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German Pages 306 [307] Year 2022
Schriften zum Umweltrecht Band 198
Das Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC) Institution, Legitimation, Rezeption
Von
Florian Zeitner
Duncker & Humblot · Berlin
FLORIAN ZEITNER
Das Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC)
Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Michael Kloepfer, Berlin
Band 198
Das Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC) Institution, Legitimation, Rezeption
Von
Florian Zeitner
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2022 als Dissertation angenommen.
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D29 Alle Rechte vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 978-3-428-18679-2 (Print) ISBN 978-3-428-58679-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die Aarhus-Konvention macht die Einzelne und den Einzelnen zu Anwälten der Umwelt. Sie ist das Schwert des Individuums und engagierter Gruppen, über dessen Einsatzfähigkeit und Schärfe das ACCC wacht. Über die zukünftige Gestaltung unserer Gesellschaft angesichts des menschengemachten Klimawandels und eines existenzbedrohenden Biodiversitätsverlusts wird in einem demokratischen Rechtsstaat jedoch nur die Gemeinschaft entscheiden können. Der durch die Aarhus-Konvention ermächtigte Einzelne kann ihr dabei in seinem Engagement Vorbild sein. In Bezug auf diese Arbeit gilt besonderer Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Bernhard W. Wegener, der zuletzt nicht nur meine Sinne geschärft hat, was das Verhältnis zwischen grund- und menschenrechtsgestützten Klimaklagen und der Verteilung der Steuerungskompetenzen im demokratischen Rechtsstaat angeht. Er hat mich auch an das ACCC herangeführt und mich mit den Fragen um den Rechtsschutz im Umweltrecht vertraut gemacht. An seinem Lehrstuhl ist die vorliegende Dissertation zwischen dem Wintersemester 2018/2019 und dem Sommersemester 2021 entstanden. Damit berücksichtigt die Arbeit die Entwicklungen im Zeitraum nach der sechsten und bis unmittelbar vor der siebten Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konvention, welche im Oktober 2021 stattfand. Teilabschnitte der Dissertation nehmen Arbeiten auf, die in folgendem Aufsatz publiziert wurden: Florian Zeitner, „Das Non-Compliance-Verfahren der Aarhus-Konvention“, EurUP 2019, S. 159–168. In die Dissertation sind weiterhin Überlegungen aus meiner im Sommersemester 2018 dem Fach bereich Rechtswissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg (Prof. Dr. Markus Krajewski) vorgelegten Seminararbeit mit dem Titel „Umweltschutz und (soziale) Menschenrechte: Interdependenzen, pa rallele Überwachungsregime und zukünftige Entwicklungsperspektiven am Beispiel des ACCC (Aarhus Convention Compliance Committee)“ eingeflossen. Die Arbeit wurde mit einem Promotionsstipendium der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) großzügig gefördert. Die DBU hat mir neben einer finanziell unbeschwerten Promotionszeit spannende Einblicke in die Forschungstätigkeit von Doktoranden-KollegInnen zahlreicher Disziplinen ermöglicht. Die Förderung hat es mir weiterhin erlaubt eine Reise zur 66. Sitzung des ACCC vom 9. bis 13. März 2020 in Genf zu unternehmen
6 Vorwort
und die Tätigkeit des ACCC aus nächster Nähe zu untersuchen, wenngleich die Sitzung bereits von der aufkommenden Pandemie geprägt war und kurzfristig in einem hybriden Format stattfinden musste. Stellvertretend danke ich herzlich Frau Dr. Hedda Schlegel-Starmann, die das Promotionsprojekt auf Seiten der DBU begleitet hat. Weiterhin danke ich meinen lieben FreundInnen und FachkollegInnen Anna Kampmann, Judith Bundscherer und Kai Pampus für ihre Kommentare zu meiner Arbeit. Mein größter Dank gilt schließlich Dr. Friederike Fuchs für ihre immer verständnisvolle Unterstützung. Inhaltliche Rückmeldungen sehe ich als bereichernd an und stehe dafür gerne unter [email protected] zur Verfügung. Erlangen, im April 2022
Florian Zeitner
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Hinführung, Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise
19
I. Von der gesellschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Relevanz der Beschäftigung mit dem ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Wissenschaftliche Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 III. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Kapitel Die Entstehungsgeschichte des ACCC vor dem Hintergrund anderer Compliance Committees (Erfüllungsausschüsse) und der Unterscheidung zwischen Non-Compliance-Verfahren und den hergebrachten Arten völkerrechtlicher Streitbeilegung A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll – eine Blaupause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsgrundlage des Non-Compliance-Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . II. Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Erfüllungsausschuss (Implementation Committee) . . . . . . . . . . . . . a) Ordentliche Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Außerordentliche Sitzungsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP) . . . . . a) Ordentliche Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Außerordentliche Tagungsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Sekretariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufgaben der Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Erfüllungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gutachterliche Hauptaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entgegennahme, Beschaffung und Auswertung von Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Tagung der Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Sekretariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mitwirkung im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus . . . . . b) Informationsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sitzungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Non-Compliance-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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29 29 30 31 31 33 34 34 35 35 36 36 36 36 37 38 38 39 39 40 41
8 Inhaltsverzeichnis a) Eingabe durch eine oder mehrere Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . b) Eingabe durch Selbstanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sekretariatsvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahren anlässlich der Tagung der Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . V. Verfahrensmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Partnerschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundsatz der Unparteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vertraulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenergebnis zu den beispielgebenden Eigenschaften des NonCompliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll . . . . . . . . . . . . . . . .
41 41 42 42 43 43 44 44 44 45 45 45 46
B. Das Non-Compliance-Verfahren und die hergebrachten Arten der friedlichen Streitbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I. Diplomatische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Verhandlungen (negotiations) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Gute Dienste (good offices) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Untersuchung (enquiry/fact-finding/inquiry) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Vermittlung (mediation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 5. Vergleich (conciliation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 II. Gerichtliche und schiedsgerichtliche Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Schiedsspruch (arbitration) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Gerichtliche Entscheidung (judicial settlement) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 III. Das Non-Compliance-Verfahren: zwischen Konsens und Konfrontation . 49 2. Kapitel Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention und seine Besonderheiten gegenüber anderen Non-Compliance-Verfahren A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsgrundlage des Non-Compliance-Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . II. Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Erfüllungsausschuss (Compliance Committee) . . . . . . . . . . . . . . . a) Ordentliche Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Außerordentliche Sitzungsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP) . . . . . a) Ordentliche Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Außerordentliche Tagungsteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Sekretariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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51 51 52 53 53 58 61 61 61 62
Inhaltsverzeichnis9 III. Aufgaben der Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Der Erfüllungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 a) Gutachterliche Hauptaufgaben bezüglich konkreter Fälle . . . . . . . . 63 b) Allgemeine Aufgaben der Erfüllungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Die Tagung der Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Das Sekretariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Mitwirkung im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus . . . . . 66 b) Informationsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Sitzungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 IV. Das Non-Compliance-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Sachentscheidungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a) Einleitungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Beschwerdeberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 aa) Eingabe durch Staatenbeschwerde (submission) . . . . . . . . . . . 70 (1) ACCC/S/2004/1 (Ukraine) – Bystroe-Kanal-Fall . . . . . . 72 (2) ACCC/S/2015/2 (Weißrussland) – Kernkraftwerk Ostrowez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 bb) Eingabe durch Selbstanzeige (submission) . . . . . . . . . . . . . . . . 79 (1) ACCC/S/2016/3 (Albanien) – Tirana Lake Park . . . . . . 80 cc) Sekretariatsvorlage (referral) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 dd) Individualbeschwerde (communication) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 ee) Initiativrecht des ACCC? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 c) Zusätzliche Sachentscheidungsvoraussetzungen der Individualbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 aa) Bereitstellung ausreichender Informationen . . . . . . . . . . . . . . . 89 bb) Keine Anonymität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 cc) Keine Rechtsmissbräuchlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 (1) Einreichung bereits entschiedener Sachverhalte . . . . . . . 91 (2) Erheblich verspätete Einreichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (3) Einreichung bei einem anderen internationalen Entscheidungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (4) Ungeordnete Übermittlung zahlreicher Informationen . . 96 dd) Keine offensichtliche Unangemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 (1) Anschein der Unzufriedenheit und Gefühl Zeuge einer rechtlichen Benachteiligung geworden zu sein . . . . . . . 97 (2) Verfrühtes Vorbringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (3) Formelle Unzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (4) Sonstige Fälle ohne Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 ee) Unvereinbarkeit mit der Verfahrensordnung oder der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (1) Fälle unterhalb der Mindestvoraussetzungen für eine Untersuchung (de minimis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (2) Materielle Unzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
10 Inhaltsverzeichnis (3) Keine Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 (4) Einreichung durch staatliche Stelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 (5) Offensichtliche Unbegründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (6) Keine Superrevision für national erfolglose Prozesse . . . 107 (7) Erheblich verspätete Einreichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 (8) Verletzung nicht zurechenbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 (9) Andauerndes, nationales Gesetzgebungsverfahren . . . . . 110 (10) Sonstige Fälle ohne Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 ff) Rechtswegerschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Verfahren vor dem ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Konsultation der betroffenen Vertragspartei (Individualbeschwerde) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Verhandlungen vor dem ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 aa) Bestellung eines Berichterstatters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 bb) Finale Entscheidung über die Zulässigkeit (Individualbeschwerde) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 cc) Beschaffung zusätzlicher Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 dd) Formale Verhandlungen (hearings) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 c) Beratung und Beschlussfassung des ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 d) Entscheidungsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 aa) Aufbau einer Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Mögliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (1) Originäre Maßnahmen der Tagung der Vertragsparteien . 122 (a) Erklärungen der Nichteinhaltung (declarations of non-compliance) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (b) Verwarnungen (cautions) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (aa) Turkmenistan (2009–2011; 2013–2014) . . . . . . 123 (bb) Ukraine, Bystroe-Kanal-Fall (2011–2017) . . . . 125 (cc) Bulgarien (2017–) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (c) Suspendierung (suspension) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 (2) Derivative Maßnahmen des ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (a) Maßnahmen in Absprache mit der betreffenden Vertragspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (b) Maßnahmen nach Vereinbarung mit der betreffenden Vertragspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Verfahren anlässlich der Tagung der Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . 129 4. Verfahrensmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Partnerschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 aa) Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 bb) Grundsatz der Unparteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 cc) Vertraulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 dd) Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Inhaltsverzeichnis11 V. Zwischenergebnis zum Non-Compliance-Mechanismus der AarhusKonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 B. Die Besonderheiten des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention gegenüber anderen Non-Compliance-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beschwerdeberechtigung der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unabhängigkeit der Mitglieder des Erfüllungsausschusses . . . . . . . . . . . . III. Rolle und Stellung von NGOs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Kapitel
Die Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
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A. Das Erfüllungsverhalten der Vertragsparteienund die Entscheidungen des ACCC im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Öffentlichkeitsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142 143 144 147
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konventionanhand der Entscheidungen des ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 I. Die Erfüllungsdefizite der Europäischen Union im Allgemeinen . . . . . . . 149 II. Der Fall ACCC/C/2008/32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Das Verfahren vor dem ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Das Verfahren anlässlich der 6. Tagung der Vertragsparteien . . . . . . . 152 3. Die weitere Umsetzung der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4. Der Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Aarhus-Verordnung 155 Exkurs: Das Klageverfahren nach Art. 12 Aarhus-VO . . . . . . . . . . . . . 156 5. Die Einschätzung des ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Weiterhin keine Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne . . . . . . . . . 159 b) Anfechtbarkeit von Akten ohne rechtlich „bindende“ Wirkung . . . 159 c) Keine Ausnahme für umsetzungsbedürftige „Verwaltungsakte“ . . . 160 d) Fall ACCC/C/2015/128 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 6. Rechtliche Zwischenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Art. 267 AEUV und der unionale Gerichtsverbund . . . . . . . . . . . . . 162 7. Einlenken in letzter Minute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 8. Was lange währt, wird endlich gut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Wesentliche Inhalte des VO-Entwurfs vom 23.07.2021 . . . . . . . . . 168 aa) Zur fehlenden Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne . . . . . . . 168 (1) Möglichkeit 1: Beeinträchtigung und „Unmittelbarkeit“ der Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (2) Möglichkeit 2: „Ausreichendes öffentliches Intresse“ und öffentliche Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
12 Inhaltsverzeichnis bb) Zur Anfechtbarkeit von Akten ohne rechtlich „bindende“ Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zur vormaligen Ausnahme für umsetzungsbedürftige „Verwaltungsakte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Fall ACCC/C/2015/128 und die Ausnahme für den Bereich der Beihilfenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Weitere Anpassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfahrensfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Veröffentlichung von Anträgen und Entscheidungen . . . (3) Elektronischer Rechtsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Klageverfahren nach Art. 12 Aarhus-VO . . . . . . . . . . . . . (5) Wirksamwerden der Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition einer „unmittelbaren Beeinträchtigung“ . . . . . . . . . bb) Die hohe Hürde von 4.000 Mitgliedern der Öffentlichkeit aus 5 Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Keine Änderung von Art. 12 Abs. 1 Aarhus-VO . . . . . . . . . . . dd) Spätes Wirksamwerden der Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169 169 169 170 170 171 171 171 172 172 172 176 177 178
C. Zwischenergebnis zur Umsetzung der Aarhus-Konventiondurch die Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4. Kapitel Nicht Fisch, nicht Fleisch – Wie der innovative Charakter des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention sich in vergangenen und gegenwärtigen Streitfragen um das ACCC widerspiegelt
179
A. Institutionelle Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 I. Zum Verhältnis von Art. 15 Aarhus-Konvention (Non-Compliance-Verfahren) und Art. 16 Aarhus-Konvention (hergebrachte völkerrechtliche Streitbeilegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Zum Inhalt von Art. 16 Aarhus-Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Standpunkt der Verfahrensordnung des Non-Compliance-Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Rechtswissenschaftliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Hierarchisches Verständnis nach Pitea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 b) Vorschlag für ein komplementäres Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . 182 II. Gefahr einer „Vergerichtlichung“ (judicialisation) des Non-ComplianceVerfahrens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1. Rechtsqualität der Entscheidungen des ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) „Spätere Übereinkunft“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK . . . . . . 186 aa) Ansicht für eine „spätere Übereinkunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Inhaltsverzeichnis13 bb) Kritische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) „Spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK . . . . . . . . . . . 189 aa) Ansicht für eine „spätere Übung“ nach Alternative 1 . . . . . . . 190 (1) Tatbestandsmerkmal „Übung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (2) Tatbestandsmerkmal „Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags“ . . . . . . . . . . . 191 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 bb) Ansicht für eine „spätere Übung“ nach Alternative 2 . . . . . . . 193 (1) Tatbestandsmerkmal „Übung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (2) Tatbestandsmerkmal „bei der Anwendung des Vertrags“ 193 (3) Tatbestandsmerkmal „Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags“ . . . . . . . . . . . 193 (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 cc) Kritische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 d) Einordnung anhand der Studienergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Möglichkeit der Suspendierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3. Ablauf des Verfahrens und der formalen Verhandlungen (hearings) vor dem ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4. Handhabung der Sachentscheidungsvoraussetzungen, insbesondere der Rechtswegerschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 III. Gerichtsähnlichkeit und Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1. Zum Verhältnis von ACCC und Europäischem Gerichtshof . . . . . . . . 203 a) Die Position von Generalanwältin Kokott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 b) Die Position von Generalanwalt Cruz Villalón . . . . . . . . . . . . . . . . 205 c) Eine mögliche Position des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . 206 aa) Gutachten 2/13 zum Beitritt der EU zur EMRK . . . . . . . . . . . 206 (1) Inhalt des Beitrittsabkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (2) Stellungnahme der Generalanwältin Kokott . . . . . . . . . . . 208 (3) Inhalt des Gutachtens 2/13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 (4) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 bb) Urteil in der Rs. C-284/16 (Achmea) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (1) Verfahrensinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (2) Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet . . . . . . . . . . 212 (3) Inhalt des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 (4) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 e) Rezeption in der Fachöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2. Zum Verhältnis von ACCC und den Höchstgerichten der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 a) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 c) Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
14 Inhaltsverzeichnis d) England und Wales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Republik Irland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Rezeption in der Fachöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammensetzung des ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestellung von unabhängigen Privatpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorschlagsrecht der Umweltverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rezeption durch die Umweltverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Demokratische Legitimation der ACCC-Mitglieder . . . . . . . . . . . . V. Entwicklungsperspektive: ein „Europäischer Gerichtshof für Umweltmenschenrechte“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vor- und Nachteile einer Hochstufung des ACCC . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rezeption in der Fachöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Synergien und Verhältnis in Bezug auf die Non-Compliance-Mechanismen zu anderen umweltvölkerrechtlichen Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Zusammenwirken der Institutionen im Bystroe-Kanal-Fall . . . . . . . . II. Parallele Verfahren als Gegenstand der Prozessführung in den Fällen Kernkraftwerk Hinkley Point C und Kernkraftwerk Borssele . . . . . . . . . . III. Über konkrete Fälle hinausgehende Berührungspunkte . . . . . . . . . . . . . . .
225 226 227 228 229 229 231 231 231 233 234 235 236 237 242 246 248
C. Finanzielle Ausstattung der Aarhus-Konventionund Auswirkungen auf den Non-Compliance-Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Gesamtfazit und Zusammenfassung in Thesen
253
Summary and findings of the thesis
257
Anhang
261
I. Übersichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahrensordnung des ACCC bzw. des Non-Compliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention (Annex zu Decision I/7, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fragebogen der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rohdaten der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ergebnisse (ohne offene Angaben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergebnisse (nur offene Angaben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261 275 282 286 286 290
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Häufigkeit der Gründe für die Unzulässigkeit von Individualbeschwerden zwischen 2004 und März 2020 (66. ACCC-Sitzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Abbildung 2: Inanspruchnahme (gleich ob tatsächlich/versucht/geplant/ durch eine andere Person verfolgt o. ä.) anderer internationaler Entscheidungsmechanismen und sonstiger internationaler Abhilfemöglichkeiten im Rahmen von Individualbeschwerden 2004 bis 2020 im Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abbildung 3: Übersicht über die unzulässigen Individualbeschwerden und deren Gründe von 2004 bis März 2020 (66. ACCC-Sitzung) . . 113 Abbildung 4: Übersicht zur Nominierung der Mitglieder des ACCC durch NGOs von der ersten bis zur sechsten Amtsperiode . . . . . . . . . 140
Abkürzungsverzeichnis Aarhus-VO
Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft, ABl. L 264, 2006, S. 13 ff.
ACCC
Aarhus Convention Compliance Committee
AVR
Archiv des Völkerrechts
BB Betriebs-Berater BIT
Bilateral investment treaty (Bilaterales Investitionsschutzabkommen)
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung
EG
Europäische Gemeinschaft
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
Envtl. Pol’y & L.
Environmental Policy and Law
EU
Europäische Union
EuConst
European Constitutional Law Review
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EuR Europarecht EurUP
Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
FinnishYBIL
Finnish Yearbook of International Law
German L. J.
German Law Journal
IEAPLE
International Environmental Agreements: Politics, Law and Economics
Int’l Comm. L. Rev. International Community Law Review IO
International Organization
IPRax
Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts
IYBIL
Italian Yearbook of International Law
JEEPL
Journal for European Environmental & Planning Law
JZ Juristenzeitung
Abkürzungsverzeichnis17 MPEPIL NGO NILR NJW NVwZ PJIEL RECIEL UN UNECE VO-Entwurf vom 14.10.2020
VO-Entwurf vom 23.07.2021
WVRK Yale L.J. YBEEL ZaöRV ZEuP ZUR
Max Planck Encyclopedia of Public International Law Non-governmental organization (Nichtregierungsorganisation) Netherlands International Law Review Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Pécs Journal of International and European Law Review of European, Comparative & International Environmental Law United Nations (Vereinte Nationen) United Nations Economic Commission for Europe (Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen) Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft, Az. COM(2020) 642 final, 14.10.2020 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1367/ 2006, wie er nach dem letzten Trilog dem Vorsitzenden des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) des Europäischen Parlaments am 23.07.2021 übermittelt worden ist, abrufbar unter https:// unece.org/sites/default/files/2021-07/frPartyM3_23.07.2021_an nex1.pdf, abgerufen am 25.08.2021 Wiener Vertragsrechtskonvention/Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Yale Law Journal Yearbook of European Environmental Law Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Umweltrecht
Einleitung: Hinführung, Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise I. Von der gesellschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Relevanz der Beschäftigung mit dem ACCC Man braucht nicht viele Worte darüber zu verlieren, dass der Umgang mit dem andauernden anthropogenen Klimawandel sowie der fortdauernden weltweiten Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen eine der drängendsten Fragen unserer Zeit darstellt.1 International war die Freude groß, als man sich 2015 in Paris auf gemeinsame Bemühungen zur langfristigen Begrenzung der Erderwärmung auf „deutlich unter 2° C“2 einigen konnte,3 doch gleichzeitig mischten sich Zweifel unter den Jubel.4 Die weltweite Umsetzung des Zwei-Grad-Ziels wird immer wieder als zu langsam kritisiert und die Anstrengungen der Staaten als nicht ausreichend betrachtet.5 Mehr noch als im nationalen Umwelt- und Naturschutzrecht6 befindet sich eine große Lücke zwischen den in Normen gegossenen Ambitionen und deren Einhaltung.
1 Vgl. dazu bereits IPCC (Hrsg.), Climate Change 2014: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, 2014; von Weizsäcker/Wijkman u. a., Club of Rome: Der große Bericht – Wir sind dran: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen, 2017. 2 Siehe Art. 2 Abs. 1 a) Pariser Übereinkommen vom 12.12.2015. 3 Vgl. die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung, „Die Welt will die Klimawende“, Ausgabe vom 14.12.2015, S. 1. 4 Vgl. International New York Times, „Climate pact gives a step, if not a cure“, Ausgabe vom 14.12.2015, S. 1; Le Monde, „Climat: un accord historique mais fondé sur un ‚droit mou‘ “, Ausgabe vom 15.12.2015, S. 16. 5 Vgl. beispielsweise das Interview zu den Ergebnissen der 24. UN-Klimakonferenz in Kattowitz mit Jan Christoph Minx (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change, Berlin), „Viel zu wenig und viel zu langsam“, Deutschlandfunk, 17.12.2018; vgl. außerdem das Interview zu den Ergebnissen der 25. UN-Klimakonferenz in Madrid mit Niklas Höhne (New Climate Institute, Köln), „Phlegmatismus und Dreistigkeit haben mich sehr enttäuscht“, Deutschlandfunk, 16.12.2019. 6 Dazu bereits Wegener, Rechte des Einzelnen, 1998, S. 17.
20
Einleitung: Hinführung, Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise
Es bräuchte also ein Vehikel, um dieses Umsetzungsdefizit zu überwinden und auf eine effektive Einhaltung der Vorschriften zu dringen. Schon heute geht auf dem europäischen Kontinent die umweltvölkerrechtliche Aarhus-Konvention7 diesen Weg. Sie gibt Umweltverbänden und Einzelpersonen seit 2001 die Möglichkeit die Einhaltung von Umwelt- und Naturschutzvorschriften einzuklagen und damit deren Umsetzung notfalls gerichtlich zu erzwingen.8 Somit kann sie auch im Fall von klimaschützenden Vorschriften zur Umsetzung des Pariser Übereinkommens zukünftig eine wertvolle Hilfe sein. Eines der im Kontext der Aarhus-Konvention bisher wohl öffentlichkeitswirksamsten Beispiele in Deutschland sind die von dem Umweltverband Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH) initiierten Klagen in Bezug auf eine bessere Luftreinhaltung in besonders verkehrsbelasteten Innenstädten.9 Das Vehikel der Aarhus-Konvention, das zur Einklagbarkeit der relevanten Vorschriften und Grenzwerte führt, hat den Erfolg solcher Klagen in entscheidender Weise gefördert. Neben Rechtsschutzgarantien enthält die Aarhus-Konvention auch Informations- und Öffentlichkeitsbeteiligungsrechte für Umweltverbände und Einzelne.10 Durch diese „drei Säulen“ soll die Aarhus-Konvention dafür sorgen, dass begleitet durch eine aufmerksame Zivilgesellschaft die effektive Umsetzung von umwelt- und naturschützenden rechtlichen Verpflichtungen gelingt. Damit liegt der Aarhus-Konvention ein universelles Konzept zugrunde, das weltweit erfolgreich Schule machen kann.11 7 Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vom 25.06.1998, in Kraft seit 30.10.2001; siehe ILM 38 (1999), S. 517 ff.; unterzeichnet im Namen der EG am 25.06.1998, genehmigt im Namen der EG mit Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17.02.2005, ABl. 2005, L 124, S. 1 ff.; von der Bundesrepublik Deutschland wurde das Übereinkommen am 21.12.1998 unterzeichnet, der Gesetzgeber erteilte am 09.12.2006 seine Zustimmung, BGBl. II 2006, S. 1251 f. 8 Das bedeutet nicht, dass das bereits 1998 von Wegener angemahnte Vollzugsdefizit (Fn. 6) im deutschen Umwelt- und Naturschutzrecht dadurch beseitigt worden wäre. Vielmehr haben sich die Diskussionen dahin verlagert, wer gerichtlichen Zugang zu einer ex-post-Kontrolle der Einhaltung dieser Vorschriften haben darf. 9 Vgl. Deutsche Umwelthilfe (DUH) (Hrsg.), Hintergrundpapier: Klagen für saubere Luft, 2019. 10 Vgl. die überblickshafte Darstellung dieser sog. „drei Säulen“ der Aarhus-Konvention von Bunge, in: Aarhus-Handbuch, 2019, Einleitung, Rn. 11 ff. 11 Prozedurale Garantien in Umweltsachen werden bereits aus Art. 11 und 12 UNSozialpakt (Rechte auf Nahrung und Gesundheit), Art. 24 Banjul-Charta (Recht auf Umwelt) sowie Art. 8 und 10 EMRK (Rechte auf Achtung des Privat- und Familien-
Einleitung: Hinführung, Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise21
Es ist auch deshalb so erfolgreich, weil ein zweistufiger Überprüfungsmechanismus für die Einhaltung der Konvention durch die Vertragsparteien sorgt. Im Zentrum dieses Mechanismus steht ein sog. Compliance Committee („Erfüllungsausschuss“), d. h. ein Überwachungsgremium, an das auch Individualbeschwerden herangetragen werden können. Es befindet auf einer ersten Stufe über die eingereichten Beschwerden. Dieses sog. Aarhus Convention Compliance Committee (kurz: ACCC) ist kein Gericht und doch ähneln seine Erwägungen in gewisser Weise Urteilen über die Einhaltung der Konvention durch die Vertragsparteien. Der Vergleich mit einer urteilsähnlichen Entscheidung liegt auch deshalb nicht fern, weil die auf einer zweiten Stufe angesiedelte, für eine völkerrechtliche Verbindlichkeit obligatorische Bestä tigung (endorsement) der Entscheidungen des ACCC durch die Tagung der Vertragsparteien regelmäßig erteilt wird. Die Potentiale faktischer Wirkmächtigkeit der ACCC-Entscheidungen sind beträchtlich. Konfrontiert mit der ACCC-Entscheidung im Fall ACCC/C/ 2008/32 (Part II)12 fühlte sich die Europäische Kommission im Juni 2017 dazu herausgefordert zu verlauten, dass die Feststellungen des ACCC die verfassungsrechtlichen Grundsätze des EU-Rechts derart in Zweifel zögen, dass es der Europäischen Union rechtlich unmöglich sei den Feststellungen zu folgen und sich daran zu halten.13 Seither schwelte ein offener Konflikt zwischen der Europäischen Union und anderen Vertragsparteien der AarhusKonvention, der jedoch innerhalb der Europäischen Union für einige Bewegung sorgte. Worum genau es sich bei diesem Konflikt handelt und ob sich das ACCC tatsächlich mit seinen Ansichten durchsetzen konnte, wird in dieser Arbeit im Rahmen des dritten Kapitels zur Umsetzung der Konvention durch die Vertragsparteien näher betrachtet. lebens sowie Meinungsfreiheit) hergeleitet. Als direkt durch die Aarhus-Konvention inspiriert gilt Art. 16 der 2016 in Kraft getretenen und 2017 revidierten Afrikanischen Konvention über die Erhaltung der Natur und natürliche Ressourcen. Vgl. grundlegend dazu Beyerlin, ZaöRV 2005, 525 (537 ff.). In jüngster Zeit, am 22.04.2021, ist zudem das „Abkommen für den Zugang zu Justiz, Information und öffentlicher Teilhabe in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik“ (Escazú-Abkommen) in Kraft getreten, siehe dazu Maihold/Reisch, SWP-Aktuell Nr. 1, Januar 2021, abrufbar unter https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2021A01_ EscazuAbkommen.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 12 ACCC, Findings and recommendations of the Compliance Committee with regard to communication ACCC/C/2008/32 (Part II) concerning compliance by the European Union, ECE/MP.PP/C.1/2017/7, 17.03.2017. 13 Europäische Kommission, Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Standpunkt, der im Namen der Europäischen Union auf der sechsten Tagung der Vertragsparteien des Übereinkommens von Aarhus in Bezug auf die die Einhaltung des Übereinkommens betreffende Sache ACCC/C/2008/32 zu vertreten ist – Begründung, 29.06.2017, COM(2017) 366 final, S. 7.
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Einleitung: Hinführung, Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise
Fest steht, dass mit dem ACCC seit 2004 ein Akteur die europäische Bühne der in Rechtsfragen entscheidenden Institutionen bespielt, dem sich die rechtswissenschaftliche Forschung bisher zu wenig gewidmet hat. Dabei dürfte angesichts des weiterwachsenden gesellschaftlichen Bewusstseins für Umweltfragen und der damit einhergehend wachsenden Bereitschaft die Einhaltung von Umwelt- und Naturschutzvorschriften auch juristisch einzufor dern,14 die Bedeutung des ACCC nur zunehmen. Von den anderen institutionellen Akteuren wird dies nicht unbeobachtet bleiben. Namentlich der Europäische Gerichtshof ist durch das Gutachten 2/1315 zum EMRK-Beitritt der Europäischen Union und durch das 2018 ergangene Urteil in der Rs. C-284/16 (Achmea)16 bekannt für sein jurisdiktionelles Hegemoniestreben. Das Verhältnis von ACCC und Europäischem Gerichtshof bedarf daher einer eingehenden Analyse, wie sich ein selbstbewusstes ACCC und der Europäische Gerichtshof mit seinem ausgeprägten Alleinentscheidungsanspruch gegenüberstehen.17
II. Wissenschaftliche Vorgehensweise Die Arbeit macht es sich zur Aufgabe mehr Klarheit und Überblick zur Institution des ACCC zu schaffen und erstmalig die kontroversen Diskussionen um das ACCC als ganz besondere Form eines internationalen Erfüllungsausschusses in einem Werk zu systematisieren. Außerdem zielt sie da rauf ab, Lösungsansätze zu aktuell noch offenen Fragen zu untersuchen sowie Anknüpfungspunkte für zukünftige Entwicklungen aufzuzeigen und zu analysieren. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Entstehungsgeschichte des ACCC vor dem Hintergrund anderer derartiger umweltvölkerrechtlicher Compliance Committees („Erfüllungsausschüsse“). Diese Einordnung geschieht außerdem angesichts der Unterscheidung zwischen Non-ComplianceVerfahren (Teil eines solchen ist das ACCC) und den hergebrachten Arten der völkerrechtlichen Streitbeilegung nach Art. 33 Abs. 1 UN-Charta. Gegenstand des folgenden zweiten Kapitels ist die Erörterung des zweistufigen Non-Compliance-Verfahrens nach der Aarhus-Konvention.
14 Vgl. zu dieser Bereitschaft, die im Hinblick auf allein grundrechtsgestützte Klimaklagen auch kritisch hinterfragt werden kann, Wegener, ZUR 2019, 3. 15 EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454 – EMRK-Beitritt II; vgl. dazu Wendel, NJW 2015, 921. 16 EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158 – Achmea; vgl. dazu Wernicke, NJW 2018, 1644. 17 Siehe dazu näher unten 4. Kapitel A. III.
Einleitung: Hinführung, Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise23
Es schließt sich ein drittes Kapitel zur Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien unter spezieller Berücksichtigung der bereits erwähnten, streitigen Entscheidung im Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) an. Nach den grundlegenden Erwägungen der Kapitel eins bis drei folgt mit dem vierten Kapitel das Herzstück der Arbeit. Hier sollen die Kontroversen um das ACCC umfassend methodisch aufgearbeitet werden. Dadurch öffnet sich das Feld der Betrachtung auch über eine Analyse der Gegenwart hinaus und lässt den Blick frei werden auf zukünftige Entwicklungspotentiale, denen sich das ACCC möglicherweise gegenübersieht. Die Arbeit beschließt ein Gesamtfazit, in dessen Rahmen die wesentlichen Thesen zusammengefasst werden.
III. Methodik Da sich die Forschung zum ACCC in einem Schnittbereich zwischen Umweltvölkerrecht und Internationalen Beziehungen bewegt, vermag die rechtswissenschaftliche Analyse allein kein vollständiges Bild der Fragestellungen um das ACCC zu zeichnen. Daher werden die rechtswissenschaftlichen Erwägungen an einigen Stellen der Arbeit, vor allem im Rahmen des vierten Kapitels, um die Ergebnisse einer zu diesem Zweck durchgeführten Studie ergänzt. Zielgruppe der Interviews, die über ein Online-Umfrage-Tool durchgeführt wurden, waren aktuelle und ehemalige Mitglieder des ACCC, die mit der Begleitung der Aarhus-Konvention betrauten Verwaltungsmitarbeiter der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE), offizielle Vertreter der Regierungen der Vertragsparteien und Nicht-Vertragsparteien, die am Non-Compliance-Verfahren beteiligten NGOs sowie Experten aus der Rechtswissenschaft. Die Teilnehmer wurden auf verschiedene Weise gewonnen: Es erfolgte eine persönliche Ansprache vor Ort im Rahmen einer Reise zur 66. Sitzung des ACCC vom 9. bis 13. März 2020 in Genf. An ausgewählte Rechtswissenschaftler und Forschungskontakte des Lehrstuhls wurde ein TeilnahmeLink per E-Mail versandt. Außerdem wurden alle offiziellen Delegationen der Vertragsparteien und Nicht-Vertragsparteien sowie der NGOs, die an der zurückliegenden 6. Tagung der Vertragsparteien in Montenegro (2017) teilnahmen, per E-Mail eingeladen. Als Erfassungszeitraum wurde der 19. Fe bruar 2020 (0.00 Uhr) bis 12. April 2020 (0.00 Uhr) festgelegt, d. h. ca. drei Wochen vor der 66. Sitzung des ACCC bis ca. vier Wochen nach Sitzungsende. Das ACCC sowie das Sekretariat sahen sich mit Blick auf ihre Unparteilichkeit und Neutralität außer Stande als Interview-Partner zur Verfügung zu
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Einleitung: Hinführung, Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise
stehen. Es konnten schließlich folgende Personen erfasst werden: Ehemalige Mitglieder des ACCC (2), offizielle Vertreter der Vertragsparteien (1), Vertreter von NGOs (16) sowie Wissenschaftler (5). Nicht alle dieser 24 Gesamtteilnehmer, die die Pflichtfragen zu ihrer Person beantwortet haben, bearbeiteten anschließend das vollständige Interview. Der Feldbericht des OnlineUmfrage-Tools weist 20 beendete Interviews aus. Die 24 Gesamtteilnehmer haben 16 verschiedene Vertragsstaaten als Herkunftsland angegeben.18 Insgesamt zählt die Aarhus-Konvention derzeit 46 Vertragsstaaten. Das Herkunftsland eines Gesamtteilnehmers ist der Nicht-Vertragsstaat Russland. 20 der 24 Gesamtteilnehmer besitzen einen fachlich-juristischen Hintergrund, wogegen 4 der 24 Gesamtteilnehmer keinen solchen Hintergrund angaben.19
18 Im Detail waren dies folgende Vertragsstaaten: Belgien (4), Deutschland (3), Großbritannien, Irland, Kasachstan, Lettland, Nordmazedonien, Österreich, Portugal, Republik Moldau, Schweden, Spanien, Tschechien (2), Ukraine (2), Ungarn, Weißrussland. 19 Der Fragebogen und die Rohdaten der Studie sind dem Anhang dieser Arbeit zu entnehmen.
1. Kapitel
Die Entstehungsgeschichte des ACCC vor dem Hintergrund anderer Compliance Committees (Erfüllungsausschüsse) und der Unterscheidung zwischen Non-Compliance-Verfahren und den hergebrachten Arten völkerrechtlicher Streitbeilegung Schon bei Hugo Grotius ist zu lesen, dass sich zwischenstaatliche Konflikte durch einen Schiedsspruch (Kompromiss) vermeiden lassen.1 Der Schiedsspruch als Mittel der völkerrechtlichen Streitbeilegung ist gem. Art. 33 Abs. 1 UN-Charta bis heute ein fester Bestandteil des Methodenkanons zur fried lichen Streitbeilegung geblieben. Dabei ist der Schiedsspruch jedenfalls insofern rückwärtsgewandt, wenn sich das Schiedsverfahren nur mit der Aufarbeitung vergangener Rechtsverstöße beschäftigt. Eine demgegenüber zukunftsgewandte Denkrichtung liegt der völkervertragsrechtlichen Erfüllungskontrolle zugrunde.2 Während sie mit einem Auge auf einen etwaigen Rechtsverstoß blickt, sieht das andere Auge in die Zukunft, für die es die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen als Ganzes sicherzustellen gilt. In der Annahme, dass es bei vielen Staaten nicht am „Wollen“, sondern zumindest auch am „Können“ liegt, dass sie ihre internationalen Verpflichtungen nicht einhalten, ist unter Vermeidung von Gegenmaßnahmen die Sicherstellung der (Wieder-)Erfüllung völkervertraglicher Verpflichtungen auch durch das unterstützende Mittel der Erfüllungshilfe3 das oberste Ziel der Erfüllungskontrolle.4 1 Siehe Grotius, De jure belli ac pacis libri tres (1625), Übersetzung von Walter Schätzel, 1950, Zweites Buch, 23. Kapitel, VIII. 2 Einführend dazu Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 2000, Rn. 479 ff.; Beyerlin/Marauhn, International Environmental Law, 2011, S. 317 ff.; Koch/Buck/Verheyen, Umweltrecht, 2014, § 1, Rn. 79 ff. 3 Vgl. dazu Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 2000, Rn. 504 ff.; Beyerlin/Marauhn, International Environmental Law, 2011, S. 343 ff.; Koch/Buck/Verheyen, Umweltrecht, 2014, § 1, Rn. 74 ff. 4 Vgl. zur Unterstützung dieser Annahme Chayes/Handler Chayes, The New Sovereignty, 1995, S. 9 ff.; 13 ff.; weiterhin machen Chayes/Handler Chayes neben mangelnden Möglichkeiten („Limitations on Capacity“) mehrdeutige Formulierungen
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
Historisch gelten unter anderem die Rheinkommission (1804/1815), die Internationale Arbeitsorganisation (1919)5 und die Mandatskommission des Völkerbundes (1920) als erste frühe Beispiele für sich entwickelnde völkerrechtliche Institutionen zur Erfüllungskontrolle im Gegensatz zur damals vorherrschenden wechselseitigen diplomatischen Kontrolle durch die Staaten.6 Im weiteren Verlauf der Geschichte hat sich gezeigt, dass die Einrichtung von Institutionen der Erfüllungskontrolle immer dann das Mittel der Wahl darstellt, wenn die Betroffenheit Dritter (z. B. Menschenrechte7) oder der Erhalt von Gemeinschaftsgütern (z. B. Umweltschutz8) in Rede stehen. Mit den traditionellen Mitteln des Völkerrechts wäre vor allem im Bereich des Umweltschutzes ein Weiterkommen zugunsten der jeweiligen Schutzziele („Ambiguity“) und die Tatsache, dass völkerrechtliche Verträge teilweise Ziele formulieren, deren Umsetzung Zeit braucht („The Temporal Dimension“), für Compliance-Verstöße verantwortlich; teils verschiedene, teils diesen Annahmen gegenläufige Argumentationsansätze finden sich bei Downs/Rocke/Barsoom, IO 1996, 379 ff.; Koh, Yale L.J. 1997, 2599 ff. sowie Brunnée/Toope, FinnishYBIL 2002, 273 ff.; siehe alle diese Ansätze zusammenfassend Fitzmaurice, Environmental Compliance Control, in: MPEPIL, 2010, Rn. 2 ff.; zur Rolle von Gegenmaßnahmen Rn. 6 ff. In den Sitzungs protokollen des ACCC wird später vor der inhaltlichen Beratung der ersten fünf Individualbeschwerden folgende Feststellung nachzulesen sein: „The Committee would start from the assumption that any non-compliance with international obligations was not due to a will or intention not to comply.“, s. ACCC, Report on the Sixth Meeting, MP.PP/C.1/2004/8, 2004/2005, Ziff. 16; inwiefern nicht tatsächlich teilweise mit Absicht oder aus (bewusster) Nachlässigkeit gegen die Aarhus-Konvention verstoßen wird, ist eine andere Frage, siehe dazu die Rohdaten zu Frage 6 der Studie im Anhang dieser Arbeit. 5 Zu diesem frühen Beispiel näher Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 64 ff. Die herausragende Überblicksarbeit von Ehrmann zur Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, die in diesen historischen Ausführungen und auch darüber hinaus in dieser Arbeit immer wieder zitiert wird, hat für den Verfasser wesentlich dazu beigetragen das Konzept der Erfüllungskontrolle zu verstehen und liegt der Arbeit damit vor allem in ihrer historischen und rechtstheoretischen Dimension geistig zugrunde. 6 Vgl. eingehend zu den frühen Entwicklungen der internationalen Kontrolle Lang, Verhinderung von Erfüllungsdefiziten im Völkerrecht, in: Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, S. 817 ff.; eine breit angelegte historische Einordnung liefert zudem Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 90 ff.; beide nehmen unter anderem Bezug auf die frühen Untersuchungen von Kaasik, Le Contrôle en Droit International, 1933. 7 Vgl. Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 69 ff. 8 Dazu Beyerlin, Umweltvölkerrecht, 2000, Rn. 470: „Gerade multilaterale Umweltübereinkommen mit ihren integralen Verpflichtungsstrukturen verlangen nach einem Kontrollverfahren, das weniger die Streitbeilegung zwischen einzelnen Parteien als vielmehr die Erfüllungssicherung zum Nutzen der Vertragsgemeinschaft insgesamt zum Ziel hat.“
1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund27
nur schwerlich möglich.9 Am wahrscheinlichsten erscheint die Gefahr, dass die Vertragsparteien die Schutzziele mehr und mehr unberücksichtigt ließen und ohne die wiederkehrende Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Erfüllungsverhalten der in Rede stehende völkerrechtliche Vertrag in seiner tatsächlichen Wirkung zu nicht mehr als einer Absichtserklärung geriete. Auch im Bereich des internationalen Finanz- und Wirtschaftsrechts haben sich multilaterale Ansätze der Erfüllungskontrolle bewährt.10 Der moderne Non-Compliance-Mechanismus als anlassbezogenes Mittel der Erfüllungskontrolle geht zurück auf das Montrealer Protokoll über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen (1992).11 Er verbindet partnerschaftliche Elemente mit jenen eines klassischen kontradiktorischen Verfahrens. Kommt es zum Streitfall, so nimmt typischerweise zunächst ein mitunter staatenunabhängiges Compliance bzw. Implementation Committee („Erfüllungsausschuss“) in gutachterlicher Funktion Stellung zum Fall und empfiehlt Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vertragstreue (Compliance). Hiernach werden Fall und Gutachten der Tagung der Vertragsparteien als dem politischen Exekutivorgan vorgelegt. Diese entscheidet final über den Fall und ordnet konkrete Maßnahmen an, welche von Erfüllungshilfe bis zu Sanktionen reichen können. Während der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll vor knapp 30 Jahren einen beispiellosen Fortschritt in dem durch ein erhebliches Umsetzungsdefizit12 geprägten Bereich des Umweltvölkerrechts bedeutete, hat dieses Kontrollverfahren seither eine Vielzahl von Nachahmungen und Variationen erfahren. Zu nennen sind neben dem Non-ComplianceMechanismus zur Aarhus-Konvention (2002)13 unter anderen die Non-Com9 Vgl. ausführlich zu den Unzulänglichkeiten der traditionellen Rechtsdurchsetzung im Umweltvölkerrecht Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 34 ff. 10 Vgl. Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 81 ff. 11 Vgl. zum Non-Compliance-Verfahren nach dem Montrealer Protokoll die Ausführungen weiter unten sowie Romanin Jacur, The Non-Compliance Procedure of the 1987 Montreal Protocol to the 1985 Vienna Convention on Substances that Deplete the Ozone Layer, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 11 ff. 12 Vgl. zum nachlässigen Umgang der Staaten allein mit ihren Berichtspflichten und zur noch untergeordneten Rolle von Non-Compliance-Verfahren zu Anfang der 1990er Jahre UNCED Sekretariat (Hrsg.), Survey of existing international environmental agreements and instruments, A/CONF.151/PC/103 und Addendum 1, 1991, zitiert nach: Sand (Hrsg.), The Effectiveness of International Environmental Agreements, 1992, S. 13 ff. 13 Vgl. für eine Einführung Koester, JEEPL 2005, 31; Morgera, RECIEL 2005, 138; Marshall, Int’l Comm. L. Rev. 2006, 123; Pitea, IYBIL 2006, 85; Koester, Envtl. Pol’y & L. 2007, 83; Koester, The Convention on Access to Information, Pub-
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
pliance-Mechanismen zur Basler Konvention (2002)14, zur Alpenkonvention (2002)15, zur Espoo-Konvention (2004)16, zum Cartagena-Protokoll (2005)17, zum Kyoto-Protokoll (2005)18, zum Genfer Luftreinhalteabkommen (1997/ 2006)19, zum Protokoll über Wasser und Gesundheit (2007)20, zum Protokoll zur Londoner Konvention (2007)21, zur Barcelona-Konvention (2008)22, zum PRTR-Protokoll (2010)23, zum Internationalen Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (2013)24 sowie die im lic Participation in Decision-Making and Access to Justice in Environmental Matters (Aarhus Convention), in: Making Treaties Work, 2007, S. 179 ff.; Kravchenko, YBEEL 2007, 1; Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 221 ff.; Jendrośka, JEEPL 2011, 301. 14 Vgl. dazu Fodella, Mechanism for Promoting Implementation and Compliance with the 1989 Basel Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 33 ff. 15 Vgl. dazu Pineschi, The Compliance Mechanism of the 1991 Convention on the Protection of the Alps and its Protocols, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 205 ff. 16 Vgl. dazu Fasoli, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1991 Espoo Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 181 ff. 17 Vgl. dazu Ragni, Procedures and Mechanisms on Compliance under the 2000 Cartagena Protocol on Biosafety, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 101 ff. 18 Vgl. dazu Urbinati, Procedures and Mechanisms Relating to Compliance under the 1997 Kyoto Protocol to the 1992 United Nations Framework Convention on Climate Change, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 63 ff. 19 Vgl. dazu Milano, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1979 Long-Range Transboundary Air Pollution Convention and its Protocols, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 169 ff. 20 Vgl. dazu Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1999 Protocol on Water and Health, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 251 ff. 21 Vgl. dazu Trevisanut, The Compliance Procedures and Mechanisms of the 1996 Protocol to the 1972 London Convention on the Prevention of Marine Pollution by Dumping of Wastes and Other Matter, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 49 ff. 22 Vgl. dazu Papanicolopulu, Procedures and Mechanisms on Compliance under the 1976/1995 Barcelona Convention on the Protection of the Mediterranean Sea and its Protocols, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 155 ff. 23 Vgl. dazu Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 2003 Protocol on Pollutant Release and Transfer Registers to the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 263 ff. 24 Vgl. dazu Crema, Draft Procedures and Operational Mechanisms to Promote Compliance and to Address Issues of Non-Compliance under the 2001 International Treaty on Plant and Genetic Resources for Food and Agriculture, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 137 ff.
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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Entstehen befindlichen Mechanismen zum Rotterdamer Übereinkommen25 und zur Stockholm-Konvention26.27 Die Aufgabe der heutigen Völkerrechtswissenschaft ist es, dieses gewachsene Non-Compliance-Recht anhand der abgeschlossenen Verfahren und dabei beobachteten Verfahrenspraxis zu analysieren und zu systematisieren, um die entsprechenden Verfahren im Sinne ihrer Weiterentwicklung zu bewerten. Im Folgenden soll das Non-Compliance-Verfahren, wie es im Non-Com pliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll seinen Ursprung findet, vor allem vor dem Hintergrund seiner beispielgebenden Eigenschaften genauer dargestellt werden (A.). Anschließend soll eine Einordnung desselben in den Kontext der hergebrachten Arten der friedlichen Streitbeilegung erfolgen (B.).
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll – eine Blaupause28 I. Rechtsgrundlage des Non-Compliance-Mechanismus Die Ermächtigungsgrundlage zur Errichtung eines Non-Compliance-Mechanismus findet sich in Art. 8 des Montrealer Protokolls über Stoffe, die zu 25 Vgl. dazu Brugnatelli, Draft Procedures and Mechanisms on Compliance with the 1998 Rotterdam Convention on the Prior Informed Consent Procedure for Certain Hazardous Chemicals and Pesticides in International Trade, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 85 ff. 26 Vgl. dazu Bigi, Draft Non-Compliance Procedure under the 2001 Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 121 ff. 27 Vgl. zudem die Auflistung bei Fitzmaurice, Environmental Compliance Control, in: MPEPIL, 2010, Rn. 66. 28 Den Begriff „Blaupause“ (engl. „blueprint“) nutzt in Bezug auf den Vorbildcharakter des Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll auch Fitzmaurice, Environmental Compliance Control, in: MPEPIL, 2010, Rn. 56. Sie nennt zahlreiche weitere Verfahren, die auf dem Mechanismus zum Montrealer Protokoll basieren und weist gleichzeitig auf die besonderen Eigenschaften der Verfahren des Kyoto-Protokolls und der Aarhus-Konvention hin (Rn. 66). An anderer Stelle ist zu lesen, dass der Mechanismus der Aarhus-Konvention teilweise auf dem Verfahren des Genfer Luftreinhalteabkommens aufbaue, siehe Koester, The Compliance Mechanisms of the Aarhus Convention and the Cartagena Protocol on Biosafety: A Compar ative Analysis of the Negotiation Histories and their Outcomes, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 282. Das Verfahren des Genfer Luftreinhalteabkommens wird jedoch wiederum auf die Erfahrungen mit dem Verfahren zum Montrealer Protokoll zurückgeführt, siehe Milano, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1979 Long-Range Transboundary Air Pollution Convention and its Protocols, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 171. Die Einladung an die Vertragssekretariate verschiedener Mechanismen
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
einem Abbau der Ozonschicht führen.29 Hierauf gestützt hat die 4. Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP) nach einer zweijährigen Entwicklungs- und Übergangsphase durch Decision IV/530 1992 die finale Fassung eines Non-Compliance-Mechanismus beschlossen, der heute als vorbildhaft für zahlreiche weitere Non-Compliance-Mechanismen zu multilateralen Abkommen des Umweltvölkerrechts (Multilateral Environmental Agreements, MEAs) gilt.31
II. Institutionen Im Zentrum dieses Non-Compliance-Mechanismus steht der Erfüllungsausschuss, das sog. Implementation Committee. Als Exekutivorgan fungiert die Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP). Wertvolle Hintergrundarbeit für Erfüllungsausschuss und Tagung der Vertragsparteien leistet das Sekretariat, das darüber hinaus mit einem eigenen Initiativrecht ausgestattet ist.
der ersten Sitzung des ACCC beizuwohnen, kann nicht zuletzt als Verdeutlichung dieser Entwicklungslinien gelesen werden. Eingeladen wurden ein Vertreter des Sekretariats des Montrealer Protokolls, ein Vertreter des Sekretariats des Genfer Luftreinhalteabkommens und ein Vertreter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Weiterhin eingeladen war auch eine Vertreterin des Sekretariats der UNECEArbeitsgruppe zu Compliance and Enforcement, siehe ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 9. 29 Montrealer Protokoll über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen vom 16.09.1987, in Kraft seit 01.01.1989; für die ursprüngliche Textfassung siehe ILM 26 (1987), S. 1550 ff.; geändert bzw. angepasst 1990 (London), 1992 (Kopenhagen), 1995 (Wien), 1997 (Montreal) sowie 1999 (Peking); unterzeichnet im Namen der EWG am 15.09.1987, genehmigt im Namen der EWG mit Beschluss 88/540/ EWG des Rates vom 14.10.1988, ABl. 1988, L 297, S. 8 f.; von der Bundesrepublik Deutschland wurde das Protokoll am 15.09.1987 unterzeichnet, der Gesetzgeber erteilte am 15.12.1988 seine Zustimmung, BGBl. II 1988, S. 1014 f.; vgl. einführend zum Montrealer Protokoll sowie zur Historie der völkerrechtlichen Regulierung zur Verhinderung des Abbaus der Ozonschicht Brunnée, Ozone Layer Depletion, 1988, insb. S. 242 ff. 30 MoP IV (Montrealer Protokoll), Report of the Fourth Meeting of the Parties – Decision IV/5 und Annex IV, UNEP/OzL.Pro.4/15, 1992, S. 16; S. 52 ff.; kleinere Änderungen erfolgten schließlich noch einmal im Jahr 1998, vgl. die konsolidierte Fassung MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Decision X/10 und Annex II (Verfahrensordnung), UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 25 f.; S. 50 ff. 31 Zur Vorbildfunktion des Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll vgl. auch Bankobeza, Ozone Protection, 2005, S. 256 f.; Fitzmaurice, Environmental Compliance Control, in: MPEPIL, 2010, Rn. 56 ff.
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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1. Der Erfüllungsausschuss (Implementation Committee) a) Ordentliche Zusammensetzung Der Erfüllungsausschuss (Implementation Committee) besteht aus zehn Mitgliedern, die durch die Tagung der Vertragsparteien für zwei Jahre unter Berücksichtigung eines ausgeglichenen Verhältnisses in Bezug auf die geographische Herkunft der Kandidaten gewählt werden.32 Bei Errichtung des Non-Compliance-Mechanismus war nicht unumstritten, ob die Mitglieder des Erfüllungsausschusses als Vertreter der jeweiligen Vertragspartei bestellt werden sollten oder aber als in ihren Entscheidungen von der Vertragspartei unabhängige Privatpersonen.33 Letztendlich hat man sich für das konservativere Modell der Besetzung mit Staatenvertretern entschieden.34 In der Folgezeit blieb diese Frage auch bei der Errichtung anderer Non-Compliance-Mechanismen nach dem „Montrealer Modell“ ein Streitpunkt, dessen Lösung jeweils zu höchst unterschiedlichen Ausgestaltungen führte. Während im Rahmen der Non-Compliance-Mechanismen zum Genfer Luftreinhalteabkommen, zur Espoo-Konvention und zur Alpenkonvention die Mitglieder der Erfüllungsausschüsse eher als Staatenvertreter zu sehen sind,35 üben sie ihre Tätigkeit nach dem Kyoto-Protokoll, dem CartagenaProtokoll, der Stockholm-Konvention (Entwurf), der Barcelona-Konvention, der Aarhus-Konvention, dem Protokoll über Wasser und Gesundheit sowie
32 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 5. 33 Vgl. Ad-Hoc Working Group of Legal and Technical Experts on Non-Compliance with the Montreal Protocol, Report on the Work of the Working Group, UNEP/ OzL.Pro/WG.4/1/3, 1998, Ziff. 16; vgl. zudem Széll, Implementation Control: Noncompliance Procedure and Dispute Settlement in the Ozone Regime, in: Österreichische außenpolitische Dokumentation – Special Issue: The Ozone Treaties and their Influence on the Building of International Environmental Regimes, 1996, S. 49. 34 Vgl. Bankobeza, Ozone Protection, 2005, S. 261. 35 Vgl. Milano, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1979 Long-Range Transboundary Air Pollution Convention and its Protocols, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 173; Fasoli, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1991 Espoo Convention, in: NonCompliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 187 f.; Pineschi, The Compliance Mechanism of the 1991 Convention on the Protection of the Alps and its Protocols, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 210. Die Beobachtungen der Autoren sollen an dieser Stelle keineswegs als abschließendes Urteil zitiert werden, sondern sind als Einschätzungen zu einem spezifischen Zeitpunkt zu lesen. Im Rahmen dieser Arbeit sollen sie vielmehr zur Illustration der Breite der Vertragspraxis zu diesem Thema beitragen.
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
dem PRTR-Protokoll eher als unabhängige Experten aus.36 Selbst wenn Mitglieder allerdings „in ihrer persönlichen Eigenschaft“ zu bestellen sind, hält dies die Vertragsparteien gelegentlich nicht davon ab Regierungsbeamte als Ausschussmitglieder einzusetzen.37 Die kompromisshafte Formulierung, dass Ausschussmitglieder „objektiv und im (besten) Interesse“ des jeweiligen Vertrags oder Protokolls tätig werden, findet sich im Rahmen der Regelungen zu den Erfüllungsausschüssen zur Basler Konvention, zum Protokoll zur Londoner Konvention, zum Rotterdamer Übereinkommen (Entwurf) sowie zur Stockholm-Konvention (Entwurf).38 In diesen Fällen lassen Umstände und Praxis des Erfüllungsaus36 Vgl. Urbinati, Procedures and Mechanisms Relating to Compliance under the 1997 Kyoto Protocol to the 1992 United Nations Framework Convention on Climate Change, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 68; Ragni, Procedures and Mechanisms on Compliance under the 2000 Cartagena Protocol on Biosafety, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 106; Bigi, Draft Non-Compliance Procedure under the 2001 Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 126; Papanicolopulu, Procedures and Mechanisms on Compliance under the 1976/1995 Barcelona Convention on the Protection of the Mediterranean Sea and its Protocols, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 160; Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 225; Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1999 Protocol on Water and Health, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 254 f.; Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 2003 Protocol on Pollutant Release and Transfer Registers to the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 267. Auch diesbezüglich gilt: Die Beobachtungen der Autoren sollen an dieser Stelle keineswegs als abschließendes Urteil zitiert werden, sondern sind als Einschätzungen zu einem spezifischen Zeitpunkt zu lesen. Im Rahmen dieser Arbeit sollen sie vielmehr zur Illustration der Breite der Vertrags praxis zu diesem Thema beitragen. 37 In Bezug auf den Erfüllungsausschuss zum Cartagena-Protokoll hebt dies Koester hervor in JEEPL 2005, 31 (34, Fn. 22); vgl. die aktuelle Zusammensetzung des Compliance Committees des Cartagena-Protokolls unter https://www.cbd.int/doc/lists/ bs-compliance.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 38 Vgl. Fodella, Mechanism for Promoting Implementation and Compliance with the 1989 Basel Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 37; Trevisanut, The Compliance Procedures and Mechanisms of the 1996 Protocol to the 1972 London Convention on the Prevention of Marine Pollution by Dumping of Wastes and Other Matter, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 53 f.; Brugnatelli, Draft Procedures and Mechanisms on Compliance with the 1998 Rotterdam Convention on the Prior Informed Consent Procedure for Certain Hazardous Chemicals and Pesticides in International Trade, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 90; Bigi, Draft Non-Compliance Procedure under the 2001 Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 126. Die Untersuchungen der zitierten Autoren sind als deren Beobachtungen zu einem spezifischen Zeitpunkt zu lesen. Wichtig ist zu
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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schusses gegebenenfalls Rückschlüsse darauf zu, ob dessen Mitglieder eher staatenabhängig oder -unabhängig agieren.39 b) Außerordentliche Sitzungsteilnehmer Vertragsparteien, die an aktuellen Untersuchungen des Erfüllungsausschusses als Betroffene oder Hinweisgeber beteiligt sind, können an den Beratungen des Erfüllungsausschusses zum entsprechenden Tagesordnungspunkt mitwirken.40 Es ist jedoch keiner betroffenen Vertragspartei gestattet an der Erarbeitung und Abstimmung von Empfehlungen in eigener Sache teilzunehmen, gleich ob ein Vertreter der betroffenen Vertragspartei als ordentliches Mitglied oder als außerordentlicher Teilnehmer an den Beratungen partizipiert.41 In der Vergangenheit hat der Erfüllungsausschuss zudem immer wieder Vertreter verschiedener Organisationen zu seinen Sitzungen hinzugezogen, um deren Sachverstand zu nutzen. Dies ist zwar nicht im Regelwerk zum Non-Compliance-Mechanismus verankert, es hat sich jedoch eine solche Praxis etabliert:42 Für Expertise bezüglich der besonderen Situation der Entwicklungsländer werden regelmäßig Vertreter des Sekretariats des Multilateralen Fonds43 sowie der beauftragten Durchführungsorganisationen (Implementing Agencies), verstehen, dass die kompromisshafte Formulierung „objektiv und im (besten) Interesse“ des jeweiligen Vertrags zu agieren eine weitere Ausgestaltungsoption zu diesem Thema darstellt. 39 Beispielsweise nimmt Bigi (siehe vorstehende Fn. 38) an, dass die Mitglieder des Compliance Committee nach dem Non-Compliance-Mechanismus zur Stockholm Konvention (Entwurf) zumindest eine unparteiische Stellung einnehmen sollen. 40 MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 10. 41 MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 11. 42 Vgl. hierzu auch Bankobeza, Ozone Protection, 2005, S. 262 ff. sowie für die folgende Darstellung insbesondere Romanin Jacur, The Non-Compliance Procedure of the 1987 Montreal Protocol to the 1985 Vienna Convention on Substances that Deplete the Ozone Layer, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 17 f. 43 Der Multilaterale Fonds gem. Art. 10 Montrealer Protokoll wird durch Beiträge der Industriestaaten finanziert und ist ein Mittel im Rahmen der technischen und finanziellen Unterstützung der Entwicklungsländer bei deren Anstrengungen zum Ausstieg aus der Produktion und dem Verbrauch ozonschichtschädigender Stoffe. Ein Exekutivausschuss zum Multilateralen Fonds plant und überwacht diesbezüglich insbesondere die Vergabe der Geldmittel. Näher dazu Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 137 ff.
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
d. h. des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), des UN-Umweltprogramms (UNEP), der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) sowie der Weltbank, zu den Sitzungen eingeladen.44 Weiterhin haben in der Vergangenheit für Expertise bezüglich der Situation der Transformationsländer Vertreter des Sekretariats der Global Environmental Facility (GEF) sowie Vertreter der Sachverständigengruppe für technologische und wirtschaftliche Untersuchungen an den Sitzungen des Erfüllungsausschusses teilgenommen.45 Schließlich sind der Erfüllungsausschuss und der Exekutivausschuss des Multilateralen Fonds übereingekommen, dass die jeweils Vorsitzenden und deren Stellvertreter zu den Sitzungen des jeweils anderen Ausschusses eingeladen werden, um einen besseren Informationsaustausch zu ermöglichen.46 NGOs und andere Stellen dürfen überdies nicht selbst beim Erfüllungsausschuss vorsprechen, sondern sind darauf verwiesen ihre Anliegen über das Sekretariat zu lancieren, das insofern eine Art Filterfunktion einnimmt.47 2. Die Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP) a) Ordentliche Zusammensetzung In der Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP) gem. Art. 11 Montrealer Protokoll sind sämtliche Vertragsparteien vertreten. Sie 44 Zum ersten Mal ist dies 1992 geschehen, vgl. Implementation Committee, Report of the Fourth Meeting of the Implementation Committee, UNEP/OzL.Pro/ImpCom/4/2, 1992, S. 1, Ziff. 2. 45 Vgl. für ein Beispiel der Wertschätzung des Implementation Committee für die Teilnahme von Vertretern des Sekretariats der GEF: Implementation Committee, Report of the Implementation Committee under the Non-compliance Procedure for the Montreal Protocol on the work of its thirty-ninth meeting, UNEP/OzL.Pro/ImpCom/39/7, 2007, S. 2, Ziff. 8. Vgl. beispielweise für die Teilnahme von Vertretern der Sachverständigengruppe für technologische und wirtschaftliche Untersuchungen: Implementation Committee, Report of the Implementation Committee under the Noncompliance Procedure for the Montreal Protocol on the work of its twelfth meeting, UNEP/OzL.Pro/ImpCom/12/3, 1995, S. 1, Ziff. 3. 46 Vgl. Implementation Committee, Report of the Twenty-Sixth Meeting of the Implementation Committee, UNEP/OzL.Pro/ImpCom/26/5, 2001, S. 10, Ziff. 51. 47 Vgl. die diesbezüglichen Diskussionen des Ausschusses zur Erarbeitung des Non-Compliance-Mechanismus Ad-Hoc Working Group of Legal Experts on NonCompliance with the Montreal Protocol, Report of the Third Meeting, UNEP/OzL. Pro/WG.3/3/3, 1991, Ziff. 23; siehe wiederum Romanin Jacur, The Non-Compliance Procedure of the 1987 Montreal Protocol to the 1985 Vienna Convention on Substances that Deplete the Ozone Layer, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 18; siehe im Übrigen zu den Aufgaben des Sekretariats unten III. 3.
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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besitzt als politisches Organ des Montrealer Protokolls im Rahmen des NonCompliance-Mechanismus alle wesentlichen Exekutivkompetenzen.48 Jede Tagung der Vertragsparteien wählt ein Bureau (Bureau of the Meeting of the Parties). b) Außerordentliche Tagungsteilnehmer Als außerordentliche Teilnehmer können gem. Regeln 6.1. und 6.2. der Verfahrensordnung49 auf Einladung durch den Präsidenten die UN und ihre Sonderorganisationen, die Internationale Atomenergie-Organisation und jeder Nicht-Vertragsstaat als Beobachter an den Tagungen partizipieren. Allerdings haben diese kein Stimmrecht inne und die Teilnahme ist nur gestattet, wenn keine Vertragspartei widerspricht. Weiterhin kann an den Tagungen der Vertragsparteien gem. Regeln 7.1. und 7.2. der Verfahrensordnung auf Einladung des Präsidenten jede interessierte und mit der Problematik der Ausdünnung der Ozonschicht befasste Stelle teilnehmen. NGOs sind explizit eingeschlossen. Auch für diese Organisationen mit Beobachterstatus gilt, dass sie kein Stimmrecht haben und ihre Teilnahme nur gestattet ist, wenn kein Widerspruch seitens der Vertragsparteien erfolgt. Für einen solchen Ausschluss ist allerdings in diesem Fall ein Quorum von mindestens einem Drittel der anwesenden Vertragsparteien erforderlich. Schließlich müssen die entsprechenden Tagesordnungspunkte als weitere Voraussetzung für die Organisation von unmittelbarem Interesse sein. 3. Das Sekretariat Das Sekretariat gem. Art. 12 Montrealer Protokoll, welches durch das Sekretariat zum Wiener Ozonschicht-Übereinkommen geführt wird,50 ist als unterstützende Verwaltungseinheit Dienstleister für Erfüllungsausschuss und Tagung der Vertragsparteien und nimmt so auch eine gewisse Vermittlerrolle ein.51 Durch ein eigenes Iniativrecht kann es zudem selbst zum Akteur werden. 48 Siehe
zu den konkreten Aufgaben der Institutionen unten III. (Montrealer Protokoll), Report of the Parties to the Montreal Protocol on the Work of Their First Meeting – Annex I (Rules of Procedure), UNEP/OzL.Pro.1/5, 1989, S. 1 ff. 50 Vgl. für weitere Informationen die Homepage des „Ozon-Sekretariats“ unter https://www.ozone.unep.org/about, abgerufen am 25.08.2021. 51 Zur Vermittlerrolle des Sekretariats vgl. auch Romanin Jacur, The Non-Compliance Procedure of the 1987 Montreal Protocol to the 1985 Vienna Convention on 49 MoP I
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
III. Aufgaben der Institutionen 1. Der Erfüllungsausschuss Der Erfüllungsausschuss ist die zentrale Einrichtung zur gemeinschaft lichen Beratung der Fälle von möglicher Nichterfüllung vertraglicher Verpflichtungen durch eine der Vertragsparteien. Als Grundlage für seine gutachterliche Arbeit ist er außerdem Knotenpunkt der Informationsbeschaffung bezüglich des möglichen vertragsverletzenden Verhaltens. a) Gutachterliche Hauptaufgaben Der Ausschuss hat als dessen zentrale Aufgabe Eingaben (submissions), durch die ein mögliches vertragsverletzendes Verhalten angezeigt wird, entgegenzunehmen, zu prüfen und zu beurteilen sowie schließlich in einem Bericht entsprechend Stellung zu nehmen.52 Er analysiert die Ursachen einer identifizierten Nichterfüllung und unterbreitet der Tagung der Vertragsparteien im Rahmen seines Berichts entsprechende Vorschläge zur Abhilfe.53 Er erarbeitet in diesem Rahmen Beschlussempfehlungen (draft decisions) für die Tagung der Vertragsparteien.54 b) Entgegennahme, Beschaffung und Auswertung von Informationen Der Erfüllungsausschuss nimmt Informationen entgegen, die das Sekretariat – im Zusammenhang mit dessen Pflicht gem. Art. 12 c) Montrealer Protokoll Berichte für die Vertragsparteien anzufertigen – erhalten hat.55 Außerdem nimmt er alle weiteren Informationen entgegen, die das Sekretariat in
Substances that Deplete the Ozone Layer, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 16; siehe im Übrigen zu den Aufgaben der Institutionen sogleich unten III. 52 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 7 (a); 9. 53 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51 f., Ziff. 7 (d); 9; 14. 54 Vgl. Sekretariat (Montrealer Protokoll), Implementation Committee under the Non-Compliance Procedure of the Montreal Protocol on Substances that deplete the Ozone Layer – Primer for Members, 2007, S. 16 ff. 55 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 7 (b).
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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Bezug auf die Erfüllung der Vertragsparteien zusammengetragen hat.56 Der Erfüllungsausschuss prüft und beurteilt alle diese Informationen und nimmt entsprechend Stellung.57 Der Ausschuss hat zudem die Kompetenz als Grundlage seiner Erwägungen über das Sekretariat auch weitergehende Informationen anzufragen.58 Der Erfüllungsausschuss kann auch selbst in den vertragsverletzenden Staat einreisen und sich dort informieren.59 Das setzt allerdings eine Einladung der betreffenden Vertragspartei voraus.60 Schließlich gehört der Informationsaustausch mit dem Exekutivausschuss des Multilateralen Fonds zu den Aufgaben des Ausschusses.61 2. Die Tagung der Vertragsparteien Zu den Exekutivaufgaben der Tagung der Vertragsparteien gehören die Entgegennahme des Berichts des Erfüllungsausschusses, diesbezügliche Beratungen sowie eine finale Beschlussfassung bezüglich des Verhaltens betroffener Vertragsparteien auf Grundlage der vorgelegten Beschlussempfehlungen.62 Die Beschlussfassung der Tagung der Vertragsparteien schließt neben der Feststellung der vertraglichen Nichterfüllung durch eine Vertragspartei konkrete gegenüber dem betroffenen Staat zu ergreifende Maßnahmen ein, um diesen zu einem vertragstreuen Verhalten (zurück) zu führen.63 Solche Maßnahmen können von Unterstützungshandlungen über Verwarnungen bis hin zu Sanktionen reichen.64 Zwar kann die Tagung der Vertragsparteien die Beschlussempfehlungen des Erfüllungsausschusses hinsichtlich des vertragsverletzenden Verhaltens und resultierender, zu ergreifender Maßnahmen auch 56 Ebd. 57 Ebd.
58 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 7 (c). 59 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 7 (e). 60 Ebd. 61 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 7 (f). 62 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 9. 63 Ebd. 64 Vgl. den Maßnahmenkatalog („Indicative List of Measures“) MoP IV (Montrea ler Protokoll), Report of the Fourth Meeting of the Parties – Annex V, UNEP/OzL. Pro.4/15, 1992, S. 55.
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
verwerfen, jedoch ist dies bislang nie geschehen und immer eine Annahme der Empfehlungen erfolgt.65 3. Das Sekretariat Die Aufgaben des Sekretariats lassen sich in die drei Bereiche Mitwirkung im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus, Informationsverwaltung und Sitzungsorganisation gliedern und sind dem Aufgabenkatalog gem. Art. 12 Montrealer Protokoll und den Regeln zum Non-Compliance-Verfahren66 zu entnehmen. a) Mitwirkung im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus Im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus sind Eingaben, durch die eine oder mehrere Vertragsparteien Bedenken bezüglich der Vertragstreue einer anderen Vertragspartei äußern, zunächst beim Sekretariat einzureichen.67 Dieses gibt der betroffenen Vertragspartei Gelegenheit zur Stellungnahme und leitet die Eingabe inklusive der weiteren Unterlagen dem Erfüllungsausschuss zu.68 Darüber hinaus kann das Sekretariat aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen selbst den Anstoß zu einer Untersuchung des Erfüllungsausschusses geben, wobei es auch in diesem Fall der betroffenen Vertragspartei zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben hat.69 Sieht sich eine Vertragspartei nicht in der Lage ihren Verpflichtungen nachzukommen, so nimmt das Sekretariat eine solche Eingabe ebenfalls ent-
65 Vgl. Sekretariat (Montrealer Protokoll), Implementation Committee under the Non-Compliance Procedure of the Montreal Protocol on Substances that deplete the Ozone Layer – Primer for Members, 2007, S. 18. 66 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 50 ff.; als Ermächtigungsgrundlage zum Erlass dieser Regeln ist freilich zuvörderst Art. 8 Montrealer Protokoll anzuführen, jedoch sieht speziell in Bezug auf das Sekretariat auch Art. 12 g) Montrealer Protokoll vor, dass eine Erweiterung von dessen Aufgaben durch die Vertragsparteien möglich ist. 67 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 50, Ziff. 1. 68 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 50 f., Ziff. 2. 69 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 3.
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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gegen und leitet sie mit den dazugehörigen Unterlagen an den Erfüllungsausschuss weiter.70 b) Informationsverwaltung Das Sekretariat nimmt die Daten der Vertragsparteien bezüglich deren Nutzung der entsprechenden ozonschichtgefährdenden Stoffe gem. Art. 12 b) Montrealer Protokoll entgegen und stellt diese einer Vertragspartei auf deren Ersuchen zur Verfügung. Weiterhin erarbeitet es gem. Art. 12 c) Montrealer Protokoll aufgrund der bei ihm eingegangenen Informationen Berichte und verteilt diese regelmäßig an die Vertragsparteien. Es benachrichtigt die Vertragsparteien gem. Art. 12 d) Montrealer Protokoll über eingegangene Anträge auf technische Unterstützung, um deren Bereitstellung zu erleichtern. Schließlich stellt das Sekretariat gem. Art. 12 f) Montrealer Protokoll den als Beobachter an den Tagungen der Vertragsparteien teilnehmenden NichtVertragsstaaten gegebenenfalls die Informationen aus seinen Berichten sowie die eingegangenen Anträge zur Verfügung. Außerdem steht das Sekretariat mit den empfangenen Informationen dem Erfüllungsausschuss im Rahmen aller seiner Beratungen zum Erfüllungsverhalten der Vertragsparteien zur Seite.71 Es verwaltet zudem seinerseits den Zugang zu den Informationen, die der Erfüllungsausschuss erhalten oder ausgetauscht hat.72 Das Sekretariat dient weiterhin als Mittler von Informatio nen zwischen im Streit befindlichen Vertragsparteien und der Tagung der Vertragsparteien.73 c) Sitzungsorganisation Das Sekretariat übernimmt sowohl gem. Art. 12 a) Montrealer Protokoll die Organisation der Tagungen der Vertragsparteien als auch nach den Re-
70 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting ties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 4. 71 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting ties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 7 b); 7 c). 72 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting ties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52 f., Ziff. 16. 73 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting ties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 12.
of the Parof the Parof the Parof the Par-
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
geln zum Non-Compliance-Verfahren die Organisation der Sitzungen des Erfüllungsausschusses.74 Es hat weiterhin gem. Art. 12 e) Montrealer Protokoll die Aufgabe Nichtvertragsparteien dazu zu ermutigen an den Tagungen der Vertragsparteien als Beobachter teilzunehmen und ihren Beitrag zur Einhaltung der Ziele des Montrealer Protokolls zu leisten.
IV. Das Non-Compliance-Verfahren Das Non-Compliance-Verfahren findet in drei prozessualen Schritten statt. Zu Beginn steht ein Einleitungsverfahren, welches maßgeblich durch das Sekretariat begleitet wird. An zweiter Stelle erfolgen die Beratungen durch den Erfüllungsausschuss, welcher neben seinem Bericht auch Beschlussempfehlungen (draft decisions) für die Tagung der Vertragsparteien vorbereitet. Aufgrund dieser Beschlussempfehlungen entscheidet abschließend in einem dritten Schritt die Tagung der Vertragsparteien über das Erfüllungsverhalten der betreffenden Vertragspartei und etwaige zu ergreifende Maßnahmen. Bisher hat der Erfüllungsausschuss ungefähr eintausend Empfehlungen (recommendations) an die Tagung der Vertragsparteien abgegeben, die über einhundert Beschlussempfehlungen (draft decisions) bezüglich vertragsstaatlicher Erfüllungsdefizite beinhalten.75 Durch die Überwachung des Erfüllungsverhaltens der hohen Zahl von 198 Vertragsparteien hat das Non-Compliance-Verfahren maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Ozonschicht wieder erholen kann, und fördert durch die Überwachung der Emissionsreduktion von Treibhausgasen den weltweiten Klimaschutz.76 74 Die Aufgabenzuweisung der Sitzungsorganisation des Erfüllungsausschusses ist niedergelegt in MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 6. 75 Typischerweise wird folgende Formulierung gebraucht, mit der Unterstützungs handlungen (A) zugesichert sowie eine Verwarnung (B) in Bezug auf mögliche Sanktionen (C) ausgesprochen wird: „In that regard, … should continue to receive international assistance to enable it to meet its commitments in accordance with item A of the indicative list of measures that may be taken by a Meeting of the Parties in respect of non compliance. Through the present decision, however, the Meeting of the Parties cautions …, in accordance with item B of the indicative list of measures, that, in the event that it fails to return to compliance in a timely manner, the Meeting of the Parties will consider measures consistent with item C of the indicative list of measures.“ Die Empfehlungen (recommendations) des Erfüllungsausschusses sind aufrufbar unter https://ozone.unep.org/list-of-implementation-committee-recommen dations, aufgerufen am 25.08.2021. 76 Vgl. für eine Zwischenbilanz zum Montrealer Protokoll die Publikation „1987– 2017: 30 Jahre Montrealer Protokoll“ Umweltbundesamt (Hrsg.), Hintergrundpapier,
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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1. Einleitungsverfahren Ein Non-Compliance-Verfahren kann entweder durch eine oder mehrere Vertragsparteien77 oder durch die betroffene Vertragspartei selbst78 über eine Eingabe (submission) an das Sekretariat eingeleitet werden. Kommt das Sekretariat im Rahmen der Zusammenstellung seines Berichts an die Tagung der Vertragsparteien zu dem Schluss, dass möglicherweise ein Erfüllungsdefizit seitens einer der Vertragsparteien vorliegt, so kann es ebenso den Erfüllungsausschuss informieren.79 a) Eingabe durch eine oder mehrere Vertragsparteien Bevor das Sekretariat den entsprechenden Sachverhalt, auf den es durch eine oder mehrere Vertragsparteien aufmerksam gemacht worden ist, an den Erfüllungsausschuss weiterleitet, gibt es der betreffenden Vertragspartei Gelegenheit zur Stellungnahme.80 Sollte innerhalb von drei Monaten keine Stellungnahme erfolgt sein, so versendet das Sekretariat eine Mahnung.81 Sobald die Stellungnahme der Vertragspartei eingegangen ist, jedoch nicht später als sechs Monate nachdem die Eingabe dem Sekretariat zugegangen ist, leitet es den Sachverhalt und die Stellungnahme der Vertragspartei mit allen dazugehörigen Informationen an den Erfüllungsausschuss weiter.82 b) Eingabe durch Selbstanzeige Selbstanzeigen können schriftlich und mit einer Stellungnahme zu den vermuteten Gründen der Nichterfüllung versehen beim Sekretariat eingereicht werden, welches die Eingabe dem Erfüllungsausschuss zuleitet.83
September 2017, abrufbar unter https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/19872017-30-jahre-montrealer-protokoll, abgerufen am 25.08.2021. 77 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 50, Ziff. 1. 78 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 4. 79 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 3. 80 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 50 f., Ziff. 2. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 4.
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
c) Sekretariatsvorlage Sollte das Sekretariat während der Erstellung seines Berichts über das Erfüllungsverhalten der Vertragsparteien zu dem Schluss gelangt sein, dass eine Vertragspartei möglicherweise ihre Verpflichtungen verletzt und beabsichtigt es daher ein Verfahren einzuleiten, so gibt es der betreffenden Vertragspartei zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme.84 Erfolgt innerhalb von drei Monaten oder einer in Anbetracht der spezifischen Umstände verlängerten Frist keine Antwort und kann der Sachverhalt nicht durch Verwaltungshandeln oder diplomatische Kontakte aufgelöst werden, nimmt das Sekretariat den Fall in seinen Bericht an die Tagung der Vertragsparteien auf und informiert den Erfüllungsausschuss.85 2. Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss Sobald wie möglich nachdem die Eingaben sowie die zugehörigen Informationen den Erfüllungsausschuss erreicht haben, hat dieser mit seinen Beratungen zu beginnen.86 An den Beratungen sollen die betroffene Vertragspartei und gegebenenfalls die Vertragspartei, die den Anstoß zu dem Verfahren gegeben hat, teilhaben können.87 Allerdings darf die betroffene Vertragspartei, gleich ob sie ein ordentliches Mitglied des Erfüllungsausschusses stellt oder nicht, nicht an der Ausarbeitung und Beschlussfassung über die Empfehlungen des Erfüllungsausschusses teilnehmen.88 Die Beschlussfassung erfolgte wohl auch aus diesem Grund – soweit ersichtlich – immer einstimmig.89 Nach der Beschlussfassung soll der Erfüllungsausschuss den Vertragsparteien seinen Bericht mindestens sechs Wochen vor deren Tagung zur Verfügung stellen.90
84 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 51, Ziff. 3. 85 Ebd. 86 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 50 f., Ziff. 2; 3; 4. 87 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 10. 88 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 11. 89 Vgl. Sekretariat (Montrealer Protokoll), Implementation Committee under the Non-Compliance Procedure of the Montreal Protocol on Substances that deplete the Ozone Layer – Primer for Members, 2007, S. 15. 90 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 9.
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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3. Verfahren anlässlich der Tagung der Vertragsparteien Die Tagung der Vertragsparteien entscheidet aufgrund des ihr zugegangenen Berichts und der Beschlussempfehlungen (draft decisions) sodann final über die Feststellung einer vertraglichen Nichterfüllung durch eine Vertragspartei und konkrete gegenüber dem betroffenen Staat zu ergreifende Maßnahmen.91 Die Leitlinien für solche durch den Erfüllungsausschuss vorgeschlagene Maßnahmen der Tagung der Vertragsparteien beinhalten Unterstützungshandlungen und Verwarnungen bis hin zu Sanktionen, die auch den Bereich des Handels mit dem betroffenen Staat berühren können.92 Es ist – soweit ersichtlich – übliche Praxis, dass sich die Tagung der Vertragsparteien den Empfehlungen des Erfüllungsausschusses anschließt.93 Schließlich kann die Tagung der Vertragsparteien auch einstweilige Anordnungen für den Fall treffen, dass ein Streitbeilegungsverfahren nach Art. 11 Wiener OzonschichtÜbereinkommen noch andauert.94
V. Verfahrensmaximen Das Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss und der Tagung der Vertragsparteien ist zwar nicht streng formalisiert, jedoch durch gewisse Verfahrensmaximen geprägt. Deren Ursprung liegt neben den anerkannten Prinzipien eines rechtsstaatlichen Verfahrens vor allem im Grundcharakter der Erfüllungskontrolle als partnerschaftlichem Instrument der völkerrechtlichen Konfliktlösung.95
91 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 9. 92 Vgl. den Maßnahmenkatalog („Indicative List of Measures“) MoP IV (Montrealer Protokoll), Report of the Fourth Meeting of the Parties – Annex V, UNEP/OzL. Pro.4/15, 1992, S. 55. 93 Vgl. bereits Sekretariat (Montrealer Protokoll), Implementation Committee under the Non-Compliance Procedure of the Montreal Protocol on Substances that deplete the Ozone Layer – Primer for Members, 2007, S. 18. 94 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 13. 95 Siehe zu den im Folgenden dargestellten verfahrensleitenden Prinzipien des Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll auch Romanin Jacur, The Non-Compliance Procedure of the 1987 Montreal Protocol to the 1985 Vienna Convention on Substances that Deplete the Ozone Layer, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 15 und S. 21 f.
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
1. Partnerschaftlichkeit Während das Prinzip der Partnerschaftlichkeit im Rahmen anderer multilateraler Umweltschutzübereinkommen teilweise schon im Vertragswerk selbst an der Stelle festgelegt wird, an der sich die Ermächtigungsgrundlage zum Erlass von Bestimmungen über ein Non-Compliance-Verfahren befindet,96 sieht dies im Falle des Montrealer Protokolls erst Ziff. 8 der Regeln zum Non-Com pliance-Verfahren vor.97 Demnach soll der Erfüllungsausschuss im Rahmen seiner Erwägungen immer das Ziel einer gütlichen Lösung (amicable solution) auf Basis der Vorschriften des Montrealer Protokolls im Auge behalten. 2. Rechtsstaatlichkeit Das Verfahren der Erfüllungskontrolle nach dem Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll wird zusätzlich durch die hergebrachten Prinzipien eines rechtsstaatlichen Verfahrens flankiert.98 a) Anspruch auf rechtliches Gehör Im Rahmen des Einleitungsverfahrens hat die betroffene Vertragspartei in jedem Fall das Recht Stellung zum Sachverhalt zu nehmen.99 Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird zudem insofern gewährt, als dass sowohl die betroffene Vertragspartei als auch gegebenenfalls diejenige Vertragspartei, die den Anstoß zu dem Verfahren gegeben hat, an den Beratungen des Erfüllungsausschusses teilhaben dürfen und ihre Sichtweise so in den Beratungsprozess einbringen können.100 96 Vgl. Art. 15 Aarhus-Konvention: „Die Tagung der Vertragsparteien trifft durch Konsensentscheidung Regelungen über eine freiwillige, nichtstreitig angelegte, außergerichtliche und auf Konsultationen beruhende Überprüfung der Einhaltung der Bestimmungen dieses Übereinkommens.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser); vgl. Art. 15 Protokoll über Wasser und Gesundheit: „Die Vertragsparteien verständigen sich auf ihrer ersten Tagung mehrseitig über eine Auseinandersetzungen vermeidende, außergerichtliche und auf Konsultationen beruhende Vorgehensweise bei der Überprüfung der Einhaltung des Protokolls.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser). 97 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 8. 98 Vgl. dazu ebenso ausführlich Bankobeza, Ozone Protection, 2005, S. 276 ff. 99 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 50 f., Ziff. 2; 3; vgl. außerdem die obigen Ausführungen zum Einleitungsverfahren unter IV. 1. 100 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 10; vgl. außerdem die obigen Ausführungen zum Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss unter IV. 2.
A. Der Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll
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b) Grundsatz der Unparteilichkeit Um dem Erfüllungsausschuss eine unparteiische Entscheidung zu ermög lichen, dürfen von einem Compliance-Verfahren betroffene Vertragsparteien, gleich ob sie ein ordentliches Mitglied des Erfüllungsausschusses stellen oder nicht, nicht an der Ausarbeitung und Beschlussfassung über die Empfehlungen des Ausschusses teilnehmen.101 c) Vertraulichkeit Die Mitglieder des Erfüllungsausschusses und die am Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss beteiligten Vertragsparteien sollen Stillschweigen bezüglich solcher Informationen bewahren, die ihnen im Vertrauen zugeflossen sind.102 Der Bericht des Erfüllungsausschusses soll keine vertraulichen Informationen beinhalten.103 Vertragsparteien, die vertrauliche Informationen aus dem Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss über das Sekretariat anfragen, sollen die Vertraulichkeit dieser Informationen bewahren.104 d) Öffentlichkeit Jedermann hat das Recht den Bericht des Erfüllungsausschusses auf Anfrage frei einzusehen.105 Alle Informationen aus dem Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss – auch solche, die Vertraulichkeit genießen – sollen allen Vertragsparteien auf Anfrage über das Sekretariat zur Verfügung gestellt werden.106 Viele Informationen sind zudem über die Internetseite des Erfüllungsausschusses öffentlich verfügbar.107
101 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 11; vgl. außerdem die obigen Ausführungen zum Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss unter IV. 2. 102 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 15. 103 Vgl. MoP X (Montrealer Protokoll), Report of the Tenth Meeting of the Parties – Annex II, UNEP/OzL.Pro.10/9, 1998, S. 52, Ziff. 16. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Vgl. den Internetauftritt unter www.ozone.unep.org/institutions Implementation Committee, zuletzt aufgerufen am 25.08.2021.
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
VI. Zwischenergebnis zu den beispielgebenden Eigenschaften des Non-Compliance-Mechanismus zum Montrealer Protokoll Viele Jahre nach der Etablierung des Non-Compliance-Verfahrens zum Montrealer Protokoll lässt sich schlussfolgern, dass sich die eingangs zu diesem Kapitel angeführten rechtstheoretischen Annahmen der Erfüllungskontrolle, vor allem hinsichtlich des Prinzips mit partnerschaftlich-unterstützenden Mitteln ein positives Erfüllungsverhalten hervorrufen zu können, Früchte zu tragen scheinen. Der große Erfolg des Montrealer Protokolls spricht jedenfalls nicht dagegen.108 Dass die Tagung der Vertragsparteien – trotz anfänglich immer wieder geäußerter Bedenken diesen nicht zu sehr erstarken zu lassen109 – insgesamt sehr zufrieden mit der Arbeit des Erfüllungsausschusses sein dürfte, zeigt im Übrigen die Tatsache, dass sie bisher – soweit ersichtlich – praktisch immer dessen Empfehlungen angenommen hat.110 Der gutachterlich arbeitende Erfüllungsausschuss und die partnerschaftlichen Mittel, mit denen das Erfüllungsverhalten einer defizitären Vertragspartei positiv verändert werden soll, gehören zum beispielgebenden Erbe des Non-Compliance-Verfahrens zum Montrealer Protokoll.
B. Das Non-Compliance-Verfahren und die hergebrachten Arten der friedlichen Streitbeilegung Das Non-Compliance-Verfahren nach dem „Montrealer Modell“ hat den Instrumentenkoffer zur Durchsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen entscheidend erweitert. Das zeigt ein Blick auf die hergebrachten Arten der völkerrechtlichen Streitbeilegung nach Art. 33 Abs. 1 UN-Charta inklusive der „guten Dienste“ (good offices). Will man das Non-Compliance-Verfahren in diesen Kontext einordnen, lohnt sich als Unterscheidungsparameter eine
108 Vgl. für eine sehr positive Zwischenbilanz zum Montrealer Protokoll die Publikation „1987–2017: 30 Jahre Montrealer Protokoll“ Umweltbundesamt, Hintergrundpapier, September 2017, abrufbar unter https://www.umweltbundesamt.de/ publikationen/1987-2017-30-jahre-montrealer-protokoll, abgerufen am 25.08.2021. 109 Vgl. zu der anfänglichen Herausforderung des Erfüllungsausschusses bei der Tagung der Vertragsparteien für Vertrauen in die eigene Arbeit zu werben und gleichzeitig einigermaßen selbstbewusst aufzutreten Széll, Implementation Control: Noncompliance Procedure and Dispute Settlement in the Ozone Regime, in: Österreichische außenpolitische Dokumentation – Special Issue: The Ozone Treaties and their Influence on the Building of International Environmental Regimes, 1996, S. 48 ff. 110 Vgl. bereits Sekretariat (Montrealer Protokoll), Implementation Committee under the Non-Compliance Procedure of the Montreal Protocol on Substances that deplete the Ozone Layer – Primer for Members, 2007, S. 18.
B. Non-Compliance-Verfahren und Arten der friedlichen Streitbeilegung
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Differenzierung anhand des Grades der gerichtlichen Formalisierung der Verfahren.
I. Diplomatische Verfahren 1. Verhandlungen (negotiations) Das am wenigsten formalisierte Streitbeilegungsverfahren sind Verhandlungen.111 Die Parteien treten sich in diesem Rahmen ohne das Eingreifen Dritter unmittelbar gegenüber und versuchen gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten.112 2. Gute Dienste (good offices) Im Rahmen der guten Dienste tritt bereits ein Dritter hinzu.113 Dieser beschränkt sich jedoch darauf Kontakt zwischen solchen Parteien herzustellen, für die es schwierig ist, sich gemeinsam an einen Verhandlungstisch zu setzen.114 Hilfsmittel können Einzelgespräche sein oder die Herstellung eines gewinnbringenden Verhandlungsrahmens, etwa durch die Bereitstellung eines geeigneten, neutralen Konferenzorts.115 3. Untersuchung (enquiry/fact-finding/inquiry) Die Untersuchung stellt eine unparteiische Tatsachenaufklärung durch Dritte dar.116 Ein Untersuchungsbericht kann die Grundlage der weiteren Konfliktlösung darstellen.117
111 Vgl. Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 26; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 442; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 49. 112 Ebd. 113 Vgl. Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 30; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 442; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 49. 114 Ebd. 115 Vgl. von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 442; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 49. 116 Vgl. Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 27; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 442; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 51. 117 Vgl. Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 27; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 442.
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
4. Vermittlung (mediation) Die Vermittlung ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Dritter sich nicht nur darauf beschränkt die Kommunikation zwischen den Parteien herzustellen oder eine tatsachenbasierte Verhandlungsgrundlage zu schaffen, sondern aktiv in das Geschehen zwischen den Parteien eingreift.118 Diese stehen sich ähnlich den Verhandlungen gegenüber, sehen sich jedoch nicht im Stande ihren Konflikt ohne Unterstützung von außen zu lösen.119 Der Vermittler bietet den Parteien deshalb von unabhängiger Seite eigene Vorschläge zur Beilegung ihres Konflikts an.120 5. Vergleich (conciliation) Der Vergleich führt die Methoden der Untersuchung und der Vermittlung zusammen und ist damit das am stärksten formalisierte, diplomatische Streitbeilegungsverfahren.121 Federführend wirkt eine unabhängige Vergleichskommission, die Untersuchungen durchführt und den Parteien Lösungsvorschläge unterbreitet.122
II. Gerichtliche und schiedsgerichtliche Verfahren 1. Schiedsspruch (arbitration) Beim Schiedsspruchist im Gegensatz zu den diplomatischen Verfahren die Entscheidung der Dritten, d. h. der Schiedsrichter, für die Parteien verbindlich.123 Diese können die Schiedsrichter jedoch den Umständen entsprechend weitestgehend frei wählen.124 118 Vgl. Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 28; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 442; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 50. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Vgl. Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 29; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 442; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 52. 122 Ebd. 123 Vgl. Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 31; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 444; 446; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 60. 124 Vgl. Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 31; von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 447; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 59.
B. Non-Compliance-Verfahren und Arten der friedlichen Streitbeilegung
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2. Gerichtliche Entscheidung (judicial settlement) Die Entscheidung durch ein internationales Gericht ist für die Parteien verbindlich.125 Es entscheiden Richter, die einem fest institutionalisierten Gericht angehören.126 Sie stellt mithin das am strengsten formalisierte Streitbeilegungsverfahren dar.
III. Das Non-Compliance-Verfahren: zwischen Konsens und Konfrontation Blickt man auf diese Systematisierung, so wird man im Non-ComplianceVerfahren starke Anklänge an den Vergleich erkennen. Auch die Empfehlungen eines Erfüllungsausschusses sind bis zur Annahme durch die Vertragsparteien rechtlich unverbindliche Vorschläge. Die Vertragsparteien bleiben Herren des Verfahrens und unterwerfen sich lediglich ihren gemeinsamen Entscheidungen. Formulierungen, die rechtliche Verbindlichkeit ausdrücken, werden im Rahmen des Non-Compliance-Verfahrens explizit zugunsten der Partnerschaftlichkeit vermieden. Dadurch entzieht sich das Non-ComplianceVerfahren einer strikt binären Unterscheidung von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit und damit der Kategorie des (schieds-)gerichtlichen Verfahrens.127 Es ist jedoch weit mehr als ein bloßer Vergleich. Durch ihre Berichtspflichten werden die Vertragsparteien angehalten regelmäßig Rechenschaft abzulegen. Angeregt durch die Empfehlungen des Erfüllungsausschusses wachen sie gegenseitig über ihr Erfüllungsverhalten. Mithin bildet das Non-Compliance-Verfahren eine ganz eigene Kategorie zwischen einem diplomatischen und einem (schieds-)gerichtlichen Verfahren. Diesen Spagat zwischen Konsens und Konfrontation aufrecht zu erhalten, erweist sich mitunter als Balanceakt. Hier liegt aus institutioneller Perspektive das hauptsächliche Konfliktfeld, in dem sich Non-Compliance-Verfahren bewegen. Illustrativ sei die Praxis angeführt, nach der sowohl im Fall des Montrealer Protokolls als auch der Aarhus-Konvention die Beschlüsse der Erfüllungsausschüsse bisher regelmäßig durch die Tagung der Vertragsparteien ange125 Vgl. zu internationalen Gerichten im Allgemeinen Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 32; vgl. von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 444; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 64; 70. 126 Vgl. die Aufzählung bei Tomuschat, Charter of the United Nations: A Commentary, 2012, Art. 33, Rn. 32; vgl. von Arnauld, Völkerrecht, 2019, Rn. 451; Krajeswki, Völkerrecht, 2020, § 8, Rn. 64. 127 Vgl. Boysen, AVR 2012, 377 (404 f.).
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1. Kap.: Historisch-dogmatischer Hintergrund
nommen worden sind.128 Außerdem wird bezüglich der Aarhus-Konvention an anderer Stelle in dieser Arbeit noch ausführlich darauf einzugehen sein, dass diese Annahme (endorsement) den Inhalten der Beschlüsse des Erfüllungsausschusses unter Umständen eine rechtsverbindliche Bedeutung bei der Auslegung des Vertrags geben kann.129 Mancher Ansicht nach ist das Non-Compliance-Verfahren der Aarhus-Konvention daher alles andere als ein „weiches“ Instrument zur Rechtsdurchsetzung.130
128 Vgl. für das Montrealer Protokoll bereits Sekretariat (Montrealer Protokoll), Implementation Committee under the Non-Compliance Procedure of the Montreal Protocol on Substances that deplete the Ozone Layer – Primer for Members, 2007, S. 18; vgl. für die Aarhus-Konvention MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 62; siehe zum Ausnahme-Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) unten 3. Kapitel B. II. 129 Siehe 4. Kapitel A. II. 1. 130 Vgl. Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (52); siehe zur These einer möglichen Gerichtsähnlichkeit des ACCC ausführlich unten 4. Kapitel A. II.
2. Kapitel
Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention und seine Besonderheiten gegenüber anderen Non-Compliance-Verfahren Gegenstand dieses Kapitels sind die grundlegende Erörterung des NonCompliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention (A.) sowie die Darstellung seiner herausragenden Besonderheiten gegenüber anderen Non-Compliance-Verfahren, wie sie sich insbesondere anhand des Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC) zeigen (B.).
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention Der Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention folgt in seiner Konzeption dem bereits dargestellten „Montrealer Modell“. Die Gliederung folgt daher zur Herstellung einer gewissen Vergleichbarkeit der obigen Reihenfolge. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Verfahren vor dem ACCC.
I. Rechtsgrundlage des Non-Compliance-Mechanismus Das Non-Compliance-Verfahren zur Erfüllungskontrolle im Rahmen der Aarhus-Konvention wurde im Jahr 2002 auf Grundlage von Art. 15 AarhusKonvention durch Decision I/7 der 1. Tagung der Vertragsparteien beschlossen.1 Damit wurden die Vorgaben von Art. 15 Aarhus-Konvention einer freiwilligen, nichtstreitig angelegten, außergerichtlichen und auf Konsultationen beruhenden Überprüfung der Bestimmungen der Aarhus-Konvention umgesetzt.2 Eine kleinere Änderung hat das Non-Compliance-Verfahren 1 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, mit Annex (Verfahrensordnung), ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004. Die Verfahrensordnung ist im Anhang dieser Arbeit abgedruckt. 2 Art. 15 Aarhus-Konvention: „Die Tagung der Vertragsparteien trifft durch Konsensentscheidung Regelungen über eine freiwillige, nichtstreitig angelegte, außergerichtliche und auf Konsultationen beruhende Überprüfung der Einhaltung der Bestimmungen dieses Übereinkommens. Diese Regelungen lassen eine angemessene Einbe-
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
2005 erfahren, als man die Anzahl der Mitglieder des ACCC von acht auf neun erhöhte.3
II. Institutionen Das Non-Compliance-Verfahren wird maßgeblich geprägt durch das Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC) als Erfüllungsausschuss sowie die Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP) als Exekutivorgan. Das rechtliche Verhältnis der Institutionen zueinander kann unterschiedlich beurteilt werden. Das ACCC weist die potenzielle Annahme zurück, es sei ein Unterorgan der Tagung der Vertragsparteien, und versucht dadurch womöglich seine Unabhängigkeit zu unterstreichen.4 Die Tagung der Vertragsparteien übernimmt aufgrund der Empfehlungen des ACCC die finale Beschlussfassung bezüglich des Erfüllungsverhaltens der betroffenen Vertragspartei einschließlich zu ergreifender Maßnahmen und hat damit im Rahmen des Non-Compliance-Verfahrens die Letztentscheidungskompetenz inne.5 Das ACCC besitzt insofern zwar Unabhängigkeit bei seiner inhaltlichen Arbeit z. B. in der Formulierung seiner Entscheidungen, steht jedoch weiterhin in Abhängigkeit der Tagung der Vertragsparteien. Das verdeutlicht zudem die Kompetenz der Tagung der Vertragsparteien aus Art. 15 Aarhus-Konvention den Compliance-Mechanismus einzurichten und dessen Regelungen zu bestimmen, d. h. diese gegebenenfalls auch abzuändern.6 ziehung der Öffentlichkeit zu und können die Möglichkeit beinhalten, Stellungnahmen von Mitgliedern der Öffentlichkeit zu Angelegenheiten im Zusammenhang mit diesem Übereinkommen zu prüfen.“ 3 Vgl. MoP II (Aarhus-Konvention), Report of the Second Meeting of the Parties – Addendum, Decision II/5 – General Issues of Compliance, ECE/MP.PP/2005/2/ Add.6, 2005, Ziff. 12. 4 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 11; so bewertet es Pitea unter Bezugnahme auf die Aussagen des ACCC und vertritt selbst den Standpunkt, dass das ACCC eher ein Unterorgan der Tagung der Vertragsparteien darstelle, siehe Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention on Access to Information, Public Participation and Access to Justice in Environmental Matters, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 227 m. w. N. 5 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 37. 6 Vgl. Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention on Access to Information, Public Participation and Access to Justice in Environmental Matters, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 227.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus53
Ein Sekretariat sorgt auch hier für die Informationsverwaltung sowie die notwendige Hintergrundarbeit und ist mit einem eigenen Initiativrecht ausgestattet. 1. Der Erfüllungsausschuss (Compliance Committee) a) Ordentliche Zusammensetzung Das ACCC bestand ursprünglich aus acht Mitgliedern.7 Ab den Wahlen der ACCC-Mitglieder anlässlich der 3. Tagung der Vertragsparteien wurde die Zahl der Mitglieder auf neun erhöht, um dem damaligen Wachstum der Anzahl der Vertragsparteien eine erhöhte Anzahl von Ausschussmitgliedern gegenüberzustellen.8 Die Mitglieder des ACCC werden im Gegensatz zu vielen anderen Erfüllungsausschüssen „in ihrer persönlichen Eigenschaft“, d. h. als (unabhängige) Privatpersonen, durch die Tagung der Vertragsparteien gewählt.9 Diese Besetzung durch Privatpersonen ist bereits in Ziff. 1 an vorderster Stelle der Verfahrensordnung des Aarhus Non-Compliance-Mechanismus festgelegt.10 Zurecht wird zwar angeführt, dass das Wort „Unabhängigkeit“ dort nicht erwähnt sei,11 allerdings geht man sowohl seitens des ACCC als auch der Lite-
7 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 1. 8 Vgl. MoP II (Aarhus-Konvention), Report of the Second Meeting of the Parties – Addendum, Decision II/5 – General Issues of Compliance, ECE/MP.PP/2005/2/ Add.6, 2005, Ziff. 12. 9 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 1; 6–10; zur Abhängigkeit der Mitglieder des Implementation Committee zum Montrealer Protokoll siehe oben 1. Kapitel A. II. 1. a); zum besonderen Status der Mitglieder des ACCC siehe auch unten 2. Kapitel B. II.; siehe außerdem die wiederholten Ausführungen zur Unabhängigkeit der Mitglieder des ACCC als Grundlage für eine kritische Einordnung im 4. Kapitel A. IV.; zur Frage einer ausreichenden demokratischen Legitimation der Mitglieder des ACCC siehe überdies unten 4. Kapitel A. IV. 3. b). 10 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 1. 11 Vgl. Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention on Access to Information, Public Participation and Access to Justice in Environmental Matters, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 225.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
ratur einhellig von der Besetzung durch unabhängige Experten aus.12 Überzeugend angesichts der völkerrechtlichen Praxis erscheint vor allem das Argument, dass die Alternative eine Besetzung mit abhängigen Staatenvertretern gewesen wäre, sodass im Umkehrschluss von der beabsichtigten Unabhängigkeit der als Experten tätig werdenden Privatpersonen auszugehen ist.13 Ein früherer Entwurf sah sogar vor festzulegen, dass die Mitglieder nicht Teil des Regierungsapparats einer Vertragspartei sein dürften oder Angestellte einer in Art. 10 Abs. 4 und 5 Aarhus-Konvention genannten Organisation oder NGO.14 Auch das gewählte Mitglied selbst muss vor Aufnahme seiner Tätigkeit durch Erklärung versichern sein Amt unabhängig und gewissenhaft auszuüben.15 Sollte es im Rahmen einzelner Fälle zu möglichen Interessenskonflikten kommen, zeigt das betreffende Mitglied des ACCC seine mögliche Befangenheit an und ist dazu angehalten nicht mehr an den geschlossenen Sitzungen zur Beratung und Beschlussfassung bezüglich des entsprechenden Falles teilzunehmen.16 12 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 6; 69; vgl. Koester, JEEPL 2005, 31 (34); Pitea, IYBIL 2006, 85 (89 f.) m. w. N.; Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention on Access to Information, Public Participation and Access to Justice in Environmental Matters, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 225 f. 13 So auch Koester, JEEPL 2005, 31 (34), der zudem auf die einheitliche Sprache von einem Erfüllungsausschuss aus unabhängigen Experten im Rahmen der Berichte der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der ersten Tagung der Vertragsparteien hinweist sowie darauf, dass bereits im Rahmen der ersten Wahlen zum ACCC kein gewähltes Mitglied der Exekutive einer Vertragspartei oder eines Unterzeichners angehörte bzw. diese(n) repräsentierte. 14 Vgl. Task Force on Compliance Mechanisms (Aarhus-Konvention), Report on the Second Meeting of the Task Force on Compliance Mechanisms, CEP/WG.5/ AC.1/2001/3, 2000, Annex I, S. 6. 15 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 11. 16 Die Regelungen im Fall von möglichen Interessenskonflikten sind zusammengefasst in: ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 68 ff. Lesenswert ist im Übrigen der Schriftwechsel zu Individualbeschwerde ACCC/C/2018/158 (Polen), im Rahmen derer laut Aussage des ACCC-Vorsitzenden Jonas Ebbesson erstmals in dessen damals siebenjähriger Amtszeit eine Vertragspartei die faire Verhandlungsführung des ACCC vor dem Hintergrund eines möglichen Interessenkonflikts in Frage stellte. Siehe dazu zunächst die E-Mail von Jaroslaw Mielnik (Polen) vom 06.07.2018, abrufbar unter https://unece.org/DAM/env/pp/compliance/ C2018-158/Correspondence_with_the_Party/frPartyC158_06.07.2018.pdf, abgerufen am 25.08.2021. Vergleiche sodann die Antwort des ACCC-Vorsitzenden Jonas Ebbesson vom 13.07.2018, abrufbar unter https://unece.org/DAM/env/pp/compliance/
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus55
Die Wahl erfolgt durch Konsensentscheidung aufgrund der Vorschläge der Vertragsparteien, Unterzeichner sowie der nach Art. 10 Abs. 5 Aarhus-Konvention anerkannten Umweltverbände.17 Das Vorschlagsrecht staatenunabhängiger NGOs ist einzigartig im Bereich des Umweltvölkerrechts und daher in besonderem Maß hervorzuheben.18 Kann im Kreis der Vertragsparteien kein Konsens erzielt werden, so entscheidet die einfache Mehrheit im Rahmen einer geheimen Wahl.19 Ausweislich der Protokolle der zurückliegenden sechs ordentlichen Tagungen der Vertragsparteien konnte bisher immer ein Konsens zwischen den Vertragsparteien erzielt werden.20 Die im Rahmen der Studie zu dieser Arbeit durchgeführten Interviews legen nahe, dass im Vorfeld mehr oder weniger intensiv verhandelt wird. Mitunter wird auch Kritik an diesen Verhandlungen laut:
C2018-158/Correspondence_with_the_Party/toPartyPRE_C158_13.07.2018_letter_ from_the_Chair.pdf, abgerufen am 25.08.2021. Hierauf antwortete wiederum Jaroslaw Mielnik (Polen) mit E-Mail vom 24.07.2018, abrufbar unter https://unece.org/ DAM/env/pp/compliance/C2018-158/Correspondence_with_the_Party/frPartyPREC 158_24.07.2018.pdf, abgerufen am 25.08.2021. Zu derselben Zeit wie der soeben erwähnte Schriftwechsel stattfand machte das ACCC-Mitglied Jerzy Jendrośka im Juli 2018 weitere Anschuldigungen gegen sich öffentlich, die seine anwaltliche Tätigkeit betrafen und unterstellten seine Kanzlei würde weißrussische Umweltaktivisten finanziell unterstützen. Das ACCC zeigte sich besorgt und konnte keine Verbindung zu einem laufenden Verfahren herstellen. Siehe ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-first meeting (Advance unedited), ECE/MP.PP/C.1/2018/4, 2018, Ziff. 76. 17 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 7; 4; 5; 6. 18 Siehe erneut zu diesem Vorschlagsrecht und einer kritischen Einordnung der Zusammensetzung des ACCC unten 4. Kapitel A. IV. 19 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 7. 20 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2, 2002, Ziff. 49; MoP II (Aarhus-Konvention), Report of the Second Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2005/2, 2005, Ziff. 53; MoP III (Aarhus-Konvention), Report of the Third Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2008/2, 2008, Ziff. 51; MoP IV (Aarhus-Konvention), Report of the fourth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2011/2, 2011, Ziff. 28; MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2014/2, 2014, Ziff. 35; MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 66.
56
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
„In the past, were the ACCC members chosen by consensus or did elections also take place?“21 Offizielle Vertreter der Vertragsparteien: Teilnehmer-Nr. 63
„I’m not sure but traditionally and according to the decision I/7 the members were chosen by consensus“
Gruppe der NGO-Vertreter: Teilnehmer-Nr. 43
„As far as I know usually by consensus (at the final stage at least)“
Teilnehmer-Nr. 56
„Consensus“
Teilnehmer-Nr. 59
„There were usually mild negotiations on some members on geographical principle if any competition“
Teilnehmer-Nr. 61
„In the past elections also take place.“
Teilnehmer-Nr. 62
„My experience of the selection process is that nominations are put forward in a fairly open way but that the process is not transparent from that point. It appears to be that representatives of a small number of the contracting parties go into a separate room and essentially „barter“ to get the best option they can from their perspective. There is no vote and thus no accountability.“
Teilnehmer-Nr. 67
„I think they were chosen by consensus as far as I know.“
Teilnehmer-Nr. 68
„The ACCC members are chosen following intense and protracted discussions. Formally, they are then appointed by consensus.“
Teilnehmer-Nr. 41, 49, 58, 66
„I don’t know“/„no idea“/„N/A“/„I do not have such knowledge“
Gruppe der Wissenschaftler: Teilnehmer-Nr. 51
„No elections, but rather tough negiotiations“
Teilnehmer-Nr. 53
„To my knowledge, there was consensus, all the more, as the Contracting Parties had to support candidates. Thus, NGO candidates who did not have the support of their national government, stood no chance of being appointed (elected)“
Teilnehmer-Nr. 42, 46
„don’t know“/„No idea“
Die zu wählende Person muss die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei bzw. eines Unterzeichners innehaben, hohes moralisches Ansehen genießen und anerkannte Kompetenzen im Bereich der Regelungen der Aarhus-Kon21 Übersetzung: „Wurden die ACCC-Mitglieder in der Vergangenheit im Konsens ausgewählt oder fanden auch Wahlen statt?“
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus57
vention nachweisen können.22 Personen mit Erfahrung im juristischen Bereich sind ausdrücklich erwünscht.23 Keine Staatsangehörigkeit darf mehrfach im ACCC vertreten sein.24 Es ist sowohl auf eine ausgewogene geographische Herkunftsverteilung, als auch auf Diversität hinsichtlich der professionellen Erfahrung zu achten.25 Das ACCC wählt seine(n) Vorsitzende(n) und dessen Stellvertreter(in).26 Eine volle Amtszeit dauert jeweils bis zur übernächsten ordentlichen Tagung der Vertragsparteien, d. h. in der Regel sechs Jahre.27 Es besteht die Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl, wobei Ausnahmen durch die Tagung der Vertragsparteien zu beschließen sind.28 Das ACCC soll mindestens einmal pro Jahr zu einer Sitzung zusammenkommen.29 Die Praxis zeigt, dass etwa drei bis vier Sitzungen pro Jahr stattfinden.30 Ein typischer Ablauf der einwöchigen Sitzungen des ACCC gliedert sich in variierender Reihenfolge in folgende Elemente:31
22 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 2. 23 Ebd. 24 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 3. 25 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 8. 26 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 9. 27 Ebd. 28 Ebd.; aktuell sind Jonas Ebbesson (Mitgliedschaft 2005–2008 als Ersatz für Elizabeth France; 2008–2011; 2011–2014; 2014–2017; 2017–2021), Jerzy Jendrośka (Mitgliedschaft 05/2006–2008 und 2008–2011 als Ersatz für Eva Kruzikova; 2011– 2014; 2014–2017; 2017–2021) und Alexander Kodjabashev (Mitgliedschaft 2008– 2011; 2011–2014; 2014–2017; 2017–2021) die am längsten amtierenden ACCC-Mitglieder; siehe Abbildung 4 unten B. III. 29 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 12. 30 Vgl. zu den bisher erfolgten Sitzungen https://www.unece.org/env/pp/cc meetings.html, abgerufen am 25.08.2021. 31 Die Ablaufpläne zu den einzelnen Sitzungen sind inklusive der Tagesordnungen abrufbar unter https://www.unece.org/env/pp/ccmeetings.html, abgerufen am 25.08.2021.
58
I.
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus Tagesordnungspunkt
Sitzungsmodus (regulär)
Eröffnung, Verabschiedung der Tagesordnung, sonstige Mitteilungen
öffentlich
(Opening and adoption of agenda, relevant developments and other matters) II.
Berichte über die Entwicklungen seit dem letzten Treffen in Bezug auf Individualbeschwerden, Eingaben der Vertragsparteien, Sekretariatsvorlagen und Anfragen
öffentlich
(Review of any developments in relation to communications, submissions, referrals and requests) III.
Überprüfung der Umsetzung der vergangenen Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien
öffentlich
(Review of implementation of MoP decisions) IV.
Vorbereitung von Fortschrittsberichten zu vergangenen Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien
nicht öffentlich
(Preparation of progress reviews on MoP decisions) V.
Verhandlungen zur vorläufigen Zulässigkeit neuer Individualbeschwerden
öffentlich
(Discussion of preliminary admissibility of new communications) VI.
Formale Verhandlungen
öffentlich
(Hearings) VII.
Beratungen zu den formalen Verhandlungen
nicht öffentlich
(Committee deliberations on hearings) VIII. Vorbereitung von Entscheidungsentwürfen
nicht öffentlich
(Preparation of draft findings) IX.
Verkündung der Entscheidungen über die vorläufige Zulässigkeit der neuen Individualbeschwerden und Schließung der Sitzung
öffentlich
(Announcement of outcomes of determination of preliminary admissibility and closure of the meeting)
b) Außerordentliche Sitzungsteilnehmer Vertragsparteien, die an aktuellen Untersuchungen des ACCC als Betroffene oder Hinweisgeber beteiligt sind, können wie auch Individualbeschwerdeführer aus der Zivilgesellschaft an den Beratungen des ACCC zum entsprechenden Tagesordnungspunkt partizipieren und ihre Sichtweise bezüglich
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus59
des Falles umfassend einbringen.32 Auch hier gilt, ähnlich dem Implementation Committee des Montrealer Protokolls, dass es einer betroffenen Vertragspartei, einem Hinweisgeber bzw. einem Individualbeschwerdeführer zur Wahrung größtmöglicher Objektivität verboten ist an der Erarbeitung von und Beschlussfassung über Feststellungen, Maßnahmen oder Empfehlungen teilzunehmen.33 Was die Teilnahme der Öffentlichkeit insgesamt angeht, so hat das ACCC bei seiner ersten Sitzung grundsätzlich beschlossen die Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien entsprechend anzuwenden.34 Diese unterscheidet klar zwischen der Sitzungsteilnahme von Beobachtern (Regel 6) und von Mitgliedern der Öffentlichkeit (Regel 7).35 Während es sich bei Beobachtern gem. Regel 6.1. typischerweise um Staatenvertreter (vorwiegend aus der UNECE-Region), um Vertreter von Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration, der UN und ihrer Unterorganisationen sowie der Internationalen Atomenergie-Organisation und anderer zwischenstaatlicher Organisationen handelt, nehmen Vertreter von UmweltNGOs eine Sonderrolle ein. Diese haben gem. Regel 6.2. dann Beobachterstatus inne, wenn nicht mindestens ein Drittel der anwesenden Vertragsparteien der Teilnahme der Vertreter der konkreten NGO widerspricht und es sich tatsächlich um eine NGO handelt, die im Bereich der Aarhus-Konvention qualifiziert ist bzw. ein berechtigtes Interesse hat. Ansonsten sind sie gegebenenfalls der Gruppe der Mitglieder der Öffentlichkeit zuzurechnen.36 Der Status als Beobachter beinhaltet zwar kein Stimmrecht, jedoch gem. Regel 27.1. das Recht auf Anfrage das Wort zu ergreifen, um Stellung zu 32 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 32; vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 16. 33 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 33; vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 17. 34 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 11; siehe dazu insgesamt Pitea, IYBIL 2006, 85 (91 f.) und Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 226. 35 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/1 – Rules of Procedure, ECE/MP.PP/2/Add.2, 2002/2004, Annex. 36 Eine vergleichbare Unterscheidung nimmt die Aarhus-Konvention selbst vor, wenn sie zwischen „Öffentlichkeit“ und „betroffener Öffentlichkeit“ differenziert und an den jeweiligen Status entsprechende Rechte knüpft, vgl. Art. 2 Ziff. 4 und 5 Aarhus-Konvention; dies klingt auch an bei Pitea, IYBIL 2006, 85 (92).
60
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
nehmen oder Auskünfte zu erteilen. Damit sind Beobachter aktive Sitzungsteilnehmer, wohingegen Mitglieder der Öffentlichkeit typischerweise eine passive Zuschauer-Rolle einnehmen.37 Das ACCC vermischt entgegen der Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien beide Kategorien und beschloss im Rahmen seiner ersten Sitzung weiterhin, “that all meetings should in principle be open to the public as observers“.38 Anders als im Fall des Non-Compliance-Verfahrens zum Montrealer Protokoll gibt es bei der Aarhus-Konvention daher keine Beschränkung auf Vertreter ausgewählter Institutionen.39 Jede natürliche Person oder NGO, die bei den Sitzungen des ACCC anwesend ist, wird als Beobachter behandelt, ohne dass die zusätzlichen Voraussetzungen von Regel 6.2. der Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien erfüllt werden müssen.40 Öffentlich in diesem Sinn sind die Berichte über die Entwicklungen seit dem letzten Treffen (review of developments), die Überprüfung der Umsetzung der vergangenen Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien (review of implementation of MoP decisions), die Verhandlungen zur vorläufigen Zulässigkeit neuer Individualbeschwerden (discussions on preliminary admissibility) sowie die formalen Verhandlungen (hear ings) und die Verkündung der Entscheidungen über die vorläufige Zulässigkeit der neuen Individualbeschwerden (announcement of outcomes of determination of preliminary admissibility).41 Die Beratung und Vorbereitung jeglicher Beschlüsse findet jedoch in nicht öffentlicher Sitzung statt.42 In weiteren Ausnahmefällen kann die Öffentlichkeit aufgrund der Vertraulichkeit der zu besprechenden Informationen ausgeschlossen werden.43
37 Siehe
mit dieser Argumentation Pitea, IYBIL 2006, 85 (92). Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 15; vgl. zur Praxis des ACCC auch Koester, Envtl. Pol’y & L. 2007, 83 (85). 39 Siehe zum Verfahren des Montrealer Protokolls oben 1. Kapitel A. II. 1. b). 40 Kritisch sieht dies unter Heranziehung der dargelegten Argumentationskette Pitea, IYBIL 2006, 85 (91 f.), welcher sich daher für eine Trennung der Rollen „Beobachter“ und „Mitglied der Öffentlichkeit“ ausspricht; siehe auch Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 226. 41 Vgl. beispielhaft die Tagesordnung zur 65. Sitzung des ACCC vom 4.–8.11.2019, https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/CC-65/CC65_prov_time line_30.10.2019.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 42 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 17. 43 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 15. 38 ACCC,
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus61
2. Die Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP) a) Ordentliche Zusammensetzung Die Tagung der Vertragsparteien (Meeting of the Parties, MoP) gem. Art. 10 Aarhus-Konvention bezeichnet die Zusammenkunft der Vertreter aller Vertragsstaaten inklusive der Europäischen Union, wobei gem. Art. 11 Abs. 1 Aarhus-Konvention jeder Vertragsstaat eine Stimme besitzt. Die Stimmen der Europäischen Union entsprechen gem. Art. 11 Abs. 2 Aarhus-Konvention der Anzahl ihrer in der Konvention vertretenen Mitgliedstaaten. Eine Organisation der regionalen Wirtschaftsintegration, wie die Europäische Union, kann ihr Stimmrecht demnach weiterhin nur ausüben, wenn ihre Mitgliedstaaten deren Stimmrecht nicht ausüben und umgekehrt. Die Tagung der Vertragsparteien entscheidet als Exekutivorgan der AarhusKonvention im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus u. a. verbindlich über die Auslegung der Bestimmungen der Konvention. Gemäß Regel 22 der Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien wird ein Bureau der Tagung der Vertragsparteien (Bureau of the Meeting of the Parties) gebildet, welchem als Beobachter auch ein Vertreter einer Umwelt-NGO angehört.44 b) Außerordentliche Tagungsteilnehmer Als Beobachter können gemäß der bereits erwähnten Regel 6.1. i. V. m. Regel 5.2. (a), (c) und (d) der Verfahrensordnung Staatenvertreter (vorwiegend aus der UNECE-Region), Vertreter von Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration sowie die UN, ihre Unterorganisationen, die Interna 44 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/1 – Rules of Procedure, 2002/2004, ECE/MP.PP/2/Add.2, Annex. In der aktuellen Amtsperiode (Wahl anlässlich der 6. Tagung der Vertragsparteien) ist Jeremy Wates (European ECO Forum und European Environmental Bureau) wiederholt als Vertreter der Umwelt-NGOs Beobachter im Bureau der Tagung der Vertragsparteien. Jeremy Wates gilt als wesentlicher Wegbereiter der Aarhus-Konvention. In den 1990er Jahren leitete er die Kampagne des European ECO Forum, um Regierungen von der Erarbeitung eines Vertrags über Umweltdemokratie zu überzeugen. Danach koordinierte er die Beiträge zivilgesellschaftlicher Organisationen zu den offiziellen Verhandlungen über die spätere Aarhus-Konvention. Siehe diese und weitere Informationen zu dessen Lebenslauf auf den Internetseiten des European Environmental Bureau, als dessen Generalsekretär Jeremy Wates gegenwärtig fungiert, unter https:// eeb.org/who-we-are/staff/, abgerufen am 25.08.2021. Von 1999 bis 2010 war Jeremy Wates im Rahmen der UNECE zudem Sekretär der Aarhus-Konvention.
62
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
tionale Atomenergie-Organisation und andere zwischenstaatliche Organisa tionen, die im Bereich der Aarhus-Konvention qualifiziert sind bzw. an diesem ein berechtigtes Interesse haben, an den Tagungen der Vertragsparteien teilnehmen.45 Vertreter von Umwelt-NGOs nach Regel 5.2. (e), die im Bereich der Aarhus-Konvention qualifiziert sind bzw. ein berechtigtes Interesse haben, können gem. Regel 6.2. dann an den Tagungen partizipieren, wenn nicht mindestens ein Drittel der anwesenden Vertragsparteien der Teilnahme der Vertreter der konkreten NGO widerspricht.46 Der Beobachterstatus schließt zwar gem. Regel 6.3. ein Stimmrecht aus, aber gem. Regel 27.1. genießen Beobachter das Recht auf Anfrage das Wort zu ergreifen. Überdies können Mitglieder der Öffentlichkeit, wenn nicht die Tagung der Vertragsparteien beispielsweise aus Gründen des Vertraulichkeitsschutzes anders entscheidet, gem. Regel 7 den Tagungen der Vertragsparteien beiwohnen. Eine Rederecht, wie es Beobachter nach Regel 27.1. haben, wird Mitgliedern der Öffentlichkeit nicht zuteil. Insofern nimmt die Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien, anders als es das ACCC handhabt, die Unterscheidung zwischen „Öffentlichkeit“ und „betroffener Öffentlichkeit“ aus Art. 2 Ziff. 4 und 5 Aarhus-Konvention wieder auf.47 3. Das Sekretariat Die Sekretariatsaufgaben werden gem. Art. 12 Aarhus-Konvention durch den Exekutivsekretär der UNECE nach dem dort beschriebenen Umfang übernommen, wozu nach Art. 12 lit. c) Aarhus-Konvention auch alle sonstigen von den Vertragsparteien zugewiesenen Aufgaben zählen, d. h. insbesondere solche in Zusammenhang mit dem Non-Compliance-Mechanismus.
III. Aufgaben der Institutionen 1. Der Erfüllungsausschuss Das ACCC untersucht, wenn und soweit nötig, das Erfüllungsverhalten der Vertragsparteien und gibt Handlungsempfehlungen ab.48 Es überwacht das Erfüllungsverhalten der Vertragsparteien sowohl in allgemeiner Hinsicht als 45 Vgl.
Art. 10 Abs. 4 Aarhus-Konvention. Art. 10 Abs. 5 Aarhus-Konvention. 47 Siehe zur Teilnahme jeglicher Öffentlichkeit an den Sitzungen des ACCC als Beobachter soeben oben 1. b). 48 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 14. 46 Vgl.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus63
auch bezogen auf konkrete Fälle. Über seine Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen (findings and recommendations) kann das ACCC zum einen Maßnahmen anregen, die durch die Tagung der Vertragsparteien zu beschließen sind, zum anderen kann es in Abstimmung mit der betroffenen Vertragspartei auch selbst Maßnahmen durchführen bis die Tagung der Vertragsparteien eine endgültige Entscheidung getroffen hat. Schließlich hat das ACCC zur Unterstützung dieser Aufgaben bedeutende Kompetenzen im Bereich der Informationsbeschaffung. a) Gutachterliche Hauptaufgaben bezüglich konkreter Fälle Das ACCC berät als dessen zentrale Aufgabe über Eingaben der Vertragsparteien (submissions), Sekretariatsvorlagen (referrals) und Individualbeschwerden (communications), durch die ein mögliches vertragsverletzendes Verhalten angezeigt wird.49 Sollte es ein solches Verhalten feststellen, gibt das ACCC Handlungsempfehlungen an die Tagung der Vertragsparteien ab bzw. führt selbst in Abstimmung mit der betroffenen Vertragspartei vorübergehende Maßnahmen durch.50 Eine weitere Kategorie von gutachterlichen Aufgaben hat sich unter Ziff. 14 der Verfahrensordnung herausgebildet.51 Im Rahmen eines Gutachtens hat das ACCC bisher jeweils über die Anfragen (Requests from Parties for advice or assistance) von Weißrussland (ACCC/A/2014/1) und Kasachstan (ACCC/ A/2020/2) entschieden.52 Im Rahmen der Anfrage ACCC/A/2014/1 hat Weißrussland verschiedene Rechtsfragen zur Auslegung und Umsetzung der Aarhus-Konvention zur Beantwortung vorgelegt (Rechtsgrundlagen: Ziff. 13 (b) und Ziff. 14 der Verfahrensordnung). Die Anfrage ACCC/A/2020/2 von Kasachstan bezieht sich auf die Umsetzung der Vorschriften zur Öffentlichkeitsbeteiligung der Aarhus-Konvention unter den Bedingungen der COVID49 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 13 (a). 50 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 13 a. E. i. V. m. Ziff. 36 und 37. 51 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 14: „The Committee may examine compliance issues and make recommendations if and as appropriate.“ 52 Vgl. ACCC, Recommendations with regard to request for advice ACCC/ A/2014/1 by Belarus, ECE/MP.PP/C.1/2017/11, 18.06.2017; vgl. ACCC, Recommendations with regard to request for advice ACCC/A/2020/2 by Kazakhstan, ECE/ MP.PP/C.1/2021/6, 01.07.2020.
64
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
19-Pandemie (Rechtsgrundlagen: Ziff. 14, Ziff. 36 (a) und Ziff. 37 (a) der Verfahrensordnung). b) Allgemeine Aufgaben der Erfüllungskontrolle Weiterhin bereitet das ACCC Tätigkeitsberichte für die Tagung der Vertragsparteien vor.53 Auf Ersuchen durch die Tagung der Vertragsparteien erstellt das ACCC überdies Berichte bezüglich des Erfüllungsverhaltens und der Umsetzung der Aarhus-Konvention durch konkrete Vertragsparteien.54 Eine solche Anfrage wurde bisher in drei Fällen gestellt: ACCC/M/2014/1 (Nordmazedonien)55, ACCC/M/2017/2 (Turkmenistan)56 und ACCC/M/2017/3 (Europäische Union)57. 53 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 35. 54 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 13 (b). 55 Das heutige Nordmazedonien hatte es versäumt seine nationalen Umsetzungsberichte gem. Art. 10 Abs. 2 Aarhus-Konvention für 2011 und 2014 rechtzeitig einzureichen. Daher hat die Tagung der Vertragsparteien das ACCC beauftragt das Erfüllungsverhalten Nordmazedoniens in dieser Angelegenheit weiter zu begleiten und darüber zu berichten. Mit den Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen (findings and recommendations) vom 04.05.2017 wurde festgestellt, dass sich Nordmazedonien nach Einreichung der Berichte nunmehr nicht mehr im Zustand der Nichterfüllung befindet, vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to request ACCC/M/2014/1 concerning compliance by the former Yugoslav Republic of Macedonia, ECE/MP. PP/C.1/2017/8, 2017, Ziff. 22. Da es sich hierbei um einen Bericht des ACCC zur Umsetzung und Einhaltung der Berichtspflichten gem. Art. 10 Abs. 2 Aarhus-Konvention handelte, diente als Rechtsgrundlage Ziff. 13 (c) der Verfahrensordnung des ACCC (als lex specialis gegenüber Ziff. 13 (b) der Verfahrensordnung des ACCC). 56 Turkmenistan konnte über eine Novelle seines „Gesetzes über öffentliche Vereinigungen“ vom 04.02.2017 die bestehenden Defizite im Hinblick auf die Möglichkeiten ausländischer Staatsbürger und von Personen ohne turkmenische Staatsbürgerschaft betreffend die Gründung von und Teilnahme an Nichtregierungsorganisationen zur Förderung des Umweltschutzes nicht ausräumen. Über diese Novelle wurde das ACCC zudem nicht informiert. Im Raum steht eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Abs. 4 sowie Abs. 9 Aarhus-Konvention. Daher hat die Tagung der Vertragsparteien das ACCC beauftragt das Erfüllungsverhalten Turkmenistans in dieser Angelegenheit weiter zu begleiten und darüber zu berichten. In seinem Abschlussbericht vom Juli 2021 stellt das ACCC fest, dass weiterhin Erfüllungsdefizite Turkmenistans hinsichtlich Art. 3 Abs. 1, Abs. 4 und Abs. 9 Aarhus-Konvention bestünden, vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee, Compliance by Turkmenistan with its obligations under the Convention, Juli 2021, Ziff. 51, abrufbar unter https://unece.org/sites/ default/files/2021-08/M2_Turkmenistan_report_to_MOP7_advance_unedited.pdf, abgerufen am 25.08.2021.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus65
Schließlich überwacht, bewertet und unterstützt es die Umsetzung und Einhaltung der Berichtspflichten gem. Art. 10 Abs. 2 Aarhus-Konvention.58 Demnach sind die Vertragsparteien dazu angehalten vor ihren Tagungen Berichte über ihr Erfüllungsverhalten als gemeinsame Überprüfungsgrundlage durch die Tagung der Vertragsparteien einzureichen.59 c) Informationsbeschaffung Das ACCC kann bei den betreffenden Stellen weitergehende Informationen zur Untersuchung der jeweiligen Fälle anfordern, im Einvernehmen mit der betreffenden Vertragspartei selbständig Informationen im Hoheitsgebiet der Vertragspartei einholen, jegliche Informationen in Empfang nehmen und berücksichtigen, die bei ihm eingegangen sind, sowie falls nötig die Fachkunde externer Experten und Berater in Anspruch nehmen.60 2. Die Tagung der Vertragsparteien Im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus entscheidet die Tagung der Vertragsparteien unter Berücksichtigung der Tätigkeitsberichte61 des 57 Unter diese Anfrage fällt die Begleitung der Europäischen Union beim Umgang mit den Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen (findings and recommendations) des ACCC in den Fällen ACCC/C/2010/54 und ACCC/C/2008/32 (Part II). Siehe insbesondere zu letzterem Fall ausführlich unten 3. Kapitel B. In seinem Abschlussbericht vom Juli 2021 stellt das ACCC fest, dass bezüglich der Sachverhalte um den Fall ACCC/C/2010/54 weiterhin ein Erfüllungsdefizit der Europäischen Union bestehe. In Bezug auf den Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) kommt das ACCC hingegen zu dem Schluss, dass unter der Bedingung der angestrebten Änderung der Aarhus-VO kein Erfüllungsdefizit mehr vorliege. Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee, Compliance by the European Union with its obligations under the Convention, Juli 2021, Ziff. 144; 146, abrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2021-08/ M3_EU_report_to_MOP7_advance_unedited.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 58 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 13 (c). In diesen Kontext fällt auch das vorstehend genannte Verfahren ACCC/M/2014/1 (Nordmazedonien). 59 Vgl. zum diesbezüglichen Verfahren MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/8 – Reporting Requirements, ECE/MP.PP/2/Add.9, 2002/2004. 60 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 25. 61 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 35.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
ACCC über dessen Tätigkeiten sowie anhand der Handlungsempfehlungen (recommendations) des ACCC verbindlich über zu ergreifende Maßnahmen (measures), die dann keiner Absprache mehr mit der betroffenen Vertragspartei bedürfen.62 Durch die Annahme der Erkenntnisse (findings) des ACCC kann die Tagung der Vertragsparteien weiterhin final darüber entscheiden, ob und in welcher Weise gegen die Bestimmungen der Aarhus-Konvention verstoßen worden ist und wie diese auszulegen sind.63 3. Das Sekretariat Der Exekutivsekretär der UNECE nimmt gem. Art. 12 Aarhus-Konvention als Sekretariatsaufgaben Tätigkeiten aus den Bereichen der Sitzungsorganisation und der Informationsverwaltung wahr. Außerdem regelt die Verfahrensordnung des ACCC Rolle und Mitwirkung des Sekretariats hinsichtlich des Non-Compliance-Mechanismus.64 a) Mitwirkung im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus Im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus sind Eingaben der Vertragsparteien (submissions) und Individualbeschwerden (communications) zunächst beim Sekretariat einzureichen.65 Im Fall einer Eingabe, durch die eine oder mehrere Vertragsparteien Bedenken bezüglich der Vertragstreue einer anderen Vertragspartei äußern, gibt das Sekretariat der betroffenen Vertragspartei Gelegenheit zur Stellungnahme und leitet erst dann die Eingabe inklusive der weiteren Unterlagen dem ACCC zu.66 Im Fall einer Individualbeschwerde gibt das Sekretariat diese 62 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 37. 63 Vgl. Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Art. 15, Rn. 7; näheres dazu unten IV. 3. sowie im 4. Kapitel A. II. 1. 64 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex; als Ermächtigungsgrundlage zum Erlass dieser Regeln in Bezug auf das Sekretariat sind hier wiederum sowohl Art. 15 Aarhus-Konvention, als auch Art. 12 c) Aarhus-Konvention anzuführen. Letzterer sieht vor, dass eine Erweiterung der Sekretariatsaufgaben durch die Vertragsparteien möglich ist. 65 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 15; 16; 19. 66 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 15.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus67
direkt an das ACCC weiter, welches nach Prüfung der Zulässigkeit selbst die betroffene Vertragspartei benachrichtigt und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gibt.67 Damit wird dem ACCC bei Individualbeschwerden eine aktive, beinahe gerichtsähnliche Stellung anvertraut.68 Es nimmt nicht lediglich durch das Sekretariat zusammengestellte Informationen entgegen, sondern ist selbst von Anfang an der Akteur, der mit der betroffenen Vertragspartei kommuniziert. Weiterhin kann das Sekretariat aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen selbst eine Fallvorlage (referral) beim ACCC einreichen, wobei es auch in diesem Fall der betroffenen Vertragspartei zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme gibt.69 b) Informationsverwaltung Der Exekutivsekretär der UNECE übermittelt den Vertragsparteien gem. Art. 12 b) Aarhus-Konvention als Sekretariat Berichte und sonstige Informationen, die er aufgrund der Vorschriften der Aarhus-Konvention erhalten hat. Das Sekretariat organisiert und betreut außerdem die Sitzungen des ACCC.70 Das schließt zunächst verschiedene Tätigkeiten der Informationsverwaltung ein. So ist das Sekretariat für die Dokumentation der Sitzungen des ACCC zuständig und erleichtert dem ACCC die Ausarbeitung von Dokumenten vor, während und nach dessen Sitzungen.71 Weiterhin ist das Sekretariat zwischen den Sitzungen des ACCC bei der Korrespondenz behilflich.72 Es unterstützt das ACCC auch bei der (sonstigen) Zusammenarbeit mit den Vertragsparteien, Individualbeschwerdeführern und Beobachtern.73 Schließlich gibt es den Vertragsparteien, Individualbeschwerdeführern und Mitglie67 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 19; 22. 68 Vgl. ausführlich zur These der Gerichtsähnlichkeit des ACCC unten 4. Kapitel A. II. 69 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 17. 70 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 12. 71 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 55. 72 Ebd. 73 Ebd.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
dern der Öffentlichkeit Anleitung, wenn diese Fragen zum Ablauf des NonCompliance-Verfahrens vor dem ACCC haben.74 Unter Umständen wird das Sekretariat nicht nur im Bereich der Informa tionsverwaltung, sondern ebenso der Informationsbeschaffung aktiv.75 Je kontroverser die Angelegenheit ist oder je schwieriger die Informationen zugänglich sind, desto eher ist das Sekretariat dabei allerdings auf eine konkrete Anweisung des ACCC verwiesen.76 c) Sitzungsorganisation Der Exekutivsekretär der UNECE beruft gem. Art. 12 a) Aarhus-Konvention als Sekretariat die Tagungen der Vertragsparteien ein und bereitet sie vor. Das Sekretariat organisiert und betreut, wie im Rahmen der Ausführungen zur Informationsverwaltung bereits dargelegt, auch die Sitzungen des ACCC vollumfänglich.77 Es nimmt zudem die Nominierungen für die Wahl der ACCC-Mitglieder entgegen.78
IV. Das Non-Compliance-Verfahren Das Non-Compliance-Verfahren der Aarhus-Konvention kann nach dem klassischen Muster der Erfüllungskontrolle in die drei Verfahrensschritte Einleitungsverfahren, Verfahren vor dem Erfüllungsausschuss und Verfahren anlässlich der Tagung der Vertragsparteien aufgeteilt werden.79 Der Mechanismus der Aarhus-Konvention erlaubt jedoch gerade hinsichtlich von Indivi74 Ebd.
75 Vgl. Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 237, wohl unter Bezugnahme auf eine frühere Version von UNECE, Guidance Document on the Aarhus Convention Compliance Mechanism, November 2010, S. 26, abrufbar unter https://unece.org/DAM/env/pp/compliance/CC_GuidanceDocu ment.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 76 Ebd. 77 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 12; ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 55. 78 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 5 (a). 79 Siehe die Ausführungen zum Non-Compliance-Verfahren des Montrealer Protokolls oben 1. Kapitel A. IV.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus69
dualbeschwerden (communications) einen differenzierteren Blick, weshalb die Gliederung im Folgenden zunächst mit der Überschrift „Sachentscheidungsvoraussetzungen“ beginnt. 1. Sachentscheidungsvoraussetzungen Es sind verschiedene Sachentscheidungsvoraussetzungen einzuhalten, die das ACCC im Rahmen der Zulässigkeit (admissability) überprüft. Nach Einreichung einer Eingabe (submission), Sekretariatsvorlage (referral) oder Individualbeschwerde (communication) wird jedoch zunächst das Sekretariat tätig. a) Einleitungsverfahren Im Fall einer Eingabe (submission) gibt das Sekretariat der betroffenen Vertragspartei innerhalb von zwei Wochen Gelegenheit zur Stellungnahme.80 Die betroffene Vertragspartei hat dann zwischen drei und sechs Monaten Zeit zu antworten.81 Hiernach übermittelt das Sekretariat die Eingabe, die Stellungnahme der betroffenen Vertragspartei (falls eingegangen) und alle weiteren Unterlagen an das ACCC.82 Erfolgt die Eingabe in Form einer Selbst anzeige, so leitet das Sekretariat die Gesamtheit der Unterlagen ebenso dem ACCC zu.83 Handelt es sich um eine Sekretariatsvorlage (referral), fordert das Sekretariat bei der betroffenen Vertragspartei weiterreichende Informationen über den Sachverhalt an.84 Die betroffene Vertragspartei hat auch in diesem Fall zwischen drei und sechs Monaten Zeit zu antworten.85 Spätestens nach sechs Monaten übergibt das Sekretariat die Angelegenheit inklusive der Stellungnahme der betroffenen Vertragspartei (falls eingegangen) dem ACCC, sollte bis dahin keine Klärung des Sachverhalts eingetreten sein.86 80 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 15. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 16. 84 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 17. 85 Ebd. 86 Ebd.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Dieses Verfahren wird dann nicht durchgeführt, wenn es sich um eine Individualbeschwerde (communication) handelt. Diese wird dem ACCC nach Eingang beim Sekretariat ohne vorherige Zuleitung an die betroffene Vertragspartei übermittelt.87 Das ACCC benachrichtigt dann nach Prüfung der Zulässigkeit selbst die betroffene Vertragspartei, welche maximal fünf Monate Zeit hat Stellung zu nehmen.88 b) Beschwerdeberechtigung Berechtigt einen Sachverhalt durch das ACCC überprüfen zu lassen sind die Vertragsparteien der Aarhus-Konvention, das Sekretariat sowie jedes Mitglied der Öffentlichkeit. aa) Eingabe durch Staatenbeschwerde (submission) Eine oder mehrere Vertragsparteien, die Bedenken bezüglich des Erfüllungsverhaltens einer anderen Vertragspartei haben, können schriftlich und unter Angabe unterstützender Informationen eine Eingabe über das Sekretariat einreichen.89 Seit 2004 bis einschließlich 2020 gab es zwei Eingaben dieser Art. Die geringe Anzahl der Eingaben lässt sich über zwei Ursachen erklären, welche die Perspektive des Erfüllungskontrollverfahrens bzw. die Perspektive der Vertragsparteien aufnehmen. Die erste Ursache (Perspektive des Erfüllungskontrollverfahrens) liegt begründet in den typischen Gegebenheiten des Erfüllungskontrollverfahrens, im Rahmen dessen die partnerschaftliche Konfliktlösung durch Kooperation im Mittelpunkt steht. Eine Staatenbeschwerde stört die partnerschaftliche Atmosphäre und führt dazu, dass zwischenstaatliche Konflikte gegenüber dem eigentlichen Erfüllungsdefizit in den Vordergrund rücken. So ist es im nachstehend geschilderten Bystroe-Kanal-Fall, der im Grenzgebiet des Donaudeltas spielt, geschehen, dass im Rahmen der von Rumänien gegen die Ukraine gerichteten Staatenbeschwerde auch die Ukraine dem ACCC Informationen über die industriellen Aktivitäten von Rumänien im Donaudelta 87 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 19. 88 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 22; 23; siehe sogleich unten 2. a). 89 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 15.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus71
zukommen ließ.90 Außerdem reichte die Ukraine in dieser Sache eine erfolglose Staatenbeschwerde gegen Rumänien beim Espoo Implementation Committee ein.91 Damit wird entgegen seiner Zielsetzung aus dem partnerschaftlichen Verfahren der Erfüllungskontrolle ein klassischer, konfrontativer, zwischenstaatlicher Konflikt.92 Die zweite Ursache (Perspektive der Vertragsparteien) betrifft die hohen diplomatischen Kosten, die damit einher gehen. Im Wissen, dass dies auch als unfreundlicher Akt gewertet werden könnte, wird eine Vertragspartei zum Schutz der bilateralen Beziehungen selten aus einem reinen Gemeininteresse heraus eine Staatenbeschwerde lancieren.93 Vielmehr wird eine solche Belastung der zwischenstaatlichen Beziehungen in der Regel nur dann in Kauf genommen, wenn zusätzliche nationale Interessen hinzutreten, die demgegenüber ein höheres Gewicht einnehmen.94 So konkurrieren Rumänien und die Ukraine im nachstehend geschilderten Bystroe-Kanal-Fall um den wirtschaftlich und geopolitisch wichtigen Schiffstransit zwischen dem Schwarzen Meer und der Donau. Im nachstehend geschilderten Fall um das Kernkraft90 Vgl. das Schreiben von Jeremy Wates (als Sekretär der Aarhus-Konvention) an Viktor Kryzhankivskyi (als Vize-Außenminister der Ukraine) vom 04.11.2009, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/MoP3decisions/ Ukraine/correspondence/toUKRDepForeignMinister.28.10.2009.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 91 Die Staatenbeschwerde der Ukraine trägt das Az. EIA/IC/S/2 (06.03.2009). Die 5. Tagung der Vertragsparteien der Espoo-Konvention bekräftigte die Feststellungen des Espoo Implementation Committee, dass keine Verletzung der Konvention durch die angezeigten Aktivitäten Rumäniens vorliege (Decision V/4, Ziff. 29). Diese Entscheidung ist abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/documents/ 2011/eia/ece.mp.eia.15.e.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 92 Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 421 schreibt zum Verhältnis von Staatenbeschwerde und Erfüllungskontrollverfahren: „Dem grundlegend kooperativen Charakter eines Erfüllungskontrollverfahrens ist die Staatenbeschwerde vielmehr eher fremd.“ 93 Vgl. dazu Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 420 – damals mangels konkreter Fälle noch prognostisch formuliert: „Zudem ist anzunehmen, daß ein Staat solche Konflikte nur zur Wahrung des nationalen Eigeninteresses in Kauf nehmen wird, nicht jedoch zur Verteidigung eines Gemeinschaftsinteresses.“; vgl. für den menschenrechtlichen Bereich im Allgemeinen unter Verweis auf die mögliche Einordnung als „unfreundlicher Akt“ Ulfstein, Human Rights, State Com plaints, in: MPEPIL, 2011, Rn. 25; vgl. mit Blick auf die Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK Küchler, Die Renaissance der Staatenbeschwerde, 2020, S. 282; S. 739 (3. These): „Die vermehrte Nutzung des Staatenbeschwerdeverfahrens während des letzten Jahrzehnts beruht vornehmlich auf politischen Eigeninteressen der beschwerdeführenden Staaten. Diese versuchen, sich mittels Art. 33 EMRK in gemischten bewaffneten Konflikten um abtrünnige Gebiete gegen politisch, militärisch und wirtschaftlich übermächtige Gegner zu wehren.“ 94 Vgl. die Nachweise in der vorstehenden Fn. 93 sowie die nachfolgenden Fallanalysen.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
werk Ostrowez an der ebenso geopolitisch wichtigen Grenze zwischen Litauen und Weißrussland errichtet das mit Fragen der Kernenergie wenig erfahrene Weißrussland sein erstes Kernkraftwerk in einer Entfernung von nur 50 km östlich der litauischen Hauptstadt Vilnius. Sowohl Rumänien als auch Litauen hatten für ihre Staatenbeschwerden mithin neben dem Gemeininte resse der Einhaltung der Aarhus-Konvention ein hinzutretendes sowie entscheidendes, nationales Interesse. Die vorstehenden Erwägungen offenbaren die typischen Schwächen der staatengestützten Kontrolle im Verhältnis zu der Kontrolle durch Individualbeschwerden. In der Abwägung zwischen dem Gemeininteresse der Rechtseinhaltung, nationalen Partikularunteressen und dem allgemeinen Interesse an guten diplomatischen Beziehungen erweist sich die staatengestützte Kontrolle als politische ultima ratio. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das man neben dem Umweltvölkerrecht in allen vergleichbaren Strukturen – beispielsweise im Bereich der Menschenrechte oder des Europarechts – beobachten kann.95 (1) ACCC/S/2004/1 (Ukraine) – Bystroe-Kanal-Fall Diesem Fall liegt die (Wieder-)Errichtung eines Tiefwasserkanals im Grenzgebiet des Donaudeltas zwischen Rumänien und der Ukraine zugrunde. Nachdem die Ukraine – anders als Rumänien – über keinen eigenen derartigen Zugang vom Schwarzen Meer zur Donau mehr verfügte, hat sie im Jahr 2004 mit der Schiffbarmachung des Bystroe-Kanals begonnen. Der Kanal, ein Nebenarm der Donaumündung, befindet sich auf der ukrainischen Seite des grenzüberschreitenden UNESCO-Biosphärenreservats Donaudelta. Am 7. Juni 2004 reichte Rumänien seine Eingabe ein mit der Begründung es liege ein möglicher Verstoß der Ukraine gegen Art. 6 Abs. 2 lit. e) AarhusKonvention vor.96 Am 5. Mai 2004 hatte bereits die NGO Ecopravo-Lviv 95 Vgl. für die Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK Prebensen, Inter-State Complaints under Treaty Provisions – The Experience under the European Convention on Human Rights, in: FS Möller, 2009, S. 458 f.; Küchler, Die Renaissance der Staatenbeschwerde, 2020, S. 35 ff.; vgl. für das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV von der Groeben/Schwarze/Hatje/Wunderlich, Europäisches Unionsrecht, 2015, Art. 259 AEUV, Rn. 4; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 2021 (72. EL), Art. 259 AEUV, Rn. 7; eine aktuelle Pressemitteilung des EuGH nennt die Zahl von lediglich neun bisherigen Fällen eines Vertragsverletzungsverfahrens, das ein Mitgliedstaat gegen einen anderen angestrengt hat, siehe EuGH, Pressemitteilung Nr. 89/21, 21.05.2021, S. 2, Fn. 5 m. w. N. zu den entsprechenden Verfahren. 96 Die Eingabe Rumäniens ist abrufbar unter www.unece.org/fileadmin/DAM/ env/pp/compliance/S2004-01_Ukraine/submission/Submission.pdf, abgerufen am 25.08.2021; die völkerrechtliche Gesamtperspektive auf den Fall aus dem Blickwin-
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus73
eine Individualbeschwerde mit der Begründung eingereicht die Ukraine verstoße gegen Art. 1 sowie Art. 6 Abs. 2–4 und Abs. 6–9 Aarhus Konvention (Aktenzeichen: ACCC/C/2004/3).97 Das ACCC hat sich daher dazu entschlossen die Eingabe Rumäniens und die Individualbeschwerde von Eco pravo-Lviv gemeinsam zu behandeln.98 Parallel lag die Frage, ob durch das Projekt „erhebliche nachteilige grenzüberschreitende Auswirkungen“ zu befürchten seien, einer Inquiry Commission der Espoo-Konvention vor. Diese entschied, dass Umweltauswirkungen der genannten Art zu erwarten seien.99 Die Entscheidung der Inquiry Commission der Espoo-Konvention lag allerdings noch nicht vor, als das ACCC den Sachverhalt verhandelte. Dieser Entscheidung kam jedoch im Rahmen des Verfahrens vor dem ACCC insoweit Bedeutung zu, als dass sie die Klärung einer Vorfrage bezüglich einer Verletzung von Art. 6 Abs. 2 lit. e) Aarhus-Konvention darstellte. Sollte eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung notwendig gewesen sein und nicht stattgefunden haben, könnte das je nach Auslegung einen Verstoß gegen die Informationspflichten des Art. 6 Abs. 2 lit. e) Aarhus-Konvention darstellen. Das ACCC hat diese Aspekte daher vorerst aus seinen Betrachtungen ausgeklammert und sich auf eine Untersuchung der übrigen möglichen Verstöße beschränkt.100 Es kam zu dem Ergebnis, dass die Ukraine gegen Art. 6 Abs. 1 lit. a) Aarhus-Konvention i. V. m. Art. 6 Abs. 2–8 und Abs. 9 S. 2 verstoßen kel Rumäniens ist auf den Internetseiten des Außenministeriums Rumäniens aufbereitet, aufrufbar unter www.mae.ro/en/node/4927, aufgerufen am 25.08.2021. 97 Die Individualbeschwerde von Ecopravo-Lviv ist abrufbar unter https://www. unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2004-03/communication/communi cation.doc, abgerufen am 25.08.2021. 98 Vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to compliance by Ukraine with the obligations under the Aarhus Convention in the case of Bystre deepwater navigation canal construction (submission ACCC/S/2004/01 by Romania and communication ACCC/C/2004/03 by Ecopravo-Lviv (Ukraine)), ECE/MP.PP/C.1/ 2005/2/Add.3, 18.02.2005. 99 Vgl. Espoo Inquiry Commission, Report on the likely significant adverse transboundary impacts of the Danube-Black Sea navigation route at the border of Romania and Ukraine, Juli 2006, S. 7; S. 58 f.; abrufbar unter https://www.unece.org/ fileadmin/DAM/env/eia/documents/inquiry/Final%20Report%2010%20July%202006. pdf, abgerufen am 25.08.2021. 100 Vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to compliance by Ukraine with the obligations under the Aarhus Convention in the case of Bystre deepwater navigation canal construction (submission ACCC/S/2004/01 by Romania and communication ACCC/C/2004/03 by Ecopravo-Lviv (Ukraine)), ECE/MP.PP/C.1/ 2005/2/Add.3, 18.02.2005, Ziff. 8.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
habe.101 Weiterhin bejahte es Verstöße gegen Art. 4 Abs. 1 Aarhus-Konvention sowie Art. 3 Abs. 1 Aarhus-Konvention.102 Die Bestätigung der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen (findings and recommendations) des ACCC erfolgte durch die 2. Tagung der Vertragsparteien (Decision II/5b, 2005).103 Nachdem im folgenden Jahr nach den Beschlüssen des ACCC auch die Entscheidung der Inquiry Commission der Espoo-Konvention vorlag, entschied das ACCC auf die Beantwortung der aufgeworfenen Frage nach einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 lit. e) Aarhus-Konvention aufgrund einer durchzuführenden – jedoch nicht durchgeführten – grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung zu verzichten.104 Es legte vielmehr den Fokus auf die Zukunft und die Tatsache, dass nunmehr jedenfalls für jede grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung die Informationspflichten nach Art. 6 Abs. 2 lit. e) gälten.105 Das ACCC ermahnte die Ukraine dies im Rahmen der Umsetzung (follow-up) von Decision II/5b mit zu berücksichtigen.106 Anlässlich der 3. Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konvention (Decision III/6f, 2008) konnte erneut kein positiver Erfüllungszustand festgestellt werden.107 Das Inkrafttreten einer gleichzeitig angeordneten Verwarnung (caution) konnte die Ukraine damals durch Erfüllung gewisser Bedingungen noch verhindern.108 Die 4. Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konven101 Vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to compliance by Ukraine with the obligations under the Aarhus Convention in the case of Bystre deep-water navigation canal construction (submission ACCC/S/2004/01 by Romania and communication ACCC/C/2004/03 by Ecopravo-Lviv (Ukraine)), ECE/MP.PP/C.1/2005/2/ Add.3, 18.02.2005, Ziff. 38. 102 Vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to compliance by Ukraine with the obligations under the Aarhus Convention in the case of Bystre deepwater navigation canal construction (submission ACCC/S/2004/01 by Romania and communication ACCC/C/2004/03 by Ecopravo-Lviv (Ukraine)), ECE/MP.PP/C.1/ 2005/2/Add.3, 18.02.2005, Ziff. 39 f. 103 Vgl. MoP II (Aarhus-Konvention), Report of the Second Meeting of the Parties – Addendum, Decision II/5b – Compliance by Ukraine with its obligations under the Aarhus Convention, ECE/MP.PP/2005/2/Add.8, 2005. 104 Vgl. ACCC, Report of the thirteenth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2006/6, 2006, Ziff. 14. 105 Vgl. ACCC, Report of the thirteenth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2006/6, 2006, Ziff. 14. 106 Vgl. ACCC, Report of the thirteenth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2006/6, 2006, Ziff. 14. 107 Vgl. MoP III (Aarhus-Konvention), Report of the Third Meeting of the Parties – Addendum, Decision III/6f – Compliance by Ukraine with its obligations under the Aarhus Convention (Ref. Decision II/5b), ECE/MP.PP/2008/2/Add.14, 2008. 108 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-third meeting – Annex II: Findings with regard to the measures taken by Ukraine to fulfil the
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus75
tion sprach dann jedoch endgültig eine Verwarnung (caution) aus (Decision IV/9h, 2011, Ziff. 6) und gab sogar den Auftrag an das ACCC die Möglichkeit einer Suspendierung (suspension) zu erwägen (Decision IV/9h, 2011, Ziff. 9).109 Wohl hauptsächlich aufgrund der politischen Umbrüche in der Ukraine im Jahr 2014 riet das ACCC der 5. Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konvention von einer Suspendierung (suspension) ab,110 die Ver warnung (caution) wurde jedoch aufrecht erhalten und erneut mit der Androhung einer Suspendierung (suspension) verbunden (Decision V/9m, 2014, Ziff. 6 (a); Ziff. 8).111 Erst im Jahr 2017 war es für die 6. Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konvention möglich zu begrüßen, dass die Ukraine nunmehr engagiert daran gearbeitet hat die Empfehlungen der Tagung der Vertragsparteien vollständig umzusetzen (Decision VI/8, 2017, Ziff. 15).112 Der Bystroe-Kanal-Fall ist seit 2004 bzw. 2007 auch Beurteilungsgegenstand des Non-Compliance-Verfahrens der Espoo-Konvention, im Rahmen dessen bis heute eine Verwarnung (caution) gegenüber der Ukraine aufrechterhalten wird.113 Das Zusammenspiel von ACCC und dem Non-ComplianceVerfahren der Espoo-Konvention gilt als eines der wenigen bisher beobachteten Beispiele für mögliche Synergie-Effekte zwischen verschiedenen NonCompliance-Verfahren.114 conditions set out in paragraph 5 (a) to (d) of decision III/6f of the Meeting of the Parties, adopted by the Compliance Committee on 3 April 2009, ECE/MP.PP/C.1/ 2009/2, 2009/2011, Ziff. 13. 109 Vgl. MoP IV (Aarhus-Konvention), Report of the fourth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision IV/9h on compliance by Ukraine with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2011/2/Add.1, 2011, S. 57 f. 110 Vgl. ACCC, Compliance by Ukraine with its obligations under the Convention – Report, ECE/MP.PP/2014/22, 2014, Ziff. 43. 111 Vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision V/9m on compliance by Ukraine, ECE/MP. PP/2014/2/Add.1, 2014, S. 72 f. 112 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session Meeting of the Parties – Addendum, Decisions adopted by the Meeting of the Parties, Decision VI/8 – General issues of compliance, ECE/MP.PP/2017/2/Add.1, 2017. 113 Die Eingabe (submission) vom 23.01.2007 (erstmals eingereicht am 26.05.2004, d. h. vor dem Verfahren der Inquiry Commission und daher eingestellt) trägt das Az. EIA/IC/S/1. Mit Entscheidung der 4. Tagung der Vertragsparteien im Jahr 2008 wurde gegenüber der Ukraine eine Verwarnung (caution) ausgesprochen (Decision IV/2, 2008, Ziff. 10), die wenigstens seit der Tagung 2011 in Kraft ist sowie 2014 und 2020 aufrechterhalten worden ist. 114 Vgl. aus der Perspektive der Aarhus-Konvention Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 243; vgl. im Allgemeinen zu Synergien zwischen Non-Compliance-Verfahren Pitea, Multiplication and Overlap of NonCompliance Procedures and Mechanisms: Towards Better Coordination?, in: Non-
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
(2) ACCC/S/2015/2 (Weißrussland) – Kernkraftwerk Ostrowez Im Jahr 2007 begann Weißrussland durch grundlegende politische und planerische Maßnahmen die Voraussetzungen zur Errichtung eines Kernkraftwerks zu schaffen. Als Standort wurde eine Fläche in Nähe der Stadt Ostrowez ausgewählt, welche 25 km von der litauisch-weißrussischen Grenze und 50 km von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt liegt. Auf der dortigen Baustelle fand am 9. August 2012 die offizielle Grundsteinlegung des Kernkraftwerks durch den weißrussischen Staatspräsidenten Alexander Lukaschenko statt.115 Bereits im Oktober 2009 wandte sich die NGO European ECO Forum mit einem amicus curiae-Schriftsatz an das ACCC, um sich in das damals laufende Verfahren mit dem Aktenzeichen ACCC/C/2009/37 einzubringen.116 In dessen Rahmen stand Weißrussland in der Kritik die Vorgaben der AarhusKonvention in Bezug auf die Errichtung des Wasserkraftwerks Grodno, welches 30 km von der litauischen und 25 km von der polnischen Grenze entfernt realisiert wurde, nicht einzuhalten.117 Das European ECO Forum fügte dem den Sachverhalt um die Errichtung des Kernkraftwerks hinzu. In beiden Fällen handelt es sich um Großprojekte mit (potenziell) grenzüberschreitendem Umwelteinfluss, die in den Anwendungsbereich der Aarhus-Konvention fallen. Im Dezember 2009 reichte das European ECO Forum dann selbst eine Individualbeschwerde beim ACCC ein (Az.: ACCC/C/2009/44).118 Im April 2014 kam eine weitere Individualbeschwerde der NGO Ecohome hinzu. Die NGO machte geltend, dass Aktivisten und NGOs, die sich gegen das Kernkraftwerk-Projekt in der Region Ostrowez engagierten, Opfer von rechtswidrigen Freiheitsentzügen, Einreiseverboten, Durchsuchungen und Beschlagnahmen geworden seien (Az.: ACCC/C/2014/102).119
Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 439 ff.; siehe dazu ausführlich unten 4. Kapitel B. I. 115 Vgl. die sehr informativen Kleinen Anfragen von Abgeordneten sowie der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Kernkraftwerk Ostrowez, Deutscher Bundestag, Drs. 17/11779, 05.12.2012 sowie Drs. 19/17804, 11.03.2020. 116 Der Schriftsatz des European ECO Forum vom 08.10.2009 ist abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2009-37/Correspondence /AmicusReC37_Cover.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 117 Der Schriftsatz der anonymen Individualbeschwerde vom 01.05.2009 ist abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2009-37/Com munication/CommunicationACCC-C-2009-37public.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 118 Der Schriftsatz des European ECO Forum vom 18.12.2009 ist abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2009-44/Communication /communicationNPPBelarusFINAL.pdf, abgerufen am 25.08.2021.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus77
Im März 2015 entschied sich schließlich auch die Republik Litauen im Fall des Kernkraftwerks Ostrowez durch eine Staatenbeschwerde tätig zu werden.120 Die Eingabe Litauens stützt sich auf Art. 3 Abs. 9 Aarhus-Konvention sowie Art. 6 Abs. 2–4, Abs. 6 und Abs. 8 Aarhus-Konvention. Bis heute existieren drei Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien bezüglich der Vereinbarkeit der Handlungen der weißrussischen Staatsgewalt mit der Aarhus-Konvention betreffend auch die Errichtung des Kernkraftwerks in Ostrowez. Die 4. Tagung der Vertragsparteien bekräftigte neben der Äußerung weiterer Bedenken und seiner Handlungsempfehlungen Verstöße gegen Art. 4 Abs. 1 Aarhus-Konvention sowie gegen Art. 6 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 6–9 Aarhus-Konvention (Decision IV/9b, 2011).121 Die 5. Tagung der Vertragsparteien erinnerte an die vormals festgestellten Defizite im Erfüllungsverhalten Weißrusslands und stellte in Bezug auf das KernkraftwerkProjekt im Besonderen unter anderem fest, dass Verstöße gegen Art. 4 Abs. 1 lit. b) Aarhus-Konvention, Art. 6 Abs. 2 lit. d) sublit. vi) Aarhus-Konvention sowie Art. 6 Abs. 4, 6 und 7 Aarhus-Konvention vorlägen (Decision V/9c, 2014).122 Die 6. Tagung der Vertragsparteien knüpfte wiederum an die vormals festgestellten Defizite im Erfüllungsverhalten Weißrusslands mit Blick auf die verschiedenen Verstöße gegen Art. 6 Aarhus-Konvention an und legte neben anderem hinsichtlich der gegen Aktivisten und NGOs gerichteten Maßnahmen dar, dass diese gegen Art. 3 Abs. 8 Aarhus-Konvention verstießen (Decision VI/8c, 2017).123 Während Reaktor I planmäßig ab Herbst 2020 Elektrizität liefern sollte und die Inbetriebnahme von Reaktor II für 2021 geplant wurde,124 ist das 119 Der Schriftsatz von Ecohome vom 22.04.2014 ist abrufbar unter https://www. unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2014-102/Communication/Communi cation_Belarus_Ecohome_22.04.2014_redacted.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 120 Die Staatenbeschwerde Litauens vom 25.03.2015 ist abrufbar unter https:// www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/S2015-02_Belarus/Submission/ Submission_by_Lithuania_concerning_Belarus_27.03.2015.pdf, abgerufen am 25.08. 2021. 121 Vgl. MoP IV (Aarhus-Konvention), Report of the fourth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision IV/9b on compliance by Belarus with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2011/2/Add.1, 2011, S. 48 ff. 122 Vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision V/9c on compliance by Belarus, ECE/MP.PP/ 2014/2/Add.1, 2014, S. 58 ff. 123 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision VI/8c on Compliance by Belarus with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2017/2/Add.1, 2017, S. 38 ff. 124 Vgl. den Bericht von St John Murphy, The Astravets Nuclear Power Plant in Belarus Is Nearing Completion, in: Eurasia Daily Monitor (Jamestown Foundation), Volume 17 Issue 82, 09.06.2020, aufrufbar unter https://jamestown.org/program/the-
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
ACCC weiterhin mit der Staatenbeschwerde Litauens sowie der Begleitung der Umsetzung von Decision VI/8c befasst. Am 1. Juli 2020 hat die Beobachter-Organisation Movement against the Astravyets NPP gegenüber dem ACCC erneut Sicherheitsbedenken gegenüber dem Projekt zum Ausdruck gebracht und die Notwendigkeit von Transparenz und Öffentlichkeitsbeteiligung betont.125 In seinen am 23. Juli 2021 beschlossenen Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen zur Staatenbeschwerde Litauens, die es im Oktober 2021 der 7. Tagung der Vertragsparteien vorlegen wird, geht das ACCC nunmehr weiterhin von erheblichen Erfüllungsdefiziten Weißrusslands aus und stellt Verstöße gegen Art. 6 Abs. 2 Aarhus-Konvention, insbesondere Art. 6 Abs. 2 lit. b) sublit. ii) und v) Aarhus-Konvention, gegen Art. 6 Abs. 6 Aarhus-Konvention, gegen Art. 6 Abs. 8 Aarhus-Konvention, gegen Art. 6 Abs. 9 Aarhus-Konvention sowie gegen Art. 3 Abs. 9 Aarhus-Konvention fest.126 Litauen hat im Juni 2011 auch eine Staatenbeschwerde im Rahmen des Non-Compliance-Verfahrens der Espoo-Konvention eingereicht, in deren Folge die 6. Tagung der Vertragsparteien Verstöße gegen Art. 2 Abs. 6, Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 Espoo-Konvention feststellte (Decision VI/2, 2014, Ziff. 50).127 Unter Erschöpfung sämtlicher seiner Mittel und Zuhilfenahme externer Experten konnte das Espoo Implementation Committee jedoch nicht alle Aspekte einer zufriedenstellenden Lösung zuführen.128 So blieb angesichts der durch Weißrussland bereitgestellten Dokumentation ungelöst, aus welchen konkreten Erwägungen Ostroastravets-nuclear-power-plant-in-belarus-is-nearing-completion, aufgerufen am 25.08. 2021. 125 Vgl. den eingereichten Kommentar Regarding the Belarusian Nuclear Power Plant vom 01.07.2020, abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/ compliance/S2015-02_Belarus/Correspondence_with_Belarus/frObsS2_MaANPP_ 01.07.2020.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 126 Vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to submission ACCC/S/2015/2 concerning compliance by Belarus, 23.07.2021, Ziff. 161, abrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2021-07/S2_Belarus_findings_advance_un edited.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 127 Vgl. MoP VI (Espoo-Konvention), Report of the Meeting of the Parties to the Convention on its sixth session (and of the Meeting of the Parties to the Convention serving as the Meeting of the Parties to the Protocol on its second session) – Addendum, Decision VI/2, ECE/MP.EIA/20/Add.1-ECE/MP.EIA/SEA/4/Add.1, 2014, S. 12 ff. 128 Vgl. zur Erschöpfung der zur Verfügung stehenden Mittel IS 2019 (EspooKonvention), Report of the Meeting of the Parties to the Convention (and of the Meeting of the Parties to the Convention serving as the Meeting of the Parties to the Protocol on their intermediary sessions) – Addendum, Decision IS/1d, ECE/MP. EIA/27/Add.1-ECE/MP.EIA/SEA/11/Add.1, 2019, S. 12 ff., Ziff. 9–11.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus79
wez unter den Standortalternativen ausgewählt wurde.129 Daher stellte die Zwischentagung der Vertragsparteien 2019 erneut Verstöße gegen Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) sowie Art. 6 Abs. 1 Espoo-Konvention fest (Decision IS/1d, 2019, Ziff. 15).130 Nachdem im Fall des KernkraftwerkProjekts nunmehr vollendete Tatsachen vorliegen, zielt die Nachbereitung darauf ab, dass zukünftige derartige Planungsentscheidungen Weißrusslands im Einklang mit der Espoo-Konvention stattfinden.131 Weißrussland und Litauen sind diesbezüglich dazu aufgerufen ihre bilaterale Kooperation zu verbessern, insbesondere im Rahmen einer ex post-Analyse des Projekts, bei deren Durchführung für eine ausreichende Öffentlichkeitsbeteiligung gesorgt sein soll.132 bb) Eingabe durch Selbstanzeige (submission) Ebenso kann eine Vertragspartei, die der Ansicht ist ihre Verpflichtungen trotz bester Bemühungen nicht einhalten zu können, schriftlich und unter 129 Vgl. zu den ungelöst gebliebenen Teilaspekten IS 2019 (Espoo-Konvention), Report of the Meeting of the Parties to the Convention (and of the Meeting of the Parties to the Convention serving as the Meeting of the Parties to the Protocol on their intermediary sessions) – Addendum, Decision IS/1d, ECE/MP.EIA/27/Add.1ECE/MP.EIA/SEA/11/Add.1, 2019, S. 12 ff., Ziff. 6. 130 Vgl. IS 2019 (Espoo-Konvention), Report of the Meeting of the Parties to the Convention (and of the Meeting of the Parties to the Convention serving as the Meeting of the Parties to the Protocol on their intermediary sessions) – Addendum, Decision IS/1d, ECE/MP.EIA/27/Add.1-ECE/MP.EIA/SEA/11/Add.1, 2019, S. 12 ff. 131 Vgl. IS 2019 (Espoo-Konvention), Report of the Meeting of the Parties to the Convention (and of the Meeting of the Parties to the Convention serving as the Meeting of the Parties to the Protocol on their intermediary sessions) – Addendum, Decision IS/1d, ECE/MP.EIA/27/Add.1-ECE/MP.EIA/SEA/11/Add.1, 2019, S. 12 ff., Ziff. 16; zuletzt bekräftigt durch MoP VIII (Espoo Konvention)/MoP IV (SEA Protocol), Report of the Meeting of the Parties to the Convention on its eighth session and of the Meeting of the Parties to the Convention serving as the Meeting of the Parties to the Protocol on its fourth session, Addendum, Decisions by the Meeting of the Parties to the Convention, ECE/MP.EIA/30/Add.2-ECE/MP.EIA/SEA/13/Add.2, 2020/2021, Decision VIII/4c, S. 11, Ziff. 1. 132 Vgl. IS 2019 (Espoo-Konvention), Report of the Meeting of the Parties to the Convention (and of the Meeting of the Parties to the Convention serving as the Meeting of the Parties to the Protocol on their intermediary sessions) – Addendum, Decision IS/1d, ECE/MP.EIA/27/Add.1-ECE/MP.EIA/SEA/11/Add.1, 2019, S. 12 ff., Ziff. 17-19; zuletzt bekräftigt durch MoP VIII (Espoo Konvention)/MoP IV (SEA Protocol), Report of the Meeting of the Parties to the Convention on its eighth session and of the Meeting of the Parties to the Convention serving as the Meeting of the Parties to the Protocol on its fourth session, Addendum, Decisions by the Meeting of the Parties to the Convention, ECE/MP.EIA/30/Add.2-ECE/MP.EIA/SEA/13/ Add.2, 2020/2021, Decision VIII/4c, S. 11, Ziff. 4.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Angabe der konkreten Umstände der vertraglichen Nichterfüllung eine Eingabe über das Sekretariat einreichen.133 Seit 2004 bis einschließlich 2020 hat in einem Fall eine solche Selbstanzeige stattgefunden. Während die Verfahrenseinleitung durch eine Selbstanzeige im Rahmen des Montrealer Protokolls bereits häufiger gebraucht wurde,134 liegt es wohl auch an der besonderen Möglichkeit der Einreichung einer Individualbeschwerde im Rahmen des Non-Compliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention, dass es wenig Raum für Selbstanzeigen gibt. Gleichzeitig erweist sich die Individualbeschwerde gegenüber der Selbstanzeige als wirkungsvolleres Mittel der Konventionsdurchsetzung, da die Vertragsparteien naturgemäß zögern eine Selbstanzeige einzureichen.135 Dennoch kann eine Selbstanzeige im Einzelfall für eine Vertragspartei wichtig sein, um ihre Umsetzungsbereitschaft zu signalisieren sowie Unterstützung zu erhalten, und kann dadurch trotz eines Verstoßes zu internationalen Reputationszugewinnen führen. Um Unterstützung durch einen unabhängigen Experten bat auch Albanien, als es sich im untenstehenden, einzigen bisherigen Fall mit einer Selbstanzeige an das ACCC wandte. Reputationsgewinne sind hierdurch jedoch eher weniger zu erwarten. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um kein umweltintensives Großprojekt, sondern um einen Kinderspielplatz handelte, der als kommunales Bauvor haben über das Präsidialbüro der Republik Albanien als Fall an das ACCC herangetragen wurde, bleiben die Umstände hinter dem Sachverhalt unklar. (1) ACCC/S/2016/3 (Albanien) – Tirana Lake Park Der Stadtpark um den künstlich angelegten See in der albanischen Hauptstadt Tirana stellt ein stadtplanerisch begehrtes sowie umkämpftes Gebiet dar. Dort wurden Anfang Februar 2016 Bauarbeiten unternommen, die von öffentlichem Protest begleitet wurden und sich schließlich als die aufwendige Errichtung eines Kinderspielplatzes herausstellten.136 Als Bauherrin trat die 133 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 16. 134 Vgl. Sekretariat (Montrealer Protokoll), Implementation Committee under the Non-Compliance Procedure of the Montreal Protocol on Substances that deplete the Ozone Layer – Primer for Members, 2007, S. 13; Romanin Jacur, The Non-Compliance Procedure of the 1987 Montreal Protocol to the 1985 Vienna Convention on Substances that Deplete the Ozone Layer, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 21. 135 Bereits früh stellte Ehrmann mit Blick auf das Montrealer Protokoll fest, dass die Selbstanzeige nicht unbedingt freiwillig gebraucht wird, siehe Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 423. 136 Die an dem Protest beteiligte Initiative Ourcommons.org hat die Ereignisse in einem Artikel zusammengefasst, siehe Ourcommons.org, „Tirana: Fighting for Citi-
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Stadtverwaltung von Tirana auf. Im Mai 2016 reichte der Generalsekretär des Präsidialbüros im Namen der Republik Albanien gegenüber dem ACCC ein Schriftstück ein, dessen Einordnung als Selbstanzeige im September 2016 bekräftigt wurde.137 Die Selbstanzeige wurde mit der Einladung verbunden vor Ort Untersuchungen vorzunehmen. Albanien hat die Anwendbarkeit der Vorschriften zur Öffentlichkeitsbeteiligung gemäß der Aarhus-Konvention nach Art. 6 Abs. 1 lit. b) Aarhus-Konvention festgelegt, da die Errichtung eines Kinderspielplatzes nicht unter die umweltintensiven Großprojekte des Anhangs I der Konvention fällt.138 Aufgrund anhaltender Verfahren vor dem zuständigen Oberverwaltungsgericht sowie dem zuständigen Ombudsmann hat das ACCC in analoger Anwendung von Ziff. 21 der Verfahrensordnung (Erschöpfung des nationalen Rechtswegs)139 das Selbstanzeigeverfahren im November 2016 vorübergehend ausgesetzt und mitgeteilt, dass es daher keine Untersuchungen zum vormals angestrebten Zeitpunkt mehr vor Ort durchführen wird.140 Als sich das ACCC im September 2017 zum Sachstand erkundigte, teilte schließlich das Tourismus- und Umweltministerium von Albanien (national focal point) im März 2018 sein Einverständnis zur Beendigung des Selbstanzeige-Verfahrens mit, nachdem das die Selbstanzeige vormals initiierende Präsidialbüro die Sache nicht weiter kommentierte.141 Daraufhin beschloss das ACCC bei seiner 60. Sitzung die Schließung des Falles.142 zens’ Rights to Green Spaces“, 07.12.2016, aufrufbar unter http://ourcommons.org/ act/tirana-green-space-park-riots/, aufgerufen am 25.08.2021. 137 Das Schreiben des albanischen Präsidialbüros vom 05.05.2016 ist abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/S2016-03_Albania/ frPartyS3_05.05.2016_letter_eng.pdf, abgerufen am 25.08.2021; das die Einordnung als Selbstanzeige bestätigende Schreiben vom 22.09.2016 ist abrufbar unter https:// www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/S2016-03_Albania/frParty_ 22.09.2016/frPartyS3_22.09.2016.pdf, abgerufen am 25.08.2021. 138 Vgl. das in der vorstehenden Fn. 137 zitierte Schreiben vom 22.09.2016. 139 MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 21; siehe näher zum Kriterium der Rechtswegerschöpfung unten c) ff). 140 Vgl. das Schreiben an die betroffene Vertragspartei vom 03.11.2016, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/S2016-03_Albania/ toPartyS3_03.11.2016.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 141 Die Sachstandsanfrage vom 04.09.2017 ist abrufbar unter https://www.unece. org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/S2016-03_Albania/toPartyS3_04.09.2017_ email_on_status_redacted.pdf, abgerufen am 26.08.2021; die Antwort des Tourismusund Umweltministeriums (national focal point) vom 28.02.2018 ist abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/S2016-03_Albania/fr PartyS3_28.02.2018_email_to_close_redacted.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 142 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixtieth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2018/2, 2018/2019, Ziff. 11.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Der Sachverhalt wurde Ende Mai 2018 als Individualbeschwerde ACCC/ C/2019/171 der drei Privatpersonen Artan Manushaqe, Andi Tepelena und Ervin Goci erneut dem ACCC vorgelegt.143 Die Individualbeschwerde wurde jedoch gem. Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung (Unvereinbarkeit mit der Verfahrensordnung oder der Konvention) für unzulässig erklärt.144 Die Entscheidung wurde darauf gestützt, dass die Errichtung eines Kinderspielplatzes nicht unter die umweltintensiven Großprojekte des Anhangs I der Konvention falle (daher kein Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 2 i. V. m. Art. 6 AarhusKonvention) und dass aufgrund eines vorliegenden Urteils des Verwaltungsgerichts Tirana nicht ersichtlich sei, warum behauptet wurde, dass ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention (Zugang zu Gericht) vorliege.145 cc) Sekretariatsvorlage (referral) Wird dem Sekretariat beispielsweise in Anbetracht der Berichte, die die Vertragsparteien über ihr Erfüllungsverhalten einreichen, bekannt, dass eine Vertragspartei ihre Verpflichtungen möglicherweise nicht einhält, fordert es bei der betroffenen Vertragspartei weiterreichende Informationen über den Sachverhalt an.146 Erfolgt innerhalb von drei Monaten, in besonderen Fällen auch bis zu sechs Monaten, keine Antwort und der Sachverhalt klärt sich nicht, ist das Sekretariat befugt eine Vorlage beim ACCC einzureichen.147 Eine Sekretariatsvorlage ist bis einschließlich 2020 nicht erfolgt.148 Bereits früh hat sich auch im Rahmen anderer Non-Compliance-Verfahren gezeigt, dass die Sekretariate aus politischen Gründen von der Möglichkeit einer Vorlage absehen.149 Dies wurde darauf zurückgeführt, dass ihre Stellung in den Verträgen dies nur schwer erlaubt, da sie im Rahmen ihrer vor allem 143 Die Individualbeschwerde ist abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/ DAM/env/pp/compliance/C2019-171_Albania/Communication_Albania_Res_ Publica_29.05.2018_Redacted.pdf, abgerufen am 26.08.2021. Die zugehörige Erklärung der Beschwerdeführer ist abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/ env/pp/compliance/C2019-171_Albania/Communication_Albania_Res_Publica_ 29.05.2018_att1.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 144 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-fifth meeting (Advance unedited), ECE/MP.PP/C.1/2019, 2020, Ziff. 65. 145 Ebd. 146 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 17. 147 Ebd. 148 Vgl. die Übersichtsseite, die das ACCC diesbezüglich bereitstellt, aufrufbar unter https://www.unece.org/env/pp/referrals.html, aufgerufen am 26.08.2021. 149 Vgl. Ehrmann, Erfüllungskontrolle im Umweltvölkerrecht, 2000, S. 422.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus83
administrativen Tätigkeit auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Vertragsparteien angewiesen sind.150 dd) Individualbeschwerde (communication) Schließlich kann jedes Mitglied der Öffentlichkeit, d. h. eine oder mehrere natürliche Personen oder NGOs, eine Individualbeschwerde einreichen.151 Die Möglichkeit einer Individualbeschwerde ist die innovativste Eigenschaft des Aarhus Non-Compliance-Mechanismus. Sie hebt den Mechanismus aus der Reihe zahlreicher anderer umweltvölkerrechtlicher Erfüllungskontrollverfahren heraus.152 Von 2004 bis einschließlich 2020 gab es 184 solcher Indi150 Ebd.
151 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 18 ff. 152 Im Rahmen der UNECE wurden nach der wegweisenden Errichtung des Aarhus Non-Compliance-Mechanismus (2002) weitere Mechanismen mit Beschwerdemöglichkeit der Öffentlichkeit etabliert. Das Verfahren zum Protokoll über Wasser und Gesundheit (2007) und das Verfahren zum PRTR-Protokoll (2010) reichen jedoch allein angesichts ihrer praktischen Bedeutung nicht an das Verfahren zur AarhusKonvention heran. Bei beiden wurde bislang jeweils eine einzige solche Beschwerde eingereicht. Das Verfahren im Rahmen des Protokolls über Wasser und Gesundheit wurde 2014 durch die Umwelt-NGO Earthjustice angestrengt und trägt das Az. ECE. MP.WH.CC.COM.1 (Portugal). Das Verfahren im Rahmen des PRTR-Protokolls wurde 2020 durch die Umwelt-NGO Environment-People-Law angestrengt und trägt das Az. PRE/PRTRPCC/C/2020/1 (Ukraine). Überdies existiert mit dem Verfahren zur Alpenkonvention (2002) ein Mechanismus, der es zumindest Organisationen mit Beobachter-Status, wie dem WWF oder der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA, erlaubt, ein Verfahren anzustrengen. Die Verfahrensordnung ist abrufbar unter https://www.alpconv.org/fileadmin/user_ upload/Organization/AC/XVI/Compliance_Mechanism_de_2020.pdf, abgerufen am 26.08.2021. Dort heißt es: „3.1.2. Vertragsparteien oder Beobachter können jederzeit in schriftlicher Form und begründet Ersuchen um Überprüfung einer vermuteten Nichteinhaltung der Konvention und ihrer Protokolle an den Überprüfungsausschuss richten. Ein solches Ersuchen löst ein außerordentliches Überprüfungsverfahren aus, für das sinngemäß die gleichen Verfahrensregeln gelten, wie für das ordentliche Überprüfungsverfahren. Sollte ein Ersuchen behandelt werden, das die den Vorsitz führende Vertragspartei betrifft, kann der Überprüfungsausschuss für die Dauer des Vorsitzes dieser Vertragspartei eine andere Vertragspartei für die Behandlung dieses Ersuchens mit der Vorsitzführung betrauen.“ Obwohl man sich im Rahmen des Mechanismus der Espoo-Konvention (2004) gegen eine Beschwerdemöglichkeit der Öffentlichkeit entschieden hat, ist erwähnenswert, dass hier gewissermaßen eine mittelbare Beschwerdemöglichkeit existiert. Denn die Öffentlichkeit kann Informationen an den Erfüllungsausschuss herantragen und dieser kann dann nach Prüfung derselben ein Verfahren (Committee initiative) beginnen. So wurde aus der Informatorischen Mitteilung EIA/IC/INFO/7 (eingereicht durch die Umwelt-NGO Ecoclub) das Verfahren EIA/IC/CI/4 (Ukraine). Aus der In-
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
vidualbeschwerden.153 Damit stellt die Individualbeschwerde die mit übergroßem Abstand praktisch häufigste Art der Einleitung eines Verfahrens vor dem ACCC dar. Sie ist das entscheidende Kriterium für die herausragende Bedeutung des Aarhus Non-Compliance-Mechanismus. Seit dem 23.10.2003 kann das Erfüllungsverhalten der ursprünglichen Vertragsparteien auf diese Weise überprüft werden.154 Das Erfüllungsverhalten einer neu beigetretenen Vertragspartei kann jeweils nach dem Ablauf von zwölf Monaten nach dem spezifischen Zeitpunkt des Inkrafttretens Gegenstand einer Individualbeschwerde sein.155 Sollte es eine Vertragspartei ablehnen, dass Individualbeschwerden gegen sie gerichtet werden, so kann diese noch vor Ablauf der Zwölfmonatsfrist den Verwahrer informieren, dass sie für nicht mehr als vier Jahre die Berücksichtigung solcher Beschwerden gegen sich ablehnt.156 Von dieser Opt-out-Regelung ist bisher jedoch durch keine Vertragspartei Gebrauch gemacht worden.157 Die Einreichung der Individualbeschwerde erfolgt schriftlich über das Sekretariat und muss ausreichend unterstützende Informationen beinhalten.158 Das ACCC stellt eine Formatvorlage bereit und begrüßt es, wenn die Beschwerde per E-Mail eingereicht wird.159 formatorischen Mitteilung EIA/IC/INFO/12 (eingereicht durch ein deutsches Bundestagsmitglied und die Umwelt-NGO Friends of the Irish Environment) wurde das Verfahren EIA/IC/CI/5 (Vereinigtes Königreich). Und aus der Informatorischen Mitteilung EIA/IC/INFO/14 (eingereicht durch die NGO Bankwatch Romania) wurde das Verfahren EIA/IC/CI/6 (Serbien). Die Liste der Informatorischen Mitteilungen ist aufrufbar unter https://unece.org/information-other-sources-0, aufgerufen am 26.08.2021. Eine ähnliche Nutzbarmachung eines formal durch den Erfüllungsausschuss selbst eingeleiteten Verfahrens (Committee initiative) zu Zwecken einer Beschwerde der Öffentlichkeit (communication) erlaubt auch der Mechanismus der Barcelona-Konvention, siehe dazu COP XX (Barcelona-Konvention), Decision IG.23/2, Admissibility Criteria of Relevant Information Sources and Procedure under Paragraph 23.bis of the Procedures and Mechanisms on Compliance under the Barcelona Convention and its Protocols, UNEP(DEPI)/MED IG.23/23, 2017. 153 Vgl. die Übersichtsseite, die das ACCC diesbezüglich bereitstellt, aufrufbar unter http://www.unece.org/env/pp/cc/com.html, aufgerufen am 26.08.2021. 154 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 18. 155 Ebd. 156 Ebd. 157 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 228. 158 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 19. 159 Die Formatvorlage ist online abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/ DAM/env/pp/compliance/CC_Guidance/Format_for_communications_to_the_Aar
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus85
Mit Stand Januar 2014 sind 63 % der Individualbeschwerden durch eine oder mehrere NGOs eingereicht worden, 33 % der Individualbeschwerden wurden dem ACCC durch eine oder mehrere natürliche Personen vorgelegt und bei 3 % der Individualbeschwerden wird die Identität des Beschwerdeführers als vertraulich behandelt.160 Als zulässige Gründe für den Antrag auf eine vertrauliche Behandlung gewisser Informationen, einschließlich der eigenen Identität, nennt das ACCC im Rahmen der Formatvorlage eine mögliche Bestrafung, Schikane oder Verfolgung.161 Die Gründe müssen dem ACCC gegenüber nicht offengelegt werden, es sieht eine Mitteilung darüber jedoch als hilfreich an.162 ee) Initiativrecht des ACCC? In der Literatur ist zu lesen, dass die sehr allgemein gehaltene Aufgabenzuweisung in Ziff. 14 der Verfahrensordnung des ACCC „Compliance-Sachverhalte zu überprüfen und Empfehlungen abzugeben“163 für ein Recht des ACCC spreche selbständig Untersuchungen aufnehmen zu können.164 Für ein solches Initiativrecht proprio motu kann zutreffend angeführt werden, dass die Aufgabenzuweisung einzig unter der Einschränkung erfolgt von den Kompetenzen „wenn und soweit nötig“, also offenbar nach eigenem Befin-
hus_Convention_Compliance_Committee_v11.03.2019.docx, zuletzt abgerufen am 26.08.2021. 160 Die Statistik ist online auf den Seiten des ACCC aufrufbar unter http://www. unece.org/index.php?id=35261, aufgerufen am 26.08.2021. 161 Vgl. Ziff. 10 der Formatvorlage für Individualbeschwerden, abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/CC_Guidance/Format_for_ communications_to_the_Aarhus_Convention_Compliance_Committee_v11.03.2019. docx, abgerufen am 26.08.2021; siehe auch MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 29. 162 Vgl. Ziff. 10 der Formatvorlage für Individualbeschwerden, abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/CC_Guidance/Format_for_ communications_to_the_Aarhus_Convention_Compliance_Committee_v11.03.2019. docx, abgerufen am 26.08.2021. 163 MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 14. 164 Vgl. Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 230, wohl unter Bezugnahme auf eine frühere Version von UNECE, Guidance Document on the Aarhus Convention Compliance Mechanism, November 2010, abrufbar unter https://unece.org/DAM/env/pp/compliance/CC_GuidanceDocument. pdf, abgerufen am 26.08.2021.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
den, Gebrauch machen zu können.165 Insofern geht auch der aktuelle Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee (2019) davon aus, dass das ACCC Compliance-Sachverhalte in Eigeninitiative überprüfen kann.166 Gegen ein eigenständiges Initiativrecht des ACCC sprechen allerdings die detaillierten Regelungen zu Eingaben, Sekretariatsvorlagen und Individualbeschwerden in den Abschnitten IV. bis VI. der Verfahrensordnung. Nach einem ähnlichen Muster, das immer auch die Anhörung der betroffenen Vertragspartei vorsieht, wird dort die Berechtigung zur Verfahrenseinleitung festgelegt. Hätten die Vertragsparteien ein Initiativrecht des ACCC gewollt, hätten sie dies womöglich präziser normiert. Wenn es der beschriebenen Opt-out-Regelung bei der Individualbeschwerde bedurfte, um möglichen Bedenken entgegenzutreten, so hätte man auch das als unabhängig ausgestaltete ACCC nicht ohne weitere Worte mit einem Recht zur Selbstinitiative ausgestattet. Die Vorschrift der Ziff. 14 der Verfahrensordnung wird überdies in der Praxis beispielsweise als Rechtsgrundlage für Gutachtenanfragen der Vertragsparteien (Requests from Parties for advice or assistance) genutzt.167 Die unabhängig von einem Konventionsverstoß einreichbaren Anfragen passen in ihrer Gestalt weitaus besser zu der sehr offen formulierten Rechtsgrundlage. c) Zusätzliche Sachentscheidungsvoraussetzungen der Individualbeschwerde Das ACCC prüft die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde (communication) anhand einer Reihe von zusätzlichen Sachentscheidungsvoraussetzungen, die die Verfahrensordnung für die Individualbeschwerde aufstellt. Es handelt sich dabei um die Verpflichtung zur Bereitstellung ausreichender Informationen (Ziff. 19), um das Verbot der anonymen Einreichung (Ziff. 20 a)), um das Verbot der Rechtsmissbräuchlichkeit (Ziff. 20 b)), um das Kriterium der offensichtlichen Unangemessenheit (Ziff. 20 c)), um den Fall der (sonstigen) Unvereinbarkeit mit der Verfahrensordnung oder der Konvention (Ziff. 20 d)) sowie um das Kriterium der ausreichenden Inanspruchnahme des nationalen Rechtswegs (Ziff. 21). Da vor allem Ziff. 20 c) und Ziff. 20 d) einen weiten Spielraum denkbarer Fälle zulassen, verwundert es nicht, dass das ACCC nicht unbedingt immer unter nachvollziehbaren Gesichtspunkten im Hinblick auf die einzelnen Gründe der Unzulässigkeit differenziert. Die nachfolgende Darstellung versucht dennoch kommentarartig die entsprechenden Fallgruppen, die sich in 165 Ebd.
166 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 7. 167 Siehe näher zu diesen Anfragen oben III. 1. a).
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus87
der Rechtspraxis herausgebildet haben, unter die aufgezeigten Rechtsgrundlagen zu fassen, ohne dabei entfernt der Praxis allzu strenge Linien zu ziehen. Die Ausführungen berücksichtigen alle durch das ACCC für unzulässig erklärten Individualbeschwerden von 2004 bis März 2020 (66. ACCCSitzung).168 Diese werden am Ende des Abschnitts zu den zusätzlichen Sachentscheidungsvoraussetzungen der Individualbeschwerde nochmals überblickshaft dargestellt (vgl. Abbildung 3). Der Einführung soll an dieser Stelle ein Blick auf die häufigsten Gründe für die Unzulässigkeit von Individualbeschwerden dienen (vgl. Abbildung 1). Dabei können pro Individualbeschwerde mehrere Gründe für deren Unzulässigkeit vorgelegen haben. Hauptsächlich handelte es sich bei den 52 Verfahren um einen Mangel an ausreichenden, durch den Beschwerdeführer bereitgestellten Informationen (15/52). Ähnlich häufig wurde der nationale Rechtsweg nicht ausreichend beschritten (13/52). An dritter Stelle folgen Vorbringen, welche die de minimis-Grenze unterschritten (6/52) sowie Vorbringen, bezüglich derer das ACCC formell oder materiell unzuständig gewesen ist (6/52). Weiterhin sind diejenigen Vorbringen anzuführen, deren zugrundeliegendes Erfüllungsdefizit bereits anderweitig adressiert worden ist (5/52). Überdies sind Vorbringen zu nennen, bei welchen das ACCC keinen relevanten materiellen Anknüpfungspunkt an die Vorschriften der Aarhus-Konvention finden konnte und die Beschwerdeführer gleichzeitig den Anschein erweckten sich ausschließlich aus Unzufriedenheit bzw. aus dem erhöhten Gefühl Zeuge einer rechtlichen Benachteiligung gewesen zu sein an das ACCC zu wenden (3/52). Genauso häufig wurden Vorbringen verfrüht oder verspätet zur Kenntnis des ACCC gebracht (3/52). Neben verschiedenen, anderen Einzelfällen (5/52) sind an letzter Stelle der Wegfall der Beschwer (2/52), die Einreichung durch eine staatliche Stelle (2/52) und offensichtlich unbegründete Vorbringen (2/52) als Ursachen für die Unzulässigkeit der Individualbeschwerden zu nennen.
168 Die Untersuchung bezieht sich auf insgesamt 52 Verfahren, davon handelt es sich bei 50 um unzulässige Individualbeschwerden sowie bei 2 Verfahren um solche, die teilweise unzulässig gewesen sind und für die summary proceedings festgelegt worden sind. Nicht enthalten sind alle zulässigen Verfahren, auch wenn diese ggf. bezüglich einzelner Gegenstände teilweise unzulässig gewesen sind. Als Quelle dienen die Sitzungsprotokolle des ACCC, die unter https://www.unece.org/env/pp/ ccmeetings.html abrufbar sind (zuletzt aufgerufen am 26.08.2020).
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Gründe für die Unzulässigkeit von Individualbeschwerden 2004 bis 2020
1. Keine ausreichenden Informationen bereitgestellt (15/52) 2. Keine Erschöpfung des nationalen Rechtswegs (13/52) 3. Vorbringen unterhalb der "de minimis"-Grenze (6/52) 4. Formelle oder materielle Unzuständigkeit des ACCC (6/52) 5. Erfüllungsdefizit anderweitig adressiert (5/52) 6. Anschein der Unzufriedenheit / Gefühl Zeuge einer rechtl. Benachteiligung gewesen zu sein spielt eine Rolle (gleichzeitig kein relevanter materieller Anknüpfungspunkt für ein Verfahren) (3/52) 7. Vorbringen verfrüht oder verspätet (3/52) 8. Wegfall der Beschwer (2/52) 9. Einreichung durch staatl. Stelle (2/52) 10. Vorbringen offensichtlich mit Blick auf konkrete Vorschrift unbegründet (2/52) 11. Andere Einzelfälle (5/52)
Abbildung 1: Häufigkeit der Gründe für die Unzulässigkeit von Individualbeschwerden zwischen 2004 und März 2020 (66. ACCC-Sitzung)
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus89
aa) Bereitstellung ausreichender Informationen Gemäß Ziff. 19 der Verfahrensordnung soll die Individualbeschwerde ausreichend unterstützende Informationen enthalten.169 Seit 2010 wurden meist als Rechtsgrundlage Ziff. 20 d) i. V. m. Ziff. 19 der Verfahrensordnung zitiert.170 Der Mangel an ausreichend bereitgestellten Informationen ist der praktisch häufigste und damit bedeutendste Grund für die Unzulässigkeit einer Individualbeschwerde.171 Da das ACCC kaum über eigene Ressourcen verfügt, ist eine möglichst vollständige und genaue Darstellung des Sachverhalts aus der Perspektive des Beschwerdeführers entscheidend für dessen Beurteilung. Stellt der Beschwerdeführer keine ausreichenden Informationen bereit, fehlt dem ACCC die Grundlage, um in ausreichendem Maße abschätzen zu können, ob die behaupteten Konventionsverstöße möglicherweise zutreffen, d. h. ob ein staatliches Fehlverhalten im Rahmen der Umsetzung der Aarhus-Konvention tatsächlich im Raum steht und um welche Art von staatlichem Fehlverhalten es sich konkret handelt. bb) Keine Anonymität Eine Individualbeschwerde darf weiterhin nach Ziff. 20 a) der Verfahrensordnung nicht anonym eingereicht werden.172 Auf der Formatvorlage für Individualbeschwerden173 sind die Kontaktdaten aller Beschwerdeführer anzugeben. Handelt es sich um mehrere natür 169 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 19. 170 Vgl. Abbildung 3: Übersicht über die unzulässigen Individualbeschwerden und deren Gründe von 2004 bis März 2020 (66. ACCC-Sitzung). 171 Vgl. die Fälle ACCC/C/2005/14 (Polen), ACCC/C/2008/32 (Spanien), ACCC/ C/2009/42 (Ungarn), ACCC/C/2010/47 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2010/49 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2010/56 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/ 2012/73 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2012/74 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2013/79 (Italien), ACCC/C/2013/80 (Kroatien), ACCC/C/2013/84 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2014/108 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2014/117 (Belgien/Niederlande/Luxemburg), ACCC/C/2017/145 (Belgien), ACCC/C/2019/165 (Irland). 172 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 20 (a). 173 Die Formatvorlage ist online abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/ DAM/env/pp/compliance/CC_Guidance/Format_for_communications_to_the_ Aarhus_Convention_Compliance_Committee_v11.03.2019.docx, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
liche Personen, so ist ein Beschwerdeführer als Kontaktperson zu kennzeichnen. Im Fall einer NGO sind die Kontaktdaten einer vertretungsberechtigten Person anzugeben. Die Maßgabe, dass eine Individualbeschwerde nicht anonym eingereicht werden darf, ist zu unterscheiden von dem zulässigen Antrag auf eine vertrauliche Behandlung sensibler Informationen (Ziff. 29 der Verfahrens ordnung).174 Diese bleiben lediglich intern bekannt und werden in den über das Internet zugänglichen öffentlichen Akten unkenntlich gemacht. Dazu zählt vor allem die Identität des Beschwerdeführers. Mögliche Gründe für deren Geheimhaltung können eine drohende Bestrafung, Belästigung oder Verfolgung sein.175 Das ACCC führt im Rahmen der Formatvorlage an, dass es hilfreich sei ihm diese Gründe mitzuteilen. Die Frage der Vertraulichkeit spielte in Fall ACCC/C/2009/42 (Ungarn) eine Rolle. Das ACCC hatte Bedenken, dass die Individualbeschwerde durch die Streichung der sensiblen Informationen derart an Substanz verlieren würde, dass eine Beurteilung des Sachverhalts nicht mehr möglich wäre.176 Nach erfolglosen Versuchen des Informationsaustauschs mit dem Beschwerdeführer, erklärte das ACCC die Individualbeschwerde unter Hinweis auf Ziff. 19 der Verfahrensordnung (Mangel an ausreichenden Informationen) für unzulässig.177 cc) Keine Rechtsmissbräuchlichkeit Die Erhebung der Individualbeschwerde darf nach Ziff. 20 b) der Verfahrensordnung nicht rechtsmissbräuchlich geschehen.178 In der Rechtspraxis des ACCC wurde Ziff. 20 b) der Verfahrensordnung mit Blick auf die untersuchten, unzulässigen Individualbeschwerden nie zitiert. 174 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 29. 175 Siehe in diesem Kontext neben Ziff. 10 der Formatvorlage für Individualbeschwerden (abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/ CC_Guidance/Format_for_communications_to_the_Aarhus_Convention_Comp liance_Committee_v11.03.2019.docx, abgerufen am 26.08.2021) und Ziff. 29 der Verfahrensordnung des ACCC auch Art. 3 Abs. 8 Aarhus-Konvention. 176 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-fifth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2009/6, 2009/2011, Ziff. 44. 177 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-Seventh Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/2, 2010, Ziff. 33. 178 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 20 (b).
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus91
Das ACCC hat jedoch sehr früh angedeutet, dass unter Ziff. 20 b) der Verfahrensordnung die erneute Einreichung von solchen Sachverhalten fallen könnte, die es bereits entschieden habe, sowie eine Einreichung mit erheb licher Verspätung.179 Sucht man in den für unzulässig erklärten Individualbeschwerden nach diesen Stichworten, gibt es durchaus einige Fälle, die – zwar ohne Bezugnahme auf eine konkrete Rechtsgrundlage oder unter Bezug auf eine andere Rechtsgrundlage – in diese Kontexte fallen. Weiterhin zog das ACCC in Erwägung die bereits erfolgte Einreichung bei einem anderen internationalen Entscheidungsmechanimus unter diesem Kriterium zu berücksichtigen.180 Trotz der Tatsache, dass dieser Fall im Rahmen der untersuchten, unzulässigen Individualbeschwerden nie eingetreten ist, gibt es auch hier Fälle, im Rahmen derer diese Frage eine Rolle spielte. Das ACCC drohte darüber hinaus, dass die ungeordnete Übermittlung zahlreicher Informationen einen Rechtsmissbrauch darstellen und zur Unzulässigkeit einer Individualbeschwerde führen könne, da dadurch die Arbeit des ACCC ernsthaft behindert werde.181 (1) Einreichung bereits entschiedener Sachverhalte Unter den untersuchten Individualbeschwerden waren fünf Fälle, in denen das vorgebrachte Erfüllungsdefizit aufgrund verwandter Sachverhalte anderweitig adressiert wurde. In Fall ACCC/C/2007/20 (Kasachstan) wurde der Sachverhalt in die laufende Umsetzung der bereits früher in Bezug auf Kasachstan ergangenen Decision II/5a (2005) mit einbezogen.182 Die Entscheidung erfolgte ohne Angabe einer Rechtsgrundlage. Bei Fall ACCC/C/2008/25 (Albanien) hat das ACCC auf seine Empfehlungen in Fall ACCC/C/2005/12 (Albanien) Bezug genommen und auf die Berücksichtigung der Inhalte der neuen Individualbeschwerde im Rahmen der laufenden Umsetzung der Empfehlungen des ACCC hingewiesen.183 Im 179 Vgl.
180 Ebd.
ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 36.
181 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-fourth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2011/8, 2011, Ziff. 51. 182 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Seventeenth Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2007/6, 2007, Ziff. 19; vgl. außerdem das Schreiben an Kasachstan vom 01.10.2007, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/ compliance/MoP2decisions/Kazakhstan/ACCC.C.2007.20/Correspondence%20with %20party/ToKaz20071001.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 183 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twentieth Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2008/4, 2008, Ziff. 19.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Rahmen der Entscheidung wurde unterstützend, jedoch ohne konkrete Fest legung, auf die Sachentscheidungsvoraussetzungen nach Ziff. 20 der Verfahrensordnung zurückgegriffen.184 Der Fall ACCC/C/2011/64 (Vereinigtes Königreich) gliederte sich in drei Verfahrensgegenstände, wovon einer damals bereits in Form der verbundenen Individualbeschwerden ACCC/C/2010/45 (Vereinigtes Königreich) sowie ACCC/C/2010/60 (Vereinigtes Königreich) dem ACCC zur Beratung vorlag. Daher erklärte das ACCC die Individualbeschwerde für diesbezüglich teilweise unzulässig, ohne sich auf eine konkrete Ziffer der Verfahrensordnung zu beziehen.185 Im Rahmen der Individualbeschwerde ACCC/C/2012/65 (Vereinigtes Königreich) kam das ACCC in Bezug auf einen Teilgegenstand, der Forderung einer Prozesskostensicherheit (security for costs) im englischen und walisischen Recht, zu dem Schluss, dass es bereits umfassend im Fall ACCC/ C/2008/33 (Vereinigtes Königreich) zu Gerichtskosten im Allgemeinen Stellung genommen habe.186 Es erklärte die Individualbeschwerde daher unter zusätzlichem Rückgriff auf das de minimis-Kriterium für teilweise unzulässig.187 In Fall ACCC/C/2012/75 (Vereinigtes Königreich) wurde die Individualbeschwerde verfrüht eingereicht während der verfahrensgegenständliche Planungsprozess zur Errichtung der Eisenbahn-Schnellverbindung London-Birmingham noch andauerte.188 Außerdem betraf sie abermals einen Gegenstand, der in diesem Fall inhaltlich nahe an dem damals laufenden Verfahren zur Beurteilung der Individualbeschwerde ACCC/C/2011/61 (Vereinigtes Königreich) lag.189 Daher erklärte das ACCC die Individualbeschwerde für unzulässig.190 Die Entscheidung wurde auf Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung gestützt.191 Sollte das ACCC einen ähnlichen (nicht denselben) Fall bereits beurteilt haben, behält es sich seit 2010 (28. ACCC-Sitzung) darüber hinaus vor den gegenwärtigen Fall für vorläufig zulässig zu erklären und im Rahmen eines 184 Ebd.
185 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-sixth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/2, 2012, Ziff. 38. 186 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-sixth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/2, 2012, Ziff. 40. 187 Ebd. 188 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-eighth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/8, 2012, Ziff. 34. 189 Ebd. 190 Ebd. 191 Ebd.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus93
abgekürzten Verfahrens (summary proceedings) zu behandeln.192 Das hat zur Folge, dass der Beschwerdeführer des neuen Falls zur noch laufenden Nachbereitung (follow-up) des vorher entschiedenen Falls hinzugezogen wird.193 Ihm wird im Rahmen der Nachbereitung ein ähnlicher Status eingeräumt wie einem Beschwerdeführer, sodass beide gemeinsam mit der betroffenen Vertragspartei in Kontakt treten können, um durch ihre Stellungnahmen das Erfüllungsverhalten der betroffenen Vertragspartei zu verbessern.194 Im Untersuchungszeitraum hat das ACCC in zwei Fällen Individualbeschwerden für teilweise unzulässig erklärt und bezüglich der übrigen Teilgegenstände summary proceedings durchgeführt:195 Insoweit die Individualbeschwerde ACCC/C/2011/64 (Vereinigtes Königreich) sich gegen hohe Gerichtskosten in England und Wales richtete, stellte das ACCC fest, dass es diesbezüglich bereits ausführlich im Rahmen von Individualbeschwerde ACCC/C/2008/33 (Vereinigtes Königreich) Stellung genommen habe, was Decision IV/9i der Tagung der Vertragsparteien entspreche.196 Daher wendete es hinsichtlich dieses Teilgegenstands der Individualbeschwerde das abgekürzte Verfahren an und zog den Beschwerdeführer zum laufenden Umsetzungsprozess hinzu.197 Weiterhin hat das ACCC in Bezug auf einen Teilgegenstand der Individualbeschwerde ACCC/C/2012/65 (Vereinigtes Königreich) ein abgekürztes Verfahren angeordnet.198 Der Teilgegenstand betraf das Rechtsinstitut der sog. cross-undertakings in damages, die im englischen und walisischen Recht im Fall einer umweltrechtlichen Klage möglich sind. Das bedeutet für den Kläger, dass er das Versprechen abgeben muss, für diejenigen Kosten des Beklagten aufzukommen, die dadurch entstehen können, dass eine einstweilige Anordnung die Fortführung des Vorhabens unterbindet und sich im 192 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 121; vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-eighth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/4, 2010/2011, Ziff. 45; ACCC, Report of the Compliance Committee, ECE/MP.PP/2011/11, 2011, Ziff. 20. 193 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 123. 194 Ebd. 195 Das ACCC hat zuletzt einen weiteren Fall auf seiner Homepage erstmals mit dem Zusatz „Part summary proceedings/part not admissible“ gekennzeichnet. Der Fall trägt das Az. ACCC/C/2020/180 (Vereinigtes Königreich), siehe die elektronische Datenbank unter https://unece.org/env/pp/cc/communications-from-the-public, aufgerufen am 26.08.2021. 196 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-sixth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/2, 2012, Ziff. 38. 197 Ebd. 198 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-sixth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/2, 2012, Ziff. 40.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Verlauf des Prozesses die umweltrechtlichen Bedenken gegenüber dem Vorhaben als unzutreffend herausstellen.199 Auch hier bezog sich das ACCC auf den laufenden Umsetzungsprozess seiner Entscheidung im Rahmen von Individualbeschwerde ACCC/C/2008/33 (Vereinigtes Königreich) bzw. von Decision IV/9i.200 (2) Erheblich verspätete Einreichung Der Fall ACCC/C/2020/175 (Kroatien) betraf die Öffentlichkeitsbeteiligung im Rahmen der Aufstellung eines Stadtentwicklungsplans. Da der Sachverhalt mehr als neun Jahre nach der Aufstellung des Plans zur Kenntnis des ACCC gebracht worden ist, ohne dass der Beschwerdeführer überzeugende Gründe für die verspätete Einreichung anführen konnte, erklärte es die Individualbeschwerde gem. Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung für unzulässig.201 Unklar bleibt dabei, warum das ACCC die Unzulässigkeit nicht wie bei seiner ersten Tagung beschlossen auf Ziff. 20 b) der Verfahrensordnung stützte.202 (3) Einreichung bei einem anderen internationalen Entscheidungsmechanismus Auch ein bereits vor einen anderen, internationalen Entscheidungsmechanismus gebrachter Fall kann möglicherweise unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmissbräuchlichkeit als unzulässig abgewiesen werden.203 Diese Aussage des ACCC anlässlich seines ersten Treffens im Jahr 2003 ist umso interessanter vor dem Hintergrund, dass drei Jahre zuvor ein Vorschlag abgelehnt wurde, der eine ähnliche Vorschrift als Teil der Verfahrensvoraussetzungen vorsah.204 Obwohl keiner der untersuchten Fälle aus einem solchen Grund für unzulässig erklärt wurde, spielt die Frage der Konsultation eines anderen inter nationalen Entscheidungsmechanismus bzw. der Inanspruchnahme sonstiger internationaler Abhilfemöglichkeiten durchaus eine Rolle, wie die nachfolgende Abbildung 2 zeigt. Aus der Betrachtung aller 179 Individualbeschwer199 Vgl.
Moules, Environmental Judicial Review, 2011, S. 163 f. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-sixth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/2, 2012, Ziff. 40. 201 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-sixth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2020, 2020, Ziff. 63. 202 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 36. 203 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 36. 204 Vgl. Report of the First Meeting of the Task Force on Compliance Mechanisms, CEP/WG.5/2000/4, 2000, Annex VI, Ziff. 7 (a). 200 Vgl.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus95
Inanspruchnahme anderer internationaler Entscheidungsmechanismen und sonstiger internationaler Abhilfemöglichkeiten im Rahmen von Individualbeschwerden 2004 bis 2020 im Verhältnis
(Grundlage der Übersicht ist die Erfassung der Gremien in der zugehörigen Tabelle im Anhang dieser Arbeit)
EU- (bzw. vormals EG-) Institutionen (Europäische Kommission, Europäisches Parlament, Europäischer Bürgerbeauftragter, Europäischer Gerichtshof, Europäische Eisenbahnagentur) - (30/179) Gremien umweltvölkerrechtlicher Konventionen (Berner Konvention, Espoo-Konvention, OSPAR-Konvention) - (12/179) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte - (6/179) Europäische Investitionsbank - (2/179) Weltbank - (2/179) UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte - (1/179) Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE - (1/179) Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung - (1/179) Generalsekretariat der Benelux-Union - (1/179)
Abbildung 2: Inanspruchnahme (gleich ob tatsächlich/versucht/geplant/ durch eine andere Person verfolgt o. ä.) anderer internationaler Entscheidungsmechanismen und sonstiger internationaler Abhilfemöglichkeiten im Rahmen von Individualbeschwerden 2004 bis 2020 im Verhältnis
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
den, die von 2004 (ACCC/C/2004/1) bis 2020 (ACCC/C/2020/179) eingereicht wurden, ergibt sich, dass in 30 Fällen auf EU- bzw. EG-Institutionen Bezug genommen worden ist und in 6 Fällen auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Vereinzelt gab es Konsultationen bzw. Konsulta tionsversuche bei den zuständigen Stellen der Europäischen Investitionsbank (2 Fälle), der Weltbank (2 Fälle), des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1 Fall), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE (1 Fall), der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (1 Fall) sowie bei dem Generalsekretariat der Benelux-Union (1 Fall) und bei der Surveillance Authority der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA (1 Fall). Besonders hervorzuheben sind die 12 Fälle, in denen sich auf die Gremien der umweltvölkerrechtlichen Berner Konvention, Espoo-Konvention und OSPAR-Konvention bezogen worden ist. Im Detail betreffen davon 10 Fälle die Espoo-Konvention. Hier ergeben sich mögliche Überschneidungen aufgrund der Verwandtschaft der materiellen Rechtsgarantien mit dem Espoo Convention Implementation Commitee, dem Erfüllungsausschuss der Espoo-Konvention. Wenige der aufgezeigten Fälle sind überdies unter dem Gesichtspunkt von möglichen Synergieeffekten relevant. Dabei handelt es sich um eine zweite mögliche Umgangsweise mit anderen internationalen Entscheidungsmechanismen, die nicht grundsätzlich die Zulässigkeit eines solchen Falles verneint, sondern das Votum (bzw. noch laufende Verfahren) des anderen Entscheidungsmechanismus im Rahmen der Untersuchung des Falles berücksichtigt. Vergleiche für diese Fälle die Ausführungen zu Synergien und dem Verhältnis zu anderen Entscheidungsmechanismen in Kapitel 4 B. (4) Ungeordnete Übermittlung zahlreicher Informationen Das ACCC hat im Jahr 2011 aufgrund eines einschlägigen Vorfalls, in dessen Rahmen der Vorsitzende die Zuleitung erweiterter Versionen bereits vorliegender Dokumente des Individualbeschwerdeführers an die ACCCMitglieder, die betroffene Vertragspartei sowie die Öffentlichkeit verhinderte, festgestellt, dass die ungeordnete Übermittlung zahlreicher Informationen einen Rechtsmissbrauch darstellen und zur Unzulässigkeit einer Individualbeschwerde führen könne, da dadurch die Arbeit des ACCC ernsthaft behindert werde.205 Den untersuchten 52 Individualbeschwerden nach, in deren Rahmen dieser Aspekt nie als Grund der Unzulässigkeit benannt wurde, hat es sich hierbei bisher lediglich um eine freundlich gemeinte und die Funk tionsfähigkeit des ACCC sichernde Drohung gehandelt. 205 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-fourth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2011/8, 2011, Ziff. 51.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus97
dd) Keine offensichtliche Unangemessenheit Eine Individualbeschwerde darf nach Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung weiterhin nicht offensichtlich unangemessen (manifestly unreasonable) sein.206 (1) A nschein der Unzufriedenheit und Gefühl Zeuge einer rechtlichen Benachteiligung geworden zu sein Zuvörderst können unter Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung solche Individualbeschwerden gefasst werden, im Rahmen derer der Anschein eine Rolle spielte, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund einer national aus seiner Perspektive nicht zufriedenstellenden (jedoch konventionsgemäßen) Behandlung oder aus dem Gefühl heraus Zeuge einer (vermeintlichen) rechtlichen Benachteiligung geworden zu sein an das ACCC wendete. In Fall ACCC/C/2004/10 (Kasachstan) konnte das ACCC anhand des Vorbringens des Beschwerdeführers keine Bezüge zu den Rechtsgarantien der Aarhus-Konvention herstellen.207 Es führte aus, dass Art. 9 Abs. 3 AarhusKonvention die einzige Vorschrift sei, die für die Individualbeschwerde von Bedeutung sein könnte.208 Jedoch beziehe sich die Individualbeschwerde nicht auf eine Verweigerung administrativen oder gerichtlichen Rechtsschutzes, sondern spiegle Unzufriedenheit bezüglich deren Ergebnissen wider.209 Die Entscheidung erfolgte noch ohne Angabe einer Rechtsgrundlage.210 In Bezug auf die Individualbeschwerde ACCC/C/2009/39 (Österreich) argumentierte das ACCC, dass der Individualbeschwerdeführer seine Anmerkungen bereits als Nachbar nach österreichischem Recht im Rahmen der durchgeführten Öffentlichkeitsbeteiligung geäußert habe.211 Er habe nicht darlegen können, dass er nicht fähig gewesen sei sich am Verfahren zu beteiligen oder inwieweit seine wichtigen Bedenken gegenüber dem Projekt im Verfahren nicht berücksichtigt worden seien.212 Das ACCC erklärte den Fall zwar ohne Angabe einer konkreten Rechtsgrundlage jedoch unter dem Hin206 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 20 (c). 207 Vgl. ACCC, Report on the Seventh Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2005/2, 2005, Ziff. 15. 208 Ebd. 209 Ebd. 210 Ebd. 211 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-eighth Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/4, 2010/2011, Ziff. 27. 212 Ebd.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
weis für unzulässig, dass die Individualbeschwerde „manifestly unreason able“ (offensichtlich unangemessen) sei, was Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung entspricht.213 In Fall ACCC/C/2009/40 (Vereinigtes Königreich) zitierte das ACCC bisher zum einzigen Mal direkt Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung für diese Art von unzulässigen Individualbeschwerden.214 Der Beschwerdeführer berief sich auf Art. 3 Abs. 8 i. V. m. Art. 9 Abs. 4 Aarhus-Konvention, wonach die Vertragsparteien sich verpflichten sicher zu stellen, dass Personen, die ihre Rechte im Einklang mit der Konvention ausüben, hierfür nicht in irgendeiner Weise bestraft, verfolgt oder belästigt werden.215 Der Vorsitzende kam nach der Diskussion des ACCC persönlich zu dem zusammenfassenden Schluss, dass der Beschwerdeführer schließlich Prozesskostenhilfe erhalten und angesichts dessen nicht unter einer staatlichen Verfolgung i. S. v. Art. 3 Abs. 8 Aarhus-Konvention gelitten habe.216 Daher wurde die Individualbeschwerde gem. Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung für unzulässig erklärt.217 In den Folgestunden derselben Sitzung erreichte das ACCC ein Schreiben des Beschwerdeführers, mit dem dieser neue Informationen vorbrachte, wonach er zwar im April 2009 tatsächlich Prozesskostenhilfe erhalten habe, diese ihm im Mai 2009 aber wieder entzogen worden sei.218 Außerdem sei ihm am 5. Januar 2010 die (Wieder-)Gewährung von Mitteln für ein Verfahren vor dem zuständigen Berufungsgericht versagt worden.219 Dieser Vorgang sei jedoch selbst aktuell Gegenstand eines andauernden Berufungsverfahrens.220 Das ACCC hielt trotz des Schreibens an seiner Zulässigkeitsentscheidung fest.221 Es schlussfolgerte, dass die Einreichung der Individualbeschwerde weiterhin unangemessen sei und keinen Sinn mache.222 Es stützte dies beispielhaft auf die Behauptung des Beschwerdeführers, dass eine Pressemitteilung eines Privatunternehmens, das im eigenen Interesse handelte, der Regierung als deren Handlung zuzurechnen wäre.223 213 Ebd.
214 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-Seventh Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/2, 2010, Ziff. 27. 215 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-Seventh Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/2, 2010, Ziff. 26. 216 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-Seventh Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/2, 2010, Ziff. 27. 217 Ebd. 218 Ebd. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Ebd. 223 Ebd.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus99
(2) Verfrühtes Vorbringen In zwei Fällen wurden im Rahmen von Individualbeschwerden Vorbringen verfrüht geäußert, sodass dem ACCC eine Untersuchung noch nicht möglich war. Insoweit der Beschwerdeführer sich im Rahmen der Individualbeschwerde ACCC/C/2011/64 (Vereinigtes Königreich) gegen mangelnde Möglichkeiten einer wirksamen Öffentlichkeitsbeteiligung in England und Wales richtete, stellte das ACCC fest, dass die Beschwerde konkret einen Entwurf für den „Leitfaden zur nationalen Rahmenplanung“ (National Planning Policy Framework Guidance) betraf.224 Da dieses Planungsinstrument bis dahin noch nicht verabschiedet wurde, erachtete das ACCC den Zeitpunkt als zu früh, um eine Beurteilung vorzunehmen.225 Daher erklärte es das Vorbringen ohne Angabe einer Rechtsgrundlage für unzulässig.226 Auch die Individualbeschwerde ACCC/C/2012/75 (Vereinigtes Königreich) wurde verfrüht eingereicht, während der verfahrensgegenständliche Planungsprozess zur Errichtung der Eisenbahn-Schnellverbindung LondonBirmingham noch andauerte.227 Sie betraf außerdem einen Gegenstand, der inhaltlich nahe an eine andere Individualbeschwerde heranreichte.228 Das ACCC erklärte die Individualbeschwerde aus beiden Gründen für unzulässig und stütze die Entscheidung auf Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung.229 (3) Formelle Unzuständigkeit Allgemein gilt bezüglich der Zuständigkeit ratione personae, dass der betroffene Staat bzw. die Organisation der regionalen Wirtschaftsintegration Vertragspartei der Aarhus-Konvention sein muss und ein Individualbeschwerdeverfahren in Bezug auf ihn bzw. sie angestrengt werden können muss.230 Wie bereits erläutert, ist letzteres seit dem 23.10.2003 für die ursprünglichen 224 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-sixth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/2, 2012, Ziff. 38. 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-eighth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/8, 2012, Ziff. 34. 228 Vgl. die obigen Ausführungen unter cc) (1) zur anderweitigen Adressierung von Beschwerde-Sachverhalten. 229 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-eighth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/8, 2012, Ziff. 34. 230 Vgl. schon Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 230.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Vertragsparteien der Fall.231 Das Erfüllungsverhalten einer neu beigetretenen Vertragspartei kann jeweils nach dem Ablauf von zwölf Monaten nach dem spezifischen Zeitpunkt des Inkrafttretens überprüft werden.232 Von der zur Verfügung stehenden Opt-out-Regelung hat bisher keine Vertragspartei Gebrauch gemacht.233 Hinsichtlich der Zuständigkeit ratione temporis muss der zu überprüfende Sachverhalt zeitlich nach dem Inkrafttreten der AarhusKonvention für die betreffende Vertragspartei stattgefunden haben, da das ACCC ansonsten mit großer Wahrscheinlichkeit eine Beurteilung ablehnen wird.234 Für die ursprünglichen Vertragsparteien bedeutet das, dass der entsprechende Sachverhalt sich nach dem 30.10.2001 ereignet haben muss.235 Das ACCC hat bisher eine Individualbeschwerde in diesem Kontext unter Bezugnahme auf Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung für unzulässig erklärt. Im Verfahren ACCC/C/2012/72 (Europäische Union) adressierte die Beschwerde vom 20.04.2012 (erneut am 11.06.2012 eingereicht) mit der Begründung ein Erfüllungsdefizit der Europäischen Union, dass diese die Anwendung der Aarhus-Konvention in Irland nicht sicherstellte.236 Irland hatte die Konvention zwar 1998 unterzeichnet, sie jedoch erst am 20.06.2012 ratifiziert, d. h. nach der Einreichung der Individualbeschwerde. Das ACCC kam zu dem Schluss, dass eher ein Konventionsverstoß Irlands statt ein solcher der Europäischen Union vorlag und entschied, dass die Individualbeschwerde daher unzulässig sei.237 Die Beschwerde scheiterte mithin daran, dass ein mögliches Erfüllungsdefizit Irlands der Europäischen Union nicht zurechenbar war und keine Zuständigkeit ratione personae für die Beurteilung eines möglichen Erfüllungsdefizits von Irland vorlag. 231 Siehe oben b) dd); vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/ Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 18. 232 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 18. 233 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 228. 234 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 231; vgl. schon Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 230. 235 Das Inkrafttreten der Aarhus-Konvention regelt Art. 20 Abs. 1 Aarhus-Konvention. Der 30.10.2001 entspricht dem neunzigsten Tag nach dem Tag der Hinterlegung der sechzehnten Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde. 236 Vgl. das Datenblatt des Sekretariats der Aarhus-Konvention zum Fall, zuletzt aktualisiert am 09.08.2012, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/ env/pp/compliance/DatasheetC72_2012_EU.doc, abgerufen am 26.08.2021. 237 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-seventh meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/5, 2012, Ziff. 38.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus101
(4) Sonstige Fälle ohne Zuordnung Die Individualbeschwerde ACCC/C/2013/82 (Norwegen) wurde durch das ACCC unter Bezugnahme auf Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung für unzulässig erklärt.238 Das ACCC argumentierte auf Nachfrage des Beschwerdeführers, dass es die Beschwerde als offensichtlich unangemessen einstufte, da keine nahe liegenden Gründe dafür vorgebracht wurden, warum die verfahrensgegenständlichen Anfragen von Informationen an die Medienbranche und die Anwaltskammer in den Geltungsbereich der Aarhus-Konvention fielen.239 Weitere Informationen zum Fall sind nicht öffentlich zugänglich. Fraglich bleibt daher, warum das ACCC die Individualbeschwerde unter Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung fasste. Anhand der zugänglichen Informationen wäre auch denkbar gewesen einen Fall der materiellen Unzulässigkeit anzunehmen und die Individualbeschwerde unter Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung zu subsumieren.240 ee) Unvereinbarkeit mit der Verfahrensordnung oder der Konvention Überdies ist eine Individualbeschwerde gem. Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung unzulässig, wenn sie sich als unvereinbar mit der Verfahrensordnung oder der Konvention erweist.241 (1) F älle unterhalb der Mindestvoraussetzungen für eine Untersuchung (de minimis) Die häufigste Gruppe unter Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung bilden im Rahmen der untersuchten Individualbeschwerden diejenigen Fälle, die das ACCC als unterhalb der Mindestvoraussetzungen für eine Untersuchung (de minimis) eingeordnet hat. Das de minimis-Kriterium hat das ACCC bei seiner 28. Sitzung (2010) eingeführt.242 Das ACCC begründete dies damit, dass sich Individualbeschwerden oft bei genauerer Betrachtung der Begründetheit 238 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its fortieth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2013/2, 2013, Ziff. 38. 239 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its forty-first meeting, ECE/MP.PP/C.1/2013/6, 2013, Ziff. 28. 240 Siehe zu dieser Fallgruppe sogleich unten ee). 241 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 20 (d). 242 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-eighth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/4, 2010/2011, Ziff. 44; vgl. außerdem ACCC, Report of the Compliance Committee, ECE/MP.PP/2011/11, 2011, Ziff. 19.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
aufgrund einer Analogie und Auslegung von Ziff. 20 b) sowie Ziff. 20 c) der Verfahrensordnung als unzulässig erwiesen.243 Die beiden Vorschriften seien daher von Anfang an so anzuwenden, dass auf deren Grundlage hinsichtlich ihres Zwecks und ihrer Funktion unbedeutende Individualbeschwerden für unzulässig erklärt werden können.244 Ziel sei es dem ACCC mehr Kapazität für wirklich signifikante Fälle von Erfüllungsdefiziten zu verschaffen.245 Die NGO Earthjustice wandte damals ein, dass durch das neue de minimis-Kriterium Fragen der Begründetheit bereits im Rahmen der Zulässigkeit der Individualbeschwerden beurteilt würden.246 Überdies legte sie dar, dass das de minimis-Kriterium ein weiteres Hindernis bei der Einreichung von Individualbeschwerden sei, das zu unbestimmt sei, um als bloßes technisches Kriterium der Zulässigkeit betrachtet zu werden.247 Das de minimis-Kriterium fand dennoch gemeinsam mit der übrigen bis dahin entwickelten Verfahrens praxis des ACCC die Zustimmung der 4. Tagung der Vertragsparteien (2011).248 Die meisten Fälle wurden bisher entgegen der Begründung, die das ACCC bei Einführung des Kriteriums darlegte, über Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung als unzulässig erklärt. Auch der aktuelle Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee (2019) weist die „Unvereinbarkeit mit der Verfahrensordnung oder der Konvention“ als richtige Kategorie aus.249 Ein erster Fall von de minimis liegt in Form von Individualbeschwerde ACCC/C/2010/46 (Vereinigtes Königreich) vor. Obwohl die Rechtsgrundlage nicht genauer spezifiziert wurde und das Kriterium als solches nicht genannt wurde, legen die Erwägungen des ACCC diesen Schluss nahe. Außerdem handelt es sich hierbei um eine Entscheidung des ACCC anlässlich seiner 27. Sitzung, d. h. vor Einführung des de minimis-Kriteriums. Das ACCC entschied, dass die Individualbeschwerde allein darauf gestützt sei, dass bestimmte Dokumente im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung nicht rechtzeitig auch auf Walisisch bereitgestellt wurden.250 Überdies konnte das ACCC nicht erkennen, dass der Individualbeschwerdeführer ausreichend
243 Ebd. 244 Ebd. 245 Ebd.
246 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-eighth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/4, 2010/2011, Ziff. 47. 247 Ebd. 248 Vgl. MoP IV (Aarhus-Konvention), Decision IV/9 on general issues of compliance, ECE/MP.PP/2011/CRP.6, 2011, Ziff. 2. 249 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 100. 250 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Twenty-Seventh Meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/2, 2010, Ziff. 41.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus103
versucht hat durch Verwaltung oder Gerichte Abhilfe auf nationaler Ebene zu erreichen.251 Es erklärte die Individualbeschwerde daher für unzulässig.252 In Fall ACCC/C/2012/65 (Vereinigtes Königreich) hat sich der Beschwerdeführer mit zwei Anliegen an das ACCC gewandt, die er in einer Individualbeschwerde verbunden hat. Das ACCC erklärte die Individualbeschwerde mit Blick auf das Rechtsinstitut der cross-undertakings in damages für teilweise zulässig.253 In Bezug auf die Forderung einer Prozesskostensicherheit (security for costs) im englischen und walisischen Recht führte das ACCC aus, dass es bereits umfassend im Fall ACCC/C/2008/33 (Vereinigtes Königreich) zu Gerichtskosten im Allgemeinen Stellung genommen habe und der Beschwerdeführer selbst erklärt habe, dass es extrem unwahrscheinlich sei, dass eine Einzelperson als Kläger eine solche Prozesskostensicherheit zu leisten habe.254 Daher erfülle dieser Teil der Individualbeschwerde nicht die Mindestvoraussetzungen (de minimis) für eine Untersuchung des ACCC.255 In Bezug auf Individualbeschwerde ACCC/C/2014/115 (Vereinigtes Königreich) hat das ACCC alle Teilgegenstände für unzulässig erklärt, unter anderem die Vorwürfe zu Erfüllungsdefiziten im Bereich der Öffentlichkeitsbeteiligung.256 Diesbezüglich wurde Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung explizit als rechtliche Grundlage benannt.257 In den folgenden Jahren hat das ACCC dies im Rahmen der unzulässigen Individualbeschwerden ACCC/C/2016/136 (Vereinigtes Königreich), ACCC/ C/2019/172 (Belgien) und ACCC/C/2020/176 (Vereinigtes Königreich) fortgeführt und sich jeweils immer auf Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung als rechtliche Grundlage für die de minimis-Entscheidung berufen.258 In Bezug auf die jüngsten Individualbeschwerden ACCC/C/2019/172 (Belgien) und ACCC/C/2020/176 (Vereinigtes Königreich) ist hervor zu heben, dass das ACCC beinahe wortgleich betonte, dass es sich nicht als „Wiedergutma251 Ebd. 252 Ebd.
253 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-sixth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/2, 2012, Ziff. 40. 254 Ebd. 255 Ebd. 256 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its fifty-second meeting, ECE/MP.PP/C.1/2016/2, 2016/2017, Ziff. 43 (b). 257 Ebd. 258 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its fifty-second meeting, ECE/MP.PP/C.1/2016/2, 2016/2017, Ziff. 62; vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-fifth meeting (Advance unedited), ECE/MP.PP/C.1/2019, 2019/2020, Ziff. 66; vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixtysixth meeting (Advance unedited), ECE/MP.PP/C.1/2020, 2020, Ziff. 64.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
chungsmechanismus“ (redress mechanism) verstehe.259 Die Beschwerdeführer hätten nicht dargelegt, dass es sich bei ihren Fällen um größere (systemische) Erfüllungsdefizite handeln könnte.260 (2) Materielle Unzuständigkeit Fälle, die aufgrund der Zuständigkeit ratione materiae nicht in den Entscheidungsbereich des ACCC fallen, hat dieses wiederholt gem. Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung für unzulässig erklärt. Ausdrücklich als außerhalb des Anwendungsbereichs der Aarhus-Konvention definierte das ACCC demnach die Individualbeschwerden ACCC/C/2013/95 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2019/167 (Kasachstan) sowie ACCC/C/2019/170 (Kasachstan).261 In zwei weiteren Individualbeschwerden handelte es sich in der Sache um Fälle der Unzulässigkeit (zumindest teilweise) aufgrund materieller Unzuständigkeit, wobei das ACCC zwar auf Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung Bezug nahm, jedoch allgemeiner von einer „Unvereinbarkeit“ der Umstände mit den Vorschriften der Aarhus-Konvention sprach: Im Rahmen der Individualbeschwerde ACCC/C/2015/129 (Irland) stellte das ACCC fest, dass nicht bewiesen werden konnte, dass der in Frage stehende Verkauf des Kilcooley Abbey Forest eine Entscheidung über eine geplante Tätigkeit im Anwendungsbereich von Art. 6 Aarhus-Konvention darstellt.262 Im Fall der Individualbeschwerde ACCC/C/2019/171 (Albanien)263 führte das ACCC aus, dass die Beschwerdeführer nicht nachweisen konnten, dass die Aktivität in Form der Errichtung eines Kinderspielplatzes tatsächlich in den Anwendungsbereich der Aarhus-Konvention fällt.264 259 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-fifth meeting (Advance unedited), ECE/MP.PP/C.1/2019, 2019/2020, Ziff. 66; vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-sixth meeting (Advance unedited), ECE/ MP.PP/C.1/2020, 2020, Ziff. 64. 260 Ebd. 261 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its forty-second meeting, ECE/MP.PP/C.1/2013/8, 2013/2014, Ziff. 35; vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-fifth meeting (Advance unedited), ECE/MP.PP/C.1/2019, 2019/2020, Ziff. 61; 64. 262 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its fifty-seventh meeting, ECE/MP.PP/C.1/2017/6, 2017/2018, Ziff. 42. 263 Vgl. zu diesem Fall, der die Errichtung eines Kinderspielplatzes im Tirana Lake Park zum Gegenstand hat, auch die eingehenden Ausführungen zum Selbstanzeige-Verfahren ACCC/S/2016/3 (Albanien) oben b) bb). 264 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-fifth meeting (Advance unedited), ECE/MP.PP/C.1/2019, 2019/2020, Ziff. 65.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus105
(3) Keine Beschwer Unter den untersuchten Individualbeschwerden hat sich in zwei Fällen gezeigt, dass sie deshalb für unzulässig erklärt worden sind, weil ein ehemals bestehendes, grundlegendes Moment zum Zeitpunkt der Beurteilung der Zulässigkeit nicht mehr gegeben war. Diese Art von Beschwer unterscheidet sich insofern von der Beschwer bei beispielsweise menschenrechtlichen Individualbeschwerden, dass es im Fall des ACCC nicht auf ein im Einzelfall belastendes Moment ankommt, sondern auf das Vorhandensein eines tendenziell systemischen Erfüllungsdefizits. Durch die nachträgliche Eröffnung des nationalen Rechtswegs war im Fall von Individualbeschwerde ACCC/ C/2010/52 (Vereinigtes Königreich) kein solches Erfüllungsdefizit des Ver einigten Königreichs mehr zu befürchten, da eine innerstaatliche Kontrolle gewährleistet war.265 Im Rahmen von Individualbeschwerde ACCC/C/ 2015/127 (Belgien) wurde das zugrunde liegende, systemische Erfüllungsdefizit durch ein königliches Dekret beseitigt.266 Das ACCC verzichtete angesichts dessen auf eine Überprüfung von zwei in Rede stehenden Urteilen, die vor dem königlichen Dekret ergangenen sind.267 Während die erste Entscheidung ohne Angabe einer Rechtsgrundlage erfolgte, stützte das ACCC die Unzulässigkeit im zweiten Fall auf Ziff. 20 d) i. V. m. Ziff. 21 der Verfahrensordnung.268 (4) Einreichung durch staatliche Stelle In zwei der untersuchten Fälle erfolgte die Einreichung der Individualbeschwerde durch eine staatliche Stelle und wurde deshalb für unzulässig erklärt. Dahinter steht die Frage der Beschwerdefähigkeit, die das ACCC als Teilaspekt der Zuständigkeit ratione personae unter Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung behandelt. Gemäß Ziff. 18 der Verfahrensordnung sind „ein oder mehrere Mitglieder der Öffentlichkeit“ beschwerdefähig, d. h. in der Praxis eine oder mehrere natürliche Personen oder NGOs. Bei der Betrachtung, ob eine staatliche Stelle beschwerdefähig ist, dürfte für das ACCC
265 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirtieth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/8, 2010/2011, Ziff. 25. 266 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its fifty-first meeting, ECE/MP.PP/C.1/2015/9, 2015/2017, Ziff. 56. 267 Ebd. 268 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirtieth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2010/8, 2010/2011, Ziff. 25; vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its fifty-first meeting, ECE/MP.PP/C.1/2015/9, 2015/2017, Ziff. 56.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
nicht allein der Konfusionsgedanke269 eine Rolle spielen, sondern auch der Aspekt, dass die Erfüllungskontrolle im Rahmen der Aarhus-Konvention ein völkerrechtliches Instrument darstellt, welches aufgrund seiner Nicht-Streitigkeit, Außergerichtlichkeit und Konsensorientiertheit nach Art. 15 AarhusKonvention in erhöhtem Maß auf die Souveränität der betroffenen Vertragspartei Rücksicht zu nehmen verpflichtet ist. Im Fall der Individualbeschwerde ACCC/C/2013/97 (Österreich) erklärte das ACCC die Beschwerde neben anderen Gründen wegen der Einreichung unter anderem durch den oberösterreichischen Umweltanwalt als staatliche Stelle gemäß Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung in knappen Worten für unzulässig.270 Etwas intensiver setzte sich das ACCC hingegen in Individualbeschwerde ACCC/C/2015/125 (Deutschland) mit der Frage der Beschwerdefähigkeit auseinander. Da kommunale Selbstverwaltungskörperschaften in den Rechtsordnungen der Vertragsparteien teilweise subjektive Rechte gerichtlich geltend machen können, sah sich das ACCC herausgefordert zu beantworten, ob vor diesem Hintergrund eine Geltendmachung von Rechtsgarantien nach der Aarhus-Konvention vor dem ACCC möglich war.271 Es entschied, die einreichende, rheinland-pfälzische Gemeinde Altrip als Behörde i. S. v. Art. 2 Nr. 2 lit. a) AarhusKonvention einzustufen und sie völkerrechtlich als Manifestation des Handelns der Bundesrepublik Deutschland zu begreifen.272 Es führte weiter aus, dass es nicht in seinen Zuständigkeitsbereich falle, über eine interne Streitigkeit zwischen den Behörden einer betroffenen Vertragspartei zu entscheiden und erklärte die Individualbeschwerde gem. Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung für unzulässig.273
269 Vgl. zum „Konfusionsargument“ zuletzt mit historischem Abriss Merten, DÖV 2019, 41. 270 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its forty-fourth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2014/2, 2014, Ziff. 30. 271 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its forty-ninth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2015/5, 2015, Ziff. 52. 272 Ebd. 273 Ebd.; eine ähnliche Auffassung wie das ACCC vertritt bzw. vertrat überdies auch die Europäische Kommission für Menschenrechte bzw. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf die Individualbeschwerden kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften, vgl. EKMR, Entscheidung vom 14.12.1988, ECLI: CE:ECHR:1988:1214DEC001325287 – Gemeinde Rothenthurm; EGMR, Entscheidung vom 23.11.1999, ECLI:CE:ECHR:1999:1123DEC004512998 – The Municipal Section of Antilly; EGMR, Entscheidung vom 07.06.2001, ECLI:CE:ECHR:2001:060 7DEC005255999 – Danderyds Kommun; EGMR, Entscheidung vom 01.02.2001, EC LI:CE:ECHR:2001:0201DEC005534600 – Ayuntamiento de Mula.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus107
(5) Offensichtliche Unbegründetheit Im Fall der bereits mehrfach erwähnten Individualbeschwerde ACCC/ C/2019/171 (Albanien) erachtete das ACCC die Beschwerde zum einen für unzulässig, da es sich für materiell unzuständig hielt.274 Zum anderen lag ein nationales Urteil vor, das auch zur Begründetheit des Sachverhalts Stellung nahm, sodass die vor dem ACCC behauptete Verweigerung des Zugangs zu Gericht nach Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention offensichtlich unbegründet erschien.275 Für beide Gründe rekurrierte das ACCC auf Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung.276 Weiterhin wurde die Individualbeschwerde ACCC/C/2014/115 (Vereinigtes Königreich) unter mehreren Gesichtspunkten auch wegen der offensichtlichen Unbegründetheit eines Teilgegenstands gem. Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung für unzulässig erklärt.277 Der Individualbeschwerdeführer legte dar, dass durch den Mangel einer „unparteiischen und unabhängigen Schieds einrichtung“ Art. 9 Aarhus-Konvention verletzt worden sei.278 Dazu führte das ACCC aus, dass Art. 9 Aarhus-Konvention zwar die Möglichkeit der Anwendung von Schiedsverfahren bei Umweltstreitigkeiten nicht ausschließe, jedoch keine Verpflichtung der Vertragsparteien zur Einrichtung eines solchen Verfahrensangebots vorsehe.279 (6) Keine Superrevision für national erfolglose Prozesse Die Individualbeschwerde ACCC/C/2004/7 (Polen) war die erste, die das ACCC für unzulässig erklärte. Es nutzte dabei die Gelegenheit von Beginn an deutlich zu machen, dass es sich nicht als eine Art Superrevisionsinstanz im Fall einer national erfolglosen Prozessführung versteht. Auch hier scheint – wie vielfach – der Gedanke auf, dass das ACCC zuvörderst zur Adressierung systemischer Erfüllungsdefizite geschaffen ist. Da das ACCC auf die Nennung einer Rechtsgrundlage in seiner Entscheidung verzichtete, folgt die Einordnung unter Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung an dieser Stelle dem Gedanken, dass die Entscheidung insoweit den Zweck des Verfahrens konkretisierte und eine Inanspruchnahme des ACCC ausschließlich als Su274 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its sixty-fifth meeting (Advance unedited), ECE/MP.PP/C.1/2019, 2020, Ziff. 65. 275 Ebd. 276 Ebd. 277 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its fifty-second meeting, ECE/MP.PP/C.1/2016/2, 2016/2017, Ziff. 43 (c). 278 Ebd. 279 Ebd.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
perrevisionsinstanz mit der Verfahrensordnung daher i. S. v. deren Ziff. 20 d) unvereinbar ist. In dem Beschwerdeschriftsatz vom 06.09.2004 brachte der Beschwerdeführer, gleichzeitig Vorsitzender der Umweltschutzorganisation Towarzystwo Ekologiczne Warmii i Mazur – TEWIM, vor, dass auf seinem Grundstück auf dem Gebiet der Stadt Olsztyn illegal chemische Abfälle entsorgt worden seien.280 Auf einem weiteren Grundstück auf dem Gebiet der Stadt Pasym seien zudem illegal medizinische Abfälle entsorgt worden.281 Laut Anlagen zur Individualbeschwerde hat die Bürgermeisterin der Stadt Pasym bezüglich der medizinischen Abfälle durch Entscheidung vom 15.10.2003 deren Entfernung angeordnet.282 Nachdem die Abfälle bis zum 01.12.2003 nicht entfernt worden sind, wurde ein Zwangsgeld i. H. v. 5,000 PLN festgelegt.283 Der Individualbeschwerdeführer beschrieb diese Maßnahmen als nicht zufriedenstellend und machte deutlich, dass er wenig Vertrauen in den Erfolg der behördlichen Anordnungen habe.284 Insgesamt seien ihm erhebliche Kosten für Ausgrabungs- und Begutachtungsarbeiten sowie Gerichtskosten entstanden.285 Die Gerichtsverfahren seien verloren worden bzw. alle weiteren Anstrengungen aussichtslos und er habe daher bis zum Zeitpunkt der Individualbeschwerde keine Kompensation erhalten.286 Das ACCC legte dar, dass es den Schwerpunkt des Falles im Bereich des Ersatzes der entstandenen Kosten bzw. Schäden sowie in der Problematik der Vollstreckung der Entscheidungen der Bürgermeisterin sehe.287 Da es keinen Präzedenzfall dafür schaffen wollte, dass sich Beschwerdeführer nach einem 280 Vgl. den auf Englisch übersetzten Schriftsatz der im Original in polnischer Sprache verfassten Individualbeschwerde (eingegangen am 06.09.2004), abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2004-07/communica tion/communication.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 281 Ebd. 282 Die auf Englisch übersetzte Entscheidung der Bürgermeisterin von Pasym vom 15./16.10.2003, Az. GROS.765-4/1/2003, ist abrufbar unter http://www.unece.org/ fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2004-07/communication/attachment001.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 283 Die auf Englisch übersetzte Entscheidung der Bürgermeisterin von Pasym vom 01.12.2003, Az. GROS.7615-4/1/2003, ist abrufbar unter http://www.unece.org/ fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2004-07/communication/attachment002.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 284 Vgl. den Schriftsatz, obige Fn. 280. 285 Ebd. 286 Ebd. 287 Vgl. ACCC, Preliminary Determination on Admissibility of Communication Concerning Waste Disposal Sites in Poland (Ref. ACCC/C/2004/07), ohne Az.,
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus109
national erfolglosen Verfahren an das ACCC als eine Art Superrevisionsinstanz wenden, erklärte es die Individualbeschwerde für unzulässig.288 Das ACCC gab aber zu bedenken, dass im Rahmen der Individualbeschwerde auf zahlreiche Dokumente in polnischer Sprache Bezug genommen wurde, die es nicht berücksichtigen konnte,289 und wies darauf hin, dass ein Antrag auf erneute Prüfung der Zulässigkeit unter Bereitstellung entsprechender zusätzlicher Informationen möglich sei.290 Zwar wurden daraufhin weitere Informationen durch den Beschwerdeführer eingereicht, die darauf hinwiesen, dass die Individualbeschwerde auch Bezug zu den von der Aarhus-Konvention gewährten Informationsrechten in Umweltsachen habe, jedoch waren die Sachverhalte zu allgemein geschildert, um Untersuchungen aufzunehmen.291 Die daraufhin gewährte, erneute Frist zur Einreichung klarer und präziser Informationen zur Verletzung spezifischer Rechtsgarantien der Aarhus-Konvention konnte wiederholt nicht zu einer ausreichenden Substantiierung der Individualbeschwerde führen. (7) Erheblich verspätete Einreichung Obwohl das ACCC einst beschlossen hat, dass eine erheblich verspätete Einreichung einer Individualbeschwerde unter Ziff. 20 b) der Verfahrensordnung fallen könnte, subsumierte es den einzigen Fall dieser Art unter die untersuchten Individualbeschwerden, ACCC/C/2020/175 (Kroatien), unter Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung.292
24.09.2004, Ziff. 4, abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/ compliance/C2004-07/C07admissibility.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 288 Vgl. ACCC, Preliminary Determination on Admissibility of Communication Concerning Waste Disposal Sites in Poland (Ref. ACCC/C/2004/07), ohne Az., 24.09.2004, Ziff. 4, abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/ compliance/C2004-07/C07admissibility.pdf, abgerufen am 26.08.2021; vgl. außerdem ACCC, Report on the fifth meeting, MP.PP/C.1/2004/6, 2004, Ziff. 27. 289 Vgl. ACCC, Preliminary Determination on Admissibility of Communication Concerning Waste Disposal Sites in Poland (Ref. ACCC/C/2004/07), 24.09.2004, ohne Az., Ziff. 4, abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/ compliance/C2004-07/C07admissibility.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 290 Vgl. ACCC, Preliminary Determination on Admissibility of Communication Concerning Waste Disposal Sites in Poland (Ref. ACCC/C/2004/07), 24.09.2004, ohne Az., Ziff. 5, abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/ compliance/C2004-07/C07admissibility.pdf, abgerufen am 26.08.2021; vgl. außerdem ACCC, Report on the fifth meeting, MP.PP/C.1/2004/6, 2004, Ziff. 27. 291 Vgl. ACCC, Report on the Sixth Meeting, MP.PP/C.1/2004/8, 2005, Ziff. 29. 292 Siehe zu dieser Individualbeschwerde oben unter cc) (2). An dieser Stelle wird daher auf eine erneute Darstellung verzichtet.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
(8) Verletzung nicht zurechenbar Die Individualbeschwerde ACCC/C/2014/114 (Griechenland) hatte die Zerstörung chemischer Waffen aus syrischen Beständen an einem nicht näher konkretisierbaren Ort im Mittelmeer südlich von Kreta zum Gegenstand.293 Bei einer gemeinsamen Mission der Vereinten Nationen und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) sollten die Chemiewaffen durch Hydrolyse, federführend vollzogen durch das US-Spezialschiff Cape Ray, vernichtet werden.294 Die Beschwerdeführer machten hauptsächlich eine Verletzung von Art. 3, 4 und 5 Aarhus-Konvention durch Griechenland geltend.295 Das ACCC erklärte die Individualbeschwerde gestützt auf Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung für unzulässig, da nicht dargelegt werden konnte, wie die vorgebrachten Behauptungen der betroffenen Vertragspartei ordnungsgemäß zugerechnet werden können.296 (9) Andauerndes, nationales Gesetzgebungsverfahren Im Rahmen der Individualbeschwerde ACCC/C/2013/97 (Österreich) führte neben der Einreichung unter anderem durch eine staatliche Stelle ein andauerndes, nationales Gesetzgebungsverfahren zur Unzulässigkeit gem. Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung.297 Eine Novelle des streitgegenständlichen Oberösterreichischen Natur- und Landschaftsschutzgesetzes (2001) durchlief gerade den Gesetzgebungsprozess, sodass das ACCC auch aus diesem Grund von einer Beurteilung zum damaligen Zeitpunkt absah.298
293 Vgl. den Beschwerde-Schriftsatz (31.07.2014), abrufbar unter https://www. unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2014-114_Greece/Communication_ Greece_ArchbishopofCrete_31.07.2014.pdf, abgerufen am 26.08.2021; in Absprache mit dem ACCC wurde später (16.12.2014) ein überarbeiteter Schriftsatz eingereicht, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2014-114 _Greece/Communication_to_the_Aarhus_Convention_Compliance_Committee_resub mitted_16.12.2014.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 294 Ebd. 295 Ebd. 296 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its forty-seventh meet ing, ECE/MP.PP/C.1/2014/14, 2014/2015, Ziff. 45. 297 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its forty-fourth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2014/2, 2014, Ziff. 30. 298 Ebd.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus111
(10) Sonstige Fälle ohne Zuordnung Schließlich stützte das ACCC die Unzulässigkeit auch im Fall der Individualbeschwerde ACCC/C/2014/110 (Bulgarien) auf Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung.299 Dem Sitzungsbericht ist allerdings lediglich zu entnehmen, dass das ACCC die Individualbeschwerde für unzulässig erklärte, da sie mit den Bestimmungen der Aarhus-Konvention unvereinbar gewesen sei.300 Offen bleibt daher, welche konkreten Gründe sich in diesem Fall hinter dem allgemeinen Zitat von Ziff. 20 d) der Verfahrensordnung verbergen. ff) Rechtswegerschöpfung Die Verfahrensordnung sieht keine Pflicht zur vorherigen Erschöpfung des durch die betroffene Vertragspartei eröffneten Rechtswegs als Zulässigkeitsvoraussetzung vor. Allerdings wird das ACCC gem. Ziff. 21 der Verfahrensordnung dazu angehalten im Rahmen seiner Zulässigkeitsprüfung zu berücksichtigen, ob der Rechtsweg erschöpft wurde.301 Das gilt nicht, wenn der Rechtsschutz auf dem durch die Vertragspartei eröffneten Rechtsweg ohne sachlichen Grund verzögert wird oder offensichtlich keine effektive und ausreichende Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung bietet.302 Die Beurteilung des Einzelfalls liegt im Ermessen des ACCC.303 Dieses Ermessen hat es in der Vergangenheit nach Fasoli und McGlone eher flexibel ausgeübt, zuletzt jedoch wiederum einen etwas strengeren Maßstab etabliert.304 Die Autoren führen dies zurück auf eine Aufforderung der 5. Tagung der Vertragsparteien das ACCC möge sicherstellen, dass nationale Rechtsbehelfe – wenn diese nicht in Anspruch genommen bzw. ausgeschöpft wurden – gemäß Ziff. 21 der Verfahrensordnung berücksichtigt werden.305 In Fall ACCC/C/2016/136 (Vereinigtes Königreich) reagierte das ACCC laut Fasoli und McGlone auf 299 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its forty-seventh meet ing, ECE/MP.PP/C.1/2014/14, 2014/2015, Ziff. 41. 300 Ebd. 301 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 21. 302 Ebd. 303 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 116. 304 Vgl. Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (45–49). 305 Vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision V/9 on general issues of compliance, ECE/ MP.PP/2014/2/Add.1, 2014, S. 52, Ziff. 6 (b); dazu Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (47 f.).
112
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
diese Aufforderung und entschied nach sorgfältiger Anhörung des Beschwerdeführers und des Vereinigten Königreichs als betroffener Vertragspartei, dass der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht ausreichend beschritten habe.306 Das Vereinigte Königreich hatte sich bereits im Laufe des Verfahrens lobend in Bezug auf die derartigen Bemühungen des ACCC geäußert.307 Den Beweis, dass die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Grundsatz der Rechtswegerschöpfung vorliegen, hat im Übrigen der Beschwerdeführer zu erbringen.308 Außerdem kann der Beschwerdeführer auf vergleichbare Fälle verweisen, die dasselbe Erfüllungsdefizit adressieren und in denen der Rechtsweg erfolglos ausgeschöpft wurde, um darzulegen, dass auch er im Rahmen des Rechtsschutzsystems der Vertragspartei keinen Erfolg haben würde.309 Das ACCC ist gem. Ziff. 21 der Verfahrensordnung dazu angehalten die Rechtswegerschöpfung in allen Phasen des Verfahrens zu berücksichtigen. Sollte das ACCC nachträglich von einem laufenden nationalen Verfahren Kenntnis erlangen, hat es festgelegt, den betreffenden Beschwerdeführer aufzufordern, zeitnah Gründe dafür vorzulegen, warum die Beschwerde trotzdem für (vorläufig) zulässig erklärt werden sollte bzw. warum an einer bereits erfolgten Zulässigkeitsentscheidung festgehalten werden sollte.310 Die mangelnde Ausschöpfung des Rechtswegs der betreffenden Vertragspartei ist praktisch der am zweithäufigsten genannte Grund für die Unzulässigkeit einer Individualbeschwerde.311 306 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its fifty-second meeting, ECE/MP.PP/C.1/2016/2, 2016/2017, Ziff. 62; dazu Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (48). 307 Vgl. United Kingdom, Comments on preliminary admissibility (ACCC/ C/2016/136), 02.03.2016, abrufbar unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/ pp/compliance/C2016-136_UK/frPartyC136_02.03.2016_comments_on_prelimi nary_admissibility.pdf, abgerufen am 26.08.2021: „We recognise and welcome the steps that the Committee has taken since the Fifth Meeting of the Parties in 2014 to ensure that domestic remedies are properly reflected in the compliance mechanism. But the Committee must continue to be vigilant in how it approaches cases where it is clear that the communicant has not made use of available domestic remedies if it is to avoid being overwhelmed.“; dazu Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (48). 308 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 117. 309 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 118. 310 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its forty-fourth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2014/2, 2014, Ziff. 49; siehe auch ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 119. 311 Vgl. die Fälle ACCC/C/2004/09 (Armenien), ACCC/C/2007/19 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2010/46 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2014/103 (Spa-
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus113 ACCC-Verfahren 2004 bis März 2020 (66. ACCC-Sitzung)
Unzulässige Individualbeschwerden und deren Gründe* * Die Untersuchung bezieht sich auf alle unzulässigen Individualbeschwerden sowie auf zwei Verfahren, die teilweise unzulässig gewesen sind und für die summary proceedings festgelegt worden sind. Nicht enthalten sind alle zulässigen Verfahren, auch wenn diese ggf. bezüglich einzelner Gegenstände teilweise unzulässig gewesen sind.
Aktenzeichen
Rechtsgrundlage Grund der Unzulässigkeit
ACCC/C/2004/07 (Polen)
ohne Angabe
keine Superrevision für national erfolglose Prozesse
ACCC/C/2004/09 (Armenien)
Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2004/10 (Kasachstan)
ohne Angabe
Anschein der Unzufriedenheit / Gefühl Zeuge einer rechtl. Benachteiligung gewesen zu sein spielt eine Rolle
ACCC/C/2005/14 (Polen)
Ziff. 19
keine ausreichenden Informationen bereitgestellt
ACCC/C/2007/19 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2007/20 (Kasachstan)
ohne Angabe
Erfüllungsdefizit anderweitig adressiert
ACCC/C/2008/25 (Albanien)
Ziff. 20
Erfüllungsdefizit anderweitig adressiert
ACCC/C/2008/34 (Spanien)
Ziff. 19
keine ausreichenden Informationen bereitgestellt
ACCC/C/2009/39 (Österreich)
ohne Angabe; „manifestly unreasonable“ = Ziff. 20 c)
Anschein der Unzufriedenheit / Gefühl Zeuge einer rechtl. Benachteiligung gewesen zu sein spielt eine Rolle
ACCC/C/2009/40 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 c)
Anschein der Unzufriedenheit / Gefühl Zeuge einer rechtl. Benachteiligung gewesen zu sein spielt eine Rolle (Fortsetzung nächste Seite)
nien), ACCC/C/2014/115 (Vereinigtes Königreich), ACCC/C/2014/116 (Belgien), ACCC/C/2015/129 (Irland), ACCC/C/2016/136 (Vereinigtes Königreich), ACCC/ C/2017/152 (Spanien), ACCC/C/2017/155 (Österreich), ACCC/C/2018/160 (Deutschland), ACCC/C/2019/166 (Portugal) sowie ACCC/C/2019/169 (Ungarn).
114
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
(Fortsetzung Abbildung 3) Aktenzeichen
Rechtsgrundlage Grund der Unzulässigkeit
ACCC/C/2009/42 (Ungarn) Ziff. 19
keine ausreichenden Informationen bereitgestellt (vertrauliche Behandlung beantragt)
ACCC/C/2010/46 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20
de minimis? (einige Dokumente nicht auf Walisisch bereitgestellt) + keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2010/47 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 19
keine ausreichenden Informationen bereitgestellt
ACCC/C/2010/49 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 19
keine ausreichenden Informationen bereitgestellt
ACCC/C/2010/52 (Vereinigtes Königreich)
ohne Angabe
keine Beschwer (Rechtsweg wurde nachträglich national eröffnet)
ACCC/C/2010/56 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
ACCC/C/2011/64 (Vereinigtes Königreich)
ohne Angabe
Vorbringen verfrüht + Erfüllungsdefizit anderweitig adressiert + teilw. summary proceedings
ACCC/C/2012/65 (Vereinigtes Königreich)
ohne Angabe
Erfüllungsdefizit anderweitig adressiert/de minimis + teilw. summary proceedings
ACCC/C/2012/72 (Europäische Union)
Ziff. 20 c)
formell unzuständig
ACCC/C/2012/73 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
ACCC/C/2012/74 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
ACCC/C/2012/75 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 c)
ACCC/C/2013/79 (Italien)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
ACCC/C/2013/80 (Kroatien)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
ACCC/C/2013/82 (Norwegen)
Ziff. 20 c)
ACCC/C/2013/84 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
Vorbringen verfrüht + Erfüllungsdefizit anderweitig adressiert
ohne Zuordnung
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus115
Aktenzeichen
Rechtsgrundlage Grund der Unzulässigkeit
ACCC/C/2013/95 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 d)
materiell unzuständig
ACCC/C/2013/97 (Österreich)
Ziff. 20 d)
Einreichung durch staatl. Stelle + andauerndes, nationales Gesetzgebungsverfahren
ACCC/C/2014/103 (Spanien)
Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2014/108 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
ACCC/C/2014/110 (Bulgarien)
Ziff. 20 d)
ohne Zuordnung
ACCC/C/2014/114 (Griechenland)
Ziff. 20 d)
Verletzung nicht zurechenbar
ACCC/C/2014/115 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 21; Ziff. 20 d)
keine Rechtswegerschöpfung + de minimis + offensichtlich unbegründet
ACCC/C/2014/116 (Belgien)
Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2014/117 (Belgien/Niederlande/ Luxemburg)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
ACCC/C/2015/125 (Deutschland)
Ziff. 20 d)
ACCC/C/2015/127 (Belgien)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine Beschwer (systemischer Ziff. 21 Fehler staatlicherseits bereits beseitigt)
Einreichung durch staatl. Stelle
ACCC/C/2015/129 (Irland) Ziff. 20 d); materiell unzuständig + keine Ziff. 20 d) i. V. m. Rechtswegerschöpfung Ziff. 21 ACCC/C/2016/136 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 d); Ziff. 21
de minimis + keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2017/145 (Belgien)
Ziff. 20 d) i. V. m. keine ausreichenden InformatioZiff. 19 nen bereitgestellt
ACCC/C/2017/152 (Spanien)
Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2017/155 (Österreich)
Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung (Fortsetzung nächste Seite)
116
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
(Fortsetzung Abbildung 3) Aktenzeichen
Rechtsgrundlage Grund der Unzulässigkeit
ACCC/C/2018/160 (Deutschland)
Ziff. 20 i. V. m. Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung (andauerndes, nationales Gerichtsverfahren)
ACCC/C/2019/165 (Irland) Ziff. 19; Ziff. 20
keine ausreichenden Informationen bereitgestellt
ACCC/C/2019/166 (Portugal)
Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2019/167 (Kasachstan)
Ziff. 20 d)
materiell unzuständig
ACCC/C/2019/169 (Ungarn)
Ziff. 20 d); Ziff. 21
keine Rechtswegerschöpfung
ACCC/C/2019/170 (Kasachstan)
Ziff. 20 d)
materiell unzuständig
ACCC/C/2019/171 (Albanien)
Ziff. 20 d)
materiell unzuständig + offensichtlich unbegründet
ACCC/C/2019/172 (Belgien)
Ziff. 20 d)
de minimis
ACCC/C/2020/175 (Kroatien)
Ziff. 20 d)
Vorbringen verspätet
ACCC/C/2020/176 (Vereinigtes Königreich)
Ziff. 20 d)
Vorbringen verspätet
Abbildung 3: Übersicht über die unzulässigen Individualbeschwerden und deren Gründe von 2004 bis März 2020 (66. ACCC-Sitzung)
2. Verfahren vor dem ACCC Das ACCC widmet sich den Sachverhalten in inhaltlicher Hinsicht, sobald es praktisch möglich ist.312 Im Fall einer Individualbeschwerde wird es allerdings nach vorläufiger Prüfung der Zulässigkeit zunächst der betroffenen Vertragspartei Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Sollte die Beschaffung zusätzlicher Informationen notwendig sein, so macht das ACCC gegebenenfalls von seinen Kompetenzen nach dem VII. Abschnitt der Verfahrensordnung Gebrauch. Im Rahmen einer formalen Verhandlung (hearing) wird das 312 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 15; 16; 17; 24.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus117
ACCC den Sachverhalt und die verschiedenen Perspektiven auf denselben, wenn nötig, weiter ermitteln. Es schließen sich Beratung und Beschlussfassung an. Die Entscheidungsinhalte reichen von Empfehlungen an die Tagung der Vertragsparteien bis hin zu eigenen Maßnahmen. Jedes Verfahren wird seitens des ACCC durch einen Berichterstatter begleitet. a) Konsultation der betroffenen Vertragspartei (Individualbeschwerde) Das ACCC konsultiert im Fall der Individualbeschwerde nach einer vorläufigen Prüfung der zusätzlichen Sachentscheidungsvoraussetzungen selbst die betroffene Vertragspartei.313 Diese ist jedoch eingeladen bereits an der öffentlichen Sitzung zur vorläufigen Beratung der Zulässigkeit teilzunehmen.314 Unter denselben Bedingungen wird dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben seine Sichtweise in dieser öffentlichen Sitzung einzubringen.315 Auch Beobachtern kann die Möglichkeit eingeräumt werden sich zu Fragen der vorläufigen Zulässigkeit zu äußern.316 Der Beschluss darüber, ob die Individualbeschwerde für vorläufig zulässig erklärt wird, zurückgewiesen wird oder die Entscheidung vertagt wird, wird schließlich in nicht öffentlicher Sitzung gefasst.317 Sollte die Individualbeschwerde für nicht zulässig erachtet werden, kann der Beschwerdeführer innerhalb von fünf Wochen, nachdem die Entscheidung und deren Gründe ihm gegenüber bekannt gegeben worden sind, gegenüber dem Sekretariat einen Antrag auf erneute Prüfung (request for reconsideration) stellen.318 Über den Antrag entscheiden der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des ACCC gemeinsam.319 Nachdem im Fall der vorläufigen Zulässigkeit die Entscheidung des ACCC der betroffenen Vertragspartei bekannt gegeben worden ist, hat diese sich 313 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 22. 314 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 94. 315 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 95. 316 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 103. 317 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 106. 318 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 114. 319 Ebd.
118
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
binnen fünf Monaten schriftlich bezüglich der inhaltlichen Ausführungen des Beschwerdeführers zu erklären und gegebenenfalls bereits ergriffene Abhilfemaßnahmen zu beschreiben.320 Eine Stellungnahme bezüglich der Zulässigkeit der Beschwerde sollte schon früher, d. h. so bald als möglich, abgegeben werden.321 Im Vergleich zu der Verfahrenseinleitung durch eine Vertragspartei oder das Sekretariat wird hier besonders deutlich, dass mit der Individualbeschwerde nicht nur die Beschwerdeberechtigung gegenüber dem „Montrealer Modell“ auf die Öffentlichkeit als dritte Gruppe ausgedehnt wurde, sondern ein eigenständiger Verfahrenstypus geschaffen wurde. Durch die vom Vortrag der Beteiligten geprägte Überprüfung eigener Zulässigkeitsvoraussetzungen und der ihm vollständig übertragenen Ermittlung des Sachverhalts kommt dem ACCC formal eine Stellung zu, die an ein gerichtliches Verfahren erinnert. b) Verhandlungen vor dem ACCC aa) Bestellung eines Berichterstatters Für die Begutachtung eines jeden Sachverhalts bestimmt das ACCC einen Berichterstatter (curator).322 Wenngleich dies eine übliche Praxis an Gerichten und gerichtsähnlichen Einrichtungen ist, hat sich das ACCC hier insbesondere an der Verfahrensordnung des UN-Menschenrechtsausschusses orientiert.323 Der Berichterstatter bereitet Fragen vor, die das ACCC den Beteiligten schriftlich zukommen lässt, und übernimmt federführend die Befragung der Beteiligten während der Verhandlungen.324 Außerdem formuliert er Entwürfe für die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen (findings and recommendations) des Ausschusses und überwacht im Falle eines festgestellten Rechtsverstoßes federführend deren Umsetzung durch die betroffene Vertragspartei.325
320 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 23. 321 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 28; vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 126. 322 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 66. 323 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 19. 324 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 67. 325 Ebd.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus119
bb) Finale Entscheidung über die Zulässigkeit (Individualbeschwerde) Weiterhin kann das ACCC jederzeit bis zur formalen Verhandlung (hear ing) bzw. der Mitteilung an die Beteiligten, dass es mit der inhaltlichen Beratung des Sachverhalts beginnen werde, final über die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde entscheiden.326 Hat die betroffene Vertragspartei fristgemäß Unterlagen eingereicht, wird das ACCC auf Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Informationen verbindlich über die Zulässigkeit der Individualbeschwerde entscheiden, bevor es mit der inhaltlichen Beratung beginnt.327 Ist die Frist erfolglos verstrichen, so entscheidet das ACCC gegebenenfalls aufgrund der trotz dessen verfügbaren Informationen ebenso final über die Zulässigkeit der Individualbeschwerde und nimmt diese insoweit verfügbaren Informationen zum Gegenstand der nachfolgenden inhaltlichen Beratung.328 cc) Beschaffung zusätzlicher Informationen Sollte die Informationslage für die inhaltliche Beratung nicht eindeutig sein, kann das ACCC in jedem Verfahren Ermittlungsmaßnahmen nach dem VII. Abschnitt der Verfahrensordnung ergreifen.329 Ihm kommen dabei weitreichende Befugnisse zu. So kann es bei den betreffenden Stellen weitergehende Informationen anfordern, jedoch im Einvernehmen mit der betreffenden Vertragspartei auch selbständig Informationen im Hoheitsgebiet der Vertragspartei einholen.330 Es kann jegliche Informationen von verschiedenen Seiten in Empfang nehmen und berücksichtigen.331 Falls nötig,
326 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 113. 327 Vgl. Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 233. 328 Ebd.; vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 133. 329 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 25. 330 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 25 (a); (b). 331 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 25 (c).
120
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
kann es die Fachkunde externer Experten und Berater in Anspruch nehmen.332 dd) Formale Verhandlungen (hearings) Nicht in jedem Fall findet vor der inhaltlichen Beratung und Beschlussfassung eine formale Verhandlung (hearing) vor dem ACCC statt. Für den Bedarfsfall ist eine formale Verhandlung jedoch in Ziff. 24 der Verfahrensordnung des ACCC vorgesehen.333 Zweck einer formalen Verhandlung ist es für Klarheit bezüglich des rechtlichen und tatsächlichen Sachverhalts als Grundlage für die inhaltliche Entscheidung des ACCC zu sorgen.334 Daher findet eine formale Verhandlung dann nicht statt, wenn die Schilderungen der Beteiligten bezüglich des tatsächlichen Sachverhalts sich wenig bis kaum unterscheiden und die zugrunde liegenden rechtlichen Gesichtspunkte eindeutig sind.335 Entscheidet sich das ACCC aus diesen Gründen gegen eine formale Verhandlung, können jeder Beteiligte sowie Beobachter trotzdem die Einberufung einer formalen Verhandlung durch Schriftsatz beantragen, wenn sie diesbezüglich stichhaltige Argumente anführen.336 Die Ladung zu einer formalen Verhandlung erfolgt gegebenenfalls unter Beifügung eines Fragenkatalogs.337 Die Beteiligten sind dazu angehalten ihre Eröffnungserklärungen dem ACCC bereits im Vorfeld zu übermitteln.338 Die formalen Verhandlungen finden öffentlich statt.339
332 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 25 (d). 333 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 24. 334 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 183. 335 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 184. 336 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 186; 187. 337 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 188; 191. 338 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 191. 339 Vgl. zur Teilnahme der Öffentlichkeit an den Sitzungen des ACCC die obigen Ausführungen unter II. 1.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus121
c) Beratung und Beschlussfassung des ACCC Nach der formalen Verhandlung (hearing) oder andernfalls ab dem Zeitpunkt, ab dem das ACCC davon ausgeht ausreichend Informationen vorliegen zu haben, bereitet es in nicht öffentlicher Sitzung Entwürfe für seine Erkenntnisse, Maßnahmen und Handlungsempfehlungen (findings, measures und recommendations) vor.340 Es kann währenddessen jederzeit zusätzliche Informationen bei den Beteiligten oder über andere Quellen anfragen.341 Die angefertigten Entwürfe für seine Erkenntnisse, Maßnahmen und Handlungsempfehlungen leitet es anschließend den Beteiligten für deren Stellungnahme zu.342 Es folgt die Annahme der Erkenntnisse, Maßnahmen und Handlungsempfehlungen unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der betroffenen Vertragspartei, des Beschwerdeführers bzw. der einreichenden Vertragspartei und der Beobachter.343 d) Entscheidungsinhalte aa) Aufbau einer Entscheidung Entscheidungen des ACCC, die ungeachtet dessen, dass sie auch Maßnahmen zum Gegenstand haben können, allgemein mit „Findings and recommendations“ (Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen) überschrieben sind, gliedern sich typischerweise in vier Abschnitte.344 In einem einleitenden Abschnitt (Introduction) wird der chronologische Verlauf des Prozesses vor dem ACCC wiedergegeben. Anschließend werden die ermittelten rechtlichen Rahmenbedingungen und der ermittelte tatsächliche Sachverhalt aufgearbeitet sowie Ausführungen zur Rechtswegerschöpfung und zu den konkreten, zu beantwortenden Rechtsfragen gemacht (Summary of facts, evidence and issues). Es folgen die Erwägungen des ACCC zum herausgearbeiteten rechtlichen und tatsächlichen Sachverhalt (Consideration and evaluation by the 340 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 195 (c); vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 33. 341 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 195 (c). 342 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 195 (d). 343 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 195 (e). 344 Vgl. die unter https://www.unece.org/env/pp/cc/com.html veröffentlichten Entscheidungen in Individualbeschwerdeverfahren. Diese Gliederung ist auf Entscheidungen des ACCC im Rahmen anderer Verfahren im Wesentlichen übertragbar.
122
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Committee). Nach Erläuterung dieser Entscheidungsgründe verfasst das ACCC in einem vierten und letzten Abschnitt die Entscheidungsformel (Conclusions and recommendations, wird kein Verstoß festgestellt lediglich Conclusions). Bezugnehmend auf die Entscheidungsgründe und unter Nennung der entsprechenden Bestimmungen der Aarhus-Konvention führt das ACCC aus, worin der konkrete Rechtsverstoß der Vertragspartei begründet liegt bzw. stellt fest, dass gerade kein Rechtsverstoß vorliegt. bb) Mögliche Maßnahmen Sollte ein Rechtsverstoß vorliegen, so stehen dem ACCC grundsätzlich zwei Optionen offen. Es kann einerseits selbst bis zur Entscheidung der Tagung der Vertragsparteien vorübergehende Maßnahmen treffen345 und der Tagung der Vertragsparteien andererseits bestimmte Maßnahmen empfehlen.346 Sollte die betreffende Vertragspartei vorübergehende Maßnahmen des ACCC ablehnen oder folgt die nächste Tagung der Vertragsparteien innerhalb von relativ kurzer Zeit auf die entsprechende Sitzung des ACCC, so wird sich das ACCC auf die Empfehlung von Maßnahmen beschränken.347 Bei alledem gilt: Je stärker die Maßnahme in die Beziehungen zur verletzenden Vertragspartei eingreift, desto eher ist sie der Tagung der Vertragsparteien vorbehalten, welche grundsätzlich alle in Betracht kommenden Maßnahmen treffen kann. (1) Originäre Maßnahmen der Tagung der Vertragsparteien Maßnahmen, die der Tagung der Vertragsparteien vorbehalten sind, sind Erklärungen der Nichteinhaltung (declarations of non-compliance), Verwarnungen (cautions), die Suspendierung von Rechten und Privilegien nach der Aarhus-Konvention (suspension) sowie alle weiteren angemessenen, nicht-streitig angelegten, außergerichtlichen und auf Konsultationen beruhenden Maßnahmen, die das ACCC nicht selbst bzw. nur vorübergehend treffen kann.348 345 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 36. 346 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 37. 347 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 208. 348 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 37 (e)–(h).
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus123
(a) Erklärungen der Nichteinhaltung (declarations of non-compliance) Die Erklärung, dass sich eine Vertragspartei im Status der Nichteinhaltung befindet, spricht die Tagung der Vertragsparteien regelmäßig implizit durch Bestätigung (endorsement) der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC aus, wenn diese zu einem solchen Schluss kommen. (b) Verwarnungen (cautions) Eine Verwarnung wurde durch das ACCC bisher lediglich in Bezug auf vier Vertragsparteien empfohlen.349 In den folgenden drei Fällen wurde die Verwarnung schließlich durch die Tagung der Vertragsparteien wirksam ausgesprochen und ist in Kraft getreten:350 (aa) Turkmenistan (2009–2011; 2013–2014) Die Verwarnung Turkmenistans geht zurück auf Individualbeschwerde ACCC/C/2004/5351 und das in der Folge durch die 2. Tagung der Vertragsparteien (2005) festgestellte Erfüllungsdefizit (Decision II/5c)352 um das nationale „Gesetz über öffentliche Vereinigungen“ (2003). Dieses Gesetz sah auch Restriktionen für die Gründung von und die Mitwirkung in Umweltverbänden vor. Das Erfüllungsdefizit wurde durch die 3. Tagung der Vertragsparteien (2008) erneut adressiert (Decision III/6e) und Turkmenistan Bedingungen auferlegt, bei deren Erfüllung es eine Verwarnung noch abwenden hätte können.353 Dabei hätte es das Gesetz bis zum Stichtag (01.01.2009) so ändern müssen, dass ausländische Staatsangehörige und Personen ohne Staatsangehörigkeit dieselben Rechte wie Staatsbürger im Bereich der Grün349 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 223. 350 Im Fall von Decision IV/9c (Kasachstan) konnte das Inkrafttreten der bereits ausgesprochenen Verwarnung durch Kasachstan noch über die Erfüllung von Bedingungen abgewendet werden, vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-eighth meeting, ECE/MP.PP/C.1/2012/8, 2012, Ziff. 46. 351 Vgl. den Schriftsatz von BIOTICA Ecological Society (Republik Moldau) von 2004, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/ C2004-05/communication/communicationEng.doc, abgerufen am 26.08.2021. 352 Vgl. MoP II (Aarhus-Konvention), Report of the Second Meeting of the Parties – Addendum, Decision II/5c – Compliance by Turkmenistan with its obligations under the Aarhus Convention, ECE/MP.PP/2005/2/Add.9, 2005. 353 Vgl. die Anordnung der Verwarnung und Nennung der Bedingungen durch MoP III (Aarhus-Konvention), Report of the third Meeting of the Parties – Addendum, Decision III/6e on compliance by Turkmenistan with its obligations under the Convention (Ref. Decision II/5c), ECE/MP.PP/2008/2/Add.13, 2008, Ziff. 5.
124
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
dung von und Mitwirkung in öffentlichen Vereinigungen haben.354 Außerdem wurde zur Bedingung gemacht sicherzustellen, dass Mitglieder der Öffentlichkeit sich auch über nicht-registrierte öffentliche Vereinigungen in Übereinstimmung mit insbesondere Art. 3 Abs. 4 Aarhus-Konvention engagieren können.355 Schließlich wurde Turkmenistan dazu aufgerufen, im Fall der Umsetzung dieser Forderungen keine weiteren Legislativmaßnahmen zu ergreifen, die dem zuwiderlaufen.356 Da das Erfüllungsdefizit Turkmenistans über den Stichtag hinaus fortbestand, trat am 01.05.2009 die Verwarnung in Kraft.357 Die 4. Tagung der Vertragsparteien (2011) setzte die Verwarnung aus, beschloss jedoch diese für den Fall wieder in Kraft zu setzen, dass Turkmenistan bis zum 01.10.2012 erneut nicht sicherstellt, dass sein „Gesetz über öffentliche Vereinigungen“ den Anforderungen der Aarhus-Konvention entspricht (Decision IV/9g).358 Daraufhin wurde die Verwarnung am 01.01.2013 wieder in Kraft gesetzt.359 Erst die 5. Tagung der Vertragsparteien (2014) konnte die Verwarnung aufgrund der gemachten Fortschritte schließlich aufheben, wenngleich das ACCC weiterhin mit der Beurteilung der Situation betraut wurde (Decision V/9l).360 Wegen andauernder bzw. erneut bestehender Defizite in Bezug auf ein Änderungsgesetz zum „Gesetz über öffentliche Vereinigungen“ vom 04.02.2017 stellte die 6. Tagung der Vertragsparteien eine Anfrage nach Ziff. 13 b) der Verfahrensordnung an das ACCC (Decision 354 Vgl. MoP III (Aarhus-Konvention), Report of the third Meeting of the Parties – Addendum, Decision III/6e on compliance by Turkmenistan with its obligations under the Convention (Ref. Decision II/5c), ECE/MP.PP/2008/2/Add.13, 2008, Ziff. 5 (a). 355 Vgl. MoP III (Aarhus-Konvention), Report of the third Meeting of the Parties – Addendum, Decision III/6e on compliance by Turkmenistan with its obligations u nder the Convention (Ref. Decision II/5c), ECE/MP.PP/2008/2/Add.13, 2008, Ziff. 5 (b). 356 Vgl. MoP III (Aarhus-Konvention), Report of the third Meeting of the Parties – Addendum, Decision III/6e on compliance by Turkmenistan with its obligations under the Convention (Ref. Decision II/5c), ECE/MP.PP/2008/2/Add.13, 2008, Ziff. 5 (c). 357 Vgl. die Feststellung des Nichteintritts der Bedingungen durch ACCC, Report on the Compliance Committee on its Twenty-third meeting, ECE/MP.PP/C.1/2009/2, 2009/2011, Annex I, Findings with regard to measures taken by Turkmenistan to fulfil the conditions set out in paragraph 5 (a) to (c) of decision III/6e of the Meeting of the Parties, adopted by the Compliance Committee on 3 April 2009, Ziff. 12. 358 Vgl. MoP IV (Aarhus-Konvention), Report of the fourth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision IV/9g on compliance by Turkmenistan with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2011/2/Add.1, 2011, Ziff. 2 f. 359 Vgl. die Feststellung des Nichteintritts der gesetzten Bedingung durch ACCC, Report of the Compliance Committee on its thirty-ninth meeting, ECE/MP.PP/ C.1/2012/10, 2012/2013, Ziff. 54. 360 Vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision V/9l on compliance by Turkmenistan, ECE/MP. PP/2014/Add.1, 2014, Ziff. 5; 8.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus125
VI/8).361 Seither wird der Fall unter Az. ACCC/M/2017/2 (Turkmenistan) durch das ACCC weitergeführt.362 Der im Zuge dessen im Juli 2021 veröffentlichte Bericht des ACCC an die im Herbst 2021 anstehende 7. Tagung der Vertragsparteien attestiert Turkmenistan weiterhin ein Erfüllungsdefizit hinsichtlich der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit Art. 3 Abs. 9, Abs. 4 und Abs. 1 Aarhus-Konvention und empfiehlt der Tagung der Vertragsparteien eine erneute Verwarnung, wenn Turkmenistan entsprechende Anstrengungen nicht unternimmt.363 (bb) Ukraine, Bystroe-Kanal-Fall (2011–2017) Die Verwarnung der Ukraine beruht auf der Individualbeschwerde ACCC/C/2004/3 sowie der Staatenbeschwerde ACCC/S/2004/1 Rumäniens im bereits geschilderten Bystroe-Kanal-Fall.364 Nachdem die Ukraine im Nachgang zur 3. Tagung der Vertragsparteien (2008) eine Verwarnung durch die Erfüllung einiger Bedingungen noch abwenden konnte, sprach die 4. Tagung der Vertragsparteien (2011) schließlich endgültig eine Verwarnung aus und gab dem ACCC sogar den Auftrag mit auf den Weg die Möglichkeit einer Suspendierung zu erwägen (Decision IV/9h).365 Wohl hauptsächlich aufgrund der politischen Umbrüche in der Ukraine im Jahr 2014 riet das ACCC der 5. Tagung der Vertragsparteien (2014) anschließend zwar von einer Suspendierung ab,366 die Verwarnung wurde jedoch (erneut verbunden mit der Androhung einer Suspendierung) aufrecht erhalten (Decision
361 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision VI/8: General issues of compliance, ECE/ MP.PP/2017/Add.1, 2017/2018, Ziff. 19; siehe allgemein zu Anträgen nach Ziff. 13 b) der Verfahrensordnung (Az. „M“) oben III. 1. b). 362 Vgl. die elektronische Akte, aufrufbar unter https://www.unece.org/en vironmental-policy/conventions/public-participation/aarhus-convention/tfwg/env ppcc/requests-from-the-meeting-of-the-parties/acccm20172-turkmenistan.html, aufgerufen am 26.08.2021. 363 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee, Compliance by Turkmenis tan with its obligations under the Convention, Juli 2021, Ziff. 51; 55, abrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2021-08/M2_Turkmenistan_report_to_MOP7_ advance_unedited.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 364 Siehe zur Staatenbeschwerde ACCC/S/2004/1 (Ukraine) oben 1. b) aa) (1). 365 Vgl. MoP IV (Aarhus-Konvention), Report of the fourth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision IV/9h on compliance by Ukraine with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2011/2/Add.1, 2011, 4. Erwägungsgrund; Ziff. 6; Ziff. 9. 366 Vgl. ACCC, Compliance by Ukraine with its obligations under the Convention – Report, ECE/MP.PP/2014/22, 2014, Ziff. 43.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
V/9m).367 Erst die 6. Tagung der Vertragsparteien (2017) konnte begrüßend feststellen, dass die Ukraine nunmehr engagiert daran gearbeitet hat die Empfehlungen der Tagung der Vertragsparteien vollständig umzusetzen (Decision VI/8).368 (cc) Bulgarien (2017–) Die Verwarnung Bulgariens steht in Zusammenhang mit der Individualbeschwerde ACCC/C/2011/58, die einen unzureichenden Rechtsschutz gegen Entscheidungen nach dem bulgarischen Raumplanungsrecht adressierte.369 Die 5. Tagung der Vertragsparteien (2014) bestätigte im Rahmen von Deci sion V/9d die diesbezüglichen Feststellungen des ACCC, dass Bulgarien mit Blick auf den Rechtsschutz gegen Allgemeine Raumpläne die Anforderungen von Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention nicht erfülle, da der Staat alle Mitglieder der Öffentlichkeit einschließlich der Umweltverbände vom Zugang zu den Gerichten ausschließe.370 Hinsichtlich des Rechtsschutzes gegen Detaillierte Raumpläne wurde festgestellt, dass dieser ebenso nicht den Maßgaben von Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention entspreche, da fast alle Mitglieder der Öffentlichkeit einschließlich aller Umweltverbände keinen Zugang zu Gericht erhielten.371 Weiterhin wurde aufgrund von Mängeln bezüglich des Rechtsschutzes insbesondere von Umweltverbänden gegen endgültige Entscheidungen bei Aktivitäten nach Anhang I der Aarhus-Konvention ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention i. V. m. Art. 9 Abs. 4 AarhusKonvention festgestellt.372 Da Bulgarien es zur Erreichung eines positiven Erfüllungszustands nicht für nötig hielt die Empfehlungen der 5. Tagung der 367 Vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision V/9m on compliance by Ukraine, ECE/MP. PP/2014/2/Add.1, 2014, Ziff. 6 (a); Ziff. 8. 368 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session Meeting of the Parties – Addendum, Decisions adopted by the Meeting of the Parties, Decision VI/8 – General issues of compliance, ECE/MP.PP/2017/2/Add.1, 2017, Ziff. 15. 369 Vgl. den Schriftsatz der Balkani Wildlife Society vom 09.02.2011, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2011-58/Communi cation/Communication.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 370 Vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision V/9d on compliance by Bulgaria, ECE/MP. PP/2014/2/Add.1, 2014, Ziff. 1 (a). 371 Vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision V/9d on compliance by Bulgaria, ECE/MP. PP/2014/2/Add.1, 2014, Ziff. 1 (b). 372 Vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision V/9d on compliance by Bulgaria, ECE/MP. PP/2014/2/Add.1, 2014, Ziff. 1 (c).
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus127
Vertragsparteien umzusetzen, sprach die 6. Tagung der Vertragsparteien (2017) eine Verwarnung unter der auflösenden Bedingung der Behebung seines Erfüllungsdefizits bis zum 01.10.2019 aus (Decision VI/8d).373 Weiterhin bekräftigte die Tagung die inzwischen ergangenen Feststellungen des ACCC zu Individualbeschwerde ACCC/C/2012/76 (Bulgarien), im Rahmen derer es zu dem Ergebnis eines zusätzlichen Erfüllungsdefizits hinsichtlich der Umsetzung von Art. 9 Abs. 4 Aarhus-Konvention kam.374 Nachdem Bulgarien fristgemäß am 30.09.2019 seinen Umsetzungsbericht eingereicht hatte, zeigte sich das ACCC angesichts der weiterhin bestehenden Erfüllungsdefizite schwer enttäuscht.375 Es legte dar, dass im Hinblick auf die Entscheidung der 6. Tagung der Vertragsparteien kaum Fortschritte erzielt worden sind, und drohte der im Herbst 2021 anstehenden 7. Tagung der Vertragsparteien zu empfehlen neben der bestehenden Verwarnung eine Suspendierung in Erwägung zu ziehen.376 Zwar erwähnt der Abschlussbericht an die Tagung der Vertragsparteien vom Juli 2021 eine mögliche Suspendierung nicht mehr, es wird jedoch empfohlen die Verwarnung bis 30.09.2023 aufrecht zu erhalten und ab dem 01.10.2023 aufzuheben, sollte Bulgarien dann die entsprechenden Anstrengungen unternommen haben.377 (c) Suspendierung (suspension) Eine Suspendierung als schärfstes, der Tagung der Vertragsparteien zur Verfügung stehendes Mittel hat indes bisher nicht stattgefunden. Das ACCC gebraucht die Drohung der Tagung der Vertragsparteien eine Suspendierung zu empfehlen jedoch vereinzelt, um die betreffende Vertragspartei nach bereits erfolgter Verwarnung mit besonderem Nachdruck zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu bewegen, so in den vorstehend geschilderten Fällen um 373 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision VI/8d, Compliance by Bulgaria with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2017/2/Add.1, 2017, Ziff. 5. 374 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decision VI/8d, Compliance by Bulgaria with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2017/2/Add.1, 2017, Ziff. 6. 375 Vgl. ACCC, Second progress review of the implementation of decision VI/8d on compliance by Bulgaria with its obligations under the Convention, 04.03.2020, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/MoP6 decisions/VI.8d_Bulgaria/Correspondence_with_the_Party/Second_progress_review_ on_VI.8d_Bulgaria_adopted.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 376 Ebd., insb. Ziff. 60. 377 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee, Compliance by Bulgaria with its obligations under the Convention, Juli 2021, Ziff. 87; 88, abrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2021-08/VI.8d_Bulgaria_report_to_MOP7_ advance_unedited.pdf, abgerufen am 26.08.2021.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
den Ausbau des Bystroe-Kanals durch die Ukraine und um die RechtsschutzDefizite für Umweltverbände im Rechtssystem Bulgariens. (2) Derivative Maßnahmen des ACCC Die Maßnahmen, die neben der Tagung der Vertragsparteien auch das ACCC zumindest vorübergehend beschließen kann, gliedern sich wiederum in solche, die es in Absprache mit der betreffenden Vertragspartei ohne eine ausdrückliche Vereinbarung ergreifen darf und solche, für die das ACCC eine Vereinbarung mit der betreffenden Vertragspartei benötigt. (a) Maßnahmen in Absprache mit der betreffenden Vertragspartei In Absprache mit der betreffenden Vertragspartei berät und unterstützt das ACCC diese bei der Umsetzung der Aarhus-Konvention.378 Es kann in diesem Sinne wertvolle Hilfestellungen bei der konventionsgemäßen Ausgestaltung der nationalen Rechtslage bieten und versucht die entsprechenden Sachverhalte regelmäßig in engagiertem Austausch mit den betreffenden Vertragsparteien zu adressieren. (b) Maßnahmen nach Vereinbarung mit der betreffenden Vertragspartei Einer Vereinbarung mit der betreffenden Vertragspartei bedarf es für das ACCC, um Empfehlungen an die Vertragspartei richten zu dürfen, sie auffordern zu können eine Strategie mit Zeitplan zu erstellen und über deren Umsetzung Bericht zu erstatten sowie um der Vertragspartei im Fall von Individualbeschwerden konkrete Maßnahmen für den Umgang mit der betreffenden Angelegenheit zu empfehlen.379 Während es sehr häufig geschieht, dass das ACCC Empfehlungen an die betreffende Vertragspartei richtet, sind die anderen beiden Maßnahmen (Begleitung im Rahmen der Umsetzung einer Compliance-Strategie sowie Empfehlungen hinsichtlich konkreter Maßnahmen) weniger oft Teil der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC. Ein Beispiel für die Begleitung im Rahmen der Umsetzung einer Compliance-Strategie sind die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen zu Indivi378 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 36 (a); Ziff. 37 (a). 379 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 36 (b); Ziff. 37 (b)–(d).
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus129
dualbeschwerde ACCC/C/2011/59 (Kasachstan), im Rahmen derer Kasachstan dazu aufgefordert wurde einen Aktionsplan zur Umsetzung der gemachten Empfehlungen unter Fristsetzung zum 30.11.2013 zu entwickeln.380 Als seltenes Beispiel für Empfehlungen hinsichtlich konkreter Maßnahmen können die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen zu Individualbeschwerde ACCC/C/2005/12 (Albanien) dienen. Hier richtete das ACCC an Albanien die Empfehlung besondere Sorgfalt darauf zu verwenden, dass der Öffentlichkeit im Rahmen des Genehmigungsverfahrens zur Errichtung des Industrie- und Energieparks in Vlora und aller zugehörigen Vorhaben frühzeitige und ausreichende Möglichkeiten zur Beteiligung in allen Phasen des Genehmigungsprozesses zugesichert werden.381 Die erforderliche Vereinbarung äußert sich im Falle aller dieser Maßnahmen in der Praxis zumeist dadurch, dass der Entwurf der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC (draft findings and recommendations) unter in Klammern gesetztem Hinweis auf die erforderliche Vereinbarung gegenüber der betreffenden Vertragspartei und der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt wird.382 Nachdem die Vertragspartei gemeinsam mit der Öffentlichkeit den Entwurf kommentieren konnte, entfallen die Klammer-Zeichen in der endgültigen Fassung der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen.383 3. Verfahren anlässlich der Tagung der Vertragsparteien Hat das ACCC keinen Rechtsverstoß festgestellt, so nimmt die Tagung der Vertragsparteien dies üblicherweise im Rahmen ihrer Entscheidung über all380 Vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to communication ACCC/C/2011/59 concerning compliance by Kazakhstan, ECE/MP.PP/C.1/2013/9, 2013, Ziff. 70 (b). 381 Vgl. ACCC, Report of the Compliance Committee on its Sixteenth Meeting – Addendum – Findings and recommendations with regard to compliance by Albania, ECE/MP.PP/C.1/2007/4/Add.1, 2007, Ziff. 97. 382 Vgl. beispielsweise den Entwurf der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC zu Individualbeschwerde ACCC/C/2013/88 (Kasachstan): „The Committee, pursuant to paragraph 36 (b) of the annex to decision I/7 of the Meeting of the Parties, [and noting the agreement of the Party concerned that the Committee take the measures requested in paragraph 37 (b) and (c) of the annex to decision I/7,] recommends that …“. 383 Siehe nun zum Vergleich die endgültige Fassung der eben zitierten Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC zu Individualbeschwerde ACCC/ C/2013/88 (Kasachstan): „Noting the agreement of the Party concerned that the Committee take the measures requested in paragraph 37 (b) of the annex to decision I/7, the Committee, pursuant to paragraph 36 (b) of the annex to decision I/7, recommends that …“. Eine Maßnahme nach Ziff. 37 (c) der Verfahrensordnung (Erarbeitung einer Compliance-Strategie) enthält die endgültige Fassung nicht mehr.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
gemeine Angelegenheiten der Vertragserfüllung wohlwollend zur Kenntnis, ohne weiterführende Ausführungen in der Sache zu betreiben.384 Sollte ein Rechtsverstoß durch das ACCC festgestellt worden sein und hat dieses vorübergehende Maßnahmen angeordnet, kommt es darauf an, ob die betroffene Vertragspartei nunmehr ein positives Erfüllungsverhalten zeigt. Ist dies der Fall, so wird die Tagung der Vertragsparteien die Erkenntnisse des ACCC ebenso wohlwollend bekräftigen und das positive Erfüllungsverhalten der betroffenen Vertragspartei begrüßen.385 Wurde ein Rechtsverstoß festgestellt und wurden aufgrund einer ablehnenden Haltung der betroffenen Vertragspartei oder der zeitnahen Tagung der Vertragsparteien keine vorübergehenden Maßnahmen angeordnet, übermittelt das ACCC seine Feststellungen direkt an die Tagung der Vertragsparteien.386 Das Bureau der Tagung der Vertragsparteien (Bureau of the Meeting of the Parties) bereitet dann auf Grundlage der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC (findings and recommendations) für jeden derartigen Fall einen Entscheidungsentwurf (draft decision) vor.387 Wurde ein Rechtsverstoß festgestellt und vorübergehend angeordnete Maßnahmen nicht befolgt, so bereitet das Bureau der Tagung der Vertragsparteien ebenso für jeden derartigen Fall einen Entscheidungsentwurf (draft decision) vor.388 In der Regel übernehmen diese Entscheidungsentwürfe wörtlich die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC (findings and recommendations), versehen diese mit Formulierungen der Billigung („Endorses …“ in Bezug auf die Erkenntnisse) bzw. wohlwollenden Entgegennahme („Wel 384 Vgl. beispielsweise MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decisions adopted by the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2/Add.1, 2017/2018, Decision VI/8, General issues of compliance, Ziff. 9; vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decisions adopted by the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2014/2/Add.1, 2014, Decision V/9 on general issues of compliance, Ziff. 10. 385 Vgl. beispielsweise MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decisions adopted by the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2014/2/Add.1, 2014, Decision V/9 on general issues of compliance, Ziff. 12; ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 207. 386 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 208. 387 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 209. 388 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 207; 209.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus131
comes …“ in Bezug auf die Handlungsempfehlungen) und erlegen der betroffenen Vertragspartei Berichts-, Informations- und Kooperationspflichten auf.389 Diese Pflichten sind gegenüber dem ACCC zu erbringen, welches die Umsetzung der Entscheidungen zwischen den Tagungen der Vertragsparteien begleitet.390 Die Tagung der Vertragsparteien übernimmt den Entscheidungsentwurf des Bureau bzw. die Feststellungen des ACCC wiederum in der Regel wörtlich.391 Durch die Entscheidung der Tagung der Vertragsparteien (endorsement) können die Inhalte der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC, durch die eine Vertragsverletzung festgestellt wurde, als „spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK Rechtsverbindlichkeit erlangen.392 Es ist bisher übliche Praxis, dass die Tagung der Vertragsparteien im Konsens aller Vertragsparteien beschließt.393 Die Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien sieht in Regel 35 eine solche Konsensentscheidung als oberstes Ziel vor.394 In Fällen der Uneinigkeit soll ausnahmsweise eine ¾-Mehrheit für einen Beschluss genügen.395 Durch die hier dargestellte Praxis der Annahme der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC, die zwar keinen Automatismus darstellt, jedoch bisher (fast) ausnahmslos erfolgte,396 wird offenbar, welche herausragende Bedeutung dem ACCC als Entscheidungsgremium zukommt, obwohl 389 Vgl. die Entscheidungsentwürfe zur sechsten Tagung der Vertragsparteien unter https://unece.org/environmental-policy/events/sixth-session-meeting-parties-aarhusconvention-0 unter der Registerkarte „Action documents (Category I)“, abgerufen am 26.08.2021. 390 Vgl. die Entscheidungsentwürfe zur sechsten Tagung der Vertragsparteien (Fn. 389), zumeist vorletzte Ziff. „Requests the Party concerned“; vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 210–219. 391 Vgl. dazu wiederum die Entscheidungen der sechsten Tagung der Vertragsparteien, ECE/MP.PP/2017/2/Add.1, abrufbar unter https://www.unece.org/fileadmin/ DAM/env/pp/mop6/English/ECE_MP.PP_2017_2_Add.1_E.pdf, abgerufen am 26.08. 2021. 392 Siehe ausführlich dazu unten 4. Kapitel A. II. 1. 393 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 58 ff. 394 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/1 – Rules of Procedure, ECE/MP.PP/2/Add.2, 2002/2004, Annex. 395 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/1 – Rules of Procedure, ECE/MP.PP/2/Add.2, 2002/2004, Annex. 396 Auf den beachtenswerten Ausnahmefall ACCC/C/2008/32 (Part II) wird im 3. Kapitel unter B. II. eingegangen.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
formal lediglich die Tagung der Vertragsparteien mit Rechtskraft entscheiden kann. 4. Verfahrensmaximen Im Rahmen der Erfüllungskontrolle der Aarhus-Konvention finden sich alle klassischen Verfahrensmaximen wieder, wie sie hier bereits anhand des Non-Compliance-Mechanismus des Montrealer Protokolls dargestellt worden sind.397 Besonders der Grundsatz der Unparteilichkeit und die Öffentlichkeit des Verfahrens erfahren dabei besondere Bedeutung und Betonung durch das ACCC.398 a) Partnerschaftlichkeit Bereits im Rahmen von Art. 15 Aarhus-Konvention, der Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Non-Compliance-Mechanismus, wird geregelt, dass eine „freiwillige, nichtstreitig angelegte, außergerichtliche und auf Konsultationen beruhende“ Überprüfungseinrichtung geschaffen werden soll. Damit wurde dem Aarhus Non-Compliance-Mechanismus das allen Einrichtungen der Erfüllungskontrolle gemeine Prinzip der partnerschaftlichen Konfliktlösung als konstitutive Maxime mit auf den Weg gegeben. Ob, wie verschiedentlich angezweifelt wird, das ACCC diesen Ansprüchen insbesondere hinsichtlich seiner Außergerichtlichkeit noch gerecht wird, stellt eine andere Frage dar, welche im Rahmen von Kapitel 4 noch eingehend betrachtet werden wird.399 Die im Rahmen der Studie zu dieser Arbeit befragten InterviewPartner äußerten jedenfalls insgesamt, dass das ACCC ihrer Ansicht nach das Prinzip der partnerschaftlichen Konfliktlösung vollständig realisiere.400 397 Siehe
dazu oben 1. Kapitel A. V. zu den im Folgenden dargestellten verfahrensleitenden Prinzipien des Non-Compliance-Mechanismus zur Aarhus-Konvention auch Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: NonCompliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 234 ff. 399 Siehe dazu unten 4. Kapitel A. II. 400 Die Teilnehmer wurden nach ihrer Position gegenüber der folgenden Aussage befragt: „In my view the ACCC fully realises the concept of a compliance committee, which works with partnership-based support rather than sanctions in order to evoke a positive compliance behavior.“ Übersetzung: „Meiner Ansicht nach verwirklicht das ACCC vollständig das Konzept eines Erfüllungsausschusses, der mit partnerschaftlicher Unterstützung statt Sanktionen arbeitet, um ein positives Erfüllungsverhalten hervorzurufen.“ Dabei konnten die Teilnehmer zwischen 5 Skalenoptionen von „I fully disagree.“/„Ich stimme überhaupt nicht zu.“ (1) bis „I fully agree.“/„Ich stimme vollständig zu.“ (5) wählen. Bei 20 Teilnehmern weist ein Mittelwert von 3.55 in Richtung Bestätigung der Aussage. Von Skalenoption 1 nach 5 ergibt sich im 398 Siehe
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus133
b) Rechtsstaatlichkeit Im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit des Aarhus Non-Compliance-Mechanismus kommt wiederum dem Anspruch auf rechtliches Gehör, dem Grundsatz der Unparteilichkeit, der Vertraulichkeit von Informationen und der Öffentlichkeit des Verfahrens besondere Bedeutung zu. aa) Anspruch auf rechtliches Gehör Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird auch im Rahmen des NonCompliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention dadurch verwirklicht, dass auf den verschiedenen Verfahrensstufen immer eine Anhörung der betroffenen Vertragspartei sowie der verfahrenseinleitenden Vertragspartei bzw. des Individualbeschwerdeführers erfolgt, insbesondere wenn es um die Stellungnahme zu Entscheidungsentwürfen (draft findings) sowie zu Maßnahmen und Handlungsempfehlungen (measures and recommendations) geht.401 Es gibt außerdem die Möglichkeit, dass finanzielle Hilfen bereitgestellt werden, um bedürftigen Vertragsparteien oder Individualbeschwerdeführern zu ermöglichen an formalen Verhandlungen (hearings) zu partizipieren.402 Einzelnen folgendes Abstimmungsmuster: 2 Teilnehmer/3 Teilnehmer/3 Teilnehmer/6 Teilnehmer/6 Teilnehmer. Den Teilnehmern wurde darüber hinaus die Möglichkeit gegeben ihre ablehnende Haltung näher zu begründen. Besonders hervorhebenswert sind dabei die Antworten der folgenden beiden Teilnehmer: Teilnehmer 56 kritisierte, dass das Prinzip der Partnerschaftlichkeit deshalb in Frage stehe, weil das Verfahren mit einem eindeutigen Ergebnis abgeschlossen werde. (Originalantwort: „Because of the findings ‚yes‘ or ‚no‘.“). Teilnehmer 68 wollte konkretisiert wissen, dass das ACCC selbst keine „partnerschaftliche Unterstützung“ anbiete und der Begriff insofern falsch verstanden werden könnte. Das ACCC sei in seiner Arbeit selbst auf das Wohlwollen der Beteiligten und die Unterstützung derjenigen Vertragsparteien angewiesen, die die Konvention wertschätzten. Das ACCC helfe eher bei der Umsetzung der Konventionsbestimmungen, indem es die Sachverhalte in einer transparenten und partizipatorischen Art und Weise bearbeite. Nichtsdestoweniger sei zutreffend, dass der Erfolg des ACCC sich nicht auf Sanktionen stütze. (Originalantwort: „I think the phrasing ‚partnership-based support‘ may be a bit misleading. The Committee works based on the good will of those involved, it is dependent on the support of the Parties that value the Convention. It does not provide itself much support, rather it helps to improve implementation by working through the issues in a transparent and participatory manner. Nonetheless, the ACCC’s success is not based on sanctions.“). Weitere Antworten zu diesem Teil von Frage 7 der Studie sind den Rohdaten im Anhang dieser Arbeit zu entnehmen. 401 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 34. 402 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 134; 147; 152; 161; 190; vgl. in diesem Kontext bereits Pitea, Procedures and
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Weiterhin hat jeder Beteiligte das grundsätzliche Recht an den Diskussionen des ACCC teilzunehmen, die sich auf das von ihm angestoßene bzw. ihn betreffende Verfahren beziehen.403 Schließlich sehen die Verfahrensordnung und die Praxis des ACCC vor die Verfahren zeitlich so kurz als möglich zu halten.404 bb) Grundsatz der Unparteilichkeit Der Grundsatz der Unparteilichkeit wird zum einen dadurch verwirklicht, dass an einem Verfahren beteiligte Vertragsparteien und Individualbeschwerdeführer nicht an der Ausarbeitung und Verabschiedung von Entscheidungen (findings) sowie Maßnahmen und Handlungsempfehlungen (measures and recommendations) teilnehmen dürfen.405 Zum anderen ist das ACCC auch ein über seine Besetzung mit unabhängigen Experten dezidiert als unabhängig ausgestaltetes und sich als solches verstehendes Gremium, was es von vielen anderen Erfüllungsausschüssen unterscheidet.406 cc) Vertraulichkeit Grundsätzlich sind alle Informationen, über die das ACCC verfügt, frei zugänglich.407 Allerdings unterliegen solche Informationen der Vertraulichkeit, die im Vertrauen auf deren Geheimhaltung zur Verfügung gestellt wurden.408 Falls nötig tagt das ACCC in diesen Fällen in nicht öffentlicher Sitzung.409 Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: NonCompliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 234. 403 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 32. 404 Dies machen vor allem Formulierungen wie das im Rahmen der Verfahrensordnung häufig vorkommende „as soon as practicable“ (Ziff. 15; 16; 17; 24) deutlich, vgl. auch Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 235. 405 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 33. 406 Siehe zur Zusammensetzung des ACCC oben II. 1. a). 407 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 26. 408 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 27–29; 31.
A. Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus135
dd) Öffentlichkeit Der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens erfährt bereits dadurch Betonung, dass er neben dem Prinzip der partnerschaftlichen Konfliktlösung direkt in Art. 15 Aarhus-Konvention, der Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Non-Compliance-Verfahrens, angelegt ist. Dort wird formuliert: „Diese Regelungen lassen eine angemessene Einbeziehung der Öffentlichkeit zu (…)“. Diese Einbeziehung der Öffentlichkeit findet auf verschiedene Weise statt. Die Berichte des ACCC sind der Öffentlichkeit zugänglich und enthalten lediglich diejenigen Informationen nicht, die unter die Vorschriften zur Vertraulichkeit fallen.410 Darüber hinaus ist ein Teil dieser vertraulichen Informationen zumindest für die Vertragsparteien zugänglich.411 Weiterhin vertritt das ACCC seit Beginn seiner Tätigkeit die Öffnung von wichtigen Teilen seiner Sitzungen für die Öffentlichkeit als Beobachter.412 Die Beratungen zur Fassung jeglicher Beschlüsse finden jedoch in nicht öffentlicher Sitzung statt.413 In Ausnahmefällen darf die Öffentlichkeit überdies aufgrund der Vertraulichkeit der zu besprechenden Informationen nicht an den entsprechenden Sitzungsteilen ACCC teilnehmen.414 Das ACCC unterhält schließlich eigene Internetseiten, die für die Öffentlichkeit eine Fülle an Informationen bereithalten.415
409 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 30. 410 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 35; 31. 411 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 31. 412 Siehe zur Teilnahme der Öffentlichkeit an den Sitzungen des ACCC oben II. 1. b). 413 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 17. 414 Vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 15. 415 Vgl. den aktuellen Internetauftritt unter www.unece.org/env/pp/cc.html, aufgerufen am 26.08.2021.
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2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
V. Zwischenergebnis zum Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention Der Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention steht in der Tradition desjenigen des Montrealer Protokolls, erfuhr jedoch gegenüber diesem einige entscheidende Veränderungen. So machen beispielsweise das Rechtsinstitut der summary proceedings und die Möglichkeit, im Rahmen des Beweises der Rechtswegerschöpfung auch auf andere, ähnlich gelagerte Fälle zu verweisen, in klassischer Weise deutlich, dass im Rahmen des Non-Compliance-Verfahrens nicht ein einzelner Streitfall im Mittelpunkt steht, sondern es um die Behebung struktureller Ursachen von vertraglicher Nichterfüllung geht. Hinzu kommen Modifikationen, wie die Möglichkeit einer Individualbeschwerde, die starke Ausprägung des Grundsatzes der Unabhängigkeit des Erfüllungsausschusses sowie die dezidierte Öffentlichkeit wichtiger Teile der Sitzungen des ACCC, die demselben im Zusammenhang mit der hergebrachten Praxis der Tagung der Vertragsparteien dessen Entscheidungen zu bestätigen, das Gesicht eines gerichtsähnlichen Entscheidungsorgans geben können. Schließlich finden sich bedeutende Anklänge an den Bereich der interna tionalen Kontrolle auf menschenrechtlicher Ebene. Das zeigt neben der bereits angeführten Möglichkeit einer Individualbeschwerde die Beauftragung von Berichterstattern sowie die starke Einbindung von NGOs, die bei der Besetzung des ACCC beginnt, über die Möglichkeit der Einreichung von Individualbeschwerden führt und bis hin zur engagierten öffentlichen Begleitung des gesamten Non-Compliance-Verfahrens reicht.
B. Die Besonderheiten des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention gegenüber anderen Non-Compliance-Verfahren Nachdem im ersten Kapitel das Recht der umweltvölkerrechtlichen Erfüllungskontrolle insgesamt im Zentrum der Erörterungen lag und sich das gegenwärtige, zweite Kapitel der Funktionsweise des Non-Compliance- Mechanismus der Aarhus-Konvention gewidmet hat, sollen im Folgenden die bedeutendsten drei der herausgearbeiteten Modifikationen des Aarhus NonCompliance-Mechanismus gegenüber dem „Montrealer Modell“ herausge griffen und näher beleuchtet werden.416 416 Vgl. dazu auch Zeitner, EurUP 2019, 159 (163 f.); siehe diesbezüglich bereits UNECE, Human Rights and the Environment: The Role of Aarhus Convention, 2003, S. 7, Ziff. 35 sowie Pitea, IYBIL 2006, 85 (86).
B. Die Besonderheiten des Non-Compliance-Mechanismus137
I. Beschwerdeberechtigung der Öffentlichkeit Gemäß Abschnitt VI der Verfahrensordnung kann eine Beschwerde beim ACCC zusätzlich durch ein oder mehrere Mitglieder der Öffentlichkeit eingereicht werden (communication).417 Diese Besonderheit ist bereits in Art. 15 Aarhus-Konvention, der Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Non-Compliance-Mechanismus, angelegt: „Diese Regelungen (…) können die Möglichkeit beinhalten, Stellungnahmen von Mitgliedern der Öffentlichkeit zu Angelegenheiten im Zusammenhang mit diesem Übereinkommen zu prüfen.“ Das „Montrealer Modell“ sieht hingegen eine Verfahrenseinleitung lediglich durch eine oder mehrere andere Vertragsparteien, durch die betreffende Vertragspartei in Form einer Selbstanzeige oder durch das Sekretariat vor.418 Allerdings hat die Arbeitsgruppe, die für die Evaluierung des Verfahrens zum Montrealer Protokoll im Jahr 1998 zuständig war, eine teilweise Erweiterung der Beschwerdeberechtigung zumindest diskutiert.419 Vor dem Hintergrund, dass eines der zentralen inhaltlichen Anliegen der Aarhus-Konvention gemäß deren Art. 9 die Stärkung der Klagerechte von Umweltverbänden und Einzelnen innerhalb des Rechts der Vertragsparteien ist, stellt die Beschwerdeberechtigung der Öffentlichkeit nur einen konsequenten Schritt dar.420 Das Non-Compliance-Verfahren der Aarhus-Konvention müsste sich andernfalls den Vorwurf einer gewissen Doppelmoral gefallen lassen. Bemerkenswert in Bezug auf die herausragende Möglichkeit einer Individualbeschwerde im Rahmen des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention sind im Übrigen die Erfahrungen aus dem Bereich der Menschenrechte, von denen man hier ausdrücklich lernen wollte.421 417 Siehe
oben A. IV. 1. b) dd). oben 1. Kapitel A. IV. 1. 419 Vgl. Ad-Hoc Working Group of Legal and Technical Experts on Non-Compliance with the Montreal Protocol, UNEP/OzL.Pro/WG.4/1/3, 1998, Ziff. 13; Ziff. 23; siehe dazu Romanin Jacur, The Non-Compliance Procedure of the 1987 Montreal Protocol to the 1985 Vienna Convention on Substances that Deplete the Ozone Layer, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 21. 420 Romanin Jacur spricht von „particular vocation“, dem besonderen Auftrag der Aarhus-Konvention als individuelle Rechte schützenden Vertrag, in dessen Kontext sie die besondere Möglichkeit einer Individualbeschwerde im Rahmen des Aarhus Non-Compliance-Mechanismus stellt, siehe Romanin Jacur, Triggering Non-Compliance Procedures, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 380. 421 Anlässlich der ersten Sitzung des ACCC wurde ein Vertreter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte eingeladen, der über die Arbeit des UN-Menschenrechtsausschusses und im Besonderen über das Individualbeschwerdeverfahren referierte, s. ACCC, Report on the First Meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 9. Überdies war man sich bereits im Rahmen der Verhandlungen über das Non-Compliance-Verfahren der Aarhus-Konvention des Nutzens der menschenrechtlichen Expertise bewusst. Das Protokoll der ersten Sitzung der Konferenz der Unterzeichnerstaa418 Siehe
138
2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
II. Unabhängigkeit der Mitglieder des Erfüllungsausschusses Das ACCC setzt sich aus unabhängigen Experten zusammen.422 Auch das ist ein Faktum, das in Bezug auf das Non-Compliance-Verfahren zum Mon trealer Protokoll intensiv diskutiert wurde.423 Der Furcht der Vertragsparteien vor einer zu großen Unabhängigkeit des Erfüllungsausschusses ist es geschuldet, dass die Mitglieder des Erfüllungsausschusses dort als Vertreter der jeweiligen Vertragspartei bestellt werden.424 Durch die Zusammensetzung des ACCC aus unabhängigen Experten kommt beim Non-Compliance-Verfahren zur Aarhus-Konvention nicht nur dem Grundsatz der Unparteilichkeit als Verfahrensmaxime eine besondere Bedeutung zu, sondern es offenbaren sich zugleich Anzeichen einer gewissen Gerichtsförmigkeit.
III. Rolle und Stellung von NGOs NGOs, die sich mit Umweltfragen beschäftigen, genießen eine herausgehobene Stellung im Gefüge des Aarhus Non-Compliance-Mechanismus. Grund dafür ist auch die Verhandlungsgeschichte der Aarhus-Konvention, die durch das intensive Engagement einiger NGOs, wie des heutigen European ECO Forum und des European Environmental Bureau (EEB), maßgeblich geprägt ist.425 Zwei Gesichtspunkte verdienen besondere Beachtung: Zum einen sieht die Verfahrensordnung des ACCC für Mitglieder der Öffentlichkeit als Beschwerdeführer explizit das Recht vor sich an den entspre-
ten hält zur Errichtung einer Arbeitsgruppe zur Konzipierung einer Verfahrensordnung fest: „44. Delegations taking part in the discussions indicated the need to establish a task force and suggested drawing from the experience in compliance mechanisms not only from international environmental instruments but also from human rights instruments. […] 49. The Meeting: […] (c) Took note of the need to have in the task force experts with experience in compliance mechanisms under human rights instruments;“, s. Meeting of the Signatories (Aarhus-Konvention), Report on the First Meeting, CEP/ WG.5/1999/2, 1999, Ziff. 44; Ziff. 49 (c). 422 Siehe oben A. II. 1. a). 423 Siehe die obigen Ausführungen zum Erfüllungsausschuss des Montrealer Protokolls 1. Kapitel A. II. 1. a); vgl. Ad-Hoc Working Group of Legal and Technical Experts on Non-Compliance with the Montreal Protocol, UNEP/OzL.Pro/WG.4/1/3, 1998, Ziff. 16. 424 Vgl. Széll, Implementation Control: Non-compliance Procedure and Dispute Settlement in the Ozone Regime, in: Österreichische außenpolitische Dokumentation – Special Issue: The Ozone Treaties and their Influence on the Building of International Environmental Regimes, 1996, S. 49. 425 Vgl. Wates, NGOs and the Aarhus Convention, in: Civil Society, International Courts and Compliance Bodies, 2005, S. 177 ff.
B. Die Besonderheiten des Non-Compliance-Mechanismus139
chenden Diskussionen des ACCC zu beteiligen.426 NGOs dürfen überdies als Teil der Öffentlichkeit grundsätzlich an allen Sitzungen des ACCC als Beobachter teilnehmen.427 Im Fall des Non-Compliance-Verfahrens zum Montrealer Protokoll dürfen dies nur Vertreter ausgewählter Institutionen.428 Hier schimmert durch ein weites Verständnis des Begriffs „Öffentlichkeitsbeteiligung“ ein weiteres zentrales inhaltliches Anliegen der Aarhus-Konvention durch das Prozessrecht des Non-Compliance-Verfahrens hervor.429 Zum anderen wird anerkannten Umwelt-NGOs bei der Besetzung des Erfüllungsausschusses ein Mitspracherecht eingeräumt, indem sie Wunschkandidaten für das ACCC vorschlagen dürfen.430 Es ist bemerkenswert, dass bereits im Rahmen der ersten Amtsperiode zwei der damaligen acht Mitglieder des ACCC von NGOs nominiert worden sind.431 Eigene Untersuchungen der letzten sechs Amtsperioden kommen zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich etwa ein Drittel der schließlich gewählten oder wiedergewählten ACCCMitglieder nachweislich von NGOs (ko-)nominiert wurde (vgl. Abbildung 4). In den letzten vier Amtsperioden hatten daher bis zu vier der neun ACCCMitglieder nachweislich einen solchen NGO-Bezug. Amtsperiode in diesem Sinne meint den Zeitraum zwischen zwei Tagungen der Vertragsparteien. Nach Ziff. 9 der Verfahrensordnung des Non-Compliance-Verfahrens werden die ACCC-Mitglieder regulär für zwei dieser Perioden gewählt, was der Verfahrensordnung nach einer vollen Amtszeit entspricht.
426 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 32. 427 Siehe näher oben A. II. 1. b); vgl. ACCC, Report on the first meeting, MP. PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 15. 428 Siehe näher oben zum Erfüllungsausschuss des Montrealer Protokolls 1. Kapitel A. II. 1. b). 429 Vgl. zu diesem explizit weiten Verständnis ACCC, Report on the first meeting, MP.PP/C.1/2003/2, 2003, Ziff. 16. 430 Siehe dazu oben A. II. 1. a); vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 4. 431 Vgl. UNECE, Human Rights and the Environment: The Role of Aarhus Convention, 2003, S. 7, Ziff. 35.
2008– 2011
(European ECO Forum + Ukraine)
(European ECO Forum + Schweden)
Ellen Hey
Vice Chair
Jonas Ebbesson
Chair
Merab Barbakadze
Jerzy Jendrośka
Eva Kruzikova
(nur für eine Amtsperiode gewählt)
Eva Kruzikova
Svitlana Kravchenko
Sándor Fülöp
(für zwei Amtsperioden gew.)
Sándor Fülöp
Veit Koester
Jonas Ebbesson
(für zwei Amtsperioden gewählt)
Elizabeth France
Jerzy Jendrośka
Svitlana Kravchenko
Merab Barbakadze
(nur für eine Amtsperiode gewählt)
Vice Chair
(für zwei Amtsperioden gewählt)
Merab Barbakadze
Svitlana Kravchenko
Vice Chair
MOP 3
2005– 2008
Veit Koester Chair
(nur für eine Amtsperiode gewählt)
Veit Koester Chair
MOP 2
2002– 2005
MOP 1
Gerhard Loibl
Gerhard Loibl
(für zwei Amtsperioden gewählt)
Laurent Mermet
Vadim Ni
Vadim Ni
(nur für eine Amtsperiode gewählt)
Vadim Ni
(European ECO Forum)
Alexander Kodja bashev
---
---
Die Mitglieder des ACCC und ihre (Ko-)Nominierung durch NGOs von der 1. bis zur 6. Amtsperiode
3 von 5 Mitglieder durch NGOs nominiert (unterstrichen) (Quelle: Auskunft des Sekretariats der Aarhus-Konvention + Bericht der 3. Tagung der Vertragsparteien)
Keine Informationen verfügbar
2 von 8 Mitgliedern durch NGOs nominiert (Quelle: UNECE, Human Rights and the Environment: The Role of Aarhus Convention, 2003, S. 7, Ziff. 35)
140 2. Kap.: Die Funktionsweise des Non-Compliance-Mechanismus
Fruzsina Bögös
MOP 6
Vice Chair
Áine Ryall
(European ECO Forum)
Áine Ryall
(Civil Society Development Association – ARGO + European ECO Forum)
Dana Zhandaeva
(Civil Society Development Association – ARGO)
Dana Zhandaeva
Marc Clément
Ion Diaconu
Ion Diaconu
Chair
Jonas Ebbesson
Chair
Jonas Ebbesson
Chair
Jonas Ebbesson
Peter Oliver
Elena Fasoli
Ellen Hey
Jerzy Jendrośka
Jerzy Jendrośka
Jerzy Jendrośka
Dmytro Skrylnikov
Alistair McGlone
Gerhard Loibl
Heghine GrigoryanHakhverdyan
Heghine Hakhverdyan
Heghine Hakhverdyan
Vice Chair
Alexander Kodjabashev
(BlueLink. net/Blue Link Foundation)
Vice Chair
Alexander Kodjaba shev
Vice Chair (02/2012– 2014)
Alexander Kodjabashev
0 von 6 Mitglieder durch NGOs nominiert (Quelle: Bericht der 6. Tagung der Vertragsparteien)
3 von 6 Mitglieder durch NGOs nominiert (unterstrichen) (Quelle: Auskunft des Sekretariats der Aarhus-Konvention + Bericht der 5. Tagung der Vertragsparteien)
2 von 5 Mitglieder durch NGOs nominiert (unterstrichen) (Quelle: Auskunft des Sekretariats der Aarhus-Konvention + Bericht der 4. Tagung der Vertragsparteien)
Abbildung 4: Übersicht zur Nominierung der Mitglieder des ACCC durch NGOs von der ersten bis zur sechsten Amtsperiode
2017– 2021
2014– 2017
Pavel Cerny
Vice Chair
(European ECO Forum)
(2011– 02/2012)
Svitlana Kravchenko
Pavel Cerny
MOP 5
2011– 2014
MOP 4
B. Die Besonderheiten des Non-Compliance-Mechanismus141
3. Kapitel
Die Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien Die Umsetzung der Aarhus-Konvention und die diesbezüglichen Entscheidungen des ACCC werden zumeist lediglich im Rahmen des nationalen Kontexts der betroffenen Vertragsparteien rezipiert.1 Dennoch sind einige verallgemeinerungsfähige Tendenzen und historische Entwicklungen zu beobachten, die im Folgenden unter A. nachgezeichnet werden sollen. Eine Ausnahme stellen diejenigen Entscheidungen dar, die in Bezug auf die Europäische Union ergehen. Mit ihren aktuell 27 Mitgliedstaaten stellt sie derzeit ca. 60 Prozent der Vertragsstaaten, was die Bedeutung dieser Entscheidungen unterstreicht. Seit nunmehr einigen Jahren sorgt der Fall der Individualbeschwerde ACCC/C/2008/32 (Europäische Union) über das Umweltvölkerrecht hinaus für Aufmerksamkeit. Von ihm lassen sich grundsätz liche Erwägungen in Bezug auf das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention und dem ACCC im Besonderen ableiten. Aus diesem Grund widmet sich die Arbeit unter B. ausführlich diesem besonderen Fall.
A. Das Erfüllungsverhalten der Vertragsparteien und die Entscheidungen des ACCC im Allgemeinen Bisher liegen über 70 Entscheidungen des ACCC zu Individualbeschwerden vor.2 Hinzu kommen zwei Entscheidungen, die durch die Eingabe einer Vertragspartei initiiert worden sind, drei Antworten auf Anfragen seitens der 1 Rechtsvergleichende Untersuchungen insbesondere zum für Deutschland pro blematischen Zugang zu Gericht in Umweltsachen existieren von Epiney/Sollberger, Zugang zu Gerichten und gerichtliche Kontrolle im Umweltrecht, 2002 sowie Eliantonio/Backes/van Rhee/Spronken/Berlee, Standing up for your right(s) in Europe, 2012 und Schmidt/Stracke/Wegener/Zschiesche, Die Umweltverbandsklage in der rechtspolitischen Debatte, 2017; eine Kommentierung der Vorschriften der AarhusKonvention, die zahlreiche Entscheidungen des ACCC berücksichtigt, haben ferner Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018 vorgelegt. 2 Vgl. die Entscheidungssammlung, abrufbar auf den Internetseiten des ACCC (Stand: 05.02.2021) unter https://unece.org/sites/default/files/2021-02/Compilation_ of_CC_findings_05.02.2021_eng.pdf, abgerufen am 26.08.2021.
A. Das Erfüllungsverhalten der Vertragsparteien143
Tagung der Vertragsparteien sowie zwei Antworten auf Anfragen einzelner Vertragsparteien.3 Insgesamt gibt es große Unterschiede, wie die Vertragsparteien die Aarhus-Konvention und die Entscheidungen des ACCC umsetzen. Die folgenden Ausführungen sollen einen Überblick anhand der „drei Säulen“ geben, zu denen die Aarhus-Konvention Verpflichtungen enthält und sind daher in ebendiese Rubriken (Informationen, Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz in Umweltsachen) gegliedert.4
I. Informationen Vorschriften zur Informationsfreiheit in Umweltsachen enthalten Art. 4 Aarhus-Konvention (Zugang zu Informationen über die Umwelt) und Art. 5 Aarhus-Konvention (Erhebung und Verbreitung von Informationen über die Umwelt). Ausgehend von einer langen Tradition der geheimen Verwaltung,5 fand bereits in den 1990er Jahren in Europa eine Öffnung in Richtung des Informationsinteresses der Bürger statt.6 Als Beispiele gelten hierbei Italien (1990), die Niederlande (1991), Portugal (1991) und Spanien (1992), die neben Frankreich, welches bereits 1978 Vorschriften zu Informationsrechten der Öffentlichkeit erließ, mit ersten Schritten vorangingen.7 Von großer Bedeutung war zudem die Richtlinie 90/313/EG8 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, mit der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1990 den Boden der Entwicklungen bereitete, die die Aarhus-Konvention ab dem Jahr 1998 im Umweltbereich fortführte und weiter beschleunig3 Vgl. die Entscheidungen in den Fällen ACCC/S/2004/1 (betroffene Vertragspartei: Ukraine – Eingabe durch Rumänien), ACCC/S/2015/2 (betroffene Vertragspartei: Weißrussland – Eingabe durch Litauen), ACCC/M/2014/1 (betroffene Vertragspartei: ehem. Jugoslawische Republik Mazedonien – Anfrage der Tagung der Vertragsparteien), ACCC/M/2017/2 (betroffene Vertragspartei: Turkmenistan – Anfrage der Tagung der Vertragsparteien), ACCC/M/2017/3 (betroffene Vertragspartei: Europäische Union – Anfrage der Tagung der Vertragsparteien), ACCC/A/2014/1 (betroffene Vertragspartei: Weißrussland – eigene Anfrage eines Rechtsgutachtens) und ACCC/A/2020/2 (betroffene Vertragspartei: Kasachstan – eigene Anfrage eines Rechtsgutachtens). 4 Vgl. zu den im Folgenden erörterten Rechtsgarantien der Aarhus-Konvention vertieft die Darstellung anhand der „drei Säulen“ von Schlacke/Schrader/Bunge, Aarhus-Handbuch, 2019. 5 Vgl. vertiefend Wegener, Der geheime Staat, 2006. 6 Vgl. Sommermann, ZaöRV 2017, 321 (333). 7 Vgl. Sommermann, ZaöRV 2017, 321 (333 f.). 8 Richtlinie 90/313/EWG des Rates vom 7. Juni 1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, ABl. 1990, L 158, S. 56 ff.
144 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
te.9 Anders als in den Staaten, die eine Öffnung in Richtung des Informa tionsinteresses der Bürger bereits vollzogen hatten, musste man besonders in Deutschland und dem Vereinigten Königreich zunächst mit der langen Ar kantradition brechen.10 Entsprechende allgemeine Gesetze zur Informationsfreiheit wurden im Vereinigten Königreich 2000 und in Deutschland auf Bundesebene erst 2005 (Informationsfreiheitsgesetz) erlassen.11 In Umsetzung der Aarhus-Konvention hat der europäische Gesetzgeber die Richtlinie 90/313/EG indes durch die Richtlinie 2003/4/EG12 (UmweltinformationsRichtlinie) abgelöst. Sowohl der Implementierung der UmweltinformationsRichtlinie als auch der Aarhus-Konvention in Deutschland dient auf Bundesebene das Umweltinformationsgesetz13 (UIG) als spezielles Informationsfreiheitsgesetz für den Bereich des Umweltrechts.14 Zudem existieren in allen Bundesländern eigene Länderregelungen zum Umweltinformationsrecht.15
II. Öffentlichkeitsbeteiligung Die Öffentlichkeitsbeteiligung bei umweltrelevanten Vorhaben ist in Art. 6 bis 8 Aarhus-Konvention geregelt. Wie in Bezug auf die Vorschriften zur Informationsfreiheit, existierten bereits vor Inkrafttreten der Aarhus-Konvention Vorschriften zur Öffentlichkeitsbeteiligung. Je nach Rechtsbereich und Anknüpfungspunkt an bestehende Regelungen, erfolgte auch die Umsetzung von Art. 6 bis 8 AarhusKonvention durch verschiedene Rechtsakte. Heute dienen auf Ebene der Europäischen Union beispielsweise die beiden durch die Richtlinie 2003/35/EG16 (Öffentlichkeitsbeteiligungs-Richtlinie) an 9 Vgl. in historischer Perspektive zur „systemverändernden Kraft“ des Europarechts durch die Richtlinie 90/313/EG Erichsen, NVwZ 1992, 409 (419); vgl. Sommermann, ZaöRV 2017, 321 (334), der die Richtlinie als „pathbreaking“ bezeichnet. 10 Vgl. Sommermann, ZaöRV 2017, 321 (334 f.); siehe für Beispiele aus der jüngeren Rechtsprechung in Deutschland Wegener, ZUR 2016, 153. 11 Vgl. Sommermann, ZaöRV 2017, 321 (334 f.). 12 Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates, ABl. L 41, 2003, S. 26 ff. 13 Umweltinformationsgesetz (UIG), Neufassung bekannt gemacht am 27.10.2014, BGBl. I 2014, S. 1643–1648. 14 Vgl. zum UIG und seinem unionsrechtlichen sowie völkerrechtlichen Hintergrund Götze/Engel/Götze, UIG Kommentar, 2017, Einleitung, Rn. 1 ff. 15 Vgl. die Übersicht bei Götze/Engel/Götze, UIG Kommentar, 2017, Einleitung, Rn. 9 f. 16 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimm-
A. Das Erfüllungsverhalten der Vertragsparteien145
die Vorgaben der Aarhus-Konvention angepassten Richtlinien 2011/92/EU17 (UVP-Richtlinie) und 2010/75/EU18 (Industrieemissionen-Richtlinie) sowie die Richtlinien 2000/60/EG19 (Wasserrahmen-Richtlinie), 2001/42/EG20 (SUP-Richtlinie) und 2002/49/EG21 (Umgebungslärm-Richtlinie) der Umsetzung der Konvention. Keine EU-Vorgaben gibt es hingegen in Bezug auf die Umsetzung von Art. 7 S. 4 und Art. 8 Aarhus-Konvention. Dabei handelt es sich um die Öffentlichkeitsbeteiligung bei umweltbezogenen Politiken sowie während der Vorbereitung exekutiver Vorschriften und sonstiger allgemein anwendbarer rechtsverbindlicher Bestimmungen. Die dort von der Konvention gebrauchten Formulierungen („Jede Vertragspartei bemüht sich …“) sprechen nach allgemeiner Ansicht eher gegen konkretisierbare Rechtspflichten jenseits von bereits vielfach etablierten Mindeststandards.22 Weiterhin trifft die Verordnung (EG) Nr. 1367/200623 (Aarhus-Verordnung) Regelungen über die Öffentlichkeitsbeteiligung bei umweltbezogenen Plänen und Programmen der Europäischen Union. Aufgrund der zahlreichen denkbaren Fallkonstellationen in den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Rechts sind die Art. 6 bis 8 Aarhus-Konvention auch in Deutschland in vielen einzelnen Vorschriften umgesetzt. ter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/ EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten, ABl. L 156, 2003, S. 17 ff. 17 Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffent lichen und privaten Projekten, ABl. L 26, 2012, S. 1 ff. 18 Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) (Neufassung), ABl. L 334, 2010, S. 17 ff. 19 Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik, ABl. L 327, 2000, S. 1 ff. 20 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. L 197, 2001, S. 30 ff. 21 Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Juni 2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, ABl. L 189, 2002, S. 12 ff. 22 Vgl. Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Art. 7, Rn. 12 mit Verweis auf Scheyli, AVR 2000, 217 (240); vgl. Epiney/ Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Art. 8, Rn. 4, m. w. N. 23 Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft, ABl. L 264, 2006, S. 13 ff.
146 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
Hervorzuheben ist auch in Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben sicher das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG).24 Nicht bei allen dieser Vorschriften beginnt die Geschichte mit aus der Aarhus-Konvention erwachsenden Verpflichtungen. Schon vor mehr als 170 Jahren konnte die Allgemeinheit sich im Rahmen der preußischen Gewerbeordnung am Verfahren zur Genehmigung von Anlagen i. S. d. Immissionsschutzrechts beteiligen und ihr Recht auf Mitwirkung in bestimmten wasserrechtlichen Verfahren geltend machen.25 Die weitere Entwicklung von Vorschriften zur Öffentlichkeitsbeteiligung hing in Deutschland eng mit der Perspektive auf Staatlichkeit und Verwaltung insgesamt zusammen. Ausgehend von einer staatszentrierten Vorstellung, die den Hauptzweck der Öffentlichkeitsbeteiligung in der Information der Behörde sah, hat sich die Sichtweise durch die Mühlheim-Kärlich-Entscheidung26 des Bundesverfassungsgerichts seit dem Jahr 1979 gewandelt.27 Das Bundesverfassungsgericht hat der Öffentlichkeitsbeteiligung damals die zusätzliche Funktion eines vorgelagerten (Grund-)Rechtsschutzes zugewiesen.28 Überdies hat die Rechtswissenschaft Kontrolle und Transparenz sowie Akzeptanzbeschaffung als weitere Dimensionen der Öffentlichkeitsbeteiligung ergänzt.29 Da die Aarhus-Konvention mit ihren Vorschriften zur Öffentlichkeitsbeteiligung in den Art. 6 bis 8 funktional hauptsächlich auf die Rechtsstaatlichkeitsdimension rekurriert, kann daran rechtstheoretisch im Rahmen des deutschen Verständnisses von Öffentlichkeitsbeteiligung gut angeknüpft werden.30 Neben rechtswissenschaftlichen hatten auch politische Debatten ihre Wirkung auf die Öffentlichkeitsbeteiligung in Deutschland. Prägte die aus den 1990er Jahren herrührende Politik einer proklamierten Beschleunigung und Vereinfachung von Verwaltungsverfahren noch bis in die jüngere Zeit die Gesetzgebung im Sinne von Fristverkürzungen oder der Erweiterung von Präklusionsvorschriften, schlägt der Gesetzgeber angestoßen durch umstrit24 Vgl.
Schlacke/Schrader/Bunge/Bunge, Aarhus-Handbuch, 2019, § 2, Rn. 3. Schlacke/Schrader/Bunge/Bunge, Aarhus-Handbuch, 2019, § 2, Rn. 1. 26 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1979, 1 BvR 385/77 = BVerfGE 53, 30–96 – Mülheim-Kärlich. 27 Vgl. Fisahn, ZUR 2004, 136 (136 f.). 28 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1979, 1 BvR 385/77 = BVerfGE 53, 30–96 – Mülheim-Kärlich, Rn. 62 ff., insb. Rn. 66 ff.; vgl. dazu Fisahn, ZUR 2004, 136 (137). 29 Vgl. Fisahn, ZUR 2004, 136 (137) m. w. N. 30 Vgl. dazu und zu den weiteren aus der Aarhus-Konvention zur Öffentlichkeitsbeteiligung hervorgehenden Funktionszuschreibungen erneut Fisahn, ZUR 2004, 136 (137). Fisahn weist insbesondere auf eine pädagogische Funktion hin, die über die aus der deutschen Dogmatik hervorgehenden Funktionszuschreibungen hinausgeht. 25 Vgl.
A. Das Erfüllungsverhalten der Vertragsparteien147
tene Großvorhaben wie „Stuttgart 21“ seit einigen Jahren andere Töne an.31 Hiervon zeugen unter anderem §§ 12a ff. EnWG (Netzentwicklungs- und Bundesbedarfsplanung), § 9 NABEG (Bundesfachplanung für Höchstspannungsleitungen) sowie §§ 7 ff. StandAG (Planung und Zulassung eines Endlagers für hochradioaktive Abfälle).32
III. Rechtsschutz In Art. 9 Aarhus-Konvention (Zugang zu Gerichten) sind die Rechtsschutzgarantien in Umweltsachen niedergelegt. Die Umsetzung von Art. 9 Aarhus-Konvention hat in Spanien, Frankreich, Italien, Portugal sowie weiteren Staaten zu grundlegenden Reformanstrengungen geführt.33 Hervorzuheben ist weiterhin der Einfluss der Vorschrift auf die Debatte um unerschwinglich hohe Gerichtskosten (prohibitively expensive costs) innerhalb des Rechtssystems von England und Wales.34 Eine beachtliche Herausforderung stellte (und stellt immer noch) die Implementierung in das nationale Recht für diejenigen Staaten dar, die besondere subjektive Voraussetzungen an die Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Klage knüpfen.35 Das gilt insbesondere für Deutschland und Österreich, die über das Kriterium der Klagebefugnis dem Konzept der Verletztenklage anhängen.36 Demgegenüber stehen Frankreich und mit dieser zahlreiche weitere Rechtsordnungen, die über das Konzept der Interessentenklage niedrigschwelligere Klagevoraussetzungen etabliert haben, sodass es diesen entsprechend leichter fällt in Umsetzung der Aarhus-Konvention Klagerechte in Umweltsachen ohne Verletzung eigener Rechte für Einzelne und Umweltverbände zuzulassen.37 Die höchst unterschiedlichen Ausgangssituationen haben 31 Vgl.
Schlacke/Schrader/Bunge/Bunge, Aarhus-Handbuch, 2019, § 2, Rn. 14 f. Schlacke/Schrader/Bunge/Bunge, Aarhus-Handbuch, 2019, § 2, Rn. 15. 33 Vgl. Sommermann, ZaöRV 2017, 321 (335) m. w. N. 34 Dazu Ruddie, The Aarhus Convention in England and Wales, in: The Aarhus Convention – A Guide for UK Lawyers, 2015, S. 31 ff. 35 Vgl. zu den unterschiedlichen Rechtsschutzkonzeptionen grundlegend Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß, 1979, insb. S. 140 ff. 36 Vgl. zu den aktuell noch bestehenden Umsetzungsdefiziten und deren Vorgeschichte in Deutschland unter Bezugnahme auf die europäische Rechtslage Wegener, ZUR 2018, 217 und zu den Umsetzungsdefiziten in Österreich Hollaus, EurUP 2019, 169. 37 Vgl. zu der niedrigschwelligen Voraussetzung des französischen „intérêt pour agir“ im Vergleich zur deutschen Klagebefugnis Epiney/Sollberger, Zugang zu Gerichten und gerichtliche Kontrolle im Umweltrecht, 2002, S. 89 ff.; S. 156; vgl. außerdem den Rechtsvergleich zur Klagebefugnis vor den Verwaltungsgerichten zwischen Belgien, Deutschland, England und Wales, Frankreich, Ungarn, Italien, den Niederlanden, Polen, Schweden sowie der Türkei von Eliantonio/Backes/van Rhee/Spron32 Vgl.
148 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
zur Folge, dass Deutschland im Gegensatz zu anderen Staaten hinsichtlich des Rechtsschutzes in Umweltsachen weiterhin eine regelungstechnische Minimallösung forciert, die angetrieben durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs und Entscheidungen des ACCC in einer Art „Salamitaktik“ fortentwickelt wird.38 So sieht der deutsche Gesetzgeber davon ab ein grundständiges Klagerecht in Umweltsachen im Rahmen der bestehenden Verwaltungsgerichtsordnung zu normieren und hat stattdessen ein zusätzliches Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz39 (UmwRG) geschaffen, im Rahmen dessen weiter versucht wird die denkbaren Klage-Situationen numerisch zu erfassen.40 So progressiv demgegenüber der Europäische Gerichtshof durch seine Rechtsprechung die Umsetzung der Rechtsschutzgarantien der Aarhus-Konvention in den Mitgliedstaaten voran treibt,41 wird diesem bisweilen ein Messen mit zweierlei Maß vorgeworfen, wenn es um den Rechtsschutz gegen Unionshandeln vor den EU-Gerichten geht.42 Maßgebliche Rechtsgrundlagen auf Unionsebene sind Art. 263 Abs. 4 AEUV (Individualnichtigkeitsklage) und Art. 267 AEUV (Vorabentscheidungsverfahren) sowie die Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 (Aarhus-Verordnung). Diese stehen im Rahmen der ACCC-Entscheidung in der Sache ACCC/C/2008/32 (Part II) in der Kritik keine angemessene Umsetzung von Art. 9 Abs. 3 und 4 AarhusKonvention darzustellen.43
ken/Berlee, Standing up for your right(s) in Europe, 2012, S. 65 ff.; insb. S. 70, Abbildung 12. 38 Vgl. zu den Entwicklungen aus einer eher zurückhaltenden Perspektive Gärditz, NVwZ 2014, 1 ff.; vgl. demgegenüber für eine kritische Perspektive im Sinne des Verfassers Schlacke, NVwZ 2017, 905 ff. 39 Gesetz über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz – UmwRG), Bekanntmachung vom 23. August 2017, BGBl. I 2017, S. 3290–3294; zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 25. Februar 2021, BGBl. I 2021, S. 306–309. 40 Dazu Schlacke, NVwZ 2017, 912: „Darüber hinaus führt das sich in der Gesetzesbegründung [der Novelle des UmwRG von 2017] wie ein roter Faden durchziehende Ziel, das der sehr kontroversen politischen Debatte im Vorfeld geschuldet ist – lediglich eine 1:1-Umsetzung in deutsches Recht vorzunehmen, zu systematischen Inkohärenzen und Brüchen.“ und „Eine Überführung dieses Sonderverfahrens- und -prozessrechts in die grundlegenden Gesetze (VwVfG und VwGO) erscheint nicht nur aus Rechtsanwendungsperspektive, sondern auch zur Förderung der Rechtsklarheit und -kohärenz mehr als geboten.“ 41 Vgl. nur Klinger, NVwZ 2018, 225 und Wegener, ZUR 2018, 217 insbesondere zu EuGH, Urteil vom 20.12.2017, ECLI:EU:C:2017:987 – Protect. 42 Vgl. Berkemann, ZUR 2015, 221 (230); Ekardt, NVwZ 2015, 772 (774). 43 Vgl. Lutz/Sauer, EurUP 2018, 118 (123 ff.); dazu sogleich unten B. II.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 149
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konventionanhand der Entscheidungen des ACCC Als Vertragspartei und zugleich Zusammenschluss der meisten Vertragsstaaten der Aarhus-Konvention spielt die Europäische Union eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung der Konvention. Über das Instrument der Richtlinie sind die Mitgliedstaaten neben ihrer völkerrechtlichen Bindung auch unionsrechtlich zur Implementierung der Rechtsgarantien der AarhusKonvention verpflichtet. Mit ihren 27 von 47 Stimmen, die sie gem. Art. 11 Abs. 2 Aarhus-Konvention für die Mitgliedstaaten wahrnehmen kann, ist die Europäische Union weiterhin der politisch mächtigste Akteur bei den Tagungen der Vertragsparteien. Schließlich war die Europäische Union immer auch Orientierungspunkt für die Nicht-EU-Mitgliedstaaten Osteuropas, des Kaukasus und Zentralasiens, die durch die Umsetzung der Aarhus-Konvention über umweltpolitische Ziele hinaus mitunter ihre Bereitschaft zur Implementierung der demokratischen und rechtstaatlichen Standards westlicher Staaten demonstrieren wollten.44 Bisher gab es zwölf Verfahren nach Individualbeschwerden, die das Erfüllungsverhalten der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union adressierten, wovon in zehn Fällen Entscheidungen des ACCC in der Sache vorliegen.45 Das Verfahren ACCC/C/2008/32 sticht dabei besonders hervor.
I. Die Erfüllungsdefizite der Europäischen Union im Allgemeinen Von den zehn Individualbeschwerden, die das Erfüllungsverhalten der Europäischen Union inhaltlich untersuchten, kommen fünf zu dem Ergebnis, 44 Vgl.
Zaharchenko/Goldenman, IEAPLE 2004, 229 (insb. 232 f.). European Community (kein Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/C/2007/21 – European Community (kein Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/C/2008/32 (Part I) – European Union (noch kein Erfüllungsdefizit feststellbar, Vorwarnung), ACCC/C/2008/32 (Part II) – European Union (Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/C/2010/54 – European Union (Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/ C/2012/68 – European Union and United Kingdom (kein Erfüllungsdefizit der Europäischen Union festgestellt), ACCC/C/2012/72 – European Union (unzulässig), ACCC/C/2013/96 – European Union (Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/C/2014/ 101 – European Union (kein Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/C/2014/121 – European Union (Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/C/2014/123 – European Union (kein Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/C/2015/128 – European Union (Erfüllungsdefizit festgestellt), ACCC/C/2020/184 – United Kingdom and European Union (unzulässig). 45 ACCC/C/2006/17 –
150 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
dass Erfüllungsdefizite vorliegen. Im Verfahren ACCC/C/2008/32 (Part II) stellte das ACCC die Verletzung von Art. 9 Abs. 3 und 4 Aarhus-Konvention fest. Im Verfahren ACCC/C/2010/54 kam es zu dem Ergebnis, dass gegen Art. 7 und Art. 3 Abs. 1 Aarhus-Konvention verstoßen wurde. Verstöße gegen Art. 4 Abs. 2 Aarhus-Konvention, Art. 9 Abs. 1 S. 2 Aarhus-Konvention, Art. 7 i. V. m. Art. 6 Abs. 8 Aarhus-Konvention und Art. 3 Abs. 9 AarhusKonvention wurden im Rahmen des Verfahrens ACCC/C/2013/96 festgestellt. Weiterhin kam das ACCC im Verfahren ACCC/C/2014/121 zu dem Schluss, dass gegen Art. 6 Abs. 10 Aarhus-Konvention verstoßen wurde. Schließlich wurde im Rahmen der Individualbeschwerde ACCC/C/2015/128 ein Erfüllungsdefizit hinsichtlich Art. 9 Abs. 3 und 4 Aarhus-Konvention festgestellt.
II. Der Fall ACCC/C/2008/32 Im Rahmen des Falles ACCC/C/2008/32 hat das ACCC seine Entscheidungsfindung in zwei Teile (Part I und II) gegliedert. Dabei haben die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC zu Part II in Bezug auf den durch die Europäische Union gewährten Rechtsschutz in Umweltsachen für ungewöhnlich große Resonanz gesorgt.46 Der Fall ermöglicht tiefe Einblicke in die Funktionsweise und das Selbstverständnis des Rechtsschutzsystems der Europäischen Union und hat dieselbe vor große Herausforderungen gestellt. In diesem Kontext hat das ACCC zuletzt auch auf seine jüngsten Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen zu Individualbeschwerde ACCC/ C/2015/128 hingewiesen.47 1. Das Verfahren vor dem ACCC Das ACCC hatte in Fall ACCC/C/2008/32 über eine Beschwerde der Umwelt-NGO ClientEarth zu beraten.48 Die NGO brachte vor, dass das Recht der Europäischen Union den Anforderungen der Aarhus-Konvention in 46 Vgl. Pánovics, PJIEL 2017/II, 6; besonders hervorzuheben ist der Beitrag der im deutschen Bundesumweltministerium mit der Aarhus-Konvention befassten Lutz/ Sauer, EurUP 2018, 118 (123 ff.), auf deren Bericht zur 6. Tagung der Vertragsparteien die anfänglichen Ausführungen (1. und 2.) maßgeblich Bezug nehmen; vgl. überdies Krämer, EurUP 2019, 17 (28 f.); die Ereignisse um Fall 32 aus politikwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet Berny, Environmental Politics 2018, 757; siehe darüber hinaus Zeitner, EurUP 2019, 159 (165 ff.). 47 Siehe dazu an der entsprechenden Stelle unten 5. d). 48 Vgl. den Beschwerde-Schriftsatz vom 01.12.2008, abrufbar unter https://www. unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/C2008-32/communication/Communi cation.pdf, abgerufen am 26.08.2021.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 151
Bezug auf den Rechtsschutz in Umweltsachen vor den Unionsgerichten nicht gerecht werde.49 Insbesondere sei Art. 263 Abs. 4 AEUV (Individualnichtigkeitsklage) – damals noch: Art. 230 Abs. 4 EGV – mit seiner Voraussetzung der „individuellen Betroffenheit“, wie sie der Europäische Gerichtshof nach der bekannten „Plaumann-Formel“50 auslegt, zu eng gefasst. Weiterhin sei die europarechtliche Umsetzung der Aarhus-Konvention in der gegenwärtigen Form der Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 (Aarhus-Verordnung) nur ungenügend erfolgt. Aufgrund eines damals noch anhängigen Verfahrens zum letztgenannten Gesichtspunkt in der Rechtssache „Stichting Milieu“51 vor den europäischen Gerichten nahm das ACCC eine Verfahrensteilung52 vor und äußerte sich zunächst vorläufig zur Rechtmäßigkeit von Art. 263 Abs. 4 AEUV und dessen gegenwärtiger Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof. In seinen Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen (findings and recommendations) in der Sache ACCC/C/2008/32 (Part I) vom 14.04.2011 richtete das ACCC eine Warnung an die Europäische Union: Sollte diese die gegenwärtige, restriktive Ausgestaltung der Rechtsschutzmöglichkeiten beibehalten, verstieße sie gegen die Vorgaben von Art. 9 Abs. 3 und 4 Aarhus-Konvention.53 49 Vgl. zur gesamten Argumentation von ClientEarth deren Schriftsatz, vorstehende Fn. 48, S. 2 ff. 50 Vgl. EuGH, Urteil vom 15.07.1963, ECLI:EU:C:1963:17, Slg. 1963, S. 238 – Plaumann: „Wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, kann nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten.“; vgl. für eine kritische Rezeption der „PlaumannFormel“ Kottmann, ZaöRV 2010, 547; Wegener, ZUR 2018, 217; beide (Kottmann: S. 554 ff.; S. 558; Wegener: S. 219) auch bezugnehmend auf die internen kritischen Stimmen, d. h. seitens Generalanwalt Jacobs in dessen Schlussanträgen vom 21.03.2002 zu EuGH, Rs. C-50/00 P, ECLI:EU:C:2002:197, Rn. 59–60; Rn. 102 sowie aus den Reihen des Gerichts der Europäischen Union in EuG, Urteil vom 03.05.2002, ECLI:EU:T:2002:112, Rn. 51; ablehnend EuGH, Urteil vom 25.07.2002, ECLI:EU:C:2002:462, Rn. 36 f. sowie EuGH, Urteil vom 01.04.2004, ECLI:EU:C: 2004:210, Rn. 45 ff. 51 Siehe Rechtssache T-338/08 – Stichting Natuur en Milieu und Pesticide Action Network Europe/Kommission, vgl. EuG, Urteil vom 14.06.2012, ECLI:EU:T:2012:300, sowie das Rechtsmittel-Verfahren Rechtssache C-404/12 P – Rat und Kommission/ Stichting Natuur en Milieu und Pesticide Action Network Europe, vgl. EuGH, Urteil vom 13.01.2015, ECLI:EU:C:2015:5. 52 Vgl. zur Verfahrensteilung die Mitteilung des Sekretariats an die Beteiligten vom 28.08.2009, abrufbar unter https://www.unece.org/DAM/env/pp/compliance/ C2008-32/correspondence/toC-32partiesconcernedRedeferral2009.08.28.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 53 Vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to communication ACCC/C/2008/32 (Part I) concerning compliance by the European Union, ECE/
152 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
Nachdem der Europäische Gerichtshof im Rahmen seiner Beurteilung der Rechtssache „Stichting Milieu“ nicht auf die Vereinbarkeit der Aarhus-Verordnung mit der Aarhus-Konvention eingegangen war, beschloss das ACCC nach erneuten Konsultationen am 17.03.2017 seine endgültigen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen in der Sache ACCC/C/2008/32 (Part II).54 Es kam zu dem Ergebnis, dass sich insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs seither nicht geändert habe und dass die Rechtsgarantien der Aarhus-Konvention sich nur in unzureichendem Maß in der AarhusVerordnung wiederfänden.55 Daher verstoße die Europäische Union gegen Art. 9 Abs. 3 und 4 Aarhus-Konvention.56 Als Maßnahmen regte das ACCC eine Änderung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bzw. eine Anpassung des EU-Sekundärrechts an.57 2. Das Verfahren anlässlich der 6. Tagung der Vertragsparteien Die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC zu Rechtssache ACCC/C/2008/32 (Part II) wurden der Tagung der Vertragsparteien vorgelegt, die im September 2017 zum sechsten Mal zusammenkam und diesbezüglich beriet.58 Es war getreu dem partnerschaftlichen Charakter des Verfahrens bis dahin übliche Praxis gewesen, dass die Vorlagen des ACCC im Konsens aller Vertragsparteien angenommen werden.59 Die Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien sieht in Regel 35 eine solche KonsensMP.PP/C.1/2011/4/Add.1, 14.04.2011, Ziff. 94; da kein Verstoß der Europäischen Union festgestellt wurde, erfolgte seitens der 5. Tagung der Vertragsparteien lediglich eine Kenntnisnahme, vgl. MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties – Addendum, Decisions adopted by the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2014/2/Add.1, 30.06./01.07.2014, S. 51 ff. – Decision V/9, Ziff. 10. 54 Vgl. ACCC, Findings and recommendations of the Compliance Committee with regard to communication ACCC/C/2008/32 (Part II) concerning compliance by the European Union, ECE/MP.PP/C.1/2017/7, 17.03.2017. 55 Vgl. ACCC, Findings and recommendations of the Compliance Committee with regard to communication ACCC/C/2008/32 (Part II) concerning compliance by the European Union, ECE/MP.PP/C.1/2017/7, 17.03.2017, Ziff. 121. 56 Vgl. ACCC, Findings and recommendations of the Compliance Committee with regard to communication ACCC/C/2008/32 (Part II) concerning compliance by the European Union, ECE/MP.PP/C.1/2017/7, 17.03.2017, Ziff. 122. 57 Vgl. ACCC, Findings and recommendations of the Compliance Committee with regard to communication ACCC/C/2008/32 (Part II) concerning compliance by the European Union, ECE/MP.PP/C.1/2017/7, 17.03.2017, Ziff. 123. 58 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 55 ff. 59 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 58 ff.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 153
entscheidung als oberstes Ziel vor.60 Die Beratungen der Tagung der Vertragsparteien zum Entscheidungsentwurf61 zu Rechtssache ACCC/C/2008/32 (Part II) bilden demgegenüber eine beachtliche Zäsur. Die Europäische Union war mit dem Entscheidungsentwurf nicht einverstanden und zog es vor der Tagung einen Alternativvorschlag zu unterbreiten, nach dem die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC in Bezug auf das Erfüllungsverhalten der Europäischen Union lediglich „zur Kenntnis genommen“ hätten werden sollen.62 Konsensfähig war dieser Vorschlag der Europäischen Union nicht. Die Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien bestimmt in Regel 35, dass in solchen Fällen der Uneinigkeit ausnahmsweise eine ¾-Mehrheit für einen Beschluss genügt.63 Die Europäische Union hätte allerdings bei 28 von 47 Stimmen eine solche Mehrheit nicht aufbringen können.64 Umgekehrt hätte sie jedoch bei entsprechender Einigkeit auch jeden anderen, für sie negativen Beschluss verhindern können.65 So setzte man auf eingehende Verhandlungen, die letztendlich einstimmig darin mündeten, die Beschlussfassung auf die nächste Tagung der Vertragsparteien im Jahr 2021 zu vertagen, in der Hoffnung, dass die Europäische Union dann einlenken würde.66 Diese erklärte ihrerseits, weiterhin nach Wegen und Maßnahmen zu suchen, wie sie ihre Rechtsordnung in Einklang mit der Aarhus-Konvention bringen könne, ohne gleichzeitig fundamentale Unionsrechtsprinzipien sowie das unionale System der gerichtlichen Überprüfung zu beeinträchtigen.67
60 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/1 – Rules of Procedure, ECE/MP.PP/2/Add.2, 2002/2004, Annex. 61 Bureau/MoP VI (Aarhus-Konvention), Draft decision VI/8f concerning compliance by the European Union with its obligations under the Convention, ECE/MP. PP/2017/25, 2017. 62 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 55. 63 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/1 – Rules of Procedure, ECE/MP.PP/2/Add.2, 2002/2004, Annex. 64 Vgl. dazu auch Lutz/Sauer, EurUP 2018, 118 (126). 65 Ebd. 66 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 62. 67 Ebd.
154 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
3. Die weitere Umsetzung der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC Mit der Begleitung der Umsetzung der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen zu Individualbeschwerde ACCC/C/2008/32 (Part II) hat die 6. Tagung der Vertragsparteien das ACCC unter dem Vorgang ACCC/M/2017/3 (Europäische Union) beauftragt.68 Im Rahmen dieses Auftrags überwacht das ACCC zudem die bislang defizitäre Umsetzung von Entscheidung V/9g zu Individualbeschwerde ACCC/C/2010/54.69 Damit steht das Erfüllungsverhalten der Europäischen Union seit 2017 insgesamt im besonderen Fokus der Tätigkeit des ACCC. Ihrer Versicherung entsprechend, sie werde weiterhin nach Wegen und Maßnahmen suchen die EU-Rechtsordnung in Einklang mit den Rechtsschutzgarantien der Aarhus-Konvention zu bringen, hat die Europäische Kommission eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, auf deren Grundlage die 2019 neu gebildete Kommission über die weiteren Maßnahmen entscheiden sollte.70 In seinem Beschluss vom 18.06.2018 hat der Rat die Europäische Kommission aufgefordert, einen Rechtssetzungsvorschlag bis 30.09.2020 vorzulegen oder ihn über andere Maßnahmen zu unterrichten, die infolge der Studie erforderlich werden.71 Am 28.10.2019 hat die Europäische Union ihren zweiten Fortschrittsbericht zur Umsetzung der Empfehlungen des ACCC in den Fällen ACCC/ C/2010/54 (Entscheidung V/9g) und ACCC/C/2008/32 (Part II) vorgelegt.72 Teil des Fortschrittsberichts der Europäischen Union war auch jene Studie, die der Europäischen Kommission als Entscheidungsgrundlage dienen sollte. Dort wurden verschiedene Szenarien von der Beibehaltung des Status quo bis hin zu einer Kombination aus verschiedenen nicht-legislativen und legis68 Vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Excerpt from the report of the sixth session of the Meeting of the Parties (ECE/MP.PP/2017/2), 2017, insb. Ziff. 63, abrufbar unter https://unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/compliance/Requests_from_the_MOP/ ACCC-M-2017-3_European_Union/M3_EU_extracts_from_MOP_report.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 69 Ebd.; siehe zum Ganzen die elektronische Verfahrensakte des ACCC zu Vorgang ACCC/M/2017/3 (Europäische Union) unter https://www.unece.org/?id=48110, aufgerufen am 26.08.2021. 70 Vgl. Beschluss (EU) des Rates vom 18. Juni 2018, ABl. L 155, 2018, S. 6 f., Art. 1 sowie Europäische Kommission, Roadmap, Ref. Ares(2018)2432060 – 08/05/2018, S. 3. 71 Vgl. Beschluss (EU) des Rates vom 18. Juni 2018, ABl. L 155, 2018, S. 6 f., Art. 2 Abs. 1. 72 Siehe für diesen Bericht und weitere Unterlagen die elektronische Verfahrensakte des ACCC, obige Fn. 69.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 155
lativen Maßnahmen vorgestellt.73 Die Studie empfahl keines der untersuchten Szenarien ausdrücklich, beschrieb jedoch diejenigen Konstellationen als am vorteilhaftesten, die nicht-legislative und legislative Maßnahmen kombinieren.74 Ihren dritten und letzten Fortschrittsbericht zur Umsetzung der Empfehlungen des ACCC in Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) hat die Europäische Union am 30.09.2020 vorgelegt.75 Darüber hinaus hat die Europäische Union dem ACCC am 14.10.2020 einen Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Aarhus-Verordnung vorgestellt.76 Zu den im Rahmen der Fortschrittsberichte präsentierten Strategien hat das ACCC am 12.02.2021 eine ausführliche Einschätzung veröffentlicht.77 4. Der Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Aarhus-Verordnung Im Rahmen des Entwurfs zur Änderung der Aarhus-Verordnung (VOEntwurf) wird versucht die Vereinbarkeit mit den nach Ansicht des ACCC verletzten Art. 9 Abs. 3 und 4 Aarhus-Konvention über eine Anpassung des sog. „internen Überprüfungsverfahrens“ herzustellen. Dieses Verfahren, das in Art. 10 Aarhus-VO geregelt ist, ermöglichte es nach Art. 11 Aarhus-VO antragsberechtigten Umweltverbänden auch bisher im Falle des Verdachts eines Verstoßes gegen umweltschützende Vorschriften eine interne Überprüfung bei dem Organ oder der Einrichtung der Europäi73 Vgl. Milieu Consulting Sprl, Study on EU implementation of the Aarhus Convention in the area of access to justice in environmental matters, September 2019, Ref. Ares(2019)6088660 – 02/10/2019. 74 Vgl. Milieu Consulting Sprl, Study on EU implementation of the Aarhus Convention in the area of access to justice in environmental matters, September 2019, Ref. Ares(2019)6088660 – 02/10/2019, S. 257. 75 Siehe für diesen Bericht und weitere Unterlagen erneut die elektronische Verfahrensakte des ACCC, obige Fn. 69. 76 Der Entwurf der Europäischen Kommission mit dem Az. COM(2020) 642 final – 2020/0289 (COD) ist abrufbar unter https://unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/ compliance/Requests_from_the_MOP/ACCC-M-2017-3_European_Union/Correspon dence_with_the_Party_concerned/frPartyM3_14.10.2020/frPartyM3_14.10.2020_ att1_legislative_proposal.pdf, abgerufen am 26.08.2021; die anschließend vorgelegte Verhandlungsposition des Rates vom 17./18.12.2020 ist abrufbar unter https://unece. org/sites/default/files/2020-12/frPartyM3_19.12.2020_Council’s%20general%20ap proach.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 77 ACCC, Advice by the Aarhus Convention Compliance Committee to the European Union concerning the implementation of request ACCC/M/2017/3, 12.02.2021, abrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2021-02/M3_EU_advice_12.02. 2021.pdf, abgerufen am 26.08.2021.
156 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
schen Union anzustrengen, das bzw. die den entsprechenden „Verwaltungsakt“ erlassen hat. Nach Art. 12 Aarhus-VO kann der antragstellende Umweltverband gemäß den „einschlägigen Bestimmungen des Vertrags“, gemeint sind wohl Art. 263 Abs. 4 AEUV und Art. 265 Abs. 3 AEUV, Klage vor dem Gerichtshof erheben. Exkurs: Das Klageverfahren nach Art. 12 Aarhus-VO An dieser Stelle ist die Verordnung vage formuliert. In Art. 12 Abs. 2 Aarhus-VO ist geregelt, dass die Nichtregierungsorganisation bei nicht erfolgter Antwort der unionalen Stelle nach Art. 10 Abs. 2 und 3 Aarhus-VO Klage vor dem Gerichtshof erheben kann. Demgegenüber viel allgemeiner regelt Art. 12 Abs. 1 Aarhus-VO sogar, dass die Nichtregierungsorganisation, die den Antrag auf interne Überprüfung nach Art. 10 Aarhus-VO gestellt hat, gemäß den „einschlägigen Bestimmungen des Vertrags Klage vor dem Gerichtshof erheben“ kann. Damit bleibt unklar, welchen „Übersetzungsmechanismus“ es zwischen der Aarhus-VO und den Klagemöglichkeiten des AEUV gibt. Eine Auffassung (Schlacke und Römling) geht davon aus, dass die nichtabhelfende Institution der Europäischen Union im Rahmen des internen Überprüfungsmechanismus eine abschlägige Antwort erteilt.78 Der betreffende Umweltverband könne dann eine Individualnichtigkeitsklage gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV mit dem Ziel anstrengen, dass die abschlägige Antwort für nichtig erklärt wird.79 Die Klagebefugnis ergebe sich aus Art. 263 Abs. 4 Var. 1 AEUV.80 Die Vorgehensweise beseitige zwar nicht den im Rahmen des internen Überprüfungsmechanismus angegriffenen Verwaltungsakt, verpflichte die verurteilte Institution der Europäischen Union jedoch gem. Art. 266 Abs. 1 AEUV die sich aus dem Nichtigkeitsurteil „ergebenden Maßnahmen zu ergreifen“.81 Erteile die Institution der Europäischen Union im Rahmen der Fristen des internen Überprüfungsmechanismus keine Antwort, bestehe nach erneuter Fristsetzung die Möglichkeit einer Untätigkeitsklage nach Art. 265 Abs. 3 AEUV mit dem Ziel die rechtswidrige Untätigkeit der betreffenden Institution festzustellen.82 Diese Auffassung ist im Kontext der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Beihilfenaufsicht und anderen Rechtsgebieten zu betrachten. Geht man von einer Übertragbarkeit der heute diesbezüglich vorherrschenden, engen Handhabung der Voraussetzungen der Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4
78 Schlacke/Schrader/Bunge/Schlacke/Römling, Aarhus-Handbuch, 2019, Rn. 233. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Schlacke/Schrader/Bunge/Schlacke/Römling, Aarhus-Handbuch, 2019, Rn. 234. 82 Schlacke/Schrader/Bunge/Schlacke/Römling, Aarhus-Handbuch, 2019, Rn. 235 f.
§ 3,
§ 3, § 3,
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 157 AEUV aus, erscheint zumindest fraglich, ob die Auffassung von Schlacke und Römling auf die Gunst der Rechtsprechung treffen wird. Wie im Rahmen der Aarhus-VO existieren in diesen Rechtsgebieten Verwaltungsverfahren, in deren Rahmen natürliche und juristische Personen in unterschiedlicher Weise zu Beteiligten werden können. Fraglich ist auch hier, inwiefern diese Beteiligten des Verwaltungsverfahrens später nach Art. 263 Abs. 4 AEUV eine Individualnichtigkeitsklage erheben können. Während die Rechtsprechung früher einen großzügigeren Maßstab an eine hinreichende Individualisierung durch eine Beteiligung am Verwaltungsverfahren angenommen hat, ist seitdem eine restriktivere Handhabung beobachtet worden, welche unter Hinzuziehung diverser Kriterien (z. B. spürbare Beeinträchtigung der Marktstellung des klagenden Unternehmens, Beschränkung des Kontrollmaßstabs auf Beteiligungsrechte im Verwaltungsverfahren) einen engen Maßstab an die Klagebefugnis des Verfahrensbeteiligten anlegt.83 Eine Adressateneigenschaft besitzt jedenfalls nur der jeweils betroffene Mitgliedstaat.84 Die in der Normenhierarchie und den unterschiedlichen Normgebern begründete Tatsache, dass die Aarhus-VO als sekundärrechtliche Norm die durch das Primärrecht (und die Rechtsprechung) vorgegebenen Voraussetzungen von Art. 263 Abs. 4 AEUV nicht modifizieren darf, führt in Art. 12 Aarhus-VO mithin zu einer sprachlichen Zurückhaltung, die ein „Ziel“ vorwegnimmt, wo ein tragfähiger „Weg“ bislang noch nicht sichtbar ist.
Umstritten ist an der bisher geltenden Fassung der Aarhus-VO zunächst der Begriff des „Verwaltungsakts“.85 Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention spricht lediglich von „Handlungen“ und „Unterlassungen“, die gegen umweltbezogene Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts verstoßen. Demgegenüber stellt der Begriff des „Verwaltungsakts“ höhere Anforderungen an die Rechtsqualität des zu überprüfenden Sachverhalts. Problematisch ist dabei insbesondere die hinreichende Einzelfallbezogenheit eines „Verwaltungsakts“. Anders als das Gericht der Europäischen Union war der Europäische Gerichtshof darüber hinaus bisher der Meinung, dass nicht davon auszugehen 83 Siehe Calliess/Ruffert/Cremer, EUV/AEUV Kommentar, 2016, Art. 263 AEUV, Rn. 42 unter Bezugnahme insbesondere auf EuGH, Urteil vom 23.05.2000, C-106/98 P, ECLI:EU:C:2000:277, Rn. 41 sowie EuGH, Urteil vom 02.04.1998, C-367/95 P, ECLI:EU:C:1998:154, Rn. 47 f. und EuG, Beschluss vom 04.06.2012, T-381/11, ECLI:EU:T:2012:273, Rn. 34 f. 84 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, Das Recht der Europäischen Union, 2021 (72. EL), Art. 263 AEUV, Rn. 58 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 02.04.1998, C-367/95 P, ECLI:EU:C:1998:154, Rn. 45 f. und EuG, Beschluss vom 11.01.2012, T-58/10, ECLI:EU:T:2012:3, Rn. 25 f. 85 Vgl. zum umstrittenen Tatbestandsmerkmal „Regelung eines Einzelfalls“ EuGH, Urteil vom 13.01.2015, C-401/12 P bis C-403/12 P, ECLI:EU:C:2015:4 sowie EuGH, Urteil vom 13.01.2015, C-404/12 P und C-405/12 P, ECLI:EU:C:2015:5; vgl. zu den Tatbestandsmerkmalen „Maßnahme des Umweltrechts“ und „rechtsverbind liche Maßnahme mit Außenwirkung“ EuG, Urteil vom 27.01.2021, T-9/19, ECLI: EU:T:2021:42.
158 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
sei, dass der Unionsgesetzgeber durch Art. 10 Aarhus-VO („Verwaltungsakt“) die Bestimmung des Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention („Handlungen“ und „Unterlassungen“) umsetzen wolle.86 Daher lehnte der Europäische Gerichtshof eine Auslegung des Begriffs „Verwaltungsakt“ im Lichte von Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention bisher ab. Der VO-Entwurf hält am Begriff des „Verwaltungsakts“ fest, ändert jedoch dessen Definition in grundlegender Weise. Die gegenwärtige Definition nach Art. 2 Abs. 1 lit. g) Aarhus-VO lautet: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck […] ‚Verwaltungsakt‘ jede Maßnahme des Umweltrechts zur Regelung eines Einzelfalls, die von einem Organ oder einer Einrichtung der Gemeinschaft getroffen wird, rechtsverbindlich ist und Außenwirkung hat.“
Die vorgeschlagene Definition des VO-Entwurfs formuliert: „ ‚administrative act‘ means any non-legislative act adopted by a Union institution or body, which has legally binding and external effects and contains provisions that may, because of their effects, contravene environmental law within the meaning of point (f) of Article 2(1), excepting those provisions of this act for which Union law explicitly requires implementing measures at Union or national level“.
Durch die geänderte Fassung wird mithin auf das Tatbestandsmerkmal einer Einzelfallregelung verzichtet. Weiterhin sieht der VO-Entwurf vor, dass eine Anpassung hinsichtlich der materiell-rechtlichen Anforderungen an den entsprechenden Sachverhalt vorgenommen wird. Musste der „Verwaltungsakt“ vormals eine „Maßnahme des Umweltrechts“ sein, soll nunmehr jeder Akt überprüfbar sein, der möglicherweise „Umweltrecht zuwiderläuft“. Auch nicht-legislative Maßnahmen auf einer Vorstufe, die dem im Rahmen der internen Überprüfung angegriffenen Akt zugrunde liegen, sollen inzident überprüfbar sein. Schließlich wurden die geltenden Fristen jeweils um 2 bis 4 Wochen verlängert. Der Antrag auf interne Überprüfung soll nun 8 statt 6 Wochen nach dem maßgeblichen Zeitpunkt gestellt werden können. Die Stellungnahme des betroffenen Organs oder der betroffenen Einrichtung soll bis 16 statt vormals 86 Vgl. EuGH, Urteil vom 13.01.2015, C-401/12 P bis C-403/12 P, ECLI: EU:C:2015:4, Rn. 60 sowie EuGH, Urteil vom 13.01.2015, C-404/12 P und C-405/12 P, ECLI:EU:C:2015:5, Rn. 52; siehe dazu Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, AarhusKonvention Handkommentar, 2018, Art. 9, Rn. 36 m. w. N. sowie Schlacke/Schrader/ Bunge/Bunge, Aarhus-Handbuch, 2019, Einleitung, Rn. 6; vgl. außerdem die jüngste Einschätzung des ACCC, Advice by the Aarhus Convention Compliance Committee to the European Union concerning the implementation of request ACCC/M/2017/3, 12.02.2021, Ziff. 23 (b) (i), abrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2021-02/ M3_EU_advice_12.02.2021.pdf, abgerufen am 26.08.2021.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 159
12 Wochen erfolgen. Die Maximalfrist für eine Antwort des Organs oder der Einrichtung soll nunmehr 22 statt 18 Wochen ab Eingang des Antrags betragen. 5. Die Einschätzung des ACCC Das ACCC begrüßte im Rahmen seiner Einschätzung die erzielten Fortschritte, machte jedoch auch deutlich, dass der VO-Entwurf dessen Erkenntnissen im Rahmen von Individualbeschwerde ACCC/C/2008/32 (Part II) noch nicht genüge: a) Weiterhin keine Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne Das ACCC wiederholte seine vormalige Feststellung, dass hinsichtlich der weiterhin durch den Europäischen Gerichtshof genutzten „Plaumann-Formel“ keine Rechtsprechungsänderung im Rahmen von Art. 263 Abs. 4 AEUV ersichtlich sei.87 Hinsichtlich der durch die Aarhus-Konvention geforderten Überprüfungsmöglichkeit Einzelner führe auch der nun vorliegende Entwurf zur Änderung der Aarhus-VO zu keiner Ausräumung der Defizite, da weiterhin nur Umweltverbände beschwerdeberechtigt seien.88 Dabei weist das ACCC darauf hin, dass zur Vermeidung einer möglicherweise gefürchteten Popularklage auch das Modell einer Interessentenklage hätte gewählt werden können, welches im Einklang mit den Vorschriften der Aarhus-Konvention stünde.89 b) Anfechtbarkeit von Akten ohne rechtlich „bindende“ Wirkung In Bezug auf die neue Definition eines „Verwaltungsakts“ begrüßt das ACCC, dass die Europäische Union vom Kriterium der Einzelfallregelung abgerückt ist.90 Auch in Bezug auf die weite Fassung der Definition als Akt, der nunmehr lediglich „Umweltrecht zuwiderlaufen“ können muss, äußert sich das ACCC lobend.91 Vage Bedenken nennt das ACCC bezüglich der Anforderung, dass es sich bei dem angreifbaren Akt nur um einen solchen handeln soll, der durch eine Unionsinstitution oder eine Unionsbehörde „an87 ACCC, Advice by the Aarhus Convention Compliance Committee to the European Union concerning the implementation of request ACCC/M/2017/3, 12.02.2021, Ziff. 37 f. 88 Ebd., Ziff. 38; 41 f. 89 Ebd., Ziff. 39 f. 90 Ebd., Ziff. 43. 91 Ebd., Ziff. 44.
160 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
genommen“ wurde, insofern dies zu einer zusätzlichen Beschränkung der Beschwerdemöglichkeit führt.92 Der Hauptkritikpunkt des ACCC an der neuen Definition eines „Verwaltungsakts“ ist jedoch, dass die Definition nur rechtlich „bindende“ Handlungen mit Außenwirkung umfassen soll. Eine Beschränkung auf rechtlich „bindende“ Handlungen berge das Potential in sich bestimmte, nicht mit der Aarhus-Konvention zu vereinbarende Anfor derungen an eine solche Bindungswirkung zu stellen.93 Das ACCC fordert daher dazu auf die Formulierung dahingehend zu ändern, dass der in Rede stehende Akt lediglich „rechtliche Wirkungen“ entfalten und Außenwirkung haben müsse.94 c) Keine Ausnahme für umsetzungsbedürftige „Verwaltungsakte“ Überdies hält das ACCC die beabsichtigte Regelung, die vorsieht, dass umsetzungsbedürftige Teile von „Verwaltungsakten“ von einer internen Überprüfung ausgenommen sein sollen, für konventionswidrig.95 Dies gelte nicht für solche Akte, die einer Umsetzung auf unionaler Ebene bedürfen, denn hier sei bezüglich der umsetzungsbedürftigen Teilbestimmungen eine inzidente, interne Überprüfung auf unionaler Ebene im Einklang mit den Konventionsbestimmungen weiterhin möglich.96 Anders sei dies in Bezug auf jene Akte zu bewerten, die einer Umsetzung auf mitgliedstaatlicher Ebene bedürfen. Das ACCC betonte in diesem Kontext erneut, dass das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV nicht den Anforderungen von Art. 9 Aarhus-Konvention entspreche.97 Für diejenigen Akte der Europäi schen Union, die durch die Mitgliedstaaten umzusetzen sind, bedürfe es einer unmittelbaren Überprüfungsmöglichkeit auf Ebene der Europäischen Union.98 d) Fall ACCC/C/2015/128 Schließlich weist das ACCC auf seine jüngsten Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen zu Individualbeschwerde ACCC/C/2015/128 hin, die ebenso im Kontext des aktuellen Gesetzgebungsverfahrens zur Änderung der 92 Ebd., 93 Ebd., 94 Ebd., 95 Ebd., 96 Ebd., 97 Ebd., 98 Ebd.,
Ziff. 46. Ziff. 47 ff.; 52. Ziff. 55. Ziff. 59 ff. Ziff. 57 f. Ziff. 67. Ziff. 67 f.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 161
Aarhus-VO zu berücksichtigen seien.99 Die kürzlich veröffentlichte Entscheidung erklärt die Ausnahmeregelung des Art. 2 Abs. 2 lit. a) Aarhus-VO, welche den Bereich der Beihilfenkontrolle aus dem Anwendungsbereich des internen Überprüfungsverfahrens herausnimmt, für konventionswidrig (Art. 9 Abs. 3 und 4 Aarhus-Konvention), insoweit dadurch Entscheidungen der Europäischen Kommission nach Art. 108 Abs. 2 AEUV, welche den europarechtlichen Vorschriften mit Umweltbezug zuwiderlaufen, nicht überprüfbar sind.100 6. Rechtliche Zwischenbewertung Der VO-Entwurf enthält auch aus Sicht des ACCC Verbesserungen gegenüber dem Status quo (Streichung der Tatbestandsmerkmale „Maßnahme des Umweltrechts“ und „Regelung eines Einzelfalls“), jedoch bleiben sehr wichtige – und gleichzeitig unionsverfassungsrechtlich sehr sensible – Gesichtspunkte ungelöst. Dabei handelt es sich um die mangelnde Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne und die Ausnahmeregelung für seitens der Mitgliedstaaten umsetzungsbedürftige Unionsakte. Diese beiden Gesichtspunkte tangieren zwei unionsverfassungsrechtlich zwingende Säulen der unionalen Rechtsschutz-Architektur. Dies ist im Fall der geforderten Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne die in Art. 263 Abs. 4 AEUV verankerte, eingeschränkte Klagebefugnis im Rahmen der Individualnichtigkeitsklage sowie im Fall der genannten Ausnahmeregelung das in Art. 267 AEUV verbürgte Vorabent scheidungsverfahren und die in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bestehende Eigenschaft der mitgliedstaatlichen Gerichte als „ordentliche Unionsgerichte“.101 a) Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 AEUV Würde die Antragsberechtigung nach Art. 10 Aarhus-VO von Nichtregierungsorganisationen auf Einzelne erweitert, so könnten diese über Art. 12 Aarhus-VO Individualnichtigkeitsklagen gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV vor 99 Ebd.,
Ziff. 69 f. Findings and recommendations with regard to communication ACCC/C/2015/128 concerning compliance by the European Union (Advance unedited), 17.03.2021, Ziff. 131. 101 Siehe zur Qualifikation der mitgliedstaatlichen Gerichte als „ordentliche Unionsgerichte“ EuGH, Gutachten 1/09 vom 08.03.2011, ECLI:EU:C:2011:123, Rn. 80 – Patentgericht; siehe außerdem die bereits oben (Fn. 50) zitierten Entscheidungen des EuGH, Urteil vom 25.07.2002, ECLI:EU:C:2002:462, Rn. 41 f. sowie EuGH, Urteil vom 01.04.2004, ECLI:EU:C:2004:210, Rn. 31 f.; siehe zu den nationalen Gerichten und der Durchsetzung des EU-Rechts insgesamt Terhechte, EuR 2020, 569. 100 ACCC,
162 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
dem Europäischen Gerichtshof erheben.102 Dabei steht jedoch eine Umgehung der bisherigen Rechtsprechung i. S. d. „Plaumann-Formel“103 im Raum, die in Auslegung des Primärrechts hohe Hürden für Klagen Einzelner setzt. Die Einführung einer solchen Klagemöglichkeit über die Aarhus-VO, d. h. das Sekundärrecht, verstieße mithin unter zwei Gesichtspunkten gegen Unionsverfassungsrecht. Zum einen würde die Vorschrift, wie sie sich das ACCC wünscht, in materieller Hinsicht gegen das Primärrecht im Sinne seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof verstoßen. Zum anderen handelt es sich um eine geforderte Rechtsänderung, die die Europäische Kommission nicht herbeiführen darf, da sie weder allein – noch im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens – dazu im Stande ist das Primärrecht zu ändern. Der in Rede stehende Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention, welchen das ACCC auslegt, stellt allerdings die Anforderung, dass für Einzelne „Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen“ Verfahren geschaffen werden muss. Das bedeutet, dass es nicht unbedingt einer Abkehr von der „Plaumann-Formel“ bedürfte, um den Anforderungen der Aarhus-Konvention zu entsprechen. Auch ein verwaltungsbehördliches Überprüfungsverfahren ohne die zusätzliche Klagemöglichkeit nach Art. 12 Aarhus-VO könnte genügen, damit den Anforderungen von Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention entsprochen wird. Allerdings ist fraglich, inwiefern das bisherige interne Überprüfungsverfahren für sich genommen den Anforderungen eines verwaltungs behördlichen Verfahrens gem. Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention entspricht, insofern die Vorschrift die Notwendigkeit der Einhaltung gewisser Anforderungen, wie einer hinreichenden Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Verfahrens, impliziert.104 b) Art. 267 AEUV und der unionale Gerichtsverbund Das ACCC fordert weiterhin, dass auch durch die Mitgliedstaaten umsetzungsbedürftige (Teil-) Akte (unmittelbar) auf unionaler Ebene überprüft werden können. Dies ist zunächst insofern nachvollziehbar, als dass dahinter 102 Siehe
kurs.
bezüglich weiterer Details zu dieser Klagemöglichkeit den obigen Ex-
103 EuGH, Urteil vom 15.07.1963, ECLI:EU:C:1963:17, Slg. 1963, S. 238 – Plaumann: „Wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, kann nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten.“ 104 Vgl. auch Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Art. 9, Rn. 37 (letzter Absatz).
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 163
die Rechtsauffassung zutage tritt, dass Rechtsschutz so nah wie möglich an derjenigen Stelle erfolgen soll, die den infrage stehenden Akt verabschiedet hat. Dabei übersieht das ACCC allerdings, dass ein solcher umsetzungsbedürftiger (Teil-)Akt noch keine Außenwirkung gegenüber dem Bürger entfaltet. Insofern nach der Umsetzung Rechtswirkungen gegenüber dem Bürger bestehen, kann der (Teil-)Akt gem. Art. 267 AEUV inzident im Rahmen des nationalen, gerichtlichen Verfahrens durch Vorlage an den Europäischen Gerichtshof überprüft werden. Insofern handelt das nationale Gericht als Teil des unionalen Rechtsschutzsystems.105 Eine möglicherweise festgestellte Nichtigkeit des unionalen (Teil-)Akts verpflichtet die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union analog Art. 266 AEUV.106 Einzig – und dies dürfte die Besorgnis des ACCC sein – einen Schwachpunkt hat diese, von der Europäischen Kommission immer wieder vorgetragene (auch in Bezug auf die fehlende Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne) und unionsverfassungsrechtlich abgesicherte Argumentation: Die rechtssuchende NGO oder der rechtssuchende Einzelne hat in diesem Rahmen wenig Einfluss bzw. einen je nach nationaler Rechtsordnung nur sehr schwer durchsetzbaren Anspruch auf die Vorlageentscheidung des nationalen Gerichts.107 Dabei düfte das ACCC berechtigterweise gerade diejenigen Mitgliedstaaten im Blick haben, deren Gerichte weniger „vorlagefreudig“ als die deutschen sind bzw. deren Justizsysteme sich an den Grenzen etablierter Rechtsstaatlichkeitsprinzipien bewegen.108 Darüber hinaus sieht sich die rechtssuchende NGO bzw. der rechtssuchende Einzelne mit all jenen Voraussetzungen, Hürden und Unzulänglichkeiten konfrontiert, die der nationale Rechtsweg unabhängig von der Frage nach einer Vorlage gem. Art. 267 AEUV vorsieht.109 105 Siehe erneut EuGH, Gutachten 1/09 vom 08.03.2011, ECLI:EU:C:2011:123, Rn. 80 – Patentgericht. 106 Vgl. Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV Kommentar, 2016, Art. 267 AEUV, Rn. 50; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, Das Recht der Europäischen Union, 2021 (72. EL), Art. 267 AEUV, Rn. 108. 107 Die deutsche Rechtsordnung sieht bei Nichtvorlage in engen Grenzen (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht, bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des EuGH, Auslegung des Unionsrechts in unvertretbarer und offensichtlich unhaltbarer Weise) eine Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG aufgrund Entzugs des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG als möglichen Rechtsbehelf vor; siehe dazu Terhechte, EuR 2020, 569 (599 f.; 601), der der Rüge praktisch eine große Rolle beimisst, die jedoch selten durchgreife. 108 Die deutschen Gerichte haben 2015–2020 insgesamt 643 Vorabentscheidungsverfahren an den Europäischen Gerichtshof gerichtet. Damit liegt Deutschland mit großem Abstand vor den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Siehe Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2020 – Rechtsprechungstätigkeit (vorläufig), 2021, S. 247. 109 Die diesbezüglichen Defizite sind grundsätzlich auch der Europäischen Kommission bewusst, die zusätzlich zum VO-Entwurf eine Mitteilung an Parlament, Rat,
164 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
7. Einlenken in letzter Minute Als ausweglos und verfahren hätte man die Situation noch bis zum 13.07.2021 bezeichnen können. Die Europäische Kommission hatte ihren Vorschlag für einen VO-Entwurf zur Änderung der Aarhus-VO am 14.10.2020 vorgelegt.110 Der Rat hat am 18.12.2020 seine nur unwesentlich abgeänderte Verhandlungsposition präsentiert.111 All dies konnte – wie soeben dargelegt – das ACCC nicht gutheißen, blieben doch wichtige Gesichtspunkte ungelöst. In seiner gutachterlichen Einschätzung vom 12.02.2021 machte das ACCC deutlich, wie unbefriedigend sich die Situation aus seiner Sicht darstellte. Das Ringen zwischen David und Goliath, dem Erfüllungsausschuss und der Europäischen Union, schien weit mehr als ein Jahrzent nach Einreichung der ursprünglichen Individualbeschwerde vom 01.12.2008 in eine weitere Runde zu gehen. An dieser Stelle mochte man das ACCC warnen mit seinen detaillierten und wenig kompromissbereiten Forderungen die Europäische Union als zentralen Rechtsetzungspartner nicht zu vergrämen. Freilich, ausreichend legitimiert mochte das ACCC sein.112 Auch mit Blick auf das allgemeine Völkerrecht hatte das ACCC ein wichtiges Argument auf seiner Seite, denn nach Art. 27 WVRK darf der innerstaatliche Rechtsrahmen keinen Rechtfertigungsgrund für die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrags dar stellen.113 Die Europäische Union durfte also nicht wieder und wieder auf die Eigenarten des innereuropäischen Rechtschutzsystems verweisen. Aber konnte das ACCC wirklich glauben es mit dem komplexen Rechtschutzsystem der Europäischen Union aufnehmen zu können? Heute muss die Antwort Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie den Ausschuss der Regionen veröffentlicht hat. Darin wird insbesondere von den Mitgliedstaaten gefordert ihren notwendigen Beitrag im Rahmen des unionalen Rechtsschutzsystems zu leisten. Siehe Europäische Kommission, Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions: Improving access to justice in environmental matters in the EU and its Member States, COM(2020) 643 final, 14.10.2020. 110 Der Entwurf der Europäischen Kommission mit dem Az. COM(2020) 642 final – 2020/0289 (COD) ist abrufbar unter https://unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/ compliance/Requests_from_the_MOP/ACCC-M-2017-3_European_Union/Correspon dence_with_the_Party_concerned/frPartyM3_14.10.2020/frPartyM3_14.10.2020_ att1_legislative_proposal.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 111 Die Verhandlungsposition des Rates vom 17./18.12.2020 ist abrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2020-12/frPartyM3_19.12.2020_Council’s%20 general%20approach.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 112 Siehe zur Wahl der ACCC-Mitglieder oben 2. Kapitel A. II. 1. a); siehe zur demokratischen Legitimation der ACCC-Mitglieder unten 4. Kapitel A. IV. 3. b). 113 Dies machte bereits der Vertreter der Umwelt-NGO ClientEarth anlässlich der 6. Tagung der Vertragsparteien deutlich, vgl. MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 59.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 165
darauf lauten, dass die entschiedene Haltung des ACCC sich zumindest ein Stück weit ausgezahlt hat: Ungefähr drei Monate vor der im Oktober anstehenden 7. Tagung der Vertragsparteien präsentierte die Europäische Union nach dem letzten Trilog überraschend einen Kompromissvorschlag, der auf alle vorherigen Kritikpunkte des ACCC einging.114 Der neue Vorschlag für eine Änderungs-VO der Aarhus-VO vom 23.07.2021 sollte gerade noch rechtzeitig in der ersten Oktober-Hälfte 2021 von Parlament und Rat verabschiedet werden.115 Auch für das ACCC kam der Vorschlag unvorhergesehen. Noch am 02.07.2021 lud es die betroffene Vertragspartei, die Individualbeschwerdeführer und Beobachter zur Stellungnahme zum Entwurf eines Abschlussberichts ein.116 Der Entwurf eines Abschlussberichts zum Untersuchungsauftrag ACCC/M/2017/3 rügte abermals ein Erfüllungsdefizit der Europäischen Union hinsichtlich des Falles ACCC/C/2008/32 (Part II).117 Nur zehn Tage später, am 12.07.2021, wurden schließlich im Rahmen des Trilog-Verfahrens die entscheidenden Verhandlungsergebnisse erzielt.118 8. Was lange währt, wird endlich gut? Auf die Mitteilung der Europäischen Union hinsichtlich der Verhandlungsergebnisse, änderte das ACCC seinen Entwurf eines Abschlussberichts. Im Abschlussbericht zum Untersuchungsauftrag ACCC/M/2017/3 (Europäische Union) an die 7. Tagung der Vertragsparteien bescheinigte das ACCC, dass die geplante neue Fassung der Änderungs-VO zur Aarhus-VO die in der Entscheidung zu ACCC/C/2008/32 (Part II) festgestellten Handlungsempfeh114 Der neue VO-Entwurf vom 23.07.2021 ist abrufbar unter https://unece.org/ sites/default/files/2021-07/frPartyM3_23.07.2021_annex1.pdf, abgerufen am 26.08. 2021. 115 Siehe den Zeitplan der Europäischen Union: Europäische Union, EU comments regarding the Aarhus Convention Compliance Committee’s final report pursuant to request ACCC/M/2017/3 (EU) in case ACCC/C/2008/32, 16.07.2021, S. 6, abrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2021-07/frPartyM3_16.07.2021_comments. pdf, abgerufen am 26.08.2021. 116 Das Schreiben vom 02.07.2021 ist abrufbar unter https://unece.org/sites/ default/files/2021-07/toPartyM3_02.07.2021.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 117 Siehe ACCC, Draft report of the Compliance Committee: Compliance by the European Union with its obligations under the Convention, Ziff. 112, abrufbar über die elektronische Verfahrensakte unter https://unece.org/env/pp/cc/accc.m.2017.3_ european-union, abgerufen am 26.08.2021. 118 Siehe die Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 13.07.2021, aufrufbar unter https://unece.org/sites/default/files/2021-07/frPartyM3_16.07.2021_ annex1.pdf, aufgerufen am 26.08.2021.
166 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
lungen erfülle.119 Das ACCC durfte nach dieser Einigung daher damit rechnen, dass die 7. Tagung der Vertragsparteien seiner Empfehlung120 folgen würde und schließlich den Erkenntnissen des ACCC zu Individualbeschwerde ACCC/C/2008/32 (Part II) doch noch ihre Bestätigung (endorsement) erteilen würde. Inzwischen hat dies die 7. Tagung der Vertragsparteien so beschlossen.121 Damit bleibt aus Perspektive der Rechtswissenschaft die Frage, ob das ACCC tatsächlich alle seine Forderungen durchsetzen konnte. Einerseits wurden die Änderungen aus dem neuen VO-Entwurf vom 23.07.2021 planmäßig am 06.10.2021 genau so von Parlament und Rat verabschiedet.122 Andererseits wäre es verwunderlich, wenn sich die Konfliktlinien der langjährigen Verhandlungen nicht im vorliegenden Kompromiss widerspiegelten. Nachfolgend sollen daher die wesentlichen Inhalte der Einigung beschrieben werden und anschließend einer kritischen Bewertung unterzogen werden. Vorangestellt ist eine Übersicht, welche die bereits geplanten sowie die am 23.07.2021 neu beschlossenen Änderungen der Aarhus-VO zusammenfasst. Zum Zeitpunkt der Analyse war noch keine Verabschiedung durch Parlament und Rat erfolgt. Da sich inhaltlich zwischen dem VO-Entwurf vom 23.07.2021 und der am 06.10.2021 verabschiedeten Änderungs-VO keine Unterschiede ergeben, behalten die Ausführungen ihre Gültigkeit.
119 Siehe ACCC, Report of the Compliance Committee: Compliance by the European Union with its obligations under the Convention, Ziff. 146 und 148, abrufbar über die elektronische Verfahrensakte unter https://unece.org/env/pp/cc/accc.m. 2017.3_european-union, abgerufen am 26.08.2021. 120 Ebd., Ziff. 147. 121 MoP VII (Aarhus-Konvention), Decision VII/8f concerning compliance by the European Union with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2021/CRP.6/ Rev.1, 2021, Ziff. 3. 122 Verordnung (EU) 2021/1767 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2021 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft, ABl. 2021, L 356, S. 1 ff.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 167 Die wesentlichen Neuerungen der geänderten Aarhus-VO Nr. 1367/2006 (Entwurf vom 23.07.2021, verabschiedet am 06.10.2021) im Überblick: = bereits im Entwurf der Kommission vom 14.10.2020 enthalten = neu im zweiten Entwurf vom 23.07.2021, verabschiedet am 06.10.2021 = in beiden Entwürfen unterschiedlich vorhanden Norm d. geänd. Aarhus-VO
Geänderter Inhalt
Art. 2 Abs. 1 lit. g)
Ein „Verwaltungsakt“, der Gegenstand des internen Überprüfungsverfahrens sein soll, setzt keine „Regelung eines Einzelfalls“ mehr voraus. Das ausgestaltende Tertiärrecht kann nunmehr umfassend überprüft werden.
Art. 2 Abs. 1 lit. g)
Der zu überprüfende „Verwaltungsakt“ muss keine „Maßnahme des Umweltrechts“ mehr sein. Er muss lediglich Bestimmungen enthalten, die möglicherweise gegen das Umweltrecht verstoßen.
–
Eine Ausnahme für umsetzungsbedürftige Rechtsakte, wie im ersten Entwurf vom 14.10.2020 vorgesehen, enthält die neue Aarhus-VO nicht mehr. Gleich, ob der zu überprüfende „Verwaltungsakt“ noch auf nationaler und/oder EU-Ebene umgesetzt werden muss, kann dieser trotzdem Gegenstand eines „internen Überprüfungsverfahrens“ sein.
Art. 2 Abs. 2 lit. a)
Keine Änderungen. Insbesondere für den Bereich der Beihilfenkontrolle, Gegenstand des Falles ACCC/C/2015/128, bleibt damit die Ausnahmebestimmung in der geänderten Aarhus-VO erhalten.
Art. 10
Veränderung, insbesondere Verlängerung, der Verfahrensfristen (gegenüber dem Entwurf vom 14.10.2020 nochmals geändert)
Art. 11 Abs. 1a
Eine „interne Überprüfung“ kann ab 29.04.2023 neben Nichtregierungsorganisationen auch durch Einzelne oder Gruppen von Einzelnen („Mitglieder der Öffentlichkeit“) angestrengt werden. Dafür gibt es zwei Alternativen der Antragsbefugnis:
– gültig ab 29.04.2023 –
– Sie können nachweisen, dass ihre Rechte aufgrund des behaupteten Verstoßes gegen das Umweltrecht beeinträchtigt wurden und dass sie von einer solchen Beeinträchtigung im Vergleich zur Öffentlichkeit unmittelbar betroffen sind. – Sie können nachweisen, dass ein ausreichendes öffentliches Interesse besteht und der Antrag von mindestens 4000 Mitgliedern der Öffentlichkeit unterstützt wird, die in mindestens fünf Mitgliedstaaten wohnhaft bzw. niedergelassen sind, wobei mindestens 250 Mitglieder der Öffentlichkeit aus jedem dieser Mitgliedstaaten stammen müssen. Art. 11a
Pflicht zur Veröffentlichung aller Anträge auf „interne Überprüfung“ sowie aller diesbezüglichen abschließenden Entscheidungen. Die Einrichtung von Online-Systemen zur Einreichung eines Antrags bleibt vorbehalten. Die Nutzung eines solchen Online-Systems kann verpflichtend sein.
168 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
a) Wesentliche Inhalte des VO-Entwurfs vom 23.07.2021 Zusätzlich zu den bereits erfolgten Zugeständnissen im Rahmen des VOEntwurfs der Kommission vom 14.10.2020 haben die Ko-Gesetzgeber an gesichts der Kritikpunkte des ACCC im Rahmen der Trilog-Verhandlungen weitreichende Anpassungen vorgenommen: aa) Zur fehlenden Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne Mitglieder der Öffentlichkeit sollen nun über NGOs hinaus eine Überprüfungsmöglichkeit erhalten. Einzelnen oder Gruppen von Einzelnen sollen dazu zwei verschiedene Wege zur Verfügung stehen, wie diese ein internes Überprüfungsverfahren initiieren können.123 In beiden Fällen gilt die Pflicht sich durch eine anerkannte NGO oder einen mitgliedstaatlich zugelassenen Rechtsanwalt vertreten zu lassen.124 (1) M öglichkeit 1: Beeinträchtigung und „Unmittelbarkeit“ der Beeinträchtigung Zum einen kann ein Einzelner (oder eine Gruppe von Einzelnen) dem Entwurf nach zum Initiator eines Verfahrens werden werden, wenn er vorweisen kann, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen europäisches Umweltrecht125 „beeinträchtigt“ worden sind. Zusätzlich muss der Einzelne beweisen, dass er im Vergleich zur „breiten Öffentlichkeit“ eine „unmittelbare Beeinträchtigung“ seiner Rechte erlitten hat. (2) M öglichkeit 2: „Ausreichendes öffentliches Intresse“ und öffentliche Unterstützung Zum anderen kann ein Einzelner (oder eine Gruppe von Einzelnen) dem Entwurf nach zum Initiator eines Verfahrens werden, wenn er ein „ausreichendes öffentliches Intresse“ darlegt. Weiterhin muss die Anfrage durch 123 Siehe
dazu die neu einzufügenden Art. 11 Abs. 1a lit. (a) und (b) Aarhus-VO. dazu den neu einzufügenden Art. 11 Abs. 1a lit. (c) Aarhus-VO. 125 „Umweltrecht“ ist bereits bisher in Art. 2 Abs. 1 lit. (f) Aarhus-VO definiert als: „Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage zur Verfolgung der im Vertrag niedergelegten Ziele der gemeinschaftlichen Umweltpolitik beitragen: Erhaltung und Schutz der Umwelt sowie Verbesserung ihrer Qualität, Schutz der menschlichen Gesundheit, umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen sowie Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler und globaler Umweltprobleme“. 124 Siehe
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 169
mindestens 4.000 Mitglieder der Öffentlichkeit unterstützt werden, die in mindestens 5 verschiedenen Mitgliedstaaten wohnen oder dort gemeldet sind. Dabei müssen auf jeden Mitgliedstaat mindestens 250 Mitglieder der Öffentlichkeit entfallen. bb) Zur Anfechtbarkeit von Akten ohne rechtlich „bindende“ Wirkung „Verwaltungsakte“ sollen nunmehr lediglich, wie vom ACCC gefordert, „rechtliche Wirkung“ entfalten und Außenwirkung haben, um überprüfbar zu sein.126 Ebenso verhält es sich im Fall eines „Verwaltungsunterlassens“ in Bezug auf den unterlassenen Akt.127 Es ist nicht mehr von der Notwendigkeit der rechtlich „bindenden“ Wirkung die Rede. cc) Zur vormaligen Ausnahme für umsetzungsbedürftige „Verwaltungsakte“ Die Einigung enthält keine Ausnahmen für umsetzungsbedürftige EU„Verwaltungsakte“ mehr. Die Kommission hatte im VO-Entwurf vom 14.10.2020, wie bereits dargelegt, noch solche „Verwaltungsakte“ von einer internen Überprüfung ausgenommen, die noch einer Umsetzung auf EUoder mitgliedstaatlicher Ebene bedürfen. Während das ACCC lediglich die Ausnahme für „Verwaltungsakte“, die durch die Mitgliedstaaten umsetzungsbedürftig sind, für konventionswidrig erachtete, sind im Rahmen der Einigung nun beide Ausnahmeregelungen getilgt worden. dd) Fall ACCC/C/2015/128 und die Ausnahme für den Bereich der Beihilfenkontrolle Nicht Gegenstand der vorliegenden Einigung waren die Erkenntnisse des ACCC zu Fall ACCC/C/2015/128. Im Rahmen der erst im März 2021 veröffentlichten Entscheidung rügte das ACCC eine Ausnahmeregelung der gegenwärtig noch gültigen Aarhus-VO (Art. 2 Abs. 2 lit. a) Aarhus-VO), welche den Bereich der Beihilfenkontrolle aus dem Anwendungsbereich des internen Überprüfungsverfahrens herausnimmt. Insoweit dadurch Entscheidungen der Europäischen Kommission nach Art. 108 Abs. 2 AEUV, die den europarechtlichen Vorschriften mit Umweltbezug zuwiderlaufen könnten, nicht überprüfbar seien, verstoße die Vorschrift nach Ansicht des ACCC gegen Art. 9 Abs. 3
126 Siehe 127 Siehe
dazu den neuen Art. 2 Abs. 1 lit. (g) Aarhus-VO. dazu den neuen Art. 2 Abs. 1 lit. (h) Aarhus-VO.
170 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
und 4 Aarhus-Konvention.128 Diese Erkenntnisse des ACCC zu Fall ACCC/ C/2015/128 erhielten im Oktober 2021 nicht die Bestätigung (endorsement) der Tagung der Vertragsparteien, stattdessen wurde die Entscheidung vertagt.129 Insofern teilt Fall ACCC/C/2015/128 nunmehr ein ähnliches Schicksal wie Fall ACCC/C/2008/32 (Part II). Die neue Fassung der Aarhus-VO verstößt indes – zumindest nach Ansicht des ACCC – auf diese Weise weiterhin gegen die Aarhus-Konvention. ee) Weitere Anpassungen Neben den vorstehend erläuterten Veränderungen, die auf die bekannten Kritikpunkte des ACCC aus dessen Einschätzung vom 12.02.2021 eingehen, sieht der neue VO-Entwurf vom 23.07.2021 weitere, nicht unbedeutende Anpassungen vor. (1) Verfahrensfristen Eine Anpassung betrifft die Verfahrensfristen des Überprüfungsverfahrens.130 Bereits die Kommission hatte in ihrem Vorschlag eine Erhöhung der Antragsfrist für eine Überprüfung von 6 auf 8 Wochen vorgesehen. Auch bezüglich der Antwort-Frist der unionalen Stelle hatte die Kommission bereits eine Erhöhung von 12 auf 16 Wochen vorgesehen. Ebenso beinhaltete der Vorschlag der Kommission bereits die Erhöhung der absoluten Tätigkeitsfrist der unionalen Stelle von 18 auf 22 Wochen. Neu ist im Rahmen des VO-Entwurfs vom 23.07.2021, dass der Fristbeginn der Antwort-Frist und der absoluten Tätigkeitsfrist auf den Ablauf der 8-wöchigen Antragsfrist fallen soll. Die gegenwärtig gültige Fassung der Aarhus-VO und der VO-Entwurf vom 14.10.2020 sehen als Fristbeginn noch den Eingang des Überprüfungsantrags vor. Damit beträgt die Antwort-Frist der unionalen Stelle nun in jedem Fall insgesamt 24 Wochen nach Bekanntgabe, Veröffentlichung oder geforderter Vornahme des „Verwaltungsakts“ (8 Wochen Antragsfrist + 16 Wochen Antwort-Frist). Die absolute Tätigkeitsfrist beträgt nun in jedem Fall insgesamt 30 Wochen (8 Wochen Antragsfrist + 22 Wochen absolute Tätigkeitsfrist). 128 Vgl. ACCC, Findings and recommendations with regard to communication ACCC/C/2015/128 concerning compliance by the European Union (Advance unedited), 17.03.2021, Ziff. 131. 129 MoP VII (Aarhus-Konvention), Decision VII/8f concerning compliance by the European Union with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2021/CRP.6/ Rev.1, 2021, Annex. 130 Siehe dazu den neuen Art. 10 Abs. 1, 2 und 3 Aarhus-VO.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 171
(2) Veröffentlichung von Anträgen und Entscheidungen Überdies müssen die unionalen Stellen alle Überprüfungsanträge und endgültigen Entscheidungen so bald wie möglich veröffentlichen.131 (3) Elektronischer Rechtsverkehr Die unionalen Stellen können Online-Anwendungen für die Einreichung von Überprüfungsanträgen einrichten, deren Nutzung sie auch für verpflichtend erklären können.132 (4) Klageverfahren nach Art. 12 Aarhus-VO Weiterhin wurden Änderungen an Art. 12 der bisher geltenden Aarhus-VO vorgenommen, welcher die Möglichkeit regelt bei abschlägiger oder nicht erfolgter Antwort der unionalen Stelle Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben.133 Dabei wurde Art. 12 Abs. 2 Aarhus-VO, der sich bislang auf eine Klagemöglichkeit von NGOs bei nicht erfolgter Antwort der unionalen Stelle bezog, um eine Klagemöglichkeit in derartigen Fällen für Einzelne erweitert.134 Fraglich ist, warum diese Ergänzung im Rahmen des VO-Entwurfs vom 23.07.2021 nicht auch für Art. 12 Abs. 1 Aarhus-VO vorgesehen ist. Dieser lautet in der aktuellen und zukünftigen Fassung: „Die Nichtregierungsorganisation, die den Antrag auf interne Überprüfung nach Artikel 10 gestellt hat, kann gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Vertrags [AEUV] Klage vor dem Gerichtshof erheben.“ Wurde diese generalisierend formulierte Klagemöglichkeit von NGOs bei abschlägigen Antworten der unionalen Stelle bewusst nicht auf Überprüfungsverfahren ausgedehnt, die von Einzelnen initiiert worden sind? Für diese Art einer zumindest auf den zweiten, genauen Blick bestehenden stiefmütterlichen Behandlung der Einzelnen im Rahmen des VO-Entwurfs vom 23.07.2021 könnte auch die nachfolgende Tatsache sprechen.
131 Siehe
dazu den neu einzufügenden Art. 11a Aarhus-VO. dazu ebenso den neu einzufügenden Art. 11a Aarhus-VO. 133 Siehe bezüglich weiterer Details zu dieser (streitbaren) Klagemöglichkeit den obigen Exkurs. 134 Siehe den neuen Art. 12 Abs. 2 Aarhus-VO. 132 Siehe
172 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
(5) Wirksamwerden der Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne Die Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne soll schließlich – anders als die anderen Anpassungen der Aarhus-VO – erst 18 Monate nach Inkrafttreten der Änderungs-VO wirksam werden.135 b) Rechtliche Bewertung Während die Europäische Union vordergründig auf alle Kritikpunkte des ACCC aus den Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen zu Fall 32 (Part II) eingegangen zu sein scheint, wirft vor allem die neu vorgesehene Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne weiter Fragen nach der Vereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention auf. Dies beginnt bei der Frage, wie eine „unmittelbare Beeinträchtigung“ zu definieren ist, reicht über die hohe Hürde von 4000 Mitgliedern der Öffentlichkeit aus 5 Mitgliedstaaten bis hin zur nicht vorgesehenen Änderung von Art. 12 Abs. 1 Aarhus-VO und endet bei dem Wirksamwerden der Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne erst eineinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten der Änderungs-VO. aa) Definition einer „unmittelbaren Beeinträchtigung“ Der Aarhus-Konvention sind zunächst, wie aus Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention deutlich wird, die beiden Modelle der „Intressentenklage“ und der „Verletztenklage“ nicht unbekannt. In Umsetzung der Anforderungen von Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention, kann die Vertragspartei von Mitgliedern der Öffentlichkeit entweder „ein ausreichendes Interesse“ oder „eine Rechtsverletzung“ als Voraussetzung für den Zugang zu einem Überprüfungsverfahren fordern. Demgegenüber ist die Formulierung in Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention allgemeiner gehalten. In Umsetzung der Anforderungen von Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention darf die Vertragspartei festlegen, dass die Mitglieder der Öffentlichkeit „etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen“ müssen, um Zugang zu einem Überprüfungsverfahren zu erhalten. Zulässig sind unbestritten bestimmte Anerkennungsvoraussetzungen für NGOs. In Bezug auf Einzelne zitierte das ACCC sich selbst in seiner Einschätzung vom 12.02.2021 mit folgenden Worten: „… die Formulierung ‚etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Krite rien‘ weist auf eine Selbstbeschränkung der Vertragsparteien hin keine zu strengen Kriterien festzulegen. Eine Möglichkeit für die Vertragsparteien in diesen Fällen 135 Siehe
Art. 2 der Änderungs-VO vom 23.07.2021.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 173 eine Popularklage (‚actio popularis‘) zu vermeiden, besteht darin, gewisse Krite rien anzuwenden (z. B. betroffen zu sein oder ein Interesse zu haben), die von der Öffentlichkeit erfüllt werden müssen, um eine Entscheidung anfechten zu kön nen.“136
Nun stellt sich die Frage, ob das ACCC durch die Nennung der Beispiele zur Auslegung von Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention („betroffen zu sein“ und „ein Interesse zu haben“) auf die beiden Modelle der Interessenten- und Verletztenklage Bezug genommen hat. Fraglich ist insbesondere in Bezug auf das Modell der Verletztenklage, was es bedeutet, dass „keine zu strengen Kriterien“ festgelegt werden dürfen. Die vorstehend aufgezeigten Umstände sind der Hintergrund, vor dem die Europäische Union die Formulierung gewählt hat, dass Mitglieder der Öffentlichkeit dann ein Überprüfungsverfahren anstrengen können, wenn sie eine „unmittelbare Beeinträchtigung“ („directly affected by such impairment“) ihrer Rechte vorweisen können, die durch einen Verstoß gegen umweltrechtliche Vorschriften geschehen ist. Das Kriterium der Unmittelbarkeit bemisst sich dabei im Vergleich zur „breiten Öffentlichkeit“ („public at large“). Die Formulierung lässt offen, in welchem Maß eine geltend gemachte Beeinträchtigung rechtlich fassbar gemacht werden muss oder ob gegebenenfalls auch die Beeinträchtigung eines weiter verstandenen „recht lichen Intressenkreises“ darunter subsumiert werden kann. Im neu eingefügten Erwägungsgrund (14b) findet sich jedoch ein Hinweis, wie die Europäische Union die Formulierung verstanden wissen will: „Wenn sie eine Beeinträchtigung ihrer Rechte geltend machen, s o l l t e n [Hervorh. d. d. Verf.] Mitglieder der Öffentlichkeit eine Verletzung ihrer Rechte [Original: ‚violation of their rights‘, Anm. d. Verf.] darlegen. Das kann eine ungerechtfertigte Einschränkung oder Behinderung in der Ausübung dieser Rechte miteinschließen.“137 136 ACCC, Findings and Recommendations with regard to compliance by Belgium with its obligations under the Aarhus Convention in relation to the rights of environmental organizations to have access to justice (Communication ACCC/C/2005/11 by Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen VZW (Belgium)), ECE/MP.PP/C.1/2006/4/Add.2, 28.07.2006, Ziff. 36, zitiert nach: ACCC, Advice by the Aarhus Convention Compliance Committee to the European Union concerning the implementation of request ACCC/M/2017/3, 12.02.2021, Ziff. 40, übersetzt durch den Verfasser, Originalwortlaut: „… the phrase ‚the criteria, if any, laid down in national law‘ indicates a selfrestraint on the parties not to set too strict criteria. Access to such procedures should thus be the presumption, not the exception. One way for the Parties to avoid a popular action (‚action popularis‘) in these cases, is to employ some sort of criteria (e. g. of being affected or of having an interest) to be met by members of the public in order to be able to challenge a decision.“ 137 Übersetzung durch den Verfasser. Der neue Erwägungsgrund (14b) der Änderungs-VO (Entwurf vom 23.07.2021) lautet im englischen Original: „(14b) (new) When demonstrating impairment of their rights, members of the public should de-
174 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
Die Formulierung im Verordnungstext, dass eine „unmittelbare Beeinträchtigung“ der Rechte des Mitglieds der Öffentlichkeit darzulegen ist, scheint die Europäische Union sich also schwerlich abgerungen zu haben. Im Rahmen des Erwägungsgrundes (14b) macht sie deutlich, dass sie eigentlich die Voraussetzung einer „Rechtsverletzung“ bevorzugen würde. Gegenüber dem Verordnungstext („shall demonstrate“ = „müssen darlegen“) wählt sie in Erwägungsgrund (14b) – insoweit auch üblich – den Konjunktiv „should“ („sollten“) und fügt im zweiten Satz hinzu, dass auch eine Art geltend gemachte Beeinträchtigung des Interessenkreises des Mitglieds der Öffentlichkeit genügen kann. VO-Entwurf vom 23.07.2021
Formulierung
Bezugspunkt
Verordnungstext
„shall demonstrate“ („müssen darlegen“)
„impairment of their rights“ („Beeinträchtigung ihrer Rechte“)
Erwägungsgrund (14b)
„should demonstrate“ („sollten darlegen“)
„violation of their rights“ („Verletzung ihrer Rechte“)
Aus diesem Detail wird sichtbar, wie sehr die Europäische Union unter Druck steht einerseits der Forderung des ACCC gerecht zu werden „keine zu strengen Kriterien“ festzulegen und andererseits nicht gegenüber dem Europäischen Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung zu Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV („Plaumann-Formel“138) und Art. 267 AEUV (Mitgliedstaatliche Gerichte als „ordentliche Unionsgerichte“139) vorgreiflich und übergriffig zu werden. In Abwägung der beiden Positionen von ACCC und Europäischem Gerichtshof erklärt die Europäische Union daher im folgenden, neu eingefügten Erwägungsgrund (14c) ihre eigene Position: Mitglieder der Öffentlichkeit seien im Rahmen des VO-Entwurfs nicht verpflichtet eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit nach Art. 263 Abs. 4 AEUV und der „Plaumann-Formel“ darzulegen. Um gleichwohl zu vermeiden, dass jedes Mitglied der Öffentlichkeit ein uneingeschränktes Recht im Sinne einer Popularklage habe, ein internes Überprüfungsverfahren anzustrengen, solle das Mitglied der Öffentlichkeit darlegen, dass eine unmittelbare Betroffenheit im Vergleich zur breiten Öffentlichkeit bestehe. Dies monstrate a violation of their rights. This may include an unjustified restriction or obstacle to the exercise of such rights.“ 138 EuGH, Urteil vom 15.07.1963, ECLI:EU:C:1963:17, Slg. 1963, S. 238. 139 EuGH, Gutachten 1/09 vom 08.03.2011, ECLI:EU:C:2011:123, Rn. 80 – Patentgericht.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 175
könne dann der Fall sein, wenn aufgrund des mutmaßlichen Verstoßes gegen eine umweltrechtliche Vorschrift eine unmittelbar bevorstehende Gefahr für die eigene Gesundheit und Sicherheit bestehe oder ein Recht verletzt werde, das der Person nach dem Unionsrecht garantiert ist. In diesem Kontext weist der Unionsgesetzgeber auf drei entsprechende Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs hin. Die Rechtssachen, auf die in der Fußnote des Erwägungsgrunds (14c) verwiesen wird, waren stets Vorabentscheidungsverfahren, welche die Frage beinhalteten, ob Einzelnen ein Anspruch bzw. ein Klagerecht vor nationalen Gerichten im jeweiligen Fall zustehe. In allen drei Verfahren war diese Frage im Ergebnis positiv zu beantworten: Die Rechtssache C-197/18 (Wasserleitungsverband Nördliches Burgenland u. a.)140 hatte die Nitratverunreinigung von Grundwasser durch landwirtschaftliche Tätigkeiten zum Gegenstand. Die Nitratverunreinigung führte dazu, dass die Nutzungsberechtigten das zu entnehmende Wasser nicht entsprechend gebrauchen konnten bzw. es vor Gebrauch aufbereiten mussten, da ansonsten die Gefahr einer gesundheitlichen Gefährdung bestand. Die Rechtssache C-529/15 (Folk)141 hatte die Beeinträchtigung der Fischerei durch eine Wasserkraftanlage an einem Fluss zum Gegenstand. Der Betrieb der Wasserkraftanlage führte dazu, dass der Fischereiberechtigte in seinem Flussabschnitt erhebliche negative Auswirkungen auf die Fischpopulation beobachtete. Die Rechtssache C-237/07 (Janecek)142 hatte eine Beeinträchtigung der Luftqualität und unzureichende Maßnahmen der zuständigen Behörden zum Gegenstand. Im Ausgangsrechtsstreit ging es um die Klage eines Anwohners einer vielbefahrenen großstädtischen Straße, der eine Gesundheitsbeeinträchtigung geltend machte. Die zentrale Frage, die hinter dem Zitat der verschiedenen Verfahren durch den Unionsgesetzgeber steht, ist, inwiefern der Europäische Gerichtshof es zulassen wird sich seine eigenen Schlussfolgerungen zum Rechtsschutz auf nationaler Ebene in Bezug auf das interne Überprüfungsverfahren entgegenhalten zu lassen. Dabei ist zu bedenken, dass das interne Überprüfungsverfahren grundsätzlich über Art. 12 Aarhus-VO auch das Tor zu einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof eröffnet.143
Urteil vom 03.10.2019, ECLI:EU:C:2019:824. Urteil vom 01.06.2017, ECLI:EU:C:2017:419 – Folk. 142 EuGH, Urteil vom 25.07.2008, ECLI:EU:C:2008:447 – Janecek. 143 Siehe erneut zu dieser (streitbaren) Klagemöglichkeit den obigen Exkurs. 140 EuGH, 141 EuGH,
176 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
Aus Perspektive von Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention bleibt trotz des positiven Votums des ACCC schließlich weiterhin fraglich, inwiefern die neu eingefügte Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne überhaupt den Anforderungen eines unabhängigen Überprüfungsverfahrens entspricht, solange im Fall einer abschlägigen Antwort der unionalen Stelle keine Klage über Art. 12 Abs. 1 Aarhus-VO möglich ist. Bisher öffnet die Änderungs-VO vom 23.07.2021 Art. 12 Abs. 1 Aarhus-Verordnung nicht für Einzelne. bb) Die hohe Hürde von 4.000 Mitgliedern der Öffentlichkeit aus 5 Mitgliedstaaten Neben den unbeantworteten und fraglichen Details in Bezug auf die Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne durch Geltendmachung einer „unittelbaren Beeinträchtigung“ darf auch die zweite Überprüfungsmöglichkeit für Mitglieder der Öffentlichkeit, die der VO-Entwurf vom 23.07.2021 vorsieht, nicht unhinterfragt bleiben. Darzulegen sind ein „ausreichendes öffentliches Interesse“144 und die Erfüllung eines Mindestmaßes an öffentlicher Unterstützung. Dieses Mindestmaß beträgt, wie bereits beschrieben, 4.000 Mitglieder der Öffentlichkeit aus mindestens 5 Mitgliedstaaten, wobei mindestens 250 Mitglieder der Öffentlichkeit auf einen Mitgliedstaat entfallen müssen. Diese Überprüfungsmöglichkeit stellt eine skurrile Hybride zwischen einer im Gegensatz zum Kriterium der „unmittelbaren Beeinträchtigung“ sehr weit verstandenen Interessentenklage, wie sie sich wohl auch das ACCC wünscht, und der bestehenden Überprüfungsmöglichkeit für NGOs dar. Während einerseits in begrüßenswerter Weise lediglich ein „ausreichendes öffentliches Interesse“ darzulegen ist, ist andererseits die Hürde der unterstützenden Mitglieder der Öffentlichkeit verglichen mit den im Bereich des Umweltrechtschutzes etablierten NGOs ungleich hoch. Während der nach deutschem Recht verbandsklageberechtigte Verein Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH) nach eigener Aussage lediglich 459 Mitglieder besitzt (Stand: 05.03.2021),145 firmiert die deutsche Zweigniederlassung der Initiatorin des Verfahrens ACCC/C/2008/32 und weltweit tätige NGO ClientEarth als gemeinnützige 144 Dazu ist der neue Erwägungsgrund 14d der Änderungs-VO (Entwurf vom 23.07.2021) zu beachten: „(14d) (new) When demonstrating sufficient public interest, members of the public should collectively demonstrate both the existence of a public interest in preserving, protecting and improving the quality of the environment, protecting human health, prudent and rational utilisation of natural resources, or combatting climate change and that their review request is supported by a sufficient number of natural or legal persons across the Union by collecting their signatures either physically or digitally.“ 145 Siehe den Internetauftritt der Deutschen Umwelthilfe e. V. unter https://www. duh.de/ueberuns/ Verein und Mitgliedschaft, aufgerufen am 26.08.2021.
B. Das Verhältnis der Europäischen Union zur Aarhus-Konvention 177
Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH).146 Die belgische Zweig niederlassung, welche innerhalb der ClientEarth-Gruppe für das Verfahren ACCC/C/2008/32 zuständig ist, ist rechtlich im Übrigen als Internationale Vereinigung ohne Gewinnerzielungsabsicht (IVoG) (französisch: Association internationale sans but lucratif (AISBL)) tätig,147 wobei nach belgischem Recht mindestens drei Mitglieder empfohlen werden.148 Das führt insgesamt zu dem Schluss, dass die Europäische Union zu beabsichtigen scheint jedenfalls grundsätzlich an ihrem bisherigen Modell aus einer eher restriktiv gehandhabten individuellen Überprüfungsmöglichkeit und einer institutionalisierten, überindividuellen Überprüfungsmöglichkeit festhalten zu wollen und den Hybrid-Ansatz daher an vergleichsweise hohe Hürden geknüpft hat. Angesichts des Wortlauts von Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention, der von „etwaigen in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegten Kriterien“ spricht, ist schließlich weiterhin fraglich, inwiefern die Geltendmachung einer gewissen Mindestzahl an Unterstützern für ein Überprüfungsverfahren überhaupt ein Kriterium darstellt, das das innerstaatliche Recht ähnlich der Geltendmachung eines Intresses oder einer gewissen Betroffenheit oder der Anerkennung als antragsberechtigte Nichtregierungsorganisation zur Voraussetzung machen kann. cc) Keine Änderung von Art. 12 Abs. 1 Aarhus-VO An dieser Stelle ist bereits erwähnt worden, dass der VO-Entwurf vom 23.07.2021 keine Änderung von Art. 12 Abs. 1 Aarhus-VO vorsieht und damit mutmaßlich Mitglieder der Öffentlichkeit dann von Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ausschließt, wenn diese vorher im Rahmen des internen Überprüfungsmechanismus eine abschlägige Antwort erhalten haben. Dadurch drängt sich einmal mehr der Eindruck auf, dass die Europäische Union, die eine ernstzunehmende Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne nur widerwillig etablieren wollte, im Rahmen der Aarhus-VO weiterhin an 146 Siehe den Internetauftritt der ClientEarth gGmbH unter https://www.de. clientearth.org/impressum/, aufgerufen am 26.08.2021. 147 Siehe den Internetauftritt der ClientEarth gGmbH, der auch auf die weiteren Zweigniederlassungen verweist, unter https://www.de.clientearth.org/impressum/, aufgerufen am 26.08.2021. 148 Siehe zu den rechtlichen Rahmenbedingungen einer Internationalen Vereinigung ohne Gewinnerzielungsabsicht (IVoG) bzw. Association internationale sans but lucratif (AISBL) die Internetseiten des belgischen föderalen öffentlichen Dienstes unter https://justice.belgium.be/fr/themes_et_dossiers/societes_associations_et_fon dations/associations/aisbl, aufgerufen am 26.08.2021.
178 3. Kap.: Umsetzung der Aarhus-Konvention durch die Vertragsparteien
einem konventionswidrigen, verstärkt institutionellen, NGO-basierten Ansatz festhält. dd) Spätes Wirksamwerden der Überprüfungsmöglichkeit für Einzelne Schließlich sollen die neuen Überprüfungsmöglichkeiten für Mitglieder der Öffentlichkeit ausnahmsweise erst 18 Monate nach Inkrafttreten der Änderungs-VO wirksam werden. Auch dieses Faktum illustriert, wie viel Un sicherheit auf Seiten der Europäischen Union in Bezug auf die im Übrigen nicht allzu entschieden ausgestalteten Überprüfungsmöglichkeiten für Mitglieder der Öffentlichkeit bestehen.
C. Zwischenergebnis zur Umsetzung der Aarhus-Konventiondurch die Vertragsparteien Die Aarhus-Konvention hat ihre Vertragsparteien teilweise vor ungeahnte Herausforderungen gestellt und dadurch in vielen Staaten beispiellose Reformen hervorgerufen. Vieldiskutiert sind weiterhin die Rechtsschutzgarantien der Aarhus-Konvention. Besonders Deutschland und Österreich sahen sich in der Vergangenheit mit großen Umsetzungsdefiziten konfrontiert. Auch das Rechtsschutzsystem der Europäischen Union steht seit vielen Jahren unter der Beobachtung des ACCC, welches dadurch zuletzt im Kontext des Falles ACCC/C/2008/32 (Part II) über das Umweltvölkerrecht hinaus bekannt wurde. Der in der Folge dieses Falles entstandene und am 06.10.2021 von Parlament und Rat verabschiedete VO-Entwurf vom 23.07.2021 stellt zwar einen Kompromiss dar, zu dem auch das ACCC seine Zustimmung erteilt hat, maßgeblich wird es jedoch auf die praktische Umsetzung ankommen. Wie restriktiv werden die unionalen Stellen das Kriterium der „unmittelbaren Beeinträchtigung“ handhaben? Welche Position wird der Europäische Gerichtshof beziehen? Leider trägt das späte Wirksamwerden der entscheidenden Vorschriften erst 18 Monate nach Inkrafttreten der Verordnung nicht zu einer raschen Klärung dieser wichtigen Fragen bei. Schließlich bleibt fraglich, warum der europäische Gesetzgeber in Art. 12 Abs. 1 Aarhus-VO die anderen Mitglieder der Öffentlichkeit unerwähnt lässt. Die rechtliche Trag fähigkeit des politisch erzielten Verhandlungsergebnisses bleibt mithin noch abzuwarten.
4. Kapitel
Nicht Fisch, nicht Fleisch – Wie der innovative Charakter des Non-ComplianceMechanismus der Aarhus-Konvention sich in vergangenen und gegenwärtigen Streitfragen um das ACCC widerspiegelt Es sind nunmehr die entstehungsgeschichtlichen und dogmatischen Grundlagen (1. Kapitel) sowie die Funktionsweise und Besonderheiten (2. Kapitel) des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention diskutiert worden. Ein Blick auf die Fallpraxis (3. Kapitel) hat unter anderem gezeigt, wie wirkmächtig und gleichzeitig streitbar eine Entscheidung des ACCC sein kann. Das folgende vierte Kapitel nähert sich dem ACCC von seinen Grenzen her. Wie spiegelt sich der innovative Charakter des Non-ComplianceMechanismus der Aarhus-Konvention in den vergangenen und gegenwärtigen Streitfragen um das ACCC wider? Auf diese Frage soll aus drei Perspektiven eine Antwort gefunden werden. Im Rahmen von Unterkapitel A. soll das ACCC als Institution im Zentrum stehen. Unterkapitel B. untersucht das Verhältnis zu anderen Non-Com pliance-Mechanismen und fragt nach Synergien. Unterkapitel C. beleuchtet die finanzielle Ausstattung der Aarhus-Konvention, insbesondere des ACCC.
A. Institutionelle Betrachtungen I. Zum Verhältnis von Art. 15 Aarhus-Konvention (Non-Compliance-Verfahren) und Art. 16 Aarhus-Konvention (hergebrachte völkerrechtliche Streitbeilegung) Die umstrittene Entscheidung in Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) hat deutlich gemacht, dass ein Non-Compliance-Verfahren als „nicht-streitiges, nichtgerichtliches, auf Konsultationen beruhendes Verfahren“ (vgl. Art. 15 Aarhus-Konvention), welches in besonderem Maß auf das partnerschaftliche Zusammenwirken aller Beteiligten angewiesen ist, dort an gewisse Grenzen stößt, wo gerade kein Konsens erzielt werden kann. Hier können Nachteile zu den verschiedenen hergebrachten Arten der friedlichen Streitbeilegung
180
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
(vgl. Kapitel 1 B.) bestehen, speziell zum Schiedsspruch (arbitration) und zur gerichtlichen Entscheidung (judicial settlement). Allerdings sieht die Aarhus-Konvention neben dem Non-Compliance-Verfahren in Art. 15 Aarhus-Konvention auch verschiedene Möglichkeiten der klassischen friedlichen Streitbeilegung in Art. 16 Aarhus-Konvention vor. Bisher kamen diese nicht zum Einsatz.1 Für den Fall ihres Gebrauchs stellen sich jedoch wichtige Fragen nach dem Verhältnis zum Non-Compliance-Verfahren, beispielsweise hinsichtlich einer möglichen Präklusion. Darf das ACCC eine Individualbeschwerde (communication) für zulässig erklären, die einen Gegenstand betrifft, bezüglich dessen bereits ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof oder ein Schiedsverfahren nach Art. 16 Aarhus-Konvention stattfindet? Inwiefern wirkt sich umgekehrt ein Verfahren vor dem ACCC auf ein solches laufendes Verfahren aus? Können die Ergebnisse des Non-Compliance-Verfahrens berücksichtigt werden, womöglich gar als Präjudizien?2 Im Folgenden werden zunächst die für das Verhältnis der beiden Möglichkeiten der Streitbeilegung relevanten rechtlichen Grundlagen dargelegt. Hiernach wird eine rechtswissenschaftliche Einordnung unternommen. 1. Zum Inhalt von Art. 16 Aarhus-Konvention Art. 16 Aarhus-Konvention sieht in Absatz 1 vor, dass die Vertragsparteien eine untereinander bestehende Streitigkeit über die Auslegung oder Anwendung der Konvention durch Verhandlung oder andere für die Streitparteien annehmbare Mittel der Streitbeilegung lösen werden. Nach diesem Grundsatz der einvernehmlichen Streitbeilegung haben die Streitparteien sich zunächst einvernehmlicher Mittel zu bedienen, wie Verhandlungen, einer Vermittlung oder eines Vergleichs.3 Erst als ultima ratio können konfrontative Mittel erwogen werden.4 Darüber hinaus ermöglicht es Absatz 2 im Vorhinein unabhängig von einem konkreten Streitfall schriftlich zu erklären, dass für die betreffende Vertragspartei ein bestimmtes Mittel der Streitbeilegung Anwendung finden soll. In Bezug auf jede Streitigkeit mit einer anderen Vertragspartei, die dieselbe Verpflichtungserklärung abgegeben hat, ist dann ebendieses Mittel der 1 Hierauf
hinweisend Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (32). zu diesen Fragen auch Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 242. 3 Vgl. Ebbesson/Gaugitsch/Jendrośka/Marshall/Stec, Aarhus Convention Implementation Guide, 2014, S. 225. 4 Vgl. Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Art. 16, Rn. 2. 2 Vgl.
A. Institutionelle Betrachtungen181
Streitbeilegung zu verwenden. Dabei sieht Absatz 2 zwei Möglichkeiten vor: a) die Vorlage der Streitigkeit beim Internationalen Gerichtshof und b) ein Schiedsverfahren nach Anhang II der Aarhus-Konvention. Haben die Streitparteien beide Mittel der Streitbeilegung zur Anwendung anerkannt, so darf die Streitigkeit nach Absatz 3 nur dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt werden, sofern die Parteien nicht vereinbaren ein Schiedsverfahren nach Anhang II der Aarhus-Konvention anzustrengen.5 Absatz 3 schreibt also unter dem Vorbehalt beiderseitiger Erklärungen den Vorrang der Vorlage an den Internationalen Gerichtshof vor. 2. Standpunkt der Verfahrensordnung des Non-Compliance-Mechanismus Dass Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien sowohl im Rahmen von Art. 15 Aarhus-Konvention (Non-Compliance-Verfahren) als auch nach den erörterten Bedingungen von Art. 16 Aarhus-Konvention beigelegt werden können und hierin ein gewisses Konfliktpotential liegt, hat man bereits frühzeitig im Rahmen der Ausgestaltung der Verfahrensordnung des Non-Compliance-Mechanismus erkannt. Dabei hat man sich dafür entschieden, dass das Non-Compliance-Verfahren unabhängig von einem formalen Verfahren nach Art. 16 Aarhus-Konvention ablaufen soll. Ziff. 38 der Verfahrensordnung regelt: „The present compliance procedure shall be without prejudice to article 16 of the Convention on the settlement of disputes.“ Die Entscheidungen des ACCC und der Tagung der Vertragsparteien sollen also gerade keine Präjudizwirkung entfalten. 3. Rechtswissenschaftliche Einordnung Seitens der Literatur wird angemerkt, dass durch die dargelegte Positionierung der Verfahrensordnung des Non-Compliance-Mechanismus lediglich ein Teil der eingangs erwähnten Fragen beantwortet wurde.6 Offen bleibt, wie sich ein laufendes oder bereits abgeschlossenes Verfahren nach Art. 16 Aarhus-Konvention auf den Non-Compliance-Mechanismus auswirkt. Konkret 5 Insoweit wird die Formulierung in Art. 16 Abs. 3 Aarhus-Konvention „sofern die Parteien nichts anderes vereinbaren“ dahingehend systematisch einschränkend ausgelegt, dass eine andere Vereinbarung nur in einem Schiedsverfahren nach Anhang II der Aarhus-Konvention liegen kann, vgl. Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Art. 16, Rn. 4. 6 Vgl. Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 242.
182
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
geht es also um die Frage, ob ein solcher Fall durch das ACCC zur Entscheidung angenommen werden darf und inwiefern es inhaltlich gebunden ist. a) Hierarchisches Verständnis nach Pitea Ein möglicher Vorschlag lautet daher das Non-Compliance-Verfahren gewissermaßen als erste Instanz anzusehen und insbesondere ein gerichtliches oder schiedsgerichtliches Verfahren nach Art. 16 Aarhus-Konvention gewissermaßen in zweiter Instanz an die vorherige Befassung des ACCC zu knüpfen.7 Dafür spräche, dass eine Streitbeilegung nach Art. 16 Aarhus-Konvention der völkerrechtlichen Autonomie der Vertragsparteien unter Umständen näher zu kommen scheint als über das vom vertraglichen Primärrecht der Aarhus-Konvention abgeleitete Sekundärrecht des Non-Compliance-Verfahrens. Die Streitbeilegung nach Art. 16 Aarhus-Konvention ist jedoch nur vermeintlich näher an der Autonomie der Vertragsparteien. Wenn diese einen Teil ihrer Autonomie, d. h. die gegenseitige Überwachung der Einhaltung der Aarhus-Konvention, abgeben und dafür ein spezielles Verfahren, den NonCompliance-Mechanismus, einrichten, dann darf dieses Verfahren nicht von geringerer Bedeutung sein als die hergebrachten Mittel völkerrechtlicher Streitbeilegung. Die Streitbeilegung über ein Non-Compliance-Verfahren steht nicht außerhalb des Kreises der hergebrachten Arten der friedlichen Streitbeilegung, sondern ergänzt diesen durch eine Kombination verschiedener Aspekte um eine neue, weitere und gegenüber den anderen gleichwertige Art der Streitbeilegung. Wollte man außerdem die Rechtswege nach Art. 15 und Art. 16 Aarhus-Konvention im vorgeschlagenen Maß hierarchisieren, so stünde dem wiederum die erwähnte Ziff. 38 der Verfahrensordnung des NonCompliance-Verfahrens entgegen.8 b) Vorschlag für ein komplementäres Verständnis Vorzugswürdiger erscheint die beiden Konfliktlösungsinstrumente nach Art. 15 und Art. 16 Aarhus-Konvention als komplementär zu begreifen. Dem Wortlaut nach überschneiden sich zwar die möglichen Anwendungsbereiche (Art. 15 Aarhus-Konvention: „Überprüfung der Einhaltung der Bestimmungen dieses Übereinkommens“; Art. 16 Aarhus-Konvention: Beilegung von 7 Ebd.
8 Dies anerkennend auch Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 242.
A. Institutionelle Betrachtungen183
Streitigkeiten „über die Auslegung oder Anwendung dieses Übereinkommens“), teleologisch kann jedoch von einem unterschiedlichen Zweck der beiden Regelungen ausgegangen werden. Das Non-Compliance-Verfahren in Art. 15 Aarhus-Konvention dient der Überprüfung der Einhaltung der Verpflichtungen der Vertragsparteien, also zuvörderst der Wahrung der Rechtsgarantien der Bürger gegenüber den Vertragsparteien in den drei Säulen der Konvention. Hiervon handeln alle Streitigkeiten, die bisher vor das ACCC gebracht wurden. Dem entsprechend sollte Art. 16 Aarhus-Konvention der Beilegung anderer Streitigkeiten dienen, die vor allem formal-organisatorische Fragen umfassen dürften. Anhand von Art. 15 und Art. 16 AarhusKonvention zeigen sich mithin die beiden Identitäten, die das Abkommen in sich vereint. Es ist zum einen ein völkerrechtlicher Vertrag, durch den die Vertragsparteien miteinander in Beziehung treten, zum anderen ein völkerrechtlicher Vertrag, mit dem die Vertragsparteien in menschenrechtsähnlicher Weise vertikal in Kontakt zu den Bürgern treten. Art. 16 Aarhus-Konvention verfolgt mit den hergebrachten Mitteln der friedlichen Streitbeilegung die klassische Entwicklungslinie der Organisation der Staaten untereinander. Durch das Non-Compliance-Verfahren nach Art. 15 Aarhus-Konvention wird der Identität der Aarhus-Konvention als Charta von individuellen, menschenrechtsähnlichen Rechtsgarantien in Umweltsachen zur Durchsetzung verholfen.
II. Gefahr einer „Vergerichtlichung“ (judicialisation) des Non-Compliance-Verfahrens? Seit seiner Errichtung steht das Non-Compliance-Verfahren der AarhusKonvention in der Kritik die Vorgaben von Art. 15 Aarhus-Konvention, insbesondere diejenige eines nicht-gerichtlichen (außergerichtlichen) Verfahrens, nicht zu erfüllen. Damals (2002) hat die Nicht-Vertragspartei Vereinigte Staaten erklärt: „It is difficult to see how measures such as the issuance of ‚declarations of noncompliance,‘ the issuance of ‚cautions,‘ and the suspension of a Party’s rights and privileges could be considered ‚non-confrontational, non-judicial and consultative.‘ “9
Bis heute bleiben die weitreichenden Maßnahmen, die bis hin zu einer Suspendierung reichen können, ein Diskussionspunkt bezüglich des NonCompliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention. Als Sammelbegriff für diesen und weitere Gesichtspunkte kann das Kunstwort einer – von manchen 9 Vgl. Delegation of the United States, Statement with Respect to the Establishment of the Compliance Mechanism, Report of the First Meeting of the Parties – Annex, ECE/MP.PP/2, 2002, Ziff. 10; 11.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
befürchteten, von anderen möglicherweise begrüßten – „Vergerichtlichung“ (judicialisation)10 des Non-Compliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention dienen. Dahinter verbirgt sich die Frage, inwieweit die Tätigkeit des ACCC entgegen der rechtlichen Grundlagen als (zunehmend) gerichtsähnlich einzustufen ist.11 Die rechtswissenschaftliche Diskussion knüpft diesbezüglich gegenwärtig an vier Parametern an, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen:12 der (begrenzten) Rechtsqualität der Entscheidungen des ACCC (1.), den weitreichenden Maßnahmen bis hin zu einer Suspendierung (2.), dem Ablauf des Verfahrens und der formalen Verhandlungen (hearings) vor dem ACCC (3.) sowie der Handhabung der Sachentscheidungsvoraussetzungen, insbesondere der Rechtswegerschöpfung (4.). Im Folgenden soll die These der Gerichtsähnlichkeit anhand dieser Parameter rechtswissenschaftlich untersucht werden und der aktuellen, tatsächlichen Rezeption des ACCC im Rahmen der Studienergebnisse gegenübergestellt werden. 1. Rechtsqualität der Entscheidungen des ACCC In der rechtswissenschaftlichen Literatur ist man sich insoweit einig, als dass die Entscheidungen des ACCC jedenfalls nicht aus sich heraus Rechtskraft entfalten können. Auch die Vertragsparteien erkennen dies an, so wird in einem Vorschlag für einen Beschluss des Rates der Europäischen Union mit Blick auf den Fall ACCC/C/2008/32 formuliert: „Die Feststellungen werden der sechsten Tagung der Vertragsparteien des Übereinkommens von Aarhus im September 2017 in Budva (Montenegro) vorgelegt, wo sie den Status einer offiziellen Auslegung nach dem Übereinkommen von Aarhus erhalten würden; dies würde sie für die Vertragsparteien und die Gremien des Übereinkommens verbindlich machen.“13 10 Der Begriff „judicialisation“ in Bezug auf das Aarhus Non-Compliance-Verfahren geht zurück auf Pitea, IYBIL 2006, 85 (116). 11 Pitea, IYBIL 2006, 85 (116), kam im Jahr 2006 noch zu dem Schluss: „Thus, it cannot be excluded from the outset that the existing seeds of ‚judicialisation‘ in the Aarhus mechanism may grow in a way leading to a change of its legal nature and functions.“ 12 Siehe Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27, welche jedoch drei Beurteilungsgesichtspunkte ausmachen: die Rechtsqualität der Entscheidungen des ACCC, den Ablauf der formalen Verhandlungen (hearings) sowie die Handhabung der Rechtswegerschöpfung. 13 Europäische Kommission, Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Standpunkt, der im Namen der Europäischen Union auf der sechsten Tagung der Vertragsparteien des Übereinkommens von Aarhus in Bezug auf die die Einhaltung des Übereinkommens betreffende Sache ACCC/C/2008/32 zu vertreten ist, 29.06.2017, COM(2017) 366 final, S. 10.
A. Institutionelle Betrachtungen185
Erst eine Bestätigung (endorsement) der ACCC-Entscheidung, durch die ein konventionsverletzendes Verhalten festgestellt wurde, durch die Tagung der Vertragsparteien führt dazu, dass sich der Rechtscharakter von deren Inhalt wandeln kann. Da die Tagung der Vertragsparteien in ihrer bisher fünfzehnjährigen Praxis eine solche Bestätigung – von den außerordentlichen Ereignissen um Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) und inzwischen auch Fall ACCC/C/2015/128 abgesehen – in jedem Fall ohne besondere Vorkommnisse erteilt hat, vermag die Abhängigkeit des ACCC von der Bestätigung der Tagung der Vertragspartei die Bedeutung der Entscheidungen des ACCC nicht zu schmälern. Fraglich bleibt in welcher Weise sich der Rechtscharakter der Entscheidungsinhalte des ACCC durch die Bestätigung möglicherweise wandelt. Die Antwort hierauf ist im allgemeinen Völkervertragsrecht zu suchen. Auch die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (International Law Commission) hat sich erst 2018 mit den Entscheidungen sogenannter „expert treaty bodies“ (fachkundige Vertragsorgane) beschäftigt, zu denen sie auch das ACCC zählte.14 Abgesehen davon, dass die Völkerrechtskommission die Entscheidungen fachkundiger Vertragsorgane als Teil der ergänzenden Auslegungsmittel nach Art. 32 WVRK in Betracht zieht, ließ diese allerdings – explizit mit Blick auf die Aarhus-Konvention – offen, ob solche Entscheidungen gar nach Art. 31 Abs. 3 WVRK zu einer im Rahmen der Auslegung des Vertrags zwingend zu berücksichtigenden späteren Übereinkunft oder späteren Übung führen können.15 Nachfolgend wird daher untersucht, ob die Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien der AarhusKonvention, die eine vorher durch das ACCC festgestellte Konventionsverletzung bestätigen, tatsächlich als spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien (Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK)16 oder als eine spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags (Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK)17 begriffen werden können.18 14 Vgl. International Law Commission, Report of the International Law Commission, Seventieth session, A/73/10, 2018, S. 107. 15 Vgl. International Law Commission, Report of the International Law Commission, Seventieth session, A/73/10, 2018, S. 112. 16 Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK: „Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen;“. 17 Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK: „Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen […] b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht;“. 18 Vgl. in Richtung einer „späteren Übung“ Treves, The Settlement of Disputes and Non-Compliance Procedures, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 509; Tanzi/Pitea, The Interplay between EU Law and International Law Pro-
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
a) „Spätere Übereinkunft“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK Die Einordnung als „spätere Übereinkunft“ wird maßgeblich von Fasoli und McGlone vertreten, weshalb deren Argumentation zunächst nachgezeichnet und anschließend rezipiert werden soll.19 aa) Ansicht für eine „spätere Übereinkunft“ Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK besagt, dass jede spätere Übereinkunft über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen zwischen den Vertragsparteien im Rahmen der Auslegung des Vertrags zu berücksichtigen ist. Insofern könnte man solche Beschlüsse der Tagung der Vertragsparteien, die Erkenntnisse des ACCC bestätigen, als „spätere Übereinkunft“ ansehen. Der Wortlaut der Vorschrift spricht ausdrücklich von einer „Übereinkunft“ und nicht von einem „Vertrag“, weshalb es weniger auf die Form als auf den Willen der Vertragsparteien ankommt.20 Auch ein Beschluss einer Tagung der Vertragsparteien kann daher eine solche Übereinkunft darstellen.21 Das Tatbestandsmerkmal „zwischen den Vertragsparteien“ bedeutet grundsätzlich ein Konsenserfordernis für die Tagung der Vertragsparteien, da nur dadurch die Einigkeit der Vertragsparteien bezeugt wird.22
cedures in Controlling Compliance with the Aarhus Convention by EU Member States, in: The Aarhus Convention at Ten, 2011, S. 380; Jendrośka, JEEPL 2012, 71 (75); Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Einführung, Rn. 36 ff.; Lutz/Sauer, EurUP 2018, 118 (121); Wegner, Subjektiv-recht liche Ansätze im Völkerrecht zum Schutz biologischer Vielfalt, 2018, S. 284 sowie S. 325; sowohl eine „spätere Übereinkunft“, als auch eine „spätere Übung“ anneh mend Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (38 ff.). 19 Vgl. Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (38 ff.). 20 Vgl. Aust, Modern Treaty Law and Practice, 2013, S. 213; Dörr/Schmalenbach/ Dörr, Vienna Convention on the Law of Treaties – A Commentary, 2018, Art. 31, Rn. 75; Gardiner, Treaty Interpretation, 2015, S. 243 ff.; Pehl, Repräsentative Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 2019, S. 120 m. w. N. 21 Vgl. Aust, Modern Treaty Law and Practice, 2013, S. 213. 22 Vgl. Dörr/Schmalenbach/Dörr, Vienna Convention on the Law of Treaties – A Commentary, 2018, Art. 31, Rn. 74; Pehl, Repräsentative Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 2019, S. 123 m. w. N.; da eine Vertragsänderung nach Art. 14 Abs. 3 AarhusKonvention statt eines Konsenses notfalls lediglich einer Dreiviertelmehrheit der bei der Tagung der Vertragsparteien anwesenden und abstimmenden Vertragsparteien bedarf, könnte überdies in Betracht gezogen werden auch für eine „spätere Übereinkunft“ zur Auslegung der Aarhus-Konvention als demgegenüber „weniger“ eine Dreiviertelmehrheit der anwesenden und abstimmenden Vertragsparteien genügen zu lassen. Eine solche Dreiviertelmehrheit lässt Regel 35 der Verfahrensordnung der Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konvention ausdrücklich zu.
A. Institutionelle Betrachtungen187
Fraglich bleibt mithin, ob die Bestätigung der Entscheidungen des ACCC durch die Tagung der Vertragsparteien auch in jedem Fall von dem Willen getragen ist eine verbindliche Entscheidung über die Auslegung der AarhusKonvention und die Anwendung ihrer Bestimmungen zu treffen. Eine solche Zweckrichtung macht das Tatbestandsmerkmal „über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen“ notwendig.23 Eine derartige Absicht wurde bisher nicht explizit zum Ausdruck gebracht, jedoch existiere nach Fasoli und McGlone mit dem Non-Compliance-Verfahren zum Protokoll über Wasser und Gesundheit ein vergleichbarer Mechanismus, im Rahmen dessen diesbezüglich ausdrückliche Feststellungen getroffen worden seien.24 Das zuständige Compliance Committee bemerkte mit Blick auf einen Verstoß Portugals gegen Art. 7 Abs. 5 Protokoll über Wasser und Gesundheit folgendes: „The Committee refers in that respect to the article 31, paragraph 3 (a), of the Vienna Convention on the Law of Treaties which establishes that when interpreting a treaty ‚[t]here shall be taken into account, together with the context […] any subsequent agreement between the parties regarding the interpretation of the treaty or the application of its provisions.‘ The Committee considers that the above mentioned decisions of the Meeting of the Parties may be considered to constitute an agreement of the Parties to interpret the provisions of the Protocol. […] In the opinion of the Committee there was a clear legal obligation for the Parties […].“25
Diese Sichtweise des Compliance Committee, dass im konkreten Fall aufgrund von Beschlüssen der Tagung der Vertragsparteien eine verbindliche Auslegung nach Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK vorläge, hat im Folgenden wiederum die Tagung der Vertragsparteien zum Protokoll über Wasser und Gesundheit insofern bestätigt, als dass sie tatsächlich eine Rechtspflicht und mit dieser einen Rechtsverstoß Portugals feststellte.26 Somit schlussfolgern Fasoli und McGlone, dass diejenigen Entscheidungen des ACCC, durch die eine Konventionsverletzung festgestellt wurde und die durch die Tagung der Vertragsparteien bestätigt worden sind, gem. Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK rechtsverbindlich für die Auslegung der Aarhus-Konvention seien.27 23 Vgl.
Pehl, Repräsentative Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 2019, S. 123. Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (39 f.). 25 Vgl. Compliance Committee (Protocol on Water and Health), Report of the Compliance Committee on its twelfth meeting, ECE/MP.WH/C.1/2015/4-EUDCE/ 1408105/1.10/2015/CC2/06, Annex, Findings and recommendations with regard to case ECE/MP.WH/CC/CI/1 initiated by the Committee concerning compliance by Portugal, 2015, Ziff. 30 f. 26 Vgl. MoP IV (Protocol on Water and Health), Report of the Meeting of the Parties on its fourth session – Addendum, Decision IV/4 – Compliance by Portugal with its obligation to report under article 7 of the Protocol, ECE/MP.WH/13/Add.2EUPCR/1611921/2.1/2016/MOP-4/06/Add.2, 2016. 27 Vgl. Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (38 ff.). 24 Vgl.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
bb) Kritische Einordnung Nach Epiney et al.28 sei die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht immer eindeutig gewesen, was eine Unterscheidung zwischen Art. 31 Abs. 3 lit. a) und b) WVRK angeht.29 Die Autoren sprechen sich dennoch für eine Differenzierung aus. Für sie liegt der Unterschied im höheren Beweiswert der „späteren Übereinkunft“. Eine solche liege jedoch nur vor, wenn die Vertragsparteien ausdrücklich darauf abzielten eine Auslegungshilfe zu verabschieden. An dieser Absicht fehle es im Fall der Bestätigung der Entscheidungen des ACCC, weshalb diese eine „spätere Übung“ nach Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK darstellten. Die Argumentationsweisen von Fasoli und McGlone sowie Epiney et al. haben gemein, dass sie ihre Subsumtion vom subjektiven Ziel der Vertragsparteien abhängig machen. Das ist begrüßenswert, denn nur dadurch kann man der besonderen Bedeutung von Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK gerecht werden. Während nämlich die Absicht der Parteien rechtsverbindlich zu handeln im Fall der „späteren Übung“ nach Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK gerade auch durch deren mehrmaliges Tätigwerden unterstrichen wird, genügt im Fall von Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK eine einmalige Übereinkunft. Umso klarer muss daher in letzterem Fall aber der Wille sein rechtsverbindlich über die Auslegung des jeweiligen Vertrags zu entscheiden. Da es kein entsprechendes Zeugnis des Willens der Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konvention gibt, versuchen Fasoli und McGlone einen Ausweg über das Protokoll über Wasser und Gesundheit zu nehmen. Dabei konstruieren sie einen Gesamtkontext, in dessen Rahmen sie der Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konvention den erforderlichen Willen unterstellen. Aus der Fülle der verschiedenen Non-Compliance-Verfahren wird dasjenige zum Protokoll über Wasser und Gesundheit zum Anlass genommen generalisierende Feststellungen zu treffen. Dabei gibt es kein einheitliches Recht der Non-Compliance-Verfahren, sondern lediglich verschiedene, auf ähnlichen Prinzipien aufbauende Verfahren, die in jedem Fall auf den jeweiligen Vertragsinhalt abgestimmt sind, was beispielsweise die bereits dargestellten Besonderheiten des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus28 Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Einführung, Rn. 37. 29 Während der Internationale Gerichtshof im Fall Kasikili/Sedudu Island (IGH, Botswana v. Namibia, ICJ Reports 1999, S. 1045, Rn. 63) differenzierte und der „späteren Übereinkunft“ einen höheren Beweiswert zugesprochen habe, habe er von einer solchen Unterscheidung in den Fällen Gabčikovo-Nagymaros Project (IGH, Hungary v. Slovakia, ICJ Reports 1997, S. 7, Rn. 138) und Territorial Dispute Libya/Chad (IGH, Libya v. Chad, ICJ Reports 1994, S. 6, Rn. 66 ff.) abgesehen, so Epiney et al. (vorstehende Fn. 28).
A. Institutionelle Betrachtungen189
Konvention illustrieren.30 Somit genügen die Parallelüberlegungen zum Protokoll über Wasser und Gesundheit – wenn man überhaupt von einer Vergleichbarkeit der Situationen ausgehen mag – lediglich als Ausgangspunkt einer Hypothese, deren Beweis nur durch ein klares Zeugnis des Willens der Vertragsparteien angetreten werden könnte. Vielversprechender erscheint daher die von Fasoli und McGlone gleichzeitig befürwortete Einordnung als „spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK zu erwägen.31 b) „Spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK Die weit überwiegende Literatur spricht sich bei unterschiedlicher Herangehensweise für die Annahme einer „späteren Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK aus.32 Zwei Sichtweisen sind möglich: Alternative 1 Man kann den Blick – genau wie bei der Prüfung einer „späteren Übereinkunft“ – auf den konkreten Fall der Nichterfüllung richten. Je nachdem, ob man davon ausgeht, dass es bei einer „späteren Übung“ der Wiederholung eines Tätigwerdens bedarf, ergeben sich dann zwei weitere, unterschiedliche Pfade. Einmal wird eine „spätere Übung“ erst bejaht, wenn sich eine Auslegungslinie aus ähnlich gelagerten Fällen ergibt.33 Zum anderen wird bereits bei einem einzigen Fall eine „spätere Übung“ angenommen.34 30 Siehe darüber hinaus zur Regime-Spezifität von Non-Compliance-Verfahren Pitea, Multiplication and Overlap of Non-Compliance Procedures and Mechanisms: Towards Better Coordination?, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms and the Effectiveness of International Environmental Agreements, 2009, S. 442. 31 Vgl. Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (40 f.; 45). 32 Treves, The Settlement of Disputes and Non-Compliance Procedures, in: NonCompliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 509; Tanzi/Pitea, The Interplay between EU Law and International Law Procedures in Controlling Compliance with the Aarhus Convention by EU Member States, in: The Aarhus Convention at Ten, 2011, S. 380; Jendrośka, JEEPL 2012, 71 (75); Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Einführung, Rn. 36 ff.; Lutz/Sauer, EurUP 2018, 118 (121); Wegner, Subjektiv-rechtliche Ansätze im Völkerrecht zum Schutz biologischer Vielfalt, 2018, S. 284 sowie S. 325; sowohl für eine „spätere Übereinkunft“, als auch eine „spätere Übung“: Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (38 ff.). 33 Auf „insbesondere“ diesen Fall beziehen sich Tanzi/Pitea, The Interplay be tween EU Law and International Law Procedures in Controlling Compliance with the Aarhus Convention by EU Member States, in: The Aarhus Convention at Ten, 2011, S. 380. 34 So möglicherweise Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Hand kommentar, 2018, Einführung, Rn. 38: „Im Ergebnis stellen somit die Empfehlungen des Compliance Committee – jedenfalls soweit sie durch entsprechendes zustimmen-
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
Alternative 2 Man richtet den Blick auf die Bestätigungspraxis der Tagung der Vertragsparteien insgesamt. Die Übung liegt dann darin, dass die Tagung der Vertragsparteien die Erkenntnisse des ACCC (unter allenfalls redaktionellen Änderungen)35 bis einschließlich zur 5. Tagung der Vertragsparteien immer im Konsens bestätigt hat. Inhalt dieser Sichtweise wäre, dass alle Erkenntnisse des ACCC durch die Annahmepraxis der Tagung der Vertragsparteien eine rechtsverbindliche Auslegung der Aarhus-Konvention darstellen sollen.36 aa) Ansicht für eine „spätere Übung“ nach Alternative 1 Für diese Ansicht ist vor allem die Untersuchung der beiden Tatbestandsmerkmale „Übung“ und „Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags“ von Bedeutung. (1) Tatbestandsmerkmal „Übung“ Unter einer „Übung“ sind aktive Handlungen zu verstehen, aber auch das Unterlassen von Handlungen, wenn deren Vornahme zu erwarten war.37 Vorliegend kommt als Übung ein Beschluss der Tagung der Vertragsparteien in Betracht, der Erkenntnisse des ACCC in Bezug auf die Nicht-Erfüllung des Verhalten der Vertragsparteien bestätigt werden – eine spätere Übung der Parteien im Sinne des Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK dar.“ In Rn. 36 jedoch zurückhaltender: „Insbesondere falls – was durchaus vorkommt – eine Bestimmung der Konvention konstant gleich ausgelegt wird, ohne dass durch Parteien bei Treffen der Vertragsparteien Bedenken geäußert werden, ist das Vorliegen einer solchen späteren Übung wohl kaum zu bestreiten.“ Siehe diesbezüglich auch Lutz/Sauer, EurUP 2018, 118 (121): „Stellt nun die Vertragsstaatenkonferenz im Konsens durch die Annahme des Compliance-Beschlusses die Völkerrechtswidrigkeit der Rechtslage einer Vertragspartei unter Bezugnahme auf die Feststellungen des ACCC fest, so ist hierin eine Konkretisierung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragsparteien aus der Aarhus-Konvention zu sehen, die sich jedenfalls als ‚spätere Übung‘ der Vertragsparteien gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. b) der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) einordnen lassen.“ 35 Dazu Lutz/Sauer, EurUP 2018, 118 (121). 36 So wohl Jendrośka, JEEPL 2012, 71 (75): „All its hitherto findings have been endorsed (or otherwise agreed) by consensus by the Meeting of the Parties to the Convention. This fact, as indicated by jurisprudence, allows to consider the opinions of the Committee as falling under the concept of ‚subsequent practice‘ in the meaning of Article 31.3 (b) of the Vienna Law of the Treaties, which gives them a legal relevance.“ 37 Vgl. Pehl, Repräsentative Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 2019, S. 127.
A. Institutionelle Betrachtungen191
einer Vertragspartei bestätigt (endorsement). Umstritten ist – und hier spaltet sich Alternative 1 in zwei Pfade auf –, ob eine Übung gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK nur dann vorliegt, wenn ein Verhalten wiederholt wird oder bereits ein einmaliges Verhalten eine Übung begründen kann. Regelmäßig wird für eine Übung eine gewisse Kontinuität gefordert.38 Demgemäß wäre zur Begründung einer „späteren Übung“ eine Auslegungs linie des ACCC hinsichtlich einer konkreten Vorschrift erforderlich, die in den jeweiligen Fällen durch die Tagung der Vertragsparteien durch Konsensbeschluss bestätigt worden ist. Sollte unter den Vertragsparteien über eine bestimmte Auslegung jedoch klar Einigkeit bestehen, wird die Frage, ob die Übung oft genug wiederholt wurde, eher in den Hintergrund treten.39 Auch ein einmaliges Ereignis kann daher mancher Ansicht nach eine Übung darstellen, wenn daraus jedenfalls die Einigkeit der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags hervorgeht.40 Dieser Ansicht folgend genügt zur Begründung einer „späteren Übung“ ein einmaliger Beschluss der Tagung der Vertragsparteien, der die Auslegung des ACCC anhand des konkreten Sachverhalts und der konkreten Vorschrift bestätigt. (2) T atbestandsmerkmal „Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags“ Die spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags muss weiterhin der Gestalt sein, dass aus ihr „die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“. Das bedeutet, dass alle Vertragsparteien der Übung denselben Bedeutungsgehalt (verbindliche Auslegung der AarhusKonvention) beimessen müssen.41 Diese Einigkeit festzustellen dürfte bezüglich des ersten, soeben dargelegten Pfads („Übung setzt Wiederholung vor38 So beispielsweise von Dörr/Schmalenbach/Dörr, Vienna Convention on the Law of Treaties – A Commentary, 2018, Art. 31, Rn. 80; s. Pehl, Repräsentative Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 2019, S. 127; beide bezugnehmend auf Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, 1984, S. 137, dessen Ausführungen laut Pehl im Bereich der WTO-Streitbeilegung bestätigt wurden, s. WTO Appellate Body, Appellate Body Report v. 04.10.1996, WT/DS8/AB/R, WT/DS10/AB/R, WT/ DS11/AB/R – Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, S. 13. 39 Pehl, Repräsentative Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 2019, S. 128. 40 Vgl. International Law Commission, Report of the International Law Commission, Sixty-eighth session, A/71/10, 2016, S. 191; Linderfalk, On the Interpretation of Treaties, 2007, S. 166. 41 Dörr/Schmalenbach/Dörr, Vienna Convention on the Law of Treaties – A Commentary, 2018, Art. 31, Rn. 87; Gardiner, Treaty Interpretation, 2015, S. 266 f.; Pehl, Repräsentative Auslegung völkerrechtlicher Verträge, 2019, S. 130 ff.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
aus“) weniger problematisch sein als hinsichtlich des zweiten, soeben dargelegten Pfads („Übung als einmaliges Ereignis“). Legt man eine Reihe von Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien zugrunde, die – wie üblich – im Konsens ergangen sind und im Rahmen derer eine einheitlich betriebene Auslegung der Vorschriften der AarhusKonvention durch das ACCC bestätigt wurde, so kann das Tatbestandsmerkmal der Übereinstimmung aus guten Gründen bejaht werden. Schwieriger gestaltet es sich den Vertragsparteien der Aarhus-Konvention die notwendige Einigkeit über die Auslegung der Konvention nachzuweisen, wenn sie nur in einem Fall die durch das ACCC erfolgte Auslegung der Konvention bestätigt haben. Wenn ein einmaliges Ereignis eine „spätere Übung“ darstellen soll, entfällt naturgemäß das Argument von einer gewissen Zahl an Wiederholungen auf die Einigkeit der Vertragsparteien zu schließen. Umso stärker muss also in Bezug auf das einmalige Ereignis – ähnlich wie bei Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK – der Wille hervortreten, dass dieses eine für die Auslegung des Vertrags verbindliche Praxis darstellen soll. Ein KonsensBeschluss der Tagung der Vertragsparteien kann die Annahme eines solchen Willens allein nicht begründen, jedoch erleichtern. Als entscheidender, hinzukommender Gesichtspunkt erscheint die bisherige Praxis der konsensualen Annahme der Erkenntnisse des ACCC durch die Tagung der Vertragsparteien. Obwohl ein einziger Fall noch keine Serie bildet, lässt die bisherige, konsensuale Annahme-Praxis der Tagung der Vertragsparteien und die Konsistenz der Erkenntnisse des ACCC davon ausgehen, dass einem Fall abhängig von der Einreichung eines entsprechenden Sachverhalts weitere gleichlautende Entscheidungen nachfolgen werden. Wenn beispielsweise die Tagung der Vertragsparteien zum ersten Mal Erkenntnisse des ACCC in Bezug auf eine bestimmte Vorschrift der Aarhus-Konvention im Konsens bestätigt, dann ist aufgrund der vorhergehenden Praxis davon auszugehen, dass damit der Wille geäußert wird auch einen ähnlich gelagerten, zukünftig vorgebrachten Fall durch jene Auslegung der Aarhus-Konvention zu entscheiden. (3) Zwischenergebnis Am meisten kann nach alledem überzeugen das Vorliegen von Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK in Form einer Übung durch wiederholtes Tätigwerden zu bejahen. Lässt man ein einmaliges Ereignis für eine Übung genügen, geht dies damit einher, dass die erforderliche Übereinstimmung der Vertragsparteien immer schwerer zu begründen wird. Dies kann jedoch über eine Gesamtbetrachtung gelingen. Probleme würde es allerdings bereiten, wenn einmal ein Bruch mit einer früheren Auslegung der Konvention stattfinden würde, d. h. die Tagung der Vertragsparteien trotz vorher anderslautender
A. Institutionelle Betrachtungen193
Praxis keine Bestätigung abgeben würde. Dieser Bruch würde nicht nur das Ende der in Frage stehenden Auslegungsserie bedeuten. Er würde auch Anlass geben von der Annahme des Willens Abstand zu nehmen, dass die Tagung der Vertragsparteien immer eine einheitliche Auslegungslinie beabsichtigt. Erhalten bliebe dann allerdings die Übung der Vertragsparteien durch die bestehenden Auslegungs-Serien. Dies stützt am Ende die Erkenntnis, dass die Subsumtion unter eine „spätere Übung“ durch wiederholtes Tätigwerden die am sichersten zu treffende Einordnung darstellt. bb) Ansicht für eine „spätere Übung“ nach Alternative 2 Bei dieser Ansicht empfiehlt sich ein genauerer Blick auf die Tatbestandsmerkmale „Übung“, „bei der Anwendung des Vertrags“ sowie „Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags“. (1) Tatbestandsmerkmal „Übung“ Das Tatbestandsmerkmal der „Übung“ ist ganz entscheidend für diese Sichtweise und zwar in der klassischen Definition als wiederholtes Tätigwerden.42 Weil die Tagung der Vertragsparteien bis einschließlich zu ihrem fünften Treffen die Erkenntnisse des ACCC im Konsens bestätigt hat, so ließe sich argumentieren, sei der Compliance-Mechanismus nach Art. 15 Aarhus-Konvention in dem Sinne zu verstehen, dass alle Erkenntnisse des ACCC eine rechtsverbindliche Auslegung darstellen sollen. (2) Tatbestandsmerkmal „bei der Anwendung des Vertrags“ Bezugspunkt der Übung ist hier – anders als in Alternative 1 – nicht die jeweilige Vorschrift der Aarhus-Konvention, deren Auslegung im konkreten Fall in Frage steht, sondern der Compliance-Mechanismus nach Art. 15 Aarhus-Konvention. Bezüglich diesem haben die Vertragsparteien mög licherweise die Übung entwickelt, dass alle Erkenntnisse des ACCC eine rechtsverbindliche Auslegung der Aarhus-Konvention darstellen sollen. (3) T atbestandsmerkmal „Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags“ Auch aus dieser Übung müsste nun wiederum die Übereinstimmung aller Vertragsparteien über die Auslegung der Aarhus-Konvention hervorgehen, 42 Siehe
zu dieser Definition die Ausführungen zu Alternative 1 oben.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
d. h. in diesem Fall darüber, dass Art. 15 Aarhus-Konvention in der Weise ausgelegt werden soll, dass alle Erkenntnisse des ACCC eine rechtsverbindliche Auslegung der Aarhus-Konvention darstellen sollen. Aber kann man wirklich aus den durchgängigen Konsens-Entscheidungen bis einschließlich zur 5. Tagung der Vertragsparteien den Willen schließen, dass damit generell ausgedrückt werden soll, dass das ACCC die Aarhus-Konvention rechtsverbindlich auslegt? Ein Vorteil dieser Ansicht bestünde darin, dass auch die unbestätigten Erkenntnisse des ACCC, die zwischen den Tagungen der Vertragsparteien ergehen, möglicherweise schon erfasst wären. Andererseits erscheint fraglich, ob die Vertragsparteien wirklich derart viel Macht an das ACCC abgeben wollen und ob ein derart weitgehender Wille noch aus der Bestätigungspraxis he rauslesbar ist. Fraglich ist weiterhin, ob eine solche Auslegung nicht hinsichtlich der von Art. 15 Aarhus-Konvention geforderten Außergerichtlichkeit des Überprüfungsverfahrens contra legem wäre. Zwar ist auch eine implizite Vertragsänderung durch eine spätere Übung nach Art. 31 Abs. 3 lit. b) grundsätzlich möglich,43 jedoch sind einer solchen im konkreten Fall dadurch Grenzen gesetzt, dass die Aarhus-Konvention für eine Vertragsänderung ausdrücklich ein Verfahren bereithält, das sich nach Art. 14 Abs. 3 AarhusKonvention richtet.44 (4) Zwischenergebnis Eine solche generalisierende Betrachtungsweise wirft, wie aufgezeigt, zahlreiche rechtliche Probleme auf und ist daher kaum zu befürworten. cc) Kritische Einordnung Die Klassifizierung als „spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK nach Alternative 1 in Form des wiederholten Tätigwerdens kommt ohne Mutmaßungen bezüglich einer rechtsverbindlichen Willensäußerung der Tagung der Vertragsparteien aus. In Abgrenzung zu der Ansicht unter Alternative 1, die ein einmaliges Tätigwerden der Tagung der Vertragsparteien ausreichen lässt, bereitet hier die Subsumtion auch dann keine Probleme, wenn die Tagung der Vertragsparteien einmal Erkenntnisse des ACCC (trotz vorher anderslautender Praxis) 43 Vgl. Dörr/Schmalenbach/Dörr, Vienna Convention on the Law of Treaties – A Commentary, 2018, Art. 31, Rn. 77; Gardiner, Treaty Interpretation, 2015, S. 275 ff. 44 Vgl. Wegner, Subjektiv-rechtliche Ansätze im Völkerrecht zum Schutz biologischer Vielfalt, 2018, S. 694 f.; S. 703, Fn. 83.
A. Institutionelle Betrachtungen195
nicht bestätigen sollte. Dann liegt schlimmstenfalls ein Bruch mit einer bisherigen Auslegungsweise einer bestimmten Vorschrift der Aarhus-Konvention vor. Andere Auslegungsserien ließe dieser Sachverhalt jedoch unberührt. Sie könnten weiterhin als rechtsverbindliche, spätere Übung klassifiziert werden. In Abgrenzung zu der Annahme einer „späteren Übereinkunft“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK, muss das Willensmoment hier nicht konstruiert werden, sondern ergibt sich klar aus dem wiederholten, konsensualen Tätigwerden der Tagung der Vertragsparteien. Eine Subsumtion als „spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK nach Alternative 2 erscheint schließlich den aufgezeigten Erwägungen nach nicht vertretbar. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Verweigerung der Bestätigung durch die Tagung der Vertragsparteien in Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) und inzwischen auch in Fall ACCC/C/2015/128 entschieden gegen die Annahme spricht die Tagung der Vertragsparteien wolle derart generalisierend das ACCC als verbindliches Organ zur Konventionsauslegung einsetzen. c) Zwischenergebnis Eine Subsumtion unter Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVRK scheitert an einem klaren Willenszeugnis der Tagung der Vertragsparteien. Obwohl die einschlägige Literatur fast durchgängig sehr vage davon spricht, dass die Annahme-Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK eine „spätere Übung“ darstellen, die bei der Auslegung der Bestimmungen der Aarhus-Konvention zu berücksichtigen ist, kann auch das bei genauerem Hinsehen nicht in dieser Weise generalisierend verifiziert werden: Liegen hinsichtlich der konkreten Auslegungsfrage der Aarhus-Konvention mehrere Konsensentscheidungen der Tagung der Vertragsparteien vor, so ist jedenfalls richtig, dass man guten Gewissens von einer „späteren Übung“ nach Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK sprechen kann. Schwieriger ist die Frage in Bezug auf ein einmaliges Tätigwerden der Tagung der Vertragsparteien zu beantworten. Die wichtigste Voraussetzung wäre die umstrittene Annahme, dass ein einmaliges Tätigwerden überhaupt eine Übung begründen kann. Unter den aufgezeigten Umständen bleibt allerdings eine Subsumtion unter Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK in Form des wiederholten Tätigwerdens die rechtssicherste unter den vertretbaren Varianten. Nicht mehr vertretbar erscheint es aufgrund eines generalisierenden Willens der Tagung der Vertragsparteien alle Erkenntnisse des ACCC unter Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK zu subsumieren.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
d) Einordnung anhand der Studienergebnisse Trotz der Tatsache, dass die Tagung der Vertragsparteien allein die Kompetenz besitzt gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK zu berücksichtigende Entscheidungen zu treffen, deuten die Interviews mit den am Non-ComplianceVerfahren der Aarhus-Konvention beteiligten Gruppen darauf hin, dass das ACCC als eigentliches Entscheidungsgremium betrachtet wird. Damit konterkariert die rechtliche Kompetenzzuweisung zwischen der Tagung der Vertragsparteien und dem ACCC mit der tatsächlichen Wahrnehmung des ACCC. Die Teilnehmer wurden nach ihrer Position gegenüber der folgenden Aussage befragt: „With regard to the legal quality of its decisions, the ACCC resembles a court.“45 Dabei konnten sie zwischen 5 Skalenoptionen von „I fully disagree.“46 (1) bis „I fully agree.“47 (5) wählen. Ein Mittelwert von 3.76 weist deutlich in Richtung Zustimmung. „With regard to the legal quality of its decisions, the ACCC resembles a court.“ Teilnehmergruppe
Zahl der Interviews
Mittelwert
Mittelwert in Worten
Ehemalige Mitglieder des ACCC
1
3.00
neutral
Offizielle Vertreter der Vertragsparteien
1
5.00
fully agree
NGOs
14
3.71
agree
Wissenschaftler
5
3.80
agree
1,00–1,49 1,50–2,49 2,50–3,49 3,50–4,49 4,50–5,00
= = = = =
fully disagree; disagree; neutral; agree; fully agree
45 Übersetzung: „Im Hinblick auf die Rechtsqualität seiner Entscheidungen ähnelt das ACCC einem Gericht.“ 46 Übersetzung: „Ich stimme überhaupt nicht zu.“ 47 Übersetzung: „Ich stimme vollständig zu.“
A. Institutionelle Betrachtungen197
2. Möglichkeit der Suspendierung Zu den Maßnahmen, die das ACCC der Tagung der Vertragsparteien empfehlen kann, zählt auch die Suspendierung nach Art. 60 WVRK.48 Ein solcher Schritt ist fraglos rechtsverbindlicher Natur. Auch hier gilt jedoch zu betonen, dass das beschließende Gremium die Tagung der Vertragsparteien ist. Daher ist Vorsicht geboten die Möglichkeit der Suspendierung, die das Aarhus Non-Compliance-Verfahren vorsieht, als Argument für eine bestehende Gerichtsähnlichkeit des ACCC zu werten.49 Anders als im Rahmen der Frage um die Rechtsverbindlichkeit seiner Entscheidungen, verbinden die Studienteilnehmer die Möglichkeit einer Suspendierung wenig mit dem ACCC. Das mag nicht nur daran liegen, dass diese klassische Maßnahme nach Art. 60 WVRK unbedingt den Vertragsparteien zuzuordnen ist, sondern auch an deren Seltenheit. Bisher wurde im Rahmen des Non-Compliance-Verfahrens noch nie von einer Suspendierung Gebrauch gemacht. Die Studienteilnehmer wurden nach ihrer Meinung in Bezug auf folgende Aussage befragt: „The fact that the ACCC can recommend measures up to a suspension gives it a judicial character.“50 Wiederum standen 5 Skalenop tionen von „I fully disagree.“51 (1) bis „I fully agree.“52 (5) zur Auswahl. Ein neutraler Mittelwert von 2.50 weist eher in Richtung Ablehnung und ist der niedrigste Durchschnittswert unter den untersuchten Parametern zur Frage der Gerichtsähnlichkeit des ACCC.
48 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 37 (g); vgl. die Ausführungen zu den originären Maßnahmen der Tagung der Vertragsparteien oben 2. Kapitel A. IV. 2. d) bb) (1). 49 In einem ähnlichen Kontext aber Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (36 f.; 45), wenngleich diese es nicht vermissen lassen auf die untergeordnete Bedeutung der Suspendierung in der Praxis des Non-Compliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention hinzuweisen. 50 Übersetzung: „Die Tatsache, dass das ACCC Maßnahmen bis hin zu einer Suspendierung empfehlen kann, gibt ihm einen gerichtlichen Charakter.“ 51 Übersetzung: „Ich stimme überhaupt nicht zu.“ 52 Übersetzung: „Ich stimme vollständig zu.“
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
„The fact that the ACCC can recommend measures up to a suspension gives it a judicial character.“ Teilnehmergruppe
Zahl der Interviews
Mittelwert
Mittelwert in Worten
Ehemalige Mitglieder des ACCC
1
1.00
fully disagree
Offizielle Vertreter der Vertragsparteien
1
5.00
fully agree
NGOs
13
2.38
disagree
Wissenschaftler
5
2.60
neutral
1,00–1,49 1,50–2,49 2,50–3,49 3,50–4,49 4,50–5,00
= = = = =
fully disagree; disagree; neutral; agree; fully agree
3. Ablauf des Verfahrens und der formalen Verhandlungen (hearings) vor dem ACCC Die große Mehrheit der Fälle, die vor das ACCC gebracht werden, sind Individualbeschwerden (communications). Neben der betroffenen Vertragspartei und dem ACCC, für das ein Berichterstatter53 federführend mit dem Fall betraut ist, ist damit auch eine sich mit Fragen des Umweltschutzes beschäftigende NGO oder Einzelperson bzw. Gruppe von NGOs oder Einzelpersonen beteiligt. Diese Konstellation von Beteiligten erinnert in allen Stufen des Verfahrens an ein gerichtliches Verfahren. Das ACCC, welches durch unabhängige Experten54 besetzt ist, nimmt – anders als bei den anderen Verfahrensarten – selbst Kontakt mit der betroffenen Vertragspartei auf.55 In öffentlichen Sitzungen wird über die Zulässigkeit der Individualbeschwerden verhandelt.56 Verstärkt wird der Eindruck eines gerichtlichen Verfahrens, wenn im Rahmen der öffentlichen formalen Verhandlungen (hearings) Befragungen stattfinden und nach klassischem, kontradiktorischen Muster Argumente durch Vortrag und Schriftsatz ausgetauscht werden.57 53 Vgl.
zur Bestellung von Berichterstattern oben 2. Kapitel A. IV. 2. b) aa). zur Zusammensetzung des ACCC oben 2. Kapitel A. II. 1. a). 55 Vgl. zur Konsultation der betroffenen Vertragspartei im Rahmen der Individualbeschwerde oben 2. Kapitel A. IV. 2. a). 56 Vgl. zur Teilnahme der Öffentlichkeit an den Sitzungen des ACCC oben 2. Kapitel A. II. 1. 57 Vgl. zu den formalen Verhandlungen (hearings) vor dem ACCC oben 2. Kapitel A. IV. 2. b) dd). 54 Vgl.
A. Institutionelle Betrachtungen199
Damit liegt in den beschriebenen Konstellationen ein Verfahrenstypus zugrunde, der der Forderung eines „nichtstreitig angelegten“ Verfahrens aus Art. 15 Aarhus-Konvention eher wenig entspricht.58 Andererseits wird diese Sichtweise, die sehr vom äußeren Erscheinungsbild her argumentiert dem ACCC in seiner inhaltlich moderierenden und ganz der Einhaltung der Konvention verpflichteten Rolle nicht gerecht. Bei allen äußeren Ähnlichkeiten zu einem gerichtlichen Verfahren nimmt das ACCC nicht ausschließlich die Rolle eines strengen Wächters über die Einhaltung der Aarhus-Konvention wahr, sondern vor allem auch eines Moderators und Vermittlers. Es bleibt ein stetiger Ausgleich von Konsens und Konfrontation.59 Im Mittelpunkt steht nicht der einzelne Beschwerdeführer, sondern das Beheben der strukturellen Ursachen der Nichterfüllung. Das zeigt beispielsweise das Rechtsinstitut der summary proceedings.60 Dieses Verfahrens wird sich bei neuen Fällen bedient, die sich bereits entschiedenen Fällen inhaltlich ähneln. Der Beschwerdeführer des neuen Falls wird zur noch laufenden Nachbereitung (follow-up) des vorher entschiedenen Falls hinzugezogen. Ihm wird im Rahmen der Nachbereitung ein ähnlicher Status eingeräumt wie einem Beschwerdeführer, sodass beide gemeinsam mit der betroffenen Vertragspartei in Kontakt treten können, um durch ihre Stellungnahmen das Erfüllungsverhalten der betroffenen Vertragspartei zu verbessern. Mit Blick auf den Ablauf der Verfahren und der formalen Verhandlungen (hearings) schöpft das ACCC vielmehr den Umfang und Grenzen seines Mandats aus. In der Beobachtung des Verfahrens vor dem ACCC ausschließlich Parallelen zu einem gerichtlichen Verfahren hervorzuheben, bedeutet das Wesen des ACCC als Moderator im Sinne der Konvention zu unterschätzen. Das bestätigen auch die Interviews mit den am Non-Compliance-Verfahren der Aarhus-Konvention beteiligten Gruppen. Die Teilnehmer wurden mit folgender Aussage konfrontiert: „Conducting negotiations, such as formal hearings, before the ACCC is similar to a judicial procedure.“61 Auch hier konnten sie zwischen 5 Skalenoptionen von „I fully disagree.“62 (1) bis „I fully agree.“63 (5) wählen. Im Ergebnis besteht bei einem neutralen Mittelwert von 3.15 eine allenfalls sehr verhalten positive Tendenz. 58 Zu diesem Ergebnis kommen gerade hinsichtlich der formalen Verhandlungen (hearings) auch Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (52). 59 Vgl. die institutionellen Betrachtungen zum Non-Compliance-Verfahren oben 1. Kapitel B. III. 60 Vgl. die Ausführungen zu den besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen der Individualbeschwerde oben 2. Kapitel A. IV. 1. c) cc) (1). 61 Übersetzung: „Die Verfahrensführung vor dem ACCC, z. B. im Rahmen der formalen Verhandlungen (hearings), ähnelt einem gerichtlichen Verfahren.“ 62 Übersetzung: „Ich stimme überhaupt nicht zu.“ 63 Übersetzung: „Ich stimme vollständig zu.“
200
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
„Conducting negotiations, such as formal hearings, before the ACCC is similar to a judicial procedure.“ Teilnehmergruppe
Zahl der Interviews
Mittelwert
Mittelwert in Worten
Ehemalige Mitglieder des ACCC
1
1.00
fully disagree
Offizielle Vertreter der Vertragsparteien
1
4.00
agree
NGOs
13
3.54
agree
Wissenschaftler
5
2.40
disagree
1,00–1,49 1,50–2,49 2,50–3,49 3,50–4,49 4,50–5,00
= = = = =
fully disagree; disagree; neutral; agree; fully agree
4. Handhabung der Sachentscheidungsvoraussetzungen, insbesondere der Rechtswegerschöpfung Besonders die Prüfung der Frage der Rechtswegerschöpfung wurde in der jüngeren Vergangenheit aufgrund einer beobachteten, strikter werdenden Handhabung durch das ACCC als Aspekt beschrieben, der das ACCC in die Nähe eines Gerichts rücke.64 Dabei liegt die Hypothese zugrunde, dass eine strikte Handhabung von prozessualen Voraussetzungen eher ein Gericht kennzeichnet, wohingegen Erfüllungsausschüsse eher nach flexibleren Regeln arbeiten. Tatsächlich gehört eine konsultativ-deliberative Fallbearbeitungstechnik zu den Kernmerkmalen eines Erfüllungsausschusses.65 Demgegenüber hat das ACCC – wie im 2. Kapitel unter A. IV. beschrieben – eine differenzierte Methodik der Fallbearbeitung entwickelt. Auch dieser Umstand ist der Tatsache zu verdanken, dass das ACCC vorwiegend über Individualbeschwerden (communications) entscheidet. Anders als es das „Montrealer Modell“ vorsieht, liegt in Form des Individualbeschwerdeverfahrens ein einzigartiger Verfahrenstypus vor, der es notwendig macht eine größere Zahl an Verfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und einheitlichem Muster zu bearbeiten. Unausweichlich erscheint es daher sich prozessual an gerichtlichen Strukturen zu orientieren. 64 Vgl. Fasoli/McGlone, NILR 2018, 27 (45 ff.); vgl. die Ausführungen zur Rechtswegerschöpfung oben 2. Kapitel A. IV. 1. c) ff). 65 Vgl. die Ausführungen im 1. Kapitel zum beispielhaften Non-ComplianceVerfahren des Montrealer Protokolls, insbesondere zur Verfahrensmaxime der Partnerschaftlichkeit.
A. Institutionelle Betrachtungen201
Es verwundert nicht, dass gerade die Interviews mit den am Individual beschwerdeverfahren beteiligten NGOs diesbezüglich die höchste Zustimmungsrate zeigen und damit in Bezug auf die Verfahrensführung die These der Gerichtsähnlichkeit bestätigen (Mittelwert: 3.77).66 Die Teilnehmer wurden zu ihrer Haltung gegenüber folgender Aussage befragt: „The ACCC’s handling of procedural prerequisites, for example the exhaustion of remedies-rule, is similar to a judicial examination.“67. Hierbei standen erneut 5 Skalenoptionen von „I fully disagree.“68 (1) bis „I fully agree.“69 (5) zur Auswahl. Die These, dass die Handhabung der Sachentscheidungsvoraussetzungen, insbesondere der Rechtswegerschöpfung, einer gerichtlichen Prüfung gleicht, wurde insgesamt bestätigt (Mittelwert: 3.65). „The ACCC’s handling of procedural prerequisites, for example the exhaustion of remedies-rule, is similar to a judicial examination.“ Teilnehmergruppe
Zahl der Interviews
Mittelwert
Mittelwert in Worten
Ehemalige Mitglieder des ACCC
1
3.00
neutral
Offizielle Vertreter der Vertragsparteien
1
4.00
agree
NGOs
13
3.77
agree
Wissenschaftler
5
3.40
neutral
1,00–1,49 1,50–2,49 2,50–3,49 3,50–4,49 4,50–5,00
= = = = =
fully disagree; disagree; neutral; agree; fully agree
5. Ergebnis Die vorstehenden Untersuchungen zeigen, dass sich Wahrnehmung und rechtswissenschaftliche Wirklichkeit in Bezug auf eine mögliche, wachsende Gerichtsähnlichkeit des Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konven66 Der Vergleich bezieht sich auf die Mittelwerte der Interviews mit NGO-Vertretern bei allen vier abgefragten Parametern zur These der Gerichtsähnlichkeit. Alle Rohdaten der Studie sind dem Anhang zu dieser Arbeit zu entnehmen. 67 Übersetzung: „Die Handhabung der Sachentscheidungsvoraussetzungen durch das ACCC, beispielsweise der vorherigen Rechtswegerschöpfung, gleicht einer gerichtlichen Prüfung.“ 68 Übersetzung: „Ich stimme überhaupt nicht zu.“ 69 Übersetzung: „Ich stimme vollständig zu.“
202
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
tion nicht immer entsprechen und diesbezüglich in hohem Maße differenziert werden muss. Die Entscheidungen des ACCC sind nicht rechtsverbindlich. Es liegt jedoch jedenfalls dann eine rechtlich zu berücksichtigende „spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK vor, wenn die inhaltliche Auslegung der Aarhus-Konvention durch mehrere Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien im Sinne einer Auslegungsserie bestätigt worden ist (endorsement). Obwohl formaler Entscheidungsträger die Tagung der Vertragsparteien ist, konnte im Rahmen der Studienergebnisse gezeigt werden, dass das ACCC dabei tendenziell als gerichtsähnlicher Entscheidungsträger wahrgenommen wird. Während das ACCC im Allgemeinen durch die Studienteilnehmer als gerichtsähnlicher Entscheidungsträger wahrgenommen wird, wird die Möglichkeit einer Suspendierung gem. Art. 60 WVRK als schärfste Maßnahme eher nicht mit dem ACCC in Verbindung gebracht. Hier entsprechen sich das rechtlich begrenzte Handlungsvermögen des ACCC und dessen Wahrnehmung, was an der Seltenheit der Maßnahme und ihrer eindeutigen Zuordnung zu den Kompetenzen der Vertragsparteien liegen mag. Obwohl das hauptsächlich gebrauchte Individualbeschwerdeverfahren besonders bei Durchführung der formalen Verhandlungen (hearings) strukturell an ein gerichtliches Verfahren erinnert, wird eine solche verengte Sichtweise dem Wesen und den Aufgaben des ACCC nicht gerecht. Die verhalten positive Wahrnehmung der Studienteilnehmer stützt die These einer Einordnung des ACCC als Gremium, das sowohl von seiner Zuordnung zu den Erfüllungsausschüssen, als auch von einer Anlehnung an gerichtliche Verfahren lebt und Umfang sowie Grenzen seines Mandats diesbezüglich vollständig ausschöpft. Bei der Handhabung der Sachentscheidungsvoraussetzungen, insbesondere der Rechtswegerschöpfung, ist eine Orientierung des ACCC an gerichtlichen Vorbildern zu beobachten. Das mag am Bedürfnis liegen eine größere Anzahl an Verfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und einheitlichem Muster zu bearbeiten. Besonders die NGOs, die sich regelmäßig den prozessualen Hürden des Non-Compliance-Verfahrens gegenübersehen, haben diese These im Rahmen der Studie bestätigt.
III. Gerichtsähnlichkeit und Mehrebenensystem Das ACCC ist kein Gericht und die vorstehenden Untersuchungen haben gezeigt, dass in Bezug auf die These der Gerichtsähnlichkeit des ACCC erheblich differenziert werden muss. Dennoch kommt dem ACCC besonders in
A. Institutionelle Betrachtungen203
der fachöffentlichen Wahrnehmung seiner Entscheidungen nach eine durchaus gerichtsähnliche Stellung zu, wie die Studien-Ergebnisse belegen. Diese Wahrnehmung liegt rechtlich unter anderem in der Tatsache begründet, dass die Entscheidungen des ACCC inhaltlich durch eine Bestätigung (endorsement) der Tagung der Vertragsparteien zu einer „späteren Übung“ nach Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK führen können, die für die Auslegung der Aarhus-Konvention eine gewisse Verbindlichkeit besitzt. Das wirft die Frage danach auf, wie das ACCC als Gremium, das die Auslegung der AarhusKonvention in diesem Maß prägt, durch den Europäischen Gerichtshof sowie die Höchstgerichte der Vertragsstaaten wahrgenommen wird. 1. Zum Verhältnis von ACCC und Europäischem Gerichtshof Der Europäische Gerichtshof hat bisher in keiner Entscheidung Bezug auf die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen (findings and recommendations) des ACCC genommen. Das allein ist bezeichnend.70 Der Europäische Gerichtshof hat außerdem in Form seines Gutachtens 2/13 zum EMRK-Beitritt der Europäischen Union und des Urteils in der Rs. C-284/16 (Achmea), inzwischen nachgefolgt von Rs. C-741/19 (Komstroy), bereits mehrfach zu erkennen gegeben, welche Haltung er gegenüber überstaatlichen Entscheidungskörpern einnimmt, die Einfluss auf das Unionsrecht ausüben könnten. Anders haben die Generalanwälte Kokott, Cruz Villalón, Jääskinen und Bobek das ACCC in den Jahren 2012 bis 2020 in neun Schlussanträgen zitiert.71 Interessant daran ist, dass die Generalanwälte immer die Erkenntnisse 70 Einzig das Gericht der Europäischen Union hat in einem Fall – wenn auch ohne konkrete eigene Einlassung – Stellung zu den Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen des ACCC genommen: „Selbst angenommen, dass diese Empfehlungen für die Vertragsparteien des Übereinkommens von Aarhus zwingend wären, handelt es sich dabei jedenfalls, wie die Kommission zu Recht bemerkt hat, um einen bloßen Entwurf, der, wie der Kläger in seiner Erwiderung eingeräumt hat, erst am 17. März 2017, d. h. nach dem Erlass der angefochtenen Entscheidung, von dem genannten Ausschuss angenommen wurde. Somit erübrigt sich eine Beantwortung der Frage, ob die Empfehlungen des Ausschusses zur Prüfung der Einhaltung des Übereinkommens von Aarhus bei der in Art. 10 des Übereinkommens von Aarhus vorgesehenen Tagung der Vertragsparteien hätten angenommen werden müssen, wie die Kommission unter Bezugnahme auf den Leitfaden zur Anwendung des Übereinkommens von Aarhus geltend macht, oder ob dies nicht erforderlich war, wie der Kläger meint.“ – EuG, Urteil vom 27.09.2018, ECLI:EU:T:2018:616, Rn. 86. 71 Vgl. die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott: EuGH, Rs. C-260/11, ECLI:EU:C:2012:645, Rn. 8; 36; 37; 58 (18.10.2012); EuGH, Rs. C-243/15, ECLI: EU:C:2016:491, Rn. 66 (30.06.2016); EuGH, Rs. C-411/17, ECLI:EU:C:2018:972, Rn. 52; 97; 101 (29.11.2018); EuGH, Rs. C-280/18, ECLI:EU:C:2019:449, Rn. 30; 33; 42; 52; 53; 54; 61; 98; 100; 101; 106 (23.05.2019). Vgl. den Schlussantrag des Generalanwalts Cruz Villalón: EuGH, Rs. C-72/12, ECLI:EU:C:2013:422, Rn. 101
204
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
und Handlungsempfehlungen des ACCC zitieren, nicht jedoch die diesbezüglichen (zu einer gewissen Rechtsverbindlichkeit führenden) Beschlüsse der Tagung der Vertragsparteien. Im Folgenden werden zunächst die Aussagen der Generalanwälte Kokott und Cruz Villalón betrachtet, die näher zum ACCC als Institution Stellung genommen haben. Danach werden die Implikationen des Gutachtens 2/13 und des Urteils in der Rs. C-284/16 (Achmea) in Bezug auf das Verhältnis zwischen Europäischem Gerichtshof und ACCC analysiert. Abschließend werden die Ergebnisse den Einschätzungen der Fachöffentlichkeit gegenübergestellt. a) Die Position von Generalanwältin Kokott Kokott war die erste der Generalanwälte, die 2012 – über sieben Jahre, nachdem das ACCC über seinen ersten Fall entschieden hatte – auf die Entscheidungen des Gremiums zurückgriff: „Schließlich ist auf die Spruchpraxis des Komitees zur Überwachung der Einhaltung des Übereinkommens von Aarhus (Aarhus Convention Compliance Committee, nachfolgend: Überwachungsausschuss) hinzuweisen. Dieser mit Experten besetzte Überwachungsausschuss wurde von den Vertragsparteien eingesetzt, um zu der in Art. 15 des Übereinkommens vorgesehenen Überprüfung der Einhaltung seiner Bestimmungen beizutragen. Er untersucht vor allem Individualbeschwerden. Seine Untersuchungen schließt er durch so genannte ‚Feststellungen und Empfehlungen‘ ab.“72
In den Folgejahren setzte sie sich in ihren Schlussanträgen immer wieder mit den Positionen des ACCC auseinander. Die größte Anerkennung seitens eines Generalanwalts kam dem ACCC bisher in den Schlussanträgen von Kokott zu Rs. C-280/18 (Flausch u. a.) zu. Dort wurden dessen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen in dreizehn Fußnoten zitiert. Bereits eingangs stellt Kokott fest: „Diese Bestimmungen [der UVP-Richtlinie] müssen im Licht des Übereinkommens von Aarhus ausgelegt werden, zu dessen Umsetzung sie beitragen. Daher enthalten die von den Vertragsparteien, einschließlich der Union, gebilligte Spruchpraxis des Komitees zur Überwachung der Einhaltung des Übereinkommens von (20.06.2013). Vgl. die Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen: EuGH, verb. Rs. C-401/12 P bis C-403/12 P, ECLI:EU:C:2014:310, Rn. 108; 114; 151 (08.05.2014). Vgl. den Schlussantrag des Generalanwalts Bobek: EuGH, Rs. C-529/15, ECLI: EU:C:2017:1, Rn. 86 (10.01.2017); EuGH, Rs. C-826/18, ECLI:EU:C:2020:514, Rn. 13; 19; 20; 23; 66 (02.07.2020). 72 Schlussantrag der Generalanwältin Kokott vom 18.10.2012 zu EuGH, Rs. C-260/ 11, ECLI:EU:C:2012:645, Rn. 8.
A. Institutionelle Betrachtungen205 Aarhus (im Folgenden ACCC für Aarhus Convention Compliance Committee) und die von den Vertragsparteien in Auftrag gegebenen, zur Kenntnis genommenen und anerkannten Maastricht Recommendations on Promoting Effective Public Participation in Decision-making in Environmental Matters (Maastrichter Empfehlungen zur Förderung der effektiven Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren in Umweltangelegenheiten) nützliche Hinweise für die Beurteilung der vorliegenden Fragestellungen.“73
Kokott erklärte also in der Vergangenheit im Rahmen ihrer Schlussanträge die Funktion des ACCC und bezeichnete dessen Entscheidungen als „nütz liche Hinweise“, eine Einordnung in Bezug auf deren rechtliche Bindungswirkung fand jedoch nicht statt.74 Womöglich liegt dies daran, dass es der Autorität eines Zitats des ACCC nicht unbedingt zuträglich ist, vorher klarzustellen, dass dessen Entscheidungen nicht rechtlich bindend sind. Anders hingegen verfuhr Generalanwalt Cruz Villalón. b) Die Position von Generalanwalt Cruz Villalón Als zweites nach Kokott nahm Generalanwalt Cruz Villalón auf die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC Bezug. Im Jahr 2013 schrieb er im Rahmen der Rs. C-72/12 (Gemeinde Altrip u. a.) bezüglich einer Einschätzung des ACCC: „Obwohl diese Vorgabe für den Gerichtshof nicht bindend ist, stützt sie doch meine Auslegung der Konvention.“75 Deutlich distanzierter als Kokott stellt Cruz Villalón damit klar, dass er die inhaltliche Auslegung der Aarhus-Konvention durch das ACCC zwar achtet, sie jedoch nicht als für den Gerichtshof bindend betrachtet.
73 Schlussantrag der Generalanwältin Kokott vom 23.05.2019 zu EuGH, Rs. C-280/ 18, ECLI:EU:C:2019:449, Rn. 30. 74 Von einer „Steuerungswirkung“ der Entscheidungen des ACCC analog zu den Gremien des internationalen Menschenrechtsschutzes, in Richtung der die Ausführungen der Generalanwältin möglicherweise deuten, ist hingegen zu lesen bei Peters, EurUP 2014, 185 (187). Diese nimmt Bezug auf die Einlassungen des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Diallo“ zum Stellenwert der Empfehlungen des Ausschusses zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, siehe ICJ, Guinea v. Democratic Republic of the Congo, ICJ Reports 2010, S. 664, Rn. 66 – Ahmadou Sadio Diallo. 75 Schlussantrag des Generalanwalts Cruz Villalón vom 20.06.2013 zu EuGH, Rs. C-72/12, ECLI:EU:C:2013:422, Rn. 101.
206
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
c) Eine mögliche Position des Europäischen Gerichtshofs In Form des Gutachtens 2/13 zum Beitritt der Europäischen Union zur EMRK76 und des Urteils in der Rs. C-284/16 (Achmea)77 hat der Europäische Gerichtshof in jüngerer Zeit zu überstaatlichen Entscheidungskörpern Stellung genommen, deren mögliche Entscheidungskompetenz sich mit dem Unionsrecht überschneiden kann. Beide Male nahm der Europäische Gerichtshof eine derart kritische Haltung ein, dass sich erahnen lässt, warum die Entscheidungen des ACCC bisher nie von ihm zitiert wurden. Im Rahmen des Gutachtens 2/13 hatte der Europäische Gerichtshof darüber zu befinden, ob der damalige Entwurf eines Beitrittsvertrags der Europäi schen Union zur EMRK mit den Europäischen Verträgen vereinbar war. Ein solcher Beitritt hätte nach dem Vertragsentwurf bedeutet, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über die Vereinbarkeit von Unionsrecht mit der EMRK entscheiden hätte können. Im Fall der Rs. C-284/16 (Achmea) hatte der Europäische Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV darüber zu urteilen, ob Schiedsklauseln im Rahmen von bilateralen Investitionsschutzabkommen (BITs) zwischen Mitgliedstaaten mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Solche Schiedsklauseln führen dazu, dass Schiedsgerichte über den investitionsschutzrechtlichen Konflikt der Mitgliedstaaten verbindlich entscheiden und dabei gegebenenfalls auch unionsrechtliche Vorschriften auslegen, die im Rahmen der Streitigkeit eine Rolle spielen. Die nachfolgenden Analysen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sollen zeigen, dass dieser eine Bezugnahme auf die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC nicht nur mit Blick auf deren grundsätzliche Unverbindlichkeit, sondern auch aus systemischen Gründen abzulehnen scheint. Dies fügt sich in den Kontext einer verfolgten Politik jurisdiktionellen Hegemoniestrebens des Europäischen Gerichtshofs ein. aa) Gutachten 2/13 zum Beitritt der EU zur EMRK Als der Europäische Gerichtshof sich im Dezember 2014 zum Beitritt der Europäischen Union zur EMRK äußerte war dies schon das zweite Mal, dass jener sich gegen einen Beitritt zu den ausgehandelten Bedingungen richtete. Bereits 1996 benannte er eine mangelnde Ermächtigungsgrundlage in den 76 EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454 – EMRK-Beitritt II. 77 EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158 – Achmea.
A. Institutionelle Betrachtungen207
Europäischen Verträgen als Hindernis für einen Beitritt.78 Einige Jahre später – nach Einführung von Art. 6 Abs. 2 EUV – hatte der Europäische Gerichtshof erneut im Wege eines Gutachtenverfahrens nach Art. 218 Abs. 11 AEUV die Frage eines Beitritts zu untersuchen. (1) Inhalt des Beitrittsabkommens Jahre der Verhandlungen haben dazu geführt, dass durch das Beitrittsabkommen drei Rechtsinstitute etabliert werden sollten, um sicherzustellen, dass die Kompetenzordnung der Europäischen Union nach innen und die Integrität des Unionsrechts mit dem Europäischen Gerichtshof als deren Garant und obersten Wächter nach außen gewahrt bleibt.79 Ein so genannter „Mitbeschwerdegegnermechanismus“ sollte nach Art. 3 Abs. 2 und 3 des Abkommensentwurfs der Europäischen Union bzw. den Mitgliedstaaten erlauben als weiterer Beschwerdegegner an die Seite des jeweils anderen zu treten, wenn dieser sich einer Beschwerde gegenübersieht. So sollte sichergestellt werden, dass die innerunionale Verantwortungsteilung im Mehrebenensystem ausreichend Berücksichtigung findet.80 Denn im Fall einer Menschenrechtsverletzung durch Primärrecht, können nur die Mitgliedstaaten Abhilfe schaffen. Umgekehrt sind die Mitgliedstaaten im Fall einer Menschenrechtsverletzung durch Sekundärrecht auf Abhilfe durch die Europäische Union angewiesen, um nicht entweder menschenrechtswidrig oder unionsrechtswidrig zu handeln. Der beschriebene Mechanismus stand gem. Art. 3 Abs. 5 des Abkommensentwurfs allerdings unter dem Vorbehalt einer Plausibilitätsprüfung der eingehenden Anträge durch den EGMR. Weiterhin sollte folgerichtig gem. Art. 3 Abs. 7 des Abkommensentwurfs ein „Grundsatz der gemeinsamen Verantwortlichkeit“ etabliert werden, nach dem die Europäische Union und die Mitgliedstaaten immer gemeinsam haften, soweit nicht der EGMR aufgrund des Vorbringens der Beteiligten entscheidet, dass nur einer von ihnen haftet.
78 Vgl. EuGH, Gutachten 2/94 vom 28.03.1996, ECLI:EU:C:1996:140 – EMRKBeitritt I. 79 Vgl. den Entwurf des Beitrittsabkommens als Teil des Abschlussberichts des Lenkungsausschusses des Europarates vom 10.06.2013, Doc. 47+1(2013)008rev2, abrufbar unter https://www.echr.coe.int/Documents/UE_Report_CDDH_ENG.pdf, abgerufen am 26.08.2021; siehe zu diesem Zweck des Beitrittsabkommens und seinem Ansatz die sehr anschaulichen Ausführungen von Wendel, NJW 2015, 921 (922), dessen treffende Einschätzungen insgesamt den hier dargebrachten Ausführungen unter anderem zugrunde liegen. 80 Siehe dazu sehr anschaulich Wendel, NJW 2015, 921 (922).
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
Schließlich war gem. Art. 3 Abs. 6 des Abkommensentwurfs beabsichtigt ein „Vorabbefassungsverfahren“ einzurichten, d. h. dem Europäischen Gerichtshof sollte in den entsprechenden Fällen vor einer Befassung des EGMR Gelegenheit dazu gegeben werden, über die Vereinbarkeit des Unionsrechts mit dem entsprechenden Grund- bzw. Menschenrecht zu entscheiden. So hätte der Europäische Gerichtshof die Möglichkeit gehabt – sollte im Vorfeld die unionsrechtliche Vorlagepflicht missachtet worden sein – zunächst selbst eine entsprechende Prüfung vorzunehmen.81 (2) Stellungnahme der Generalanwältin Kokott Generalanwältin Kokott nahm im Rahmen ihrer Stellungnahme eine positive Haltung gegenüber den ausgehandelten Beitrittsbedingungen ein.82 Sie sah den Entwurf des Abkommens grundsätzlich als mit den Verträgen vereinbar an, sofern gewisse Voraussetzungen völkerrechtlich verbindlich sichergestellt seien:83 Mit Blick auf eine mögliche, effektive Antragstellung auf Mitbeschwerdegegnerschaft müsse eine systematische und ausnahmslose Information über die anhängigen Beschwerden erfolgen. Auf die Plausibilitätsprüfung durch den EGMR müsse verzichtet werden. Die Vorabbefassung des Europäischen Gerichtshofs müsse umfassend bezüglich aller Fragen der Auslegung des Primärrechts und des Sekundärrechts geschehen. Von einer Vorabbefassung dürfe nur dann abgesehen werden können, wenn sich der Europäische Gerichtshof bereits offensichtlich mit der konkreten Rechtsfrage beschäftigt habe. Etwaige Vorbehalte der Vertragsparteien im Sinne von Art. 57 EMRK müssten trotz des Grundsatzes der gemeinsamen Verantwortlichkeit geachtet werden. Und schließlich dürfe der EGMR keine Abweichungsentscheidungen von diesem Grundsatz treffen können. Mit diesen Forderungen der Generalanwältin, die sie dem Europäischen Gerichtshof in ihrer Stellungnahme anempfahl, stärkte sie zwar deutlich die Position der Union, ihrer Mitgliedstaaten und des Europäischen Gerichtshofs, stellte jedoch den gefundenen Grundkonsens nicht in Frage.
81 Siehe insbesondere zum Gesichtspunkt der Missachtung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht in diesem Kontext erneut Wendel, NJW 2015, 921 (922). 82 Vgl. Stellungnahme der Generalanwältin Kokott vom 13.06.2014, ECLI:EU: C:2014:2475. 83 Vgl. Stellungnahme der Generalanwältin Kokott vom 13.06.2014, ECLI:EU: C:2014:2475, Rn. 280.
A. Institutionelle Betrachtungen209
(3) Inhalt des Gutachtens 2/13 Ganz anders fiel das Gutachten des Europäischen Gerichtshofs aus, das in seiner Kompromisslosigkeit und Entschiedenheit weit über die Forderungen der Generalanwältin hinaus ging.84 Der Gerichtshof kritisierte – wie auch die Generalanwältin –, dass der Mitbeschwerdegegnermechanismus dem Abkommensentwurf nach unter Vorbehalt einer Plausibilitätsprüfung durch den EGMR steht.85 Er stimmte ihr auch insofern bei, als dass eine Vorabbefassung umfassend erfolgen müsse, d. h. sich auf die Kontrolle von Gültigkeit und Auslegung des Sekundärrechts beziehen müsse.86 Während die Generalanwältin noch gefordert hatte, dass der EGMR von einer Vorabbefassung nur absehen könne, wenn der Europäische Gerichtshof die Rechtsfrage bereits offensichtlich entschieden habe, ging dies dem Europäischen Gerichtshof bereits einen Schritt zu weit. Er ist der Meinung, dass der EGMR überhaupt keine Entscheidung darüber treffen dürfe, ob er eine Rechtsfrage bereits entschieden habe, die Gegenstand eines Verfahrens vor dem EGMR ist.87 Vielmehr sei der Europäische Gerichtshof in jedem Fall umfassend zu informieren, um selbst prüfen zu können, ob er schon über die entsprechende Rechtsfrage befunden hat.88 Auch bezüglich des Grundsatzes der gemeinsamen Verantwortlichkeit wollte der Europäische Gerichtshof nicht – wie die Generalanwältin – dem EGMR nur die Kompetenz über Abweichungsentscheidungen nehmen, sondern sah jede Entscheidung über die Verteilung von Verantwortlichkeiten innerhalb seines eigenen Kompetenzbereichs.89 Dem fügte der Europäische Gerichtshof vier weitere Punkte hinzu, die er – anders als die Generalanwältin – für problematisch ansah:90 So war er der Meinung, dass es an einer Abstimmung der Schutzniveauklauseln der Art. 53 84 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454 – EMRKBeitritt II. 85 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 222– 225 – EMRK-Beitritt II. 86 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 242– 247 – EMRK-Beitritt II. 87 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 238– 240 – EMRK-Beitritt II. 88 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 241 – EMRK-Beitritt II. 89 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 234 – EMRK-Beitritt II. 90 Siehe die Aufzählung bei Wendel, NJW 2015, 921 (923).
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
EMRK und Art. 53 GRCh mangele.91 Weiterhin bestehe die Gefahr einer Beeinträchtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.92 Überdies sei das Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV vor dem 16. Zusatzprotokoll zur EMRK zu bewahren, welches nationalen Obergerichten ermöglicht dem EGMR grundsätzliche Rechtsfragen mit Menschenrechtsbezug zur Begutachtung vorzulegen.93 Es bestehe weiterhin die Gefahr, dass der EGMR durch eine Staatenbeschwerde hinsichtlich innerunionaler Streitigkeiten bezüglich der Auslegung des Unionsrechts entscheiden würde. Dadurch könne Art. 344 AEUV verletzt werden.94 Zuletzt werde durch einen Beitritt der Europäischen Union zur EMRK nach den Bedingungen des Abkommensentwurfs die gerichtliche Kontrolle im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) unionsrechtswidrig ausschließlich dem EGMR anvertraut.95 (4) Bewertung Der Europäische Gerichtshof mag in vielen Punkten berechtigte Kritik angebracht haben, es ist jedoch in der rechtswissenschaftlichen Literatur weit überwiegende Meinung, dass ein Beitritt der Europäischen Union zur EMRK daran nicht hätte scheitern müssen.96 Das zeigt auch die Stellungnahme der Generalanwältin. Es stand die Frage im Raum, ob der Europäische Gerichtshof sich teilweise unter die Kontrolle durch ein externes Gericht begeben kann und will. Die vorgebrachten Argumente lassen den Schluss zu, dass hier ein Nicht-Können einem Nicht-Wollen folgen musste. 91 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 187– 190 – EMRK-Beitritt II. 92 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 191– 195 – EMRK-Beitritt II. 93 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 196– 200 – EMRK-Beitritt II. 94 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 201– 214 – EMRK-Beitritt II. 95 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 249– 257 – EMRK-Beitritt II. 96 Siehe nur Streinz/Michl, EUV/AEUV, 2018, Art. 6 EUV, Rn. 19: „Mehrere Fehlleistungen durchziehen diese Entscheidung“, unter Verweis auf die kritischen Anmerkungen von Breuer, EuR 2015, 330; Franzius, EuGRZ 2015, 139 (144 f.); Lock, EuConst 2015, 239; Möllers, ZEuP 2015, 461 (466 f.); Peers, German L. J. 2015, 213; Thym, EuZW 2015, 180; Tomuschat, EuGRZ 2015, 133 und Wendel, NJW 2015, 921 sowie die verständnisvolleren Beiträge von Aust, EuR 2017, 106 (114 ff.) und Halberstam, German L. J. 2015, 105. Und weiter (Streinz/Michl, EUV/AEUV, 2018, Art. 6 EUV, Rn. 20): „Daher drängt sich der Eindruck auf, dass der EuGH die Beitrittsverpflichtung zur EMRK […], die er nicht explizit würdigte, absichtlich sabotierte, um sich der vorgesehenen externen Kontrolle zu entziehen.“
A. Institutionelle Betrachtungen211
bb) Urteil in der Rs. C-284/16 (Achmea) Das Urteil in der Rs. C-284/16 (Achmea) beruht auf einem Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV.97 Vorlegendes Gericht war der deutsche Bundesgerichtshof, nachdem Frankfurt am Main als Schiedsort festgelegt wurde und in erster Instanz das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zuständig gewesen ist.98 (1) Verfahrensinhalt Hintergrund war ein Schiedsspruch vom 7. Dezember 2012 bezüglich eines 1991 geschlossenen bilateralen Investitionsschutz-Abkommens (BIT) zwischen der damaligen Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik und dem Königreich der Niederlande. Das niederländische Versicherungsunternehmen Achmea BV hatte gegen die heutige Slowakische Republik geklagt, da letztere die Liberalisierung des privaten Krankenversicherungsmarktes teilweise rückgängig machte. Der Schiedsspruch sah vor, dass die Slowakische Republik 22,1 Mio. Euro Schadensersatz an das Versicherungsunternehmen zu zahlen habe. Hiergegen wandte sich die Slowakische Republik zunächst vor dem Oberlandesgericht. Dasselbe hat den Antrag zurückgewiesen, wogegen sich die Rechtsbeschwerde der Slowakischen Republik beim Bundesgerichtshof richtete. Der Bundesgerichtshof sah zwar selbst keinen Verstoß gegen Unionsrecht (in Rede standen Art. 344 AEUV, Art. 267 AEUV und Art. 18 Abs. 1 AEUV), hielt die sich stellenden Rechtsfragen jedoch aufgrund der Vielzahl von BITs zwischen EU-Mitgliedstaaten, die eine ähnliche Schiedsklausel enthalten, für klärungsbedürftig.99 Die erste Vorlagefrage greift eine Vorschrift auf, die auch in Gutachten 2/13 eine Rolle spielte. Art. 344 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als in den Verträgen vorgesehen zu regeln. Mit anderen Worten bedeutet das, dass der Europäische Gerichtshof ein Entscheidungsmonopol für Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen Mitgliedstaaten und der Euro päischen Union über die Auslegung und Anwendung der Verträge besitzt.100 97 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158 – Achmea; in dessen Nachfolge siehe inzwischen EuGH, Urteil vom 02.09.2021, ECLI:EU:C:2021:655 – Komstroy. 98 Eine ausführliche Einschätzung des Urteils liefert auch Stöbener de Mora, EuZW 2018, 363, deren pointierte Ausführungen insgesamt den folgenden Darlegungen unter anderem zugrunde liegen. 99 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 14 – Achmea. 100 Vgl. dazu Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV Kommentar, 2016, Art. 344 AEUV, Rn. 1.
212
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
Es stand mithin in Rede, ob diese ausschließliche Kompetenzzuweisung an den Europäischen Gerichtshof durch das Schiedsverfahren betreffend die beiden EU-Mitgliedstaaten Slowakische Republik und Königreich der Niederlande verletzt sein könnte. Im Rahmen der zweiten Vorlagefrage war weiterhin streitig, ob ein Schiedsgericht, das aufgrund eines Intra-EU-BIT entscheidet, möglicherweise Art. 267 AEUV (Vorabentscheidungsverfahren als Garantie der Autonomie des Unionsrechts) verletzen könnte. Auch diese Vorschrift war bereits Gegenstand der Erwägungen in Gutachten 2/13. Schließlich wurde dem Gerichtshof als dritte Vorlagefrage unterbreitet, ob die Möglichkeit eines Investors aus einem EU-Mitgliedstaat aufgrund eines Intra-EU-BIT einen Schiedsmechanismus in Anspruch zu nehmen gegenüber Investoren aus anderen EU-Mitgliedstaaten ohne BIT und Schiedsmechanismus eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gem. Art. 18 Abs. 1 AEUV darstellt. (2) Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet Generalanwalt Wathelet stellte im Sinne der Vorlagefragen und insofern übereinstimmend mit dem Bundesgerichtshof keine Verstöße gegen Art. 344 AEUV, Art. 267 AEUV und Art. 18 Abs. 1 AEUV fest.101 Er legte in umgekehrter Reihenfolge zunächst dar, dass keine Diskriminierung gem. Art. 18 Abs. 1 AEUV vorläge.102 Dies stützt er unter Verweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-376/03 darauf, dass sich ein Investor aus einem Mitgliedstaat mit BIT und ein Investor aus einem Mitgliedstaat ohne BIT nicht in derselben Lage befänden.103 Der Schiedsmechanismus stelle keine Vergünstigung dar, sondern sei ein integraler Bestandteil des BIT, ohne das es sinnlos wäre.104 Weiterhin subsumierte der Generalanwalt unter die Merkmale eines Gerichts i. S. v. Art. 267 AEUV und stellte fest, dass das zugrunde liegende Schiedsgericht als „Gericht eines Mitgliedstaats“ anzusehen sei und mithin 101 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: C:2017:699, Rn. 273. 102 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU:C: 2017:699, Rn. 49 ff. 103 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU:C: 2017:699, Rn. 75. 104 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: C:2017:699, Rn. 76.
A. Institutionelle Betrachtungen213
vorlageberechtigt sei.105 Eine Verletzung der unionsinternen Zuständigkeitsordnung und der Autonomie des Unionsrechts droht daher dem Generalanwalt nach durch das Schiedsgericht nicht. Mit Blick auf Art. 344 AEUV legte der Generalanwalt dar, dass aufgrund der Qualifikation des Schiedsgerichts als Gericht i. S. v. Art. 267 AEUV eine Inanspruchnahme desselben nicht im Stande sei Art. 344 AEUV zu beeinträchtigen.106 Hilfsweise prüfte er weiter, ob die zugrunde liegende Streitigkeit hinsichtlich der Parteien (Investor und Mitgliedstaat) und hinsichtlich ihres Gegenstands („Auslegung oder Anwendung der Verträge“?) unter Art. 344 AEUV zu subsumieren und der Schiedsmechanismus hinsichtlich seiner Zielsetzung mit Art. 344 AEUV vereinbar ist.107 Bezüglich der Streitparteien führte der Generalanwalt aus, dass Art. 344 AEUV ausschließlich für Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten und zwischen Mitgliedstaaten und der Europäischen Union gelte.108 Da es bei dem in Rede stehenden Schiedsverfahren um eine Streitigkeit zwischen einem Mitgliedstaat (Slowakische Republik) und einem Einzelnen (Achmea BV) gehe, sei dieser Sachverhalt nicht von Art. 344 AEUV erfasst, auch wenn das zur Streitbeilegung angerufene Schiedsgericht gehalten sei das Unionsrecht zu beachten oder anzuwenden.109 Zur Frage des Streitgegenstands legte der Generalanwalt dar, dass es sich vorliegend nicht um „Streitigkeiten bezüglich der Auslegung oder Anwendung der Verträge“ handelte.110 Die Zuständigkeit des Schiedsgerichts beschränke sich materiell auf Verstöße gegen das BIT.111 Der Anwendungsbereich des BIT und die mit diesem eingeführten Rechtsnormen seien nicht mit dem Anwendungsbereich und den Rechtsnormen des EUV und des AEUV identisch.112 105 Vgl. Schlussanträge C:2017:699, Rn. 86 ff. 106 Vgl. Schlussanträge C:2017:699, Rn. 133. 107 Vgl. Schlussanträge C:2017:699, Rn. 137. 108 Vgl. Schlussanträge C:2017:699, Rn. 146. 109 Vgl. Schlussanträge C:2017:699, Rn. 166 ff. 110 Vgl. Schlussanträge C:2017:699, Rn. 173 ff. 111 Vgl. Schlussanträge C:2017:699, Rn. 174 ff. 112 Vgl. Schlussanträge C:2017:699, Rn. 179 ff.
des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU:
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
Schließlich untersucht der Generalanwalt aus verschiedenen Blickwinkeln, ob das in Rede stehende BIT im Hinblick auf seine Zielsetzung zur Folge hat, dass die in EUV und AEUV festgelegte Zuständigkeitsordnung und die Autonomie des Rechtssystems der Europäischen Union beeinträchtigt werden.113 Unter vielen Aspekten legt er unter anderem dar, dass selbst wenn man davon ausginge, dass das Schiedsgericht kein Gericht i. S. v. Art. 267 AEUV sei, trotzdem Art. 344 AEUV nicht verletzt sei. Der vorliegend gestellte Antrag auf Aufhebung nach § 1059 ZPO beweise, dass der Rechtsweg auch über die ordentlichen mitgliedstaatlichen Gerichte zum Europäischen Gerichtshof führen könne.114 (3) Inhalt des Urteils Mit großer Entschlossenheit, jedoch im Rahmen eines vergleichsweise sehr kurzen Urteils,115 stellte sich der Europäische Gerichtshof den Auffassungen des Generalanwalts entgegen. Dabei stellte er seine Argumentation ganz unter den Gesichtspunkt der Wahrung der Autonomie des Unionsrechts, der als Ziel von Art. 344 und Art. 267 AEUV ausgehe.116 Dieses Ziel werde vorliegend durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Schiedsgerichts nach Art. 8 des BIT verletzt.117 Das Schiedsgericht lege möglichweise Unionsrecht aus oder wende es an.118 Es sei jedoch kein „Gericht eines Mitgliedstaats“ i. S. v. Art. 267 AEUV, sodass eine Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof unter diesem Aspekt nicht stattfinden könne.119 Auch über die Möglichkeit der Kontrolle des Schiedsspruchs durch ein mitgliedstaatliches Gericht sei keine adäquate Anbindung an das unionale Gerichtssystem gegeben.120 Es bestehe die Gefahr, dass über Streitigkeiten mit Unionsrechtsbezug
113 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: C:2017:699, Rn. 229 ff. 114 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 19.09.2017, ECLI:EU: C:2017:699, Rn. 244 ff. 115 Von „geradezu beleidigender Kürze“ sprechen Nacimiento/Bauer, BB 2018, 1347 (1347). 116 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 32–37 – Achmea. 117 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 59 – Achmea. 118 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 39–42 – Achmea. 119 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 43–49 – Achmea. 120 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 50–55 – Achmea.
A. Institutionelle Betrachtungen215
außerhalb des nach den Verträgen vorgesehenen Rechtswegs entschieden werde.121 Im Rahmen seines Urteils fasste der Europäische Gerichtshof die erste und zweite Vorlagefrage zusammen.122 Die dritte Vorlagefrage ließ er aufgrund des dargestellten Ergebnisses unbeantwortet, da es auf die Frage einer verbotenen Diskriminierung nach Art. 18 Abs. 1 AEUV aufgrund des bereits gefundenen Verstoßes gegen Art. 267 AEUV und Art. 344 AEUV nicht mehr ankam.123 Bei seiner Argumentation ging der Europäische Gerichtshof folgendermaßen vor: Er prüfte als Erstes, ob die Rechtsfindung durch das Schiedsgericht eine Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts darstellt.124 Anders als der Generalanwalt bejahte der Gerichtshof diese These. Er führte unter anderem aus, dass selbst wenn sich die Tätigkeit des Schiedsgerichts nur auf das BIT bezöge, dasselbe in Art. 8 Abs. 6 die Berücksichtigung des geltenden Rechts der betroffenen Vertragsparteien und aller erheblichen Abkommen zwischen den Vertragsparteien vorsehe.125 Somit sei eine mögliche Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts durch das Schiedsgericht gegeben.126 Als Zweites untersuchte der Europäische Gerichtshof, ob das Schiedsgericht als „Gericht eines Mitgliedstaats“ i. S. v. Art. 267 AEUV anzusehen sei.127 Auch hier teilte der Gerichtshof die Ansicht des Generalanwalts nicht. Er begründete dies – trotz der Errichtung des Schiedsgerichts durch zwei EU-Mitgliedstaaten – mit dem Ausnahmecharakter des Schiedsgerichts gegenüber den staatlichen Gerichten der Slowakischen Republik und des Königreichs der Niederlande.128 Dem Schiedsgericht mangele es überdies an einer adäquaten Einbindung in die mitgliedstaatlichen Gerichtssysteme, wie dies beim Benelux-Gerichtshof der Fall sei.129 Der dritte vom Europäischen Gerichtshof geprüfte Aspekt war, ob der Schiedsspruch der Kontrolle eines mitgliedstaatlichen Gerichts unterliege, 121 Vgl.
EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 55 – Achmea. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 31 – Achmea. 123 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 61 – Achmea. 124 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 39 ff. – Achmea. 125 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 40 – Achmea. 126 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 42 – Achmea. 127 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 43 ff. – Achmea. 128 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 45 – Achmea. 129 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 48 – Achmea. 122 Vgl.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
sodass gegebenenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren möglich sei.130 Hier hatte der Generalanwalt noch unter anderem mit dem deutschen § 1059 ZPO argumentiert und der Tatsache, dass der Rechtsweg auch im vorliegenden Verfahren zum Europäischen Gerichtshof führen konnte. Diese Argumentation ließ der Europäische Gerichtshof nicht gelten. Ob und in welchem Umfang die Einbindung eines Schiedsgerichts in ein mitgliedstaatliches Gerichtssystem möglich sei, komme auf die Gegebenheiten des nationalen Rechts an.131 Zwar habe der Europäische Gerichtshof in Bezug auf Streitigkeiten aus dem Bereich der Handelsschiedsgerichtsbarkeit auch schon anders entschieden, jedoch beruhten diese auf dem Grundsatz der Parteiautonomie.132 Im vorliegenden Fall versuchten hingegen zwei Mitgliedstaaten gewisse Streitigkeiten dem unionalen Gerichtssystem zu entziehen.133 (4) Bewertung Während in Rechtswissenschaft und Politik aktuell noch über die Folgen des Urteils für die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit insgesamt diskutiert wird,134 ist man sich in großen Teilen einig, dass die Vorgehensweise des Europäischen Gerichtshofs kaum überzeugen kann bzw. eher als rechtspolitisch motiviert angesehen werden muss.135 Mit vergleichsweise wenigen Worten wurde ausgehend von einem einzigen Schiedsspruch die Architektur der Investionsschiedsgerichtsbarkeit in der Europäischen Union insgesamt demontiert. Ungesehen dessen, dass auch ein effektiver Rechtsschutz zu den Grundsätzen des Unionsrechts zählt,136 ordnet der Europäische Gerichtshof 130 Vgl.
EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 50 ff. – Ach-
131 Vgl.
EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 53 – Achmea. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 55 – Achmea.
mea.
132 Vgl.
133 Ebd.
134 Ideen zum Schutz von Investitionen im Binnenmarkt nach dem Ende der IntraEU-BITs sind nachzulesen bei Stöbener de Mora, EuZW 2019, 217. 135 Vgl. die Beiträge von Bischoff, IPRax 2018, 588 (590) „kann inhaltlich nicht überzeugen“; Gundel, NVwZ 2018, 727 (728) „ein zwar wenig überzeugend begründetes, aber im Ergebnis eindeutiges Votum“; Scholtka, EuZW 2018, 243 (243) „Im Ergebnis überzeugen die Ausführungen des EuGH nicht.“; Stöbener de Mora, EuZW 2018, 363 (364 f.) „Die Begründung des EuGH kann nur wenig überzeugen.“, „rechtspolitisch zu verstehen“; Wernicke, NJW 2018, 1644 (1647) „dogmatisch nur vermeintlich konsequent“, „ein justizpolitisches fiat“; dem Urteil gegenüber dem „Sonderweg“ (Miller) der Schiedsgerichtsbarkeit auch Positives abgewinnend Klages, EuZW 2018, 217 (218); auf diese auch mögliche Perspektive hinweisend Miller, EuZW 2018, 357 (358). 136 Hierauf in diesem Kontext hinweisend Stöbener de Mora, EuZW 2018, 363 (365).
A. Institutionelle Betrachtungen217
seine gesamte Argumentation dem vorher definierten Metaziel der „Autonomie des Unionsrechts“ unter,137 während sich dahinter unausgesprochen die Wahrung des Letztentscheidungsmonopols des Gerichtshofs verbirgt.138 Dass sich der Gerichtshof hierdurch einer am Wortlaut der Vorschriften orientierten Rechtsfindung – wie sie der Generalanwalt betrieben hat – zu entziehen versuchte, zeigt der Umgang mit einer zentralen Rechtsfrage: Gilt Art. 344 AEUV neben Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten auch für Streitigkeiten zwischen einem Mitgliedstaat und einem Privaten (z. B. Slowakische Republik und Achmea BV)? Obwohl das Wort „Mitgliedstaat“ im Urteil innerhalb der 62 Randnummern 55-mal genannt wird, versäumte es der Europäische Gerichtshof zu dieser grundlegenden Frage, die der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen explizit verneinte, ausdrücklich Stellung zu nehmen.139 Indes hat Achmea BV – nachdem der Bundesgerichtshof als vorlegendes Gericht den Schiedsspruch in Folge des Urteils des Europäischen Gerichtshofs aufhob und die große Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten eine Beendigung seiner Intra-EU-BITs anstrebt140 – Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben.141 d) Zwischenergebnis Unter mehrheitlicher Ablehnung der rechtswissenschaftlichen Fachöffentlichkeit hat der Europäische Gerichtshof im Rahmen des Gutachtens 2/13 sowie des Urteils in der Rs. C-284/16 (Achmea) deutlich gemacht, dass die „Autonomie des Unionsrechts“ gerichtliche Entscheidungskörper mit mög lichem Bezug zum Unionsrecht seiner Ansicht nach nur in sehr engen Grenzen erlaubt. Als Beispiel eines zulässigen Gerichts wurde aufgrund seiner Verbindungen mit den nationalen Gerichtssystemen der Benelux-Gerichtshof 137 Stöbener de Mora, EuZW 2018, 363 (364): „In seiner Argumentation stellt der EuGH die Autonomie des Unionsrechts über alles […]“, m. w. N. 138 Stöbener de Mora, EuZW 2018, 363 (365): „Letztlich scheint es dem EuGH unter dem „Deckmantel“ der Autonomie des Unionsrechts und des Schutzes des richterlichen Dialogs in erster Linie um seine eigene – angeblich gefährdete – Letztentscheidungskompetenz zu gehen […]“, m. w. N. 139 Vgl. dazu auch Stöbener de Mora, EuZW 2018, 363 (365). 140 Vgl. dazu das Übereinkommen zur Beendigung bilateraler Investitionsschutzverträge zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. 2020, L 169, S. 1 ff. 141 Das laufende Verfahren vor dem BVerfG trägt das Az. 2 BvR 557/19; zwei bisher in dem Verfahren gestellte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung blieben ohne Erfolg, vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2020 – 2 BvQ 6/20 und BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 03. Februar 2021 – 2 BvQ 97/20.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
genannt.142 Dieses Hegemoniestreben des Europäischen Gerichtshofs könnte sich im Konfliktfall auch zu Lasten des Non-Compliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention mit dem ACCC in dessen Zentrum auswirken. Einen Lichtblick verspricht allerdings, dass der Gerichtshof immer wieder bekräftigt internationale (Schieds-)Gerichte – anders als Entscheidungskörper zwischen den EU-Mitgliedstaaten – grundsätzlich nicht für mit dem Unionsrecht unvereinbar zu erachten.143 Im Fall dieser Gerichte ist der „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ ohne Bedeutung, den der Gerichtshof im Fall der Intra-EU-BITs für hinderlich ansieht.144 In Bezug auf das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada (CETA) legte der Gerichtshof überdies zwei Kriterien fest, wann eine Vereinbarkeit von gericht lichen Entscheidungssystemen zu internationalen Übereinkünften mit der „Autonomie der Rechtsordnung der Union“ gegeben sei:145 Erstens dürfe dem Entscheidungskörper keine Zuständigkeit für die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts über den eigenen völkerrechtlichen Regelungsbereich hinaus übertragen werden. Zweitens dürften keine Entscheidungen erlassen werden, die die Unionsorgane daran hinderten gemäß dem verfassungsrechtlichen Rahmen der Union zu funktionieren. Wäre das ACCC ein internationales Gericht, könnte das problematisch sein. Der Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) zeigt wie tief sich das ACCC im Einzelfall für seine Beurteilung in das EU-interne Rechtsschutzsystem hineinwagt.146 Wo endet dabei die Auslegung des völkerrechtlichen Abkommens und wo beginnt eine unzulässige Auslegung (oder gar Anwendung) des Unionsrechts? Wann ist eine Entscheidung derart beschaffen, dass sie im Stande ist die Unionsorgane zu hindern ihre Tätigkeit gemäß dem verfassungsrechtlichen Rahmen der Union auszuführen? Der Europäische Gerichtshof lässt 142 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 47 – Achmea; EuGH, Urteil vom 04.11.1997, ECLI:EU:C:1997:517, Rn. 20; EuGH, Urteil vom 14.06.2011, ECLI:EU:C:2011:388, Rn. 40. 143 Vgl. EuGH, Urteil vom 06.03.2018, ECLI:EU:C:2018:158, Rn. 57 – Achmea; EuGH, Gutachten 1/91 vom 14.12.1991, ECLI:EU:C:1991:490, Rn. 40; 70 – EWRAbkommen I; EuGH, Gutachten 1/09 vom 08.03.2011, ECLI:EU:C:2011:123, Rn. 74; 76 – Patentgericht; EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 182; 183 – EMRK-Beitritt II. 144 Vgl. EuGH, Gutachten 1/17 vom 30.04.2019, ECLI:EU:C:2019:341, Rn. 128 f. – CETA; zum „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“: EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; EuGH, Urteil vom 26.04.2018, ECLI:EU:C:2018:282, Rn. 40; 45 – Donnellan. 145 Vgl. EuGH, Gutachten 1/17 vom 30.04.2019, ECLI:EU:C:2019:341, Rn. 119 – CETA. 146 Siehe oben 3. Kapitel B. II.
A. Institutionelle Betrachtungen219
internationale (Schieds-)Gerichte künftig auf einem schmalen Grat wandeln, der zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führt.147 Teilweise wird daher bereits prognostiziert, dass ein zukünftiger Beitritt der Europäischen Union zur EMRK nach dem CETA-Urteil sogar ausgeschlossen sei.148 Dennoch hat die Verhandlungsgruppe der Mitgliedstaaten des Europarats und der Europäischen Union („Gruppe der 47+1“) jüngst nach mehr als sieben-jähriger Pause wieder ihre Arbeit aufgenommen.149 Das ACCC weist zwar eine gewisse Gerichtsähnlichkeit auf, kann jedoch als Erfüllungsausschuss selbst keine rechtsverbindlichen Entscheidungen treffen.150 Diese sind der Tagung der Vertragsparteien der Aarhus-Konvention vorbehalten, an der die Europäische Union mitwirkt. Eine direkte Übertragbarkeit der Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs auf einen Erfüllungsausschuss, wie das ACCC, ist daher nicht gegeben.151 Dennoch kann daraus der Schluss gezogen werden, dass der Europäische Gerichtshof einer (weiteren) „Vergerichtlichung“ des ACCC entschieden ablehnend gegenüberstehen würde. Es erscheint nur folgerichtig, dass der Gerichtshof bisher in keiner Entscheidung auf die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen (findings and recommendations) des ACCC Bezug genommen hat. Dass sich 147 Vgl. den lesenswerten Beitrag von Sauer, JZ 2019, 925 zu den „europarechtlichen Schranken internationaler Gerichte“, in dem er eine Rekonstruktion der aufgezeigten „Autonomie-Rechtsprechung“ des Europäischen Gerichtshofs versucht. 148 Vgl. Hemler, EuZW 2019, 474 (475) „erscheint praktisch ausgeschlossen“ sowie ausführlicher Sauer, JZ 2019, 925 (935) „unmöglich geworden“; der Meinung der Übertragbarkeit der Feststellungen des CETA-Gutachtens auf EMRK, WTO-Recht sowie weitere Bereiche sind auch Stöbener de Mora/Wernicke, EuZW 2019, 970 (973). 149 Vgl. den Beschluss zur Fortsetzung des Ad-hoc-Mandats des Lenkungsaus schusses für Menschenrechte (CDDH) Ministers’ Deputies of the Council of Europe, 364th Meeting, Decision CM/Del/Dec(2020)1364/4.3 on the Continuation of the ad hoc terms of reference for the CDDH to finalise the legal instruments setting out the modalities of accession of the European Union to the European Convention on Human Rights, 15.01.2020. 150 Siehe dazu oben A. II. 1. 151 In diesen Kontext passen die Überlegungen innerhalb des ACCC, die 2004 in Bezug auf ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Irland vor dem Europäischen Gerichtshof (Rs. C-459/03 – MOX-Anlage von Sellafield) angestellt worden sind. Irland wurde später tatsächlich durch den Europäischen Gerichtshof verurteilt durch das Einleiten eines Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof gegen Art. 10 EGV (heute: Art. 4 Abs. 3 EUV) und Art. 292 EGV (heute: Art. 344 AEUV) sowie gegen die korrespondierenden Art. 192 EAGV und Art. 193 EAGV verstoßen zu haben, siehe EuGH, Urteil vom 30.05.2006, ECLI:EU:C:2006:345. Das ACCC sah in den Vorgängen jedoch keine Gefahr für das (nicht-gerichtliche) Non-Compliance-Verfahren der Aarhus-Konvention. Die europarechtlichen Rechtsbehelfe seien als nationale Rechtsbehelfe anzusehen. Siehe ACCC, Report on the Third Meeting, MP.PP/ C.1/2004/2, 2004, Ziff. 9.
220
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
der Gerichtshof auch künftig jedoch einer Konfrontation mit den Erwägungen des ACCC nicht wird entziehen können, verspricht begrüßenswerterweise der Umgang der Generalanwälte mit den Feststellungen des ACCC. Dass diese in ihren Schlussanträgen das ACCC zitieren, nicht aber entsprechende Beschlüsse der Tagung der Vertragsparteien, zeigt anschaulich, wie das ACCC als das entscheidende Gremium hinter der Auslegung der AarhusKonvention wahrgenommen wird. Die Tatsache, dass eine völkerrechtliche Verbindlichkeit gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK allerdings erst durch diese entsprechenden Beschlüsse der Tagung der Vertragsparteien eintritt, wird dadurch leider ignoriert.152 So gehen auch die Generalanwälte, die bisher konkrete Äußerungen tätigten, mit ihrer wertschätzenden (Kokott) bzw. jedenfalls aufgeschlossenen Haltung (Cruz Villalón) in Bezug auf die Feststellungen des ACCC einem rechtlich eindeutigen Umgang mit dem Non-Compliance-Verfahren der Aarhus-Konvention aus dem Weg. e) Rezeption in der Fachöffentlichkeit Die Teilnehmer der Studie beschrieben mehrheitlich, dass der Europäische Gerichtshof die Expertise des ACCC bei der Bearbeitung seiner umweltrechtlichen Fälle nicht ernst genug nehme. Im Rahmen der Interviews wurden die Teilnehmer jeweils mit den untenstehenden, gegensätzlichen Aussagen konfrontiert. Die hohe Zustimmungsrate der Fachöffentlichkeit zur zweiten Aussage („not taken seriously enough“) kann im Sinne eines Wunsches interpretiert werden, dass der Europäische Gerichtshof die verbind lichen Ergebnisse des Non-Compliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention zukünftig im Rahmen seiner Entscheidungen (stärker) berücksichtigen möge. Diese Deutung der Studien-Ergebnisse stützt die Tatsache, dass eine inhalt liche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des Non-Compliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention bisher lediglich im Rahmen der Schlussanträge der Generalanwälte erfolgte. Zugleich steht dem weiter das Schweigen des Europäischen Gerichtshofs gegenüber, dessen Ursache – wie soeben dargelegt – in dessen „Autonomie-Rechtsprechung“ zu suchen ist.
152 Siehe zur völkerrechtlichen Verbindlichkeit nach Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK ausführlich oben A. II. 1.
A. Institutionelle Betrachtungen221 „The ACCC is a serious authority for the European Court of Justice, when it comes to environmental law cases.“153 Teilnehmergruppe
Ehemalige Mitglieder des ACCC
Offizielle Vertreter der Vertragsparteien
NGOs
Wissenschaftler
Summe
Anzahl der zustimmenden Teilnehmer
1
0
3
0
4
„The ACCC is not taken seriously enough by the European Court of Justice, when it comes to environmental law cases.“154 Teilnehmergruppe
Ehemalige Mitglieder des ACCC
Offizielle Vertreter der Vertragsparteien
NGOs
Wissenschaftler
Summe
Anzahl der zustimmenden Teilnehmer
0
1
7
3
11
2. Zum Verhältnis von ACCC und den Höchstgerichten der Vertragsstaaten So vielgestaltig wie die Umsetzung der materiellen Rechtsgarantien der Aarhus-Konvention in den aktuell 46 Vertragsstaaten stellt sich auch das Verhältnis von ACCC und den jeweiligen, nationalen Höchstgerichten dar.155 Im Rahmen der durchgeführten Studie, deren Ergebnisse sich an die nachfolgenden Betrachtungen zu ausgewählten Vertragsstaaten anschließen, wurde „Höchstgericht“ als höchstes nationales Gericht definiert, das sich mit Fragen des Umweltrechts befasst. Landesspezifisch kann es sich dabei um das oberste Verwaltungsgericht, aber auch um jede andere Art von oberstem Gericht handeln. Diese offene Definition liegt auch den zunächst folgenden Betrachtungen zu ausgewählten Vertragsstaaten zugrunde.
153 Übersetzung: „Das ACCC stellt für den Europäischen Gerichtshof in umweltrechtlichen Fällen eine ernstzunehmende Autorität dar.“ 154 Übersetzung: „Das ACCC wird durch den Europäischen Gerichtshof in umweltrechtlichen Fällen nicht ernst genug genommen.“ 155 Vgl. für einen kurzen Überblick zur Umsetzung der Rechtsgarantien der Aarhus-Konvention in den Vertragsstaaten die diesbezüglichen Ausführungen oben 3. Kapitel A.
222
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
a) Deutschland Der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat bisher in zwei Urteilen und einer Vorlage an den EuGH auf Verfahren vor dem ACCC Bezug genommen.156 Bevor der Senat erstmals konkrete Entscheidungen des ACCC zitierte, nahm er in seinem Urteil vom 05.09.2013 grundlegend Stellung zur Institution des ACCC: „Mit dem Compliance Committee haben die Vertragsparteien auf der Grundlage von Art. 15 AK ein Gremium errichtet, das über die Einhaltung des Abkommens wachen soll, ohne jedoch ein förmliches Streitschlichtungsverfahren nach Art. 16 AK zu präjudizieren […]. Durch dessen Spruchpraxis soll das Abkommen für alle Vertragsparteien klare Konturen erhalten. Auch wenn sich das Compliance Committee mit Empfehlungen begnügt, kommt den darin geäußerten Rechtsansichten gleichwohl bedeutendes Gewicht zu; das folgt nicht zuletzt daraus, dass bislang alle Feststellungen des Compliance Committee über die Konventionswidrigkeit der Rechtslage in einem Vertragsstaat in den Zusammenkünften der Vertragsparteien (Art. 10 AK) gebilligt worden sind […].“157
Wenngleich dieser zutreffend und erfreulich differenziert die Auffassung vertritt, dass es sich bei den Entscheidungen des ACCC um Empfehlungen handelt, verkennt der Senat nicht, dass diesen Empfehlungen durch die eta blierte Bestätigungspraxis (endorsement) der Tagung der Vertragsparteien eine entscheidende Bedeutung bei der Auslegung der Konvention zukommt. Begrüßenswert wäre es darüber hinaus, wenn sich das erklärtermaßen „bedeutende Gewicht“ der durch die Tagung der Vertragsparteien bestätigten Empfehlungen des ACCC für die Auslegung der Aarhus-Konvention noch in einem Hinweis des Senats auf die an anderer Stelle in diesem Kapitel herausgearbeitete Rechtsqualität als „spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK widerspiegelte.158 Auch der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts sah sich jüngst mit der Entscheidungspraxis des ACCC konfrontiert.159 In seinem Beschluss zum Ausschluss von direktem Rechtsschutz gegen Entscheidungen über die Bundesfachplanung in § 15 Abs. 3 S. 2 NABEG, in dessen Rahmen der Senat zu dem Ergebnis kam, dass die Vorschrift verfassungsgemäß sei und nicht gegen 156 Vgl. BVerwG, Urteil vom 05.09.2013, ECLI:DE:BVerwG:2013:050913U7C 21.12.0, Ziff. 33; 34; 48; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 08.05.2019, ECLI:DE:BVerw G:2019:080519B7C28.17.0, Ziff. 21; BVerwG, Urteil vom 19.12.2019, ECLI:DE: BVerwG:2019:191219U7C28.18.0, Ziff. 26. 157 BVerwG, Urteil vom 05.09.2013, ECLI:DE:BVerwG:2013:050913U7C21.12.0, Ziff. 33. 158 Vgl. die Ausführungen zur Rechtsqualität oben A. II. 1. 159 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24.03.2021, ECLI:DE:BVerwG:2021:240321B 4VR2.20.0.
A. Institutionelle Betrachtungen223
Völker- und Unionsrecht verstoße, hat er – unter sich anschließender Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Stellungnahmen des ACCC – wie folgt zur Institution des ACCC Position bezogen: „Etwas Anderes folgt auch nicht aus der Spruchpraxis des Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC), die bei der Auslegung der Aarhus-Konvention als Orientierungshilfe herangezogen werden kann. Entgegen der Auffassung der Antragsteller ist insbesondere dem Bericht des ACCC, der im Rahmen der Begleitung der Novellierung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes entstanden ist (ACCC, Report of the Compliance Committee, Compliance by Germany with ist obligations under the Convention, 31. Juli 2017, ECE/MP.PP/2017/40), keine Konven tionswidrigkeit des konzentrierten Rechtsschutzkonzepts des § 15 Abs. 3 NABEG zu entnehmen.“160
Bei dem zitierten Bericht des ACCC handelt es sich nicht um Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC, sondern um einen Umsetzungs bericht. Dem Umsetzungsbericht geht das Verfahren ACCC/C/2008/31 (Deutschland) voraus. In dem Verfahren hat das ACCC eine Nichterfüllung von Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 Aarhus-Konvention durch Deutschland festgestellt.161 Die vertragliche Nichterfüllung wurde durch die 5. Tagung der Vertragsparteien im Rahmen von Decision V/9h bestätigt (endorsement).162 Das ACCC hatte anschließend Deutschland bei der Herstellung eines konventionsgemäßen Zustands zu begleiten und der 6. Tagung der Vertragsparteien zu berichten, ob dieser Zustand erreicht werden konnte.163 Der Umsetzungsbericht bestätigt, dass Deutschland – angesichts der verfügbaren Informationen und mangels Beweises des Gegenteils – sich nicht mehr konven tionswidrig verhalte.164 Insofern zitierte der 4. Senat hier keine klassische Entscheidung des ACCC, sondern einen Bericht, den man durchaus als „Orientierungshilfe“ bezeichnen mag. Darüber hinaus stellt das Zusammenwirken von Entscheidungen des ACCC zu einzelnen Fällen und von entsprechenden Beschlüssen der Tagung der Vertragsparteien freilich nach den in dieser Arbeit herausgearbeiteten Grundsätzen eine „spätere Übung“ gem.
160 BVerwG, Beschluss vom 24.03.2021, ECLI:DE:BVerwG:2021:240321B4VR2. 20.0, Ziff. 70. 161 Siehe ACCC, Findings and recommendations with regard to communication ACCC/C/2008/31 concerning compliance by Germany, ECE/MP.PP/C.1/2014/8, 2014, Ziff. 102. 162 Siehe MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties, Addendum, Decisions adopted by the Meeting of the Parties, Decision V/9h on compliance by Germany, ECE/MP.PP/2014/2/Add.1, 2014, Ziff. 1. 163 Die elektronische Verfahrensakte ist aufrufbar unter https://unece.org/env/pp/ cc/germany-decision-v9h, aufgerufen am 26.08.2021. 164 Siehe ACCC, Report of the Compliance Committee, Compliance by Germany with its obligations under the Convention, ECE/MP.PP/2017/40, 2017, Ziff. 68.
224
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK dar und geht damit hinsichtlich seiner Rechtsqualität über eine bloße „Orientierungshilfe“ hinaus. b) Österreich Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof hat einmalig in seiner Erkenntnis vom 26.02.2020 auf Entscheidungen des ACCC Bezug genommen und sich auch mit deren Inhalt auseinander gesetzt, ohne allerdings eine Einordnung hinsichtlich deren rechtlichen Stellenwerts vorzunehmen.165 Im Detail ging es um die Frage, ob eine Gemeinde unter den Begriff der „Öffentlichkeit“ i. S. v. Art. 2 Nr. 4 Aarhus-Konvention fällt.166 Nach der Entscheidung bleibt offen, welche konkrete rechtliche Bedeutung das österreichische Höchstgericht für Verwaltungssachen den Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen des ACCC beimisst. Gleichwohl wird durch diese erste Erkenntnis des zuständigen Höchstgerichts, in der auf Entscheidungen des ACCC Bezug genommen wird, sichtbar, dass das ACCC als ernstzunehmendes Entscheidungsorgan nunmehr auch an der Spitze des nationalen Gerichtssystems Österreichs als solches wahrgenommen wird. c) Niederlande Der Niederländische Staatsrat – Abteilung Verwaltungsgerichtsbarkeit (Raad van State – Afdeling bestuursrechtspraak) hat selbst bisher lediglich im Rahmen eines Urteils auf eine Individualbeschwerde vor dem ACCC hingewiesen.167 Da die Umweltorganisation Greenpeace sowohl Individualbeschwerdeführerin in der entsprechenden Sache vor dem ACCC gewesen ist (ACCC/C/2014/104 (Niederlande)), als auch Mitklägerin vor dem Niederländischen Staatsrat, ist der – zumal ablehnende, kurze Hinweis in Bezug auf das Verfahren vor dem ACCC – eher als Antwort auf die Prozessführung von Greenpeace zu lesen. Interessanter erscheinen demgegenüber die Ausführungen, die Generalanwalt beim Niederländischen Staatsrat Widdershoven im Rahmen eines anderen Verfahrens zum ACCC machte.168 Er führte zunächst aus, dass das ACCC durch die Vertragsparteien eingerichtet worden sei, um die Einhaltung der 165 Vgl. Österr. VwGH, Erkenntnis vom 26.02.2020, ECLI:AT:VWGH:2020:RA 2019050047.L00, Ziff. 40. 166 Ebd. 167 Vgl. Raad van State – Afedling bestuursrechtspraak, Urteil vom 02.05.2018, ECLI:NL:RVS:2018:1448, Ziff. 7.5. 168 Vgl. Staatsraad Advocaat-Generaal Widdershoven, Schlussfolgerungen vom 02.12.2015, ECLI:NL:RVS:2015:3680, Ziff. 5.3.
A. Institutionelle Betrachtungen225
Aarhus-Konvention zu überwachen.169 Die Aufgabe des Ausschusses bestehe darin, so der Generalanwalt weiter, die Auslegung und Anwendung des Vertrags in konkreten Fällen als Reaktion auf Beschwerden von Vertragsparteien, Bürgern oder Umweltorganisationen zu kommentieren.170 Der Generalanwalt fährt damit fort, dass sich das ACCC bisher nicht zur Vereinbarkeit der in Rede stehenden niederländischen Regelung oder einer vergleichbaren Regelung eines anderen Mitgliedstaats mit den Rechtsschutz-Anforderungen von Art. 9 Aarhus-Konvention geäußert habe.171 Daher schenke er weder dem ACCC, noch der „an sich interessanten Angelegenheit“, welche rechtliche Bedeutung einer „Entscheidung“ dieses Ausschusses beizumessen wäre, weitere Aufmerksamkeit.172 An dieser Stelle wird deutlich, dass der Generalanwalt die besonderen Rechtsfragen um die Bedeutung der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC durchaus in sein Bewusstsein aufgenommen hat. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Entscheidungen des ACCC in Zukunft weiter in das Blickfeld des Niederländischen Staatsrats rücken, und es bleibt zu hoffen, dass hierzu dann auch an zentraler Stelle Position bezogen würde, wie es als gutes Beispiel durch den 7. Senat des deutschen Bundesverwaltungsgerichts geschehen ist. d) England und Wales In England und Wales zeigten sich Supreme Court und Court of Appeal in der Vergangenheit eher zurückhaltend, was das ACCC und dessen Entscheidungen angeht.173 Lord Carnwath kam in der Rechtssache Walton vor dem Supreme Court zu dem Schluss, dass die Entscheidungen des ACCC in Fragen der Öffentlichkeitsbeteiligung „Respekt verdienten“.174 So verheißungsvoll man das auch verstehen möge, lässt diese Formulierung genauso viel Raum für Interpretationen dahingehend, ob sich hinter ihr nicht höfliche 169 Ebd. 170 Ebd. 171 Ebd. 172 Ebd.
173 Die im Rahmen des nun folgenden Länderberichts zitierten Entscheidungen (außer Austin V Miller Argent (South Wales) Ltd [2014] EWCA Civ 1012) sind übernommen von Ruddie, The Aarhus Convention in England and Wales, in: The Aarhus Convention – A Guide for UK Lawyers, 2015, S. 14. 174 Vgl. Walton V The Scottish Ministers [2012] UKSC 44, Ziff. 100; vgl. zudem die Bezugnahme hierauf durch Lord Justice Elias in Austin V Miller Argent (South Wales) Ltd [2014] EWCA Civ 1012, Ziff. 9: „Enforcement of the Convention is in the hands of the Aarhus Convention Compliance Committee, a body of practitioners and academics. Whilst this is not a court, its decisions ‚deserve respect on issues relating to standards of public participation‘: per Lord Carwath in Walton V Scottish Ministers [2012] UKSC 44, para 100.“
226
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
Zweifel an der Zuerkennung einer ernstzunehmenden, rechtlichen Bedeutung des ACCC verbergen. So verwundert es nicht, dass Lord Justice Beatson seine Respektsbekundung an das ACCC vor dem Court of Appeal mit einer ebensolchen Wendung verbunden hat. Beatson legte im Verfahren Evans dar, dass die Sichtweise und der Sachverstand des ACCC unzweifelhaft ihren Respekt wert seien.175 Aber selbst wenn das ACCC zu gewissen, im Urteil näher ausgeführten Schlüssen gekommen wäre, so Beatson, hätte die Sichtweise des ACCC keine direkte rechtliche Bindung zur Folge.176 Interessante Parallelen zeigen sich hier außerdem zur Betrachtungsweise von Lord Justice Sullivan (Court of Appeal) in Bezug auf das Espoo Convention Implementation Committee.177 In der Rechtssache An Taisce führte Sullivan aus, dass er zwar die Sichtweise des Ausschusses respektiere, es jedoch nicht die Aufgabe des Ausschusses sei eine autoritative rechtliche Auslegung der Konvention anzustellen.178 e) Republik Irland Justice Clarke (Supreme Court) äußerte sich in der Rechtssache Conway wie folgt zum ACCC und dem Umgang mit dessen Expertise: „While not providing a definitive legal interpretation of the scope of the Aarhus Convention it is, in my view, appropriate to have regard to decisions and commentaries of the compliance committee established under the Aarhus Convention for the purposes of facilitating the compliance by subscribing states with the terms of the Convention itself.“179
Während Clarke die Auslegung der Aarhus-Konvention durch das ACCC mithin nicht als rechtsverbindlich ansieht, so erscheint es für ihn doch angezeigt auf die Entscheidungen und Stellungnahmen des ACCC zurückzugreifen, um die Einhaltung der Bestimmungen des Übereinkommens durch die Vertragsparteien zu erleichtern. An die zitierte Passage anschließend übernimmt Clarke die Auslegung des ACCC im Hinblick auf die Definition des Begriffs „umweltbezogene Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts“ i. S. v. Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention, wie sie anhand der Erkenntnisse des ACCC
175 Vgl. R (Evans) V Secretary of State for Communities and Local Government [2013] EWCA Civ 114, Ziff. 38. 176 Ebd. 177 Siehe dazu erneut Ruddie, The Aarhus Convention in England and Wales, in: The Aarhus Convention – A Guide for UK Lawyers, 2015, S. 14. 178 Vgl. R (on the application of An Taisce (The National Trust for Ireland) V Secretary of State for Energy and Climate Change [2014] EWCA Civ 1111, Ziff. 44. 179 Conway V Ireland, the Attorney General & ors [2017] IESC 13, Ziff. 4.13.
A. Institutionelle Betrachtungen227
im Aarhus Convention Implementation Guide niedergelegt ist.180 Diese Vorgehensweise wiederholte Justice Simons (High Court) im Fall Heather Hill Management Company Clg, indem er die Aussagen von Justice Clarke zum ACCC sowie zu den Erkenntnissen des ACCC zur Auslegung des Begriffs „umweltbezogene Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts“ wörtlich zitierte.181 f) Zwischenergebnis Die vorstehenden Länderberichte zeigen, dass die Erkenntnisse des ACCC nunmehr das Blickfeld der untersuchten nationalen Höchstgerichte erreicht haben, auch wenn diese zu ganz eigenen Einschätzungen gelangen, was deren Stellenwert anbelangt. Als vorbildhaft sind die Aussagen des 7. Senats des Bundesverwaltungsgerichts zu begreifen, das den Rechtsansichten des ACCC nicht nur „bedeutendes Gewicht“ beimisst, sondern auch zwischen dem Empfehlungscharakter der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC und deren Bestätigung durch die Entscheidungen der Tagung der Vertragsparteien differenziert. Gleichwohl ist dies diejenige Einschätzung, die der Institution des ACCC am meisten Wirkkraft attestiert. Während die Gerichte von England und Wales sowie der Republik Irland dem ACCC re spektvoll gegenüberstehen, wird dort besonders betont, dass die Einschätzungen des Gremiums nicht rechtsverbindlich seien. Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof hat das ACCC zwar zitiert, jedoch keine Stellungnahme zur Institution oder zum Stellenwert von dessen Erkenntnissen abgegeben. Demgegenüber wurden diese Fragen vor dem Niederländischen Staatsrat bereits laut, konkrete Einlassungen und tiefergehende Auseinandersetzungen mit den Erkenntnissen des ACCC blieben aber auch hier bisher aus. Schließlich ist zu bedenken, dass die vorliegende Untersuchung sich zum einen naturgemäß nur auf solche Vertragsstaaten bezieht, bei denen entsprechende Gerichtsentscheidungen vorhanden und zugänglich waren. Zum andern handelt es sich bei diesen Staaten West- und Mitteleuropas nach den Kategorien der Politik-Beobachtung allesamt um „vollständige Demokratien“, die über hochentwickelte Rechtssysteme verfügen.182 Diesen stehen im Rahmen des 180 Vgl. Conway V Ireland, the Attorney General & ors [2017] IESC 13, Ziff. 4.14 f.; der Implementation Guide (2. Auflage, 2014) ist abrufbar unter https:// www.unece.org/env/pp/implementation_guide.html, aufgerufen am 26.08.2021. 181 Vgl. Heather Hill Management Company Clg & anor V An Bord Pleanala & anor [2019] IEHC 186, Ziff. 93. 182 Im jährlich veröffentlichen Demokratieindex der The Economist Intelligence Unit, die zum Unternehmen der englischen Wochenzeitung The Economist gehört, erreichten die untersuchten Vertragsstaaten folgende Plätze und sind als „vollständige Demokratien“ zu bezeichnen: Deutschland (13/167), Österreich (16/167), Großbritan-
228
4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
weit über die Länder der Europäischen Union hinausgehenden Anwendungsbereichs der Aarhus-Konvention mitunter Vertragsstaaten, wie die in der Vergangenheit bereits von Verwarnungen betroffenen, zentralasiatischen Län der Turkmenistan und Kasachstan gegenüber, die als „autoritäre Regime“ eingestuft werden können.183 So bleiben die Betrachtungen zur Wahrnehmung des ACCC und seiner Expertise durch die Höchstgerichte der Vertragsstaaten an dieser Stelle Mosaiksteine eines unvollständigen Gesamtbildes. g) Rezeption in der Fachöffentlichkeit Die herausgearbeiteten (rechtlichen) Mosaiksteine sollen im Folgenden durch grobe Konturen ergänzt werden, welche die Wahrnehmung im Rahmen der durchgeführten Studie zeichnet. Die Teilnehmer aus 16 verschiedenen Vertragsstaaten äußerten sich weit überwiegend dahingehend, dass das in ihren jeweiligen Vertragsstaaten zuständige Höchstgericht die Expertise des ACCC bei der Bearbeitung umweltrechtlicher Fälle nicht ernst genug nehme („not taken seriously enough“). Damit ist durch die Studienteilnehmer zwar insofern keine rechtlich qualifizierte Einordnung erfolgt, als dass hier ein mehr oder weniger rechtlich begründetes Gefühl zu Tage tritt. Jedoch ist hinzuzufügen, dass insgesamt 20 von 24 Studienteilnehmern über einen juristischen Berufshintergrund verfügten. „The ACCC is a serious authority for my country’s highest court, when it comes to environmental law cases.“184 Teilnehmergruppe
Ehemalige Mitglieder des ACCC
Offizielle Vertreter der Vertragsparteien
NGOs
Wissenschaftler
Summe
Anzahl der zustimmenden Teilnehmer
0
0
4
1
5
nien (14/167), Irland (6/167). Vgl. The Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2019, 2020, abrufbar unter http://www.eiu.com/public/topical_report.aspx?campa ignid=democracyindex2019, abgerufen am 26.08.2021. 183 Siehe erneut den Demokratieindex 2019 (Fn. 182): Kasachstan (144/167) und Turkmenistan (162/167) werden demnach als „autoritäre Regime“ klassifiziert. 184 Übersetzung: „Das ACCC stellt für das Höchstgericht meines Staates in umweltrechtlichen Fällen eine ernstzunehmende Autorität dar.“
A. Institutionelle Betrachtungen229 „The ACCC is not taken seriously enough by my country’s highest court, when it comes to environmental law cases.“185 Teilnehmergruppe
Ehemalige Mitglieder des ACCC
Offizielle Vertreter der Vertragsparteien
NGOs
Wissenschaftler
Summe
Anzahl der zustimmenden Teilnehmer
1
1
8
3
13
IV. Zusammensetzung des ACCC Die Zusammensetzung des ACCC wurde bereits im 2. Kapitel unter A. II. 1. a) ausführlich beschrieben und zeichnet sich durch gewisse Besonderheiten aus, die im Folgenden noch einmal wiederholt werden. Anschließend erfolgt eine kritische Einordnung. 1. Bestellung von unabhängigen Privatpersonen Die gegenwärtig neun186 Mitglieder des ACCC werden im Gegensatz zu vielen anderen Erfüllungsausschüssen „in ihrer persönlichen Eigenschaft“, d. h. als (unabhängige) Privatpersonen, durch die Tagung der Vertragsparteien gewählt.187 Zwar wird zurecht angeführt, dass das Wort „Unabhängigkeit“ in der Verfahrensordnung nicht erwähnt sei,188 allerdings geht man sowohl seitens des ACCC als auch der Literatur einhellig von der Besetzung durch unabhängige Experten aus.189 Überzeugend angesichts der völkerrechtlichen 185 Übersetzung: „Das ACCC wird durch das Höchstgericht meines Staates in umweltrechtlichen Fällen nicht ernst genug genommen.“ 186 Vgl. MoP II (Aarhus-Konvention), Report of the Second Meeting of the Parties – Addendum, Decision II/5 – General Issues of Compliance, ECE/MP.PP/2005/2/ Add.6, 2005, Ziff. 12. 187 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 1; 6–10. 188 Vgl. Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention on Access to Information, Public Participation and Access to Justice in Environmental Matters, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 225. 189 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 6; 69; vgl. Koester, JEEPL 2005, 31 (34); Pitea, IYBIL 2006, 85 (89 f.) m. w. N.; Pitea, Procedures and Mechanisms for Review of Compliance under the 1998 Aarhus Convention on Access to Information, Public Participation and Access to Justice in
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
Praxis erscheint vor allem das Argument, dass die Alternative eine Besetzung mit abhängigen Staatenvertretern gewesen wäre, sodass im Umkehrschluss von der beabsichtigten Unabhängigkeit der als Experten tätig werdenden Privatpersonen auszugehen ist.190 Ein früherer Entwurf sah sogar vor festzulegen, dass die Mitglieder nicht Teil des Regierungsapparats einer Vertragspartei sein dürften oder Angestellte einer in Art. 10 Abs. 4 und 5 AarhusKonvention genannten Organisation oder NGO.191 Auch das gewählte Mitglied selbst muss vor Aufnahme seiner Tätigkeit durch Erklärung versichern sein Amt unabhängig und gewissenhaft auszuüben.192 Regelungen für den Fall von möglichen Interessenskonflikten sorgen für die Einhaltung dieser Selbstverpflichtung.193 Die zu wählende Person muss hohes moralisches Ansehen genießen und anerkannte Kompetenzen im Bereich der Regelungen der Aarhus-Konvention nachweisen können.194 Personen mit Erfahrung im juristischen Bereich sind ausdrücklich erwünscht.195 Unter den aktuellen Mitgliedern (Amtsperiode 2017–2021) sind ausnahmslos UniversitätsdozentInnen, VerwaltungsrichterIn nen sowie RechtsanwältInnen.196
Environmental Matters, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 225 f. 190 So auch Koester, JEEPL 2005, 31 (34), der zudem auf die einheitliche Sprache von einem Erfüllungsausschuss aus unabhängigen Experten im Rahmen der Berichte der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der ersten Tagung der Vertragsparteien hinweist sowie darauf, dass bereits im Rahmen der ersten Wahlen zum ACCC kein gewähltes Mitglied der Exekutive einer Vertragspartei oder eines Unterzeichners angehörte bzw. diese(n) repräsentierte. 191 Vgl. Task Force on Compliance Mechanisms (Aarhus-Konvention), Report on the Second Meeting of the Task Force on Compliance Mechanisms, CEP/WG.5/ AC.1/2001/3, 2000, Annex I, S. 6. 192 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 11. 193 Vgl. ACCC, Guide to the Aarhus Convention Compliance Committee, 2019, Ziff. 68 ff.; siehe außerdem die Ausführungen im 2. Kapitel unter A. II. 1. a), insb. Fn. 16. 194 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 2. 195 Ebd. 196 Vgl. die Vorstellung der Mitglieder unter https://unece.org/environment-policy/ public-participation/aarhus-convention/compliance-committee/committee-members, aufgerufen am 26.08.2021.
A. Institutionelle Betrachtungen231
2. Vorschlagsrecht der Umweltverbände Die Wahl der Mitglieder des ACCC erfolgt durch Konsensentscheidung der Tagung der Vertragsparteien aufgrund der Vorschläge der Vertragsparteien, Unterzeichner sowie der nach Art. 10 Abs. 5 Aarhus-Konvention an erkannten Umweltverbände.197 Das Vorschlagsrecht staatenunabhängiger NGOs ist einzigartig im Bereich des Umweltvölkerrechts und daher in besonderem Maß hervorzuheben. Kann im Kreis der Vertragsparteien kein Konsens erzielt werden, so entscheidet die einfache Mehrheit im Rahmen einer geheimen Wahl.198 Ausweislich der Protokolle der zurückliegenden sechs ordentlichen Tagungen der Vertragsparteien konnte bisher immer ein Konsens zwischen den Vertragsparteien erzielt werden.199 3. Kritische Einordnung Da die Umweltverbände, wie dargelegt, in besonderem Maß in die Bestellung der Mitglieder des Erfüllungsausschusses einbezogen werden, soll im Folgenden zunächst danach gefragt werden, wie sie selbst diese Rolle in der Praxis rezipieren. Die Bestellung der ACCC-Mitglieder als unabhängige Privatpersonen gibt Anlass für eine rechtliche Einordnung dahingehend, wie diese „Privatpersonen“ demokratisch legitimiert sind. a) Rezeption durch die Umweltverbände Die Bestellung der Mitglieder des ACCC als unabhängige Privatpersonen mit Vorschlagsrecht der Umweltverbände könnte darauf hindeuten, dass gerade Umweltverbände die Art und Weise der Besetzung des ACCC begrüßen dürften. Tatsächlich haben die Vertreter der NGOs im Rahmen der Interviews 197 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 7; 4; 5. 198 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties – Addendum, Decision I/7 – Review of Compliance, ECE/MP.PP/2/Add.8, 2002/2004, Annex, Ziff. 7. 199 Vgl. MoP I (Aarhus-Konvention), Report of the First Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2, 2002, Ziff. 49; MoP II (Aarhus-Konvention), Report of the Second Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2005/2, 2005, Ziff. 53; MoP III (Aarhus-Konvention), Report of the Third Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2008/2, 2008, Ziff. 51; MoP IV (Aarhus-Konvention), Report of the fourth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2011/2, 2011, Ziff. 28; MoP V (Aarhus-Konvention), Report of the fifth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2014/2, 2014, Ziff. 35; MoP VI (Aarhus-Konvention), Report of the sixth session of the Meeting of the Parties, ECE/MP.PP/2017/2, 2017, Ziff. 66.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
zu dieser Arbeit das Vorschlagsrecht der Umweltverbände mehr noch als der Durchschnitt der Teilnehmer als sehr positiv bewertet200 und von 12 NGOVertretern, die die entsprechende Frage beantwortet haben, haben 10 NGOVertreter die Meinung geäußert, dass sie die ACCC-Mitglieder als ausreichend legitimiert ansehen.201 Dieses Gesamtbild kann dadurch illustriert werden, dass beispielsweise ein NGO-Vertreter im Kontext des Vorschlagsrechts der Umweltverbände von einem „Instrument zur Herstellung von Vertrauen und Offenheit“202 sprach. Da eine eigene Untersuchung der letzten sechs Amtsperioden zu dem Ergebnis kommt, dass durchschnittlich etwa ein Drittel der schließlich gewählten oder wiedergewählten ACCC-Mitglieder nachweislich von NGOs (ko-)nominiert wurde (vgl. obige Abbildung 4), kann auch von der Ergebnis-Perspektive aus betrachtet von einer wirksamen Einbindung der NGO-Expertise über dieses Instrument gesprochen werden. Jedoch wurden unter den NGO-Vertretern auch Stimmen laut, die den Auswahlprozess als „nicht transparent“203 und „politisiert“204 beschrieben. Diese Kritik kann rechtlich darauf zurückgeführt werden, dass nach Ziff. 7 der Verfahrensordnung die Entscheidung über die Bestellung der ACCC200 Den Teilnehmern standen im Rahmen von Frage 4 a) neben einem FreitextFeld fünf Skalenoptionen zur Verfügung, um folgende Frage zu beantworten: „How do you evaluate the right of NGOs to submit nominations?“. Skalenoption 1 entsprach dabei der Einschätzung „„totally unimportant“/„totally useless“/„very common“ und Skalenoption 5 der Einschätzung „very important“/„very useful“/„extraordinary“. Im Gesamtdurchschnitt aller Teilnehmer (21/21/19) konnte bei allen Parametern eine eindeutig positive Beantwortung beobachtet werden (Mittelwerte 4.52/4.52/4.05). Die Mittelwerte der je 14 teilnehmenden NGO-Vertreter betrugen demgegenüber im Durchschnitt 4.64/4.64/4.43). 201 Frage 4 b) lautete: „Do you think the ACCC members are sufficiently legitimated?“. 10 NGO-Vertreter haben hierauf bejahend („Yes, because …“) und 2 NGO-Vertreter verneinend („No, because …“) geantwortet. Vergleiche dazu wiederum das Ergebnis der insgesamt 19 Teilnehmer: 14 bejahend, 5 verneinend. 202 Teilnehmer Nr. 43 antwortete in ganzem Wortlaut zu Interview-Frage 4 a) im Freitext-Feld: „Much depends on a candidate nominated, but in general, it is the instrument for building a trust and openess“. 203 Teilnehmer Nr. 56 antwortete zu Interview-Frage 4 b) in Bezug auf die Legitimation der ACCC-Mitglieder, dass die Mitglieder des ACCC nicht ausreichend legitimiert seien. Er begründete seine Ansicht wie folgt: „Appointment process is not transparent, politicized, etc.“. Teilnehmer Nr. 62 antwortete zu Interview-Frage 4 c): „My experience of the selection process is that nominations are put forward in a fairly open way but that the contracting parties go into a separate room and essentially ‚barter‘ to get the best option they can from their perspective. There is no vote and thus no accountability.“ 204 Teilnehmer Nr. 56 antwortete zu Interview-Frage 4 b) in Bezug auf die Legitimation der ACCC-Mitglieder, dass die Mitglieder des ACCC nicht ausreichend legitimiert seien. Er begründete seine Ansicht wie folgt: „Appointment process is not transparent, politicized, etc.“
A. Institutionelle Betrachtungen233
Mitglieder allein der Tagung der Vertragsparteien überlassen ist. Die Mitsprachemöglichkeit der NGOs endet mithin dort, wo die demokratische Legitimation (dazu sogleich) des zu besetzenden Spruchkörpers eine souveräne Entscheidung der Vertragsparteien erfordert. b) Demokratische Legitimation der ACCC-Mitglieder Die als Alternative in Betracht zu ziehende Besetzung mit Staatenvertretern gegenüber unabhängigen Privatpersonen bzw. Experten würde eine demokratische Legitimation schaffen, so könnte man jedenfalls annehmen, die über die nationalstaatliche Exekutive näher an die souveräne Wahlentscheidung des Bürgers angebunden ist. Nun wird gleichsam wie bei der Besetzung eines internationalen Gerichts durch Kollektiventscheidung der Vertragsparteien ein unabhängiges Gremium, das ACCC, mit Befugnissen betraut. Allerdings erfolgt die demokratische Legitimation der ACCC-Mitglieder weiterhin über die nationalstaatlichen Exekutiven, die sich für dieses Vorgehen kraft ihrer Legitimation entschieden haben und gewissermaßen als zweite Kammer über die notwendige Bestätigung (endorsement) der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC wachen, ohne die keine rechtliche Bindung gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVRK eintreten kann. Damit ist eine unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten ausreichende demokratische Legitimation des ACCC und seiner Mitglieder gegeben.205 Darüber hinaus weist Wegner zutreffend darauf hin, dass eine – allerdings ergänzende Legitimation – von der ausführlichen Begründung der Ergebnisse sowie der Konzeption als nichtstreitiges Konsultationsverfahren ausgeht.206 Diese Konzeption, im Rahmen derer dem Grundsatz der Öffentlichkeit gegenüber anderen NonCompliance-Verfahren eine erhöhte Bedeutung zukommt, ermöglicht einer internationalen Öffentlichkeit zusätzliche Kontrolle und Partizipation.207
205 So zumindest im Ergebnis wohl auch Wegner, Subjektiv-rechtliche Ansätze im Völkerrecht zum Schutz biologischer Vielfalt, 2018, S. 702 f. 206 Wegner, Subjektiv-rechtliche Ansätze im Völkerrecht zum Schutz biologischer Vielfalt, 2018, S. 703, Fn. 82 unter Bezugnahme auf von Bogdandy/Venzke, In wessen Namen?, 2014, S. 210 ff. 207 Siehe zum Grundsatz der Öffentlichkeit im Rahmen des Non-ComplianceVerfahrens der Aarhus Konvention oben 2. Kapitel A. IV. 4. b) dd); siehe zum Vergleich zum Grundsatz der Öffentlichkeit im Rahmen des Non-Compliance-Verfahrens zum Montrealer Protokoll oben 1. Kapitel A. V. 2. d).
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
V. Entwicklungsperspektive: ein „Europäischer Gerichtshof für Umweltmenschenrechte“? Nachdem im Rahmen dieser institutionellen Betrachtungen immer wieder, vor allem im Rahmen der Diskussionen um eine mögliche Gerichtsähnlichkeit des ACCC, die Notwendigkeit einer genauen Differenzierung deutlich wurde, soll am Ende dieses Abschnitts untersucht werden, ob in Zukunft vielleicht doch sein könnte, was zumindest aktuell nach Art. 15 AarhusKonvention nicht sein darf. Epiney et al. schlagen vor, dass die Effektivität der Beachtung der Vorgaben der Aarhus-Konvention gesteigert werden könnte, indem man das ACCC zu einem „Europäischen Gerichtshof für Umweltmenschenrechte“ hochstuft.208 Vorschläge einen internationalen Gerichtshof für Umweltsachen zu errichten sind nicht neu. Ein sehr bekanntes Beispiel ist die International Court for the Environment Foundation, mit der Amedeo Postiglione, ehemaliger Richter am italienischen Corte Suprema di Cassazione, seit 1988 für die Errichtung eines internationalen Gerichtshofs für Umweltsachen wirbt.209 Die beiden Ansätze unterscheidet, dass Epiney et al. vorschlagen den prozeduralen Ansatz der Aarhus-Konvention weiterzuführen, wohingegen der 1992 von Postiglione präsentierte Entwurf in umfassender Weise prozedurale Rechte sowie Verpflichtungen der Staaten vorsieht und allem voran in dessen Art. 1 mit der Nennung eines „Grundrechts auf Umwelt“ („fundamental right to the environment“) beginnt.210 Epiney et al. halten ein „Grundrecht auf Umweltschutz“ hingegen für „nicht sachgerecht“ und für womöglich gar „nicht hilfreich“.211 Tatsächlich bietet der Non-Compliance-Mechanismus der Aarhus-Konvention mit seinen besonderen Spezi fikationen schon heute signifikante Parallelen zu menschenrechtlichen Ge208 Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Einführung, Rn. 48. 209 Siehe dazu Stephens, International Courts and Environmental Protection, 2009, S. 56 ff.; Bruce, The Project for an International Environmental Court, in: Conciliation in International Law, 2017, S. 152 ff. 210 Der Entwurf (Draft Statute of the International Environmental Agency and the International Court of the Environment presented at the UNCED Conference in Rio de Janeiro, June 1992) ist abrufbar über die Internetseite der International Court for the Environment Foundation unter http://www.icef-court.org/site/attachments/ article/50/Draft %20Statute %20of %20the%20International%20Environmental%20 Agency%20and%20the%20International%20Court%20of%20the%20Environment %20p.pdf, abgerufen am 26.08.2021. 211 Epiney/Diezig/Pirker/Reitemeyer, Aarhus-Konvention Handkommentar, 2018, Einführung, Rn. 48; nunmehr ist durch die Resolution 48/13 des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen vom 08.10.2021 das Recht auf eine gesunde Umwelt als grundlegendes Menschenrecht anerkannt worden, siehe Human Rights Council, Resolution adopted by the Human Rights Council on 8 October 2021, 48/13. The human right to a clean, healthy and sustainable environment, A/HRC/RES/48/13, 2021.
A. Institutionelle Betrachtungen235
richtshöfen, auf die sich – im Gegensatz zur vollständigen Neuerrichtung eines International Court for the Environment – aufbauen ließe:212 Es gibt die Möglichkeit einer Individualbeschwerde. Das ACCC wacht als unabhängiges Organ über die Einhaltung der Konvention. Und das Engagement von NGOs ist in beiden Fällen maßgeblicher Bestandteil des Schutzsystems. 1. Vor- und Nachteile einer Hochstufung des ACCC Ein großer Vorteil einer Hochstufung des ACCC wäre zunächst, dass den Urteilen eines solchen Gerichtshofs verbindlich nachgekommen werden müsste. Es wäre anders als heute für alle Gerichte im Mehrebenensystem klar ersichtlich, welche Auslegung der Aarhus-Konvention rechtsverbindlich ist. Es bestünden keine Unsicherheiten mehr über die Rechtsqualität der Ergebnisse des Non-Compliance-Verfahrens und darum, welchen konkreten Inhalten diese zukommt.213 Weiterhin führt die Zweistufigkeit des Überwachungssystems zu einer erheblichen Gesamtdauer der Verfahren. Dabei weist – abgesehen von Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) – zumindest die langjährige Verfahrenspraxis der Annahme der Empfehlungen des ACCC durch die Tagung der Vertragsparteien darauf hin, dass es sich hierbei um kein Regime handelt, das durch konfliktreiche Differenzen geprägt ist, die die Kontrollstufe der Tagung der Vertragsparteien unbedingt nötig machen. Wenngleich die Hochstufung zu einem Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und unter dem Aspekt einer effektiveren Rechtsdurchsetzung unbedingt zu befürworten ist, sprechen die entscheidenden Gesichtspunkte aktuell trotzdem gegen eine Hochstufung. Das in dieser Arbeit bereits analysierte Gutachten 2/13 sowie das Urteil in der Rs. C-284/16 (Achmea) lassen den Rückschluss zu, dass der Europäische Gerichtshof einer solchen Institution kaum Raum ließe.214 Eine funktionierende Einbindung in das europäische Mehrebenensystem wäre jedoch unerlässlich, da die 27 EU-Mitgliedstaaten einen Großteil der 47 Vertragsparteien der Aarhus-Konvention stellen. Weiterhin sind die EU-Mitgliedstaaten es auch, ohne die eine erforderliche Vertragsänderung, welche gem. Art. 14 Abs. 3 Aarhus-Konvention mindes212 Siehe dazu Zeitner, EurUP 2019, 159 (164 f.); siehe zu den Parallelen zu menschenrechtlichen Rechtsschutzsystemen außerdem bereits UNECE, Human Rights and the Environment: The Role of Aarhus Convention, 2003, S. 7, Ziff. 35 sowie Pitea, IYBIL 2006, 85 (86). 213 Siehe zur Frage der Rechtsqualität oben II. 1. 214 Siehe dazu oben III. 1. c).
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
tens einer Dreiviertelmehrheit bedarf, nicht möglich wäre. Gerade diesbezüglich hat die Verweigerung der Bestätigung der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC in Fall ACCC/C/2008/32 (Part II) gezeigt, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt an einem politischen Interesse an einer solchen Hochstufung mangeln dürfte.215 Es entspricht angesichts dieses Falles nicht dem Interesse der Europäischen Union, dass eine rechtsverbindliche Auslegung der Aarhus-Konvention durch einen Umwelt-Gerichtshof insbesondere bezüglich umstrittener Rechtsfragen nicht mehr deren Zustimmung bedurfte. Denkbar erscheint hingegen die Errichtung eines Gerichtshofs über ein Zusatzprotokoll, durch das sich bereitwillige Staaten verpflichten könnten. Allerdings würde es sich hierbei um eine entstehende Doppelstruktur zum bestehenden ACCC handeln, die abgesehen von bereits gegenwärtig ohnehin knappen und auf Dauer ungesicherten finanziellen Ressourcen eher zu einer Schwächung des Aarhus-Regimes insgesamt führen dürfte.216 Schließlich ist zu bedenken, dass eine Hochstufung auch eine Koordination mit dem EGMR, dessen Rechtsprechung insbesondere zu Art. 8 EMRK auch Überschneidungsbereiche zu den prozeduralen Rechtsgarantien der Aarhus-Konvention bildet, notwendig machen würde.217 2. Rezeption in der Fachöffentlichkeit In Bezug auf den Vorschlag einer Hochstufung äußerten sich auch die Studienteilnehmer insgesamt zurückhaltend.218 Obwohl diese zu einem großen Teil aus NGO-Vertretern bestanden und immer wieder positiv in Bezug auf eine Stärkung des ACCC Position bezogen, wurden vielfach kritische Stimmen laut, die unterschiedliche Aspekte äußerten, die gegen eine Hochstufung sprechen. 215 Siehe
dazu oben 3. Kapitel B. II. 2. zur finanziellen Ausstattung der Aarhus-Konvention unten C. 217 Vgl. dazu Quillacq, Is legal symbiosis possible? The Coming Synergy between the Aarhus Convention and the European Court of Human Rights, in: EUI Working Group on Environmental Law Collected Reports 2004–2005, 2006, S. 72–76, abrufbar unter https://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/4083/WPLAWNo.20061ELWG. pdf, abgerufen am 26.08.2021. 218 Den Teilnehmern standen im Rahmen von Frage 5 a) neben einem FreitextFeld fünf Skalenoptionen zur Verfügung, um folgende Frage zu beantworten: „According to some voices in academic literature the ACCC may be upgraded to a ‚European Court of Environmental Human Rights‘. How do you evaluate this proposal with a view to… a) …any practical need for implementation?“. Skalenoption 1 entsprach dabei der Einschätzung „No need at all.“ und Skalenoption 5 der Einschätzung „Absolutely worth supporting“. Im Durchschnitt aller 18 Teilnehmer konnte weder eine Zustimmung noch eine Ablehnung der Aussage beobachtet werden, allenfalls eine verhalten zustimmende Tendenz (Mittelwert 3.22). 216 Siehe
B. Synergien und Verhältnis in Bezug auf andere Mechanismen
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Neben den bereits genannten Vor- und Nachteilen einer Hochstufung wurde die Befürchtung genannt, dass eine Änderung bzw. Neuverhandlung der Aarhus-Konvention gegebenenfalls die (progressiven) Rechtsgarantien der Konvention wieder in Frage stellen könnte.219 Dem könnte zwar entgegengehalten werden, dass auch der Abschluss eines Zusatzprotokolls möglich wäre. Dieser Einwand sähe sich allerdings seinerseits den oben genannten Problemen gegenüber. Ein weiterer Teilnehmer äußerte, dass das ACCC keiner Hochstufung bedürfe, um fähig zu sein auf der Ebene der Gerichte zu kommunizieren.220 Diese Position zwingt jedoch zunächst zu einer Unterscheidung zwischen der tatsächlichen und der rechtlichen Wirkmächtigkeit des ACCC. Tatsächlich mögen die Erkenntnisse des ACCC die Beachtung verschiedener nationaler Gerichte finden. Was bleibt ist, dass nur das Zusammenwirken von ACCC und Tagung der Vertragsparteien zu einer rechtsverbindlichen Auslegung der Aarhus-Konvention führen kann, was unter den Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit im Zweifelsfall das Potential hat zu einer unterliegenden Position im Dialog der Entscheidungsorgane zu führen. Dies ist gleichsam auf die europäische Ebene zu übertragen, wo der Europäische Gerichtshof bisher in keiner Entscheidung auf die Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen des ACCC Bezug genommen hat.221
B. Synergien und Verhältnis in Bezug auf die Non-Compliance-Mechanismenzu anderen umweltvölkerrechtlichen Verträgen Nicht nur die institutionelle Struktur des Non-Compliance-Mechanismus mit dem ACCC in dessen Zentrum ist einzigartig, sondern auch das beson219 Die Antwort ist einem NGO-Vertreter (Teilnehmer-Nr. 68) zuzuordnen. Frage 5 b) lautete: „According to some voices in academic literature the ACCC may be upgraded to a ‚European Court of Environmental Human Rights‘. How do you evaluate this proposal with a view to… b)…a necessary amendment of the Aarhus Convention?“. Der Teilnehmer antwortete darauf: „The Aarhus Convention should not be amended. It is serving its purpose well and any opening of the text would risk a reduction of rights.“. 220 Die Antwort ist ebenso einem NGO-Vertreter (Teilnehmer-Nr. 61) zuzuordnen. Frage 5 d) lautete: „According to some voices in academic literature the ACCC may be upgraded to a ‚European Court of Environmental Human Rights‘. How do you evaluate this proposal with a view to… d)…the possible relationship with the European Court of Human Rights and the European Court of Justice?“. Der Teilnehmer antwortete darauf: „In order to be able to communicate at the level of the courts, the committee does not need to be a judicial body.“. 221 Siehe dazu bereits oben III. 1.
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4. Kap.: Nicht Fisch, nicht Fleisch
dere Verhältnis, in welches das Erfüllungskontrollverfahren zu anderen Verfahren dieser Art gesetzt wurde. Erstmals wurde eine sog. „enhancement of synergies“-Klausel in eine Verfahrensordnung aufgenommen, die seither Nachahmung in verschiedenen anderen Regelwerken fand.222 Nach Ziff. 39 der Verfahrensordnung223 kann die Tagung der Vertragsparteien das ACCC beauftragen in Austausch mit anderen Erfüllungsausschüssen zu treten. Dabei kann das ACCC auch beauftragt werden einen Bericht mit entsprechenden Empfehlungen zu erstellen, die sich aus dem Austausch ergeben. Das ACCC kann überdies einen Bericht über relevante Entwicklungen auf diesem Gebiet zwischen den jeweiligen Tagungen der Vertragsparteien erstellen. Dass die Verfahrensordnung einem solchen Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen Non-Compliance-Mechanismen ausdrücklich einen rechtlichen Rahmen gibt, erfuhr anfangs (2002) gemeinsam mit anderen Gesichtspunkten Kritik seitens der Nicht-Vertragspartei Vereinigte Staaten. Die US-amerikanische Delegation wollte betont wissen, dass jeder Non-Compliance-Mechanismus in Bezug auf die Vorschriften sowie den Charakter des jeweiligen völkerrechtlichen Vertrags als „uniquely reflective“ anzusehen sei.224 In dieser Aussage steckt die Befürchtung, dass die als zu progressiv angesehenen Besonderheiten des Non-Compliance-Verfahrens der Aarhus-Konvention Ausstrahlungswirkung auf andere Verfahren haben könnten. In der Tat betonen Staaten häufig und das nicht zu Unrecht, dass es sich bei Non-Compliance-Verfahren um regime-spezifische Mechanismen handelt.225 Trotzdem kann ein Austausch zwischen verschiedenen Kontrollausschüssen gewinnbringend sein. Die Fundamentalkritik der US-amerikanischen Delegation ist auch in diesem Punkt unberechtigt. Die Verfahrensord222 Pitea, Multiplication and Overlap of Non-Compliance Procedures and Mechanisms: Towards Better Coordination?, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 443. Pitea erwähnt beispielsweise das Non-Compliance-Verfahren zum Protokoll über Wasser und Gesundheit sowie dasjenige zum PRTR-Protokoll. 223 Die Vorschrift lautet: „39. In order to enhance synergies between this compliance procedure and compliance procedures under other agreements, the Meeting of the Parties may request the Compliance Committee to communicate as appropriate with the relevant bodies of those agreements and report back to it, including with recommendations as appropriate. The Compliance Committee may also submit a report to the Meeting of the Parties on relevant developments between the sessions of the Meeting of the Parties.“ 224 Vgl. Delegation of the United States, Statement with Respect to the Establishment of the Compliance Mechanism, Report of the First Meeting of the Parties – Annex, ECE/MP.PP/2, 2002, Ziff. 12. 225 Vgl. Pitea, Multiplication and Overlap of Non-Compliance Procedures and Mechanisms: Towards Better Coordination?, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 442.
B. Synergien und Verhältnis in Bezug auf andere Mechanismen
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nung sieht ausdrücklich vor, dass solche Gespräche seitens des ACCC von einem durch die Tagung der Vertragsparteien erteilten Auftrag abhängig sind und dass darüber an die Tagung der Vertragsparteien zu berichten ist.226 Das ACCC kann überdies zwar Empfehlungen an die Tagung der Vertragsparteien richten, doch es bleibt der Tagung der Vertragsparteien vorbehalten, ob sie diese Empfehlungen umsetzt. Diskussionen sind darüber erlaubt, wie praxiswirksam eine Austauschmöglichkeit sein kann, die der Beauftragung durch ein Gremium bedarf, welches lediglich in einem mehrjährigen Rhythmus tagt.227 Tatsächlich ist die „enhancement of synergies“-Klausel in der Praxis wenig bedeutsam bzw. bekannt.228 Vielmehr ist ersichtlich, dass es Aufgabe der Sekretariate ist den 226 Siehe zu dieser Abhängigkeit eines Austauschs von Informationen und Erfahrungen vom Willen der Vertragsparteien bereits Pitea, Multiplication and Overlap of Non-Compliance Procedures and Mechanisms: Towards Better Coordination?, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 444. 227 Siehe auch dazu Pitea, Multiplication and Overlap of Non-Compliance Procedures and Mechanisms: Towards Better Coordination?, in: Non-Compliance Procedures and Mechanisms, 2009, S. 444. 228 Dies legen sowohl die Beobachtungen des Autors, als auch die Antworten der im Rahmen dieser Arbeit angefertigten Studie nahe. Den Teilnehmern wurde folgende Frage 8 gestellt: „What is the practical meaning of the enhancement of synergiesclause in the work of the ACCC?“ Übersetzung: „Welche praktische Bedeutung hat die „enhancement of synergies“-Klausel im Rahmen der Tätigkeit des ACCC?“. Zusätzlich wurde auch der Wortlaut der „enhancement of synergies“-Klausel aufgeführt. Die Teilnehmer antworteten tendenziell in Richtung einer untergeordneten Bedeutung oder unwissend. Im Detail nach Teilnehmer-Nr.: „Donʼt know how it has been applied“ (41); „Some of the cases are also Espoo or Helsinki related“ (42); „none“ (46); „I donʼt have any viewpoint on this…“ (51); „the practical meaning has, until now, almost been nul. Other conventions do not allow private persons and NGOs to submit and defend complaints and Contrcting Parties prefer not to make open reproaches to other Parties. Thus, the compliance bodies of most conventions are paper tigers.“ (53); „They look into each other case law. They have meetings.“ (56); „None, whatsoever since there are no concrete steps. Its May submit, and may request. Its not mandatory.“ (58); „Not too much profit from that because of different mandates and different roles of the public in different compliance committees“ (59); „This means that environmental issues are end-to-end, and thanks to the Aarhus Convention and the work of the Committee, provisions contained in the various conventions but having one purpose – sustainable development – can be applied.“ (61); „One of the most important practical meanings is to harmonise standards in the compliance procedures.“ (63); „The practical meaning of the enhancement of synergies-clause in the work of the ACCC is that AC principals can be used by