftakt zur Hamletmaschine ist und damit dem zögerlich-verkopften, über Revolution nur phantasierenden Hamletdarsteller eine radikal-aktivistische Figur entgegenstellt. Und zweitens ist der Hauptmann, da er Fortinbras unterstellt ist, auch als Verweis auf die kommende Gesellschaft lesbar: Mit dem 211
Jennifer Gonzales: Envisioning Cyborg Bodies. Notes from current research. In: Gill Kirkup [u.a.] (Hg.): The Gendered Cyborg. London 2000, S. 58-73, hier: S. 66.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Hauptmann personifiziert Müller seine resignative Deutung des Wandels im Hamlet, den er als den Übergang »[v]on einer Knechtschaft in die andere, von Stalin zur Deutschen Bank«212 beschreibt. Anknüpfend an dieses Zitat ist der Hauptmann eine Allegorie für den expansiven, kriegstreibenden »Deutsche Bank«-Kapitalismus. Inwiefern Müllers Inszenierung in dieser Linie als konkreter Kommentar auf die Situation von 1989 lesbar ist, werde ich im nun folgenden Kapitel herausarbeiten.
3.4.4
Hamlet/Maschine als Kommentar auf die Wende und die Rolle der DDR-Intellektuellen
Die zweite Hälfte meiner Analyse von Hamlet/Maschine schlägt nun also eine andere Richtung ein: Es wird im Folgenden gezeigt, dass die Doppelinszenierung entgegen aller Beteuerungen von Müller durchaus als zeitkritisches ›Aha-Theater‹ zu lesen ist. Müller selbst, so erinnert sich auch Alex Weigel, präsentiert in der Pressekonferenz zu Hamlet/Maschine Carl Schmitt als seinen Lotsen213 durch die chaotische Verschränkung von Zeitgeschichte und Spiel, die sich durch den Mauerfall und die Wiedervereinigung ergaben. In der Pressekonferenz zitiert Müller entsprechend auch den Untertitel von Schmitts 1956 erstmals veröffentlichtem Hamletbuch Hamlet oder Hekuba: der Einbruch der Zeit in das Spiel214 als Schlüssel zur Inszenierung.215 Für Carl Schmitt zeichnet sich im Hamlet generell ein »Einbruch der Zeit in das Spiel« ab, da sich die Entstehungszeit von Hamlet nicht direkt, sondern durch Tabus in den Stücktext eingeschrieben habe. Schmitt liest entsprechend die Tragödie um Hamlet und das dänische Königshaus als Schlüsseltext auf König Jakob (ab 1567 als Jakob VI. König von Schottland und ab 1603 als Jakob I. König von England und Irland) und seine Mutter Maria Stuart: Auch Jakobs Vater wurde ermordet und seine Mutter heiratete kurz darauf den Mörder; ihre Verstrickungen in das Attentat blieben ungeklärt. Während der Fertigstellung von Hamlet (1601/2)
212 213
Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 87. Die Bezugnahme auf Carl Schmitt, den häufig als »Kronjuristen der Nazis« bezeichneten Staatsrechtler, ist Teil eines kalkulierten Tabubruchs (mit 1968), den Müller insbesondere in den Feuilletondebatten der frühen Neunzigerjahre (gemeinsam mit Frank Castorf) weiter bedienen wird. Hier spielt dann seine (vermeintliche) Apologie von Ernst Jünger die zentrale Rolle. Karl-Wilhelm Schmidt: Literaturdebatten des westlichen Feuilletons um Heiner Müller. Vom IM zum »Neuen Rechten«. In: Peter Monteath (Hg.): German Monitor. Kulturstreit – Streitkultur. German literature since the wall. (German monitor, Bd. 38). Amsterdam 1996, S. 51-73. 214 Vgl. Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel. Stuttgart 1999. 215 Zu den Bezügen zwischen Schmitts Hamlet-Deutung und Müllers Hamletmaschine vgl. Galin Tihanov: Der Einbruch der Zeit in das Spiel. Hamlet from Berlin (East). In: Arcadia – International Journal for Literary Studies 39 (2008) 2, S. 333-353.
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zeichnete sich ab, dass Königin Elisabeth kinderlos sterben und Jakob auf den englischen Thron folgen würde. Da die Parallele Hamlet/Jakob für die Zeitgenossen so offensichtlich war und Shakespeares Gönner, so Schmitt, Jakob auf dem Thron sehen wollten, mussten die Motive von Königin Gertrud im Stück eine Leerstelle bleiben: Mit Rücksicht auf Jakob […], den erwarteten Thronfolger, war es unmöglich, eine Schuld der Mutter an der Ermordung des Vaters zu unterstellen. Andererseits war das Publikum des Hamlet-Dramas, ebenso wie das ganze protestantische England und insbesondere natürlich London, von der Schuld Maria Stuarts überzeugt. […] Mit Rücksicht auf dieses englische Publikum war es ganz unmöglich, die Schuldlosigkeit der Mutter zu unterstellen. So mußte die Schuldfrage vorsichtig umgangen werden. Die Handlung des Dramas wurde dadurch unklar und gehemmt. Eine furchtbare geschichtliche Wirklichkeit schimmert durch die Masken und Kostüme des Bühnenspiels hindurch.216 Als zweites Resultat der Rücksichtnahme auf die tagespolitischen Ränke um die Thronübernahme durch Jakob bestimmt Schmitt die Problematisierung von Hamlet als Rächertypus, mithin die »Abbiegung der Figur des Rächers zu einem durch Reflexionen gehemmten Melancholiker«217 . Der Text war für die Zeitgenossen insofern wenig rätselhaft, als für sie »hinter der Bühnenfigur Hamlets […] eine andere Gestalt stehen geblieben [war]. Die Zuschauer von damals haben sie mitgesehen, wenn sie Hamlet sahen.«218 Für Schmitt sind es wiederum genau diese Ambivalenzen und Leerstellen, die den Hamlet über die Zeit hinweg als Kunst interessant gemacht haben. Ein Beispiel dafür, wie diejenigen, die die DDR-Tabus in Hamlet/Maschine mitsahen, zeigt sich in der Lesart, die der in der DDR geborene und sozialisierte Theaterkritiker Thomas Irmer, der bei der Premiere von Hamlet/Maschine anwesend war, im Gespräch mit Barbara Kaesbohrer entwickelt: Aus dem Hamletplot heraus lässt sich das eingefügte Tintoretto-Gemälde im 3. Akt nicht erklären.219 Für Irmer jedoch ergibt sich daraus eine Bildüberlagerung, die als Kommentar auf die sozialistische Geschichte und Gegenwart dient: Für mich war das Bild eine konkrete Anspielung auf den toten Vater. Also die Vorgeschichte, die diese Geschichte erst in Gang bringt. Der Bruder ermordet Hamlets Vater und reißt die Macht an sich. Die Frage, die damit im Raum schwebt, ist auch, wie politische Gegner beseitigt wurden, auch innerhalb der Geschichte 216 217 218 219
Schmitt: Hamlet oder Hekuba, S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23-24. Auch Barnett betont die Rätselhaftigkeit der Szene. Vgl. Barnett: Resisting the Revolution: Heiner Müller’s Hamlet/Machine at the Deutsches Theater, Berlin, March 1990, S. 194.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
des Stalinismus. Sie wurden nicht nur physisch beseitigt, sondern sollten auch aus dem historischen Gedächtnis gelöscht werden. Da wurden sogar Fotografien retuschiert. Damit hatte das Gemälde für mich eher etwas damit zu tun, wie man den Leichnam des vergifteten Vaters abbildet. Es ist ja in dem Sinne eine schöne Vision von dem, was die Theatergruppe vor diesem Bild spielt. Die Truppe spielte da ja eher als eine Form von Travestie. […] Rote Flächen gegen Tunnelbildern [sic!] und dieses Tintoretto-Abbild. Das sind wieder diese Bildüberlagerungen, darüber konnten sich Wonder und Müller ziemlich gut verständigen.220 Das Zitat zeigt deutlich, wie die Sozialisierung die Assoziationsfelder präfiguriert. Dass es einen großen Unterschied machte, ob man als west- oder ostsozialisierter Zuschauer die Inszenierung sah, wird noch im weiteren Verlauf dieses Kapitels und bei der Beschäftigung mit der Rezeption und dem Nachleben von Hamlet/Maschine zum Thema gemacht. Der Möglichkeit des ›Mit-Sehens‹ einer anderen Figur hinter Hamlet möchte ich im Folgenden auch dadurch nachgehen, dass nun insbesondere jene Inszenierungselemente in den Blick geraten sollen, die je nach Vorwissen direkt oder verrätselt auf die für das Jahr 1989 relevanten Kontexte verweisen und damit einen Einbruch der Zeit in das Spiel markieren. Müller, so die hier entwickelte These, hat dazu seine Hamletmaschine derart mit Shakespeares Hamlet kombiniert, dass hinter dem Hamletplot die Geschichte der DDR und die ambivalente Rolle der DDRIntellektuellen erscheint.
3.4.5
Hamletmaschine als Assoziationsgenerator
Zum Zeitpunkt der Planung des Doppelprojekts Hamlet/Maschine war die Kombination von Hamlet und Hamletmaschine noch ein provokantes Vorhaben: Für die Hamletmaschine hätte es die erste Aufführung des Stücks in der DDR221 sein sollen, denn zuvor hatte Müllers Text von den staatlichen Stellen der DDR keine Aufführungsgenehmigung erhalten: Der Text galt als antihumanistisch, pessimistisch und fatalistisch; und auch der Umstand, dass der Text bereits große Erfolge im Westen gefeiert hatte, machte ihn den Zuständigen suspekt.222 Müller hatte unter dem Eindruck des radikalen gesellschaftlichen Wandels im Jahr 1989 zunächst darüber nachgedacht, die Hamletmaschine nicht mehr spielen zu lassen, so berichtet es Alexander Weigel. Er habe sich jedoch – unter anderem, da das Theater den Text schon angekündigt hatte – »moralisch«223 zu dessen Inszenierung verpflichtet gefühlt. 220 Kaesbohrer: Die sprechenden Räume, S. 165. 221 Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 240. 222 Vgl. Barnett: Resisting the Revolution: Heiner Müller’s Hamlet/Machine at the Deutsches Theater, Berlin, March 1990, S. 192. 223 Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs, S. 175.
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Wohl auch um die eigene, gerade historisch werdende künstlerische Herkunft nicht zu verraten, so Weigel weiter. Auch Erich Wonder erinnert sich an Schwierigkeiten während der Arbeit an Hamletmaschine, was dieser kurze Ausschnitt aus dem schon mehrfach zitierten Interview von Kluge mit Wonder deutlich macht: Wonder: »Das Komische war, dass uns zu dem Hamlet von Shakespeare sehr viel einfiel, nur zu Hamletmaschine fiel uns überhaupt nichts ein. Ich sagte, mir fällt nichts ein. Und er [Müller, Anm. H. S.] sagte immer, ihm fällt auch nichts ein.« Kluge: »Es [Die Hamletmaschine, Anm. H. S] war aber der Katalysator dafür, dass einem zu Hamlet sehr viel mehr einfällt, als man normalerweise inszenieren würde. […] Das ist ein riesen Kommentarwerk. Wonder: »Ja, aber wir haben keine eigenständige Inszenierung von Hamletmaschine zustande bekommen, es war nur eingebaut in dieses Gesamtkonzept.«224 Wonder berichtet hier von einer großen Ratlosigkeit im Umgang mit der Hamletmaschine. Und er scheint es sogar als ästhetischen Mangel wahrgenommen zu haben, dass für diesen Teil keine eigenständige Inszenierungssprache gefunden wurde. Kluges Kommentar hingegen, die Hamletmaschine sei der Katalysator für die Hamletinszenierung, verweist auf die entgegengesetzte Lesart. Hier trifft sich Kluges Deutung mit der von Alexander Weigel, der die Hamletmaschine einen »Assoziationsgenerator«225 nennt, der im Stück »rückwärts wie vorwärts« die Themen der Hamletmaschine, besonders die problematische Rolle der kritisch-loyalen DDRIntellektuellen und Künstler, zu einem Bedeutungshorizont gemacht habe. Müller hat, wie bereits erwähnt, die Hamletmaschine als das »Scharnier gedacht zwischen Kälte und Wüste«226 und diesen Punkt innerhalb der Hamletdramaturgie zwischen Akt IV.4 und IV.5 verortet, also mit dem Einsetzen von Ophelias Wahnsinn. Thomas Irmer beschreibt die Wirkung des eingeschobenen Texts als eine Art Kondensat, Konzentrat oder eine Art Zeitreise […]. Dadurch, dass Hamlet so ausführlich erzählt wurde, war das beinahe noch die Konvention der höfischen Welt oder eines gewissen Realismus von ihr. Als Zeitraffer steht dann die Hamletmaschine gegenüber.227 Die Hamletmaschine ist jedoch nicht nur im übertragenen Sinn »rückwärts wie vorwärts« ein Assoziationsgenerator, sondern in einem sehr konkreten Sinn: Auf der gesamten Länge von Hamlet/Maschine finden sich eingeschobene Fragmente
224 225 226 227
Kluge: Der Panther läuft immer schräg aufwärts. Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs. Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 245. Kaesbohrer: Die sprechenden Räume, S. 164.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
aus der Hamletmaschine, die als Unterbrechungen und deutende Kommentare auf Hamlet fungieren. So wird zum Beispiel dadurch, dass Hamlet unvermittelt im zweiten Akt statt des Shakespearetexts die Eröffnung aus der Hamletmaschine spricht, die eigentliche Handlung unterbrochen. Es entsteht eine Differenz zwischen Hamlet und den anderen Figuren, die mit Ratlosigkeit auf den Einschub reagieren; ein Brecht’scher V-Effekt. Ich werde nun zunächst die Ästhetik des Hamletmaschinen-Intermezzos genauer beschreiben, um dann im Anschluss am Beispiel der Prayer Scene zu zeigen, wie die Hamletmaschine konkret als Schlüssel, Katalysator und Assoziationsgenerator arbeitet. Das knapp vierzig Minuten dauernde Hamletmaschinen-Intermezzo ist von einem langen Black am Anfang und einer Pause am Ende gerahmt. Zu Beginn wird erst nach und nach durch große Mengen an Nebel sichtbar, dass der Rundhorizont mit einer Küstendarstellung und dem Umriss eines großen Torsos bemalt ist, der sich wiederum erst am Ende des Abends als Verweis auf Fortinbras erschließen wird. Ohne das Wissen um den Schluss suggeriert das Bühnen- und Kostümbild eine starke visuelle Nähe zu René Magritte, wie das folgende Standbild (Abbildung 14) aus der eröffnenden Sequenz (in der Textvorlage: »1 FAMILIENALBUM«) zeigt:
Abbildung 14: Das siebenköpfige Ensemble, das gemeinsam die Hamletmaschine darstellt und spricht, in der Szene »1 FAMILIENALBUM«
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter und Deutsches Theater Berlin.
Die beiden Hamletdarsteller in der Mitte – Mühe und Gudzuhn verkörpern im Hamlet-Teil bezeichnenderweise die Antipoden Hamlet und Claudius – erinnern
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durch die Melonen und Anzüge, die sie tragen, an die ›Melonenmänner‹ Magrittes, wie man sie zum Beispiel aus dessen Selbstporträt Der Mann mit der Melone (1964) kennt. Der Bühnenhintergrund wiederum kann als eine Wiederholung der Komposition von Magrittes Selbstporträt gelesen werden: Auch bei Wonder befindet sich im Vordergrund eine männliche Figur, deren Gesicht verdeckt ist und die vor einer wolkig-trüben Küstenlandschaft steht. Man kann die Bühne daher als den Versuch lesen, die eröffnenden Sätze der Textvorlage »Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung. BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa«228 (surrealistisch) zu bebildern. Weiterhin ist der Raum durch ein auf den Boden projiziertes Quadrat strukturiert, das als die Abstraktion von Ophelias Grab lesbar ist, wodurch Ophelias besondere Bedeutung für die Hamletmaschine abgerufen wird. Müller lässt die Hamletmaschine von sieben Schauspieler/innen spielen: Jörg Gudzuhn und Ulrich Mühe sprechen (abwechselnd oder chorisch) die dem Hamletdarsteller zugewiesenen Texte und fünf schwarz gekleidete Ophelia-Sprecherinnen – neben Margarita Broich, die Ophelia auch im Hamlet-Teil verkörpert, spielen Margit Bendokat, Bärbel Bolle, Dagmar Manzel und Margarete Taudte. Sie übernehmen die Texte, die in Majuskeln gedruckt sind, die Rede der Ophelia im Scherzo und den Schlussmonolog von Ophelia in der Tiefsee. Die ›Ophelias‹ sind somit deutlich in der Überzahl und als Gruppe wesentlich stärker ausdifferenziert als die beiden männlichen Darsteller: Die Frauen sind zwischen Mitte 20 und Mitte 60, sie tragen zwar alle schwarze Kleider, aber in sehr unterschiedlichen Schnitten, was die unterschiedlichsten Assoziationen zulässt – von einer Obdachlosen bis zu einer eleganten Dame. Der Rollstuhl wiederum, der vom Text klar Ophelia zugeordnet wird, ist in der Inszenierung ein Requisit, auf das keine der Figuren festgeschrieben ist, das heißt, mal sitzt zum Beispiel Mühe darin, mal Dagmar Manzel. Diese geschlechtliche Asymmetrie, die Müller durch die Besetzung inszeniert, kann mithin als Ausdruck für die Stärke der Opheliafigur in Müllers Theatertext gelesen werden. Mit der Opheliafigur entwirft der Text, wie gezeigt, eine Gegenerzählung zum Ophelia-als-Opfer-Narrativ, eine an Rosa Luxemburg angelehnte Vision einer Revolution von unten und die Möglichkeit einer geniekritischen, medientechnischen Rebellion. Meine These ist hier, dass Müllers gesamte Inszenierung (also beide Teile) dieses utopische Potential zunächst ausstellen und betonen, um es dann spektakulär zu negieren: Ophelia tritt, nachdem sie eigentlich schon ihren Bühnentod gestorben ist, im Schlussbild nochmals auf, beerdigt symbolisch den toten Hamlet, um dann auf der Bühne in einem rauchig-roten Feuer zu verbrennen, bevor der tote Hamlet dann doch das Schlusswort hat. Auch in der Hamletmaschine dominieren die Männer verbal: Denn obwohl Mühe und Gudzuhn nur zu zweit sind, bilden sie (insbesondere zu Beginn) das Gravitati228 Müller: Hamletmaschine, S. 42.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
onszentrum und die ›tonangebende‹ Instanz: Die Sprechweise im Familienalbum wirkt wie die Adaption eines mehrstimmigen A-cappella-Gesangs, wie er beispielsweise in der Renaissance mit dem Tenorlied aufkam. Beim Tenorlied liegt der Cantus firmus im Tenor und wird durch die anderen Stimmen bloß umspielt, gleichsam als Zierde. Auch bei Müller entsteht ein derart beschreibbares kontrapunktisches Gefüge, das die weiblichen Stimmen nur zu Begleitstimmen macht. Gleichwohl ist es wichtig, zu betonen, dass Müllers Sprecher nicht die Melodiegestaltung der Renaissance übernehmen. Vielmehr ist es so, dass in der Hamletmaschine das ausdruckstarke, deklamatorische Sprechen erklingt, das auch den Hamlet-Teil dominiert: Die Spielweise im Hamlet-Teil zeichnet sich nämlich, wie schon Katharina Keim gezeigt hat, durch »einen größtmöglichen Verzicht auf theatrales, psychologisches Rollenspiel« aus, mit dem Ziel einer »demonstrative[n] Hervorhebung der Rollenhaftigkeit des Daseins selbst«229 . Thomas Irmer beschreibt den Effekt dieser Sprachgestaltung so: Das würde man heute als ziemlich unangenehm und altmodisch empfinden. Müller hat ja nicht nur seine Hamletmaschine hier auf die Bühne gebracht, sondern auch seine eigene Übersetzung der Shakespearschen Vorlage. […] Somit sollten die Schauspieler nicht wie im Fernsehen sprechen. Sondern die Worte sollten in ihrer Gewalt und Gedankenkraft auch gehört werden. Es sollte wirklich etwas gesendet werden.230 Die Schauspieler/innen in allen Teilen von Hamlet/Maschine sprechen sehr kraftvoll, oft ans Publikum gewendet und dadurch anti-illusionistisch.231 Im Anschluss an Peter W. Marx lässt sich zudem Müllers polyphones Verfahren als der Versuch beschreiben, die Komplexitätsreduktion, die eine Mis-en-scène der Hamletmaschine immer mit sich bringt, möglichst gering zu halten: Denn sobald Müllers Theatertext – der so verfasst ist, dass »der Leser stolpert«232 – gesprochen werde, ist »ein Sprecher […] durch seine Betonung […] zu einer die Komplexität reduzierenden Entscheidung gezwungen«233 . Müllers Inszenierung des eigenen Texts, die kaum inhaltverstärkende Betonungen enthält, ist daher auch lesbar als eine Vertextlichung des Theaters. Der Theaterkritiker Benjamin Heinrichs spricht Hamlet/Maschine daher grundsätzlich ab, eine Inszenierung zu sein, und nennt den Abend deshalb eine »Demonstration«234 . 229 230 231 232 233 234
Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 245. Kaesbohrer: Die sprechenden Räume, S. 164. Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 241. Marx: Hamlets Reise nach Deutschland, S. 310. Ebd. Benjamin Henrichs: Tod um Mitternacht: Premiere am Deutschen Theater in Ost-Berlin. Acht Stunden sind kein Theater. [https://www.zeit.de/1990/14/acht-stunden-sind-kein-theat er (5.11.2018)].
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Abschließen möchte ich meine Analyse zum Hamletmaschinen-Teil mit einem Blick darauf, wie die von Müllers Neunseiter gesetzten Themen tatsächlich als »Assoziationsgenerator« auf das gesamte Stück wirken. Hierfür biete sich besonders die sogenannte Prayer-Scene (Akt III.3) mitsamt der Frage danach an, wie hier Hamlet und die problematische Rolle der (DDR-)Intellektuellen zusammengebracht werden. In der Szene aus dem dritten Akt, die auf die ›Mousetrap‹ folgt, beobachtet Hamlet Claudius und denkt – darin liegt die dramatische Ironie – er sei am Beten. (Könnte er ihn hören, wüsste er, dass Claudius gerade nicht betet, sondern sich selbst die Tat eingesteht). Hamlet möchte Claudius jedoch nicht im Gebet töten, weil er denkt, dass sich dadurch sein Racheakt in einen erlösenden Tod von Claudius wandeln könnte. Um ein detailliertes Bild von den Vorgängen auf der Bühne zu gewinnen, zitiere ich hier zunächst ausführlich Peter W. Marx’ Beschreibung der Szene in Müllers Inszenierung: Müller läßt die Szene mit einer stummen Traumsequenz beginnen. […] Die beiden [Claudius und Hamlet] umarmen sich für einen kurzen, stummen Tanz, bis Hamlet das hinter dem Rücken verborgene Schwert Claudius in die Brust rammt und dieser stürzt. Nach einer kurzen Siegesgeste geht Hamlet ab, während Claudius wieder aufsteht und ebenfalls die Bühne verlässt. Die kurze, albtraumhaft verlangsamte Szene bleibt unkommentiert stehen – ihre Bildsprache ist mehrdeutig und nur in einem assoziativen Bezug zur Handlung des Stücks zu verstehen. Kurz darauf betreten Hamlet und Claudius wieder aus entgegengesetzten Richtungen die Bühne, reichen sich die Hände und setzten sich auf ein kleines Podest, das in der rechten Hälfte der Bühne steht. Nach einer kurzen Slapstick-Einlage – Claudius summt und blickt um sich, als suche er eine Fliege. Beginnt er seinen Text, »Meine Tat ist faul…«. Anders als bei Shakespeare aber wird der Text als Dialog zwischen Hamlet und Claudius inszeniert, auch wenn Hamlet nur zuhört. Als Claudius – in übersteigerter Theatralik sogar zu weinen beginnt, sieht sich Hamlet, der bis dahin versucht hat, sich zu entziehen, genötigt, ihn in den Arm zu nehmen. Es kommt im weiteren Verlauf des Textes zu einer kleinen Rangelei zwischen den beiden; letztlich aber fordert Claudius durch Klopfen auf seinen Oberschenkel Hamlet auf, sich ihm auf den Schoß zu setzen. Es kommt zu einer zärtlichen Umarmung zwischen den beiden: »Was ist Gebet?«, fragt Claudius.235 Müller inszeniert die Prayer-Scene also doppelt: Erst als jene Rachetat, die der Text (nach Schmitt) aufgrund der Zeitumstände unterdrückte, und dann entgegen Shakespeares Vorlage als Vater-Sohn-Dialog, der Hamlets Mordphantasie einhegt und sowohl die Schuld-, Scham- und Ekelgefühle des Hamletdarstellers aus der
235 Marx: Hamlets Reise nach Deutschland, S. 325.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Hamletmaschine abruft als auch als Kommentar auf die Situation von Müller als kritisch-loyalem DDR-Intellektuellen funktioniert.
3.4.6
Stasis und Zirkularität als geschichtsphilosophische Implikationen
Um zur These vom Anfang zurückzukommen, dass Hamlet/Maschine paradigmatisch für die resilienzverweigernde Organisationskultur des Deutschen Theaters nach 1989 ist, beschließe ich dieses Kapitel mit einer Analyse der geschichtsphilosophischen Annahmen und Implikationen von Müllers Inszenierung: Die Inszenierung eines zirkulären (und damit mitunter posthistorischen) Geschichtsverständnisses zieht sich als roter Faden durch die gesamte Inszenierung, wodurch Hamlet/Maschine als Unheil prophezeiender Kommentar auf die Wendeereignisse lesbar wird. Schmitt aufgreifend könnte man hier sagen, dass die Zuschauer hinter der Geschichtsphilosophie die Wendeereignisse »mit-sehen« konnten. Liest man Hamlet/Maschine als geschichtsphilosophische Reflexion, zeigt sich, dass der gesamte Abend grundiert ist von einem Geschichtsbegriff, der auf das Denken von Walter Benjamin zurückgeführt werden kann: Benjamin entwirft in Über den Begriff der Geschichte (1942) mit dem Engel der Geschichte eine Geschichtsvorstellung, die in radikaler Opposition zum linear-zukunftsgerichteten Zeitverständnis der bürgerlichen wie auch der orthodox-marxistischen Philosophie steht. Benjamin beschreibt das Verhältnis dieses Engels zur Geschichte so: Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.236 Benjamins Geschichtsbegriff ist nicht auf den Fortschritt oder eine bessere Zukunft gerichtet, sondern inszeniert den Wunsch, die Vergangenheit (»die Toten«) zu erlösen und das Chaos der Gegenwart wieder »zusammen[zu]fügen«. Utopie, wenn überhaupt davon gesprochen werden kann, liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Erlösung der in der Vergangenheit Leidenden. Dieses Denken verläuft analog zur Hamletkonstellation: Auch Hamlet scheitert daran, die Vergangenheit zusammenzufügen. Sein Wunsch, die Ordnung wiederherzustellen, endet in einer Katastrophe, die Tote über Tote häuft. 236 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Abhandlungen. Bd. I. Zweiter Teil. Frankfurt a.M. 1974, S. 697f.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Auch das Bühnenbild lässt sich als eine Visualisierung des Benjamin’schen Denkens lesen: Wenn Benjamin den Fortschritt als Sturm konzipiert, setzten Wonder und Müller an diese Stelle die Klimaerwärmung: In beiden Fällen wird Geschichte zur Naturgewalt und es gibt letztlich für die Individuen keine Gestaltungsmöglichkeiten, keine Agency mehr. Benjamin und Müller eint somit eine radikale Kritik an der Fortschrittsteleologie, die ich hier auch noch an Benjamins Revolutionsbegriff rückbinden möchte. So heißt es in den Notizen und Vorarbeiten zu den Thesen »Über den Begriff der Geschichte«: Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.237 Die Vorstellung von der Revolution als Notbremse korrespondiert frappierend mit der Entstehungssituation von Hamlet/Maschine: Während sich außerhalb der Theatermauern die ›friedliche Revolution‹ ereignet, setzt Müller in seiner Theaterarbeit auf Länge, Langsamkeit und Unterbrechungen des linearen Zeitflusses. Hamlet/Maschine kann demnach als der Versuch beschrieben werden, im Moment der (konter)revolutionären Umwälzungen die Benjamin’sche Notbremse zu ziehen und auf der Bühne Raum für die nicht abgegoltenen Versprechen der sozialistischen Vergangenheit zu gewähren.238 Müller lässt Hamlet/Maschine mit zwei signifikanten Umstellungen des Hamlettexts beginnen, die deutlich auf seinen durch Benjamin inspirierten Geschichtsbegriff rekurrieren. Die erste Umstellung betrifft den Prolog: Noch bevor irgendeine Aktion auf der Bühne stattfindet, spricht Horatio (in der Premierenbesetzung Jörg-Michael Koerbel, im Mitschnitt der Aufführung jedoch Martin Wuttke) aus dem Off die folgende Passage, die sich in der Textvorlage erst in jener Szene des ersten Akts findet, in der Horatio mit Marcellus und Bernardo auf die Rückkehr des Geists wartet. Er spricht die folgenden Worte: Als Rom im Stand der höchsten Blüte war Und grad bevor der mächtige Caesar fiel
237 Benjamin: Gesammelte Schriften. Abhandlungen. Bd. 3. Dritter Teil, S. 1232. 238 Dass die Darstellung und Überlagerung von verschiedenen Zeitbegriffen ein integraler Bestandteil des Inszenierungskonzepts sind, zeigt auch ein Blick in die Notate der Konzeptionsdiskussionen. In den Dokumenten, die im Archiv der Akademie der Künste in Berlin lagern, heißt es: »Furchtzentrum des Stücks = Ausdruck von Brecht = die Zeit und Vergangenheit und Zukunft implodieren in totaler Gegenwart […] Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft und Gegenwart, daraus folgt, daß alle Beteiligten immer anwesend sind. Stück nicht chronologisch miterzählen.« Notizen zur Konzeptionsdiskussion Feb. 1989, Inszenierungsdokumentation 677, Archiv der Akademie der Künste. Zitiert nach Marx: Hamlets Reise nach Deutschland, S. 314.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Standen die Gräber leer, verhüllt die Toten Kreischten und heulten durch die Gassen Roms Blutig der Tau, feuergeschweift die Sterne Die Sonne fleckig, und der feuchte Mond Auf dessen Einfluß Neptuns Reich sich gründet Krank an Verfinsterung wie zum Jüngsten Tag. Ganz solche Vorschau von schlimmem Ereignis Wie Boten, die voraufgehen einem Schicksal Prolog des Unheils, das im Kommen ist Haben Himmel und Erde jetzt verhängt Auf unsre Breiten und auf unser Volk.239 Horatios Rede stellt die Ereignisse auf Helsingör in eine (mystische) Linie mit der Ermordung Caesars: Er erkennt – die Hamlethandlung vorausdeutend – in der übersinnlichen Begegnung mit dem Geist den »Prolog« zu jenem »Unheil[…]«, das auf den Tod von König Hamlet folgen wird. Durch die Parallelisierung mit dem Attentat auf Caesar wird zudem der Niedergang der Römischen Republik konnotiert, was die dramatische Situation im Hamlet nochmals verstärkt als die eines epochalen Umbruchs ausweist. Die Passage wirkt neben den konkreten geschichtsphilosophischen und historischen Referenzen, die sich aus ihr für die Deutung des Stücks ergeben, ferner wie eine düster-atmosphärische Synopse des Abends. Wenn Horatio davon spricht, dass sich Caesars Ermordung durch blutigen Tau ankündigte, so lässt sich das zum Beispiel als eine Vorwegnahme der Bühnenbilddramaturgie lesen: Auch die Eiswürfelwelt taut ›blutig‹ ab und wandelt sich in eine (blut-)rote Bilderlandschaft. Gleichzeitig steht diese Bilderwelt im schroffen Kontrast zu den realen Umbruchsereignissen, die unblutig und ohne physische Gewalt abgelaufen sind. Gleichwohl wird dadurch, dass Müller eine Passage aus dem Hamlettext an den Anfang setzt, die eine Überblendung der römischen Geschichte mit dem Hamletplot suggeriert, die Gegenwart der Aufführung, das heißt die Wiedervereinigung, in den Kontext einer größeren, geschichtsphilosophischen Reflexion gestellt, wobei besonders Fragen nach der grundsätzlichen Möglichkeit von historischem Wandel und zivilisatorischem Fortschritt brisant werden. Die Montage von Horatios Zitat an den Anfang der Inszenierung ist auch als ein intertextueller Verweis auf Müllers Werk zu lesen. Die Beschäftigung mit der römischen Antike findet durch Zitate und Motive in vielen seiner Texte statt und wird zumeist als Sinnbild für die Dialektik der Demokratie, das heißt für das Umschlagen von Zivilisation in Barbarei funktionalisiert – so zeigt es Patrick Primavesi im Müller-Handbuch. Hier ordnet sich auch Müllers Faszination für den Untergang des römischen Imperiums ein. Die besondere Bedeutung, die die Auseinandersetzung
239 Shakespeare: Hamlet. Aus dem Englischen von Heiner Müller., S. 8.
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mit Rom für Müller hatte, zeigt sich zudem darin, dass Müller sein eigenes, intertextuelles Schreibverfahren und das damit einhergehende Autorschaftskonzept im Rekurs auf die römische Antike (er sieht die römische Literatur als eine kraftvolloriginelle Übersetzung der griechischen Literatur) nobilitiert.240 Auch in Müllers Langgedicht Mommsens Block, das 1992/93 erschien und neben Germania 3 oder Gespenster am Toten Mann (1994/95) Müllers einziger nach 1989 von der Forschung breiter diskutierter Text ist, macht Müller die Parallelen zwischen dem Untergang Roms und der DDR produktiv, um seine von 1989 induzierte (dramatische) Schreibkrise (der Titel spielt auf die englische Formulierung ›writer’s block‹ an) zu thematisieren. Müller setzt sich hierfür mit dem Althistoriker Theodor Mommsen in eins. Mommsens Schreibkrise bestand darin, dass er den geplanten vierten Band seiner Römischen Geschichte über die Zeit nach dem Tode Caesars nicht zu Ende schreiben konnte, und das, obwohl ein fünfter Band der Geschichte erschien – man vermutet bei Mommsen eine persönliche Aversion gegen die zu thematisierende Epoche, die römische Kaiserzeit. Das lyrische Ich wiederum in Müllers Text ekelt sich vor dem Kapitalismus und ist »verzweifelt über die kreative Lähmung in der wiederhergestellten (fast) monolithischen Dominierung der Welt durch den Kapitalismus«241 . So heißt es in Müllers Gedicht (durchaus dramatisch): Zwei Helden der Neuzeit speisten am Nebentisch Lemur des Kapitals Wechsler und Händler Und als ich ihrem Dialog zuhörte gierig Nach Futter für meinen Ekel am Heute und Hier: »Diese vier Millionen/Müssen sofort zu uns//Aber das geht nicht//Aber das fällt gar nicht auf//Wenn Du diese Klaviatur nicht beherrschst/Bist du verloren Das hast DU an X gesehen/Er hat sie nicht beherrscht//Die mußt Du ihm/Einhämmern sonst geht er baden Schade//Also ich habe die Befürchtung/Daß sie ihn an die Wand haun wie eine Qualle […]« Tierlaute wer wollte das aufschreiben Mit Leidenschaft Haß lohnt nicht Verachtung läuft leer Verstand ich zum erstenmal Ihre Schreibhemmung Genosse Professor vor der römischen Kaiserzeit Der bekanntlich glücklichen unter Nero242 240 Vgl. Patrick Primavesi: Römische Antike. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 179-182. 241 Joachim Fiebach: Nach 1989. In: Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 16-23, hier: S. 19. 242 Heiner Müller: Mommsens Block. In: Berliner Ensemble (Hg.): Drucksache 1, S. 1-9, hier: S. 89.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Mommsens Block wird gerne als Beleg für den Genrewechsel von der Dramatik zur Lyrik, den Müllers literarische Produktion nach 1989 vollzog, herangezogen.243 Vergleicht man das neunseitig Langgedicht jedoch mit der Hamletmaschine, lässt sich der Text – durch seine teilweise dialogische Struktur und Müllers ohnehin stark lyrische Dramatik – wohl auch als dramatischer Text lesen. Im anschließenden Kapitel zum Nachleben von Hamlet/Maschine werde ich jedoch genauer herausarbeiten, warum die Selbstinszenierung von Müller als verstummender Dramatiker ein wichtiger Baustein für seine biografische Resilienz nach 1989 ist. Nun zurück zu Hamlet/Maschine: Die zweite signifikante Umstellung in der Inszenierung findet dadurch statt, dass Hamlet, während Claudius im ersten Akt an seinen verstorbenen Bruder, König Hamlet, erinnert, abrupt beginnt seine letzten Worte aus dem Dramentext (»Ich sterbe, Horatio. Das starke Gift bezwingt ganz meinen Geist […] Der Rest ist Schweigen.«244 ) zu sprechen. Durch diesen den Schluss vorwegnehmenden und verfremdenden Eingriff wird kurz nach dem Prolog die zweite, deutliche Spur gelegt, dass Hamlet/Maschine als Inszenierung eines fatalistischen und auch zirkulären Geschichtsverständnisses lesbar ist. Die Gleichsetzung von Anfang und Ende findet sich in vielen Texten Müllers, wie auch in der Hamletmaschine, »die dort endet, wo sie wieder beginnen kann«245 . Auch hat der Tod für viele Figuren im Stück keine Bedeutung, denn Hamlet, Horatio und Ophelia sterben im Verlauf der Handlung und erscheinen wieder, kurzum sie sind Untote. Dass selbst der Tod, verstanden als die radikale Negation von Individualität, keine Rolle mehr zu spielen scheint, ist die Konsequenz aus Müllers dezidiert subjektkritischer Absage an die Möglichkeit von historischem Fortschritt. Der Tod wird nicht mehr ›produktiv‹ im Sinne einer Märtyrer- oder Opferlogik, die im sozialistischen Denken eng verknüpft war mit dem teleologischen Fortschrittsglauben: Für Müller ist Geschichte nicht mehr als eine überzeitliche repressive Struktur. Eine weitere, und mitunter die signifikanteste Gleichsetzung zwischen Anfang und Ende, wird von Müller dadurch inszeniert, dass er den Geist, der die dramatische Handlung auslöst, und Fortinbras, der die Handlung beschließt, vom selben Schauspieler verkörpern lässt, nämlich von dem Dramaturgieassistenten der Produktion, Stephan Suschke. Die Frage »Wer ist Fortinbras?« trieb Müller während des Probenprozesses um und blieb bis kurz vor der Premiere offen. Peter W. Marx
243 Janine Ludwig: Macht und Ohnmacht des Schreibens. Späte Texte Heiner Müllers (Kaleidogramme, Bd. 46). Berlin 2009, S. 148. 244 Shakespeare: Hamlet. Aus dem Englischen von Heiner Müller., S. 107. 245 Hans-Thies Lehmann: Zwischen Monolog und Chor. Zur Dramaturgie Heiner Müllers. In: Ian Wallace (Hg.): Heiner Müller: Probleme und Perspektiven. Bath-Symposium 1998. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 48). Amsterdam, Atlanta, GA 2000, S. 13-34, hier: S. 21.
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betont, dass es Müller durch diese Doppelbesetzung gelingt, im Verhältnis zu anderen Hamletinszenierungen und der Hamletforschung eine markante Interpretation von Shakespeares Stück vorzulegen: Fortinbras sei bei Müller damit keine Episodenfigur mehr, sondern die Verkörperung der »Möglichkeit, das Stück über die Figuren und ihr Schicksal hinaus für eine geschichtsphilosophische Reflexion zu öffnen«246 . So heißt es in Peter Marx’ Hamlet-Handbuch unter dem Schlagwort Fortinbras: Für Müller wurde durch die Verschränkung der Figuren der dramaturgische Verlauf zu einem historischen Reflexionsraum, indem die Kontinuität repressiver Strukturen und Machtverhältnisse erkennbar wurde. Im Nachgang der Wende 1989/90 wurde Hamlet so plötzlich zu einer unmittelbaren Diagnose der eigenen Gegenwart.247 Auch für die Zuschauer, die sich vielleicht nicht bewusst waren, dass der Geist und Fortinbras in Personalunion von Suschke verkörpert wurden, konnte sich eine Verbindung zwischen dem Geist (Abbildung 15) und Fortinbras (Abbildung 16) über das Kostüm erschließen. Während der Geist als fast nackte, mit Schwert bewaffnete Figur erscheint, deren Kopf von einer silbernen Maske umschlossen ist, trägt Fortinbras einen edlen Herrenanzug und eine (der Geistermaske stark ähnelnde) goldene Maske.
Abbildung 15 und 16: Der Auftritt des Geists in Akt I (links) und Auftritt von Fortinbras (Schuschke, hinten) in der Schulssszene, vorne der tote Claudius (Gudzuhn) und Ophelia (Broich) mit dem toten Hamlet im Arm.
Quelle: Theateraufzeichnung von Christoph Rüter (1993), (c) 2021 Christoph Rüter.
Müller beschreibt in seiner Autobiografie Krieg ohne Schlacht (und auch schon in Rüters Dokumentation) die zirkuläre Struktur von Hamlet/Maschine als den Über246 Peter W. Marx (Hg.): Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen, S. 69. 247 Ebd.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
gang »[v]on einer Knechtschaft in die andere, von Stalin zur Deutschen Bank«248 . Nimmt man diesen Gedanken auf, lassen sich der Geist und Fortinbras nochmals genauer lesen: Alle Auftritte des Geists sind unterlegt mit Ton- bzw. Rundfunkaufnahmen von Stalins Begräbnis, auf denen auch der Marche Funèbre von Frédéric Chopin zu hören ist; der bekannte Trauermarsch wurde wohl tatsächlich auf Stalins Beerdigung gespielt. Durch die Musik ist der Geist auch für diejenigen, die die Rundfunkdokumente nicht einordnen konnten, mit einem (Staats-)Begräbnis assoziierbar. Diejenigen Zuschauer/innen, die wiederum die O-Töne mit Stalin verbinden konnten, konnten in dem Geist mit seinem Schwert und der an eine Rüstung erinnernden silbernen Maske Stalin als »Verkörperung einer blutigen Vorgeschichte«249 im (Schmitt’schen Sinne) »mit-sehen«. Fortinbras, der am Schluss durch einen großen Riss in der Bühnenwand auftritt, ist leichter mit Müllers Zitat und den Ereignissen von 1989 in Verbindung zu bringen: Er trägt als Bote der neuen Zeit einen Anzug mit Krawatte und Einstecktuch sowie die goldene Maske; der Anzug und das Gold symbolisieren die neue kapitalistische Macht unmissverständlich. Verstärkt wird Müllers Lesart, dass die Wiedervereinigung nur der Weg von einer Knechtschaft in die andere sei, dadurch, dass Zbigniew Herberts Gedicht Fortinbras’ Klage aus dem Jahr 1961 an die Stelle von Fortinbras’ Schlussworten montiert ist und von dem eigentlich schon toten Hamlet gesprochen wird.250 Herberts Fortinbras richtet sich in dem Gedicht an Hamlet: ich muß auch ein bessres gefängnissystem erfinden denn wie du richtig meintest Dänemark ist ein gefängnis […] was von mir bleibt wird kein gegenstand einer tragödie251 In der Inszenierung spricht, wie gesagt, der tote Hamlet diese Worte (er stellt sich dafür vor Fortinbras) und richtet sich daher mit dem Gesagten an sich selbst. Fortinbras und die neue Zeit, die mit ihm anbrechen könnte, erscheinen daher wie eine Projektion von Hamlet. Auf die realen Verhältnisse angewendet ist Fortinbras damit die Antithese zu den (vergeblichen) Hoffnungen vieler DDR-Intellektueller
248 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 87. 249 Weigel: Das Deutsche Theater, S. 76. 250 Stephan Pabst merkt an, dass es in Herberts Gedicht inhaltlich um eine Kritik an der sozialistischen Realpolitik gehe, weshalb für ihn die Verbindung von Fortinbras’ Klage mit 1989 nicht nachvollziehbar ist. Allenfalls leuchtet ihm ein, dass sich eine Affinität von Hamlet/Maschine zu Herberts Gedicht daraus ergibt, dass Hamlet in beiden Werken »als gleichermaßen posthistorische und postdramatische Figur« die Unmöglichkeit und Überkommenheit dramatischer Strukturen reflektierbar macht. Vgl. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 371. 251 Zbigniew Herbert: Fortinbras’ Klage (1961). In: Das Land, nach dem ich mich sehne. Lyrik und Prosa. Frankfurt a.M. 1987, hier: S. 121.
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auf einen neuen, besseren Sozialismus: Der nun scheinbar befreite Staat (Dänemark wie die DDR) wird sich – so die These – ebenso als ein Gefängnis (allenfalls ein etwas besseres) herausstellen wie der vorangegangene Staat.252 Doch bedient das Gedicht von Herbert nicht nur diese posthistorische Perspektive, sondern auch die postdramatische: Wenn Fortinbras/Hamlet die Zeile spricht »was von mir bleibt wird niemals stoff für eine tragödie«, lässt sich sagen, dass das Prinzip der Hamletmaschine Müllers Hamlet dominiert: Viele Interpret/innen haben dies moniert, so zum Beispiel Katharina Keim, die sich daran stört, dass das Verhältnis von Hamletmaschine und Hamlet damit redundant sei.253 Ich möchte hingegen diesen Befund im anschließenden Kapitel aus der Perspektive der biografischen Resilienz von Müller neu einordnen, indem ich zeigen werde, dass Hamlet/Maschine eine Form von Müllers nach 1989 selbstbewusst betriebener Selbstkanonisierung ist, die wie die Inszenierung als verstummender Dramatiker das Fundament für Müllers Anschlussfähigkeit und Popularität in den Neunzigern bildet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Müller den Hamlet 1989/90 als Anachronismus gegen die Wendeeuphorie und als starke Prognose, wenn nicht sogar Prophetie, inszenierte: Fortschritt findet nur darin statt, dass die Welt von einem Gefängnis ins nächste schreitet. Gleichzeitig rückte Müller – und hier zitiere ich abschließend nochmals Peter W. Marx: selbst immer stärker in jene Position, die er seinem Hamlet (oder Nicht-Hamlet) in Hamletmaschine in den Mund gelegt hatte. Sein Fokus auf die Proben erscheint aus heutiger Sicht fast als ein Akt der Verweigerung.254 Müller inszenierte ferner ein Vergeblichkeitspathos, das dem ›Theater‹ der friedlichen Revolution und dem politischen Engagement der kritisch-loyalen DDR-Künstler/innen und -Intellektuellen »grand concrete structures signifying stasis and power«255 entgegenstellt und somit auch als Bild für den ausbleibenden organisatorischen Wandel des Deutschen Theaters in den Jahren 1989-1997 gelesen werden kann. Auch das wird im anschließenden Kapitel (unter dem Punkt »Die Stasis von Hamlet/Maschine als Bild der Organisation«) noch genauer beleuchtet.
252 Klaus Welzel: Utopieverlust. Die deutsche Einheit im Spiegel ostdeutscher Autoren (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 242), S. 126. 253 Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, S. 245. 254 Marx: Hamlets Reise nach Deutschland, S. 319. 255 Barnett: Resisting the Revolution: Heiner Müller’s Hamlet/Machine at the Deutsches Theater, Berlin, March 1990, S. 194.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
3.5 3.5.1
Das diskursive Nach- und Eigenleben von Hamlet/Maschine (4. Ebene) Die Rezeption von Hamlet/Maschine im Spannungsfeld des Ost-West-Diskurses
Ebenso wie die Produktion war auch die Rezeption von Hamlet/Maschine dem »geschichtlichen Wirbelsturm«256 der Wendeereignisse ausgesetzt, der insbesondere die Hoffnungen der reformsozialistisch-engagierten Schauspieler/innen zwischen Euphorie und Enttäuschung hin und her trieb. Mit den sich rasant ändernden Realitäten, denen die Proben und Aufführungen ausgesetzt waren, wandelt sich aber auch radikal die Zusammensetzung des Publikums, was dazu führte, dass das Publikum, für das die meisten an der Inszenierung Beteiligten jahre- und jahrzehntelang Theater produziert hatten, im Moment der Premiere nicht mehr die Reihen füllte. Die Zahl der DDR-sozialisierten Zuschauer nahm im Zug der Wiedervereinigung von Aufführung zu Aufführung ab und wurde durch eine westdeutsche bürgerliche Zuschauerschicht ersetzt. Dieser Prozess ist nicht nur mit den konkurrierenden Unterhaltungsangeboten des Westens zu erklären, sondern auch durch die sich rapide verteuernden Theaterkarten: Die Preise für das Deutsche Theater vervierfachten sich innerhalb von vier Spielzeiten, so kosteten 1988/89 Karten noch 2,- bis 12,- Mark und 1991/92 schon 11,- bis 43,- Mark.257 Um den habituellen Unterschied zwischen den ost- und westsozialisierten Zuschauer/innen deutlich zu machen, mit dem besonders die Schauspieler/innen in den Vorstellungen konfrontiert waren, lohnt sich ein Blick in Ralph Hammerthalers Essay Die Positionen des Theaters in der DDR.258 Hammerthaler beschreibt mit dem Begriff der »assoziativen Öffentlichkeit«259 die ästhetisch-politische Sonderrolle der DDR-Theater und das für den DDR-Kontext spezifische Verhältnis zwischen Bühne und Publikum. In Abgrenzung zum Konzept der Gegenöffentlichkeit260 betont Hammerthaler, dass die Kommunikation zwischen Theaterkünst-
256 Linzer [u.a.]: Regie: Heiner Müller, S. 76. 257 Weigel: Das Deutsche Theater, S. 307. 258 Ralph Hammerthaler: Die Positionen des Theaters in der DDR. In: Christa Hasche [u.a.] (Hg.): Theater in der DDR. Chronik und Positionen. Berlin 1994, S. 153-261. 259 Ebd., S. 225. 260 Das Konzept der Gegen- und Teilöffentlichkeit geht zurück auf Oskar Negts und Alexander Kluges Buch Öffentlichkeit und Erfahrung, das Anfang der Siebzigerjahre als Replik auf Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit erschien. Kluge und Negt betonen in Abgrenzung zu Habermas die Bedeutung, die proletarische und feministische Gegenöffentlichkeiten ab dem 19. Jahrhundert für die Herausbildung der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaftsformationen gehabt haben. Oskar Negt u. Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Göttin-
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ler/innen und der DDR-Gesellschaft (bzw. zwischen Bühne und Publikum) nicht darauf beruhte, dass man sich »offen, gar oppositionell über Mißstände […] verständig[te]«261 , sondern dass man versuchte, »durch Anspielungen und Andeutungen das Einverständnis des Publikums«262 zu gewinnen. Das DDR-Publikum wiederum war verlässlich eingeübt in dieses konspirative Wechselspiel zwischen Verschlüsselung und Enträtselung des Bühnengeschehens.263 Dieser modus operandi der DDR-Theaterkommunikation wird in Anlehnung an Brecht auch als ›Sklavensprache‹ bezeichnet. So zitierte Ralph Hammerthaler den DDR-Regisseur Wolfgang Engel mit den Worten: Die DDR-Bürger hatten gelernt, zweisprachig miteinander zu leben, oder aber eine Sprache zu sprechen und eine andere zu meinen, man konnte das in einem negativen Sinne als die Sklavensprache bezeichnen, die es offensichtlich auch war. Auf diese Weise konnte unter Gleichgesinnten eine Verständigung hervorgebracht werden, mit der man aber nicht aneckte. Anhand eines alten Stücks Machtstrukturen der DDR aufzudecken bzw. die Beschädigung des Individuums durch Machtstrukturen zu erzählen, war bis zur Beendigung der DDR eine vornehme Aufgabe des Theaters, es bildete so eine Art von indirektem Spiegel.264 Die Öffentlichkeitsfunktion des DDR-Theaters impliziert ferner die Überzeugung, Kunst sei chiffrierte Kommunikation. So behauptet Heiner Müller 1983 im Spiegel beispielsweise, »daß die Gegenwartsbezüge in mythologischen oder historischen Stücken vom DDR-Publikum viel besser begriffen werden«265 . Diese Wertung ist nur von der Position aus möglich, dass Kunst einen zu entschlüsselnden Sinn enthält. Diese Haltung steht eigentlich im Widerspruch zu Müllers Aktivierungsästhetik und kann deshalb als Beleg dafür angeführt werden, dass auch Müller als Dramatiker nachhaltig durch die DDR geprägt ist.
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gen 2016. Winfried Thaa hat gezeigt, wie dieses Konzept auf das Aufkommen von Teilöffentlichkeiten im Umfeld der Friedens- und Umweltbewegung in der DDR angewendet werden kann. Winfried Thaa u. Iris Häuser: Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR-Sozialismus. Das Ende des anderen Wegs in der Moderne. Tübingen 1992, S. 241260. Hammerthaler: Die Positionen des Theaters in der DDR, S. 225. Ebd. Ein frühes Beispiel für ›geglückte‹ assoziative Kommunikation auf dem Theater ist Benno Bessons Inszenierung von Jewgeni Schwarz’ Der Drache, die 1965 am Deutschen Theater entstanden ist. Besson unterwanderte die Theaterzensur, indem er in seiner märchenhaften Inszenierung ein theatrales Kommunikationssystem etablierte, das in gleichem Maße offen für Herrschaftskritik wie linientreue Interpretation war. Ebd., S. 180-181. Jenny Urs u. Hellmuth Karasek: Deutschland spielt immer noch die Nibelungen. DDRDramatiker Heiner Müller über seine Theaterarbeit zwischen Ost und West. In: Der Spiegel (1983) 19, S. 200.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Im Folgenden möchte ich am Beispiel von drei einschlägigen Theaterkritiken unterschiedliche Rezeptionsweisen von Hamlet/Maschine vorführen: Neben Gerhard Stadelmaiers Kritik aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), die eindeutig eine negative Haltung zu Hamlet/Maschine aufweist, sind das zwei dem Tenor nach stärker ambivalente Kritiken, nämlich Benjamin Heinrichs Kritik aus Die Zeit und die Theater der Zeit-Kritik von Martin Linzer, dem einzigen DDR-sozialisierten Kritiker in dieser Auswahl. Gerhard Stadelmaier, Theaterkritiker der FAZ, fällt ein sehr negatives Urteil über Hamlet/Maschine, was er insbesondere an der Dauer des Abends festmacht. So heißt es bei Stadelmaier: »Sie [die Inszenierung, Anm. H. S.] hätte noch Stunden weitergehen können und hätte nichts gewonnen. Sie hätte auch nach zwei Stunden zu Ende sein können und hätte nichts verloren.«266 Stadelmaier sieht in der Inszenierung nichts anderes als puren »Stillstand«267 dargestellt, wodurch der Abend wirke »wie eine Art letzte Verbunkerung des DDR-Theaters«268 , was ihn abstößt. Dass in der Inszenierung unterschiedliche Zeitbegriffe miteinander kommunizieren, spielt für ihn keine Rolle. Er beschreibt den Abend schlicht als eine langweilige Zumutung für die Zuschauer und mittels der militärischen Vokabel »Verbunkerung« setzt er die Auffassung ins Bild, dass Müllers Theater in (selbstgewählter) Isolation und in ästhetischer Rückständigkeit verharre. An anderer Stelle argumentiert Stadelmaier etwas weniger hart – aber nicht minder chauvinistisch, wenn er Müllers Abend so beschreibt: Die Ost-Berliner Schauspieler exekutieren […] so treuherzig-sachlich, so ernst-perfekt und so rasend-engagiert, als müßten sie das moderne Theater im Zeitraffer nachholen, das im Westen in den späten siebziger, frühen achtziger Jahren Mode war.269 Er nennt als die vermeintlichen Vorbilder von Müller die Regisseure Heyme, Neuenfels, Zadek und Wendt. Formale Innovation gilt ihm, ganz dem Nomos des westdeutschen Theaterfeldes entsprechend, als Maßstab für ›gutes‹ Theater. Stadelmaier hält jedoch nicht nur einzelne Regieentscheidungen für missglückt bzw. für nicht innovativ genug, sondern kritisiert die Konzeption des Abends grundsätzlich, denn er hält Müllers Hamletmaschine mit dem Untergang der DDR für obsolet: Hamlet und Hamletmaschine zusammenzubringen, müsse scheitern, weil es zwei Texte seien, die nicht mehr zusammengehörten. Dieser Kritikpunkt deckt sich wieder-
266 Gerhard Stadelmaier: Hamletmaschinenbau. Heiner Müller inszeniert Shakespeare und Müller in Ost-Berlin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.03.1990), S. 33, hier: S. 33. 267 Ebd. 268 Ebd. 269 Ebd.
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um mit Müllers eigenen Zweifeln an der Entscheidung, Hamletmaschine auch nach dem Mauerfall zu spielen.270 Offensichtlich tendenziös ist Stadelmaiers Kritik an jenem Punkt, an dem sie in einen (kunsttheoretisch-anachronistischen) Biographismus abgleitet: Stadelmaier entwickelt zunächst eine interessante Interpretation für die inszenierte Einheit von Fortinbras und dem Geist: Wenn der Geist und Fortinbras dieselbe Figur sind und Fortinbras der Kapitalismus, müsste dann Hamlet, der seinen Vater abgöttisch liebt, nicht auch den Kapitalismus lieben?271 Im nächsten Satz verwirft Stadelmaier diese Idee jedoch mit dem Argument, dass sie auf Gedanken beruhe, »die Heiner Müller sich nicht gemacht hat«272 . Stadelmaier ignoriert hier zunächst einmal gänzlich Müllers auf die Aktivierung des Zuschauers zielendes, ästhetisches Programm. Denn aus Müllers Perspektive ließe sich ja gerade entgegnen, dass eine Interpretation des Abends, die der vermeintlichen politischen Haltung des Autors zuwiderläuft, kein Einwand gegen seine Kunst sei. Und noch grundsätzlicher lässt sich gegen Stadelmaiers Rückschlüsse auf Müllers Intention einwenden, dass er in seiner Kritik das begeht, was der New Criticsm einen »intentionalen Fehlschluss« nennt. Wimsatt und Beardsley führen das am Beispiel der Lyrik aus: Wenn es dem Dichter gelang, […] [seine Intention] zu verwirklichen, dann zeigt das Gedicht selbst, was er zu schaffen versuchte. Und wenn es dem Dichter nicht gelang, dann ist das Gedicht kein adäquates Zeugnis dafür.273 Stadelmaier entwickelt eine Deutung ausgehend von der Ost-West-Differenz, doch statt diese weiter auszuführen, wird sie zur Spitze gegen Müller. Stadelmaier verharrt ganz in einer Perspektive, die das Potential von Ost-West-Übersetzungen zugunsten eines stark asymmetrischen Ost-West-Denkens negiert. Stadelmaier lobt die Inszenierung hingegen für die Darstellung der Geschlechterdifferenz (besonders im Hamletmaschine-Teil):
270 Die Empirie widerspricht beiden. 2007 hat Dimiter Gotscheff sehr erfolgreich die Hamletmaschine am Deutschen Theater aufgeführt und auch an anderen Stücken von Müller demonstriert, dass diese noch aktuell und mit genug Abstand zu 1989 wieder spielbar sind. 271 Ebd. 272 Ebd. 273 William K. Wimsatt u. Monroe C. Beardsley: Der intentionale Fehlschluss. In: Fotis Jannidis [u.a.] (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. (Universal-Bibliothek, Bd. 18058). Stuttgart 2000, S. 84-101, hier: S. 85.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Der Regisseur Müller findet für den Geschichtspessimismus des Dichters Müller ein schlaues rührendes Bild: Hier die starken, gedemütigten Frauen und dort die schwachen, frechen Männer.274 Konsistent ist auch seine Kritik an Müllers zyklischem Geschichtsverständnis: Er nennt es eine »Anzüglichkeit«, dass die Inszenierung suggeriere, dass »das Neue […] das Alte«275 sei. Und weiter heißt es: »Das Alte häuft sich in Assoziationen und dreht sich acht Stunden im Kreis: Eine Totenbeschwörung.«276 Metaphern des Sterbens und Totseins häufen sich auffällig in allen drei Kritiken. Meines Erachtens repräsentieren die Autoren mit diesem Metaphernfeld die Haltung, die Negativität des Theaterabends als Defätismus aufzufassen und nicht etwa – wie Teile der Müller-Forschung es tun – als Imperativ zum Handeln.277 Benjamin Henrichs kommt in seiner Tod um Mitternacht betitelten Kritik in Die Zeit zu einem ähnlichen Urteil wie Stadelmaier, was die zeitliche Ausdehnung der Inszenierung anbelangt. Auch für Henrichs erschließt sich (ästhetisch) nicht, warum die Doppelinszenierung acht Stunden dauert. In seiner Kritik heißt es: Das Schauspiel beginnt um vier Uhr nachmittags und stirbt um Mitternacht. In dieser Zeit hätte der Kritiker/Zuschauer/Mensch auch etwas anderes tun können, als im Theatersessel zu sitzen und darin langsam, aber unaufhaltsam zu versinken. Acht Stunden: Das wäre Zeit genug gewesen für ein Buch, oder zwei Filme, oder drei glücklich bestandene Abenteuer. Dahin.278 Der gesamte Text ist wesentlich stärker noch als Stadelmaiers dominiert von Todes-Metaphern und Henrichs liest die DDR als Zombie-Staat. Die Figuren auf der Bühne seien »eine Versammlung von Depressiven, von Untoten, von geisterbleichen Schleichern«279 , die den Rest des »Obrigkeits- und Untertanenstaat[s] in
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Stadelmaier: Hamletmaschinenbau, S. 33. Ebd. Ebd. Vgl. zu einer gegen den Defätismus-Vorwurf gerichteten Lesart: Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie (Schriften der Universität, Gesamthochschule Paderborn Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 11). Paderborn 1989. Zusätzlich zum DefätismusVorwurf formiert sich in der Literaturwissenschaft nach 1989 im Umfeld von Horst Domdey eine Kritik, die Müller einen zivilisationskritischen Vitalismus in der Nachfolge der Konservativen Revolution vorwirft. Vgl. hierzu exemplarisch: Richard Herzinger: Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München 1992. 278 Benjamin Henrichs: Tod um Mitternacht: Premiere am Deutschen Theater in Ost-Berlin. Acht Stunden sind kein Theater. [https://www.zeit.de/1990/14/acht-stunden-sind-kein-theat er (5.11.2018)], S. 1 279 Henrichs: Tod um Mitternacht: Premiere am Deutschen Theater in Ost-Berlin, S. 2.
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den letzten undramatischen Atemzügen seiner Agonie«280 repräsentierten. Die Hamletmaschine nennt er »das überflüssigste Intermezzo«281 und ein »pseudozeitgenössisches Zwischenspiel«282 , das Müller über den Abend verteilt ausschlachte. Dass die Hamletmaschine als Assoziationsgenerator für Sozialismus- und DDRspezifische Themen fungieren kann, wie es im vorangegangenen Kapitel die Statements von Thomas Irmer und Alex Weigel gezeigt haben, spielt für Henrichs keine Rolle. Er liest den Theaterabend primär als eine metatheatrale Auseinandersetzung. So lautet sein Resümee für den ganzen Abend: Man sieht dem Theater beim Sterben zu, acht Stunden lang. Heiner Müller, ein leiser, aber unerbittlicher Sterbehelfer, macht keinerlei Anstalten, das Dahinscheidende ins Leben zurückzuholen.283 Henrichs Urteil über die ästhetische Qualität des Abends bleibt jedoch ambivalent: Er beschreibt den Abend zwar als eine zeitraubende »Nicht-Inszenierung, allerdings von der extremen und erlesenen Art«284 und hält einschränkend fest: »Natürlich ist der Tod, den Heiner Müllers Theater veranstaltet und feiert, ein größerer, bedeutsamerer Vorgang als das falsche Leben auf den Bühnen sonst.«285 Gleichwohl endet seine Kritik mit einer erneuten Einschränkung dieser Wertschätzung von Müllers Theaterarbeit. So lauten Henrichs letzte Sätze: Für die große Heiner-Müller-Gemeinde mag der Abend ein ergreifendes Ereignis sein (oder wenigstens eine lustvolle Tortur). Wir armen anderen haben nur wieder einmal ein riesiges Stück Leben (acht Stunden, das sind ungefähr dreißigtausend Herzschläge) im Theater begraben müssen. Der Rest ist Schlafen.286 Die Rede von der Heiner Müller-Gemeinde ist, wie Anja Quickert gezeigt hat, typisch für den Umgang mit Heiner Müller in der westdeutschen Theaterkritik und kann als ein Abwehrreflex gegen die Geltung des Autors gelesen werden: Ausgehend von einer Theaterkritik von Ulrich Seidler aus dem Jahr 2011,287 in der es um Dimiter Gotscheffs Hamletmaschine geht,288 zeigt Quickert, dass Müllers Nach-
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Ebd. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 1. Ebd., S. 5. Ebd. Ulrich Seidler: Gepriesen seien die Posaunen. Must go on: Die Gotscheff-Müller-Show zum Weltuntergang im Deutschen Theater Berlin. [https://www.fr.de/kultur/gepriesen-seien-pos aunen-11367247.html (13.3.2019)]. 288 Die Premiere war am 8. September 2007. In Seidlers Kritik geht es um ein Gastspiel in Frankfurt a.M.
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leben in den Feuilletons bis heute flankiert wird von der häufig wiederkehrenden Bezugnahme auf die »Müller-Gemeinde« – so endet die Kritik von Seidler beispielsweise mit den Worten: »Amen und bis zum nächsten Mal, liebe MüllerGemeinde.«289 Quickert argumentiert, dass allein der Umstand, dass man sich in den Kritiken wie selbstverständlich auf eine »Müller-Gemeinde« beziehen kann, ein abwehrende Haltung gegenüber Müllers Theater zum Ausdruck bringt. So ist Quickert »keine Rezension bekannt, die eine ›Kleist-Gemeinde‹, eine ›ShakespeareCommunity‹ oder eine ›Max-Frisch-Gruppe‹ zum Gegenstand ihrer Kritik erhoben hätten«290 . Man kann diese rhetorische Strategie als Teil eines camouflierten OstWest-Konflikts lesen, aber natürlich auch im Kontext der Postdramatik-RealismusDebatten. In beiden Fällen jedoch wird durch die Idee von einer eingeschworenen Müller-(Fan-)Gemeinde eine Freund/Feind-Struktur etabliert, mittels derer Müllers Theater an den Rand gedrängt wird. Die beunruhigende Ambivalenz und Offenheit von Müllers Texten wird so zu einem Erlebnis für einen eingeschworenen Kenner-Kreis stilisiert und damit wiederum diskursiv eingehegt. In Henrichs Kritik finden sich auch an anderer Stelle subtile Spuren eines asymmetrischen Ost-West-Denkens: So vergleicht er beispielsweise Müllers depressive Ästhetik mit der von Fassbinders antiteater in den 1960er Jahren, dort »habe dieselbe monumentale Lethargie«291 geherrscht. Diesen Vergleich zwischen den beiden Künstlern kommentiert Henrichs im nächsten Satz damit, dass die Nähe von Fassbinder und Müller sich daraus ergebe, dass die DDR mit der Wende ihr verzögertes Achtundsechzig erlebe. Dieser historisch fragwürdigen Ineinssetzung von 1989 und 1968 liegt die Idee einer nachholenden Modernisierung zugrunde, die die DDR-Bevölkerung zu durchleben habe.292 Henrichs hebt in seiner Kritik besonders die Gestaltung der Ophelia hervor. Für ihn ist sie die einzige nicht ganz so deprimierende Figur. So schreibt er über sie:
289 Ebd. 290 Anja Quickert: Zugriff auf Heiner Müller im Gegenwartstheater. Schlaglichter auf die Rezeption. In: Stephan Pabst u. Johanna Bohley (Hg.): Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers. Berlin 2018, S. 357-384, hier: S. 358. 291 Henrichs: Tod um Mitternacht: Premiere am Deutschen Theater in Ost-Berlin, S. 4. 292 Vgl. zum Paradigma der nachholenden Modernisierung: Raj Kollmorgen: Zwischen ›nachholender Modernisierung‹ und ›doppeltem Umbruch‹. Ostdeutschland und deutsche Einheit im Diskurs der Sozialwissenschaften. In: Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch u. Hans-Liudger Dienel (Hg.): Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen. Wiesbaden 2011, S. 2767; Anna Schwarz: Vom Paradigma der ›nachholenden Modernisierung‹ zum cultural turn. Sozialwissenschaftliche Transformationsforschung im Rückblick. In: Hans-Jürgen Wagener, Frank Bönker u. Jan Wielgohs (Hg.): Postsozialistische Transformation und europäische (Des)Integration. Bilanz und Perspektiven. Marburg 2008, S. 23-40.
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Schön, ja rührend, wie Müller die nicht sehr attraktive Rolle (erst ist Ophelia langweilig, dann ist sie verrückt, dazwischen ist sie gar nichts) über ihren Tod hinaus verlängert, sich von Ophelia gar nicht trennen mag. Das Mädchen steigt aus seinem Grab, umarmt den Bruder, wagt ein Tänzchen mit dem Totengräber. Am Ende (Fortinbras, der Mann mit dem Goldkopf, ist schon da!) klopft sie von draußen an die Tür zum Zuschauerraum, stürzt herein, ruft nach ihrem Hamlet und stirbt alsbald (in einer roten Rauchwolke) einen wirklich schönen Theatertod.293 Henrichs bedient hier beinahe wörtlich den Topos von der ›schönen Leiche Ophelia”294 ; eine, wie Elisabeth Bronfen in Nur über ihre Leiche umfassend gezeigt hat, klassische Abspaltungsfigur zur Stabilisierung männlicher Subjektivität, die die Vergänglichkeit des Lebens auf das Andere, das Weibliche, projiziert und ästhetisch genießbar macht. Bronfen beschreibt die schöne, weibliche Leiche als eine seit der Antike kursierende »Pathosgeste«295 und »tragfähige Denkfigur für den Triumph der Kultur über die Natur«296 . Ferner zeigt Bronfen, dass gerade der Tod einer Heldin in der Literatur oder auf der Bühne krisenbewältigend und gemeinschaftsstiftend wirkt: […] Heldinnen [fungieren] als Sündenböcke, durch deren Opferung eine in Krise geratene Familie oder eine symbolische Gemeinschaft wieder versöhnt werden kann. Ist die Geopferte Inbegriff von Unschuld und Reinheit[,] kann somit eine moralische Erneuerung durchgeführt werden […]. Ist sie hingegen eine jener gefährlichen Femmes Fatales […], dient ihr Tod dazu, ihre Dämonisierung zu bestätigen.297 Müllers Ophelia ist beides – femme fragile und femme fatale, weshalb die Einordnung ihres Todes in dieses Schema schwerfällt. Die Emphase, mit der sich Henrichs an Ophelias (letztlich sinnlosem) Tod erfreut, passt zu Bronfens These, dass »der Tod einer schönen Frau ein ebenso brisanter Wunschtraum geworden ist wie die beiden von Sigmund Freud designierten Kernträume vom Vatermord und der Mutterliebe«298 . Die vielen anderen (männlichen) Bühnentode, die der Hamletschluss produziert, erwähnt er nicht. Martin Linzers Kritik – Linzer ist der einzige DDR-Kritiker in meiner Auswahl – in Theater der Zeit verweist schon durch ihren Untertitel (»Notiert nach Hamlet/Ma-
293 Henrichs: Tod um Mitternacht: Premiere am Deutschen Theater in Ost-Berlin, S. 4. 294 Eine besonders prominente Darstellung der schönen Leiche Ophelia dürfte das OpheliaGemälde von John Everett Millais aus dem Jahr 1852 sein, dass die ertrinkende Ophelia in einem Fluss treibend ikonisch darstellt. 295 Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. I. 296 Ebd., S. V. 297 Ebd. 298 Ebd., S. I.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
schine«) auf eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit Hamlet/Maschine. Linzers Text ist eher eine lose Sammlung von Gedanken und Beobachtungen als eine fertig ausformulierte Theaterkritik. Das verwundert insofern, als Linzer die Offenheit von Müllers Inszenierung zunächst deutlich positiver beschreibt als seine westdeutschen Kollegen: Er versteht die Inszenierung als einen Raum von Angeboten, in dem sich »der Zuschauer […] bewegen [kann]«299 . Mit dieser Formulierung versinnbildlicht Linzer schlüssig Müllers auf Aktivierung setzendes Theaterprogramm. Im Vergleich mit seinen westdeutschen Kollegen kommentiert Linzer vor allem die Stalin- und Wende-Referenzen wesentlich stärker. So schreibt er: Mit dem Fall der Mauer, spätestens, ist klar, daß das Gefängnis nicht endete, und auch der Tod Stalins, den der Anfang zitiert – wenn Papa Hamlet als Engel der Geschichte durch die Szene geistert – ist nur Zäsur einer Epoche, an deren vorläufigem Ende wir stehen, die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum.300 Im Gegensatz zu Stadelmaier und Henrichs erlebt Linzer die geschichtspessimistische Grundierung des Abends mithin als kongruent mit seiner eigenen (ostdeutschen) Erfahrung von 1989 und nicht als einen ›unanständigen‹ oder rätselhaften Fatalismus. Gleichwohl ist er unsicher bei der Bewertung des ganzen Abends. Er fragt rhetorisch: Die Tragödie auf der Bühne korrespondiert mit dem Trauerspiel, das uns die Zeit frei Haus liefert, und es weist voraus in Katastrophen, die (noch) abwendbar sind. Aber muß man auch gleich das Theater mit beerdigen?301 Genau wie Henrichs und Stadelmaier bedient sich Linzer hier bei den Todesmetaphern: Auch für ihn ist Hamlet/Maschine eine Beerdigung des Theaters. Einen deutlichen Unterschied zwischen Linzers Kritik und den beiden anderen Texten gibt es bei der Frage nach der Darstellung der Geschlechterdifferenz und der Ophelia-Figur. Linzer ist, anders als seine westdeutschen Kollegen, nicht von der Ophelia-Darstellung beeindruckt, sondern stößt sich gerade im HamletmaschinenIntermezzo an einer »Dominanz des männlichen Elements im Allgemeinen«302 . Das deckt sich mit meiner Inszenierungsanalyse, die zeigen konnte, dass tatsächlich Mühe und Gudzuhn (also Hamlet und Claudius) das inszenatorische Zentrum der Hamletmaschine bilden, wodurch die Inszenierung bezüglich der Geschlechterdifferenz hinter dem Potential des Texts zurückbleibt.
299 Martin Linzer: Die Welt ist aus den Fugen. Notiert nach ›Hamlet/Hamletmaschine‹. Die Heiner-Müller-Monster-Show. In: Theater der Zeit (1990) 5, S. 10-12, hier: S. 11. 300 Ebd. 301 Ebd., S. 12. 302 Ebd.
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Der Vergleich der drei Kritiken kann zeigen, dass die Autoren mit sehr unterschiedlichen Maßstäben dahingehend operieren, wie eine »starke Frau« auf der Bühne dargestellt wird. Gleichwohl muss es Spekulation bleiben, ob sich diese Differenz aus den unterschiedlichen Sozialisationen der Kritiker ergibt oder eher damit zu tun hat, dass Linzer enger vertraut ist mit Müllers Werk als die anderen beiden Rezensenten (und deshalb ›strengere‹ Kriterien an die Vielschichtigkeit und Stärke der Ophelia-Figur anlegt). Stadelmaiers Kritik setzt sich zudem grundsätzlich dadurch von den anderen beiden ab, dass sie eindeutig in einem Denken verharrt, dass von einer evolutionären Logik ausgeht, die das westdeutsche Theater einer höheren Entwicklungsstufe zuordnet als das Theater der DDR. Bei Henrichs hingegen finden sich nur subtile Anspielungen auf eine solche Perspektive. Die untersuchten Kritiken sind in ihrer eher negativen Tendenz typisch für die Rezeption von Müller und seiner Dramatik in den (westdeutschen) Feuilletons nach 1989. Wie Janine Ludwig in ihrer Dissertation Heiner Müller, Ikone West gezeigt hat, vollziehen die westdeutschen Feuilletons in der Wendezeit einen Vorzeichenwechsel in der Bewertung von Müllers Dramatik und Person: Die Müller-Euphorie der 80er Jahre schlägt um in eine sehr kritische Perspektive auf ihn und seine Texte: »[S]eine Kapitalismusschelte« und sein »Festhalten sozialistischer Utopie« werden zu Argumenten gegen seine Texte.303 Frauke Meyer-Gosau erklärt das von der Wende induzierte Umschlagen der Müller-Rezeption damit, dass es, solange beide deutschen Staaten friedlich koexistierten, »für die Kultur-Meinungsmacher in der Bundesrepublik kein erkennbares Problem [war], daß Müller ein Jahr nach dem Büchner-Preis auch die höchste DDR-Literaturauszeichnung entgegennahm und für Erich Honecker […] eine Krawatte anlegte.«304 Und sogar Marcel ReichRanicki lobte Müller überschwänglich: Müller sei »ein Mann mit Pfiff und Phantasie und obendrein ein DDR-Exportartikel von großer Nützlichkeit und höchster Qualität«305 . Müller fungierte bis zur Wiedervereinigung als (westdeutsche) Projektionsfigur und »empty screen«: Er war ein unangepasster, aber eben nicht dissidenter DDR-Bürger, der für die westliche Popkultur ebenso interessant war wie für die sozialistische Kulturpolitik. Er repräsentierte damit als Person die Vereinbarkeit der eigentlich unvereinbaren Systemgegensätze. Im Zuge der Wiedervereinigung kommt es aufgrund der in fast allen gesellschaftlichen Teilbereichen geführten
303 Janine Ludwig: Heiner Müller, Ikone West. Das dramatische Werk Heiner Müllers in der Bundesrepublik. Rezeption und Wirkung. Frankfurt a.M. 2009. Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2008, S. 332. 304 Frauke Meyer-Gosau: Monument Müller. Ein Bild und seine Spiegelungen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Heiner Müller. (Text + Kritik, Bd. H. 73). München 1997, S. 8-21, hier: S. 11. 305 Marcel Reich-Ranicki in der FAZ vom 21.1.1986 zitiert nach: Meyer-Gosau: Monument Müller, S. 11.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
(machtasymmetrischen) Ost-West-Deutungs- und Teilhabekämpfe auch zu einer Verengung der Spielräume in den Feuilletons.306 Dies zeigte sich schon im deutschdeutschen Literaturstreit 1990/91. Ausgehend von den Kritiken von Ulrich Greiner307 und Frank Schirrmacher308 an Christa Wolfs Was bleibt im Juni 1990 geraten die DDR-Schriftsteller unter Beschuss: [S]ie hätten nicht genug Widerstand geleistet, seien zu angepasst und letztlich systemstabilisierend gewesen […] Auch heißt es nun, es habe von der westlichen Kritik zu lange einen moralischen Bonus für (mehr oder weniger dissidentische) DDR-Literatur gegeben, der zur Überschätzung der ästhetischen Qualität geführt habe.309 Auch für Müller, der zwar zunächst im deutsch-deutschen Literaturstreit wenig Beachtung findet, verengt sich die Matrix für die Wahrnehmung seiner Kunst stark auf politisch-moralische Fragen, was neben den Hamlet/Maschine-Kritiken besonders am Beispiel ›seiner‹ Experimenta deutlich wird: Die Experimenta 6 war eine als Festival organisierte Gesamtschau aller Inszenierungen von Müllertexten aus Ost und West, die vom 18. Mai bis 4. Juni 1990 in Frankfurt a.M. stattfand. Die Kritiken von Greiner und Schirrmacher an Wolfs Was bleibt erschienen zeitlich parallel, nämlich am 1. und 2. Juni 1990. Gerhard Mack fasst die negativen Reaktionen auf die Müller-Experimenta zusammen: Hiebe gab es vor allem von der etablierten Kritik: Müller habe gegenüber der DDR und einem theoretischen Sozialismus sich opportunistisch verhalten; in dem Sack, auf den man geschlagen habe, sei er jeweils nicht gewesen. Im Westen sei er als tiefgründiger Kritiker einer zur Technokratie verkommenen Aufklärung aufgetreten und habe sich damit nur umso besser als der hinter der Mauer wegen seiner Kritik am realexistierenden Sozialismus verfemte Autor etabliert. Jetzt, nach dem
306 Die Rolle der Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen als Gatekeeper für das kulturelle Feld der Neunzigerjahre ist enorm, so Stephan Pabst in seiner Habil (Post-)Ostmoderne, eine starke kommunikative Machtasymmetrie zwischen Ost und West. Diese Asymmetrie ergibt sich aus der Tatsache, dass es in der DDR keine Feuilleton-Ressorts gab, literarische Kritik (abgesehen von Theater der Zeit) wurde nicht öffentlich geübt, sondern ausschließlich in den Verlagen. Das heißt, dass der Typus des ostdeutsch sozialisierten Feuilletonisten in den 1990er Jahren eine Rarität ist. 307 Ulrich Greiner: Mangel an Feingefühl. Die Zeit, 1. Juni 1990. [https://www.zeit.de/1990/23/ma ngel-an-feingefuehl (15.3.19)]. 308 Frank Schirrmacher: ›Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten‹. Auch eine Studie über den autoritären Charakter. Christa Wolfs Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung ›Was bleibt‹. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juni 1990. In: Thomas Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München 1991, S. 86. 309 Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 338.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Niedergang dieses Polizeistaates stelle sich jedoch heraus, daß Müller diese DDR verteidigt habe, deren Parteizensur nur zu kleinbürgerlich gewesen sei, um seine blumigen Verteidigungsvolten und das dialektische Raunen zu durchschauen. Wo Landsleute im Todesstreifen verbluteten, habe dieser Autor seine intellektuellen Scherze gefeiert.310 Das Faszinierende an Müllers Werdegang nach 1989 ist mithin, dass die kritische Hinterfragung Müllers parallel verläuft mit der Phase seiner größten (gesamtdeutschen) Prominenz. Diesem Phänomen soll im nun anschließenden Kapitel zu Müllers biografischer Resilienz nachgespürt werden. In Abwandlung des bereits zitierten Bonmots von Roland Barthes ist das nächste Kapitel der These gewidmet, dass die Geburt der öffentlichen Person(a) Heiner Müller zu bezahlen ist mit dem Tod des DDR-Autors Heiner Müller. Von hieraus rücken auch die omnipräsenten Todes- und Beerdigungsmetaphern der Theaterkritiker/innen in ein neues Licht: Die Beerdigung seines eigenen Theaters in Hamlet/Maschine ist als eine (wenn auch unbewusste) biografische Resilienzstrategie von Müller lesbar.
3.5.2
Heiner Müllers biografische Resilienz nach 1989
Im Folgenden liegt der Fokus auf Müllers biografischer Resilienz; das heißt, dass in diesem Kapitel diejenigen bewussten wie unbewussten Strategien in den Fokus rücken sollen, die es Müller ermöglichten, seine eigene Künstler- und Intellektuellenbiografie über die Epochenschwelle von 1989 hinaus erfolgreich fortzuschreiben. Stephan Pabst und Johanna Bohley haben 2018 mit Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers zu eben diesem Thema einen Sammelband veröffentlicht. Der Band ist für die folgenden Ausführungen eine wichtige Grundlage, denn er kann facettenreich zeigen, dass Müller »mit seiner Sorge um sein Nachleben einen (erfolgreichen) Sonderfall«311 unter den DDR-Autoren darstellt. Hierzu versammeln die Autoren vielfältige Belege für die kategoriale Vielfalt des Fortwirkens Müllers nach den Zäsuren von 1989 (seinem metaphorischen Tod als Dramatiker und DDRIntellektuellem) und 1995 (seinem biologischen Tod): Die Felder, auf denen die Autorinnen und Autoren des Bands Müllers Nachleben diagnostizieren, reichen vom Fernsehen, den Feuilletons, Kulturinstitutionen und der Popkultur über die Dramenproduktion anderer Autoren und als fiktive Person auf der Bühne bis hin zur
310 Gerhard Mack: Auf der Schlachtbank der Geschichte. Experimenta 1990. In: TheaterZeitSchrift. Themenschwerpunkt Ost-West-Theater (1992) 31/32, S. 30-40, hier: S. 32. 311 Stephan Pabst: Materialästhetik als Rezeptionsform. Das mediale Nachleben Heiner Müllers. (Eine Art Einleitung). In: Stephan Pabst u. Johanna Bohley (Hg.): Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers. Berlin 2018, S. 9-41, hier: S. 14-15.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
Philosophie. Material Müller kann daher als ein »konzeptuelles Vorbild« für die Analyse »der modellhaften Ausstrahlung von Ästhetik«312 gelten. Der Klappentext des Bands fasst prägnant die Faszination an Müllers Post1989-Transformation zusammen: Kaum ein Autor erregte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre mehr öffentliches Aufsehen als Heiner Müller. Die Interviews, die er in dieser Zeit gab, genossen Kult-Status. Als Intendant des Berliner Ensembles, als Präsident der Akademie der Künste/Ost war er einer der wichtigsten Akteure des literarischen Lebens nach 1989. […] Als er 1995 starb, wurde seine Beerdigung live im Fernsehen übertragen. […] Quantitativ ist er mehr mit der Kommentierung seines Werks befasst als mit dessen Fortsetzung. Der Moment seiner größten Popularität fällt mit seiner Historisierung zusammen.313 Die Resilienz von Müllers Biographie korrespondiert also mit seiner Vulnerabilität als (DDR-)Dramatiker: Er wird genau in dem Moment zur gesamtdeutschen öffentlichen Figur, in dem seine literarische Produktion nahezu erlischt bzw. sich nur noch auf die Produktion lyrischer Texte beschränkt.314 Im Folgenden wird im Anschluss an Pabst und Bohley die These entfaltet, dass Müllers (bewusst) inszenierte beziehungsweise ausgekostete Vulnerabilität ein wichtiger Baustein im Kontext seiner biografischen Resilienz nach 1989 ist. Hinzu kommt, dass Müller bereits in den Siebzigern und Achtzigern ein breitgefächertes Repertoire von (Resilienz-)Strategien entwickelte, das es ihm erlaubte, »sein Nachleben zu steuern«315 . Auf diese Strategien kann Müller somit im Zuge von 1989 unmittelbar zurückgreifen. Die Basis für Müllers Anschlussfähigkeit im Westen bildet die von ihm schon ab den Siebzigern forcierte Internationalisierung seiner Biografie und seines Werks: Hier sind vor allem seine wiederholten Reisen in die USA zu nennen, aber auch seine Rezeption durch die westdeutsche Theateravantgarde, die ihn schon vor 1989 als »bedeutendste[n] deutschsprachigen Gegenwartsdramatiker«316 feierte. Müllers Leben zwischen den Systemen lässt sich gut am Jahr 1988 verdeutlichen, dem Jahr, in dem er in der DDR wieder in 312
313 314 315 316
Simon Scharf: Freilichtmuseum. Ein von Stephan Pabst und Johanna Bohley herausgegebener umsichtiger Sammelband ermöglicht eine horizontale Sicht auf den Dramatiker Heiner Müller in seiner (staubfreien) Gegenwärtigkeit. [https://literaturkritik.de/pabst-bohley-mate rial-mueller-freilichtmuseum,24785.html (10.12.2018)]. Stephan Pabst u. Johanna Bohley (Hg.): Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers. Berlin 2018, S. 2. Müller schreibt nach 1989 nur noch einen Text für das Theater, nämlich Germania 3 Gespenster am toten Mann, während in dieser Zeit unzählige lyrische Text entstehen. Pabst: Materialästhetik als Rezeptionsform., S. 12. Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Fünfter Band: 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2007, S. 457.
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Das Deutsche Theater nach 1989
den Schriftstellerverband aufgenommen wird und gleichzeitig eine Gastdozentur317 am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen übernimmt. Seine vollkommene Rehabilitation in der DDR und seine nun auch institutionell verankerte Wirkmacht im Westen fallen zeitlich zusammen. Eine zweite Resilienzstrategie, die sich am Beispiel der Gastdozentur ablesen lässt, ist Müllers Bestreben nach der Einflussnahme auf den Theaterdiskurs durch Arbeit und Präsenz in maßgeblichen Institutionen, wie er es mit der Leitung der Akademie der Künste/Ost, seinen Regiearbeiten am Deutschen Theater oder als Intendant am Berliner Ensemble umsetzte. Die Institutionalisierung der eigenen Theaterarbeit, die mit Müllers Dozententätigkeit in Gießen schon vor 1989 beginnt, radikalisiert sich nach der Wende so weit, dass die Arbeit in den Institutionen zuweilen ganz Müllers literarisches Schaffen ersetzt. Diese stetig expandierende, institutionelle Wirkmacht setzt Müller doppelt ein: Zum einen fördert er durch seine Präsenz in verschiedenen (Theater-)Institutionen andere Theatermacher, die ein ähnliches Theaterverständnis haben, zum Beispiel Lothar Trolle und Einar Schleef.318 Zum anderen setzte Müller seine Macht in den Institutionen ein, um eine Kanonisierung des eigenen Werks zu forcieren. Auch Hamlet/Maschine kann durch die titelgebende und gleichrangige Verschränkung des eigenen Werks mit dem Shakespeare-Text als der Versuch einer Selbstkanonisierung gelesen werden. Ein anderes Beispiel der Selbstkanonisierung ist das Spielzeitmotto, das Müller als Intendant des Berliner Ensemble für die Saison 1995/96 vorgibt: »Brecht, Müller, Shakespeare«. Ein Nebeneffekt von Müllers Internationalisierungsbestrebungen ist es, dass er schon vor der Wiedervereinigung eingeübt ist in die Praxis des kulturellen Ost-West-Übersetzens. Birgit Dahlke nennt das Müllers Fähigkeit, die »Ost-WestHermeneutik«319 (gerade bei öffentlichen Statements) immer mit einzuplanen. Für Dahlke ist Heiner Müller in dieser Hinsicht eine Ausnahme; allenfalls noch bei Thomas Brasch, der die DDR 1976 verließ, sieht sie diese Form des die Ost-West-Differenz antizipierenden Sprechens verwirklicht. Doch nicht nur die Inszenierung von Müller als Person im öffentlichen Diskurs, auch sein poetologisches Fundament ist das Ergebnis von Internationalisierung und Übersetzung: So korrespondiert das »Literatur als Material«-Konzept, 317
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Das von ihm in Gießen angebotene szenische Projekt wurde unter anderem auch von René Pollesch besucht. Und tatsächlich lassen sich auch heute noch Spuren von Müllers Dramatik im Werk von René Pollesch finden: Polleschs Sampling-Technik kann zum Beispiel als Aktualisierung von Müllers radikalem Zitatverfahren betrachtet werden. Pabst: Materialästhetik als Rezeptionsform., S. 18. Birgit Dahlke: Als das Wünschen noch geholfen hat. Thomas Braschs kommunikative Strategien im (West-)Interview 1976 bis 2001 und deren Verwandtschaft mit der Interview-Praxis Heiner Müllers. In: Stephan Pabst u. Johanna Bohley (Hg.): Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers. Berlin 2018, S. 91-112, hier: S. 92.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
das für Müller maßgeblich wird und ursprünglich in der sowjetischen Literatur der 1920er Jahre aufkam,320 stark mit dem französischen Poststrukturalismus, und zwar durch die Nähe zur Bricolage und zur Subjektkritik. Gleichzeitig ist der Materialbegriff für Müller ein wichtiger Baustein dafür, sich selbst, das heißt die eigene Biografie und aber auch sein Verhältnis zur DDR, zum Material zu machen.321 Pabst formuliert das so: Müller ist nach 1989 so anschlussfähig, weil er »sein ideologisches Bekenntnis zur DDR als ästhetisches Bekenntnis zu seinem ästhetischen Material DDR«322 präsentieren kann. Die Ausweitung des Materialbegriffs auf die eigene Biografie ist wiederum die Basis dafür, dass Müllers permanenter Selbstwiderspruch in Selbstzeugnissen möglich und produktiv wird. Müllers zentrales Medium hierfür ist das Interview und insbesondere die »öffentliche[n] Denkdialoge«323 , die Müller mit Alexander Kluge in verschiedenen Kulturprogrammen des Privatfernsehens324 führte. Diese bundesweit im Fernsehen ausgestrahlten Gespräche hatten einen großen Anteil an Müllers medialer Präsenz nach 1989 und kultivierten eine Form der »produktiven Abschweifung«325 . 2008 sind in der Müller-Werkausgabe drei Bände mit Müllers Interviews erschienen,326 was deren »Werkcharakter«327 unterstreicht und das Gespräch als Kunstform legitimiert. In den Formaten mit Kluge gelingt Müller »eine virtuose Ironisierung«328 seiner Aussagen und durch seine paradoxen Antworten
320 Pabst schreibt dazu: »Das Aufkommen des Materialbegriffs in der sowjetischen Literatur der 1920er Jahre bei Autoren wie Sergej Tretjakow bezeichnete die Teilhabe am Prozess der industriellen oder landwirtschaftlichen Produktion, die als spezifische Gestalt der Wirklichkeit zum Material von Texten wird, die ihrerseits einen Einfluss auf das Material haben. Textmaterial ist damit nur insofern gemeint, als die pragmatischen Texte dieser Wirklichkeit –Verordnungen, Befehle, Zeitungen – zum Teil des im weitesten Sinne literarischen Textes werden.« Pabst: Materialästhetik als Rezeptionsform., S. 11. 321 Ebd., S. 9. 322 Ebd., S. 12. 323 Dahlke: Als das Wünschen noch geholfen hat, S. 94. 324 Kluges Produktionsfirma dctp.tv produziert seit 1987 verschieden unabhängige Kulturprogramme, unter anderem 10 vor 11, BekanntMachung, News & Stories, Prime-Time/Spätausgabe und das Mitternachtsmagazin. Die Privatsender sind durch den Rundfunkstaatsvertrag verpflichtet, wenige Prozente ihrer Sendezeit solchen Angeboten zur Verfügung zu stellen. 325 Ebd., S. 93. 326 Vgl. Müller: Werke – Band 10: Gespräche 1. 1965-1987. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt a. M 2008; Heiner Müller: Werke – Band 11: Gespräche 2. 1987-1991. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt a. M 2008; Heiner Müller: Werke – Band 12: Gespräche 3. 1991-1995. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt a.M. 2008. 327 Torsten Hoffmann: Totengespräche. Nachlebendes in/aus Heiner Müller Interviews. In: Stephan Pabst u. Johanna Bohley (Hg.): Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers. Berlin 2018, S. 195-212, hier: S. 203. 328 Pabst: Materialästhetik als Rezeptionsform, S. 29.
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Das Deutsche Theater nach 1989
macht er konsequent die Gattungskonventionen des Interviews sichtbar.329 In seiner Trauerrede auf Heiner Müller beschreibt Alexander Kluge die performativen Qualitäten seines langjährigen Interview-Partners so: Man sieht ihn eigentlich immer gelassen. Er sitzt, trinkt, beobachtet, reagiert, antwortet – meist nicht auf die Frage, die gestellt worden ist, sondern auf irgendetwas anderes. Dann sieht man sein berühmtes Nicken. Das kann bedeuten: Ja – nein – endgültig nein – auf gar keinen Fall – ganz besonders gut. Es hat tausend Bedeutungen, je nach Umständen.330 Dahlke vermutet, dass Müller als Dramatiker besonders sensibel für die Wirkung des gesprochenen Wortes gewesen sei, was die Verschiebung des künstlerischen Outputs vom Drama zum Interview nicht notwendig, jedoch hinreichend erklären kann.331 Sich selbst als unzuverlässigen Sprecher zu inszenieren (»Was ich wirklich sage, sage ich erst, wenn ich tot bin«332 ), ermöglicht es Müller, politisch radikale Aussagen zu artikulieren, ohne für diese Inhalte haftbar gemacht werden zu können. Er verweigert grundsätzlich auch eine Selbstanklage im Kontext der StasiVorwürfe, die gegen ihn Anfang der 90er Jahre formuliert werden.333 Ein Nachfahre Müllers in dieser Hinsicht ist Slavoj Žižek. Auch Žižeks Medienkommunikation changiert ununterscheidbar zwischen Ernst und Ironie. Zusätzlich beerbt Žižek Müller auf der inhaltlichen Ebene, beispielsweise hinsichtlich seiner Kritik an der repräsentativen Demokratie.334 Müller als öffentlicher kommunistischer Intellektueller steht zudem in einer engen Verbindung mit Jacques Derrida, beide bearbeiten im Modus spektraler Metaphern das Weiterleben des Kommunismus nach dem Untergang des realexistierenden Sozialismus.335 Mit diesen beiden Strategien – Ästhetisierung des Bekenntnisses zur DDR und dem permanenten Selbstwiderspruch – ist drittens auch Müllers Strategie verwandt, das eigene Scheitern nach 1989 als geschichtsphilosophisches Problem der Gattung Drama und nicht als individuell-biografisches Problem zu deuten: Müllers Gattungswechsel nach 1989 ist von verschiedener Seite erkannt und beschrie329 Dahlke: Als das Wünschen noch geholfen hat, S. 92. 330 Alexander Kluge: Trauerrede auf Heiner Müller. [https://www.youtube.com/watch?v=OOl1W PNx9zQ (17.3.2019)]. 331 Vgl. Dahlke: Als das Wünschen noch geholfen hat, S. 95-98. 332 Müller: Werke – Band 11: Gespräche 2. 1987-1991, S. 515. 333 Pabst: Materialästhetik als Rezeptionsform., S. 28. 334 Zizek greift gerne Müllers Zitat auf, dass auch Hitler durch freie Wahlen an die Macht gekommen sei. Ebd., S. 20. 335 Vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1659). Frankfurt a.M. 2004; Heiner Müller u. Sibylle Bergemann: Ein Gespenst verläßt Europa. Berlin 1990.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
ben worden.336 Exemplarisch soll hier auf Durs Grünbeins Deutung eingegangen werden. In Grünbeins Aufsatz Bogen und Leier heißt es über Müller: Mit lapidarem Stolz hatte er einmal, am Ende eines seiner monolithisch kompakten, interpunktionslosen Theaterbruchstücke (Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten) die Zeilen gesetzt: ›Der Rest ist Lyrik Wer hat bessre Zähne Das Blut oder der Stein.‹ Zuletzt, als die großen Gegenentwürfe in Trümmern lagen, als der Mangel den Kollektiven aus allen Poren stank und das Scheitern besiegelt war, kehrte er reuig ins Glashaus zurück. Jetzt war ihm nur mehr die Einzelzelle geblieben, das Gedicht mit seiner gefährlich hohlen Akustik, dieser narzißtische Echoraum.337 Grünbein lässt das Scheitern von Müller als Dramatiker aus den von Müller in seiner Literatur getroffenen Aussagen folgen; Pabst beschreibt das so: Dieses Rechthaben gegen sich selbst macht Müllers Scheitern gewissermaßen zur objektiven Gestalt in der Geschichte poetischer Gattungen. Es ist nicht Müller, der scheitert. Es ist die Gattung, die historisch scheitert, und Müller ist nur derjenige, an dem sich dieses Scheitern vollzieht.338 Es lässt sich daher folgern, dass die Behauptung des Scheiterns der Gattung Drama nach 1989, die Müller vielfach diagnostiziert und die dann wiederum von anderen Autoren (wie Grünbein) als legitime Deutung aufgriffen wird, letztlich auf eine Nobilitierung der Autorperson hinausläuft: Müller erscheint somit klüger als sein Werk und es entsteht das Bild eines Autors, der gegen sein eigenes Werk recht behält. Pabst kann ferner zeigen, dass Müllers These, dass für ihn nach 1989 kein Drama mehr möglich sei, implizit auf Hegels geschichtsphilosophischer Gattungstheorie basiert. In den Vorlesungen über die Ästhetik entwirft Hegel eine teleologische Gattungstheorie, nach der das lyrische Schreiben ein Anachronismus ist, während das Drama als Synthese aus Epik und Lyrik eine höhere Entwicklungsstufe ist.339 Dadurch wird Müllers Verneinung des Dramas auch lesbar als Zeitkritik: Die Wen-
336 Vgl. Pabst: Post-Ost-Moderne, S. 25; Stephan Pabst: »Der Rest ist Lyrik«. Grünbeins Gedichte nach Müllers Dramen. In: Stephan Pabst u. Johanna Bohley (Hg.): Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers. Berlin 2018, S. 431-448, hier: S. 438; Ronald Weber: Peter Hacks, Heiner Müller und das antagonistische Drama des Sozialismus. Ein Streit im literarischen Feld der DDR (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Bd. 20). Berlin/Boston 2015, S. 594. 337 Durs Grünbein: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 112f. 338 Pabst: »Der Rest ist Lyrik«. Grünbeins Gedichte nach Müllers Dramen, S. 438. 339 Ebd.
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Das Deutsche Theater nach 1989
de erscheint als geschichtlicher Rückschritt, der nur noch anachronistisch, das heißt lyrisch bearbeitet werden kann.340 Gleichlaufend zum Zusammenwachsen beider deutscher Staaten sind die Zahlen der Inszenierungen von Müllers Stücken rückläufig. Und nur wenige Theaterarbeiten mit Müllers Texten werden nach 1989 breiter besprochen; die Bekanntesten sind hier Frank Castorfs Doppelinszenierung Maßnahme/Mauser an der Volksbühne (2008) und Dimiter Gotscheffs Hamletmaschine (2007) am Deutschen Theater und Zement (2013) an den Münchener Kammerspielen. Wie in Castorfs Maßnahme/Mauser taucht Müller hingegen öfter als Bühnenfigur oder popkulturelles Zeichen mit Wiedererkennungswert auf, so zum Beispiel bei Christoph Schlingensief, in Rocky Dutschke oder Talk 2000. In Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (Ruhrtriennale 2008) zitiert Schlingensief Müller intensiv und wendet dessen ästhetisches Programm auf das Leben und den Tod an.341 Pabst sieht das wirkmächtigere dramatische Nachleben in Müllers poetologischen Nachfahren verwirklicht, etwa bei Kathrin Röggla und René Pollesch; gemeint ist jene Autorengruppe, die in einer Traditionslinie mit Müller an einem epischen Theater des 21. Jahrhunderts arbeitet. Autoren wie Röggla und Pollesch gelingt es zudem, Postdramatik und Kapitalismuskritik wieder zusammenzubringen und damit die von Müller diagnostizierte gattungsgeschichtliche Kluft zu überbrücken.342 Auch wenn sich Müllers Gattungs- und geschichtsphilosophisches Denken als obsolet erwiesen hat, erscheint seine Kapitalismuskritik heute anschlussfähiger als noch in den 1990er Jahren, wie der 2017 bei Reclam erschienene Band ›Für alle reicht es nicht.‹ Texte zum Kapitalismus deutlich macht. Nach der Wende hatte Müllers Kapitalismuskritik noch den Beigeschmack, bloß »die anachronistische Selbstverteidigung des kommunistischen Intellektuellen«343 zu sein. Alle hier entfalteten (bewussten wie unbewussten) Resilienzstrategien von Müller sind dem Balanceakt geschuldet, sich einerseits durch Verfahren der Historisierung und Selbstkanonisierung soweit in Distanz zur DDR als künstlerischer Herkunft zu bringen, wie es das westdeutsche Feld forderte, und diese Distanz andererseits durch (ästhetische) Verfahren der Paradoxierung, Provokation und Ironisierung soweit zu unterlaufen, dass er weiterhin als sozialistischer Intellektueller lesbar bleibt. Zwischen diesen beiden Polen entstand mithin jene Spannung, die Müller als gesamtdeutsche öffentliche Figur interessant und anschlussfähig in Ost
340 Pabst liest entsprechend Müllers Vers »Der Rest ist Lyrik« aus Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten als Variation von Hamlets letzten Worten »The Rest is silence«: Lyrik tritt gattungsgeschichtlich dann auf den Plan, wenn es nichts mehr zu sagen gibt. Ebd., S. 439. 341 Vgl. Pabst: Materialästhetik als Rezeptionsform., S. 21-26. 342 Ebd., S. 18. 343 Ebd., S. 17.
3. Heiner Müllers Hamlet/Maschine und das Deutsche Theater
wie West macht. Unter veränderten Vorzeichen bleibt er also auch nach 1989 ein Screen für die Vereinbarkeit beider deutscher Habitus bzw. Identitäten. Insgesamt wirkt Müller – und darin liegt meines Erachtens seine explizite prophetische Leistung344 – vorbereitet auf die Wende: Alle Strategien und Verhaltensweisen sind bei ihm schon vor 1989 angelegt und im Feld der »Ost-West-Hermeneutik« erprobt. Im Zuge der Wiedervereinigung radikalisierten sie sich nur noch.
344 Pabst kritisiert es, Müller einen Propheten zu nennen, weil Prophet nur derjenige sein könne, der einen deterministischen Geschichtsbegriff habe und historische Kontingenz leugne. Ich sehe das so, dass Müller sich als Prophet inszeniert, zumindest in Hamlet/Maschine, mit einem Geschichtsverständnis, das sich zirkulär und damit voraussagbar entwickelt.
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4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre: Resilienz durch Emergenz und camoufliertes Übersetzen
4.1
Die Drastik von Thomas Ostermeiers Inszenierung von Shoppen und Ficken als Gegenbild zum lethargischen Zustand des Deutschen Theaters in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
Mit der zweiten dichten Beschreibung in dieser Arbeit rückt nun das schon mehrfach erwähnte Ausnahmeereignis der Intendanz von Thomas Langhoff in den Blick, nämlich die Gründung der Baracke. Die Baracke wurde in der Spielzeit 1996/97 als kleine Nebenspielstätte – der Zuschauerraum fasste nur 99 Zuschauer – und als ›Labor‹ für junge Künstlerinnen und Künstler gegründet, wurde unabhängig von ihrem Haupthaus 1998 zum ›Theater des Jahres‹ gewählt, bewirkte eine Hochkonjunktur für europäische Gegenwartsdramatik im deutschsprachigen Theaterbetrieb und prägte nachhaltig die weitere Karriere ihres Leiters, Thomas Ostermeier. Am Deutschen Theater vollzog sich ab 1996 also (ein dazu noch mit überschaubarem Etat finanziertes) »Theaterwunder«: Binnen weniger Monate entstand an dem zu diesem Zeitpunkt schon krisengeplagten Deutschen Theater eine neue Form Theater zu machen; hierfür bietet sich der Begriff der Emergenz an, der seit mehreren Jahren in verschiedenen Disziplinen diskutiert wird1 und das nichtvorhersehbare Auftreten von Neuartigem bezeichnet.2
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Jens Greve u. Annette Schnabel: Einleitung. In: Jens Greve u. Annette Schnabel (Hg.): Emergenz. Zur Analyse und Erklärung komplexer Strukturen. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1917). Berlin 2011, S. 7-36, hier: S. 9. Je nachdem, ob die behandelten neuartigen Phänomene auf die Elemente des Ausgangssystems rückführbar sind oder nicht, spricht man von starker, das heißt irreduzibler, oder schwacher Emergenz. Das Ziel meiner dichten Beschreibung der Baracke ist es ja, die Prozesse zu klären, die an der Hervorbringung der neuen Strukturen und Ästhetiken beteiligt waren, weshalb es selbstverständlich ist, dass hier nur ein schwacher Emergenzbegriff zur
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Das Deutsche Theater nach 1989
Wie ich in diesem Kapitel noch tiefergehend zeigen werde, war der Gründung der Baracke ein Konflikt zwischen der Theaterleitung und der Senatsverwaltung vorausgegangen, der die Spielstätte fast verhindert hätte. Der damalige Kultursenator Peter Radunski vertrat die Position, dass die »finanzielle Lage des Landes Berlin und die drohenden Mehrkosten einer dritten Spielstätte […] keine Experimente«3 erlaubten. Dass sich die Leitung des Deutschen Theaters mit ihrer Idee der Nachwuchsförderung durch eine eigene Spielstätte trotzdem durchsetzen konnte, lag vor allem daran, dass durch den Freundeskreis des Theaters und ein großzügiges Sponsoring durch Daimler-Benz der gesamte Umbau der Baracke finanziert werden konnte. Klaus Siebenhaar, als Leiter der Öffentlichkeitsabteilung zuständig für das Einwerben der externen Mittel, resümiert daher auch: Die kleine Erfolgsgeschichte der ›Baracke‹ des Deutschen Theaters liefert fast den kompletten Stoff, aus dem heute mäzenatische und marketingorientierte Beziehungsmuster und -möglichkeiten zwischen Kultur, Wirtschaft und Politik sind.4 Die Baracke kann also in einem doppelten Sinn als emergentes Phänomen verstanden werden: Zum einen wurden an ihr neue, bisher im Stadttheaterbereich kaum bekannte marketingorientierte Finanzierungsmodelle erprobt, zum anderen erwuchs aus diesen Strukturen eine innovative Theatersprache: Der vom britischen In-yer-face-Theater inspirierte typische »Baracken-Stil […]: stark schauspielorientiert, dialogorientiert, handlungsorientiert. Rasch und unaufwendig und extrem temporeich inszeniert.«5 Marketingorientierung und (kapitalismus-)kritische Kunst gehen im Fall der Baracke Hand in Hand: Dieses Paradox wird aber von den Künstlerinnen und Künstlern nicht offen thematisiert, wie es etwa an der Volksbühne Programm ist, sondern wird zugunsten des Ideals resilienter Kreativsubjekte und enthierarchisierter Arbeitsverhältnisse dissimuliert.6 Das (ästhetische) Zentrum des folgenden Kapitels bildet Thomas Ostermeiers Inszenierung von Mark Ravenhills Stück Shoppen und Ficken, die als »die auffälligste Inszenierung dieser Jahre, der größte Knüller der Baracke«7 und »Baracke’s
3
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Anwendung kommen kann. Vgl. zur Differenz zwischen starker und schwacher Emergenz: ebd., S. 11. Klaus Siebenhaar: ›Beziehungszauber‹. Zur Praxis privater und privatwirtschaftlicher Kulturförderung. In: Hilmar Hoffmann (Hg.): Kultur und Wirtschaft. Knappe Kassen – neue Allianzen. Köln 2001, S. 151-179, hier: S. 151. Ebd., S. 153. Gerhard Joerder, Thomas Ostermeier u. Gert Voss: Ostermeier (Backstage, Bd. 4). Berlin 2014, S. 40. Vgl. zur Dialektik von Kapitalismus und Kritik Luc Boltanski u. Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz2006. Joerder [u.a.]: Ostermeier, S. 42.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
signature piece«8 gilt. Shoppen und Ficken steht dabei exemplarisch für eine Gruppe von Erfolgsinszenierungen junger europäischer Dramatik, die an der Baracke des Deutschen Theaters in den drei Spielzeiten 1996/97-1998/99 erfolgreich als deutschsprachige Erstaufführungen stattfanden. Außerdem ist Shoppen und Ficken, so die Annahme, die diesem Kapitel zugrunde liegt, das drastische Gegenbild zum Zustand des Deutschen Theaters in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre: Während das Haupthaus – so der damalige Chefdramaturg Michael Eberth – »vor lauter Vergangenheit den Weg in die Gegenwart nicht findet«9 und sich dadurch in einem Zustand der Depression und einer »mittelschwere[n] Identitätskrise«10 befindet, realisiert sich an der Baracke radikal gegenwärtiges Theater. In Shoppen und Ficken wird das dadurch erreicht, dass Ostermeier Mark Ravenhills In-yer-face-Theater in eine Überwältigungsästhetik übersetzt, die dem Zuschauer keinen Raum für Distanzierung und Reflexion lässt, und ihn dadurch in die absolute Gegenwart zwingt. Paradigmatisch kulminiert diese Ästhetik in der sogenannten »Messer-Szene«, zu der ich auch ein Close Reading vorlegen werde. Ostermeier inszeniert in dieser Szene, obwohl der Text von Ravenhill es nicht fordert, realistisch (d.h. unter der Zuhilfenahme von Theaterblut etc.), wie ein junger Mann (im Text ist er 14, auf der Bühne Anfang 20) auf der Bühne einen anderen mit einem Messer solange anal penetriert bis er stirbt. Betrachtet man die Aufführung in ihrer gesamten Länge, verschiebt sich der Befund etwas: Vor der Messer-Szene ist Shoppen und Ficken geprägt von einer gespenstischen Atmosphäre, in der sich Vergangenheit und Gegenwart unheimlich überlagern: Diese Atmosphäre entspricht dem Zustand, in der sich das gesamte Deutsche Theater nach 1989 befand: Denn dadurch, dass in den Nachwendejahren kein Bruch mit der DDR-Identität des Hauses stattgefunden hat, befindet sich das Haus in einem permanenten Spannungsverhältnis zwischen Erinnerung und Präsenz, das erst durch den Erfolg der Baracke (zumindest kurzfristig) aufgebrochen werden kann. Daher ist das Sichtbarmachen der Tat und des Tötens in Ostermeiers Inszenierung viel mehr als ein ästhetischer Kniff des selbst ernannten Neuen Realisten Ostermeiers: Es setzt die Situation des Deutschen Theaters und den dringend notwendigen Wandel und Neuanfang radikal ins Bild. Verstärkt wird das Bild für die Notwendigkeit eines Neuanfangs auch durch die Architektur der Baracke
8 9 10
Peter M. Boenisch: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 5. Michael Eberth: Einheit. Berliner Theatertagebücher 91-96. Berlin 2015, S. 309. Eberth notiert im Rekurs auf den Dramaturgen Dieter Sturm Folgendes zur Lage des Deutschen Theaters Mitte der Neunzigerjahre: „Der dramaturgische Berater Sturm hat den klugen Satz gesagt, das Deutsche Theater sei das einzige DDR-Theater, das durch die Wende keinen Bruch erlitten habe. Jetzt sei eine ›mittelschwere Identitätskrise‹ im Anflug.“ Ebd., S. 236.
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Das Deutsche Theater nach 1989
– einer alten Unterkunft für Bauarbeiter –, die vom Haupthaus losgelöst auf einem separaten Gelände liegt und unter neuem Namen mit neuen Regisseuren neue Stücke spielt. Gleichzeitig symbolisiert die Messer-Szene damit auch antizipierend die harten Einschnitte, denen das Haus um die Jahrtausendwende ausgesetzt sein wird – wie schon gezeigt, wird Wilms zum Teil mit fast 150 Mitarbeiter/innen weniger das Haus betreiben. Man kann Ostermeiers Inszenierung somit aus der Perspektive der sie hervorbringenden Institution (mitsamt ihrem auf Klassikerinszenierungen konzentrierten Profil) als eine performative Geisteraustreibung, eine Form der Beerdigung alter Mentalitäten und Stile am Haus lesen: Beschwor Heiner Müllers Hamlet/Maschine noch den »Geist des Kommunismus« und warnte vor dem »Phantom der asozialen Marktwirtschaft«, verabschiedet Ostermeier die Erinnerung an die staatssozialistischen Experimente und inszeniert drastisch den Siegeszug des Kapitalismus. Paradoxerweise jedoch hat die brutale und bedrückende Ästhetik von Ostermeiers Inszenierung auf die Theaterszene einen vitalisierenden Effekt. Ich werde im Folgenden die »Produktionswege« nachzeichnen, die Shoppen und Ficken als künstlerische Idee und Ereignis innerhalb der Strukturen des Deutschen Theaters durchlaufen hat, um vermittelt über die verschiedenen Ebenen der Analyse eine dichte Beschreibung des gesamten Komplexes »Baracke« zu erhalten. Ich beginne mit einer Darstellung der organisatorischen Prozesse und Kämpfe, die der Neukonzeption der Baracke als Nebenspielstätte in der Spielzeit 1995/96 vorgeschaltet waren. Neben Ostermeier und seinem Team spielte hier besonders der Chefdramaturg Michael Eberth eine zentrale Rolle. Innerhalb dieser Darstellung wird auch deutlich, warum Shoppen und Ficken auf den Baracken-Spielplan gesetzt wurde. Daran schließt daher eine Textanalyse an, in der es darum geht, genauer auf den Entstehungskontext, das heißt das britische In-yer-face-Theater einzugehen und die Deutungspotentiale des Texts auszuloten. Wichtig ist, dass Mark Ravenhill die »Messer-Szene« offen anlegt und damit keine drastische Tötungsszene auf offener Bühne verlangt. Ostermeiers Inszenierung, die im anschließenden Kapitel in den Fokus rückt, vereindeutigt Ravenhills Text, wodurch die bereits beschriebenen drastischen Effekte entstehen. Hinzu kommt, dass Ostermeier sich somit auch als Regie-Autorität (über den Text) inszeniert. Die Selbstinszenierung Ostermeiers wiederum wird im letzten Unterkapitel zentral, das das Nach- und Eigenleben des Ereignisses Shoppen und Ficken außerhalb des Theaters in den Blick nimmt: Neben der Rezeption durch die Theaterkritik wird hier insbesondere Ostermeiers Positionierung auf dem Feld als Häretiker, alleinigem Erfinder der Baracke und Entdecker des Neorealismus auf den Prüfstein gestellt.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
4.2 4.2.1
Die Gründung der Baracke und die Entdeckung junger britischer Dramatik (1. Ebene, Hausdramaturgie) Die Konzeption der Baracke als emergentes Phänomen
Die Baracke wurde während der Renovierung des Deutschen Theaters in den 1980er Jahren als Unterkunft für Bauarbeiter errichtet und von den Schauspielern JanJosef Liefers und Tobias Langhoff als Bühne für Experimente 1989 mit dem Stück Der stumme Diener von Harold Pinter eröffnet. Bis zur Spielzeit 1995/96 wurde die Bühne dann in unregelmäßigen Abständen für kleine Produktionen oder Veranstaltungen aus dem Rahmenprogramm genutzt.11 Der Impuls, die Baracke unter einem konkreten Konzept wiederzubeleben, geht auf den bereits in der Einleitung zitierten und im Haus sehr umstrittenen Chefdramaturgen Michael Eberth zurück. Eberth, den Langhoff 1991 mit ans Haus brachte und der zum Ende der Spielzeit 1995/96 das Haus aufgrund von ›Ost-West-Querelen‹ verließ, forcierte ab Januar 1996 die Neukonzeption der Baracke: Zunächst unterbreitet er der kaufmännischen Leiterin Rosie Schauer12 und dann der künstlerischen Leitung13 den Vorschlag, die Baracke zu einer Blackbox umzubauen und dann als Spielstätte einer »Gruppe von Enthusiasten«14 zur Verfügung zu stellen. In den vorangegangenen Jahren hatten sich an der Person Eberth unzählige Ost-West-Konflikte manifestiert, in denen offenbar wurde, dass wichtige Entscheidungsträger im Haus Eberths ›westlichen‹ Anspruch an ästhetische Innovation nicht als Maßstab für ›gutes‹ Theater anerkannten und mit dem Verweis auf die DDR-Theatertradition viele von Eberths Ideen verhinderten. Umso mehr schien ihn die allseitige Begeisterung für die Barackenidee überrascht zu haben, denn er notiert nach der Leitungssitzung vom 26. Januar 1996 in seinem Tagebuch: »Die Reaktion war positiv. Kann nicht glauben, dass in dem Haus doch noch Bewegung möglich ist.«15 Auch Klaus Siebenhaar, Chef der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit am Haus, heute Professor des Studiengangs Kulturmanagement an der FU Berlin und – obwohl auch westdeutsch sozialisiert – häufig uneins mit Eberth, erinnert sich im Interview auch an die Begeisterung für die Neuausrichtung der Baracke. Siebenhaar betont aber – anders als Eberth –, dass es sich um eine gemeinsame Idee gehandelt habe, und beschreibt diese so:
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Weigel: Das Deutsche Theater, S. 329. Eberth: Einheit, S. 228. Ebd. Ebd. Ebd.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Aber dann haben wir überlegt. Mein Gott, heute würde man sagen, lasst uns der Inkubator sein. Für mich, heute mehr denn je, das Modell überhaupt. Ein großes Haus, mit einem tollen Ensemble, mit einer guten Infrastruktur, mit den besten Technikern und Bühnenarbeitern … alles vom Feinsten, leistet sich ein Labor. Heute würde man es Lab nennen.16 Die Leitung des Deutschen Theaters einigte sich im Fall der Baracke binnen weniger Tage auf ein Konzept, das ein teilautonomes Team vorsah, das auf alle Ressourcen des Deutschen Theaters zurückgreifen konnte. Parallel zur Entscheidung, welchen jungen Künstlern und/oder Künstlerinnen diese Rolle nun überlassen werden sollte, wurde die Finanzierung für den Umbau geplant. Zwar stellte Schauer für den Spielbetrieb in der Baracke zunächst einen hausinternen Etat bereit, doch die Verwaltung des damaligen Kultursenators Peter Radunski versuchte das Projekt zu unterbinden. Klaus Siebenhaar erinnert sich folgendermaßen an den Konflikt: In knappem, bürokratischem Ton wurde die Leitung des Deutschen Theaters angewiesen, das Baracke-Projekt fallen zu lassen und sich auf den ›künstlerischen Kernbereich‹ zu konzentrieren. Die finanzielle Lage des Landes Berlin und die drohenden Mehrkosten einer dritten Spielstätte erlauben keine Experimente. Die Intendanz des Deutschen Theaters mochte aber nicht einsehen, dass Nachwuchsförderung nicht zum ›Kernbereich‹ einer hoch subventionierten Staatsbühne gehören sollte, und widersetzte sich deshalb der Anordnung. Thomas Langhoff berief zugleich den Vorstand seines Freundes- und Fördervereins ein und bat um Unterstützung. Das designierte junge Leitungsteam der ›Baracke‹ um Thomas Ostermeier präsentierte gemeinsam mit der Intendanz Umbaupläne und künstlerisches Programm: alles wurde ebenso engagiert wie detailliert vorgetragen – einschließlich der Risiken. Es herrschte in dieser Sitzung eine Atmosphäre hoher Professionalität, durchdrungen von stark emotionaler Aufbruchsstimmung, die die Freunde und Förderer nachhaltig beeindruckte und stimulierte. Noch am gleichen Abend wurde eine Anschubfinanzierung von DM 150 000,- für das BarackeProjekt beschlossen. Darüber hinaus sagte der Verein der Intendanz jegliche öffentliche, lobbyistische und politische Unterstützung in der Obstruktionshaltung gegenüber dem Senat zu. Binnen einer Woche revidierte die Senatsverwaltung angesichts der privaten Gelder und des diskreten Drucks einiger einflussreicher Fördervereins-Mitglieder seine Haltung, die Baracke wurde umgebaut […].17
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Interview mit Klaus Siebenhaar, Leitung der Öffentlichkeitsarbeit unter Thomas Langhoff, 16.4.2015. Siebenhaar: ›Beziehungszauber‹, S. 151.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
Parallel zu Eberth, der den Beirat des Freundeskreises der eigenen Einschätzung nach mit dem Argument überzeugte, »junge Künstler [zu fördern], die mal nicht dekonstruieren, sondern vergessene Theatersprachen erkunden wollen«18 , führte Siebenhaar Verhandlungen mit dem Autokonzern Daimler-Benz – es ging um ein Sponsoring von 50 000 Mark19 –, wobei er die Idee der Wiederbelebung der randständigen Baracke dem Automobilhersteller als gelungene Imagepflege im Kontext des Elchtest-Debakels des A-Klassenmodells ›verkaufte‹: Thema Sponsoring, Fundraising. Für den Betrieb habe ich Daimler als Hauptsponsor und die wollte ich eigentlich fürs große Haus. Aber damals war die A-Klasse mit dem Elchtest gerade passiert. Und so witzig, ich gehe da mit dem Niederlassungsleiter durchs Haus und zeige ihm den ganzen Plüsch und das schöne DT und auch noch die Original-Kammerspiele und wir reden so über die Situation mit der A-Klasse und so. Und dann habe ich so im Scherz gesagt, wir haben hier auch eine A-Klasse, die heißt Baracke bei uns. Na, das elektrisierte ihn fast. Und er so: Zeigen Sie mir mal die Baracke. Die war fast fertig umgebaut und er sagte, ja das wollte ich haben, das will ich unterstützen. DT passt vom Brand, wie man das heut nennt, klar alles beides premium, aber die A-Klasse und die Baracke, das war die Hintergrundgeschichte.20 Siebenhaar beschreibt weiter, dass sich die Daimler-Vertreter unmittelbar »vom jugendlichen Charme, von der properen Container-Ästhetik des kleinen Bühnenraums nebst Bar und Garten«21 angesprochen fühlten und überzeugt waren mit dem Sponsoring »Ost-West-Themen, Theaterkunst und Autogeschäft« werbewirksam verbinden zu können. Im Sponsoringvertrag wurde daher die Baracke als Förderschwerpunkt vereinbart, und neben den gängigen Leistungen für den Sponsor, wie Anzeigen oder Premierenkarten, wurden »spezielle Veranstaltungen (geschlossene Aufführungen mit anschließendem Get-together) fixiert«22 . Die dritte Säule der externen Finanzierung der Baracke waren Medienpartnerschaften, damals, so Siebenhaar, »eine noch relativ junge Spielart des Sachsponsorings in der Hochkultur«23 , um den Werbe- und Marketingetat zu entlasten: Es wurden mit der taz, mit radio eins und mit dem Ostdeutschen Rundfunk Vereinbarungen getroffen; im Austausch für Anzeigen bzw. Trailer und redaktionelle Zusatzleistungen erhielten die Medienpartner Logo-Präsenzen, Diskussionsveran-
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Eberth: Einheit, S. 312. Siebenhaar: ›Beziehungszauber‹, S. 152. Interview mit Siebenhaar, 23.04.2015. Ebd. Ebd. Ebd., S. 153.
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Das Deutsche Theater nach 1989
staltungen und geschlossene Vorstellungen.24 Siebenhaar betont, nicht ohne Süffisanz, dass durch das Sponsoringprogramm für die Baracke so ungleiche Partner wie die taz und Daimler-Benz zusammengebracht werden konnten: »Man empfand diese Beziehung zueinander vermittelt über die Baracke als durchaus apart.«25 Das avantgardistische Nachwuchsförderungsprojekt Baracke ist, so lässt sich hier zusammenfassen, überhaupt nur möglich geworden durch eine externe, marketingorientierte Finanzierungsstruktur; die Höhe der durch den Freundeskreis und die Sponsoringarbeit eingeworbenen Gelder belief sich insgesamt auf 300 000 Mark. Auch wenn der Betrag im Verhältnis zu der gesamten Bezuschussung des Hauses in der Spielzeit von 1995/96 von rund 40 Mio. Mark marginal wirkt, hatte er eine »segensreiche«26 , weil symbolische Wirkung. Das Engagement von Mäzenen und der freien Wirtschaft übte öffentlichen Druck auf den Senat aus, sodass dieser doch seine Zusage zu dem Projekt geben musste. Es zeigt sich hieran, so meine These, eine für die Zeit nach 1989 typische Verschiebung des Nomos des theatralen Felds: Die kulturpolitische Legitimität wird nicht mehr nur allein durch die ästhetische Qualität oder einen kulturellen Bildungsauftrag hergestellt, sondern durch die Anschlussfähigkeit an die freie Wirtschaft (Sponsoring) und Gelder aus der Gesellschaft (Mäzenatentum). Die durch Marketing und Mäzene eingeworbenen Gelder finanzierten die Baracke also nicht komplett, sondern sind als eine legitimitätserhöhende, öffentlichkeitswirksame Anschubfinanzierung zu verstehen.27 Dass der Etat des Haupthauses dadurch über die Jahre hin nicht unwesentlich belastet wurde, zeigt sich daran, dass noch Ende 2011 die Senatsverwaltung für Finanzen an den Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses zur Begründung des Schuldenbergs des Deutschen Theaters schrieb: »Ursächlich für den Fehlbetrag [in Höhe von 4,5 Mio. Euro, Anm. H. S.] sind vor allem […] die Defizite aus der Ära Langhoff aus den 1990er Jahren u.a. […] aufgrund des Betriebs der mittlerweile geschlossenen Spielstätte ›Baracke‹.«28 Außerdem zeigt das Beispiel der Baracke natürlich, dass die Widerständigkeit von Kunst bzw. die Künstlerkritik – so wie Boltanski und Ciapello es gezeigt habe – sich kaum der Vereinnahmung durch die kapitalistische
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Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Siebenhaar sieht die USA als Trendsetter in Sachen des Kultursponsorings. Gleichzeitig betont er auch, dass es in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Weimarer Republik hinein eine »hoch entwickelte sowohl mäzenatische als auch geschäftsmäßig ausgerichtete Tradition privater und privatwirtschaftlicher Kulturfinanzierung existierte. Kaum ein Museum oder Theater in Berlin, das ohne privates Geld gegründet oder ausgekommen wäre: keine Nofretete, keine Impressionisten, kein Deutsches Theater und keine PiscatorBühne ohne Kapital der Schenkungen kunstsinniger Unternehmer«. Ebd., S. 157 Kirschner: Berlin baut beim Deutschen Theater Schulden ab.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
Logik entziehen kann. Die antikapitalistische Stoßrichtung der meisten an der Baracke gespielten Stücke war für Daimler-Benz kein Hindernis, daran zu glauben, dass die Jugendlichkeit, die Rebellion und die Kreativität der »Baracke« positiv auf die Wahrnehmung der eigenen Marke zurückwirke.
4.2.2
Personalentscheidungen, Umbau der Baracke und Spielplangestaltung
Bei der Frage nach der Leitung der Baracke konkurrierten Thomas Ostermeier (im Team mit Christian von Treskow) mit der Schauspielerin Susanna Simon, alle drei Absolvent/innen der Ernst-Busch-Hochschule. Simon hatte durch Kontakte zum Privatfernsehen die Idee entwickelt, die Baracke als Drehort einer Theatersoap zu nutzen. Ostermeier wiederum, der wie Simon über Kontakte zwischen der ErnstBusch-Hochschule und dem Deutschen Theater als Talent in der Leitung bekannt geworden war, stellte Simons Idee infrage und entwickelte ein eigenes Konzept.29 Ostermeier betonte der Leitung gegenüber, dass er sich bereits intensiv mit teils vergessener Schauspielmethodik auseinandergesetzt hatte, besonders mit Meyerholds Biomechanik und mit Stanislawski, aber auch mit Brecht. Deshalb wolle er die Baracke als Labor für eine methodische Suche nach zeitgemäßen Spielweisen, Darstellungsformen und Erzählstrategien entwickeln, in deren Mittelpunkt der Körper des spielenden Menschen im Raum, der Schauspieler, und das utopische Moment des Theaters, das Ensemble, steht.30 In Ostermeiers ursprünglichem Konzept findet sich also noch nichts von der Auseinandersetzung mit Gegenwartsdramatik, für die die Baracke später berühmt wurde. Ihm schwebte vielmehr ein Ort für methodische Schauspielforschung vor. Ein Beleg dafür, dass – anders als Ostermeier es heute behauptet – der Stil der Baracke aus dem Zusammenspiel verschiedener Kräfte am Deutschen Theater entstand und nicht aus einigen wenigen genialischen Entscheidungen; Ostermeiers Selbstinszenierung als Häretiker auf dem Theaterfeld werde ich im letzten Unterkapitel noch genauer betrachten. Eberth notierte hierzu in seinem Tagebuch Ende Januar 1996 sogar, dass Ostermeier ihm bei ihrem ersten gemeinsamen Treffen im Deutschen Theater erklärt habe, »dass er nicht vorhat, einer der jungen Regisseure zu werden, die an den alten Kästen die Stücke der jungen Autoren inszenieren«31 – ironischerweise genau das, wofür er später berühmt wird. Diesem Gespräch war bereits der Besuch Eberths bei einer Aufführung von Ostermeiers Inszenierung 29 30 31
Joerder [u.a.]: Ostermeier, S. 37. Ebd., S. 40. Eberth: Einheit, S. 233.
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Das Deutsche Theater nach 1989
von Die Unbekannte im bat, der Studiobühne der Ernst-Busch-Hochschule, vorausgegangen, die Eberth sehr begeistert hatte. Und obwohl – wie Ostermeier im Interview anmerkt – Thomas Langhoff nie eine von seinen Inszenierungen angesehen hatte, entschied Langhoff sich für Ostermeiers Konzept und gegen die SoapIdee von Simon.32 Die Unterstützung, die es für Ostermeier im Haus gab, reichte Langhoff als Entscheidungsgrundlage aus: Neben Eberth waren das besonders die jungen Schauspieler/innen, wie Daniel Morgenroth und Petra Hartung, denn – so Ostermeier – »die waren frustriert vom Angebot des Hauses für junge Schauspieler«33 . In ihrer Urbesetzung bestand die Baracke somit aus den beiden Regieabsolventen Thomas Ostermeier und Christian von Treskow, dem Dramaturgen Jens Hillje und den beiden Schauspielabsolventinnen Nina Hoss und Jule Böwe aus dem gleichen Studienjahr. Hoss wurde vom Deutschen Theater direkt fest im Ensemble engagiert. Und dem jungen Regieteam wurden festengagierte Schauspielerinnen und Schauspieler für einzelne Produktionen zugeteilt.34 Jan Pappelbaum, ein junger Architekt und Bühnenbildner, zeichnete für die Umgestaltung und das Raumkonzept der Baracke verantwortlich.35 Mitte Juni setzte dann die räumliche Umgestaltung der Baracke ein. Schauer, Eberth und die »Barackenjungs«, allen voran Ostermeier, Hillje und Pappelbaum, beschlossen gemeinsam: [Die Baracke] wird komplett leergeräumt und entkernt, kriegt einen versiegelten Holzfußboden, Trägergestelle, auf denen Licht-Versätze angebracht werden können, und ein mobiles Inspizienten-Pult. Auch beim Bewilligen von technischem Personal und dem Etat, über den die Jungs verfügen dürfen, zeigt Frau Schauer sich großzügig. Die Jungs überrascht. Die Stimmung glänzend. Es fehlen nur noch Ideen.36 Als eine besondere Schwierigkeit für den Umbau stellt sich der starke Wunsch des Barackenteams heraus, räumlich autonom vom Gebäude des Deutschen Theaters zu sein. Um die Baracke im Inneren als Blackbox nutzen zu können und gleichzeitig autonom vom Haupthaus zu sein, bekam die Baracke jeweils Container für Garderobe, Kasse, Büro und eine Bar (die Acke Bar), die im Garten aufgestellt wurden. Im Bereich zwischen den Containern wurden Videoinstallationen gezeigt. Aus Marketingperspektive erwies sich diese räumliche Trennung als richtige Entscheidung. Die Baracke wurde schnell vom jungen Berliner Publikum als eigenständiger
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Joerder [u.a.]: Ostermeier, S. 37. Ebd. Interview mit Siebenhaar, 23.04.2015. Boenisch: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 4. Eberth: Einheit, S. 312.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
Ort »am Schnittpunkt der neuen Kunstmeile von Oranienburger, August- und Linienstraße«37 wahrgenommen. Der große Aufwand jedoch, mit dem die Umgestaltung der Baracke betrieben wurde, erregte im Haus auch Widerstand und wurde – so vermutet zumindest Ostermeier – auch als West-Ost-Konflikt gerahmt, wie diese Anekdote zeigt: Die [Videoinstallation] hat uns dann einmal einer von der alten Schauspielergarde kaputtgehauen, er hatte sich in seiner Ruhe gestört gefühlt, kam aus der Garderobe gelaufen und schrie: Schluss mit dem Kinderkram! So etwa dachten auch viele andere im Haus: Nun haben die Wessis uns schon die DDR genommen, jetzt wollen sie uns noch unser DT nehmen…. Der Gegenwind war heftig.38 Vor dem Hintergrund, dass die Baracke im Haus sowohl kulturelle wie generationale Konflikte versinnbildlichte, mag die Unterstützung für das Projekt durch die kaufmännische Leiterin, Rosie Schauer, deren Tätigkeit für die Stasi im Jahr 2000 offengelegt wurde, verwundern.39 Ostermeier deutet im Interview ihre Unterstützung als »eine Art Ablasshandel: Die Gauck-Behörde, muss sie sich gedacht haben, rückt ohnehin näher, irgendwann erwischt es uns alle, und bevor ich hier entlassen werde, tue ich noch was Gutes und helfe den Jungs.«40 So weit wie Ostermeier muss man jedoch nicht gehen. Schauer hatte hohes kaufmännisches Geschick bewiesen und hat wohl die Potentiale, gerade auch der Marketingstrategie um die Baracke, erkannt. Auch wenn sich durch den Weggang Eberths mit der Spielzeit 1996/97 die Situation für Ostermeier und seine Truppe derart darstellte, dass sie sich nun als Eberths »Kuckucksei« fühlten, die stellvertretend seinen West-Ost-Konflikt fortführen mussten, zeigen zumindest die Interviews, dass sich dieser Effekt, wenn überhaupt, nur sehr kurzfristig einstellte.41 Wohl dadurch, dass der Erfolg der Baracke so überwältigend war und alle dort Agierenden einer anderen Generation angehörten,42 fiel es vielen, auch Ostsozialisierten, leichter, die ästhetischen Differenzen eher als Generationen- denn als OstWest-Unterschied zu begreifen. Auch Thomas Langhoff verknüpft die Frage nach
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40 41 42
Ebd., S. 232. Joerder [u.a.]: Ostermeier, S. 38. »Die stellvertretende Intendantin von Thomas Langhoffs Deutschem Theater lieferte in den siebziger Jahren als Dramaturgin in Schwerin stark in den privaten Bereich hineingehende Berichte. Verdachtsmomente gab es schon länger, nun kam die Entzifferung eines IM mit ihrem Klarnamen hinzu. Die fristlose Entlassung in gegenseitigem Einvernehmen war die logische Konsequenz.« Hartmut Krug: Alte Wunden brechen auf. In: Der Tagesspiegel vom 16.3.2000. [https://www.tagesspiegel.de/kultur/alte-wunden-brechen-auf/129998.ht ml (1.9.2019)]. Joerder [u.a.]: Ostermeier, S. 38. Ebd., S. 37. Ebd.
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ästhetischen Ost-West-Differenzen mit der Frage nach Generation, wenn Eberth ihn in seinem Tagebuch mit den Worten zitiert »Unsere Generation [wird] nicht mehr überwinden, was die vierzig Jahre unterschiedlicher ästhetischer Prägung uns eingebrannt haben.«43 Fasst man nun die Umstände zusammen, die die schnelle Entscheidung für die Baracke begünstigten, ergibt sich folgendes Bild: Zunächst war es sicher ein großer Vorteil, dass die Baracke als Gebäude schon bestand, das heißt, dass keine neue Spielstätte gebaut werden musste, sondern dass sie nur umgebaut und mit neuer Technik ausgestattet werden musste. Dass es eine breite Allianz für Ostermeier und seine Truppe gab, ergibt sich zu einem großen Teil aus der hohen traditionellen Verbindung zwischen der Ernst-Busch-Schule und dem Deutschen Theater. Absolventen dieser Schule genossen im Haus einen gewissen Vertrauensvorschuss und Ostermeier wiederum verstand es sehr gut, sich als Antipode zur damals maßgeblichen Ästhetik von Frank Castorfs Volksbühne zu positionieren, wie ich es im Kapitel zum diskursiven Nachleben von Shoppen und Ficken tiefergehend diskutieren werde. Diese anti-dekonstruktivistische Haltung war es auch, die den Freundeskreis des Deutschen Theaters zur Finanzierung überzeugte. Darüber hinaus war den Entscheidungsträgern bei der Neugestaltung der Baracke durchaus das Marketingpotential dieser Unternehmung zur Gewinnung junger Zuschauerschichten in der neuentstehenden Berliner Mitte bewusst. Und gerade die strikte räumliche Trennung vom Haupthaus hat es ermöglicht, dass ein Teil des Deutschen Theaters komplett neu wahrgenommen und vermarktet werden konnte. Peter Boenisch beschreibt die Atmosphäre der Baracke so: [T]hey ran the Baracke more like a subcultural arts centre, hosting in addition to the performances readings, exhibitions, club nights, political discussions, and concerts, including those of Ostermeier’s own punk-rock band, where he played the bass. Breaking with the elitism and conservatism associated with most theatres, they envisioned a theatre that was open, inviting, and accessible for everyone.44 Bei aller ästhetischen Differenz zeigt sich hierin doch auch die Vorreiterrolle der Volksbühne auf dem Berliner Theaterfeld. Castorf und sein Team hatten die Volksbühne bereits ab der Spielzeit 1992 durch komplett neue Veranstaltungsformate (Konzerte, Partys etc.) und das entsprechende Marketing (durch Bernd Neumanns Agentur LSD) erfolgreich an einem neuen, jungen Publikum ausgerichtet. Trotzdem erlangt die Baracke ein hohes Maß an medialer Aufmerksamkeit und konnte Anerkennung für ihre ästhetische Innovation auf dem Theaterfeld generieren. Ein ähnlicher Prozess lässt sich auch am Theaterhaus Jena nachvollziehen. Auch 43 44
Eberth: Einheit, S. 223. Boenisch: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 4.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
hier schaffen junge Absolventen der Ernst-Busch-Hochschule im Moment der Post1989-Vulnerabilität neue, »schlanke« Organisationsstrukturen und einen innovativen ästhetischen Output, der Aufmerksamkeit bei Publikum und Theaterkritik generiert. Doch welche Prozesse innerhalb des neu entstehenden »Barackensystems« führten dazu, dass Shoppen und Ficken auf den Spielplan gesetzt wurde? Shoppen und Ficken gehört mit Messer in Hennen (David Harrower), Fette Männer im Rock (Nicky Silver) und Zerbombt (Sarah Kane) zu einer Gruppe von Stücken junger britischer Autorinnen und Autoren, die im Kontext des Royal Court Theatres (London) als British Brutalists bekannt geworden sind; im nächsten Kapitel werde ich noch genauer auf die Entstehung und die Hauptmerkmale dieser Strömung eingehen. Der Kontakt zwischen diesem Theater und dem Deutschen Theater lief über Eberth: Elyse Dodgson vom Royal Court Theatre und Eberth planten zusammen eine Playwrights Week; dabei war die Verbindung zur Baracke zwar der Wunsch von Eberth, jedoch stießen die Stücke zunächst nicht auf Interesse beim neuen Team der Baracke – wie Eberth im Tagebuch Ende Juni notiert: Ungeklärt ist auch, was aus der Playwrights Week wird. Unter meinem Schreibtisch steht ein Karton mit fünfundzwanzig brandneuen englischen Stücken, von denen eines den schönen Titel Shopping and Fucking hat. Die Jungs hätten fünf davon auswählen sollen, um sie übersetzen zu lassen, waren dazu aber nicht in der Lage, obwohl ich ihnen tausend Mal gesagt habe, dass das Projekt der Baracke eine Woche kostenloses Programm bringt […]. Elyse Dodgson […] ist vom Desinteresse der Jungs so brüskiert, dass sie mit Reese vom Gorki-Theater anbandeln wollte.45 Neben dem ästhetischen Interesse an den Stücken war für Eberth auch der Marketingeffekt der Stücktitel der British Brutalists interessant. Er sah in den für das deutschsprachige Theater ungewöhnlichen und provokanten Titeln die Möglichkeit, »der Baracke die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie belebt«46 . Entsprechend enttäuscht war er vom Desinteresse des neuen Teams. Um von der Idee eines Labors für Schauspielmethodik abzurücken, die Ostermeier zu Beginn der Planung der Baracke noch verfolgte hatte, brauchte es den Druck des Theaterbetriebs: Mit Fortschreiten der Zeit wurde den jungen Theatermachern klar, dass sie für einen Spielplan Texte und Stoffe brauchten und dass sie »nicht immer nur RegieTheoretiker oder [sich] selbst zum Programm machen können«47 . So wurde schon mit den Eröffnungsinszenierungen vom Ursprungskonzept abgewichen und das
45 46 47
Eberth: Einheit, S. 315. Ebd., S. 229. Joerder [u.a.]: Ostermeier, S. 39f.
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Team entschied: Christian von Treskow sollte mit Fette Männer im Rock die Baracke eröffnen, Ostermeier sollte mit Messer in Hennen folgen.48 Elyse Dodgson und das Team um Ostermeier erneuerten von hier aus den Bund zwischen Royal Court und der Baracke und beschlossen eine längerfristige Kooperation mit intensivem Austausch zwischen den Häusern und regelmäßig in Berlin stattfindenden Playwrights Weeks. Shoppen und Ficken als Spielplanposition in der Spielzeit 1998/99 ist das Ergebnis hiervon. Das Konzept einer ›nationalen‹ Stückewoche übertrug das Barackenteam auch auf andere »Nationalliteraturen« und veranstaltete spezielle Reihen zu junger französischer, russischer oder amerikanischer Dramatik. Diese Reihen konnten jedoch nicht an die Strahlkraft anknüpfen, die die Baracke durch die Auseinandersetzung mit den British Brutalists entwickeln konnte: Der Realitätsgehalt, die unmittelbare Darstellung von Gewalt, die jedoch immer auch Symbol blieb, und die Sprache dieser Stücke entfalteten vor dem Zeitgeist der späten 90er Jahre und der besonderen Situation Berlins einen außergewöhnlich starken Sog auf die Zuschauerinnen und Zuschauer. Im Folgenden soll daher nun Mark Ravenhills Text auf seine theatralen Potentiale, sein Spektrum an Deutungsmöglichkeiten und sein Verhältnis zu den historisch-politischen Verhältnissen und Besonderheiten hin analysiert werden; gemeint ist hier die Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunionen, die Mark Fisher mit dem Siegeszug eines »Kapitalistischen Realismus« gleichsetzt, innerhalb dessen propagiert wird, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt.49
4.3
Shoppen und Ficken von Mark Ravenhill als prototypisches In-yer-face-Drama (2. Ebene, Textanalyse)
4.3.1
Das In-yer-face-Theater der British Brutalists zwischen Cruel und Cool Britannia
Mitte der 1990er Jahre feiern Filme wie Quentin Tarantinos Pulp Fiction (1994) und Oliver Stones Natural Born Killers (1994) weltweit Erfolg und werden im Hinblick auf ihre gewalttätigen bzw. gewaltverherrlichenden Elemente kontrovers diskutiert. Zur gleichen Zeit entwickeln britische Gegenwartsdramatikerinnen und dramatiker eine konfrontative Theaterästhetik, in der sie die explizite Darstellung von Gewalt mit sozialen Anliegen verbinden.50 Diesen jungen Autorinnen und Au-
48 49 50
Ebd. Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift; mit einem Nachwort zur deutschen Ausgabe. Hamburg 2013. Aleks Sierz: Cool Britannia? ›In-Yer-Face‹-Writing in the British Theatre Today. In: New Theatre Quaterly 14 (1998) 56, S. 324-333, hier: S. 325.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
toren gelingt eine nachhaltige Revitalisierung des (europäischen) Gegenwartstheaters.51 Mark Ravenhill gehört zusammen mit Sarah Kane (deren Stücke auch an der Baracke gespielt wurden) zu den bekanntesten Vertreter/innen dieser Autorengruppe. Das Royal Court Theatre in London, das in den Jahren 1993 bis 1998 von Stephen Daldry geleitet wurde, war der wichtigste institutionelle Knotenpunkt für diese neue Theatersprache52 : Daldrys erklärtes Ziel war die Verjüngung dieses Theaterhauses – sowohl auf Seite der Produzenten also auch der Konsumenten. Zu diesem Zweck vergab das Haus zahlreiche Stückaufträge an die junge Autorengeneration und ließ die neuen Werke rasch zur Uraufführung gelangen. Gleichzeitig setzte man weniger erfolgreiche Stücke schnell wieder ab, um so die Auslastung hochzuhalten. Zudem bemühte sich Daldry mit seinem Team explizit darum, den Erfolg seiner Autorinnen und Autoren an größere Häuser zu transferieren und zu internationalisieren, wie die enge Kooperation mit dem Deutschen Theater und der Baracke, die im vorangegangenen Kapitel entfaltet wurde, exemplarisch zeigt.53 In der Forschung kursieren unterschiedliche Bezeichnungen für dieses (heute schon historische) Theaterphänomen; man spricht vom British Brutalism, New Brutalism oder Theatre of the Urban Ennui. Durchgesetzt hat sich jedoch (insbesondere in der englischsprachigen Diskussion) der Begriff des In-yer-face-Theaters, den der Theaterkritiker Aleks Sierz mit seiner Monographie In-Yer-Face Theatre: British Drama Today54 geprägt hat. Sierz’ Kriterienkatalog ist weit (und daher nicht unproblematisch) und definiert das Phänomen sowohl produktions- wie rezeptionsästhetisch: Auf der Ebene der ästhetischen Strategien identifiziert Sierz eine »rawness of tone«55 als Gemeinsamkeit der Stücke, die sich in der vulgären Sprache der Figuren, aber auch in der Kürze und Direktheit der Dialoge niederschlägt. Die Stücke spielen häufig in privaten, gar intimen Räumen und nutzen die explizite Darstellung von Sex und Gewalt, um die Extreme menschlicher Emotionen auszuloten. Paradigmatisch zeigt
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52
53 54 55
Aleks Sierz zählt neben Sarah Kane und Mark Ravenhill besonders die folgenden Autor/innen der Strömung zu: Simon Block, Jez Butterworth, Nick Grosso, Tracy Letts, Martin McDonagh, Anthony Neilson, Joe Penhall, Rebecca Prichard, Philip Ridley, Judy Upton, Naomi Wallace, Richard Zajdlic und Max Stafford-Clark. Vgl. Aleks Sierz: »Who?«.. Mit der Popularität des Royal Court Theatres geht eine Verdopplung des Anteils an Gegenwartsdramatik in den britischen Spielplänen einher. Während Ende der 80er Jahre nur 10 Prozent des Repertoires zeitgenössische Texte waren, sind es Mitte der Neunzigerjahre schon 20 Prozent. Aleks Sierz: Still In-Yer-Face? Towards a Critique and a Summation. In: New Theatre Quarterly 18 (2002) 1, S. 17-24, hier: S. 17. Ken Urban: Towards a Theory of Cruel Britannia. Coolness, Cruelty, and the ›Nineties. In: New Theatre Quaterly 20 (2004) 4, S. 354-372, hier: S. 357. Aleks Sierz: In-yer-face theatre. British drama today. London 2001. Sierz: Still In-Yer-Face? Towards a Critique and a Summation, S. 19.
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das Sarah Kanes Blasted; hier bricht buchstäblich der Kosovokrieg in einer britischen Wohnung aus. Hiermit eng verknüpft sind auch die Wirkungsabsichten des In-yer-face, denn nicht nur die emotionalen Grenzen der Bühnenfiguren sollen überschritten werden, sondern auch jene der Zuschauerinnen und Zuschauer. Ziel dieses Theater ist es mithin, in den Zuschauenden derart intensive Affekte und Emotionen hervorzurufen, dass sie die Ereignisse auf der Bühne unmittelbar miterleben und sich zu ihnen verhalten müssen. Der Tabubruch (und Skandal) ergibt sich also primär aus dieser Überwältigungsästhetik, die, dem Hollywood-Kino verwandt56 , aggressiv den Zuschauer zu Reaktionen zwingt.57 Gleichwohl ist das In-yer-face-Theater kein naturalistisches, kein Theater des »alten Milieu-Nachahmungs-Realismus«58 , sondern nutzt »Konstruktionen des Unheimlich-Zugespitzten«59 , arbeitet mit (zeitlichen und logischen) Brüchen und Leerstellen. Die Figuren des In-yer-face befinden sich häufig in ausweglosen Situationen, weshalb den Stücken vielfach der Vorwurf gemacht wurde, es fehle ihnen an Mitgefühl, sie seien anti-humanistisch und wären nicht mehr als die nihilistische (von der Kritik synonym zu »depressing or hopeless«60 benutzt) Introspektion der jungen Londoner Szene.61 Gegen das In-yer-face-Theater kann ferner hervorgebracht werden, dass die Stücke durch die Darstellung auswegloser Situationen die gesellschaftlichen Verhältnisse naturalisieren und somit die Möglichkeit von sozialem Wandel negieren. Von dieser Warte aus betrachtet ist In-yer-face unpolitisches bzw. post-politisches Theater.62 Ken Urban hat auf diese Vorwürfe entgegnet, dass die Autoren des In-yer-face Nihilismus und Grausamkeit gerade explizit gegen den Zynismus und die Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft in Stellung bringen.63 Und auch Hildegard Klein betont, dass die politische Dimension des In-yer-face gerade in der Wut und Frustration besteht, die von den Texten gegen die kapitalistische Konsumgesellschaft ausgehe.64 Die Stücke führen somit die zwischenmenschlichen Auswirkungen der neoliberalen Politik von Margret Thatcher vor und können als eine Überaf-
56 57 58 59 60 61 62 63 64
Urban: Towards a Theory of Cruel Britannia, S. 368. Vgl. Sierz: Still In-Yer-Face? Towards a Critique and a Summation, S. 19-21. Joachim Fiebach: Manifeste europäischen Theaters. Von Grotowski bis Schleef (Theater der Zeit Recherchen, Bd. 13). Berlin 2003, S. 354. Ebd. Urban: Towards a Theory of Cruel Britannia, S. 355. Sierz: Cool Britannia? ›In-Yer-Face‹-Writing in the British Theatre Today. Sierz: Still In-Yer-Face? Towards a Critique and a Summation, S. 23. Urban: Towards a Theory of Cruel Britannia, S. 354. Hildegard Klein: Mark Ravenhill’s Plays. Woman’s Nourishing Role in a Barren Homosexual World. In: (2011) 10, S. 222-248, hier: S. 222.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
firmation von Thatchers Diktum ›There is no such thing as society”65 gedeutet werden.66 Urban betont daher auch, dass die Figuren, die in den meisten Fällen einem prekären urbanen Milieu entstammen, nicht nur als Opfer der (neoliberalen) Umstände dargestellt werden, sondern gerade auch als (mitschuldige) Komplizen ihre eigenen Unterdrückung und Ohnmacht: »they obsess about the crisis of masculinity, shun clear political statements, and reject any notion of political correctness«.67 Viele der Stücke des In-yer-Face-Theaters sind sogenannte boys plays68 , in denen auffallend viele männliche Figuren vorkommen und die Krisenhaftigkeit moderner Männlichkeit thematisiert wird.69 An diesem Fokus auf Maskulinität zeigt sich zudem die Nähe der Autoren (und Stücke) des In-yer-face zur Jugend- und Subkultur Lad, eine Bewegung, die im Zuge von Britpop in den 1990ern in Großbritannien aufkam und sich selbst als Reaktion auf den Feminismus der 1980er Jahre verstand. Der Feminismus – so das Narrativ der Bewegung – habe zu einer Erosion traditioneller Geschlechterrollen und damit zu einer Labilisierung, Marginalisierung und Dethematisierung von Männlichkeit geführt. Die Anhänger des Laddism, hauptsächlich junge weiße Männer aus der Mittelschicht, reagieren hierauf restaurativ mit der Imitation von Haltungen, Attributen und Stilen einer (stereotypisierten) Arbeiterkultur. Im Laddism verbinden sich somit anti-feministische und klassistische, das heißt die Klassenzugehörigkeit abwertende, Stereotype, um ein neues Ideal des (britischen) Manns zu formen.70 Es sollte jedoch erwähnt werden, dass Lad und In-yer-Face nicht deckungsgleich sind und es von Stück zu Stück zu klären gilt, ob ein affirmatives, ein kritisches oder vielleicht auch gar kein Verhältnis zum Laddism vorliegt. Mentalitätsgeschichtlich und mit Blick auf die britische Mehrheitsgesellschaft lässt sich der Laddism zudem als Teil des größeren Diskurses rund um Cool Britannia beschreiben. Mit Cool Britannia – ursprünglich der Name einer Eissorte der Marke Ben & Jerry’s – bezeichnete man in Großbritannien den weltweiten Erfolg der britischen Kulturindustrie71 , den diese Mitte der 1990er mit Britpop und Filmen wie Trainspotting oder Snatch sowie in der bildende Kunst (Damien Hirst und die Gruppe der Young British Artists) erzielte. Unter dem Signum von Cool Britannia 65 66
67 68 69 70
71
Sierz: Still In-Yer-Face? Towards a Critique and a Summation, S. 20. Das ist auch Ravenhills eigene Deutung: »For example, Ravenhill has argued that his play is an implicit critique of Thatcher’s dictum that ›There is no such thing as society.‹ – it captures the ›low-level anger of the twenty-to-thirty generation‹.« Sierz: In-yer-face theatre, S. 14. Urban: Towards a Theory of Cruel Britannia, S. 354. Sierz: Cool Britannia? ›In-Yer-Face‹-Writing in the British Theatre Today, S. 330. Sierz: Still In-Yer-Face? Towards a Critique and a Summation, S. 20. Vgl. Owen Jones: Chavs. The demonization of the working class : with new preface. London, New York, N.Y. 2016; Andreas Kemper u. Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung. Münster 2009. Sierz: Cool Britannia? ›In-Yer-Face‹-Writing in the British Theatre Today, S. 324.
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avancierte britishness in diesen Jahren zum kommerziellen Gut und wurde »Britain’s favoured fetish«72 . In der Hochzeit von Cool Britannia, also Mitte der 1990er, verband sich somit eine Aufwertung der nationalen britischen Identität mit der ›Coolness‹ der globalen Popkultur. Diese Konstellation begünstigte wiederum die Politik von Tony Blair und dessen Erneuerungsbestrebung für die Politik der Labour Party (New Labour). Indem Blairs New-Labour-Programm offensiv Cool Britannia affirmierte, konnten insbesondere junge Wähler angesprochen werden.73 Ferner fungierte die Kulturindustrie als ›cooles‹ Vorbild für eine marktförmige Umgestaltung der Gesellschaft. Hierdurch konnte Blairs Politik grundlegende Widersprüche des Kapitalismus (Notwendigkeit der Lohnarbeit vs. Befriedigung individueller Bedürfnisse) dissimulieren. Cool Britannia war somit der Nährboden für die marktkonforme ›linke‹ Politik auf dem sogenannten Third Way.74 Blairs Politik(-vermittlung) war auch für die deutsche Sozialdemokratie vorbildlich, was beispielsweise das 1999 veröffentlichte Schröder/Blair-Papier deutlich werden ließ. Die inhaltliche Ausrichtung der deutschen Sozialdemokratie auf dem Dritten Weg zeigte sich unter anderem an den Forderungen nach »mehr Flexibilität, verringerten Unternehmenssteuern, Rückdrang der Bürokratie […] [und] staatliche[m] Schuldenabbau«75 , also generell in einer Modernisierung der Gesellschaft entlang eines marktorientierten Paradigmas und angebotsorientierter Wirtschaftspolitik.
4.3.2
Figurenkonstellationen zwischen abwesender Heterosexualität und fehlenden Vaterfiguren
Shoppen und Ficken76 (1996) [Shopping and Fucking (1995)] ist Mark Ravenhills Bühnenerstling und ist ein prototypisches Drama des In-yer-face. Das Stück hatte schon bei seiner Premiere 1996 am Royal Court Theatre in London Nachrichtencharakter, was für das In-yer-Face-Theater nicht untypisch ist: Insbesondere der als obszön wahrgenommene Stücktitel und die expliziten Sexszenen befeuerten einen Theaterskandal; wobei unter den vielen Sexszenen die Vergewaltigung eines Minderjährigen durch zwei Männer den meisten Anstoß erregte.77
72 73 74 75
76 77
Urban: Towards a Theory of Cruel Britannia, S. 355. Ebd. Ebd., S. 358. Thomas Hecken: Die verspätete Wende in der Kultur der 1990er Jahre. In: Olaf Grabienski (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin 2011, S. 13-26, hier: S. 20. Im Folgenden wird die deutsche Übersetzung des Stücks analysiert, da es ja im nächsten Kapitel um die Inszenierung eben dieser Textvorlage gehen wird. Sierz: Cool Britannia? ›In-Yer-Face‹-Writing in the British Theatre Today, S. 324.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
Der Stücktext besteht aus 14 episodisch-mäandernden Szenen78 aus dem urbanen, gewalttätigen und emotional wie sexuell unsteten Alltag der vier Protagonisten Robbie, Lulu, Mark und Gary. Kern der Dramaturgie des Stücks ist die Darstellung einer konsequenten kommerziellen Durchdringung aller sozialen Beziehungen: Die Episoden handeln von Prostitution, Vergewaltigung, Telefonsex, Raubüberfall und Drogenhandel. Das Stück bildet hierdurch den Zeitgeist der 1990er Jahre ab, was sich auch in vielen popkulturellen Bezügen niederschlägt, und lässt das Politische privat werden. Die Figuren begegnen dem nach dem Zusammenbruch des Sozialismus vielfach beschworenen »Ende der Geschichte« (Fukuyama)79 und dem »Fin des grands récits«80 (Lyotrad) mit einer nahezu obsessiven Suche nach neuen, eigenen Geschichten. Dies wird besonders in der Schlussszene offenbar, in der Gary (auf Robbies Initiative hin) zusammen mit den anderen die Geschichte seines Missbrauchs als (metatheatrale) Therapie (re-)inszeniert. Die Spannung im Stück entsteht also daraus, dass den (vom Konsumkapitalismus durchdrungenen) gesellschaftlichen Umständen die Sehnsüchte der Protagonist/innen entgegengesetzt werden. Die Figuren sind auf permanenter Suche nach (mütterlicher) Bindung und (väterlicher) Autorität sowie neuen sinnstiftenden Narrativen für das Zusammenleben. Im Folgenden soll Ravenhills Theatertext auf seine Inszenierungspotentiale hin befragt werden. Dazu soll unter Berücksichtigung der Sekundärliteratur ein möglichst breites Deutungsspektrum abgesteckt werden. Ravenhills Theatertext ist formal wenig experimentell: Figuren und Handlung – die beiden zentralen Kategorien, die das Drama als Gattung definieren, sind bei Ravenhill nicht dekonstruiert und prädisponieren daher stark die Mis-en-Scène; entsprechend strukturieren diese beiden analytischen Kategorien auch die vorliegende Analyse. Zunächst werde ich die Figuren charakterisieren und ihre (Begehrens-)Konstellationen darstellen; hier wird es besonders um die Abwesenheit von Heterosexualität und die Suche nach (autoritären) Vaterfiguren gehen. Im zweiten Schritt geht es dann um die interessanteste (inhaltliche) Leerstelle, nämlich die Frage, welche Deutung damit verbunden ist, ob man Garys Tod als Fiktion oder Realität ansieht. Abgeschlossen wird das Kapitel zum Text mit einer Reflexion des zeitkritischen Gehalts des Stücks. Der intensivste Kontakt, den die Figuren in Shoppen und Ficken miteinander haben, ist sexueller und insbesondere männlich-homosexueller Art; daher ist es besonders ergiebig, die Figuren im Stück im Hinblick auf Gender und Begehren zu konstellieren.
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Michelene Wandor: Post-war British drama. Looking back in gender. London 2001, S. 27. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992. Jean-François Lyotard : La condition postmoderne. Rapport sur le savoir (Collection critique). Paris 1979.
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Im Zentrum des Stücks stehen die drei jungen homo- bzw. bisexuellen Männer Robbie, Gary und Mark und die junge heterosexuelle Frau Lulu. In einigen Szenen tritt zu diesem Gefüge der Drogenboss Brian hinzu; sein Begehren ist nicht näher spezifiziert, auch ist sein Alter unklar, jedoch ist er bereits Vater. Die Forschung ist sich einig darüber, dass ein besonderes auffälliges Merkmal der Figurenkonstellationen die Abwesenheit bedeutungsvoller heterosexueller Beziehungen in einer zunehmend verfallenden Welt ist:81 Lulu lebt gemeinsam mit Robbie in einer im Verwahrlosen begriffenen Wohnung. Zwar scheinen die beiden früher eine exklusive Zweierbeziehung geführt zu haben, doch hat sich die Beziehung derart verändert, dass der (drogenabhängige) Mark – der sich wiederum im Verlauf des Stücks in den vierzehnjährigen Stricher Gary verliebt – Teil des Gefüges geworden ist. In der Dreiecksbeziehung, die sich zwischen Mark, Robbie und Lulu entwickelt, ist Lulu nur emotional, nicht sexuell eingebunden, denn die Männer begehren sie nicht (mehr), sondern nur einander. Fintan Walsh beschreibt die Beziehung als eine »ménage à trois […] without the male desire for a heterosexual relationship«82 . Doch auch zwischen Robbie und Mark liegt ein Ungleichgewicht vor: Robbie liebt Mark, während Mark offensiv versucht alle Formen emotionaler Bindung abzuweisen. Er glaubt, dass er Intimität nur noch gegen Bezahlung zulassen sollte, weshalb er sich mit dem minderjährigen Stricher Gary verabredet. Bei ihrer ersten Begegnung offenbart sich Mark: MARK [zu GARY] Was jetzt gerade für mich wichtig ist, für meine Bedürfnisse, ist, daß es nicht wirklich etwas bedeutet, verstehst du? Deshalb wollte ich, daß es ein Geschäft ist. Weil ich dachte, wenn ich dafür zahle, bedeutet es nichts. Glaubst du, das stimmt – deiner Erfahrung nach? Trotz seines Vorsatzes baut Mark emotionale Nähe zu Gary auf und lässt ihn an seinen seelischen Problemen teilhaben; eine Form der Bindung, die Robbie eifersüchtig werden lässt. Lulu wiederum übernimmt im Verhältnis zu den männlichen Figuren die Rolle einer Ersatzmutter: Im gesamten Verlauf des Stücks ist sie mit der Ernährung der Gruppe beschäftigt; sie füttert die Männer und sichert die Versorgung mit Nahrung notfalls auch durch Diebstahl ab, so stiehlt sie zum Beispiel »zwei Tiefkühl-Fertiggerichte«83 . Schon die ersten Worte, die Lulu im Stück spricht, zeigen sie als mütterliche, die Männer jedoch auch infantilisierende Ernährerin. So beginnt das Stück mit ihrer Ermutigung an Mark, doch etwas zu essen:
81 82 83
Klein: Mark Ravenhill’s Plays, S. 224. Ebd. Mark Ravenhill: Shoppen & Ficken. Übersetzt von Robin Detje. In: Nils Tabert u. Marina Carr (Hg.): Playspotting. Die Londoner Theaterszene der 90er. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 79171, hier: S. 91.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
LULU Jetzt komm. Pause. Probier doch wenigstens. Pause. Komm schon. Du mußt was essen. Pause. Komm, bitte. Es ist total lecker. Oder nicht? […] Hier. Jetzt komm, komm. Ein Haps für mich… MARK (übergibt sich)84 Die männlichen Figuren hingegen werden in vielfältigen Situationen des ökonomischen Scheiterns und als Täter und Opfer von Grenzverletzung gezeigt: Mark wird aus der Drogenklinik geschmissen, weil er Sex mit einem anderen Patienten hatte. Robbie verliert seinen Job in einem Fastfood-Restaurant, weil er sich gegen einen Kunden gewehrt hat, der ihn mit einem Löffel attackieren wollte. Und Gary wurde von seinem Stiefvater missbraucht und verdient nun sein Geld als Stricher. Lulu hingegen wird als die pragmatische Problemlöserin all dieser Notlagen geschildert, auch indem sie durch einen Deal mit Brian, 300 Pillen Ecstasy zu verkaufen, für die einzige finanzielle Einnahmequelle sorgt. Lulu sieht sich selbst als die charakterlich reifere Person, versucht die Männer in der Gruppe zu erziehen, indem sie bestraft und belohnt, und wird hier in gleichem Maße aggressiv und grenzverletzend wie die Männer. Als sie mit dem verletzten Robbie in der Notfallambulanz ist und herausfindet, dass Robbie Brians Pillen verschenkt hat, anstatt sie zu verkaufen, demütigt sie ihn rigoros: Scheiß verschissenes Arschloch. Scheiße. Bettnässer (Schlag) Scheißefresser. (Schlag) Weißt du, Jungs werden erwachsen und hören auf, einander an den Schniedeln rumzuspielen. Die Zukunft gehört Männern und Frauen. Normalen Menschen, die netten, sauberen Sex haben, wenn sie wollen. Und Jungs? Jungs ficken einander bloß. […] Du siehst total scheiße aus. Jetzt kriegst du wahrscheinlich (kippt ihm die Flasche Jod in die Augen) Wundbrand.85 Die Namen der Figuren sind ferner so gewählt, dass der Reifeunterschied zwischen den Figuren unterstrichen wird: Die Namen der Männer entsprechen Mitgliedern der Boy Band Take That. Lulu wiederum ist der Name jener Sängerin, die bereits in den 1970ern Erfolge hatte, dann jedoch gemeinsam mit Take That und der Single Relight my fire im Jahr 1993 ihr Comeback feierte. Außerdem verweist Lulu natürlich auch auf Frank Wedekinds Lulu, wobei besonders Wedekinds die Regeln des naturalistischen Dramas sprengende Dramenpoetik in Ravenhills Ästhetik einen Wiedergänger hat, vor allem der Wunsch, gegen ein lethargisches Bürgertum durch grotesk-schrilles Theater schockierend zu opponieren, eint beide. So teilt Ravenhills Lulu mit ihrer Wedekind-Vorläuferin zwar nicht das tragische Schicksal, doch
84 85
Ebd., S. 82. Ebd., S. 118-119.
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eint die beiden Figuren nach Hildegard Klein ein »struggle to overcome adversity«86 . Michelene Wandor deutet Lulu als Repräsentantin von »implicitly absent mothers«87 : Dadurch erhalte Lulu zwar im Gefüge der Gruppe eine herausragende Position, was jedoch letztlich einer Dethematisierung aller weiblichen Erfahrungen jenseits der Mutterrolle gleichkomme. Wandor geht mit ihrer These sogar so weit, dass sie behauptet, dass Lulu auch aus dem Stück gestrichen werden könnte, ohne dass es einen großen Unterschied für die Dramaturgie machen würde. Hildegard Klein erwidert auf Wandors Einwand, dass das Stück ohne die Ersatzmutter Lulu ein ganz anderes wäre, da durch ihre Figur überhaupt erst die Dimension von (erodierter) familiärer Bindung thematisierbar wird. Zudem – so meine These – wird es durch das quasi-familiäre Verhältnis zwischen den Protagonisten möglich, familiäre Bande auch jenseits von Biologie zu definieren. Gleichwohl ist offensichtlich, dass das Verhältnis zwischen Lulu und den Männern ein von der Lad-Kultur inspiriertes ist: Weiblichkeit wird nicht tiefergehend problematisiert; es sind die Männer, die leiden und zugrunde gehen. Von hier aus betrachtet ist es besonders bemerkenswert, dass sexuelle Anziehung in Shoppen und Ficken nur noch zwischen den Männern stattfindet und in mehreren expliziten Sexszenen als exzessiv und unkontrollierbar dargestellt wird. Die Figuren überschreiten gegenseitig ihre emotionalen und körperlichen Grenzen und Körperflüssigkeiten wie Spucke und Blut spielen eine zentrale, die Brutalität der Schlussszene vorausdeutende Rolle: Mark »hat [Garys] Blut am Mund«88 , Robbie entdeckt Blut in Lulus Gesicht89 , Robbie sitzt »blutend und mit blauen Flecken«90 in der Unfallambulanz. In seiner Monographie Male trouble. Masculinitiy and the performance of crisis liest Fintan Walsh die Inszenierung der homosexuellen Körper in Shoppen und Ficken mit Butler und Kristeva: Walsh bezieht sich hier auf Butlers Idee, dass der einzelne männlich-homosexuelle Körper als Synekdoche immer auch für die Destabilisierung der heteronormativen Matrix stehen kann. In dieser Logik steht die implizite Durchlässigkeit männlich-homosexueller Körper beim Anal- und Oralsex für die Gefährdung und Verunreinigung der hegemonialen Ordnung.91 Homosexualität
86 87 88 89 90 91
Klein: Mark Ravenhill’s Plays, S. 226. Wandor: Post-war British drama, S. 229. Ravenhill: Shoppen & Ficken, S. 105. Ebd., S. 107. Ebd., S. 113. Fintan Walsh: Male trouble. Masculinity and the performance of crisis. Houndmills, Basingstoke, New York 2010, S. 90.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
wird daher mit einem Affekt der Abwehr konnotiert, was auch mit Julia Kristevas Theorie des Abjekts zusammengedacht werden sollte.92
4.3.3
Die Messer-Szene als textliche Leerstelle
Mark verbindet die beiden anderen Männer, also Gary, den jungen Stricher, und Robbie als Rivalen miteinander. Aus dem Spannungsgefüge zwischen den Männern entfaltet sich in der 12. und 13. Szene ein brutales Spiel, dessen narrativer Status zwischen Realität und Spiel changiert:93 Gary, der von seinem Stiefvater missbraucht wurde, äußert im Verlauf des Stücks immer wieder seine Sehnsucht nach väterlicher Autorität, nach einem »Dad« und jemandem, der auf ihn aufpasst.94 Er ist getrieben von der Sehnsucht nach einem Mann, der sich um ihn kümmert und ihn »fickt. Richtig fickt. Nicht so, nicht wie er [Mark]. Und, klar, es wird weh tun. Aber gut weh.«95 Um diese Phantasie erfahrbar zu machen, bietet Robbie Gary gegen Bezahlung (um damit die Schulden bei Brian auszugleichen) an, das »Bild«96 in Garys Kopf, das laut Garys Selbstaussage »wie eine Geschichte«97 und »wie ein Film«98 sei, durchzuspielen. Die Gruppe vollzieht damit eine (Re-)Inszenierung von Garys Vergewaltigungs- und Missbrauchstraumata. Diese Spielanordnung ruft zum einen das Freud’sche Therapiekonzept ab, das auf der Vorstellung fußt, man könne ein Trauma durch Wiederholung erkennen und bearbeiten.99 Zum anderen ist dieses Spiel auch als ein metatheatraler Kommentar (auch zum Verhältnis Bühne/Film) zu lesen: Die Figuren geben sich gegenseitig Nebentexte und Regieanweisungen vor, die die Vergewaltigungshandlung vorantreiben, oder nutzen sogar
92
93 94 95 96 97 98 99
Kristeva bezeichnet mit dem Begriff der Abjection die Gleichzeitigkeit von Abwehr und Anziehung angesichts eines Objekts, das Ekel hervorruft. Das Abjekte ist also insofern paradox, als es dasjenige ist, was radikal (und unterbewusst) im Prozess der Subjektivierung vom Subjekt ausgeschlossen werden muss und daher nie komplett abtrennbar ist vom Ich. Diese Struktur sorgt dafür, dass das Abjekte immer zugleich als begehrlich und bedrohlich wahrgenommen wird. Vgl. dazu Julia Kristeva : Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection (Points Essais, Bd. 152). Paris 1980. Walsh: Male trouble, S. 89. Ravenhill: Shoppen & Ficken, S. 112. Ebd., S. 136. Ebd., S. 146. Ebd. Ebd. Vgl. zum Zusammenhang von Psychoanalyse und Theatralität: Gerhard Neumann: Die Instanz der Szene im Denken der Sprache. Argument und Kategorie der ›Theatralität‹ in der Literaturwissenschaft. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. (Theatralität, Bd. 6). Tübingen 2004, S. 139-158, hier: S. 145f.
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filmisches Vokabular, um sich anzusprechen, so fragt Lulu Gary: »Du bist der Protagonist – du bist die Hauptfigur in dem Film?«100 Ravenhill entwirft hier also ein Spiel im Spiel, das ich als eine Form des Ausbuchstabierens und der (Über-)Affirmation von Fukuyamas These vom Ende der Geschichte lesen möchte. Diese Lesart stützt sich auch auf einen Kommentar von Robbie, der im Vorfeld des gemeinsamen (Therapie-)Spiels zu Gary sagt: Ich glaube… Ich glaube, wir brauchen alle Geschichten, wir erfinden Geschichten, damit wir zurechtkommen. Und ich glaube, vor langer Zeit gab es große Geschichten. Geschichten, die so groß waren, daß man sein ganzes Leben in ihnen verbringen konnte. Aber sie sind alle gestorben, oder die Welt ist erwachsen geworden oder vergreist oder hat sie vergessen, also erfinden wir jetzt alle unsere eigenen Geschichten. Kleine Geschichten. Aber wir haben jeder eine.101 Inhaltlich kulminiert das Spiel, das also zugleich Metatheater und Therapie ist, in Garys Wunsch, mit einem Messer oder einem Schraubenzieher anal befriedigt zu werden. Lulu und Robbie ziehen sich ab diesem Punkt aus dem Spiel zurück, da Lulu darauf hinweist, dass Gary bei dem Spiel sterben kann. Die Tat wird vom Text jedoch nur angedeutet, die Ausführung wird nicht verbalisiert. Die Frage, ob Gary wirklich stirbt, bleibt also zu einem gewissen Grad offen. Dafür, dass Gary am Ende des Stücks nicht mehr lebt, spricht jedoch, dass er in der an die MesserSzene anschließende Schlussszene nicht mehr auftritt. Nachdem Gary Mark mit den Worten »Mach’s. Mach’s, dann sage ich: ›Ich liebe dich.‹« zum Ende der 13. Szene dazu gebracht hat, in die Aktion mit dem Messer einzuwilligen, befindet sich Gary in der letzten, der 14. Szene nicht mehr auf der Bühne. Der unklare Status der Tötung hat meines Erachtens zur Folge, dass die Tat auf doppelte Weise gedeutet werden kann, und entscheidet mitunter darüber, ob man das Stück als nüchterne Affirmation102 oder als irritierende Überaffirmation der patriarchalen und heteronormativen Ordnung liest: Anette Pankratz hat darauf hingewiesen, dass der Gewalt bei Ravenhill eine Doppelfunktion zukommt: Sie fungiert sowohl als das »de-lokalisierte[…], mythisierte[…] Symptom [einer] conditio humana« als auch »als Reflex konkreter Mangellagen ohne einfache Lösung«103 . Der Gewaltexzess rund um Gary beinhaltet beide Seiten und setzt die Ambivalenz des kapitalistischen Systems ins Bild.104 100 101 102 103
Ravenhill: Shoppen & Ficken, S. 146. Ebd., S. 145. Sierz: In-yer-face theatre, S. 131. Anette Pankratz: Viel Blut um nichts? Gewalt im zeitgenössischen britischen Drama. In: Susanne Hartwig (Hg.): Bruders Hüter – Bruders Mörder. Intellektuelle und innergesellschaftliche Gewalt. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 122). Berlin 2010, S. 2340, hier: S. 35. 104 Ebd., S. 27.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
Meine These ist zudem, dass, je stärker man den Charakter der Tat als Spiel im Spiel heraushebt, das keine Opfer hat, desto stärker ist Garys Todeswunsch als Negierung der bürgerlich-patriarchalen Ordnung zu lesen; dann fungiert der Homosexuelle, wie oben gezeigt, als Synekdoche für die Destabilisierung der Grenzen der (kapitalistischen) Ordnung. Die gegenteilige Deutung, in der Garys Tod für die Stabilisierung eben dieser Ordnung steht, hat zur Voraussetzung, dass man die Tat in der Binnenlogik des Stücks für real hält. Garys Tod auf Verlangen wäre im zweiten Fall zu deuten als das Ergebnis seiner Sehnsucht danach, sich radikal mit einer Vaterfigur zu identifizieren. Eine solche Lesart lässt sich wie Walsh gezeigt hat, zusammen mit Freud lesen: Freud sieht den männlichen Homosexuellen als einen Mann, der im Prozess seiner Subjektwerdung daran gescheitert sei, die väterliche Autorität zu internalisieren und sich stattdessen mit der Figur der Mutter und dem Weiblichen identifiziert habe.105 Garys Wunsch, mit einem Messer penetriert zu werden, wäre damit als Versuch zu lesen, sich mit dem Vater zu identifizieren, indem Gary sich diesen buchstäblich einverleibt.106 In diese Richtung argumentiert auch Hildegard Klein, wenn sie Gary als eine Allegorie »of neglect, abuse« und »urban drift« liest.107 In der Annahme, männliche Homosexualität sei gescheiterte Männlichkeit, artikuliert sich jedoch eine (problematische) heteronormative Wertung. Das Stück endet damit, dass sich Lulu, Mark und Robbie »abwechselnd […] füttern«108 , wie es im Nebentext heißt, sie sich also als Familie (wieder-)gefunden haben. Walsh sieht hierin jedoch weniger ein Bild für eine neu entstandene familiäre Solidarität als einen Beleg dafür, dass sich der Stücktitel vollends verwirklicht habe: »Prophetically, the play has become full circle, and the characters are slaves to their own appetites, unable to mobilize desire outside of shopping and fucking.«109 Der Stücktitel benennt mithin genau die beiden Sphären, in denen die (männlichen) Figuren ohne nachhaltige Befriedigung ihr Begehren ausleben. Homosexuelles Begehren wird damit als unproduktives Begehren konnotiert, was sich jedoch weniger in einem homophoben Affekt erschöpft, als vielmehr so gelesen werden kann, dass die homosexuellen Figuren »the burden of late capitalist dysfunction«110 tragen. Dieser durch den Stücktitel Shoppen und Ficken vorgegebenen Verschränkung von Begehren und Konsum werde ich im nächsten Kapitel noch genauer nachgehen, indem ich das Stück in seine zeitdiagnostischen und kapitalismuskritischen Bezüge einordnen werde.
105 106 107 108 109 110
Vgl. Walsh: Male trouble, S. 87. Ebd., S. 96. Klein: Mark Ravenhill’s Plays, S. 224. Ravenhill: Shoppen & Ficken, S. 169. Walsh: Male trouble, S. 97. Klein: Mark Ravenhill’s Plays, S. 222.
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Das Deutsche Theater nach 1989
4.3.4
Zeitdiagnose und Kapitalismuskritik in Shoppen und Ficken
Im Folgenden soll die Perspektive auf den Stücktext derart geöffnet werden, dass insbesondere die Suche nach Autorität nicht mehr nur geschlechtlich codiert gedeutet werden soll, sondern auch aus der Perspektive einer breiteren Gesellschaftsund Kapitalismuskritik. Hier wird es besonders darum gehen, die (unterdrückte) Sehnsucht der Figuren nach einer familiären und/oder gesellschaftlichen Autorität, die die symbolische Ordnung konsistent macht, als dasjenige Motiv zu lesen, das die surreale Binnenlogik des Texts mit den politischen Diskursen nach 1989 verbindet. Im Anschluss an Jacques Lacans Theorie der Namen des Vaters111 verstehe ich die Sehnsucht der Figuren nach einer väterlichen Autorität weniger als eine Frage der individuellen Sozialisation, als vielmehr als eine linguistisch-ideologische Funktion. Für Lacan besteht die Funktion des Vaters nämlich in Sprache und Gesellschaft darin, die Konsistenz der Gesetze in der symbolischen Ordnung zu gewährleisten. Der Vater muss daher kein realer Vater, kein Mann, ja nicht mal eine Person sein: In modernen Gesellschaften sind es insbesondere die Institutionen, die die väterliche Funktion ausfüllen. Die Bedeutung der Lacan’schen Theorie für das Stück112 wird besonders durch die Figur Brian offenbar. Nicht ohne Zufall ist das erste, wovon er im Stück spricht, ein Erlebnis, das er mit seinem eigenen Sohn hatte. In der zweiten Szene, die Brians erster Auftritt ist, trifft er auf Lulu, die – so wird später klar – für ihn Drogen verkaufen möchte. Bevor sie über den Deal sprechen, erzählt Brian ihr davon, wie er mit seinem jüngsten Sohn den Disneyfilm König der Löwen gesehen hat und dass seine Lieblingsszene diejenige war, in der Simba, die Hauptfigur, seinen Vater im eigenen Spiegelbild wiedererkennt: BRIAN Gut. Also, der Vater ist tot. Ermordet. Es war der Onkel. Und der Sohn [Simba] ist jetzt groß. […] [Er geht] zum Strom, und er schaut hinein und siehtLULU Sein eigenes Spiegelbild. BRIAN Sein eigenes Spiegelbild. Du hast den nie gesehen? LULU Nie. BRIAN Aber dann… kräuselt sich das Wasser und wird trübe. Bis er ein Gespenst
111 112
Lacan setzt die Namen bewusst in den Plural. Vgl. Dylan Evans: Wörterbuch der Lacan’schen Psychoanalyse. Wien, Berlin 2017, S. 197. Walsh schlägt zudem vor an Lacans Theorie der Psychose und deren Weiterführung durch Frederic Jameson anzuknüpfen. Jameson wendet Lacans Vorstellung, dass die Abwesenheit der väterlichen Autorität zur Psychose führe, von der Ebene des Individuellen ins Soziale, und beschreibt die Kunst der Postmoderne als eine schizophrene. Walsh führt weiter aus: »Ravenhill’s characters are strikingly similar to Jameson’s ›decentered‹, ›free-floating‹, and ›impersonal‹ signs, and the male homosexual is the site on which late capitalist symptoms of ›isolation‹, ›discontinuity‹, and ›disorder‹ conflate and intensify.« Walsh: Male trouble, S. 88.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
sieht. Ein Gespenst oder eine Erinnerung, die zu ihm aufblickt. Seinen… […] Mein Jüngster. An der Stelle drehe ich mich zu ihm um, und er hat solche Tränen in den Augen. Er fühlt dasselbe wie ich. Denn jetzt spricht der Vater. Und er sagt: […] du bist mein Sohn und der einzig rechtmäßige König.113 Brians Erinnerung – die auch eine Anspielung auf Hamlet ist – ruft die Logik des Lacan’schen (an Freud anschließenden) Konzepts der Subjektwerdung auf: Sich mit dem Vater zu identifizieren ermöglicht die eigene Subjektwerdung und es braucht einen König bzw. eine väterliche Funktion, die das Gesetz absichert. Bis hierhin könnte gegebenenfalls eingewendet werden, dass auch Brian auf der Ebene von individueller Erfahrung argumentiert, doch faltet dieser im Verlauf des Stücks seine Gedankenwelt weiter aus. In der letzten Szene wird er explizit: BRIAN Wir brauchen etwas: Einen Führer. Einen Talisman. Regeln. Einen Kompaß, der uns hilft, durch diese immerwährende Nacht zu steuern. […] Das ist zu schrecklich, um drüber nachzudenken. Das leugnen wir. Hab ich recht?114 Ferner möchte Brian im Verlauf des Stücks die anderen davon überzeugen, dass heutzutage das Geld die väterliche Funktion übernommen habe, was er für einen Akt der Zivilisation und nicht der Ausbeutung hält. Angesichts seiner brutalen ›Geschäftspraktiken‹ als Drogendealer kann man diese Haltung jedoch nur als Zynismus lesen.115 Brians zynische Haltung wird konterkariert durch die Emotionalität, die er angesichts des Cellospiels seines Sohns zeigt. Hier gibt er sich tiefberührt und kommentiert das Spiel mit den Worten: »Etwas so Schönes […] Hörst das und weißt, was du verloren ha-ha-ha-sst.«116 Hier verleiht Brian einem Gefühl Ausdruck, das die Figuren im Stück zu einen scheint, jedoch nicht von allen verbalisiert werden kann. Sie alle sind getrieben von einer Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit, in der das »Gesetz des Vaters« noch Geltung hatte. Neben Brian sind es insbesondere Gary (durch seine Todessehnsucht) und Lulu, die einen Ausdruck hierfür finden. So erinnert Lulu Mark mehrfach an sein Versprechen, dass er eigentlich Verantwortung für sie und Robbie übernehmen wollte.117 Die melancholisch-nostalgisch Haltung der Figuren und ihre Sehnsucht nach Autorität ist eng verbunden mit der Zäsur von 1989: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde, wie bereits erwähnt, die Rede vom »Ende der Geschichte« (Fukuyama) virulent. Analog zu Lyotards postmoderner These von einem Ende der grand recits setzt sich im Europa der Neunzigerjahre damit die Vorstellung durch,
113 114 115 116 117
Ravenhill: Shoppen & Ficken, S. 88. Ebd., S. 164. Ebd., S. 127. Ebd., S. 124. Ebd., S. 83.
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dass man sich nun in einer Epoche befinde, in der gesellschaftspolitische Großnarrationen (die Namen des Vaters) keine Rolle mehr spielten und ein vermeintlich ideologiefreies Zeitalter begonnen habe. Das Postulat der Ideologiefreiheit kann wiederum genau als die Großerzählung der Postmoderne beschrieben werden. So sieht es auch Frederic Jameson, der die Postmoderne auch schon vor 1989 davon bestimmt sieht, dass [h]erkömmliche Untergangs- oder Erlösungsvisionen […] immer mehr von einzelnen Endzeitgefühlen abgelöst [werden]: das Ende der Ideologie, der Kunst, der gesellschaftlichen Klassen; die ›Krise‹ des Leninismus, der Sozialdemokratie, des Wohlfahrtsstaates etc.118 Der Zusammenbruch des Sozialismus ist aus solch einer Perspektive zu verstehen als die Materialisierung einer diskursiven Gemengelage, die ihren kulturellen Anfang in den Künsten der 1950er und 60er Jahre (Pop-Art etc.) und ihren ökonomischen Ursprung in den Ölkrisen der 1970er hat. Im Zuge der Umwälzungen von 1989 vollzieht sich im hegemonialen, europäischen Diskurs die Ersetzung der großen gesellschaftlichen Narrationen der Nachkriegszeit (Sozialismus, Soziale Marktwirtschaft, Demokratie) durch eine Expansion der Ideologie des freien Marktes, was häufig mit dem Schlagwort des Neoliberalismus bezeichnet wird.119 Das westliche Basisnarrativ, das hier entsteht und bis heute hegemonial ist, besteht aus dem quasi-religiösen Glauben an die Alternativlosigkeit kapitalistischen Wirtschaftens. Die postsozialistischen Länder in Osteuropa und in abgemilderter Form die DDR sind nach 1989 relativ ungeschützte Objekte dieser zuweilen neokoloniale Züge tragenden Expansion der neoliberalen Ideologie; das Ende der Systemkonkurrenz wandelt nachhaltig den »Geist« des Kapitalismus in West- wie Osteuropa.120 Dass »[d]ie Ideologie des Marktes […] die alten ›big stories‹ ab[löst]«121 , ist auch der Dreh- und Angelpunkt von Ravenhills Shoppen und Ficken: Die mitunter verstö-
118
Frederic Jameson: Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Andreas Huyssen u. Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45-98, hier: S. 45. 119 »Neoliberale Politik bedeutet, Korridore für die Komplizenschaft mit dem Markt zu schaffen. […] Dabei handelte es sich um die gezielte Übertragung staatlicher Kompetenzen an Märkte, die bewusste Schaffung von Märkten, die allgemeine Stärkung von Wettbewerb, Autonomie und Eigenverantwortung sowie die Dezentralisierung von Entscheidungen.« Vgl. Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (Edition Suhrkamp, Bd. 2682). Berlin 2016, S. 86. 120 Vgl. Boris Groys: Die postkommunistische Situation. In: Boris Grois, Anne von der Heiden u. Peter Weibel (Hg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus. Frankfurt a.M. 2005, S. 36-48. 121 Pankratz: Viel Blut um nichts? Gewalt im zeitgenössischen britischen Drama, S. 26.
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rende Gewalttätigkeit des Stücks ist Ausdruck dieser neuen Marktmacht. Scheitern die Figuren an den Anforderungen des Markts, werden sie gefoltert und gequält. Die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verschwimmen, was Garys ausdrückliche Forderung, vergewaltigt zu werden, am stärksten zum Ausdruck bringt. Inyer-face steht – obwohl die Inhalte der Stücke das nicht unmittelbar nahelegen – insofern in enger Verbindung mit der postsozialistischen Diskursformation als dieses Theater die Auswirkungen der Erosion gesellschaftlicher Großerzählungen und Utopien auf das Individuum darstellt. Aleks Sierz fasst diesen Zusammenhang prägnant zusammen: »In-yer-face theatre is drama’s response to the fall of the Berlin wall.«122 Im nun anschließenden Kapitel zur Inszenierung von Thomas Ostermeier wird es darum gehen, in welcher Weise die Inszenierung und ihre Dramaturgie die Bedeutungsangebote des Texts zwischen Affirmation, Überaffirmation und Kritik aufgenommen und gewandelt haben.
4.4
Gewaltexzess und Drastik in Ostermeiers Version von Shoppen und Ficken (3. Ebene, Inszenierungsanalyse)
Die Inszenierung von Mark Ravenhills Stück Shoppen und Ficken machte Thomas Ostermeier über Nacht und über die Grenzen von Berlin hinaus bekannt, ermöglichte ihm nachfolgend den Aufstieg zum Intendanten der Schaubühne und verbesserte nachhaltig die Chancen von Nachwuchsdramatikerinnen und -dramatikern im deutschsprachigen Theater inszeniert zu werden. Im Folgenden wird die Vitalisierung der Theaterlandschaft, die von Shoppen und Ficken ausging, als Effekt ihrer ästhetischen Eigenlogik analysiert. Das vorliegende Kapitel bildet die dritte Stufe meines Analysemodells; als letzte Ebene folgt auf dieses Kapitel die Analyse des »Weiterlebens« von Shoppen und Ficken außerhalb der Institution; hier wird es insbesondere darum gehen, Shoppen und Ficken als Ostermeiers »Distinktionskraft«123 vergrößerndes Ereignis zu lesen, das ihm nachhaltig half, sich als Antipode eines vermeintlich unpolitischen, postdramatischen Theaters zu inszenieren. Leitend für meine Inszenierungsanalyse, die auf einem undatierten Videomitschnitt der Generalprobe zur Premiere am 17. Januar 1998 beruht, ist die Beobachtung, dass Thomas Ostermeier die Ambivalenz der Tötungsszene, die bei Ravenhill (wie in der Textanalyse gezeigt) maßgeblich ist für Form und Inhalt des Stücks, durch eine Regieentscheidung vereindeutigt: Ostermeiers Inszenierung schließt
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Sierz: Still In-Yer-Face? Towards a Critique and a Summation, S. 21. Franziska Schößler: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde. Soziales Engagement und Aktionskunst nach 1995. In: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 379-396, hier: S. 390.
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die zentrale Leerstelle der Textebene, nämlich die Frage, ob Gary stirbt oder nicht, dadurch, dass er Garys Todesphantasien verbuchstäblicht: In der Inszenierung wird drastisch, das heißt im Modus der »überdeutlichen Repräsentationen von Gewalt, Tod und Sexualität«124 , dargestellt, wie Gary von Mark anal mit einem Messer solange penetriert wird, bis er stirbt, und der Vorgang wird durch den Einsatz von Theaterblut, durch Schmerzensschreie und die Nacktheit des Gefolterten explizit gemacht. Diese vom Feuilleton vielfach als »Messer-Szene« betitelte Szene ist die vorletzte Szene in Ostermeiers Inszenierung. Beendet wird das Stück von einer Art Gottesdienst, in dem Brian, eigentlich Drogenboss, die anderen Figuren auf seine neoliberale Ideologie einschwört und als neoliberal-autoritärer Populist den Tod von Gary ex post als notwendig für die Aufrechterhaltung und Widerherstellung der Ordnung auslegt. Die Inszenierung lässt sich damit motivgeschichtlich in eine Linie mit kanonischen Dramen aus der Zeit um 1800 bringen, die vorführen, wie ein weibliches Gründungsopfer die Bildung einer männlichen Gemeinschaft ermöglicht; als Vorlagen können hier zum Beispiel Kleists Hermannsschlacht (1808) oder Schillers Wilhelm Tell (1804) gelten. Gary ist durch seine Existenz als Stricher auf ähnlich paradoxe Weise in die männlich-hegemoniale Ordnung ein- und ausgeschlossen wie es die kanonisierten weiblichen Gründungsopfer sind: Auf der Inhaltsebene der Inszenierung wird sein Tod durch Brian zum notwendigen Opfer für die Wiederherstellung bzw. Festigung der kapitalistischen Ordnung stilisiert. Auf der Ebene der Wirkung und Rezeption der Inszenierung kann die drastische Darstellung des Tötens als brutaler Gründungsakt für einen Neuen Realismus (Ostermeiers ästhetisches Programm) gelesen werden. Die Drastik und der Gewaltexzess versinnbildlichen auch das Eruptive der Emergenz neuer (vom Haupthaus losgelöster) Organisationsstrukturen, die Mitte der Neunzigerjahre notwendig waren, um der europäischen Gegenwartsdramatik von jungen Autor/innen Raum zu geben. Die nun folgende Inszenierungsanalyse ist so aufgebaut, dass, bevor die motivgeschichtliche Einbettung, die genannten Wirkungsabsichten und daran anschließend die Rezeption untersucht werden, zunächst die übergreifenden Prinzipien der Inszenierung, das heißt besonders die Raumpraxis, der Einsatz von Musik und die Spielweise, beschrieben werden sollen.
124 Dirck Linck: Über die Möglichkeiten des popkulturellen Vergnügens an drastischen Gegenständen. In: Martin Vöhler u. Dirck Linck (Hg.): Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin 2009, S. 293-322, hier: S. 293.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
4.4.1
Gespensterhaftes in Raumpraxis, Musik und Spielweise
Entsprechend Ravenhills erstem Nebentext – eine »Wohnung – früher einmal ziemlich durchgestylt, jetzt fast völlig leergeräumt«125 – ist das Wohnzimmer einer solchen heruntergekommen Wohnung der Dreh- und Angelpunkt des Bühnenbilds von Rufus Didwiszus: Das zentrale Ausstattungsstück ist ein altes, verwohntes Schlafsofa; andere Möbelstücke finden sich nicht. Doch das bedeutet nicht, die Wohnung auf der Bühne sei »völlig […] leergeräumt«, denn überall auf dem Bühnenboden ist Müll und schmutzige Kleidung drapiert.
Abbildung 17: Das Sofa als Zentrum des Bühnenbilds
(c) 2021 Ullstein Bild. Die Urheberrechte am Mitschnitt der Generalprobe, die ich für diese Analyse im Archiv des Deutschen Theaters sichten konnte, waren nicht abschließend zu klären, deshalb werden in diesem Kapitel keine Standbilder aus dem Videomaterial abgedruckt, sondern Pressefotos mit der Genehmigung von Ullstein Bild.
Das Bühnenbild weckt Assoziation an den ›Heroin-Chic‹, also jene Ästhetik, die Mitte der 1990er Jahre durch die Mode und Werbung populär wurde und eine Ästhetisierung und Glorifizierung von Drogenkonsum und -sucht meint; ein Phänomen, das sich auch in Filmen wie Trainspotting (1996) niederschlug.
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Ravenhill: Shoppen & Ficken, S. 82.
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Zwar situiert Ravenhills Text die Handlung von Shoppen und Ficken nicht nur in kammerspielartigen, privaten Innenräumen, sondern auch an öffentlichen Plätzen, wie einer Kneipe, einer Unfallambulanz oder in der Umkleidekabine eines Kaufhauses, doch verzichtet Ostermeiers Inszenierung darauf, alle diese Räume abzubilden. Die Raumpraxis der Inszenierung gibt hier dem Programm des Inyer-face-Theaters eine Form: Die öffentlichen Orte brechen in die privaten hinein, indem die Schauspieler/innen die öffentlichen Handlungsorte durch Wortkulissen entstehen lassen, allenfalls unterstützt durch wenige Requisiten (mit Biergläsern, einer Krankenhausliege oder einem Vorhang) oder durch kleine Umbauten (beispielsweise des Klapp-Sofas).126 Da (wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt) die Baracke eine Blackbox war, es also keine festgefügte Konvention für die Anordnung von Bühne und Publikumsbestuhlung gab, konnte der Raum ohne großen Aufwand für jede Inszenierung anders genutzt werden; das bedeutete auch, dass jedes Bühnenbild immer eine explizite (bedeutungstragende) Entscheidung für das Publikum-BühneVerhältnis darstellte: Für Shoppen und Ficken wurde die Baracke so eingerichtet, dass die Zuschauer nur durch einen schmalen Laufsteg von der Bühne getrennt waren. Dieser Steg wurde für Auf- und Abtritte zur rechten Seite hin genutzt. Die Spielfläche, die sich dadurch ergab, war zur linken und hinteren Seite von den Außenwänden des Gebäudes begrenzt und nach rechts schloss sich das Off an. Die Bühne liegt somit auf derselben Höhe wie die Publikumsbestuhlung, was die Intimität trotz des trennenden Stegs verstärkt. Das zentrale Raumprinzip lässt sich beschreiben als die Verschränkung von vorgefundener (historischer) Architektur mit dem fiktionalen Raum der Inszenierung, also der Londoner Wohnung: Dazu bezieht der Bühnenentwurf solche Elemente der Baracke mit ein, die auf die ursprüngliche Nutzung als Arbeiterunterkunft verweisen: ein Fenster des Gebäudes, das zu einem Teil von einem Rollladen verdeckt ist, wird in der Inszenierung zum Fenster der Wohnung von Lulu und Robbie, der Notausgang wird zur Wohnungstür und auch die Heizkörper, die einst die Arbeiterunterkunft wärmten, unterstützen im Bühnenbild die Atmosphäre einer Wohnung. Während der Aufführung, die ich gesichtet habe, fällt zu Beginn durch das nicht verdunkelte Fenster Tageslicht ein und wirft mit fortschreitender Uhrzeit unterschiedlich starke Schatten auf die Spielfläche. Hierdurch befindet sich die Bühne selbst während eines »Blacks« im Zwielicht, was zum Beispiel in den Umbaupausen einen antiillusionistischen Effekt hat: Selbst wenn das Bühnenlicht ausgeschaltet
126
Dadurch, dass teilweise Innen- und Außenräume simultan repräsentiert werden, greift die Inszenierung auch auf einen Brecht’schen Verfremdungseffekt zurück, wie er z.B. in Mutter Courage vorkommt.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
wird, liegt die Bühne nur im Halbdunkeln und die Zuschauer/innen können beobachten, wie die Schauspieler/innen die Bühne umgestalten – mal mit, mal ohne musikalische Untermalung. Diese Durchlässigkeit zwischen den normalerweise durch die Theaterkonventionen abgegrenzten virtuellen Räumen und Zuständen gibt der Aufführung eine gespenstische Atmosphäre, die dadurch verstärkt wird, dass der Bühnenentwurf intensiv mit zwielichtigen Zuständen spielt, die Geschichte des Orts präsent hält und den realen mit dem fiktionalen Raum verschränkt. Auch für die musikalische Gestaltung der Inszenierung ist das Prinzip, Vergangenes in der Gegenwart ›gespenstig‹ präsent zu halten, zentral. Der Musik, die eigens vom Theatermusiker und damaligen musikalischen Leiter der Baracke, Jörg Gollasch, komponiert wurde, kommt in der Inszenierung sowohl die Funktion der Begleitung und Untermalung zu als auch der Szenenstrukturierung. Gollaschs Musik changiert entsprechend zwischen isolierten instrumentalen Samples, atmosphärischen Klangflächen und melancholischen Songs, zu denen Jule Böwe englische, eigens für das Stück geschriebene Texte singt. Die Musik ist langsam, wirkt schwermütig und arbeitet mit Low-Fidelity-Effekten, also mit Sounds, die das Knistern und Knacken von Vinyl-Schallplatten imitieren. Sowohl die komplexen Songs als auch die atmosphärischen Klänge können daher als von Trip Hop inspiriert gelten; jenem alternativen elektronischen Musikstil, der in den 1990er Jahren in der Region rund um Bristol entstand und durch Bands wie Portishead und Massive Attack oder Solokünstler wie Tricky bekannt wurde. Trip Hop zeichnet sich durch eine dem Hip-Hop und Dub verwandte langsame Rhythmusstruktur aus. Anders als im Hip-Hop gibt es jedoch keinen Rap, zuweilen aber Gesangparts. Der Musik- und Kulturwissenschaftler Mark Fisher nennt die Trip-HopKünstler/innen der britischen Subkultur der 1990er Jahre auch musikalische Hauntologen, weil ihre Sounds – anders als der von ihm als reaktionär bezeichnete Retrosound des Britpops – nicht nur vergangene Trends unverändert wiederholen, sondern Erinnerungsprozesse materialisieren. Fischer unterscheidet entsprechend zwischen einer Musik, die das, was in den 1990er Jahren neu war – Technologie, kultureller Pluralismus, Genre- und Stilinnovationen –, anerkannte und weiter vorantrieb, und Strömungen, die in einer monokulturellen Britishness Zuflucht suchten: Das musikalische Ergebnis war wichtigtuerischer, weißer Jungs-Rock, der fast ausschließlich auf die in den 1960er und 1970er Jahren etablierten Formen setzte. Solche Musik war dazu geschaffen, verunsicherten weißen Typen Halt zu geben, zumal in einer Zeit, da Gewissheiten unter Druck gerieten, auf die bislang Verlass
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war – am Arbeitsplatz, in den Geschlechterverhältnissen, im Hinblick auf die ethnische Identität.127 Trip Hop ist ferner nach Fisher eine gespenstische Musik, weil sie sich durch eine »verstörende knisternde Textur«128 auszeichnet. Gerade diese findet sich auch in Gollaschs Bühnenmusik. Somit lässt sich die These aufstellen, dass sich die Inszenierung musikalisch dezidiert jenseits jener heteronormativ-klassistischen Matrix verortet, die von Cool Britannia perpetuiert wurde. Betrachtet man jedoch nicht nur die Ebene der Musik, sondern zieht die Figurenzeichnung und Spielweise mit ein, ergibt sich bei der Frage nach der Progressivität der Inszenierung ein etwas anderes Bild: Insbesondere die Unterwanderung von klassenbezogenen Stereotypen gelingt – auch auf der Ebene des Bühnenbilds – nur teilweise. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Kritikerin Cornelia Niedermeier mit dem Bühnenbild eine typische britische Unterschichtswohnung assoziiert: Geht das Licht wieder an, sieht man ein Proll-Sofa, Bier- und Pepsidosen auf den Heizkörpern, verfleckte Kissen, Zigarettenkippen und leere Pizzakartons: In der jüngsten Arbeit des Teams wurde eine Ecke des Barackenraums zum abgewohnten Londoner Neubausilo. Dass Niedermeier hier vom Proll-Sofa spricht, ist insofern bemerkenswert, als das Wort »Proll« im Stück gar nicht vorkommt und der Text die Figuren auch nicht offensiv als der Unterschicht zugehörig markiert. Was Ostermeier hier mit seiner Bildersprache unterläuft, ist etwas, das ich als klassistisches Repräsentationsparadox beschreibe möchte: Er will auf der Bühne vom Wohlstand ausgeschlossene Menschen repräsentieren, reproduziert dafür aber bildungsbürgerliche Klischees: Der Begriff ›Proll‹ (engl. Chav), der in den 1990er Jahren als pejorativer Begriff in den Mainstream-Diskurs Einzug gehalten hat, steht diskursgeschichtlich als Schlagwort für den klassistischen Diskurs, der Armut mit moralischer Verfehlung assoziiert, was der britische Journalist und Autor Owen Jones in seiner Monographie Chavs: The Demonization of the Working Class. (dt. Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse.) gezeigt hat. Jones kann belegen, wie zeitgleich zu Cool Britannia und der Regierungszeit von New Labour ein die Klassenzugehörigkeit stigmatisierender Abwertungsdiskurs in Großbritannien und später in ganz Europa virulent wird. Hierbei geht es Jones besonders darum, aufzuzeigen, wie sich ein gesellschaftliches Klima entfaltet, in dem Armut eher als Ausdruck individueller Fehler betrachtet wird denn als das Resultat struktureller Ungleichheit.129 Die Dämonisierung der 127 128 129
Thomas Atzert (Hg.): Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft (Critica diabolis, Bd. 223). Berlin 2015, S. 70f. Ebd., S. 75. Jones: Chavs, S. 10f.
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Arbeiterklasse erscheint ihm so als »convenient way of justifying an unequal society troughout the ages«130 . Der pejorative Gebrauch des Ausdrucks »Proll/Chav« wird hierdurch zum Schlagwort und Synonym für all die negativen Züge einer moralisch ›schlechten‹ Unterschicht mit der »violence, laziness, teenage pregnancies, racism, drunkenness, and the rest«131 assoziiert werde. Auch in anderen Elementen findet sich in Ostermeiers Inszenierung eine stereotype Darstellung: die Figuren sind durch ihre ärmlichen Wohnverhältnisse, den Drogenkonsum, die Unmengen an Fast Food und ihre Promiskuität als »Prolls« markiert, als Repräsentanten einer abzuwertenden Unterschicht. Gegen diese Kritik an Ostermeiers Arbeit lässt sich jedoch einwenden, dass man die Inszenierung nicht an den Maßstäben eines milieunachbildenden Realismus messen muss, da das Inszenierungskonzept auf einer dezidiert nicht-realistischen, sondern hyper-realistischen Ästhetik fußt. Neben den Brüchen und Verfremdungen auf der Ebene des Raumkonzepts, die oben bereits ausgeführt wurden, entsteht dieser Effekt insbesondere auch durch die Raumpraxis der Schauspieler, das heißt durch ihre schnellen, sich ins Groteske steigernden Bewegungen, ihre abrupten Bewegungsaus- und -abbrüche. Die körperliche Dynamik zwischen den Schauspieler/innen ist von zwei widerstrebenden Prinzipien bestimmt, nämlich sowohl von der permanenten Suche nach Intimität und Nähe in Form von familiärer oder sexueller Körperlichkeit, als auch von Gewalt und Aggressivität, was von Gerangel über Schlagen und Treten bis zu Vergewaltigung und Mord reicht. Alle Versuche der Figuren, eine harmonische körperliche Ordnung herzustellen, müssen daher scheitern. Abwechselnd bricht eine Figur nach der anderen aus den Körperordnung aus. So entsteht ein zyklischer Wechsel zwischen intimen Situationen und aggressivem, sexuell übergriffigem Verhalten. So zum Beispiel Lulu, die sich sowohl fürsorglich um die Gruppe kümmert als auch gewalttätig ist: Sie jagt Robbie durch die Wohnung, sie schubst ihn, wirft ihn zu Boden, spuckt auf ihn und träufelt ihm Jod in die Augen, weil sie ihn für den Verlust seines Jobs bei einer Fast-Food-Kette bestrafen will. So erscheint Lulu als Mutter, die ihre Söhne sowohl nährt als auch quält. Gleiches gilt jedoch auch für die männlichen Figuren. So ist Mark mal der Vater, der schützend seine Kinder in den Arm nimmt (Abbildung 18), und mal ein brutaler Vergewaltiger. Neben der Gewalt, mit der sich die Figuren untereinander begegnen, neigen die Figuren zu impulsiven, aggressiven Ausbrüchen gegen sich selbst oder gegen Dinge. So zum Beispiel in der Szene in der Notaufnahme: Robbie verletzt sich immer wieder an der Krankenliege, klemmt sich die Finger und es gelingt ihm nur schwer die Liege unter Kontrolle zu bringen, sodass das Spiel mit der Liege letztlich in einer Slapsticknummer mündet, die die Ausweglosigkeit von Robbies Lage als Witz auffängt. 130 Ebd., S. 10. 131 Ebd., S. 8.
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Abbildung 18: Lulu (Jule Böwe), Robbie (Bruno Cathomas) und Mark (Thomas Bading) als instabile Triade
(c) 2021 Ullstein Bild.
Das Tempo, die Energie der Spielweise und die in die Psychologie der Figuren hineinverlegten harten Schnitte lassen eine Atmosphäre entstehen, in der die Figuren nicht als autonom handelnde Subjekte zu begreifen sind (was es bräuchte, um sie als moralisch verfehlende Unterschichtssubjekte zu stigmatisieren), sondern als Spielbälle in einem Netz von Abhängigkeit und Gewalt – ausgeliefert einer (Markt-)Macht, die ihre sozialen Beziehungen unterminiert. Im Folgenden möchte ich nun den Kulminationspunkt dieser Gewalt genauer betrachten, nämlich die
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
sogenannte Messer-Szene, also jene Szene, in der Mark Gary mit einem Messer auf sein eigenes Verlangen hin so lange anal penetriert, bis dieser stirbt.
4.4.2
Close Reading der Messer-Szene
Im Folgenden möchte ich nun den drastischen Schluss des Stücks genauer betrachten; zum einen, weil Ostermeiers Version Ravenhills Stück abweichend vom Text auslegt, und zum anderen, weil es insbesondere die Drastik der Inszenierung war, die sie medial zum Thema gemacht hat. Neben der Drastik lassen sich noch weitere Argumente für die Sonderstellung der Messer-Szene anführen: Zum einen hebt sich das letzte Viertel des Stück formal vom Vorangegangenen dadurch ab, dass die Figuren zum ersten Mal die vierte Wand überschreiten; eine Praxis, welche die Distanz zwischen Bühne und Publikum abbaut. Zum anderen ergibt sich eine weitere Zäsur dadurch, dass mit dem Einstieg in die Messer-Szene (ganz der Dramaturgie der Eskalation folgend) zum ersten Mal alle Figuren, also Mark, Gary, Robbie und Lulu, auf der Bühne zusammentreffen. Durch die räumliche Kopräsenz wird insbesondere die Rivalität zwischen Robbie und Gary (um Mark) offenbar und mündet in einem Gerangel zwischen allen Figuren; das Aufeinanderprallen, Schubsen und Stoßen der Schauspielerkörper wirkt choreographiert, fast tänzerisch, und nimmt mithin eine Ästhetik vorweg, die heute beispielsweise für die Performance Gruppe Contact Gonzo mit ihren aggressiven Kontaktimprovisationen charakteristisch ist.132 Ostermeiers Inszenierung löst die Spannung zwischen den Figuren zunächst dadurch auf, dass Lulu (im Sinne ihrer mütterlichen Rolle) das Publikum adressiert (»Schauen Sie sich doch dieses Chaos an.«) und damit als erste Figur im Stück die vierte Wand überschreitet; Robbie folgt ihr daraufhin und nimmt sogar im Publikum Platz, um sich aus der Szene zurückzuziehen und zu beruhigen. Die Inszenierung arbeitet hier an dieser Stelle also mit einer veränderten Raumpraxis. Aus dem Zuschauerraum heraus spricht Robbie erneut mit Gary, der seinerseits seitlich der Bühne im Off platzgenommen hat. Die räumliche Distanz, die nun zwischen ihnen liegt, ermöglicht es den Figuren, ihre Probleme ohne Gewalt zu thematisieren. Robbie entfaltet aus diesem Gespräch mit Gary seinen Monolog über die Bedeutung von Narrativen für das Zusammenleben, den ich auch schon in der Textanalyse zitiert habe, und programmatisch für das Stück und die Inszenierung ist: (Text, der so nicht bei Ravenhill zu finden ist, ist fett hervorgehoben.) Ich glaube… Ich glaube, wir brauchen alle Geschichten, wir erfinden Geschichten, damit wir zurechtkommen. Und ich glaube, vor langer Zeit gab es große Geschich-
132
Contact Gonzo: Performance im Museum of Modern Art, New York. Juni 2013. [https://www. youtube.com/watch?v=Ax-wwMmw70A (21.03.2019)].
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ten. Geschichten, die so groß waren, daß man sein ganzes Leben in ihnen verbringen konnte. Wie die allmächtigen Hände der Götter, der Weg zur Aufklärung, das Schicksal, der unaufhaltsame Marsch des Sozialismus. Aber Sie sind alle gestorben, oder die Welt ist erwachsen geworden oder vergreist oder hat sie vergessen, also erfinden wir jetzt alle unsere eigenen Geschichten. Kleine Geschichten. Aber wir haben jeder eine.133 An der Inszenierung dieses Monologs lässt sich zweierlei ablesen: Erstens verortet Ostermeier seine Inszenierung durch den hinzugefügten Text noch deutlich konkreter als Ravenhill in der Zeit nach 1989. Zweitens hebt Ostermeier dadurch, dass Robbie diese Passage mal mit dem Rücken zur Bühne im Publikum stehend, mal im Publikum sitzend spricht, die herausgehobene, programmatische Bedeutung der Sätze für das gesamte Stück hervor. Dem Gedanken folgend, dass sich nun alle Großerzählungen erübrigt hätten, bietet Robbie Gary an, dass er ihm gegen »Cash« helfen könne, etwas über seine eigene traumatisierte Lebensgeschichte und die Vaterfigur, die er sucht, herauszufinden, indem sie gemeinsam den »Film in Garys Kopf« nachspielen. Der Beginn dieses Therapiespiels ist deutlich markiert durch Musik- und Lichtwechsel: Die Bühne wird zu Drum-›n‹-Bass-Beats in Stroboskoplicht getaucht und Robbie schreit überdehnt die Worte, die den Beginn des Spiels markieren: »Wir spielen ein Spiel. Das ist Lulu. Das ist Mark. Und das hier ist Superstar Gary.« Was nun folgt ist eine unorthodoxe Form der Gruppentherapie, in deren Zentrum Gary steht: Die Gruppe setzt seine Assoziationen, Gedanken und Traumbilder wie Regieanweisungen um, sie sitzen dazu – natürlich als Freudzitat – meist auf der Couch und wechseln dort die Positionen. Doch funktioniert die Szene nicht nur als Persiflage auf eine Psychoanalyse, sie ist auch Meta-Theater, da die Figuren stets die Ebene des Drehbuchs mit analytischem Vokabular wie »Du bist der Protagonist.« oder »Wie geht die Story weiter?« sichtbar machen. Das Spiel rund um Garys Geschichte kulminiert in der Tötung von Gary durch Mark. Gary fordert von der Gruppe, dass er, nachdem er sowohl mit Mark als auch Robbie brutalen Sex gehabt habe, dem Drehbuch in seinem Kopf folgend, nun mit einem »Messer gefickt« werden müsse. Robbie und Lulu verweigern ihm diesen weiteren Schritt, weil er dabei sterben könne und verlassen die Bühne. Mark jedoch bleibt und anders als in der Textvorlage beginnt er damit den über das Sofa gebeugten Gary, anal mit dem Messer zu penetrieren, was durch den Einsatz von Theaterblut, Schmerzensschreien und einem abrupten Licht- und Musikwechsel begleitet wird. Die eingesetzten drastischen Mittel setzen auf eine Überwältigung der Zuschauenden. Die Möglichkeit zur Distanzierung besteht nicht mehr und die
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Ravenhill: Shoppen & Ficken, S. 145.
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Frage, ob es sich beim Dargestellten vielleicht doch nur um einen Traum oder eine Phantasie handeln könne, tritt in den Hintergrund. Verstärkt wird dieser Überwältigungseffekt dadurch, dass der Vorgang des Tötens über mehrere Minuten hin ausgedehnt dargestellt wird. Peter Boenisch beschreibt in seinem Ostermeier-Buch, dass diese Szene bis heute paradigmatisch für Ostermeiers Regiestil ist: In a way that should remain significant for his work until today, this endless, wordless scene physicalised, instead of psychologised, all the rage, frustration, desperation, and hunger for love, all the ›real‹ sensibilities that drove the characters‹ act.134 Als Gary seinen Bühnentod gestorben ist, setzt Cello-Musik (eine Bach-Suite) ein und Mark beerdigt Garys Körper provisorisch hinter dem Sofa. Brian, dem Lulu und Robbie noch 3000 Pfund schulden, betritt nun als eine Art Priester oder Prediger die Bühne, um Garys Tod in ein (an einen Gottesdienst erinnerndes) Ritual einzuhegen. Er nimmt hierzu Robbie und Lulu an die Hand und schwört sie auf sein Credo »Geld ist Zivilisation und Zivilisation ist Geld« ein. Zudem stimmen die drei gemeinsam in die Melodie von Conquest of Paradise ein; jenem Song des griechischen Komponisten Vangelis, der 1992 als Titelmelodie von Ridley Scotts Film 1492: Conquest of Paradise komponierte und der 1996 als Einzugslied von Henry Maske bei seinem letzten Boxkampf in Deutschland populär wurde. Hierdurch entsteht ein ironischer Effekt, insofern die Ernsthaftigkeit und Drastik dessen, was sich bis dahin auf der Bühne abgespielt hatte, mit dem popkulturellen Pathos von Vangelis kontrastiert wird. Nun zu Brians ›Predigt‹: Diese umkreist das dialektische Verhältnis von Zivilisation und Krieg: (In Klammern meine eigenen Kommentare zu den Bewegungen auf der Bühne) Zivilisation ist Geld. Geld ist Zivilisation. Und Zivilisation? Wie haben wir sie erreicht? Durch Krieg. Durch Kampf. Töten (gibt Mark einen Klaps) oder getötet werden (geht zu Gary) und mit dem Geld ist es genau dasselbe. Es ranzuschaffen ist grausam (Schiebt das Sofa ein Stück vor, um Garys Leiche hinter dem Sofa wieder sichtbar für die Zuschauer zu machen und seine leblose Hand anzuheben und fallenzulassen) schwer, aber es zu haben ist Zivilisation, dann sind wir zivilisiert. Sagt das mal, sprecht mir mal nach: Geld ist Zivilisation. Wie die in Klammern notierten Bewegungen von Brian zeigen, inszeniert Ostermeier Brians Auftritt so, dass der gesprochene Text in Zusammenhang mit Brians Raumpraxis Garys Tod als notwendig für die Etablierung einer zivilisierten Gesellschaft erscheinen lässt. 134
Boenisch: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 9.
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Ferner bekommen Lulu und Robbie von ihm ihr Geld zurück, weil sie – so Brians Deutung – gelernt hätten, nach seinen neoliberalen Paradigmen zu leben. Brian wird auf diese Weise als eine Art neoliberaler Populist inszeniert: Er gibt den Figuren jenen Halt, nach dem sie sich gesehnt haben, jedoch hat dies den Preis, dass sie die marginalisierte Figur in ihrer Gruppe opfern müssen und dass auch die Überlebenden ihre Vitalität einbüßen. Zeichneten sich die Figuren nämlich vor Garys Tod noch durch ihre ungerichtete Energiegeladenheit aus, verhalten sie sich nun unter Brians Führung wie sediert. Diese gesamte Konstellation verdeutlicht auch der Abgang der Gruppe von der Bühne. Mark schultert Garys Leichnam und bildet mit Lulu und Robbie eine Prozession hinter Brian, der seinen ›Schäfchen‹ weitere Dogmen auferlegt, sie sollen nun nur noch »Fernsehen! Shoppen!«. Dass Ostermeiers Inszenierung den Tod von Gary drastisch ins Bild setzt, obwohl die Textvorlage offenlässt, ob Mark tatsächlich auf Garys Wunsch eingeht, ihn zu töten, und daran anschließend Brian einen neoliberalen Gottesdienst zelebrieren lässt, möchte ich im Folgenden aus einer motivgeschichtlichen Perspektive betrachten, indem ich Garys Tod als die Darstellung eines bestimmten Gründungsmodells von Gesellschaft und als Gründungsakt für Ostermeiers eigene Theaterprogrammatik – den sogenannten Neuen Realismus – lese.
4.4.3
Gary als queeres Gründungsopfer für Ostermeiers Neorealismus
Im Folgenden möchte ich zunächst knapp die Argumentation Susanne Lüdemanns aus ihrem Aufsatz Weibliche Gründungsopfer und männliche Institutionen. VerginiaVariationen bei Lessing, Schiller und Kleist 135 referieren, um zu zeigen, in welchen dramengeschichtlichen Kontext eine Lesart von Garys Tod als Gründungsopfer gesetzt werden kann. Lüdemann stellt die These auf, dass in der deutschsprachigen Dramengeschichte eine ausgesprochene Affinität besteht zwischen der theatralen Darstellung von weiblichen Gründungsopfern in der Tradition von Livius‹ VerginiaErzählung und der politisch-poetologischen Bestimmung des Verhältnisses von Theaterinstitution und Nation. Lüdemanns Analyse konzentriert sich hierzu auf die Funktion des Verginia-Motivs in Heinrich von Kleists Hermannsschlacht: So wie Verginias Tod bei Livius136 zur Wiederherstellung der römischen Republik führt, so liest Lüdemann den Tod Hallys im vierten Akt als dasjenige Gründungsopfer,
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Susanne Lüdemann: Weibliche Gründungsopfer und männliche Institutionen. VerginiaVariationen bei Lessing, Schiller und Kleist. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2013 4, S. 588-599. Das Verginia-Motiv geht zurück auf den römischen Geschichtsschreiber Livius, der mit seinen Erzählungen um Verginia (und Lukretia) einschlägige Figuren schuf, die die Darstellung von weiblichen Gründungsopfern zu einer Trope machten.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
das die germanischen Stämme eint. Hierzu liest sie Kleists Stück nicht als ein nationalistisches Drama, sondern als eine Art populistisches ›Lehrstück‹ über das Schüren eines Befreiungskriegs. Der tote, weibliche Körper, bei dem auf der Textebene offenbleibt, ob es sich tatsächlich um Hally handelt oder um ein bloß inszeniertes Gründungsopfer, wird zerstückelt und in 15 Teile an alle germanischen Stämme verschickt: der weibliche Körper fungiert hier als Medium, das die Institution des Volks, repräsentiert durch die männlichen Stammesführer, eint und begründet. Weiblichkeit ist damit auf paradoxe Art zugleich in den Prozess der Nationenbildung ein- und ausgeschlossen. Lüdemann argumentiert darüber hinaus jedoch auch poetologisch. In Kleists Hermannschlacht sei der Vollzug des weiblichen Gründungsopfers durch das Offenbleiben der Frage nach der Herkunft der Toten unmittelbar mit der Vorstellung der Theatralisierung des Politischen verbunden: Das Drama entfaltet einen politischen Mythos, aber es bezeichnet ihn als solchen und markiert damit zugleich die Stelle, an der dieser Mythos politisch wirksam werden kann: da nämlich, wo er hilft, eine fragmentierte und diskontinuierliche politische Realität durch eine Fiktion zu überblenden. Damit ist aber auch der Kunst eine neue politische Funktion zugesprochen. Sie greift den historischen Stoff da auf, wo er schon halb Legende geworden ist und inszeniert ihn auf der Schaubühne als nationalen Mythos.137 Das ist es auch, was nach Lüdemanns Auffassung dem Text zudem die Rolle des Nationaltheaters reflektieren lässt: Durch die Brutalisierung des Gründungsopfers macht Kleist klar, was ein Nationaltheater seiner Ansicht nach leisten soll: »Es ist weder Katharsis, wie bei Lessing, noch ästhetische Erziehung wie bei Schiller, sondern eine Theatralisierung des Politischen ebenso wie eine (Re-)Politisierung des (deutschen) Theaters.«138 Haben wir es bei Kleist (oder auch bei Schillers Wilhelm Tell) also mit einem Modell zu tun, dass »die Formierung einer männlichen Körperschaft an die [Inszenierung der, Anm. H. S.] Opferung einer jungfräulichen Tochter oder keuschen Ehefrau bindet«139 , so inszeniert Ostermeier Ravenhills Text so, dass die (Selbst-)Opferung des jungen, mehrfach missbrauchten und misshandelten Strichers Gary als Bedingung für die Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaft gelten kann: Auf der Bühne wird die ›Kleinfamilie‹ um Lulu, Robbie und Mark (als primäre Reproduktionseinheit) wieder zusammengebracht und der schwule, ›nicht produktive‹ Stricher wird aus der Ordnung ausgeschlossen, um die Grenzen der Normalität
137 138 139
Ebd., S. 597. Ebd., S. 588 (Abstract). Ebd., S. 589.
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zu begründen. Gary kann aus dieser Perspektive als queerer Verwandter von Verginia und Hally gelten. Auch im nächsten Analysekapitel (zu Michael Thalheimers Version von Lessings Emilia Galotti) wird eine Verwandte von Verginia auftauchen. Thalheimers Inszenierung variiert jedoch Lessings ›bürgerliche Verginia‹ derart, dass am Ende offenbleibt, ob Emilia überhaupt stirbt. Denkt man nun den Entstehungsort der Inszenierung von Shoppen und Ficken, also das Deutsche Theater, bei der Frage nach der Funktion des auf der Bühne vollzogenen Gründungsopfers mit, rücken zwei Kontexte besonders in den Fokus: Zum einen kann Garys Tod in einem übertragenen Sinn als Gründungsopfer für Ostermeiers, die deutschsprachige Theaterlandschaft nachhaltig vitalisierenden Neuen Realismus gelesen werden. Zum anderen lässt sich der drastische, avantgardistisch-improvisierte Baracken-Stil (und auch die Inszenierung des Orts insgesamt) als Sinnbild für die marktförmige Theaterfinanzierung (Sponsoring, Mäzenatentum) lesen, die mit der Spielstätte erprobt wurde und die einen radikalen Bruch mit der traditionellen staatlichen Kunstförderung darstellte.
4.5
Das diskursive Nach- und Eigenleben von Shoppen und Ficken (4. Ebene)
In diesem Kapitel geht es um die Rezeption von Shoppen und Ficken; hierzu stehen drei Aspekte im Fokus: Von der Rezeption der Zuschauer und Theaterkritiker geht es zum Nachleben der im Stück entwickelten Ästhetik in den Debatten um den Neorealismus der 2000er Jahre und von dort zur Bedeutung, die der Neue Realismus als Distinktionsmittel für den weiteren Verlauf von Ostermeiers Karriere hatte.
4.5.1
Rezeption durch die Zuschauer und die Theaterkritik
Ich möchte meine Analyse der Zuschauer- und Kritikerrezeption von Shoppen und Ficken mit der Perspektive eines ›besonderen‹ Zuschauers beginnen, nämlich mit Ostermeiers Eigenwahrnehmung. In einem Interview von 2014 beschreibt Ostermeier das Erleben der eigenen Produktion auf der Bühne so: Mitten in der Premiere, ich spüre das noch wie heute, stieg in mir ein heißes Gefühl auf: Ja, so muss Theater sein, genau so! Diese irrwitzige Komik, dann der Schock des endlosen Gewaltexzesses, zuletzt die abstoßende Predigt eines autoritären Neokonservativen – hier fiel alles zusammen, das war der Zeitgeist in seiner spezifischen Berliner Realität, so schmerzhaft auf den Punkt gebracht, dass die Zuschauer verstört und verwundert waren. Nicht im Sinne von: Oh, das gibt
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
mir jetzt aber Anlass zum Nachdenken! Sondern wirklich: aufgerissen und tief beunruhigt.140 Ostermeier beschreibt hier die Premiere von Shoppen und Ficken als eine Art Erweckungserlebnis, durch das er erst volle Klarheit über die Wirkungsästhetik seines Theaters erlangt habe: Sein Theaterabend zielt auf das »Ausschalten reflexiver Schutzmechanismen«141 und die affektive Überwältigung der Zuschauer. Diese sollen intensiv emotional involviert werden und »verstört«, »verwundert« und »tief beunruhigt« den Theaterabend verlassen. Ostermeier plädiert somit – auch retrospektiv im Jahr 2014 – für eine Überwältigungs- oder Pathosästhetik.142 Damit positioniert sich Ostermeier, freilich ohne es explizit zu machen, gegen Brecht: Brecht kritisiert die Überwältigungsästhetik des (bürgerlichen) Illusionstheaters, die er im Extrem in Wagners Gesamtkunstwerk oder auch in den politischen Inszenierungen der Faschisten verwirklicht sah, mit dem Argument, dass der Zuschauer durch eben diese »betäubt, statt […] zu klarem Bewusstsein«143 geführt werde. Überwältigung ist für Brecht immer reflexionsfeindlich, weil sie dem Publikum keinen »Schlüssel für die Bewältigung der Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens«144 aushändige – wie es im 1939 entstandenen Dialog-Essay Über die Theatralik des Faschismus heißt. Der Blick in die Rezensionen – die Zahl ist überschaubar, da die Großkritik das Theaterereignis ignorierte – zeigt, dass Shoppen und Ficken tatsächlich vielfältige Überwältigungs- und Schockerfahrungen hervorrief. Keine der Kritiken verzichtet darauf, die Radikalität der drastischen Darstellung der Messer-Szene zu kommentieren. Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür ist die Rezension von Roland Koberg aus der Berliner Zeitung: Es gibt da diese Szene, zehn Minuten vor Schluß. In dieser Szene wird, man kann es nicht vornehmer sagen, einem Mann von einem anderen ein Messer in den After gerammt, oft. In der Sprache des Stücks fickt der eine […] den anderen […] mit einem Messer. […] Man muß diese Szene nicht spielen. Der Text von Mark Ravenhill verlangt es nicht. Es gibt keine entsprechende Regieanweisung, nur Marks herausgewundene Absichtserklärung. Gespielt, so wie in der Baracke des Deutschen Theaters, ist es eine entsetzliche, widerwärtige Szene, obwohl man weiß, daß es Theaterblut ist, was da spritzt. 140 Joerder [u.a.]: Ostermeier, S. 42f. 141 Georg Witte: Kritik und Faszination des Pathos. Überlegungen zu Lev Tolstoj. In: Riccardo Nicolosi u. Tanja Zimmermann (Hg.): Ethos und Pathos. Mediale Wirkungsästhetik im 20. Jahrhundert in Ost und West. (Osteuropa medial, Bd. 7). Köln/Wien 2016, S. 33-58, hier: S. 35. 142 Vgl. zu dieser Terminologie Ebd. 143 Ulrich Kittstein: Das lyrische Werk Bertolt Brechts. Stuttgart, Weimar 2012, S. 190. 144 Werner Hecht [u.a.] (Hg.): Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22.1: Schriften II, Teil 1. Berlin, Weimar, Frankfurt 1988-2000, S. 569.
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[…] Man kann nur das Gesicht abwenden und hoffen, daß es bald vorbei ist, was es aber nicht ist. Oder man verläßt türenknallend das Theater, wie es bei der Premiere ein Zuschauer getan hat. Bleibt man da, dann denkt erstens (sic!): Ich will das nicht sehen, und zweitens, sofern man noch so viel professionelles Interesse aufbringen will: Dramaturgisch gut gemacht. Abwechselnd denkt man erstens, zweitens, erstens, zweitens, bis endlich die Szene aufhört […].145 Kobergs Text zeigt, dass es selbst für den professionellen Kritiker während der Aufführung nicht möglich war, sich ganz von der Darstellung zu distanzieren. Dass ein Zuschauer wütend-türknallend den Raum verlassen hat, war nicht die Ausnahme. Auch Peter Boenisch weiß zu berichten, dass die Messer-Szene Zuschauer dazu brachte, in Tränen auszubrechen oder in Ohnmacht zufallen.146 Keiner der Kritiker hinterfragt dabei (etwa in Anlehnung an Brecht) die grundsätzlich ästhetischpolitische Legitimität derart »bedrängende[r] Intensität«147 . Die Begeisterung für drastische Darstellungsverfahren, die ich in der Inszenierungsanalyse bereits kurz als typisch für die Kulturindustrie der späten 1990er Jahre ausgeführt habe, wird also auch von den Theaterkritikern geteilt. Über die Motive und Ursachen hinter der modischen Faszination für den unmotivierten Gewaltexzess kann nur spekuliert werden: Ob die Freude an der Drastik Ausdruck einer tiefen »Realitätsverdrossenheit und Langeweile der Existenz«148 ist, oder ob »all das vergossene Blut auch ein protestierender Versuch [ist], sich den belanglosen Verwertungsketten der Kulturindustrie zu entziehen«149 , muss offen bleiben. Gemessen an den Maßstäben von Horror- und Splatterfilmen ist die MesserSzene wiederum wenig spektakulär. Dass sie gleichwohl einen so erschütternden Effekt auf die Zuschauer/innen hatte, lässt sich sehr gut mit einem Argument von Dirck Linck aus seinem Aufsatz Über die Möglichkeiten des popkulturellen Vergnügens an drastischen Gegenständen begründen, das auch den engen Zusammenhang von Emergenz und Drastik deutlich macht. Linck knüpft an die These von Boris Groys an, dass das Neue in der Kunst nie ohne den Kontext und die Herkunft des Rezipierenden gedacht werden kann: Drastik beginnt dort, wo das Explizite in einem Ausmaß in Szene gesetzt wird, das mit den überkommenen Genrekonventionen nicht mehr in Einklang zu brin-
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Roland Koberg: Zur deutschen Erstaufführung von »Shoppen und Ficken« in der Baracke: Und dann kommt diese Szene. In: Berliner Zeitung (19.01.1998). 146 Boenisch: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 9. 147 Matthias Heine: Wie »Shoppen und Ficken« das Theater umkrempelte. In: Welt (16.01.2008), hier: S. 2. 148 Anja Dürrschmidt: Alles Konsens, oder was? In: Theater der Zeit (2002) 11, S. 16-17, hier: S. 17. 149 Heine: Wie »Shoppen und Ficken« das Theater umkrempelte, S. 3.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
gen ist und eben deshalb zum Anfang eines neuen – drastischen – Genres werden kann. Daß wir gezeigt bekommen, was wir noch nie vor Augen hatten, erweist den Genuß des Drastischen als einen Genuß des Neuen, wobei Neuheit, wie Boris Groys erläutert hat, nicht absolute Erstmaligkeit bedeuten muß, sondern auch bedeuten kann, daß etwas erstmals in einem bestimmten Kontext oder Medium erscheint.150 Die explizite Darstellung von schwulem, gewalttätigem Sex ist also nicht an sich drastisch, sondern es ist erst der Kontext des Deutschen Theaters als einem bürgerlichen und staatlich finanzierten Theater, dass die Zuschauenden das Dargestellte als Drastik rezipieren lässt.151 Die Drastik von Shoppen und Ficken strapazierte auch die Konventionen der etablierten Theaterkritik. So hält Matthias Heine im Rückblick fest, dass das Stück auch die Art und Weise änderte, wie über Theater berichtet wurde. Zu dem Titel musste man sich als Journalist ja irgendwie verhalten. Debatten mit Chefredakteuren, die sich auf einer Schussfahrt in den Untergang des Abendlandes wähnten, waren unvermeidlich. Das FWort wurde zunächst noch oft schamhaft mit »F …« chiffriert – ein reichlich lächerlicher Vorgang, ähnlich wie wenn die Boulevardblätter schreiben »Du A …« Denn die Abkürzung setzt ja voraus, dass jeder das Wort kennt.152 Nun will ich die Wirkung der Inszenierung über die konkrete Aufführungserfahrung hinaus betrachten: Das heißt, dass es mir hier um das diskursive Nachleben von Shoppen und Ficken in den Theater-Debatten rund um das Schlagwort vom Neuen Realismus gehen wird und wie dieses zu einem zentralen Baustein für Ostermeiers weitere Karriere werden konnte.
150 Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie (Fischer Forum Wissenschaft Kultur & Medien, Bd. 14433). Frankfurt a.M. 2004; Dirck Linck: Über die Möglichkeiten des popkulturellen Vergnügens an drastischen Gegenständen. In: Martin Vöhler u. Dirck Linck (Hg.): Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin 2009, S. 293-322, hier: S. 304. 151 Vgl. hierzu auch Lincks Anwendung des Arguments: »Für ein zartes Bürgerkind mögen Anblick und Geruch von tierischen Eingeweiden drastisch sein, wenn ihm Eingeweide erstmals beim Besuch einer Performance begegnen. Seinen Schock verdankt es dann der Herkunft, nicht der Performance. Darauf weist die Performance es hin. Für das Kind des Metzgers stellt die Performance sich anders dar.« Ebd. 152 Heine: Wie »Shoppen und Ficken« das Theater umkrempelte, S. 3.
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4.5.2
Der Neue Realismus als dramatische Strömung und Steigbügel für Ostermeiers Selbstinszenierung als Häretiker
Die Baracke ist – da ist sich die Forschung einig153 – der zentrale Impulsgeber für die Durchsetzung eines »Neuen Realismus«154 auf dem deutschsprachigen Theaterfeld im Umbruch vom 20. zum 21. Jahrhundert; wobei insbesondere die Premiere von Shoppen und Ficken als symbolischer Beginn eines »neue[n] Kapitel[s] Theatergeschichte«155 gehandelt wird. So schreibt beispielsweise der Theaterkritiker Matthias Heine: Die von Thomas Ostermeier inszenierte Aufführung hat die Bühnenästhetik beeinflusst wie wenig anderes in den Neunzigerjahren – vielleicht noch Christoph Marthalers »Murx den Europäer«, die wichtigsten Inszenierungen Frank Castorfs und Schlingensiefs Performances.156 Der Erfolg der Baracke – das Haus wird 1998 losgelöst vom Haupthaus Theater des Jahres – bereitet den Weg für eine Gruppe junger Autor/innen in die Spielpläne der deutschen Stadttheater, die wieder vermehrt dramatisch schreibt und sich insbesondere den Themen Familie und Arbeit, später auch der Globalisierung widmen. Hierzu gehören unter anderem Moritz Rinke, Oliver Bukowski, Gesine Danckwart, Thomas Jonigk, Marius von Mayenburg, Dea Loher und Kathrin Röggla.157 Gerade in den frühen Arbeiten der Genannten lässt sich noch deutlich der Einfluss der anglosächsischen Autoren erkennen.158 Doch die von der Baracke geleisteten »Stückimporte«159 , neben den Stücken von Mark Ravenhill ist hier besonders Sa-
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Vgl. dazu Christine Bähr: Sehnsucht und Sozialkritik: Thomas Ostermeier und sein Team an der Berliner Schaubühne. In: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation. (Historische Politikforschung, Bd. 8). Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 237-253; Christine Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne. Bielefeld 2012, S. 424; Thomas Schmidt: Die Regeln des Spiels. Programm und Spielplan-Gestaltung im Theater. Wiesbaden 2019, S. 175; Schößler: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde, S. 382; Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 140). Berlin 2015, S. 300. Thomas Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung. [www.schaubuehne.de/uploads/Theater-im-Zeitalter-seiner-Beschleunigung.pdf (15.10.2017)], S. 1. Heine: Wie »Shoppen und Ficken« das Theater umkrempelte, S. 2. Ebd. Franziska Bergmann: Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Geschlechterverfremdungen in zeitgenössischen Theatertexten. Würzburg 2015, S. 55. Vgl. Danijela Kapusta: Personentransformation. Zugl.: München, Univ., Diss. München 2011, S. 40. Bergmann: Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte, S. 55.
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rah Kane zu nennen,160 werden von den deutschsprachigen Dramatikerinnen und Dramatikern nicht bloß imitiert, wie John von Düffel im Gespräch mit Franziska Schößler betont, sondern für das deutsche Feld transformiert.161 Es entsteht ein breites Spektrum an Theatertexten, die konventionelle wie postdramatische Formelemente nutzen, um »ein (neue[s]) Erzählen[…]«162 – so Ostermeiers Forderung – »von der Grausamkeit dieser Welt und ihrer Opfer«163 zu etablieren. Durch den expliziten Fokus auf die vom Kapitalismus Ausgeschlossenen, also auf Arbeitslose, Junkies und Sexarbeiter/innen, verbindet sich der Neue Realismus mit der Tradition des sozialen Dramas.164 Anders als die britischen »tendieren« die deutschen Stücke – etwa Marius von Mayenburgs Feuergesicht oder Thomas Jonigks Täter –, so Oliver Held im Interview mit Franziska Schößler, »eher zur Tragikomödie und zur Groteske«165 . Auch tritt bei vielen deutschsprachigen Autor/innen zu Beginn des Millenniums der starke Fokus auf die Sphäre des Privaten und die offene Brutalität des In-yer-face zurück, und es rücken wie in Martin Heckmanns Schieß doch Kaufhaus! (2002) oder Kathrin Rögglas wir schlafen nicht (2004) gesamtgesellschaftliche Probleme, wie die Globalisierung und die ökonomische Flexibilisierung der Gesellschaft, in den Fokus. Für Ostermeier wiederum fungierte der Neue Realismus, der sich an der Baracke entwickelte, als distinguierende Selbstbeschreibung, mit der er sich erfolgreich »à la Avantgarde«166 auf dem umkämpften Theaterfeld positionieren konnte, was sich insbesondere in seiner Berufung zum Intendanten der Berliner Schaubühne im Jahr 1999 mit gerade einmal 31 Jahren niederschlug.167 Ostermeiers rhetorische Strategien, die ihm zusätzlich zu dem faktischen Erfolg seiner Theaterarbeiten die Positionierung als Häretiker ermöglichten, kulminieren in seinem Manifest Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung. Ostermeier verlas diesen Text zum ersten Mal öffentlich am 20. Mai 1999 (knapp ein Jahr nach der Premiere von Shoppen und
160 Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur, S. 300. 161 John von Düffel u. Franziska Schößler: Gespräch über das Theater der neunziger Jahre. In: Text + Kritik. Sonderband fürs 21. Jahrhundert. 2004. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold, S. 42-51, hier: S. 44. 162 Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre (Forum modernes Theater, Bd. 33). Tübingen 2004, S. 18. 163 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 12. 164 Franziska Schößler: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 2008, S. 15. 165 Schößler: Augen-Blicke, S. 332. 166 Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne, S. 59. 167 Bis ins Jahr 2005 leitete Ostermeier die Schaubühne im Team mit Sasha Waltz, Jochen Sandig und Jens Hillje.
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Ficken und wenige Monate vor seiner ersten Spielzeit als Intendant der Berliner Schaubühne) im Berliner Museum für Gegenwart »Hamburger Bahnhof«168 . Ostermeier definiert den von ihm geforderten Neuen Realismus nicht über die Form, sondern über die sozialkritischen und brisanten Inhalte. Er betont, dass der »Kern des Realismus […] die Tragödie des gewöhnlichen Lebens«169 sei und fordert ein Theater, das über seine Inhalte die »Nabelschnur zwischen Theater und Wirklichkeit […] reaktiviere[…]«170 . Er nobilitiert seine eigene Programmatik zugleich dadurch, dass er den Neuen Realismus zu einem Schlüsselbegriff für die gesamte moderne Theatergeschichte macht. Er stellt die kühne These auf, dass alle ästhetischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts Kämpfe um einen Neorealismus gewesen seien und sieht sich und sein Theater in einer Reihe mit den »engagierten Realisten […] Büchner, Toller, Horvath, Brecht, Fleißer, Kroetz, Fassbinder, Strauß, Sperr«. Und tatsächlich lässt sich eine gattungsgeschichtliche Linie zwischen den Genannten ziehen, schließlich zielen sie alle darauf ab, marginalisierte Gruppen tragikfähig zu machen.171 Weiter heißt es bei Ostermeier – pathetisch aufgeladen – zu seiner Realismusdefinition: Realismus ist nicht die einfache Abbildung der Welt, wie sie aussieht. Er ist ein Blick auf die Welt mit einer Haltung, die nach Änderung verlangt, geboren aus einem Schmerz und einer Verletzung, die zum Anlass des Schreibens wird und Rache nehmen will an der Blindheit und der Dummheit der Welt.172 Schößler hat hier zurecht darauf hingewiesen, dass Ostermeiers Realismuskonzept »Argumentationsmuster des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhundert reaktiviert« und auch dessen Aporien übernimmt: Kunst will Realität sein, bedarf aber einer spezifischen Differenz vom Leben, um überhaupt als Kunst erscheinen zu können; deshalb fokussiert sie die ›wirkliche Wirklichkeit‹, ihr Wesen.173 Ostermeier sieht sein realistisches Theater als engagiertes und ideologiekritisches Theater, das »die Wirklichkeit hinter der Fassade ›Wirklichkeit‹ sichtbar machen«174 könne. Dadurch, dass Ostermeier vom Theater also verlangt, eingreifend die Welt zu verändern, stellt er es auch in die Tradition von Brechts epischem Theater. Was 168 Das Manifest wurde dort im Rahmen der Ausstellung »Das XX. Jahrhundert, ein Jahrhundert Kunst in Deutschland« verlesen und ist auch heute noch als PDF auf der Seite der Schaubühne abrufbar. 169 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 5. 170 Ebd., S. 1. 171 Schößler: Einführung in die Dramenanalyse, S. 15. 172 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 5. 173 Schößler: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde, S. 387. 174 Ebd.
4. Das »Theaterwunder« Baracke im Kontext der Krise des Haupthauses
ihn jedoch von Brecht unterscheidet, ist, dass Ostermeier eine Kritik des Bestehenden nicht grundlegend an eine Kritik der konventionellen dramatischen Form bindet. Das macht ihn meines Erachtens zu einem Brecht light. Formfragen werden für ihn nur dort interessant, wo es um die veränderten Sehgewohnheiten und Aufmerksamkeitsökonomien junger, mit dem Medium Film sozialisierter Zuschauer geht: Um der Beschleunigung unserer von Film und Fernsehen geschulten Wahrnehmungsfähigkeit gerecht zu werden, kann und muss das Erzählen schneller und komplexer werden. Die Forderung nach einem neuen Realismus der Inhalte ist keine nach der Konventionalität der Form. Der Film, das Fernsehen, der Videoclip liefern die Vorlage, hinter die man nicht ungestraft zurückfallen darf. Der Zuschauer ist heute intelligenter und kompetenter im Verstehen von Geschichten. Heute geht die erste Generation ins Theater, die mit dem Fernsehen aufgewachsen ist. Das filmische Erzählen, die Montage und die Ellipse, müssen sich für das Theater sogar noch radikalisieren – so zum Beispiel durch eine willkürliche Dramaturgie völlig unerwarteter Wendungen in rascher Folge und rasanter Auf- und Abtritte, von Figuren ohne Vorgeschichte, die sich nicht erklären, von Typen, die sich über ein Vorwissen der Genres der Populärkultur und der Großstadttypologie erschließen und genießen lassen. Ein Maximum an Handlung – und dann ein Moment von Ruhe, in dem eine realistische Geschichte magisch werden kann, wenn sie in einen Moment metaphysischer Heiterkeit umschlägt.175 Diametral entgegengesetzt beschreibt Peter Boenisch das Verhältnis von Ostermeier zu Brecht: . Er sieht Ostermeiers Realismus nicht als Verkürzung des epischen Theaters, sondern als Erweiterung: Ostermeiers Realismus ist aus seiner Perspektive als eine (kongeniale) Synthese von Brechts epischem Theater mit dem Theater von Max Reinhardt und den Theatertechniken von Artaud und Meyerhold zu beschreiben: [I]t draws together the two German directing traditions defined by Reinhardt (crudely spoken, the ›German Stanislavsky‹) and Brecht, with an amalgam of Meyerhold’s very concrete psychophysical technique and Artaud’s visionary ›cruelty‹ providing the medium to bring the two together.176 Dementgegen möchte ich hier betonen, dass Ostermeiers theatertheoretische Synthese der genannten, hochdiversen Regieschulen nur zum Preis der Inkonsistenz zu haben ist. Hier wäre besonders das klassistische Repräsentationsparadox zu nennen, das in der Inszenierungsanalyse schon angesprochen wurde und das viele
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Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 6. Boenisch: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 10.
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von Ostermeiers Aufführungen produzieren, auch Shoppen und Ficken. Dieses besteht darin, dass er auf eine sozialrealistische Verkörperung des Elends setzt, zugleich allerdings die bildungsbürgerlichen Vorbehalte gegenüber der (proletarischen) Masse fortschreibt.177 Insgesamt, so resümiert Heribert Tommek, halten viele Kritiker Ostermeiers »Proklamation des Neuanfangs […] für eine strategische Selbststilisierung.«178 Meines Erachtens ist das Manifest deshalb in erster Linie als ein wichtiger Baustein für Ostermeiers erfolgreiche Selbstvermarktung und -positionierung zu rezipieren, und nicht so sehr als ein rein poetologischer Text. Unabhängig davon, für wie konsistent man Ostermeiers Realismuskonzept hält, ist es bemerkenswert, dass Ostermeier die Erhöhung des Wirklichkeitsgehalts des Theaters an ein institutionelles Argument knüpft: Denn die Erfahrung, die Ostermeier als Leiter der Baracke gemacht hat, nämlich, dass komplett neugeschaffene, vom Haupthaus losgelöste Strukturen die Emergenz einer neuen Ästhetik ermöglichten, scheint Ostermeiers Bewusstsein dafür gestärkt zu haben, dass Ästhetik und Institution interferieren: Ostermeiers Programmatik läuft auf eine Kritik an den staatlichen Kunstinstitutionen hinaus, die große Teile des öffentlich subventionierten Theaterbetriebs als kunstfeindlich markiert und in Opposition zur dramatischen Literaturproduktion bringt. Eine in die Strukturen der öffentlichen Theater integrierte dramatische Textproduktion gilt ihm gleichwohl als der Ort, an dem heute noch relevante Kunst entstehen könne. Eine Revitalisierung des Theaterbetriebs, so seine These, ist nur durch die Reinstituierung der Autorinnen und Autoren innerhalb des theatralen Produktionszusammenhangs möglich. Es gelte, die Macht der autoritären »Regietitanen«, die sich durch die Dominanz des Regietheaters nach 1968 verfestigt habe,179 aufzubrechen, durch ein Theater der Autoren zu ersetzen und so für eine »Wiederbelebung des totgesagten bzw. -theoretisierten Autors«180 zu sorgen. Artur Pełka ist der Hinweis zu verdanken, dass Ostermeier hier eine Wende fordert, die »ohnehin seit Mitte 177
Franziska Schößler u. Christine Bähr: Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater. In: Franziska Schößler (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. (Theater, Bd. 8). Bielefeld 2009, S. 9-20, hier: S. 12. 178 Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur, S. 310. 179 »Die Dominanz des Regietheaters hat zum Ausschluss der Autoren aus dem Theater geführt. Wirklich Regisseur war nur, wer Klassiker inszenierte. […] Ein Teufelskreis: niemand wollte (jüngere) Autoren inszenieren, niemand wollte für (jüngere) Regisseure und ihre Schauspieler schreiben.« 180 Artur Pełka: Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels. Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama (Theater, Bd. 85). Bielefeld 2016, S. 51f.
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der 90er Jahre […] zu verzeichnen ist«181 ; ein weiteres Argument, das die These untermauert, dass es Ostermeier insbesondere um eine Selbstinszenierung als Häretiker geht. Ostermeiers Manifest kann mit Pełka eingebettet werden in das Diskursumfeld eines »europäischen Autorenbooms«182 in den 1990er Jahren, den wiederum Kreuder und Sörgel sozialpsychologisch damit erklären, dass »das Theater […] gerade in Momenten kultureller Identitätskrisen« – wie 1989 – »nach dem Autor und seiner Sicht auf die Welt zu rufen scheint«183 . Ostermeier ist, wenn auch nicht der erste und einzige, ein wichtiger Fürsprecher für die Autoren. Doch der Kampf, den er hier führt, basiert auf einer Paradoxie: Die Inthronisierung der Autoren, die er fordert, rührt nämlich nicht an seinem eigenen Thron bzw. lässt er es offen, wie er sich das konkrete Machtgefüge zwischen der/dem gestärkten Autor/in und der Regie im Theater des Neuen Realismus vorstellt. Artur Pełka weist darauf hin, dass hierbei […] das Problem der politischen Positionierungen von Autorinnen und Autoren im Hinblick auf die Inszenierung ihrer Texte [besonders virulent ist]. Es geht vor allem um die Frage, ob politische Anschauungen der Autoren einen Einfluss auf die Gestalt der Aufführung haben bzw. sie bei ihrer Analyse berücksichtigt werden sollen.184 Ostermeier geriert sich insgesamt also als paternalistischer Fürsprecher für die Dramatikerinnen und Dramatiker, das jedoch durchaus erfolgreich: Die Karrieren von Marius von Mayenburg oder Falk Richter haben klar von Ostermeiers Protegieren profitiert. Im Anschluss an Christine Bähr185 und Günther Heeg186 möchte ich an dieser Stelle auch noch darauf hinweisen, dass sich Ostermeiers Aufwertung der Positi181
Artur Pełka: Wendetheater – ›Hinwendungsdramatik‹. Zu Dirk Lauckes »Für alle reicht es nicht«. In: Artur Pełka u. Stefan Tigges (Hg.): Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945. Bielefeld 2011, S. 143-156, hier: S. 145. 182 Ebd., S. 146. 183 Friedemann Kreuder u. Sabine Sörgel: Einleitung. In: Friedemann Kreuder (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Bd. 39). Tübingen 2008, S. 7-17, hier: S. 7. 184 Pełka: Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels, S. 51. 185 Bähr: Sehnsucht und Sozialkritik: Thomas Ostermeier und sein Team an der Berliner Schaubühne, S. 241. 186 »Gemeinschaft wird für Ostermeier zum Schlüsselwort eines Theaters, das seine ursprüngliche politische Bedeutung wiedererlangen will. Bei allen Vorbehalten gegen Ostermeiers Auffassung von Gemeinschaft ist ihm in einem zuzustimmen: Ein Theater der Polis, das das Spannungsfeld zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen neu eröffnet, ein Theater der Res Publica, das die übers private Leben hinausreichenden öffentlichen Belange ansprechen will, wird um die Frage nach der Gemeinschaf nicht herumkommen.« Günter Heeg: Familienbande. Ansichten der Gemeinschaft im Inter-Medium des (Gegenwarts)Theaters. In: Prima-
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on des Autors eng mit seinem politischen Ansatz verknüpft. Seine Programmatik artikuliert die Sehnsucht nach einer durch den Kapitalismus zerstörten sozialen Gemeinschaft, die durch ein engagiertes Ensembletheater lebendig gehalten werden könne. So formuliert Ostermeier die folgende Gesellschaftsdiagnose: Der Mensch als Individuum reduziert sich selbst zum allzeit verfügbaren, flexiblen Teilzeitarbeiternehmer aus Angst, aus der Gemeinschaft der funktionierenden Konsumenten herauszufallen. Das ist die einzige Gemeinschaft, die noch existiert. Freiheit ist Freizeit, und Glück ist, nicht das Unglück zu haben, arm, ohne Arbeit und ohne Wohnung zu sein. Gemeinschaft und Solidarität existieren nicht mehr als ideale Bestimmung des emanzipierten Individuums. Aber das Kollektiv als Gemeinschaft freier, selbstverantwortlicher und selbstbestimmter Menschen lebt als Sehnsucht weiter, auch wenn es sich als produktivitätssteigernde Teamarbeit postuliert. Wer sich damit nicht abspeisen lassen will, muss auf eine grundlegende Änderung dieser Gesellschaft zielen.187 Rhetorisch verstärkt er seine Forderungen und seine eigene Position als Häretiker außerdem dadurch, dass er eine Dichotomie konstruiert zwischen dem (postdramatischen) Regietheater auf der einen und dem (neorealistischen) Autorentheater auf der anderen Seite. Dem postdramatischen Theater – er nennt es »Ideendrama« und Lehmanns Postdramatisches Theater war zu dem Zeitpunkt gerade im Erscheinen – wirft er dabei vor, dass dieses »in höchster intellektueller Selbstreflexion dahindämmert oder in eitler Sprachverliebtheit ohne Idee oder Anliegen onaniert oder einfach nur harmlos ist«188 . Dem zeitgenössischen Autorentheater hingegen gelänge es, innovativ an die Wirklichkeit anzuschließen und eine Sprache [zu] finden für Stimmen, die noch nicht gehört wurden, Figuren [zu] finden für Menschen, die noch nicht zu sehen waren, Konflikte für Probleme [zu] finden, über die noch nicht nachgedacht wurde.189 Doch die zugespitzte Opposition zwischen selbstreflexiv-postdramatischem Regietheater und sozialkritischem Neorealismus erweist sich bei genauerer Betrachtung der Empirie der Theatertexte der 1990er Jahre als nicht haltbar. So zeigt beispielwiese Schößler, dass gerade auch sozialkritische Stücke postdramatische Elemente aufweisen und dass postdramatisches Theater – vice versa – auch sozialkritisch sein kann.190 So lässt sich am Beispiel von Elfriede Jelinek oder Marlene
vesi, Patrick [u.a] (Hg.): AufBrüche: Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Berlin 2004, S. 302-311, hier: S. 302. 187 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 2f. 188 Ebd., S. 5. 189 Ebd. 190 Schößler: Augen-Blicke, S. 21.
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Streeruwitz zeigen, dass Ostermeiers Argumentation übersieht, »daß die Opposition von Sprache und Sozialem eine künstliche ist, daß auch die sprach-experimentellen Stücke […] in hohem Maße soziale Themen«191 behandeln. Franziska Bergmann nennt hier vor allem »Antisemitismus, Rassismus, Sexismus oder Nationalismus«.192 Gleichwohl hat Ostermeiers Dichotomisierung (Postdramatik versus Neorealismus) ein stabiles, diskursives Eigenleben entwickelt, das bis heute nachwirkt: Neben den akademischen Debatten um die Stichhaltigkeit von Lehmanns Thesen wird dieses besonders in Feuilleton- und Kritikerdebatten virulent: Bernd Stegemanns Lob des Realismus und das Buch zur Debatte um das Buch zeigen, dass fast zwanzig Jahre nach der Premiere von Shoppen und Ficken das Konzept »Neuer Realismus« noch Sprengkraft birgt, heute – und darin liegt der Unterschied zu den 1990er Jahren – wohl jedoch eher, weil es als Anachronismus provoziert.193 Schon in seinem eigenen Manifest kann Ostermeier seine Dichotomie der ästhetischen Formen nicht aufrecht halten und bezieht sich positiv auf Formelemente, die man als postdramatisch bezeichnen kann. So fordert er einen Darsteller, der stakkatoartige Brüche und Emotionen souverän und virtuos aneinandersetzen und reproduzieren kann, immer distanziert und gelassen, aber niemals kalt gegenüber der Veranstaltung, der die Virtuosität und Schnelligkeit einer amerikanischen Hardcore Band besitzt.194 Und an anderer Stelle lobt er die Musikalität von Sarah Kanes Stück Gier: Eine Partitur für vier Stimmen, die musikalischen Prinzipien folgt, um von Erfahrungen von vier Menschen mit ihrer unerfüllten Sehnsucht nach Liebe und Aufgehobensein in dieser Welt zu sprechen, ohne psychologische Entwicklungen nachvollziehbar machen zu müssen.195 Durch seine schroffe Abwertung des postdramatischen Regietheaters kann er sich als visionärer Erneuerer des nach 1989 in die kreative Krise geratenen Gegenwartstheaters inszenieren. Der innere Widerspruch von Ostermeiers Argumentation ist auch damit zu erklären, dass man sich als junger, frisch designierter Intendant Mitte der Neunzigerjahre in Berlin von der Volksbühne abgrenzen musste. Castorfs Theater stand für ein dekonstruktives, gegen den Text und Kanon gerichtetes Theater, das eine komplett neue Zuschauerschicht für das Theater begeisterte. Ostermeier bezieht rhetorisch und ästhetisch die Gegenposition zu Castorf und
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Schößler: Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde, S. 390. Bergmann: Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte, S. 61. Vgl. Bernd Stegemann: Lob des Realismus. Berlin 2015; Bernd Stegemann: Lob des Realismus – Die Debatte. Berlin 2017. 194 Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, S. 7. 195 Ebd.
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profitiert davon, dass die Position des politisch engagierten, realistischen Theaters auf dem Feld – als Folge von 1989 und des deutsch-deutschen Literaturstreits196 – unbesetzt ist. Denn in den Nachwendejahren ereignet sich in polemisch geführten Debatten eine »Neuverteilung von kultureller Deutungsmacht und öffentlicher Anerkennung im vereinigten Deutschland«197 , die politisch engagierte Kunst mit dem Schlagwort der Gesinnungsästhetik abwertet: Diese Debatten entwickelten sich, so Antje Dietze, zur Abrechnung mit politisch und moralisch engagierten Künstlern in Ost und West und zur Ausrufung des Endes der Nachkriegsliteratur beider deutscher Staaten. […] Der [deutsch-]deutsche Literaturstreit war damit auch ein gesamtdeutscher Streit, an dem sich die Nachwirkungen der asymmetrischen Verflechtung beider deutscher Staaten zeigten. Er war in vielerlei Hinsicht eine Wiederholung von Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit und der sechziger und siebziger Jahre um engagierte Kunst und die gesellschaftliche Funktion von Intellektuellen und Künstlern.198 Nach 1989 bleibt in den deutschen Theatern also eine »diskursive Verarbeitung der Wende«199 zu Ungunsten der ostdeutschen Erfahrungen und Programmatiken aus und es bildet sich eine generelle Skepsis gegenüber engagierter Kunst heraus. Ostermeier nimmt hinsichtlich der Ost-West-Konflikte nach 1989 eine Sonderrolle ein, da er als junger Westdeutscher zu einem der ersten Nachwendejahrgänge an der Ernst-Busch-Hochschule gehörte und in der Klasse des ehemaligen Berliner-Ensemble-Intendanten Manfred Karge200 nach einer »distinctly ›Eastern European‹ theatre pedagogy in the traditions of Stanislavsky, Meyerhold, Ei-
196 Vgl. zum Ablauf des deutsch-deutschen Literaturstreits zum Beispiel: Thomas Anz: Der Streit um Christa Wolf und die Intellektuellen im vereinten Deutschland. In: Peter Monteath u. Reinhard Alter: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the Wall. Amsterdam 1996, S. 1‒17. Anz weist auch darauf hin, dass sich die Kritik an den DDR-Künstler/innen erst entzündete, als diese nach der Wiedervereinigung das »Deutschlandglück« (S. 7) störten. 197 Antje Dietze: Ambivalenzen des Übergangs. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin in den neunziger Jahren, S. 137. 198 Ebd. 199 Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur, S. 301. 200 Er hat 1992 sein Regie-Studium an der Ernst-Busch-Schule, also der DDR-Theaterschule schlechthin, begonnen, war von 1993 bis 1994 Assistent von Manfred Karge am Berliner Ensemble, bevor er dann 1996 die Baracke übernahm. Seine gesamte Ausbildung fand also in DDR-Theaterinstitution statt. Auch Peter Boenisch betont deshalb, dass Ostermeier durch diese Jahre nachhaltig geprägt wurde: »His encounter with Artaud, Stanislavsky and Meyerhold, in particular, during his studies at Ernst-Busch-Theatre Academy in the class of former BE-actor and director Manfred Karge, was a first formative experience in this respect.« Boenisch: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 9.
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senstein, and Brecht«201 ausgebildet wurde: Diese Prägung zusammen mit seiner westdeutschen Herkunft ermöglichte es, das politische Theater zu reaktivieren und zu popularisieren, ohne sich dem Label der ›Ostigkeit‹ auszusetzen. Er kann also diejenige Position auf dem Feld besetzen, die durch die Abwertung der DDRKünstler und der engagierten Kunst vakant geworden ist. Dass er selten auf seine Prägung durch DDR-sozialisierte Persönlichkeiten verweist, verstärkt nur seine Inszenierung als Häretiker und Genie. Das gilt, wie im Kapitel zur Hausdramaturgie gezeigt, jedoch nicht nur für die Ost-Einflüsse; auch die Entdeckung des British Brutalism – bei der ja auch Michael Eberth eine Rolle gespielt hat – spitzt er narrativ auf die eigene Leistung zu. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um eine 1:1-Übersetzung zwischen sozialistischem Realismus und dem Realismus der British Brutalists. Der Neue Realismus, der drastisch, düster und zuweilen fatalistisch die vom Kapitalismus Ausgeschlossenen darstellt, hätte unter DDR-Bedingungen allenfalls einen Nischenplatz gehabt. Hierzu nochmals Ostermeier: Das Schöne [bei der neuen britischen Dramatik, Anm. H.S.] war, dass es nicht die Ausgeschlossenen von Maxim Gorki am Anfang des 20. Jahrhundert waren, sondern Ausgeschlossene aus den neoliberalen Verwertungsgesellschaften von heute. Es kam auch wieder das Klassenbewusstsein ins Spiel. Als die strukturalistischen Diskurse auch in Deutschland angekommen waren und alle sagten: »Das Subjekt ist tot. Das Handlungsmächtige schon lange. Wo erlebst du dich denn überhaupt als Subjekt?«, war meine Antwort: »Spätestens am Ende des Monats, wenn ich weiß, es sind noch acht Tage bis zum Monatsletzten und ich hab kein Geld mehr auf dem Konto, ich kann mir nichts zu essen kaufen. Da erlebe ich mich als Subjekt! Und wenn ich einen Scheißjob machen muss, […] dann erlebe ich mich als Subjekt, weil ich das einfach scheiße finde!«202 Das Zitat zeigt, dass Ostermeier sich nicht nur zu Theater, sondern auch zu Politik und Philosophie äußert, sich mithin als eingreifender, marxistischer Intellektueller inszeniert: Seine politischen Forderungen und Analysen, die durchaus überzeugend vorgetragen sind, stehen jedoch bei genauem Blick oft im Widerspruch zu dem, was auf der Bühne zu sehen ist, wie am Beispiel des klassistischen Repräsentationsparadoxes bereits ausgeführt. Zusammenfassend lässt sich zu Ostermeiers aus der Arbeit an der Baracke hervorgegangenem Manifest also sagen, dass der Text in erster Linie nicht als differenzierte Analyse des Ist-Zustands der deutschsprachigen Dramatik der 1990er Jahre oder als eine konzise Poetik bzw. Theaterprogrammatik zu verstehen ist, sondern als ein Vehikel und Beleg für Ostermeiers Distinktion auf dem Theaterfeld der 1990er Jahre. 201 Ebd. 202 Thomas Ostermeier in: Stegemann: Lob des Realismus – Die Debatte, S. 92.
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Allen inneren Widersprüchen zum Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Offenheit durch die Paradoxien kann Ostermeier mit seinem Konzept des Neuen Realismus Aufmerksamkeit für seine kulturpolitische Agenda gewinnen und dafür sorgen, dass seine Karriere auch über die Zeit an der Baracke hinaus erfolgreich weiterverlaufen konnte: Ostermeiers Befähigung zum camouflierten Übersetzen zwischen den beiden Theaterfeldern ist die Voraussetzung für das hohe Maß an Anschlussfähigkeit, das sein Programm generiert. Aus der Perspektive des Deutschen Theaters ist Ostermeiers Erfolg eine Verlustbzw. Vulnerabilitätserfahrung: Die künstlerischen Ideen, die sich in den Jahren 1996-1999 an der Baracke durch die Unterstützung vom Haupthaus entwickelten, migrieren 1999 mit Ostermeier zur nächsten Institution, der Berliner Schaubühne. Auch die Reputation, die die Baracke generiert hat, wird im öffentlichen Diskurs nicht mit dem Deutschen Theater verbunden, sondern mit Ostermeier; ein weiterer Beleg für den Erfolg von Ostermeiers Selbstinszenierung als Häretiker. Auch heute leitet Ostermeier noch die Berliner Schaubühne, große institutionelle Änderungen strebt er jedoch nicht mehr an und abgesehen davon, dass man in den ersten Jahren mit dem System von Einheitsgagen experimentierte, findet unter seiner Ägide keine grundsätzliche Neuordnung des theatralen Produktionszusammenhangs mehr statt. Bemerkenswert ist auch, dass Ostermeier seine Popularität bei der Theaterkritik über die Barackenzeit hinaus nicht fortschreiben konnte – vielleicht eine ›Spätfolge‹ der dissimulierten inneren Widersprüche seines Programms: In stark contrast to his popularity with audiences abroad and at home (at the Schaubühne, tickets for his productions regularly sell out the day they are released), German theatre critics – after an initial hype around the director’s work at the ›Baracke‹, which he led from 1996 onwards – have rarely been more than lukewarm even about his most celebrated works, such as Hamlet.203 Der Ost-West-Konflikt, vor dessen Hintergrund sich Ostermeier erfolgreich positionieren konnte, findet bis in die Gegenwart als ein Hintergrundrauschen von vielen (Theater-)Debatten statt. Am Deutschen Theater ist dieser Konflikt bis ins neue Jahrtausend virulent. Dies wird im nächsten Kapitel besonders an den Auseinandersetzungen deutlich, die um die Übernahme der Intendanz durch den Westdeutschen Bernd Wilms und den gescheiterten Versuch des Kultursenators Thomas Flierl im Jahr 2004, Wilms durch den ostdeutschen Dramatiker Christoph Hein zu ersetzen,geführt werden.
203 Boenisch: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 1.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf um das Deutsche Theater in der Spielzeit 2004/05: Künstlerische Erfolge und die Affirmation des Resilienz-Imperativs
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Emilia Galotti als Bild der Organisation: Ästhetische und ökonomische Reduktion
Erst mit der Übernahme der Intendanz im Sommer 2001 durch den 1940 in Solingen geborenen Bernd Wilms erlebte das Deutsche Theater seine Wende bzw. einen Bruch mit seiner ostdeutschen Identität. Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, hatte sich die Notwendigkeit eines künstlerischen wie organisatorischen Neuanfangs bereits durch den Erfolg der Baracke abgezeichnet, doch erst unter der Leitung von Wilms wurden auch am Haupthaus eine finanzielle Konsolidierung, eine personelle Neuordnung und eine ästhetische Öffnung angestrebt. Wilms selbst sagte dazu bereits vor seinem Amtsantritt: »Es wird eine späte Wende für das Deutsche Theater. Und ich spüre, dass alle sie wollen.«1 Dass sein neuer Führungsstil bei Weitem nicht so unumstritten war, wie er es in diesem Interview suggerierte, zeigte sich spätestens im Juni 2004, als der Kultursenator Thomas Flierl (PDS) Wilms’ Vertrag trotz solider Haushaltsführung und guter Zuschauerzahlen nicht verlängerte. Detlef Friedrich interpretierte Flierls Intervention in der Berliner Zeitung als eine Aktion gegen die »Verwestdeutschung […] der Theater Ostberlins«2 ,
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Anonymus: Bernd Wilms im Gespräch: ›Ich kann ganz gut die Klappe halten‹. [https://w ww.tagesspiegel.de/kultur/bernd-wilms-im-gespraech-ich-kann-ganz-gut-die-klappe-halten/ 213300.html (15.2.2019)]. Detlef Friedrich: Intendanten gesucht. Die Theaterlandschaft schrumpft, und doch muss Kulturpolitik gestalten. In: Berliner Zeitung vom 28. Juni 2006. [https://www.berliner-zeitun g.de/intendanten-gesucht--die-theaterlandschaft-schrumpft--und-doch-muss-kulturpolitikgestalten-vakanzen-15497146 (21.09.2019)].
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Das Deutsche Theater nach 1989
Flierl selbst stellte in derselben Zeitung Wilms »Ost-West-Kompetenz«3 in Frage und benannte wenig später den Schriftsteller Christoph Hein als dessen Nachfolger. Dieser Schritt löste eine hitzig geführte Ost-West-Debatte aus, die mit einem Rücktritt Heins und mit der Verlängerung von Wilms Vertrag um zwei weitere Spielzeiten endete. War es in den ersten beiden Fallstudien so, dass die speziellen Krisen, die von den Akteuren bewältigt werden mussten, gesellschaftlicher (Untergang der DDR) oder künstlerischer Art (kreative Lähmung) waren, geriet Wilms zusätzlich zu allgemeinen Strukturkrisen aus politisch-ideologischen Gründen unter Druck. Dieser (letzte) große Ost-West-Kampf um das Deutsche Theater wird am Ende dieses Kapitels noch ausführlich dargestellt. Das erfolgreiche Theaterkonzept, mit dem Wilms sich durchsetzte, entfaltete sich zur Gänze erst im Kulturkampf-Jahr, dem vierten Jahr (2004/05) seiner Intendanz. Doch, so die These, die diesem Kapitel zugrunde liegt, schon am Eröffnungswochenende von Wilms erster Spielzeit (2001/02) wurde mit Michael Thalheimers radikal-reduzierter Version von Lessings Emilia Galotti eine für den späteren Erfolg prototypische Inszenierung gezeigt. Dass diese Inszenierung maßgeblich stilbildend und dadurch ein starkes Bild für den Wandel am Deutschen Theater war, ist auch (retrospektiv) durch die beteiligten Schauspieler/innen und DT-Mitarbeiter bemerkt worden. In einem Interview anlässlich der letzten Vorstellung von Emilia Galotti – die symbolischer Weise als Abschiedsvorstellung für Bernd Wilms im Jahr 2008 angesetzt wurde – sagte die Schauspielerin Nina Hoss, die die Orsina im Stück spielte: »Wir hatten später das Gefühl, da hat man etwas gemacht, was Bedeutung hat, etwas Neues, das was auslöst in der Theaterwelt.«4 Und der Dramaturg Roland Koberg beschrieb im Theater heute Jahrbuch 2008 die stilbildende Ästhetik von Emilia Galotti wie folgt: Im Rückblick kann man sagen: Aus ›Emilia Galotti‹ ist das Deutsche Theater der Nuller Jahre geworden. In der Wirkung ebenso wie künstlerisch. Schon bei der Premiere hatte man darin ein Stück Zukunft des Hauses sehen können, innerhalb wie außerhalb unseres Hauses. In der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ machte Gerhard Stadelmaier die Bemerkung, das Deutsche Theater sei, ›nun wirklich in eine Zeit des Spielens hineingekommen‹. So pathetisch das klingt, am Ende stimmt es wohl in einer deutlicheren Weise, als man es sich hätte träumen lassen. Die Aufführung eine nicht nur unumstrittene Einzelerscheinung […]. [Es hat] eben
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Birgit Walter u. Harald Jähner: Kultursenator Thomas Flierl über seine Entscheidungsfreude bei Intendantenwechseln: Ich darf das. [https://www.berliner-zeitung.de/kultursenator-tho mas-flierl-ueber-seine-entscheidungsfreude-bei-intendantenwechseln-ich-darf-das-1547205 4 (21.09.2019)]. Peter Laudenbach: Nina Hoss und Regine Zimmermann über das Ende einer Ära am DT. [htt ps://www.tip-berlin.de/nina-hoss-und-regine-zimmermann-uber-das-dt/(26.09.2019)].
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
eines Tricks bedurft, um sich von gewissen Gewohnheiten und Selbstverpflichtungen des realistischen Interpretationstheaters, das an unseren Schauspielhäusern betrieben wird, zu verabschieden.5 Thalheimers Emilia Galotti versinnbildlichte durch ihre reduktionistische Ästhetik das organisatorische wie künstlerische Modell der Intendanz von Wilms. Das nahm auch Koberg wahr und formulierte, dass das Theater, das auf Emilia Galotti gefolgt sei, am Deutschen Theater nach 2000 »[m]aterialistisch betrachtet […] zuerst einmal […] weniger« gewesen sei: Weniger Bühne, weniger Kostüm, weniger Leute im Grunde (was wurden in den letzten sieben Jahren Figuren gestrichen oder zusammengelegt!), weniger Maske, weniger Requisiten, weniger Farbe, weniger Lichtwechsel, weniger Toneinsätze, überhaupt weniger Ausstattung.6 Die ästhetische Reduzierung auf der Bühne, wie sie etwa auch für die Arbeiten von Jürgen Gosch und Ditmiter Gotscheff typisch ist, ging einher mit der finanziellen Konsolidierung des Hauses: Wilms erklärtes Ziel war es, keine weiteren Schulden mehr aufnehmen zu müssen und in den Jahren seiner Intendanz mit einem eingefrorenen Etat von jährlich knapp 23 Mio Euro auszukommen. Führt man sich vor Augen, dass der größte Ausgabenposten der Stadt- und Staatstheater die Personalkosten sind und dass diese durch jährliche Tarifanpassungen stetig wachsen,7 erschließt es sich unmittelbar, dass mit der Reduzierung der Beschäftigtenzahlen große Einsparpotenziale verbunden sind bzw. dass ein gleichbleibender Theateretat jährliche Kürzungen fordert. Die tatsächliche Höhe der Personalkosten an den Gesamtausgaben veranschaulicht die Abbildung 19. Die Abbildungen 20 und 21 zeigen außerdem, dass die Ausgaben unter Langhoff – abgesehen von Langhoffs letzter Spielzeit – jährlich konstant anstiegen. Wilms hingegen gelang tatsächlich die Konsolidierung, dazu musste er jedoch künstlerisches wie nicht künstlerisches Personal abbauen.
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Roland Koberg: Theater ohne Mantel. Es hat sieben Spielzeiten gedauert, aber jetzt ist das Deutsche Theater Berlin am Ziel: ganz oben. In: Theater heute Jahrbuch 2008, S. 132-139, hier: S. 135. Ebd., S. 137-138. Oft sind nur 10 % des Etats tatsächlich disponible Mittel: Vgl. Antje Dietze: Ambivalenzen des Übergangs. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin in den neunziger Jahren, S. 178. Vgl. Bundesverband Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik. Köln, hier die Hefte: 26 (1989/90) – 40 (2007/08) u. 52 (2016/17). Vgl. Bundesverband Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik. Köln, hier die Hefte: 26 (1989/90) – 40 (2007/08) u. 52 (2016/17). Ebd.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Abbildung 19: Der Anteil der Personalkosten an den Gesamtausgaben
Quelle: Eigene Darstellung8
Abbildung 20: Entwicklung der Beschäftigungszahlen für das gesamte Theater nach 1989
Quelle: Eigene Darstellung9
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
Abbildung 21: Entwicklung der Beschäftigungszahlen für das Schauspielensemble
Quelle: Eigene Darstellung10
Die Abbildungen 20 und 21 zeigen deutlich, dass Wilms die Reduzierung der Mitarbeiterzahlen, die sich bei Langhoff bereits abgezeichnet hatte, konsequent weiterführte. Vergleicht man Langhoffs mitarbeiterstärkste mit Wilms mitarbeiterschwächster Saison liegt die Differenz bei 140 Personen bzw. 32 Schauspieler/innen; zwischen Langhoffs letzter und Wilms erster Spielzeit beträgt die Differenz jedoch nur 31 Mitarbeiter insgesamt und (davon 9 Schauspieler/innen). Als Grund nennt der Schauspieler Bernd Stempel im Interview, dass um die Jahrtausende viele noch zu DDR-Zeiten Engagierte durch Rente oder Krankheit11 aus dem Deutschen Theater ausgeschieden seien. Ein Teil der Einsparungen im Etat, die Wilms für sich in Anspruch nahm, kam also dadurch zustande, dass er vakante Stellen nicht neu besetzte. Die Grafiken zeigen daher, dass die Verkleinerung der Ensembles im Vergleich zur Langhoff Zeit nicht so radikal war, wie Wilms es öffentlich zelebrierte: Es gab [unter Langhoff, Anm. H. S.] viel Personal und wenig Produktionen. Nun ist der ›Apparat‹ schlanker, beweglicher, klarer strukturiert. Weniger Menschen – es waren gut 350, jetzt sind hier etwa 280 beschäftigt – bringen sehr viel mehr Premieren heraus. […] Wir haben die Zahl der Neuproduktionen so drastisch erhöht, 11
Von einer Krankheitswelle im Ensemble, die zum Ausscheiden mehrerer Kollegen um die Jahrtausendwende geführt habe, berichtete Bernd Stempel im Interview.
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damit unser Publikum seine Schauspieler jährlich in zwei, drei, sogar vier neuen Rollen sehen kann. Viele spielen heute in einer Spielzeit mehr, als sie früher in fünf Spielzeiten zu spielen hatten. Es ist keine Produktivität um ihrer selbst willen, sondern es geht, gerade wenn die Zeiten im Umbruch sind, um ein Ausprobieren und Vorstellen von Vielem, Neuem, Ungewohntem.12 Wilms reagiert hier rhetorisch auf die »seit Jahrzehnten schwelende[…], langfristige[…] Legitimations- und Strukturkrise«13 der Theater im Land Berlin, indem er in der Diktion eines Managers sein Theater als resilienten Ideal-Theaterapparat darstellte, der als fabrikähnlicher Produktionszusammenhang mit möglichst wenig Personal das maximale an Theaterproduktionen herstellte. Wilms entwarf einen Arbeitszusammenhang, in dem nicht die Krisenursachen minimiert, sondern die Belastungen für die Mitarbeiter erhöht wurden. Insgesamt affirmierte sein Führungsstil den Topos, dass das Theatersystem effizienter mit Steuergeldern umgehen müsse. Hinzu kommt, dass er das Ausmaß der ökonomischen Einschnitte, für die er verantwortlich war, sogar noch übertrieb: Er sprach von 70 entlassenen Mitarbeitern; in der Statistik werden in seiner ersten Spielzeit aber nur 31 Personen weniger geführt als bei Langhoff. Möglichst viele Entlassungen erschienen ihm offenbar ein Beleg für seine Intendantenqualitäten zu sein. Dass mit Wilms’ Intendanz ein ›unternehmerischer‹ Neuanfang verbunden war, transportierte sich auch über die veränderte Außendarstellung: Während Langhoff am Logo des DTs festhielt, das 1951 vom Künstler, Bühnenbildner und Typograph John Heartfield entworfen worden war, beauftragte Wilms die Grafikagentur ›grappa.dor‹ (später ›dor graphic‹), die Optik und ›corporate identity‹ des Deutschen Theaters zu erneuern. Roland Koberg beschreibt das Ergebnis wie folgt: Das geschwungene DT-Signet des Künstlers John Heartfield wird auf den meisten Drucksachen ersetzt durch den neuen DT-Stempel, […] charakteristisch für das sachliche neue Schriftbild sind Blocksatz und Versalien.14 Die Abbildungen 22 und 23 zeigen die Logos im Vergleich. Was Wilms ökonomisch außerdem gelang, war, dass er den Zuschuss durch das Land Berlin, der 2000/01 noch 20 Mio. Euro betrug, auf 17,7 Mio. reduzieren konnte, und zwar durch eine Verdopplung der Eigeneinnahmen von 2,2 Mio auf
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Bernd Wilms: Meine Erfahrung mit dem Deutschen Theater und wie man darüber spekuliert. Ärger mit der Legende. In: Berliner Zeitung vom 17.7.2004. [https://www.berliner-zeitung.de /meine-erfahrung-mit-dem-deutschen-theater-und-wie-man-darueber-spekuliert---von-ber nd-wilms-aerger-mit-der-legende-15726246 (22.09.2019)]. Dietze: Ambivalenzen des Übergangs, S. 169. Roland Koberg u. Oliver Reese (Hg.): Deutsches Theater Berlin 2001-2008. Band II: Chronik. Leipzig 2008, S. 18.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
Abbildung 22 und 23: Links der Entwurf für das Signet des Deutschen Theaters Berlin, 1951 (Tusche und Gouach über Bleistift), Entwurf von John Heartfield; rechts das neue Logo der Agentur grappa.dor
Quelle: https://heartfield.adk.de/node/7307.
4,40 Mio Euro15 sowie eine Reduzierung des »entschieden zu hohen Anteils« an den Kosten der »gemeinsame[n] Werkstätten mit der Staatsoper«.16 Obwohl Wilms sein Haus also hervorragend auf Sparkurs brachte, schützte ihn das nicht davor, durch den Kultursenator Thomas Flierl (PDS) im Sommer 2004 in Frage gestellt zu werden. Die vorliegende Fallstudie verfolgt nun das Ziel, zu zeigen, wie sich diese Ideologie der (materiellen) Reduktion schon in Thalheimers Version von Lessings bürgerlichem Trauerspiel, beispielweise durch die »schlicht zentralperspektivischen Bühne«,17 den Verzicht auf Requisiten, die einfach gehaltenen Kostüme und die textliche Reduktion wiederfinden lässt. Meine These ist auch die, dass Thalheimer die inneren Widersprüche von Lessings Text – schon Schlegel meinte, dass in der Tiefenstruktur des Texts alles »zerreißt und streitet […], was auf der Oberfläche so vernünftig zusammenzuhängen schien«18 – destilliert und in seiner Textfassung schroff konturiert. Daher werde ich in der Textanalyse im Anschluss an Günther Heegs Das Phantasma der natürlichen Gestalt Lessings bürgerliches Trauerspiel, daraufhin untersuchen, wie der Text seine Verkörperung auf der Bühne präfiguriert. Die Perspektive der Verkörperung wird auch von Schauspieler/innen eingenommen, wenn sie sich den Text im Probenprozess erarbeiten. Zusätzlich werde ich anschließend (als Exkurs) auf die Emilia Galotti-Rezeption in der DDR eingehen,
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Vgl. Bundesverband Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik. Köln, hier die Hefte: 37 (2000/01) und 40 (2007/08). Anonymus: Bernd Wilms im Gespräch: ›Ich kann ganz gut die Klappe halten‹. Roland Koberg u. Oliver Reese (2008): Deutsches Theater Berlin 2001-2008, S. 18. Friedrich Schlegel: Über Lessing (Abdruck). In: Gerhard Bauer u. Sibylle Bauer (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Darmstadt 1986, S. 8-35, hier: S. 26.
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denn für das Deutsche Theater in den Nuller Jahren stellte die marxistische Deutung noch einen impliziten Kontext dar, der, so viel sei schon einmal gesagt, von Thalheimer radikal negiert wurde. In der Inszenierungsanalyse werde ich dann zwei Schwerpunkte setzen: Zum einen zeige ich, wie Thalheimer – in der Tradition eines interpretierenden Texttheaters – Lessings Drama umsetzt, zum anderen hebe ich die Elemente hervor, mit denen er sein ›Surplus‹ zu Lessings Text kreiert, was wiederum für die Tradition des Regietheaters typisch ist. Abgeschlossen wird das Fallbeispiel mit einer Analyse des ›Berliner Kulturkriegs‹ um das Deutsche Theater im Jahr 2004. Dazu wird gezeigt, wie schon in Emilia Galotti die Antithese zu demjenigen Theater angelegt war, das Flierl forderte. Insbesondere werden dazu die Zerrbilder und Stereotype herausgearbeitet, mit denen in diesem (letzten) Ost-West-Theaterkampf um die Deutungshoheit auf dem gesamtdeutschen Feld gestritten wurde. Außerdem wird gezeigt, dass die biografische Resilienz von Wilms immanent mit seiner Bereitschaft verbunden war, Prozesse des Ausprobierens ebenso zuzulassen wie unterschiedliche künstlerische Handschriften und Positionen so zu vereinen, sodass ein pluraler, aber wiedererkennbarer Stil des Deutschen Theater entstehen konnte: Dies wird besonders ab der Spielzeit 2005/06 virulent, als Wilms – gestärkt durch die überwundene OstWest-Krise – mit dem von Koberg als »Quartett der Unterschiede« bezeichneten Vierer-Team Michael Thalheimer, Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff und Barbara Frey ein erfolgreiches Theater machte, das 2008 sogar zum Theater des Jahres gekürt wurde.
5.2 5.2.1
Wilms’ Berufung und Michael Thalheimers Emilia Galotti als Eröffnungspremiere (1. Ebene, Hausdramaturgie) Wilms’ umstrittene Berufung in der Spielzeit 1999/2000
Bernd Wilms‘ Berufung zum Intendanten des Deutschen Theaters im Sommer 1999 (für die Spielzeit 2001/2002) war umstritten. Der Berliner Kultursenator Peter Radunski hatte sich gegen seinen Staatssekretär Lutz von Puffendorf durchgesetzt und sich für den (westdeutschen) Wilms, damals schon seit fünf Jahren Leiter des deutlich kleineren Maxim-Gorki-Theaters, entschieden, nachdem es mit Kandidaten aus München und Stuttgart zu keiner Einigung gekommen war. Radunski wollte, als er Langhoffs Abdankung zum Sommer 2001 beschlossen hatte, eigentlich den damaligen Chef des Hamburger Schauspielhauses, Frank Baumbauer, nach Berlin holen, dieser trat (als gebürtiger Münchner) dann jedoch die Nachfolge von Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen an. Auch Friedrich Schirmer, Intendant am Schauspiel Staatstheater Stuttgart, konnte nicht für das Deutsche Thea-
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
ter gewonnen werden, weil ihn die Ränkespiele in der Berliner Kulturpolitik abschreckten. Verkompliziert wurde die Intendantenfindung durch einen Streit zwischen Radunski und von Puffendorf: Puffendorf, ein aus dem »einstweiligen Ruhestand reaktivierte[r] Staatssekretär«,19 war dem Politik-Pragmatiker Radunski, dem langjährigem Bundesgeschäftsführer der CDU und Kohls Wahlkampfleiter, zugeordnet worden, um ihm in Fragen des »Musischens«20 beiseite zu stehen. Die beiden »Parteifreunde« galten jedoch schnell als »Intimfeinde«21 und als Puffendorf im Juni 1999 zu Verhandlungen mit Dieter Dorn – seinem Favoriten – nach München aufgebrochen war, nutzte Radunski die Chance und engagierte Bernd Wilms im Alleingang: Wilms galt bei Radunski als »umgänglicher Pragmatiker«22 und hatte mit Harald Juhnke im Hauptmann von Köpenick und Ben Becker in Berlin Alexanderplatz für zwei veritable Theatererfolge in Starbesetzung gesorgt.23 Wilms‘ Berufung war, wie Oliver Reese, heute Intendant am Berliner Ensemble, in der DT Chronik 2001-2008 notierte, [d]urch eine Indiskretion von Luc Bondy […] bereits öffentlich bekannt geworden – bevor es überhaupt Zeit gegeben hätte, ein künstlerisches Team zu versammeln und auf der Pressekonferenz seriöse Pläne vorzustellen. Wir standen nur zu dritt im Sturm der Entrüstung, der sofort und in ungebremster Heftigkeit losbrach: außer dem Gorki-Intendanten [Wilms, Anm. H.S.], der Geschäftsführende Direktor André Schmitz […] und ich als Chefdramaturg, ein am DT als Schleudersitz berüchtigter Posten.24 Heftige Kritik kam sowohl von den lokalen Feuilletons als auch aus dem Deutschen Theater: »Der ›Tagesspiegel‹ fand diesen Schritt ›kleinmütig‹, die ›FAZ‹ nannte ihn schlicht einen ›Witz‹, und aus dem betroffenen Theater schallte das Verdikt: ›Typische Berliner Laubenpieper-Lösung!‹«.25 Intern wurde die Entscheidung für Wilms als Demütigung wahrgenommen, da man das deutlich kleinere MaximGorki-Theater nie als Theater in der gleichen Liga wahrgenommen habe, so Reese. Im Ensemble organisierte sich daher Widerstand gegen das neue Team. Man ließ
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Urs Jenny: Not am Mann. Überraschungscoup des Berliner Kultursenators Radunski: Ein Außenseiter wird Chef des Deutschen Theaters. [www.spiegel.de/spiegel/print/d13734300.html (15.02.2019)]. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. zu den hier beschriebenen Vorgängen: Anonymus: Bernd Wilms ans Deutsche Theater Berlin. [https://www.mopo.de/bernd-wilms-ans-deutsche-theater-berlin-18824270 (15.2.2019)]; Jenny: Not am Mann. Oliver Reese: Am Anfang. In: Roland Koberg u. Oliver Reese (Hg.): Deutsches Theater Berlin 2001-2008. Band II: Chronik. Leipzig 2008, S. 14-15, hier: S. 14. Jenny: Not am Mann.
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ein Treffen mit Radunski platzen und bat den Regierenden Bürgermeister Diepgen um Intervention: »Er solle alles Geschehene annullieren und das ganze […] Intendantensuchspiel von vorn beginnen lassen.«26 Auch von anderen Berliner Intendanten gab es keine Unterstützung für Wilms, Reese und Schmitz. So empfahl Claus Peymann Wilms, »sein Amt erst gar nicht anzutreten«27 . Und Frank Castorf empfand Wilms als »Provinzlösung«. Im Interview mit Peter Laudenbach beschrieb er die Berufung von westdeutschen Intendanten an Ost-Berliner Bühnen so: Was will jemand, den man in Wien [BE-Intendant Claus Peymann war 1986 -1999 Intendant des Wiener Burgtheaters, Anm. im Original] oder in Ulm [der DT-Intendant Wilms war 1991-1994 Intendant am Theater Ulm, Anm. im Original] nicht mehr haben will, ausgerechnet in Berlin? Ich habe ja nichts dagegen, jetzt ist das BE eine erfolgreiche Ku’damm-Komödie am Schiffbauerdamm, dagegen ist ja nichts zu sagen. Kulturpolitisch offensiv ist das nicht in einer Stadt, die tatsächlich brennt, und sie wird noch mehr brennen.28
5.2.2
Die erste Spielzeit von Wilms, das Konzept der Offenheit und Pluralität und das Zustandekommen der Zusammenarbeit mit Michael Thalheimer
Trotz der Widerstände – Reese hatte nach eigenen Angaben mehrmals überlegt »hinzuschmeißen«29 – übernahm Wilms die Leitung des Hauses zur Spielzeit 2001/02. Wie im vorangegangenen Kapitel schon dargestellt, etablierte sich im Verlauf der siebenjährigen Intendanz von Wilms die Reduktion als ästhetisches sowie organisatorisches Prinzip. Zu Wilms Stil gehörte es aber auch, dass er nicht mit der Idee, dass Reduktion das Profil des Hauses bestimmen sollte, in die Intendanz startete, sondern dass sich das Profil erst über die Jahre und im Zusammenspiel der verschiedenen Akteure herausbilden solle. Selbstbewusste Offenheit (in den Grenzen eines interpretierenden Texttheaters30 ) war sein Programm. Im Interview mit dem Tagesspiegel zur Eröffnungsspielzeit beschrieb er seine Arbeitsweise so: 26 27
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Ebd. Gerhard Joerder: Blut und Honig. Lorca elementar, Lessing bizarr: Bernd Wilms’ überzeugender Start am Deutschen Theater in Berlin. [https://www.zeit.de/2001/41/Blut_und_Honi g (15.2.2019)]. Frank Castorf u. Peter Laudenbach: Am liebsten hätten sie veganes Theater. Frank Castorf – Peter Laudenbach, Interviews 1996-2017. Berlin 2017, S. 46. Reese: Am Anfang, S. 14. Wilms beschreibt seinen Anspruch an Theater so: »Mich interessiert ein bildkräftiges, leidenschaftliches Theater, das sich vor den Stücken nicht drückt, sondern sie – altmodisch genug – interpretiert.« Anonymus: Bernd Wilms im Gespräch: ›Ich kann ganz gut die Klappe halten‹.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
Es gibt eine schöne Sentenz von Walter Benjamin, die mir besonders einleuchtet: Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sterne zu den Sternbildern. Ich denke gerne über das Einzelne nach – in der Hoffnung, dass der eine schöne Stern eine Sternenkonstellation stiftet. Ich scheue den Pluralismus und den Gemischtwarenladen nicht; so wünsche ich mir auch, dass das Deutsche Theater ein internationales Theater wird.31 Voraussetzung für das Vertrauen auf das Zusammenspiel der Kräfte am Haus war bei Wilms die Haltung, möglichst viele Bereiche des Hauses nach einem paritätischen Prinzip zu gestalten, bei dem Neues und Altes in gleichen Anteilen aufeinandertreffen sollte. So heißt es auch bei Joerder: »Wilms steht für das Altneue, Neualte – und schämt sich nicht dafür.«32 Wilms’ paritätischer Ansatz zeigte sich sehr offensichtlich in seiner Ensemblepolitik: Das Schauspiel-Ensemble war nach einem klaren 50/50-Schlüssel aufstellt: 22 Schauspieler/innen gehören zum alten Ensemble, 18 weitere wurden neu engagiert. Dieses Modell hatte sich für Wilms bereits am Gorki bewährt: Ich bin 1994 ans Gorki gekommen und habe gedacht: Was für ein schönes kleines Haus und was für ein überaltes Ensemble. Ich habe damals auch 20 neue Leute mitgebracht und dann im Laufe der Zeit mitbekommen, wie schwierig das Zusammenwachsen war. Es gab getrennte Tische in der Kantine. Aber nach den ersten gemeinsamen Premieren und Erfolgen – hat sich das völlig verändert.33 Dass die Symbiose aus Altem und Neuen nicht bloß »taktischer Proporz« war, sondern Wilms »Stil«34 , zeigte sich auch in der Spielplangestaltung: Öffentlich warb Wilms besonders mit den Regisseuren Zadek, Wilson und Neuenfels für seine erste Spielzeit – alles Regisseure, die vorher schon in Berlin inszeniert hatten und an den Stil der ›alten‹ Schaubühne oder des Schiller-Theaters erinnerten. Ausbalanciert wurde dieser Schwerpunkt auf das ›alte‹ West-Berliner Theater und auf Kanon-Stücken durch jüngere Regisseur/innen, wie Jan Jochymski, der zuvor am Theaterhaus Jena und in der freien Szene gearbeitet hatte, oder Konstanze Lauterbach und Michael Thalheimer. Thalheimer, das zeigt sich auch in der PR für die erste Spielzeit, war zu dem Zeitpunkt noch kein bekannter Regisseur; vielmehr galt er als »Geheimtipp in Fachkreisen«.35 Die starke Fokussierung auf Klassikertexte im großen Haus wurde wiederum durch den starken Gegenwartsbezug der Kammerspiele, in der in der ersten Spielzeit nur Ur- und Erstaufführungen stattfanden, ausgeglichen. 31 32 33 34 35
Ebd. Joerder: Blut und Honig. Anonymus: Bernd Wilms im Gespräch: ›Ich kann ganz gut die Klappe halten‹. Joerder: Blut und Honig. Roland Koberg u. Oliver Reese (2008): Deutsches Theater Berlin 2001-2008, S. 17.
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Im großen Haus eröffnete Wilms seine erste Saison mit einer Geste der Anerkennung für die Tradition des Hauses, nämlich mit zwei Wiederaufnahmen seines Vorgängers, Langhoffs König Lear und Die Möwe. An den beiden darauffolgenden Wochenenden (20./21.9 und 27./28.9.2001) gab es dann ›Neues‹ in den vier Eröffnungspremieren: Lorcas Bluthochzeit in der Regie von Konstanze Lauterbach, Peter Wittenberg inszenierte Sophokles Antigone, Thalheimer Emilia Galotti und Jan Jochymski ein Stück über die IRA von Martin McDonagh Der Leutnant Inishmore. Unter den Premieren generierte Emilia Galotti die größte Aufmerksamkeit. In der DT-eigenen Chronik vermerkte Roland Koberg: Die Emilia Galotti Premiere »wird gefeiert […] und […] wird ohne dass man sich zu diesem Zeitpunkt schon bewusste wäre, zum Markenzeichen des Deutschen Theaters.«36 Vergleicht man nun Wilms erste Spielzeit mit der Langhoff-Ära, fällt neben den vielen neuen Regisseuren – keiner hatte vorher am DT inszeniert – besonders die quantitative Steigerung der Premieren auf 18 Stück auf, darunter auch 10 Ur- und Erstaufführungen. Das sind doppelt so viele Premieren wie in Langhoffs letzter Spielzeit. Mit der hohen Produktivität ging aber erstmal nur ein leichter Anstieg der Zuschauerzahlen einher: im Vergleich mit Langhoffs letzter Saison kamen 15000 Zuschauer mehr ins Theater; die Zahl stieg von 151000 auf 166000. Im Gesamtvergleich war diese Saison jedoch noch unterdurchschnittlich besucht, wenn man für die Jahre 1990 bis 2008 von einer Jahresdurchschnittszahl von 177.862 Zuschauern ausgeht (Abbildung 24). Erst ab der dritten Spielzeit 2003/04 erreichte Wilms mit seinem Team Werte über dem Durchschnitt, an die Spitzenwerte der Intendanz von Langhoff Mitte der 1990er-Jahre konnte er nicht mehr anknüpfen, was aber wohl in erster Linie mit dem allgemeinen Rückgang von Theaterbesuchen zu erklären ist. Der Dramaturg Roland Koberg beschrieb das in seiner Rückschau auf die Intendanz Wilms wie folgt: Der Aufbau einer »neuen künstlerischen Identität«38 brauchte Zeit, in den ersten beiden Spielzeiten wurden viele Inszenierungen als »verhalten und krampfig« wahrgenommen, es herrschte »Trial and Error, Hire and Fire, [und] Abstürze und Neustarts«. Für Koberg wäre es »[n]icht auszudenken, wenn nicht Michael Thalheimers ›Emilia Galotti‹, […] die vielen halben Erfolge und Misserfolge überstrahlt hätte.«39 In den letzten vier Spielzeiten entstanden die großen Publikumserfolge durch das Zusammenspiel des »Quartett[s] der Unterschiede«, gemeint waren die vier Hausregisseure Michael Thalheimer, Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff
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Ebd., S. 18. Vgl. Bundesverband Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik. Köln, hier die Hefte: 26 (1989/90) – 40 (2007/08) u. 52 (2016/17). Koberg: Theater ohne Mantel, S. 133. Ebd., S. 134.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
Abbildung 24: Zuschauerzahlen (gerundet) von 1990/91-2007/08
Quelle: Eigene Darstellung37
und Barabar Fry. Diese Periode wird im abschließenden Kapitel dieser Fallstudie nochmals genauer betrachtet. Dass Michael Thalheimer in der Spielzeit 2001/02 für Emilia Galotti engagiert wurde, verdankte sich einer Absage von Franz Xaver Kroetz.40 Durch den Wegfall von Kroetz’ Produktion wurde eine Spielplanposition frei und Wilms konnte Thalheimer, den er damals schon für ein »Ausnahmetalent«41 hielt, engagieren. Zum Zeitpunkt seines Engagements durch Wilms war Thalheimer 36 Jahre alt, aber erst seit 4 Jahren als Regisseur tätig – zuvor hatte er als Schauspieler in Mainz, Bremerhaven und Chemnitz gearbeitet.42 Wilms hatte Ende 2000 Thalheimers LiliomInszenierung am Thalia Theater in Hamburg gesehen, die sein erster großer Erfolg war. Liliom wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Gleichwohl war Thalhei-
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Ebd. Ilka Piepgras: Der tut weh. In: Die Zeit vom 13.12.2001. [https://www.zeit.de/2001/51/Der_tut _weh/-komplettansicht (26.09.2019)]. Thalheimer und Wilms kannten sich sogar schon aus der Zeit, in der Wilms die OttoFalckenberg-Schule in München leitete; Thalheimer war dort zu Beginn seiner Schauspielausbildung (1985-1989) einige Wochen Student, wechselte dann jedoch nach Bern. Vgl. HansDieter Schütt: Michael Thalheimer. Porträt eines Regisseurs. hg. v. Thalheimer, Michael. Berlin 2017, S. 124.
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mer 2001 noch längst nicht der »Star-Regisseur«43 , als der er bereits wenige Spielzeiten später gesehen wurde. Doch innerhalb des Ensembles, so berichtet Regine Zimmermann, die die Emilia spielte, hatte Thalheimer bereits einen guten Stand: Wir hatten alle […] beim Theatertreffen seine großartige Hamburger »Liliom«Inszenierung gesehen, danach war klar, dass das ein Regisseur ist, mit dem wir gerne arbeiten wollen.44
5.2.3
Michael Thalheimers Proben zu Emilia Galotti
Anders als es das Bild von Thalheimer als einem der »großen Systematiker des Regietheaters« suggeriert, ist seine Arbeitsweise in der Probenphase stark von Offenheit und Dialogizität geprägt. Diese Arbeitsweise, von John von Düffel als Thalheimers »Bauchsystem«45 bezeichnet, möchte ich, bevor ich mich mit der Inszenierung beschäftigen werde, hier kurz darstellen. Darzulegen, dass Thalheimer nicht mit einem fertigen Konzept in die Proben einstieg, ist für den Fortgang der Argumentation insofern wichtig, als dadurch unterstrichen wird, dass der Urheber von Emilia Galotti, auch wenn sie das Label »Regie: Thalheimer« trägt, auch das kreative Kollektiv auf der Probe war. Das Bild von Thalheimer als Genie, das »alles schon fertig im Kopf hat«,46 ist also ein Trugbild. Der Probenprozess bei Thalheimer lässt sich in zwei unterschiedliche Phasen gliedern, nämlich die Findungs- und die Kompositionsphase. In der ersten Phase, so beschreibt es David Roesner in seinem Buch Musicality in Theatre, findet eine intensive gemeinsame Textarbeit statt: Thalheimer spends a lot of time with his actors discussing and analyszing the text in great detail and depth. […] It is about discovering the ›distinctive core‹ of the play, and tackling the question of ›what story do we actually want to tell‹.47 In der Phase der kollektiven Textarbeit wird der Text auch schon auf seine Musikalität hin befragt: Gemeinsam sucht man nach (klanglichen) Motiven, Pausen, dem Rhythmus der Sprache und ihrem Tempo und Fermaten. Wichtig bei der Arbeit an der Materialität der Sprache ist für Thalheimer immer, dass, bevor über das Wie 43 44 45 46 47
Angelika Rausch: Deutsches Theater: Punkten mit Thalheimer – [https://www.spiegel.de/kul tur/gesellschaft/deutsches-theater-punkten-mit-thalheimer-a-344574.html (26.09.2019)]. Laudenbach: Nina Hoss und Regine Zimmermann über das Ende einer Ära am DT. John von Düffel: Michael Thalheimer – Das Bauchsystem. In: Melanie Hinz u. Jens Roselt (Hg.): Chaos und Konzept: Proben und Probieren im Theater. Berlin [u.a.] 2011, S. 51-70. Ebd., S. 51. Roesners Wissen über die Probenweise bei Thalheimer basiert auf einem Experteninterview, das er mit Thalheimer geführt hat. Vgl. David Roesner: Musicality in theatre. Music as model, method and metaphor in theatre-making (Ashgate interdisciplinary studies in opera). Farnham 2014, S. 238.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
der Darstellung gesprochen werde, geklärt sein muss, was der Text aussagt. Wenn es dann in der Findungsphase auf die Bühne geht, wird die Verkörperung zu einem weiteren Maßstab für die gemeinsame Arbeit. Nur dasjenige Material kann in der Aufführung bleiben, das von den Akteuren so verkörpert werden könne, dass es sich »natural and organic«48 , so Roesner, anfühlt.49 Im Interview mit Roesner führt Thalheimer für das Beispiel von Emilia Galotti wie folgt aus: My production of Emilia Galotti, for example has been performed now for seven years. The ensemble of the Deutsches Theater still manages on every night to play this ›score‹ highliy emotionally, as if for the first time. This only happens, because the score was developed together and not imposed by me.50 So gab beispielsweise die Schauspielerin Regine Zimmermann, die die Emilia spielte, an, dass die Gruppe noch lange darüber diskutiert habe, was mit Emilia »eigentlich geschieht, wie man diese Figur heute erzählen kann«.51 Der Schauspieler Ingo Hülsmann, der in der Inszenierung Marinelli verkörperte, berichtete wiederum in Hans-Dieter Schütts Thalheimer-Buch fast anekdotenhaft davon, wie man gemeinsam die Form und das hohe Tempo der Emilia Galotti erfunden habe: Den Marinelli übernahm ich kurzfristig, ein Kollege war ausgefallen. Die Proben liefen schon eine Weile, und natürlich nahm ich an, ich müsste sehr schnell sehr viel nachholen um mich auf den Stand der laufenden Dinge zu bringen. Auf meine erste Probe kam ich mit gelerntem Text, Sven Lehmann [Hettore Gonzaga, Anm. H. S.] blickte mich konsterniert an: Was ist denn mit dir los, so weit sind wir noch lange nicht, wir sind in der Findungsphase. Findungsphase? Immer noch? Am näher rückenden Horizont schon der Premierentermin! Also: Gas geben ohne Ende, um den Anschluss zu kriegen. Dachte ich. Micha saß da und lachte. Meine erste Begegnung mit der abenteuerlichen Methode Thalheimer. Aus diesem Moment heraus entwickelten wir den Drive der Inszenierung: eine rasende Bewegung, ohne zu hetzen. Wie ein Zug, den man aufs abschüssige Gleis gesetzt hat, und nun rollt er ins Verderben.52 Die Anekdote macht einen weiteren typischen Zug von Thalheimers Arbeitsmethode deutlich, nämlich seine Neigung zur Verantwortungs- bzw. Motivationsumkehr in den ersten Wochen der Probenzeit: Aus der Haltung, dass der Regisseur die Schauspieler/innen motivieren müsse, machte er die Aufgabe für die Schauspieler,
48 49 50 51 52
Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Laudenbach: Nina Hoss und Regine Zimmermann über das Ende einer Ära am DT. Schütt: Michael Thalheimer, S. 35.
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dass sie ihn motivieren und begeistern sollten. John von Düffel beschrieb das in seinem Essay über die Methode Thalheimer als notwendigen gruppenpsychologischen Trick, der überhaupt erst die Kollektivität des Spiels habe entstehen lassen: Bei vielen Regisseuren, auch bei Michael Thalheimer, besteht ein großer strategischer Zug darin, dass sie sagen: »Ich deligiere Verantwortung zurück. Ich gebe dem Schauspieler ein gewisses Maß an Eigenverantwortung. Er ist selbst verantwortlich für das, was er macht. Ich gebe ihm diese Verantwortung, um ihn zum Miterfinder der Aufführung werden zu lassen und ihm für eine gewisse Phase der Probe und des Probenprozessses das Gefühl zu geben, dass es an ihm ist. Mit dem, was er im Spiel probiert, spielerisch erprobt, übernimmt er eine Verantwortung für das Gesamtergebnis am Schluss.53 Gleichwohl war Thalheimers Arbeitsweise, und damit kommen wir zur zweiten Probenphase, weit davon entfernt, Verantwortungsdiffusion zum Programm zu machen. Zwar sei Thalheimer kein autoritärer Regisseur (wie beispielsweise Dieter Wedel), doch werde er, so Düffel, als Autorität wahrgenommen, die sich besonders auf seine Fähigkeit stütze, das gesammelte Spielmaterial und die Einfälle in der Endprobenphase zu sortieren und zu einer Partitur zu komponieren. Roesner schreibt dazu: »For Thalheimer, as for Meyerhold or others, the score represents the idea that theatre is multi-voiced and unfolds in time«.54 Ein weiterer Beleg dafür, dass Thalheimer bei aller Kollektivität der Theaterarbeit nicht die Autorität über das Werk verlor, zeigt sich darin, dass er in der Kommunikation mit den Gewerken zu jedem Zeitpunkt klar kommuniziert habe, was er benötige. So erinnert sich Bernd Wilms: Imponierend [ist] es, wenn er sich während einer Bauprobe auf die Rampe setze und präzise erklär[t], warum er jetzt dieses Stück mache und wie er sich die einzelnen Arbeitsschritte vorstelle. Damit gewinnt er alle, vom Techniker bis zum Schauspieler.55 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich in Wilms und auch in Thalheimers Arbeitsweise Personalführungsskripte erkennen lassen, die in der Managementliteratur der 1990er Jahre virulent wurden und die in durch die Anrufung des eigenverantwortlichen Arbeitskraftunternehmers intrinsische Motivation und Innovationspotentiale abrufen sollten.56 Anders als in der freien Wirtschaft ist es im Stadttheater jedoch so, dass die Hierarchien nur scheinbar flach sind und dass
53 54 55 56
Von Düffel: Das Bauchsystem, S. 53. Roesner: Musicality in theatre, S. 238. Piepgras: Der tut weh. Vgl. Boltanski u. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
auch Spitzenkräfte (wie Wilms) wenig Handlungsspielräume haben. Wilms affirmiert die Systemlogik jedoch so stark, dass er sich als selbstbewusster Agent des Sachzwangs inszenieren kann.
5.3
Emilia Galotti als paradoxer Theatertext (2. Ebene, Textanalyse)
Wie schon zu Beginn des Kapitels ausgeführt, ist Reduktion das zentrale ästhetische Prinzip in Michael Thalheimers Inszenierung von Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti (Premiere: 27.9.2001). Die Inszenierung war sowohl materiell reduziert – es kamen kaum Requisiten zum Einsatz und es wurde mit einem minimalistischen Bühnenbild gespielt – als auch textlich: Lessings 1772 vollendetes bürgerliches Trauerspiel wurde von Thalheimer und seinem Dramaturgen Hans Nadolny radikal gekürzt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sprachen einen großen Teil der Inszenierung in einem aberwitzigen Tempo, sie ›ratterten‹ den Text förmlicher herunter, sodass die Spielzeit des gesamten Abends nur 70 Minuten betrug. Das bedeutete jedoch nicht, dass Thalheimers Reduktionen Oberflächlichkeit oder zerstörte klassische Tiefe zur Folge gehabt hätten, wie es ihm immer wieder vorgeworfen wurde. Ziel der folgenden Ausführungen ist es daher, eine Analyse und Interpretation von Lessings Text vorzulegen, die Thalheimers Reduktionen antizipiert und plausibilisiert. Hierzu werde ich einen besonderen Schwerpunkt auf Günther Heegs 2000 erschienene Arbeit Das Phantasma der natürlichen Gestalt legen: Heegs Interpretation von Lessings Drama sticht insofern aus der fast nicht zu überblickenden Menge an Einzelforschung57 zu Emilia Galotti heraus, als sie durch ihren theater- und schauspieltheoretischen Schwerpunkt als eine Art implizites Handbuch zu Thalheimers Inszenierung lesbar ist. Thalheimer hat, wie gerade gezeigt, den Text mit seinen Schauspielern sehr genau untersucht. Die Schauspieler haben den Text daraufhin gelesen, wie sie ihn in der Probe und Aufführung verkörpern können. Heeg wiederum liest Emilia Galotti zwar theatertheoretisch und -historisch, doch im Grunde aus derselben Perspektive: Ihn treibt die Frage um, wie sich das für das 18. Jahrhundert maßgebliche Ideal einer ›natürlichen‹ Verkörperung in den Dramentext eingeschrieben hat. Damit will ich nicht unterstellen, dass Thalheimers Ensemble den Text bewusst mit Heeg in der Tradition des 18. Jahrhunderts gelesen hat, jedoch gehe ich davon aus, dass 57
Beschäftigt man sich nur lang genug mit der Emilia Galotti-Forschung, lässt sich zu jeder These die Antithese finden. Monika Fick resümiert in ihrem Lessing-Handbuch: »Jeder Satz des Dramas ist hundertfach um- und umgewendet worden; jede These hat die Antithese herausgefordert, jede Argumentationskette hat ihre Widerlegung durch einen gegensinnigen Begründungszusammenhang gefunden.« Aus diesem Grund soll hier ein Verweis auf Ficks Forschungsüberblick einen systematischen Überblick ersetzen. Vgl. Monika Fick: LessingHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2016, S. 345-371, hier: 347.
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die Schauspieler-Perspektive auf Lessings Text im Kontext einer Leseprobe sensibel war für diejenigen inneren Widersprüche und Brüche, die bei Heeg Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse sind. Und auch wenn Thalheimers Regietheater auf der Oberfläche keine Verbindung zu Theaterdiskursen des 18. Jahrhunderts nahelegt, so – das hat das Kapitel zum Probenprozess gezeigt – ging es Thalheimer darum, dass die Schauspieler/innen in sich ein Gefühl der Natürlichkeit herstellen können. Die folgende Textanalyse ist daher so aufgebaut, dass ich zunächst Heegs Argumentation wiedergeben werde. Heeg (und Thalheimer) blenden jedoch beide die politische Dimension von Lessings Drama aus, die allerdings in der DDR (und der literatursoziologischen Forschung der BRD) die zentrale Lesart des Texts vorgab. Weil die Geschichte der DDR auch 2001 noch als ein relevanter Kontext des Deutschen Theaters angesehen werden kann, werde ich mich, bevor ich die Inszenierung analysiere, im Rahmen eines Exkurses noch mit dem beschäftigen, was Heeg und Thalheimer ausblenden.
5.3.1
Die paradoxe Praxis des Texts: Günther Heegs Ansatz zu Emilia Galotti
Günther Heeg untersucht in seiner theaterhistorischen Arbeit Das Phantasma der natürlichen Gestalt die Theatertheorie und -praxis des 18. Jahrhunderts. Heeg zeigt, wie in diesem Jahrhundert das Ideal einer »natürlichen« Verkörperung auf der Bühne zum theatertheoretischen Leitdiskurs58 wird und dass dies zu einer »Kolonialisierung des Körpers durch den sprachlichen Sinn des dramatischen Textes«59 führt. Heegs Textanalyse von Emilia Galotti fokussiert also auf das Verhältnis zwischen der Textebene und dem Schauspielerkörper und kann dadurch zeigen, wie die Tiefenstruktur von Lessings Drama die Aufführungssituation präfiguriert. Heeg legt damit einen Aspekt der Konstruktionsteile von Emilia Galotti offen, der aus den theatertheoretischen Problemen des 18. Jahrhunderts entspringt und diese gleichzeitig überschreitet: Seine Thesen verweisen auf den inneren Widerspruch des Dramas zwischen Einfühlung in die Charaktere und deren Dekonstruktion, die eine einfache Verkörperung unmöglich machen. Sein Fazit lautet daher auch, dass »ein anderes Theater als das der ›natürlichen Gestalt‹, […]in […] ›Emilia Galotti‹ […] bereits angelegt«60 sei. Heeg beginnt seine Ausführungen mit einer historischen Beobachtung, nämlich der ambivalenten Rezeption von Emilia Galotti: Während Lessings Miß Sara
58 59 60
Vgl. hierzu auch Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert (Theatron, Bd. 11). Berlin/Boston 1995. Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Frankfurt a.M. [u.a] 2000. Ebd., S. 259.
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Sampson (ganz dem auf der Bühne diskursiv erzeugten Gefühlsüberschwang entsprechend) zeitgenössisch als »Weinerfolg«61 rezipiert und gefeiert wird, sind die Reaktionen auf das 20 Jahre jüngere Stück Emilia Galotti zwiespältig. Der eine Teil der Kritiken lobte den Text als Meisterwerk und erklärte Erfolg wie Misserfolg einer Inszenierung mit der (mangelnden) Fähigkeit der jeweiligen Schauspielerinnen und Schauspieler, illusionserzeugend zu spielen.62 Dem gegenüber standen Kritiker, die den Plot des Stücks für fehlerhaft hielten. Ihnen erschien besonders der Tod Emilias als nicht ausreichend plausibilisiert.63 Dass der Übergang vom einen ›Lager‹ in das andere möglich war, zeigt der Fall von Johann Jakob Engel. Engel hatte vier »Briefe über Emilia Galotti«64 verfasst, in denen er sich an der Unwahrscheinlichkeit des fünften Aktes abgearbeitet hatte. Als Engel dann jedoch den Schauspieler Conrad Eckhof in der Rolle des Odoardo erlebte, revidierte er seine Meinung und soll laut Nicolai gesagt haben: »Um die Emilia ganz zu fassen, muß man Eckhof den Odoardo spielen sehen. […] das ist ein Teufelskerl! Er hat mein ganzes Blut in Aufruhr gebracht.«65 Heeg begründet diesen Sinneswandel damit, dass Eckhofs Spiel den Mord insofern für das zeitgenössische Publikum plausibilisiert habe, als er gezeigt habe, dass der vernünftig-disziplinierte Sozialcharakter des Bürgers, wenn sich die Entladung der angestauten Leidenschaften nicht mehr auf-, sondern nur noch verschieben läßt, als Übersprungshandlung das Frauenopfer braucht.66 Heeg beschreibt in seiner Gesamtschau der Rezeption außerdem, dass jedwede Störung des Illusionszusammenhangs und des Phantasmas der natürlichen Gestalt auf der Bühne, in einer unberechenbaren Reaktion des Publikums gemündet habe, die von Ekel gegenüber dem Dargestellten bis zu Gelächter hätte reichen können. Die Labilität des Erfolgs (auch die Gefahr ins Lächerliche zu kippen) sei somit das Resultat, so Heegs weitere Argumentation, von grundlegenden »innere[n], drama-
61 62
63 64 65 66
Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts (Theatron, Bd. 54). Berlin/Boston 2009, S. 150. Als Beispiel für die Kritik, die mit den mangelnden Fähigkeiten der Schauspieler argumentiert, dient Heeg die Kritik zur Uraufführung des Stücks durch die Döbbelinschen Gesellschaft aus der Neuen Hamburgischen Zeitung. Hier heißt es: »Dies vortrefliche Stück erhielt den wohlverdienten Beyfall, wiewohl es sehr mittelmäßig vorgestellt wird […] Madame Döbbelin spielte die Emilia, aber wie kalt! Die schöne Rolle, wie kalt! Herr Döbbelin den alten Galotti, aber wie steif!« Zitiert nach: Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 263. Vgl. ebd., S. 269. Johann Jakob Engel: Schriften, Berlin 1801, Nachdruck. Frankfurt a.M. 1971, S. 137ff. August Wilhelm Iffland: A. W. Iffland’s Theorie der Schauspielkunst für ausübende Künstler und Kunstfreunde. Berlin 1815, S. 43f. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 299.
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turgisch-textuelle[n] Unstimmigkeit[en]«.67 Diese werde ich im Folgenden als die Illusionswiderstände des Dramas beschreiben. Hier sind wiederum zwei grundlegende Strategien identifizierbar: Zum einen unterminiert Lessings Drama das Phantasma der Natürlichkeit dadurch, dass die Norm des Ideal-Maßvollen (als der zentralen Voraussetzung der natürlichen Verkörperung68 ) auf vielfältige Weise verfehlt wird, zum anderen inszeniert Lessings Text die Dominanz der Sprache über die natürliche Verkörperung: »Die Sprache selbst [wird] mit jener unmittelbaren Überzeugungskraft und durchschlagenden Wirkung [ausgestattet], die zuvor allein den ›natürlichen Zeichen‹ der gestischen Artikulation zugeschrieben wurde[…]«.69 Im Folgenden werde ich zeigen, wie dieser Theateralitätsdiskurs konkret in den Dramentext eingeschrieben ist.
5.3.2
Die Überschreitung des Ideal-Maßvollen durch die (Komödien-)Maschine Emilia Galotti
Die Ursache für die vielfältigen Verstöße gegen die Norm des Maßvollen ist das Komödienhafte der Tiefenstruktur von Emilia Galotti. Die Komödienelemente des Dramas werden von der Forschung vermehrt seit der zweiten Hälfte der 70erJahre diskutiert:70 So hat Klaus-Detlef Müller auf die vielen Parallelen zur Commedia dell’arte71 hingewiesen und Heeg verweist auf die Nähe zur Türschlagkömodie im Stil von Georges Feydeau oder Laufs und Jacoby. Heeg schreibt über Emilia Galotti: Im dritten und bis in den vierten Akt hinein geht es auf der Bühne stellenweise zu wie in »Pension Schöller« von Laufs und Jacoby. Marinelli hat alle Hände voll zu tun, die nacheinander allesamt außer sich auf Dosalo eintreffenden Personen in die richtigen Zimmer zu stecken, wo sie keinen Schaden anrichten können. Der Dialog dazu klingt so: BATTISTA (eiligst) Eben kömmt die Gräfin an. DER PRINZ Die Gräfin? Was für eine Gräfin? 67 68
69 70
71
Ebd., S. 265. Der »ästhetische Maß- und Perfektionsbegriff« (S. 90) ist die von den im 18. Jahrhundert »konkurriernden Theatralitäts-Schulen geteilte (Voraus)setzung« (S. 90). Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755 – 1888). Paderborn, München 2005, S. 90. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 295. Forschungsgeschichtlich war das der Zeitpunkt, als die politische Auslegung der Emilia Galotti in der BRD »offenbar endgültig das Stadium der bloßen Fürstenbeschimpfung verlassen« hatte. Vgl. Karl Eibl: Identitätskrise und Diskurs. Zur thematischen Kontinuität von Lessings Dramatik. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 21 (1977), S. 139-191, hier: S. 141. Vgl. hierzu auch: Klaus-Detlef Müller: Das Erbe der Komödie im bürgerlichen Trauerspiel. Lessings Emlia Galottiund die commedia dell’arte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 46 (1972) 1, S. 28-60.
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BATTISTA Orsina! DER PRINZ Orsina? – Marinelli! – Orsina? – Marinelli! MARINELLI Ich erstaune darüber nicht weniger als Sie selbst. DER PRINZ Geh, lauf, Battista: sie soll nicht aussteigen. Ich bin nicht hier. Ich bin für sie nicht hier. Sie soll augenblicklich wieder umkehren. Geh, lauf! (IV, 2)72 Das hohe Tempo der Szene, die rapiden Emotionsumschläge und die an Türschläge erinnernden Ausrufe des Prinzen produzieren komische Effekte, die exemplarisch sind für die Komödienhaftigkeit des gesamten Stücks und zum Problem für eine auf Natürlichkeit abzielende Mis-en-scène werden können. Denn aus der Perspektive des Natürlichkeitsdiskurses des 18. Jahrhunderts stören die Komödienelemente dessen zentrale Voraussetzungen, nämlich das Ideal des im Mittelmaß gehaltenen Affekts und die kontinuierliche Progression von Handlung und Charakter.73 So kritisiert auch Lessing die englischen Schauspieler der 1730er-Jahre für ihre exaltierte Darstellungsweise: Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr unnatürlich; besonders war ihr tragisches Spiel äußerst wild und übertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudrücken hatten, schien und gebärdeten sie sich als Besessene; und das Übrige tönten sie in einer steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Sylbe den Komödianten verriet.74 Hinzu kommt außerdem, dass die Figuren im Drama von den Umständen ›überrollt‹ werden. Die Dominanz der Ereignisstruktur über die Agency der Figuren ist ein weiteres typisches Merkmal der Komödie. Heeg bezeichnet das Stück deshalb auch als eine (Komödien-)Maschine. Schon Friedrich Schlegel und Friedrich Hebbel bedienten sich der Maschinenmetapher: Schlegel nennt Lessings Drama »ein gutes Beispiel der dramatischen Algebra«75 und für Hebbel hat das »Stück die Gestalt einer Maschine«.76 Die beiden Romantiker drücken mit diesen ›technischen‹ Sprachbildern ihre Skepsis vor der ›kalten‹ Vernunftzentrierung des Lessing‘schen Theaters aus; ein Topos der Rezeption, der schon in Sturm und Drang angelegt
72 73 74 75 76
Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 276. Vgl. zur Bedeutung der kontinuierlichen Progression für den Natürlichkeitsdiskurs: Port: Pathosformeln, S. 96. Gotthold E. Lessing: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. 9. Band. Berlin, Leipzig 1968, S. 248. Friedrich Schlegel: Über Lessing. In: Schriften zur Literatur, hg. von Wolfdietrich Rasch. München 1972, S. 231. Friedrich Hebbel: Sämmtliche Werke, hg. v. Richard Maria Werner. Zweite Abteilung. Bd. 1. Berlin 1901, S. 331.
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ist. Auch Goethe kritisiert in einem Brief an Herder, dass am Stück »alles nur gedacht«77 sei. Heeg wiederum wendet die Maschinenmetapher um, denn es geht ihm nicht um die Diskussion des Stellenwerts der Ratio im Stück, sondern um die Tiefenstruktur des Dramas: Das hohe Tempo der Ereignisse, die sprachliche Ökonomie – jedes Wort ergibt das andere – und »das lückenlose Ineinandergreifen der Motive«78 sind die Bauteile der Emilia-Galotti-Maschine. Angetrieben werde die Maschine, so Heeg weiter, von der Sprache selbst. Doch auch die Sprache sperrt sich gegen das Paradigma der natürlichen Verkörperung: Die Sprache sei zwar »natürlicher« als die des Aufklärungsdramas, sie verzichte auf die für die Vorläuferdramen üblichen Reden, Ansprachen und rhetorischen Tiraden. Jedes Wort bei Lessing provoziere Anschlusskommunikation. Und doch sei die Sprache noch nicht die des individuellen Ausdrucks.79 Der antiillusionistische Widerhaken, der hier wirkt, ist die Geschwindigkeit des Dialogs: Lessings »epigrammatische[r] Dialog [ist] der eigentliche Motor der textuellen Bewegung, diese [ist] aber schneller als der phantasmagorische Ausdruck der handelnden Charaktere. […] Die Gestalt der Charaktere setzt sich sozusagen aufs Stichwort zusammen (und auch auseinander).«80 Ein solcher Text kann nicht ›natürlich‹ verkörpert werden. Auch Jürgen Schröder weist darauf hin, dass das Tempo des Stücks, die ›natürliche‹ Verkörperung verunmögliche: Die Monologe und Dialoge Lessings (scheinen) stets um einen Bruchteil zu schnell abzulaufen. Das ihnen immanente Tempo überfordert nicht selten die Figuren. Sie haben – in den Monologen Odoardos wird es zum Charakterzug – das Wort schon gedacht und ausgesprochen, bevor sie es tatsächlich erreichen. Einen Vorsprung gewinnen sie nie; der Raum um die Worte und Sätze herum ist unbetretbar für sie.81 Das Verhältnis zwischen Sprach- und Schauspielerkörper in Emilia Galotti unterscheidet sich somit auch grundlegend von Miß Sara Sampson: In Lessings Trauerspiel-Erstling kommentiert die Sprache die Verkörperung der »›natürliche[n]‹ Affektsymptome« noch unmissverständlich: SARA […] Ich erschrecke, Lady; wie verändern sie auf einmal die Züge ihres Gesichts? Sie glühen; aus dem starren Auge schreckt Wut, und des Mundes knir-
77 78 79 80 81
Zitiert nach: Bernd Witte, Carina Janßen u. Theo Buck (Hg.): Goethe Handbuch. Band 2: Dramen. Stuttgart 2004, S. 82. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 275. Ebd., S. 279. Ebd., S. 282. Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing. München 1970, S. 307.
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schende Bewegung – Ach! Wo ich Sie erzürnt habe, Lady; so bitte ich um Verzeihung.82 In Emilia Galotti hingegen gibt es kein geordnetes Verhältnis zwischen Text (dem Imaginären der Sprache) und dem Schauspielerkörper mehr.83 Ohne das Komödienhafte besonders herauszustellen, weist auch Gisbert TerNedden in seiner einschlägigen Studie zu Lessings Trauerspielen auf das hohe Tempo und die besondere Zeitstruktur des Stücks hin – dessen Handlung nur eine Zeit von wenigen Stunden (von Morgen bis Nachmittag) umfasst: Man hat Lessings Emilia eine einzige, auf fünf Akte ausgedehnte Exposition genannt. Damit ist etwas Richtiges auf unvollständige Weise bezeichnet, nämlich die Kehrseite der Tatsache, daß es Lessing auf die Vervielfältigung der Peripetie ankommt, und daß die Emilia eine einzige auf fünf Akte verteilte moralische Katastrophe vorführt. Kurzfristige Terminierung, gesteigerter Handlungsdruck, beschleunigtes Handlungstempo sind nur die eine Seite des zeitlichen Aufbaus der Handlung. Ebenso wichtig ist das andere Bauprinzip der Verlangsamung, der Vorbereitung, der Kontinuität, Stetigkeit und Steigerung der dramatischen Bewegung.84 Auf der sprachlichen Ebene schlägt sich nach Ter-Nedden die Vervielfältigung der Peripetie darin nieder, dass die Figuren die Rede immer wieder auf den einen Schritt oder die eine Minute zurückbringen, die den Unterschied zwischen Gut und Böse, Tugend und Verbrechen machen kann:85 So warnt Odoardo angesichts der Tatsache, dass Emilia allein zur Messe gegangen ist: »Einer [d.h. ein Schritt, Anm. H.S.] ist genug zu einem Fehltritt!« (III/2: 145). Und auch die Gegenpartei im Intrigenspiel um Emilia bedient sich dieser Rhetorik. So beschreibt Marinelli die verhängnisvolle Entscheidung des Prinzen, sich Emilia in der Kirche zu nähern, als den »Schritt, […] der nicht in den Tanz gehörte« (IV, 1) und den Takt störe. Mit dem Bild des einen Schritts zu viel tritt nach Ter-Nedden »[a]n die Stelle der personalisierten Bivalenz der Moral […] der profane Sündenfall aller Figuren.«86 Thalheimers Inszenierung übersetzt die Schritt-Metaphorik in das konkrete Bild des Tanzes: Thalheimer lässt Emilia in der Schlussszene – statt auf offener Bühne
82 83
84 85 86
Gotthold E. Lessing: Gotthold Ephraim Lessings Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Zweiter Band. Berlin, Leipzig 1968, S. 335. Diese »Differenz zwischen er dramatischen Sprache der Sara und dem Text/Körper Emilia ist entscheidend für die Analyse der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert.« Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 291. Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik (Germanistische Abhandlungen, Bd. 57). Stuttgart 1986, S. 184f. Vgl. ebd., S. 183. Ebd.
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zu sterben – in einem ›Meer‹ von Walzer-tanzenden Paaren verschwinden. Auf dieses Bild werde ich in meiner Inszenierungsanalyse noch genauer eingehen. Ter-Nedden kann zudem zeigen, dass die Zeitstruktur von Emilia Galotti in engem Zusammenhang mit Lessings Bemühungen um die Aktualisierung der Virginia-Sage steht: In der Version des römischen Geschichtenschreibers Livius aus Ab urbe condita wird der Decemvir Appius Claudius als Tyrann gezeigt, dessen manifestes Handlungsziel die gewaltsame Unterwerfung der Virginia ist. Lessing verschiebt das Handlungsziel des Prinzen von der Sachebene auf die Zeitebene: Hettore Gonzaga will nicht die gewaltvolle Unterwerfung Emilias, sondern erst einmal nur Zeit gewinnen im Kampf um sie: »Zeitknappheit ist das entscheidende Handlungsmotiv, Zeitgewinn das entscheidende Handlungsziel des Prinzen«.87 Ter-Neddens Verdienst ist es außerdem, dass er auf den moralischen Unterschied zwischen der Vorlage und Lessings Adaption hingewiesen hat: Bei Livius soll Virginia durch den Tod vor der Vergewaltigung durch Appius Claudius beschützt werden. In Lessings Variante wird Emilia von ihrem Vater getötet, um der eigenen Verführbarkeit zu entgehen. Lessings Motivierung der Tat macht diese zum Ausdruck eines (zu kritisierenden) Tugendrigorismus und damit Odoardo zu einem problematischen Charakter. Auch Heeg interessiert sich für Odoardo, doch geht es ihm weniger um ein moralisches als um ein poetologisches Argument: Die Tatsache, dass Odoardo zum Kindsmörder wird, dessen Tat auf der Bühne (grausam) sichtbar wird, unterläuft seine ›Natürlichkeit‹ und verweist auf die inneren Widersprüche der Poetologie des gemischten bzw. mittleren Charakters.88 Nach Heeg basiert Lessings Charaktertheorie auf einem Widerspruch, den die Figurenzeichnung in Emilia Galotti nicht versöhnen kann: Die Erregung von Mitleid und Furcht ist auf die Wiedererkennung des ›gewöhnlichen‹, das heißt durchschnittlichen Zuschauers im dargestellten Charakter angewiesen. Verlebendigung hingegen braucht auf der Bühne (um nicht ins Klischee oder in »konventionalisierte Formeln«89 abzurutschen) Individualität und das Außergewöhnliche90 . Odoardo oszilliert zwischen beiden Para-
87 88 89
90
Ebd., S. 178. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 277. Port zitiert als Beispiel für eine Kritik an der konventionalisierten Form Schillers Kritik aus dem Jahr 1782 an den deutschen Schauspielern. Ihr manieriertes Spiel zerstöre die Illusion – ein Topos, auf den sich auch die Abkehr der Aufklärer vom Barocktheater stützte: »Gewöhnlich haben unsere Spieler für jedes Genus von Leidenschaft eine aparte Leibesbewegung einstudiert, die sie mit einer Fertigkeit, die zuweilen gar dem Affekte vorspringt, an den Mann zu bringen wissen. Dem Stolz fehlt das Kopfdrehen aus einer Achsel und das Anstemmen des Ellenbogens selten. Der Zorn sitzt in einer geballten Faust und im Knirschen der Zähne. […] [D]ie Traurigkeit der Theaterheldinnen retiriert sich hinter ein weißgewaschenes Schnupftuch.« Zitiert nach Port: Pathosformeln, S. 99. Vgl. zu diesem Problem das 59. Stück der Hamburgischen Dramaturgie.
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digmen: Er ist sowohl ›gewöhnlicher‹ (d.h. bürgerlicher) als auch ›außergewöhnlicher‹ (d.h. kindstötender) Vater; und aufgrund dieser Verschränkung von zwei Charakterisierungsweisen bleibt die Motivierung seiner Tat für den einfühlenden Zuschauer rätselhaft. Die Ausgestaltung der Odoardo-Figur verweist letztlich auf die Störanfälligkeit des Phantasmas des Natürlichen generell. Und auch die anderen Charaktere im Stück schwanken zwischen Extremen – mal wird das Personal »ins Schreckliche, mal ins Komische gezerrt und gequetscht«.91 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Maschinelle von Emilia Galotti eine Verkörperung des Texts im Modus des Natürlichen unmöglich macht. Denn der Text unterbricht immer wieder »die Kontinuität des Spiels [und] zerstückelt […] jede verkörpernde Darstellung«.92 Die Praxis des Texts, so nennt Heeg die Struktur des Texts, die den Körper des Schauspielers und den Textkörper aneinanderbinden, ist also paradox: Emilia Galotti verlangt nach körperlicher Vergegenwärtigung und sperrt sich gleichzeitig (als ästhetischer Text) dagegen.93 Heeg folgert daher, dass jede Verkörperung von Emilia Galotti, die am Phantasma der natürlichen Gestalt festhalte, deren ästhetische Qualitäten, also den Rhythmus und das Tempo des Textes, zerstöre.
5.3.3
Die Dominanz der Sprache über den Körper: Emilia Galotti als Gewebe gespenstischer Stimmen
Von der Tötung Emilias abgesehen finden nahezu alle relevanten Ereignisse des Stücks nicht unmittelbar auf der Bühne statt, sondern werden sprachlich repräsentiert: So werden zum Beispiel bereits im ersten Akt Orsina und Emilia nicht unmittelbar, sondern im Modus der Bildbeschreibungen als Figuren eingeführt. Die Schauspielerkörper werden auf diese Weise zu »Körper[n] im Text.«94 Aber nicht nur die Exposition der weiblichen Hauptfiguren funktioniert nach diesem Muster: Auch die Welt der Grimaldis, das Attentat auf Appiani, die Verführungskünste des Prinzen sowie das Zusammentreffen Emilias mit dem Prinzen in der Kirche werden nicht gezeigt, sondern (nur) in der Sprache repräsentiert: In Emilias Bericht über das Zusammentreffen mit Gonzaga ist es nicht der Prinz, der mit ihr spricht, sondern »die Stimme eines schemenhafen ›Es‹«.95 So erzählt Emilia ihrer Mutter im Stück über die Begegnung mit dem Prinzen in der Messe Folgendes: EMILIA […] Eben fing ich an, mein Herz zu erheben: als dicht hinter mir etwas seinen Platz nahm. So dicht hinter mir! […] Es sprach von Schönheit, von Liebe – 91 92 93 94 95
Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 299. Ebd. Ebd., S. 273. Ebd., S. 296. Ebd., S. 297.
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Es klagte, dass dieser Tag, welcher mein Glück mache, – wenn er es anders mache – sein Unglück auf immer entscheide. – Es beschwor mich – hören musste ich dies alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte tun, als ob ich es nicht hörte. […] Aber was er sprach, was ich ihm geantwortet; – fällt mir es noch bei, so ist es gut, so will ich es Ihnen sagen, meine Mutter. Jetzt weiß ich von dem allen nichts. Meine Sinne hatten mich verlassen. – […] Ich finde mich erst auf der Straße wieder; und höre ihn hinter mir herkommen; und höre ihn mit mir zugleich in das Haus treten, mit mir die Treppe hinaufsteigen –96 So wie Emilia den Prinzen in der Kirche nicht ansieht, erhalten die Zuschauer auch keine visuellen Repräsentationen der handlungsrelevanten Ereignisse. Auch was in der Kirche ›wirklich‹ geschehen ist, bleibt im Unklaren: Der Prinz und seine Taten verschwimmen im Verlauf von Emilias Bericht zu einer gespenstischen Stimme, die Emilia in den Verlust ihrer Sinne treibt. Heeg dazu: Das Unbewusste der Sprache ergreift von der Figur Besitz, setzt sie aus allen vom Drama fingierten realen Bezügen – wessen Stimme hört Emilia, ist der Prinz schon auf der Treppe oder noch im Dom, was ist innen, was außen? – und macht sie zur reinen Sprachfigur, einer körperlosen Stimme, durch die ›es‹ spricht. […] [D]er Text [wird] zu einem Gewebe gespenstischer Stimmen gleich den sprechenden Körperstümpfen in den Romanen Becketts, die nicht aufhören können, miteinander zu reden, solange das Begehren durch sie weiterspricht.97 Durch den Vergleich der beiden Ungleichen, Beckett und Lessing, pointiert Heeg die Modernität von Emilia Galotti. Es ist mithin Heegs Volte, Emilia Galotti als eine ironische Wendung der Theatergeschichte zu lesen: Lessing gibt in Emilia Galotti »der Sprache des Textes gegenüber den Charakteren ihr eigenes Gewicht zurück[…]«,98 obwohl er »wie keiner [zuvor] an der Differenzierung und Verlebendigung der Charaktere gearbeitet hat«.99 Denn seit der Hamburgischen Dramaturgie habe Lessing eigentlich an einer Form der »Totenbeschwörung auf dem Theater« gearbeitet, die sich mit »der Erscheinung der Geister nicht begnügen, sondern sie mit der Illusion vollkommener Lebendigkeit ausstatten will«.100 Dieses Programm verfehle Lessing mit der Emilia Galotti, so Heegs weitere These: Die Dominanz der Sprache lasse die Figuren nicht lebendig werden. Es dominierten gespenstische Stimmen, geisterhafte Erscheinungen und eine Tote. 96
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen [1772]. In: Ders.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl Eibl. Bd. 2. München 1970, S. 150. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 244. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 243.
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Die Figur der Emilia ist lesbar als Metakommentar auf eben diesen Riss im Text- und Repräsentationszusammenhang. Für Heeg ist Emilias potenzielle Verführbarkeit – die ja ihren Tod besiegelt – Ausdruck der »Möglichkeit der Aufgabe eines klar geschnittenen Charakters«.101 Verführbar zu sein, impliziert nach Heeg daher auch den »Schrecken der Ichauflösung« und das »Aussetzen einer verlässlichen Sprache«.102 Diese Zuschreibungen des Uneindeutigen wiederum sind zentrale Bausteine der kulturellen Konstruktion des Weiblichen als dem Anderen; hierauf verweist Heeg an mehreren Stellen. Auch Emilias Ausspruch »Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.« (V. 7) im fünften Akt und ihre Tötung fallen hierunter: Der Dolchstoß löst Emilias ambivalent-geisterhaften Status (zwischen Hure und Heiliger) durch ›Setzungen‹ auf: Die Tötung es weiblichen Signifikanten setzt Bedeutung. Bevor sich der Charakter der Emilia vor den Augen Odoardos und der Zuschauer zersetzt und sie dadurch entsetzt, wird er durch die tödliche Setzung des Vaters zur festumrissenen Gestalt. So hält die Handlung der ›Emilia‹ das Tötungsopfer des Weiblichen fest.103 Letztlich liest Heeg die Schlussszene allerdings moralisch, nämlich als einen Akt der Wiedergutmachung an den Opfern des väterlichen Gesetzes: Indem er [d.h. der Text, Anm. H.S.] das Opfer der Weiblichen nicht leugnet noch verklärt, läßt er aller Gestalt, die Opfer der Verkörperung des väterlichen Gesetzes wurde, späte Gerechtigkeit widerfahren. Da Thalheimer auf die Tötungsszene verzichtet und Emilia mit der Waffe von der Bühne verschwinden lässt, muss im nächsten Kapitel analog zur Tötungsszene aus Shoppen und Ficken herausgearbeitet werden, welcher semiotische Akt durch den (ausbleibenden) Bühnentod vollzogen wird. Zusammenfassend und um in der Inszenierungsanalyse besser auf die Ergebnisse der Textanalyse zurückgreifen zu können, schlage ich vor, drei Paradoxien der inneren Dramaturgie von Emilia Galotti zu unterschieden: Erstens ist Lessings Emilia Galotti von einem Genreparadox determiniert: Das Stück ist zugleich bürgerliches Trauerspiel und Komödie. Zweitens gibt es das Geschwindigkeitsparadox: Der Dialog ist schneller als es der phantasmagorische Ausdruck der Schauspieler sein kann. Und drittens herrscht ein Sinnlichkeitsparadox: Verführung und Verführbarkeit sind die zentralen Themen des Dramas, werden aber nur in der Sprache repräsentiert und nicht durch unmittelbare Anschauung sinnlich erfahrbar. Doch bevor ich mich mit Thalheimers Version auseinandersetzen kann, möchte ich nun noch schlaglichtartig die gesellschaftlichen Kontexte beleuchten, die 101 Ebd., S. 272. 102 Ebd., S. 273. 103 Ebd.
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Heeg und auch Thalheimer ausblenden und die im 2004 aufbrechenden Ost-WestKulturkampf um das Deutsche Theater zu einer Art Heimsuchung werden.
5.3.4
Was blenden Heeg und Thalheimer aus? Politische und Literatursoziologische Deutungen
Für Thalheimers Inszenierung und Heegs Analyse ist – abgesehen von den schauspieltheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts – der sozialhistorische Kontext von Lessings Zeit irrelevant: Feudalismuskritik, der Ständekonflikt oder die Familienkonzepte des 18. Jahrhunderts spielen für sie keine Rolle. Die politische (und insbesondere marxistische) Deutungslinie sollen hier trotzdem dennoch exkursartig entfaltet werden, da sie aufgrund der herausgehobenen Stellung von Lessing in der DDR als relevanter Kontext des Produktionszusammenhangs Deutsches Theater zu werten sind. Denn Lessing galt innerhalb der DDR-Kulturpolitik und -Literaturwissenschaft als der zentrale (protomarxistische) Schriftsteller des 18. Jahrhunderts104 und als ideologischer »Wegbereiter für die Befreiung der Arbeiterklasse und für den Sozialismus«.105 Den Rahmen für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lessing in der DDR setzten Franz Mehrings Die LessingLegende. Zur Geschichte und Kritik des preussischen Despotismus und der klassischen Literatur (1893) und Paul Rillas Lessing und sein Zeitalter (1958). Mehrings im Umfeld der deutschen Sozialdemokratie entstandene Polemik gegen die bürgerliche LessingRezeption verfolgte den Ansatz, preußenfeindliche Aussagen Lessings als Ausdruck seines antifeudalen Kampfs zu deuten. Auf diese Weise konnte Mehring Lessing zu einem ideologischen Vorläufer des Proletariats erklären. Friedrich Engels, der die Veröffentlichung von Mehrings Monografie in einem Brief an August Bebel kommentierte, fasste den Inhalt des Buchs wie folgt zusammen: Es ist die beste regelrechte Belagerung der Zitadelle der preußischen Legende, die ich kenne: den Lessing sagt man, den alten Fritz meint man. Und die Zerstörung der preußischen Legende ist absolut nötig, damit Preußen in Deutschland verschwinden kann.106
104 So wird zum Beispiel die gesamte Zeit der Hochaufklärung in derDeutschen Literaturgeschichte in einem Band von Geerdts unter Lessings Namen gestellt: »Deutsche Literatur in der LessingPeriode der Aufklärung (1750-1770)«. Hans Jürgen Geerdts (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte in einem Band. Berlin 1971, S. 166. 105 Wilfried Barner: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). München 1998, S. 422. 106 Brief Friedrich Engels’ an August Bebel vom 16.9.1892. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Hg. Vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 38, S. 308.
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Mehrings 50 Jahre vor der Gründung der DDR verfasste Studie war eine der ersten Arbeiten der marxistischen Geschichts- und Literaturwissenschaft überhaupt107 und sorgte für eine enorme Popularisierung von Lessing innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung (die Monografie erschien binnen weniger Jahre in 8. Auflagen). Theoretisch wie philologisch weist die Arbeit jedoch Mängel auf. So moniert bereits Engels das undialektische (bzw. vulgärmarxistische) Vorgehen von Mehring: Es liegt hier die ordinäre undialektische Vorstellung von Ursache und Wirkung als starr einander entgegengesetzten Polen zugrunde, die absolute Vergessung der Wechselwirkung. Daß ein historisches Moment, sobald es einmal durch andre, schließlich ökonomische Ursachen, in die Welt gesetzt, nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbst seine eignen Ursachen zurückwirken kann, vergessen die Herren oft fast absichtlich.108 Paul Rillas Lessing-Studie variiert daher Mehrings Thesen und Methoden: Er verortet Lessing nicht auf Seiten der Proletarier, sondern zeigt, dass er als »Ideologe« der bürgerlichen Ordnung gelten kann, die sich im 19. Jahrhundert durchsetzt, aber im 18. Jahrhundert die progressive Seite des Klassenkampfs darstellt. Entsprechend beschreibt Rilla Lessings Theater als die »Tribüne des bürgerlichen Befreiungskampfs«, die Hamburger Dramaturgie wird zum »Kampfprogramm der sich entwickelnden bürgerlichen Literatur« und Emilia Galotti zum »Kampfplatz zwischen Bürgertum und Adel«.109 In den zitierten Stellen aus Rillas Buch wird außerdem die kämpferische-maskuline Rhetorik der DDR-Lessing-Forschung deutlich, die Monika Fick wie folgt beschreibt: Die Parolen des Klassenkampfes verschmelzen mit der Verherrlichung des ›männlichen‹ Dichters. Lessing wird auf Kosten seiner Freunde heroisiert, aus Mendelssohn (!) und Nicolai werden Opportunisten, die sich mit den Verhältnissen arrangieren.110 Fick verweist im Lessing-Handbuch außerdem auf die Parallelen zwischen dem Lessing-Bild der DDR und demjenigen der wilhelminischen Zeit: In beiden Kontexten habe man Lessings Engagement für die nationale Einigung betont. Auch Rilla braucht Lessings nationales Engagement als argumentative »Brücke zum Klassenbewußtsein«.111
107 Vgl. Hans-Joachim Kertscher: Die Rezeption Lessings in der Deutschen Demokratischen Republik 1977. Halle, S. 2. 108 Brief Friedrich Engels’ an August Bebel vom 16.9.1892. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Hg. Vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 38, S. 308. 109 Zitiert nach: Barner: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, S. 422. 110 Fick: Lessing Handbuch, S. 27. 111 Fick: Lessing-Handbuch, S. 7.
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Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich Lessings herausragende Stellung im DDR-Kanon daraus speist, dass man ihm die ideologische Führung im Klassenkampf auf der Seite der im 18. Jahrhundert fortschrittlichen (bürgerlichen) Klasse zuspricht. Dieser Sonderrolle entsprechend wurde auch einer der wichtigsten Literaturpreise der DDR nach Lessing benannt. Mit dem Lessing-Preis wurden »hervorragende Werke auf dem Gebiet der Bühnendichtung sowie auf dem Gebiet der Kunsttheorie und Kunstkritik« geehrt.112 Die nationale Bedeutung Lessings spiegelte sich nach Barner auch in den Lehrplänen der DDR wieder: Von den 28 Stunden, die für den Deutschunterricht der 10. Klasse auf die Auseinandersetzung mit dem »nationalen Literaturerbe« entfallen, waren allein 10 Stunden für Lessing vorgesehen; zum Vergleich waren für die Sturm-und-Drang-Bewegung nur 4 Stunden angedacht.113 In der BRD hat sich anders als in der DDR nach 1945 kein »einheitliches Lessing-Bild als ›kultureller Besitz‹ […] mehr etabliert«.114 Analog gibt es auch keine starren Richtlinien dafür, wie Lessings Stücke im Schulunterricht zu besprechen sind. Die westdeutschen Lehrkräfte konnten »aus ein[em] große[n] Angebot von Einzelanalysen« wählen.115 Doch trotz des postulierten Methodenpluralismus, so stellt Barner fest, habe (insbesondere in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik) didaktisch die Tendenz dominiert, Lessing unpolitisch zu interpretieren, indem man die formale Meisterschaft des Werks in den Mittelpunkt gestellt habe. Verengt man hingegen die Perspektive auf die Inszenierungsgeschichte von Emilia Galotti in der DDR, wird das Bild der sozialistischen Lessing-Rezeption widersprüchlicher: Der ideologischen (retrospektiven) Inanspruchnahme Lessings für das kommunistische Projekt steht die Marginalisierung des Stücks durch die Theaterpraxis entgegen. Emilia Galotti wurde in der DDR im Vergleich mit den anderen kanonisierten Dramen von Lessing nur sehr selten inszeniert und galt bei den Theaterschaffenden als problematisches Stück.116 112 113 114 115
116
Vgl. Gesetzblatt (GBl.) DDR 1954; [https://www.gvoon.de/gesetzblatt-gbl-ddr-1954.html (29.09.2019)]. Vgl. Barner: Lessing, S. 422f. Fick: Lessing-Handbuch, S. 8. Barner untersucht für die BRD-Rezeption exemplarisch an den Lehrplänen der Bundesländer Hessen und Baden-Württemberg aus den Jahren 1950-1979 und zeigt daran, dass Nathan der Weise, Emilia Galotti und auch Minna von Barnhelm als (teils verpflichtende, teils fakultative) Lektüren für den Oberstufenunterricht vorgesehen sind und auch statistisch zu den meistbehandelten Stücken dieser Jahre gehören. »Während der Theatersaison 1960/61 wird die Emilia [in der BRD] 404-mal aufgeführt, und Fritz Kortner bringt 1970 in Wien eine vielbesprochene Neuinszenierung heraus (der 1979 die stärker politisierte von Adolf Dresen folgt); die Theater der DDR aber führten das Stück von 1969 bis 1974 insgesamt nur viermal auf.« (Ich vermute stark, dass hier Aufführungszahlen mit Inszenierungszahlen verglichen werden; 1945 bis 1975 gibt es 53 Emilia-GalottiInszenierungen im Westen). Vgl. Simonetta Sanna: Lessings »Emilia Galotti«. Die Figuren des
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Das zeigt sich auch daran, dass es keine sogenannte Modellinszenierung des Stücks durch eine der renommierten Ost-Berliner Bühnen gab. Die relevanten Inszenierungen von Emilia Galotti fanden in der Theater-Provinz statt: Beispielsweise 1969/70 in Parchim117 oder in Meiningen 1974/75.118 Hans-Joachim Kretscher führt die problematische Stellung des Stücks auf dem DDR-Theaterfeld insbesondere darauf zurück, dass »Regisseure […] vor allem durch die Anlage des Schlusses […] keinen Zugang zum Text finden«119 konnten. Und tatsächlich stellen der Kindsmord und die ungesühnten Taten von Gonzaga und Marinelli den neuralgischen Punkt für die marxistische Forschung dar: In eine antifeudale Interpretation sind der Mord an Appiani und Emilias Tod nur integrierbar, wenn man beide Ereignisse als Kritik am unpolitischen Bürgertum und die Grausamkeit der Tat Odoardos als (impliziten) Aufruf zur Revolution liest.120 Der Mord am eigenen Kind ist demnach auch für Mehring die »Achillesferse des Trauerspiels«: [Diese] ist nun einmal nicht zu beseitigen, auch nicht durch die wohlwollende Auslegung Goethes, die vielmehr der ganzen Tragödie den Rücken bricht, er sei nur nicht deutlich genug ausgesprochen, daß Emilia den Prinzen heimlich liebe. Wenn Emilia den Prinzen heimlich liebte, dann wäre der alte Odoardo kein tragischer Held; dann tötete er die Tochter, um ihre anatomische Unschuld zu sichern oder den Prinzen um seine sichere Beute zu betrügen, und Lessing läßt ihn wohlweislich in seinem letzten Monologe sagen, daß, wenn das Pärchen einverstanden wäre, die Tochter nicht wert sein würde, vom Dolche des Vaters zu fallen. Nein, Emilia liebt den Prinzen nicht, soll ihn nach des Dichters Absicht nicht lieben, aber daß sie und ihr Vater dennoch vor der Despotenwillkür und – der eigenen Fürstenfürchtigkeit keine Rettung wissen als den Mord der Tochter durch den Vater, das ist jenes Gräßliche, das weder Furcht noch Mitleid erregen und das, wie Lessing im 79. Stück der Dramaturgie an der Hand von Aristoteles so überzeugend aus-
Dramas im Spannungsfeld von Moral u. Politik (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 43). Tübingen 1988, S. 1. 117 Die Inszenierung in Parchim stellte besonders intensiv das Begehrensverhältnis zwischen Emilia und dem Prinzen dar. Vgl. Kertscher: Die Rezeption Lessings in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 103. 118 Schlüsselfigur war in der Meininger Inszenierung nicht Emilia, sondern Odoardo. Er wurde gezeigt als ein nach Auswegen suchender Mann, der […] allerdings auch, […] angeregt durch Orsina, partiell zu einer Ahnung revolutionären Empfindens gelangt: »Wer kein Gesetzt achtet, ist ebenso mächtig, als wer kein Gesetzt hat.« Ebd., S. 116. 119 Ebd., S. 103. 120 Vgl. Paul Michael Lützeler: Die marxistische Lessing-Rezeption (II). Darstellung und Kritik am Beispiel der Emilia-Galotti-Interpretation in der DDR. In: Lessing yearbook 8 (1976), S. 42-60, hier: S. 52.
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einandergesetzt hat, keine tragische Wirkung haben kann, auch wenn es in der Geschichte begründet ist.121 Die Grausamkeit des Schlusses stellt für Mehring also vor allem ein tragödientheoretisches Problem dar, das er jedoch mit der Grausamkeit der Verhältnisse im 18. Jahrhundert relativiert. Für Mehring liegt der revolutionäre Charakter des Stücks demnach darin, dass der Tod Emilias auf derart krasse Weise das Unrecht des Absolutismus enthülle, dass die Schlussszene bei den Zuschauern keinen anderen Effekt haben könne als den Wunsch, das System gewaltsam abzuschaffen. Monika Fick fasst Mehrings Position so zusammen: »Auch wenn er den Umsturz nicht zum Bühnenereignis mache, habe Lessing Empörung über das Unrecht säen, das deutsche Publikum politisch aufrütteln wollen.«122 Für die Forschung in der DDR bleibt Mehrings Auslegung wegweisend: So knüpft Joachim Müller an Mehrings Argumente an, wenn er ausführt: »Die Angst der dem verbrecherischen Despotismus unterliegenden Bürgerin wird zuletzt zur Entschlossenheit, mit dem Opfertod dem Bürgertum das Zeichen zu geben, daß das Maß voll ist.«123 Ähnlich versteht auch Almási den Schluss: Er liest ihn als Hinweis darauf, »daß für das Bürgertum der historische Augenblick für große Taten gekommen sei […] und daß eine Tragödie entstehe, wenn diese Möglichkeit nicht genutzt und verwirklicht«124 werde. Und – weniger spekulativ in Bezug auf Lessings Intention – formuliert Rieck, dass Lessing mit dem Stück den Vorwurf an das deutsche Bürgertum »anstelle des geschichtlich notwendigen revolutionären Auswegs […] einen religiös-moralischen«125 gewählt zu haben illustriere. Odoardos Tat stehe für das »Elend […] des antifeudalen Protests«126 der bürgerlichen Klasse im 18. Jahrhundert. Die politische Rezeption der Emilia Galotti ist, darauf soll hier zum Schluss des Unterkapitels noch hingewiesen werden, keine Erfindung des Marxismus. Insbesondere die Kritik am Prinzen, der seine Herrscherrolle nicht ausfüllt und miss-
121
Franz Mehring: Die Lessing-Legende. Zur Geschichte und Kritik des preussischen Despotismus und der klassischen Literatur (Bücherei des Marxismus-Leninismus, Bd. 25). Berlin 1953, S. 388f. 122 Fick: Lessing-Handbuch, S. 367. 123 Joachim Müller: Wirklichkeit und Klassik. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Berlin 1955. 124 Nikolaus Almási: Lessings Hamburgische Dramaturgie (I). In: Weimarer Beiträge 3 (1957), S. 529-570, hier: S. 529. 125 Werner Rieck: Lessings Emilia Galotti. Versuch einer Analyse. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam 11 (1967) 2, S. 121-128, hier: S. 124. 126 Ebd.
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braucht, schwimmt von Beginn an »in dem breiten Strom der Rezensionen«127 mit. So hatte bereits Goethe 1814 (also retrospektiv) das Stück mit dem Zeitgeist der bevorstehenden Französischen Revolution zusammengebracht.128 Die Probleme und Ungenauigkeiten des marxistischen Ansatzes sind die folgenden: Erstens basieren alle antifeudalen Auslegungen auf einer starken Opposition zwischen Adel (Prinz) und Bürgertum (Galotti), die sich am Text streng genommen nicht belegen lässt. Ein Beispiel hierfür ist die Charakterisierung des Prinzen. Gonzaga ist sowohl Träger adeliger Attribute als auch (gerade was den Liebesdiskurs angeht) mit bürgerlichen, empfindsamen Eigenschaften ausgestattet. Dieses interpretatorische Problem lässt sich jedoch auflösen, wenn man nicht mit dem konkreten Ständekonflikt Adel/Bürgertum, sondern mit der Differenz Herrscher/Untertan argumentiert.129 Schwerer wiegt jedoch der zweite Einwand. Alle hier vorgestellten Interpretationen des Stücks als Revolutionsdrama deuten Odoardos Mord am eigenen Kind als Rettung vor dem Tyrannen; dabei macht Emilia im Text sehr deutlich, dass es ihre potenzielle Verführbarkeit ist – und nicht die Gewalt des Herrschers –, vor der sie durch den Tod gerettet werden muss.130 EMILIA[…] Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. […] Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten […] Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch. (V, 7) Und drittens lässt sich gegen die hier vorgestellten Ansätze ins Feld führen, dass diese, indem sie versuchen Lessings Intention durch die literarische Analyse aus dem Drama herauszulesen, zu stark biographistisch argumentieren. Wenn man sich auf dieses literaturtheoretisch problematische Vorgehen einlässt, rückt außerdem Lessings Ernst und Falk. Gespräche über Freimaurer als Gegenargument zur marxistischen Deutung in den Blick. In dieser Studie formulierte Lessing seine politische Utopie: Die »Weisesten und Besten« sollten an einer Reformierung der 127
Fick verweist darauf, dass der rezeptionsgeschichtliche Punkt, an dem die politische Rezeption von der persönlich-moralischen Kritik an Gonzaga in eine systemkritische Perspektive umschlägt, nicht mehr zu rekonstruieren sei. Fick: Lessing-Handbuch, S. 316. 128 Im 13. Buch von Dichtung und Wahrheit schreibt er: »Den entschiedensten Schritt jedoch tat Lessing in der ›Emilia Galotti‹, wo die Leidenschaften und ränkevollen Verhältnisse der höheren Regionen schneidend und bitter geschildert sind. Alle diese Dinge sagten dem aufgeregten Zeitsinne vollkommen zu.« Johann Wolfgang von Goethe (Hg.): Goethes Werke. Hg. v. Erich Trunz. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 9, München 1981, S. 569. 129 Vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 349. 130 Gisbert Ter-Nedden, Lessings Trauerspiele, S. 312f.
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Gesellschaft arbeiten, also gerade nicht an einer revolutionären Umwälzung der Verhältnisse. Ziel aller politischen Bemühungen müsse aber die Aufhebung der Trennungen zwischen den Ständen sein, so Lessing ganz im Einklang mit der aufklärerischen Staatsphilosophie.131 Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit einem Seitenblick auf eine Nachfahrin der marxistischen Deutung, nämlich auf die literatursoziologische Forschung zu Emilia Galotti, die anders als die marxistisch-politische Deutung nicht den Stückinhalt an einem »Ideal […] gesellschaftsverändernden Handelns«132 misst, sondern das Verhältnis zwischen den dargestellten Figuren und Handlungen und dem sozialen Kontext des 18. Jahrhunderts beschreibt. Angeregt wurde dieser Forschungszweig durch Jürgen Habermas (1962) und Reinhart Koselleck (1959) und er konterkariert sowohl das in den bundesdeutschen Schulen dominierende unpolitische Lessing-Bild als auch die schematische marxistische Lesart. Ansatzpunkt für die literatursoziologische Forschung ist die Erkenntnis, dass sich der starke Fokus auf die Opposition von Adel und Bürgertum sozialhistorisch und mentalitätsgeschichtlich nicht halten lässt: Die bürgerlichen Akteure waren im Deutschland des 18. Jahrhunderts noch stark in die Hierarchien der absolutistischen Fürstenstaaten integriert und dadurch noch nicht zu jener Emanzipation fähig, wie sie die Akteure des 19. Jahrhunderts leisteten. Exemplarisch für die Anwendung dieses Ansatzes auf Emilia Galotti sind die Arbeiten von Karl Eibl und Günter Saße.133 Die Arbeiten von beiden korrigieren einige der Unsauberkeiten der marxistischen Forschung und haben gerade bei der Frage nach den Familienkonstellationen im bürgerlichen Trauerspiel bis heute einschlägige Erkenntnisse hervorgebracht. Beide Autoren ersetzen die »These vom Ständegegensatz mit Revolutionstendenz«134 gegen die Opposition von Hof und (bürgerlicher) Familie; dadurch verschiebt sich der inhaltliche Fokus von der politischgesellschaftlichen Emanzipation auf die Frage nach der Möglichkeit von »Identitätsfindung bzw. Identitätskrisen angesichts sozialer Verschiebungen und Umbrüche«.135 Es ist demnach gerade nicht der Ständegegensatz, der den grausamen Schluss provoziert, sondern die Auflösung der Ordnung, die verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche – Familie, Politik und Liebe – aus den Fugen geraten lässt. Das lässt sich exemplarisch an den Hauptfiguren durchspielen: Odoardo scheitert am Widerspruch von autoritärem Familienherrscher und empfindsam-zärtlichem
131 132 133
134 135
Vgl. Lützeler: Die marxistische Lessing-Rezeption (II), S. 53. Fick: Lessing-Handbuch, S. 351. Vgl. Eibl: Identitätskrise und Diskurs; Günter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 95). Berlin/Boston 1988. Fick: Lessing-Handbuch, S. 349. Ebd., S. 351.
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Vater. Hettore Gonzaga erlaubt sich »bürgerliche Gefühle und fällt damit aus der ihm zugewiesenen sozialen Rolle, gerät in Unruhe […], weil fürstliche und bürgerliche Handlungspartitur miteinander interferieren«.136 Die von Heeg und Thalheimer ignorierten Kontexte von Emilia Galotti sind hier so ausführlich beschrieben worden, um deutlich zu machen, was im letzten Kapitel der Fallstudie anhand des Ost-West-Kampfs ums DT plausibilisiert werden soll: nämlich dass durch das Nicht-Zeigen bestimmter Dimensionen des Textes in Thalheimers Inszenierung die deutliche Abkehr vom sozialistischen Erbe des Deutschen Theaters vollzogen wird.
5.4
Thalheimers Emilia Galotti und das Theater der Reduktion (3. Ebene, Inszenierungsanalyse)
Forschung und Theaterkritik sind sich einig darin, dass »Reduktion«137 die zentrale ästhetische Strategie in Thalheimers Emilia Galotti (Premiere: 27.9.2001)138 ist: Variiert wird diese These je nach Interpret/in jedoch dahingehend, was als ›Extrakt‹ am Ende des Reduktionsprozesses übrigbleibt. Hajo Kurzenberger sieht in Thalheimers Emilia Galotti alles auf die »Tragödie des erotisierten Gefühls und des leeren Liebesverlangens«139 zugeschnitten. Für Björn Hayer ist Thalheimers Emilia Galotti »durch und durch eine Mustergestalt existenzialistischen Geworfenseins in die Lebenswirklichkeit«.140 Dazu kürze Thalheimer alles, was nicht »auf die personae dramatis«141 fokussiere. Hayer argumentiert als Literaturwissenschaftler mit der Galotti-Interpretation von Ter-Nedden: Thalheimer inszeniere, wie die Figuren den »Sündenfall der Egozentrik«142 begingen, es finde keine funktionierende Kommunikation zwischen ihnen statt. Auch viele der Theaterkritiken legen ihren Schwerpunkt auf den Aspekt der misslingenden Kommunikation in Thalheimers
136 137
Eibl: Identitätskrise und Diskurs, S. 147f. Vgl. dazu: Peter M. Boenisch: ›Exposing The Classics: Michael Thalheimer’s Regie beyond the Text‹. In: Contemporary theatre review 18 (2008) 1, S. 30-43. 138 Emilia Galotti wurde bis August 2008 162-mal gespielt; davon 42-mal als Gastspiel u.a. in Hannover, Hamburg, Belgrad, Rom, Wiesbaden, Duisburg, Mexicocity, Guanajuato, Bozen, Bogotá, Recklinghausen, New York, Moskau, Tokio, Winterthur und Dublin. Vgl. Roland Koberg u. Oliver Reese (2008): Deutsches Theater Berlin 2001-2008, S. 19. 139 Hajo Kurzenberger: Aufführungsanalyse im Deutschunterricht. Ein Vergleich der ›Emilia Galotti‹-Inszenierung von Thomas Lanhgoff (1984) und Michael Thalheimer (2001). In: Der Deutschunterricht (2004) 1, S. 5-17, hier: S. 11. 140 Björn Hayer: Die Bezuglosen. Michael Thalheimers Inszenierung von Lessings ›Emilia Galotti‹ (2001). In: Recherches germaniques 46 (2016), S. 5-20, hier: S. 17. 141 Ebd., S. 5f. 142 Fick: Lessing-Handbuch, S. 370.
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Inszenierung: Die Figuren in Emilia Galotti schritten, so zum Beispiel Irene Bazinger in ihrer Kritik in der Welt, wie auf einem Laufsteg der Eitelkeiten herein: Nichts als coole, lässige Fassade – vor verzweifelter Einsamkeit und Leere. Sie wollen so gern berührt werden – und tun trotzdem alles, um es zu vermeiden. Ihre modische Kleidung tragen sie als Kettenhemd aus Selbstherrlichkeit und Größenwahn.143 Bei Natalia Kandinskaia rückt hingegen die formale Radikalität von Thalheimers Emilia Galotti in den Fokus: Nicht so sehr die Figurenkonstellationen und -ausgestaltungen interessieren sie, sondern die ästhetische Eigenlogik von Thalheimers Arbeit. Sie kann überzeugend zeigen, dass das Inszenierungsprinzip von Thalheimers Abend im »Kern auf der Dissonanzen erzeugenden Spannung zwischen formaler Reduktion und emotional-psychologischem Exzess basiert«.144 Ich möchte im Folgenden an Kandinskaia anknüpfen und ihre These dahingehend erweitern, dass Thalheimer mit dem Spannungsgefüge zwischen reduziertem Formalismus und Exzess die (im vorangegangenen Kapitel dargelegte) paradoxale Tiefenstruktur von Lessings Drama ins Bild setzt. Thalheimers »Trick« (so bezeichnet Neuenfels die gesamte Inszenierung) ist die Übersetzung der textimmanenten Widersprüche, die sich, wie ich gezeigt habe, aus dem Genre-, dem Geschwindigkeits- und dem Sinnlichkeitsparadox speisen, in die ›sinnlichen‹, audio-visuellen Ausdrucksmöglichkeiten des Theaters. Seine zentralen Stilmittel sind hier die Verschränkung komödiantischer und tragischer Elemente, die Verweigerung eines ›natürlichen‹ Spiels, die groteske Körperlichkeit der Schauspieler und das Spiel mit Dissonanz und Harmonie durch die Bühnenmusik von Bert Wrede. Hinzu kommt, dass Thalheimers Abend Regie-Theater ist, denn er kürzt nicht einfach nur radikal, sondern er greift verändernd in die Dynamik der Vorlage ein: Thalheimer kreiert ein »Ende ohne Ende«145 mittels eines atmosphärischen Schlussbildes, das die Darstellung der Tötung Emilias in den Bereich des Symbolischen verschiebt. Thalheimers Schluss produziert, so wird zu zeigen sein, an der Stelle Harmonie, wo Lessings Vorlage die Konflikte nur zum Preis der Sichtbarmachung des weiblichen Opfers auflösen kann. Meine nun folgende Inszenierungsanalyse setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Zunächst liegt der Schwerpunkt darauf, zu zeigen, wie die paradoxale Struktur von Lessings Text, insbesondere das Genreparadox, einen großen Teil der Inszenierung durchdringt. Dies werde ich besonders anhand der Spielfassung, der
143
Irene Bazinger: In achtzig Minuten um Lessings Welt. [https://www.welt.de/kultur/theater/a rticle4100158/In-achtzig-Minuten-um-Lessings-Welt.html (11.8.2019)]. 144 Vgl. Natalia Kandinskaia: Postmoderne Groteske – groteske Postmoderne? Münster 2012, S. 140. 145 Kurzenberger: Aufführungsanalyse im Deutschunterricht, S. 7.
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Bühne und der grotesken Körperlichkeit zeigen. Im zweiten Schritt fokussiere ich dann stärker auf Thalheimers ›Surplus‹. Hier rücken das Spiel mit Harmonie und Dissonanz, die Bedeutung des Walzers und die eigene Dynamik der Inszenierung in den Fokus. Die Basis für die Analyse stellt der von Hans Rossacher erstellte Fernsehmitschnitt dar, der bereits 2002 in der Theater edition auf DVD erschien.146
5.4.1
Spielfassung, Bühne und groteske Körperlichkeit als Übersetzungen der Paradoxie des Texts
Thalheimers Strichfassung147 , die er zusammen mit dem Dramaturgen Hans Nadolny erstellte, kürzt Lessings Text radikal: Es fehlt ein Drittel der Aufzüge. Die Fassung verzichtet konsequent auf alles, was eine konkrete Verortung in den historischen Konflikten des 18. Jahrhunderts möglich macht; der Ständekonflikt wird ebenso de-thematisiert wie Verweise auf religionsphilosophische Fragen der Zeit, wie zum Beispiel die Frage nach dem Selbstmord als theologischem Problem. Das reduktionistische Konzept von Thalheimer zeigt sich außerdem im Verzicht auf alle Nebenhandlungen. So fehlt in seiner Fassung die Szene mit dem Maler Conti und damit auch die Exposition von Emilia als Beschreibung ihrer Repräsentation. Der Verzicht auf die Szene mit Camillo Rota verstärkt wiederum den Effekt, dass Hettore Gonzaga nicht als absolutistischer Herrscher inszeniert wird, sondern dass er wie in der Interpretation von Ter-Nedden als ein empfindsamer Liebeskranker dargestellt wird. Aufgrund der Tatsache, dass die Schlussszene in ein offenes Ende transformiert wird, was ich später noch genau ausführen werde, wird auch die Frage nach der Schuld an Emilias Tod nicht mehr auf der Bühne thematisiert. Thalheimers Textfassung stellt somit eine Privatisierung des Konflikts her und es gilt für die Fassung noch viel mehr das, was Lessing selbst über sein Stück behauptete: »nehmlich die Geschichte der römischen Virgnia von alldem abgesondert« zu haben, »was sie für den ganzen Staat interessant machte«.148 Der thematische Zuschnitt der Textfassung bewirkt zudem eine dramaturgische Konzentration auf die Intrigenstruktur149 und eine schroffe Konturierung der Genrespannung zwischen Tragödie und Komödie. Letztere zeigt sich besonders in den rapiden Emotionsumschlägen der Figuren, dem hohen Tempo der (Zufalls )Dramaturgie sowie einer starken Abschwächung der Handlungsmacht der Figuren.
146 Hans Rossacher: Gotthold Ephraim Lessing. Emilia Galotti (DVD). Berlin 2002. 147 Da mir die Strichfassung von Thalheimer und Nadolny nicht vorlag, habe ich mir diese aus einem Vergleich zwischen der Videoaufzeichnung und Lessings Text erschlossen. 148 Lessing im Brief an Nicolai, 21. Jan 1758. 149 Die Intrigenkomödie ist dramengeschichtlich ein Vorläufer des bürgerlichen Trauerspiels.
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Wie die Genres hybridisierende Tiefenstruktur von Emilia Galotti von Thalheimer in die audiovisuellen Ausdrucksmöglichkeiten übersetzt wird, möchte ich nun am Beispiel des Bühnenbilds, der Sprechweise und der Körperlichkeit der Schauspieler/innen ausführen.
Abbildung 25: Das Bühnenbild von Olaf Altmann in der ersten Szene. Vorne rechts der Prinz, Hettore Gonzaga (Sven Lehmann), und Marinelli (Ingo Hülsmann)
Quelle: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (aus DVD Emilia Galotti inszeniert von Michael Thalheimer erschienen bei Die Theateredition). (c) 2021 Naxos Deutschland Musik &Video Vertriebs-GmbH.
Das von Olaf Altmann konzipierte Bühnenbild wirkt zunächst »streng geometrisch«150 und minimalistisch-reduziert. Zwei fast raumhohe mit Parkett vertäfelte Wände begrenzen die Bühne links und rechts und laufen trichterförmig auf einen Durchgang zu, der ins Dunkle der Hinterbühne führt. Durch die begrenzenden Wände entsteht in der Bühnenmitte eine Art (auch mit Parkettboden ausgelegter) Laufsteg, der von den Figuren (einzeln oder als Paar) immer wieder auf demselben Weg – aus dem Durchgang kommend an der Rampe haltend und ins Publikum sprechend – abgeschritten wird. Der Parkettboden als dominantes Material lässt die Bühne »glatt und kühl [wirken], so dass sich das Auge vollständig auf die Darsteller und ihre Bewegungen konzentrieren kann«151 ; auch das (ebenfalls von Alt150 Kandinskaia: Postmoderne Groteske, S. 138. 151 Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater (Theater der Zeit Recherchen, Bd. 46). Berlin 2007, S. 211.
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mann entworfene) Kostümbild hat diesen Effekt, es basiert auf modernen, klaren Schnitten und es gibt keinen Schmuck oder Verzierung. Das Bühnenbild zwingt durch seinen geometrischen Aufbau die Figuren auf einen ausweglosen ›Catwalk‹: Die formale Strenge dieser Situation wiederholt sich auch im Bewegungsarsenal der Schauspieler/innen. Sie reagierten, so Schouten, mit betont aufrechte[r] Haltung, […] reguliert gesetzten Schritte vom Bühnenhintergrund bis zur Rampe [auf] […] die strenge Lineraität des Raumes. Seine Zentralperspektive spiegelt sich hier in den rhythmischen Bewegungen der Sprache und der Gänge: Stets ist das Hin und Her der sich im Raum Bewegenden von einem vorwärts treibenden […] Rhythmus bestimmt.152 Im Verlauf des Stücks bricht die starre Raum- und Bewegungsordnung jedoch auf: Die Wände bestehen aus einzelnen Paneelen, die wie Türen geöffnet werden können. Insbesondere in den auf Dosalo spielenden Szenen nutzt Gonzaga die Türen zum Verstecken und Flüchten, was für Situationskomik sorgt und die Handlung komödientypisch beschleunigt. Indem sich die Ausweglosigkeit symbolisierenden Wände hier in ein subtiles Zitat auf die Türschlagkomödie verwandeln, gibt Altmanns Bühnenbild der Genre-Spannung von Lessings Drama einen visuellen Ausdruck. Die Arbeit an der Genre-Spannung wird auch in der Schlussszene virulent: Odoardo öffnet für die letzte Szene alle Wandpaneelen und geht von der Bühne ab. Emilia verbleibt allein auf der Bühne mit der Waffe und die Bühne wird in dunkles Licht getaucht. Die Tötungsszene fällt somit aus bzw. wird in ein rätselhaftes Bild transformiert: Aus allen Wandpaneelen erscheinen plötzlich Walzer tanzende Paare und durch geschickte Inszenierung – Emilia verschwindet in dem Moment von der Bühne, als alle Tanzpaare den Blick auf die Tür verhindern – wirkt es, als würde sie von den Tanzenden ›verschluckt‹. Die Tänzer/innen sprengen durch die kreisförmigen Tanzbewegungen auf der sich durch die offenen Türen neueröffneten Querachse die Linearität des Raums und der Bewegungssprache. Dadurch wird auch die vermeintlich zielstrebig auf die Katastrophe zulaufende Dramaturgie der Tragödie gestört und in ein offenes Ende transformiert. Die Bühne (insbesondere, wenn man die Tanzpaare als Teil der visuellen ›Ausstattung‹ deutet) übernimmt damit eine epische Funktion. Es kommt zu der für die Komödie typischen Dominanz von Dingen und Ereignissen über die Handlungsmacht der Figuren.
152
Ebd., S. 212.
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Abbildung 26: Die Schlussszene: Emilia (Regine Zimmermann) in der Bühnenmitte, von links und rechts treten die Tanzpaare auf.
Quelle: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (aus DVD Emilia Galotti inszeniert von Michael Thalheimer erschienen bei Die Theateredition). (c) 2021 Naxos Deutschland Musik &Video Vertriebs-GmbH.
Noch stärker zeigt sich die Verschränkung von Komödien- und Tragödienelementen an der Spiel- und Sprechweise der Schauspieler/innen: Es scheint, als läge den Figuren nichts am Inhalt des Gesagten, sondern als würden sie vielmehr vom Rhythmus ihrer Dialoge ergriffen und hierbei auf seltsame Weise fremdbestimmt; als zwänge sie die rhythmisierende Kraft des stimmlichen Wechsels dazu, ihre schnelle Rede zwanghaft fort- und weiterzuführen.153 Der Text wird zu großen Teilen von den Schauspieler/innen ›runtergerattert, das heißt nicht gemeint und selbst empfunden. Im Rekurs auf Heeg lässt sich das eindeutig mit der Textstruktur zusammenbringen: Thalheimer glättet die Natürlichkeits-Widerstände von Lessings Text nicht, sondern radikalisiert sie und bringt sie hart zur Geltung. Wenn Heeg zeigt, dass der Dialog bei Lessing so schnell vorprescht, dass eine natürliche Verkörperung unmöglich ist, dann 153
Ebd., S. 211.
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setzt Thalheimers Inszenierung dieses Element der Textstruktur dadurch um, dass seine Schauspieler in Höchstgeschwindigkeit sprechen und die Körper sich dazu »fast automatenhaft[…]«154 verhalten. Doch dann wiederum sind es gerade diese »menschliche[n] Roboter«, die die für Emilia Galotti maßgebliche Dialektik von Tragik und Komik vorführen, indem sie momenthaft aus der »sterile[n] Mechanik« und der »der streng choreografierten Bühnenwelt« ausbrechen:155 Dabei sind drei grundlegende Störungsarten des Modus Operandi der Inszenierung zu unterscheiden: zum einen das Auseinandertreten von Sprache und Geste, zum zweiten die eruptiv-grotesken Emotionsausbrüche und zum dritten die kleinen fast flapsigen Gesten. Sprache und Gestik treten in der Inszenierung oft auseinander oder werden sogar in Kontrast zueinander eingesetzt. Dies ergibt sich vor allem aus den komödientypischen schnellen Wechseln zwischen emotionalen Zuständen und der Tatsache, dass der Text oft schon weiter ist als der dargestellte Emotionshaushalt der Figur. So sagt Marinelli zum Beispiel zu Gonzaga, nachdem dieser ihm freie Hand für seine Intrigen gewährt hat: »Gut, dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren!«. Die Szene friert daraufhin für 16 Sekunden ein. Marinelli und Gonzaga starren regungslos ins Publikum während dieser Pause. Statt also das hohe Tempo umzusetzen, das der Text hier fordert, wird die Szene angehalten. Es gibt auch den gegenteiligen Fall: Aus Lessings Vorlage gekürzter Text wird oft nur kurz pantomimisch dargestellt, so zum Beispiel die Freude Gonzagas über das geglückte Attentat auf Appiani. Die zweite Strategie, mittels derer die Inszenierung die »Maschine Emilia Galotti« stört, sind die großen Emotionsausbrüche, die die Figuren mittels explosiver und überzeichneter Körpersprache darstellen: »Immer wieder reißen sich die Männer die Jacketts herunter und den Hemdkragen auf, lassen keuchend den emotionalen Überdruck heraus.«156 In der Szene, in der Marinelli Gonzaga darüber informiert, dass Emilia Appiani heiraten werde, wirft sich Gonzaga auf den Boden. Wenn Marinelli und Appiani ihr Zwiegespräch führen, verliert Marinelli die Fassung. Auch die Gesichter bringen groteske Emotionen zum Ausdruck, etwa durch übertrieben weit aufgerissene Augen oder eine herausgestreckte Zunge. Diese exaltierten Affekte sind natürlich nicht in den Nebentexten von Lessing zu finden, und doch sind sie keine stückfremden Erweiterungen, sondern sie verweisen auf die Probleme bei der Verkörperung dieses Stücks; zeigen die Leerstellen und Sprünge, die das Tempo des Dialogs herstellt und die ›natürlich‹ nicht gefüllt werden können. Es wird eine Lesart von Lessings Stück entworfen, die bei allen Figuren
154 155 156
Ebd., S. 212. Ebd., S. 213. Michael Bienert: Destruktive Leidenschaft. In: Stuttgarter Zeitung vom 5. Oktober 2001. [htt p://home.snafu.de/michael.bienert/emilia.html (29.09.2019)].
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hinter der Sprache einen Affektstau annimmt. Thalheimer kommentiert entsprechend auch: »Mich interessieren die verborgenen Leidenschaften, die in den Figuren schlummern.«157 Thalheimers Inszenierung basiert auf der Einfühlung in die Figuren (ein Verfahren, dem sich der/die seriös argumentierende Literaturwissenschaftler/in nicht bedienen kann) und gibt ihnen Momente, sich von den angestauten Affekten zu befreien: So besiegelt Appiani seinen Wutausbruch gegenüber Marinelli auch flüsternd mit den zum Lessingtext hinzugefügten Worten: »Das hat ja gut getan!«
Abbildung 27 und 28: Beispiele für die Darstellung exaltierter Affekte: Links schreit Marinelli (Ingo Hülsmann) Appiani (Henning Vogt) an (bei Lessing II, 11), rechts wirft sich Marinelli im Gespräch mit dem Prinzen verzweifelt auf den Boden (IV, 1).
Quelle: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (aus DVD Emilia Galotti inszeniert von Michael Thalheimer erschienen bei Die Theateredition). (c) 2021 Naxos Deutschland Musik &Video Vertriebs-GmbH.
Ein weiteres Stilmittel, um dem Affektstau der Figuren Ausdruck zu verleihen, ist der gewaltvolle Kuss: Orsina küsst unvermittelt Marinelli und setzt damit ihre eigentlich zynisch intendierte Metapher »Küssen möcht‹ ich den Teufel, der ihn dazu verleitet hat!« (IV, 6), mit der sie die Intrige von Marinelli und Gonzaga aufdeckt, in die Tat um. Wenige Szenen später wiederum wird Orsina dann gewaltvoll von Odoardo geküsst. Die Küsse sorgen aufgrund der Tatsache, dass sie sehr plötzlich passieren und durch die Handlung nicht motiviert sind, für einen komischen Effekt; man hört das Publikum lachen. Gleichzeitig sind sie als die symbolische Entladung der omnipräsenten Unterdrückung allen Sinnlichens in Lessings Stück zu lesen: Nicht nur Emilia, so suggeriert der Abend, sondern auch die anderen Figuren leiden unter und befreien sich von dem Zwang zur Triebkontrolle: Orsina, die ansonsten im Stück ähnlich wie Emilia und Claudia nie die Fassung verliert, agiert sich sexuell157
Anonymus: ›Verborgene Leidenschaften‹. Interview mit Michael Thalheimer. In: Berliner Morgenpost (8.2.2002).
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Abbildung 29 und 30: Gewaltvolle Küsse: Links küsst Orsina (Nina Hoss) Marinelli (Ingo Hülsmann), rechts küsst sie Odoardo (Peter Pagel) (Quelle: DVD).
Quelle: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (aus DVD Emilia Galotti inszeniert von Michael Thalheimer erschienen bei Die Theateredition). (c) 2021 Naxos Deutschland Musik &Video Vertriebs-GmbH.
aggressiv an Marinelli ab und beansprucht so eine eigentlich männlich-konnotierte Geste für sich. Und wenn Odoardo Orsina küsst, zeigt er sich als mindestens so verführbar wie seine Tochter. Die eruptiven Exaltiertheiten fungieren damit auch als eingreifende Kritik am dargestellten Tugendrigorismus und sind gleichzeitig ein Lacher produzierendes Stilmittel. Sie erzeugen Situationskomik durch ihre Plötzlichkeit und ihr fast kindliches Ausdrucksspektrum. Das gegenläufige ästhetische und dritte hier ausgeführte Verfahren, das für Unterbrechung und kontrastreiche Rhythmisierung der »sterilen Mechanik«158 der Inszenierung sorgt, ist das Spiel mit kleinen »flapsige[n] Gesten«159 in Momenten der Sprachlosigkeit: »Sie reicht vom Pieksen, Schnippen, den Zeigefinger in den Bauch-Stechen über imaginiertes Streicheln bis zu ausgestreckten Armen oder gespreizten Fingern.«160 Anders als die großen Gefühlsausbrüche, die fast zu Pathosformeln gerinnen und damit auf eine universelle Lesbarkeit zielen, gehören die kleinen Gesten nicht in das Alltagsrepertoire der Gefühlsausdrücke. Sie seien, so Kurzenberger, »neu erfunden« und »ungewöhnlich« und ihre Deutungen seien »gänzlich vom Kontext abhängig und zugleich zweideutig offen«.161 Zum Zeigefingerstoß fragt Kurzenberger zum Beispiel: »Weiß da jemand nicht, wohin mit seinen Gefühlen, richtet er seine Aggression gegen sich oder provoziert er den anderen?«162 Zugleich werden die kleinen Gesten jedoch von verschiedenen Figuren aufgegriffen und wiederholt. 158 159 160 161 162
Kandinskaia: Postmoderne Groteske, S. 149. Ebd. Kurzenberger: Aufführungsanalyse im Deutschunterricht, S. 14. Ebd. Ebd.
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Abbildung 31 und 32: Marinelli (Ingo Hülsmann) wird von Hettore Gonzaga (Sven Lehmann) in den Bauch gepiekt. Rechts: Wenig später piekt Marinelli Appiani (Henning Vogt) in den Bauch.
Quelle: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (aus DVD Emilia Galotti inszeniert von Michael Thalheimer erschienen bei Die Theateredition). (c) 2021 Naxos Deutschland Musik &Video Vertriebs-GmbH.
Hierdurch, so meine These, unterminiert die Inszenierung eine Individualisierung der Charaktere – es könnten sonst nämlich gerade diese kleinen Idosynkrasien sein, die das Phantasma des natürlichen Ausdrucks entstehen lassen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Thalheimer feines Gespür für die intertextuellen Widersprüche und Spannungen von Lessings Drama beweist: Er verleiht der Paradoxie des Texts durch das kontrastierende Wechselspiel von Affektausbrüchen und der automatenhaften Körperbeherrschung Ausdruck; die Inszenierung kreiert eine Art des Sprechens, die den Text zum komischen »Gegensinn«163 macht, der gegen den »Fetisch des Lebendigen«164 des bürgerlichen Repräsentationstheaters gerichtet ist.165
5.4.2
Das Spiel mit Dissonanz und Harmonie
Bis hierhin wurde gezeigt, wie sich Thalheimers Inszenierung als Umsetzung der Textstruktur von Lessings bürgerlichem Trauerspiel lesen lässt. Nun soll die Perspektive geändert werden: Im Folgenden möchte ich darlegen, was Thalheimer zum Galotti-Material hinzufügt, was dem Abend Autonomie gegenüber der Vorlage verleiht: Das zentrale Paradigma, das keine Entsprechung bei Lessing hat, also als Thalheimers ›Surplus‹ anzusehen ist, ist »die Rhythmisierung und Musikalisierung
163
Vgl. zum Konzept des Gegensinns in der Komödie: Franziska Schößler: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 2008, S. 41. 164 Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 244. 165 Vgl. Schößler: Einführung in die Dramenanalyse, S. 35.
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aller Grundelemente«166 entlang der Theatermusik von Bert Wrede. Wrede hat für Emilia Galotti den Walzer Yumei’s Theme aus dem Film In the Mood for Love (Regie: Wong Kar-Wai, Hong Kong 2001) adaptiert und in eine 80-Minuten-Version verlängert. Hierdurch wird auch der Film zum intertextuellen Kontext des Theaterabends: […] nach und nach bemerkt man, dass Michael Thalheimer seinem Lessing Atmosphäre, Rhythmus und Attitüde des Moldramas von Wong Kar-Wai unterlegt und überstülpt. Die langen, dräuenden Gänge der Helden, dieses Neben-Sich und Nebeneinander-Stehen, diese exotische Stilisierung von Begegnung und Begierde, dieses Rituell-Sich-Aufsparende der Liebenden – all das erklärt sich aus der filmischen Inspiration.167 Die Melodik von Wredes Violinen, andere Instrumente sind nicht zu hören, entwickelt sich dadurch, dass sie Dissonanzen nicht aufhebt, sondern in immer neue dissonante Variationen überführt.168 Dadurch entsteht eine musikalische Dynamik, die einen permanenten Spannungszustand aufrechthält, der erst von der (von Thalheimer gegenüber der Vorlage stark veränderten) Schlussszene aufgelöst wird. Textlich unterscheidet sich Thalheimers Fassung vom Dramentext dahingehend, dass es offenbleibt, ob Emilia stirbt: Dazu ist unter anderem der gesamte letzte Auftritt gestrichen, in dem Gonzaga und Marinelli zur Sterbeszene hinzutreten. Der Dialog zwischen Emilia und Odoardo, der bei Lessing damit endet, dass Odoardo seine Tochter auf ihr Verlangen hin ersticht, ist bei Thalheimer auf das folgende kurze Gespräch reduziert. Die beiden stehen einige Meter voneinander entfernt und strecken die Arme nacheinander aus, können sich aber nicht berühren – ein Symbol für das ausbleibende Verständnis zwischen ihnen: ODOARDO So ruhig meine Tochter? EMILIA Warum nicht, mein Vater? Entweder ist nichts verloren, oder alles. Ruhig sein können, und ruhig sein müssen: kömmt es nicht auf eines? ODOARDO Aber, was meinest du, dass der Fall ist? EMILIA Dass alles verloren ist; – und dass wir wohl ruhig sein müssen, mein Vater. ODOARDO Und du wärest ruhig, weil du ruhig sein musst? Wer bist du? Was nennst du alles verloren? EMILIA Alles. ODOARDO Ich meine du bist so ruhig mein Kind. EMILIA Das bin ich. Aber was nennen Sie ruhig sein? Mir mein Vater, mir geben Sie diese Waffe! 166 Kandinskaia: Postmoderne Groteske, S. 133. 167 Rüdiger Schaper: »Emilia Galott«: Sturm und Zwang. [https://www.tagesspiegel.de/kultur/e milia-galotti-sturm-und-zwang/259670.html (1.6.2019)]. 168 Kandinskaia: Postmoderne Groteske, S. 148.
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ODOARDO. Auch du hast nur ein Leben zu verlieren. EMILIA Ich bin aus Fleisch und Blut. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. Warum zögern Sie?169 Emilia brüllt den letzten hier zitierten Satz, der auch der letzte des Stücks ist. Es ist ihr einziger Emotionsausbruch und es bleibt offen, ob sie sich dadurch von den Tugendzwängen freigemacht hat oder nicht. Odoardo wiederum versucht mit seinem letzten Satz Emilia von ihrem Todeswunsch abzubringen, doch lässt er die Waffe auf der Bühne zurück und geht dann ab. Thalheimers Odoardo ist dadurch ein ganz anderer als der Lessings: Während Odoardos Zweifel in der Textvorlage durch Emilia beseitigt werden und er sie auf ihr Verlangen hin tötet, zeigt Thalheimer Odoardo als resigniert, mut- und kraftlos. Emilia bewegt sich nach dem Abgang von Odoardo auf den Durchgang am hinteren Ende der Bühne zu, kehrt jedoch, kurz bevor sie ins Dunkle der Hinterbühne abgeht, um: Dieser Richtungswechsel ist lesbar als Entscheidung gegen den selbst gewählten Tod, als das Ergebnis ihres Wutausbruchs wenige Sekunden zuvor und er gibt das Zeichen für den Auftritt der Tänzer/innen: Die Tanzpaare überqueren die Bühne von links und rechts kommend in den für den Wiener Walzer typischen großgezogenen Kreisbewegungen und sorgen für den oben bereits beschriebenen Effekt, dass es so scheint, als würde Emilia von ihnen verschluckt. Das Schlussbild ist damit ambivalent und bleibt offen: Einerseits ist das Bild ›düster‹; schließlich geht sie in einer Menge von schwarz gekleideten und damit an eine Beerdigung erinnernden Tanzpaaren unter. Andererseits hebt diese »unerwartete Choreografie«, so Schouten, die gesamte atmosphärische Anspannung der Aufführung auf. Die plötzliche Weitung des Raumes durch die geöffneten […] Türen, die Auflösung der geometrischen Strenge der Bewegung, vor allem jedoch das vollständige Ineinsgehen der Tänzer/innen mit dem Walzertakt befreien den Zuschauer von der zuvor dominanten rhythmischen Unstimmigkeit und ihren divergenten atmosphärischen Wirkungen der Wehmut und Kühle.170 Besonders die Rhythmusgestaltung der Musik hat großen Anteil daran, dass das Schlussbild Harmonie suggeriert: Mit dem Auftreten der Tänzer/innen verschiebt sich nämlich auch die Betonung des Takts vom über die gesamte Inszenierung hinweg ›falsch‹ betonten zweiten und dritten Schlag (hum-TA-TA) hin zu der für diesen Tanz typische Betonung des ersten Schlags (HUM-ta-ta). Der Walzer stellt in diesem Moment also eine Atmosphäre musikalischer und tänzerischer Harmonie her.
169 Eigene Mitschrift aus dem Aufführungsvideo; vgl. bei Lessing V,7. 170 Schouten: Sinnliches Spüren, S. 215.
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Auch Kandinskaia betont, dass die Schlussszene damit »einen Moment der Stimmigkeit [kreiere], die im Kontrast zu den zahlreichen vorangegangen Dissonanzen als harmonische Übereinstimmung empfunden wird«171 : Vorbereitet durch die Momente akustisch-visueller Kongruenz ermöglicht die Szene so, die rhythmischen Dissonanzen der Aufführung in die Harmonie einer einzigen, nunmehr von allen szenischen Elementen homogen erzeugten Atmosphäre der Melancholie zu überführen.172 Nähert man sich der Szene jedoch von der Geschichte dieses in seiner Urform oft als ›Dreher‹ bezeichneten Tanzes, zeigt sich, dass Thalheimers Schluss in keiner Weise einen utopischen Ausbruch für Emilia bedeutet – etwa in dem Sinne, dass sie in der Menge der Tänzer/innen wie auf einem Tanzball aus dem Tugend-Diskus der Vorlage ausbrechen kann –, sondern dass der Walzer als eine bürgerliche Bewegungspraxis par excellence zu gelten hat. Denn der Walzer (und als Höhepunkt der Wiener Walzer) ist die »Zur-Schau-Stellung einer beherrschten, einer neuen domestizierten Körperlichkeit«.173 Der Walzer hat zwar seine Ursprünge in den körperbetonten, bayrisch-österreichischen Volkstänzen,174 die noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Obrigkeiten unter Androhung von Strafe verboten waren und eindeutig antifeudal waren: Die Paare in beliebiger Zahl, sind Ordnungseinheit und auf sich bezogen […]: ›Air‹, ›Grace‹, ›Balance‹ [wie sie für die adeligen Schreit- und Gruppentänze wichtig waren, Anm. H.S.] sind durch freie, wirbelnde Bewegungen ersetzt; der Charakter des Tanzes ist ein indivualisiert-egalitärer und kein hierarchisierter.175
171 172 173
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175
Vgl. Kandinskaia: Postmoderne Groteske, S. 151. Ebd., S. 148. Sarah Wendel: Herzschlag im Walzertakt? – Musik und Rhythmus in Thalheimers Inszenierung »Emilia Galotti« am Deutschen Theater Berlin. Studienarbeit, Johannes-GutenbergUniversität Mainz, S. 20. Der Walzer »ist ein Paarentanz, und zwar nach seiner Form ein Rundtanz, dessen alter Name ›Dreher‹ […] sehr bezeichnend war. Er stellt die zur Fröhlichkeit sich einigenden, traulich umfassenden Paare in leicht drehender (walsender) Bewegung da, die eine doppelte ist: denn einmal dreht sich jedes Paar um seinen eigenen Mittelpunkt, und zweitens bewegt es sich in einer größeren Kreislinie fort, bis es wieder an seinen Ort gelangt.« John Schikowski: Geschichte des Tanzes. Berlin 1926, S. 63f. Rudolf Braun u. David Gugerli: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550-1914. München 1993, S. 178f.
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Doch ab 1790 kann der Tanz als gesellschaftlich legitimiert angesehen werden und feierte im 19. Jahrhundert als »Symbol von Bürgerlichkeit«176 und einer »Geschlechterharmonie«177 , in der selbstverständlich die Herren führten: Zwischen Sinneslust und einer Aristokratisches mimenden Körperhaltung, zwischen Taumel und Zucht, Beherrschung und Entgrenzung verwandelte er sich in eine kulturelle Form, in der das System körperbezogener Selbstzwänge des Bürgertums seinen reinsten Ausdruck fand. […] Zugleich unterwarf er dieses der Beherrschung durch Musik und durch ein penibles System damit verbundener Bewegungs- und Verhaltensregeln.178 Wenn Heeg über Lessings Schluss schreibt, dass er »indem er das Opfer des Weiblichen weder leugnet noch verklärt, […] aller Gestalt, die Opfer der Verkörperung des väterlichen Gesetzes wurde, späte Gerechtigkeit widerfahren [läßt]«, dann haben wir es bei Thalheimer mit einer partiellen Verklärung, durch die Erzeugung harmonischer Melancholie, zu tun. Denn Emilias Tod wird in ein Bild bitter-süßer Melancholie transformiert, bei dem der Schritt, durch den Gonzaga nach Marinellis Meinung den Tanz (der Intrige) aus dem Takt gebracht hat, wieder im Rhythmus ankommt. Die Nicht-Darstellung der Tötung von Emilia ist nicht gleichzusetzen mit einer Umschrift von Lessings Stück im Sinne einer Emanzipation Emilias vom Tugendrigorismus. Denn ihr Verschwinden in der Masse der Tänzer transformiert ihre ›Opferung‹ nur in ein »Ende ohne Ende«.179 Mein Resümee zu Thalheimers Inszenierung lautet daher, dass sich Thalheimers Emilia zwar gegen Tod und für ein Weiterleben entscheidet, dass aber in den gleichen ›toten‹, lust- und sinnesfeindlichen Verhältnissen. Thalheimers Inszenierung ist in gewisser Weise damit reaktionärer als ihre Vorlage: Muss sich der Leser von Lessings Drama mit den tödlichen und verstörenden Konsequenzen des bürgerlichen Tugendrigorismus auseinandersetzen, wird der Zuschauer bei Thalheimer von einem harmonisierend-fatalistischen Schlussreigen überwältigt. An die Stelle der Darstellung von konkreten Machtbeziehungen tritt ein atmosphärisches Bild, das ein überzeitlich-fatalistisches Schicksal im ewig gleichen Walzertakt suggeriert. Das ist die Gegenthese zur marxistischen und sozialistischen Interpretation des Stücks als implizitem Revolutionsdrama, die in der DDR die dominierende Auslegung war. Dass Thalheimers Emilia Galotti stilbildend war für das Deutsche 176
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Ulrike Weckel: Geschlechterbeziehungen im Dreivierteltakt. Zum Aufstieg des Walzers in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Sandra Maß u. Xenia von Tippelskirch (Hg.): Faltenwürfe der Geschichte. Entdecken, entziffern, erzählen. Frankfurt, M., New York, NY 2014, S. 281-293, hier: S. 282. Ebd. Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik. Leipzig 1998, S. 70. Kurzenberger: Aufführungsanalyse im Deutschunterricht, S. 7.
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Theater der Nuller Jahre wurde hier schon erwähnt; im Folgenden werde ich nun zeigen, dass Thalheimers Emilia Galotti auch das Gegenbild zur Ära Langhoff und zur DDR-Tradition des Theaters ist. Dieser Umstand ist es, der Emilia Galotti auch in den Kontext des rigide geführten Ost-West-Kampfs um das Haus im Jahr 2004 einbindet, den es im Folgenden – als eine Form des Nachlebens von Emilia Galotti – zu analysieren gilt.
5.5
Das diskursive Nachleben von Emilia Galotti im Ost-West-Kulturkampf um das Deutsche Theater im Jahr 2004 (4. Ebene)
Wie schon an verschiedenen Stellen in diesem Kapitel dargelegt, ist mit Emilia Galotti in mehrerer Hinsicht ein Neuanfang verbunden: Ästhetisch hebt sich Thalheimers beim Publikum und der Kritik erfolgreiches180 konzeptionelles Regietheater stark vom Repräsentationstheater unter Langhoff ab, inhaltlich tilgt seine Inszenierung alle Bezüge zu einer sozialistischen Emilia Galotti-Lektüre und durch die materielle Reduktion auf der Bühne erhält Wilms ›Austeritätspolitik‹ ein populäres Bild. Im Folgenden wird nun die These entwickelt, dass die von Juni 2004 bis Januar 2005 hitzig geführte öffentliche Debatte um die Nichtverlängerung des Vertrags von Bernd Wilms und die zwischenzeitliche Berufung des Schriftstellers Christoph Hein die Kehrseite des Erfolgs von Emilia Galotti sind: Der Kultursenator Thomas Flierl entwirft eine Vision des Deutschen Theaters, die all jene Elemente, die Thalheimers Produktion so erfolgreich gemacht haben, in ihr Gegenteil verkehrt. Deshalb halte ich es für legitim, hier die als »Berliner Kulturkampf«181 oder auch »Ost-West-Krieg«182 bezeichnete Auseinandersetzung um das Deutsche Theater als Form des Nachlebens von Emilia Galotti zu behandeln. Virulent wird in der Auseinandersetzung um die Ausrichtung des Deutschen Theaters außerdem, dass auch 15 Jahre nach dem Mauerfall die kulturpolitischen Kämpfe um die Deutungshoheit auf dem gesamtdeutschen Theaterfeld noch
180 Willy Theobald kann in seiner Dissertation Alles Theater! Medien, Kulturpolitik du Öffentlichkeit zeigen, dass nur eine von 20 Rezensionen zu Emilia Galotti negativ ausfiel. Vgl. Willy Theobald: Alles Theater! Medien, Kulturpolitik und Öffentlichkeit. [https://refubium.fu-berlin.de/ bitstream/handle/fub188/4623/4_kap4.pdf?sequence=5&isAllowed=y (17.09.2019)], S. 269. 181 Harald Jähner: Was der nächste Intendant des Deutschen Theaters können muss: Falsche Fronten, alte Gräben. In: Berliner Zeitung vom 15.01.05. [https://www.berliner-zeitung.de/wa s-der-naechste-intendant-des-deutschen-theaters-koennen-muss-falsche-fronten--alte-grae ben-15707480 (22.09.2019)]. 182 Ebd.
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Das Deutsche Theater nach 1989
nicht beendet waren. Auch 15 Jahre nach dem Mauerfall wird der Ost-WestTheaterdiskurs stark zugespitzt geführt und ist von gegenseitigen Zerrbildern und Stereotypen durchsetzt. Ästhetische und Ost-West-Debatten werden von allen Beteiligten stark strategisch miteinander verwoben und Klischees des rückständigen oder revanchistischen Ostens werden ebenso bedient wie die des arroganten und DDR-feindlichen Westens.
5.5.1
Die Chronologie des ›Berliner Kulturkampfs‹, die Berufung und der Rücktritt von Christoph Hein (Juni 2004 – Dezember 2004)
Der Kulturkampf um das Deutsche Theater begann mit der lapidaren Meldung im Tagesspiegel vom 25. Juni 2004, dass Thomas Flierl (Kultursenator der PDS) die Verträge der beiden Intendanten Volker Hesse (Maxim-Gorki-Theater) und Bernd Wilms nicht verlängern werde. Wilms, dessen Vertrag bis 2006 lief, war nach der erfolgreichen ersten Saison innerbetrieblich in die Krise geraten, ohne dass sich das jedoch merklich in den Zuschauerzahlen spiegelte. So heißt es im Tagesspiegel, dass sich »vor allem junge Schauspieler […] unzufrieden [zeigten]«183 und die Berliner Zeitung glaubte zu wissen, dass es aus dem Ensemble »Kritik an der ästhetischen Beliebigkeit«184 unter der Leitung von Wilms gegeben habe. Die weiteren Berliner Tageszeitungen griffen die Meldung auf und schnell wurde über potenzielle Nachfolger, etwa Alexander Lang oder Michael Schindhelm,185 spekuliert. Detlef Friedrich rezipierte in der Berliner Zeitung vom 28. Juni 2004 Flierls Entscheidung als (gelungene) Aktion gegen die ›Verwestdeutschung‹ des Ostberliner Theaters, denn erst mit der Neubesetzung der Intendanzen am Deutschen Theater und am Maxim-Gorki-Theater könne eine wirkliche »Zusammenmischung«186 der Theatersprachen Ost und West geschehen. Friedrichs Analyse war, dass »[d]er Berlinbezug von Peymann [am Berliner Ensemble] und Wilms«, den er an anderer Stelle den »Schneider von Ulm« nennt, »gegen Null« tendiere.187 Einzig an Castorfs
183
Anonymus: Berlins Bühnen: Hesse geht – Wilms auch? In: Tagesspiegel vom 25.6.2004. [https://www.tagesspiegel.de/kultur/berlins-buehnen-hesse-geht-willms-auch/526168.html (21.09.2019)]. 184 Jähner: Was der nächste Intendant des Deutschen Theaters können muss: Falsche Fronten, alte Gräben. 185 Vgl. Henrike Thomsen: Von Wilms zu Hein zu Wilms. Chronik der Debatte um das Deutsche Theater von Juni 2004 bis Januar 2005. In: Roland Koberg (Hg.): Ost/West – ein deutscher Stoff. Plötzliche Erinnerungen an einen Unterschied. Das Deutsche Theater und die Debatte eines wiedervereinigten Landes. Leipzig 2005, S. 91-101, hier: S. 91. 186 Friedrich: Intendanten gesucht. 187 Flierl warf Volker Hesse, dem Intendanten am Gorki Theater vor, nicht einmal gewusst zu haben, dass an seinem Haus Volker Brauns Übergangsgesellschaft gespielt worden sei, jenes Stück das – so der Mythos – die Wende mit herbeigeführt habe.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
Volksbühne sei ein Theater entstanden, das das »Lebensgefühl des neuen Ostwestberlin[s]« einfange. Für die Kritik an Flierls Entscheidung ist die Position der kulturpolitischen Sprecherin der Grünen, Alice Ströver, paradigmatisch: Der Kultursenator, dessen Theaterkenntnisse beschränkt sind, lässt sich neuerdings in der Beurteilung ästhetischer Qualität von Theater von einem Kreis von Kulturschaffenden mit DDR-Biographie beraten. Mit deren Unterstützung setzt der Senator seine Personalvorstellungen um, die dem einzigen Prinzip folgen: Biografie Ost.188 Stövers Statement macht deutlich, dass die Nichtverlängerung von Wilms‘ Vertrag bereits vor dem ersten öffentlichen Statement von Flierl durch den Ost-WestKonflikt geframet wurde. Flierl selbst äußert sich öffentlich nie dezidiert zu Wilms Westherkunft als Ursache für die Kündigung. Er betont stattdessen, dass er Herkunft nicht für eine Qualität halte, jedoch eine gewisse Ost-West-Kompetenz von den leitenden Akteuren erwarte. Damit meine er, so sagt er der Berliner Zeitung, »dass unterschiedliche kulturelle Erfahrungen thematisiert werden«.189 Er begründet sein Votum gegen Wilms daher auch ästhetisch-inhaltlich: Seine Vision für das Deutsche Theater sei, dass das Theater wieder »ein Haus der klassischen Literatur mit zeitgenössischer Interpretation, hoher Sprachkultur, herausragenden Regisseuren und großen Schauspielern«190 werde.191 Er erwarte vom Deutschen Theater eine »dem Burgtheater vergleichbare Ausrichtung als klassisches Nationaltheater«.192 Statt vieler individueller Handschriften solle es »eine einheitliche Geisteshaltung«193 geben. Natürlich schimmert in dieser Vision die Vergangenheit des Deutschen Theaters zu DDR-Zeiten durch, Flierl macht das aber nicht explizit. Politisch rechtfertigt er die Nichtverlängerung von Wilms’ Vertrag damit, dass er glaube, 188 Ebd. 189 Walter u. Jähner: Kultursenator Thomas Flierl über seine Entscheidungsfreude bei Intendantenwechseln 190 Rolf Lautenschläger: Herr Flierl hängt die Theater höher. In: TAZ vom 20.7.2004. [https://taz .de/!725072/(22.09.2019)]. 191 Flierls Sehnsucht nach einem Nationaltheater – von Wilms als »nicht die allerfrischeste [Idee] im Zeitalter neuer Unübersichtlichkeit« bezeichnet – sorgt für eine ungewöhnliche Unterstützung durch die (oppositionelle) CDU, denn deren kulturpolitische Sprecherin Monika Gütters hielt Flierls Zweifel an der Qualität des DTs für durchaus berechtigt. Vgl. Thomsen: Von Wilms zu Hein zu Wilms, S. 91. 192 Walter u. Jähner: Kultursenator Thomas Flierl über seine Entscheidungsfreude bei Intendantenwechseln: Ich darf das. 193 Anonymus: Deutsches Theater: Schauspieler kritisieren Flierl. In: Tagesspiegel vom 22.12.2004. [https://www.tagesspiegel.de/kultur/deutsches-theater-schauspieler-kritisieren-f lierl/572432.html (22.09.2019)].
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dass Kulturpolitik auch herausgefordert ist, inhaltliche Debatten und solche um Qualität wieder zu führen, weil ansonsten nur Struktur- und Haushaltsprobleme zu bewältigen sind.194 Wilms entgegnet auf Flierls Kritik, dass er das Theater krisenfest gemacht habe. Er habe gute Zuschauerzahlen, die Bühne sei finanziell konsolidiert und die Produktivität enorm gestiegen: Mit einem um 70 Personen verkleinerten Ensemble – die Theaterstatistiken des Bühnenvereins geben nur eine Differenz von 32 Mitarbeitern an – brächte das Haus sehr viel mehr Premieren zustande, wobei er, wie zu Beginn des Kapitels bereits erwähnt, betont, dass Produktivität kein Selbstzweck, sondern mit einem Programm des künstlerischen ›Trial and Error‹ verbunden sei. Hinzu kommt, dass er das Gefühl habe, zu wenig Anerkennung dafür bekommen zu haben, dass er die Regisseure Nicolas Stemann, Armin Petras, Stephan Kimmig, Michael Thalheimer, Dimiter Gotscheff, Barbara Frey, Tina Lanik und Jürgen Kruse ans Deutsche Theater gebracht habe.195 Hier offenbart sich der große Unterschied zwischen Flierls und Wilms Vision für das Deutsche Theater: Während Wilms die Offenheit für viele Stile und Handschriften als Teil einer notwendigen Suchbewegung begreift, ist genau das für Flierl Ausdruck einer postmodernen Beliebigkeit. Flierls Haltung wird wiederum (zum Ende des Konflikts hin) vom Deutschen Theater provokant in einer Anzeigenkampagne aufgegriffen: Im Januar 2005 – Christoph Hein war zu diesem Zeitpunkt bereits als designierter Intendant schon wieder zurückgetreten – lanciert das Theater Anzeigen im Tagesspiegel, der Berliner Zeitung und der Morgenpost, in denen Flierl mit den Worten »Ich will kein Theater, das so vielfältig ist wie die Welt.«196 zitiert wird. Unter seinem Zitat sind die Titel jener drei Inszenierungen aufgeführt, die kurz nach Wilms Nichtverlängerung durch Flierl Premiere hatten und frenetisch vom Publikum und der Kritik gefeiert wurden: Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Heiner Müllers Germania.Stücke (Premiere 23.9.2004), Thalheimers Faust (16.10.2004) und Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (Premiere: 18.11.2004), inszeniert von Jürgen Gosch. Die Anzeige offenbart die Schwachstelle von Flierls Kritik an Wilms: Der Vorwurf, Wilms, der in einem anderen Zusammenhang schon als »Ehren-Ossi«197 bezeichnet wurde, fehle es an Ost-West-Kompetenz, lässt sich angesichts der parallel
194 Walter u. Jähner: Kultursenator Thomas Flierl über seine Entscheidungsfreude bei Intendantenwechseln: Ich darf das. 195 Wilms: Meine Erfahrung mit dem Deutschen Theater und wie man darüber spekuliert. Ärger mit der Legende. 196 Thomsen: Von Wilms zu Hein zu Wilms, S. 98. 197 Wilms: Meine Erfahrung mit dem Deutschen Theater und wie man darüber spekuliert. Ärger mit der Legende.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
verlaufenden künstlerischen Erfolge von »Ost-Regisseuren« an seinem Haus öffentlich kaum vermitteln. Von Wilms Gesamtkonzeption für Spielzeit 2004/05, die zum Zeitpunkt von Flierls Nichtverlängerung bereits geplant war und unter dem Motto »Deutsche Stoffe« stand, ging ein ost-west-kompetentes Bild aus. Zum einen gab es allein in den ersten drei Monaten der Spielzeit zwei Premieren von neuen Hausregisseuren, die über Ost-Biografien verfügten und deren Arbeiten als das Ergebnis einer Ost-West-Symbiose wahrgenommen werden konnten: Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Heiner Müllers Germania.Stücke und Jürgen Goschs Wer hat Angst vor Virginia Woolf?. Germania.Stücke wurde in der Welt als die »erste wichtige Müller-Inszenierung seit seinem Tod vor neun Jahren«198 rezipiert und in der gleichen Zeitung hieß es über Goschs Inszenierung: »Wir sind sicher, dass auch dieser Abend zum ›Kult‹ wird«.199 Christian Grashof macht in seinem Interview-Buch deutlich, dass es die Qualität von beiden Regisseuren gewesen sei, die Erfahrungen, die sie als dissidente Regisseure gemacht hätten, in einen Regiestil überführt zu haben, der ihre Verunsicherung bewusst ausgestellt und nicht dissimuliert habe. Darüber hinaus wurde die deutsch-deutsche Teilung in der Spielzeit nicht nur theatral behandelt, sondern auch durch Diskussionsformate und die hier schon mehrfach zitierte Publikation Ost/West – Ein deutscher Stoff. Plötzliche Erinnerungen an einen Unterschied. Das Deutsche Theater und die Debatte eines wiedervereinigten Landes200 gerahmt. Auch Bernd Stempel, wie bereits erwähnt seit 1989 festes Ensemblemitglied, unterstrich im Interview mit mir, dass die Spielzeit 2004/05 trotz innerbetrieblicher Schwierigkeiten den künstlerischen Durchbruch von Wilms markiert habe: Eigentlich will ich sagen, dass ich dem Wilms ein bisschen Unrecht getan habe. […] Mit Abstand und mit Reflexion weiß ich, dass der Wilms unglaublich viel probiert hat. […] Er hat wirklich jedes Jahr was Neues probiert. Mit Lauterbach und Neuenfels hat das nicht so funktioniert, wie er sich das vorstellte. Diese beiden festengagierten Regisseure sollten das Ensemble prägen. Das machten die nicht. […] Dann hatte Wilms auf die Jungen gebaut, aus dem Off-Theaterbereich. […] Hat aber auch nicht funktioniert. Lag auch an den starken Persönlichkeiten hier im Haus. Die Gewerke machen ja dann auch dicht. […] Die nächste Phase war dann Zadek und Wilson. Die waren aber nur teuer. […] Alle Arbeiten wurden zweimal gemacht – auch ein rechtschaffender Versuch. Im vierten Jahr kamen dann Thalheimer und dann Gosch und Gotscheff und Frey. Und so entstand eine Vierer-Bande, die das Deutsche Theater zumindest nach außen hin wieder präsentiert hat, in einer sehr 198 Zitiert nach: Thomsen: Von Wilms zu Hein zu Wilms, S. 93. 199 Zitiert nach: Ebd. 200 Die Publikation erschient passenderweise im ehemaligen DDR-Verlag Henschel. Roland Koberg (Hg.): Ost/West – ein deutscher Stoff. Plötzliche Erinnerungen an einen Unterschied. Das Deutsche Theater und die Debatte eines wiedervereinigten Landes. Leipzig 2005.
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attraktiven Weise. Das Theater nach außen hin erholte sich, aber es war trotzdem innerbetrieblich […] schwierig. Nach innen ging die Irritation weiter.201 Obwohl ich es – gerade was die Außenwirkung anbetrifft – für angebracht halte, Wilms Ost-West-Kompetenz zuzusprechen, zeigte sich im Gespräch mit Bernd Stempel, dass es auch in den erfolgreichen Jahren der Intendanz Wilms’ im Arbeitszusammenhang Reibungen zwischen ost- und westdeutschen Ensemblemitgliedern gab. Stempel betont, dass den Ostdeutschen im Ensemble das Gefühl gefehlt habe, dass es in der Theaterarbeitum eine größere gesellschaftliche Vision oder Utopie gehe: »Früher ging es um die Sache. Und heute ist die ganz schwer zu finden. […].«202 Innerbetrieblich wurde Wilms‘ Position sicher auch dadurch geschwächt, dass er, obwohl er das Ensemble nach einer 50/50-Parität mit Ostlern und Westlern besetzt hatte, die Existenz von Ost-West-Differenzen leugnete bzw. das für ihn »am Haus als eine völlig überholte Diskussion [galt]«.203 So schrieb er im Juli 2004 in der Berliner Zeitung: Schon am Maxim-Gorki-Theater, das ich sieben Jahre geleitet habe, wollte ich nicht wissen, welchem Teil Deutschlands einer entstammt (und da war die Wende noch nicht so lang vorbei), sondern ob er ein interessanter Schauspieler ist oder ein kluger Regisseur, der etwas zu sagen hat. Kein Stempel, kein Stigma.204 Das Nicht-Thematisieren des »Stigmas« galt, so die Schauspielerin Jutta Wachowiak, Anfang der 2000er-Jahre »als politisch korrekt«, was jedoch von vielen ostdeutschen Schauspieler/innen als »Heuchelei« empfunden wurde.205 Das Desinteresse an den Habitus-Unterschieden und den unterschiedlichen Erfahrungen sei während der Intendanz von Wilms, so betont Stempel es, einhergegangen mit dem Gefühl, für den Verlust der eigenen Geschichte kein Interesse auf der Gegenseite zu finden. Stempel formuliert diesen Befund im Interview jedoch nicht als Kritik an Wilms und »den« Westdeutschen, sondern auch selbstkritisch als Aufgabe an sich und seine ostdeutschen Kolleg/innen: Wie mache ich darauf aufmerksam, dass mein Verlust wichtig ist für heute, ohne das Neue nur schlecht zu machen. […] Ich muss lernen, damit umzugehen. Den Verlust, den kennt ja keiner mehr, also nur drei, vier Leute, wir nicken uns dann zu. Aber wir trägt man den Verlust in das Neue? Wie kriegt man das symbiotisch? 201 Interview mit Bernd Stempel, 5.6.15. 202 Ebd. 203 Eberhard Spreng: Das Deutsche Theater in Berlin. Porträt des »Theater des Jahres 2008«. [https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-deutsche-theater-in-berlin.1013.de.html? dram:article_id=168648 (1.6.2019)]. 204 Wilms: Meine Erfahrung mit dem Deutschen Theater und wie man darüber spekuliert. Ärger mit der Legende. 205 Thomsen: Von Wilms zu Hein zu Wilms, S. 95.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
Dass das kollektive Kunst wird? Was will man sagen? Wie macht man das? Wie berührt man? Geht es darum noch? Zu berühren? Etwas zu verstehen?206 Am 8.10.2004 wird die Berufung von Christoph Hein zum Nachfolger von Wilms bekannt, was eine nächste Eskalationsstufe des ›Berliner Kulturkampfs‹ einleitete. Nun traten auch die überregionalen Feuilletons in den Konflikt ein und positionierten sich mit teils harscher Kritik gegen Flierls Entscheidung. C. Bernd Sucher unterstellte in der Süddeutschen Zeitung, dass Flierl und Hein »wahrscheinlich dorthin zurück [wollen], wo sie sich einmal recht glücklich gefühlt haben«.207 Und Gerhard Stadelmaier argumentierte in der FAZ in dieselbe Richtung, wenn er polemisch die Entscheidung zu einem »Drachenwitz« erklärte, vor einem DDRRollback warnte und Hein die menschliche Eignung für diese Position absprach: Hein, ein schüchterner, nobler, weicher Mann, der sich gegen die Zumutungen und Wandlungen der Geschichte auch gerne wie eine seiner Romanfiguren in Drachenblut gebadet hätte, um unempfindlicher gegen alles zu werden, aber alles tiefer empfindet als andere – der soll jetzt ein Haus leiten, in dem Thomas Langhoff mehr oder weniger verendet und Bernd Wilms wacker gescheitert ist? Ein Haus, an dem die DDR klebt wie ein unsichtbarer Pechschleier? Das immer noch nicht recht weiß, ob es irgendwann guten Gewissens im neuen Deutschland angekommen sein dürfe? Ein Haus, das endlich der weiteren Welt offenstehen müßte, geleitet von einem sympathischen Ost-Insider? Als Garant für den OstFamilienmief? Es wäre ein Drachenwitz und eine ziemlich vorhersehbare Katastrophe, handwerklich und ideell, die man einem sechzigjährigen verdienten kritischen Schriftsteller des Volkes nicht antun sollte.208 Hein wiederum reagierte auf den stark von DDR-Stereotypen durchsetzten medialen Gegenwind im gleichen Maße rhetorisch fragwürdig, indem er den Topos von der Kolonialisierung der DDR im Zuge der Wiedervereinigung209 folgendermaßen aufgriff: 206 Interview mit Bernd Stempel, 5.6.15. 207 Ebd., S. 97. 208 Gerhard Stadelmaier: Drachenwitz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.10.2004. [htt ps://fazarchiv.faz.net/document?id=FAZ__FD1N200410092507447#start (23.09.2019)]. 209 Matthias Lorenz zeigt, dass Christa Wolf, Volker Braun und Heiner Müller auf 1989 mit literarischen Variationen dieses Topos reagierten, wobei sich alle drei an Joseph Conrads Heart of Darkness abarbeiteten. Die »massive Deklassierung« (S. 349), die die etablierten Schriftsteller durch die Wiedervereinigung erfuhren, wurde dabei in Analogie zu den »Kollateralschäden des Imperialismus« (S. 349) gebracht, die Conrads Erzählung thematisierte. Besonders bei Volker Braun fand sich auch das (irrationale) Motiv, die Ostdeutschen die Neger Deutschlands zu nennen. Vgl. Matthias N. Lorenz: Distant Kinship – Entfernte Verwandtschaft. Joseph Conrads »Heart of Darkness« in der deutschen Literatur von Kafka bis Kracht (Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature, Band 5). Stuttgart 2018, S. 353.
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Das Deutsche Theater nach 1989
Hinter solchen Geschichten steckt irgendwo eine neue Apartheid. Sämtliche öffentlich-rechtlichen Anstalten werden von Westlern geleitet. Das ist normal, aber sobald ein Neger Intendant wird, ist ein großer Aufstand da. Das ist Apartheid.210 Bürger zweiter Klasse zu sein,211 ist ein bis heute im Osten Deutschlands verbreitetes Gefühl, das angesichts der ökonomischen und infrastrukturellen Unterschiede im Vergleich mit den meisten Regionen im Westen zwar durchaus eine materielle Basis hat, mit der Identifizierung als »Neger« und die Rede von der »Apartheid« bediente Hein den Opferdiskurs jedoch auf eine Weise, die (den südafrikanischen) Rassismus auf unangemessene Weise bagatellisiert. Insgesamt lässt sich festhalten, dass beide Seiten starke Zerrbilder voneinander produzierten, die westlichen Feuilletonisten assoziierten die DDR mit einer autoritären Mentalität, mit Spießigkeit Weltfremdheit und vermittelten das über das Sprachfeld des Dunkel-Düsteren und des »Miefs«. Hein und Flierl wiederum unterstellten den westlichen Akteuren Rassentrennung und Stammesdenken. So erklärte Flierl im Tagesspiegel: [A]ber wenn ein Ostler vorgeschlagen wird, kann es nur daran gelegen haben, dass der politisch Verantwortliche auch aus dem Osten kommt. Diese Art Stammesdenken kann ich nicht nachvollziehen. Ich halte es für eine rückwärtsgewandte Debatte. Ich halte es auch für eine verletzende Arroganz, Christoph Hein mit einer Rückkehr zum ›DDR-Nationaltheater‹ zu identifizieren. Solche Ressentiments zu reproduzieren, spaltet das Land.212 Bei einer Podiumsdiskussion Ende des Jahres 2004 mit den Freunden und Förderern des Deutschen Theater verlor Flierl final den Rückhalt sowohl des Freundeskreises als auch weiter Teile des Ensembles, in dessen Namen er zu handeln vorgab: Flierl trat hier mit geänderter Strategie auf. Sein Argument, dass das Deutsche Theater von jemandem mit Ost-West-Kompetenz geführt werden solle, änderte er 210 Ulrich Seidler u. Detlef Friedrich: Ein Gespräch mit dem zukünftigen Intendanten des Deutschen Theaters Christoph Hein: Kunst ist, was man nicht kann. In: Berliner Zeitung vom 11.10.2004. [https://www.berliner-zeitung.de/ein-gespraech-mit-dem-zukuenftigen-int endanten-des-deutschen-theaters-christoph-hein-kunst-ist--was-man-nicht-kann-15760608 (30.09.2019)]. 211 Raj Kollmorgen: Subalternisierung. Formen und Mechanismen der Missachtung Ostdeutscher nach der Vereinigung. In: Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch u. Hans-Liudger Dienel (Hg.): Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen. Wiesbaden 2011, S. 301-360, hier: S. 306. 212 Anonymus: »Eine geistige Erneuerung fürs Deutsche Theater!« Berlins Kultursenator Thomas Flierl über seine umstrittene Entscheidung für Christoph Hein. In: Tagesspiegel vom 12.10.2004. [https://www.tagesspiegel.de/kultur/eine-geistige-erneuerung-fuers-deutsche-th eater-berlins-kultursenator-thomas-flierl-ueber-seine-umstrittene-entscheidung-fuer-christ oph-hein/554272.html (29.09.2019)].
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
dahingehend ab, dass es ihm in erster Linie um die Etablierung eines intellektuellen Nationaltheaters gehe. Seine Vision sei, dass es keine zu individuellen Handschriften am Deutschen Theater mehr gebe, sondern Kontinuität und Geschlossenheit. Im Nachgang zur Diskussion verfasste das Ensemble von Michael Thalheimers gefeierter Faust-Inszenierung – darunter auch die Emilia-Galotti-Schauspieler Nina Hoss, Regine Zimmermann, Ingo Hülsmann und Sven Lehmann – einen offenen Brief gegen Flierl. Der Brief machte nochmals klar, dass das Modell Wilms/Thalheimer die Antithese zum Modell Flierl/Hein darstelle: Wir haben alle die unterschiedlichsten Biografien, ostdeutsche und westdeutsche, und wir bringen sie tagtäglich gleichermaßen in die Arbeit ein. […] Liberalität durch Dogmatismus zu ersetzen, verweist auf autoritäre Systeme. Ihre kulturpolitischen Überlegungen schmecken, so geäußert, bitter nach Vergangenheit.213 Am 28.12.2004 reagierte Christoph Hein auf die inzwischen weitverbreitete Ablehnung seiner Intendanz, indem er zurücktrat. Auf der Pressekonferenz rechtfertigte er sich und machte deutlich, dass ihm besonders der Gegenwind aus den überregionalen Feuilletons, allen voran Stadelmaier in der FAZ, die Aufnahme der Arbeit unmöglich gemacht habe: Einige Zeitungen zogen bereits ein vernichtendes Resümee einer Arbeit, die erst in zwei Jahren beginnen sollte, wobei sie sich nicht scheuten, zu lügen, zu diffamieren und zu denunzieren. … Die massive Vorverurteilung lassen einige Theaterleute zögern, mit mir am DT zu arbeiten. Alles was ich garantieren konnte, war ein Totalverriss in der FAZ.214 Flierls Position war nach dem Rücktritt von Hein geschwächt. Noch für wenige Wochen versuchte er einen neuen Kandidaten für den Posten zu engagieren, das gelang ihm jedoch nicht, sodass er – auch durch öffentlichen Druck – Wilms Vertrag am 26. Januar um zwei weitere Spielzeiten verlängern musste. Im Nachgang des Streits um das Deutsche Theater blieben die Ost- und die West-Position im öffentlichen Diskurs unvereint nebeneinander bestehen. Stadelmaier schreibt: »Aus Berlin kommt jetzt auch einmal eine gute kulturpolitische Nachricht. Christoph Hein, sechzig Jahre alter verdienter Schriftsteller des (ost-)deutschen Volkes, ist von seiner Absicht zurückgetreten, sich die Intendanz des Deutschen Theaters aufschwatzen zu lassen.«215 Detlef Friedrich in der Berliner Zeitung vertrat die entgegengesetzte Position:
213 Anonym: Deutsches Theater: Schauspieler kritisieren Flierl. 214 Thomsen: Von Wilms zu Hein zu Wilms, S. 96. 215 Ebd.
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Ostdeutscher Schriftsteller ist derzeit keine geografische Bezeichnung, sondern eine politische. Das Gegenteil von ›ostdeutscher Schriftsteller‹ ist ›westdeutscher Schriftsteller‹, was man daran erkennt, dass die für die alte Bundesrepublik verallgemeinernde Bezeichnung ›westdeutsch‹ nicht mehr verwendet wird. Im Falle Christoph Heins ist die Subtilität der Ablehnung zu erkennen. Der fremde Freund. Politisch unanfechtbar, aber eben fremd… Hein wäre etwas Neues gewesen. Aber er hat die Ertüchtigungsrituale der großwestdeutschen Republik nicht ausgehalten. Eine große Chance wurde vertan. Christoph Hein ist der letzte Mohikaner. Es folgt jetzt die Zeit der Reservate.216 Auch hier taucht wieder der in der Sache nicht angemessene Rassismusvergleich auf, doch mit einer anderen exotistischen Metapher: Hein ist für Friedrich kein ›Neger‹, sondern ein ›Mohikaner‹, und er suggeriert, dass ostdeutsche Kunst nur noch in Reservaten stattfinden werde. Die Rede vom großwestdeutschen Reich setzt die westdeutsche Position mit der nationalsozialistischen Politik gleich, wodurch der Westen polemisch zur rassistischen Tätergemeinschaft schlechthin gemacht wird. Friedrichs Kommentar zeigt eine bedenkliche Facette des Ost-WestDiskurses, bei dem Ostdeutsch-Sein auf bedenkliche Weise mit einem (rassistischen) Opferstatus identifiziert wird. Der zugespitzte Ton, in dem die Auseinandersetzung geführt wurde, macht deutlich, dass das Deutsche Theater – der Name ist Programm – als nationales Symbol umkämpft wurde und ähnlich dem deutsch-deutschen Literaturstreit als eine Art Stellvertreterkrieg um die Deutungshoheit im deutschen Theater geführt wurde: Dabei verlief die Konfliktlinie, anders als es Flierl und Hein suggerierten, nicht nur zwischen Ost und West, sondern war auch ein Ost-Ost-Konflikt: Flierl und Hein positionierten sich implizit auch gegen das dekonstruktive Theater, mit dem Frank Castorf, Heiner Müller oder Einar Schleef auf dem gesamtdeutschen Feld erfolgreich wurden. Die Avantgarde der DDR setzte sich nach 1989 in Berlin durch, die stärker an einem sozialistischen Realismus orientierte Theaterkunst verschwand zu großen Teilen aus der Metropole und wurde, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, durch die camouflierte Übersetzung von einer jüngeren, oft westdeutschen Theatergeneration besetzt, diese fand dann etwa an der Berliner Schaubühne statt.
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Detlef Friedrich: Christoph Hein tritt zurück – eine Spekulation über die Gründe: Kampfsport und Theater. In: Berliner Zeitung vom 29.12.2004. [https://www.berliner-zeitung.de/christop h-hein-tritt-zurueck---eine-spekulation-ueber-die-gruende-kampfsport-und-theater-1572126 4 (22.09.2019)].
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
5.5.2
Künstlerische Erfolge durch das Quartett der Unterschiede und Wilms’ biografische Resilienz
Abschließend möchte ich dieses Kapitel mit einem Blick auf Bernd Wilms’ biografische Resilienz – wie zuvor im Fall von Heiner Müller und Thomas Ostermeier. Hierzu werde ich die Umstände und Strategien beleuchten, die es Wilms ermöglichten, die Krise, die von der Infragestellung durch Flierls Politik ausging, zu ›managen‹. Wilms selbst bezeichnete, so Koberg, seine Vertragsverlängerung nach den Querelen um sein Amt und den Rücktritt von Christoph Hein als einen Moment der innerbetrieblichen »Euphorie«.217 Der Druck von außen einerseits und der Erfolg des neuen ästhetischen Programms des Deutschen Theaters sowie die unerwartete Möglichkeit noch zwei Spielzeiten (2005/06 und 2006/07) gemeinsam weiterzuarbeiten andererseits, ließen das Ensemble nach innen stärker zusammenwachsen. Im Frühjahr 2005 gelang in dieser Konstellation ein weiterer Coup: Wilms verpflichtete die vier renommierten und am DT sowohl bei den Zuschauer/innen als auch beim Ensemble beliebten Regisseur/innen Michael Thalheimer, Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff und Barbara Frey als feste Hausregisseure/innen für die letzten zwei Spielzeiten seiner Intendanz. Thalheimer wurde zusätzlich zum Leitenden Regisseur218 bestimmt. Koberg nennt dieses Vierer-Team das »Quartett der Unterschiede«219 , worin das Besondere der Konstellation zum Ausdruck kommt: Einerseits kommen die Genannten aus unterschiedlichen ästhetischen Traditionen, kulturellen Kontexten220 und Generationen, andererseits verband die vier am Deutschen Theater eben jener Stil-Konsens, der durch Emilia Galotti schon 2001 vorbereitet worden war: Bei aller Pluralität der Handschriften entwickelte sich durch die vier Hausregisseur/innen ein »Realismus der Ideen«221 , der – das ist die Verbindung zu Emilia Galotti – die Reduktion auf den Menschen auf der Bühne forcierte. Das DT-typische dieser Jahre war daher: Verzicht auf Anschauung, auf Zeigen, auf Illustration. Das Ausgesprochene ist ja schon im Raum – wozu es zusätzlich noch hinstellen? Den Regisseur beschäftigt dann die Frage: Was muss – gerade noch – gezeigt werden, was hingegen kann
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Piepgras: Der tut weh. Durch die Intendanz Wilms etablierte sich ein Netzwerk, das bis heute Berliner Theater prägt: Thalheimer war am Deutschen Theater von 2005 bis 2009 als Leitender Regisseur tätig. Daran anschließend arbeitete er freischaffend und ist seit der Spielzeit 2017/18 Hausregisseur und Mitglied der künstlerischen Leitung am Berliner Ensemble (Leitung: Oliver Reese). 219 Koberg: Theater ohne Mantel, S. 135. 220 Frey ist in Basel geboren, Gotscheff in Bulgarien, Gosch war DDR-Dissident und Thalheimer ist in Hessen geboren. 221 Ebd., S. 138.
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vom Zuschauer gedacht werden? Denn je mehr Gedankenarbeit sich an den Zuschauer delegieren lässt, desto besser! Je mehr die Zuschauer selber erfinden und hinzudenken müssen, desto lebhafter auch die Kommunikation zwischen unten und oben! In letzter Konsequenz sind es eben nur noch Menschenwesen, die miteinander verbunden sind, keine Gegenstände […] drängen sich dazwischen.222 Koberg betont, dass es zwischen den Regisseuren keine explizite Diskussion über gemeinsame ästhetische Grundsätze gegeben habe, die Entstehung des gemeinsamen Stils also nach der Baracke als ein weiteres emergentes Phänomen zu beschreiben. Worin sich der Einfluss der Regisseur/innen aufeinander jedoch niederschlug, war, dass sie alle verändernd auf das Ensemble einwirkten: Empfehlungen und Entscheidungen von Regisseuren sei es zu verdanken gewesen, so Koberg, dass Schauspieler/innen wie Ulrich Mathes, Alexander Khuon, Almut Zilcher, Samuel Finzi, Kathrin Wehlisch, Meike Droste, Matthias Bundschuh, Constanze Becker, Ernst Stötzner oder ›feste Freie‹ wie Corinna Harfouch oder Wolfram Koch ins Ensemble kamen.223 Den größten Anteil daran, dass die disparaten Regiearbeiten des Vierer-Teams um Thalheimer als einem DT-Stil zugehörig wahrgenommen werden konnten, hatten die Bühnenräume, die von Olaf Altmann, Johannes Schütz, Mark Lammert und Bettina Meyer gestaltet wurden. Sie alle entwarfen – mitunter von Altmanns Emilia-Galotti-Laufsteg inspiriert – radikal reduzierte Bühnenräume, die ästhetisch »das Bühnen-Schmuckkästchen des DT immer wieder aufs Neue spreng[t]en«224 und gleichzeitig als Inszenierungen von Wilms schlank funktionalem Theaterapparat lesbar waren: Als herausragende Beispiele dieser meist auf klare Symbolik reduzierten Bühnenräume können Mark Lammerts bis auf eine (drehbare) Wand reduzierte Bühne für Gotscheffs Die Perser oder Johannes Schütz’ als Antithese zum historische Schmuckportal installierter Lehm-Kubus für Goschs Onkel Wanja gelten. Auch Bettina Meyers Bühne für Barbara Freys Medea, die bis auf eine Haushaltszelle für Medea im Zentrum der Bühne in reinem Weiß erschien, oder Olaf Altmanns Entwurf für Thalheimers Die Ratten gehörten in diese Kategorie. Hier wurde sogar die Bühnenmechanik zum Akteur: Eine sich von oben herabsenkende Decke gab dem erdrückenden Determinismus von Hauptmanns Drama dadurch Ausdruck, dass die Schauspieler nur noch in gekrümmter Körperhaltung spielen konnten. Es lässt sich für die Intendanz von Wilms festhalten, dass er eine Organisationskultur am Haus etablierte, die die Beharrung und Stasis, die Langhoffs Jahre geprägt hatten, durch eine Kultur der Offenheit, des Ausprobierens und des
222 Ebd. 223 Ebd., S. 135. 224 Ebd., S. 139.
5. Bernd Wilms’ Intendanz (2001-2008) und der Ost-West-Kulturkampf
Experiments ersetzte. Wilms Elastizität zeigte sich besonders in der durch Flierl induzierten Krise: Ohne es je explizit zu machen, kann man Wilms außerdem unterstellen, dass er Teile der Kritik von Flierl integriert hat, denn für die beiden letzten Spielzeiten von Wilms gilt in besonderer Weise das, was Flierl sich von einer Leitungsperson gewünscht hatte, nämlich »unterschiedliche Traditions- und Erfahrungszusammenhänge [zu] vereine[n], sie dolmetschen zu können«225 : Ostund westdeutsche Künstler schufen in den Spielzeiten 2005/06 und 2006/07 Arbeiten zu antiken Stoffen, Kanonstücken und Gegenwartsdramen, die bis heute als Referenzinszenierungen gelten. Dass eine der letzten Arbeiten unter Wilms Dimiter Gotscheffs Hamletmaschine war, ist ein guter Beleg für diese These: Während Müllers eigene Inszenierung, die im ersten Kapitel dieser Arbeit untersucht wurde, noch suggerierte, dass der Text nach 1989 nicht mehr inszenierbar sei, gelang Gotscheff in seiner Fassung der Gegenbeweis. Unter Wilms entstand ein schlanker und effizienter Theaterapparat, der durch ›trial and error‹ dasjenige ästhetische Programm entfaltete, das in Emilia Galotti schon angelegt worden war und das alle relevanten Akteure auf dem Theaterfeld, abgesehen von Flierl und dem Feuilleton der Berliner Zeitung, überzeugt hatte: materielle Reduktion, inhaltliche Konzentration, eine symbolische Formsprache und eine Fokussierung auf die Schauspieler/innen. All das bringen auch die oben erwähnten Bühnen als Bilder der Organisation zum Ausdruck. Die Kehrseite von Wilms erfolgreichem Neuanfang war, dass tatsächlich alle Verbindungen zur DDR-Theaterkultur gekappt wurden und damit auch ein Stück der Widerständigkeit gegen den ökonomischen Nomos verloren ging, die im Habitus der DDR-sozialisierten Theatermacher tiefer verankert schien als im Westen. Von dieser Warte aus kann Flierls gescheiterte Neupositionierung des Deutschen Theaters auch als gescheiterte Revolte gegen ökonomische Flexibilisierung und steigende Arbeitsbelastung gelesen werde. Im Interview gibt der Schauspieler Bernd Stempel entsprechend auch an, dass die (mittlerweile) kleine Gruppe von seit DDR-Zeiten am Deutschen Theater Arbeitenden sich »fremd im eigenen Theater« gefühlt habe. Auf meine Frage, ob sich nach dem Weggang von Thomas Langhoff so etwas wie ein ›Geist‹ des Deutschen Theaters bewahrt habe, antwortet der Stempel daher auch: Der Geist des Deutschen Theaters ist weg. […] Und je näher wir an die Gegenwart kommen, desto schwerer wird es … ich habe nicht das Gefühl, dass es ein Zusammenwachsen des Ensembles gibt.226
225 Berliner Morgenpost-Berlin: Senator im Kulturkampf zwischen Ost und West. [https://www. morgenpost.de/printarchiv/politik/article103936398/Senator-im-Kulturkampf-zwischen-Ostund-West.html (29.09.2019)]. 226 Interview mit Bernd Stempel.
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Hieran zeigt sich einmal mehr, dass Langhoffs Politik der Beharrung und Bewahrung letztlich den gegenteiligen Effekt hatte, dabei spielte jedoch die Feldlogik eine zentrale Rolle, die, wie der Fall von Flierl/Hein gezeigt hat, nicht von einzelnen Akteuren ausgehebelt werden konnte: Die Affirmation des Imperativs, dass das staatlich subventionierte Theater krisenfester werden muss, erfordert, das zeigt Wilms Beispiel, ein Austarieren zwischen Pluralität und Widererkennbarkeit im künstlerischen Bereich und eine Flexibilisierung des Theaterapparats unter Inkaufnahme der Belastungserhöhung für die künstlerischen wie nicht-künstlerischen Mitarbeiter. Wilms’ Intendanz profitierte Anfang der Nuller Jahre von einer diskursiven Lage, in der seine Sparpolitik – er brüstete sich damit, trotz 70 entlassener Mitarbeiter/innen doppelt so viele Premieren produziert zu haben wie Langhoff – auf ein Publikum traf, das sich von schlanken ökonomischen Strukturen ebenso begeistert zeigte wie von der auf die Spielenden reduzierten Bühnenkunst, die sich in diesen Jahren entwickelte.
6. Die Nachwendegeschichte des Deutschen Theaters zwischen Resilienz und Vulnerabilität (Zusammenfassung der Ergebnisse)
Die Nachwendegeschichte des Deutschen Theaters in Berlin ist die Geschichte der Diffusion des Resilienz-Imperativs, das haben die dichten Beschreibungen von Heiner Müllers Hamlet/Maschine, Thomas Ostermeiers Shoppen und Ficken und Michael Thalheimers Emilia Galotti als drei zentrale Stationen des Transformationsprozesses gezeigt: Thomas Langhoffs auf Beharrung, Bewahrung und Verweigerung des Resilienz-Imperativs setzender Führungsstil in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre konnte Einsparungen, Entlassungen und eine ›Verwestdeutschung‹ des Deutschen Theaters um einige Jahre verzögern. Diese von Müllers Hamlet/Maschine antizipierte (ostdeutsche) Verweigerungshaltung traf innerbetrieblich auf deutlichen Zuspruch und war in den ersten Nachwendejahren sogar von kulturpolitischer Seite erwünscht. Das Festhalten an dem künstlerischen Ideal aus DDR-Zeiten, dass das Deutsche Theater das (schauspielerzentrierte) Repräsentationstheater in Deutschland sei, sorgt nach dem ersten Zuschauereinbruch, den alle Theater in den ersten beiden Nachwende-Spielzeiten erlebten, für einen deutlichen Zulauf aus den (groß-)bürgerlichen Stadtteilen West-Berlins, wie Zehlendorf und Steglitz; die konträren gesellschaftlichen Ideale zwischen bürgerlich-kapitalistischer und sozialistischer Welt spielten überraschenderweise keine Rolle. Der Resilienz-Imperativ, der auch als Aufforderung verstanden werden kann, Strukturen paradoxerweise durch künstlerische und organisatorische Innovation zu bewahren, wird durch Langhoffs Führungsstil unterminiert, denn die anfänglichen Erfolge hatten den Handlungsbedarf wirkmächtig überdeckt. In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre beginnt die finanzielle Krise des Landes Berlin auch zu einer Krise für das Deutsche Theater zu werden: Das Haus – so erinnern sich die Interviewten – fällt in eine Depression und kreative Lähmung breitet sich aus. Die Gründung der Nebenspielstätte »Baracke« (1996/97) mit ihrer drastischen Pop-Ästhetik, die ich am Beispiel von Shoppen und Ficken analysiert habe, ist vor diesem Hintergrund nur als ein emergentes Phänomen zu erklären: Dass gerade das Deutsche Theater für einen Generationenwechsel und
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eine Vitalisierung des gesamten deutschsprachigen Theaters sorgen würde, hätte 1995 niemand voraussagen können. Für die Frage nach der Diffusion des ResilienzImperativs nimmt die Baracke eine interessante Schwellenposition ein: Einerseits wird mit der Nebenspielstätte ein neuer, marketingorientierter und schlanker Apparat geschaffen, der als mustergültige Umsetzung des Resilienz-Imperativs gelten kann, gleichzeitig leistet sich das hochverschuldete Haus diese Spielstätte als »Addon« und nicht als Ersatz für teurere Strukturen. Bemerkenswert ist zudem, dass der Erfolg von Ostermeiers kleiner Spielstätte, die nachhaltig die Gegenwartsdramatik vitalisierte, nicht auf die Reputation des Deutschen Theater zurückwirken konnte. Vielmehr scheint es so, als habe der Erfolg der Baracke die kreative Lähmung des Haupthauses in der Öffentlichkeit noch deutlicher zu Tage treten lassen. Dass die maßgeblichen Innovationen, die von der Baracke für die gesamtdeutsche Theaterlandschaft ausgingen, nicht abgekoppelt vom Haupthaus betrachtet werden können, hat meine Arbeit gezeigt. Ursächlich dafür, dass der Zusammenhang von Baracke und Deutschem Theater kaum wahrgenommen wurde, ist Ostermeiers (Selbst-)Positionierung als Häretiker, die auch von den Feuilletons aufgenommen und perpetuiert wurde. Dadurch konnten das ästhetische Programm und die Reputation der Spielstätte mit Thomas Ostermeier an die Berliner Schaubühne ›migrieren‹. Insgesamt hat meine Analyse zu dieser Phase des Deutschen Theater gezeigt, dass zum einen das Beharren auf den DDR- Konzepten und -Identitäten den gegenteiligen Effekt provozierte, nämlich den Identitätsverlust, und dass zum anderen (angesichts der Delegitimierung der DDR-Kunst nach der Wende) Bezüge auf DDR-Kunstkonzepte camoufliert werden mussten, wie es bei Ostermeiers Neuem Realismus der Fall war. Langhoffs (ostdeutsch markiertes) Führungskonzept büßte im Verlauf der 1990er so stark an Unterstützung ein, dass der Kultursenator Radunski 1999 einen einschneidenden Wechsel fordert. Mit Bernd Wilms berief er jedoch einen westdeutschen Theatermacher, der von den DDR-sozialisierten Künstlern am DT zunächst als Affront gegen die Reputation des Hauses wahrgenommen wird. Das Maxim-Gorki-Theater, das Wilms zuvor geleitet hatte, spielte aus der Perspektive des selbstbewussten DT-Ensembles nicht in der gleichen Liga wie das Deutsche Theater, dem ehemals renommiertesten Theater der DDR. Wilms’ Intendanz ist entsprechend von einer Zuspitzung der Ost-West-Kämpfe um das Deutsche Theater (als nationalem Symbol) flankiert. Wilms’ Intendanz ist in organisatorischer wie ästhetischer Hinsicht ein Neuanfang, der schon am Eröffnungswochenende in Michael Thalheimers Emilia Galotti seine künstlerische Entsprechung findet. Thalheimers beim Publikum und der Kritik erfolgreiches konzeptionelles Regietheater ist stilbildend für die Intendanz von Wilms: Inhaltlich tilgt Thalheimers Inszenierung alle Bezüge zu einer sozialistischen Emilia Galotti-Lektüre und ist damit ein kaum zu überschätzender symboli-
6. Zusammenfassung der Ergebnisse
scher Akt, insofern Lessing, wie gezeigt, als DDR-Staatsdichter galt und das Deutsche Theater als der repräsentative Ausdruck des sozialistischen Staates und seiner Kunst. Zudem erhält Wilms’ ›Austeritätspolitik‹ durch die materielle Reduktion auf der Bühne ein populäres Bild. Wilms’ Intendanz ist ferner geprägt von einem gekonnten Austarieren zwischen Pluralität und Widererkennbarkeit von Regiesprachen. Dass Wilms’ Theater den Resilienz-Imperativ nicht nur ästhetisch, durch Öffnung, Reduktion und ›trial and error‹, affirmierte, zeigte sich besonders auch darin, dass Wilms es selbstbewusst als Qualitätsmerkmal seiner Intendanz darstellte, trotz eines um 70 Mitarbeiter verkleinerten Ensembles doppelt so viele Premieren produziert zu haben wie sein Vorgänger: Die Erhöhung der Belastung stellte für ihn also einen positiven Wert dar. Bemerkenswerterweise feite ihn die Affirmation dieser Logik nicht davor, im Jahr 2004 durch den Kultursenator Thomas Flierl infrage gestellt zu werden, was auf den ersten Blick der These vom kulturpolitischen Resilienz-Imperativ zu widersprechen scheint. Flierl forderte nämlich von Wilms eben gerade nicht Krisenfestigkeit oder Belastungserhöhung, sondern die Rückkehr zur (ostdeutsch markierten) Identität des Deutschen Theaters als Nationaltheater mit einer einheitlichen künstlerischen Handschrift. Dass Flierl jedoch mit seinen Plänen scheiterte, zeigt, dass der Resilienz- und Pluralitäts-Diskurs in diesem Fall stärker war als der einzelne, mit weitreichenden Entscheidungsbefugnissen ausgestattete Kulturpolitiker: Eine Allianz aus hausinternen wie externen Kräften setzte sich gegen Flierls Position durch und ermöglichte, dass Wilms sein offenes, pluralistisches (Such-)Programm im Rahmen eines schlanken, reduzierten Theaterapparats für zwei Spielzeiten weiterführen konnte. Während bei Wilms die Affirmation des Resilienz-Imperativs gleichzeitig auch seine zentrale biografische Resilienzstrategie darstellte, haben Heiner Müller und Thomas Ostermeier ein anderes Repertoire an Strategien entwickelt, mit denen im umkämpften Theaterfeld der 1990er Jahre die eigene Karriere fortgeschrieben werden konnte. Im Fall von Müller wurde gezeigt, dass für ihn als DDR-Dramatiker Paradoxierung und Internationalisierung die zentralen Resilienzsstrategien darstellen, während Ostermeier seine Karriere krisenfest machte, indem er den durch die Abwertung der engagierten DDR-Kunst freigewordenen Pol des politischen Theaters besetzt und sich mit klar umrissener Selbstvermarktungsstrategie als Häretiker präsentiert. Resilienz, so soll deutlich geworden sein, wird nach 1989 von ost- wie westdeutschen Theaterschaffenden (und natürlich auch in vielen anderen Berufsfeldern) gefordert. Wer auf den Resilienz-Imperativ nicht mit den richtigen Bewältigungsstrategien reagieren konnte, musste das Feld verlassen. Wilms’ Managerdiktion und sein Lob der Produktivitäts-, Leistungs- und Belastungserhöhung am Deutschen Theaters ist deshalb auch nicht als eine markante
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Ausnahme anzusehen, sondern markiert den arbeitsweltlichen Normalfall im öffentlichen Theater.
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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein
Pina Bausch's Dance Theater Company, Artistic Practices and Reception May 2020, 440 p., pb., col. ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-5055-6 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5055-0
Gabriele Klein
Pina Bausch und das Tanztheater Die Kunst des Übersetzens 2019, 448 S., Hardcover, 71 Farbabbildungen, 28 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4928-4 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4928-8
Gabriele Klein (Hg.)
Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) 2019, 280 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Manfred Brauneck
Masken – Theater, Kult und Brauchtum Strategien des Verbergens und Zeigens Oktober 2020, 136 S., kart., 11 SW-Abbildungen 28,00 € (DE), 978-3-8376-4795-2 E-Book: PDF: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4795-6
Kathrin Dreckmann, Maren Butte, Elfi Vomberg (Hg.)
Technologien des Performativen Das Theater und seine Techniken September 2020, 466 S., kart., 34 SW-Abbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-5379-3 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5379-7
Margrit Bischof, Friederike Lampert (Hg.)
Sinn und Sinne im Tanz Perspektiven aus Kunst und Wissenschaft. Jahrbuch TanzForschung 2020 August 2020, 332 S., kart., 26 SW-Abbildungen, 12 Farbabbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-5340-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5340-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de