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German Pages 165 [166] Year 2016
Jens Petersen Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn
Jens Petersen
Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn
2. Auflage
Prof. Dr. iur. Jens Petersen, Universität Potsdam
ISBN 978-3-11-048931-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049115-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048941-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin zum 85. Geburtstag zugeeignet
Vorwort Fünf Jahre nach dem Erscheinen dieses Buchs kann ich eine zweite Auflage vorlegen. Der Neuauflage wird die unübertroffene Übersetzung von König Johann von Sachsen („Philalethes“) zugrunde gelegt. Der Umfang dieses Buches hat um ein Viertel zugenommen, weil viele Veröffentlichungen aus den Vereinigten Staaten, aber auch älteres und aktuelles deutschsprachiges, italienisches sowie niederländisches Schrifttum eingearbeitet wurden. Entscheidend für die umfangmäßigen Erweiterungen ist aber der Versuch, möglichst alle Erwähnungen der Gerechtigkeit im weiteren Sinne (giustizia, giusto etc.) – es sind insgesamt mehr als fünf Dutzend innerhalb der Commedia – zu berücksichtigen und in das Gefüge der Göttlichen Komödie einzuordnen. Potsdam, im August 2016
Jens Petersen
Inhalt Einleitung I.
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Inferno 16 . Gerechtigkeit als Beweggrund 17 18 a) Gerechtigkeit und Liebe Gottes b) Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Spiegel der DanteLiteratur 18 . Strafensystem in Terzinen 19 20 a) Der contrapasso b) Rationalität des Strafvollzugs und künstlerische Sublimierung 23 25 . Florenz als Paradigma der ungerechten Welt . ‚Ahi giustizia di Dio‘ 26 a) Systematischer Standort 26 27 b) Dante als Mittler der Gerechtigkeit . Gerechtigkeitsgefüge zwischen Verfehlung und Strafe 29 . Durchbrechung des äußeren Normgefüges 30 31 . Unrecht als Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung a) Die eigentümliche Einordnung Catos 32 b) Weltliche Kontingenz und Freiheit des Willens 33 . Entsprechung von Macht und Gerechtigkeit 34 35 . Maß der Gerechtigkeit . Schärfung des Gerechtigkeitssinns 37 a) Das Recht in den drei Zeitaltern 37 aa) Joachim de Fiores Lehre 37 bb) Bedeutung für das Recht 38 b) Dantes Argumente gegen die „Zwei-Schwerter-Lehre“ und die Bulle Unam Sanctam 39 c) Dantes Gerechtigkeitssinn im Spiegel des mittelalterlichen Denkens 40 d) Objektivierung des Gerechtigkeitssinns 42 . Gewissen und Gerechtigkeitssinn 42 a) Historische Einordnung 43 b) Gewissen und Papsttum 44 c) Gewissenhafte Prägung des Gerechtigkeitssinns 45 . Selbstvergewisserung des Gerechtigkeitssinns 47
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Inhalt
. Pervertierung des Gerechtigkeitssinns? 48 49 a) Abstumpfung in der Kältehölle b) Dantes scheinbare Selbstgerechtigkeit 50 c) Konvaleszenz kraft cortesia 51 aa) Perspektivischer Wechsel innerhalb der Terzine bb) Cortesia als Schlüsselbegriff des Wertssystem Dantes . Kritik des Gerechtigkeitssinns 53
55 II. Purgatorio . Der contrapasso als Neutralisierung des bösen Willens 56 57 . Läuterung des Gerechtigkeitssinns a) Kardinaltugend der Gerechtigkeit 58 b) Unberechenbarkeit der Gesetzgebung 60 60 aa) Ungerechtigkeit der florentinischen Verhältnisse bb) Rechtstheoretische Einsicht aus gekränktem Gerechtigkeitssinn 61 62 cc) Deszendenz des Rechtsbewusstseins . Gerechtigkeitssinn und Rhetorik 63 a) Kontingenz des irdischen Gerechtigkeitssinnes 63 b) Berücksichtigung der Monarchia 64 65 . Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit a) Recht und Gerechtigkeit 66 b) Wetterwendische Gesetze 68 69 . Hypertrophie des Gerechtigkeitssinns . Willensfreiheit als Bedingung der Gerechtigkeit 70 a) Gerechtigkeit und Willensfreiheit 71 b) Willensfreiheit und Gewissen 72 c) Freiheit und Bindung durch irdische Gesetze 72 d) Willensfreiheit unter der Bedingung der Liebe 73 e) Willensfreiheit und contrapasso 75 f) Dogmatische Unterscheidung als Abbildung der Reinigung des Gerechtigkeitssinns 76 g) Verfeinerung des Gerechtigkeitssinns durch Erkenntnis der Willensfreiheit 77 aa) Wille zur Gerechtigkeit 77 78 bb) Vorbereitung auf die Wiederbegegnung mit Beatrice . Vernunft und Gerechtigkeitssinn 79 . Gerichteter und gelenkter Gerechtigkeitssinn 80 a) Autonomie und Heteronomie des Gerechtigkeitssinns 81 b) Namensnennung als Ruf der Gerechtigkeit 82
Inhalt
c) Gerichtete Zeit bei Dante und Proust . Quantensprung des Gerechtigkeitssinns
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III. Paradiso 86 . Gerechtigkeitsvorstellung des Paradiso 86 87 a) Gleichlauf mit der Monarchia b) Gerechtigkeitssinn und Wahrheitssinn 88 89 . Wahrheitssinn als Korrektiv des Gerechtigkeitssinns . Vernunfterkenntnis als Maßstab des Gerechtigkeitssinns 91 . Kodifizierung des Rechts 92 92 a) Justinians Verdienst b) Personifizierte Gerechtigkeitsliebe 93 c) Rückführung des Rechts auf seinen Kern 94 d) Fortbildung des Gerechtigkeitssinns durch die Rationalität des 95 Rechts . Lebendige Gerechtigkeit als Chiffre des Gerechtigkeitssinns 96 97 a) Gerechtigkeit und Zeit b) Recht als „Ähnlichkeit des göttlichen Willens“ in der Monarchia 98 c) Dantes Rechts- und Staatsphilosophie zum Vergleich 100 102 . Vervollkommnung des Gerechtigkeitssinns a) Ungerechtigkeit der Welt als Werkzeug der Gerechtigkeit Gottes 102 103 b) Verinnerlichung der jenseitigen Gerechtigkeitsvorstellung c) Einsicht in die Gerechtigkeit des Weltgerichts 104 . Gerechtigkeit und Barmherzigkeit 105 a) Komplementarität 105 b) Wirkungsweise der Gerechtigkeit 106 . Dante als Dichter und Richter irdischer Gerechtigkeit 106 a) Loblied des Decretum Gratiani 107 b) Weltliches und kirchliches Recht 108 c) Metaphysische Leere der Rechtsgelehrsamkeit 109 . Justierung des Gerechtigkeitssinns 110 a) Rechtfertigung ewiger Strafe 110 b) Maß der Gerechtigkeit 111 112 c) Objektivierung des Gerechtigkeitssinns . Gleichzeitigkeit und Gerechtigkeit 113 . Dantes harter Gerechtigkeitssinn 114 a) „Lasciate ogni speranza“ 115 b) Garantie der Gerechtigkeit 115
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Inhalt
. Gerechtigkeit und Sprache 116 117 a) Buchstäbliche Verkörperung der Gerechtigkeit aa) Bezug der Textstelle zur Monarchia 117 bb) Literarische Verdeutlichung der Gerechtigkeitsvision 118 cc) Werkimmanenter Bezug zum Schreiben an Cangrande 118 119 dd) Metaphysische Gestalt der Gerechtigkeit b) Kirchliche Gerechtigkeit? 120 c) Kausalzusammenhang von göttlicher und irdischer 121 Gerechtigkeit aa) Gefüge der Gerechtigkeit 121 122 bb) Imprägnierung des Gerechtigkeitssinns . Inkommensurabilität der göttlichen Gerechtigkeit 122 a) Die ungetauft Verstorbenen als Paradigma von Dantes geläutertem 123 Gerechtigkeitssinn b) Göttliche Gerechtigkeit und menschlicher Gerechtigkeitssinn 125 127 c) Willensfreiheit als Determinante der Ungerechtigkeit . Das göttliche Gesetz 128 a) Erniedrigung machtgieriger Päpste 129 b) Florenz als Fremdkörper im Paradiso 131 132 . Dantes Erhebung zur Gerechtigkeit Literaturverzeichnis Personenverzeichnis
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Einleitung Wohl kaum ein Werk der Weltliteratur ist ohne historische, theologische, literarische, philosophische, selbst juristische Erläuterungen so unzugänglich und schier unverständlich wie Dantes Commedia. ¹ Sein Ringen um die gerechte Ordnung belegt dies in besonderer Weise. Die im deutschsprachigen Schrifttum bis heute grundlegende Untersuchung der rechtsphilosophischen Dimension der Göttlichen Komödie hat der Romanist Hugo Friedrich vorgelegt. Er untersuchte die von ihm treffend so bezeichnete „Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie“ in einer Weise, die auch heute noch in jeder Hinsicht vorbildhaft ist.² Nach wie vor gilt sein Wort: „Das Verständnis der Göttlichen Komödie hängt davon ab, dass man ermisst, in welchem Umfang ihr objektiver Stoff ein Rechtsgebäude ist.“³ Es geht Dante nicht – zumindest nicht nur – um die irdische Gerechtigkeit,⁴ sondern im weitesten Sinne um die Verwirklichung göttlicher Gerechtigkeit.⁵ Sie ist als ewiges Gesetz die „Rechtsgrundlage für die Ordnung der Schöpfung.“⁶ So ist die Commedia weder den Theologen noch den Literaturwissenschaftlern oder Philosophen und am wenigsten den Juristen vorbehalten.⁷ Was sie aber für den Juristen interessant macht, ist nicht zuletzt der Gerechtigkeitssinn Dante Alighieris. Das mag zunächst überraschen, weil der Gerechtigkeitssinn eines
Pointiert Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, (Gesammelte Essays – , . Auflage , S. , , Übersetzung Ralph Dutli): „Die Lektüre Dantes ist vor allem eine nie endende Arbeit, die uns, je mehr wir fortschreiten, um so weiter vom Ziel entfernt.“ Wegweisend Karlheinz Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermenautische Erkundungen in Dantes „Commedia“, . Anderer Ansicht Ernst Robert Curtius, Zur Danteforschung, in: Romanische Forschungen (), , : „Statt konkreter Beobachtungen bietet uns Friedrich Konstruktionen und Spekulationen“. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie. Francesca da Rimini, , S. ; ähnlich bereits Karl Vossler, Einleitung in die „Göttliche Komödie“, , S. ff.; Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S.vi.; ferner Anthony K. Cassell, Dante’s Fearful Art of Justice, ; Christopher Becker, Justice among the Centaurs, Forum Italicum (), ; Claudia di Fonzo, Dante tra diritto, letteratura e politica, Forum Italicum (), ; Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , S. . Siehe aber Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage . Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , . Hermann Conrad, Die Rechtslehre des Dante Alighieri, Begegnung: Zeitschrift für Kultur und Geistesleben (), , . Zu den maßgeblichen Dante-Forschern unter den Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, .
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einzelnen Dichters – und sei er noch so bedeutend – vorderhand kein aussichtsreicher Gegenstand für eine rechtsphilosophische, geschweige denn juristische Betrachtung zu sein scheint. Die Zentralität der Gerechtigkeit ist indes innerhalb der Göttlichen Komödie unübersehbar.⁸ Der Strafrechtler Heinrich Abegg etwa hat in einer dem Juristen und Dante-Forscher Karl Witte gewidmeten Abhandlung festgestellt, dass „der Nachweis und die Verherrlichung der Gerechtigkeit, wie sich diese nach göttlichem Rathschlusse und Ordnung über die Menschen in Lohn und Strafe und in Läuterung vollzieht, der Mittelpunkt, der wesentliche Inhalt, die folgerichtig durchgeführte Aufgabe“ der Göttlichen Komödie sei.⁹ Man darf zudem nicht außer Betracht lassen, dass die Commedia nicht nur eine der „gefügtesten Dichtungen der Weltliteratur“ darstellt,¹⁰ sondern Dante zugleich einer der großen Staats- und Rechtsphilosophen war,¹¹ der sich der anspruchsvollen Aufgabe unterzogen hat, das gesamte Jenseits in seiner Vorstellung auszumessen¹² und anderen Großen der bisherigen Geistesgeschichte ihren Platz zuzumessen.¹³ Mit Recht spricht Arno Borst von der „Weltdichtung der Divina Commedia, die das ganze Menschenleben seiner Zeit umschließt“.¹⁴ Karlheinz Stierle prägt das treffende Wort der „Architektonik von Dantes symbolischem Weltbau“.¹⁵ Josef Kohler sieht dort die „Quintessenz der Geistigkeiten seiner Zeit zur Darstellung“
Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), . Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Siehe auch Johann Wolfgang von Goethe, Dante (Hamburger Ausgabe, Band ), S. ; Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, – , . Dezember („Übrigens sprach Goethe von Dante mit aller Ehrfurcht…“); sowie vom . Oktober . Anderer Ansicht Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, , Band , § : „Ich gestehe aufrichtig, dass der hohe Ruhm der divina commedia mir übertrieben scheint.“ Vgl. aber auch Hugo Daffner, Goethe und Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), ; Wolfgang Seiferth, Zur Kunstlehre Dantes, Archiv für Kulturgeschichte XVII (), – und die gleichlautende Fortsetzung in: Archiv für Kulturgeschichte XVIII (), – . Dante Alighieri, Monarchia; dazu sogleich im Text. Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, , S. („der größte Jenseitsdichter der christlichen Kulturgeschichte“). Näher August Rüegg, Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der „Divina Commedia“, Bände, . Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, . Auflage , S. . Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, , S. . Aus dem älteren Schrifttum Helen F. Dunbar, Symbolism in Medieval Thought and its Consummation in the „Divine Comedy“, .
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gebracht.¹⁶ Dante erfasst mit einem Wort die ganze „Weltwirklichkeit“.¹⁷ Ungeachtet dieser nach strengen Ordnungsprinzipien gefügten Weltsicht führt das Vorhaben zu einem nahezu unerhörten Subjektivismus, der es rechtfertigt den zugrundeliegenden Gerechtigkeitssinn zu betrachten, der Dante zu seinem Urteil befähigt. Walther von Wartburg enthüllt das augustinische Erbe, aus dem nicht zuletzt auch die eigentümliche Zwiespältigkeit resultiert,welche die Interpretation beeinflusst: „Er legt die objektivste und demütigste Beichte ab, die seit Augustins Konfessionen in die Weltliteratur eingegangen ist. Er tut das wiederum in dem doppelten Sinn, in dem er die ganze Wanderung macht: als das Individuum Dante aus Florenz, aber auch als Vertreter der ganzen Menschheit.“¹⁸ Mit Augustinus verbindet Dante der „Dienst an Recht und Gerechtigkeit“.¹⁹ Dante selbst tritt zwar in Vergils Begleitung als sündhafter Mensch auf,²⁰ findet aber das Ergebnis eines regelrechten Weltgerichts vor, das letztlich seiner eigenen Vorstellung entspringt und gerade seinen Sinn für die Gerechtigkeit abbildet.²¹ Das Faszinierende des vorliegenden Gegenstandes ist die eigentümliche Mischung zwischen der objektiven Ordnung, die Dante entsprechend dem hochmittelalterlichen Denken entwirft,²² und seiner eigenen durchaus subjektiven Einschätzung, die gerade darum zu ungerechten Einschätzungen führen kann. Gewiss muss der Dichter Dante von dem durch Inferno, Purgatorio und Paradiso geführten Dante unterschieden werden, weil dieser in seinem Begreifen notwendigerweise begrenzt ist und erst allmählich zur Erkenntnis gelangt, während jener von vornherein das Ganze im Blick hat und daher von einem höheren Standpunkt und Erkenntnisgrad aus entscheidet.²³ Andererseits hat kein Geringerer als Ernst Robert Curtius zu bedenken gegeben, die grundsätzliche Trennung
Josef Kohler, Dante und die Willensfreiheit, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , . Erich Auerbach, Figura, in: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie (Hg. Fritz Schalk), , S. . Walther von Wartburg, S. in der Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , Übersetzung Ida und Walther von Wartburg. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Zum Einfluss des augustinischen Bekehrungserlebnisses John Freccero, Dante: The Poetics of Conversion, , S. ff. Inferno, I, . Zu seinem Begleiter John Humphreys Whitfield, Dante and Virgil, ; Christopher J. Ryan, Vigil’s Wisdome in the Divine Comedy, Classica et Medievalia (), . Zu rudimentär ist die Folgerung von Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , : „Dante verfügt bereits über eine Synthese von allgemeinen Rechtsregeln und Rechtsgedanken, wenn auch über eine unfertige“. Siehe auch Giovanni Busnelli, Cosmogonia e antropogenesi secondo Dante Alighieri e le sue fonti, ; Alois Dempf, Die Hauptform mittelalterlicher Weltanschauung, . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. .
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des Dichters und Wanderers widerstreite allem, „was wir von der Psychologie des künstlerischen Schaffens wissen (…) und sie ignoriert alles, was die DanteForschung getan hat, um das Wesen der Göttlichen Komödie (…) aufzuhellen“.²⁴ Gerade das vorliegende Erkenntnisinteresse, der Gerechtigkeitssinn Dante Alighieris, scheint der genannten Unterscheidung elementar zuwider zu laufen, zumal da auch die übrigen Schriften Dantes berücksichtigt werden, in denen er beispielsweise als Staatsphilosoph spricht. Und dennoch ist die gedankliche Unterscheidung insofern sinnvoll, als man sich in jedem Vers der göttlichen Komödie zum besseren Verständnis Rechenschaft darüber ablegen sollte, ob Dante als Pilger oder als Dichter spricht. Dann kann sich nämlich gerade im Hinblick auf die zugrunde liegende Gerechtigkeitsvorstellung erweisen, dass mitunter in einer und derselben Terzine ein aufschlussreicher Perspektivwechsel stattfindet, indem Dante zunächst als Pilger tastend urteilt und dann als Dichter richtet.²⁵ Dante urteilt trotz aller erfahrenen Zurücksetzungen und Ungerechtigkeiten im Grunde sine ira et studio. Er verfügt freilich über einen unbeugsamen Gerechtigkeitssinn,²⁶ der ihn nicht nur gegen seine eigene Verbannung aus der Heimatstadt Florenz,²⁷ sondern überhaupt gegen die Ungerechtigkeiten seiner Zeit aufbegehren lässt. Dennoch erliegt er nicht der Versuchung, kleinliche Rache zu nehmen, indem er die ihm Verhassten pauschal und ohne Ansehen ihrer verübten Taten in die Hölle versetzt.²⁸ Mit Recht erkennt Hugo Friedrich die dahinter stehende Gesetzmäßigkeit darin, dass es „in der weiten Höhe seines Geistes nichts von pfäffischer Enge und eifernder Dogmatik gibt. Wenn aber sein Urteil Pathos wird, dann ist das immer dort der Fall, wo die Rechtsverletzung in die großen Gemeinschaftsformen von Imperium und Ecclesia hineingreift, wo also die beiden für ihn, den mittelalterlichen Universalisten, gültigen größten Rechtsverbände bedroht sind.“²⁹
Ernst Robert Curtius, Zur Danteforschung, in: Romanische Forschungen (), , . Siehe unten I. . zu Inferno, XXXIII, ff.; . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Zum historischen Hintergrund Paul George Ruggiers, Florence in the Age of Dante, ; Peter Herde, Dante als florentiner Politiker, ; Pierre Antonetti, La Vie quotidienne à Florence au temps de Dante, . Anderer Ansicht Hans Erich Nossack, Die schwache Position der Literatur. Reden und Aufsätze, , S. , für den Dante ein „großer Hasser mit Sehnsucht nach Heimat und Liebe“ ist, der „um nicht von seinen Ressentiments verzehrt zu werden“ nur die Möglichkeit gehabt habe, „seine politischen Gegner zu Höllenqualen zu verdammen“. Zum kulturgeschichtlichen Hintergrund Josef Kroll, Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampf, . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. ; Hervorhebung nur hier. Dem entspricht das, was Arno Borst (Lebensformen im Mittelalter, . Auflage ,
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Dessen ungeachtet durchlebt der Leser stets aufs Neue die Enttäuschung gegenüber der undankbaren Stadt Florenz. Nicht zuletzt diesem immer wieder durchbrechenden Zorn, der jeder abgewogenen Betrachtung im Wege zu stehen scheint, begegnet man durchgängig bis ins Paradiso. Auch und gerade dieser mitunter hemmungslose Subjektivismus in einer ansonsten nach strengsten Prinzipien gefügten Ordnung erhebt Dantes Gerechtigkeitssinn paradoxerweise zu einem überaus lohnenden Gegenstand der rechtsphilosophischen Betrachtung.³⁰ Mit Recht apostrophiert ein Autor zum sechshundertsten Todestag Dantes der Sache nach den Gerechtigkeitssinn des Dichters als eine der Quellen, von denen sein Rechtsdenken ausgeht: „Dantes ‚Rechtsquellen‘ sind wesentlich Metaphysik, Ethik, Psychologie, Theologie und sein eigenes für Gerechtigkeit glühendes Herz. Das Alte und das Neue Testament wie die Geschichte haben seinen Rechtssinn geschärft (…).“³¹ Zerlegt man den Begriff des Gerechtigkeitssinns und wendet ihn auf die Commedia an, so gibt es wohl kaum ein Werk der Weltliteratur, in dem Subjektives – der Sinn für die Gerechtigkeit – und Objektives – die Darstellung der gerechten Ordnung – in vergleichbarer Weise miteinander verschränkt sind und ineinander greifen. Die Infamität der Rechtsverletzung,³² die sich den ihm heiligen Institutionen bzw. Rechtsverbänden und damit letztlich dem göttlichen Recht entgegenstellt, provoziert Dantes heftige Reaktion, um es abermals mit den Worten Hugo Friedrichs zu verdeutlichen: „Hier zittert sein persönlichster Nerv, wie auch vor den Korruptionen der kleineren Rechtsverbände, der Stadt Florenz, der
S. ) über das Menschenbild im Spätmittelalter sagt: „Es wurde durch Rechtlichkeit bestimmt, Einhaltung von Verfahrensweisen in unüberschaubaren Verbänden“. Zum Gerechtigkeitssinn etwa John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (A Theory of Justice, ), , S. ff. unter Verweis auf Philippa Foot, Moral Beliefs, Proceedings of the Aristotelian Society (/), . John Rawls, Justice as Fairness, Philosophical Review (), , bezeichnet die Anlage zum Gerechtigkeitssinn neben dem Vermögen, einen Begriff des Guten zu bilden, als die beiden moralischen Fähigkeiten. Siehe dazu auch Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, (The Idea of Justice, ), S. Fußnote sowie vor allem S. (, p. ): „Seit Jahrhunderten versuchen in unterschiedlichen Teilen der Welt Verfasser von Schriften über die Gerechtigkeit, das intellektuelle Fundament zu schaffen, auf dem sich das Denken von einem allgemeinen Gerechtigkeitssinn (‚general sense of injustice‘) zu spezifischen vernünftigen Diagnosen von Ungerechtigkeit und zur Analyse von Wegen zur Förderung der Gerechtigkeit weiterbewegen kann“. Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , f. Zu ihr eingehend Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , S. – („Beneath the Law: Infamia“).
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oberitalienischen Städte usw.³³ Hier gerät sein systematisches Urteil in die Glut des Hasses. Und doch: auch hier, wo soviel persönliche Anteilnahme spricht, geht das systematische Urteil aus der allgemeinen Rechtsidee stets dem anderen voran. Nie ist der Hass im Gedicht persönlich begründet, sondern immer aus der objektiven Norm, die verletzt wurde.“³⁴ Diese objektive Norm gründet in dem mit der Gerechtigkeit in eins gesetzten Willen Gottes.³⁵ Dante beschreibt die göttliche Gerechtigkeit so, wie sie seinem durch die mittelalterliche Theologie und Philosophie geschulten Ordo-Denken entspricht,³⁶ aber zugleich als Prophet,³⁷ der kraft seiner Dichtkunst eine höhere Einsicht besitzt,³⁸ auch wenn diese Verbindung namentlich von Samuel Beckett zugunsten eines ausschließlichen Künstlertums abgelehnt wurde.³⁹ In der Aburteilung seiner Mitmenschen und Vorgänger liegt eine geradezu ungeheure Anmaßung, die jeglichen Sinn für Maß und Mitte – und damit eben auch die Gerechtigkeit – vermissen zu lassen scheint.⁴⁰ Darin besteht jedoch zugleich das Singuläre des Gegenstandes, der ihn über das erhebt, was man heute unter ‚Law and Literature‘ versteht.⁴¹ Gewiss vermag Dantes Dichtung in gewisser Hinsicht
Siehe im Übrigen auch Alfred Bassermann, Dantes Spuren in Italien. Wanderungen und Untersuchungen, . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. ; zustimmend Joachim Küpper, Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderón, , S. mit Fußnote . Von Grund auf anders wiederum Ernst Robert Curtius, Zur Danteforschung, in: Romanische Forschungen (), ff. Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band , . Heft, , S. (= HKW , , ): „Sein Wille ist auch der Urquell und letzte Grund von Recht und Gerechtigkeit“. Hermann Conrad, Recht und Gerechtigkeit im Weltbild Dante Alighieris, Festschrift für Johannes Spörl, , S. , . Siehe auch Etienne Gilson, Dante et la philosophie, (deutsch: Dante und die Philosophie, , . Auflage ); Justin Steinberg, Accounting for Dante: Urban Readers and Writers in Late Medieval Italy, (dazu John A. Scott, Speculum , , ). Josef Kohler, Dante als Prophet, ; Bruno Nardi, Dante als Prophet, in: Dante Alighieri. Aufsätze zur Divina Commedia (Hg. Hugo Friedrich), , S. ; Raffaello Morghen, Dante profeta. Tra la storia e l’eterno, . Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, . Auflage , S. ff., ; dazu Leo Spitzer, American Journal of Philology (), . Samuel Beckett, Proust, (hier zitiert nach der Luchterhand-Ausgabe, , S. f.), wonach Dante „ein Künstler und kein unbedeutender Prophet war“. Erich Loos, Der logische Aufbau der „Commedia“ und die Ordo-Vorstellung Dantes, , S. : „Im gesteigerten Selbstbewusstsein“ des seherischen Dichters fühle sich Dante „als durch göttliche Gnade Beauftragter (…)“. Richard A. Posner, Law & Literature, . Auflage , S. f., , , , , , nennt Dante in diesem Zusammenhang erstaunlicherweise nur kursorisch. Lesenswert Claus-Wilhelm
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womöglich sogar besser als die (Rechts‐)Philosophie von einer Facette der Wahrheit Zeugnis zu geben.⁴² Doch schöpft dies den rechtsphilosophischen Gehalt seines Werks nicht annähernd aus. Vielmehr kann man von einer Dichtung der Gerechtigkeit sprechen, wie es Allan Gilbert getan hat, der als einer der ersten erkannt hat, dass die Sinnhaftigkeit der Göttlichen Komödie mit der Ausgestaltung der ihr zugrundeliegenden Vorstellung von der Gerechtigkeit steht und fällt.⁴³ Dass Dante – wenigstens nach dem Exil und somit bei der Niederschrift der Göttlichen Komödie und der Monarchia ⁴⁴ – ohne Parteinahme urteilt,⁴⁵ ist namentlich von Erich Auerbach begründet worden, der ursprünglich im Strafrecht promovierter Jurist war,⁴⁶ ehe er einer der bedeutendsten Romanisten seiner Zeit wurde.⁴⁷ Er wendet sich in besonderer Weise gegen die früher vertretene Auffassung, dass Dante nicht nur aufgrund seiner impulsiven Wesensart, sondern auch und gerade in Folge seiner als zutiefst ungerecht empfundenen Verbannung gegenüber den dargestellten Personen entsprechend ungerecht geurteilt habe.⁴⁸ Jedes Urteil über die Personen der Dichtung sei von ihm aus einer Gesamtbetrachtung ergangen, die zur Verwirklichung einer geschichtlich und geschichtsphilosophisch fundierten „göttlichen Gleichgewichtsordnung auf Erden“ unerlässlich sei.
Canaris, Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts, S. , , wonach „law and literature (…) dem juristischen Zeitgeist entspricht“. Giuseppe Mazzotta, Dante’s Vision and the Circle of Knowledge, (darin aus juristischer Sicht weiterführend der Abschnitt ‚Metaphor and Justice‘); ders., Reading Dante, . Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. , Chapter III: „The Commedia as a poem of justice“. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Aus dem älteren Schrifttum Giulio Perticari, Dell’amor patrio di Dante, Opere I, , S. ff. Erich Auerbach, Die Teilnahme in den Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetzbuch, . Nach Hans Ulrich Gumbrecht (Vom Leben und Sterben der großen Romanisten, , S. f.) „beschäftigte Auerbach das Problem der Mittäterschaft im Sinne einer Situations- und Handlungsstruktur, in der die Ambivalenz zwischen Schuld und Unschuld – poetologisch gesehen: Tragik – sichtbar wird“. Siehe auch Erich Auerbach, Neue Dantestudien, ; ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, , . Auflage ; ders., Die Entdeckung Dantes in der Romantik, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (), ; ders., Studi su Dante, prefazione di Dante Della Terza, ; Jan M. Ziolkowski, Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe von Erich Auerbach, Literary Language and its Public in Late Latin Antiquity and in the Middle Ages, , S. xiii (ursprünglich deutsch: Erich Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, ). Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. .
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In der Tat begegnen viele der in der Göttlichen Komödie auftretenden Personen nur dort, so dass die Geschichte von ihnen sonst nichts mehr weiß.⁴⁹ In Ansehung ihrer ist es in der Tat schwierig, ein „Maß für die Gerechtigkeit“ zu ermitteln.⁵⁰ Ebenso richtig ist seine Beobachtung, dass jeder Einzelne individuell – also ohne Berücksichtigung aller sozialen Verflechtungen – beurteilt wird. Nicht minder wichtig ist seine Definition der Gerechtigkeit Dantes als „Rangordnung der Menschen in seinem Jenseits“. Diese Kennzeichnung verdeutlicht, dass die Personen, denen Dante begegnet, bar ihres irdischen Ranges und ihrer dortigen Stellung abgeurteilt werden.⁵¹ Eugen Biser spricht treffend von Dantes „Richtmaß des Ordnungsdenkens.“⁵² Die Rangordnung des Menschen in der jenseitigen Welt ergibt sich für Dante aus der Bedeutung des Einzelnen in der Weltordnung.⁵³ Und doch vermag die wohlbegründete und in ihren Prämissen weiterführende Sichtweise Auerbachs nicht alle Auswüchse und Übersteigerungen des Gerechtigkeitsempfindens Dantes zu erklären.⁵⁴ Auch wenn Dante während der Niederschrift seines Weltgedichts gleichsam über den Parteien seiner Zeit mit ihren Streitigkeiten und Entzweiungen stand, war er nicht in jeder Hinsicht darüber erhaben. Deshalb sind für die vorliegende Fragestellung nicht zuletzt jene Stellen von Bedeutung, in denen sein Zorn wieder auflodert, den er bei aller Ausgewogenheit der einzelnen Verurteilungen zuvor gebändigt hat. Es sind dies vor allem diejenigen Terzinen, in denen er die florentinischen Verhältnisse zugrunde legt. Durch seine Verbannung aus Florenz war Dante der Gesellschaftsvertrag regelrecht aufgekündigt worden, drohte ihm doch der Feuertod, falls er jemals wieder Florentiner Gebiet betreten sollte. Erst in dieser Situation permanenter äußerster Gefährdung seiner Sicherheit konnte er den Blick auf die ewige Gerechtigkeit richten.⁵⁵ Dabei darf man nicht vergessen, dass Dante
Siehe auch Brigitte Winklehner, Originalität und geschichtliche Gebundenheit im politischen Denken Dantes, Deutsches Dante-Jahrbuch (), . Hier und im Folgenden Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. . Siehe auch Giuseppe Jacopo Ferrazzi, Enciclopedia Dantesca, , S. ff. zur „Giurisprudenza Dantesca specialmente penale“. Eugen Biser, Nietzsche und Dante. Ein werkbiographischer Strukturvergleich, NietzscheStudien (), , . Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , unter Verweis auf Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhmes, , . Auflage , S. ff. Zu Gundolfs Einfluss auf Auerbach siehe Kurt Flasch, in seinem lesenswerten Nachwort der zitierten Monographie (. Auflage , S. ). Vgl. auch Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. , macht mit Recht darauf aufmerksam, dass „der im Einzelkampf unterlegene Dante emporgestiegen ist zum Idea-
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auch nach seiner Verbannung aus Florenz zu einem bestimmten Zeitpunkt noch die Möglichkeit hatte, als reumütiger Sünder unter Anerkennung aller seiner Verfehlungen zurückzukehren.⁵⁶ Dies verbot ihm freilich nicht nur sein Stolz, sondern vor allem sein unbeugsamer Gerechtigkeitssinn. Dass es hier entgegen dem ersten Anschein und der dem Gerechtigkeitssinn anhaftenden subjektiven Komponente⁵⁷ nicht nur um den Versuch einer rechtsphilosophischen Durchdringung eines literarischen Werks geht, sondern darüber hinaus der rechtsphilosophische Standpunkt Dantes überhaupt in Rede steht,⁵⁸ ergibt sich aus der Zusammenschau der Göttlichen Komödie mit seinem philosophischen Hauptwerk, der Monarchia. ⁵⁹ Die Monarchia gehört zu den großen rechts- und staatsphilosophischen Entwürfen des Mittelalters.⁶⁰ Sie drückt in besonderer Weise die mittelalterliche Staatslehre aus und überwindet sie zugleich in mehr als einem Punkt.⁶¹ Dante selbst hat diesen werkimmanenten Zusammenhang, in dem seine Commedia mit der Staatsphilosophie steht, an zentraler Stelle der Monarchia verdeutlicht: „Ist dies eingesehen, so kann weiterhin offenkundig sein, dass diese Freiheit oder das Prinzip dieser unserer ganzen Freiheit das größte Geschenk ist, das Gott der menschlichen Natur verliehen hat, wie ich im »Paradies« der Komödie listen des Rechts, das er zu einem metaphysischen Recht erweiterte“. Nüchterner Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, , . Auflage , S. , wonach bei Dante „überall hinter den grandiosen kosmologischen Phantasien die brennende Sehnsucht nach der nationalen Umgestaltung steht“. Otto Roquette, Einleitung, S. , der von Karl Streckfuß übersetzten Ausgabe der Cotta’schen Buchhandlung. Die moderne verhaltensökonomische Forschung misst dem Gerechtigkeitssinn dessen ungeachtet zu Recht große Bedeutung bei. Hervorzuheben sind die grundlegenden Studien von Ernst Fehr; vgl. nur Ernst Fehr/Simon Gächter, Altruistic punishment in humans, Nature (), . Dazu Hermann Conrad, Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, . Dante Alighieri, Monarchia; im Folgenden zitiert nach der von Ruedi Imbach und Christoph Flüeler eingeleiteten, übersetzten und kommentierten Studienausgabe bei Reclam, . Dazu Anthony K. Cassell, The „Monarchia“ Controversy: An Historical Study with Accompanying Translations of Dante Alighieri’s „Monarchia“ and Guido Vernani’s „Refutation of the ‚Monarchia‘ Composed by Dante“, and Pope John XXII’s Bull „Si fratrum“, ; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie: Antike und Mittelalter, . Auflage , S. ; Dirk Lüddecke, Dantes Monarchia als politische Theologie, Der Staat (), ff.; Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, , S. ff.; Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das . Jahrhundert, , S. Fußnote ; . Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band , . Heft, , S. (= HKW , , ).
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bereits gesagt habe, denn durch dieses Geschenk werden wir hienieden glücklich wie Menschen, dort aber glücklich wie Götter.“⁶² Beiläufig sieht man hieran, dass Dante selbst sein Werk nur als Commedia bezeichnete,⁶³ weil sie – anders als die Tragödie⁶⁴ – vom Abstoßenden, dem Inferno, zum Guten, dem Paradiso, findet;⁶⁵ der Zusatz Divina kam bekanntlich erst später durch Boccaccio hinzu. An dieser Stelle wird zudem andeutungsweise offenbar, welchen zentralen Stellenwert die Freiheit in der Rechtsphilosophie Dantes und in seiner Göttlichen Komödie einnimmt. Dieser ausdrücklichen Außenverweisung entsprechen die vielen unausgesprochenen Stellen, in denen die Commedia auf der Monarchia gründet. Es war wiederum Hugo Friedrich, der diesen Zusammenhang auf die rechtsphilosophischen Bestimmungen der Monarchia im Hinblick auf die Dichtung Dantes auf den Punkt gebracht hat: „Die rechtsphilosophischen Definitionen der Monarchia enthalten, nur verschiedenartig auseinandergelegt, die allgemeinste rechtsmetaphysische Einheit, auf der die Göttliche Komödie als Weltgericht ruht.“⁶⁶ Das dichterische Hauptwerk Dantes muss man also im Zusammenhang mit seinem rechts- und staatsphilosophischen würdigen,⁶⁷ was freilich entgegen einer lange vorherrschenden Meinung nicht bedeutet,⁶⁸ dass der Göttlichen Komödie eine ausschließlich oder auch nur vorrangig politische Zielrichtung innewohnt.⁶⁹ Abgesehen von dem angesprochenen werkimmanenten Zusammenhang erlaubt die soeben zitierte Stelle aus der Monarchia eine Datierung des Werks,⁷⁰ das wohl
Dante Alighieri, Monarchia (Übersetzung Ruedi Imbach), I, xii, : „Hoc viso, iterum manifestum esse potest quod hec libertas sive principium hoc totius nostre libertatis est maximum donum humane nature a Deo collatum – sicut in Paradiso Comedie iam dixi – quia per ipsum hic felicitamur ut homines, per ipsum alibi felicitamur ut dii“. Näher Pio Rajna, Il titolo del poema dantesco, Studi danteschi (), ff. Dante nimmt insbesondere auf die Tragödien Senecas Bezug; dazu Giorgio Brugnoli, Ut patet per Senecam in suis tragediis, Rivista di cultura classica e medioevale (), ff. Siehe auch Henry Ansgar Kelly, Tragedy and Comedy from Dante to Pseudo-Dante, . Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, Epistola XIII, – , Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Thomas Ricklin mit einer Vorrede von Ruedi Imbach, , S. f. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Anna Maria Chiavacci Leonardi, La Monarchia di Dante alla luce della Commedia, in: Studi medievali (), . Zutreffend Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band , . Heft, , S. (= HKW , , f). So aber etwa Franz Xaver Kraus, Dante. Sein Leben und sein Werk, sein Verhältnis zur Kunst und zur Politik, , S. , . Siehe auch Joan M. Ferrante, The Political Vision of the Divine Comedy, ; Alessandro Passerin d’Entrèves, Dante as a Political Thinker, . Zum Folgenden Robert Davidsohn, Die Abfassungszeit von Dantes „Monarchia“, Deutsches Dante-Jahrbuch (), .
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nicht bereits 1308 verfasst worden sein dürfte,⁷¹ auch nicht um das Jahr 1312,⁷² sondern erst um das Jahr 1317.⁷³ Die Monarchia ist auch dort betont rational abgefasst, wo man eine beherzte Auseinandersetzung mit den widerfahrenen Ungerechtigkeiten erwarten könnte,⁷⁴ da das erklärte Ziel der Schrift – die Unsterblichkeit des Autors⁷⁵ – nicht um kleingeistiger Ressentiments willen gefährdet werden sollte. In beiden Werken steht die Problematik der Willensfreiheit im Mittelpunkt.⁷⁶ Damit geht es aber letztlich um das grundlegende philosophische und insbesondere rechtsphilosophische Problem der Freiheit,⁷⁷ die auch und gerade im mittelalterlichen Denken eine herausragende Rolle gespielt hat:⁷⁸ „Deswegen muss man wissen, dass das Prinzip unserer Freiheit im freien Entscheidungsvermögen besteht, welches viele im Munde führen, wenige aber begreifen.“⁷⁹ Das rechtsphilosophische Interesse an der Göttlichen Komödie rührt nicht zuletzt daher, dass Dante dort im Einklang mit der soeben zitierten Stelle aus der Monarchia die Willensfreiheit allenthalben vorausgesetzt und betont hat: Wer sich aus freien Stücken dem als ewiges Gesetz begriffenen Willen Gottes widersetzt, wird danach gerichtet werden. Diese auf Augustinus und Thomas von Aquin zurückgehende Einsicht ist die normative Grundlage von Dantes Gerechtigkeitssinn, ohne dass damit zwangs-
So allerdings Bruno Nardi, Studi di filosofia medievale, ; ders. Saggi e note di critica dantesca, . Gustavo Vinay, Interpretazione della Monarchia di Dante, . Friedrich Baethgen, Die Entstehungszeit von Dantes Monarchia, , Bayerische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte; Überblick bei Emilia Mongiello, Sulla datazione del Monarchia di Dante, in: Le parole e le idee, (), . Ferner Karl Hampe, Die Abfassung der „Monarchia“ in Dantes letzten Lebensjahren, Deutsches DanteJahrbuch (), . Robin Kirkpatrick, Dante. The Divine Comedy, . Auflage , S. . Dante Alighieri, Monarchia, I, i, . Dazu Josef Kohler, Dante und die Willensfreiheit, Deutsches Dante-Jahrbuch (), ff. Vgl. auch Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. , wonach die Freiheit „durchsichtig wird als das Walten der göttlichen Rechtsform, die das zum freien Tun entlassene Geschöpf in der Verantwortlichkeit bindet und zum Urteil ruft“. Herbert Grundmann, Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postulat im Mittelalter, Historische Zeitschrift (), ff. Dante Alighieri, Monarchia, I, xii, (Übersetzung Ruedi Imbach): „Propter quod sciendum quod principium primum nostre libertatis est libertas arbitrii, quam multi habent in ore, in intellectu vero pauci“.
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läufig gesagt ist, dass Dante Thomist war, wie ein Teil der Lehre annimmt,⁸⁰ heute aber mit guten Gründen abgelehnt wird.⁸¹ Denn auch wenn Dante in vielerlei Hinsicht auf Aristoteles,⁸² Augustinus⁸³ und Thomas von Aquin aufbaut,⁸⁴ enthält seine Commedia doch jenseits aller eklektischen Elemente so viel genuin Eigenes, wenn auch mitunter aus den Quellen antiker Vorbilder und gegenwärtiger Vertrauter Geschöpftes,⁸⁵ dass sie nicht einfach als Dichtung einer bestimmten philosophischen Strömung begriffen, sondern nur als Original eines Genies gewürdigt werden kann,⁸⁶ wie sich gerade am Beispiel der Gerechtigkeit erweist.⁸⁷ So ist Dantes Werk mit den treffenden Worten Bertrand Russells die „einzige ausgewogene Darstellung der gesamten mittelalterlichen Gedankenwelt“.⁸⁸ Gerade in dieser Ausgewogenheit angesichts einer Zeit grassierender Ungerechtigkeit kommt der Gerechtigkeitssinn Dantes zur Geltung.
Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , passim (dagegen Kurt Flasch in seinem Nachwort, ebenda, S. ); wohl auch Hermann Conrad, Recht und Gerechtigkeit im Weltbild Dante Alighieris, Festschrift für Johannes Spörl, , S. ff. Kurt Flasch, ebenda, verweist auf Bruno Nardi, Dante e la cultura medievale: nuovi saggi di filosofia dantesca, ; ders., Dal Convivio alla Commedia: Sei saggi danteschi, ; Etienne Gilson, Dante et la philosophie, (deutsch: Dante und die Philosophie, , . Auflage ); Gianfranco Contini, Un’ idea di Dante. Saggi danteschi, . Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , wonach „sogar naturwissenschaftliche Schriften des Stagiriten in diese Rechtspilosophie eingreifen“. Vgl. nur Olga Grlic, Dante’s Statius and Augustine: Intertextuality in Conversionary Narrative, Medievalia et Humanistica (), . Vgl. auch Umberto Eco, The Aesthetics of Thomas Aquinas, (Übersetzung H. Bredin). Zu nennen ist Dantes Dichter-Freund, der Jurist Cino da Pistoia (Guittone Sinibaldi di Pistoia); vgl. nur Robert Hollander, Dante and Cino da Pistoia, Dante Studies (), ; Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , Fußnote . Aphoristisch Willi Hirdt, Gerechtigkeit – Gesetzlichkeit. Zum episodischen Diskurs der Divina Commedia (Inferno VII-IX), Deutsches Dante-Jahrbuch (), , : „Die eigentliche Quelle Dantes ist Dante“. Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , ordnet dies besonders deutlich in den Strom der juristischen Geistesgeschichte ein: „Aber was auch an allgemeinen Rechtssätzen und Anregungen aus irgendeiner Rechtsschule in unsres Florentiners Ideen hineingeflossen sein mag, ein eigenes Verdienst, das in die Zukunft weist, ist ihm schwerlich abzusprechen. (…) Wie er in seiner Politik Teile Kantscher Ansichten schon hat, so greift er in einigem dem Vater des neuen Naturrechts vor. Nicht nur in dem Ideale eines Weltfriedens, sondern auch in der Einführung des sozialen Charakters in den Rechtsbegriff geht Dante dem berühmten Holländer (sc.: Grotius) voraus. (…) So fällt Dante, der theologisch überaus lebhaft interessierte Philosoph, aus der gesamten juristischen Tradition seiner Zeit heraus“. Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes, , . Auflage , S. .
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Die Monarchia belegt indes noch eine Fertigkeit Dantes, die sich aus der Göttlichen Komödie nicht unmittelbar ergibt, für ihre rechtsphilosophische Durchdringung aber gleichwohl von Bedeutung ist. Die Rede ist von der streng syllogistischen Methode, welche die Monarchia durchwirkt und ihre formale Schlüssigkeit auch dort unter Beweis stellt,⁸⁹ wo man aus heutiger Sicht inhaltlich befremdet ist, namentlich bei der großangelegten Idee der Weltmonarchie.⁹⁰ Diese syllogistische Form der Beweisführung spiegelt nicht nur die scholastische Provenienz des Gedankenguts wider,⁹¹ sondern ist auch der juristischen Methode mit ihrer eigentümlichen Subsumtion so verwandt,⁹² dass es leicht fällt, sich Dante als Juristen vorzustellen. Das gilt umso mehr, als Dante im Convivio eine Auslegungslehre entworfen hat, die den Wortsinn vom moralischen, allegorischen (bei Dichtern) und (der Theologie zugehörigen) anagogischen Sinn unterscheidet.⁹³ Das erinnert zumindest an die auf Savigny zurückgehende Unterteilung des klassischen Auslegungskanons der juristischen Methodenlehre.⁹⁴ Jedenfalls legt dieses strengen Ordnungsprinzipien verpflichtete Denken nahe, dass auch die Dichtung davon durchdrungen ist und sich in der Göttlichen Komödie zugleich jene gleichsam himmlische Form verwirklicht findet, die der göttlichen Gerechtigkeit in Dantes Vorstellung zukommt.⁹⁵ Ein passionierter Dante-Forscher unter den Strafrechtlern des neunzehnten Jahrhunderts hat den Versuch unternommen, auf die Dichtung „logische Bestimmungen an(zu)wenden“, um zu dem Ergebnis
Eingehend Dirk Lüddecke, Das politische Denken Dantes. Überlegungen zur Argumentation der Monarchia Dante Alighieris, , S. f. sowie – speziell zur Gerechtigkeit – S. . Dazu etwa Francis Cheneval, Die Rezeption der Monarchia Dantes bis zur Editio Princeps im Jahre . Metamorphosen eines philosophischen Werkes, ; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie: Antike und Mittelalter, . Auflage , S. ; Hermann Conrad, Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, , S. ff.; Volker Mantey, Zwei Schwerter Zwei Reiche, , S. ; Markus Llanque, Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse, , S. . Hermann Conrad, Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, , passim. Vgl. auch Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, . Auflage , S. ff. Dante Alighieri, Convivio, II, i, ff. (im Folgenden zitiert nach der von Thomas Ricklin, Francis Cheneval und Ruedi Imbach eingeleiteten, übersetzten und kommentierten Ausgabe bei Meiner, – ). Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, , Band I, S. ff.; Band III, S. f. Robert Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, , hat einen ähnlichen Gedanken anhand von Johann Sebastian Bachs Violin-Sonate G-Moll nachgezeichnet. Näher Helga Thoene, Die ViolinSonate G-Moll (BWV ): Der verschlüsselte Lobgesang, Cöthener Bach-Hefte, ().
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zu gelangen, dass „alles den Untersatz für die Unterstellung unter den Obersatz, die Gerechtigkeit und den notwendigen wahren Schluss“ bildet.⁹⁶ Die vorliegende Abhandlung unterscheidet sich von vielen anderen nicht zuletzt dadurch, dass sie dem Paradiso im Verhältnis zum Inferno und Purgatorio breiteren Raum widmet. So spektakulär die im Inferno verhängten Strafen auch sind und so sinnfällig der Läuterungsweg im Purgatorio verläuft, darf doch nicht übersehen werden, dass sich erst mit Blick auf das Paradiso Dantes Verständnis der Gerechtigkeit abschließend beurteilen lässt.⁹⁷ Die drastischen Höllenstrafen des Inferno sind systematisch nur durch die andeutungsweise im Purgatorio und eingehend im Paradiso zugrunde gelegte Konzeption der Willensfreiheit gerechtfertigt. Dantes Gerechtigkeitsvorstellung lässt sich deshalb letztlich nur vom Paradiso her begreifen. Daher ist es sinnvoll, die Terzinen, in denen es innerhalb des Inferno und Purgatorio um die Gerechtigkeit geht, auch vom Paradiso her zu lesen und zu deuten. Dann ist Dantes Gerechtigkeitssinn mehr als das subjektive Empfinden eines Einzelnen, sondern darüber hinaus die Verwirklichung einer Gerechtigkeitsidee, die das scholastische Rechtsdenken gleichermaßen voraussetzt und so individuell weiterführt, wie es eben gerade Dantes Sinn für die gerechte Ordnung entsprach.⁹⁸ Dantes Gerechtigkeitssinn ist somit nicht unbedingt deckungsgleich mit dem mittelalterlichen Ordo-Denken. Sein Hauptwerk entfaltet vielmehr im Hinblick auf die Gerechtigkeit eine überschießende Innentendenz. So wird in der Commedia einerseits das Ebenmaß des hochmittelalterlichen Rechtsdenkens vollkommen abgebildet, andererseits aber ein gewisser Individualismus erahnt,⁹⁹ wie er für das
Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , . Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , S. f., beschreitet einen anderen Weg, wie folgende Stelle beispielhaft zeigt: „While Dante’s transactions with the souls in Purgatorio and Paradiso blend seamlessly within the overriding divine juridical order (in the first case, integrated into a global penitential economy, in the second, as an extension of God’s reign of charity), his negotiations with the damned in Inferno are more ambiguous“. Ähnlich Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , : „Als ausgezeichnetes Merkmal der Danteschen Rechtsphilosophie darf ein Zurücktreten der objektiven Seinsmetaphysik bei ihrer Grundlegung und eine stärkere Durchdringung des metaphysischen Grundgewebes mit individuell geschauter Psychologie und Ethik angesehen werden, und die Psychologie legt wieder einen besonderen Nachdruck auf den göttlichen Willen, so dass die Vernunft beinahe noch mehr im Gebiete der menschlichen Rechtsgestaltung als im Bereiche göttlicher Tätigkeit zum Ausdruck gelangt“. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, . Auflage , Bd. , S. : „Der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, ist hier völlig gebrochen; schrankenlos spezialisieren sich hier einzelne Gesichter. Dantes große Dichtung wäre in jedem anderen
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Rechtsdenken der Renaissance und der frühen Neuzeit typisch sein wird.¹⁰⁰ So erweist sich Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn womöglich als dichterische Vorahnung der Frührenaissance,¹⁰¹ da der aufkeimende Individualismus das Rechtsdenken zunehmend imprägniert.¹⁰² Nicht zuletzt deswegen nimmt Dante in der Commedia einen solchen Anteil an der Frage, wie die göttliche Ordnung Vergil Gerechtigkeit widerfahren lässt. Sie erweist sich vor allem im Purgatorio und im Paradiso als Paradigma seines Gerechtigkeitssinnes.¹⁰³ Doch hier wie in der gesamten Commedia gilt: Dantes Gerechtigkeitsvorstellung enthüllt sich nur in der Gesamtschau von Inferno, Purgatorio und Paradiso; jede isolierte Betrachtung eines dieser drei Teile verengt Dantes Perspektive unzulässig, jede übertriebene Akzentuierung eines Teils bringt die Gerechtigkeitsidee aus dem Lot.
Lande (…) unmöglich gewesen. (…); für Italien ist der hehre Dichter schon durch die Fülle des Individuellen der nationale Heros seiner Zeit geworden“. Siehe auch Thomas Vormbaum, Strafrecht und Religion in Dantes „Göttlicher Kommödie“, in: Diagonale – Beiträge zum Verhältnis von Rechtswissenschaft und Literatur, , S. , ; Paul Geyer,Von Dante zu Ionesco. Literarische Geschichte des modernen Menschen in Italien und Frankreich, Band , . Kategorisch ablehnend Klaus Roth, Genealogie des Staates. Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens, , S. : „Allerdings ist Dantes Humanismus zugleich ein dezidierter Anti-Individualismus (…)“. Aufschlussreich am Beispiel eines Renaissance-Denkers mit ausgeprägtem Individualismus im Vergleich mit Dante Johan Huizinga, Erasmus. Eine Biographie, , Neuausgabe , S. : „Erasmus hatte von der Kirche nicht mehr eine rein katholische Auffassung. An diesem glorreichen Bau der mittelalterlich-christlichen Kultur mit seinem mystischen Grundbegriff, seiner streng hierarchischen Konstruktion, seiner herrlich schließenden Symmetrie sah er beinah nur noch die Überladung mit äußeren Einzelheiten und Verzierungen. An Stelle einer von der Kirche umspannten Welt, wie sie Thomas von Aquino und Dante geschaut und beschrieben hatten, sah Erasmus eine andere Welt voll Zauber und Erhabenheit, in die er seine Zeitgenossen hineinführen wollte.“ Siehe auch Johan Huizinga, Welke vorstelling heeft Erasmus omtrent Dante gehad?, De Gids ; sowie – darauf anspielend – Christian Krumm, Welche Vorstellung hatte Johan Huizinga von Dante?, Deutsches Dante Jahrbuch / (), . Siehe mutatis mutandis, nämlich zu Montaigne auch Hugo Friedrich, Montaigne, ; ferner Jens Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, . Zur geistesgeschichtlichen Einordnung Dantes Stephen Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, , S. , . Perdita Ladwig, Das Renaissancebild deutscher Historiker – , , S. , zitiert den früheren Vorsitzenden der Deutschen Dante–Gesellschaft Walter Goetz: „Er geht in einem so starken Maße vom eignen Erleben und eignem Seelenleben aus, dass man in seiner ‚Vita nuova‘ die Geburtsstunde des modernen Individualismus gesehen hat. Die ‚Commedia‘ ist nicht nur die endgültige klassische Gestaltung eines von der italienischen Volksphantasie seit Jahrhunderten hin und her getragenen Stoffes, sondern in ihrem tiefsten Gehalte der Kampf der Menschenseele mit sich selber, das Suchen nach der Lösung des Lebensrätsels“. Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , , .
I. Inferno „Die ganze Anlage des Danteschen Höllenlokals hat“ – mit den berühmten Worten Goethes – „etwas Mikromegisches und deshalb Sinnenverwirrendes“.¹⁰⁴ Doch auch wenn die grausamen Schilderungen der Höllenstrafen die Sinne verwirren mögen, ist der Gerechtigkeitssinn der sie geschaffen hat, alles andere als verworren, sondern vielmehr strengen Ordnungsprinzipien verpflichtet. „Dantes Hölle ist ein ewiges Zuchthaus“, meint Richard Schmidt:¹⁰⁵ „Das System, das wir bei dem Theoretiker vermissen, hier ist es poetisch da, nur nicht nach weltlichen, römischen oder stadtrechtlichen Gesetzen, sondern nach göttlichen, wie sie der Dichter versteht.“¹⁰⁶ Das Inferno ist wie die gesamte Commedia aus dem Bewusstsein menschlicher Sündhaftigkeit heraus geschrieben.¹⁰⁷ Das verkünden bereits die ersten Zeilen, in denen insbesondere der dunkle Wald als Inbegriff der menschlichen Verwirrungen und Verstrickungen in Sünden erscheint.¹⁰⁸ Den rechtsphilosophischen Bezug stellt Hugo Friedrich her, indem er diagnostiziert, der Wanderer komme „aus dem dunklen Gestrüpp seiner eignen wie der weltgeschichtlichen Rechtlosigkeit“.¹⁰⁹ Der dunkle Wald ist auf diese
Johann Wolfgang von Goethe, Dante (Hamburger Ausgabe, Band ), S. ; der Begriff ‚mikromegisch‘ geht zurück auf Voltaire, Le Micromégas, , wo der Protagonist eine utopische Reise durch das All unternimmt. Zu ihm Thomas Duve, Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um . Historisch-systematische Untersuchung des Lebens und Werks von Richard Schmidt ( – ) und der Methodenentwicklung seiner Zeit, . Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches DanteJahrbuch (), , . Eugen Biser, Überwindung der Lebensangst. Wege zu einem befreienden Gottesbild, , . Auflage , S. , spricht treffend von einer „Gestalt des Angstgefühls“. Wichtig auch die eschatologische Standortbestimmung durch Hans Küng, Ewiges Leben, . Auflage , S. : „Das Problem ‚Hölle‘ darf schon deswegen nicht mit Stillschweigen übergangen werden, weil die Angst vor der Hölle – ‚Höllenangst‘ ist sprichwörtlich geworden – im Laufe der Jahrhunderte unabsehbaren Schaden gestiftet hat. Wer auch nur wenig in all den Höllenpredigten seit der Väterzeit gelesen hat (…), wird verstehen, wie sich im christlichen Volk, aber auch in der christlichen Kunst, in der niederen und höheren Literatur (Dantes ‚Inferno‘) wilde, oft geradezu sadistische Phantasien von den Verdammten und allen möglichen absurden Höllenqualen bilden konnten“. Karlheinz Stierle, Pariser Prismen, , S. spricht von der „Straf- und Schmerzenswelt des Infernos“. Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, . Auflage , S. . Vgl. auch Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, , S. : „Und ist die kompetenteste Geschichtsdarstellung, die wir bis zum heutigen Tage vom Mittelalter besitzen, nicht Dantes unwirkliche Höllenvision?“. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. .
1. Gerechtigkeit als Beweggrund
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Weise ein Bild für die eigene Fehlbarkeit.¹¹⁰ Die Erkenntnis der menschlichen Schuld,¹¹¹ die bereits im Ausgangspunkt und Anfang des Gedichts das Ende aufscheinen lässt,¹¹² weist nicht nur den Weg zur Läuterung, sondern bringt zugleich den Gerechtigkeitssinn ins rechte Lot.
1. Gerechtigkeit als Beweggrund Bereits im dritten Gesang des Inferno ist in der zweiten Terzine das Motiv der Gerechtigkeit genannt:¹¹³ „Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer: / die Allmacht hat der Gottheit mich begründet, / die höchste Weisheit und die erste Liebe“ („Giustizia mosse il mio alto fattore; / fecemi la divina podestate, / la somma sapïenza e ’l primo amore“).¹¹⁴ Das buchstäbliche Motiv der Gerechtigkeit findet sich bereits in Dantes Convivio angedeutet.¹¹⁵ Dante stellte gleich zu Beginn klar, dass es sich allein um Gottes irdischen Maßstäben unzugängliche Gerechtigkeit handelt und dass diese der alleinige Beweggrund ist.¹¹⁶ Daher muss in diesem Zusammenhang auch die Liebe genannt werden, deren Bezug zur Gerechtigkeit an späterer Stelle noch zur Geltung kommen wird.¹¹⁷
Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. . Freilich nur „zuschauend“, wie Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. (Jesus von Nazareth, Erster Teil, Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, , S. ) bemerkt. Eugen Biser, Nietzsche und Dante. Ein werkbiographischer Strukturvergleich, NietzscheStudien (), , . Siehe dazu auch August Vezin, Inferno III, Deutsches Dante-Jahrbuch (), ff. Inferno, III, – (Übersetzung Philalethes). Siehe auch Eugenio N. Frongia, Canto III: The Gate of Hell, Lectura Dantis (Hg. Allen Mandelbaum/Anthony Oldkorn/Charles Ross), , S. . Dante Alighieri, Convivio, III, iv; dazu Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , : „Die philosophische Struktur der ‚Hölle‘, die ja in erster Linie von der Gerechtigkeit ihres hohen Schöpfers ausging (Conv. III, ), wird (…) vollkommen sichtbar“. William Henry Vincent Reade, The Moral System of Dante’s Inferno, (Neudruck ), S. („most lamentable defect in the methods of human law“). Monographisch dazu Gertrud Bäumer, Die Macht der Liebe. Der Weg des Dante Alighieri, , . Auflage .
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I. Inferno
a) Gerechtigkeit und Liebe Gottes Wenn die Gerechtigkeit den Beweggrund bildet, so ist dies für Dante ohne die Liebe Gottes undenkbar.¹¹⁸ Indem Dante sie anfänglich nennt und zum Ausgangspunkt allen gerechten Urteilens erhebt, verweist er bereits im Anfang auf das Ende des Paradiso, so dass sich auch hier im Anfang das Ende findet. Geradezu kontrapunktisch verhält es sich mit der weltlichen Gerechtigkeit, von der es alsbald heißt: „Es läßt die Welt nicht ihren Nachruhm dauern, / Gerechtigkeit verschmäht sie und Erbarmen. / Nichts mehr davon; schau hin und geh vorüber!“ („Fama di loro il mondo esser non lassa; / misericordia e giustizia li sdegna: / non ragioniam di lor, ma guarda e passa“).¹¹⁹ Die Hoffnungslosen, von denen die Rede ist, werden von der Welt vergessen und verfallen einer regelrechten damnatio memoriae. Zugleich zeigt sich darin eine gewisse Verbitterung gegenüber der erbarmungslosen Welt, welche die wahre, das heißt dem Willen Gottes verpflichtete, Gerechtigkeit verschmäht. Diese ist für Dante mit der Barmherzigkeit untrennbar verbunden, so dass sich auch in dieser Entgegensetzung das Verhältnis der Gerechtigkeit und Liebe Gottes spiegelt.¹²⁰
b) Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Spiegel der Dante-Literatur Conrad Ferdinand Meyer, legt dem Dichter in seiner Dante-Novelle die Worte in den Mund: „Mögen die Mönche aussterben, sobald ein Geschlecht entsteht, welches die beiden höchsten Kräfte der Menschenseele, die sich auszuschließen scheinen, die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit, vereinigen lernt. Bis zu jener späten Weltenstunde verwalte der Staat die eine, die Kirche die andere.“¹²¹ Doch
Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. , nennt zusätzlich Macht und Weisheit. Inferno, III, – (Übersetzung Philalethes). Zur weltlichen Gerechtigkeit deren Maßstab die göttliche ist, siehe Hermann Conrad, Recht und Gerechtigkeit im Weltbild Dante Alighieris, Festschrift für Johannes Spörl, , S. f. Prägnant Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Erster Teil: Die Hölle, , . Auflage , S. : „Die beiden Begriffe durchdringen die ganze Struktur der Göttlichen Komödie“. Conrad Ferdinand Meyer, Die Hochzeit des Mönchs, . Dazu Benno von Wiese, Die deutsche Novelle. Von Goethe bis Kafka, Band II, , S. ff. Vor dem Hintergrund des hier Interessierenden instruktiv paraphrasierend Ernst Feise, „Die Hochzeit des Mönchs“ von Conrad Ferdinand Meyer: Eine Formanalyse, Monatshefte für deutschen Unterricht (), (= Xenion: Essays in the History of German Literature, , ): „Aus dem Stande der Barmherzigkeit (Kirche) tritt dieser Mönch aus Erbarmen in den ihm unbekannten Stand der Gerech-
2. Strafensystem in Terzinen
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muss man einer rein literarisch-dichterisch fundierten Dante-Deutung – zumal dann wenn sie sich aus späteren Eingebungen speist – mit Vorsicht begegnen.¹²² Gerade in der Nachwirkung von Benedetto Croces epochalem Werk über Dantes Poesie, in dem die Trennung von Dichtung und Struktur zum Prinzip erhoben wurde,¹²³ ergab sich auch unter seinen ursprünglichen Sympathisanten eine Hinwendung zum systematischen Fundament der Dichtung, das Karl Vossler mit Recht folgendermaßen umriss: „Der ganze Aufbau steht auf dem Boden göttlicher Liebe und Gerechtigkeit, und die Klügelei, mit der Dante ihn berechnet und aufführt, ist keine Sophistik, sondern Andacht.“¹²⁴ Damit ist zugleich das Wesentliche über die Gerechtigkeit als Beweggrund der Dichtung unter der Bedingung der Liebe gesagt.
2. Strafensystem in Terzinen Im fünften Gesang begegnet Dante den Wollüstigen, die entsprechend ihrer moralischen Haltlosigkeit rastlos im Kreis umhergewirbelt werden.¹²⁵ Hier zeigt sich zum ersten Mal das Prinzip der allegorischen Entsprechung von Verfehlung und Strafe.¹²⁶ So wie die Sünder auf Erden von ihren Trieben besessen waren, ergeht es ihnen bildhaft im Inferno. Es ist der berühmte contrapasso,¹²⁷ den ein Sünder
tigkeit (Staat), in dem er verwirrt nur Verwirrung, Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Auflösung der Ordnung stiftet“. Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, (Gesammelte Essays – , . Auflage , S. ff., Übersetzung Ralph Dutli) bildet eine andere dichterische Annäherung, die vom stalinistischen Inferno geprägt ist; dazu etwa Kurt Flasch, Einladung, Dante zu lesen, , Abschnitt Vier (Rückblick) I . Benedetto Croce, La poesia di Dante, . Karl Vossler, Die Göttliche Komödie, Entwicklungsgeschichte und Erklärung, , Band II, S. . Dieser Gesang steht im Mittelpunkt der eingangs zitierten Schrift von Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, Francesca da Rimini, . Siehe auch Willi Hirdt, Ein Kuß mit Folgen. Zum . Gesang des Inferno der Divina Commedia, Festschrift für Horst Heintze, , S. . Auch Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , , sieht darin „das unerschütterliche Gesetz der göttlichen Gerechtigkeit“ verwirklicht. Aus dem früheren Schrifttum wegweisend dazu Giovanni Andrea Scartazzini, Über die Congruenz der Sünden und Strafen in Dante’s Hölle, Jahrbuch der Deutschen Dante-Gesellschaft (), . Häufig findet sich auch die Konsonantenverdoppelung „contrappasso“; vgl. Dizionario della lingua italiana (Hg. Luigi Carrer, Fortunato Federici), , S. .
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I. Inferno
selbst am Ende des achtundzwanzigsten Gesangs benennt:¹²⁸ „Così s’osserva in me lo contrapasso.“¹²⁹ Man kann dies allenfalls annäherungsweise übersetzen mit:¹³⁰ „Und so verwirklicht sich in mir Vergeltung.“¹³¹ Der contrapasso ist allerdings nicht Dantes eigene Erfindung, sondern beruht auf aristotelisch-thomistischem Gedankengut.¹³²
a) Der contrapasso Erich Auerbach hat den contrapasso prägnant als das „Gesetz der konformen Vergeltung“ bezeichnet.¹³³ Das Gesetz des contrapasso bestimmt das System der Höllenstrafen.¹³⁴ Auch das soeben genannte allegorische Moment, das mit dem
Siehe dazu Simone Marchesi, The Knot of Language: ‚Sermocinatio‘ and ‚Contrapasso‘ for the Rhetoricians in Dante’s Inferno, Romance Languages Annual (), ; Peter Armour, Dante’s contrapasso. Contexts and Texts, Italian Studies (), ; Victoria Kirkham, Contrapasso: The Long Wait to „Inferno“ , Modern Language Notes (), ; Justin Steinberg, Dante’s Justice? A reappraisal of the Contrapasso, L’Alighieri (), . Es verwundert, dass die grundlegende Arbeit von William Henry Vincent Reade, The Moral System of Dante’s Inferno, (Neudruck ), den contrapasso soweit ersichtlich nicht eigens erwähnt. Inferno, XXVIII, . Justin Steinberg, Dante and the Limits of Law, , S. , erklärt die passivische Konstruktion einleuchtend: „Bertran’s use of the impersonal passive construction (‚s’osserva‘) underscores the idea that legibility is the defining characteristic of his countersouffering“. Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. ; Otto Gildemeister, Dante’s Göttliche Komödie, . Auflage , S. übersetzt: „So wird Vergeltungsrecht geübt an mir“. Hartmut Köhler, Dante Alighieri. La Commedia – Die Göttliche Komödie, Band I, , S. , lässt den problematischen Begriff unübersetzt: „So wird bei mir das Kontrapassum beachtet“. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, ; Thomas von Aquin, Summa theologica, II, , („aequalem recompensationem passionis ad actionem praecedentem“). Siehe auch Teodolinda Barolini, Dante and the Origins of Italian Literary Culture, , S. ; Mark Musa, Commentary: Divine Comedy, , S. ; Justin Steinberg, Dante’s Justice? A reappraisal of the Contrapasso, L’Alighieri (), . Hier und im Folgenden Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. f. Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , stellt dem einen gleichsam mnemotechnischen Gerechtigkeitsgesichtspunkt an die Seite: „Bezeichnet das Prinzip des contrapasso eine göttliche Gerechtigkeit, die Gleiches mit Gleichem vergilt? Eher scheint es, als bezwecke der contrapasso (…) die unablässige, nie zur Ruhe kommende Erinnerung an die fatale Abweichung vom göttlichen Gebot, die das Seelenheil verwirkte“. An späterer Stelle (S. ) führt er dies erhellend aus: „Bertrand de Born, der Zwietrachtsäer, (…) spricht vom contrapasso, der genauen Entsprechung der Strafe zu dem, was die Verdammnis nach sich zog.
2. Strafensystem in Terzinen
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contrapasso einhergeht und das seine besondere Eindringlichkeit mit aller Schärfe sichtbar macht, hat Auerbach treffend als von „fast pedantisch genauer Konkretheit“ gekennzeichnet. Vor allem hat er die „gleichmäßig ordnende Kraft der Aussage“ gesehen, welche die moralische Ordnung des Inferno bestimmt.¹³⁵ Auf dieser Grundlage hat er herausgearbeitet, dass die Bestrafung streng rational erfolgt,¹³⁶ was im Übrigen damit zusammenhängt, dass die Strafe die Lücke schließt, die sich infolge der Verfehlung in der sittlichen Weltordnung aufgetan hat.¹³⁷ Wie hoch entwickelt Dantes Strafrechtsdenken war, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine systematisch ausgerichtete Strafrechtswissenschaft seinerzeit erst in den Kinderschuhen steckte und nicht einmal nennenswerte Vorbilder im römischen Recht vorfand, so dass die Erkenntnis notwendiger Rationalität für sich betrachtet schon einen – auch wissenschaftlich nicht hoch genug zu veranschlagenden – Fortschritt bedeutet, der nur als Ausweis eines geordneten Gerechtigkeitssinns begriffen werden kann.¹³⁸ Im Übrigen ist die strenge Rationalität der Strafzumessung auch heute noch einer der wichtigsten Grundsätze, der nicht durch diffuse richterliche Eigenwertungen ausgehöhlt werden darf, wie namentlich Claus Roxin hervorhebt: „Auch das erst in der Nachkriegszeit in den Rang einer eigenständigen Disziplin aufgestiegene Strafzumessungsrecht entwickelt sich nicht etwa auf ein durch individuelle richterliche Wertung auszufüllendes richterliches Ermessen, sondern geht
Doch ist die tiefere Strafe die Qual der Erinnerung, die durch die Höllenstrafe unablässig wachgehalten wird. Das Inferno ist eine Hölle der Erinnerung“. Siehe auch Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. zum Sinn von Dantes Hölle, wonach „der Sinn der Strafe, mit der der Böse sich identifizieren muss, im negativen Beitritt zur Rechtsordnung im Ganzen liegt“. Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. ; dazu Vittorio Santoli, Studi danteschi (), ff. Siehe auch Siegfried Wenzel, Dante’s Rationale for the Seven Deadly Sins (Purgatorio XVII), Modern Laguage Review (), . Franz Hettinger, Die Göttliche Komödie des Dante Alighieri nach ihrem wesentlichen Inhalt und Charakter. Ein Beitrag zu deren Würdigung und Verständniß, , S. ff.; Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band , . Heft, , S. (= HKW , , ). Treffend Claus-Wilhelm Canaris, Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts, S. , : „Entstehung des Rechts aus dem Geiste des rationalen Diskurses“ (ebenfalls zu einem literarischen Beispiel). Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , , macht darauf aufmerksam, „dass die Literatur des praktischen Strafrechts gerade innerhalb Dantes eigener Lebenszeit in einem entscheidenden, für dieses Rechtsgebiet bedeutsamen Aufstieg begriffen ist. Erst damals nimmt es die eigentliche Wendung zur systematischen Lehre, zum Wissenschaftszweig, und das nicht nur im Vergleich mit der unmittelbaren Vergangenheit, sondern auch – was mehr besagt – im Gegensatz zur gesamten antiken, einschließlich der römischen Rechtsliteratur“.
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gerade umgekehrt auf die systematische Ordnung und rationale Kontrollierbarkeit der kriminalpolitisch motivierten Zumessungskriterien hin.“¹³⁹ Hieran zeigt sich paradigmatisch, wie auch das moderne Recht noch mutatis mutandis von der Gerechtigkeitsvision eines mittelalterlichen Dichters und Rechtsdenkers Anregungen empfangen kann.¹⁴⁰ Auerbach hat den Gedanken der rationalen Strafzumessung in einen ebenso langen wie beeindruckenden Satz gefasst, der auch deshalb wörtlich wiedergegeben zu werden verdient, weil er Dantes Strafrechtsordnung mit ihrem eigentümlichen allegorischen Sinn zusammenfasst:¹⁴¹ „Wenn die Sklaven der Begierden im Sturmwind umhergetrieben werden, die Schwelger im kalten Regen am Boden kauern, die Zornigen im Sumpf sich streiten, die Selbstmörder in Sträucher verwandelt sind, welche eine hindurchjagende Meute zerreißt und bluten macht, wenn die Schmeichler im menschlichen Kot, die Verräter im ewigen Eise stecken – so sind diese mageren Beispiele aus Dantes Reichtum nicht beliebige Produkte einer schweifenden Fantasie, die Grauenvolles zu häufen sucht, sondern das Werk eines ernsten prüfenden Verstandes, der jeder Sünde das ihr Zukommende gewählt hat, und der aus dem Bewusstsein der Gerechtigkeit seiner Wahl, ihrer Konformität mit der göttlichen Ordnung, die Kraft schöpft seinen Worten und Bildern eine gewaltige, bewunderungswürdige Anschaulichkeit zu verleihen.“¹⁴² Nicht zuletzt die Bemessung nach dem der Sünde Zukommenden spiegelt das Gerechtigkeitsprinzip des suum cuique wider, von der die Monarchia beiläufig berichtet.¹⁴³ Nach dem Gesetz des contrapasso widerfährt jedem Sünder im
Claus Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, . Auflage , S. ; Hervorhebung nur hier. Ebenso bereits Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , f., aufgrund „der abwägenden Bewertung der verschiedenen Grade von Schuld“. Siehe aber auch Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), ; Kenelm Foster, Religion and Philosophy in Dante, in: The Mind of Dante (Hg. U. Limentani), , S. . Instruktiv Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Erster Teil: Die Hölle, , . Auflage , Einleitung, S. f.: „Das Strafsystem der Hölle beruht auf dem Prinzip der vendetta, der Rache oder besser der Vergeltung Gottes. (…) daher kommt der tiefe sittliche und religiöse Ernst, mit dem Dante, zwar nicht ohne Leidenschaft, doch mit einem unerschütterlichen Verantwortungsbewusstsein, die Strafen der Hölle aus der ewigen Gerechtigkeit Gottes herleitet. Dante lässt sich dabei durch die Idee des contrappasso leiten, der angemessenen Strafform“. Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. f. Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, .
2. Strafensystem in Terzinen
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Inferno das Seine dadurch, dass er die Zuwiderhandlung im übertragenen Sinn und dadurch selbst zum Opfer geworden immerfort aufs Neue begehen muss.¹⁴⁴
b) Rationalität des Strafvollzugs und künstlerische Sublimierung Dantes Gerechtigkeitssinn spiegelt sich also auch und gerade in der Rationalität der Bestrafung und im Strafvollzug. Es handelt sich nicht um blindlings verhängte Strafen, die einer plötzlichen und willkürlichen Eingebung geschuldet sind, sondern Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe, entsprechen einander.¹⁴⁵ Indem jeder nach dem eigentümlichen Unwert seiner Tat abgeurteilt wird, wird ihm das Seine zugewiesen:¹⁴⁶ „Da die Gerechtigkeit eine Tugend ist, welche die andern Menschen betrifft, wie kann da jemand der Gerechtigkeit entsprechen ohne das Vermögen, jedem das Seine zu geben?“¹⁴⁷ Die Gerechtigkeitsvorstellung des suum cuique erschöpft sich nicht in einem vergleichsweise rudimentären Talionsprinzip,¹⁴⁸ sondern gewinnt durch die allegorische Verdeutlichung und ihre künstlerische Sublimierung eine regelrecht poetische Dimension.¹⁴⁹ Abegg spricht –
Friedrich Freiherr von Falkenhausen, Dantes Vergeltungsidee, Deutsches Dante-Jahrbuch (), f., fasst das kontraintuitive Moment, das dem contrapasso innewohnt, so zusammen: „In der Regel besteht Dantes Höllenstrafe nicht darin, dass der Sünder dasselbe zu leiden hat, was er auf Erden anderen angetan hatte, sondern im Gegenteil darin, dass er fortfahren muss, das zu tun, was er im Leben wider Gottes Gebote tat“. Aus dem neueren Schrifttum Justin Steinberg, Dante’s Justice? A reappraisal of the Contrapasso, L’Alighieri (), . Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. , bemerkt treffend: „Unless the reader feels that the punishments of the wicked and the rewards of the good are rationally ordered, the purpose of Dante is unfullfilled.“ – Damit hat Gilbert die Rationalität des Strafvollzugs noch vor Auerbach erkannt und als solche bezeichnet. Jenseits dessen sieht Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, S. , hierin eine aristotelische Grundlage unter Verweis auf Aristoteles, Nikomachische Ethik V, . Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, (Übersetzung Ruedi Imbach): „nam cum iustitia sit virtus ad alterum, sine potentia tribuendi cuique quod suum est quomodo quis operabitur secundum illam?“. Das Talionsprinzip betont Wallace Fowlie, A Reading of Dante’s Inferno, , S. : „The contrapasso is the biblical lex talionis, the law of the talion, which adjusts the severity of the reparation to the gravity of the crime.“ Siehe auch Wolfgang Gast, Gerechtigkeit mit dem Spiegel. Ius Talionis im Alten Orient und in Dantes Commedia, Festschrift für Reinhold Trinkner, , S. ff.; dens., Juristische Rhetorik, . Auflage , S. mit Fußnote . Willi Hirdt, Gerechtigkeit – Gesetzlichkeit. Zum episodischen Diskurs der Divina Commedia (Inferno VII-IX), Deutsches Dante-Jahrbuch (), , : „Mit ihren anschaulich bildhaften Vorstellungen überlagert die poetische Phantasie der dantesken Episoden, häufig verschleiernd, wie die über sechshundertjährige Kommentartradition zeigt, die Prinzipien der Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit, deren zweckbestimmte Normen der Weltsicht des Autors zugrundeliegen. Alles
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allerdings in anderem Zusammenhang – einprägsam von „poetischer Gerechtigkeit“.¹⁵⁰ Das moralische Unwerturteil haftet der Tat so unmittelbar an, dass ihre Begehung sogleich eine bildliche Verallgemeinerung zulässt. In diesem Bild bleibt der Täter dann auf ewig gefangen. Die allegorische Abstraktion, durch die der Delinquent einem Tätertyp zugeordnet wird, führt paradoxerweise – und nicht zuletzt dies veranschaulicht die eminente poetische Kraft Dantes¹⁵¹ – zu einem ganz konkreten Unrechtsurteil. Der Täter wird systematisch und immer aufs Neue mit seiner Tat konfrontiert. Was der Dichter Dante mit einem unerbittlichen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn festlegt, erfährt der neben Vergil das Inferno durchwandernde Dante so sinnfällig wie irgend möglich als Vollstreckung der Gerechtigkeit:¹⁵² „Je schwerer Gott ein Verbrechen bewertet, je größer (…) sein Zorn darüber ist, desto furchtbarer werden die darüber verhängten Strafen.“¹⁵³ Der Gang des Wanderers durch das Inferno wird so zu einer systematisch angeleiteten und vernunftmäßig erlernten Einübung in die gerechte Ordnung, deren rational durchstrukturierte Härte es mit sich bringt,¹⁵⁴ dass jeglicher Anflug von Mitleid im Keim erstickt wird,¹⁵⁵ weil er aus Sicht des Dichters den Gerechtigkeitssinn trübt.¹⁵⁶ Im Inferno entwickelt Dante ein regelrechtes Strafensystem in Terzinen, das er im Purgatorio vervollkommnen wird.
Recht im Diesseits, Verhaltensnormen und Strafsystem geht für Dante auf Gott, das summum bonum und mithin Zentrum der Gerechtigkeit zurück (…)“. Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , . Zu ihr Benedetto Croce, La poesia di Dante, . Treffend Hugo Friedrich, die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. : „Dem Dichter Dante geht es nicht anders als dem Wanderer: er ‚entdeckt‘ nicht Wahrheiten, sondern er empfängt sie. Als Wanderer empfängt er sie aus der Schau der rechtlichen Seinsordnung selber, als Dichter aus der überlieferten Lehre“. Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches DanteJahrbuch (), , , wenig später (S. ) mit dem trockenen Zusatz: „Zweifellos für uns nichts Neues, da der Jurist von heute es (sc. das Prinzip der Abstufung) ja in unserm Strafgesetzbuch und in allen entwickelten Strafgesetzen der Welt mehr oder minder vollkommen findet!“. Prägnant Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, , S. : „Ihre Strafen sind immerwährend, kaum sind sie vollstreckt, beginnen sie von Neuem“. Das Mitleid erregende Moment und die gnadenbringende Bedeutung der strafenden Vergeltung betont Friedrich Freiherr von Falkenhausen, Dantes Vergeltungsidee, Deutsches DanteJahrbuch (), ff. Siehe zum Ganzen auch Michele Barbi, Razionalismo e misticismo in Dante, Studi Danteschi (), ff.
3. Florenz als Paradigma der ungerechten Welt
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3. Florenz als Paradigma der ungerechten Welt Inmitten dieser groß angelegten Schau auf die Todsünden kommt Dante immer wieder auf die kleinteiligen Zwistigkeiten seiner Heimatstadt Florenz zurück. So fragt er gleich darauf im sechsten Gesang:¹⁵⁷ „Doch sprich, weißt du es anders: wohin kommt es / Wohl mit den Bürgern der entzweiten Stadt noch, / Ist einer drin gerecht, und sag die Ursach’, / Warum so große Zwietracht sie befallen?“ („ma dimmi, se tu sai, a che verranno / li cittadin de la città partita; / s’alcun v’è giusto; e dimmi la cagione / per che l’ha tanta discordia assalita“).¹⁵⁸ Erst drei Terzinen weiter folgt die verblüffende Antwort: „Zwei sind gerecht, doch will man sie nicht hören, / Stolz, Neid und Habsucht, das sind die drei Funken, / Woran der Bürger Herzen sich entzündet“ („Giusti son due, e non vi sono intesi; / superbia, invidia e avarizia sono / le tre faville c’hanno i cuori accesi“).¹⁵⁹ Die Kommentarliteratur geht davon aus, dass die genannten zwei hier gleichsam für wenige stehen und dass jedenfalls Dante selbst sich diesen zurechnet.¹⁶⁰ Folgt man dieser schlüssigen Ansicht, für die nicht zuletzt spricht, dass Dante sich im Verein mit Vergil als einen der Beiden gemeint haben könnte, so entsteht unweigerlich der Eindruck einer gewissen Selbstgerechtigkeit. Diese erweist sich jedoch als Stilmittel, durch das göttliche und irdische Gerechtigkeit zueinander ins rechte Verhältnis gesetzt werden. Dem großen Ganzen steht die engherzige und ungerechte Welt gegenüber, deren bestes Beispiel für Dante seine Heimatstadt Florenz darstellt. Zugleich lässt die im Ausgangspunkt zitierte Stelle den Schluss zu, dass Dante sich aufrichtig um die Zukunft – und das bedeutet in der Göttlichen Komödie nicht zuletzt: das Seelenheil – der Bürger sorgt, die in einem vom Bürgerkrieg erschütterten Gemeinwesen leben, an dessen Zerrissenheit sie nicht notwendigerweise mitschuldig sind. Dantes Gerechtigkeitssinn erschöpft sich hier nicht retrospektiv im Zorn auf den Ort seines Falls, sondern erstreckt sich zugleich vorausschauend auf das Schicksal derer, die an diesem Ort leben (müssen) und ihn mehr oder weniger politisch gestalten (können).
Zu ihm Giovanni de Caesaris, Il canto VI dell’Inferno, . Inferno, VI, – (Übersetzung Philalethes). Inferno, VI, – (Übersetzung Philalethes). Dazu Zygmunt G. Baranski, Inferno VI. : A Controverse Re-examined, Italien Studies (), . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Der andere Gerechte könnte Dantes Freund Cavalcanti gewesen sein (zu ihm Inferno, X, f.). Hartmut Köhler, Dante Alighieri. La Commedia – Die Göttliche Komödie, Band I, , S. , hält dafür, dass es sich um eine „biblisch-allgemeine Sprechweise“ handelt.
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4. ‚Ahi giustizia di Dio‘ Im siebten Gesang ruft Dante angesichts des harten Loses der Geizigen und Verschwender etwas aus, das nicht allein auf diese bezogen ist, sondern alles bisher Gesehene unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zusammenfasst:¹⁶¹ „O ewige Gerechtigkeit, wer häufte / So viele Mühn, als ich gesehn und Peinen? / Was richtet eigene Schuld uns so zugrunde!“ („Ahi giustizia di Dio! tante chi stipa / nove travaglie e pene quant’ io viddi? / e perché nostra colpa sì ne scipa?“).¹⁶² Die beiden rhetorischen Fragen, deren Antwort im einleitenden Ausruf bereits gegeben wurde, bringen nicht nur das Schaudern vor der göttlichen Gerechtigkeit zum Ausdruck, sondern veranschaulichen auch, dass Dantes Gerechtigkeitssinn noch denkbar weit von der ewigen Gerechtigkeit entfernt ist.
a) Systematischer Standort Aber das ist nicht der eigentliche Beweggrund dieser Exklamation, die ebenso gut am Ende des Inferno stehen könnte, ja darüber hinaus sogar das Ganze der Dichtung erfasst.¹⁶³ In dramatischer Hinsicht hat dieses Innewerden jedoch gerade hier den rechten Platz, weil es nach den ersten Schrecken wahrgenommener Höllenstrafen deren Unerbittlichkeit erkennt.¹⁶⁴ Darüber hinaus ist es die Verzweiflung über die Menschheit, die um der Begehung kleinlicher Selbstsüchtigkeiten und kurzfristiger Genusssucht willen ewige Verdammnis in Kauf nimmt,¹⁶⁵
Siehe aber auch Willi Hirdt, Gerechtigkeit – Gesetzlichkeit. Zum episodischen Diskurs der Divina Commedia (Inferno VII–IX), Deutsches Dante-Jahrbuch (), : „Die juridische Konstruktion, der sie (sc.: die dantesken Episoden) in der Divina Commedia fest eingefügt sind, tritt in ihrer Gestaltung weitgehend in den Hintergrund“. Inferno, VII, – (Übersetzung Philalethes). Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. „Auch nach dem altro viaggio, der ihn durch Hölle, Läuterungsberg und Paradies führt, wird Dante mit der bedrängenden Frage nach Gottes Gerechtigkeit nicht abgeschlossen haben“. Plastisch Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches DanteJahrbuch (), , : „In Wahrheit schwebte ihm aber nicht die menschliche, sondern die göttliche Gerechtigkeit vor Augen, und ihre absolute Strenge und Unbeugsamkeit wollte er bis in ihre äußersten Konsequenzen darstellen, um allen denen, die gewillt waren, sie zu durchbrechen, einen heilsamen Schrecken einzujagen“. Ob dies vom Neuen Testament her theologisch begründbar ist, erscheint freilich zweifelhaft, wie Hans Küng, Ewiges Leben, . Auflage , S. , unter Hinweis darauf nachgewiesen hat, dass ‚Jesus kein Höllenprediger‘ gewesen sei: „Nirgendwo beschreibt er den Akt der Verdammnis und der Qualen der Verdammten, wie sie dann im . Jahrhundert die apokryphe Petrusapokalypse schildert, jene Hauptquelle für alle die zahllosen Höllenbeschreibungen bis hin zu Dantes neun
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wie im zwölften Gesang zusammenfassend zur Geltung kommt: O blinde Gier! O unverständig Wüten, / Das uns so mächtig spornt im kurzen Leben / Und dann im Ewigen so schnöd uns einweicht“ („Oh cieca cupidigia e ira folle, / che sì ci sproni ne la vita corta, / e ne l’etterna poi sì mal c’immolle“).¹⁶⁶ Nichtiger Vorteil und immenses korrespondierendes Risiko stehen in keinem Verhältnis zueinander. Es ist daher der Ruf nach einer inneren Umkehr, der Dante in seinem und dem Interesse der Menschheit bewegt.¹⁶⁷ So erweist sich die Klage als Erkenntnis des unzulänglichen menschlichen Gerechtigkeitssinnes, der die Konsequenzen eigenen Fehlverhaltens in selbstgerechter Weise zu gering veranschlagt und dafür auf ewig büßt. Allein die Höllenstrafen der Geizigen und Verschwender tragen den weit ausgreifenden Ausruf Dantes über die göttliche Gerechtigkeit daher nicht. Eher ist es der Rückblick auf die Summe des Leides, das er in den vergangenen sechs Gesängen erblickt hat. Aber selbst alle bisher gesehenen Strafen rechtfertigen die Selbsterkenntnis Dantes nicht hinlänglich.Vielmehr steht diese Terzine gleichsam vor der Klammer des Inferno, ja der gesamten Commedia, weil sie universelle Gültigkeit besitzt und einen Vorgriff auf die Inkommensurabilität der göttlichen Gerechtigkeit bietet, die vor allem im Paradiso in ihrer positiven Erscheinungsform noch deutlicher wird.
b) Dante als Mittler der Gerechtigkeit Dafür spricht auch, dass sich eine ähnliche Eruption im letzten Drittel des Inferno wiederholt. Dort ruft Dante, bewegt durch das Schicksal der von gefährlichen Schlangen umgebenen Diebe, aus:¹⁶⁸ „Gerechtigkeit des Ewgen, wie du streng bist,
Höllenkreisen, John Miltons ‚Paradise Lost‘ und des Angelus Silesius ‚Sinnliche Beschreibungen der vier letzten Dinge‘“. Inferno, XII, – (Übersetzung Philalethes). Hier gilt wohl mutatis mutandis auch die Beobachtung von Carlo Schmid, Dante und Pierre Dubois, in: Europa und die Macht des Geistes, Zweiter Band der Gesammelten Werke, , S. , : „Es gibt keinen Fortschritt, sondern nur Bewegung auf das Gericht hin, das heißt Darstellung der verschiedenen Stadien der vorausbestimmten Heilsgeschichte. Die Menschen haben also nicht daran zu denken, wie sie ihr Dasein weltlich steigern könnten, sondern sie haben es so zu leben, dass das Wort in der Zeit erfüllt werde“. Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , bemerkt am Beispiel der das fremde Eigentum missachtenden Diebe unter Verweis auf Jean-Jacques Rousseau (Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, ) eine rechts- und sprachphilosophisch hochinteressante Gesetzmäßigkeit: „Eigentum ist keine natürliche Gegebenheit, es entspringt einem Sprachpakt, den Rousseau in seinem zweiten Diskurs (…) scharfsinnig beschrieben hat. Der Dieb bringt sich nicht nur auf unrechte Weise in den Besitz einer
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/ Die rächend du ausschüttest solche Schläge“ („O giustizia di Dio, quanto è severa, / Che cotai colpi per vendetta croscia“).¹⁶⁹ In neueren Ausgaben ist nicht von ‚giustizia‘, sondern von ‚potenza‘ die Rede.¹⁷⁰ Das macht jedoch vor dem Hintergrund der von Dante vorgestellten Einheit der göttlichen Allmacht und Gerechtigkeit keinen fundamentalen Unterschied. Denn dessen ungeachtet stehen die Ausrufe in Inferno XII, 49 und Inferno XXIV, 119 in einem inneren Kausal- und Verweisungszusammenhang zueinander. An jeweils unterschiedlichen Stationen moralischer bzw. rechtlicher Verfehlungen¹⁷¹ hält Dante inne vor dem göttlichen Sanktionensystem, dessen unerbittlicher Härte er gewahr wird. Die schmerzerfüllten bzw. staunend vorgetragenen Exklamationen (‚ahi‘ bzw. ‚o‘) sind weniger Äußerungen des Mitleids als vielmehr warnende Zurechtweisungen eines Mittlers der Gerechtigkeit an diejenigen, welche ihr Verhalten gerade noch ändern können, um der ewigen Verdammnis zu entgehen. Der Prozess, der zwischen diesen beiden Inferno-Stellen auszumachen ist, lässt sich als Einübung des individuellen Gerechtigkeitssinnes Dantes in die göttliche Gerechtigkeit und Allmacht kennzeichnen.
Sache, er ist ein Sprachfälscher, der sich unter falschen Voraussetzungen des Eigentums setzenden Sprachpakts bedient.“ – Das ließe sich wohl erst recht von den Betrügern sagen. Wichtig auch die Folgerung von Karlheinz Stierle, Text als Handlung, Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, , S. : „Rousseaus Geschichte vom Ursprung des Eigentums in der Sprachhandlung des ‚ceci est à moi‘ illustriert die Macht der Sprache, gesellschaftliche Wirklichkeit zu setzen“. Inferno, XXIV, – (Übersetzung Philalethes). Hier ausnahmsweise zitiert nach der von Pietro Fraticelli kommentierten Ausgabe aus dem Jahr ; auch Philalethes legt offenbar eine Fassung zugrunde, in der es heißt ‚giustizia‘. Demgegenüber heißt es in moderneren Ausgaben – etwa in der von Anna Maria Chiavacci Leonardi kommentierten (Mondadori‐) Ausgabe (, . Auflage ), – ‚potenza‘. Siehe auch Wallace Fowlie, A Reading of Dante’s Inferno, , S. : „At the same time he marvels the power of God (O potenza di Dio, : ) that he has ordained such an act of punishment“. Einleuchtend zum vorgeblichen Unterschied zwischen Recht und Moral bei Dante Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , : „Bei der Anlegung eines solchen Maßstabs, d. h.vor Gott,verschwindet sozusagen der Unterschied zwischen Moral und Recht. Jedwede unmoralische Handlung verletzt das göttliche Gebot nicht minder als eine rechtswidrige Tat. (…) Daraus erklärt sich (…), dass im Inferno die Schlemmer und Geizigen so breiten Raum einnehmen und zu grausamen Strafen verurteilt werden, während die menschlichen Gesetze diese Laster in der Regel nicht bestrafen, sondern ihre Beurteilung und Ächtung der Moral überlassen“.
5. Gerechtigkeitsgefüge zwischen Verfehlung und Strafe
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5. Gerechtigkeitsgefüge zwischen Verfehlung und Strafe Der elfte Gesang offenbart einen Blick in das Gerechtigkeitsgefüge, das zwischen Strafe und Verfehlung besteht.¹⁷² Vergil beginnt zunächst ganz allgemein: „Jedweder Bosheit, die des Himmels Haß trifft, / Ist Unrecht Zweck, und solchen Zweck erreicht man / Bald durch Gewalt, durch Trug bald, andern schadend.“ („D’ogne malizia, ch’odio in cielo acquista, / ingiuria è ’l fine, ed ogne fin cotale / o con forza o con frode altrui contrista“).¹⁷³ Hier kommt der zentrale Begriff des Unrechts zur Geltung, den Dante der aristotelischen Rechtslehre entlehnt hat.¹⁷⁴ Die nachfolgende Darstellung des Betrugstatbestandes, dessen besondere Verwerflichkeit durch Ciceros Moraltheorie geprägt sein könnte,¹⁷⁵ zeigt eine eigentümliche Unterscheidung, die Dantes Gerechtigkeitssinn offenbart: Betrüger, die ein persönliches Vertrauensverhältnis missbrauchen, sind in einem niedrigeren Höllenring angeordnet als „einfache“ Betrüger.¹⁷⁶ Generell aber gilt, dass der Betrug entsprechend der auf Aristoteles und Thomas von Aquin zurückgehenden Abstufung der Unrechtstatbestände, die sich auch in Dantes Convivio schon angedeutet finden,¹⁷⁷ zu den schlimmsten Sünden gehört – nur durch den ihm verwandten Verrat noch überboten –, während die Gewaltdelikte vergleichsweise milder bestraft werden.¹⁷⁸ Das in der Prämisse zum Ausdruck kommende Postulat des neminem laedere erfährt somit eine Präzisierung, die je nach dem Geschädigten differenziert. Die moralische Ordnung gilt grundsätzlich erga omnes, verfährt aber gleichwohl nicht ohne Ansehen der Person. Denn die Untat wird umso größer als der Schädiger dem Geschädigten nahesteht und dieser sich gegenüber jenem si-
In einem übergeordneten Zusammenhang dazu Hugo Friedrich, Das Gefüge der Göttlichen Komödie, . Auflage . Inferno, XI, – (Übersetzung Philalethes). Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Erster Teil: Die Hölle, , . Auflage , S. („Grundbegriff des Aristoteles, ist der Oberbegriff in Dantes Rechtsdenken, hier zunächst allgemein, im Folgenden auf Gott bezogen als den Urheber aller Gerechtigkeit“). Hartmut Köhler, Dante Alighieri. La Commedia – Die Göttliche Komödie, Band I, , S. , verweist auf Marcus Tullius Cicero, De officiis, Liber I, XIII, . Siehe dazu aus dem rumänischen Schrifttum Doru Cosma, De la Dante la Zola, , S. f. Dante Alighieri, Convivio, I, xii, ; weiterführend Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , : „Als Arten der Ungerechtigkeit hebt Dante den Verrat, die Undankbarkeit und die Falschheit, den Diebstahl, den Raub und den Betrug hervor (Conv. I , ). Es ist aus diesen Namen ersichtlich, daß sein ethischer Begriff durch Einteilung sofort auch juristische einführt“. Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , .
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cher zu wissen glaubt. Der Vertrauensmissbrauch haftet der Tat so unmittelbar an, dass diese Qualifizierung nach dem Gesetz der konformen Vergeltung auch entsprechend geahndet werden muss, ohne dass dies die durch und durch rationale Ordnung des contrapasso durchbricht, sondern sie sogar aufgrund des evidenten Gerechtigkeitsgehalts des straferschwerenden Umstandes bestätigt.¹⁷⁹
6. Durchbrechung des äußeren Normgefüges Wie sehr der objektive Sinn der göttlichen Gerechtigkeit von Dantes eigenem Gerechtigkeitssinn sich unterscheidet, veranschaulicht eine Zurechtweisung Vergils gegen Ende des elften Gesangs:¹⁸⁰ „Und wenn du wohl auf diese Sätze merkest / Und in den Sinn dir heimrufst, wer sie waren, / Die außerhalb dort oben Buß erleiden, / Wirst klar du sehn, warum von diesen Frevlern / Getrennt sie sind, und weshalb minder zürnend / Sie die Gerechtigkeit zermalmt des Ewgen“ („Se tu riguardi ben questa sentenza, / e rechiti a la mente chi son quelli / che sù di fuor sostegnon penitenza, / tu vedrai ben perché da questi felli / sien dipartiti, e perché men crucciata / la divina vendetta li martelli“).¹⁸¹ Auch hier ist es gerade Dantes Subjektivismus, der die gottgewollte und gerechte Ordnung ansatzweise zu verstehen hilft.¹⁸² Die göttliche Gerechtigkeit ist aus Dantes Sicht inkommensurabel für den menschlichen Geist¹⁸³ und bedarf daher einer Verständnishilfe, die durch das allmählich erkennende Subjekt geschaffen wird.¹⁸⁴
Eine philosophische Durchdringung der Göttlichen Komödie unter Berücksichtung der möglichen Strafzwecke stammt von Gerhard Ledig, Die Göttliche Komödie unter strafphilosophischem Gesichtspunkt, Deutsches Dante-Jahrbuch (), ff. Zum contrapasso auch Justin Steinberg, Dante’s Justice? A reappraisal of the Contrapasso, L’Alighieri (), . Dazu Pasquale Fornari, Il canto XI dell’Inferno, . Inferno, XI, – (Übersetzung Philalethes); – Mitunter wird hier auch statt „divina vendetta“ gelesen: „divina giustizia“. Beide Begriffe werden im Wesentlichen gleichbedeutend gebraucht und stehen für die strafende Gerechtigkeit Gottes; vgl. Inferno, VII, ; XIV, ; XVIII, ; XXIV, ; Purgatorio, XX, ; XX, ; XXI, ; XXXIII, ; Paradiso, VI, ; XVII, ; XXII, . Näher Gino Arias, Le istituzioni giuridiche mediecai nella Divina Commedia, . Ähnlich Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, , S. : „Nur so kommt der Ich-Erzähler dazu, die Schönheit der Welt als Gottes Schöpfung und die alles durchwaltende Gerechtigkeit zu preisen (…)“. Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , (das „absolute und unerforschliche Gesetz der göttlichen Gerechtigkeit“). Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , veranschaulicht am Beispiel von Paradiso, XXX, , wie dort Gerechtigkeitskriterien gelten können, die hieniden als willkürlich angesehen würden: „Auch hier (…) stellt sich die Frage nach der göttli-
7. Unrecht als Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung
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Indem sich Dante nicht allwissend gibt, sondern seiner Bedingtheit bewusst und der geistlichen Führung eines klassischen Lehrers bedürftig zeigt, kann er unter Vergils Anleitung allmählich den Geltungsgrund des göttlichen Gesetzes in sich aufnehmen. Diese Innenschau durchbricht das äußere Normgefüge und erhellt es zugleich. Der Subjektivismus der Dichtung veranschaulicht auf diese Weise den jeweiligen Erkenntnisstand Dantes. Sein Gerechtigkeitssinn ist gerade im Inferno noch nicht vor unkontrollierten Ausschlägen gefeit. Gerade unter dem Eindruck der fremden Verstrickung in Schuld und das unerbittliche Gericht zeigt sich beim Wanderer durch das Inferno eine überschießende Innentendenz des Gerechtigkeitssinns, der noch keine wahrhafte moralische Gesinnung offenbart.
7. Unrecht als Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung Auch beim Suizid ist es das bereits oben angesprochene Prinzip der allegorischen Entsprechung von Verfehlung und Strafe, aus dem sich die Bestrafung erklärt.¹⁸⁵ Der Selbstmörder wird zu seelenlosem, verdorrtem Gestrüpp, weil er sich seines Lebens achtlos begeben hat und daher seine Leiblichkeit bildhaft verliert:¹⁸⁶ „Mein Sinn voll zorngen Überdrusses, hoffend, / Im Tode der Verachtung zu entgehen, / Ließ Unrecht mich an mir Gerechtem üben“ („L’animo mio, per disdegnoso gusto, / credendo col morir fuggir disdegno, / ingiusto fece me contra me giusto“).¹⁸⁷ Dieses Selbstbekenntnis der eigenen Verfehlung ist bezeichnend für das Inferno und Purgatorio.¹⁸⁸
chen Gerechtigkeit. So ist für Esaus und Jakobs Sitz im Paradies einzig die Farbe ihres Haares ausschlaggebend. Allein sie, nicht ihr Verdienst entscheidet“. Inferno, XII, . Zu diesem Gesang etwa Lawrence Baldassaro, Inferno XII: The Irony of Descendent, Romance Notes (), . Für Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. , „Dante’s whole treatment of the suicides is curious“. Inferno, XIII, – (Übersetzung Philalethes). Dazu auch die Stilanalyse von Leo Spitzer, Romanische Literaturstudien, , S. ff. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. : „Selbstwissen der Rechtsverletzung“.
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a) Die eigentümliche Einordnung Catos Eine vieldiskutierte Ausnahme macht Dante nur für Cato,¹⁸⁹ der, seinen stoischen und altrömischen Idealen ergeben, den Verlust der Freiheit nicht ertragen will und lieber freiwillig aus dem Leben scheidet.¹⁹⁰ Diese Haltung Catos nötigt Dante bereits im Convivio Respekt ab,¹⁹¹ der sich in der Monarchia noch erhöht.¹⁹² Obwohl er Heide ist, wird er gerettet, so dass ihn manche Interpreten als figura Christi begreifen.¹⁹³ Es ist wohl die Ausübung der inneren Gewissensfreiheit,¹⁹⁴ die eine Ausprägung richtig verstandener – nämlich dem göttlichen Gebot letztlich gehorchender – Willensfreiheit darstellt und Cato, womöglich durch Dantes VergilLektüre beeinflusst,¹⁹⁵ nicht der Verdammnis anheim fallen lässt.¹⁹⁶ Der Mensch, der Gottes Gebot befolgt und sich dem Leiden unterwirft, ist von Grund auf gerecht und kann dies – freilich erst im Nachhinein – erkennen. Durch diese Nachträglichkeit der Erkenntnis die erst einsetzt, wenn es zu spät ist, entsteht abermals der Eindruck der Selbstgerechtigkeit, der freilich auch hier trügt, weil der mit dem Subjekt verknüpfte Gerechte nicht aus eigener Kraft gerecht ist, sondern nur solange und soweit er sich dem Richtspruch unterwirft und ein gottgefälliges Leben führt. Unrecht ist also jegliches Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung. An anderer Stelle ist es nicht der vermeintliche Verrat, sondern der Freitod des Verräters, der ihn in die Hölle führt, was Richard Schmidt in einer für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreichen Weise kommentiert: „Freilich, gerade die letzte Erscheinung macht deutlich, wie das Gerechtigkeitsgefühl des Dichters sich der individuellen Lagerung des Falles gegenüber auswirkt und wie sein Ausgleichsbedürfnis ihr Rechnung trägt, sich selbst strenge Grenzen zieht.“¹⁹⁷ Costantino Cipolla, Catone Uticense, custode del Purgatorio, ;Virgilio Gentilini, Catone in Dante e in Lucano, ; E. Trucchi, Intorno al Catone dantesco, . Gegen Aurelius Augustinus, De Civitate Dei, I, ; , , , aber im Einklang mit Thomas von Aquin, Summa theologica, III, , . Dante Alighieri, Convivio, IV, v, ; vi, ; xxviii, . Dante Alighieri, Monarchia, II, v, .–. Zur werkimmanenten Entwicklung Bruno Nardi, Dal ‚Convivio‘ alla ‚Commedia‘: Sei saggi danteschi, . Erich Auerbach, Neue Dantestudien, , S. , ff.; Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, . Auflage , S. . Vgl. Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. , spricht von der „Freiheit des Willens, die die Voraussetzung zur Entscheidung für das Gute und damit den Aufstieg der Seelen zu Gott bedeutet“. Vergil, Aeneis, VIII, : „Secretosque pios, bis dantem iura Catonem.“ Purgatorio, I, . Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches DanteJahrbuch (), , ; Hervorhebung nur hier. Siehe auch Robert Hollander, Purgatorio II: Cato’s Rebuke and Dante’s Scoglio, Italica (), .
7. Unrecht als Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung
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Es ist also durchaus bezeichnend für Dantes Gerechtigkeitssinn und zeigt sich gerade am Beispiel der Person Catos, dass der Dichter – wie im Übrigen jeder gute Jurist – bei aller Achtung der Regel die Besonderheiten des Falles gewichtet. Catos Ausnahme von der Verdammnis bestätigt so die Regel der Willensfreiheit mit allen ihren Heimsuchungen und Konsequenzen.
b) Weltliche Kontingenz und Freiheit des Willens Den die Sittlichkeit stiftenden Glauben an den freien Willen hat Dante auch in einer für ihn kontingenten, ungerechten und willkürlichen Welt nicht verloren,¹⁹⁸ wie Jacob Burckhardt zu bedenken gibt, wenn er sich fragt:¹⁹⁹ „Oder war es eigene Spekulation, Einwirkung der Tagesmeinung, Grauen vor dem die Welt beherrschenden Unrecht, wenn er die spezielle Vorsehung völlig aufgab?“²⁰⁰ Und er gibt sogleich zur Antwort, was die sittliche Kraft zur Selbstbestimmung ausmacht: „Sein Gott überlässt nämlich das ganze Detail der Weltregierung einem dämonischen Wesen, der Fortuna, welche für nichts als für Veränderung, für das Durcheinanderrütteln der Erdendinge zu sorgen hat und in indifferenter Seligkeit den Jammer der Menschen überhören darf. Dafür hält er aber die sittliche Verantwortung des Menschen unerbittlich fest; er glaubt an den freien Willen.“²⁰¹ Dieser unerschütterliche Glaube an den freien Willen, die Willensfreiheit als Axiom, bietet so die Legitimation des unerbittlichen Weltgerichts. Auch wenn Burckhardt hier womöglich ein zu zynisches Bild malt, das der Vielschichtigkeit von Dantes Gottesverständnis nicht ganz gerecht wird, und auch wenn der die Grundhaltung, die Dante in der Monarchia einnimmt,²⁰² zumindest nicht er-
Siehe auch Karlheinz Stierle, Der Schrecken der Kontingenz – ein verborgenes Thema in Dantes Commedia, in: Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit (Hg. Bernhard Greiner/Maria Moog-Grünewald), , S. ff. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, . Auflage , Bd. , S. . Zur geistesgeschichtlichen Einordnung in den Übergang zur frühen Neuzeit ebenfalls bedeutsam Carlo Schmid, Dante und Pierre Dubois, in: Europa und die Macht des Geistes, Zweiter Band der Gesammelten Werke, , S. , f.: „Der Gegensatz von Idee und Ideologie,von Reichsidee und Völkerbundsgedanke ist schon an der Schwelle, welche das Mittelalter von der Neuzeit trennt, klar ausgebildet. In dem Jahrzehnt, das auf das Jubiläumsjahr folgt (hier ist die Schwelle, nicht erst !), gehen aus der Feder zweier Menschen hervor das hohe Lied auf das Reich und der gerissene Entwurf zu einem Völkerbund (…)“. Unter Verweis auf Inferno, VII, – . Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, . Auflage , Bd. , S. . Dante Alighieri, Monarchia, I, i–iv; II, ii.
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schöpfend berücksichtigt,²⁰³ hat er durch diese Überzeichnung eine Einsicht freigelegt, die den mitunter hart anmutenden Gerechtigkeitssinn des Dichters der Göttlichen Komödie erklärt.
8. Entsprechung von Macht und Gerechtigkeit Ungerecht ist in Dantes Vorstellung von der göttlichen Gerechtigkeit der Selbstsüchtige. Im Materiellen ist daher gerade der Habsüchtige von Grund auf sündig.²⁰⁴ Seine Bestrafung resultiert aus der Durchbrechung der irdischen Ordnung, die nach aristotelischer Denkart die Gleichheit der Menschen in Frage stellt und daher das Gemeinwesen gefährdet.²⁰⁵ Die Sinnwidrigkeit der Habsucht und ihre Verfehlung gegenüber dem göttlichen Gesetz ist so evident, dass ihr Scheitern von vornherein feststeht: „Und so wie jener, welcher gern gewönne, / Wenn nun die Zeit kommt, die Verlust ihm bringet, / Bei jeglichem Gedanken weint und trauert“ („E qual è quei che volontieri acquista, / e giugne ’l tempo che perder lo face, / che ’n tutti suoi pensier piange e s’attrista“.)²⁰⁶ Die schändlichste Form der Habsucht ist für Dante die Simonie, also die nach Simon aus Samaria benannte Form der Merkantilisierung göttlicher Gnade durch irdische Güter,²⁰⁷ die zu einer Entweihung sondergleichen führt: „O Simon Magus! Oh, sein jämmerliches / Gefolge! die ihr Gottes Wundergaben, / Die nur der Tugend sich vermählen sollten, / Für Gold und Silber raubgierig preisgebt! / Von euch muß die Drommete nun ertönen, / Weil in der dritten Bulg ihr euch befindet“ („O Simon mago, o miseri seguaci / che le cose di Dio, che di bontate / deon essere spose, e voi
Vgl. Dirk Lüddecke, Das politische Denken Dantes. Überlegungen zur Monarchia Dante Alighieris, , S. ff., f.: „Der welthistorische Prozess gewinnt seinen Sinn vielmehr im Bezug zur Ordnung der göttlichen Vorsehung, zur lex aeterna, zu deren wahrhaft kundigen Ausleger sich Dante stilisiert“. Zur besseren Einordnung der betreffenden Sünde in der mittelalterlichen Vorstellungswelt unter Berücksichtigung Dantes Johan Huizinga, Herfsttij der Middeleeuwen, . Auflage , S. : „De oude theologische voraanstelling van Superbia wordt overstemd door het steeds aanzwellend koor van stemmen, die al de ellende der tijden wijten aan de steeds toenemende hebzucht. Hoe heeft niet Dante haar vervloekt: la ciega cupidigia! De hebzucht nu mist het symbolisch en theologisch karakter van den hoogmoed; zij is de natuurlijke en materieele zonde, de zuiver aardsche drift“. Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. ; näher Martin Grabmann, Studien über den Einfluss der aristotelischen Philosophie auf die mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von Kirche und Staat, . Inferno, I, – (Übersetzung Philalethes). Apostelgeschichte , – .
9. Maß der Gerechtigkeit
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rapaci / per oro e per argento avolterate, / or convien che per voi suoni la tromba, / però che ne la terza bolgia state“).²⁰⁸ Dieser Niedrigkeit der Gesinnung stellt Dante die göttliche Einsicht gegenüber, nach der Macht und Gerechtigkeit einander entsprechen: „O höchste Weisheit,welche Kunst im Himmel, / Auf Erden du und in der argen Welt zeigst, / Und deine Kraft, wie sie gerecht verteilet!“²⁰⁹ („O somma sapïenza, quanta è l’arte / che mostri in cielo, in terra e nel mal mondo, / e quanto giusto tua virtù comparte!“).²¹⁰ Weisheit bedeutet hier nichts anderes als Gerechtigkeit.²¹¹ Die gerechte Machtverteilung nach dem Richtspruch göttlicher Gerechtigkeit divergiert deutlich von der durch Menschenhand geschaffenen Durchbrechung der Machtverhältnisse, die Dante weiter oben an einer Stelle bezeichnet, die geradezu den Gegenbegriff zum Gleichmaß von Macht und Recht der göttlichen Gerechtigkeit markiert: „Drum herrschet ein Volk und das andre welket / Dahin, gemäß dem Richterspruche jener, / Die, wie im Gras die Schlange, bleibt verborgen“ („per ch’una gente impera e l’altra langue, / seguendo lo giudicio di costei, / che è occulto come in erba l’angue“).²¹² Der hier vorausgesetzte Urteilsspruch ist der denkbar niedrigste, was bildhaft durch die im Gras versteckte Schlange verdeutlicht wird.²¹³ In der irdischen Machtverteilung regiert die Arglist, die Unrecht hervorbringt.²¹⁴
9. Maß der Gerechtigkeit Aus der Gerechtigkeit des göttlichen Richtspruchs folgt etwas, das Dante erst noch lernen muss und daher unmittelbar auf seinen Gerechtigkeitssinn einwirkt. Die christliche Tugend des Mitleids nämlich erfährt den schärfsten Widerspruch dort,
Inferno, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Siehe dazu Piero Misciatelli, Il canto dei simoniaci, Pagine Danteschi , S. ff. Nicht zuletzt auf diese Stelle passt die Beschreibung von Carlo Schmid, Dante und Pierre Dubois, in: Europa und die Macht des Geistes, Zweiter Band der Gesammelten Werke, , S. , : „Die Gerechtigkeit (…) ist bei Dante nicht wie bei Zeitgenossen die Walterin der divisio bonorum, sondern eine weltbestimmende Kraft, der Zustand, der alle schöpferischen Kräfte des Menschen entfaltet zum Schönen und Guten, ist die staatsschaffende Weltkraft schlechthin, die jedem einzelnen den Raum schafft, dessen er bedarf um zu werden, was in ihm angelegt ist“. Hervorhebung auch dort. Inferno, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Erster Teil: Die Hölle, , . Auflage , S. . Inferno, VII, – (Übersetzung Philalethes). Das Bild bezieht sich auf Vergil, Bucolica, III, : „latet anguis in herba“. Inferno, VII, .
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wo sie den göttlichen Richtspruch in Frage stellt. Im zwanzigsten Gesang äußert Dante Mitleid mit jenen Sündern, deren Los ihn zu Tränen rührt.²¹⁵ Dante spricht den Leser unmittelbar an, indem er sich mit ihm in der Weise gemein macht, dass er sich als einer von ihnen zu erkennen gibt, denen die rechte Richtung des Mitleids verschlossen ist: „Wenn Gott dich, Leser, Frucht von deinem Lesen / Soll ernten lassen, so bedenk im Innern, / Ob tränenlos mein Antlitz bleiben konnte, / Als in der Näh die menschliche Gestalt ich / Also verwandt sah, daß des Auges Zähren / Die Hinterbacken durch den Spalt benetzten“ („Se Dio ti lasci, lettor, prender frutto / di tua lezione, or pensa per te stesso / com’ io potea tener lo viso asciutto, / quando la nostra imagine di presso / vidi sì torta, che ’l pianto de li occhi / le natiche bagnava per lo fesso“).²¹⁶ Abermals schaltet Dante sich als Mittler zwischen der Erklärung göttlicher Gerechtigkeit und menschlicher Beschränkung ein, um dem Mitgefühl die richtige Richtung zu weisen. Vergil maßregelt Dante im buchstäblichen Sinne, indem ihm das rechte Maß der waltenden Gerechtigkeit gewiesen wird,²¹⁷ die auch und gerade durch falsch verstandenes Mitleid nicht in Frage gestellt werden darf: „Gewiß, da weint ich, an ein Horn mich lehnend / der harten Klippe, so daß mein Begleiter / Mir sagte: «Gleichst auch du den andern Toren?²¹⁸ / Hier lebt die Lieb erst, wenn sie recht erstorben; / Denn wer ist frevelhafter wohl als jener, / Der nach des Ewgen Ratschluß trägt Gelüsten»“ („Certo io piangea, poggiato a un de’ rocchi / del duro scoglio, sì che la mia scorta / mi disse: «Ancor se’ tu de li altri sciocchi? / Qui vive la pietà quand’ è ben morta; / chi è più scellerato che colui / che al giudicio divin passion comporta?»“).²¹⁹ Die rhetorische Frage offenbart dem Menschen seine niedrige Gesinnung, die nicht in der Lage ist, die Dinge in die rechte Ordnung zu bringen.²²⁰
Näher Pier Liberale Rambaldi, Il canto XX dell’Inferno. Dante contro la magia, ; Francesco d’Ovidio, Dante e la magia, Studi sulla Divina Commedia, , ff.; ders., Esposizione del Canto XX dell’Inferno, ; Gerhard Ledig, Wahrsager, Diebe und Fälscher im Inferno, Deutsches Dante-Jahrbuch (), . Inferno, XX, – (Übersetzung Philalethes). Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. , wonach „durch die Sinnlosigkeit des Mitleids mit den Gerichteten die Unerbittlichkeit und höchste Instanz des richtenden Rechts pointiert wird“. Vgl. Matthäus , . Inferno, XX, – (Übersetzung Philalethes). Vgl. auch Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, , wo Dante die Macht der Gerechtigkeit unter Hinweis auf Vergils Bucolica preist (Übersetzung Ruedi Imbach): „Preterea, mundus optime dispositus est cum iustitia in eo potissima est. Unde Virgilius commendare volens illud seculum quod suo tempore surgere videbatur, in suis Buccolicis cantabat: Iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna. ‚Virgo‘ nanque vocabatur iustitia“.
10. Schärfung des Gerechtigkeitssinns
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10. Schärfung des Gerechtigkeitssinns Auf diese Weise wird der Leser Zeuge, wie sich Dantes Gerechtigkeitssinn allmählich schärft, aber eben auch verhärtet. Die gute Anlage des teilnehmenden Mitgefühls wird durch die Zurechtweisung bloßgestellt und zeigt dem Menschen, dass er von vorn beginnen muss, wenn er die Gerechtigkeit der göttlichen Ordnung erkennen möchte.²²¹ Das falsch empfundene Mitgefühl solidarisiert Dante mit den Sündern, erhebt ihn aber nicht über sie, sondern macht ihn gleichsam zum Komplizen.
a) Das Recht in den drei Zeitaltern Der Gerechtigkeitssinn Dantes erfährt so eine Entwicklung, die beispielhaft veranschaulicht, dass die göttliche Gerechtigkeit nichts mit dem äußerlichen Affekt zu tun hat. Der beschränkte und bedingte Gerechtigkeitssinn des Menschen erweist sich als brüchiges Fundament des gerechten Urteils, wenn er nur auf sich selber sieht und die göttlichen Gesetze außer Betracht lässt.
aa) Joachim de Fiores Lehre Dante denkt in der Lehre der Zeitalter des Joachim de Fiores.²²² Diese Lehre trennt zwischen dem Zeitalter des Vaters, also jenem des Alten Testaments vor Christi Geburt, und dem des Sohnes post Christum natum, das heißt des Neuen Testaments, nach dem schließlich das Zeitalter des Heiligen Geistes anbricht. Es ist eine „dreistufige Geschichtsentwicklung“, deren dritte Stufe – das Zeitalter des Heiligen Geistes – „eine Kirche freier Erfüllung der Bergpredigt aus der Kraft des in allen wirkenden Heiligen Geistes“ bedeutet.²²³ Dante versetzt Joachim de Fiore nicht zuletzt für diese Erkenntnis ins Paradies: „Raban ist dort, und hier an meiner Seite / Erglänzt Abt Joachim, der Kalabrese, / Der mit prophetischem Geiste war begabet“ („Rabano è qui, e lucemi dallato / il calavrese abate Giovacchino / di
Treffend Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. , wonach das Erbarmen „durch seine Zuordnung auf das Recht sich mit einem ganz anderen als lyrischphilantropischen Gehalt erfüllt“. Siehe dazu auch Herbert Grundmann, Dante und Joachim von Fiore, Deutsches DanteJahrbuch (), . Joseph Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben, , . Auflage , S. , siehe auch ebenda, S. .
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spirito profetico dotato“).²²⁴ Mit dem prophetischen Geist meint Dante wohl nicht zuletzt das fortdauernde Zeitalter des Heiligen Geistes, das Joachim de Fiore dogmatisch begründet und vorausschauend angekündigt hat.²²⁵ Dante hat diese Lehre der drei Reiche durch Petrus von Olivi²²⁶ im Florentiner studio generale der Franziskaner in Santa Croce empfangen.²²⁷
bb) Bedeutung für das Recht Der Sinn der Lehre ist auch im Hinblick auf die Daseinsberechtigung des Rechts aufschlussreich: Im Reich des Vaters wirkt die Ordnung der Autorität, während im Reich des Sohnes die Weisheit mit Hilfe von Staat und Recht herrscht. Erst im Reich des Heiligen Geistes, in dem die Liebe allgegenwärtig die Menschen verbindet, bedarf es des Rechts nicht mehr.²²⁸ Der Gerechtigkeitssinn ist auf diese Weise zugleich Abbild mittelalterlichen Denkens und durch dieses geprägt,²²⁹ wenngleich Dante genuin eigene Wertungen einbezieht.²³⁰ Wer mit irdischen Maßen misst, wird der göttlichen Gerechtigkeit nicht gerecht und teilhaftig.²³¹ Die
Paradiso, XII, – (Übersetzung Philalethes). Stephan Schaede, Stellvertretung, , S. mit Fußnote , am Beispiel des päpstlichen Alleinvertretungsanspruchs, wie er sich für Dante in der durch seinen Lehrer geprägten Sicht darstellt. Der dort dargestellte Unterschied zwischen Stellvertretung und Botenschaft zeigt im Übrigen paradigmatisch, wie sehr Dantes dogmatisches Denken dem rechtsdogmatischen ähnelt; vgl. zur zivilrechtlichen Unterscheidung etwa Jens Petersen, Stellvertretung und Botenschaft, Jura , . Zu ihm Brian Tierney, Origins of Papal Infallibility – , , S. („a figure of the highest importance in the development of the doctrine of papal infallibility“); Hans Küng, Umstrittene Wahrheit, , S. . Siehe dazu auch Nick Havely, Dante and the Franciscans: Poverty and the Papacy in the „Comedy“, . Carlo Schmid, Band , Erinnerungen, , S. f. Siehe auch Michele Maccarone, Teologia e diritto canonico nella Monarchia, in: Rivista di storia della Chiesa in Italia (), ff. Ferner Hermann Conrad, Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, . Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , hebt in Bezug auf die innere Proportion des Inferno zu Recht hervor: „Die markierte Asymmetrie, die Dante so setzt und die dem achten Höllenkreis im Ganzen der ersten Cantica eine herausragende Bedeutung gibt, ist durch keine theologische Lehrmeinung gedeckt, sie entspringt ganz Dantes eigenem Wertsystem“. Perspektivisch weiterführend Hermann Conrad, Die Rechtslehre des Dante Alighieris, Begegnung: Zeitschrift für Kultur und Geistesleben (), , : „Wie Dante bei der Betrachtung der Welt und der weltlichen Dinge über das Diesseits hinausgeht und alles von einem jenseitigen Standpunkt aus betrachtet, so ist er auch in seiner Rechtslehre nicht im Diesseits haften geblieben“.
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Geltung des irdischen Rechts ist von vornherein nicht von Dauer und markiert ein – freilich notwendiges – Übergangsstadium. Der Blick auf das Recht ist nur sub specie aeternitatis möglich, was für Dante gleichbedeutend ist mit der Zielrichtung und inneren Bestimmung der ordo caritatis, die das Paradiso durchwirkt.
b) Dantes Argumente gegen die „Zwei-Schwerter-Lehre“ und die Bulle Unam Sanctam Daher ist es nur folgerichtig, dass Dante an anderer Stelle weltliche und kirchliche Macht dergestalt trennt, dass das Schwert des Kaisers unvermittelt von Gott kommt.²³² Diese Sichtweise richtet sich gegen die Zwei-Schwerter-Lehre,²³³ nach der das Schwert der irdischen Macht des Kaisers von dem des Papstes unterschieden und die päpstliche Gewalt über die weltliche gestellt hat.²³⁴ Man muss sich zum besseren Verständnis die historischen Ausgangsbedingungen und ihre theologisch-philosophische Legitimierung vergegenwärtigen. Papst Bonifaz VIII. – mit bürgerlichem Namen Benedetto Gaetani²³⁵ – hatte am 18. November 1302 die Bulle Unam Sanctam erlassen, in welcher der universale Machtanspruch des Papsttums vor der weltlichen Macht des Kaisers begründet wird. Bonifaz VIII. konnte sich hier auf Aegidius Romanus berufen.²³⁶ Unter Berufung auf den Matthäus-Evangelisten wird das geistliche und das materielle Schwert voneinander unterschieden und der Macht der Kirche unterworfen.²³⁷ Auch wenn nicht ganz sicher ist, ob Dante die Bulle Unam Sanctam gekannt hat,²³⁸ steht außer Frage, dass er den extremen Gegenstandpunkt zu Bonifaz VIII. eingenommen hat,²³⁹ den er mit gutem Grund als den Urheber und intriganten Strippenzieher
Dante Alighieri, Monarchia, III, ix, .–. Bettina Arnold, Caetani, in: Die großen Familien Italiens (Hg.Volker Reinhardt), , S. , , spricht von der „Gelasianischen“ Zwei-Schwerterlehre. Näher Arno Borst, Der Streit um das weltliche und das geistliche Schwert, in: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, . Auflage , S. ff. Mitunter ist auch zu lesen: Caetani; vgl. Giuseppe Marchetti-Longhi, I Caetani, . Aegidius Romanus, De ecclesiastica potestate, /. Matthäus , . Siehe zum biographischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund auch Charles Till Davis, Dante and the Idea of Rome, . Ruedi Imbach/Christoph Flüeler, S. der von ihnen herausgegebenen Studienausgabe von: Dante Alighieri, Monarchia. Robert Artinian, Dante’s Parody of Boniface VIII, Dante Studies (), ; Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, , S. .
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hinter der Entscheidung der Florentiner, Dante zu verbannen, ansehen durfte.²⁴⁰ Im Unterschied zur päpstlichen Theologie unterscheidet Dante zwischen Glauben und Vernunft, die nicht zuletzt durch Vergil personifiziert wird.
c) Dantes Gerechtigkeitssinn im Spiegel des mittelalterlichen Denkens In diesem Sinne begründet Dante den Staat auch vernunftbezogen.²⁴¹ Folgt man dem, so ergibt sich zugleich, dass der einzelne Mensch, repräsentiert durch Dante selbst, einen durchaus fehlbaren Gerechtigkeitssinn besitzt. Er muss geschärft werden durch die Erkenntnis der göttlichen Ordnung, die freilich für Dante nur bedingt durch den Papst repräsentiert wird. Denn bekanntlich erleiden die sündhaften Päpste Höllenqualen,²⁴² allen voran Bonifaz VIII., den Dante den Simonisten beiordnet.²⁴³ Selbst der sogenannte Engelspapst Coelestin V., der als einziger in der Kirchengeschichte freiwillig – wenngleich womöglich unter dem Druck und Gutachten des späteren Papstes Bonifaz VIII.²⁴⁴ – von seinem Amt zurücktrat,wird an den Beginn des Inferno zurückversetzt,weil er in Dantes Augen durch seinen kleinmütigen Verzicht der ihm zugemessenen Aufgabe nicht gerecht geworden ist:²⁴⁵ „Da einen ich erkannt nun unter ihnen, / Schaut hin ich und
Siehe zum Ganzen insbesondere Richard Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Anschauungen des Mittelalters, ; Jürgen Miethke/Arnold Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt. Zum Verhältnis von Staat und Kirche im späten Mittelalter, ; Jürgen Miethke, Zeitbezug und Gegenwartsbewusstsein in der politischen Theorie der ersten Hälfte des . Jahrhunderts, in: Antiqui und moderni (Hg. Albert Zimmermann), , S. ff.; ders., Zur Bedeutung der Ekklesiologie für die politische Theorie im späten Mittelalter, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters (Hg. Albert Zimmermann), , S. ff. Ruedi Imbach, Die politische Dimension der menschlichen Vernunft bei Dante, in: Der Mensch – ein politisches Tier. Essays zur politischen Anthropologie (Hg. Otfried Höffe), , S. ff.; Dirk Lüddecke, Der Staat (), , . Kenelm Foster, The Canto of the Damned Popes: Inferno XX, Dante Studies (), . Inferno, XIX, ff.; dazu Bettina Arnold, Caetani, in: Die großen Familien Italiens (Hg.Volker Reinhardt), , S. , ; siehe auch Francesco d’Ovidio, Il canto dei Simoniaci, ; Reginald French, Simony and Pentecost, Annual Report of the Dante-Society (), . Das wird allerdings bestritten; vgl. Franz Xaver Seppelt, Geschichte der Päpste, Band III: Die Vormachtstellung des Papsttums im Hochmittelalter, , S. . Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das . Jahrhundert, , S. , erklärt die unterschiedliche Verortung der beiden Päpste – des weltfernen Eremiten Coelestin und des ‚machtversessenen Juristen‘ Bonifaz – von Dantes mutmaßlichem Standpunkt aus gesehen folgerichtig: „Die göttliche Gerechtigkeit und die göttliche Barmherzigkeit verachten gleichermaßen die Feigen und Verantwortungslosen, die sich für nichts eingesetzt haben und also
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erblickte jenes Schatten, / Der auf das Große aus Feigheit einst Verzicht tat“ („Poscia ch’io v’ebbi alcun riconosciuto, / vidi e conobbi l’ombra di colui / che fece per viltade il gran rifiuto“).²⁴⁶ Auch hieran zeigt sich beispielhaft, dass der Gerechtigkeitssinn des einzelnen Menschen – und sei er auch Papst gewesen – selbst dann fehlbar vor Gottes Gesetz und Bestimmung sein kann, wenn er von scheinbar lauteren Motiven geleitet wird. Zur rechten Annahme seiner selbst, die nicht nur auf christliche Prägung,²⁴⁷ sondern auch auf die aristotelische Mesotes-Lehre verweist,²⁴⁸ gehört für den mittelalterlichen Menschen eben auch die Anerkennung der göttlichen Vorherbestimmung des eigenen Schicksals.²⁴⁹ Allerdings hat sich Dante nicht dazu hinreißen lassen, diejenigen emporzuheben, die den ihm verhassten Papst Bonifaz VIII. – angestiftet durch Philipp den Schönen von Frankreich,²⁵⁰ bzw. auf sein Geheiß Guillaume de Nogaret, sowie Sciarra Colonna²⁵¹ – in Anagni angriffen und mit dem Tode bedrohten.²⁵² Dieser Übergriff auf das Oberhaupt der Kirche war aus mittelalterlicher Sicht ungeachtet aller persönlichen Fehlbarkeit unverzeihlich,²⁵³ weshalb auch Dante dafür kein Verständnis aufzubringen vermochte.²⁵⁴ Sein Gerechtigkeitssinn ist hier durch die mittelalterliche Weltsicht geprägt; er ist auch dort Sohn seiner Zeit, wo er sie überragt und am Maßstab der Ewigkeit misst.
sowohl Gott als auch dem Teufel missfallen; an ihnen schreitet man wortlos vorbei (Inferno III , )“. Inferno, III, – (Übersetzung Philalethes). Matthäus. , ; eingehend Romano Guardini, Gläubiges Dasein. Die Annahme seiner selbst, . Franz Furger, Christliche Sozialethik in pluraler Gesellschaft, , S. ff. Näher zum kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergrund August Buck, Dante als Dichter des christlichen Mittelalters, ; Gerhard Ledig, Dantes Göttliche Komödie in den einzelnen Gesängen aus mittelalterlichem Denken erläutert, ; Bruno Nardi, Dante e la cultura medievale: Nuovi saggi di filosofia dantesca, ; ders., Saggi di filosofia dantesca, , . Auflage ; ders., La filosofia di Dante, . Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund Richard Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Anschauungen des Mittelalters, ; Hermann Conrad, Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, , S. f. Bettina Arnold, Caetani, in: Die großen Familien Italiens (Hg.Volker Reinhardt), , S. , ; „Sciarra“ wurde er genannt, hieß aber ursprünglich Giacomo Colonna; Andreas Rehberg, Colonna, ebenda, S. . Franz Xaver Seppelt, Geschichte der Päpste, Band IV: Das Papsttum im Spätmittelalter und in der Renaissance, , S. ff. Hermann Conrad, Die Rechtslehre des Dante Alighieris, Begegnung: Zeitschrift für Kultur und Geistesleben (), , . Purgatorio, XX, .
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d) Objektivierung des Gerechtigkeitssinns Unter diesem Vorzeichen verfeinert sich der Gerechtigkeitssinn und wird gleichsam objektiviert durch das göttliche Gebot. Es irrt der Mensch Dante, solange er strebt und noch keine vollumfängliche Einsicht in die Wirkungsweise der göttlichen Gerechtigkeit erhalten hat. Vergil erscheint hier als normativer Mittler, der dementsprechend auch im vierundzwanzigsten Gesang das wortlos gerechte Handeln vorgibt:²⁵⁵ „«Nicht anders», sprach er, «geb ich drauf Bescheid dir, / als durch die Tat; denn ehrenwerter Bitte / Muß durch Erfüllung schweigend man willfahren»“ („«Altra risposta», disse, «non ti rendo / se non lo far; ché la dimanda onesta / si de’ seguir con l’opera tacendo»“).²⁵⁶ Die ‚dimanda onesta‘, die Dante hier bezeichnet,²⁵⁷ ist sprichwörtlich geworden; sie bezeichnet eine Form der Vornehmheit, die aus der Liebe hervorgeht.²⁵⁸ Die Kommentierung der eigenen Rechtschaffenheit ist nicht nur überflüssig, sondern pharisäerhafte Selbstgerechtigkeit, die den eigenen Gerechtigkeitssinn abweichend von der gerechten Tat korrumpiert. Gottes Gebot allein setzt als objektive Norm den Maßstab, vor dem jede Abweichung ipso facto sündhaft ist. Indem der sündhafte Mensch dies verinnerlicht, wird auch sein subjektiver Gerechtigkeitssinn objektiviert.
11. Gewissen und Gerechtigkeitssinn Der folgende sechsundzwanzigste Gesang durchbricht die göttliche Ordnung abermals durch einen zutiefst irdischen Verweis, der mit einer sardonischen Anrufung seiner Heimatstadt beginnt: „Erfreue dich, Florenz, ob deiner Größe; /
Siehe auch Erich Auerbach, Dante und Virgil, Das humanistische Gymnasium (), ; Hermann Gmelin, Dante und die römischen Dichter, Deutsches Dante-Jahrbuch / (), ff. Zu einem Zeitgenossen Vergils, dem das unfreiwillige Exil zum autobiographisch gefärbten Anstoß für das eigene Werk wurde, Jens Petersen, Recht vor Gnade in Ovids Tristia, Gedächtnisschrift für Hannes Unberath, , S. . Siehe auch Charles A. Robson, Dante’s Use in the Divina Commedia of the Medieval Allegories on Ovid, in: Cenenary Essays on Dante by Members of the Oxford Dante Society, , S. ff.; Rachel Jacoff/Jefffrey T. Schnapp (Hg.), The Poetry of Allusion:Virgil and Ovid in Dante’s Commedia, . Ausdrücklich genannt wird Ovid in Inferno, IV, . Inferno, XXIV, – (Übersetzung Philalethes). Zu lesen ist mitunter auch ‚domanda honesta‘. Hermann Gmelin, La cortesia nella Divina Commedia, Romanische Forschungen, LIV (), ff.
11. Gewissen und Gerechtigkeitssinn
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Daß über Land und Meer du schlägst die Flügel,²⁵⁹ / Und in der Höll auch sich dein Ruf verbreitet!“ („Godi, Fiorenza, poi che se’ sì grande / che per mare e per terra batti l’ali, / e per lo ’nferno tuo nome si spande!“).²⁶⁰ Dante verbannt seine Heimatstadt, die ihn so schmählich und ungerecht behandelt hat, buchstäblich in die Hölle.²⁶¹ Es ist eine der Stellen, wo Dante mit den Worten Hugo Friedrichs „seinen Hass nur darum sprechen ließ, weil er ihn objektiviert hat in der göttlichen Rechtsordnung“.²⁶²
a) Historische Einordnung Zugleich verflucht er Papst Bonifaz VIII.: „Wenn nicht der Großpfaff war (bekomms ihm übel!), / der mich in meine frühere Schuld zurückwarf. / Wie und warum, sollst du anjetzt vernehmen“ („se non fosse il gran prete, a cui mal prenda!, / che mi rimise ne le prime colpe; / e come e quare, voglio che m’intenda“).²⁶³ Das im italienischen Original latinisierende ‚quare‘ verwendet Dante mit Bedacht,²⁶⁴ „als handelte es sich um einen juristischen Prozess.“²⁶⁵ Hier wird deutlich, dass Dante Bonifaz VIII. für mitverantwortlich an seiner Verbannung macht.²⁶⁶ Nicht von ungefähr begegnen hier Bonifaz und Florenz im selben Gesang. Auch wenn die genauen historischen Umstände nicht mehr mit letzter Klarheit rekonstruierbar sind – insbesondere die Frage, ob Bonifaz den von seiten Florenz’ Gesandten Dante unter einem Vorwand in Rom zurückhielt, weil er ihm innerhalb der Gesandtschaft gegenüber den anderen Emissären geistig überlegen und damit gefährlicher als diese erschien²⁶⁷ –, zeigt sich zumindest, dass Dante
Dies ist eine Anspielung auf eine Inschrift, welche die Westwand des Bargello seit dem Jahre ziert und die besagt: ‚Quae mare, quae terram, quae totum possidet orbem‘. Dante verhöhnt somit den territorialen Größenwahn seiner Heimatstadt. Inferno, XXVI, – (Übersetzung Philalethes). Bündig Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. „Florenz ist in Dantes Hölle allgegenwärtig“. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Inferno, XXVII, – (Übersetzung Philalethes). Auschlussreich Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, (Gesammelte Essays – , . Auflage , S. , f., Übersetzung Ralph Dutli): „Dantes Werk bedeutet vor allem das Hinaustreten der damaligen italienischen Sprache als Ganzes, als System, in die Weltarena“. Hartmut Köhler, Dante Alighieri. La Commedia – Die Göttliche Komödie, Band I, , S. . Vgl. auch Paul Scheffer-Boichorst, Aus Dantes Verbannung, . Zum Ganzen Giuseppe Petronio, Bonifacio VIII. Un episodio della vita e dell’arte di Dante, .
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den Papst nicht als Mann der ihm heiligen Kirche, sondern als Machtpolitiker einordnete. Die kirchlichen Gegenspieler von Bonifaz, vor allem die beiden Kardinäle Stefano und Agapito Colonna²⁶⁸ aus der dem Papst verhassten und von ihm verfolgten Familie Colonna,²⁶⁹ standen immerhin franziskanischen Idealen näher als der Papst und hatten Umgang mit den Spiritualen der Franziskaner.²⁷⁰ Diese zeit- und glaubensgeschichtlichen Umstände muss man sich ebenso vergegenwärtigen wie die Lehre des Joachim de Fiore,²⁷¹ die alle zusammen genommen einen Ausweg zur Verwirklichung von Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden versprachen.²⁷²
b) Gewissen und Papsttum Der Papst wird also von Dante nicht in jeder Hinsicht als Mittler zwischen den einzelnen Menschen und Gott anerkannt. Abgesehen davon, dass Dante durchweg zwischen Amt und Person des Papstes trennt, will er diesem nicht einmal die Funktion eines gleichsam objektivierten Gewissens zuerkennen, wie dies John Henry Kardinal Newman in seinem Brief an den Herzog von Norfolk ausgedrückt hat, in dem er auf die selbstgestellte Frage antwortet: „Wenn ich – was höchst unwahrscheinlich ist – einen Toast auf die Religion ausbringen müsste, würde ich auf den Papst trinken. Aber zuerst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst.“²⁷³ Joseph Ratzinger legte dieses berühmte Wort bereits vor seiner Wahl
Andreas Rehberg, Colonna, in: Volker Reinhardt (Hg.), Die großen Familien Italiens, , S. . Näher Vincenzo Novelli, I Colonna e i Caetani, Bände, – ; Richard Neumann, Die Colonna und ihre Politik von der Zeit Nicolaus IV. bis zum Abzug Ludwigs des Bayern aus Rom. – , ; Tilmann Schmidt, Ein Studentenhaus in Bologna zwischen Bonifaz VIII. und den Colonna, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken (), . Bettina Arnold, Caetani, in: Die großen Familien Italiens (Hg.Volker Reinhardt), , S. , . Zum Einfluss des franziskanischen Mystizismus’ auf Dante Josef Kohler, Dante und die Willensfreiheit, Deutsches Dante-Jahrbuch (), . Siehe auch Otfried Eberz, Dantes joachimitischer Ghibellinismus, Hochland (/), ; . Hermann Conrad, Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, , S. f. John Henry Newman, A letter to the Duke of Norfolk on Occasion of Mr. Gladstone’s Recent Expostulation. Certain Difficulties Felt by Anglicans in Catholic Teaching, . Am Ende von Chapter V heißt es: „I add one remark. Certainly, if i am obliged to bring religion into after-dinner toasts (which indeed not seem quite the thing) I shall drink-, to the Pope, if you please,– still, to Conscience first, and to the Pope afterwards“.
11. Gewissen und Gerechtigkeitssinn
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zum Papst in einer Weise aus, die auch Dantes Verständnis entsprochen haben dürfte: „Nur in diesem Zusammenhang kann man den Primat des Papstes und seinen Zusammenhang mit dem christlichen Gewissen richtig verstehen. Der wahre Sinn der Lehrgewalt des Papstes besteht darin, dass er Anwalt des christlichen Gedächtnisses ist. Der Papst legt nicht von außen auf, sondern er entfaltet das christliche Gedächtnis und verteidigt es. Deshalb muss in der Tat der Toast auf das Gewissen demjenigen auf den Papst vorangehen, weil es ohne Gewissen gar kein Papsttum gäbe. Alle Macht, die es hat, ist Macht des Gewissens (…).“²⁷⁴
c) Gewissenhafte Prägung des Gerechtigkeitssinns Wenn das Gewissen gleichsam die Stimme Gottes ist,²⁷⁵ oder besser – wiederum mit John Henry Newman – gesagt: das Echo der Stimme Gottes,²⁷⁶ dann bildet es damit, wenn diese Stimme recht verstanden wird, zugleich den Gerechtigkeitssinn aus und prägt ihn. Dantes Rechtsbegriff kann nicht mit dem positiven Recht seiner Zeit gleichgesetzt werden, auch wenn die Commedia dessen Spurenelemente erkennen und erahnen lässt.²⁷⁷ Vielmehr ist Dantes Recht, wie schon Hans Kelsen herausgestellt hat,²⁷⁸ die Übereinstimmung mit Gottes Willen, der insbesondere in den Zehn Geboten sowie im Neuen Testament zur Geltung kommt und die „natürlichen Gewissensgebote“ setzt.²⁷⁹ Wer dem göttlichen Gebot zuwider handelt, wird zum Gegenstand der Vergeltung, wie dies im literarischen Inbegriff des contrapasso schlechthin durch die Selbsterkenntnis der eigenen Fehlbarkeit
Joseph Ratzinger,Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen. Gewissen und Wahrheit, in: Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, . Auflage , S. , f.; Hervorhebung auch dort (= Joseph Ratzinger, Vom Wiederauffinden der Mitte. Grundorientierungen, . Auflage , S. ff.). Siehe nur Victor Marchal, Das Gewissen wie es sein soll, ; Martin Honecker, Einführung in die theologische Ethik, , S. ; Theologische Realenzyklica (TRE), Studienausgabe Teil (Hg. Gerhard Müller), , S. . John Henry Newman, Entwurf einer Zustimmungslehre (Übersetzung Theodor Häcker, ), S. . Siehe auch Alfred Läpple, Der einzelne in der Kirche. Wesenszüge einer Theologie des einzelnen nach J. H. Newman, . Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , hat diesen Problemkreis umfassend und tiefgründig ausgearbeitet. Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band , . Heft, , S. (= HKW , , ); zu dieser sowohl für das Dante- wie auch für das Kelsen-Verständnis wichtigen Frühschrift überaus lesenswert Oliver Lepsius, Die Staatslehre des Dante Alighieri in der Sicht Hans Kelsens, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (), . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . An späterer Stelle versteht er das Gewissen als Kontrolle des Willens (ebenda, S. ).
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verdeutlicht wird: „So wird an mir Vergeltungsrecht geübet!“ („Così s’osserva in me lo contrapasso“).²⁸⁰ Hier folgt die Erkenntnis der Bestrafung. Um ihr von vornherein zu entgehen, ist das Gewissen die erkennende Instanz des ursprünglichen Rechtsempfindens, das durch Dekalog und biblische Botschaft geprägt und gereinigt wird. Insofern kommt Dantes Rechtsbegriff demjenigen des katholischen Naturrechts nahe.²⁸¹ Das wird deutlich, wenn man zwei Überlegungen Joseph Ratzingers vergleichend hinzuzieht: „Die Staatslehre hat sowohl im Altertum und Mittelalter wie gerade auch in den Gegensätzen der Neuzeit an das Naturrecht appelliert, das die recta ratio erkennen kann. Aber heute scheint diese recta ratio nicht mehr zu antworten, und das Naturrecht wird nicht mehr als das allen Einsichtige, sondern eher als katholische Sonderlehre betrachtet.“²⁸² Auf dieser Grundlage geht er der Frage nach, warum man nicht den Dekalog zum Maßstab nehmen solle,²⁸³ der „nicht ein Sonderbesitz der Christen oder Juden“, sondern „ein höchster Ausdruck moralischer Vernunft“ sei: „Am Dekalog wieder Maß zu nehmen, könnte gerade für die Heilung der Vernunft, für das neue Aktivwerden der recta ratio wesentlich
Inferno, XXVIII, (Übersetzung Philalethes); dazu ausführlich oben I.. Siehe auch Justin Steinberg, Dante’s Justice? A reappraisal of the Contrapasso, L’Alighieri (), ; ders., Dante and the Limits of the Law, , S. : „Dante exlores the speech act of defamation through his presentation of the contrapasso (countersouffering), a form of retributive justice through which the punishment is conceived to fit the crime“. Zu ihm Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre . Eine kritische Betrachtung, Hochland (/), ff.; August Maria Knoll, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, ; Peter Lerche, Christentum und Staatsrecht, in: Der Einfluss des katholischen Denkens auf das positive Recht (Hg. Theodor Tomandl), , S. ff.; Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, , S. f. Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, , S. . Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , unter Verweis auf Monarchia, II, viii, : „Wenn andere mittelalterliche Rechtstheorien eine Ableitung der menschlichen Rechtserkenntnis von dem durch Gott in die menschliche Seele hineingegebenen natürlichen Licht der Vernunft voraussetzen und die unmittelbare im Dekalog und durch Christus gewährte Rechtsvorschrift Gottes davon unterscheiden, so vertritt auch Dante diese Auffassung.“ Aufschlussreich auch ebenda, S. : „Einen absoluten und ewigen Sinn des Rechtes und der Gesetze sehen wir bei aller Rücksicht auf Völker- und Gesetzesunterschiede gegeben. Ein Rechtspragmatismus vom heutigen Stil war Dantes Sache nicht“.
12. Selbstvergewisserung des Gerechtigkeitssinns
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sein.“²⁸⁴ Dieses Plädoyer kann sich ohne weiteres auf Dante berufen und fügt sich bruchlos in dessen Gerechtigkeitsvorstellung ein.
12. Selbstvergewisserung des Gerechtigkeitssinns Die Selbstvergewisserung des Gerechtigkeitssinns wird im dreißigsten Gesang fortgeführt, in dem der Sünder, der allmählich zur Einsicht göttlicher Gerechtigkeit gelangt, spricht:²⁸⁵ „Denn die Gerechtigkeit, die streng mich peinigt, / Nimmt Anlaß von dem Ort, wo ich gesündigt, / Um hastiger die Seufzer mir zu jagen“ („La rigida giustizia che mi fruga / tragge cagion del loco ov’ io peccai / a metter più li miei sospiri in fuga“).²⁸⁶ Der Ort der Sünde wird so gleichsam zum Sühneort. Diese Selbsterkenntnis des Sünders wirkt unweigerlich auf Dantes Gerechtigkeitssinn. Die Gerechtigkeit wird zum heilenden Mittel, indem sie den Delinquenten noch tiefer in seine schuldhafte Verstrickung einweist.²⁸⁷ Durch die damit einhergehende Selbstvergewisserung des Sünders wird sie zugleich vom Odium einer utilitaristischen Deutung befreit. Allmählich gewinnt Dante die naturgemäße und damit gerechte Einsicht. So sagt er über die Natur, dass sie für den „weiser scheint / Drum und gerechter bei genauer Prüfung“ ist („più giusta e più discreta la ne tene“).²⁸⁸ Der sich auf diese Weise entfaltende Gerechtigkeitssinn wird mit wachsender Einsicht durch die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen jedoch gefährdet: „Denn wo sich noch die Urteilskraft des Geistes / Dem bösen Willen und der Macht vereint, / Kann niemand einen Damm entgegenstellen“ („ché dove l’argomento de la mente / s’aggiugne al mal volere e a la possa, / nessun riparo vi può far la gente“).²⁸⁹ Der auf sich selbst gestellt denkende Mensch wird in diesem großen mittelalterlichen Entwurf also zu einer Selbstgefährdung, welche die Gefährdung anderer mit einschließt,²⁹⁰ wenn ihm das Richtmaß durch kirchliche Hilfestellung
Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, , S. . Zum Verhältnis von Sünde und Sprache Joan Ferrante, The Relation of Speech to Sin in the Inferno, Dante Studies (), . Inferno, XXX, – (Übersetzung Philalethes). Manfred Bambeck, Göttliche Gerechtigkeit und Exegese, , S. , formuliert das allgemeine Prinzip: „Sünde und Hölle sind zu stummem Unvermögen gezwungen vor dem Einbruch himmlischer Gnade und Macht“. Inferno, XXXI, – (Übersetzung Philalethes). Inferno, XXXI, – (Übersetzung Philalethes). Anregend die Überlegung von Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, , S. f.: „Manchmal bedauert man, dass Dante nicht im . Jahrhundert gelebt hat;
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fehlt.²⁹¹ So bewahrheitet sich Hugo Friedrichs prägnante Lozierung des Willens als „Ort des Rechttuns und Unrechttuns“.²⁹² Zugleich wird die Zentralität des Begriffs des Willens erneut deutlich.Während die Übereinstimmung des Handelns mit dem Willen Gottes das schlechthin Gute ist, erweist sich die dem Menschen zugebilligte Willensfreiheit nicht nur als anthropologische Konstante, sondern auch als permanente Gefährdung für sein Seelenheil.
13. Pervertierung des Gerechtigkeitssinns? Im zweiunddreißigsten Gesang wird der Leser Zeuge eines verstörenden Gesinnungswandels Dantes. Sein bisher nahezu untrüglicher Gerechtigkeitssinn scheint ihn zu verlassen. Die innere Wandlung kündigt sich an, als er einen Sünder schicksalhaft oder versehentlich – er lässt dies offen – mit seinem Fuß tritt und dabei ans Gesicht stößt.²⁹³ Geradezu absichtlich reißt Dante ihn an den Haaren, weil er wissen will mit wem er es zu tun hat:²⁹⁴ „Da rief ich, bei dem Schopf ihn
denn die moralische Fauna des Inferno wäre durch den Einbezug zahlreicher Gestalten dieser Epoche noch abgründiger geworden. Man fragt sich insbesondere, wo er Carl Schmitt ( – ) untergebracht hätte, denn von den drei nationalsozialistischen Intellektuellen dieses Kapitels (sc. über Heidegger, Gehlen, Schmitt) ist er ohne Zweifel der moralisch abstoßendste gewesen“. Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches DanteJahrbuch (), , , verweist zum besseren zeitgeschichtlichen und strafrechtssystematischen Verständnis auf Albertus de Gandinos ‚Tractatus de malificiis‘, durch den dieser „der erste systematische Kriminalist der Weltliteratur geworden (ist). Aber auffallend ist immerhin die Kombination dass diese Anregung sich in demselben Augenblick auf dasselbe Lebensgebiet richtet, das sich Dantes Fühlens und Denkens ganz bemächtigt hatte – dass also Verbrechen und Strafen gleichzeitig zum Gegenstand aufbauender Betrachtung unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten gemacht wurden, unter dem einer poetischen Weltvision und unter dem einer der lebenswichtigsten Staatsaufgaben“. Zu dem Genannten Hermann Kantorowicz, Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, Band I () und II (). Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Inferno, XXXII, – . Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , S. , bezieht sich zwar nicht ausdrücklich auf die vorliegende Stelle, doch könnten seine Überlegungen auch hier passen,wenn man seinen ermittlungstechnischen Ansatz teilt: “Dante truly is a judge, continually investigating and at times even provoking the statements of the damned. Moreover, Dante still needs to contend with the unreliable narrations of the damned and ascertain the fides of their testimony. In order to perform this task, Dante uses all the interrogatory methods at his disposal – from simple courtesy and offers of compensation to deception, threats and outright violence”. – Aber das erklärt nicht, woher er die Legitimation für seine Ein- und Übergriffe bezieht. Sein Verweis (S. Anmer-
13. Pervertierung des Gerechtigkeitssinns?
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packend: / «Du wirst mir doch dich selbst noch nennen müssen, / Sonst soll kein Haar hier oben dir verbleiben»“ („Allor lo presi per la cuticagna / e dissi: «El converrà che tu ti nomi, / o che capel qui sù non ti rimagna»“).²⁹⁵
a) Abstumpfung in der Kältehölle Während sich Dante bis hierher weithin in die Position des teilnehmenden und mitunter mitfühlenden Beobachters begeben hat, wird er nun grob und verübt nachgerade Selbstjustiz. Seine Handlung weckt Mitgefühl mit dem Opfer, das sich nicht zu erkennen gibt, aber eine solche Behandlung – wer auch immer es ist und was auch immer er getan hat – nicht zu verdienen scheint. Interessanterweise gebietet Vergil Dante keinen Einhalt.²⁹⁶ Im dreißigsten Gesang genügte allein schon Dantes Interesse an einer Zwistigkeit zwischen den Höllenbewohnern für eine Rüge Vergils.²⁹⁷ Dort gibt Vergil Dante zu verstehen, dass bereits die Neugier am Streit der Anderen eine niedrige Gesinnung verrät: „Denn niedrig ist der Wunsch, derlei zu hören“ („ché voler ciò udire è bassa voglia“).²⁹⁸ Hier dagegen wird aus der Passivität Dantes Aggression, die auch nicht vor einer Körperverletzung halt macht: „Schon hatt ich um die Hand sein Haar gewickelt / Und mehr denn eine Lock ihm ausgerissen, / Indes er bellt’, die Augen niederschlagend“ („Io avea già i capelli in mano avvolti, / e tratti glien’ avea più d’una ciocca, / latrando lui con li occhi in giù raccolti“).²⁹⁹ Die ‚Kältehölle‘³⁰⁰, die Dante hier betreten hat, spiegelt sich in seiner sozialen Kälte gegenüber den im Eis eingeschlossenen Wehrlosen. Zugleich ist der Ort auch künstlerisch vorgegeben und verhilft der Rechtsidee auch dort zur Durchsetzung,
kung ) auf die Digesten (...) beantwortet diese Frage nicht hinlänglich. Dantes Selbstermächtigung bleibt ein Problem. Inferno, XXXII, – (Übersetzung Philalethes). Johan Huizinga, Herfsttij der Middeleeuwen, . Auflage , S. , beleuchtet die ästhetische Dimension dieser grausamen Szenen: „Dante had de duisternissen en gruwelijkheden der hel met schoonheid aangeraakt: Farinata en Ugolino zijn in hun verworpenheid heroïsch, en de klapwiekende Lucifer vertroost ons door zijn majesteit“. Zur Einordnung in das Gefüge der Commedia Rudolf Palgen, Dantes Luzifer. Grundzüge einer Entstehungsgeschichte der Komödie Dantes, Inferno, XXX, – . Inferno, XXX, (Übersetzung Philalethes). Inferno, XXXII, – (Übersetzung Philalethes). Eugen Biser, Der Mensch – das uneingelöste Versprechen, , . Auflage , S. mit Fußnote unter Verweis auf Inferno, XXXIV, spricht von der „‚Kältehölle‘ der menschlichen Preisgegeben- und Verlorenheit, die schon Dante als Tiefpunkt aller möglichen Qualen beschrieb“.
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wo sie sich in aller Härte offenbart.³⁰¹ Wie ungerecht und unstimmig sich der Wanderer Dante hier anscheinend verhält, verdeutlicht der Dichter Dante durch eine offensichtliche Inkonzinnität: Sind die Seelen der Verstorbenen sonst nur körperlose Schatten, so kann der Wanderer eine der ihren hier im Wortsinne angreifen und an den Haaren ziehen.³⁰² Dieses haptische Moment scheint die im Exzess liegende Ungerechtigkeit Dantes zu manifestieren. Die Botschaft Dantes enthielte zugleich die zeitlos gültige Mahnung des Dichters, dass auch der vorbildlich gesittete, um seine moralische Vervollkommnung bemühte Mensch in einer Umgebung grausamer Kälte und Unmenschlichkeit abstumpfen, die Beherrschung verlieren und schließlich gleichfalls zum Komplizen und Täter an einem Wehrlosen werden kann.³⁰³
b) Dantes scheinbare Selbstgerechtigkeit Auch im nächsten Gesang möchte Dante wissen, mit wem er es zu tun hat. Auf die Bitte des Sünders, dem die Tränen in den Augen gefroren waren und der Dante darum bittet, davon befreit zu werden, um weiter weinen zu können, antwortet er zunächst vielversprechend: „Drauf ich zu ihm: «Sag an, soll ich dir helfen, / Wer bist du, und wenn ich dich dann nicht löse, / So mög ich zu dem Grund des Eises sinken»“ („Per ch’io a lui: «Se vuo’ ch’i’ ti sovvegna, / dimmi chi se’, e s’io non ti disbrigo, / al fondo de la ghiaccia ir mi convegna»“).³⁰⁴ Als der Angesprochene
Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. f.: „Die Kunst Dantes dient dem richtenden Recht, und das Recht leuchtet umso reiner, je tiefer die Kunst ihre Schöpfung dem Orte opfert, an den sie sie stellt“. Siehe auch die Fragen, die Hartmut Köhler, Dante Alighieri. La Commedia – Die Göttliche Komödie, Band I, , S. f., an die Stelle richtet: „Konnte denn eine verstorbene Seele in der Unterwelt überhaupt körperlich berührt werden, wo es doch sonst nur leere Schatten waren? Sodann aber: Hat der Wanderer nicht an dieser Stelle zum ersten (und zum letzten) Mal sich körperlich an einem Verdammten vergriffen? (…) Warum wird der Wanderer selbst grausam? Muss man hier von einer Verfehlung sprechen? Wenn ja, ist diese Verfehlung eine narrativ-ästhetische oder eine moralische oder beides? Oder ist der Erzähler doch nur konsequent und passt die Handlung seines Protagonisten dem höheren Grad von Verworfenheit des verurteilten Verbrechers an? Aber warum dann die Handgreiflichkeit nur gegenüber diesem einen? (…)“. Vittorio Hösle, Dantes Commedia und Goethes Faust. Ein Vergleich der beiden wichtigsten philosophischen Dichtungen Europas, , S. f. diagnostiziert zutreffend, dass ein (uneingestandener) „Grund die rasche Zunahme an Dante-Studien in den letzten Jahrzehnten (…) das Gefühl ist, dass leider Dantes dunkle politische Anthropologie nicht in die entfernte Vergangenheit verdrängt werden kann und dass die Ungeheuerlichkeiten, die er beschreibt, mehr Licht auf die Geschichte des gewalttätigsten aller Jahrhunderte werfen, nämlich des zwanzigsten (…)“. Inferno, XXXIII, – (Übersetzung Philalethes).
13. Pervertierung des Gerechtigkeitssinns?
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daraufhin sagt, wer er ist, fühlt Dante sich an sein Wort nicht mehr gebunden, als dieser ihn vereinbarungsgemäß bittet, seine Augen zu befreien: „Und ich öffnet ihm sie doch nicht; / Denn edel wars, zum Schelm an ihm zu werden“ („E io non gliel’ apersi; / e cortesia fu lui esser villano“).³⁰⁵ Dante hat sein Gegenüber als Verräter erkannt und glaubt nun, einem Verräter gegenüber seinerseits wortbrüchig werden zu dürfen. Mehr noch: er sieht es als Zeichen seines Edelmuts, den Verräter zu verraten. Bei unbefangener Betrachtung dieser Stelle könnte man annehmen, dass Dantes Gerechtigkeitssinn auf das tiefste korrumpiert werde.³⁰⁶ Der Mechanismus, der bereits weiter oben ansatzweise begegnete, wirkte hier von neuem und auf moralisch tieferer Stufe: aus dem Streben nach Gerechtigkeit wird Selbstgerechtigkeit. Dieser Verrat am Verräter wäre dann zugleich Verrat an seiner eigenen christlichen Gesinnung. Der Gleichlauf mit dem Vergehen – Verrat wird durch Verrat gesühnt – gehorchte hier nicht mehr dem Prinzip des contrapasso, sondern führte dazu, dass der Beobachter sich mit dem Delinquenten regelrecht gemein machte und sich ihm gegenüber dadurch zugleich in selbstgerechter Weise moralisch überlegen fühlte. Der Gang durch die Hölle hätte nach dieser Lesart auch den Gerechtigkeitssinn des sie durchwandernden Dantes abstumpfen lassen. Die trost- und erbarmungslose Umgebung hätte seinen Gerechtigkeitssinn pervertiert.
c) Konvaleszenz kraft cortesia Aber je mehr man darüber nachdenkt, desto deutlicher wird, dass das Werturteil, wonach es ein Ausdruck der cortesia war, den Verräter grob zu behandeln, von dem Dichter Dante und nicht dem Pilger Dante gefällt wurde, wie sich aus dem Wortlaut (‚fu‘) ergibt.³⁰⁷ Damit erhebt sich jedoch die Frage, wie sich die eingangs
Inferno, XXXIII, f. (Übersetzung Philalethes); zum Begriff der ‚cortesia‘ siehe Hermann Gmelin, La cortesia nella Divina Commedia, Romanische Forschungen, LIV (), . So noch die erste Auflage dieser Schrift. Vittorio Hösle, Dantes Commedia und Goethes Faust. Ein Vergleich der beiden wichtigsten philosophischen Dichtungen Europas, , S. Fußnote , der dies dem in der Vorauflage vertretenen Standpunkt überzeugend entgegenhält. Zur moralischen Zuwiderhandlung des Verrats Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das . Jahrhundert, , S. , wonach Dante den Verrat „zu Recht im tiefsten Höllenkreis bestraft werden lässt“. Aufschlussreich vor diesem Hintergrund auch ebenda, S. , zu Dantes Verortung des CäsarMörders Brutus in Inferno, XXXIV, : „Seine moralische Bewertung durch Dante, der ihn mit Cassius und Judas im letzten Höllenkreis von Luzifer persönlich zerkaut werden lässt, ihn also zu den drei schlimmsten Gestalten der Geschichte rechnet, ist gewiss nicht gerecht“.
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diagnostizierte Abstumpfung in der Kältehölle zu dem abschließenden Werturteil verhält.
aa) Perspektivischer Wechsel innerhalb der Terzine Womöglich kann hier der systematische Standort weiterhelfen. Dante spricht zunächst (XXXIII, 115 ff.) in direkter Rede als Pilger. Die ungezügelte Vehemenz der barschen, direkten Ansprache ist geradezu Ausdruck seines noch unvollkommenen Gerechtigkeitssinns. Das abschließende Urteil hingegen fällt der Dichter Dante schließlich in XXXIII, 150. Es scheint zwar untrennbar verbunden mit dem im vorangehenden Vers, der den subjektiven Bezug (‚io‘) der Rede des Pilgers zur Geltung bringt. So mag es erklärungsbedürftig anmuten, dass sich der perspektivische Wechsel innerhalb eines Satzes vollzieht, währenddessen Dante zunächst als Pilger spricht, sodann als Dichter richtet.³⁰⁸ Doch steht die resümierende Aussage nicht von ungefähr in einem neuen Vers. Dieser enthält gleichsam eine Heilung, eine Konvaleszenz, die der Dichter Dante von höherer Warte aus verfügt.³⁰⁹
bb) Cortesia als Schlüsselbegriff des Wertssystem Dantes Dafür spricht auch die bewusste Verwendung des für Dante zentralen Begriffs der cortesia: ‚e cortesia fu lui esser villano‘. Die cortesia ist nämlich ein Schlüsselbegriff im Wertsystem Dantes, dessen eigentliche Bedeutung sich erst im Paradiso enthüllt.³¹⁰ So wird auf diesem tiefsten Höllengrund zugleich schon ebenso unausgesprochen wie vielversprechend auf die Wertordnung des Paradiso verwiesen:³¹¹ „Die Dinge samt und sonders stehen / In Ordnung unter sich, und eben sie ist / Die Form, durch die das Weltall Gott wird ähnlich“ („Le cose tutte quante / hanno ordine tra loro, e questo è
Zu dieser Frage bereits in der Einleitung. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, , Band , § , hält dem pointiert entgegen: „Im Himmel mag dergleichen der Brauch und lobenswert sein; ich weiß es nicht: aber auf Erden heißt wer so handelt ein Schuft“. Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , , , , , der cortesia folgerichtig mit ‚Gnade göttlicher Hochherzigkeit‘ übersetzt (S. ); dazu auch die Besprechung von Jens Petersen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (), . Zur Cortesia auch Erminia Maria Dispenza Crimi, „Cortesia“ e „Valore“ dalla traduzione a Dante, . Ähnlich insoweit Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. , wonach sich der Wandernde „in der notwendigen Kälte des Herzens vollendet“. Zum . Gesang siehe nur Raffaele Garofalo, Il canto XXXIV dell’Inferno, ; Giovanni Busnelli, I tre colori del Lucifero dantesco, ; Salvatore Frascino, La terra dei giganti e il Lucifero dantesco, La Cultura XII (), .
14. Kritik des Gerechtigkeitssinns
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forma / che l’universo a Dio fa simigliante“).³¹² Dieses Ordnungsgefüge geriete ins Wanken, wenn auch nur eine seiner – eben auch moralischen – Bedingungen entfielen, sei es im Himmel oder auf Erden: „Und wenn von gradem Weg mehr oder minder / Sie wiche, würde manches in der Ordnung / Der Welt ermangeln, unten so wie droben“ („E se dal dritto più o men lontano / fosse ʼl partire, assai sarebbe manco / e giù e sù de l’ordine mondano“).³¹³
14. Kritik des Gerechtigkeitssinns Indem Dante die ihm widerfahrenen Ungerechtigkeiten immer wieder ins Gedächtnis ruft, verdeutlicht er zugleich auch die Unmaßgeblichkeit seines eigenen Urteils im Vergleich zur göttlichen Gerechtigkeit. So ist die scheinbar aufdringliche Selbstgerechtigkeit in Wahrheit eher die Kritik seines eigenen als beschränkt erkannten Gerechtigkeitssinns. Nur durch diese Brechungen wird die Gerechtigkeitsvorstellung, die sich in der Göttlichen Komödie abbildet, erträglich.Würde sich Dante in seiner ganzen selbsterkannten Bedingtheit und Fehlbarkeit von vornherein ausklammern, dann würde die in der vorgeblichen Objektivität liegende Anmaßung nicht nur potenziert, sondern letztlich der mangelnde Gerechtigkeitssinn des Urteilenden evident. Gerade der ins Auge fallende Subjektivismus bewahrt die Commedia davor, eine scheinbar objektive Gerechtigkeitsvorstellung vorzugeben, die nur als unerhebliche Spekulation abgetan werden könnte.³¹⁴ Zugleich erscheint der für den Betrachter und Leser mitunter wankelmütig anmutende Gerechtigkeitssinn des Wanderers Dante als eine Variable innerhalb einer konstant gerechten und in sich ruhenden Umgebung. Hier wird die Gespaltenheit des um die gerechte Ordnung wissenden Dichters und des sich daran
Paradiso, I, – (Übersetzung Philalethes); zu den (rechts)philosophischen Einflüssen dieser Vorstellung Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , : „Wenn auch in der ‚Göttlichen Komödie‘ und vor allem im ‚Paradies‘ größere Kenntnis der thomistischen Lehre durchschimmert als im ‚Gastmahl‘ und in der ‚Monarchia‘, so dringt sie doch nicht bis zu rechtsphilosophischen Ideen fort“. – Aber womöglich ist der rechtsphilosophische Gehalt dieser Terzine doch größer, als dort angenommen. Paradiso, X, – (Übersetzung Philalethes). Dagegen spricht auch nicht das hellsichtige obiter dictum von Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. f., wonach „man einen so alten und von Geschichte beladenen Text nicht anders behandeln sollte als den eines sehr alten, aber noch immer geltenden Rechtssatzes, der längst anders gedeutet werden muss als die bewusste Absicht des Gesetzgebers es wollte.“ – Denn dies ist nichts anderes als der auf die Hermeneutik angewandte Satz der juristischen Methodenlehre „cessante ratione legis cessat lex ipsa“.
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orientierenden Wanderers besonders deutlich: Gerade sein sich durch Einübung und Einweisung in die göttliche Ordnung schärfender Gerechtigkeitssinn sichert das Interesse des Lesers; ohne ihn wäre die Commedia schon im Inferno, umso mehr im Purgatorio und erst recht im Paradiso einförmig.³¹⁵ Ins Positive gewendet bedeutet dies: Der im Inferno geschärfte und im Purgatorio gereinigte Gerechtigkeitssinn, ermöglicht den Sinneswandel, der ins Paradiso führt. Die Wandlungen, Anfechtungen und Zurechtweisungen, denen der Gerechtigkeitssinn ausgesetzt ist, erweisen sich gleichsam als Imprägnierung seines Sinnes für das rechte Maß, die den von Vergil, später Beatrice und schließlich durch den hl. Bernhard von Clairvaux³¹⁶ geführten Dante überhaupt erst befähigen, die Ordnung des Paradiso zu durchschauen.³¹⁷
Man denke nur an Schillers Brief an Goethe vom . . , wonach „Dantes Himmel auch viel langweiliger als seine Hölle ist“. Ähnlich Rilke im Brief an Karl von der Heydt vom . . („ist nicht Dante sogar ein Beweis dafür, dessen Paradiso von so hülflos aufgehäufter Seligkeit erfüllt ist…“); näher Eva Hölter, Der Dichter der Hölle und des Exils. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption, , S. ; außerdem Horst Rüdiger, Dante als Erwecker geistiger Kräfte in der deutschen Literatur, Festschrift für Richard Alewyn, , S. ff. Zu ihm Steven Boterill, Dante and the Mystical Tradition: Bernhard von Clairvaux in the „Commedia“, . Auch hier gilt die zutreffende Beobachtung von Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. , wonach man die Göttliche Komödie „entgegen dem äußeren Ablauf der Lektüre im inneren Bedenken vom Paradiso her lesen muss“. Ähnlich Eugen Biser, Nietzsche und Dante. Ein werkbiographischer Strukturvergleich, Nietzsche-Studien (), , : „Dantes aporetische Lebenskrise ist (…) aus der Retrospektive der Überwindung beschrieben, zu der er sich, durch seine Vision einsichtig geworden, ‚geführt‘ sieht. Insofern ist das Ganze, einschließlich der im Eingangsbild entworfenen ‚Startsituation‘, ganz vom Ziel her entworfen“.
II. Purgatorio Wenn überhaupt im bisherigen Schrifttum der spezifisch rechtsphilosophische Gehalt der Göttlichen Komödie ausgemessen wurde, so war es vor allem das Inferno, das die Gemüter bewegte.³¹⁸ Verfehlung und Vergeltung werden dort so schillernd und sinnfällig beschrieben, dass der Gerechtigkeitsgehalt der Strafe ungeachtet ihrer Härte überdeutlich wird, weil die Bestrafung Furcht und das Verbrechen entsprechenden Abscheu erregt. Vergleichsweise subtiler verhält es sich im Purgatorio.³¹⁹ Dieses in rechtsphilosophischer Hinsicht ausgeleuchtet zu haben,³²⁰ ist nicht zuletzt das Verdienst Allan Gilberts, der bereits im ersten Viertel des vergangenen Jahrhunderts einen Mangel der bisherigen Forschung darin erblickt – und dann sogleich selbst behoben – hat, dass die herkömmlichen Deutungen des Purgatorio³²¹ ein Gerechtigkeitsprinzip vermissen ließen, das durch diesen buchstäblich zentralen Teil der Göttlichen Komödie führen könne.³²² Als ein solches Prinzip kann gewiss noch nicht die eher deskriptive Annahme angesehen werden, dass die Strafe im Purgatorio als hoffnungsvolle Wohltat begriffen wird, wohingegen sie im Inferno als verdientes Leiden erscheint.³²³ Vielmehr kann man eher von einem „Prinzip der fehlgeleiteten Liebe“ sprechen, welches das Purgatorio systematisch durchwirkt.³²⁴
Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , widmet sich zwar in besonderer Weise der Francesca-Episode des Inferno (V.), bildet aber gleichwohl die rühmliche Ausnahme von dem im Text genannten Grundsatz, weil er – entsprechend dem Titel seiner Abhandlung – die gesamte Göttliche Komödie in den Blick nimmt und seine Feststellungen daher auch ausnahmslos – wenngleich mitunter muatis mutandis – für das Pugatorio und Paradiso Geltung beanspruchen können. Dazu Francis Fergusson, Dante’s Drama of the Mind. A Modern Reading of the Purgatorio, ; Eugen Biser, Bilder der Buße. Betrachtungen über Dantes Purgatorio, Wort und Antwort (), ff. Widersprüche im Strafensystem sieht Theodor Paur, Dante’s Sündensystem, Archiv für das Studium der neuern Sprachen und Literaturen XXXVIII (), , zwischen dem . Gesang des Inferno und dem . des Purgatorio – ob zu Recht, mag hier dahinstehen. Allgemein dazu Paolo Perez, I Setti Cerchi del Purgatorio di Dante, ; siehe auch Prue Shaw, Reading Dante, , S. . Siehe aber auch die moralphilosophische Vorarbeit von Giovanni Busnelli, L’ordinamento morale del Purgatorio dantesco, . Auflage . Siehe aber auch Francis Fergusson, Dante’s Drama of the Mind. A Modern Reading of the Purgatorio, . Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. vi. Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , . Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , mit der erhellenden Erläuterung: „Es fehlt diesem more geometrico entwickelten System vor allem eine
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1. Der contrapasso als Neutralisierung des bösen Willens Der contrapasso durchzieht nicht nur das Inferno sondern auch das Purgatorio.³²⁵ Während die Sünder dort auf ewig verdammt sind,³²⁶ können sie hier auf Läuterung hoffen, und zwar entsprechend der Mesotes-Lehre des Aristoteles, nach der das Gute die Mitte zwischen zwei Extremen ist.³²⁷ Auch in der Monarchia folgt Dante „dem Philosophen in der Nikomachischen Ethik“, d. h. Aristoteles.³²⁸ Deutlicher auf die Gerechtigkeit hin bezogen findet sich dies an einer späteren Stelle der Monarchia, wo Dante voraussetzt, dass die Gerechtigkeit ihrer Natur nach ein rechter Maßstab ist, der das Unrechte zu beiden Seiten hin von sich abstößt.³²⁹ Im Purgatorio besteht der contrapasso darin, dass der Sünder auf einen Zustand verwiesen ist, der seinem sündigen irdischen Willen diametral entgegengesetzt ist.³³⁰ Diese gegenteilige Willensrichtung neutralisiert allmählich den ursprünglichen Willen zur bösen Tat und führt den Täter so zur Mitte, also zum Guten.³³¹ Auch dieser Prozess gründet „auf schärfster Rationalität“.³³² Geahndet wird hier wie dort die „Verletzung des ewigen Gesetzes, also des rechtsetzenden Seinsgrundes“.³³³ Die Strafen im Purgatorio sind also den Sünden entgegengesetzt, die sie bestrafen.³³⁴ Wiederum geschieht dies, insofern nicht anders als im Inferno, auf eine allegorische Weise.³³⁵ Auch hier wird der Gerechtigkeitssinn
Einsicht in das, was man christliche Anthropologie nennen könnte.“ – Hieran lässt sich im Übrigen eine geistesgeschichtliche Linie bis hin zu Pascal ersehen; zur jeweiligen Gerechtigkeitskonzeption auch Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, . Zum Purgatorio insbesondere Ernst Troeltsch, Der Berg der Läuterung. Rede zur Erinnerung an den . Todestag Dantes, . Allgemein zum Contrapasso Justin Steinberg, Dante’s Justice? A reappraisal of the Contrapasso, L’Alighieri (), . Zum theologischen Hintergrund ewiger Höllenstrafen vor dem Hintergrund der patristischen Literatur Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, , S. . Näher Otfried Höffe, Aristoteles, . Auflage , S. ff. Dante Alighieri, Monarchia, I, iii, . Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, (Übersetzung Ruedi Imbach): „quod iustitia, de se et in propria natura considerata, est quedam rectitudo sive regula obliquum hinc inde abiciens“. Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. : „law of the contrary penalty“. Siehe auch Edward Moore, Unity and symmetry of design in the Purgatorio, Studies in Dante, Second Series, , ff. Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Raffaello Fornaciari, Sulle pene assegnate da Dante alle anime del Purgatorio, Giornale Dantesco (), (= Studi su Dante, , ff.). Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. : „Or, allegorically, the penitent is diametrcally opposed in his desires to the sinner“.
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vernunftmäßig geprägt und verfeinert, indem er von blinder Rache gereinigt wird.³³⁶ Interessanterweise betont auch die moderne Theologie den positiven Sinn des Fegefeuers, den Joseph Ratzinger gleichsam negatorisch gegenüber möglichen Missverständnissen mit einem Bild abgegrenzt hat: „Es ist nicht eine Art von jenseitigem Konzentrationslager (wie bei Tertullian), in dem der Mensch Strafen verbüßen muss, die ihm in einer mehr oder weniger positivistischen Weise zudiktiert sind.“³³⁷ Die in dem Relativsatz zum Ausdruck kommende juridische Diktion steht in einem aufschlussreichen Spannungsverhältnis zu der Sicht Dantes. Der Dichter diktiert durchaus Strafen zu, doch dienen sie der Läuterung, indem sie dem Delinquenten die Gegenrichtung vorgeben, aus deren Vollzug heraus er gnadenfähig wird.³³⁸ Dantes Gerechtigkeitssinn bringt eine konstruktive Vision hervor, die sich nicht in der Negation der Strafe erschöpft.
2. Läuterung des Gerechtigkeitssinns Das gesamte Purgatorio ist von einer Einsicht der Seelen in das eigene Unrecht geprägt.³³⁹ Den Anfang macht Dantes Freund Casella, der ihm entgegnet:³⁴⁰ „Mir geschah kein Unrecht, / wenn er, der, wen und wann er will, davonführt, / Mir mehrmals hat die Überfahrt verweigert;³⁴¹ / Denn aus gerechtem Willen kommt der seine“ („Nessun m’è fatto oltraggio, / se quei che leva quando e cui li piace, / più volte m’ha negato esto passaggio; / ché di giusto voler lo suo si face“).³⁴² Dante fasst diese Läuterung als neues Gesetz (nuova legge) auf,³⁴³ was freilich zugleich die Erlösung der Menschheit im Neuen Bund mit Christus bedeutet.³⁴⁴ Der gött Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, , S. , versteht die Läuterung im philosophischen und nicht im theologischsakramentalen Sinne. Joseph Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben, , . Auflage , S. . Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. : „Dante’s answer is that these sufferings countercact man’s tendency to evil, and keep him disciplined for the good life“. Es ist der „Weg der klärenden Bilder“; Eugen Biser, Der inwendige Lehrer. Der Weg zu Selbstfindung und Heilung, , S. . Dazu Ermenegildo Pistelli, Il canto di Casella, ; Giuseppe Lipparini, Il canto II del Purgatorio, Studi critici in onore di G. A. Cesareo, , ff.; Dario Arfelli, Il canto dell’angelo nocchiero e di Casella, Annuario R. Liceo Galvani, /, S. ff. Entsprechend Vergil, Aeneis,VI, : „Navita sed tristis nunc hos nunc accipit illos / Ast alios longe submotos arcet arena“. Purgatorio, II, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, II, . So schon Purgatorio, I, („quella legge“); vgl. Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. , .
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liche Wille ist auch hier das Gesetz, dessen Vollzug Recht und Unrecht voneinander scheidet. Der göttliche Richtspruch ist demnach aus sich heraus gerecht. Demjenigen, der auf Erden dem göttlichen Gesetz zuwider gehandelt hat, kommt im Jenseits zunächst die Aufgabe zu, die eigene Verfehlung als solche zu erkennen und ihr sodann reuig und das Gute wollend entgegenzuwirken.
a) Kardinaltugend der Gerechtigkeit Der dritte Gesang offenbart, dass sich auch Dantes Gerechtigkeitssinn geläutert hat:³⁴⁵ „Indes die Flucht, die plötzliche, durchs Blachfeld / Zerstreut die andern hatte, die zum Berge, / Wohin Vernunft uns spornt, sich wieder wandten, / Schloß ich mich an dem sicheren Geleite“ („Avvegna che la subitana fuga / dispergesse color per la campagna, / rivolti al monte ove ragion ne fruga, / i’ mi ristrinsi a la fida compagna“).³⁴⁶ Was hier mit ‚Vernunft‘ übersetzt wurde, lässt verschiedene Deutungen zu.³⁴⁷ Das italienische Wort ‚ragion‘ kann im gleichen Sinne wie ‚diritto‘ als Recht – bei Dante demnach: göttliches Recht – verstanden werden.³⁴⁸ Das entspricht dem Gebrauch des Wortes im Inferno; dort wird ‚giustizia‘ gleichbedeutend verwendet.³⁴⁹ So verfährt letztlich auch die hier zugrunde gelegte Übersetzung. Die Gegenmeinung verweist auf Thomas von Aquin³⁵⁰ und begreift ‚ragion‘ hier als Vernunft.³⁵¹ Das ist deshalb nicht fernliegend, weil hier zugleich Vergil als der die Vernunft verkörpernde Begleiter erscheint.³⁵²
Dazu Pietro Amoroso, Il canto III del Purgatorio, ; Domenico Marino, Il canto di Manfredi nella Divina Commedia, ; Manfredi Porena, Purgatorio III, La mia Lectura Dantis, ; P. Davide Egizii, Il terzo canto del Purgatorio, ; Giuseppe Longo, Il canto di Manfredi, La Nuova Critica I (/), ff.; Michele Scherillo, Manfredi, Con Dante e per Dante, ; Luigi Milella, Re Manfredi, Conferenza sul III canto del Purgatorio, . Purgatorio, III, – (Übersetzung Philalethes). Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , versucht hier eine klare Trennung, wie S. Anmerkung nahelegt: „There is no comprehensive study of Dante and the law. For Dante and justice, however, see (…)“. Seines Erachtens verlaufen die Grenzen „Beneath the Law“, S. ff., „Beyond the Law“, S. ff., „Above the Law“, S. ff., „Beside the Law“, S. ff. – Ihm ist es damit immerhin gelungen, den Rechtsstoff zeithistorisch aufzubereiten und topisch zu ordnen, auch wenn dieses Ordnungsprinzip gewiss nicht alternativlos ist. Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. . Inferno, XXX, : „La rigida giustizia che mi fruga“. Thomas von Aquin, Summa theologica, III, , . Giulio Augusto Levi, Il canto terzo del Purgatorio, Convivium IV (), , .
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Letztlich widersprechen sich die beiden Deutungen vor diesem Hintergrund weniger, als es den Anschein hat: Denn der die Vernunft personifizierende Vergil, der von aus Dantes Sicht schwer verständlichen Gewissensbissen geplagt wird,³⁵³ wirkt auf diese Weise auf Dantes Gerechtigkeitssinn ein. Vergil stellt der christlichen Heilsgewissheit die platonische und aristotelische Lehre gegenüber:³⁵⁴ „Den Aristoteles mein ich und Plato / Und viel andr’“ („Io dico d’Aristotile e di Plato / e di molt’ altri“).³⁵⁵ In diesem Sinne dürfte wohl auch die auf die irdische Gerechtigkeit gemünzte Sicht Dantes zu verstehen sein, die er in der Monarchia zugrunde legt,³⁵⁶ wenn er zu bedenken gibt, dass die Gerechtigkeit dort am mächtigsten ist, wo sie am geringsten mit ihrem Gegenteil vermischt ist.³⁵⁷ Die Erwähnung Platos ist hier nicht nur erkenntnistheoretisch interessant, sondern ruft auch seine Lehre von den Kardinaltugenden in Erinnerung.³⁵⁸ Die Gerechtigkeit als eine der vier Tugenden bestimmt und bezeichnet das rechte Maß der drei anderen Kardinaltugenden der Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit.³⁵⁹ Im Zusammenhang mit Dantes Einordnung Platos ist auch Nietzsches Einschätzung aus der Götzen-Dämmerung bemerkenswert, wo er Dante zunächst bezeichnet als „Hyäne, die in Gräbern dichtet“, dann aber vielsagend bekennt: „Solche dogmatischen Menschen wie Dante und Plato sind mir am fernsten und dadurch am reizvollsten.“³⁶⁰ Das ist – mit den auch aus rechtsphilosophischer Sicht aufschlussreichen Worten Eugen Bisers – letztlich der „Vorwurf der Systemimma-
Enigmatisch Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, (Gesammelte Essays – , . Auflage , S. , , Übersetzung Ralph Dutli): „In Dantes Verständnis ist der Lehrer jünger als der Schüler denn er ‚läuft schneller‘“. Purgatorio, III, . Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund Georg Wieland, Plato oder Aristoteles? Überlegungen zur Aristoteles-Rezeption des Lateinischen Mittelalters, Tijdschrift voor Filosofie (), . Purgatorio, III, f. (Übersetzung Philalethes); siehe auch Rudolf Palgen, Das platonische Fundament des Paradiso, Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse (), ff. Siehe auch Wolfram von den Steinen, Der gedankliche Aufbau von Dantes Monarchie, Deutsches Dante-Jahrbuch (), . Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, (Übersetzung Ruedi Imbach): „Ubi ergo minimum de contrario iustitie admiscetur et quantum ad habitum et quantum ad operationem, ibi iustitia potissima est“. Dazu auch William Henry Vincent Reade, The Moral System of Dante’s Inferno, (Neudruck ), S. ff. Zum vorliegenden Zusammenhang auch Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung. Steifzüge eines Unzeitgemäßen, § .
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nenz“.³⁶¹ Wenn Nietzsche an Dante gerade das Dogmatische reizt, was angesichts gleichsinniger Äußerungen in seinem Werk nicht verwundert,³⁶² dann kann man dem zugleich entnehmen, dass er nicht zuletzt die strenge Rationalität der Zuweisung des jenseitigen Schicksals im Blick hatte.
b) Unberechenbarkeit der Gesetzgebung Zunächst sieht es so aus, als mäßige sich auch Dantes Gerechtigkeitssinn. Jedoch verflucht er im sechsten Gesang³⁶³ den herrschsüchtigen Albrecht von Habsburg:³⁶⁴ „Ein recht Gericht fall aus den Sternen nieder / Auf dein Geschlecht, und unerhört und klar sei’s, / Daß dein Nachfolger Furcht darob empfinde;“ („giusto giudicio da le stelle caggia / sovra ’l tuo sangue, e sia novo e aperto, / tal che ’l tuo successor temenza n’aggia!“).³⁶⁵
aa) Ungerechtigkeit der florentinischen Verhältnisse In gleichem Sinne bricht wiederum jäh die Wunde der von Seiten seiner Heimatstadt Florenz erlittenen Ungerechtigkeit auf, die ihn wiederum den Sinn für Maß und Mitte verlieren lässt: „O mein Florenz, zufrieden kannst mit dieser / Abschweifung du wohl nicht sein, die dich nichts angeht, / Danks deinem Volk, das so viel Kluges aussinnt. / In manchem wohnt Gerechtigkeit, doch spät geht / Sie los, weil er mit Vorsicht spannt den Bogen, / Doch auf der Zungenspitze hat dein Volk sie.“ („giusto giudicio da le stelle caggia / sovra ’l tuo sangue, e sia novo e aperto, / tal che ’l tuo successor temenza n’aggia!“).³⁶⁶ Die nun folgende sarkastische Schmährede nimmt nicht von ungefähr die florentinischen Gesetze aufs
Dazu Eugen Biser, Nietzsche und Dante. Ein werkbiographischer Strukturvergleich, Nietzsche-Studien (), , . Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches, I f.; dazu Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, . Auflage . Zu ihm Angelo Tomaselli, Il canto della passione italica, Rivista d’Italia XXVI (), ff.; Felice Tocco, Il canto VI del Purgatorio, Nuova Antologia ; B. Giuliano, L’invettiva e l’utopia dantesca, Rivista d’Italia XXVI (), . Da dieser in der Folge wirklich ermordet wird, spricht Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. ,von einem „Beispiel der Danteschen Prophezeihungen ex eventu“. Purgatorio, VI, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, VI, – (Übersetzung Philalethes); ähnlich Inferno, XXVI, ff.
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Korn.³⁶⁷ Dante wendet sich vor allem gegen die in Florenz seinerzeit grassierende ad-hoc-Gesetzgebung: „Athen und Lacedämon, die, der alten / Gesetze Mütter, so geregelt waren, / Sie geben gegen dich geringe Probe / Der Wohlfahrt nur, die du so fein erdachte / Satzungen machst, daß bis Novembers Mitte / Nicht reicht, was im Oktober du gesponnen“ („Atene e Lacedemona, che fenno / l’antiche leggi e furon sì civili, / fecero al viver bene un picciol cenno / verso di te, che fai tanto sottili / provedimenti, ch’a mezzo novembre / non giugne quel che tu d’ottobre fili“).³⁶⁸ Nicht von ungefähr nennt Dante „Novembers Mitte“, weil um diese Zeit im Jahre 1301, genauer: am 8. November, Karl von Valois in einer für Dante folgenreichen Weise in die Geschichte der Stadt Florenz eingriff, indem er die erst am 15. Oktober eingesetzten Prioren absetzte und damit die Rahmenbedingungen für die Verbannung Dantes schuf.³⁶⁹
bb) Rechtstheoretische Einsicht aus gekränktem Gerechtigkeitssinn Hieran lässt sich beispielhaft ersehen, wie Dantes gekränkter Gerechtigkeitssinn die empfundenen Ungerechtigkeiten einerseits nicht vergisst, andererseits aber in eine rechtstheoretische Einsicht zu fassen weiß. Die Wankelmütigkeit der Gesetzgebung ist für ihn augenfälliges Zeichen eines zuinnerst verdorbenen und korrupten Staatswesens.³⁷⁰ Das geradezu immanente Verfallsdatum, das die eben erst erlassenen Gesetze in sich tragen, erinnert an das taciteische Verdikt „corruptissima re publica plurimae leges.“³⁷¹ Die Halt- und Richtungslosigkeit der
Richard Clark Sterne, Dark Mirror. The Sense of Injustice in Modern European and American Literature, , S. . Purgatorio, VI, – (Übersetzung Philalethes); die Stelle bezieht sich wohl auf Justinian, Institutionen, I, , : „Origo eius ab institutis duarum civitatium, Athenarum scilicet et Lacedaemonis, fluxisse videtur“; dazu Okko Behrends, Gesetz und Sprache. Das römische Gesetz unter dem Einfluss der hellenistischen Philosophie, in: Institut und Prinzip. Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen. Ausgewählte Aufsätze (Hg. Martin Avenarius/Rudolf Meyer-Pritzl/Cosima Möller), , Band , S. , . Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. . Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, (Gesammelte Essays – , . Auflage , S. , f., Übersetzung Ralph Dutli) hat dies auf die Sprache übertragen: „Die alte italienische Grammatik ist genau wie unsere russische Sprache (…) eine bunte toskanische schiera, die florentinische Menschenschaar, die Gesetze wie Handschuhe wechselt und gegen Abend schon vergisst, was sie am Morgen zum Allgemeinwohl erlassen hat“. – Hieran wird beiläufig auch ein wichtiger Zusammenhang zwischen Recht und Sprache hergestellt, der auch auf Dante zutrifft, wie sich im Paradiso noch erweisen wird. Publius Cornelius Tacitus, Annales, III am Ende.
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Gesetze ist Ausdruck eines sittenlosen Gemeinwesens, das Ämter verschachert und die persönliche Bereicherung zum Prinzip erhebt:³⁷² „Wie oft hast du, soweit zurück du denkest, / Gesetz’ und Münz’ und Obrigkeit und Sitte / Gewechselt und erneuert deine Glieder“ („Quante volte, del tempo che rimembre, / legge, moneta, officio e costume / hai tu mutato, e rinovate membre!“).³⁷³ Indem Dante seine Heimatstadt personifiziert und scheinbar vertraulich anspricht („O mein Florenz, du“), enthüllt er die Ungerechtigkeiten, die dort grassierten. Jedoch verharrt Dante nicht bei der erlittenen Ungerechtigkeit. Vielmehr entspricht es gerade im Purgatorio der inneren Zielrichtung des Werks,³⁷⁴ dass er durch die entgegengesetzte Willensrichtung eine konstruktive Einsicht aus der widerfahrenen Ungerechtigkeit ableitet, die geeignet ist, das Rechtsbewusstsein seiner Zeit und zugleich über die Zeiten hinaus zu heben.
cc) Deszendenz des Rechtsbewusstseins Hermann Conrad hat dies historisch, rechtsphilosophisch und geistesgeschichtlich eingeordnet, indem er die politischen Gegebenheiten mit der Deszendenz des Rechtsbewusstseins in Einklang brachte, die auf Dante wirkte:³⁷⁵ „Dante, der größte Dichter Italiens, hat auch die ewige Frage nach Recht und Gerechtigkeit gestellt. Ja, er ist sogar zum leidenschaftlichen Kämpfer um Recht und Gerechtigkeit geworden. Die zerrütteten politischen Verhältnisse Italiens, die vielfältigen Ungerechtigkeiten und Gewalttaten in Staat und Kirche, selbst bei den Häuptern der Christenheit, und der allgemeine Niedergang des Rechtsgefühls ließen den Dichter zum leidenschaftlichen Rufer nach einem wahren Recht und einer wirklichen Gerechtigkeit werden.“³⁷⁶
Zur folgenden Stelle Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , S. : „When (…) Dante compares Florence to a sick woman who changes ‚legge, moneta, officio e costume‘ (law, coins, offices and customs; ) every time she tosses or turns in bed, he targets not the arbitrary suspension of the law but the arbitrariness of the laws themselves“; dazu auch die Anmerkung auf S. : „Dante’s own conviction was, after all, perfectly legal from a procedural standpoint“. Purgatorio, VI, – (Übersetzung Philalethes). Im Folgenden vergleicht Dante das seines Erachtens kranke Staatswesen mit einem kranken Körper (Vers ); für Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. ist es „eines jener treffenden Bilder, die Dante unmittelbar aus dem Leben geschöpft zu haben scheint“. Zur Einordnung Rudolf Palgen, L’origine del Purgatorio, ; dazu Rosanna Bettarini, Studi Danteschi (), . Siehe dazu auch Francesco Eccole, Il pensiero politico di Dante, Bände, /. Hermann Conrad, Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, , S. ; Hervorhebung nur hier. Siehe auch die transzendierende Sichtweise von Richard Schmidt,
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Dieser Widerstreit zwischen dem auf einem moralischen Tiefpunkt angelangten kollektiven Rechtsgefühl und Dantes eigener hoher Idee des Rechts spiegelt sich am Beispiel der florentinischen Verhältnisse gerade in der zuletzt behandelten Stelle und lässt Dantes rational gebändigten Sinn für das Rechte temperamentvoll aufkochen. Dante wird hier zum Repräsentanten des Rechtsgefühls seiner Zeit, dessen Niedrigkeit er zugleich vernunftmäßig überwindet.³⁷⁷ In dieser überwundenen Gestalt ist Dantes Gerechtigkeitssinn zugleich Repräsentanz eines entsprechend dem göttlichen Willen geläuterten Gerechtigkeitsempfindens.
3. Gerechtigkeitssinn und Rhetorik Paradoxerweise gerät Dantes Gerechtigkeitssinn durch die heißblütige Tirade wieder ins Gleichgewicht. Seine Erregung über den Gesetzes- und Sittenverfall seiner Heimatstadt kontrastiert aufs Wirksamste mit der inneren Richtung des Purgatorio. Die irdischen Missstände, die Dante anprangert, stehen im Gegensatz zur Läuterung der dort beheimateten Seelen, die nach Höherem streben.
a) Kontingenz des irdischen Gerechtigkeitssinnes Gleichsam wie in Raphaels Philosophenschule von Athen steht der platonischen Ideenlehre, deren Urheber den Arm nach oben erhebt, die aristotelische MesotesLehre an der Seite,³⁷⁸ die auf das irdische Leben gerichtet ist und das Gute und Gerechte als Mitte zwischen zwei Extremen ausmacht.³⁷⁹ Die weiter oben aus-
Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , : „Der philosophische Dichter demonstriert an dem Bild seiner Hölle und seines Läuterungsbergs, wie eine Strafenordnung beschaffen sein muss, damit sie die Autorität einer gerechten Strafrechtsordnung entfalte“. – Allerdings münden diese Stellungnahme und andere vorstehend zitierte Einsichten Richard Schmidts am Ende seiner Abhandlung (ebenda, S. unten, f.) in eine plumpe Anbiederung gegenüber dem nationalsozialistischen Unrechtsregime. Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , : „Wie er nicht Gefühlsethiker ist, so auch nicht Gefühlsjurist“. Harald Schilling, Das Ethos des Mesotes, . Vgl. auch Martin Rhonheimer, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, , S. ; ferner Elisabeth von Roon-Bassermann, Dante und Aristoteles. Das ‚Convivio‘ und der mehrfache Schriftsinn, ; Lorenzo Minio-Paluello, Dante’s Reading of
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drücklich angesprochenen Philosophen Aristoteles und Plato wirken hier mit ihrer jeweiligen Lehre der Gerechtigkeit unausgesprochen fort.³⁸⁰ Dantes Gerechtigkeitssinn ist allenthalben von der irdischen Kontingenz beschränkt und getrübt. Indem er jedoch im Purgatorio selbst eine innere Läuterung erfährt, gewinnt sein Wort über den Gesetzes- und Sittenverfall seiner Zeit und Heimatstadt Gewicht. So wenig seine Rede vergessen macht, dass er als Opfer dieser Ungerechtigkeiten am wenigsten berufen ist, darüber neutral und unbefangen zu richten, so ausgewogen und unbestechlich wirkt sein Gerechtigkeitssinn auf den neutralen Beobachter. Denn auch wenn Dante als befangener Richter keine abgeklärt urteilende Instanz darstellt, gelingt es ihm mit einem rhetorischen Kunstgriff, den Eindruck klarsichtiger Neutralität zu erwecken, welche die legislatorische und moralische Pathologie seiner Heimatstadt erkennt:³⁸¹ „Und wenn du recht besinnst dich, und dirs klar wird, / So wirst du sehn, daß du dem Kranken gleichest, / Der, keine Ruhe findend, auf den Federn / Umher sich wälzend, Schutz sucht vor den Schmerzen.“ („E se ben ti ricordi e vedi lume, / vedrai te somigliante a quella inferma / che non può trovar posa in su le piume, / ma con dar volta suo dolore scherma“).³⁸²
b) Berücksichtigung der Monarchia Diese psychologische und rhetorische Genialität Dantes, mit der er sowohl den Richter als auch den Gerichteten durchschaut, zeigt sich auch in der Monarchia: ³⁸³ „Was den Habitus betrifft, findet die Gerechtigkeit bisweilen im Wollen ihren Gegensatz; denn, wo der Wille nicht von jedweder Begierde frei ist, da befindet sich die Gerechtigkeit, auch wenn sie vorhanden ist, nicht im Glanz ihrer Reinheit. Sie besitzt nämlich ein Subjekt, das ihr in gewisser Weise, wenn auch in geringem Maße, Widerstand leistet. Deswegen werden jene berechtigterweise abgewiesen,
Aristotle, in:The World of Dante: Essays on Dante and His Time (Hg. Cecil Grayson), , S. ff.; Bruno Nardi, Saggi sull’aristotelismo padovano dal secolo XIV al XVI, . Purgatorio, III, ; dazu oben .a. Horst Rüdiger, Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, in: Zeit-Bibliothek der Bücher, Hg. Fritz J. Raddatz, , S. : „Wie man in Florenz über Dante zu Gericht gesessen, ihn verbannt, zum Scheiterhaufen verurteilt und das Urteil zweimal bestätigt hatte, so urteilt er selber in der Dichtung über Lebende und Tote. Kein anderer Dichter hat seine Aufgabe so sehr als Richteramt verstanden wie Dante“. Purgatorio, VI, – (Übersetzung Philalethes). Siehe auch Hubert Stadler, Um die Möglichkeit wissenschaftlicher Politik. Eine Interpretation des ersten Buches von Dantes ‚De monarchia‘, .
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welche versuchen, beim Richter Leidenschaften zu wecken.“³⁸⁴ Die Leidenschaften und Interessen müssen also gleichsam aus der Gerechtigkeit herausdividiert werden.³⁸⁵ Es darf nicht darum gehen, Wirkung beim Richter zu erzeugen, sondern Gerechtigkeit zu verwirklichen. Dante ist nur zu bewusst, dass dieser Verwirklichung immer auch etwas Subjektives anhaftet, zumal da auch der Richter als Organ der Rechtspflege seinerseits Subjekt ist und notwendigerweise subjektiv urteilt.Wer diesen Umstand jedoch allzu ambitioniert auszunutzen sucht, erreicht das Gegenteil.³⁸⁶ Hier findet sich die gerechtigkeitstheoretische Fundierung der strengen und bisweilen hart anmutenden Rationalität des Rechts, deren Verinnerlichung Dantes prophetische Sicht zeigt.³⁸⁷ Es ist interessant, dass Dante diese Überlegung mit einer rechtstatsächlichen Folgerung abrundet, die nicht so sehr Ausweis seiner Lebensklugheit ist als vielmehr eine genuin rechtstheoretische Befähigung verrät. So steht sein nur vermeintlich subjektiver, in Wahrheit aber vernunftmäßig geprägter Gerechtigkeitssinn nicht im Widerspruch zu der von ihm propagierten Leidenschaftslosigkeit des Richtens und der dadurch bewirkten Rationalität des Rechts.
4. Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit Im zehnten Gesang wird die Gerechtigkeit des Kaisers Trajan dialogisch gewürdigt:³⁸⁸ „Und er ihr zu entgegnen: «Warte jetzt noch, / Bis heim ich kehr.» – Und sie darauf: «Mein Gebieter!», / Gleich einem, den der Schmerz beeilt: «Wenn heim du / Nicht kehrst?» – und er: «Wenn dann an meiner Stelle, / Schafft Rache dir?» – und Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, (Übersetzung Ruedi Imbach): „Quantum ergo ad habitum, iustitia contrarietatem habet quandoque in velle; nam ubi voluntas ab omni cupiditate sincera non est, etsi assit iustitia, non tamen omnino inest in fulgore sue puritatis: habet enim subiectum, licet minime, aliqualiter tamen sibi resistens; propter quod bene repelluntur qui iudicem passionare conantur“. Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, , S. , beruft sich – wenn auch nicht im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit – nicht von ungefähr auf Dante (Inferno, VI, ff.): „Jahrhundertelang traten die großen Leidenschaften in der Literatur wie im Denken in enger Verbindung miteinander auf, oft in der Art einer unheiligen Trinität, angefangen mit Dantes ‚Superbia, invidia, avarizia sono / le tre faville ch’anno i chuoriaccessi’ (…)“. Dazu Jens Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, , S. ff. Näher Ernesto Buonaiuti, Dante come profeta, . Zur Rationalität des Rechts auch Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, . Auflage , § . Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , äußert sich wenig begeistert („die Lobreden auf Justinian und den gerechten Trajan sprechen lediglich für lebhafte äußere Berührung mit der Rechtswissenschaft“).
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sie: «Des andern Rechttun, / Was hilft dirs, wenn des eignen du vergissest?» / Darauf er: «Jetzt tröste dich; denn zu erfüllen / Ziemts mir die Pflicht, eh ich von dannen ziehe, / Das Recht erheischts, und Mitleid hält mich zurück»“ („ed elli a lei rispondere: «Or aspetta / tanto ch’i’ torni»; e quella: «Segnor mio», / come persona in cui dolor s’affretta, / «se tu non torni?»; ed ei: «Chi fia dov’ io, / la ti farà»; ed ella: «L’altrui bene / a te che fia, se ’l tuo metti in oblio?»; / ond’ elli: «Or ti conforta; ch’ei convene / ch’i’ solva il mio dovere anzi ch’i’ mova: / giustizia vuole e pietà mi ritene»“).³⁸⁹ Karlheinz Stierle hebt anschaulich den Bezug zum Gerechtigkeitssinn hervor: „So intensiv ist die dargestellte Szene, dass im Auge des Betrachters Dante, oder besser in seiner Vorstellung, ein ganzer Dialog entsteht, in dem Kaiser Trajan seinen kaiserlichen Gerechtigkeitssinn ebenso wie sein menschliches Mitgefühl erweist“.³⁹⁰ Trajans moralische Leistung, die ihn als Heiden gleichwohl für das Purgatorio prädestiniert, besteht darin, dass er den Kriegsruhm der Gerechtigkeit opfert.³⁹¹
a) Recht und Gerechtigkeit Diese Stelle veranschaulicht zugleich, dass Recht und Gerechtigkeit für Dante nicht dasselbe ist.³⁹² So wie er zuletzt am Beispiel seiner verderbten Heimatstadt dargestellt hat, dass Gesetz und Gerechtigkeit einander niemals entsprechen, zeigt sich nun die Divergenz zwischen Recht und Gerechtigkeit. Hier ist jedoch nicht mehr das positive Recht gemeint, das zumindest idealiter identisch ist mit dem natürlichen und göttlichen Recht, wie Hugo Friedrich allgemeingültig festgestellt hat: „Die Göttliche Komödie wahrt diese Identität aller Rechtsformen (ius divinum positivum, ius naturale, ius gentium sive ius humanum) im einen Rechtsursprung in strengster Weise.“³⁹³
Purgatorio, X, – (Übersetzung Philalethes); eine ähnliche Stelle findet sich in Inferno, III, ; näher zur Genese Mario Chini, Lectura Dantis, , S. . Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. f. Siehe auch Carlo Andrea Fabbricotti, Il canto VIII del Purgatorio – L’incontro di Dante e Beatrice sulla cima del Purgatorio, Saggi Danteschi, , ff. Zum zehnten Gesang Carmelina Grimaldi, Considerazioni sul canto X del Purgatorio, . Hanskarl Kölsch, Dann traten wir hinaus und sahn die Sterne. Dantes Divina Commedia, . Auflage , S. . Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , S. Anmerkung . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Ob diese und andere Stellen bei Friedrich „mit versteckten Angriffen gegen die Rechtstheorie der Nazizeit durchsetzt“ sind, wie zu lesen ist bei Frank-Rutger Hausmann, „Sie haben keine Neigung,von mir etwas zu lernen“. Ernst Robert Curtius, Hugo Friedrich und die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, in: Mittellateini-
4. Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit
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Es geht hier letztlich um die allgemeine Rechtschaffenheit, die für Dante ein Teil der Gerechtigkeit ist.³⁹⁴ Das wird dadurch untermauert, dass hier und im Folgenden Gerechtigkeit und Erbarmen in thomistischer Tradition einander gleich geordnet werden,³⁹⁵ wie es bereits an anderen Stellen der Dichtung geschehen ist:³⁹⁶ „Oh, wenn Gerechtigkeit euch und Erbarmen / Bald soll entlasten, so daß ihr die Schwinge / Bewegen könnt, die euch nach Wunsch erhebe, / Zeigt an, zu welcher Hand es zu der Stiege / Am nächsten, und wenns mehr denn einen Pfad gibt, / Lehrt den, des Abfall minder schroff, uns kennen“ („Deh, se giustizia e pietà vi disgrievi / tosto, sì che possiate muover l’ala, / che secondo il disio vostro vi lievi, / mostrate da qual mano inver’ la scala / si va più corto; e se c’è più d’un varco, / quel ne ’nsegnate che men erto cala“).³⁹⁷ Der irdische Ruhm wird als eitel erkannt: „O eitler Ruhm des menschlichen Vermögens, / Wie kurz das Grün an deinem Wipfel dauert, / Wenn eine rohe Zeit auf dich nicht folget!“ („Oh vana gloria de l’umane posse! / com’ poco verde in su la cima dura, / se non è giunta da l’etati grosse!“).³⁹⁸ Wer auf den irdischen Ruhm baut und ihn zum Maßstab nimmt, ist einer Richtungslosigkeit verfallen, die ihn, der über den Dingen zu stehen vermeint, in Wahrheit zum Spielball seiner Eitelkeit werden lässt: „Der Lärm, den in der Welt man macht, nichts ist er / Als Windeswehn, bald hier-, bald dorther kommend, / Das Namen tauscht, weils Himmelsgegend tauschet.“ („Non è il mondan romore altro ch’un fiato / di vento, ch’or vien quinci e or vien quindi, / e muta nome perché muta lato“).³⁹⁹ Ebenso ergeht es zuvor den Hochmütigen entsprechend dem Gesetz des contrapasso, die von schweren Steinen niedergedrückt werden: „Begreifet ihr denn nicht, daß wir Gewürm sind, / Bestimmt, den Himmelsschmetterling zu bilden, / Der schirmlos zur Gerechtigkeit sich aufschwingt!“ („Non v’accorgete voi che noi siam vermi / nati a formar l’angelica farfalla, / che vola a la giustizia sanza
sches Jahrbuch , (), , , mag dahinstehen; dazu auch Mirjam Mansen, „Denn auch Dante ist unser!“. Die deutsche Dante-Rezeption – , , S. f. Siehe zum folgenden Gesang Karlheinz Stierle, Canto XI, in: Purgatorio, Lectura Dantis Turicensis, a cura di Georges Güntert e Michelangelo Picone ( Bände, –), ; Vittorio Rossi, L’undicesimo canto del Purgatorio, Saggi e discorsi su Dante, , S. ff.; Armando Santanera, I superbi, sul canto XI del Purgatorio, ; Guido Fusinato, Il canto XI del Purgatorio, . Thomas von Aquin, Summa theologica, I, , : „Utrum in omnibus operibus Dei sit misericordia et iustitia“. Inferno, III, ; Purgatorio, X, . Purgatorio, XI, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XI, – (Übersetzung Philalethes); siehe dazu Hugo Friedrich, Odysseus in der Hölle, Jahrbuch für geistige Überlieferung II (), ff.; Karlheinz Stierle, Odysseus und Aeneas. Eine typologische Konfiguration in Dantes Divina Commedia, Festschrift für Karl Maurer, , S. ff. Purgatorio, XI, – (Übersetzung Philalethes).
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schermi?“).⁴⁰⁰ Nur wenn der Mensch sich seiner Niedrigkeit bewusst ist, kann er auf Gerechtigkeit hoffen. Die Gerechtigkeit wirkende Kraft des contrapasso offenbart sich hier in einer physischen Gegenbewegung. Die steinerne Last richtet auf diese Weise auch den Gerechtigkeitssinn zu.
b) Wetterwendische Gesetze Mit dem irdischen Ruhm ist es also nicht anders bestellt als mit den Gesetzen seiner Heimatstadt Florenz. Sie sind wetterwendisch und lassen eine klare Richtschnur vermissen. Es kann daher kaum als ein Zufall angesehen werden, dass Dante unversehens überleitet zu seiner ungerechten Heimatstadt, deren Bewohner im Affekt so ungerecht waren, dass er aus diesem Anlass gedenkt „Die Florentinische Wut, die stolz gewesen / Zu jener Zeit, wie jetzt sie ist verworfen“ („la rabbia fiorentina, che superba / fu a quel tempo sì com’ ora è putta“).⁴⁰¹ Die seinerzeit mächtige Wut nimmt sich in der Gegenwart hinsichtlich ihres Ertrags kümmerlich aus. Vergangener Stolz lässt die lamentable Gegenwart umso armseliger erscheinen. Indem Dante die erlittene Ungerechtigkeit aufarbeitet, erinnert er seine stolzen Zeitgenossen an das ewige Gericht, das ihm als Mensch des Mittelalters beständig vor Augen steht. In dem Maße, wie der irdische Ruhm sich entsprechend dem Windhauch verhält, das nach dem biblischen Buch Kohelet alles ist,⁴⁰² macht sich Dante unweigerlich bewusst, dass ihn auch sein Gerechtigkeitssinn täuschen kann. Wer auf Erden stolz und überheblich ist, ist im Purgatorio nach dem Gerechtigkeitsprinzip des contrapasso gehalten,⁴⁰³ selbstlose Gebete zu sprechen, weshalb der elfte Gesang mit einem Vaterunser beginnt.⁴⁰⁴
Purgatorio, X – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XI, f. (Übersetzung Philalethes); siehe dazu Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. , unter Verweis auf Inferno, XXIV, . Kohelet , – . Siehe aber auch Bernhard Stambler, Dante’s Other World. The ‚Purgatorio‘ as Guide to the ‚Divine Comedy‘, . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. .
5. Hypertrophie des Gerechtigkeitssinns
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5. Hypertrophie des Gerechtigkeitssinns Der dreizehnte Gesang des Purgatorio führt das Laster des Neides vor,⁴⁰⁵ indem gemäß dem contrapasso diejenigen erblindet sind, die zu Lebzeiten neidisch auf die Güter der Anderen schielten.⁴⁰⁶ Wie sehr sich Dantes Gerechtigkeitssinn von den untersten Höllenkreisen des Inferno bis hierher geläutert hat, erkennt man am besten daran, dass ihm sein Taktgefühl verbietet, diejenigen anzusprechen, die nur er sehen kann, welche ihn aber nicht sehen können: „Unrecht glaubt ich zu tun, wenn ich vorbeiging, / Die andern sehnd und nicht gesehn von ihnen, / Drum ich nach meinem weisen Rat mich wandte“ („A me pareva, andando, fare oltraggio, / veggendo altrui, non essendo veduto: / per ch’io mi volsi al mio consiglio saggio“).⁴⁰⁷ Dantes Gerechtigkeitssinn zeigt sich in einer unvermutet subjektiv gefärbten Weise, die sein moralisches Gewissen repräsentiert. Vergil begleitet ihn als gleichsam objektive Instanz, die Dante immer weniger benötigt, weil er sittlich so weit gereift ist, dass sein Gerechtigkeitsempfinden sich regelrecht übersteigert. Die Funktion des sittlichen Begleiters erschöpft sich nunmehr darin, die Hypertrophien des Gerechtigkeitsempfindens ins rechte Lot zu bringen und auszutarieren. Dante tut hier des Guten zu viel, doch nicht mehr mit jener Selbstgewissheit, die im Inferno noch als Selbstgerechtigkeit erscheinen konnte.Vielmehr verdeutlicht die tastende Ungewissheit („mir schien es unrecht“), dass er sich selbst seiner Sache nicht mehr sicher ist.⁴⁰⁸ Objektives und subjektives Gewissen gleichen einander immer mehr an. Indem Dante die Affekte des Stolzes und des Neides mit ihrem jeweiligen contrapasso entgegengehalten werden, ändert sich auch sein Gerechtigkeitssinn entsprechend der im contrapasso waltenden Gerechtigkeit. Er verinnerlicht die Gegenbewegung so sehr, dass sie sich auch auf sein eigenes Gerechtigkeits-
Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , stellt anhand von Purgatorio, XV, , am Beispiel des Neides heraus, dass „Eigentum von den Mitmenschen entzweit“; dazu auch Jens Petersen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (), . Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. : „The justice of Dante’s conception is clear.The envious are redressing the balance by giving up the faculty through which they had especially sinned. The loss of sight may signify retirement from the world through sickness or exile, so that the victim is less tempted to envy, and more certain, because blind to the world, ‚of beholding the high light‘ of heaven“. Purgatorio, XIII, – (Übersetzung Philalethes); siehe dazu auch Anthony K. Cassell, The Letter of Envy: Purgatorio XIII-XIV, Stanford Italian Review (), . Takt ist hier – entsprechend dem berühmten Aphorismus von Nicolas Chamfort – „der auf das Benehmen angewandte gute Geschmack“. Dieser von Nietzsche (Die Fröhliche Wissenschaft, ) hochgeschätzte Denker bringt damit womöglich nach Dante und vor Nietzsche das auf den Punkt, was als Verbindungsglied zwischen Dantes cortesia und Nietzsches Vornehmheit denkbar ist; vgl. auch Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, . Auflage , S. f., .
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empfinden auswirkt und dieses kurzfristig trübt – freilich nicht in der Weise, wie dies im Inferno der Fall war, sondern nunmehr zum Positiven hin. Jacques Derrida hat im anderen Zusammenhang, aber mit dem vorstehend Betrachteten durchaus vergleichbar, zu bedenken gegeben, dass derjenige, der sich an andere wendet – in diesem Fall er selbst als Vortragender – sich gleichsam das Recht herausnimmt, zu den Anderen zu sprechen.⁴⁰⁹ Auch darin kann man eine an Unsicherheit grenzende Übersteigerung des moralischen bzw. intellektuellen Gewissens erblicken, die unfreiwillig enthüllt, dass der darin zum Ausdruck kommende Anspruch, sich an die Anderen zu wenden, so hypertroph ist, dass man ihn unter normalen Umständen nicht für möglich halten würde. Das kann allerdings auch als Ausweis einer rechtsphilosophischen Unsicherheit begriffen werden.⁴¹⁰ Denn es verrät unfreiwillig, dass sich der Sprecher seiner Sache nicht hinreichend sicher ist. Zudem wird damit, und in gewisser Weise auch bei Dante, nicht hinreichend berücksichtigt, dass es einer moralischen Ermächtigungsgrundlage nicht bedarf, wenn der vorgetragene Gedanke nicht anstößig ist. Auch übertriebene intellektuelle oder moralische Skrupel können den Gerechtigkeitssinn trüben.
6. Willensfreiheit als Bedingung der Gerechtigkeit Die nächsten fünf bis sechs Gesänge (XVI bis XXI) enthalten und behandeln leitmotivartig das Problem der Willensfreiheit.⁴¹¹ Dieses heute noch so drängende und die strafrechtswissenschaftliche bzw. rechtsphilosophische Diskussion seit jeher und noch immer beherrschende Problem,⁴¹² das durch die moderne Naturwissenschaft
Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, , S. ff. Kritisch zu dem Standpunkt Derridas daher Jens Petersen, Blaise Pascals Gedanken über das Recht, Festschrift für Werner Merle, , S. , ff. Bezogen auf das Purgatorio dazu Josef Kohler, Dante und die Willensfreiheit, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , f. Rolf Dieter Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, , S. ff. zur Hirnforschung; ferner S. f. zur Quantenmechanik. Peter Mankowski,Verändert die Neurobiologie die rechtliche Sicht auf Willenserklärungen?, AcP (), . Bernd Schünemann (Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, Hg. ders., , S. , , ) hält die Willensfreiheit für „kein schlichtes bio-physikalisches Faktum“, die „zu einer besonders elementaren Schicht mindestens der abendländischen Kultur gehört“. Dazu Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band , Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, . Auflage , § Rdnr. ; siehe auch Arthur Kaufmann, Unzeitgemäße Betrachtungen zum Schuldgrundsatz im Strafrecht, Jura , , f.
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immer neue Impulse erhält,⁴¹³ war für den mittelalterlichen Menschen so drängend, dass die Frage von Dante mit der gebührenden Ausführlichkeit erörtert und an verschiedenen Stellen seiner Dichtung behandelt wird.⁴¹⁴
a) Gerechtigkeit und Willensfreiheit Dante erkennt und benennt im Ausgangspunkt den Zusammenhang zwischen Willensfreiheit und Gerechtigkeit: „Wenn dem so wäre,würd in euch zerstört sein / Der freie Will und nicht Gerechtigkeit wär’s / Wenn Gutem Wonne, Leid dem Bösen folgte“ („Se così fosse, in voi fora distrutto / libero arbitrio, e non fora giustizia / per ben letizia, e per male aver lutto“).⁴¹⁵ Ein vollständiger Determinismus würde die Gerechtigkeitskonzeption in Frage stellen, die Inferno und Purgatorio durchwalten. Gäbe es keinen freien Willen, dann dürften Untaten nicht bestraft und rechtes Handeln nicht belohnt werden. Dass der Mensch frei wählen und handeln kann, legitimiert die jenseitige Bestrafung und Belohnung. Die Willensfreiheit ist so Voraussetzung der Zurechnung.⁴¹⁶ Zu Recht formuliert Hugo Friedrich dies gleichsam dialogisch und spricht vom freien Willen, „auf dessen verneinenden oder bejahenden Entscheid die Gerechtigkeit des Rechtsursprungs mit Strafe, Lohn und Gnade antwortet.“⁴¹⁷ Der freie Wille wiederum hängt aufs engste mit dem Gewissen zusammen: „Und Willensfreiheit, die, wenn unermüdet / Den ersten Kampf sie mit dem Himmel aushält, / Dann, wohl genährt, auch alles überwindet“ („e libero voler; che, se fatica / ne le prime battaglie col ciel dura, / poi vince tutto, se ben si notrica“).⁴¹⁸
Max Planck, Vom Wesen der Willensfreiheit und andere Vorträge (Hg. Armin Herrmann), ; dort neben dem gleichnamigen Beitrag auch der Aufsatz ‚Kausalgesetz und Willensfreiheit‘. Zuletzt Björn Brembs, Towards a scientific concept of free will as a biological trait: spontaneous actions and decision-making in invertebrates, Proceedings of the Royal Society B (), , der für ein neuartiges, biologisch geprägtes Konzept der Willensfreiheit eintritt. Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. f. Siehe auch Martin Grabmann, Thomas von Aquin und die Dante-Auslegung, Deutsches Dante-Jahrbuch (), . Purgatorio, XVI, – (Übersetzung Philalethes). Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , . Siehe aus dem neueren Schrifttum insbesondere Christian Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipien im Strafrecht, . Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Purgatorio, XVI, – (Übersetzung Philalethes).
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b) Willensfreiheit und Gewissen Der Mensch, der mit der Willensfreiheit begabt ist, muss gleichwohl und gerade deshalb auf seine innere Stimme hören.⁴¹⁹ Hier offenbart sich nach altem Verständnis das Gewissen als (Echo der) Stimme Gottes, das es, wie erinnerlich, für Dante war.⁴²⁰ Die Willensfreiheit befähigt und verpflichtet den Menschen zum Guten, da er nicht mehr mit dem Einwand gehört wird, er habe nicht anders handeln können:⁴²¹ „Denn ihr seid höhrer Macht und besserer Natur / in Freiheit hingegeben; diese schuf / den Geist in euch, den nicht die Sterne lenken“ („A maggior forza e a miglior natura / liberi soggiacete; e quella cria / la mente in voi, che ’l ciel non ha in sua cura“).⁴²² Vergils moralische Botschaft an Dante ist eine schlichte Schuldzuweisung: „Drum,wenn vom Weg abirrt die heutge Welt, / so ist bei euch die Schuld, bei euch zu suchen, / und das will ich in Wahrheit dir erklären“ („Però, se ’l mondo presente disvia, / in voi è la cagione, in voi si cheggia; / e io te ne sarò or vera spia“).⁴²³ Es ist dies ein Beleg für das in anderem Zusammenhang geprägte Wort Hugo Friedrichs von der „Überordnung des metaphysischen Schuldbegriffs über den innerweltlichen“.⁴²⁴ Das Gewissen ist gleichsam derjenige moralische Ort, von dem aus der Ruf des metaphysischen Schuldbegriffs an den Menschen ergeht. Die Willensfreiheit erhebt damit letztlich das Gewissen zur vorläufig richtenden Instanz; endgültig gerichtet wird der dafür unempfängliche oder dadurch unberührte Sünder nach Dante durch die göttliche Gerechtigkeit.
c) Freiheit und Bindung durch irdische Gesetze Diese Folgerung wird nur verständlich, wenn eine andere mit bedacht wird, die den Geltungsgrund der Gesetze betrifft, mit deren Hilfe und unter deren Anleitung der Willensfreiheit äußere Schranken und Bindungen auferlegt werden: „Drum musst’ man ein Gesetz als Zügel schaffen; / ein König musste kommen, zu erkennen / zumindest doch den Turm der wahren Stadt. / Gesetze gibt’s, doch wer schafft ihnen Achtung? / Kein einz’ger, weil der Hirte, der vorangeht, / wohl
Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, I, , ; II, , , . Oben I. . c). Aus theologischer Sicht gibt Joseph Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben, , . Auflage , S. , die dogmatische Begründung mit der „unbedingten Achtung Gottes vor der Freiheit seines Geschöpfes“. Purgatorio, XVI, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XVI, – (Übersetzung Philalethes). Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. .
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wiederkäut, doch fehlen ihm gespaltne Hufe“ („Onde convenne legge per fren porre; / convenne rege aver, che discernesse / de la vera cittade almen la torre. / Le leggi son, ma chi pon mano ad esse? / Nullo, però che ’l pastor che procede, / rugumar può, ma non ha l’unghie fesse“).⁴²⁵ Das Gesetz als Zügel findet sich der Sache nach nicht nur in Dantes Convivio,⁴²⁶ sondern auch in seiner Monarchia. ⁴²⁷ So wie die Willensfreiheit eine Bedingung der Gerechtigkeit darstellt, bedarf es der Gesetze,⁴²⁸ die den freien Willen leiten.⁴²⁹ Von der geistlichen Macht der Kirche und ihrer Repräsentanten erwartet Dante keinen Beistand, fehlt ihnen doch das Vermögen, die weltlichen und geistigen Dinge angemessen zu trennen. Nichts anderes ist mit den gespaltenen Hufen gemeint.⁴³⁰ Darüber hinaus macht der Gedanke klar, dass Freiheit und Bindung zusammen gehören. Schrankenlose Freiheit ist verantwortungslose Freiheit, die letztlich zur schlichten Zucht- und Zügellosigkeit führt.⁴³¹
d) Willensfreiheit unter der Bedingung der Liebe Der achtzehnte Gesang des Purgatorio stellt die Frage nach der Willensfreiheit aufs Neue und beantwortet sie in einer anderen Richtung, indem eine weitere Di Purgatorio, XVI, – (Übersetzung Philalethes); vgl. dazu auch Dante Alighieri, Monarchia, II, ii; iv. Dante Alighieri, Convivio, IV, iv, f. Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , bedauert aus gutem Grund, dass „Dante nicht zur Vollendung seines ‚Gastmahls‘ kam“, weil er „im vorletzten (…) Traktat dieser Schrift eingehend von der Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit und deren Arten hatte handeln wollen“. Dante Alighieri, Monarchia, I, xii, ; III, xv, . Hermann Conrad, Recht und Gerechtigkeit im Weltbild Dante Alighieris, Festschrift für Johannes Spörl, , S. , , mit eingehender Darlegung des dem seines Erachtens zugrunde liegenden thomistischen Rechtssystems. Grazia Dolores Folliero-Metz, Das politische System Europas in der Neuzeit, JuS , ff., behandelt die Bedeutung des freien Willens bei Dante für die Verbindung von Staat und Recht; vgl. auch Dirk Lüddecke, Der Staat (), , . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Interessanterweise nennt Nietzsche (Nachlass, Die Unschuld des Werdens I, § ) Dante den „Vollender für die katholische Kirche“. Ganz ähnlich wie Dante Joseph Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, , . Auflage , S. : „Der Maßstab für das wirkliche Recht, das sich als wahres Recht und damit als Freiheitsrecht bezeichnen darf, kann daher nur das Gut des Ganzen, das Gute selber sein. (…) Das bedeutet, dass Freiheit, um recht verstanden zu werden, immer mit Verantwortung zusammen gedacht werden muss.“ Unter Verweis auf Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, .
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mension hinzutritt, die das Werk forthin begleitet, durchwirkt und auf diese Weise Dantes Gerechtigkeitssinn prägt: Es ist das Wesen der Liebe,⁴³² die auch in Dantes Rechts- und Morallehre nach einem treffenden Wort von Hans Kelsen die „Haupttriebfeder in der sittlichen Weltordnung“ darstellt.⁴³³ Nicht von ungefähr kommt hier Beatrice ins Spiel, Dantes früh verstorbene Geliebte, auf die ihn Vergil vorbereitet: „Und diese edle Kraft meint Beatrice / mit Willensfreiheit, darum sei bereit, / daran zu denken, spricht sie dir von ihr“ („La nobile virtù Beatrice intende / per lo libero arbitrio, e però guarda / che l’abbi a mente, s’a parlar ten prende“).⁴³⁴ Inmitten des Purgatorio wird Dante so auf das Paradies vorbereitet.⁴³⁵ Willensfreiheit besteht also für Dante nicht nur darin, das Gute zu tun und zu wollen sowie das Böse zu meiden und zu unterlassen, sondern sie existiert unter der Voraussetzung und Bedingung der Liebe. Wenn Willensfreiheit, wie weiter oben dargestellt, eine Bedingung der Gerechtigkeit ist, so gibt es die Willensfreiheit ihrerseits nur unter der Bedingung der Liebe. Auf diese Weise sind Liebe und Gerechtigkeit miteinander verschränkt.⁴³⁶ Dantes Gerechtigkeitssinn wird fortan durch eine alles Weitere überwölbende und bestimmende Größe geleitet.⁴³⁷ Wenn es hier und im Folgenden so aussieht, als habe durch diese neu hinzutretende und bestimmende Dimension der Liebe die Gerechtigkeitsproblematik keinerlei juristischen Sinn mehr,⁴³⁸ so ist darauf zu verweisen, dass auch für einen anderen, in nahezu jeder Hinsicht entgegengesetzt argumentierenden Autor wie Friedrich Nietzsche Gerechtigkeit und Liebe aufs
Prägnant Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. : „Justice is not abandoned; it is satisfied by love“. Hans Kelsen, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band , . Heft, Die Staatslehre Dante Alighieris, , S. (= HKW , , ). Purgatorio, XVIII, – (Übersetzung Philalethes). Paradiso, V, ff. Einschränkend Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , f.: „An sein kosmisches Liebesprinzip streift seine Rechtsphilosophie kaum heran (…)“. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Pascals Lehre von den drei Ordnungen, deren Höchste die der Liebe ist; Blaise Pascal, Pensées (ed. Brunschvicg), Fragment ; dazu Joseph Ratzinger,Vom Sinn des Christseins, , S. f.; Karlheinz Stierle, Pascals Reflexionen über den ordre der Pensées, Poetica (), ; Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, . Siehe aber Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches DanteJahrbuch (), : „Zwei große Ideen beherrschen die Dantesche Konzeption: die Gerechtigkeit und die Liebe“.
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Engste miteinander zusammenhängen.⁴³⁹ Der Gerechtigkeitssinn Dantes hat sich bisher vor allem aus der Negation entwickelt. Im Inferno und zu Beginn des Purgatorio erfährt er, welche Strafen diejenigen zu erwarten haben, die auf Erden dem göttlichen Gesetz zuwider gehandelt haben.
e) Willensfreiheit und contrapasso Im neunzehnten Gesang des Purgatorio begegnet Dante den Habgierigen, die nach dem Prinzip der allegorischen Entgegensetzung und dem „Gesetz der konformen Vergeltung“⁴⁴⁰ (contrapasso) gefesselt mit dem Gesicht auf den Boden hingestreckt daliegen müssen, weil sie auf diese Weise daran erinnert werden, dass sie zu Lebzeiten nur dem Irdischen verhaftet waren und allein auf die materiellen Güter geschaut haben.⁴⁴¹ Daher rufen sie aus: „O Auserkorene Gottes, deren Leiden / Gerechtigkeit und Leiden minder hart macht, / Weist uns zurecht nach den erhabenen Stiegen“ („O eletti di Dio, li cui soffriri / e giustizia e speranza fa men duri, / drizzate noi verso li alti saliri“).⁴⁴² In diese hoffnungsfrohe Stimmung mischt sich die verspätete Einsicht in das begangene Unrecht und die eigene Sündhaftigkeit. So werden also die habsüchtigen Verschwender und Geizigen zusammengebunden, weil ihr Blick unfähig war, sich empor zu richten: „Wie unser Blick sich nicht hat aufgerichtet / Nach oben, an den irdischen Dingen haftend, / Versenkt auch hier Gerechtigkeit zur Erd ihn“ („Sì come l’occhio nostro non s’aderse / in alto, fisso a le cose terrene, / così giustizia qui a terra il merse“).⁴⁴³ Die Gerechtigkeit entfaltet zu Lasten dieser armen Sünder eine regelrechte Erdanziehungskraft zu Lasten derer, die den Blick nicht auf die höherwertigen Güter zu richten vermochten.⁴⁴⁴ Die konsekutive Wirkung der Gerechtigkeit wird durch den nachfolgenden Parallelismus noch verstärkt: „Und wie der Geiz hat jedes Guten
Dazu mit umsichtiger Argumentation weiterführend Chiara Piazzesi, Liebe und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Erkenntnis, Nietzsche-Studien (), . Siehe ferner Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, . Auflage . Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. . Justin Steinberg, Dante’s Justice? A reappraisal of the Contrapasso, L’Alighieri (), , , betont den poetisch-kunstvollen Charakter des contrapasso: „Fitting the punishment to the crime, is, after all, an art. As an art, it must be flexible enough to adapt to the excess of divine justice, whether this excess is expressed as gratuitous redemption or interminable punishment“. Purgatorio, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Ähnlich Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. f.: „Das innere Gesetz der göttlichen Gerechtigkeit drückt die Büßer zu Boden“.
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Liebe / In uns getilgt, drum wird das Tun versäumet, / So hält uns hier Gerechtigkeit gefangen / An Händen und an Füßen festgebunden; / Und wir, solang es dem gerechten Herren / Gefällig, bleiben reglos ausgestreckt.“ („Come avarizia spense a ciascun bene / lo nostro amore, onde operar perdési, / così giustizia qui stretti ne tene, / ne’piedi e ne le man legati e presi; / e quanto fia piacer del giusto Sire, / tanto staremo immobili e distesi“).⁴⁴⁵ Die nachträgliche Erkenntnis der eigenen Willensfreiheit führt also im Purgatorio zur göttlichen Gerechtigkeit.
f) Dogmatische Unterscheidung als Abbildung der Reinigung des Gerechtigkeitssinns Im Gespräch mit Hugo Capet gibt Dante eine Probe seiner dogmatischen Trennung von Amt und Person.⁴⁴⁶ Papst Bonifaz VIII. wird zwar von Dante denkbar gering geschätzt,⁴⁴⁷ doch kann er die Verhaftung des Stellvertreters Christi auf Erden, welcher der Papst für den gläubigen Dante nun einmal war und ungeachtet seiner moralischen Verderbtheit ist, nicht billigen: „Daß künftiger Frevel kleiner schein und vorger, / Seh ich die Lilj’ eindringen in Alagna, / Und im Statthalter Christum selbst gefangen“ („Perché men paia il mal futuro e ’l fatto, / veggio in Alagna intrar lo fiordaliso, / e nel vicario suo Cristo esser catto“).⁴⁴⁸ Besonders arg erschien Dante die Erniedrigung des ihm persönlich verhassten Papstes,weil sie ohne einen Akt des Rechts („ma sanza decreto“) erfolge.⁴⁴⁹ Hieran zeigt sich, dass Dantes Gerechtigkeitssinn mehr ist als nur ein diffuses Gefühl, dessen Unmaßgeblichkeit letztlich aus seiner irrationalen Subjektivität folgen würde. Vielmals urteilt Dante im Purgatorio durchaus rational,⁴⁵⁰ eher positivistisch und dabei zugleich als gläubiger Christ des Spätmittelalters,⁴⁵¹ der weder am päpstlichen Jurisdiktionsprimat noch gar an der apostolischen Suk-
Purgatorio, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Siehe zu diesem Gesang auch Angelo Wolff, Il canto XX del Purgatorio, ; Lorenzo Biachi, Rileggendo il canto XX del Purgatorio, Memoriae R. Accademia, , S. ff. Aus dem neueren Schrifttum dazu Laura Pasquini, L’immagine di Bonifacio VIII attraverso l’iconografia dantesca, in: Le culture di Bonifacio VIII., , S. – . Purgatorio, XX, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XX, . Oben II vor ; vgl. auch Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. . Damit zugleich freilich an der Schwelle zur frühen Neuzeit; vgl. Karlheinz Stierle, Dantes Divina Commedia an der Schwelle zur frühen Neuzeit, in: Schwellentexte der Weltliteratur (Hg. Reingard M. Nischik/Caroline Rosenthal), .
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zession zweifelt.⁴⁵² Wer in ihr steht, kann ungeachtet aller persönlichen Fehlbarkeit und moralischen Vorwerfbarkeit wirksam richten und darf seinerseits nicht ohne Rechtspruch gerichtet werden, weil damit zugleich der von ihm Vertretene ungerecht behandelt würde.⁴⁵³ Diese saubere dogmatische Trennung bedeutet einen Zugewinn an materieller Gerechtigkeit, weil sie die Leidenschaften im Zaum hält, deren ungebändigtes Wirken Dante gerade im Purgatorio erfährt. So reinigt das Purgatorio auch Dantes Gerechtigkeitssinn.
g) Verfeinerung des Gerechtigkeitssinns durch Erkenntnis der Willensfreiheit Während sich in der Eiseskälte des Inferno bei Dante eine ungekannte Gefühlskälte einstellte, die seinen Gerechtigkeitssinn trübte und zu ungerechten Regungen verleitete, welche sittlich auf niedrigster Stufe stehen, wird im Purgatorio sein Gerechtigkeitssinn geläutert:⁴⁵⁴ „Beweis der Reinigung ist allein das Wollen, / Das voller Freiheit, ihren Stand zu wechseln, / Die Seel ergreift, am Willen Freud ihr gebend“ („De la mondizia sol voler fa prova, / che, tutto libero a mutar convento, / l’alma sorprende, e di voler le giova“).⁴⁵⁵
aa) Wille zur Gerechtigkeit Hier begegnet abermals das Problem der Willensfreiheit,⁴⁵⁶ das schon im sechzehnten Gesang gegenwärtig war.⁴⁵⁷ Von den Leidenschaften hin- und hergeworfen, bedarf die Seele des Korrektivs der Gerechtigkeit: „Erst will sie wohl, doch hinderts die von ewger / Gerechtigkeit entgegen jenem Willen / Gesetzte Lust an Qual, wie sonst am Sündgen.“ („Prima vuol ben, ma non lascia il talento / che divina giustizia, contra voglia, /
Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund Alois Dempf, Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, . Bemerkenswert in ihrer dogmatischen Strenge und Folgerichtigkeit die Unterscheidung zwischen Botschaft und Stellvertretung bei Dante Alighieri, Monarchia, III, vi. Vgl. auch Stephan Schaede, Stellvertretung, , S. . Näher Nicola Zingarelli, L’incontro con Stazio nel canto XXI del Purgatorio e il concetto dantesco della poesia, La Cultura Moderna XXXII (), ff. Purgatorio, XXI, – (Übersetzung Philalethes). Treffend Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. : „Es ist wohl der höchste Triumph der menschlichen Willensfreiheit, dass der eigene Wille auch über den Zeitpunkt der Erlösung entscheidet und die Macht hat, die Seele zum Himmel zu tragen“. Purgatorio, XVI, f.; – .
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come fu al peccar, pone al tormento“).⁴⁵⁸ Hermann Gmelin sieht hier mit einleuchtender Begründung eine Verinnerlichung der göttlichen Gerechtigkeit am Werk, die auch die Grundtendenz des Purgatorio zum Ausdruck bringt: „Das Gesetz der göttlichen Gerechtigkeit ist in das Innere der Seele verlegt und bringt den Willen des Büßers in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, so dass sie die Buße ebenso will wie die Erlösung.“⁴⁵⁹ Im Purgatorio ist der Sünder also von der Gerechtigkeit regelrecht durchdrungen, was entsprechend der aristotelischen Mesotes-Lehre zugleich einen Drang zum Guten als der inneren Mitte bewirkt und auf diese Weise auch dem Gesetz des contrapasso im Purgatorio entspricht.
bb) Vorbereitung auf die Wiederbegegnung mit Beatrice Dante wird von dem Gequälten daran erinnert, dass sich die Erkenntnis der Willensfreiheit erst mit beträchtlicher zeitlicher Verzögerung einstellt, wenn die zu sühnenden Taten so weit zurückliegen, dass sie im Zustand der Unfreiheit begangen zu sein schienen: „Und ich, der mehr schon als fünfhundert Jahre / In diesem Leide lag, empfand erst jetzo / Das freie Wollen besserer Behausung“ („E io, che son giaciuto a questa doglia / cinquecent’ anni e più, pur mo sentii / libera volontà di miglior soglia“).⁴⁶⁰ Aufs Neue zeigt sich hier, dass die Willensfreiheit die strafende Gerechtigkeit legitimiert und dass die Willensfreiheit auf diese Weise eine Bedingung der Gerechtigkeit darstellt, wie dies bereits im sechzehnten Gesang gezeigt wurde.⁴⁶¹ Indem Dante hier immer von Neuem das Thema der Willensfreiheit umkreist,⁴⁶² zeigt sich zugleich die Zentralität jener bereits behandelten Mahnung Vergils gegenüber Dante, der sich dies für die Wiederbegegnung mit Beatrice gesagt sein lassen soll: „Die edle Kraft meint unter freiem Willen / Beatrix; drum sieh zu, daß du dirs merkest, / Wenn jemals dir davon sie sprechen sollte“ („La nobile virtù Beatrice intende / per lo libero arbitrio, e però guarda / che l’abbi a mente, s’a parlar ten prende“).⁴⁶³
Purgatorio, XXI, – (Übersetzung Philalethes). Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Zweiter Teil: Der Läuterungsberg, , . Auflage , S. . Purgatorio, XXI, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XVI, f.; ff. Die Willensfreiheit kommt auch im modernen Strafrecht an verschiedenen Stellen zum Tragen, insbesondere – ebenso wie bei Dante – bei der Rechtfertigung der Strafe und bei der Schuld; vgl. nur Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band , Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, . Auflage , § Rdnr. ; § Rdnr. f., ff. Siehe auch Rolf Dieter Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, ; dazu bereits oben S. f. Purgatorio, XVIII, – (Übersetzung Philalethes); zu dieser Stelle bereits oben S. .
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Es ist dies zugleich eine jener Stellen, die Jacob Burckhardt im Sinn gehabt haben dürfte, als er die eigentümliche mittelbare Charakterisierung Beatrices so beschrieb: „Dante hat seine Beatrice nirgends herrlicher gepriesen, als wo er nur den Reflex schildert, der von ihrem Wesen ausgeht auf ihre ganze Umgebung.“⁴⁶⁴ So wirkt Beatrice auf den Wanderer Dante und seinen Gerechtigkeitssinn antizipierend, während der Dichter Dante in der Vorwegnahme ihrer Erscheinung eine Interpretationshilfe leistet.⁴⁶⁵ Dantes Gerechtigkeitssinn verfeinert sich unter diesem Eindruck allmählich, er erreicht eine neue Dimension, indem er dieses Monitum stets aufs Neue reflektiert, so dass das vom Sünder Gesagte nunmehr auch für ihn gilt: „In diesem Leide lag, empfand erst jetzo / Das freie Wollen besserer Behausung“ („pur mo sentii / libera volontà di miglior soglia“).⁴⁶⁶
7. Vernunft und Gerechtigkeitssinn Zugleich vollzieht sich bei Dante entsprechend dem thomistischen Denken ein Erkenntniszuwachs und Entwicklungsschritt von der vergleichsweise niedrigen sinnlichen Wahrnehmung über die durch Vergil personifizierte Vernunft zur göttlichen Offenbarung, die Beatrice darstellt.⁴⁶⁷ Dass die Gerechtigkeitsvorstellung sich immer mehr ins Positive wendet und damit von der strafenden Gerechtigkeit abwendet, verdeutlicht Dante mit dem Verweis auf die Seligpreisung derer, die Gerechtigkeit ersehnen, durch den Matthäus-Evangelisten,⁴⁶⁸ auf den sich Dante bezieht: „Und die nach der Gerechtigkeit sich sehnen, / Hatt’ er genannt ‚Beati‘, doch beschränkten / Sich seine Worte auf ‚Sitio‘ und nichts weitres“ („E quei c’hanno a giustizia lor disiro / detto n’avea beati, e le sue voci / con ʻsitiuntʼ, sanz’ altro, ciò forniro“).⁴⁶⁹ Diese explizit christliche Gerechtigkeitsvorstellung wird im Folgenden auf Vergil bezogen,⁴⁷⁰ der zwar das durch Kaiser Augustus begründete goldene Zeitalter im Sinne hatte, aber von der mittelalterlichen Theologie als Hinweis auf die Parusie verstanden wurde,⁴⁷¹ wenn Dante Vergil sagen lässt: „Dort, wo du sprachst: ‚Jahrhunderte erneu’n sich, / Asträa
Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, . Auflage , Bd. , S. . Purgatorio, XXI, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XXI, f. (Übersetzung Philalethes). Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Matthäus , . Die Seligpreisungen „sind als Ganzes von der Perspektive des Kreuzes geprägt“ (Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Zweiter Teil, , S. ). Purgatorio, XXII, – (Übersetzung Philalethes). Siehe auch Hans Lilje, Dante als christlicher Denker, . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. f.
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kehrt, es kehrt die Urzeit wieder, / Und niedersteiget ein neu Geschlecht vom Himmel‘.“ („Quando dicesti: ʻSecol si rinova; / torna guistizia e primo tempo umano, / e progenïe scende da ciel novaʼ“).⁴⁷² Vergil ist für Dante somit nicht nur die Stimme der Vernunft, sondern in seiner zwar heidnischen Befangenheit, aber doch christlichen Ankündigung, zugleich Organ der Gerechtigkeit.⁴⁷³ Das Zitat aus der Bucolica offenbart, wie sehr Dantes Gerechtigkeitssinn durch den vorchristlichen Klassiker geprägt wurde.⁴⁷⁴ Das wird deutlich, wenn Dante an späterer Stelle unvermittelt und vorderhand heidnisch voraussetzt, dass „Jupiter geheimnisvoll gerecht“ gewesen sei („quando fu Giove arcanamente giusto“).⁴⁷⁵ Die vorgebliche Gerechtigkeit Jupiters ist eher ein erzählerisches Ornament und gewiss kein Richtmaß für Dantes sich entwickelnden und ausreifenden Gerechtigkeitssinn. Das erzählende Ich und der Erzähler Dante fallen hier in der Weise zusammen, dass der zunächst empirisch-rudimentäre, sodann durch Vergils Führung rational verfeinerte Gerechtigkeitssinn allmählich eine zutiefst christliche Prägung erhält.
8. Gerichteter und gelenkter Gerechtigkeitssinn So erklärt sich auch unter dem Blickwinkel des jeweils unterschiedlich ausgeprägten und sich sittlich entwickelnden Gerechtigkeitssinns, warum Dante der Führung Vergils hinfort nicht mehr bedarf, wie dieser ihm gegen Ende des siebenundzwanzigsten Gesangs zu verstehen gibt: „Durch Kunst und Weisheit zog ich bis hierher dich, / Dein Wohlgefallen nimm anjetzt zum Führer“ („Tratto t’ho qui con ingegno e con arte; / lo tuo piacere omai prendi per duce“).⁴⁷⁶ Durch die mit Vergils Hilfe rational abgesicherte geistliche Führerschaft ist bei Dante nunmehr eine Läuterung von seinen Lastern vollzogen, die ihm vom graden Weg abkommen und in die Ungerechtigkeit sich verirren ließen.⁴⁷⁷ Wenn Vergil ihn nunmehr für befähigt erklärt, seinem Wohlgefallen zu folgen, so ist damit zweierlei gesagt: Zum Einen ist Dante geläutert von aller Triebhaftigkeit und kann Purgatorio, XXII, – (Übersetzung Philalethes). Vgl. hierzu auch Vergil, Bucolica, IV, – . Zur Gerechtigkeit bei ihm Niklas Holzberg, Vergil: der Dichter und sein Werk, , S. . Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. : „Hier wird Vergil zur wahrhaft tragischen Gestalt, die die Frage nach Gottes Gerechtigkeit unabweisbar macht“. Näher Andreas Heil, Alma Aeneis. Studien zur Vergil- u. Statiusrezeption Dante Alighieris, . Purgatorio, XXIX, (Übersetzung Philalethes); zu diesem Gesang und den folgenden Peter Armour, Dante’s Griffin and the History of the World: A Study of the Earthly Paradise („Purgatorio“ XXIX – XXXIII), . Purgatorio, XXVII, f. (Übersetzung Philalethes). Inferno, I, , .
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eigenverantwortlich fortschreiten. Das veranschaulichen die Schlussworte Vergils, deren zentrale lauten: „Denn frei, gerad ist, gesund dein Wille jetzt, / Und Fehler wär’s nicht, seinem Sinn zu folgen“ („Libero, diritto e sano è tuo arbitrio, / e fallo fora non fare a suo senno“).⁴⁷⁸ Nicht von ungefähr scheint hier der von geradliniger Urteilskraft geleitete freie Wille auf. ‚Senno‘ ist letztlich nichts anderes als der durch die Erfahrung der rechten Willensrichtung und Verhaltensweise rational gelenkte Gerechtigkeitssinn, der aus sich heraus das Rechte will. Zum Zweiten ist jetzt gewährleistet, dass Dantes Sinn gleichbedeutend mit dem zitierten Wort aus der Bergpredigt ist,⁴⁷⁹ wonach selig die sind, die es nach Gerechtigkeit dürstet und die Gerechtigkeit ersehen. Während Dante die Seligpreisung der um der Gerechtigkeit willen Verfolgten mit Bedacht unterschlägt, weil er als zu Unrecht Verbannter kein selbstgerechtes Selbstmitleid erwecken möchte,⁴⁸⁰ findet sich die Seligpreisung der nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden gleich zweimal, da sie Dantes Idee einer aktiven Gerechtigkeit entspricht, die sich nicht auf das bloße Dulden beschränkt. Dantes Gerechtigkeitssinn ist zu keiner Zeit ein konstantes Richtmaß, sondern wird seinerseits kontinuierlich gerichtet, zunächst rational durch Vergil, sodann mit Hilfe Beatrices, schließlich unter Anleitung des heiligen Bernhard von Clairvaux.
a) Autonomie und Heteronomie des Gerechtigkeitssinns Jetzt wird offenbar, dass die zunächst eher theoretisch abgehandelte Frage der Willensfreiheit für Dante ein praktisches Ausmaß gewinnt.⁴⁸¹ Die bisher fortwährende Heteronomie wandelt sich in Autonomie, die jedoch mitnichten führungs- und richtungslos ist, sondern fortan unter Beatrices Anleitung einem neuen
Purgatorio, XXVII, f. (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XXII, . Etwas anders in der Akzentsetzung Luigi Valli, La struttura morale dell’universo dantesco, , S. ff., der seine verdienstvolle Beobachtung damit begründet, dass die Gerechtigkeit durch diese Auslassung völlig ungetrübt bestehen soll; ihm zustimmend Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Im Strafrecht kann die Frage wohl letztlich unentschieden bleiben; vgl. die rechtsphilosophisch weiterführende Begründung von Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band , Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, . Auflage , § Rdnr. (Hervorhebungen auch dort): „Ihre Annahme ist eine normative Setzung, eine soziale Spielregel, die sich nicht zu der Frage äußert, wie es mit der menschlichen Freiheit seinsmäßig beschaffen ist, sondern die lediglich anordnet, dass der Mensch vom Staat als prinzipiell frei und verantwortungsfähig behandelt werden sollte. Die Frage nach dem wirklichen Bestehen der Willensfreiheit kann und muss wegen ihrer objektiven Unentscheidbarkeit dabei ausgeklammert werden“.
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Imperativ ausgesetzt ist, der zur Duldung verpflichtet: „‚Dante, ob auch Virgil von dannen gehe, / Nicht weine, weine noch nicht, denn zu weinen / Ziemts dir‘, sprach sie, ‚von anderm Schwert verwundet‘“ („Dante, perché Virgilio se ne vada, / non pianger anco, non piangere ancora; / ché pianger ti conven per altra spada“).⁴⁸² Diese Stelle ist nicht nur deshalb bedeutsam, weil sie das einzige Mal ist, wo sich Dante ausdrücklich und namentlich zu erkennen gibt.⁴⁸³ Vielmehr steht sie zugleich in einem inneren Verweisungszusammenhang zu jener bereits weiter oben wiederholt für zentral erachteten Mahnung Vergils: „Die edle Kraft meint unter freiem Willen / Beatrix; drum sieh zu, daß du dirs merkest, / Wenn jemals dir davon sie sprechen sollte“ („La nobile virtù Beatrice intende / per lo libero arbitrio, e però guarda / che l’abbi a mente, s’a parlar ten prende“).⁴⁸⁴ Beatrice handelt zwar in der zuvor behandelten Stelle nicht ausdrücklich „von ihr“, das heißt von der Willensfreiheit.⁴⁸⁵ Aber sie spricht in der denkbar persönlichsten Weise, nämlich unter direkter und – wie gesehen – einzigartiger Namensnennung, die Dante an anderer Stelle verpönte.⁴⁸⁶ Indem Beatrice auf diese Weise Dante ins Gewissen spricht und ihn implizit an die Willensfreiheit erinnert, gemahnt sie ihn zugleich daran, wie er selbst gerichtet wird. Vergil verweist damit frühzeitig auf diejenige, die Dantes Gerechtigkeitssinn zu christlich geleiteter Selbstbestimmung führt.
b) Namensnennung als Ruf der Gerechtigkeit Die singuläre Namensnennung Dantes ruft darüber hinaus ein bereits angedeutetes Deutungsproblem in Erinnerung, das den hier vorausgesetzten Gerechtigkeitssinn Dantes betrifft. Ich-Erzähler und erzählendes Ich dürfen zwar nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden, weil sonst eine Vermengung droht, die zumindest ausblendet, dass Dante auch dort, wo er vorderhand am Anfang seines Wegs und seiner Entwicklung steht,⁴⁸⁷ immer schon das Ganze im Blick hat,⁴⁸⁸ so dass man Purgatorio, XXX, – (Übersetzung Philalethes); dazu oben S. , . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Purgatorio, XVIII, – (Übersetzung Philalethes). Purgatorio, XXX, – . Dante Alighieri, Convivio, II, ii, f. Inferno, I, ff. Näher Karlheinz Stierle, Das Ganze der Welt. Dante und die Enzyklopädie seines Lehrers Brunetto Latini, in: Vom Weltbuch zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen (Hg. Waltraud Wiethölter/Frauke Berndt/Stephan Kammer), , S. . Zu dem genannten Lehrer auch Peter Armour, The Love of Two Florentines: Brunetto Latini and Bondie Dietaiuti, Lectura Dantis , ; Richard Kay, The Sin(s) of Brunetto Latini, Dante Studies (), .
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in der Tat sagen kann, das Ende liege bei Dante immer zugleich im Anfang und der Beginn sei stets im Hinblick auf das Ganze mit seinem Ende im Paradiso konzipiert.⁴⁸⁹ Daraus folgt zugleich, dass der anfangs rudimentäre Gerechtigkeitssinn, der Schwankungen bis hin zu moralischer Korruption und pervertierter Selbstgerechtigkeit ausgesetzt ist,⁴⁹⁰ von Anfang an eine richtende und lenkende Instanz über sich weiß, die scheinbar im erzählenden Ich begründet ist. In der einmaligen Namensnennung ergeht so an Dante in doppeltem Sinne, nämlich auf beiden Seiten, stellvertretend der Ruf der Gerechtigkeit.
c) Gerichtete Zeit bei Dante und Proust Die zitierte Stelle ist darüber hinaus im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Dantes Göttlicher Komödie und Marcel Prousts Hauptwerk von Interesse. Ähnlich wie Proust den Leser der ‚Recherche‘ zunächst glauben macht, dass der Autor ausschließlich autobiographisch schreibt und ihn dann lange Zeit in der Schwebe und Ungewissheit darüber lässt,⁴⁹¹ um schließlich unversehens und scheinbar selbstverständlich einmal die Anrede „Marcel“ ausgesprochen zu hören, verfährt Dante mutatis mutandis mehr als ein halbes Jahrtausend zuvor.⁴⁹² Es ist zudem in der Tat bezeichnend,⁴⁹³ dass gerade derjenige, der Dante als Dichter der irdischen
Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik in der Göttlichen Komödie, , S. ff. Zu dem auch mit dieser Sichtweise zusammenhängenden Methodenstreit zwischen der von Ernst Robert Curtius repräsentierten historisch-philologischen Literaturwissenschaft und der idealistischen Friedrichs näher Frank-Rutger Hausmann, „Sie haben keine Neigung, von mir etwas zu lernen“. Ernst Robert Curtius, Hugo Friedrich und die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, in: Mittellateinisches Jahrbuch , (), ff.; Mirjam Mansen, „Denn auch Dante ist unser!“. Die Deutsche Danterezeption – , , S. ff. Inferno, XXXII, ff., ff.; XXXIII, ff. Eingehend zur Unterscheidung zwischen erinnerndem und erinnertem Ich Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, . Auflage , S. ff. Zur Beziehung dieser beiden großen Dichter der Weltliteratur zueinander im Hinblick auf das beiden Hauptwerken immanente Hauptthema der Zeit siehe Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘ und Dantes ‚Commedia‘, , S. : „Beide vertrauen sich der weltimmanenten Ewigkeit des Werks an, das unter dem Druck der Zeit, mit der Zeit, durch die Zeit und gegen die Zeit seine Gestalt findet. Beide lassen Weg zum Werk und Werk ineinander fallen und machen dies eine und einzige Werk fortan ausschließlich zur poetischen Aufgabe, der sie ihr Leben unterstellen“. Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Carl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, , S. .
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Welt behandelte,⁴⁹⁴ auch die von Prousts in der ‚Recherche‘ geschaffene „irdische Welt“ hervorhob.⁴⁹⁵ Die gemeinsame Klammer erschöpft sich wohl nicht nur im Literaturwissenschaftlichen. Nicht von ungefähr stellt ein zeitgenössischer Interpret neben Augustinus gerade auch ein zentrales Wort Pascals über Wahrheit und Gerechtigkeit an den Ausgangspunkt seiner Betrachtung der Zeitgestalten bei Proust.⁴⁹⁶ Dieser Zusammenhang kann hier nicht vertieft werden,⁴⁹⁷ veranschaulicht aber, dass sich die schon von Beckett in seinem Proust-Essay⁴⁹⁸ hervorgehobenen Bezüge zwischen Dante und Proust nicht zuletzt im Hinblick auf ihre möglichen Vorläufer – Augustinus einerseits und Pascal andererseits⁴⁹⁹ – erklären lassen, die wiederum das Thema der Gerechtigkeit im weitesten Sinne berücksichtigt und als Grundanforderung begriffen haben. Hans Robert Jauß hat mit gutem Grund geltend gemacht, dass man die Commedia durchaus im Lichte der ‚Recherche‘ lesen könne, zumal da die – dort durch die Kunst gerichtete – verlorene Zeit der Recherche in der – hier durch die Religion – „gerichteten Zeit“ der Komödie einen Vorläufer habe.⁵⁰⁰
9. Quantensprung des Gerechtigkeitssinns Dantes allmählich ausreifender Gerechtigkeitssinn erfährt hier eine abrupte Steigerung und macht gleichsam einen Quantensprung. Der namentliche Anruf erweist sich zugleich unausgesprochen als die Dante in die Pflicht nehmende Erinnerung an seine Willensfreiheit und führt so zu einer Selbstbestimmung, der das richtende Korrektiv allgegenwärtig ist.⁵⁰¹ Diese Erinnerung an die in der Gerechtigkeit vorausgesetzte Willensfreiheit und die damit einhergehende Selbst-
Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage . Erich Auerbach, Marcel Proust: Der Roman der verlorenen Zeit, in: Die neueren Sprachen (), , . Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘ und Dantes ‚Commedia‘, , S. . Näher dazu Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, . Samuel Beckett, Proust, (hier zitiert nach der Luchterhand-Ausgabe, , S. f.), bezieht sich zum Einen implizit auf eine Stelle aus Dantes Convivio (II, Canzone, ), in der Dante schließlich seinem Werk selbst Mut zuspricht, sich vom Unverständnis der Leser nicht irre machen zu lassen (dazu Anmerkung, S. ); zum Anderen zitiert Beckett (S. ) Purgatorio, X. Siehe nur Gabrielle Townsend, Proust’s Imaginary Museum, , S. . Hans Robert Jauß, Wege des Verstehens, , S. ff.; zustimmend Ulrich SchulzBuschhaus, Das Rezensionswerk des Ulrich Schulz-Buschhaus (Hg. Klaus-Dieter Ertler/Werner Helmich), , S. . Purgatorio, XVI, ff.; XVIII, ff.; XXI, f.
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bestimmung ruft die Frage nach dem „Selbst“ hervor, die Dante hier vielsagend beantwortet. Zugleich wird damit die folgende Selbstanklage vorbereitet, die Beatrice gegen Dantes anfängliche Verstocktheit und allzu menschliche Schwäche verlangt: „Wenn du verschwiegest auch oder leugnetst, / Was du gestehst, nicht minder wüßte drum man / Um deine Schuld doch; solch ein Richter kennt sie. / Doch wenn aus eignem Angesicht der Sünde / Anklage bricht hervor, dann kehrt in unserm / Gericht das Schleifrad sich der Schneid entgegen“ („Ed ella: Se tacessi o se negassi / ciò che confessi, non fora men nota / la colpa tua: da tal giudice sassi! / Ma quando scoppia de la propria gota / l’accusa del peccato, in nostra corte / rivolge sé contra ’l taglio la rota“).⁵⁰² Es geht also um nichts anderes als das, was wir heute als strafmilderndes Geständnis bezeichnen würden,⁵⁰³ nur dass das Selbstbekenntnis weniger darin seinen Gerechtigkeitsgrund hat, dass das Geständnis dem Richter die Sachverhaltsaufklärung abnimmt – diese ist dem von Dante angesprochenen Richter ohnehin offenbar, da er gleichsam vor ihm liegt wie ein aufgeschlagenes Buch⁵⁰⁴ –, sondern das Geständnis verrät Unrechtseinsicht, Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld und Reue.⁵⁰⁵ Damit ist auch Dantes Gerechtigkeitssinn am Ende des Purgatorio auf das Paradiso eingestimmt.
Purgatorio, XXXI, – . Im Übrigen gibt es bei Dante keine Strafmilderung; Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. f.: „Die metaphysische Rechtsidee Dantes erlaubt keine Milderung, wenn die Schuld reuelos ist“. Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S. : „Confession is for the sake of the sinner, not of the judge“. Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , f.
III. Paradiso Im Paradiso zeigt sich in besonderer Weise das, was Hugo Friedrich als die „Strenge des metaphysischen Rechtsbewusstseins“ bezeichnet, „die den Menschen nicht vor das Gericht des Menschen, sondern des Seinsgrundes stellt“.⁵⁰⁶ Auch wenn dies in erster Linie auf den Francesca-Gesang des Inferno bezogen ist,⁵⁰⁷ gilt es doch auch und gerade für das Paradiso, wo Dante diesen Seinsgrund erfahren und schauen darf. Denn nicht nur im Inferno und Purgatorio, sondern auch im Paradiso werden die irdischen Taten und Unterlassungen gerichtet.⁵⁰⁸
1. Gerechtigkeitsvorstellung des Paradiso Dass das Verhalten zu Lebzeiten beurteilt wird und auch hier das Irdische zum Maßstab gerät, zeigt sich zu Beginn des vierten Gesangs:⁵⁰⁹ „Beatrix tat, wie Daniel getan hat, / Nabuchodonosor den Zorn zu stillen, / Der ungerechterweis ihn grausam machte“ („Fé sì Beatrice qual fé Danïello, / Nabuccodonosor levando d’ira, / che l’avea fatto ingiustamente fello“).⁵¹⁰ Auch wenn es hier nicht notwendigerweise um reale Geschehnisse geht, sondern vielmehr eine biblische Stelle in Bezug genommen wird,⁵¹¹ zeigt dies, wie sehr Dante einen irdischen Vergleichsmaßstab anlegt, auch wenn er stets sub specie aeternitatis misst.⁵¹² Ungerechte Taten gehören der Vergangenheit an. Mit ihrer Hilfe vermag sich Dante – zumal wenn sie durch biblische
Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Siehe zum Ganzen Joseph Anthony Mazzeo, Structure and thought in the Paradiso, ; Robin Kirkpatrick, Dante’s „Paradiso“ and the Limitations of Modern Criticism, . Inferno, V. Dazu Ignazio Baldelli, Dante e Francesca, ; Teodolinda Barolini, Dante and Francesca da Rimini: Realpolitik, Romance, Gender, Speculum (), ; Silvana Bussmann, Wo jedes Licht verstummt. Inferno V der Commedia des Dante Alighieri, . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Siehe auch L. Filomusi-Guelfi, La struttura morale del Paradiso dantesco, G.D.V., , S. ff.; Francesco Paolo Luiso, Costruzione morale e poetica del Paradiso dantesco, ; Joseph Anthony Mazzeo, Structure and Thought in the Paradiso, ; Marguerite Mills Chiarenza, The Imageless Vision and Dante’s Paradiso, Dante Studies (), . Dazu Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Dritter Teil: Das Paradies, , . Auflage , S. f. Paradiso, IV, – (Übersetzung Philalethes). Buch Daniel , – . Hermann Conrad, Die Rechtslehre des Dante Alighieri, Begegnung: Zeitschrift für Kultur und Geistesleben (), , .
1. Gerechtigkeitsvorstellung des Paradiso
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Vorbilder verbrieft sind – zu vergegenwärtigen, wie es mit der Gerechtigkeit im Paradiso bestellt ist.
a) Gleichlauf mit der Monarchia Eine Parallelstelle findet sich in der Monarchia, wo die rhetorische Frage einer BibelStelle: „Weshalb verkündigst du meine Gerechtigkeit?“ so gedeutet wird: „Du redest vergebens, da du von dem, was du sagst, weit entfernt bist.“⁵¹³ Allerdings muss sich Beatrice in seine beschränkte irdische Sicht erst hineinversetzen: „Du denkst so: Wenn der gute Wille dauert, / Aus welchem Grund kann anderer Gewalttat / Das Maß mir des Verdienstes dann vermindern?“ („Tu argomenti: Se ’l buon voler dura, / la vïolenza altrui per qual ragione / di meritar mi scema la misura?“).⁵¹⁴ Beatrice versucht den vom irdischen Denken geprägten und danach urteilenden Dante zunächst in die Gerechtigkeitsvorstellung des Paradiso einzuweisen:⁵¹⁵ „Daß Unrecht in der Menschen Augen unsre / Gerechtigkeit erscheinet, ist zum Glauben / Aufforderung, nicht zu ketzerischer Verruchtheit“ („Parere ingiusta la nostra giustizia / ne li occhi d’i mortali, è argomento / di fede e non d’eretica nequizia“).⁵¹⁶ Die beschränkte sinnliche Wahrnehmung und Urteilskraft des Menschen kann Gerechtes und Ungerechtes nicht voneinander scheiden. Hugo Friedrich spricht anschaulich von „jener Gerechtigkeit, die (…) dem menschlichen Auge zuweilen ungerecht erscheinen mag und darum umso mehr den Glauben sichert“.⁵¹⁷ In der Monarchia weist Dante die Gerechtigkeit und Rechtsprechung von daher allein dem Monarchen bzw. Kaiser zu: „Die Gerechtigkeit besitzt am meisten Macht in der Welt, wenn sie sich in jenem Subjekt befindet, das den besten Willen und die meiste Macht besitzt.Von dieser Art ist nur der Monarch. Also besitzt nur die dem Monarchen inhärierende (sic!) Gerechtigkeit am meisten Macht in der Welt.“⁵¹⁸ Diese am Weltkaisertum ausgerichtete Gerechtigkeitsvorstellung führt zwar zu einer eigentümlichen Zuständigkeit, enthält aber
Dante Alighieri, Monarchia, I, xiii, (Übersetzung Ruedi Imbach): „Hinc etiam dicebatur de celo peccatori David: ‚Quare tu enarras iustitias meas?‘, quasi diceret: ‚Frustra loqueris, cum tu sis alius ab eo quod loqueris‘“. Paradiso, IV, – (Übersetzung Philalethes). Näher Domenico de Robertis, Dante e Beatrice in Paradiso, Critica letteratura (), . Paradiso, IV, – (Übersetzung Philalethes). Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, (Übersetzung Ruedi Imbach, S. der Reclam-Ausgabe): „iustitia potissima est in mundo quando volentissimo et potentissimo subiecto inest; huiusmodi solus Monarcha est: ergo soli Monarche insistens iustitia in mundo potissima est“.
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III. Paradiso
gleichwohl den Gedanken, dass eine Person die Gerechtigkeit gewissermaßen repräsentiert.
b) Gerechtigkeitssinn und Wahrheitssinn Dantes Gerechtigkeitssinn erscheint hier abermals als derjenige des Repräsentanten der Menschheit. Stellvertretend für alle Menschen erfährt der Wanderer Dante zu Beginn des Paradiso, dass das rechte Maß der menschlichen Erkenntnis entzogen ist und nur durch den Glauben an die göttliche Gerechtigkeit aufgewogen werden kann.⁵¹⁹ Andererseits räumt Beatrice ein, dass die menschliche Erkenntnis zumindest einen Teil der Wahrheit wahrnehmen kann. Gerechtigkeit und Wahrheit hängen zuinnerst miteinander zusammen. Wenn auch die Erkenntnis der Gerechtigkeit beschränkt ist, so können dem Menschen doch mit seinem beschränkten Erkenntnisvermögen Teile der Wahrheit offenbart werden. Im Hintergrund dieser Zeilen steht für Dante eine erkenntnistheoretische Dimension, die vor allem dann deutlich wird, wenn man die Bedeutung der Philosophie für ihn in die Betrachtung einstellt.⁵²⁰ Dies wird in seiner unvollendeten Schrift Convivio deutlich, die übrigens ursprünglich auch noch eine Abhandlung über die Gerechtigkeit enthalten sollte,⁵²¹ und wo er über die Philosophie sagt: „Darum schaute mein Wahrheitssinn so gern nach ihr hin, dass ich ihn kaum von ihr abwenden konnte.“⁵²² Auch wenn es sich um zwei verschiedene Werke handelt, wird klar, dass Dantes Gerechtigkeitssinn aufs engste mit seinem Wahrheitssinn zusammenhängt. Der Wahrheitssinn wiederum wird vor allem durch die Beschäftigung mit der Philosophie bestimmt.⁵²³ Die philosophische Wahrheit sucht Dante zum einen bei den religiösen
Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , : „Grundlage der Danteschen Konzeption ist (…) der Glaube an die göttliche Gerechtigkeit. Der Glaube ist ebenso absolut wie die Gerechtigkeit“. Siehe auch Patrick Boyde, Dante Philomythes and Philosopher: Man in the Cosmos, ; ders., Perception and passion in Dante’s „Comedy“, ; ders., Human Vices and Human Worth in Dante’s „Comedy“, . Allan H. Gilbert, Dante’s Conception of Justice, , S.v, unternimmt den hochinteressanten Versuch, dies anhand des auf uns gekommenen Materials unter besonderer Berücksichtigung der Göttlichen Komödie zu rekonstruieren und auf diese Weise Dantes Gerechtigkeitsverständnis nachzuzeichnen. Dante Alighieri, Convivio, II, xii, . Wichtig auch Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Zweiter Teil, , S. , wonach Gottes Güte „nie gegen die Wahrheit und die ihr zugehörige Gerechtigkeit stehen kann“. Es gebe daher auch ein „Recht der Wahrheit“ (ebenda, S. ). Dante Alighieri, Monarchia, I, i, ; ii, ; iv, .
2. Wahrheitssinn als Korrektiv des Gerechtigkeitssinns
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Orden (le scuole de li religiosi) und zum anderen in den Erörterungen der Philosophen (le disputazioni de li filosofanti).⁵²⁴ Die Erkenntnis der Wahrheit – und damit die Prägung seines Wahrheitssinnes – hängt für Dante also vom Maß der Durchdringung der religiösen und philosophischen Lehre ab. Angesichts der Beschränktheit philosophischer Erkenntnis wird somit der Glaube zum integralen Bestandteil der Wahrheitssuche, die wiederum zur Erkenntnis der Gerechtigkeit führt. Ebenso wie sich allmählich der Wahrheitssinn schärft, kann auch der Gerechtigkeitssinn durch die Beschäftigung mit den Erkenntnissen der religiösen Orden und durch die Texte der antiken Philosophen weiter verfeinert werden.
2. Wahrheitssinn als Korrektiv des Gerechtigkeitssinns Beatrice vermittelt Dante eine auf den ersten Blick kontraintuitive Einsicht, die darin besteht, dass auch derjenige der sich der Ungerechtigkeit beugt, indem er sie hinnimmt, mitschuldig wird: „Wenn das Gewalt ist, wenn, der sie erduldet, / In keinem Stück dem mitwirkt, der Gewalt übt, / So sind durch sie nicht schuldfrei diese Seelen;“ („Se vïolenza è quando quel che pate / nïente conferisce a quel che sforza, / non fuor quest’ alme per essa scusate“).⁵²⁵ Im Hintergrund dieser Stelle steht letztlich wieder das Problem der Willensfreiheit. Josef Kohler, der das Problem der Willensfreiheit bei Dante eingehend behandelt hat,⁵²⁶ gestaltet die Terzinen in seiner sonst nicht unproblematischen⁵²⁷ „freien Nachdichtung“ des Paradiso sprachgewaltig:⁵²⁸ „Betrachte nur, was freier Wille ist: / Er kann sich stets nach seiner Wahl gestalten; / Vergeblich ist Gewalt und arge List. / Trotz jeden Druckes kann er sich entfalten, / Und wenn auch hundertfach gebeut der Zwang, / Der freie Wille wird in Freiheit schalten.“⁵²⁹
Dante Alighieri, Convivio, II, xii, . Paradiso, IV, – (Übersetzung Philalethes). Josef Kohler, Dante und die Willensfreiheit, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , . Vgl. nur Alfred Bassermann, Zur Frage der Dante-Übersetzung, Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, Zweiter Band, , S. , . Josef Kohler, Dantes heilige Reise. Freie Nachdichtung der Divina Commedia, Paradiso, , S. . Vgl. Paradiso, IV, – ; bei allen Vorbehalten und Bedenken, die man gegenüber Kohlers Nachdichtung hegen kann, veranschaulichen die beiden Terzinen, dass er das eigentümliche Prinzip der Reimverschlingung Dantes konsequent umgesetzt und übertragen hat. Siehe auch Karlheinz Stierle, Der Reim als Wortgeburt und Dantes Reimkunst, in: Wortgeburten. Zur Ehre von Karl Maurer (Hg. Achim Hölter/Monika Schmitz-Emans), , S. . Aufschlussreich ferner Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, (Gesammelte Essays – , . Auflage , S. , , Übersetzung Ralph Dutli): „Wenn ich nach besten Kräften in die Struktur der Divina
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III. Paradiso
Der freie Wille wird also auch im Paradiso vorausgesetzt, wie sich bereits im ersten Gesang zeigt.⁵³⁰ Allerdings kommt im Paradiso, anders als im Inferno und Purgatorio, nurmehr die positive Seite der Willensfreiheit zu ihrem Recht, wie Dante im Schreiben an Cangrande präzisiert:⁵³¹ „Und wenn der Gegenstand des ganzen, allegorisch aufgefassten Werkes der Mensch ist, insofern er aufgrund der Willensfreiheit durch Verdienst oder Schuld der belohnenden und bestrafenden Gerechtigkeit unterworfen ist, ist offenkundig, dass in diesem Teil der Gegenstand eingeschränkt wird, und er ist dann der Mensch, insofern er durch Verdienst der belohnenden Gerechtigkeit unterworfen ist.“⁵³² Der Wille entfaltet sich aber nur dadurch, dass er auch ausgeübt wird. Dazu gehört, dass er sich dem Unrecht aktiv widersetzt: „Drum, wenn er nachgibt, sei’s viel oder wenig, / so folgt er der Gewalt“ („Per che, s’ella si piega assai o poco, / segue la forza“).⁵³³ Duldsamkeit und Nachgiebigkeit ist daher nur eine scheinbare Tugend – nämlich nach dem Augenschein, den Beatrice zuvor schon für trügerisch erklärt hat.⁵³⁴ Die Duldung der Gewalt wird demnach unversehens zu einer Komplizin des Unrechts.Wer ungerechte Gewalt widerstandslos hinnimmt, gerät aus Dantes Sicht in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihr. Passive Willensschwäche kann den Einzelnen in Schuld verstricken: „Der Will an sich nicht willigt in das Übel, / Doch willigt insoweit er, als er fürchtet, / durch Weigerung in größres Leid zu fallen“ („Voglia assoluta non consente al danno; / ma consentevi in tanto in quanto teme, / se si ritrae, cadere in più affanno“).⁵³⁵ Diese Wahrheit ist Dantes menschlichem Sinn zugänglich. Der auf diese Weise geschärfte Wahrheitssinn erweist sich somit als Korrektiv für den Gerechtigkeitssinn Dantes. Philosophische Erkenntnis ist für ihn kein Selbstzweck, sondern ermöglicht eine zunehmend gerechte Beurteilung.⁵³⁶
Commedia einzudringen versuche, komme ich zum Schluss, dass das ganze Poem eine einzige, einheitliche und unteilbare Strophe darstellt“. Paradiso, I, ; vgl. dazu auch Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Dazu Robert Hollander, Dante’s Epitle to Cangrande, . Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, Epistola XIII, , Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Thomas Ricklin mit einer Vorrede von Ruedi Imbach, , S. f.: „Et si totius operis allegorice sumpti subiectum est homo prout merendo et demerendo per arbitrii libertatem est iustitie premiandi et puniendi obnoxius, manifestum est in hac parte hoc subiectum contrahi, et est homo prout merendo obnoxius est iustitie premiandi“. Paradiso, IV, f. (Übersetzung Philalethes). Paradiso, IV, f. Paradiso, IV, – (Übersetzung Philalethes). Dante Alighieri, Monarchia, I, xiii, .
3. Vernunfterkenntnis als Maßstab des Gerechtigkeitssinns
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3. Vernunfterkenntnis als Maßstab des Gerechtigkeitssinns Grundlage jeglicher persönlichen Zurechnung ist für Dante somit die Willensfreiheit.⁵³⁷ Sie ist nicht nur im Inferno und im Purgatorio, sondern auch im Paradiso Dreh- und Angelpunkt der Beurteilung. Allerdings wird Dante erst im Paradiso die religiöse Dimension der Willensfreiheit offenbart: „Die größte Gabe, die uns, schaffend, Gottes / Freigiebigkeit gab, und die seiner Güte / Zumeist entspricht, und die er schätzt am höchsten, / Ist unseres Willens Freiheit doch, mit welcher / Die sämtlichen, vernünftigen Geschöpfe, / Und sie allein, begabet sind und waren“ („Lo maggior don che Dio per sua larghezza / fesse creando, e a la sua bontate / più conformato, e quel ch’e’ più apprezza, / fu de la volontà la libertate; / di che le creature intelligenti, / e tutte e sole, fuoro e son dotate“).⁵³⁸ Die Willensfreiheit folgt aus der Vernunftbegabung des Menschen. Daher muss der Mensch rechten Gebrauch von der Vernunft machen. Er darf selbstbestimmt nur solche Verbindlichkeiten eingehen, die er erfüllen kann. Die kognitive Befähigung des Menschen wird so selbst zu einer Verpflichtung. Durch die Beschäftigung mit den Vorbildern im Glauben – insbesondere den religiösen Vorbildern der Ordensleute – und die Auseinandersetzung mit den Philosophen erkennt der Mensch, wie er die Willensfreiheit auszuüben hat.⁵³⁹ Auch hieran zeigt sich, dass der Gerechtigkeitssinn im Sinne Dantes keine einmal angeborene und dann unveränderlich bestehende Befähigung darstellt, sondern dass er gleichsam mit der Vernunfterkenntnis Schritt halten muss. Indem er sich seiner Willensfreiheit immer aufs Neue bewusst wird, gerät diese selbst zu einer steten Verpflichtung. Die Selbsterkenntnis, dass die Willensfreiheit eine gottgegebene und daher unveränderliche Größe ist, stellt zugleich die Forderung auf, dass auch der Wahrheits- und Gerechtigkeitssinn ihr zumindest annäherungsweise nachfolgt. Die Erkenntnis der Freiheit führt so zu einem moralischen Postulat, sich dieser Freiheit als würdig zu erweisen.
Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , . Paradiso, V, – (Übersetzung Philalethes). Friedrich Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches, II, ; ) hat später einen der schärfsten Angriffe gegen die Willensfreiheit geführt und für die von ihm so genannte „Fabel der intelligiblen Freiheit“ insbesondere Schopenhauer verantwortlich gemacht, darüber hinaus aber die Verantwortungsanteile so festgelegt: „An der Entstehung dieses Fabelwesens sind Plato und Kant zu gleichen Teilen mitschuldig.“ (Menschliches, Allzumenschliches, I, ; siehe auch Morgenröte, II, ; näher dazu Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, . Auflage , S. ff.). Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, /, § , ist die Willensfreiheit geradezu ein Daseinsgrund des Rechts; dazu Jens Petersen, Die Eule der Minerva in Hegels Rechtsphilosophie, . Auflage , S. .
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4. Kodifizierung des Rechts Der sechste Gesang zeigt deutlich, wie sehr auch im Paradiso irdische und weltliche Verdienste abgegolten werden. Hier ist es die überragende Gestalt des römischen Kaisers Justinian,⁵⁴⁰ der den gesamten Gesang über spricht und dem er damit auch gewidmet ist – ein in der gesamten Göttlichen Komödie singulärer Vorgang.⁵⁴¹
a) Justinians Verdienst Für den vorliegenden Zusammenhang ist die Gestalt Justinians und ihre Würdigung durch Dante deshalb von so großer Bedeutung, weil es Justinian war, der das klassische römische Recht von neuem ordnen ließ und damit das in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug zu schätzende Corpus Iuris schuf.⁵⁴² Dieser epochalen und buchstäblich jahrtausende überdauernden Kulturleistung ist sich Justinian durchaus bewusst,⁵⁴³ wenn er sich Dante gegenüber zu erkennen gibt: „Cäsar war ich und bin Justinianus, / Der der Urliebe Rat nach, die ich fühle, / Aus dem Gesetz schied, was zu viel und leer war“ („Cesare fui e son Iustinïano, / che, per voler del primo amor ch’i’ sento, / d’entro le leggi trassi il troppo e ’l vano“).⁵⁴⁴ Der letztgenannte Gesichtspunkt, die Reduzierung auf das Wesentliche und Entscheidungserhebliche, hat seit Dantes Zeit bis heute maßgeblich auf die Juristenausbildung gewirkt.⁵⁴⁵ Diese Stelle ist darüber hinaus in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Zunächst und vor allem veranschaulicht sie das, was schon im Purgatorio zur Geltung kam, Dazu Carlo Landi, Giustiniano nel cielo di Mercurio, Rivista d’Italia XVII (), ; Steven Grossvogel, Justinian’s Jus and Justificatio in Paradiso . – , Modern Language Notes (), . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Es ging um die Digesten, Institutionen, den Codex und die Novellen, die nach seinem Tod als Corpus Iuris Civilis bezeichnet wurden. Erst seit der Gesamtausgabe durch Dionysius Gothofredus () sprach man vom Corpus Iuris Civilis (vgl. nur die von Theodor Mommsen und Paul Krüger edierte Ausgabe von ); näher Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, . Auflage , S. f. Claus-Wilhelm Canaris, Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts, S. , . Siehe auch Ernst Robert Curtius, Das Buch als Symbol in der Divina Commedia, Festschrift für Paul Clemen, , S. ff. Paradiso, VI, – (Übersetzung Philalethes). Zur Juristenausbildung in Bologna Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, . Auflage , S. f., wo zu Dantes Zeit Folgendes galt: „Letzteres (sc. römisches Zivilrecht) wird in Bologna seit über zweihundert Jahren anhand des justinianischen Corpus iuris civilis erforscht und gelehrt; im Mittelpunkt stehen die Digesten, eine Sammlung römischen Juristenrechts, die auf drei Lehrveranstaltungen aufgeteilt ist (…)“.
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nämlich den Zusammenhang zwischen Liebe und Gerechtigkeit. Diesen hat Dante auch in der Monarchia zugrunde gelegt: „So wie die Begierde die habituale Gerechtigkeit in gewisser Weise, wenn auch nur in geringem Maße, verdunkelt, ebenso schärft und erleuchtet sie die Liebe oder das richtige Verlangen. Wer die richtige Liebe am meisten besitzen kann, bei dem findet auch die Gerechtigkeit ihr vorzüglichstes Subjekt.“⁵⁴⁶ Liebe und Gerechtigkeit hängen also auch in Dantes Rechts- und Staatsphilosophie miteinander zuinnerst zusammen. Während die negativen Leidenschaften, deren Ausleben Dante im Inferno sanktioniert, die Gerechtigkeit verschatten, zieht die Liebe die Gerechtigkeit nach sich. Wer nach jener strebt, schärft zugleich den Sinn für diese.
b) Personifizierte Gerechtigkeitsliebe Vor diesem Hintergrund wird der Impetus deutlich, der Justinian zu seinem Vorhaben antrieb: „Denn die Gerechtigkeit gab, die lebendige, / Die mich belebt“ („ché la viva giustizia che mi spira“).⁵⁴⁷ Obwohl Justinian in den höchsten Tönen von sich spricht, vermeidet Dante bei ihm jeglichen Anschein der Selbstgerechtigkeit. Das gelingt nicht zuletzt deswegen, weil nur die Liebe und nicht die Aussicht auf weltlichen Ruhm zur Antriebskraft der Kodifizierung des Rechts erklärt wird. Dante bewerkstelligt dies mit dem rhetorischen Kunstgriff, dass er Justinian als denjenigen darstellt, welcher der von ihm gefühlten Liebe – man wird ergänzen müssen: zur Gerechtigkeit – folgt. Justinian erscheint auf diese Weise als Personifizierung der Gerechtigkeitsliebe. Er hat die Kodifizierung des Rechts nicht zum Machterhalt genutzt, sondern um ihrer selbst Willen ins Werk gesetzt und damit Gerechtigkeit verwirklicht. Ungeachtet seiner kaiserlichen Macht wird er von Dante gleichwohl nicht als aktiv Gestaltender geschildert, sondern als einer der dem Ruf seines Herzens folgt. So wird er selbst für Dante gleichsam zum Instrument der Gerechtigkeit. Dieser Ruf, der von der „höchsten Liebe“ – also Dante zufolge letztlich der Gerechtigkeit Gottes – an ihn ergeht, prägt seinen Gerechtigkeitssinn – und damit zugleich den Gerechtigkeitssinn des ihm ergebenen Wanderers Dante.
Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, . (Übersetzung Ruedi Imbach, Reclam-Ausgabe S. ): „Preterea, quemadmodum cupiditas habitualem iustitiam quodammodo, quantumcunque pauca, obnubilat, sic karitas seu recta dilectio illam acuit atque dilucidat. Cui ergo maxime recta dilectio inesse potest, potissimum locum in illo potest habere iustitia“. Paradiso, VI, f. (Übersetzung Philalethes); Otto Gildemeister, Dante’s Göttliche Komödie, . Auflage , S. , übersetzt: „Denn die Gerechtigkeit, die lebt in mir.“ – Beide Übertragungen geben das von Dante Gemeinte ersichtlich nur annäherungsweise wieder.
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c) Rückführung des Rechts auf seinen Kern Es ist bezeichnend für den hier dargestellten Prozess, in dem sich der Gerechtigkeitssinn Dantes entwickelt, dass er nicht nur von der göttlichen Liebe gleichsam überflutet, sondern auch rational überzeugt wird. Dies geht vonstatten, indem das zentrale irdische Verdienst Justinians in seinem Selbstbekenntnis auf einen Nenner gebracht wird: „Aus dem Gesetz schied, was zu viel und leer war“ („d’entro le leggi trassi il troppo e ’l vano“).⁵⁴⁸ Das entspricht wörtlich der Einleitung zum Corpus Iuris:⁵⁴⁹ „omni supervacua similitudine et iniquissima discordia absolutae“. In einer einzigen Zeile wird hier nicht nur das irdische Verdienst Justinians umrissen, sondern überhaupt die Tätigkeit des guten Gesetzgebers und Rechtsschöpfers zusammengefasst.⁵⁵⁰ Dantes zeitweiliger Besuch der Bologneser Rechtsschule schlägt sich hier dergestalt nieder,⁵⁵¹ dass er den Maßstab eines wohlgesetzten Rechts kraft der dort erworbenen systematisch-juristischen Schulung erkennt und auf den Begriff bringt:⁵⁵² Hier wird im Wortsinne die Spreu vom Weizen getrennt, indem das Wesentliche vom nicht Entscheidungserheblichen unterschieden wird. Der überflüssige Ballast, der sich seit den Zeiten der klassischen Juristen angesammelt hat, wird ausgeschieden und das Recht somit auf seinen Kern zurückgeführt,⁵⁵³ allerdings mit allfälligen Änderungen an den Texten der klassischen Juristen, wie Justinian in seiner Einleitung zu den Digesten vermerkt hat.⁵⁵⁴
Paradiso, VI, (Übersetzung Philalethes). Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Dritter Teil: Das Paradies, , . Auflage , S. . Vgl. auch Dante Alighieri, Monarchia, I, xiii, ; I, xiv, (Übersetzung Ruedi Imbach): „est enim lex regula directiva vite.“ Dazu Hermann Conrad, Recht und Gerechtigkeit im Weltbild Dante Alighieris, Festschrift für Johannes Spörl, , S. , . Außer in Bologna studierte er wohl auch zeitweise in Paris, dem Zentrum der Scholastik; vgl. Hermann Conrad, Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, . Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund weiterführend Peter Landau, Die Internationalität der Bologneser Kanonistik in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts, Archiv für katholisches Kirchenrecht (), . Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches DanteJahrbuch (), , . Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , S. f., gibt zu bedenken: „Any reevaluation of Dante’s literary contract with readers needs to take into account the basic differences between modern and ancient theories of contract law. In Roman law there was no general theory of the contract, and no single accepted method for creating a legal agreement between parties. Instead, Justinian’s Corpus iuris described various types of discrete contracts. The validity of these contracts depended on a range of non-systematic criteria“. Justinianus, Constitutio Tanta, § ; näher Silvia Conte, Giustiniano e l’inspirazione divina die digesti, L’Alighieri (), ; Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, , S. .
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Insofern ist aufschlussreich, wie Josef Kohler, einer der einflussreichsten Juristen seiner Zeit, die Stelle frei nachdichtet, dabei aber Justinians Verdienst gleichsam aus fachjuristischer Sicht in den Zusammenhang stellt und zugleich dichterisch würdigt:⁵⁵⁵ „Ich Justinian, / der Kaiser, der einst Romas höchste Gabe / Für immer sammeln ließ durch Tribonjan. / Was kühne Geister schrieben, aus dem Grabe / Hab’ ich’s im corpus iuris neu erweckt, / Jahrhunderten des Wissens höchste Labe. / Ich ließ es sichten, suchte, was versteckt, / Und strich, was überholt und was veraltet.“⁵⁵⁶ Gerade die letzten Zeilen des fiktiven Selbstbekenntnisses werden dem Vorbild trotz aller dichterischen Freiheit, die sich Kohler nimmt, womöglich eher gerecht, weil er die besondere Herangehensweise Justinians nicht nur nachempfindet, sondern in der für den Juristen typischen Weise beschreibt und so sinnfällig macht. Es ist nämlich letztlich abermals die Rationalität des Rechts, die Dante mit dem ihm eigentümlichen Sinn für Recht und Gerechtigkeit am Beispiel des weltlichen Rechts durch Justinian fassbar gemacht hat.
d) Fortbildung des Gerechtigkeitssinns durch die Rationalität des Rechts Mit dieser zunächst nur formalen Reduzierung des Rechtsstoffes geht jedoch auch eine Rückführung des Rechts auf ein zentrales Postulat der Gerechtigkeit selbst einher: das Übermaßverbot.⁵⁵⁷ Implizit angesprochen ist damit auch das Postulat der Widerspruchsfreiheit einer jeden Rechtsordnung:⁵⁵⁸ „Ich glaubt ihm, und den Inhalt seiner Worte / Seh ich jetzt klar, wie du, daß eines wahr ist, / Das andre falsch, bei jedem Widerspruche“ („Io li credetti; e ciò che ’n sua fede era, / vegg’ io
Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , äußert sich skeptisch gegenüber Dantes juristischer Kenntnis: „Was weiß er viel vom Corpus iuris? Die eine und die andere Stelle aus den Digesten – und diese sind beinahe landläufig und inhaltlich kärglich genug!“. Demgegenüber unternimmt Luigi Chiapelli, Dante in rapporto alle fontidel diritto ed alla letteratura giuridica del suo tempo, Archivio storico Italiano (), , den Versuch, die betreffenden Digesten-Stellen zu Dantes Rechtsdenken konkret zueinander in Beziehung zu setzen. Josef Kohler, Dantes heilige Reise. Freie Nachdichtung der Divina Commedia, Paradiso, , S. . Siehe hierzu aus der zeitgenössischen Diskussion Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, . Zu ihr allgemein Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, . Auflage ; speziell im Zivilrecht ders., Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, ; für das Strafrecht Claus Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, . Auflage .
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or chiaro sì, come tu vedi / ogne contradizione e falsa e vera“).⁵⁵⁹ Bemerkenswert ist hieran der Erkenntnisfortschritt der imaginären Gestalt des Justinian, der gleichsam auf Dante übergreift, wenn davon die Rede ist, dass er – Justinian – „es so klar erkennt, wie du erkennst.“ Hieran zeigt sich exemplarisch, wie Dante nicht zuletzt den rationalen Argumenten seines Gegenüber aufgeschlossen ist und sich in ihrer Erkenntnis sein Gerechtigkeitssinn fortbildet. Dass nämlich Dante alles, was er an Eindrücken und Erkenntnissen empfangen hat, auf sich und seine Zeit bezieht, zeigt sich daran, wie Justinians Rede unversehens auf die Geschehnisse der Lebenszeit Dantes übergreift: „Treibt, Ghibellinen, treibet unter anderm / Feldzeichen eure Künste, denn schlecht folgt ihm, / Wer immer von Gerechtigkeit es trennet“ („Faccian li Ghibellin, faccian lor arte / sott’ altro segno, ché mal segue quello / sempre chi la giustizia e lui diparte“).⁵⁶⁰ Die historische Rückschau, in welcher Justinian begriffen ist, führt für Dante immer zugleich zu einer Auseinandersetzung mit den in seiner Zeit schwelenden Kämpfen zwischen den Ghibellinen und den Guelfen. Hierzu findet sich im Schrifttum die interessanterweise auf den Gerechtigkeitssinn bezogene Erklärung, dass Dante zwar durch seine Eheschließung mit den Donati verwandt gewesen sei, die ihrerseits den Guelfen nahe standen: „sein Gerechtigkeitssinn ließ ihn aber zu den faktisch unterdrückten Ghibellinen tendieren.“⁵⁶¹ Und doch zeigt gerade die zuletzt zitierte Stelle, dass Dante in der Commedia über den Parteiungen seiner Zeit steht.⁵⁶² Der Gerechtigkeitssinn mochte ihn für den Schwächeren Partei ergreifen lassen, solange er am politischen Leben teilnahm. Zur Zeit der Niederschrift der Göttlichen Komödie indes und durch sie erhob er sich zur Gerechtigkeit.
5. Lebendige Gerechtigkeit als Chiffre des Gerechtigkeitssinns Auch im Paradiso hat man es nicht mit gleichsam frei schwebenden, himmlischen Postulaten zu tun, sondern alle Gerechtigkeitsvorstellungen sind an die irdischen
Paradiso, VI, – (Übersetzung Philalethes). Paradiso, VI, – (Übersetzung Philalethes). Hanskarl Kölsch, Dann traten wir hinaus und sahn die Sterne. Dantes Divina Commedia, . Auflage , S. . Bündig Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Dritter Teil: Das Paradies, , . Auflage , S. : „Dante, einst Guelfe, hat sich zwar als Vorkämpfer der Kaiseridee in der Verbannung den Ghibellinen genähert, verabscheute aber ihre Parteikämpfe“.
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Geschehnisse rückgekoppelt, auch hier gilt:⁵⁶³ Wie im Himmel so auf Erden.⁵⁶⁴ Mit dieser Erkenntnis gelangt Dante selbst zu einer Einsicht über die Gerechtigkeit, die er zwar Justinian zuschreibt, welche aber wohl seine ureigene Schöpfung ist: „Drum sänftiget in uns auch die lebendige / Gerechtigkeit den Sinn so, daß er nimmer / Zu irgend Bösem kann verkehret werden“ („Quindi addolcisce la viva giustizia / in noi l’affetto sì, che non si puote / torcer già mai ad alcuna nequizia“).⁵⁶⁵
a) Gerechtigkeit und Zeit Die lebendige Gerechtigkeit ist somit eine Gerechtigkeit in der Zeit, zugleich aber auf die Ewigkeit hingeordnet und damit zeitlos.⁵⁶⁶ Als solche muss sie sich jedoch immer ihres Ausgangspunkts vergewissern, der in der Gerechtigkeitsliebe liegt. Nur derjenige, den die Gerechtigkeit entflammt,⁵⁶⁷ und der ihr aus Liebe folgt,⁵⁶⁸ wird der lebendigen Gerechtigkeit teilhaftig. Die Gerechtigkeit ist also für Dante genuin göttlichen Ursprungs und transzendiert von daher ins Irdische, obwohl der Begriff der Transzendenz gerade das umgekehrte Verhältnis auszudrücken scheint. Doch auch hier ist Dantes Zielrichtung das soeben dargestellte „Wie im Himmel so auf Erden“.⁵⁶⁹ Aus dieser Perspektive erklärt sich auch der konsekutive Nachsatz. Gerechtigkeit, die in Liebe ausgeübt wird, erfasst nach Dante den ganzen Menschen und prägt seinen Sinn permanent. Die ursprünglich möglicherweise feindliche Willensrichtung wird aufgehoben, ohne dass es hierzu wie im Purgatorio des contrapasso bedarf, womit dem bösen Willen gleichsam entgegengewirkt wird, bis er sich selbst neutralisiert. Hier wird deutlich, dass die Gerechtigkeitsidee des
Diese Sichtweise entspricht tendenziell derjenigen von Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , und hebt sich damit insbesondere ab von Karl Vosslers Deutung, wonach Dante nicht so sehr die himmlische oder irdische Welt als vielmehr sich selbst zum Gegenstand des Gedichts macht; siehe dazu den von Hans Ulrich Gumbrecht (Vom Leben und Sterben der großen Romanisten, , S. ) zitierten Auszug des Habilitationsgutachtens von Leo Spitzer über die Arbeit Auerbachs. Ähnlich Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. : „Dante hat auch hier nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten gedacht“. Paradiso, VI, – (Übersetzung Philalethes). Zu dieser Dimension des Werks Romano Guardini, Landschaft der Ewigkeit. Der menschliche Existenzraum in der Göttlichen Komödie, Freundesgabe für Carl Georg Heise, , S. ff. Paradiso, VI, . Paradiso, VI, . Dazu aus theologischer Sicht Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Erster Teil, , S. ff.
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Paradiso und das Mittel zu ihrer Verwirklichung ein anderes ist im Verhältnis zum Purgatorio und erst recht zum Inferno. Die gerechte Sache muss nurmehr andeutungsweise skizziert werden, um desto heller zu erstrahlen – ebenso wie umgekehrt die ungerechte Zumutung mit wenigen Worten gegeißelt wird: „Von dem Gerechten Rechenschaft zu fordern“ („A dimandar ragione a questo giusto“).⁵⁷⁰ Knapper und unaufgeregter kann das Unrechtsurteil kaum ergehen, da sich die ungerechte Tat vor den Augen des Lesers gleichsam selbst richtet und den Gerechten nur in umso hellerem Glanz erstrahlen lässt. Dieses von ihm vorgestellte Richtmaß mag Dantes ureigenem Gerechtigkeitssinn ein Trost in der Zeit seines ungerechten Exils gewesen sein, da er seine innere Schau göttlicher Gerechtigkeit im Paradiso unter schwersten irdischen Bedingungen zu entfalten hatte.⁵⁷¹
b) Recht als „Ähnlichkeit des göttlichen Willens“ in der Monarchia Diese Sichtweise liegt auch Dantes Monarchia zugrunde,⁵⁷² in der für ihn feststeht, „dass das Recht, da es etwas Gutes ist, ursprünglich im Geist Gottes existiert. Und da alles, was im Geist Gottes ist, Gott selbst ist, gemäß dem Wort »Was geschaffen ist, ist in ihm Leben«, und weil Gott sich selbst am meisten will, folgt, dass das Recht, so wie es in ihm existiert, von Gott gewollt ist. Und da in Gott der Wille und das Gewollte identisch sind, folgt darüber hinaus, dass der göttliche Wille mit dem Recht identisch ist. Zudem ergibt sich daraus, dass das Recht in den Dingen nichts anderes ist als eine Ähnlichkeit des göttlichen Willens. Daher kommt es, dass alles, was mit dem göttlichen Willen nicht in Einklang steht, kein Recht sein kann,⁵⁷³ und dass alles,was mit dem göttlichen Willen in Einklang steht, das Recht
Paradiso, VI, . Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , erblickt darin ebenso kenntnisreich wie hellsichtig ein „verstecktes Selbstporträt Dantes“, das in dieser Lesart auch für seinen Gerechtigkeitssinn bezeichnend ist: „Was dies bedeutet, hat Dante selbst mit allen Fasern seines Daseins erfahren.“ Vor diesem Hintergrund beschreibt er eingangs (zu Paradiso, VI, – ) die Wirkungsweise göttlicher Gerechtigkeit, welche die Taten jedes Einzelnen und die Herausforderungen, unter denen sie begangen wurden, angemessen zu gewichten weiß: „Demgemäß mildert die göttliche Gerechtigkeit je nach Verdienst ihren Glanz ab“. Siehe auch Larry Peterman, Dante’s Monarchia and Aristotle’s Political Thought, Studies in Medieval and Renaissance History (), ff. Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , sieht dementsprechend als „hervorstechende Eigenart der Danteschen Rechtsphilosophie die besonders enge Verknüpfung mit der Ethik, wie sie in der Herleitung des Rechtes vom göttlichen Willen und in der Beziehung auf die Tugend der Gerechtigkeit gegeben ist“.
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selbst ist.“⁵⁷⁴ Dante zieht hieraus die Folgerung, dass irdische Gerechtigkeit nur naturrechtlich nach dem mutmaßlichen Willen Gottes bestimmt werden kann:⁵⁷⁵ „Deswegen wird in der Frage, ob etwas von Rechts wegen geschehen sei, obschon mit andern Worten, nichts anderes gefragt als, ob etwas nach dem Willen Gottes geschehen sei. Dies wird also hier vorausgesetzt: Was Gott hinsichtlich der Gesellschaft der Menschen will, dies ist als wahres und lauteres Recht anzusehen.“⁵⁷⁶ Recht und Wahrheit hängen also für Dante in der Weise zusammen, dass Wahrheit und Billigkeit Attribute des Rechts sind.⁵⁷⁷ Was aber wahr und lauter sein soll, kann nur mit Blick auf Gottes Willen bestimmt werden, der für Dante – durchaus im ontologischen Sinne – das Recht selbst ist und das Zusammenleben der Menschen notwendigerweise ordnet. Irdische Gerechtigkeit ist daher richtungs- und ziellos, wenn sie nur auf vordergründigem Machtstreben gründet. Rechtsetzung ist zwar ein durchaus rationaler Vorgang, der dem Postulat der Widerspruchsfreiheit der gesetzten und zu setzenden Rechtsordnung verpflichtet ist. Doch ist dies nur in der permanenten Rückbindung an die göttliche Gerechtigkeit zu verwirklichen, wenn es die von Dante beschriebene lebendige Gerechtigkeit sein soll.⁵⁷⁸ Lebendige Gerechtigkeit wird damit zu einer Chiffre von Dantes Gerechtigkeitssinn. Dante Alighieri, Monarchia, II, ii, . f. (Übersetzung Ruedi Imbach): „Ex hiis iam liquet quod ius, cum sit bonum, per prius in mente Dei est; et, cum omne quod in mente Dei est sit Deus, iuxta illud »Quod factum est in ipso vita erat«, et Deus maxime se ipsum velit, sequitur quod ius a Deo, prout in eo est, sit volitum. Et cum voluntas et volitum in Deo sit idem, sequitur ulterius quod divina voluntas sit ipsum ius. Et iterum ex hoc sequitur quod ius in rebus nichil est aliud quam similitudo divine voluntatis; unde fit quod quicquid divine voluntati non consonat, ipsum ius esse non possit, et quicquid divine voluntati est consonum, ius ipsum sit“. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund im Mittelalter Brian Tierney, The Idea of Natural Rights: Studies on Natural Rights, Natural Law, and Church Law, – , . Dante Alighieri, Monarchia, ebenda unter (Übersetzung Ruedi Imbach): „Quapropter querere utrum de iure factum sit aliquid, licet alia verba sint, nichil tamen aliud queritur quam utrum factum sit secundum quod Deus vult. Hoc ergo supponatur, quod illud quod Deus in hominum sotietate vult, illud pro vero atque sincero iure habendum sit“. Letztlich ebenso Joseph Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, , . Auflage , S. f., wonach „Freiheit an ein Maß, das Maß der Wirklichkeit – an die Wahrheit – gebunden ist“ und „Ordnung – Recht – nicht Gegenbegriff von Freiheit ist, sondern ihre Bedingung, ja ein konstitutives Element von Freiheit ist“; Hervorhebungen nur hier. Hermann Conrad, Recht und Gerechtigkeit im Weltbild Dante Alighieris, Festschrift für Johannes Spörl, , S. , f., erkennt anhand der zuletzt zitierten Stelle das „thomistische Rechtssystem“, dessen Ausgangspunkt der Wille Gottes ist, und aus dem sich das Naturrecht der augustinisch-thomistischen Lehre ergibt. Gottes Wille ist danach – auch für Dante – „Urgrund des Rechts“ (Hermann Conrad, ebenda, S. ), wodurch freilich das menschliche Recht nicht entbehrlich wird.
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c) Dantes Rechts- und Staatsphilosophie zum Vergleich Wie sehr gerade das römische Recht diesen letztgenannten Gedanken verwirklicht hat, veranschaulicht Dante in einer auf die Digesten sowie auf Seneca und Cicero zurückgreifenden rechts- und staatsphilosophischen Textstelle: „Jeder, der das Gute des Staates anstrebt, der strebt das Ziel des Rechts an. Dass diese Folgerung richtig ist, wird folgendermaßen gezeigt: Das Recht ist ein wirkliches und persönliches Verhältnis von Mensch zu Mensch, dessen Beachtung die Gesellschaft erhält und dessen Missachtung die Gesellschaft zerstört. Denn die Umschreibung der Digesten sagt nicht, was das Recht ist, sondern beschreibt dieses durch die Erkenntnis, die sich aus dem Gebrauch ergibt.Wenn also diese Definition das Was und das Warum des Rechts angemessen einschließt und das Ziel jeder Gesellschaft im Gemeinwohl der Mitglieder liegt, ist es notwendig, dass das Ziel jeglichen Rechts im Gemeinwohl liegt.⁵⁷⁹ Und es ist unmöglich, dass es ein Recht gibt, welches das Gemeinwohl nicht anstrebt. Cicero sagt deshalb in der Ersten Rhetorik mit Recht, dass die Gesetze im Sinn des Nutzens für den Staat zu interpretieren seien.⁵⁸⁰ Wenn also die Gesetze für den Nutzen derer, die ihnen unterstehen, unmittelbar nichts beitragen, sind sie nur dem Namen nach Gesetze, in Wahrheit können dies keine Gesetze sein. Die Gesetze nämlich müssen die Menschen im Hinblick auf den gemeinsamen Nutzen verbinden. Aus diesem Grund nennt Seneca im Buch Von den vier Tugenden das Gesetz ein »Band der menschlichen Gesellschaft«.⁵⁸¹ Es erhellt also, dass,wer das Gut des Staates anstrebt, das Ziel des
Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , bemerkt im Hinblick auf eine anderweitige, aber verwandte Definition Dantes: „Vielleicht der bemerkenswerteste Zug an dieser Rechtsphilosophie ist die angeführte Definition des Rechts. Mehrere Seiten daran heben sich von den vor und nach dem Dichter geläufigen Rechtsdefinitionen ab. Wenig Schwierigkeiten macht ihr soziologischer Einschlag.“ – Das gilt mutatis mutandis auch für die im Text vorausgesetzte Definition des Rechts, zumal da auch ihr ein – für seine Zeit bemerkenswertes – (rechts‐)soziologisches Element eignet, wenn es in der zitierten Übersetzung heißt, dass „das Recht ein wirkliches und persönliches Verhältnis von Mensch zu Mensch ist, dessen Beachtung die Gesellschaft erhält“. Mit Recht macht Dyroff, ebenda, S. , geltend, dass „wer die ‚Monarchia‘ und das ‚Gastmahl‘ gelesen hat, weiß, welchen Wert Dante der menschlichen Gemeinschaft beimisst“. – Auch insoweit ist Dantes Rechtsdenken durchaus modern, auch wenn es aus der bitteren Erfahrung des Exils erwachsend gewiss auch nolens volens geschah, da das Exil den Verlust der schützenden Rechtsgemeinschaft mit sich brachte. Zu dieser Grunderfahrung eingehend Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, . Marcus Tullius Cicero, De inventione, I, (): „Omnes leges, iudices, ad commodum rei publicae referre oportet et eas ex utilitate communi, non ex scriptione quae in litteris est interpretari“. Hier irrt Dante: Lucius Aenneus Seneca wurde fälschlicherweise das folgende Werk zugeschrieben: „Formula honestae vitae sive de quattuor virtutibus cardinalibus“ (Basel ), das in
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Rechts anstrebt.Wenn daher die Römer das Gut des Staates angestrebt haben, darf man in Wahrheit behaupten, sie hätten das Ziel des Rechts angestrebt.“⁵⁸² Diese Stelle macht deutlich, wie sehr Dantes Rechtsphilosophie auch die gesellschaftliche Funktion des Rechts betont und damit seiner Zeit weit voraus war. Nicht von ungefähr hebt er auch im Schreiben an Cangrande Cicero hervor, dessen Lobpreisung der Jurisprudenz er im Zusammenhang mit der Rhetorik wiederholt: „Zum ersten Teil ist zu bemerken, dass es zum guten Anfang dreier Dinge bedarf, wie Cicero in der Neuen Rhetorik sagt, nämlich dass jemand den Hörer wohlwollend, aufmerksam und empfänglich macht; und dies vor allem in der bewundernswerten Gattung der Rechtsangelegenheiten, wie Cicero selbst sagt.“⁵⁸³ Zugleich zeigt die Bezugnahme auf die Digesten in der Göttlichen Komödie, warum er in der Göttlichen Komödie den Kaiser Justinian emporhebt. Schließlich war es Justinian, der die Digesten sammeln ließ.⁵⁸⁴ Weltliches Recht ist für Dante also immer Ausdruck göttlichen Rechts und Gebots. Wer das weltliche Recht fördert und damit das Miteinander der Menschen gedeihen lässt, wie es Justinian aus Dantes Sicht in paradigmatischer Weise getan hat, verdient auch im Paradiso der göttlichen Komödie einen herausragenden Platz.
Wahrheit verfasst wurde von Martinus, abbas Dumiensis deinde episcopus Braccariensis, wie gezeigt wurde von Karl Witte, Prolegomena zu Dante Alighieri, de monarchia (Hg. ders.), , S. ; siehe auch Hans Kelsen, Dante Alighieris Staatslehre, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band , . Heft, , S. (= HKW , , f.). – Das Zitat ist jedoch letztlich auch Ausweis der Wertschätzung, derer sich Seneca im Mittelalter erfreute, in dem er als „der Weise par excellence galt“ (Villy Sørensen, Seneca – Ein Humanist an Neros Hof, , S. ). Dante Alighieri, Monarchia, II, v, – (Übersetzung Ruedi Imbach): „Quicunque preterea bonum rei publice intendit, finem iuris intendit. Quodque ita sequatur sic ostenditur: ius est realis et personalis hominis ad hominem proportio, que servata hominum servat sotietatem, et corrupta corrumpit, nam illa Digestorum descriptio non dicit quod quid est iuris, sed describit illud per notitiam utendi illo. Si ergo definitio ista bene ‚quid est‘ et ‚quare‘ comprehendit, et cuiuslibet sotietatis finis est comune sotiorum bonum, necesse est finem cuiusque iuris bonum comune esse; et inpossibile est ius esse, bonum comune non intendens. Propter quod bene Tullius in Prima rethorica: semper – inquit – ad utilitatem rei publice leges interpretande sunt. Quod si ad utilitatem eorum qui sunt sub lege leges directe non sunt, leges nomine solo sunt, re autem leges esse non possunt: leges enim oportet homines devincire ad invicem propter comunem utilitatem. Propter quod bene Seneca de lege cum in libro De quatuor virtutibus, „legem vinculum” dicat „humane sotietatis”. Patet igitur quod quicunque bonum rei publice intendit finem iuris intendit. Si ergo Romani bonum rei publice intenderunt, verum erit dicere finem iuris intendisse“. Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, Epistola XIII, , Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Thomas Ricklin mit einer Vorrede von Ruedi Imbach, , S. f.: „Propter primam partem notandum quod ad bene exordiendum tria requiruntur, ut dicit Tullius in Nova Rhetorica, scilicet ut benivolum et attentum et docilem reddat aliquis auditorem; et hoc maxime in admirabili genere cause, ut ipsimet Tullius dicit“. Hervorhebungen nur hier. Näher Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, . Auflage , S. ff. Dazu oben S. ff.
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6. Vervollkommnung des Gerechtigkeitssinns Im siebten Gesang richtet Beatrice ihre Rede an Dante, die nicht von ungefähr mit der Beteuerung der obwaltenden Gerechtigkeit anhebt, indem sie ihre eigene Unfehlbarkeit zum Ausgangspunkt nimmt, womit natürlich stellvertretend die göttliche gemeint ist: „Nach meiner unfehlbaren Meinung hälst du, / Wie wohl bestraft gerechterweise würde / Gerechte Rache, fest Dir in Gedanken“ („Secondo mio infallibile avviso, / come giusta vendetta giustamente / punita fosse, t’ha in pensier miso“).⁵⁸⁵ Hier stehen die Worte ‚giusta vendetta giustamente‘ wie in Stein gemeißelt inmitten dieser schwer zugänglichen Terzine.⁵⁸⁶ Nicht von ungefähr umranken das auf die Gerechtigkeit bezogene Adjektiv und Adverb die ‚vendetta‘. Sie steht damit zwar buchstäblich im Zentrum der Terzine, aber eingefasst durch die Attribute der Gerechtigkeit. Und da Beatrice Dante direkt anredet und gleichsam seinen Gedanken liest, erweist sich die ihrerseits selbst zugesprochene Unfehlbarkeit des Urteils (‚infallibile avviso‘) als Zeugnis seines zwischenzeitlich geschärften Gerechtigkeitssinnes. Dante wird im Folgenden erklärt, wie eine anscheinend zutiefst ungerechte Tat zum Bestand göttlicher Gerechtigkeit wird. Es geht hier um nicht weniger als den Kreuzestod Jesu: „Wenn man die Strafe, die das Kreuz gereichet, / Drum an die angenommene Natur hält, / Hat keine noch gerechter je verletzet“ („La pena dunque che la croce porse / s’a la natura assunta si misura, / nulla già mai sì giustamente morse“).⁵⁸⁷
a) Ungerechtigkeit der Welt als Werkzeug der Gerechtigkeit Gottes Die für den außenstehenden Dante paradoxe Gerechtigkeit wird in der nachfolgenden Zeile deutlich, in der es heißt: „Und so war ungerechter keine, wenn man / Auf die Person blickt, die sie hat erlitten“. („e così nulla fu di tanta ingiura, / guardando a la persona che sofferse“.).⁵⁸⁸ Auch hier ist es ein rhetorischer Kunstgriff Dantes, der das Verhältnis der Ungerechtigkeit der Welt zur Gerechtigkeit Gottes zur Geltung bringt. Nach herkömmlicher Sicht sollte man annehmen, dass zunächst die Ungerechtigkeit
Paradiso,VII, – (Übersetzung Philalethes). Dazu E. Magri, Il canto VII del Paradiso, La Rassegna Nazionale Juli (), ff. Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. f., erhellt das Verständnis entscheidend, indem er den siebten Gesang richtigerweise als ‚Intermezzo christlicher Doktrin‘ versteht, und zwar mit der Leitfrage: „Wie kann eine gerechte Strafe selbst bestraft werden?“. Paradiso, VII, – (Übersetzung Philalethes). Paradiso, VII, – (Übersetzung Philalethes).
6. Vervollkommnung des Gerechtigkeitssinns
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der Verurteilung Jesu in den Vordergrund gestellt und von daher die Idee der göttlichen Gerechtigkeit entwickelt wird.⁵⁸⁹ Beatrice hingegen enthüllt Dante vom Ergebnis her den göttlichen Heilsplan, der in seiner Beweisführung die einzigartige Gerechtigkeit des Geschehens an vorderster Stelle rückt: „Sie traf gerecht,wie keine je zuvor.“ Wie überhaupt in der Göttlichen Komödie wird hier alles vom Ende her gesehen.⁵⁹⁰ Erst in zweiter Linie wird eingeräumt, dass die verhängte Strafe „so ungerecht war“ wie keine andere.⁵⁹¹
b) Verinnerlichung der jenseitigen Gerechtigkeitsvorstellung Wie sehr diese Form der Beweisführung auf Dantes Gerechtigkeitssinn einwirkt, macht Beatrices nachfolgende Verdeutlichung des Lernprozesses klar: „Anjetzo darfs dir nicht mehr schwierig scheinen, / Wenn ich gesaget, daß gerechte Rache / Dann von gerechtem Hof gebrochen worden“ („Non ti dee oramai parer più forte, / quando si dice che giusta vendetta / poscia vengiata fu da giusta corte“).⁵⁹² Diese Stelle ist zentral für die allmähliche Schärfung von Dantes Gerechtigkeitssinn. Die irdischen Maßstäbe und Gerechtigkeitsvorstellungen werden zurechtgerückt, so dass sich Dante stellvertretend für die gesamte Menschheit in die Gerechtigkeit des göttlichen Heilsplans einfinden kann. Das rhetorische Mittel, mit dem der Dichter diesen Erkenntnisprozess verdeutlicht, ist das bereits im Inferno und später auch im Purgatorio begegnende Verwundern und Staunen des Geführten, der allmählich von den verhängten Strafen auf die Tat zu schließen lernt und einen zunächst noch rudimentären Einblick in die dort waltende Gerechtigkeit erhält. Dieses Innewerden der jenseitigen Gerechtigkeitsvorstellung verdeutlicht Beatrice auf dialogische Weise, indem sie für Dante selbst die Folgerung zieht und damit zugleich das Lernziel vorgibt,⁵⁹³ dass es ihn von da ab nicht mehr verwundern soll, wie – scheinbar tautologisch – „gerechte Rache / Dann von gerechtem Hof gebrochen worden“ („quando si dice che giusta vendetta / poscia vengiata fu da giusta corte“).⁵⁹⁴ Siehe dazu auch Dante Alighieri, Monarchia, II, xi, . Zu diesem Prinzip Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. ff. Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Dritter Teil: Das Paradies, , . Auflage , S. f: „Unter dem Aspekt der göttlichen Natur Christi d. h. seiner wirklichen Person, ist die Kreuzigung ein Verbrechen, das gesühnt werden musste“. Paradiso, VII, – (Übersetzung Philalethes). Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie, Kommentar, Dritter Teil: Das Paradies, , . Auflage , S. , verweist zum Folgenden (Verse ff.) auf Dantes Vorbilder Thomas von Aquin, Summa theologica III, ff., De passione Christi; sowie Anselm von Canterbury, Cur Deus homo. Paradiso, VII, f. (Übersetzung Philalethes).
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c) Einsicht in die Gerechtigkeit des Weltgerichts Der intellektuelle Sprung, den Dante unter den Augen Beatrices und ihrer Beweisführung vollzieht, führt zu jener Verfeinerung des Gerechtigkeitssinns,von der bereits die Rede war und die hier gleichsam einen Kulminationspunkt erfährt. So erklärt sich vom Ende her gesehen auch die Tautologie, die zwischen der gerechten Rache und dem gerechten Weltgericht angedeutet wird. Aus Beatrices Sicht bedarf es der Hinzufügung des Gerechten für das Weltgericht nicht, da sie schon den Einblick in den göttlichen Heilsplan hat. Dante gegenüber ist ihre Rede dagegen persuasiv und entwickelt jene Innenspannung, die sich daraus ergibt, dass die tautologisch anmutende Aneinanderreihung des gerechten Weltgerichts mit der gerechten Rache einhergeht, die auf den ersten Blick widersprüchlich anmutet. Doch erklärt sich dies daraus, dass das Weltgericht seinerseits die Rache rechtfertigt. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit ist wiederum nur vom Ende her gedacht zu begreifen.⁵⁹⁵ Indem das Weltgericht immer schon als solches gerecht ist, hebt es auch alle scheinbaren und vordergründigen Ungerechtigkeiten auf. Diese transzendierende Sichtweise erschließt sich Dante erst unter Beatrices Führung. Vergil konnte sie mit seiner zwar vorchristlichen, aber eben doch heidnischen Prägung nur annäherungsweise übermitteln und damit Dantes Gerechtigkeitssinn zumindest insoweit auf eine höhere Ebene richten, als das rein rationale Moment der Gerechtigkeit in seiner Person verwirklicht war und dadurch Dantes Gerechtigkeitssinn durch diese rationale Überredungskunst leitete.⁵⁹⁶ Jedoch war der Gerechtigkeitssinn bis dahin noch unvollkommen ausgestaltet und bedurfte noch der durch Beatrice personifizierten Liebe, welche die Gerechtigkeit und damit den Gerechtigkeitssinn Dantes zu vervollkommnen half. Denn Vergil wusste von allem Anfang an, dass ihm als Heiden der letzte Weg versperrt sein würde: „Denn jener Kaiser, der dort oben herrschet, / Weil ich mich gegen sein Gesetz empöret, / Läßt keinen mich zu seiner Stadt geleiten“ („Ché, quello imperador, che là sù regna, / perch’ iʼ fuʼ ribellante a la sua legge, / non vuol che ʼn sua città per me si vegna“).⁵⁹⁷
Vgl. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Auch diese Prämisse würde wohl Ernst Robert Curtius, Zur Danteforschung, in: Romanische Forschungen (), ff. nicht teilen; vgl. auch Frank-Rutger Hausmann, „Sie haben keine Neigung, von mir etwas zu lernen“. Ernst Robert Curtius, Hugo Friedrich und die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, in: Mittellateinisches Jahrbuch , (), ff; Mirjam Mansen, „Denn auch Dante ist unser!“ Die deutsche Dante-Rezeption – , , S. ff. Eingehend zur Rolle Vergils im Paradiso Karlheinz Stierle,Virgilio nel Paradiso. Cortesía e parlar coperto nella Commedia, in: Letteratura e filologia fra Svizzera e Italia. Studi in onore di Guglielmo Gorni (Hg. Maria Antonietta Terzoli/Alberto Asor Rosa/Giogio Inglese), Band , , S. . Inferno, I, – (Übersetzung Philalethes).
7. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit
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7. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Beatrice weiß, wie sehr ihre Beweisführung Dante herausfordert und anstrengt: „Du sagst: «Wohl unterscheid ich, was ich höre, / Doch warum solche Weise Gott zu unsrer / Erlösung üben wollte, bleibt mir dunkel»“ („Tu dici: «Ben discerno ciò ch’i’ odo; / ma perché Dio volesse, m’è occulto, / a nostra redenzion pur questo modo»“).⁵⁹⁸ Durch diesen gedanklichen Dialog im eigentlichen Monolog bringt Beatrice Dantes jeweiligen Erkenntnisstand zur Geltung und erinnert ihn zugleich daran, dass der Einblick in die göttliche Gerechtigkeit nur aus Liebe geschehen kann: „Sotaner Ratschluß, Bruder, ist verborgen / Den Augen aller jener, deren Geist noch / Nicht ist erstarket in der Liebe Flamme“ („Questo decreto, frate, sta sepulto / a li occhi di ciascuno il cui ingegno / ne la fiamma d’amor non è adulto“).⁵⁹⁹ Was Beatrice im Folgenden ausbreitet, nämlich die alternativlose Notwendigkeit des Heilsgeschehens, wird implizit veranschaulicht durch das Ineinandergreifen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.⁶⁰⁰
a) Komplementarität So abgehoben dies aus diesseitiger Sicht wirkt, darf nicht übersehen werden, dass es sich hierbei um einen Zusammenhang handelt, der auch schon zur Verdeutlichung moderner physikalischer Probleme bemüht worden ist: Selbst ein so rational und nüchtern urteilender Denker wie der Physiker Niels Bohr verdeutlichte den für sein Denken und für seine Deutung der Quantentheorie zentralen Begriff der Komplementarität mit dem Wirkungszusammenhang,⁶⁰¹ der seines Erachtens zwischen der Gerechtigkeit und Liebe Gottes besteht.⁶⁰² Wenn man hinzunimmt, dass die Bohrs Sichtweise zugrunde liegende Komplementarität in Gestalt der beiden Begriffe der Barmherzigkeit und Liebe – auf die Commedia gewendet –
Paradiso, VII, – (Übersetzung Philalethes). Paradiso, VII, – (Übersetzung Philalethes). Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Carl Friedrich von Weizsäcker, Große Physiker, , S. , : „Komplementarität bezeichnet das Verhältnis der klassischen Begriffe zueinander, wenn sie in der neuen Theorie verwendet werden“. Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, , Erster Hauptteil, . Kapitel Fußnote ; zu Bohrs Begriff der Komplementarität siehe Klaus Michael Meyer-Abich, Korrespondenz, Individualität, Komplementarität, ; Carl Friedrich von Weizsäcker, Zeit und Wissen, , S. . Siehe auch Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Zweiter Teil, , S. : „Das Unrecht, das Böse als Realität, kann nicht einfach ignoriert, nicht einfach stehen gelassen werden. Es muss aufgearbeitet, besiegt werden. Nur das ist die wahre Barmherzigkeit“.
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nichts anderes bedeuten kann als den Zusammenhang zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit – die ja für Dante nicht ohne Liebe denkbar ist –, so zeigt sich hier mutatis mutandis dieselbe Wirkungsweise.⁶⁰³
b) Wirkungsweise der Gerechtigkeit Diese Einsicht bestimmt auch die Monarchia, wonach „die Liebe die Gerechtigkeit am meisten, und umso mehr, je kräftiger und mächtiger sie ist“, stärkt.⁶⁰⁴ Dante wird auf diese Weise die Alternativlosigkeit des die Gerechtigkeit verwirklichenden göttlichen Heilsplans gewahr: „Und der Gerechtigkeit war jede andre / Weis’ ungenügend, hätte der Sohn Gottes / Sich nicht herabgelassen, Fleisch zu werden“ („e tutti li altri modi erano scarsi / a la giustizia, se ’l Figliuol di Dio / non fosse umilïato ad incarnarsi“).⁶⁰⁵ Beatrice öffnet Dante die Augen, indem sie ihm die Wirkungsweise der göttlichen Gerechtigkeit anhand der beschränkten und begrenzten Vorstellungen menschlicher Gerechtigkeit verdeutlicht. Dante wird schrittweise in den Stand gesetzt, durch die klassische Bildung und die Theologie des Hochmittelalters die in der Fleischwerdung vollzogene Gerechtigkeit zu erkennen. So kann er auch das irdische Geschehen forthin mit anderen Augen beurteilen, weil sein Gerechtigkeitssinn anders ausgerichtet ist.
8. Dante als Dichter und Richter irdischer Gerechtigkeit Dante verliert jedoch nie den Blick für die irdischen Unzulänglichkeiten,⁶⁰⁶ die seines Erachtens nicht zuletzt darin begründet sind, dass der Zugang zu den maßgeblichen Primärquellen verschattet ist: „Dafür läßt man das Evangelium, läßt man / die großen Lehrer, nur die Dekretalen / Studierend, daß mans sieht an ihren Rändern“ („Per questo l’Evangelio e i dottor magni / son derelitti, e solo ai Decretali / si studia, sì che pare a’ lor vivagni“).⁶⁰⁷ Die Stelle spielt an auf die mit
Siehe auch Bruno Binggeli, „L’amor che move il sole e l’altre stelle“ – Dantes Liebesauffassung aus der Sicht eines Astrophysikers, Deutsches Dante-Jahrbuch / (), . Dante Alighieri, Monarchia, I, xi, (Übersetzung Ruedi Imbach): „et hoc operetur maxime atque potissime iustitia, karitas maxime iustitiam vigorabit et potior potius“. Paradiso, VII, – . Zu diesem Zusammenhang grundlegend Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage . Paradiso, IX, – (Übersetzung Philalethes).
8. Dante als Dichter und Richter irdischer Gerechtigkeit
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Erläuterungen („Glossen“) versehenen und aus sich heraus nicht mehr uneingeschränkt verständlichen Rechtslehrbücher.⁶⁰⁸
a) Loblied des Decretum Gratiani Dante wendet sich gegen die seinerzeitige Praxis, die Schriften der Kirchenlehrer und vor allem die eigentliche Heilsbotschaft, das Evangelium, außer Betracht zu lassen und stattdessen Zuflucht zu zweifelhaften Sekundärquellen zu nehmen.⁶⁰⁹ Dass Dante hier jedoch nicht das auf den ersten Blick naheliegende – weil von ihm hochgeschätzte – Decretum Gratiani meint, zeigt sich im zehnten Gesang: „Das andere Geflamm entspringt dem Lächeln / Gratians, der diesem Richterstuhl und jenem / So half, daß es gefällt im Paradiese“ („Quell’ altro fiammeggiare esce del riso / di Grazïan, che l’uno e l’altro foro / aiutò sì che piace in paradiso“).⁶¹⁰ Hier wiederholt sich etwas, das bereits in der Person Justinians angedeutet wurde. So wie Justinian die Digesten sammeln ließ und dadurch die Rechtskultur wieder auf eine Höhe brachte, wie sie vordem nur im klassischen römischen Recht bestand, hat Gratian mit dem nach ihm benannten Decretum eine Grundlage des kanonischen Rechts geschaffen, die zu den ganz großen Errungenschaften der Jurisprudenz zählt.⁶¹¹ Die Stelle verdeutlicht, was eingangs dargestellt wurde,⁶¹² nämlich dass Dantes Commedia auch die Rechtsgelehrsamkeit seiner Zeit zumindest im Hin-
Vgl. auch Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, . Auflage , S. . Susanne Lepsius, Auflösung und Neubildung von Doktrinen nach der Glosse: Die Dogmatik des Mittelalters, in: Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion (Hg. Georg Essen/Nils Jansen), , S. . Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. f. Eine der Danteschen ähnliche Sichtweise findet sich bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Erster Teil, , S. ff. Paradiso, X, – (Übersetzung Philalethes). Siehe dazu nur Peter Landau, Quellen und Bedeutung des gratianischen Dekrets, Studia et Documenta historiae et Iuris (), ff.; ders., Artikel ‚Gratian‘, TRE Band (), ff.; ders., Die Entstehung des kanonischen Infamiebegriffs von Gratian bis zur Glossa ordinaria, ; ders., Ius Patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und in der Kanonistik des . und . Jahrhunderts, ; ders., Die Entstehung der Dekretalensammlungen und die europäische Kanonistik des . Jahrhunderts, ZRG KA (), ff.; ders., Kanones und Dekretalen. Beiträge zur Geschichte der Quellen des kanonischen Rechts, Bibliotheca Eruditorum Band , ; ders., Neue Forschungen zu vorgratianischen Kanonessammlungen und den Quellen des gratianischen Dekrets, Ius Commune (), ff.; ders., Gratians Arbeitsplan, Festschrift für Heribert Schmitz, , S. ff.; ders., Artikel ‚Gratian (um )‘, in: Juristen (Hg. Michael Stolleis), . Auflage , S. f. Oben S. .
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blick auf ihre bleibenden kulturellen Errungenschaften mit bedacht hat.⁶¹³ Sie zeigt zugleich, dass alles, was Dante über Recht und Gerechtigkeit sagt und voraussetzt, nicht einfach Ausfluss eines mehr oder minder diffusen Rechtsgefühls ist, sondern von strenger Rationalität durchdrungen ist. Hinzu kommt freilich immer die naturrechtliche Verankerung, die mit ihrer Rückbindung an das Evangelium auch dem Decretum Gratiani zu eigen ist.⁶¹⁴
b) Weltliches und kirchliches Recht Der systematische Standort dieser Stelle ist aber darüber hinaus auch deswegen so wichtig, weil dadurch inmitten des Paradiso abermals das weltliche Recht in Bezug genommen wird. Vorderhand wird nur eine – wenn auch rechtsgeschichtlich noch so epochale – Leistung gewürdigt die erklärt, warum der Urheber dieser kulturellen Errungenschaft seinen Platz im Paradiso hat. Darüber hinaus aber sagt uns Dante etwas Wichtiges über das Recht selbst. Die Entschlackung von allem überflüssigen Ballast, wie sie durch Justinian in die Wege geleitet wurde und die Trennung des weltlichen Rechts vom kirchlichen Recht unter gleichzeitiger Hervorhebung ihrer beider zwingender Notwendigkeit für die Gerechtigkeit durch Gratian sind für Dante die beiden großen Meilensteine, welche die Entwicklung des weltlichen Recht vervollkommnet haben,⁶¹⁵ indem sie zugleich inzident – wenn auch nur annäherungsweise – einen Einklang mit der göttlichen Gerechtigkeit versucht haben. Das kanonische Recht repräsentiert aus Dantes Sicht mit dem Jurisdiktionsprimat des Papstes eine je eigene Ordnung, die letztlich der
Dazu Aldo Adversi, Dante e il canonista Graziano (Par. X – ), Il Diritto ecclesiastico (), . Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, , S. Fußnote , macht auf den – auch für den vorliegenden Zusammenhang – „bemerkenswert(en) Begriff von Naturrecht“ aufmerksam, „der am Anfang des Drecretum Gratiani steht: Humanum genus duobus regitur, naturali videlicet iure, et morbus. Ius naturale est, quod in lege et Evangelio continetur, quo quisque iubetur, alii facere, quod sibi vult fieri, et prohibetur, alii inferre, quod sibi nolit fieri“. Zur Jurisprudenz im Spätmittelalter unter besonderer Berücksichtigung der Bologneser Juristenausbildung Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, . Auflage , S. f. ClausWilhelm Canaris, Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts, S. , : „Noch wichtiger als die inhaltliche Rezeption des römischen Rechts war die damit verbundene Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz, die vor allem darin zutage trat, dass diese nunmehr an den Universitäten betrieben wurde.“ (Hervorhebung auch dort).
8. Dante als Dichter und Richter irdischer Gerechtigkeit
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göttlichen Gerechtigkeit gehorchen sollte.⁶¹⁶ So wird Dante im Paradiso überraschend gleichermaßen zum Dichter und Richter irdischer Jurisprudenz.⁶¹⁷
c) Metaphysische Leere der Rechtsgelehrsamkeit Das darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass Dante von nun an den irdischen Gegebenheiten einen unverhältnismäßigen Raum widmet. Als ob er selbst klarstellen wollte, wie nichtig alles Irdische im Vergleich zu den wahren Dingen ist, hebt der elfte Gesang mit einem regelrechten Vanitas-Motiv an:⁶¹⁸ „O töricht Sorgen Sterblicher, wie sind nur / So mangelhaft die Syllogismen alle, / Die deinen Flügelschlag nach unten richten! / Der strebt’ den Rechten nach, den Aphorismen / Der andere; der legt’ aufs Priestertum sich, / Und der auf Herrschaft durch Gewalt und Arglist; / Auf Raub der, der auf bürgerliches Treiben“ („O insensata cura de’ mortali, / quanto son difettivi silogismi / quei che ti fanno in basso batter l’ali! / Chi dietro a iura e chi ad amforismi / sen giva, e chi seguendo sacerdozio, / e chi regnar per forza o per sofismi, / e chi rubare e chi civil negozio“).⁶¹⁹ Uns interessieren hier vor allem die Rechtsgeschäfte, mit denen sich Dante zufolge die Menschen plagen. Das sie neben der Medizin hervorgehoben werden, ist wohl vor allem dem klassischen universitären Bild der vier Fakultäten zu verdanken, zu denen neben den beiden Disziplinen auch die Theologie und die Philosophie gehören. Dass er diese jedoch nicht mit einbezieht, sondern für vordringlich und weiterführend hält, liegt wohl daran, dass er sie besonders hoch schätzt. Die Philosophie ist ihm – wie bereits dargestellt – der eigentliche Weg zur Wahrheitssuche.⁶²⁰ Die Theologie steht gleichberechtigt daneben und befähigt auf diese Weise im Einklang mit der Philosophie zur annäherungsweisen Erkenntnis der göttlichen Gerechtigkeit. Daneben nimmt sich der Ertrag der Medizin und Rechtsgelehrsamkeit vergleichsweise bescheiden aus. Dante erinnert uns daran, dass beide Disziplinen nur dem Irdischen verhaftet sind. Es handelt sich dabei um eine Sublimierung dessen, was bereits im Inferno Näher Hermann Conrad, Recht und Gerechtigkeit im Weltbild Dante Alighieris, Festschrift für Johannes Spörl, , S. , ff. Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , hat diese Perspektive am gründlichsten ausgearbeitet. Siehe auch Teodolinda Barolini, The Undivine „Comedy“, Detheologizing Dante, . Dazu Erich Auerbach, St. Francis of Assisi in Dante’s Commedia, Italica XXII (), ff.; Sergio Zanotti, Il canto XI del Paradiso, Annuario Liceo Sinigaglia, , S. ff.; Armando Santanera, San Franceso in Dante, Commentato al canto XI del Paradiso, . Paradiso, XI, – (Übersetzung Philalethes). Dante Alighieri, Convivio, II, xii, .
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und Purgatorio ungleich deutlicher zu Tage getreten ist, wenn er die Sünder die sich allein dem Irdischen zugewandt haben, auch in bildhafter Weise mit dem Blick auf den Boden gefesselt dargestellt sah. Zugleich wird damit deutlich, dass irdisches Recht ohne eine an göttliches Recht geknüpfte Anbindung nichtig und haltlos ist.⁶²¹ Indem Dante der geistigen Leere gewahr wird, die – am Beispiel der Jurisprudenz – eine ohne metaphysischen Oberbau ausgerichtet, das heißt eine im Wortsinne ohne Rückbindung (Religio) verfasste Jurisprudenz hat, zeigt er die Sinnlosigkeit einer irdischen Geschäftigkeit, die insbesondere das Recht nur zum Mittel der Machtdurchsetzung erhebt und damit zugleich unfreiwillig erniedrigt.
9. Justierung des Gerechtigkeitssinns Im Mittelteil des Paradiso findet sich eine überaus bemerkenswerte Stelle, welche die Gerechtigkeit gleichsam übergreifend in den Mittelpunkt stellt. Unausgesprochen richtet Dante den Blick zurück, wenn er sich unter dem Eindruck der himmlischen Herrlichkeit regelrecht affirmativ darüber vergewissert, dass alles seine Ordnung hat: „Wohl ist es recht, daß der ohn Ende leide, / Der einem Ding zu Liebe, welches ewig / Nicht dauert, jener Liebe sich entäußert“ („Bene è che sanza termine si doglia / chi, per amor di cosa che non duri, / etternalmente quello amor si spoglia“).⁶²²
a) Rechtfertigung ewiger Strafe Hieran zeigt sich exemplarisch, wie auch im Paradiso – nicht anders als bereits zuvor im Purgatorio – allgegenwärtig das Inferno mitgedacht und mitberücksichtigt wird. Denn mit dem Jammer ohne Ende sind ersichtlich die Unglückseligen des Inferno gemeint. Sie haben um des kurzfristigen Genusses Willen ihr Seelenheil aufs Spiel gesetzt. In der Dante-Forschung wird diese Stelle aus gutem Grund dahingehend gedeutet, dass Dante erst nach innerem Ringen und Zwiesprache mit sich selbst zu dem Ergebnis kommt, dass alles so, wie es ist, gerecht
Heinrich Abegg, Die Idee der Gerechtigkeit und die strafrechtlichen Grundsätze in Dante’s Göttlicher Comödie, Jahrbuch der deutschen Dante-Gesellschaft I (), , ff., geht der Frage nach, ob Dante „eine Art Criminalkodex aufstellen wollte“, für den das positive Recht seiner Zeit eine Quelle gewesen sein könnte, verneint dies aber mit guten Gründen. Paradiso, XV, – (Übersetzung Philalethes); Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , , weist auf den thomistischen Ursprung dieses Gedankens hin.
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ist.⁶²³ Im Hintergrund steht dabei die selbstgestellte Frage, wie es zu rechtfertigen ist, dass zeitlich – und damit vergleichsweise kurzfristig – begangene Sünden ewige Verdammnis nach sich ziehen.⁶²⁴ Diese Frage bleibt unausgesprochen. Für die Beantwortung muss man sich erneut mit Hugo Friedrich vergegenwärtigen, was die Sünde ausmacht, nämlich „den metaphysischen, also gegen den göttlichen Rechtsursprung selber gerichteten Charakter aller Rechtsverletzung“.⁶²⁵ Was Dante Vergil womöglich im Inferno oder im ersten Teil des Purgatorio noch ausdrücklich gefragt hätte, treibt ihn auch im Paradiso noch um und wirkt gerade dort noch nach. Dass Dante diese Frage dort allerdings nicht explizit zu stellen braucht, veranschaulicht seinen Erkenntnisfortschritt. Unter Vergils vernunftgemäßer Führung und Beatrices liebender Zuwendung hat sich sein Gewissen und damit auch sein Gerechtigkeitssinn gewandelt und vervollkommnet.
b) Maß der Gerechtigkeit An die Stelle roher Gewissenlosigkeit am Ende des Inferno tritt eine mitfühlende Zuwendung, die jedoch den göttlichen Richtspruch nicht in Frage stellt.⁶²⁶ Gerade die affirmative Formulierung verdeutlicht, dass Dante auch dort, wo Zweifel in ihm aufkeimen und sich sogar sein Gewissen regt, eine objektive Gerechtigkeit am Werk sieht. Das Maß dieser Gerechtigkeit hat sich bereits im Inferno und Purgatorio manifestiert und wird hier aus der Ewigkeitsdimension heraus nochmals zur Geltung und damit auf den Punkt gebracht: Es ist die aus der Willensfreiheit geborene Entschlussfähigkeit des Menschen, der mit der Zuwendung und Hingebung an das vordergründig Irdische die Prioritäten falsch setzt und daher
Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. . Näher zum durch Augustinus geprägten Ordo-Denken Dantes Hermann Conrad, Recht und Gerechtigkeit im Weltbild Dante Alighieris, , S. ; ders., Die Rechtslehre des Dante Alighieri, Begegnung: Zeitschrift für Kultur und Geistesleben (), , f. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. . Ähnlich bereits Richard Schmidt, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , f.: „Eine positive Rechtsbewährung und Rechtsklärung, Einprägung der gesetzlichen Verbote im Volk gilt es als das weit stärker vergeistigte Ziel der Strafe zu erfassen, und wer sich das innerste Motiv Dantes, wie wir es heute kennen, gegenwärtig hält, wird empfinden, dass gerade in der metaphysischen Einkleidung, die er der Strafe als Reaktion gegen die Sünde, gegen die Übertretung der göttlichen Verbote gibt, das Verständnis für diese geistige Wirkung nur erleichtern wird“. Vgl. nur Inferno, II, („duro giudicio“).
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auch mit den Folgen ewig leben und leiden muss.⁶²⁷ Die eigentümliche Härte, die dieser Gerechtigkeitsvorstellung innewohnt, muss sich auch der davon noch nicht Betroffene immer aufs Neue vergegenwärtigen.⁶²⁸ Diese Mahnung spricht Dante nicht von ungefähr dort aus, wo sie der Leser am wenigsten erwartet und die dahinterstehende Einsicht daher leicht außer Betracht gelassen haben kann.⁶²⁹
c) Objektivierung des Gerechtigkeitssinns Daran zeigt sich, dass Dantes Gerechtigkeitssinn gleichfalls immer aufs Neue justiert wird. Es ist keine konstante Größe, sondern bewegt und entwickelt sich immer in Abhängigkeit von den Schicksalen, die ihm begegnen. Die genannte Stelle veranschaulicht daher auch das Verhältnis von Gleichzeitigkeit und Gerechtigkeit in Dantes Werk. Die sittliche Reife, die Dante erfährt und ihn unter dem Eindruck der erkannten Strafen und Belohnungen zu einem einsichtigen Individuum macht,⁶³⁰ hält ihn nicht davon ab, unausgesprochen zurückzublicken. Während er im Paradiso wandert, ist ihm gleichzeitig das Inferno gegenwärtig. Die unerbittliche Gerechtigkeit, die er dort walten sah, verfolgt ihn auch hier. Sein Gerechtigkeitssinn ist einerseits der Gleiche geblieben, indem Dante im Paradiso unausgesprochen die Höllenqualen für sich ins Verhältnis zu den begangenen Taten zu setzten sucht. Andererseits hat er sich aber auch gewandelt und ermöglicht ihm gerade dadurch die Einsicht, dass die Härte der Gerechtigkeit damit begründet werden kann, dass der davon Betroffene freien Willens das kurzfristig Vergängliche der Aussicht auf das Ewige vorgezogen hat. So erklärt sich auch, dass es für Dante an dieser Stelle die Gerechtigkeit ist, und dass es ihm nicht nur gerecht scheint. Es geht hier demnach weniger um ein Gerechtigkeitsemp-
Siehe dazu auch Gerhard Ledig, Ewigkeit und Zeit bei Thomas von Aquin und Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), ff. Zum gesamten Gesang, in dem das im Ausgangspunkt angesprochene Wort seinen Platz hat, Armando Santanera, Cacciaguida, sul canto XV del Paradiso, . Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , wirft die Frage nach der „Härte göttlicher Gerechtigkeit“ bereits am Beispiel von Inferno, IV, folgerichtig auf, weil sie sich im Hinblick auf Vergils Schicksal Dante erstmals stellt. Er zeigt im Folgenden (S. zu Inferno, VII, ), dass diese Frage auch ganz am Ende bleibt: „Auch nach dem altro viaggio, der ihn durch Hölle, Läuterungsberg und Paradies führt, wird Dante mit der bedrängenden Frage nach Gottes Gerechtigkeit nicht abgeschlossen haben“. In diesem Zusammenhang weiterführend Karlheinz Stierle, Selbsterhaltung und Verdammnis. Individualität in Dantes Divina Commedia, in: Individualität, Poetik und Hermeneutik (Hg. Manfred Frank/Anselm Haverkamp), , S. ff.
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finden als vielmehr die Erfahrung der Gerechtigkeit selbst. Dantes Gerechtigkeitssinn wird unter Beatrices Mitwirkung gleichsam zu einer objektiven Instanz.
10. Gleichzeitigkeit und Gerechtigkeit Nachdem Dantes Gerechtigkeitssinn augenscheinlich diesen Grad der Objektivität erreicht hat, wird er im nachfolgenden siebzehnten Gesang sogleich durch jene stärkste Form der Subjektivität gefährdet, die das dichterische Werk kennt, nämlich die Selbstbiographie.⁶³¹ Der autobiographische Abriss, der in der Mitte des Gesangs folgt,⁶³² veranschaulicht die Geschichte der Verbannung Dantes.⁶³³ Abermals ist es der bittere Abschied aus Florenz, der ihm rückschauend verkündigt wird. Auch diese eigentümliche Form der Rückschau, die in eine Prophezeiung gekleidet ist, veranschaulicht das Verhältnis von Gleichzeitigkeit und Gerechtigkeit: „Also wirst du Florenz verlassen müssen“ („tal di Fiorenza partir ti convene“).⁶³⁴ Dante sieht sich hier als Opfer der Florentiner Ungerechtigkeit, die jedoch ihren eigentlichen Grund in einem intriganten Ratschluss des amtierenden Papstes Bonifaz VIII. hat.⁶³⁵ Dante wird hier verkündigt, dass er als Verlierer aus diesem Intrigenspiel hervorgehen wird, ohne dass er sich Hoffnung auf eine gerechte Beurteilung durch seine Zeitgenossen zu machen braucht: „Die Schuld wird dem verletzten Teile folgen / Dem Ruf nach, wie sie’s pflegt“ („La colpa seguirà la parte offensa / in grido, come suol“).⁶³⁶ Doch ruht seine Hoffnung auf der sich allmählich einstellenden Gerechtigkeit, die eine unverklärte Sicht auf das Geschehene ermöglichen wird: „allein die Rache, / Zeugt für die Wahrheit bald“ („ma la vendetta / fia testimonio al ver che la dispensa“).⁶³⁷
Hermann Conrad, Die Rechtslehre des Dante Alighieri, Begegnung: Zeitschrift für Kultur und Geistesleben (), , : „Renaissancehaft ist sein starkes Ichbewusstsein, das sich ihn in den Mittelpunkt des Erlebnisses der Göttlichen Komödie stellen lässt“. Es ist, mit den Worten und der Aufsatz-Überschrift von Hans Rheinfelder, Der Zentralgesang in Dantes Paradiso, Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Jena V (/), ff. Paradiso, XVII, – . Paradiso, XVII, (Übersetzung Philalethes). Paradiso, XVII, f. Allgemein zum historischen Hintergrund Klaus Ganzer, Papsttum und Bistumbesetzungen in der Zeit von Gregor IX. bis Bonifaz VIII. Ein Beitrag zur Geschichte der päpstlichen Reservationen, ; dazu Peter Landau, Historische Zeitschrift (), ff. Paradiso, XVII, f. (Übersetzung Philalethes). Paradiso, XVII, f. (Übersetzung Philalethes). – Dass die göttliche Strafe als ‚vendetta‘ bezeichnet wird, entspricht Inferno, VII, . Vendetta und giustizia werden gleichbedeutend für die göttliche Gerechtigkeit verwendet; vgl. Hermann Gmelin, Dante, Die Göttliche Komödie,
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Hier scheint abermals der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit auf. Historische Gerechtigkeit wird erst in der zeitlichen Rückschau mit entsprechender Distanz zum Geschehenen zuteil.⁶³⁸ Dante macht sich jedoch keine Illusionen darüber, dass er selbst dies nicht mehr erleben wird, wie die nachfolgende Klage ebenso deutlich wie drastisch aufzeigt. Die leidvolle Erfahrung des Exils, die Dante hier und im Folgenden in einer rhetorisch und dichterisch die Zeiten aufhebenden Weise präsentiert, erklären die Verbitterung, die aus diesen Zeilen spricht.⁶³⁹ Zugleich wird jede Form der Larmoyanz dadurch vermieden, dass Dante das Los des Exils in eine futuristisch gefärbte Vorankündigung setzt. In dieser Form der Vorwegnahme durchlebt er das Schicksal dieser Ungerechtigkeit gedanklich von Neuem.
11. Dantes harter Gerechtigkeitssinn Man muss sich diese dichterische Darstellung vergegenwärtigen, um zu ermessen,wie die realen Geschehnisse und erfahrenen Ungerechtigkeiten auf Dantes Gerechtigkeitssinn gewirkt haben.⁶⁴⁰ Es trifft daher durchaus zu, wenn ein Kommentator der Göttlichen Komödie von dem „harten Gerechtigkeitssinn Dantes“ spricht.⁶⁴¹
Kommentar, Erster Teil: Die Hölle, , . Auflage , S. mit umfangreichen weiteren Nachweisen. Siehe auch Jeffrey T. Schnapp, The Transfiguration of History at the Center of Dante’s Paradiso, . Aus dem neueren Schrifttum dazu unter dem Gesichtspunkt des Rechts weiterführend Sabrina Ferrara, Tra pena giuridica e diritto morale: L’esilio di Dante nelle Epistole, L’Alighieri (), . Lehr- und gedankenreich zum werkhistorischen Zusammenhang Richard Schmidt, Dante und die strafrechtliche Praxis seines Zeitalters, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , : „Als Mitglied einer der Zünfte und erst recht als Bewerber um Ämter, dann als wirklicher Träger des Priorenamts musste er gelegentlich auch strafrechtliche Funktionen wahrnehmen. Schließlich wollte es ein feindliches Geschick, dass er selbst die Unbilden der Strafverfolgung zu erdulden hatte; sein ruheloses Dasein in dem von Parteikämpfen und Städtefehden erfüllten Italien, während er jahrzehntelang von Ort zu Ort getrieben wurde, sorgte dafür, dass sich ihm die kriminelle Seite des öffentlichen Lebens fort und fort aufdrängte. Wie es die Art seines Schaffens mit sich brachte, mussten die Erfahrungen und Erlebnisse im Gebiet der Strafrechtspflege auch einen wesentlichen Teil des Materials stellen, das er dichterisch gestaltete, und deshalb ist es nicht nur das Verhalten zur Straftheorie und Strafphilosophie, sondern auch das Verhältnis zu der strafrechtlichen Praxis seiner Zeit, das das Nachdenken der Dante-Leser herausfordert“. Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. .
11. Dantes harter Gerechtigkeitssinn
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a) „Lasciate ogni speranza“ Diese Härte ist darüber hinaus nichts anderes als eine das ganze Werk durchtönende Resonanz des Bekenntnisses des Wanderers aus dem dritten Gesang: „Maestro, il senso lor m’è duro.“⁶⁴² Es gilt der berühmten Inschrift des Höllentores, auf der es, wie erinnerlich,⁶⁴³ unter anderem heißt: „Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer“ („Giustizia mosse il mio alto fattore“).⁶⁴⁴ In der Zusammenschau ergibt sich daraus die Verbindung der Worte ‚Giustizia‘ sowie ‚senso‘ und ‚duro‘. Das berühmte „Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate“,⁶⁴⁵ das die Inschrift beschließt, bezeichnet die unerbittliche Gerechtigkeitsvision des Dichters, die den Wanderer mit aller Härte trifft.⁶⁴⁶ Ihr Urheber ist die göttliche Allmacht, welche zugleich die erste Liebe ist.⁶⁴⁷ Nietzsche verdeutlicht dies in besonderer Weise durch die freie Übersetzung: „auch mich schuf ewige Liebe“;⁶⁴⁸ ungeachtet aller Fundamentalkritik an Dantes Werk hat er die darin zum Ausdruck kommende „schreckeneinflößende Ingenuität“ des Dichters zugegeben und damit seinem unerbittlichen und harten Gerechtigkeitssinn Anerkennung gezollt.
b) Garantie der Gerechtigkeit Eine zeitgenössische Mahnung, die in dieselbe Richtung des von Dante Gemeinten weist, stammt demgegenüber von Joseph Ratzinger: „Vergessen wir aber darüber nicht, dass der Gott der Vernunft und der Liebe auch der Richter der Welt und der Menschen ist – der Garant der Gerechtigkeit, vor dem alle Menschen Rechenschaft
Hartmut Köhler, Dante Alighieri. La Commedia – Die Göttliche Komödie, Band I, , S. , übersetzt: „Meister, was dort steht, trifft mich hart“. Dazu oben I, . Inferno, III, (Übersetzung Philalethes). Inferno, III, . Bedenkenswert, gerade auch im Hinblick auf die mitschwingende Selbstgerechtigkeit, Hans Küng, Ewiges Leben, . Auflage , S. : „Es ist so leicht gesagt, besonders über andere: das Wort, welches der große Dante, in seiner ‚Commedia‘ (Ursprungs- und Hauptwerk der italienischen Literatur), selber doch allzu sehr in der Rolle des Weltenrichters, über die Hölle schrieb: ‚Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate‘“; Hervorhebung nur hier. Inferno, III, f. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, I, : „Dante hat sich, wie mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit einer schreckeneinflößenden Ingenuität, jene Inschrift über das Tor zu seiner Hölle setzte „auch mich schuf die ewige Liebe“ (…); dazu auch Eugen Biser, Nietzsche und Dante, Nietzsche-Studien (), ff.; zum rechtsphilosophischen Gehalt der ‚Genealogie der Moral‘ auch Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, . Auflage .
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ablegen müssen. Die Wahrheit des Gerichts gegenwärtig zu halten, ist gegenüber den Versuchungen der Macht ein grundlegender Auftrag: Jeder muss Rechenschaft ablegen. Es gibt Gerechtigkeit, die von der Liebe nicht aufgehoben wird.“⁶⁴⁹ Wohl kaum ein zeitgenössisches Monitum erinnert besser und deutlicher an die zentrale Botschaft, die Dantes gesamte Commedia durchwirkt – und zwar nicht nur das Inferno und Purgatorio, sondern auch das Paradiso.⁶⁵⁰ Denn nicht von ungefähr begegnet auch dort, wo keine Strafen mehr verbüßt und kein Reinigungsprozess durchmessen wird, die eigentümliche Härte der Gerechtigkeitsvorstellung Dantes. Auch für ihn ist Gott bei aller Liebe Garant der Gerechtigkeit.⁶⁵¹
12. Gerechtigkeit und Sprache Der folgende 18. Gesang des Paradiso verdeutlicht, was bereits im gesamten Gedicht zu Tage getreten ist, nämlich dass die Darstellung und Entfaltung der göttlichen Gerechtigkeit nicht die irdische Gerechtigkeit vergessen macht.⁶⁵² Gerade weil die irdische Gerechtigkeit nicht mit dem Leben der Richtenden und Gerichteten endet, sondern aus Dantes Sicht dort erst eigentlich beginnt,⁶⁵³ ist es für ihn wichtig zu erfahren, wie die irdische Gerechtigkeit ihrerseits gerichtet wird.⁶⁵⁴
Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, , S. ; Hervorhebung auch dort. Nicht zuletzt diese Dimension der Gerechtigkeit könnte ein Grund dafür sein, dass Nietzsche nach eigener Aussage (Nachgelassene Fragmente, August-September , , , Kritische Studienausgabe, Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Band , S. ) erst vergleichsweise spät und daher mit besonderer Macht gewahr wurde, was ihm noch fehlte – nämlich die Gerechtigkeit –, da er in seiner fundamentalen Religionskritik begreiflicherweise keinen Raum für ein jenseitiges Gericht sah. Das würde zumindest ansatzweise erklären, warum ihn gerade Dantes soeben behandelte Inschrift so herausforderte und zu einer vehementen Erwiderung (Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, I, ) veranlasste. Inferno, III, ff.; dazu oben I. . Justin Steinberg, Dante and the Limits of the Law, , S. : „We need to keep in mind throughout this discussion that God’s justice and human justice necessarily differ“. Näher Walter Pauly, Irdische Universalherrschaft und göttliche Gerechtigkeit. Zu Dante Alighieris ( – ) Stellung in der spätmittelalterlichen Publizistik, Der Staat (), . Zum Ganzen Joseph Anthony Mazzeo, Medieval Cultural Tradition in Dante’s Comedy, ; Johan Chydenius, The typological problem in Dante Alighieri’s study in the history of medieval ideas, .
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a) Buchstäbliche Verkörperung der Gerechtigkeit Die Antwort, die Dante gegeben wird, kann man als eine sehr frühe allegorische Verdeutlichung begreifen,⁶⁵⁵ die das Verhältnis von Sprache und Gerechtigkeit zur Geltung bringt.⁶⁵⁶ Dante begegnet denjenigen, die in ihrem Leben gerecht geurteilt haben und Sachwalter der Gerechtigkeit gewesen sind. So stehen auch die irdischen Richter im Fokus der jenseitigen Gerechtigkeit.⁶⁵⁷
aa) Bezug der Textstelle zur Monarchia Als Probe seines metaphysischen Rechtsverständnisses kann auch Dantes hochinteressante und soweit ersichtlich noch kaum je bedachte Stelle aus der Monarchia herangezogen werden, wonach „jede Rechtsprechung früher ist als ihr Richter. Der Richter ist nämlich auf die Rechtsprechung hingeordnet und nicht umgekehrt.“⁶⁵⁸ Diese enigmatische und allem Anschein nach kontraintuitive Einsicht ist rechtstheoretisch bedeutsam. Das damit betonte zeitliche Vorrangverhältnis erinnert daran, dass Rechtsprechung immer auch etwas in der Zeit Gewordenes darstellt, einen Inbegriff also, dem eine gewisse Normativität eignet,
Grundlegend zur Allegorie bei Dante Robert Hollander, Allegory in Dante’s Commedia, ; Giuseppe Mazzotta, Dante, Poet in the Desert. History and Allegory in the Devine Comedy, . Zur sprachphilosophischen Bedeutung Dantes grundlegend Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, ; siehe dazu auch Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, . Auflage , S. , der mit Recht die hermeneutische Provenienz dieses wichtigen Werks betont. Mit Bedacht stellt Hösle (S. ) seinem Werk Dantes Paradiso, XXIX, ff. voran und sieht die Philosophie auf diese Weise in der Verantwortung, die „Fülle und Erhabenheit“ (Otto Gildemeister) der ewigen Kraft (etterno valor) zu sehen, die für immer und ewig in sich eins ist und bleibt (uno manendo). Mutatis mutandis kann man Dantes Commedia vor diesem Hintergrund auch als stetige Herausforderung an die Rechtsphilosophie begreifen, das Ganze der Gerechtigkeit im Blick zu halten, wie es Dante passim unternommen hat. Zur Macht der Sprache bei Dante Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, , S. , der Paradiso, XIX, – hellsichtig als „Dantes tiefsinnige Formel der göttlichen sprachgeborenen und sprachgebärenden Allmacht“ erachtet. Siehe auch Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, S. : „Dante kritisiert keineswegs die irdische Justiz als solche.“ Siehe ferner S. : „Das weltliche Gericht ist nur eine Zwischeninstanz, die im Falle des als Tat zutage tretenden bösen Willens zu urteilen vermag. Aber sie ist eine begrenzte Instanz, weil die rechtswidrige Tat auch nur beiläufig ist gegenüber dem Willen, der sie verursacht hat. Dem irdischen Richter fehlen die Mittel zur Feststellung des totalen metaphysischen Charakters der Sünde“. Dante Alighieri, Monarchia, III, x, (Übersetzung Ruedi Imbach): „Omnis iurisdictio prior est suo iudice: index enim ad iurisdictionem ordinatur, et non e converse“.
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vermöge derer der Richter sie nicht pauschal unberücksichtigt lassen kann, ohne Gefahr zu laufen, dass seine Entscheidung haltlos wird.
bb) Literarische Verdeutlichung der Gerechtigkeitsvision Die Gerechtigkeitsvision, die Dante im Folgenden innerhalb der Göttlichen Komödie entfaltet, trägt im Wortsinne literarische Züge.⁶⁵⁹ Die Seelen der Gerechten formieren sich nämlich in Gestalt von Buchstaben. So werden sie selbst zu einer Art Chiffre der Gerechtigkeit, die sie im wahrsten Sinne des Wortes buchstabieren: „Es zeigten mir sich also fünf mal sieben / Selbstlaut und Mitlaut, und die Teile merkt ich, / Wie sie geschrieben mir erschienen waren“ („Mostrarsi dunque in cinque volte sette / vocali e consonanti; e io notai / le parti sì, come mi parver dette“).⁶⁶⁰ Die Seelen derer, die auf Erden gerecht geurteilt und Recht gesprochen haben, bilden somit Lettern, die sich in ihrer Zusammenschau für Dante folgendermaßen lesen: „Diligite justitiam, Nennund Zeitwort, / So hieß der erste Teil der ganzen Inschrift, / Qui judicatis terram, hieß der letzte.“ („‚DILIGITE IUSTITIAM‘, primai / fur verbo e nome di tutto ’l dipinto; / ‚QUI IUDICATIS TERRAM‘, fur sezzai.“).⁶⁶¹ Es ist also der biblische Imperativ:⁶⁶² Liebt Gerechtigkeit, ihr Herrscher der Erde.⁶⁶³
cc) Werkimmanenter Bezug zum Schreiben an Cangrande Hier gibt es einen versteckten Bezug zum Schreiben an Cangrande,⁶⁶⁴ in dem Dante ebenfalls das Buch der Weisheit zitiert, jedoch in einem vorderhand anderen Zusammenhang, dann aber fortfährt: „Denn jene, die in hohem Maße der Einsicht und des Verstandes mächtig und mit einer gewissen göttlichen Freiheit ausgestattet sind, werden durch keine Gewohnheit eingeschränkt; dies ist nicht weiter erstaunlich, da nicht sie durch die Gesetze, sondern die Gesetze vielmehr durch sie gelenkt werden.“⁶⁶⁵ Die Passage könnte der Politik des Aristoteles entlehnt sein,⁶⁶⁶ sofern Dante
Aus dem Schrifttum dazu Ernesto Giacomo Parodi, Il giglio d’oro nel canto XVIII del Paradiso, Arte e Scienza I (), ff. Paradiso, XVIII, – (Übersetzung Philalethes). Paradiso, XVIII, – (Übersetzung Philalethes); dazu John Took, Diligite iustitiam qui iudicatis terram, in: Dante and Governance (Hg. John Woodhouse), , S. . Buch der Weisheit, I. . Einheitsübersetzung. Zu ihm Hans Spangenberg, Cangrande I. della Scala ( – ), . Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, Epistola XIII, . Übersetzt, eingeleitet und kommentiert (sowie hier zitiert) von Thomas Ricklin mit einer Vorrede von Ruedi Imbach, , S. : „Nam intellectu ac ratione vigentes, divina quadam libertate donati, nullis consuetudinibus astringuntur; nec mirum, cum non ipsi legibus, sed ipsis leges potius dirigantur“.
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sie gekannt hat, was im Schrifttum in Frage gestellt wird.⁶⁶⁷ Jedenfalls wird dieser mögliche werkimmanente Bezug dadurch umso plausibler, als Dante wenige Sätze später betont, dass er Cangrande das Paradies seiner Göttlichen Komödie widmet:⁶⁶⁸ „Und da habe ich nichts gefunden,was Eurer herausragenden Stellung angemessener wäre als das erhabene Buch der Komödie, das durch den Titel des Paradieses geziert wird; und dieses (Buch), durch den vorliegenden Brief gleichsam wie durch ein eigentliches Epigramm gewidmet, überschreibe ich Euch, bringe ich Euch dar, ja vertraue ich Euch an.“⁶⁶⁹ Unter diesen interpretatorischen Vorzeichen könnte man die Widmungsstelle zugleich als einen ebenso diskreten wie mahnenden Hinweis an den in Oberitalien herrschenden Cangrande auf den biblischen Imperativ aus dem Buch der Weisheit deuten.⁶⁷⁰
dd) Metaphysische Gestalt der Gerechtigkeit Denjenigen, die auf Erden richten und Recht sprechen, wird somit buchstäblich die Weisung vorgeschrieben, die Gerechtigkeit zu lieben. Die Allegorie in Form einer buchstabengetreuen⁶⁷¹ Verdeutlichung macht deutlich, dass jeder irdischen Vorschrift und jedem auf Erden geltenden Gesetz eine metaphysische Gestalt der Ge Aristoteles, Politica, a, – : „De talibus autem non est lex; ipsi enim sunt lex“. Allan H. Gilbert, Had Dante read the Politics of Aristotle?, Publications of Modern Language Association of America (), . Auch dies ist nicht unumstritten; vgl. Allan H. Gilbert, Did Dante Dedicate the Paradiso to Can Grande della Scala?, Italica (), ff. Siehe auch Augusto Mancini, Nuovi dubbi ed ipotesi sulla Epistola a Cangrande, in: Atti della R. Accademia d’Italia, Rendiconti, Classe de Scienze morali, storiche e filologiche, Serie ,Volume (), ; ders., Un nuovo codice dell’Epistola a Can Grande, Studi danteschi (), . Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, Epistola XIII, , S. : „Neque ipsi preheminentie vestre congruum comperi magis quam Comedie sublimen canticam que decoratur titulo Paradisi; et illam sub presenti epistola, tanquam sub epigrammate proprio dedicatam, vobis ascribo, vobis offero, vobis denique recommendo“. – Thomas Ricklin macht in seiner ausgezeichneten Kommentierung des Schreibens an Cangrande (, S. f.) mit Recht darauf aufmerksam, dass die von Dante verwendeten Begriffe (dedico, ascribe, offero, recommendo) „juristisch kontaminiert“ seien. Siehe auch Francesco d’Ovidio, L’Epistola a Cangrande, in: ders., Studi sulla Divina Commedia, , ff.; Luis Jenaro-MacLennan, The Trecento Commentaries on the „Divina Commedia“ and the Epistle to Cangrande, . Narrativ verdichtet wird das Verhältnis von Dante zu Cangrande in der bereits erwähnten Novelle von Conrad Ferdinand Meyer, Die Hochzeit des Mönchs, . Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , hat herausgearbeitet, dass der großgeschriebene letzte Buchstabe („terraM“) auf die „symbolische Gestalt der Monarchia, der Weltherrschaft“ Bezug nimmt. Dieser inzidente Verweis auf Dantes Monarchia könnte vor diesem Hintergrund ebenfalls den weiter oben (sub aa) angesprochenen werkimmanenten Zusammenhang zur Monarchia veranschaulichen.
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rechtigkeit vorgegeben ist. In Anlehnung an den eingangs erwähnten Titel der Arbeit von Hugo Friedrich kann man auch und gerade hier von einer „Rechtsmetaphysik“ sprechen.⁶⁷² Das Interessante an diesem Bild ist jedoch, dass es bei wortlautmäßiger Betrachtung gar keine Metaphysik im aristotelischen Sinne ist.⁶⁷³ Denn die Gerechtigkeit, von der die Rede ist, ist nicht über dem Körperlichen angeordnet, sondern die Seelen der Gerechten verkörpern buchstäblich die Gerechtigkeit.
b) Kirchliche Gerechtigkeit? Interessant ist ferner, dass sich Dante das Postulat der Gerechtigkeitsliebe in der althergebrachten lateinischen Sprache präsentiert, die er in der Göttlichen Komödie bewusst abgelegt hat. In der Sprache der wissenschaftlich Gebildeten ist diese Aufforderung zur Gerechtigkeitsliebe zugleich eine Erinnerung an diejenigen, welche die Sprache beherrschen. Hier gilt wohl auch das, was Arno Borst in anderem Zusammenhang bemerkt: „Was Boethius für die Philosophie ist,⁶⁷⁴ das ist Justinian für die Jurisprudenz; wenn Dante über die Sprache seiner Tage schreiben will, tut er es in der Sprache Ciceros.“⁶⁷⁵ Da dies zugleich die Sprache der Kirche ist und Dante die Stelle aus dem Buch der Weisheit nach der Vulgata zitiert, kann man die personifizierte Inschrift und Vorschrift zur Gerechtigkeitsliebe auch auf die beziehen, welche die Kirche verkörpern. Das wird im folgenden Teil des achtzehnten Gesangs besonders deutlich, wo sich Dante unausgesprochen gegen einen ungerechten Papst wendet: „O liebliches Gestirn, wieviel und welche / Juwelen zeigten mir, daß Wirkung unsre / Gerechtigkeit des Himmels, dran du prangst, sei!“ („O dolce stella, quali e quante gemme / mi dimostraro che nostra giustizia / effetto sia del ciel che tu ingemme!“).⁶⁷⁶ Nicht von ungefähr ist nämlich gegen Ende des Gesangs an einer Stelle von Paul und Peter die Rede,⁶⁷⁷ an einer anderen Stelle von Paulus und dem Fischer, das heißt neben demjenigen Apostel, der die Verbreitung des Glaubens
Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, . Allgemein dazu auch Christian Moevs, The metaphysics of Dante’s Comedy, . Vittorio Hösle, Dantes Commedia und Goethes Faust. Ein Vergleich der beiden wichtigsten philosophischen Dichtungen Europas, , S. , bemerkt mit Recht, dass Boethius’ Consolatio philosophiae eines der wichtigsten Vorbilder Dantes war. Siehe auch Peter Dronke, Boethius, Alanus und Dante, Romanische Forschungen (), ; Marguerite Mills Chiarenza, Boethians Themes in Dante’s Reading of Virgil, Stanford Italian Review (), . Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, . Auflage , S. . Paradiso, XVIII, – (Übersetzung Philalethes). Paradiso, XVIII, .
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wie kein zweiter bewirkt hat,⁶⁷⁸ von dem Nachfolger Petri, also dem Papst.⁶⁷⁹ Wichtiger als dieser von Dantes unbeugsamem Gerechtigkeitssinn diktierte Angriff gegen das Papsttum seinerzeit ist aber die inmitten des zuvor Zitierten enthaltene Aussage: „unsre Gerechtigkeit des Himmels“ („nostra giustizia / effetto sia del ciel“).⁶⁸⁰ Irdische Gerechtigkeit ist also ohne göttliche Gerechtigkeit, die ihr vorgeordnet ist, undenkbar.
c) Kausalzusammenhang von göttlicher und irdischer Gerechtigkeit Auch die dem richtenden Menschen zuerkannte Willensfreiheit ändert nichts daran, dass göttliche und irdische Gerechtigkeit in einer Kausalbeziehung zueinander stehen. Auch hier gilt freilich für Dante die Richtung „wie im Himmel so auf Erden“.⁶⁸¹ Irdische Gerechtigkeit geht vom Richtmaß göttlicher Gerechtigkeit aus und bildet sie auf Erden ab.
aa) Gefüge der Gerechtigkeit Der Mensch kann ohne göttlichen Beistand nicht von selbst und aus sich heraus gerecht urteilen. Wenn er jedoch gerecht urteilt, entscheidet er in dem Sinne gewissenhaft, als das Gewissen selbst den Widerhall der Stimme Gottes bedeutet.⁶⁸² Vor diesem Hintergrund ist auch Dantes Gerechtigkeitssinn nicht allein irdischen Ursprungs, sondern nur insoweit, als er durch die erfahrenen Ungerechtigkeiten selbst ungerecht oder selbstgerecht urteilt. Dabei darf nicht übersehen werden, Eugen Biser, Der unbekannte Paulus, , S. f., spricht von ihm treffend „als erstem Medienverwender und Medientheoretiker der Christenheit“; dazu Jens Petersen, Medienrecht in der Katholischen Kirche, Archiv für Katholisches Kirchenrecht (), . Zur PaulusDarstellung in der Göttlichen Komödie Theodore Silverstein, Did Dante know the Vision of St. Paul?, Harvard Studies and Notes in Philosophy and Literature XIX (), ; Giuseppe di Scipio, Dante and St. Paul: the Blinding Light and Water, Dante Studies (), . Paradiso, XVIII, . Paradiso, XVIII, f. (Übersetzung Philalethes). Siehe dazu auch die Schlussbetrachtung („Himmel und Erde“) von Joseph Ratzinger,Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, , S. f. in seinem staatsphilosophisch geprägten Kapitel über die Wahrheitsfrage; bedenkenswert insbesondere aaO., S. : „In Wahrheit ist es gerade diese ‚eschatologische‘ Haltung, die dem Staat sein eigenes Recht garantiert und zugleich dem Absolutismus wehrt, indem sie die Grenzen sowohl des Staates wie der Kirche in der Welt aufzeigt.“ – Diese Deutung dürfte sich mutatis mutandis leicht mit Dantes Monarchia in Einklang bringen lassen. John Henry Newman, Entwurf einer Zustimmungslehre (Übersetzung Theodor Häcker, ), S. ; dazu oben Inferno sub c).
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dass gerade auch die Ungerechtigkeiten seinen Gerechtigkeitssinn in positiver und produktiver Weise formen konnten.⁶⁸³ Dort hingegen wo er zunächst unter Vergils, später Beatrices Anleitung zu einer gerechten Beurteilung gelangt,⁶⁸⁴ vermag er dies nicht aus eigener Kraft, sondern ist es auch jeweils der Himmel, der Gerechtigkeit auf Erden bewirkt.⁶⁸⁵ Himmel und Erde bewirken so in Dantes Weltsicht ein Gefüge der Gerechtigkeit.
bb) Imprägnierung des Gerechtigkeitssinns Vor diesem Hintergrund liest Dante die ihm zuvor in Gestalt der gerechten aufscheinenden Buchstaben in einem anderen Licht: Der Imperativ „Diligite Iustitiam“ ist nicht vordringlich auf die Gerechtigkeit gerichtet, sondern das erste Wort, das Dante nicht von ungefähr erblickt ist: „Diligite“, also „liebet“. Wahre Gerechtigkeit und Liebe stehen für Dante somit in einem göttlich vorgegebenen untrennbaren Zusammenhang zueinander. Nicht nur göttliche, sondern auch irdische Gerechtigkeit ist ohne Liebe undenkbar. Dahinter steht unausgesprochen die Vorstellung, dass Objekt dieser Liebe nicht nur die Gerechtigkeit ist, sondern dass auch den zu Richtenden mit Liebe begegnet werden muss. Indem die Gerechten selbst sie verkörpern, macht die Inschrift den größtmöglichen Eindruck auf Dante und imprägniert seinen Gerechtigkeitssinn.
13. Inkommensurabilität der göttlichen Gerechtigkeit Nach dieser mahnenden Betrachtung der irdischen Gerechtigkeit geht es im neunzehnten Gesang wieder um die göttliche Gerechtigkeit. Dass sie nicht allein durch Vernunft fassbar und begreiflich ist, ist Dante bewusst: „Wohl weiß ich, wenn in anderm Reich des Himmels / Die göttliche Gerechtigkeit sich spiegelt, / Daß eures doch sie nicht verschleiert auffaßt“ („Ben so io che, se ’n cielo altro reame / la divina giustizia fa suo specchio, / che ’l vostro non l’apprende con
Ähnlich Hermann Conrad, Die Rechtslehre des Dante Alighieri, Begegnung: Zeitschrift für Kultur und Geistesleben (), , : „Das herbe Geschick, das dem Dichter von seiner Vaterstadt bereitet worden war, die unerbittliche Verbannung, aber auch die Überfülle an Ungerechtigkeit und Gewalttat, die ihm in dem politisch so stürmisch bewegten Italien entgegentrat, ihm in gleicher Weise bei den Häuptern der abendländischen Welt, beim Papst und bei den Herrschern begegnete, waren günstiger Mutterboden für seine Frage nach Recht und Gerechtigkeit“. Siehe auch Kevin Brownlee, Dante, Beatrice, and the Two Departures from Dido, Modern Language Notes (), . Paradiso, XVIII, .
13. Inkommensurabilität der göttlichen Gerechtigkeit
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velame“).⁶⁸⁶ In einem eindrucksvollen Bild, das demjenigen des Augustinus ähnelt,⁶⁸⁷ der den Versuch, Gott verstandesmäßig zu erkennen und zu erfassen mit einer Muschel vergleicht, die das Meer erfassen soll,⁶⁸⁸ empfängt auch Dante die Antwort, dass der menschliche Verstand schlechterdings inkommensurabel ist, um die göttliche Gerechtigkeit zu erfassen:⁶⁸⁹ „Darum vertiefet innerhalb der ewgen / Gerechtigkeit die Sehkraft sich, die eure / Welt hat empfangen, wie das Aug im Meere“ („Però ne la giustizia sempiterna / la vista che riceve il vostro mondo, / com’ occhio per lo mare, entro s’interna“).⁶⁹⁰
a) Die ungetauft Verstorbenen als Paradigma von Dantes geläutertem Gerechtigkeitssinn Der begrenzten menschlichen Einsicht verschwimmen die Perspektiven, göttliche Gerechtigkeit liegt vor ihm wie ein Ozean. Da sich also die göttliche Gerechtigkeit einer rationalen Durchdringung versperrt, kann sie nicht durch Vernunft, sondern nur glaubend ermessen werden. Das aber führt Dante zu einer Frage, die sein Gegenüber bereits erfasst hat als sie Dante noch gar nicht recht bewusst war: „Zur Gnüg ist dir die Höhle nun erschlossen, / Drin die lebendige Gerechtigkeit dir / Sich barg, drob du so häufige Fragen einwarfst“ („Assai t’è mo aperta la latebra / che t’ascondeva la giustizia viva, / di che facei question cotanto crebra“).⁶⁹¹ Die Frage, um die es geht, wird in dialogischer Form entwickelt, ohne dass Dante sie zu stellen braucht: „Indem du sprachst: ‚Geboren wird am Indus / Ein Mensch, und niemand ist daselbst, der spreche / Von Christo, noch auch lese, noch auch
Paradiso, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Zum Einfluss des hl. Augustinus auf Dante Carlo Calcaterra, Sant’Agostino nelle opere di Dante e del Petrarca, in: S. Agostino, Pubblicazione commemorativa del XV centenario della sua morte, Rivista di filosofia neo-scolastica, Supplemento speziale al vol. (), ; James T. Chiampi, Augustinian Distentio and the Structure of Dantes Purgatory, Canadian Journal of Italian Studies (), ; Francis X. Newman, St. Augustine’s Three Visions and the Structure of the Commedia, Modern Language Notes (), . Dazu Joseph Ratzinger, Aus meinem Leben, , S. . Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), : „Im Reich des Jenseits, in dem die göttliche Gerechtigkeit waltet, wird alles Gute und alles Böse nach Maßstäben vergolten, die in den menschlichen Gesetzen keine genaue Parallele haben“. Paradiso, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Paradiso, XIX, – (Übersetzung Philalethes); dazu auch Luigi Valli, Il canto XIX del Paradiso, La struttura morale dell’universo dantesco, .
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schreibe‘“ („ché tu dicevi: Un uom nasce a la riva / de l’Indo, e quivi non è chi ragioni / di Cristo né chi legga né chi scriva“).⁶⁹² Das Schicksal der ungetauft Verstorbenen wird so zum Paradigma von Dantes Gerechtigkeitssinn.⁶⁹³ Auch wenn er weiß, dass sein Verstand die göttliche Gerechtigkeit nicht fassen kann, bewegt ihn doch die Frage, ob auch diejenigen auf ewig verdammt sind, die – aus seiner Sicht – schuldlos keine Christen geworden sind: „Und alles,was er will, und all sein Handeln / Ist gut, so weit die menschliche Vernunft sieht, / Von jeder Sünde frei in Wort und Leben. / Er stirbet ungetauft und sonder Glauben; / Wo kann ihn hier Gerechtigkeit verdammen? / Wo nun ist seine Schuld, wenn er nicht glaubet?“ („e tutti suoi voleri e atti buoni / sono, quanto ragione umana vede, / sanza peccato in vita o in sermoni. / Muore non battezzato e sanza fede: / ov’ è questa giustizia che ’l condanna? / ov’ è la colpa sua, se ei non crede?“).⁶⁹⁴ Obwohl oder gerade weil Dante selbst felsenfest gläubiger Christ war, regt sich sein Gerechtigkeitssinn, wenn er an die aus seiner Sicht gutwilligen Heiden denkt.⁶⁹⁵ Dantes Gerechtigkeitssinn ist vernunftgemäß und in den theologischen Kategorien seiner Zeit verankert.⁶⁹⁶ Gerade die vernunftmäßige Prägung erweist sich jedoch bei der Beantwortung dieser grundlegenden Frage als immanente Begrenzung: „Doch, wer bist du, der zu Gericht will sitzen, / Auf tausend Meilen weit Urteil zu fällen / Mit deinem Blick, der eine Spanne reichet?“ („Or tu chi se’, che vuo’ sedere a scranna, / per giudicar di lungi mille miglia / con la veduta corta d’una spanna?“).⁶⁹⁷ Hier wird in einer besonders sinnfälligen Weise dargestellt
Paradiso, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Treffend Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. : „Dies ist der Anfang immer dringlicher werdender Fragen nach Gottes Gerechtigkeit, die ihren Zielpunkt stets in der Frage nach der Gerechtigkeit von Vergils Schicksal haben“. Paradiso, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Hier zeigt sich übrigens beispielhaft, dass auch Dantes Zeit Europa als solches gar nicht kennt, sondern nur die Christenheit; eingehend Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, , S. f. Willi Hirdt, Gerechtigkeit – Gesetzlichkeit. Zum episodischen Diskurs der Divina Commedia (Inferno VII–IX), Deutsches Dante-Jahrbuch (), , f. Fußnote , stellt anschaulich und im Hinblick auf den Gerechtigkeitssinn Dantes deutlich den Zusammenhang mit Inferno, IV über die Ungetauften her: „Für den in diesem Punkt (sc.: im Verhältnis zu Thomas von Aquin) rigoroseren Dante gibt es eine solche Rettung nicht ohne die Taufe. Auf der anderen Seite wird in Inf. IV deutlich, dass sein persönliches Rechtsempfinden das Verdienst edler Gesinnung und tugendhaften Wandels belohnt oder zumindest, durchaus im Gegensatz zu kirchenoffiziellen Auffassungen seiner Zeit, der Höllenstrafe entzogen wissen will“. Hervorhebung nur hier. Paradiso, XIX, – (Übersetzung Philalethes); zu dieser Stelle auch Giorgio Del Vecchio, Gerechtigkeit, Liebe und Sünde bei Dante, Deutsches Dante-Jahrbuch (), , , wonach
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und im Wortsinne ermessen, wie unqualifiziert der menschliche Verstand zur Erfassung der göttlichen Gerechtigkeit ist. Der Mensch spielt sich zum Richter auf, obwohl sein Augenmaß nicht im Entferntesten die Dimensionen göttlicher Gerechtigkeit erfasst.⁶⁹⁸ So ist derjenige, der über das Seelenheil der gutwilligen Heiden sinniert, nicht gerechter, als diese es sind: „O irdsche Wesen, o stumpfsinnige Geister! / Der erste Wille, gut an sich, hat nimmer / Sich von sich selbst, dem höchsten Gut, entfernet. / Das ist gerecht, was mit ihm übereinstimmt“ („Oh terreni animali! oh menti grosse! / La prima volontà, ch’è da sé buona, / da sé, ch’è sommo ben, mai non si mosse. / Cotanto è giusto quanto a lei consuona“).⁶⁹⁹ Recht ist nach dieser an Augustinus und Thomas von Aquin angelehnten Sichtweise nichts anderes als der (erste) Wille Gottes.⁷⁰⁰ Hans Kelsen erachtet dies als „außerordentlich charakteristisch für die ganze mittelalterliche Rechtsphilosophie“.⁷⁰¹ Dante repräsentiert auch hier die Menschheit und wird daher auch zum stellvertretenden Gewissen seiner Zeit. Sein Gerechtigkeitssinn ist aber eben hier nicht mehr nur der seiner Zeit, sondern mehr und mehr auf die ewige Gerechtigkeit hingeordnet.
b) Göttliche Gerechtigkeit und menschlicher Gerechtigkeitssinn Aus dem zuletzt Bedachten ergibt sich das folgende Problem der Gnadenwahl.⁷⁰² Dante erblickt unter den Gerechten einen Trojaner, den er aus der Lektüre Vergils
die Stelle bezeugt, „dass der menschliche Geist sich vor der unerforschlichen göttlichen Gerechtigkeit beugen muss“. Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , macht auf die Antwort des im Gesang erscheinenden Adlers aufmerksam, wonach „Gott der Allmächtige sein eigenes Recht, seine eigene Gerechtigkeit hat, die sich dem menschlichen Ermessen entzieht“. Paradiso, XIX, – (Übersetzung Philalethes). Thomas von Aquin, Summa theologica, I, , : „Voluntas Dei est omnino immutabilis.“ Siehe zum geistigen Vermittler der Lehre vor allem Martin Grabmann, Die Wege von Thomas von Aquin zu Dante. Fra Remigio de’ Girolami O. Pr., Deutsches Dante-Jahrbuch (), ; ders., Die italienische Thomistenschule des XIII. und beginnenden XIV. Jahrhunderts, in: Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik, Band I, , S. – ; insb. das Kapitel: Remigio de’ Girolami, der Schüler des hl. Thomas und Lehrer Dantes, ebenda, S. . Siehe auch Mowbray Allan, Much Virtue in Ma: Paradiso XIX, , and St. Thomas’s Sed contra, Dante Studies (), . Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wiener staatswissenschaftliche Studien, Band , . Heft, , S. (= HKW , , ). Thomas von Aquin, Summa theologica, I, (De Praedestinatione); II, , , : „fidem implicatam in divina providentia.“ Ferner Walther von Wartburg, Ausgabe der Göttlichen Komödie von Manesse, . Auflage , S. unter Verweis auf Augustinus.
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kennt. Da er „eh man getauft hat, mehr als ein Jahrtausend“ lebte („dinanzi al battezzar più d’un millesmo“).⁷⁰³ konnte er kein Christ sein, sondern allenfalls in der Art, wie ihn Vergil darstellt, unausgesprochen auf Christus verweisen, wie dies die mittelalterliche Theologie im Hinblick auf Vergil selbst für möglich hielt.⁷⁰⁴ So erweist Dante mit dem ihm eigenen Gerechtigkeitssinn letztlich Vergil selbst seine Referenz, indem er eine Person regelrecht begnadigt, die er durch Vergil kennt, auch wenn er weiß, dass er angesichts der unabänderlich waltenden göttlichen Gerechtigkeit nichts bewirken kann. Dieser kühne Akt der Gerechtigkeit stellt sich so als praktizierter Gerechtigkeitssinn dar, der aus den Kategorien der Theologie seiner Zeit auch den Ungetauften Gerechtigkeit widerfahren lässt. Dante rechtfertigt dies durch die Erinnerung der menschlichen Inkommensurabilität im Hinblick auf die göttliche Gerechtigkeit: „Ihr aber, Sterbliche, enthaltet streng euch / Vom Richten, da wir selbst, die Gott doch sehen, / Die Auserwählten alle noch nicht kennen“ („E voi, mortali, tenetevi stretti / a giudicar: ché noi, che Dio vedemo, / non conosciamo ancor tutti li eletti“).⁷⁰⁵ Dante nimmt diese Aussage wiederum als Repräsentant der Menschheit auf, die er zugleich daran erinnert, dem eigenen fehlbaren und limitierten Gerechtigkeitssinn zu misstrauen. Karlheinz Stierle bemerkt treffend, dass dies „für Dantes Gerechtigkeitssinn und seine Liebe zu Vergil die größte Herausforderung sein muss“. Er beschreibt am Beispiel der Antwort des im Text genannten Adlers „den tiefen Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“. Und auch im Folgenden erkennt er den Gerechtigkeitssinn als sedes materiae: „Von seiner Caritas entflammt, will der Adler jetzt Dantes Zweifel aufhellen, indem er ihm Gottes Gerechtigkeit näher bringt. Zwischen menschlichem Gerechtigkeitssinn und den Mysterien von Gottes Gerechtigkeit gebe es einen unüberbrückbaren Hiat, den gleichwohl die lebendige Hoffnung überspringt“.⁷⁰⁶ Besser lässt sich die Gegensätzlichkeit zwischen göttlicher Gerechtigkeit und Dantes menschlichem Gerechtigkeitssinn nicht beschreiben. Allein die Kardinaltugend der Hoffnung vermag diese dialektische Spannung letztlich aufzuheben. Paradiso, XX, (Übersetzung Philalethes); zum Folgenden auch Vittorio Rossi, Il canto ventesimo del Paradiso, Saggi e Discorsi su Dante, , S. ff.; Giuseppe Lesca, Il canto dei giusti, . Näher Antonie Wlosok, Rollen Vergils im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalter an der Universität Münster (Hg. Gerd Althoff, Hagen Keller, Christel Meier) (), S. ff. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund Silvio Vietta, Europäische Kulturgeschichte, , S. . Paradiso, XX, – (Überetzung Philalethes). Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. f. unter Bezugnahme auf Paradiso, XX, , ff.
13. Inkommensurabilität der göttlichen Gerechtigkeit
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c) Willensfreiheit als Determinante der Ungerechtigkeit An der Person Adams zeigt sich eine weitere bemerkenswerte, aber ins Bild passende Ausprägung der göttlichen Gerechtigkeit, deren beispielhafte Darstellung Dantes Gerechtigkeitssinn illustriert. Seine Verfehlung bestand weniger darin, vom Baum der Erkenntnis zu essen, als vielmehr in der Übertretung des Gebots als solchem: „Sieh, lieber Sohn, das Kosten von dem Baume, / War nicht an sich der Grund so langen Bannes, / Nein, lediglich des Marksteins Übertretung“ („Or, figliuol mio, non il gustar del legno / fu per sé la cagion di tanto essilio, / ma solamente il trapassar del segno“).⁷⁰⁷ Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt also auf der Zuwiderhandlung gegen das göttliche Gesetz. Allerdings kann sich der Mensch noch so sehr vergehen: er vermag aus der Rechtsordnung nicht auszutreten.⁷⁰⁸ Daraus folgt, dass der Mensch aus sich heraus nicht einmal die Kraft hat, Böses zu tun, so dass der ins Werk gesetzte böse Wille bestraft wird. Hier wird wiederum die Willensfreiheit zur Determinante der Ungerechtigkeit. Dantes Unterscheidung ähnelt jener zwischen Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht, nur dass die Handlung selbst weitgehend irrelevant ist, und nur der darin zum Ausdruck kommende Wille, gegen das Gebot zu verstoßen, die Strafbarkeit begründet. Der im Gang durch das Paradiso immer stärker ausdifferenzierte Gerechtigkeitssinn Dantes erschließt ihm ein Gesinnungsstrafrecht, das auf Erden keinen Platz hat,⁷⁰⁹ wohl aber vor dem jenseitigen Gericht. Wie sehr demgegenüber Gottes Wille das Paradiso prägt und eint, setzt Date weiter oben im dritten Gesang voraus: „Wenn wir uns sehnten, Höhere zu werden, / So wären unsre Wünsche nicht im Einklang / Mit dessen Willen, der uns hier gesondert“ („Se disïassimo esser più superne, / foran discordi li nostri disiri / dal voler di colui che qui ne cerne“).⁷¹⁰ Jede Form der Hybris streitet also Gottes Gesetz zuwider. Sein Wille ist auf Einigkeit gerichtet, in der sich keiner über den anderen erhebt: „Nein, zu der Form des Seligseins gehört es, / sich innerhalb des, was Gott will, zu halten, / So dass all unsre Willen einer werden“ („Anzi è formale ad esto Paradiso, XXVI, – (Übersetzung Philalethes); siehe dazu auch Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, , . Auflage , S. . Speziell zum . Gesang Giovanni Calò, Il canto XXVI del Paradiso, Rassegna Nazionale VII (), ff.; Eugenio Donadoni, Il canto XXVI del Paradiso, Leonardo V (), ; James Gaffney, Dante’s Blindness in Paradiso XXVXXVI: An Allegorical Interpretation, Dante Studies (), . Vgl. auch Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. , wonach Strafe die „wenn auch negativ weiterdauernde Anteilhabe an der Rechtsordnung bedeutet“. Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band , Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, . Auflage , § Rdnr. ; Hans Joachim Hirsch, Untauglicher Versuch und Tatstrafrecht, Festschrift für Claus Roxin, , S. , . Paradiso, III, – (Übersetzung Philalethes).
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III. Paradiso
beato esse / tenersi dentro a la divina voglia, / per ch’una fansi nostre voglie stesse“).⁷¹¹ Diese Vorstellung allgegenwärtiger Einmütigkeit und Eintracht gipfelt dann in dem zusammenfassenden Wort: „Und unser Friede ist sein Wille“ („E ’n la sua volontade è nostra pace“).⁷¹² Diese Aussage ist im Schrifttum mit gutem Grund als Ausdruck von Dantes Rechtsvoluntarismus gedeutet worden.⁷¹³
14. Das göttliche Gesetz Dante gelangt nun zum höchsten Himmel, dem Empireo (Empyreum).⁷¹⁴ Diese Vision gehört zu den größten Schöpfungen Dantes.⁷¹⁵ Die Raum- und Zeitlosigkeit des Kristallhimmels übersteigt die Vorstellungskraft.⁷¹⁶ Es ist überaus bemerkenswert, dass das dem Empyreum zugrundeliegende Raum- und Zeitverständnis von einem Mathematiker des 20. Jahrhunderts bemüht worden ist,⁷¹⁷ um die der modernen Physik⁷¹⁸ und Mathematik zugrundeliegende Vorstellung von Raum
Paradiso, III, – (Übersetzung Philalethes). Paradiso, III, f. (Übersetzung Philalethes); prägnant Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , wonach die Antwort „von schattenloser Heiterkeit ist. Sie haben Frieden im Willen Gottes“. Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , , der zusätzlich auf Monarchia, I, , , verweist. Näher Alberto Scrocca, Il sistema dantesco dei cieli e delle loro influenze, ; Adolfo Galassini, I cieli danteschi, Rassegna Nazionale, Nov. Dez. (), ; ; ; Richard Kay, Dante’s Empyrean and the Eye of God, Speculum (), . Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. , stellt instruktiv dar, wie das Empyreum Dante schon auf dem Weg zur Commedia im Convivio vorschwebt. Siehe auch Romano Guardini, Vision und Dichtung. Der Charakter von Dantes Göttlicher Komödie, ; Eugen Biser, Glaubenserweckung – das Christentum an der Jahrtausendwende, , S. . Vgl. auch Rudolf Palgen, Philosophische Kosmologie als Bauplan von Dantes Paradiso, . Robert Osserman, Geometrie des Universums: von der Göttlichen Komödie zu Riemann und Einstein, . Zu weiteren atmosphärischen Besonderheiten des Paradiso Karlheinz Stierle, „Umbriferi prefazi“. Licht, Farbe und mediale Metamorphosen in Dantes Paradiso, Deutsches Dante Jahrbuch / (/), . Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, Epistola XIII, ff., Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Thomas Ricklin mit einer Vorrede von Ruedi Imbach, , S. f., stellt das Empyreum in einen Zusammenhang mit der Physik des Aristoteles (Physica, III, i); dazu Bortolo Martinelli, La dottrina dell’Empireo nell’Epistola a Cangrande (capp. – ), Studi danteschi (), .
14. Das göttliche Gesetz
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und Zeit zu erklären,⁷¹⁹ die sich im Gefolge der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins ergibt.⁷²⁰ Hier wird deutlich, dass Dante einen Bezirk betritt, der sich der Vorstellung irdischer Gerechtigkeit schlechterdings entzieht: „Denn da, wo Gott unmittelbar regieret, / Hat das natürliche Gesetz nicht Geltung“ („Ché dove Dio sanza mezzo governa, / la legge natural nulla rileva“).⁷²¹ Hier gilt das ewige Gesetz, das Dante lediglich an dieser einen Stelle nennt und das durch absolute Notwendigkeit seiner Geltung geprägt ist: „Im weiten Umfang dieses Reiches kann kein / Zufällger Punkt je eine Stelle finden, / Nicht mehr als Traurigkeit, Durst oder Hunger, / Dieweil durch ewiges Gesetz bestimmt ist, / Was immer du in ihm erblickst, so dass hier / Stets ganz genau der Ring entspricht dem Finger.“ („Dentro a l’ampiezza di questo reame / casüal punto non puote aver sito, / se non come tristizia o sete o fame: / ché per etterna legge è stabilito / quantunque vedi, sì che giustamente / ci si risponde da l’anello al dito“).⁷²²
a) Erniedrigung machtgieriger Päpste Aber auch im Empyreum interessiert sich Dante für das Schicksal einzelner Personen, namentlich des Kaisers Heinrich VII., in den er große Hoffnungen setzt,⁷²³ und erfährt,
Ahnungsvoll Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, (Gesammelte Essays – , . Auflage , S. , , Übersetzung Ralph Dutli): „Dantes Poesie eignen alle Formen der Energie, die der heutigen Wissenschaft bekannt sind. Die Einheit von Licht, Schall und Materie ist ihre innere Form“. Thomas Levenson, Albert Einstein. Die Berliner Jahre – , Einstein in Berlin, , S. . Paradiso, XXX, (Übersetzung Philalethes). Paradiso, XXXII, – (Übersetzung Philalethes; Hervorhebung nur hier). Carlo Schmid, Dante und Pierre Dubois, in: Europa und die Macht des Geistes, Zweiter Band der Gesammelten Werke, , S. , f., hat die gerechtigkeitsstiftende Kraft des Kaisers für Dante ganz allgemein treffend zusammengefasst: „Die Gerechtigkeit erfährt aber ihre dichteste Verleibung in dem, der frei von jeder süchtigen Begierde und gleichzeitig der Mächtigste ist. Beides ist aber nur der Kaiser: Er ist der Mächtigste und frei von jeder süchtigen Begierde, weil er schon alles hat, was der Mensch sich als irdisches Ziel vornehmen kann, und er deswegen unter den Menschen notwendig der wunschloseste ist.Wo er liebt, liebt er nicht, um zu begehren, sondern im interesselosen Eros der richtig gerichteten Liebe, welche die Dinge in der Ordnung gefügt sehen will, die Gott ihnen zugeteilt hat, und deren Träger deshalb der willigste Walter der Gerechtigkeit sein muß – so den Urgrund dafür abgebend, dass die Menschheit in der ihr gewiesenen Stufenordnung richtig leben kann. (…) Er hat daher das unumschränkte Recht der Gewalt. Hinsichtlich des Zieles, also in der Welt des Seins, ist er der Diener aller in der Vollstreckung des göttlichen Gesetzes (…)“.
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III. Paradiso
dass sein Platz im Paradies sein wird.⁷²⁴ Schon vorher malt Dante die Gefahr aus, die der menschlichen Familie durch die Fehlbarkeit der Regierenden droht: „Doch du, damit es Dich nicht wundernehme, / Denk, dass auf Erden keiner, der regieret; / Drob irre geht die menschliche Gesellschaft“ („Tu, perché non ti facci maraviglia, / pensa che ʼn terra non è chi governi; / onde sì svïa l’umana famiglia“).⁷²⁵ Ganz anders als dem von Dante idealisierten Kaiser ergeht es den sündigen Päpsten, nach denen Dante sich erkundigt: „Die blinde Habbegier, die euch betöret, / Hat euch dem Kindlein gleichgemacht, das, sterbend, / Vor Hunger schier, die Amme von sich wegstößt. / Und Vorstand wird im göttlichen Gerichtshof / Dann einer sein, der offenbar und heimlich / Mit jenem nicht auf einem Wege wandelt“ („La ciega cupidigia che v’ammalia / simili fatti v’ha al fantolino / che muor per fame e caccia via la balia. / E fia prefetto nel foro divino / allor tal, che palese e coverto / non anderà con lui per un cammino“).⁷²⁶ So erfährt Dante, dass Papst Clemens ungeachtet seines höchsten Amtes (‚prefetto nel foro divino‘), das er nach göttlichem Ratschluss nicht lange innehaben wird, bereits für die Hölle ausersehen ist. Es schmeichelt Dantes Gerechtigkeitssinn, dass Beatrices letztes Wort seinem machtgierigen Erzfeind Bonifaz VIII. (‚quel d’Alagna‘) gilt⁷²⁷ und die Zusage enthält, dass er in der tiefsten Hölle schmort.⁷²⁸ Die im höchsten Himmel ausgesprochene Rückversicherung seiner Niedrigkeit erweckt nicht nur Dantes Genugtuung, sondern veranschaulicht einmal mehr das göttliche Gesetz, wonach der vermeintlich Höchste erniedrigt wird, weil und sofern er seine ihm verliehenen Befugnisse als Stellvertreter Christi auf Erden so schmählich missbraucht.⁷²⁹ Die buchstabenmäßige Nähe Beatrices Schlusswortes (‚giuso‘), das den Bonifaz vorbehaltenen tieferen Höllengraben bezeichnet, zum ‚giusto‘ ist wohl kein Zufall.
Paradiso, XXX, . Paradiso, XXVII, – (Übersetzung Philalethes, der vielleicht etwas zu fortschrittlich von der ‚Gesellschaft‘ spricht. Für seine Übertragung lässt sich andererseits ins Feld führen, dass bei Dante gerade im Hinblick auf das Recht schon vor knapp einem Jahrhundert ein „soziologischer Einschlag“ festgestellt wurde, und zwar von Adolf Dyroff, Dante als Rechtsphilosoph. Zum Gedenken an den Todestag des Dichterphilosophen, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XIV (/), , . Paradiso, XXX, – (Übersetzung Philalethes). Vgl. zu dieser Stelle nochmals Johan Huizinga, Herfsttij der Middeleeuwen, . Auflage , S. : „Hoe heeft niet Dante haar vervloekt: la ciega cupidigia! De hebzucht nu mist het symbolisch en theologisch karakter van den hoogmoed; zij is de natuurlijke en materieele zonde, de zuiver aardsche drift“. Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, , S. . Paradiso, XXX, . Paradiso, XXVII, – , enthält die imposante Strafpredigt des Petrus gegen seine sündigen Nachfolger.
14. Das göttliche Gesetz
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b) Florenz als Fremdkörper im Paradiso Durchaus in diesem Sinne hat Dante gerade den inkommensurablen Bereich des Empyreum im Hinblick auf die Gerechtigkeit mit einer Terzine verewigt, die noch einmal unnachahmlich zeigt, wie irdische und göttliche Gerechtigkeit seinen Sinn durchdrungen haben und diese auf sein Verständnis von jener wirkt: „Ich, der ich zu den Göttlichen gekommen / Vom Menschlichen, vom Zeitlichen zum Ewgen, / Und von Florenz zum Volk, gerecht und fehllos.“ („ïo, che al divino da l’umano, / a l’etterno dal tempo era venuto, / e di Fiorenza in popol giusto e sano“).⁷³⁰ Der hemmungslose Subjektivismus, aus dem diese Zeilen hervorgehen („ich, der ich“),⁷³¹ zeigt Dante auf der einsamen Höhe seiner rhetorischen Meisterschaft. Er verbindet einen Parallelismus mit einer dreifachen Antithese: Zunächst zeigt sich die subjektive Einfärbung darin, dass er „vom Menschlichen zu den Göttlichen“ gelangt, also der denkbar größten Antithese. Parallel dazu folgt die zweite Antithese („vom Zeitlichen zum Ewgen“), bei der die Zeit parallel zum Menschlichen steht und das Ewige parallel zu Gott in der ersten Antithese. Die Dritte Antithese schließlich kulminiert in einer geradezu witzigen Inkonzinnität: Dante ist „von Florenz zum Volk, gerecht und fehllos“ gelangt. Florenz steht hierbei parallel zum vorgenannten Menschlichen und der Zeit. Es erinnert daran, dass in der Göttlichen Komödie immer zugleich auch Dante aus Florenz als Mensch seiner Zeit spricht. Zugleich steht hier Florenz als Ort extremer Diesseitigkeit, das alles Niedrige, Gemeine und Ungerechte in sich trägt. Folgerichtig bezeichnet sich Dante im Brief an Cangrande als „Florentiner der Geburt, nicht der Lebensweise nach“.⁷³² Damit stellt die dritte Antithese seine Heimatstadt Florenz ganz bewusst in den größtmöglichen Kontrast zu den Gerechten. Florenz wird so in einer einzigartigen rhetorischen Stilisierung zum Fremdkörper im Paradiso und bleibt so für Dante gleichsam der Pfahl im Fleisch.⁷³³
Paradiso, XXXI, – . Siehe auch Giuseppe Zuccante, S. Bernardo e gli ultimi canti del Paradiso, in: Figure e dottrine nell’opere di Dante, , S. ff.; Gustavo Costa, Il canto XXXI del Paradiso, L’Alighieri (), . Vgl. nochmals Hermann Conrad, Die Rechtslehre des Dante Alighieri, Begegnung: Zeitschrift für Kultur und Geistesleben (), , : „Renaissancehaft(es) Ichbewusstsein“. Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, Epistola XIII, : „florentini natione, non moribus“. Anderer Ansicht Josef Kohler, Dantes heilige Reise. Freie Nachdichtung der Divina Commedia, Paradiso, , S. IV: „Mit größter Liebe spricht er von seinem Florenz“.
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15. Dantes Erhebung zur Gerechtigkeit Die oft zitierte These, dass in der Göttlichen Komödie das Ende im Anfang und der Anfang im Ende liegt,⁷³⁴ bewahrheitet sich hier in allegorischer Verallgemeinerung: Das Florenz seiner Zeit steht ihm zugleich für das Inferno.Von dort aus tritt er im Heiligen Jahr 1300 seinen Gang an.⁷³⁵ Im Übergang vom Inferno zum Paradies versinnbildlicht ihm Florenz nach seiner Verbannung von dort den ungerechtesten Ort auf Erden und damit den am weitesten entfernten Ort von dem, an dem er sich zum Schluss der Wanderung bei den Gerechten weiß. So treten am Ende seines Weges erneut das ewig waltende göttliche Gesetz – „eterna legge“ – und der unbeugsame Gerechtigkeitssinn Dantes in den Vordergrund. Die sich im dreifach antithetischen Parallelismus zeigende Harmonie, die zum Gerechten führt, wird jählings gestört durch die leidvolle Erinnerung und Vergegenwärtigung der ungerechten Behandlung durch seine Heimatstadt. Just dort, wo Dante ein raum- und zeitloses Bild völligen Ebenmaßes und einer gerechten Ordnung zeichnet, bricht sich die irdische Herkunft und das verletzte Gerechtigkeitsgefühl Bahn. Zugleich illustriert die nachgerade ironisch anmutende Zuspitzung Dantes Erhebung zur Gerechtigkeit, die alles Ungerechte hinter sich lässt und überwindet. Die drohende Einförmigkeit, welche die Schilderung der vollendet waltenden göttlichen Gerechtigkeit haben kann, wird abgewendet durch das, was die Binnenspannung des Werks aufrecht erhält und die gesamte Commedia durchglüht, nämlich Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn.
Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, , S. : „Erst im Ganzen, und das heißt am Ende, wo das, was in den Teilen in Zeit und Raum auseinander trat, als Einheit und in seiner Ordnung sichtbar wird, sind der Dichter und der Wandernde ein und derselbe Geist“. Inferno, I, .
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Personenverzeichnis Abegg, Heinrich 1, 2, 14, 22, 23, 24, 55, 71, 85, 91, 110 Adversi, Aldo 108 Allan, Mowbray 125 Amoroso, Pietro 58 Antonetti, Pierre 4 Apel, Karl-Otto 117 Aquin, Thomas von 11 f, 15, 20, 29, 32, 58, 63, 67, 71, 72, 103, 112, 124, 125 Arfelli, Dario 57 Arias, Gino 30 Aristoteles 12, 20, 23, 29, 56, 59, 63, 64, 118, 119, 128, Armour, Peter 20, 80, 82 Arnold, Bettina 39 ff., 44 Artinian, Robert 39 Auerbach, Erich 1, 3, 7 f., 12, 20 ff., 23, 32, 42, 53, 56, 75 f., 83 f., 97, 106, 109, 127 Augustinus, Aurelius 3, 11 f., 32, 84, 111, 123, 125 Baethgen, Friedrich 11 Baldassaro, Lawrence 31 Baldelli, Ignazio 86 Bambeck, Manfred 47 Baranski, Zygmunt G. 25 Barbi, Michele 24 Barolini, Teodolinda 20, 86, 109 Bassermann, Alfred 6, 63, 89 Bäumer, Gertrud 17 Becker, Christopher 1 Beckett, Samuel 6, 84 Behrends, Okko 61 Benedikt XVI. (siehe Ratzinger, Joseph) Bettarini, Rosanna 62 Biachi, Lorenzo 76 Binggeli, Bruno 106 Biser, Eugen 8, 16 f., 49, 54 f., 57, 59, 60, 115, 121, 128 Boccaccio, Giovanni 10 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 9, 13, 46 Boethius, Anicius Manlius Severinus 120 Bohr, Niels 105 Bonifaz VIII. 39 ff., 43 f., 76, 113, 130
Borst, Arno 2, 4, 16, 39, 92, 107 f., 120 Boterill, Steven 54 Boyde, Patrick 88 Brembs, Björn 71 Brownlee, Kevin 122 Brugnoli, Giorgio 10 Buck, August 41 Bühler, Arnold 40 Buonaiuti, Ernesto 65 Burckhardt, Jacob 14, 33, 79 Busnelli, Giovanni 3, 52, 55 Bussmann, Silvana 86 Caesaris, Giovanni de 25 Calcaterra, Carlo 123 Calò, Giovanni 127 Canaris, Claus-Wilhelm 7, 21, 92, 95, 108 Cangrande della Scala, Francesco 10, 90, 101, 118 f., 128, 131 Canterbury, Anselm von 103 Capet, Hugo 76 Cassell, Anthony K. 1, 9, 69 Cassirer, Ernst 9 Cavalcanti, Cavalcante de’ 25 Chamfort, Nicolas 69 Cheneval, Francis 13 Chiampi, James T. 123 Chiapelli, Luigi 95 Chiarenza, Marguerite Mills 86, 120 Chiavacci Leonardi, Anna Maria 10, 28 Chini, Mario 66 Chydenius, Johan 116 Cicero, Marcus Tullius 29, 100 f., 120 Cipolla, Costantino 32 Clairvaux, Bernhard von 54, 81 Colonna, Agapito 44 Colonna, Sciarra (Giacomo) 41 Colonna, Stefano 44 Conrad, Hermann 1, 6, 9, 12 f., 18, 38, 41, 44, 62, 73, 86, 94, 99, 109, 111, 113, 122, 131 Conte, Silvia 94 Contini, Gianfranco 12 Cosma, Doru 29
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Personenverzeichnis
Costa, Gustavo 131 Croce, Benedetto 19, 24 Curtius, Ernst Robert 1, 3, 4, 6, 66, 83, 92, 104 Daffner, Hugo 2 Davidsohn, Robert 10 Davis, Charles Till 39 Del Vecchio, Giorgio 19, 22, 26, 28 ff., 74, 88, 110, 123 f. Dempf, Alois 3, 77 Derrida, Jacques 70 Dispenza Crimi, Erminia Maria 52 Donadoni, Eugenio 127 Dronke, Peter 120 Dunbar, Helen F. 2 Duve, Thomas 16 Dyroff, Adolf 2, 5, 12, 14, 17, 29, 46, 53, 63, 65, 73 f., 95, 98, 100, 128, 130 Eberz, Otfried 44 Eccole, Francesco 62 Eckermann, Johann Peter 2 Eco, Umberto 12 Egizii, P. Davide 58 Einstein, Albert 128, 129 Fabbricotti, Carlo Andrea 66 Falkenhausen, Friedrich Freiherr von 23 f. Fehr, Ernst 9 Feise, Ernst 18 Fergusson, Francis 55 Ferrante, Joan M. 10, 47 Ferrara, Sabrina 114 Ferrazzi, Giuseppe Jacopo 8 Filomusi-Guelfi, L. 86 Fiore, Joachim de 37 f., 44 Flasch, Kurt 8, 12, 19 Flüeler, Christoph 9, 39 Folliero-Metz, Grazia Dolores 73 Fonzo, Claudia di 1 Foot, Philippa 5 Fornaciari, Raffaello 56 Fornari, Pasquale 30 Foster, Kenelm 22, 40 Fowlie, Wallace 23, 28 Frascino, Salvatore 52
Fraticelli, Pietro 28 Freccero, John 3 French, Reginald 40 Friedell, Egon 16 Friedrich, Hugo 1, 2 f., 4 f., 6 ff., 10, 11, 15, 16, 19, 21, 23 f., 29, 31, 36 f., 43, 45, 48, 50, 52, 54 ff., 66, 67, 71 f., 81, 83, 85, 86 f., 97, 103 f., 111, 117, 120, 127, 132 Frongia, Eugenio 17 Furger, Franz 41 Fusinato, Guido 67 Gächter, Simon 9 Gaetani, Benedetto (siehe Bonifaz VIII.) Gaffney, James 127 Galassini, Adolfo 128 Gandinos, Albertus de 48 Ganzer, Klaus 113 Garofalo, Raffaele 52 Gast, Wolfgang 23 Gehlen, Arnold 48 Gentilini, Virgilio 32 Geyer, Paul 15 Gilbert, Allan H. 1, 7, 17 f., 23, 31, 55, 56 f., 69, 74, 85, 88, 119 Gildemeister, Otto 20, 93, 117 Gilson, Etienne 6, 12 Giuliano, B. 60 Gmelin, Hermann 18, 22, 29, 32, 35, 42, 51, 57 f., 60 ff., 68, 75, 77, 78, 86, 94, 96, 103, 113 Goethe, Johann Wolfgang von 2, 16, 54 Gothofredus, Dionysius 92 Grabmann, Martin 34, 71, 125 Greenblatt, Stephen 15 Grimaldi, Carmelina 66 Grlic, Olga 12 Grossvogel, Steven 92 Grundmann, Herbert 11, 37 Guardini, Romano 41, 97, 128 Gumbrecht, Hans Ulrich 1, 7, 83, 97 Gundolf, Friedrich 8 Habsburg, Albrecht von 60 Hampe, Karl 11 Hausmann, Frank-Rutger 66, 83, 104 Havely, Nick 38
Personenverzeichnis
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 91 Heidegger, Martin 48 Heil, Andreas 80 Herde, Peter 4 Herzberg, Rolf Dieter 70, 78 Hettinger, Franz 21 Heydt, Karl von der 54 Hirdt, Willi 12, 19, 23, 26, 124 Hirsch, Hans Joachim 127 Hirschman, Albert O. 65 Höffe, Otfried 40, 56 Hollander, Robert 12, 32, 90, 117 Hölter, Eva 54 Holzberg, Niklas 80 Honecker, Martin 45 Hösle, Vittorio 9, 40, 47, 50 f., 117, 120 Huizinga, Johan 15, 34, 49, 130
Landi, Carlo 92 Läpple, Alfred 45 Lauster, Jörg 2, 24, 30, 39, 56 Ledig, Gerhard 30, 36, 41, 112 Lepsius, Oliver 45 f. Lepsius, Susanne 107 Lerche, Peter 46, 95 Lesca, Giuseppe 126 Levenson, Thomas 129 Levi, Giulio Augusto 58 Lilje, Hans 79 Lipparini, Giuseppe 57 Llanque, Markus 13 Longo, Giuseppe 58 Loos, Erich 6 Lüddecke, Dirk 9, 13, 34, 40, 73 Luiso, Francesco Paolo 86
Imbach, Ruedi 39 f.
Kantorowicz, Ernst 9, 57 Kantorowicz, Hermann 48 Kaufmann, Arthur 70 Kay, Richard 82, 128 Kelly, Henry Ansgar 10 Kelsen, Hans 6, 9 f., 21, 45, 74, 101, 125 Kirkham, Victoria 20 Kirkpatrick, Robin 11, 86 Knoll, August Maria 46 Kohler, Josef 2, 3, 6, 11, 44, 70, 89, 95, 131 Köhler, Hartmut 20, 25, 29, 43, 50, 115 Kölsch, Hanskarl 66, 96 Kraus, Franz Xaver 10 Kroll, Josef 4 Krumm, Christian 15 Küng, Hans 16, 26, 38, 115 Küpper, Joachim 6 Kurz, Gerhard 32
Maccarone, Michele 38 Magri, E. 102 Mancini, Augusto 119 Mandelstam, Ossip 1, 19, 43, 59, 61, 89, 129 Mankowski, Peter 70 Mansen, Mirjam 67, 83, 104 Mantey, Volker 13 Marchal, Victor 45 Marchesi, Simone 20 Marchetti-Longhi, Giuseppe 39 Marino, Domenico 58 Martinelli, Bortolo 128 Mazzeo, Joseph Anthony 86, 116 Mazzotta, Giuseppe 7, 117 Meyer, Conrad Ferdinand 18, 119 Meyer-Abich, Klaus Michael 105 Miethke, Jürgen 40 Milella, Luigi 58 Milton, John 27 Minio-Paluello, Lorenzo 63 Misciatelli, Piero 35 Moevs, Christian 120 Mongiello, Emilia 11 Moore, Edward 56 Morghen, Raffaello 6 Musa, Mark 20
Ladwig, Perdita 15 Landau, Peter 94, 107, 113
Nardi, Bruno 6, 11 f., 32, 41, 64 Neumann, Richard 44
Jacoff, Rachel 42 Jäger, Christian 71 Jauß, Hans Robert 83, 84 Jenaro-MacLennan, Luis 119 Jonas, Hans 73
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Personenverzeichnis
Newman, Francis X. 123 Newman, John Henry 44 f., 121 Nietzsche, Friedrich 59 f., 69, 73, 74, 91, 115, 116 Nogaret, Guillaume de 41 Nossack, Hans Erich 4 Novelli, Vincenzo 44 Olivi, Petrus Johannis von 38 Osserman, Robert 128 d’Ovidio, Francesco 36, 40, 119 Palgen, Rudolf 49, 59, 62, 128 Parodi, Ernesto Giacomo 118 Pascal, Blaise 56, 74, 84 Pasquini, Laura 76 Passerin d’Entrèves, Alessandro 10 Pauly, Walter 116 Paur, Theodor 55 Perez, Paolo 55 Perticari, Giulio 7 Peterman, Larry 98 Petronio, Giuseppe 43 Piazzesi, Chiara 75 Pistelli, Ermenegildo 57 Pistoia, Cino di (Guittone Sinibaldi) 12 Planck, Max 71 Plato 59, 63 f., 91 Porena, Manfredi 58 Posner, Richard A. 6 Proust, Marcel 83 f. Rajna, Pio 10 Rambaldi, Pier Liberale 36 Ratzinger, Joseph 17, 37, 44, 45, 46, 47, 57, 72 ff., 79, 88, 97, 99, 105, 107 f., 115, 116, 121, 123 Rawls, John 5 Reade, William Henry Vincent 17, 20, 59 Rehberg, Andreas 41, 44 Rheinfelder, Hans 113 Rhonheimer, Martin 63 Ricklin, Thomas 119 Rilke, Rainer Maria 54 Robertis, Domenico de 87 Robson, Charles A. 42 Romanus, Aegidius 39
Roon-Bassermann, Elisabeth von 63 Roquette, Otto 9 Rossi, Vittorio 67, 126 Roth, Klaus 15 Rousseau, Jean-Jacques 27 f. Roxin, Claus 21, 22, 70, 78, 81, 95, 127 Rüdiger, Horst 54, 64 Rüegg, August 2 Ruggiers, Paul George 4 Russell, Bertrand 12 Ryan, Christopher J. 3 Santanera, Armando 67, 109, 112 Santoli, Vittorio 21 Savigny, Friedrich Carl von 13 Scartazzini, Giovanni Andrea 19 Schaede, Stephan 38, 77 Scheffer-Boichorst, Paul 43 Scherillo, Michele 58 Schiller, Friedrich 54 Schilling, Harald 63 Schmid, Carlo 27, 33, 35, 38, 129 Schmidt, Richard 3, 12, 16, 21, 24, 32, 48, 62 f., 94, 111, 114 Schmidt, Tilmann 44 Schmitt, Carl 48 Schnapp, Jeffrey T. 42, 114 Scholz, Richard 40 f. Schopenhauer, Arthur 2, 52, 91 Schulz-Buschhaus, Ulrich 84 Schünemann, Bernd 70 Scipio, Giuseppe de 121 Scott, John A. 6 Scrocca, Alberto 128 Seiferth, Wolfgang 2 Sen, Amartya 5 Seneca, Lucius Aenneus 10, 100, 101 Seppelt, Franz Xaver 40 f. Shaw, Prue 55 Silesius, Angelus 27 Silverstein, Theodore 121 Sørensen, Villy 101 Spaemann, Robert 13 Spangenberg, Hans 118 Spitzer, Leo 6, 31, 97 Stadler, Hubert 64 Stambler, Bernhard 68
Personenverzeichnis
Steinberg, Justin 1, 5 f., 14, 20, 23, 30, 45 f., 48, 56, 58, 62, 66, 75, 94, 116 Steinen, Wolfram von den 59 Sterne, Richard Clark 61 Stierle, Karlheinz 1, 2, 15 f., 20, 26 ff., 30, 33, 38, 43, 52, 55, 66, 67, 69, 74, 76, 80, 82 ff., 89, 98, 100, 102, 104, 112, 117, 119, 124 f., 126, 128, 130 Streckfuß, Karl 9 Tacitus, Publius Cornelius 61 Tertullian, Quintus Septimius 57 Thoene, Helga 13 Tierney, Brian 38, 99 Tocco, Felice 60 Tomaselli, Angelo 60 Took, John 118 Townsend, Gabrielle 84 Trajan, Marcus Ulpius 65 f. Tribonjan, Flavius 95 Troeltsch, Ernst 56 Trucchi, E. 32 Valli, Luigi 81, 123 Valois, Karl von 61 Vergil 3, 15, 24 f., 29 ff., 35, 36, 40, 42, 49, 54, 57, 58 f., 56 f., 69, 72, 74, 78 ff., 104, 111, 112, 122, 124, 125 f.
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Vezin, August 17 Vietta, Silvio 126 Vinay, Gustavo 11 Voltaire 16 Vormbaum, Thomas 15 Vossler, Karl 1, 19, 97 Wartburg, Walther von 3, 4, 20, 25, 34, 59, 68, 71, 73, 76, 79, 82, 86, 90, 92, 105, 107, 111, 114, 125 Weizsäcker, Carl Friedrich von 105 Wenzel, Siegfried 21 Wesel, Uwe 92, 94, 101, 124 Whitfield, John Humphreys 3 Wieland, Georg 59 Wiese, Benno von 18 Winklehner, Brigitte 8 Witte, Karl 2, 101 Wlosok, Antonie 126 Wolff, Angelo 76 Zanotti, Sergio 109 Zingarelli, Nicola 77 Ziolkowski, Jan M. 7 Zuccante, Giuseppe 131