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German Pages 464 [421] Year 2019
Joachim Dissemond, Knut Kröger für die Initiative Chronische Wunden (ICW) e. V. (Hrsg.)
Chronische Wunden Diagnostik – Therapie – Versorgung 1. Auflage Herausgegeben von: Prof. Dr. med. Joachim Dissemond Universitätsklinikum Essen Klinik für Dermatologie Hufelandstraße 55 45147 Essen Prof. Dr. med. Knut Kröger Helios Klinikum Krefeld Klinik für Angiologie Lutherplatz 40 47805 Krefeld Initiative Chronische Wunden e. V. Wipertistr. 1 a 06484 Quedlinburg Mit Beiträgen von: Prof. Dr. med. Matthias Augustin, Hamburg; Frank Assmus, Essen; Priv.-Doz. Dr. phil. Christine Blome, Hamburg; Univ.-Prof. Dr. med. Adrien Daigeler, Tübingen; Prof. Dr. med. Joachim Dissemond, Essen; Prof. Dr. med. Richard Dodel, Essen; Prof. Dr. med. Sabine Eming, Köln; Dr. med. Gerald Engels, Köln; Dr. rer. nat. Peter Engels, Bergisch Gladbach; Dr. med. Cornelia Erfurt-Berge, Erlangen; Madeleine Gerber, Quedlinburg; Veronika Gerber, Spelle; Dr. med. univ. André Glod, Spaichingen; Prof. Dr. jur. Volker Großkopf, Köln; Prof. Dr. med. Wolfgang Hach, Frankfurt am Main; Prof. Dr. med. Viola Hach-Wunderle, Frankfurt am Main; Dr. med. sci. Theresa Hauck, Erlangen; Priv.-Doz. Dr. med. Katharina Herberger, Hamburg; Univ.-Prof. Dr. med. Tobias Hirsch, Münster; Dr. med. Dirk Hochlenert, Köln; Prof. Dr. med. Dr. h. c. Raymund E. Horch, Erlangen; Uwe Imkamp, Bissendorf; Dr. med. Philipp Jansen, Essen; Anna Lena Kahl, Essen; Prof. Dr. med. Sigrid Karrer, Regensburg; Dr. med. Jonas Kolbenschlag, Tübingen; Priv.-Doz. Dr. rer. cur. Jan Kottner, Berlin; Prof. Dr. med. Knut Kröger, Krefeld; Martina Lange, Bissendorf; Dr. med. Jan-Jakob Mayer, Leisnig; Dr. med. Anya Miller, Berlin; Dr. med. Stephan Morbach, Soest; Dr. med. Christian Münter, Hamburg; Kerstin Protz, Hamburg; Prof. Dr. med. Stephanie Reich-Schupke, Bochum-Gerthe; Dr. med. Finja Reinboldt-Jockenhöfer, Essen; Dr. med. Alexander Risse, Dortmund; Prof. Dr. med. Gerhard Rümenapf, Speyer; Prof. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych. Manfred Schedlowski, Essen; Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Schreml, Regensburg; Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Schwarzkopf, Aura a. d. Saale; Dr. med. Rachel Sommer, Hamburg; Anja Stoffel, Karlstein am Main; Prof. Dr. med. Ingo Stoffels, Essen; Prof. Dr. med. Markus Stücker, Bochum; Dr. med. Eike-Phillip Tigges, Hamburg; Dr. med. Wolfgang Paul Tigges, Hamburg; Prof. Dr. med. Christian Willy, Berlin; Prof. Dr. med. Johannes Wohlrab, Halle / S.; Prof. Dr. med. Gernold Wozniak, Bottrop Mit einem Geleitwort von: Martina Stamm-Fibich, MDB und der Initiative Chronische Wunden (ICW) e. V.
Elsevier GmbH, Hackerbrücke 6, 80335 München, Deutschland Wir freuen uns über Ihr Feedback und Ihre Anregungen an [email protected] ISBN 978-3-437-25641-7 eISBN 978-3-437-09851-2 Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2020 © Elsevier GmbH, Deutschland Wichtiger Hinweis für den Benutzer Ärzte / Praktiker und Forscher müssen sich bei der Bewertung und Anwendung aller hier beschriebenen Informationen, Methoden, Wirkstoffe oder Experimente stets auf ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse verlassen. Bedingt durch den schnellen Wissenszuwachs insbesondere in den medizinischen Wissenschaften sollte eine unabhängige Überprüfung von Diagnosen und Arzneimitteldosierungen erfolgen. Im größtmöglichen Umfang des Gesetzes wird von Elsevier, den Autoren, Redakteuren oder Beitragenden keinerlei Haftung in Bezug auf jegliche Verletzung und / oder Schäden an Personen oder Eigentum, im Rahmen von Produkthaftung, Fahrlässigkeit oder anderweitig, übernommen. Dies gilt gleichermaßen für jegliche Anwendung oder Bedienung der in diesem Werk aufgeführten Methoden, Produkte, Anweisungen oder Konzepte. Obwohl alle Werbemittel mit ethischen (medizinischen) Standards übereinstimmen, stellt die Erwähnung in dieser Publikation keine Garantie oder Anerkennung der Qualität oder des Wertes dieses Produkts oder der Aussagen der Herstellerfirmen dar. Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de/ abrufbar. 20 21 22 23 24 5 4 3 2 1 Für Copyright in Bezug auf das verwendete Bildmaterial siehe Abbildungsnachweis. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer alle Geschlechter gemeint. Planung: Dr. Berhard Gall, München Projektmanagement und Herstellung: Julia Stängle, München Redaktion: Dr. Antje Kronenberg, Gronau (Westf.) Satz: Thomson Digital, Noida / Indien Druck und Bindung: Drukarnia Dimograf Sp. z o. o., Bielsko-Biała / Polen Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm Titelfotografie: ©surangaw - stock.adobe.com und Initiative Chronische Wunden e. V. Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de
Geleitwort Patienten mit chronischen Wunden stellen das Gesundheitswesen in Deutschland vor großen Herausforderungen. Die betroffenen Menschen sind oft älter als 70 Jahre und gehören zu den wirtschaftlich schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft. Mit zunehmender Lebenserwartung wird prognostiziert, dass zukünftig auch der Anteil von Menschen mit chronischen Wunden zunimmt. Chronische Wunden beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen, sondern führen auch zu einer hohen finanziellen Belastung. Dies gilt sowohl für das Gesundheitswesen, als auch für den betroffenen Menschen mit einer chronischen Wunde. Wenn keine adäquate Diagnostik und effiziente Behandlungsstrategie angewendet werden, kann sich die Behandlung über viele Jahre ziehen. Um dies zu verhindern, ist in Zeiten zunehmenden Pflegebedarfs und abnehmender personeller Ressourcen für die Betroffenen, ihre Angehörigen und das Gesund-
heitssystem eine rasche, zielgerichtete Diagnostik und Therapie von essentieller Bedeutung. Die Minimierung der Behandlungskosten bei gleichzeitiger Verbesserung der Behandlungsqualität ist ein gemeinsames gesundheitspolitisches Ziel. Das vorliegende Buch beleuchtet die Probleme der Menschen mit chronischen Wunden sowie die notwendige Diagnostik und Therapie aus allen wichtigen Blickwinkeln. Es soll allen Interessierten, besonders den behandelnden Ärzten, eine Anleitung zu zweckmäßigem Handeln geben. Der demographische Wandel mit verlängerter Lebenserwartung wird von Menschen mit chronischen Wunden nur dann positiv wahrgenommen, wenn mit der Wundheilung auch die Lebensqualität erhalten oder gesteigert werden kann. September 2019 Martina Stamm-Fibich, MDB
Vorwort Die Initiative Chronische Wunden (ICW) wurde als eingetragener Verein (e. V.) 1995 von Pflegefachkräften, Ärzten, Mitarbeitern der Kostenträger und anderen Engagierten aus dem Bereich der Wundbehandlung ins Leben gerufen, um die Prophylaxe, Diagnostik und Therapie von Menschen mit chronischen Wunden zu verbessern. Insbesondere will die ICW praxisnah und möglichst flächendeckend eine optimale Versorgung der Betroffenen erreichen. Ein Leitsatz, den die ICW sich selber gegeben hat, lautet: „Wenn alle schon jetzt vorhandenen Kenntnisse und Erfahrungen in der Prophylaxe und Therapie von chronischen Wunden konsequent und überall genutzt würden – es könnte vieles an Leid und auch an Kosten gespart werden.“ Damit diese Kenntnisse und Erfahrungen in der Prophylaxe, Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronischen Wunden auch die Pflegefachkräfte, Ärzte, Mitarbeiter der Kostenträger und anderen Engagierten erreichen, bietet die ICW seit vielen Jahren ein breites Fortbildungsangebot an. Das Lernbegleitbuch zu dem Seminar „Wundexperten ICW®“ bildet das Curriculum anhand von Fällen ab. Nun ist es uns eine besondere Freude, Ihnen mit dem Buch „Chronische Wunden - Diagnostik, Therapie, Versorgung“ einen weiterführenden Baustein dieses Fortbildungsangebotes für Fortgeschrittene vorzustellen. In kompakter Form bündelt es das ärztliche und pflegerische Wissen, das dem aktuellen Stand / der Wissenschaft entspricht. Dort wo es Evidenz gibt, ist diese dargestellt. In den vielen Bereichen der Prophylaxe und Therapie von chronischen
Wunden, zu denen es keine studienbasierte Evidenz gibt, reflektiert es den aktuellen Stand des klinischen Wissens. Dafür haben wir die renommiertestes Experten aus dem deutschsprachigen Raum als Autoren gewinnen können. Es war unser Ziel, mit diesem Buch eine gemeinsame Plattform für Ärzte und Pflegefachkräfte zu schaffen. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich insbesondere Pflegefachkräfte in der Prophylaxe und Therapie von chronischen Wunden fortgebildet. Viele Ärzte haben hier Nachholbedarf. Ein Grund war sicher auch, dass konkrete Angebote für Ärzte fehlten. Es sind derzeit viele gute Bücher, die Teilaspekte chronischer Wunden darstellen. Es gab aber bisher im deutschsprachigen Raum kein Buch, das die diagnostischen und therapeutischen Aspekte so umfassend und fachübergreifend darstellt. Neben den ehrenamtlich tätigen Autoren, danken wir als ICW auch Frau Stamm-Fibich für ihre gesundheitspolitische Einordnung des Themas „Menschen mit chronischen Wunden“. Vor dem von ihr dargestellten demographischen Wandel mit verlängerter Lebenserwartung, hoffen wir, mit diesem Buch etwas für die Verbesserung der Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden und deren Lebensqualität beitragen zu können. September 2019 Für die ICW Veronika Gerber, Anke Bültemann, Björn Jäger, Knut Kröger, Joachim Dissemond und Christian Münter
Abbildungsnachweis Der Verweis auf die jeweilige Abbildungsquelle befindet sich bei allen Abbildungen im Werk am Ende des Legendentextes in eckigen Klammern. Alle nicht besonders gekennzeichneten Grafiken und Abbildungen © Elsevier GmbH, München. E645 F210-025 F1023-001 F1024-001 F1025-001
F1026-001
F1032-001 F1033-001 F1034-001 F1035-001 G840 L190 L231 M291 O1014 O1089 P573 P574 P575
Telser. Elsevier‘s Integrated Histology, 2007, Elsevier Mosby Buggy D. Can Anaesthetic management influence surgical-wound healing? The Lancet 2000; 35 (9227): 355-357 VoisinT., Vellas B. Diagnosis and Treatment of Patients with Severe Alzheimer’s Disease. Drugs & Aging 2009; 2: 135-44 Mostafalu P. et al. Smart bandage for monitoring and treatment of chronic wounds. Small 2018; 6: e1703509 Blome C., Baade K., Debus ES., Price P. and Augustin M. The "Wound-Qol": A short questionnaire measuring quality of life in patients with chronic wounds based on three established disease-specific instruments. Wound Repair Regen 22: 504-14 Korn P. et al. Why insurers should reimburse for compression stocking in patients with chronic venous stasis. J Vasc Surg 2002; 35 (5): 950-7 Friedel G. Operative Behandlung der Varicen, Elephantiasis und Ulcus cruris. Arch Klin Chir 1908; 86:143-59 Madelung O. Ueber die Ausschälung circoider Varicen an der unteren Extremität. Verh Dtsch Ges Chir 1884; 13:114-7 Jundishapur J Nat Pharm Prod. 2014 Aug; 9(3): e15638. Published online 2014 Jun 16. Serra R et al. Doxycycline speeds up healing of chronic venous ulcers. Int Wound J 2015; 12: 179-184 Schörcher F. Kosmetische Operationen. Lehmann. München 1955 Gerda Raichle, Ulm Stefan Dangl, München Kerstin Protz, Hamburg Bernd von Hallern, WOUND ADVERTISING Foto & Videoproduktionen, Stade Prof. Dr. Knut Kröger, Krefeld Prof. Dr. med. Wolfgang Hach, Frankfurt a. M. Prof. Dr. jur. Volker Großkopf, Köln Dr. med. Stephan Morbach, Soest
P576 P577 P578 P579 P580 P581 P583 P584 P585 P586 P587 P588 P589 P590 P591 P592 P593 P607 P608 P609 P610 P611 T1012 T1051 T1052 T1054 T1060 U349 V481 V600 V858 V859 V860 V861 V862
Priv.-Doz. Dr. rer. cur. Jan Kottner, Berlin Dr. med. Jonas Kolbenschlag, Tübingen Klinik für HPRV, vertreten durch: Univ.Prof. Dr. Adrien Daigeler, Tübingen Dr. med. Anya Miller, Berlin Prof. Dr. med. Joachim Dissemond, Essen Dr. Wolfgang Paul Tigges, Hamburg PD Dr. med. Andreas Schwarzkopf, Aura a. d. Saale Prof. Dr. med. Ingo Stoffels, Essen Prof. Dr. med. Christian Willy, Berlin Prof. Dr. med. Stephanie Reich-Schupke, Bochum-Gerthe Dr. med. Dirk Hochlenert, Köln Dr. med. André Glod, Tuttlingen Frank Assmus, Essen Dr. med. Finja Jockenhöfer, Essen Prof. Dr. med. Sabine Eming, Köln Veronika Gerber, Spelle Prof. Dr. med. Matthias Augustin, Hamburg Prof. Dr. med. Dr. h. c. Raymund E. Horch, Erlangen Dr. med. Karl-Christian Münter, Hamburg Anja Stoffel, Karlstein am Main Dr. med. Gerald Engels, Köln Prof. Dr. med. Markus Stücker, BochumGerthe CWC Comprehensive Wound Center Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Prof. Amit Gefen, Department of Biomedical Engineering, Faculty of Engineering, Tel Aviv University, Israel University Centre for Nursing and Midwifery, Ghent University Hospital, Ghent Földiklinik Hinterzarten, Fachklinik für Lymphologie, Hinterzarten Uniklinik Essen, Abteilung für Dermatologie, Wundambulanz Mölnlycke Health Care GmbH, Erkrath medi GmbH & Co. KG, Bayreuth Julius Zorn GmbH, Aichach Bösl Medizintechnik GmbH, Aachen Adtec Europe Limited, Hounslow/UK Medline International Germany GmbH, Kleve LEVABO®, Skanderborg/Dänemark Mit freundlicher Genemigung der Firma SastoMed GmbH, Georgsmarienhütte
XII V863 V864 W1012-01 W1083
Abbildungsnachweis LINET spol. s r.o., Slaný/Tschechien Brümmer Orthopädie GmbH, Köln THE NATIONAL PRESSURE ULCER ADVISORY PANEL, Westford, MA/USA Deutsches Historisches Museum Berlin
W1084 W1085
Wund-DACH Deutsch-Österreichisch-Schweizerische Wundheilungsorganisation, Wien Initiative Chronische Wunden (ICW) e.V., Quedlinburg
Abkürzungen ABI Ankle-Brachial-Index ACE Angiotensin-Converting-Enzym ADS adaptive Kompressionssysteme ADSC Adipose Derived Stromal Cells AHCPR Agency for Healthcare Research and Quality AIK apparative intermittierende Kompression ALA Aminolävulinsäure AMG Arzneimittelgesetz AM-RL Arzneimittel-Richtlinie AOK Allgemeine Ortskrankenkasse ArbSchutzG Arbeitsschutzgesetz ART Antiinfektiva, Resistenz und Therapie AS Abfallschlüssel ASIC Acid-sensing Ion Channel ASS Acetylsalicylsäure ATA technische Atmosphäre (Atmosphäre, technisch, absolut) AVK arterielle Verschlusskrankheit AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften BESD Beurteilung von Schmerzen bei Demenz BfArM Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGR berufsgenossenschaftliche Regeln BGW Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege BIID Body Integrity Identity Disorder BiostoffV Biostoffverordnung BISAD Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit Demenz BMI Body-Mass-Index BP bullöses Pemphigoid BRT Bioresonanztherapie BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit BVMed Bundesverband Medizintechnologie e. V. cCT kranielle CT CEA Cultured Epidermal Autografts CEAP Clinical-Etiology-AnatomyPathophysiology C-GAG Kollagen-Glykosaminoglykan CKI chronisch kritische Ischämie CLCI Cumulative Life Course Impairment CLI Critical Limb Ischemia
CML cMRT COPD CREST
chronische myeloische Leukämie kranielle MRT chronisch obstruktive Lungenerkrankung K(c)alzinose, Raynaud-Phänomen, Motilitätsstörung des Ösophagus, Sklerodaktylie, Teleangiektasie CRP C-reaktives Protein CT Computertomografie CTA computertomografische Angiografie cUCA cis-Urocaninsäure CVI chronische venöse Insuffizienz CWIS Cardiff Wound Impact Schedule DAB Deutsches Arzneibuch DACC Dialkylcarbamoylchlorid D-A-CH Deutschland, Österreich, Schweiz DBD Dielectric Barrier Discharge DDG Deutsche Dermatologische Gesellschaft e. V. DDG Deutsche Diabetes Gesellschaft DFS diabetisches Fußsyndrom DFS Diabetic Foot Ulcer Scale DFS-SF Diabetic Foot Ulcer Scale – Short Form DFU diabetische Fußulzeration(en) DGE Deutsche Gesellschaft für Ernährung DGEM Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin DGfW Deutsche Gesellschaft für Wundbehandlung DGG Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e. V. DGP Deutsche Gesellschaft für Phlebologie DGUV Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung DIF direkte Immunfluoreszenz DIN Deutsches Institut für Normung DIP distales Interphalangealgelenk DKG Deutsche Kontaktallergie Gruppe DMP Disease-Management-Programme DMSO Dimethylsulfoxid DNOAP diabetische Neuro-Osteoarthropathie DNQP Deutsches Netzwerk zur Qualitätssicherung in der Pflege DRG Diagnosis-Related Groups DSA digitale Subtraktionsangiografie DSM-5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5. Aufl. DWR Deutscher Wundrat EBM einheitlicher Bewertungsmaßstab
VIII
Abkürzungen
EbM evidenzbasierte Medizin ECM extrazelluläre Matrix EGF Epidermal Growth Factor EHEC enterohämorrhagische Escherichia coli EN Europäische Normen EPUAP European Pressure Ulcer Advisory Panel ESDP endoskopische subfasziale Diszision von Perforansvenen EST Elektrostimulation ESWL extrakorporale Stoßwellenlithotripsie ESWT extrakorporale Stoßwellentherapie EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWMA European Wound Management Association FAST Functional Assessment Staging Test FFP Filtering Face Piece (Maske) FGF Fibroblast Growth Factor FLQA-w Freiburger Lebensqualitätsassessment für Wunden FSH follikelstimulierendes Hormon G-BA Gemeinsamer Bundesausschuss GDS Geriatric Disability Scale GefStoffV Gefahrstoffverordnung GKV gesetzliche Krankenkasse(n) GLOBIAD Ghent Globales IAD-Kategorisierungsinstrument GPCR G-Protein-gekoppelter Rezeptor GU Grundumsatz HBOT Hyperbaric Oxygen Therapy HCV Hydrokolloidverband HDL High Density Lipoprotein HE Hämatoxylin-Eosin(-Färbung) HHVG Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz HiTOP physikalische Hochtontherapie HM-RL Heilmittelrichtlinie HPV Hydropolymerverband HSAN hereditäre sensorische und autonome Neuropathie I. E. Internationale Einheit(en) IAD Inkontinenz-assoziierte Dermatitis ICD International Classification of Diseases ICW Initiative Chronische Wunden e. V. IEG Immediate Early Genes IfSG Infektionsschutzgesetz IgeL individuelle Gesundheitsleistungen IIF indirekte Immunfluoreszenz IL Interleukin IP interphalangeal IPK intermittierende pneumatische Kompression
IQTIG
Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen IQWiG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ISO International Organisation for Standardisation IVDK Informationsverbund Dermatologischer Kliniken IWGDF International Working Group on the Diabetic Foot KADI Knöchel-Arm-Druck-Index KAP kaltes atmosphärisches Plasma KBE koloniebildende Einheit KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung KG Körpergewicht KGF Keratinocyte Growth Factor KHK koronare Herzerkrankung KI Konfidenzintervall KISS Krankenhaus-Infektionen Surveillance-System KKL Kompressionsklasse KMT Knochenmarksstammzelltransplantation KPE komplexe physikalische Entstauung KRINKO Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention KT Kompressionstherapie LILT Low-Intensity-Lasertherapie LLLT Low-Level-Lasertherapie LOPS Loss of Protective Sensation M., Mm. Musculus, Musculi MBO-Ä (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärzte MCP Monocyte Chemoattractant Protein MCT mittelkettige Triglyceride MCT Monocarboxylat-Transporter MDCTA Multidetektor-SCT-Angiografie MDK Medizinischer Dienst der Krankenkassen MDS Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen MFA Medizinische Fachangestellte MI Myokardinfarkt MKS medizinische Kompressionsstrümpfe MLD manuelle Lymphdrainage MMP Matrixmetalloproteinasen MMST Mini-Mental-Status-Test MNA Mini Nutrional Assessment MoCA Montreal Cognitive Assessment Test MOTT Mycobacteria other than Tubercle Bacilli mPas Millipascalsekunde MPBetreibV Medizinproduktebetreiberverordnung MPG Medizinproduktegesetz
Abkürzungen MPSicherheitsplanV MedizinproduktesicherheitsplanVerordnung MRA Magnetresonanzangiografie MRE multiresistente Erreger MRGN multiresistente gramnegative Stäbchen MRSA Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus MRSE Methicillin-resistente Staphylococcus epidermidis MRT Magnetresonanztomografie MTK Metatarsalkopf MTP Metatarsophalangealgelenk MVZ Medizinisches Versorgungszentrum NHE Natrium-Protonen-Austauscher NO Stickstoffmonoxid NOS reaktive Stickstoffspezies NOSF Nano-Oligo-Saccharid-Faktor NPUAP National Pressure Ulcer Advisory Panel NPWT Negative Pressure Wound Therapy NRS numerische Rating-Skala NRS Nutritional Risk Screening NSAID nichtsteroidale Antirheumatika NSAP nichtsteroidale Antiphlogistika NSAR nichtsteroidale Antirheumatika NTM nicht tuberkulöse Mykobakterien OECD Organisation for Economic Cooperation and Development OP Operation OR Odds Ratio PAL Physical Activity Level PAMP Pathogen-Associated Molecular Pattern PAVK periphere arterielle Verschlusskrankheit PBI Patient Benefit Index PCRA Patient Controlled Regional Anaesthesia PDGF Platelet-derived Growth Factor PDT photodynamische Therapie PEDIS Perfusion, Extent, Depth, Infection, Sensation PEG perkutane endoskopische Gastrostomie PEMU Pflegerische Erfassung von Mangelernährung und deren Ursachen Pharm. Eur. Pharmacopoea Europaea = Europäisches Arzneibuch PHI polyhydrierte Ionogene PHMB Polihexamethylenbiguanid = Polihexanid
IX
PIP proximales Interphalangealgelenk PMV polymerer Membranverband PNP Polyneuropathie PPPIA Pan Pacific Pressure Injury Alliance (PPPIA) PSA persönliche Schutzausrüstung PTF paratibiale Fasziotomie PTS postthrombotisches Syndrom PU Polyurethan PU-QOL Pressure Ulcer Quality of Life Questionnaire PV Pemphigus vulgaris PVA Polyvinylalkohol QoL Quality of Life RAL Reichs-Ausschuss für Lieferbedingungen RCT randomisierte kontrollierte Studie RKI Robert Koch-Institut ROS reaktive Sauerstoffspezies SAg Silbersulfadiazin SA-β-Gal Seneszenz-assoziierte β-Glucocerebrosidase SC Stratum corneum SCC spinozelluläres Karzinom SCS Spinal Cord Stimulation SGB Sozialgesetzbuch SNRI selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer SSD Silbersulfadiazin SSRI selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer StGB Strafgesetzbuch TBI Zehen-Arm-Index TCA trizyklische Antidepressiva TCC Total Contact Cast tcPO2 Sauerstoffpartialdruck im Gewebe TDAG T-Cell Death-associated Gene TFDD Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung TGF Transforming Growth Factor TIMP Tissue Inhibitor of Metalloproteinases TNF-α Tumornekrosefaktor α TPS Thromboseprophylaxestrümpfe TRBA Technische Regeln für biologische Arbeitsstoffe TRGS Technische Regeln für Gefahrstoffe TrinkWV Trinkwasserverordnung TRPV Transient Receptor Potential Channel Vanilloid Subfamily TVT tiefe Venenthrombose UKS Ulkuskompressionsstrumpf-System UNO United Nations Organization UVV Unfallverhütungsvorschriften V. Vena VAS visuelle Analogskala VEGF Vascular Endothelial Growth Factor
X
Abkürzungen
VKOF verbrannte Körperoberfläche VRE / LVRE Vancomycin- bzw. Vancomycin- und Linezolid-resistente Enterokokken VRS verbale Rating-Skala VSS Vancouver Scar Scale VW-TCC Ventral Windowed Total Contact Cast WDR Wide Dynamic Range
WE Wundexperte WHO World Health Organization WHR Waist-to-Hip-Ratio wIRA wassergefilterte Infrarot-A-Strahlung WWS Würzburger Wundscore ZNS Zentralnervensystem ZWM zentrales Wundmanagement
KAPITEL
1
Wolfgang Hach, Viola Hach-Wunderle
Historie der Behandlung von chronischen Wunden
1.1 Einführung Der Umgang mit einer akuten Wunde gehört zu Mensch und Tier wie Essen und Trinken. Dabei erscheint die Integrität des Organismus durch eine äußere Einwirkung verletzt und muss durch die programmierte Reparatur schnell geheilt werden. Anderenfalls gerät möglicherweise das Leben in unmittelbare Gefahr. In der Geschichte des Menschen spielten akute Wunden, wie sie bei der Jagd, durch Kriegseinwirkung oder im Umgang mit Werkzeugen entstanden sind, die größte Rolle. Sie kamen in allen Körperregionen vor. Eine chronische Wunde wurde früher als alter Schaden oder altes Geschwär bezeichnet und konnte Jahre und Jahrzehnte bestehen. Meistens waren arme Menschen davon betroffen. Ein Aspekt hat für die chronische Wunde besondere Bedeutung: die Beziehung zum Venensystem der unteren Extremität oder – mit anderen Worten – zur Hydrodynamik des Kreislaufsystems. Die Verfolgung dieses Gedankens führt in die Anthropologie des Menschen. Mit der Aneignung des aufrechten Ganges als Charakteristikum des Homo sapiens wurden zur Überwindung des hydrostatischen Drucks spezielle Anpassungen des Kreislaufsystems benötigt. Diese „Hilfsorgane“ wie die Venenklappen stellten sich in der Evolution sogleich als wichtige Risikofaktoren für die Chronifizierung einer entsprechenden Wunde heraus. So dürften bereits den Hominiden die Zusammenhänge zwischen Varikose und schwerer körperlichen Arbeit im Stehen einerseits und einem chronischen Ulcus cruris venosum andererseits bekannt gewesen sein; sie fielen ja sofort ins Auge. Natürlich – heute führt die Pathophysiologie der chronischen Wunde außer den Störungen der venösen Zirkulation noch andere Ursachen auf,
z. B. chronische Infektionen oder Stoffwechselstörungen. Die waren zwar in der Medizingeschichte ebenfalls bekannt und gefürchtet – man denke nur an die Lepra oder an das St.-AntoniusFieber (Mutterkorn) – , aber damals lagen die kausalen Zusammenhänge im Dunkeln. Wir möchten hier auf die chronische Ulkuskrankheit des Unterschenkels und ihre Geschichte über zwei Jahrtausende hinweg eingehen, auf die behandelnden Ärzte und die leidenden Patienten.
1.2 Ulcus cruris venosum chronicum In der Phylogenese des Menschen bedurfte es bei der Umstellung des Kreislaufsystems auf den erhöhten hydrostatischen Druck infolge des aufrechten Ganges besonderer anatomischer und physiologischer Voraussetzungen in den peripheren Venen. Eine Dysfunktion dieser Mechanismen durch Fehl- und Überbelastungen führt zu der pathophysiologischen Situation der venösen Hypertonie, das heißt, der periphere Venendruck fällt durch den Einsatz der Muskel- und Saugpumpen des Beins bei körperliche Arbeit nicht in physiologischer Weise ab. Als Folge dieser venösen Hypertonie entsteht im Laufe von Jahren die chronische venöse Ulkuskrankheit. Als häufigste Grundkrankheit für die Entstehung der venösen Hypertonie gilt die sekundäre Leitveneninsuffizienz infolge einer Stammvarikose. An der Ausprägung der chronischen venösen Ulkuskrankheit sind demnach sowohl innere pathophysiologische als auch äußere umweltbedingte bzw. soziale Einflüsse beteiligt. An diesen Fakten hat sich in Jahrtausenden nichts geändert.
4
1 Historie der Behandlung von chronischen Wunden
1.2.1 Varizen und chronische venöse Ulkuskrankheit in der Geschichte 1
Die kleinere Körpergröße des Menschen in historischer Zeit dürfte sich auf die venöse Hämodynamik und damit auf die Häufigkeit der Krankheiten mit venöser Hypertonie eher günstig ausgewirkt haben. Der Homo sapiens neanderthalensis hatte eine durchschnittliche Größe von 1,60 m und ein Gewicht von 60–80 kg. Die Akzeleration setzte, zumindest bei der hellhäutigen Population, erst vor 100 Jahren ein. Es ist aber nicht bewiesen, dass es die chronische Ulkuskrankheit seitdem häufiger gibt. Die häufigste Ursache des chronischen Ulcus cruris venosum in der gesamten Medizingeschichte war die Stamm- und Perforansvarikose. Seit etwa 200 Jahren ist das postthrombotische Syndrom nach Bein- und Beckenvenenthrombose hinzugekommen. Sporadische angeborene Fehlbildungen wie die Aplasie der Venenklappen oder das KlippelTrenauney-Syndrom spielten zahlenmäßig eine geringe Rolle. Die schwere Krampfaderkrankheit mit ausgeprägten Varizen, Gewebsschwellung und schließlich dem „offenen Bein“ war auf den ersten Blick zu erkennen. Das „alte Geschwür“ bedeutete früher für viele Patienten ein äußerst schmerzhaftes Leiden, das ihr Leben stark beeinträchtigte. Durch die Arbeitsunfähigkeit verfielen diese Menschen in ein tiefes soziales Elend. Thromboembolie oder bakterielle Infektionen wie Erysipel konnten auch zum Tode führen. Deshalb sprechen wir von einem Morbus ulceris cruris venosi chronici. Bei der Abfassung dieses Kapitels zeichnet sich also eine neue medizinhistorische Betrachtungsweise gegenüber älteren Darstellungen ab. Wir kennen heute einfache (retikuläre) Varizen ohne ernsthafte gesundheitliche Bedeutung, denen früher in Anbetracht von Pest, Cholera und einer kurzen Lebenserwartung der Menschen kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und es gab den Morbus ulceris cruris venosi chronici, die chronische venöse Ulkuskrankheit mit den schweren Komplikationen. Beide haben absolut nichts miteinander zu tun. An der Entwicklung einer chronischen venösen Ulkuskrankheit hatten die körperlichen Belastungen
Abb. 1.1 Heinrich Zille „Hunger“; Hachs Altberliner Trias: soziales Elend, Hunger und chronisches Beingeschwür [W1083]
des Patienten einen entscheidenden Anteil. Sie spiegelten die vielfältigen Umstände des persönlichen Schicksals, ja das gesamte soziale Umfeld wider, wie es von Adolf von Bardeleben nicht besser hätte beschrieben werden können (s. u.). Über die Jahrtausende hinweg hat sich daran nichts geändert, sodass Wolfgang Hach für das alte Berlin des Heinrich Zille (1858–1929) den Terminus „Berliner Trias“ prägte: soziales Elend, Hunger und chronisches Beingeschwür (› Abb. 1.1). Vor Erfindung der Narkose und der Antisepsis im 19. Jahrhundert erfolgten alle sogenannten „VarizenOperationen“ nicht wegen der Varizen selbst, sondern wegen des Morbus ulceris cruris venosi chronici, denn bis dahin war auch der kleinste Eingriff mit heftigen Schmerzen und vielfältigen Gefahren verbunden.
Varizen und chronische venöse Ulkuskrankheit im antiken Griechenland und Rom Unsere heutige Medizin hat ihre Wurzeln in den Hochkulturen des alten Griechenlands und des alten Roms. Insbesondere waren es zwei Arzt-Persönlichkeiten,
1.2 Ulcus cruris venosum chronicum
5
Carische Salbe nach Hippokrates niger ~ Schwarzer Nieswurz Löset tatarische Feuchtigkeiten • Sandaracha Graecorum ~ Rother Arsenic Scharffes korrosivisches Salz • Cuprum ~ Kupferspähne Reinigt und wird zu Salben gebrauchet • Geröstetes Blei mit viel Schwefel Es trocknet, hält an und zertheilet in Salbe • Arsenicum album ~ Arsenik Äusserlich, um das Fleisch wegzuätzen • Spanische Fliege ~ Cantharides Grundstück zu blasenziehenden Pflastern • Zerreibung des Ganzen mit Zedernöl • Helloborus
Abb. 1.2 Die (angebliche) Platane des Hippokrates auf der Insel Kos [P573]
die das Bild der ärztlichen Kunst und Wissenschaft über Jahrtausende hinweg geprägt haben: Hippokrates (460–375 v. Chr.) und Galen (130–200 n. Chr.).
De vulneribus et ulceribus bei Hippokrates im 4. Jahrhundert v. Chr. Hippokrates wurde 460 v. Chr. auf der griechischen Insel Kos in einer Arztfamilie geboren. Er zog 12 Jahre lang als Arzt durch die Lande, um zu lernen und zu lehren. Dann ließ er sich auf der Insel Kos nieder und begründete die Koische Schule (› Abb. 1.2). Seine Krankheitslehre beruhte auf der Theorie von den vier Grundelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde, deren Qualitäten warm, feucht, kalt und trocken bei Gesundheit in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen mussten. Die Lehre von den Elementen ist im Corpus hippocraticum, einem Sammelwerk von mehr als 60 Einzelschriften, dokumentiert. Darin findet sich die Abhandlung Περι ελϰων (Über die Wunden und Geschwüre) mit verschiedenen Rezepturen zur konservativen Behandlung von alten Geschwüren, die sich an den Schienbeinen einstellen. Nach der Übersetzung von Grimm und Lilienhain anno 1838 heißt es: „Das Trockene der Wunde nähert sich dem Gesunden, das Feuchte ist dem Kranken näher.“ Bei alten Wunden wirkt die Reinigung mit einem Schwamm vorteilhaft. Von verschiedenen äußeren Mitteln erschien die Carische Salbe besonders geeignet. Carien war ein Land in Kleinasien mit der Hauptstadt Heraclea.
Die spätere Übersetzung von Robert Fuchs aus dem Jahre 1895 handelt besonders die chirurgische Therapie des chronischen Ulcus cruris ab.
Chirurgische Therapie bei Hippokrates „Wenn ein Geschwür infolge des durch die Blutadern vermittelten Zuflusses des Blutes (Varizen) entsteht, muss aus dem betreffenden Gefäß das Blut abgezapft werden. Ist das nicht der Fall, muss man auf den Geschwülsten (Varizen) ziemlich tiefe und zahlreiche blutige Schröpfungen vornehmen mit möglichst spitzen und möglichst dünnen eisernen Instrumenten. Man spüle mit Essig ab, befestige fetthaltige gekrämpelte, weiche Wolle darüber, nachdem man diese mit Wein und Olivenöl getränkt hat, und halte den Körperteil in einer solchen Lage, dass ein Hinauffließen des Blutes, nicht aber ein Herabfließen stattfindet (Hochlagerung).“ nach Grimm, Grimm, Lilienhain 1838
Alte Geschwüre bei Cornelius Celsus im alten Rom um die Jahrtausendwende Celsus (30 v. Chr. – 45 n. Chr.) gilt als der größte medizinische Schriftsteller im alten Rom. Er berichtete über alle Wissenschaften, die jeder gebildete Römer beherrschen musste. Bei ihm findet sich ebenfalls die kausale Beziehung zwischen Varikose und chronischem Ulcus cruris wie in den Schriften des Hippokrates. Celsus schreibt: „Ist aber ein Geschwür veraltet, so muss man dasselbe mit dem Messer umschneiden,
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seine Ränder ausschneiden und in die dieselben umgebenden bläulich verfärbten Stellen Einschnitte machen. Befindet sich im Geschwür eine kleine Krampfader, welche die Heilung verhindert, so schneide man sie gleichfalls aus (‚si varicula intus est, quae id sanari prohibet, ea quoque excidenda‘).“ Anmerkung Ähnliche Operationen wurden später von Adolf von Bardeleben sowie Nußbaum mitgeteilt (s. u.).
Claudius Galenus nach der Jahrtausendwende in Rom Galen (131–200 n. Chr.) gehörte zu den größten Ärzten aller Zeiten. Er schuf mit der Säftetheorie ein ordnendes System der Medizin, das auf der Elementen-Lehre des Hippokrates sowie den anatomischen und physiologischen Grundlagen der alexandrinischen Schule basierte. Nach Galens Humoraltheorie stehen die Körpersäfte Blut, Gelbe und Schwarze Galle sowie Schleim normalerweise in einem gesunden Verhältnis zueinander; bei Dyskrasie entsteht Krankheit. Galen wurde in Pergamon geboren, lebte dann aber hauptsächlich in Rom. Die meisten seiner Schriften gingen bei dem großen Brand des Friedenstempels anno 191 verloren, jedoch sind 83 echte und 19 zweifelhaft-echte Dokumente erhalten geblieben; sie wurden in lateinischen oder griechischen Ausgaben wie der berühmten Aldina 1525 zu Venedig publiziert. Galen war Arzt und Apotheker. Seine Apotheke befand sich neben dem Friedenstempel und brannte mit ab. Aber Galens Rezepte wurden über Jahrhunderte fortgeschrieben. Die Verordnung für Kohlkraut bei alten Schäden ist im Lorcher Kräuterbuch anno 1731 nachzulesen: „Galenus schreibt / der Kohl hefte die Wunden zusammen: Die Erfahrung gibt / dass wo man die Blätter in rothen rohen Wein kochet / und überleget / heilet es oft grosse / tieffe / hole Wunden. Der Harn von einem Menschen / so etliche Tag nacheinander Kohlblätter gegessen hat / soll Fistel / Krebs und dergleichen Unreinigkeit der Haut heilen. Kohlkraut im ausgehenden Hewmonat genommen / die mittel Rippen davon gethan / die Blätter in weissen Wein
gekocht / die Schenkel mit der Brühe gewaschen / danach die Blätter warm darauff gelegt / miltert die Schmerzen und heilet sänfftiglich alle alten Schäden und Geschwär.“ Galen war ein Verfechter der Verbandstherapie, wie auch schon Hippokrates. Er wandte verschiedene Techniken an. Auch die Varizen-Operation am Unterschenkel hat er beschrieben, ohne dabei allerdings die Beziehung zu „alten Geschwüren“ hervorzuheben; er war selbst kein Chirurg.
Varizen und chronische venöse Ulkuskrankheit im Mittelalter und vor Einführung von Narkose und Asepsis im 19. Jahrhundert Als Mittelalter wird die Zeit vom 6. bis zum 15. Jahrhundert bezeichnet. Die arabisch-islamische Medizin, die Klostermedizin und auch die westlichen Medizinschulen hatten ihre Lehren in einzelnen berühmten Handschriften niedergeschrieben. Es entstanden die ersten Universitäten. Ab dem 15. Jahrhundert wird die Neuzeit mit den großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen und der schnellen Entwicklung aller Wissenschaften gerechnet. Dabei erwies sich die Erfindung des Buchdrucks um 1450 als absolute Voraussetzung für die Erhaltung und Verbreitung des Wissens. Jetzt ließen sich auch die Fortschritte in der Medizin gut verfolgen. Aber zunächst lief alles im Sinne der Antike weiter. Die entscheidende Wende in der Medizin ergab sich erst im 19. Jahrhundert durch die Erfindung der Narkose anno 1844 und der Asepsis anno 1865. Dafür werden mehrere eindrucksvolle Behandlungsarten aufgeführt.
Die Hauß-Apotheck des Joannis Gufer anno 1689 Die Volkskrankheit des chronischen Ulcus cruris venosum war bei den einfachen Menschen auf dem Lande und in der Stadt schon immer auf die Volksmedizin angewiesen, aber darüber hat kaum jemand geschrieben. Das kleine Buch von Joannis Gufer führt den Leser in das damalige Leben des
1.2 Ulcus cruris venosum chronicum armen Volkes hinein. Über den Autor ist nicht mehr bekannt, als dass er praktizierender Arztney Doktorn in Memmingen war. Er schrieb Rezepte „von den geringsten Sachen / so man nur hin zu werffen (Anm. d. A.: wegwerfen) pfleget / oder von sonsten bewährte Mittel / welche ich entweder selbsten probiert und erfahren / oder von andern hören rühmen. Der Catalogus ist zusammen getragen / damit entweders ein Medicus selbsten / so er zu einem Krancken auf das Land / wo kein Apotheken / oder das Vermögen nicht vorhanden ist / beruffen wird.“ Selbst alte Schuhe hatten für Gufer eine Heilkraft beim chronischen Geschwür.
Gufers Rezept mit alten Schuhen „Die alte Geschwär an Schienbeinen zu trücknen und zu heilen / nimb Eyerschalen und Schuhsohlen / verbrenns zu Pulver / thue dazu Rinderkoth im Mayen gesamlet und gedörrt / spreng darvon etlichmal in das Geschwär. Man distilliert auch auß obgesamelten Schuhen ein köstlich Oel / welches allerley Geschwulsten hinweg nimbt.“
Die Kunst des Dr. Weinhold zur Heilung von alten Hautgeschwüren anno 1810 Die Verbandstherapie, auch mit Kompression, hat seit der Antike eine lange Tradition. Immer wieder haben sich die Heiler neue Materialien und Techniken dafür ausgedacht, unter der geübten Hand auch sicherlich mit Erfolg. Ein Beispiel dafür ist aus dem frühen 19. Jahrhundert bekannt. Dr. Karl August Weinhold (1782–1829) hatte neben Medizin auch Philosophie, Physik und andere Fächer studiert. Nach vielen Reisen, sogar bis nach Amerika, erhielt er die Professur für Chirurgie an der Universität in Halle-Wittenberg. Seine Bücher befassten sich unter anderem mit historischen und philosophischen Themen. Nach Weinhold hatten die bisherigen Therapien von alten Krampfadergeschwüren vielfach keine befriedigende Wirkung gezeigt. „Der Verdruß über mißlungene Behandlung disponiert den Wundarzt endlich, solcher Patienten los und ledig zu werden, und die Krancken ihrem Schicksal zu erlassen.“ Weinhold erfand einen aufwendigen
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Klebeverband zur Behandlung von jahrelangen Ulzerationen.
Weinholds Klebeverband Die lokale Behandlung beginnt mit einer Stufenreihe von vier verschiedenen Quecksilberpräparaten bis zur Granulation der Gewebe. Dann folgt die Anwendung des „Circulair-Pflasters“: „Den Anfang des ersten Pflasters legt man in der Mitte des Geschwürs an. Es hat nun das Geschwür in zwei Hälften getheilt, die auf eben diese Art bedeckt werden, so daß immer ein Pflaster das andere, wie die Touren der Hobelspänbinde bedeckt. Dann legt man eine leichte Compresse darüber, damit das ausfließende Serum aufgesaugt und der leidende Theil nicht verunreinigt werde. Gemeinen und armen Leuten habe ich ihre Hausgeschäfte während der Kur verrichten lassen, weil sie sonst lieber ihre Geschwüre behielten. Reiche mussten sich bei Fußgeschwüren ruhig verhalten, und die Beine auf erhöhte Polster legen. Die Armen wurden in 24 Stunden einmal, die Reichen zwei- und dreimal verbunden, je nachdem das Serum floß. Diese Behandlung muß so lange fortdauern, bis sich die Epidermis im letzten Punkte vereinigt hat: dann setzt man die geheilte Parthie möglichst der atmosphärischen Luft aus, um sie wieder an diesen wohltätigen Reitz zu gewöhnen. Wer je empfunden hat, welch einen herzerhebenden Eindruck das Gefühl hervorbringt, ein zwanzig-, ja dreißigjähriges Übel so schnell, so sicher und angenehm weggeschafft zu haben, den wird gewiß die Zeit und Mühe, welche man unbemittelten Kranken den Gebrauch der Compressionspflaster lehrt, nicht dauern, wenn er jenes süße Gefühl zur Belohnung im Herzen trägt.“
Bernsteins Operation der Saphaena bei der Ulkuskrankheit anno 1820 Auch die von dem Wundarzt Bernstein noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also lange vor Anästhesie und Asepsis, beschriebene Operation entspricht ganz dem Geist der Antike. Johann Gottlieb Bernstein (1747–1835) wanderte anfangs als Barbiergeselle durch Österreich und Deutschland. Dann ließ er sich in Ilmenau als Babier und
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Wundarzt nieder. Anno 1896 ging er mit dem Titel eines Hof-Chirurgen nach Jena an die Universität, später nach Halle und schließlich 1810 als Professor an die neue Friedrich-Universität in Berlin. Er hat viele Arbeiten und Bücher geschrieben, darunter 1794 ein „Praktisches Handbuch für Wundärzte“ in vier Bänden. Bernstein unterschied verschiedene Formen von Ulzera aufgrund der Absonderung von „schlechtem Eiter oder Gauche. Bey Geschwüren, die mit varicosen Adern umgeben sind, thut die Einwickelung und horizontale Lage vortreffliche Dienste. Wenn aber eine beträchtliche Erweiterung der Blutadern statt findet, so ist die leichteste Heilung die Operation“.
Bernsteins Operation „Um die Saphaena wird da, wo sie über das Kniegelenk geht, eine Unterbindung angelegt. Da die Venen nur dann strotzend angefüllt sind, wenn der Kranke steht, so muss die Operation auch stehend verrichtet werden. Man stellt den Kranken an einen Stuhl, an dessen Lehne er sich anhält. Der kranke Schenkel muß nach dem Licht sehen. In dieser Stellung des Kranken wird die Haut in eine Querfalte angehoben, und auf der einen Seite von dem Wundarzt, auf der anderen von einem Gehülfen gehalten. Durch diese Falte sticht der Wundarzt ein spitziges Messer. Nachher läßt sich eine krumme silberne Nadel mit einer abgerundeten Spitze ohne Gefahr, die Blutader zu verletzten, durch das mit der Vene verbundene Zellgewebe hindurch stechen und ein Unterbindungsfaden herumführen. Der Kranke wird hierauf zu Bett gebracht, und dann der Unterbindungsfaden über der Vene zusammen geknüpft. Die Ränder der Hautwunde werden nun durch Heftpflaster zusammen gezogen, und eine Compresse und Binde angelegt, so daß die Vene sowohl ober- als unterhalb der unterbunden Stelle mäßig zusammen gedrückt wird. Die Unterbindung fällt ungefähr den neunten Tag ab, worauf gemeiniglich die Theile zuheilen.“ Anmerkung Sicherlich wurde der Eingriff vor Anwendung der Narkose nur selten durchgeführt. Er basiert auf dem Gedanken, dass der V. saphena magna eine kausale Bedeutung im Krankheitsgeschehen zukommt.
Bardelebens Elektropunktur der Varizen und Ulkus-Exzision bei der chronischen venösen Ulkuskrankheit anno 1852 Adolf von Bardeleben (1819–1895) gehörte zu den großen Chirurgen des 19. Jahrhunderts. Er erhielt seine chirurgische Ausbildung in Heidelberg bei Franz Carl Naegele (1778–1851) und wurde 1868 als Ordinarius an die Universität Greifswald berufen. Hier erwarb er sich einen Ruf als glänzender Operateur. Anno 1852 gab er ein dreibändiges „Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre“ heraus. Im Jahre 1868 übernahm er die Nachfolge von Johann Christian Juengken (1793–1875) an der Berliner Charité. Adolf von Bardeleben hat uns die verheerende Situation der Patienten mit Morbus ulceris cruris venosi chronici in seiner Zeit auf dem 19. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1891 in Berlin eindrucksvoll geschildert: „Auf der Abtheilung, welcher ich vorzustehen die Ehre habe, befinden sich oft 80 bis 100 Patienten mit Unterschenkelgeschwüren und varicösen Venen – bekanntlich eine wahre Plage für eine chirurgische Abtheilung. Ich habe aber auch in Greifswald schon unter dem Andrang von Bummlern mir varikösen Geschwüren zu leiden gehabt, die von einem Krankenhaus in’s andere wanderten und die, seit das neue Krankenhaus in Greifswald eröffnet war, mit Vorliebe sich daselbst sesshaft machten. Es wurde da für sie sogar eine besondere Abtheilung errichtet, oben auf dem Boden, sogar zeitweise, wenn ihrer zu viele waren, eine Streu gemacht, um sie unterbringen zu können“. Von Bardeleben kam der Verdienst zu, das Ulcus varicosum von anderen verschiedenen Ulzera als Krankheitsentität abzugrenzen: „Bei dem ödematösen Geschwür ist die Therapie wesentlich gegen das Oedem und die Varicositäten der Venen am Unterschenkel zu richten, wo Geschwüre ungemein häufig vorkommen, weshalb man nicht selten die Behandlung der Geschwüre geradezu mit derjenigen der Varicositäten zusammenwirft.“ Es standen Palliativmittel oder „Radicalmittel“ zur Verfügung (Kasten). Operativ empfahl Bardeleben die „Electropunctur mit mehrfachen Einstichen von Nadeln in die Varizen“. Am Ulkus wurden die unterminierten kallösen
1.2 Ulcus cruris venosum chronicum Ränder abgetragen, und durch Druckverbände mit Heftpflasterstreifen (sogenannter Baynton-Verband) ließ sich „die Umwandlung des Secrets in gutartigen Eiter von verhältnismässiger Quantität“ erreichen. So verwandelte sich das Geschwür in eine eiternde Fläche, die dann in bekannter Weise vernarbt. Allerdings war „jede Operation als lebensgefährlicher Eingriff“ zu betrachten. Palliativmittel der varikösen Ulkuskrankheit bei von Bardeleben anno 1859 • Kompressionsverband mit Binden, Kautschukstreifen • Bayton-Einwickelungen mit Heftpflaster • Schnürstrümpfe von Leder • Elastische Leperdrail-Strümpfe aus Gummigewebe • Stillliegen und Hochlagerung • Kalte Umschläge
Radicalmittel der varikösen Ulkuskrankheit bei von Bardeleben anno 1859 • Französische
Methoden nach Delpech, Velpeau, Sanson u. a. • Anwendung des Haarseils • Unterbindung, Ausschneiden, Ausschälen • Wiener Ätzpaste nach Marchal • Electropunktur
Anmerkung Die Operationsmethode der UlkusUmschneidung wurde schon von Celsus im antiken Rom beschrieben.
Die Nußbaum-Umschneidung beim Ulcus cruris venosum anno 1873 Mit Johann Nepomuk Ritter von Nußbaum (1829–1890) befinden wir uns schon im Zeitalter der modernen Entwicklung der Chirurgie kurz vor Erfindung der Antisepsis um 1864. Von Nußbaum wurde bereits mit 31 Jahren als ordentlicher Professor für Chirurgie an die Universitätsklinik München berufen. Er kam zu hohen Ehren, wurde Geheimrat und konsultierender Generalstabsarzt der Armee. Viele seiner wissenschaftlichen Arbeiten befassten sich mit der Kriegschirurgie. Er war auf den Kriegschauplätzen 1859 und 1866 (Österreich – Italien) sowie 1870 / 71 (Deutschland – Frankreich) tätig. Als erster Deutscher besuchte er Joseph Lister in England zu Erlernung
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der Antisepsis. Das Verfahren wurde von ihm zuerst bei den Notoperationen auf dem Schlachtfeld, seit 1874 / 75 aber auch konsequent in seiner Münchener Klinik eingesetzt. In wissenschaftlicher Hinsicht befasste sich von Nußbaum insbesondere mit orthopädischen Operationen. Gegen schwere Schmerzzustände führte er die Nervendehnungsmethode ein (s. u.). Insgesamt soll er im Laufe seines Lebens 204.441 Eingriffe vorgenommen haben, und zwar in der Hauptsache große Operationen. Seine Ulkus-Umschneidung wurde weltweit durchgeführt (› Abb. 1.3).
Nußbaums Operation „Seit dem Jahre 1857 habe ich selbst bei sehr schwer heilbaren Geschwüren, welche täglich 5 und 6 Handtücher mit ihrer Jauche durchnässen und welche für Patienten und Umgebung, namentlich im Sommer, eine unbeschreibliche Last sind, einen Operationsversuch gemacht, der eine so enorme und rasche Veränderung an solch callösen Geschwüren hervorbringt, dass ich ihn bis zur Stunde immer wiederhole, schon mehr als 60 Fälle damit geheilt habe. Ich narcotisire einen solchen Kranken und mache um sein Fussgeschwür herum, einen Finger breit vom Rande entfernt, eine bis auf die Fascie hineingehende Incision, durchschneide hierbei grosse Massen von Gefäßen und bekäme eine sehr heftige Blutung, wenn ich in den Schnitt nicht sofort ein feines Streifchen Lint hineinstopfen und das ganze Geschwür stark comprimiren würde. Das Hineinstecken des Lint ist auch nöthig, damit der Schnitt bis morgen nicht wieder zusammenheilt [Anm. d. A.: noch die Zeit vor der Asepsis]. Was ist nun geschehen? Das Geschwür, welches gestern noch von einer Unmasse von Gefässen, von einer abnorm großen Blutzufuhr ernährt wurde und grosse Quantitäten flüssiger Jauche lieferte, so dass eine Schicht Exsudat die andere wegschwemmte, dieses Geschwür ist heute ringsherum von jeder Blutzufuhr abgeschnitten. Desshalb haben wir statt 3 und 4 Quart seroeser Absonderung heute einen Esslöffel voll dicken, weißen, rahmartigen Eiter. Wo aber dicker, schöner Eiter ist, dort ist auch Neubildung, dort werden auch junges Bindegewebe und junge Gefässe gebildet. Ist nun die Auffüllung der Cavitaet bis zum Niveau der Haut geschehen, passt am besten der beliebte Baynton’sche Pflasterverband, welcher immer 48 bis 60 Stunden liegen bleibt oder
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Abb. 1.3 a, b Zirkuläre Umschneidung des Ulcus cruris nach Nußbaum anno 1873. Abbildung aus Schörcher, hier mit sofortiger Naht der Schnittwunde. Vor Einführung der Asepsis ließ Nußbaum die Wunde breit offen zur Entwicklung von „gutem Eiter“. [P573-1]
man kann die Hautbildung durch die Reverdin’sche Methode beschleunigen.“ Anmerkung Der Eingriff wird heute noch durchgeführt.
Varizen und chronische venöse Ulkuskrankheit nach Erfindung von Narkose und Antisepsis im 19. Jahrhundert Nach dem Durchbruch der modernen Chirurgie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ergaben sich auch für den Morbus ulceris cruris venosi chronici neue Behandlungsmethoden. Dabei spielten erweiterte pathophysiologische Erkenntnisse und das zunehmende Verständnis des Krankheitsgeschehens eine führende Rolle. Als Erstes machte die teilweise Entfernung der V. saphena magna schnell Schule. Dies reichte in den meisten Fällen jedoch nicht aus, um auch das tiefe chronische Ulkus zur Abheilung zu bringen. Deshalb
erdachten die Chirurgen verschiedene zusätzliche Eingriffe, die heute Verwunderung hervorrufen, wenn sie ihrer Zeit auch von Nutzen gewesen sein mochten.
Nervendehnungsoperation nach Bardescu 1899 Die Operation beruhte auf der theoretischen Annahme, dass bei einem chronischen varikösen Unterschenkelgeschwür neben Beeinträchtigungen der Hämodynamik auch Störungen der trophischen Innervation vorliegen. Die erste Veröffentlichung von Bardescu erfolgte 1897 in einer Bukarester Zeitschrift. Die Manipulationen wurden am N. saphenus bzw. am N. peroneus superficialis vorgenommen, je nach Lokalisation des Ulcus cruris.
Bardescus Kasuistik Der Eingriff erfolgte an einem 45-jährigen Bauern mit einem chronischen Ulcus cruris seit acht Jahren.
1.2 Ulcus cruris venosum chronicum „Am 28. September wird unter Lokalanästhesie mit Cocain die Resektion der V. saphena magna im mittleren Drittel des Unterschenkels vorgenommen. Am 8. Oktober wird in Chloroformnarkose die Fingerdehnung des N. peroneus communis hinter dem Fibularkopf gleich oberhalb seiner Endäste ausgeführt. Nach der Dehnung wurden der Nerv zerfasert und die Fascikel desselben mit der Spitze des Bistouri getrennt, damit die varikösen Gefäße des Nerven so viel wie möglich zerstört würden. Der Nerv ist dann an seine frühere Stelle gebracht worden. Nach der Operation bemerkten wir eine vorübergehende Anästhesie des N. peroneus superficialis. Pat. wird am 27. November geheilt entlassen.“ Anmerkung Die Methode fand damals in vielen Kliniken ihre Anwendung, auch bei anderen Indikationen.
Zirkuläre Umschneidungen bei chronischen venösen Ulzera ausgangs des 19. Jahrhunderts Die zirkulären und spiraligen Umschneidungen wurden von mehreren Autoren eingeführt, um bei Patienten mit chronischen Krampfadergeschwüren den Rückstau des venösen Blutes komplett zu unterbrechen. Über die Stammvene hinaus sollten Dissektionen aller subkutanen Varizen erfolgen. Zu ihrer Zeit gelangten die Umschneidungen weltweit zur Anwendung. Von Moreschi (1893) und von Schede (1897) wurden die zirkulären Schnittführungen oberhalb und unterhalb des Ulcus cruris vorgenommen (› Abb. 1.4). Mariani (1903) führte den Schnitt nur oberhalb des Geschwürs aus. Von Petersen (1896) stammt die Empfehlung der Zirkumzision unterhalb vom Knie und von Wenzel (1902) an der unteren Drittelgrenze des Oberschenkels. Aus Buenos Aires berichtete Wenzel über 26 Fälle, die von ihm mit dem besten Erfolg operiert worden waren. Die Patienten blieben 12 Tage nach dem Eingriff in der Trendelenburg-Lage fest im Bett und wurden dann mit einem Kompressionsverband bis zur Leiste entlassen.
Schedes Kasuistik „47-jährige Wäscherin, Mutter von 6 Kindern, mager, verhärmt, Bronchiektasen. Handtellergroßes,
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schmieriges, äusserst schmerzhaftes Geschwür seit 5 Jahren. Geht es ihr nun sehr schlecht, frisst das Geschwür um sich und raubt der Trägerin den Schlaf. Dann entschließt sie sich verzweifelnd zur Bettruhe. Aber das dauert nicht lange, denn der Vater ist halbblöder Quartalssäufer, und wenn die Mutter nicht arbeitet, haben die Kinder nichts zu essen“. Nach der Operation war das Ulkus seit 2½ Jahren abgeheilt. Die Narbe erschien rinnenartig eingesunken. Die Patientin erklärte: „Ja, wissen Sie, Herr Doctor, da binde ich mir immer mein Strumpfband, das hält so schön.“
Spiralige Umschneidung beim chronischen venösen Ulkus von Rindfleisch und Friedel anno 1908 Prinzipiell wollten Rindfleisch und Friedel beim Patienten mit variköser Ulkuskrankheit alle Krampfadern komplett entfernen. In narbig-ulzerösen oder ödematösen Geweben war das aber nicht möglich. So gelangten sie über eine hufeisenförmige Zirkumzision des Ulcus cruris und kleine zirkuläre Einschnitte zu ihrer ungewöhnlichen Methode. Die Operation bestand aus einem langen Schnitt in 5 bis 6 spiraligen Touren vom Unterschenkel bis zum Oberschenkel und in der Tiefe bis auf die Faszie (› Abb. 1.5). Die Wunden blieben offen. Während der postoperativen Behandlung wurden frische Granulationen immer wieder mit Höllenstein weggeätzt, sodass die Wundränder möglichst auseinanderwichen. Nach 14 Tagen verließen die Patienten das Bett. Rindfleisch war als Chirurg am Johanniter-Krankenhaus in Stendal tätig. Die Veröffentlichung der Methode erfolgte durch seinen Assistenten Friedel.
Rindfleischs Kasuistik „O. H., Knecht, 56 Jahre alt, liegt seit ca. 4 Monaten wegen eines Krampfaderleidens am linken Bein auf der hiesigen chirurgischen Abtheilung. Die Vena saphena magna kommt vom Oberschenkel als ein 2 fingerdicker Strang herab und verliert sich in dem ödematösen Gewebe des Unterschenkels. Da sich die Fisteln nicht schließen wollen, wird am 5.4.1907 zunächst am Oberschenkel die V. saph. 10 cm weit exstirpirt. Handbreit unterm Knie wird dann, von der
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medialen Seite beginnend, eine den Unterschenkel fünfmal umkreisende Spirale gezogen, die vorm äußeren Knöchel endet. Dabei werden auch noch unter der Muskelfaszie liegende Varicen durchtrennt. Die Spirale heilt in ca. 8 Wochen, Abscesse und Fisteln sind verschwunden; das Ödem ist wesentlich zurückgegangen.“ Der Chirurg Kayser (1910), Oberarzt an der Kümmell-Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf, legte später bei dieser „Strumpfband-Operation“ oder „Peritomie“ bis zu 12 Schnitttouren an, dazu drei lange Hautschnitte am Fußrücken von der Außen- bis zur Innenkante. Das Ulkus kam zwischen
zwei Touren und zusätzlichen Längsschnitten wie auf einer Insel zu liegen. Dabei mussten die Schnitt ränder wegen der Blutungsneigung durchgreifend abgenäht werden. Meistens war das Ulkus schon vor der Heilung der Operationswunde nach vier Wochen geschlossen. Heute mag die Rindfleisch-Friedel-Operation als ein Extrem der Venen- und Ulkuschirurgie erscheinen. Seinerzeit hatte sich die Methode aber an allen größeren Kliniken in Deutschland und Österreich eingebürgert. Sie kam später wegen des hohen Blutverlusts, der postoperativen Sensibilitätsstörungen, schwerer Stauungen mit eingeschränkter Gebrauchsfähigkeit der Extremität sowie der langen
Abb. 1.4 a, b Zirkuläre Umschneidung des Unterschenkels oberhalb des chronischen Ulcus cruris nach Moreschi 1893; Abbildung aus Schörcher: Anamnese der Ulzera sieben Jahre [G840]
1.2 Ulcus cruris venosum chronicum
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Patienten später wegen einer anderen Krankheit in das Bad Homburger Krankenhaus zur Aufnahme. Bode war über das gute Spätergebnis überrascht. Er bestellte daraufhin alle 18 Patienten, bei denen er die Operation durchgeführt hatte, zur Nachuntersuchung ein und fand, abgesehen von Sensibilitätsstörungen, hervorragende Spätergebnisse.
Totale Exhairese der V. saphena magna nach Madelung 1884 In der Medizingeschichte erwies sich die Entfernung der V. saphena magna erstmals als kausales Behandlungskonzept der schweren Stammvarikose mit Ulcus cruris, das zu reproduzierbar guten Ergebnissen geführt hat. Der erste Bericht über eine derartige Operation in Esmarch-Blutleere stammt von dem Londoner Chirurgen John Marshall 1875. Seitdem wurde der Eingriff in verschiedener Weise abgewandelt. Zunächst galt die Madelung-Operation als extreme Variante (› Abb. 1.6).
Abb. 1.5 Narbe nach spiraliger Umschneidung des Beins nach Rindfleisch und Linton 1908; fünfmalige Umkreisungen; Abheilung der Operationswunde nach acht Wochen [F1032-001]
stationären Behandlungsdauer bis zu 20 Wochen in Misskredit. Immerhin maß die Länge der Operationswunde bis zu 156 cm. In der Literatur wurde nur ein Todesfall verzeichnet, obgleich das Krankengut aus älteren, oftmals weit über 70-jährigen Patienten bestand. Eine wichtige Nachuntersuchung stammt von dem Chefarzt der Chirurgischen Klinik in Bad Homburg, Friedrich Bode, anno 1919.
Bodes Bericht der Nachuntersuchung „Enttäuscht und mißmutig haben Kranke ungeheilt die Anstalt verlassen, und auch der Arzt verlor bald begreiflicherweise bei diesen Erfahrungen den Mut und die Lust zu einer weiteren Betätigung dieser Art.“ Zufällig kam einer der unzufriedensten
Abb. 1.6 Schnittführung zur totalen Exhairese der V. saphena magna nach Madelung 1884 mit ausgedehnter Resektion der Seitenäste und der Vv. perforantes [F1033-001]
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Otto Madelung (1846–1926) war Ordinarius für Chirurgie in Rostock, Göttingen und Straßburg. Viele wichtige Erkenntnisse der Chirurgie wie der Madelung-Fetthals oder die Madelung-Deformität des Radius gehen auf ihn zurück. Madelung entfernte die ganze V. saphena magna einschließlich der Seitenäste von langen Hautschnitten aus und nahm darüber hinaus auch ausgedehnte subfasziale Perforansdissektionen vor. Er berichtete bis zur Veröffentlichung 1884 über elf Operationen. In vielen Fällen war der große Eingriff mit Komplikationen belastet.
Madelungs Operation „Ich habe die radicale Ausschälung des durch cirsoide Varicenbildung degenerierten Venenplexus vorgenommen. So versteht es sich, dass meist über mehr als Fusslänge und mehr als Handbreite Strecken der Unterschenkelhaut abpräpariert werden müssen. Ein um den Oberschenkel locker umgelegter Schlauch füllt die peripher liegenden Venen strotzend. Zahlreichste Unterbindungen sind besonders zum Schluss der kleinen, die Faszie der Unterschenkelmusculatur durchdringenden Gefässe nöthig. Ich habe mit dieser so leicht auszuführenden Operation mehr Dank geerntet, als mit vielen schwierigen operativen Eingriffen.“
1.2.2 Zusammenfassung Die Chronifizierung einer Wunde wird heute in pathophysiologischer Hinsicht auf verschiedene Ursachen zurückgeführt. Meistens handelt es sich um ein chronisches Ulcus cruris. Bei seiner Entstehung spielt das Versagen der Anpassungsmechanismen des Kreislaufs an die Bedingungen des aufrechten Ganges in der Geschichte des Menschen die entscheidende Rolle. Einerseits sind es also endogene Faktoren und andererseits äußere Einwirkungen wie körperliche Schwerstarbeit, die sich gegenseitig potenzieren und den Patienten in ein langjähriges Leiden, ja zum Tode führen können. Mit dem Ausdruck Morbus ulceris cruris venosi chronici bzw. chronische venöse Ulkuskrankheit wird das Krankheitsgeschehen umfassend definiert.
Die Wundärzte mussten sich zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte mit der chronischen venösen Ulkuskrankheit befassen. In der Antike standen verschiedene Salbenauflagen und Verbände zur Verfügung, auch kleinere Eingriffe an Varizen. Aber wirklich konnte damit nicht geholfen werden. Deshalb nimmt es nicht Wunder, wenn sich Zauberei und Aberglauben in die Therapie einmischten. Den entscheidenden Durchbruch zur Kenntnis des Krankheitsgeschehens brachte erst die moderne Chirurgie nach Einführung von Narkose und Asepsis in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zusammenhänge der Ulkuskrankheit mit der Stammvarikose wurden zwar schon lange vermutet, konnten aber erst jetzt gezielt angegangen werden. Die MadelungExhairese, die Babcock-Operation, die Hachsche partielle Saphena-Resektion und die modernen endovaskulären Verfahren sind Stationen auf diesem Wege. Trotzdem gibt es den Morbus ulceris cruris venosi chronici auch heute immer noch und immer weiter. Zu seinem Türschloss, zur Pathophysiologie der venösen Hypertonie, wurde der richtige Schlüssel auch nach 2,6 Millionen Jahren Menschheitsgeschichte, seit der Altsteinzeit, bisher nicht gefunden. LITERATUR Bardeleben A von. Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre. 2. Band. 3. A. Berlin: Reimer 1860, 253–291. Bardeleben A von. Diskussionsbemerkung. Verh Dt Ges Chir 1891; 20: 163. Bardescu N. Eine neue operative Behandlung der varikösen Unterschenkelgeschwüre. Centralbl Chir 1899; 26: 769–771. Bernstein JG. Praktisches Handbuch für Wundärzte, nach alphabetischer Ordnung in vier Bänden. 5. Ausg. 4. Band. Leipzig: Schwickertsche Verlage 1820, 480. Bode F. Grundlagen und Erfolge der Rindfleisch’schen Varicenoperation. Arch Klein Chir 1919; 112: 592–606. Bopp C. Alfred Schönwerth (1865-1941) – Ein Münchner Chirurg in der Nachfolge von Johann Nepomuk von Nußbaum. Dissertation an der Technischen Universität München, 2005. Eckart WU. Geschichte der Medizin. Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1990. Friedel G. Operative Behandlung der Varicen, Elephantiasis und Ulcus cruris. Arch Klin Chir 1908; 86: 143–159. Fuchs R. Hippokrates, Sämmtliche Werke. 3. Band. München: Lüneburg 1900, 294. Grimm JFG, Grimm JJC, Lilienhain L. Hippocrates Werke. 2. Band. Glogau: Praußnitz 1838, 454. Gufer J. Tabulae medicae sive Medicina domestica. Das ist kleine Hauß-Apotheck. Augsburg: Kronigers und Gobels seel. Erben 1689, 130.
1.2 Ulcus cruris venosum chronicum Gurlt E . Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung. 1. Band. Berlion: Hirschwald, 1898. Hach W. Die merkwürdigen Therapien des Ulcus cruris – Medizinhistorische Betrachtungen über Jahrhunderte hinweg. Vasomed 2005; 17: 6–11. Hach W. Die Kunst des Dr. Weinhold zur Heilung veralteter Hautgeschwüre. Phlebologie 2013; 42: 252–256. Hach W, Hach-Wunderle V. Die Wandlung der theoretischen Konzepte in der Chirurgie der Stammvarikose vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Gefäßchirurgie 2001; 6: 111–118. Hach W, Mumme A, Hach-Wunderle V. Venen-Chirurgie. 3. A. Stuttgart: Schattauer, 2013. Hirsch A. Biographische Lexikon der hervorragenden Aerzte aller Zeiten und Völker. Wien, Leipzig: Urban und Schwarzenberg, 1886. Kayser P. Zur Behandlung des varikösen Symptomenkomplexes mit dem Spiralschnitt (nach Rindfleisch-Friedel). Beitr Klin Chir 1910; 68: 802–810. Laqua K. Die Behandlung der Varizen. Bruns’ Beiträge Klin Chir 1930; 150: 215–251. Lovejoy CO. The origin of man. Science 1981; 211: 341–350. Madelung O. Ueber die Ausschälung circoider Varicen an der unteren Extremität. Verh Dtsch Ges Chir 1884; 13:114–117.
15
Marshall J. A new method of treating bad cases of varicose veins of the leg. Brit Med J 1875 (kein Band bekannt). Nußbaum, N von. Neue Heilmethoden bei Geschwüren. Aerztliches Intelligenz-Blatt 1873; 20: 205–211. Plinius Secundus G. Naturgeschichte. 36. Band. Übersetzung Ph. H. Külb. Stuttgart: Metzler 1864, 4528. Richtern CF. Vollständiges Materialien-Lexikon. Leipzig: Braun, 1721. Schede M. Ueber die operative Behandlung der Unterschenkelvaricen. Berliner Klin Wochenschr 1877; 14: 85–89. Scheller E. Aulus Cornelius Celsus. Über die Arzneiwissenschaft in 8 Büchern. Hildesheim: Olms 1967, 276. Schörcher F. Kosmetische Operationen. München: Lehmann, 1955. Tabernaemontanus DJT. Kräuterbuch (Lorcher Kräuterbuch). Reprint. Offenbach am Main: Königs 1731, 788. Weinhold KA. Die Kunst, veraltete Hautgeschüre besonders die sogenannten Salzflüsse nach einer neuen Methode sicher und schnell zu heilen. Dresden: Arnold, 1810. Wenzel C. Der Circulärschnitt am Oberschenkel bei der operativen Behandlung der Varicen und des Ulcus cruris. Berliner Klin Wochenschr 1902; 39: 122–127.
1
KAPITEL
2
Joachim Dissemond, Knut Kröger
Aktuelle Definitionen und Schreibweisen der ICW e. V. Kernaussagen
• Bei der Wundbehandlung sind verschiedene medizinische Berufsgruppen mit unterschiedlichen Ausbildungen involviert. • Eine obligat notwendige Voraussetzung für die Kommunikation und Dokumentation ist eine einheitliche Nomenklatur. • Durch die Verwendung einheitlicher Standards werden Diagnostik- und Behandlungsstrategien optimiert und besser nachvollziehbar.
2.1 Einführung In die sehr komplexen Abläufe der Wundbehandlung sind Experten verschiedener Berufsgruppen mit sehr unterschiedlicher Ausbildung involviert. Um hier eine gute Kommunikation und gemeinsame Dokumentation zu gewährleisten, ist es notwendig, eine einheitliche Nomenklatur zu verwenden. Daher hat der Vorstand der ICW in Absprache mit dem wissenschaftlichen Beirat der ICW in den letzten Jahren begonnen, Definitionen, Schreibweisen und die Klärung von Begriffen zu publizieren. Durch die Verwendung einheitlicher Standards sollen Diagnostik- und Behandlungsstrategien optimiert und besser nachvollziehbar werden.
2.2 Definitionen
• Der Vorstand der ICW hat in Absprachen mit dem Wissenschaftlichen Beirat verschiedene Definitionen, Schreibweisen und Begrifflichkeiten als Basis für einen einheitlichen Standard beschrieben.
bezeichnet. Unabhängig von dieser zeitlich orientierten Definition gibt es Wunden, die von Beginn an als chronisch anzusehen sind, da ihre Behandlung eine Therapie der weiterhin bestehenden Ursache erfordert. Hierzu gehören beispielsweise das diabetische Fußulkus, Wunden bei PAVK, Ulcus cruris venosum oder Dekubitus. Akute Wunde Jede Wunde, die nicht chronisch ist, wird als akut bezeichnet. Erosion Als Erosion / Schürfwunde wird eine oberflächliche Wunde bezeichnet, die ausschließlich die Epidermis / Oberhaut betrifft. Ulkus Als Ulkus / Geschwür wird eine tiefe Wunde bezeichnet, die mindestens bis in die Dermis / Unterhaut reicht. Wundrand Als Wundrand wird die Grenze zwischen Wunde und intaktem Epithel bezeichnet.
Wunde Als Wunde wird der Barriereverlust zwischen dem Körper und der Umgebung durch Zerstörung von Gewebe an äußeren oder inneren Körperoberflächen bezeichnet.
Wundumgebung Als Wundumgebung wird der Bereich bezeichnet, der an den Wundrand grenzt und die Wunde umgibt.
Chronische Wunde Eine Wunde, die nach acht Wochen nicht abgeheilt ist, wird als chronisch
Nekrose Als Nekrose wird abgestorbenes, zuvor vitales Gewebe bezeichnet.
18
2 Aktuelle Definitionen und Schreibweisen der ICW e. V.
Gangrän Als Gangrän werden abgestorbene Körperteile bezeichnet. Bei der Beschreibung von abgestorbenem Gewebe in Wunden sprechen wir daher von Nekrose und nicht von Gangrän.
2
Wundexsudat Als Wundexsudat werden alle Flüssigkeiten bezeichnet, die von einer Wunde freigesetzt werden. In Abhängigkeit des Wundzustandes können sie Lymphe, Blut, Proteine, Keime, Zellen und Zellreste beinhalten. Rezidiv Bei dem Wiederauftreten nach Behandlung wird zwischen Krankheits- und Symptomrezidiv unterschieden. • Rezidiv einer Krankheit: Dies beschreibt das Wiederauftreten der Erkrankung nach Behandlung, die zeitweilig erfolgreich war, oder nach spontaner Heilung. Beispiel: Tumorrezidiv. Anmerkung: Bei chronischen Erkrankungen, z. B. Diabetes mellitus oder chronischer venöser Insuffizienz (CVI), ist eine Heilung nicht möglich. Daher gibt es hier kein Rezidiv. • Rezidiv eines Symptoms: Darunter wird das Wiederauftreten dieses Krankheitssymptoms nach Behandlung, die zeitweilig erfolgreich war, oder nach Heilung des Symptoms verstanden. Dabei wird unterschieden: • Lokalrezidiv: Rezidiv, das erneut an einem anatomischen Ort auftritt • Symptomrezidiv: Rezidiv, das an einem anderen anatomischen Ort auftritt Beispiel: Ulcus cruris venosum ist das Symptom der Grunderkrankung CVI und kann während des Krankheitsverlaufs wiederholt an unterschiedlichen Stellen auftreten.
seinen Lebensalltag. Der Patient soll aktiv in die Entscheidungsfindung eingebunden werden. Hierfür muss, in Abhängigkeit von den Vorkenntnissen des Patienten, eine individuelle Patientenedukation erfolgen. Mazeration Mazeration bezeichnet die Quellung oder Aufweichung von Gewebe durch längeren Kontakt mit Flüssigkeit. In der Wundbehandlung ist die Mazeration der Epidermis am Wundrand und in der Wundumgebung oft ein Zeichen für unzureichendes Exsudatmanagement. Adaptive Kompressionsbandage Es gibt zunehmend Bandagensysteme für die Kompressionstherapie, die über Klettverschlüsse (engl. Velcro) angelegt und ggf. adjustiert werden können. Mehrkomponentensystem Es gibt verschiedene Fertigsets mit unterschiedlichen Bindenkombinationen für die Kompressionstherapie, die aus verschiedenen Komponenten, wie Kurzzug-, Langzug- und Polsterbinden, bestehen. Capillaritis alba Sehr schmerzhafte Vaskulopathie der Hautkapillaren. Atrophie blanche Weniger schmerzhafter chronischer Zustand der Capillaritis alba. Pseudoatrophie blanche Narbe nach Abheilung eines Ulcus cruris venosum. Erythem Rötung der Haut.
Compliance Das nicht hinterfragte Befolgen der Anweisungen des Therapeuten durch den Patienten. Der Patient soll unabhängig davon, ob er die Sinnhaftigkeit der Anweisung versteht, diese möglichst vollständig und korrekt umsetzen.
Ekzem Nichtinfektiöse Entzündungsreaktion der Haut. Klinisch gekennzeichnet ist ein Ekzem durch folgende typische Symptome: • Akutes Ekzem: Rötung, Schuppung, Juckreiz, Bläschen, Erosionen, Nässen • Chronisches Ekzem: Rötung, Lichenifikation (Vergröberung der Hautstruktur), Schuppung, Juckreiz
Adhärenz Der Patient integriert auf Basis seines eigenen Krankheitsverständnisses die gemeinsam mit dem Therapeuten beschlossene Therapie in
Arterielle Verschlussdruckmessung Für die Angabe der Werte bei arterieller Verschlussdruckmessung wird meist ein Akronym verwendet. Es soll
2.2 Definitionen folgende Terminologie genutzt werden: • Deutsch: KADI = Knöchel-Arm-Druck-Index • International: ABI = Ankle-Brachial-Index
Schreibweisen
• Ulcus / Ulkus: Es existieren jeweils zwei akzep-
tierte Schreibweisen: – Ulcus / Ulkus = Singular – Ulcera / Ulzera = Plural • Ulcus cruris: Es werden folgende Schreibweisen festgelegt: – Ulcus cruris: eine Ulzeration an einem Unterschenkel – Ulcera cruris: mehrere Ulzerationen an einem Unterschenkel – Ulcera crurum: mehrere Ulzerationen an beiden Unterschenkeln Beispiel: Ulcus cruris venosum – Ulcus cruris venosum
19
– Ulcera cruris venosa – Ulcera crurum venosa Anmerkung: Die Teile des Beines müssen hinsichtlich der Manifestation von Wunden strikt voneinander differenziert werden. Das obere Sprunggelenk trennt anatomisch den Unterschenkel vom Fuß; das Kniegelenk trennt anatomisch den Unterschenkel vom Oberschenkel. Beispiel: Ein diabetisches Fußulkus / diabetisches Fußsyndrom gibt es nicht am Unterschenkel. Im Umkehrschluss gibt es auch kein Ulcus cruris (crus = Kreuz = meint hier Unterschenkel), z. B. mixtum, am Fuß. • Dekubitus: – Singular: Dekubitus oder Dekubitalulcus – Plural: Dekubitalulzera oder Dekubiti oder Dekubitus Vorschlag des ICW-Vorstands: Dekubitus (Singular) und Dekubitalulzera (Plural) › Tab. 2.1 stellt Begriffe, die nicht mehr verwendet werden sollten, den korrekten medizinischen Begriffen gegenüber.
Tab. 2.1 Klärung von Begriffen Begriffe, die nicht mehr verwendet werden sollten Elephantiasis, Elefantenbein
Medizinisch korrekte Begriffe Lymphödem Stadium III
Anmerkung: Lymphödeme werden in die Stadien 0 – III eingeteilt. Malum perforans
Polyneuropathisches Ulkus, ggf. diabetisches Fußulkus
Anmerkung: Malum perforans beschreibt wörtlich das Schlechte (malus), das den Fuß durchbohrt (perforare). Hier sollte die Ätiologie nachvollziehbar sein. Raucherbein
Fortgeschrittene periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK) mit Stadieneinteilung nach Fontaine
Anmerkung: Raucherbein stellt einen direkten monokausalen Zusammenhang zu pathologischen Veränderungen her, der nicht immer vorliegt. Geschwür
Ulkus
Anmerkung: Die Übersetzung des Begriffs Ulkus mit Geschwür ist zwar korrekt, führt bei Patienten aber oft zu der Vorstellung eines Substanzzuwachses und / oder einer Neoplasie. Rattenbissnekrose
Fingerkuppennekrose, ggf. digitale Ulzera
Anmerkung: Gemeint sind Nekrosen als Folge der Vaskulopathie bei Sklerodermie. Schmierig / schmodderig / siffig Beläge, z. B. Fibrinbeläge, Nekrose belegte Wunden Anmerkung: Hier werden viele verschieden Arten von Belägen zusammengefasst. Diese sind differenziert zu benennen. Wildes Fleisch, Caro luxorians
Hypergranulation
Anmerkung: Als Fleisch wird meist Muskelgewebe bezeichnet. Gemeint ist hier aber Granulationsgewebe. Umgekehrte Flaschenhalsdeformität
Dermatolipo(fascio)sklerose
2
20
2 Aktuelle Definitionen und Schreibweisen der ICW e. V.
Tab. 2.1 Klärung von Begriffen (Forts.) Begriffe, die nicht mehr verwendet werden sollten
Medizinisch korrekte Begriffe
Anmerkung: Beschrieben werden Hautveränderungen bei Patienten mit fortgeschrittener chronischer venöser Insuffizienz (CVI). Waschfrauenhaut
2
Mazeration, Hyperplasie, kumulativ-subtoxische Kontaktdermatitis etc.
Anmerkung: Hautveränderungen, die in der Wundbehandlung meist Folge eines unzureichenden Exsudatmanagements sind. Hautwolf
Intertrigo
Anmerkung: Als Wolf (Lupus) werden in der Medizin meist hautzerstörende Krankheitsbilder, die narbig abheilen, bezeichnet. Windeldermatitis
Inkontinenzassoziierte Dermatitis (IAD)
Anmerkung: Insbesondere bei erwachsenen Patienten beschreibt die IAD gut die durch Inkontinenz verursachte irritativ toxische Kontaktdermatitis. Gummistrümpfe
Medizinische Kompressionsstrümpfe (MKS)
Anmerkung: In medizinischen Kompressionsstrümpfen ist heute kein mehr Gummi enthalten. VAC-Therapie
Vakuumtherapie oder Unterdruck-Wundtherapie
Anmerkung: V. A. C. (Vacuum-assisted closure) ist die geschützte Bezeichnung einer Firma für deren Behandlungssysteme mit Unterdruck. Pütter-Verband, püttern
Phlebologischer Kompressionsverband mit Kurzzugbinden
Anmerkung: Die Kurzzugbinden einer Firma haben die geschützte Bezeichnung Pütter.
2.3 Fazit Aktuell werden viele Begriffe von unterschiedlichen Therapeuten sehr unterschiedliche genutzt. Somit kommt es immer wieder zu Missverständnissen und einer uneinheitlichen Dokumentation. Durch die Beschreibung von Definitionen, Schreibweisen und Begriffen hat die ICW nun versucht, einen einheitlichen Standard zu entwickeln, der die Basis der Dokumentation und auch für klinische Studien sein sollte. LITERATUR Dissemond J, Bültemann A, Gerber V, Jäger B, Kröger K, Münter C. Standards für die Diagnostik und Therapie
chronischer Wunden. WundManagement 2017; 11: 81–86. Dissemond J, Bültemann A, Gerber V, Jäger B, Münter C, Kröger K. Klärung von Begriffen für die Wundbehandlung: Empfehlungen der Initiative Chronische Wunde (ICW) e. V. Hautarzt 2018; 69: 780–782. Dissemond J, Bültemann A, Gerber V, Jäger B, Münter C, Kröger K. Weitere Definitionen und Schreibweisen für die Wundbehandlung. Hautarzt 2017; 68: 415–417. Dissemond J, Bültemann A, Gerber V, Jäger B, Münter C, Kröger K. Diagnosis and treatment of chronic wounds: Current standards of the Initiative for Chronic Wounds (ICW) e. V. from Germany. J Wound Care 2017; 26: 727–732. Dissemond J, Bültemann A, Gerber V, Jäger B, Münter C, Kröger K. Weitere Definitionen und Schreibweisen für die Wundbehandlung. Hautarzt 2017; 68: 415–417.
KAPITEL
3
Knut Kröger, Joachim Dissemond
Epidemiologie Kernaussagen
• Es gibt keine repräsentativen bevölkerungsbasierten Studien zur Häufigkeit chronischer Wunden in Deutschland. • Es gibt keine einheitliche Definition chronischer Wunden, die bei den wenigen epidemiologischen Untersuchungen zugrunde gelegt wurde.
3.1 Einführung Die Einschätzung der Prävalenz und Inzidenz chronischer Wunden in Deutschland ist schwierig. Es liegen keine festgelegten Kriterien zu einer systematischen Erfassung von Daten vor, sodass eine verlässliche Basis nicht vorhanden ist. Ohne eine standardisierte und systematische Erhebung bleiben nur der Rückgriff auf einzelne Studien oder die Beurteilung der globalen Situation. Insgesamt zeigt sich jedoch eine erhebliche Varianz der Angaben zur Häufigkeit chronischer Wunden, die es schwierig macht, zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen. Der Bundesverband Medizintechnologie e. V. schätzte die Anzahl der Menschen mit chronischen Wunden in Deutschland im Jahr 2007 auf 4 Millionen. Im Rahmen des ersten Wunddialogs, den der Bundesverband Medizintechnologie gemeinsam mit Versorgungsnetzwerken, Krankenkassen, Ärztevertretern und den Herstellern von Wundversorgungsprodukten 2015 durchführte, wurde eine geschätzte Anzahl von rund 1,5 Millionen Menschen genannt, die unter einer chronischen Wunde leiden.
• Die vorhandenen Publikationen zur Häufigkeit chronischer Wunden in Deutschland gelten immer nur für die jeweilige Definition der chronischen Wunde und die untersuchte Population. • Zusammenfassend zeigen die aktuellen Daten, dass es etwa 1 Million Menschen mit chronischen Wunden in Deutschland gibt.
3.2 Abschätzung der Häufigkeit › Tab. 3.1 zeigt die Ergebnisse einer systematischen Literatursuche in medizinischen Datenbanken und › Tab. 3.2 die einer Internetsuche zur Prävalenz chronischer Wunden und einzelner Wundentitäten in der letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland. Die meisten Studien beziehen sich auf die Häufigkeit von Dekubitus und Ulcus cruris. Die Ergebnisse bei der Gesamtzahl von Patienten mit chronischen Wunden variieren von rund 300.000 bis zu 3.000.000. Unterschiedliche Altersstrukturen und Zufallsstichproben beeinflussen die dargelegten Studienergebnisse stark. Ebenso beziehen sich einzelne Ergebnisse auf verschiedene Einrichtungen wie Krankenhäuser, Alten- und Pflegeeinrichtungen oder die ambulante Pflege. Während beim Dekubitus die Prävalenz in den Altenheimen mit bis zu 12,5 % ermittelt wurde, zeigen andere Ergebnisse eine Prävalenz bis zu 15 % in Krankenhäusern und bis zu 20 % in der häuslichen Pflege. Interessante Daten lieferte der BVMed (Bundesverband Medizintechnologie e. V.) in Zusammenarbeit mit der AOK Hessen. Im Rahmen einer
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3 Epidemiologie
Tab. 3.1 Prävalenzstudien zu Patienten mit chronischen Wunden aus medizinischen Datenbanken Autor / Jahr Heyer et al. 2016
3
Prävalenz 1,04 % / 0,7 % / 0,27 %
Einrichtung
Entitäten Chronische Wunden / Bein-Ulzerationen / diabetische Ulzerationen
Klingelhöfer-Noe et al. 2015 3,9 % / 2,3 %
Altenheim / häusliche Pflege Dekubitus
Eberlein-Gonska et al. 2013 1,21 %
Krankenhaus
Dekubitus
Lahmann et al. 2012
11 %
Krankenhaus
Dekubitus
Kottner et al. 2011
3,9 %
Altenheim
Dekubitus
Wilborn et al. 2010
4,7 %
Altenheim
Dekubitus
Lahmann et al. 2010
12,5 % – 5 % 6,6 % – 3,5 %
Altenheim
Dekubitus
Kottner et al. 2010
3,9 % / 7,9 %
Altenheim / Krankenhaus
Dekubitus I – IV
Hoppe et al. 2009
7,3 % / 12,7 %
Altenheim / Krankenhaus
Dekubitus
Kottner et al. 2009
13,9 % – 7,3 %
Krankenhaus
Dekubitus
Sämann et al. 2008
3,6 % / 2,8 %
Stausberg et al. 2005
5,4 %
Krankenhaus
Dekubitus
Stausberg et al. 2005
5,3 %
Cross-Section
Dekubitus
Pannier-Fischer et al. 2003
1,2 % / 1 %
Laible et al. 2000
2,68 %
diabetisches Fußulkus
Ulcus cruris häusliche Pflege
Bein-Ulzerationen
Tab. 3.2 Prävalenzdaten zu Patienten mit chronischen Wunden, die im Internet und andere Publikationen aufgeführt sind Autor / Jahr Heyer et al. 2015
Prävalenz 0,4 %
Einrichtung
Entitäten 96 % Ulcus cruris 63 % Dekubitus 43 % diabetisches Fußulkus
BVMed, AOK Hessen 2015
890.000
Versichertenstichprobe
430.000 Ulcus cruris 160.000 Dekubitus 190.000 diabetisches Fußulkus
Barmer GEK Heil- und Hilfsmittelreport 2014
0,28 %
DAK-Daten 2014
1.500.000
Augustin et al. 2012
2 %
Carenetic 2015
2,1 %
Krankenhaus / häusliche 189.000 Dekubitus II – IV / 447.000 Pflege Dekubitus I – IV
Deutsche Dekubitusliga 2007
15–20 %
Krankenhaus / häusliche 750.000 bis 1.500.000 Dekubitus Pflege
DNQP 2008
Dekubitusprävalenz Krankenhaus / Alten5–7 % / 4–6 % / 5,4 % heim / häusliche Pflege
1.250.000 Ulcus cruris
Pelka 1998
3.000.000
1–2 % Dekubitus
210.000 Ulcus cruris
Zufallsstichprobe von 19 % der Gesamtzahl der Versicherten wurden diejenigen Patienten ausgewählt, welche die für chronische Wunden klassischen Indikationen aufwiesen, wie beispiels-
weise die Diagnose gemäß ICD-10, Verordnungen über Hilfs- und Verbandmittel oder Inanspruchnahme von Sachleistungen für häusliche Krankenpflege, Krankenfahrten, Krankengymnastik etc.
3.3 Kosten und Ausblick
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Tab. 3.3 Häufigkeit stationär behandelter Fälle mit der Diagnose diabetisches Fußsyndrom (DFS) / periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK), Ulcus cruris oder Dekubitus. Die Prozentzahl gibt den Anteil der hospitalisierten Fälle an der Gesamtbevölkerung in Deutschland wieder. Jahr 2005
DFS / PAVK 521.987
Ulcus cruris 86.612
Dekubitus 253.850
Total / Prozent 862.449 / 1,07 %
2006
492.275
85.612
278.213
856.100 / 1,06 %
2007
535.097
87.637
311.731
934.465 / 1,15 %
2008
565.331
84.904
345.176
995.411 / 1,23 %
2009
585.913
87.895
391.586
1.065.394 / 1,32 %
2010
594.922
91.150
416.011
1.102.083 / 1,36 %
2011
608.079
91.457
424.597
1.124.133 / 1,39 %
2012
624.345
93.562
401.905
1.119.812 / 1,38 %
2013
648.725
94.057
423.856
1.166.638 / 1,44 %
2014
675.668
98.974
412.990
1.187.632 / 1,47 %
Anschließend wurden die Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland hochgerechnet. Die Studie kommt zunächst auf eine Anzahl von rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland, wovon aber rund zwei Drittel nicht länger als acht Wochen behandelt wurden und somit nicht oder nur grenzwertig als Ergebnis für Patienten mit chronischen Wunden herangezogen werden können. In der Untersuchung wurde ein sogenanntes „Chronizitätskriterium“ verwendet, das vorlag, wenn mindestens zwei wundrelevante Leistungen oder Verordnungen im Abstand von mehr als acht Wochen vorhanden waren. Dabei wurde nur noch rund ein Drittel (892.305) der Patienten ermittelt. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland ergibt sich daraus ein Prävalenzwert von 1,1 %. Die in Deutschland mit chronischen Wunden hospitalisierten Patienten können der DRGStatistik entnommen werden (› Tab. 3.3). In dem angegebenen Zeitraum von 2005 bis 2014 nahm die Häufigkeit einer Hospitalisation wegen einer chronischen Wunden bezogen auf die Gesamteinwohnerzahl in Deutschland von rund 1,07 % im Jahr 2005 auf rund 1,47 % im Jahr 2014 zu. Berücksichtig wurde allerdings ausschließlich Patienten mit diabetischem Fußulkus, PAVK, Ulcus cruris und Dekubitus. Die größte Zunahme von 2005 bis 2014 bei den untersuchten Diagnosen betraf hier die Diagnose Dekubitus mit rund 62,7 %.
Alle Analyse, die auf Sekundärdaten von Krankenkassen und Krankenhausabrechnungssystmen basieren, sind aber keine bevölkerungsbasierten Studien. Sie unterliegen Fehlern bei der Kodierung, sagen wenig über die genaue Ätiologie der Wunden aus und können die Chronizität nur indirekt erfassen.
3.3 Kosten und Ausblick Die Behandlung von Patienten mit chronischen Wunden stellt auf der einen Seite eine hohe qualitative medizinische Herausforderung dar. Auf der anderen Seite ist sie eine ökonomische Herausforderung vor dem Hintergrund steigender Kosten im Gesundheitssystem. Exakte Zahlen über die Anzahl von Patienten mit chronischen Wunden liegen nicht vor. Somit bleibt es auch bei den Zahlen zu den durch Patienten mit chronischen Wunden verursachten direkten und indirekten Kosten bei Schätzungen. Die Kosten setzen sich u. a. zusammen aus: • Stationären Krankenhausaufenthalten • Ambulanten Krankenhausaufenthalten • Häuslicher Pflege • Pflegezeit • Anzahl der Verbandwechsel • Verbandmaterialkosten • Personalkosten
3
24
3
3 Epidemiologie
Die mittleren direkten Kosten der Wundversorgung für einen Patienten mit einem Ulcus cruris aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) wurden zwischen 8.000 und 10.000 € pro Patient und Jahr berechnet. Dies ist im Wesentlichen der langen Behandlungsdauer, der mangelnden Adhärenz der Patienten, falscher Materialanwendung, unzureichender Diagnostik, stationärer Unterbringung, Wundinfektion sowie einer hohen Rezidiv-Neigung nach Abheilung und der Komorbidität der Patienten geschuldet. Darüber hinaus führen die Krankheitskonsequenzen zu indirekten Kosten von volkswirtschaftlicher Bedeutung. Diese sind ebenfalls kaum zu bemessen. Neben den Arbeitsausfalltagen können Patienten langfristig arbeitslos werden, einen sozialen Abstieg erleiden und somit die Sozialkassen belasten. Der demografische Wandel und die damit verbundenen Probleme auf dem Kostensektor stellen das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen im Umgang mit Menschen mit chronischen Wunden. Es ist davon auszugehen, dass die stetige Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung und einer damit steigenden Anzahl von Risikoerkrankungen wie Diabetes, PAVK etc. die Zahl von Patienten mit chronischen Wunden erheblich vergrößern wird und sich die damit verbundenen direkten und indirekten Kosten wesentlich erhöhen werden. Insofern gehört die Lösung des Problems der Heilung von chronischen Wunden zu einem der wichtigen medizinischen Themenfeldern der Gegenwart.
3.4 Fazit Auch wenn die genauen Zahlen zu Inzidenz und Prävalenz von Menschen mit chronischen Wunden in Deutschland unbekannt sind, lassen die vorhandenen Daten die Aussage zu, dass es sich um ein häufiges Problem handelt, das etwa 1 Million Menschen betrifft. Eine systemische Erfassung von Menschen mit chronischen Wunden wäre eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass man den Einfluss der Überalterung der Gesellschaft und der Zunahme von Immobilität, Adipositas und Diabetes mellitus auf die Häufigkeit chronischer Wunden erfassen und die Effektivität moderner Präventionsund Behandlungsstrategien bewerten kann. LITERATUR Augustin M, Brocatti LK, Rustenbach SJ, Schäfer I, Herberger K. Cost-of-illness of leg ulcers in the community. Int Wound J 2014; 11: 283–292. Heyer K, Herberger K, Protz K, Glaeske G, Augustin M. Epidemiology of chronic wounds in Germany: Analysis of statutory health insurance data. Wound Repair Regen 2016; 24: 434–442. Kottner J, Dassen T, Lahmann NA. Pressure ulcers in German nursing homes: Frequencies, grades and origins. Z Gerontol Geriatr 2011; 44: 318–322. Lahmann NA, Dassen T, Kottner J. Frequency of pressure ulcers in german hospitals. Gesundheitswesen 2012; 74: 793–797. Pannier-Fischer F, Rabe E. Epidemology of chronic venous diseases. Hautarzt 2003; 54: 1037–1044. Purwins S, Herberger K, Debus ES et al. Cost-of-illness of chronic leg ulcers in Germany. Int Wound J 2010; 7: 97–102. Schubert I, Ihle P, Köster I. Interne Validierung von Diagnosen in GKV Routinedaten. Konzeption mit Beispielen und Falldefinition. Gesundheitswesen 2010; 72 (6): 316–322.
KAPITEL
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Knut Kröger, Joachim Dissemond
Evidenz und Leitlinien Kernaussagen
• Evidenzbasierte Medizin (EbM) ist eine jüngere Entwicklungsrichtung in der Medizin, die ausdrücklich den Anspruch erhebt, dass bei medizinischen Behandlungen patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden sollen. • Mit dem Aufkommen der EbM traten eine Akzentverschiebung hin zu randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) und eine Hierarchisierung der Wertigkeit von Studientypen auf. So erfahren in der EbM Metaanalysen auf der Basis von RCTs eine besondere Wertschätzung.
4.1 Einführung Evidenzbasierte Medizin (EbM) bedeutet eine „auf Beweismaterial gestützte Heilkunde“. Die EbM ist eine jüngere Entwicklungsrichtung in der Medizin, die ausdrücklich die Forderung erhebt, dass bei einer medizinischen Behandlung patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden sollen. EbM, wenn sie richtig verstanden wird, beschreibt also etwas Selbstverständliches, nämlich die Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundsätze in Diagnostik und Therapie. Der Begriff wurde Anfang der 1990er-Jahre von Gordon Guyatt vom Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics der McMaster University in Hamilton, Kanada, geprägt. Im Jahre 2000 wurde der Begriff „evidenzbasierte Leitlinien“ im Zusammenhang mit strukturierten Behandlungsprogrammen bei Patienten mit chronischen Krankheiten erstmals in das deutsche Sozialgesetzbuch (§§ 137e, 137f, 137g, 266 SGB V) eingeführt.
• Gute Evidenz in der Wundheilkunde ist oft problematisch, da Wunden ein Symptom und keine umschriebene Erkrankung sind, sie verschiedene Stadien durchlaufen und unterschiedliche Therapieansätze aufeinander aufbauen. • Sowohl die ärztlichen Leitlinien als auch die pflegerischen Expertenstandards stellen den aktuellen Standard des medizinischen Handelns dar und sollten Ärzten und Pflegekräften bekannt sein und von ihnen beachtet werden.
Ursprünglich wurde die EbM als Lernkonzept für Ärzte konzipiert, um Übersicht und Transparenz in den täglich wachsenden Datendschungel zu bringen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse kritisch zu bewerten und ggf. rasch in die Praxis umzusetzen. Neu war mit dem Aufkommen der EbM aber eine Akzentverschiebung hin zu randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) und eine Hierarchisierung der Wertigkeit von Studientypen (› Tab. 4.1, › Tab. 4.2). So erfahren in der EbM Metaanalysen auf der Basis von RCTs eine besondere Wertschätzung. Im Gegensatz zu dem ursprünglichen Ansatz des Lernkonzeptes für Ärzte wird heute die EbM in vielen Fällen als ein Instrument für die zentrale Steuerung und Rationalisierung der Medizin mit der Konsequenz einer zunehmenden Verrechtlichung benutzt. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), dessen Aufgabe es ist, den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) dahingehend zu beraten, ob eine medizinische Maßnahme von den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) erstattet werden soll, schreibt auf seiner Homepage: „Die EbM ist eine
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4 Evidenz und Leitlinien
Tab. 4.1 Entsprechend den Empfehlungen der Agency for Healthcare Research and Quality (AHCPR) wird die Evidenz in verschiedene Klassen unterteilt. Metaanalysen beschreiben ein statistisches Verfahren, bei dem systematisch die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zu der gleichen oder sehr ähnlichen Fragestellungen quantitativ zusammengefasst werden. Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) sind bei medizinischen, experimentellen Fragestellungen zumeist das bestmögliche Studiendesign. Wenn eine Studie kontrolliert durchgeführt wird, können die Ergebnisse der Studiengruppe mit den Resultaten einer Kontrollgruppe objektiv verglichen werden. Diese Kontrolle kann beispielsweise mit einem Placebo oder der Standardtherapie durchgeführt werden.
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Tab. 4.2 Einteilung der Evidenz Klasse Ia
Evidenz durch Metaanalysen von mehreren RCTs
Klasse Ib
Evidenz aufgrund von mindestens einer RCT
Klasse IIa
Evidenz aufgrund von mindestens einer hochwertigen, jedoch nicht randomisierten und kontrollierten Studie
Klasse IIb
Evidenz aufgrund von mindestens einer hochwertigen quasi-experimentellen Studie
Klasse III
Evidenz aufgrund gut angelegter, nichtexperimenteller deskriptiver Studien wie etwa Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallkontrollstudien
Klasse IV
Evidenz aufgrund von Berichten der Experten-Ausschüsse oder Expertenmeinungen bzw. klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten
Klasse V
Fallserie oder Expertenmeinung
wichtige Grundlage für die Arbeit des Instituts.“ Weiter wird dort aufgeführt: „Die EbM will • strukturiert und systematisch Antworten auf medizinische Fragen bieten, zum Beispiel, ob eine Behandlung mehr nützt als eine andere. • eine hohe Ergebnissicherheit bei Entscheidungen bieten. Ein Standardelement der EbM ist das systematische Auffinden und Zusammenstellen aller qualitativ angemessenen Studien zu einer Frage. So wird der aktuelle Stand des Wissens zusammengefasst.
• vor Fehlentscheidungen und falschen Erwartun-
gen schützen. Also zum Beispiel vermeiden, dass nützliche Behandlungen nicht in die Versorgung aufgenommen werden oder nutzlose Behandlungen Patientinnen und Patienten schaden können.“ Obwohl viele Entscheider in den verschiedenen gesundheitspolitischen Strukturen sich auf die EbM berufen, reißt die Kritik an der EbM als einzig wahre Sichtweise bis heute nicht ab. Diese Kritik basiert unter anderem darauf, dass „Studien mit großen Zahlen ein statistisch gesehen genaues Ergebnis liefern, von dem man aber nicht weiß, auf wen es zutrifft. Studien mit kleinen Zahlen liefern ein statistisch gesehen unbrauchbares Ergebnis, von dem man aber besser weiß, auf wen es zutrifft.“ Je mehr Daten in großen Studien zusammengezogen werden, umso schwieriger ist es, den Durchschnittspatienten der Studie mit einem speziellen Patienten zu vergleichen. So sind Studien mit einer großen Anzahl von Patienten nicht ohne Weiteres auf einen speziellen Einzelfall anwendbar.
4.2 Leitlinie oder Expertenstandard 4.2.1 Leitlinien Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in seinem Sondergutachten 1995 gebeten, die Entwicklung von Standards, Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften voranzutreiben und zu koordinieren. Die Entwicklung der Leitlinien erfolgt aufgrund der Initiative und – sofern bei der publizierten Leitlinie nicht anders angegeben – aus Eigenmitteln der Fachgesellschaften. Die Leitlinien der AWMF sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen (› Tab. 4.3). Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in
4.3 Evidenz in der Wundheilkunde Tab. 4.3 Methodische Einteilung von Leitlinien entsprechend der Stufenklassifikation des AWMFRegelwerks S1
Handlungsempfehlungen von Expertengruppen
S2k
Konsensbasierte Leitlinie
S2e
Evidenzbasierte Leitlinie
S3
Evidenz- und konsensbasierte Leitlinie
der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die Leitlinien sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.
4.2.2 Expertenstandards Unter Federführung des Deutschen Netzwerks zur Qualitätssicherung in der Pflege (DNQP) setzte die Entwicklung von Expertenstandards in Deutschland schon Ende der 1990er-Jahre ein. Derzeit existieren mehre nationale Expertenstandards, die wie die ärztlichen Leitlinien nach circa fünf Jahren aktualisiert werden. Dazu gehören beispielsweise der Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der Pflege (2. Aktualisierung 2017) und der Expertenstandard Pflege von Menschen mit chronischen Wunden (1. Aktualisierung 2015). Der Gesetzgeber hat mit dem 2008 in Kraft getretenen Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (§ 113a SGB XI) die Erarbeitung und Aktualisierung der Expertenstandards den Vertretern von Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen überlassen. Damit werden die Expertenstandards unmittelbar mit deren Veröffentlichung im Bundesanzeiger verbindlich. Diese strikte Trennung zwischen ärztlichen Leilinien und pflegerischen Expertenstandards ist klinisch vollkommen unverständlich und eher traditionell erklärbar. Heute lähmt sie eher das Miteinander in der Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden, da die jeweils andere Profession von den Inhalten der Leitlinien bzw. Expertenstandards nichts oder nur wenig weiß.
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4.3 Evidenz in der Wundheilkunde Evidenz in der Wundheilkunde ist als Begriff mit vielen Problemen vergesellschaftet, da Wunden ein Symptom und keine umschriebene Erkrankung sind, Wunden verschiedene Stadien durchlaufen und unterschiedliche Therapieansätze aufeinander aufbauen können. Zudem sind alternative Therapieansätze möglich, die wiederum unterschiedlich komfortabel, effektiv und wirtschaftlich sind. Bei den meisten in der Wundtherapie verwendeten Produkten handelt es sich um Medizinprodukte. Als Medizinprodukte bezeichnet man Gegenstände oder Stoffe, die zu medizinisch-therapeutischen oder diagnostischen Zwecken für Menschen verwendet werden. Hierbei ist die bestimmungsgemäße Hauptwirkung im Unterschied zu Arzneimitteln primär nicht pharmakologisch, metabolisch oder immunologisch, sondern meist physikalisch oder physikochemisch. Die Einteilung von Medizinprodukten erfolgt in verschiedene Klassen (› Tab. 4.4). Zugelassen werden Wundprodukte meist nach dem Medizinprodukte-Gesetz (MPG). Dieses legt den Anwendungsbereich fest, fordert eine biologische Sicherheitsprüfung und überprüft die Einhaltung der allgemeinen Vorschriften zur Durchführung der Konformitätsbewertung. Damit garantiert das MPG, dass das Produkt keinen biologischen Schaden anrichtet und in definierter Qualität auf den Markt kommt. Zusätzlich verlangt das MPG in § 19 einen Beleg der Eignung von Medizinprodukten für den vorgesehen Verwendungszweck durch eine entsprechende klinische Bewertung. Die klinische Bewertung beruht auf klinischen Daten, die sowohl Sicherheits- als auch Leistungsangaben, die aus der Verwendung des Medizinproduktes hervorgehen, beinhalten. Klinische Daten stammen aus folgenden Quellen (§ 3 Nr. 25 MPG): • einer klinischen Prüfung des betreffenden Medizinproduktes oder • klinischen Prüfungen oder sonstigen in der wissenschaftlichen Fachliteratur wiedergegebenen Studien über ein ähnliches Produkt, dessen Gleichartigkeit mit dem betreffenden Medizinprodukt nachgewiesen werden kann, oder
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4 Evidenz und Leitlinien
Tab. 4.4 In der Europäischen Union werden Medizinprodukte durch den Anhang IX der Richtlinie 93 / 42 / EWG eingeteilt. Klasse I Eigenschaften Geringe Anwendungsrisiken, geringer Invasivitätsgrad, kein oder unkritischer Hautkontakt Verbandmittel Mechanische Barriere, Kompression, Absorption von Exsudat Einsatz bei oberflächlichen Wunden (Erosionen) Beispiele
Saugkompressen, Kompressionsstrümpfe
Klasse IIa Eigenschaften Mittleres Anwendungsrisiko, mäßiger Invasivitätsgrad
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Verbandmittel Beeinflussung des Mikromilieus einer Wunde Einsatz bei oberflächlichen Wunden (Erosionen) Beispiele
Einmalspritzen, Polyurethan-Filmverbände
Klasse IIb Eigenschaften Erhöhtes Anwendungsrisiko, systemische Wirkung Verbandmittel Einsatz bei Wunden, bei denen die Dermis durchtrennt ist (Ulkus), sekundäre Wundheilung Beispiele
Alginate, Hydrogele
Klasse III Eigenschaften Hohes Anwendungsrisiko, implantierbar und / oder hochinvasiv Verbandmittel Medizinprodukte mit unterstützender arzneilicher Wirkkomponente und / oder tierischen Bestandteilen Einsatz z. B. bei infektionsgefärdeten / infizierten Wunden Beispiele
Silberverbände, Verbände mit Kollagen / Hyaluronsäure
• veröffentlichten oder unveröffentlichten Be-
richten über sonstige klinische Erfahrungen entweder mit dem betreffenden Medizinprodukt oder einem ähnlichen Produkt, dessen Gleichartigkeit mit dem betreffenden Medizinprodukt nachgewiesen werden kann. Unabhängig von dieser Zulassung werden in der Wundheilkunde Produkteigenschaften („Claims“)
beworben, die von den Herstellern auf der Basis der Produktentwicklung als vorteilhaft herausgestellt werden. Der klinische Anwender muss diese verschiedenen Produktvorteile abwägen und die anfallenden Kosten ggf. begründen können. Dieser Bewertungsdruck führt zu dem Ruf nach einer studienbasierten Evidenz (› Tab. 4.2).
4.4 Randomisierte kontrollierte Studien in der Wundheilung Obwohl der Ruf nach RCTs laut ist, muss man sich im Zusammenhang mit der Behandlung von Patienten mit chronischen Wunden die Frage stellen, wie sinnvoll Erkenntnisse aus solchen Studien sind. Hier sind sowohl Aspekte der Patientenselektion, Verblindung, Standardisierung und auch der Endpunkte anzusprechen. Im Folgenden werden daher einige der zur Diskussion stehenden Kritikpunkte im Sektor Wundheilung dargestellt. • Eine Verblindung ist bei pharmakologischen Studien durch die Einnahme von gleichartigen Medikamenten ohne Wirkstoff (Placebos) einfach möglich. Eine Verblindung bezogen auf Wundprodukte setzt voraus, dass diese rein optisch nicht zu unterscheiden sind. Dies ist nur in seltenen Fällen wirklich gegeben. Bei physikalischen Methoden wie beispielsweise der Vakuumtherapie ist eine Verblindung quasi nicht möglich. • Auch wenn allgemein von Wundheilung gesprochen wird, gibt es Wunden unterschiedlicher Genese. So kann ein Ulcus cruris venosum nicht 1:1 mit arteriellen Wunden oder einem Dekubitus verglichen werden. Die Art der Wunde und das Ausmaß der Grunderkrankung haben einen großen Einfluss auf die Heilungschance. RCTs sollten deshalb nur eine wohl definierte Entität chronischer Wunden einschließen. Die Ergebnisse von Studien dieser Entität können dann auch nicht ohne Weiteres auf andere Entitäten übertragen werden. • Um für RCTs eine möglichst homogene Population von Probanden zu generieren, werden vorab Ein- und Ausschlusskriterien beschrieben. Patienten z. B. mit bestimmten Komorbiditäten
4.5 Fazit oder einer langen Ulkus-Bestanddauer können oft nicht in Studien eingeschlossen werden. Somit bilden RCTs meist eine Art der „Positivselektion“ von Patienten und nicht die Realität ab. • Als optimaler Endpunkt einer Studie zum Nutzen eines Wundproduktes wird meist die vollständige Abheilung gefordert. Ähnlich den pharmakologischen Studien, in denen Endpunkte wie Mortalität oder Herzinfarkt als Endpunkte definiert werden, wäre die vollständige Abheilung ein harter Endpunkt. Wundheilung braucht Zeit und nicht alle Wunden sind schließlich zur Abheilung zu bringen. Endpunkte wie Lebensqualität, Débridement, Schmerzfreiheit oder Reduktion des Antibiotikaverbrauchs spielen in der bisherigen Betrachtung eine untergeordnete Rolle. Zudem werden in einer phasenadaptierten Wundbehandlung meist verschiedene Wundheilungsprodukte eingesetzt, sodass die Bewertung eines Bestandteils der komplexen Therapie oft schwierig ist. • Die Wundbehandlung ist nicht wie in pharmakologischen Studien durch einfache Einnahme der Studienmedikation durch den Patienten möglich. Die Betreuung durch einen Wundexperten mit einer standardisierten Versorgung ist erforderlich und macht eine enge regionale Anbindung notwendig. Alle aufgeführten Aspekte erschweren die Durchführung von RCTs zu den verschiedenen Ansätzen der Wundheilung und erfordern ein Umdenken, um die Voraussetzungen für praxisrelevante Bewertungen zu schaffen. Eine gemeinsame Definition über gesundheitspolitisch interessante Endpunkte fehlt derzeit. Der G-BA hat in der Sitzung vom 19.4.2018 den Entwurf zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) verabschiedet. Hier werden die vom Gesetzgeber im neuen Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) geforderten Angrenzungs-
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kriterien zur Erstattungsfähigkeit von Verbandmitteln beschrieben. Danach sind erstattungsfähige Verbandmittel Produkte, die dazu bestimmt sind, oberflächengeschädigte Körperteile zu bedecken oder deren Körperflüssigkeit aufzusaugen. Alle anderen Verbandmittel, die mit Zusatzeigenschaften werben, müssen im Sinne der EbM diese Zusatzeigenschaften zukünftig in Studien mit hoher Evidenz belegen, um eine Erstattungsfähigkeit zu erreichen.
4.5 Fazit Falls für die jeweilige Thematik aktuelle Leitlinien und / oder Expertenstandards bestehen, die eine vorhandene gute Evidenz berücksichtigen, sollten diese grundsätzlich bekannt sein und ggf. mit in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Im Bereich der Wundbehandlung gibt es aktuell aber diesbezüglich eine Reihe von Limitationen, sodass viele Abläufe in der täglichen Praxis weiterhin auf individuellen Erfahrungswerten beruhen müssen. Wünschenswert ist, dass es zukünftig mehr hochwertige Evidenz aus wissenschaftlichen Studien, beispielsweise auch aus Register-Studien, gibt, die eine gute Grundlage für die Umsetzung einer EbM im Bereich der Wundheilung bilden. LITERATUR Baethge C. Evidenzbasierte Medizin in der Versorgung angekommen, aber noch nicht heimisch. Dtsch Arztebl 2014; 111: 1636–1640. Guyatt GH. Evidence-based medicine. ACP J Club 1991; 114: 16. Kienle GS. Evidenzbasierte Medizin und ärztliche Therapiefreiheit – vom Durchschnitt zum Individuum. Dtsch Arztebl 2008; 105: 1381–1384. Windeler J. Real World Data – Adaptive pathways: Wohin führt der Weg? Z Evid Fortbild Qual Gesundh Wesen (ZEFQ) 2016; 112: 1–2.
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KAPITEL
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Gernold Wozniak, Alexander Risse
Ethik Kernaussagen
• Ethische Grundhaltungen beeinflussen wesentlich das ärztliche Handeln und sind daher dem technischen Können vorlaufend. • Menschen haben ein Grundrecht auf selbstschädigendes Verhalten. • Patientenführung ist nicht Aufgabe der Ärzte. Gesundheitsfürsorge ist kein bloßes Geschäft. Patienten sind nicht nur Kunden und Ärzte sind keinesfalls Maschinisten der Medizin.
O‘Donovan 2003
5.1 Einführung Ethik Immanuel Kants Definition der Philosophie nach dem Weltbegriff umfasst die Fragen: Was kann ich wissen? (Metaphysik) Also die Beschäftigung mit der Frage: Was steckt dahinter? Heute bestimmend ist die naturwissenschaftliche Metaphysik, die hinter den Phänomenen, z. B. Patientenbeschwerden, die entsprechenden pathophysiologischen Konstrukte erstellt. Große Teile dieses Buches beschäftigen sich hiermit. Nicht zu vergessen, dass für den Patienten nicht das organische Korrelat entscheidend ist, sondern die Beschwerde. Der Begriff „bloß subjektiv“ führt in die Irre. Die Beschwerde führt den Patienten zum Arzt, seine „subjektive Tatsächlichkeit“, nicht die „objektive“, messbare Störung: Der Patient kommt nicht und klagt: „Doktor, bitte helfen Sie mir, meine Nervenleitgeschwindigkeit hat abgenommen.“ Gleichermaßen sind Schmerzen nicht „bloß subjektiv“, sondern sie bestehen peinigend für den Patienten. Die Applikation von Kochsalztabletten, oder -lösungen ist daher unmoralisch (wenngleich Placeboeffekte nachweislich hochwirksam sind).
• Nihil nocere und Schmerzbekämpfung sind oberste ethische Maximen in der ärztlichen Behandlung. • Ethisches Handeln ist bedroht durch ökonomische Zwänge.
Was darf ich hoffen? Dies sind die Fragen der Religion, also Fragen nach einem personifizierten Gott oder einem Weltgeist; keine Themen dieses Buches. Was ist der Mensch? (Anthropologie) Die Beschäftigung mit der Beschaffenheit des Menschen. Im alteuropäischen, postaristotelischen Vergegenständlichungshorizont wird der Mensch üblicherweise als aus Körper(-maschine) und Seele (modern: Bewusstsein) zusammengesetzt konstruiert („anthropologischer Dualismus“, „psychosomatische Medizin“). Dieses Konzept hat zu bahnbrechenden Erkenntnissen und Behandlungsmethoden geführt, kommt aber im Verständnis von Menschen mit diabetischem Fußsyndrom (DFS) erwartungsgemäß an seine Grenzen. Was soll ich tun? (Gegenstandsgebiet der Ethik und Moral) Moral beschreibt die Sitten und die Sittlichkeit menschlichen Handelns. Die wertende Beurteilung der Handlungsweisen und ihrer Beziehung zu Normen erfolgt durch die Ethik. Normen sind Programme für möglichen Gehorsam: Imperativistische Normen beruhen in ihrer Geltung auf einem Befehl (Gesetz, in gewissen Grenzen wissenschaftliche Leitlinien); nichtimperativistische Normen haben Geltung ohne Befehl, z. B. gesellschaftlicher Takt oder Konventionen des Umgangs mit Patienten. Neben unverbindlichen Normen (Kochrezepte, Spielregeln) gibt es verbindliche Normen, die entweder mit automatischer oder
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5 Ethik
exigenter Nötigung ausgestattet sind. Sie gründen sich in der Autorität von Gefühlen (Zorn und Scham) und sind gleichzeitig die Grundlagen jeder Rechtsordnung und des Rechtsbewusstseins. Ethik hat keine Hoffnung auf absolute Werte oder auf notwendig immer für alle geltende Normen. Das Gelten jeder Norm ist in doppeltem Sinne relativ: 1. Auf den Adressaten, dem die Norm etwas abverlangt 2. Auf den Anhänger, für den sie verbindlich oder unverbindlich gilt Eine Norm kann nur in der Perspektive eines Menschen, der einer auf sie (als einzelne oder als integrierte) bezüglichen exigenten Nötigung ausgesetzt ist, verbindlich gelten. Für die Geltung von ethischen Maßstäben, für ethisch richtige Handeln müssen die Adressaten (hier: Wundtherapien) beschämbar sein. Schamlosigkeit besteht zudem nur, wenn Verhaltensweisen in einer Denkstilgemeinschaft (z. B. Wundbehandler) als sittlich gelten. Fehlen von Scham spiegelt (unethisches) Verhalten als in eine Denkstilgemeinschaft integriert (Medizin). So ist z. B. das Benutzen von militärischen Ausdrücken gegenüber Patienten („Patient verweigert …“) oder die Reduktion von Patientinnen auf Kategorien („Wenn Du chronisch krank bist, wirst Du zu ‚Icker‘ [Diabetiker].“) in sämtlichen medizinischen Hierarchien üblich und gilt als unanstößig. Als sittlich geltende Sprache ist zudem stark zeitabhängig: In den 1990er-Jahren waren Begriffe wie „Negerkuss“, „Gastarbeiter“, „Putzfrau“ Sitte. Zum gleichen Zeitpunkt galt bei Diabetologen der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) der Begriff „Diabetiker“ als entwertend und wurde per Vorstandsbeschluss durch den Begriff „Menschen mit Diabetes“ ersetzt. 20 Jahre später sind „Neger“-Präfixe verschwunden, die „Mohren“-Apotheke soll ihren Namen ändern, aber der „Diabetiker“ ist beim Fachpersonal, wie auch bei den Betroffenen selbst, flächendeckend zurück – unhinterfragt; begleitet von dem „Asthmatiker“, dem „COPDisten“, der „Gallenblase auf Zimmer 17“ etc.
5.2 Medizinethik Vier Prinzipien ethischen Handelns in der Medizin werden wiederholt zitiert und auch benannt als das „Georgetown-Mantra“:
1. Selbstbestimmungsrecht des Patienten (Patientenautonomie / Respect for Autonomy) Jeder Mensch hat das Recht auf eigene Ansichten sowie das Recht, eigene Entscheidungen zu fällen und nach seinem Lebensstil und den eigenen Wertvorstellungen zu handeln. Dies gilt insbesondere für Eigenarten, die den habituellen Gewohnheiten der traditionellen alteuropäischen Medizin und Pflege zuwiderlaufen: schnelles Autofahren, Skilaufen, Inhalationsrauchen, regelmäßiger Alkoholgenuss, wenig Eigenbewegung bei gleichzeitig schmackhafter, hochkalorischer Ernährung. Ethisch handeln heißt, nicht in den Lebensstil des Patienten einzugreifen, nicht zu versuchen, ihn zu korrigieren, sondern sich auf die somatologischen Notwendigkeiten (z. B. sachgerechte Kompressionstherapie) zu beschränken. Bemerkungen zum Körpergewicht oder zur Schädlichkeit des Rauchens sind nicht nur unethisch, sondern auch inhaltlich redundant und daher überflüssig. Informed Consent bedeutet, dass sich Behandler und Patient auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, i. e. dass der Patient erstens die Vorschläge verstanden hat und zweitens diese Vorschläge in seinem Lebenszusammenhang auch umsetzbar sind. 2. Prinzip der Schadensvermeidung (nihil nocere / nonmaleficence) Schadensvermeidung bedeutet: Fortbildungspflicht bis an die Grenzen der physischen Erschöpfbarkeit, lebenslanges Lernen und Üben für die Behandler. Es setzt die Kenntnis der medizinischen Grundlagen für die Behandlung voraus (die Leitlinie sollte gelesen und verstanden worden sein), einschließlich der kritischen Stellung zu Empfehlungen: Therapie „nach Art des Hauses“ („Haben wir immer so gemacht“, „Hat sich bei uns bewährt …“) ist unmoralisch, induziert leider selten Scham auf Seiten der Akteure. Schadensvermeidung bedeutet auch: Enthaltung vor unethischer medizinischer Neugier, besonders aber Verhinderung von Maßnahmen, die für das Krankenhaus / den Therapeuten finanziell lukrativ, medizinisch aber ungedeckt sind: „Hippokrates wusste noch nichts von individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL).“ Eine Schweizer Arbeitsgruppe um den Philosophen Jean-Pierre
5.3 Praktische Ethik für die Behandlung von Menschen mit chronischen Wunden Wils hat daher einen neuen Eid für die Medizin erstellt (Arbeitsgruppe 2015). Darin heißt es u. a.: „Ich betreibe eine Medizin mit Augenmaß und empfehle oder ergreife keine Maßnahmen, die nicht medizinisch indiziert sind.“ Aber – die Zahl der finanziell sehr lukrativen Hüft- und Kniegelenksoperationen steigt unaufhaltsam. Auf 100.000 Einwohner kommen in Deutschland zum Beispiel 624 Herzkatheter-Eingriffe, im OECD-Durchschnitt sind es mit 177 weniger als ein Drittel usw. 3. Prinzip der Fürsorge (beneficence) Informed Consent und Patientenautonomie gelten dann, wenn der Patient zu Entscheidungen in der Lage ist. Dies ändert sich dann, wenn die Patienten aufgrund z. B. von Demenz oder z. B. Leibesinselschwund (s. u.) externe Hilfe benötigen. Schleichende Übergänge bei beginnender Demenz sind schwierig zu diagnostizieren und erfordern vom Therapeuten zumindest basale psychopathologische Kenntnisse. Auch im Bereich der Fürsorge gilt, dass Äquivalente direktiver Psychotherapie zu Regression des Patienten führen und jeweils differenziert erwogen werden müssen. Während das Prinzip der Fürsorge im individuellen Kontakt mit Patienten aktives Eingreifen des Therapeuten fordert – dies idealerweise ohne Übergriffigkeit – , bezieht es sich im gesellschaftlichen Kontext auch auf Maßnahmen der Prävention. Die Dimensionen von Verhaltens-, noch mehr jedoch der sogenannten Verhältnisprävention induzieren häufig Größenfantasien seitens der Protagonisten und können an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. 4. Soziale Gerechtigkeit (justice) Der ursprüngliche hippokratische Eid bezieht sich auf „Nutzen und Frommen der Kranken“, impliziert damit wohl auch die Gleichbehandlung aller ohne Rücksicht auf soziale Stellung. Rezente Entwicklungen der Ökonomisierung, Merkantilisierung und des Übergangs der Entscheidungsmächte von Ärzten zu Controllern und Aktienhaltern zwingen hier zu Diskussionen über die gerechte Verteilung zunehmend knapper werdender Ressourcen an die Patienten, aber auch über die Konsequenzen für die Therapeuten. In Deutschland führte die Einführung der Kopfpauschalen für Patienten (DRG) zu einer
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drastischen Verkürzung der Krankenhausliegezeiten und zur sogenannten „blutigen“ bzw. „englischen“ Entlassung: noch vor ausreichender Genesung in die unstrukturierte ambulante Versorgung überstellt, ggf. aus Abrechnungsgründen, anschließend unter geänderter Diagnose erneut aufgenommen. Die gleichzeitig marketinggesteuerte Anwerbung von Patienten, z. T. zu medizinisch unnötigen Interventionen, führt somit insgesamt zur klassischen Bordellsituation. Die Kurztaktung der Pflegemaßnahmen im ambulanten Bereich, gerade bei der Wundversorgung, sowie Versorgung und Verwahrung in den Altenheimen, z. T. mit tödlichen Folgen, ist – gemessen an den ökonomischen Möglichkeiten der industrialisierten Staaten – skandalös. Medizinethiker und -historiker verweisen zunehmend auf diese Entkernung des medizinischen und pflegerischen Bereichs. Bestrebungen, den hippokratischen Eid zu modifizieren und der Heuschreckenorganisation des Gesundheitswesens zumindest in ethischer Hinsicht ein Gegengewicht zu bieten, sind wohlgemeint, angesichts der gleitenden Macht der Ökonomie aber prekären Standes.
5.3 Praktische Ethik für die Behandlung von Menschen mit chronischen Wunden Wenn also Moral die Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen und Werten beschreibt, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren und die von ihr als verbindlich akzeptiert werden, und wenn weiter festzuhalten ist, dass für den Bereich der Medizin natürlich die vier Prinzipien des Georgetown-Mantras eher die Rahmenbedingungen unseres medizinischen Handelns bestimmen, dann sind diese aber nicht herausgelöst aus der Grundsätzlichkeit von Moral zu betrachten. Sie sind in ihr geborgen und auch daraus geboren. Diese vier Prinzipien sind keineswegs konfliktlos untereinander, aber dieser Anspruch wird auch nicht erhoben. Sie verlieren zudem nicht ihre Bedeutung,
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5 Ethik
wenn ein Aspekt die Handlung leitet, jedoch einen anderen in seiner Verwirklichung hindert, wenn z. B. der Respekt des Behandlers vor der Patientenautonomie den Grundsatz der Schadensvermeidung nur bedingt oder sogar gar nicht umsetzbar macht. Nicht jedes Behandlungsszenario erlaubt also die gleichwertige Berücksichtigung der vier Prinzipien des Georgetown-Mantras. Die Frage nach „richtig oder falsch“ in einer Behandlung lässt sich in der Regel medizinischfachlich nachprüfen und auf der Basis von Leitlinien, Handlungsempfehlungen oder schlicht Evidenz bewerten. Die Frage nach „gut oder schlecht“ in einer Behandlung beurteilt dagegen eine medizinische Sachlichkeit vor dem Hintergrund (einer) der heilberuflichen Moral, die aber eben ihrerseits in ein gesellschaftliches Moralbild eingepasst ist. Genau hier ergeben sich verschiedene Spannungsfelder für die, die eine Behandlung (initiieren, durchführen, beenden) verantworten (müssen). 1. Heilberufliche Moral ist / wird bestenfalls tradiert und nicht gelehrt. 2. Die Rahmenbedingungen für unser medizinisches Handeln sind politisch und / oder gesellschaftlich initiiert und werden erschaffen unter der Voraussetzung einer zugrunde liegenden heilberuflichen Moral, ohne dass diese aber tatsächlich Berücksichtigung findet. 3. Eine Änderung der Gesellschaftsstruktur hinsichtlich Alter, Erkrankungsinzidenzen etc. und / oder die Änderung des gesellschaftlichen Moralbildes, in das dann die heilberufliche Moral nicht mehr gut passen mag. Die Aussicht auf grundlegende Veränderung unserer zunehmend aufgezwungenen Ökonomisierung ist gering. Daher ist es nicht sehr sinnvoll, diese als notwendig empfundene Änderung bei anderen vermeintlich „Verantwortlichen“ (Politik oder Berufsvertretung) anzumahnen, denn von dort hat es zwar immer wieder kleinere Korrekturen, aber eigentlich nie die grundsätzlichen Veränderungen gegeben. Die offensichtlich neuen „Verantwortlichen“ (Shareholder, Betriebswirte, Krankenkassen …) entbinden sich aber wohl von dieser aktiven Verantwortung, indem sie via Ökonomisierung ein neues marktorientiertes Regulativ von Angebot und Nachfrage eingebracht haben.
Dass sich die „neuen Verantwortlichen“ auf diese einfache Art die Hände reinwaschen können, wird sich durch unsere empfundene Misere und geäußerten Mahnungen nicht beenden lassen, ohne dass nicht andere Aspekte – plötzlich von ungeahnter Bedeutung – das Regulativ von Angebot und Nachfrage doch infrage stellen. Eines der wesentlichen Probleme der aktuellen Situation, der vorhandene und noch weiter drohende Fachkräftemangel, stellt dabei einen solchen neuen Aspekt in unserem Sinne dar, denn plötzlich sind wir Mangelware und die Regeln des Marktes machen uns zu einem wichtigen Gut. Dieser Umstand gibt uns die Möglichkeit, etwas an dem Konflikt zwischen Ökonomisierung und heilberuflicher Moral zu arbeiten. Richtig bedacht stellen beide Begrifflichkeiten ja keinen Widerspruch in sich dar oder gar einen Ausschluss. Damit aber Konflikte auch „heilbar“ werden, müssen wir authentisch sein und bleiben. In Zeiten, in denen die Marktsituation uns große Probleme bereitet, dürfen wir nicht auf den Konflikt zur heilberuflichen Moral verweisen und damit argumentieren, um uns dann in Zeiten einer veränderten Marktsituation – denn nun werden wir Mangelware – wie ein Heer von Söldnern zu verhalten. Ethics and equity and the principles of justice do not change with the calendar. D. H. Lawrence
LITERATUR Arbeitsgruppe der „Stiftung Dialog Ethik“. Schweiz Ärztebl 2015; 25: 930–934. Beauchamp T, Childress J. Principles of biomedical ethics. 6th ed. Oxford: University Press, 2008. Gallagher SM. The ethics of compassion. Ostomy Wound Manage 1999; 45: 14–16. Wils JP. Ärztlicher Ethos, Zeit für einen neuen Eid. Dtsch Arztebl 2017; 114: A-358. Schmitz H. Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn: Bouvier, 1990. Strech D, Börchers K, Freyer D, Neumann A, Wasem J, Marckmann G. Ärztliches Handeln bei Mittelknappheit. Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie. Ethik Med 2008; 20: 94–109. Unschuld PU. Das System droht zu entgleisen. Dtsch Ärztebl 2017; 114: 2264–2266. Wehkamp KH, Naegler H. Ökonomisierung patientenbezogener Entscheidungen im Krankenhaus. Dtsch Ärztebl 2017; 114: 797–804.
KAPITEL
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Volker Großkopf
Recht – wer darf was? Kernaussagen
• Die Diagnose und die Therapieentscheidung liegen beim Arzt. • Im Rahmen seiner Anordnungsverantwortung kann der Arzt die Versorgung der Wunde an nichtärztliches Fachpersonal delegieren. • Sollten der angewiesenen Pflegekraft jedoch Anhaltspunkte auffallen, die erkennen lassen, dass die ärztliche Anweisung „falsch“ ist, darf
6.1 Einführung Die explosionsartige Vermehrung des medizinischen Fachwissens hat in den letzten Jahrzehnten nicht vor den Prinzipien der Behandlung von Patienten mit akuten und chronischen Wunden haltgemacht. Insbesondere haben sich die beschleunigte Re epithelisation durch feuchtigkeitserhaltende Wund auflagen, die Vakuumtherapie oder das Ein setzen von Fliegenmaden als zukunftsträchtige Behandlungsalternativen gegenüber der klassischen Wundbehandlung erwiesen. Die individuelle und phasengerechte Auswahl des geeigneten Wundver sorgungssystems hat dem klinischen und ambulanten Alltag große Therapieerfolge beschert. Im Umkehr schluss bedeutet dies jedoch, dass die Vornahme einer nicht indizierten, risikoreichen Maßnahme den Heilungsprozess verzögern oder verhindern kann.
6.2 Prinzipien der interdisziplinären Zusammenarbeit Wegen des erhöhten Gefährdungspotenzials für den Patienten und der auf dieser Basis vorzunehmenden Risikoeinschätzung des Heilungsverlaufs wird die Behandlung chronischer Wunden dem Bereich der
der Angewiesene sie nicht blind befolgen, sondern muss den Anweisenden darüber infor mieren. • Bei Unstimmigkeit bezüglich der vorzu nehmenden Wundbehandlung zwischen den handelnden Protagonisten ist zugunsten der Patientensicherheit zwingend eine Klärung herbeizuführen. Behandlungspflege zugeordnet. Die Diagnose und die Therapieentscheidung liegen demgemäß beim Arzt. Im Rahmen seiner Anordnungsverantwortung kann der Arzt die Versorgung der Wunde an nichtärzt liches Fachpersonal delegieren. Im DNQP-Experten standard „Pflege von Menschen mit chronischen Wunden“ wird darauf hingewiesen, dass die be handlungsspezifische Versorgung der Wunde durch hinreichend ausgebildetes und geschultes Fachper sonal zu erfolgen hat. Bezogen auf die Haftungs sphären der beiden Berufsgruppen bedeutet dies: • Der Arzt haftet für die konkrete Festsetzung der sachadäquaten Wundversorgungstherapie (ärztliche Durchführungsverantwortung) sowie für die ordnungsgemäße Delegation dieser Maß nahme an entsprechend formell und materiell qualifiziertes Pflegepersonal (ärztliche Anord nungsverantwortung). • Die Pflegekraft hingegen haftet für die sachund fachgerechte Ausführung der delegierten Maßnahme (pflegerische Durchführungsverant wortung).
6.2.1 Problemstellung Remonstration Der bei der Delegation anzulegende Sorgfaltsmaß stab des delegierenden Arztes hat sich dabei an den Fähigkeiten und Kenntnissen des Delegaten
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6 Recht – wer darf was?
zu orientieren. Eine in der Wundbehandlung aus gebildete Pflegekraft wird mithin an ihrem speziellen Ausbildungs- und Kenntnisstand gemessen. Ent spricht das delegierte Aufgabenkonvolut dem Aus bildungs- und Kenntnisprofil der Pflegekraft, ist die Anordnungsverantwortung des delegierenden Arztes als sachadäquat anzusehen. Die Eigenhaftung der handelnden Pflegekraft orientiert sich spiegelbildlich am Profil der jewei ligen Ausbildungsordnung und der individuellen tatsächlichen Fachkenntnisse. Dies bedeutet für die handelnde Pflegekraft, dass sie bei jeder Aufgabenübertragung sich kritisch zu hinterfragen hat, ob sie die zur Delegation stehende Aufgabe auf grund ihrer Ausbildung und tatsächlichen Kenntnisse auch sach- und fachgerecht ausführen kann. Sollte sie im Rahmen dieser Eigenprüfung zu dem Schluss ge langen, dass sie hierzu nicht in der Lage ist, muss sie von ihrem Remonstrationsrecht Gebrauch machen und den Anweisenden darüber in Kenntnis setzen, dass sie sich nicht imstande fühlt, die übertragende Aufgabe fehlerfrei auszuführen. Eine solche Ver weigerung kann dem Delegaten arbeitsrechtlich nicht zur Last gelegt werden, weil im Rahmen der Dritt verantwortung – zum Schutze des Patienten – eine solche Vorgehensweise geboten ist. Denn sollte aus der widerspruchslosen Ausführung der übertragenen Aufgabe dem Patienten eine Rechtsgutverletzung zugefügt werden, wird die ausführende Pflegekraft wegen des sogenannten „Übernahmeverschuldens“ zur Verantwortung gezogen.
6.2.2 Problemstellung Delegation Ein weiteres Problem im Rahmen der Auf gabendelegation tritt dann auf, wenn die ärzt licherseits delegierte Behandlungsmaßnahme von der auszuführenden Pflegekraft als fehlerhaft ein geschätzt wird. In einer nach Aufgabenbereichen geteilten medizinischen Behandlungssituation ist die Abstimmung und Koordinierung des ärztlichen Therapiekonzeptes eine zentrale Qualitätsanfor derung. Zu verlangen ist daher, dass jede Phase der Wundheilung zwischen dem Arzt und der Pfle gekraft mit dem Gesamtkonzept der Behandlung abgeglichen wird (› Abb. 6.1). In vielen Fällen belegt der Praxisalltag jedoch, dass diese dringliche interdisziplinäre Kommunikation mitunter Defizite aufweist und von unterschiedlichen Auffassungen bei der Anwendungsauswahl der geeigneten Wund versorgungsmaßnahmen geprägt ist. Aus den Erwägungen des Patientenschutzes sollte die Pflegekraft allerdings zwingend ihre Bedenken bezüglich der vom Arzt angeordneten Behand lungsmaßnahme dem anweisenden Arzt mitteilen. Fraglich ist nunmehr, ob bei Nichtbeachtung der pflegerischen Einrede dem Delegaten wiederum ein Verweigerungsrecht bezüglich der Aufgabenaus führung zusteht. Diese Frage lässt sich nur unter Heranziehung des Delegationsgrundsatzes beant worten. Hiernach darf der „Angewiesene“ grund sätzlich darauf vertrauen, dass die ärztlicherseits erteilte Anweisung sach- und fachgerecht erfolgt ist.
Abb. 6.1 Verantwortungszuordnung [P574/L231]
6.3 Gesetzliche Entwicklungen Aus diesem Grunde besteht seitens des Delegaten keine Überprüfungsverpflichtung hinsichtlich der Richtigkeit der ärztlichen Anweisung. Fehler der Therapieauswahl sind somit der ärztlichen Durch führungsverantwortung zuzuweisen. Sollten der angewiesenen Pflegekraft jedoch Anhaltspunkte auffallen, die erkennen lassen, dass die ärztliche Anweisung „falsch“ ist, darf der Angewiesene sie nicht blind befolgen, sondern muss den Anweisenden hierüber in Kenntnis setzen. Daher muss herausgearbeitet werden, wann eine Wundbehandlung als FALSCH einzuordnen ist. Greift man zur Beantwortung dieser Frage auf den im Bereich der Behandlung chronischer Wunden entwickelten anerkannten pflegerischen und medizinischen Wissenschafts- und Forschungsstand zurück, kommt man zu dem Schluss, dass es im Be reich der Behandlung chronischer Wunden kaum evidenzbasierte Behandlungsvorgaben gibt.
6.2.3 Deeskalation versus Eskalation Mithin ist die Unstimmigkeit bezüglich der vorzunehmenden Wundbehandlung zwischen den handelnden Protagonisten zugunsten der Patientensicherheit zwingend einer Klärung zu zuführen. An dieser Stelle ist zwischen den Situationen im Krankenhaus auf der einen Seite und der ambulanten Versorgung und dem Alten- und Pflegeheim auf der anderen Seite zu unterscheiden. Im Krankenhaus lässt sich eine Eskalation über die dort etablierten Hierarchieebenen – Pfle gekraft – Stationsleitung – Pflegedienstleitung – vor nehmen. Häufig lässt sich auf der Ebene Pflegedienstund ärztlicher Leitung der streitgegenständliche Sachverhalt einer Lösung zuführen. Anders sieht die Situation in den Bereichen fehlender ärztlicher Dichte aus. Der ambulante Pflegebereich sowie die Versorgung in den Altenund Pflegeheimen basiert im Bereich der Behand lungspflege auf der ärztlichen Anordnung. Ist eine Therapieanordnung umstritten und lässt sich keine Einigung zwischen Medizin und Pflege erzielen, wäre eine Verweigerung der Pflege nur dann rechtens, wenn die ärztlicherseits angeordnete Maßnahme allen Grundsätzen pflegerischen und medizinischen Handelns widerspräche. Dies ist insbesondere dann
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anzunehmen, wenn z. B. die Anordnung des Arztes gegen die Empfehlung der Kommission für Kranken haushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) beim Robert Koch-Institut (RKI) verstoßen würde. Liegt ein solch elementarer Verstoß nicht vor, sollte bei Meinungsverschiedenheiten zwischen An weisenden und Delegaten immer Rückgriff auf die Wunddokumentation genommen werden, aus der hervorgehen sollte, ob die vorgenommene Therapie zielführend ist oder ob die eingeschlagene Behand lungsintervention zwingend eine Änderung erfahren muss.
6.3 Gesetzliche Entwicklungen Eine klarere Zuweisung der Aufgaben bei der Be handlung chronischer Wunden in ärztlichem und pflegerischem Zuständigkeitsbereich sowie eine Stärkung der pflegerischen Handlungskom petenz wären wünschenswert. Das noch bis 2020 gültige Ausbildungsgesetz der Gesundheits- und Krankenpfleger hebt zwar in § 3 KrPflG die Eigen ständigkeit der Pflege in Abgrenzung zum ärzt lichen Anordnungsgebot hervor, eine eindeutige, unmissverständliche Regelung ist indes leider nicht geschaffen worden. Auch die Einführung von Vorbehaltsaufgaben durch das Pflegeberufs gesetz hilft hierbei nicht weiter. Bei der Auslegung und Interpretation der eigenständig wahrzuneh menden pflegerischen Handlungskreise verbleibt ein großer Freiraum. Das bestehende Gesetz sowie das im Jahre 2020 in Kraft tretende Pflegeberufs gesetz belegen jedoch, dass eine verstärkte Eigen ständigkeit der Pflege im Gesundheitswesen in tendiert ist. Leider sind die Modellprojekte gemäß § 63 Abs. 3 b + c SGB V, die durch das Pflege weiterentwicklungsgesetz im Jahre 2008 in den Gesetzeskanon aufgenommen wurden, bis zum heutigen Tag nicht in die Praxis überführt worden. Hiernach wäre der Pflege im Rahmen der Wundbe handlung eine eigene Verordnungskompetenz hinsichtlich der anzuwendenden Verbandsmittel zugewiesen worden. Glücklicherweise ist die substituierende Über tragung der Heilkunde gemäß § 63 Abs. 3 c SGB V und die darauf fußende Heilkundeübertragungsrichtlinie
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in das ab 2020 in Kraft tretende Pflegeberufsgesetz aufgenommen worden. Die Heilkundeübertragungs richtlinie, die 2012 vom Gemeinsamen Bundesaus schuss (G-BA) beschlossen wurde, umfasst insgesamt fünf Indikationsbereiche, in denen der Pflege unter anderem eine eigene Verordnungskompetenz zu gewiesen wird. Ein Indikationsbereich ist die Ver sorgung chronischer Wunde. Es bleibt abzuwarten, ob hierdurch zukünftig eine Änderung ggf. sogar eine Verbesserung des Behandlungsverhaltens eintritt, wenn entsprechend qualifizierte Pflegekräfte eigen ständig und eigenverantwortlich die Wundtherapie nebst Auswahl der erforderlichen Wundauflagen vor nehmen dürfen.
6.4 Fazit
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Die demografische Veränderung der Gesellschaft, Per sonalnotstände in der ambulanten und stationären Versorgung, unzureichende Behandlungsvergütung, Zunahme der Diabetes- und Gefäßerkrankungen
sowie die lebenserhaltende Gerätemedizin sind einige der Gründe, die eine Zunahme der Fallzahlen im Be reich der Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden befürchten lassen. Für diese Herausforderung wird ein Gesundheitssystem benötigt, das aufeinander abgestimmte Versorgungskonzepte anbietet. In diesem System sind die Ärzte und Pflegekräfte in erster Linie dem Wohle des Patienten und ihrem beruflichen Ethos verpflichtet; das Kostenargument sollte hinter diesen Leitmotiven zurücktreten. Langwierige Kon flikte in der Therapiefindung werden in erster Linie auf dem Rücken des Patienten ausgetragen. Der Heilungserfolg wird sich erst dann einstellen, wenn eine intensivere und vertrauensvollere Kooperation aller Beteiligten der Wundversorgung zu verzeichnen ist. Im Sinne des Patientenschutzes ist die Erstellung eines evidenzbasierten Negativ- oder Positivkatalogs wünschenswert. Die Hervorhebung von eindeutig fehlerhaften Wundversorgungsmaßnahmen würde den Beteiligten mehr Handlungssicherheit bieten. Langwierige Eskalationsprozesse könnten vermieden werden und Kosten für fehlerhafte und überflüssige Therapien würden eingespart.
KAPITEL
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Andreas Schwarzkopf
Hygiene
Kernaussagen • Die sterile Wunde gibt es nicht. Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, dass Hygiene bei der Wundversorgung keine große Rolle spielen würde. Neben rechtlichen gibt es triftige fachliche Gründe für die Umsetzung hygienischer Maßnahmen. • Die Basishygiene umfasst die immer und durch jeden Mitarbeitenden zu leistenden Hygiene maßnahmen. Demgegenüber sind erweiterte Hygienemaßnahmen zu ergreifen, wenn die Weiterverbreitung von Infektionserregern zu vermeiden ist. Dies kann in drei Säulen
7.1 Einleitung Wundversorgungen durch ärztliche oder pflege rische Therapeuten finden in ambulanten und stationären Einrichtungen bis hin zum Palliativ bereich statt. Immer wieder kommt es zu Dis kussionen über das notwendige Ausmaß der Hygiene in der Wundversorgung. Hierbei treten oft Konflikte mit der Hygieneabteilung in stationären Einrichtungen und der Pflege im ambulanten Be reich auf. Die Deutsche Gesellschaft für Kranken haushygiene hat mit dem fiktiven Arzt Dr. Braehmer und der ebensolchen Schwester Sonja einen unter haltsamen Kurzfilm zu der „hygienisch korrekten“ Wundversorgung gedreht. Der Vorstand der ICW e. V. veröffentlichte bereits 2008 eine praxisnahe Leitlinie für die Hygiene in der Wundversorgung unter verschiedenen Bedingungen. Der damalige stellvertretende Vorsitzende Andreas Schwarzkopf wurde mit der Erstellung einer Vorlage beauftragt, die durch den Expertenbeirat und die anderen Vor standsmitglieder kommentiert und ergänzt werden konnte; 2010 erfolgte eine 2. Auflage. Mit der
geschehen: personalbezogene Maßnahmen, umfeldbezogene Maßnahmen und den Umgang mit Medizinprodukten, Arzneimitteln und Abfall. • Bei der Versorgung chronischer Wunden steht der Selbstschutz im Vordergrund. Dazu sind grundsätzlich Handschuhe sinnvoll. Blutge tränkte Verbände bei Patienten mit akuter Hepatitis B und C sind infektiöser Müll und damit in dauerhaft verschließbaren, durch die Bundesanstalt für Materialprüfung geprüften Kunststoffbehältern zu entsorgen.
Neufassung aller einschlägigen Gesetze und zahl reicher Empfehlungen ist diese heute nur noch be schränkt einsetzbar. Im folgenden Text werden die aktuellen Gesetze, Empfehlungen und Leitlinien zusammengestellt und zu einem praktischen Kom pendium vereint. Jede Wunde wird nach Entstehen sofort mikro biell besiedelt. Aber es wäre völlig falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass Asepsis bei der Wund versorgung keine große Rolle spielen würde. Neben rechtlichen gibt es auch triftige fachliche Gründe für die Umsetzung hygienischer Maß nahmen. Die Komplikations- und Infektionsrate ins besondere bei der postoperativen Wundversorgung wird nicht nur von den Erregern mit ihren de finierten Eigenschaften, sondern auch von der so genannten Wirtsdisposition bestimmt. Aus diesem Grund sind, neben dem Einsatz von Antiinfektiva und Desinfektionsmitteln, begleitende medizi nische – wie etwa die möglichst gute Einstellung eines Diabetes mellitus – und ggf. psychologische Maßnahmen ein aktiver Beitrag zur Infektions prophylaxe.
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7.2 Mikrobielle Besiedlung von Wunden Pathogenität und Virulenz der besiedelnden Mikroorganismen
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Bakterien schädigen die Wundheilungsmechanismen, wenn auch begrenzt, unter Umständen schon durch den eigenen Stoffwechsel. Um sich zu ernähren, geben sie Proteasen (Eiweiße werden zu Aminosäuren abge baut), Lipasen (Fette werden zu Fettsäuren abgebaut) und DNAsen (Erbgut wird zu einzelnen Basen abgebaut) sowie andere spezialisierte Enzyme zum Gewinnen von Spurenelementen, z. B. Eisen, ab. Einige von ihnen können sich durch Kapseln vor Abwehrzellen eine Zeit lang verstecken und stellen vor allem bei Patienten ohne Milz ein Risiko dar. Fähigkeiten zur intrazellulären Vermehrung können die Abtötung in Fresszellen (neutrophile Granulozyten und Makrophagen) nicht nur verhindern, sondern erlauben eine Vermehrung. Da sie auch ohne Sauerstoff überleben und sich ver vielfältigen, haben sie gegenüber der Abwehr einen Vorteil, wenn im Gewebe Sauerstoffmangel herrscht. Spezielle Enzyme wie z. B. die Hyaluronidase erlauben den Bakterien, sich – ausgehend von einer Wunde – in der Haut weiter auszubereiten, typische Beispiele sind das Erysipel (Streptococcus pyogenes) und Phlegmone (Staphylococcus aureus). Einige Bakterienstämme sind besonders virulent, d. h., sie lösen besonders schwere Infektionen aus. Beispielhaft ist die nekrotisierende Fasziitis durch Streptococcus pyogenes zu nennen oder auch die heftig verlaufenden Infektionen durch PantonValentine-Leukozidin tragende Staphylococcus aureus, die dann als PVL+ bezeichnet werden. Pilze verfügen gleichfalls über die Möglich keit, Wunden zu besiedeln. Besonders Hefepilze der Gattung Candida und deutlich seltener Schimmelpilze werden auf und in Wunden nach gewiesen. Candida-Spezies wurde nach den Daten des KISS (Krankenhaus-Infektionen Surveillan ce-System) beispielsweise in einer Häufigkeit von 0,1–1,4 % in postoperativen Wunden eine Rolle als alleiniger Infektionserreger zugewiesen. Viren verfügen über keinen eigenen Stoffwechsel und müssen den von Wirtszellen annektieren, wenn sie sich vermehren wollen. Als Wundinfektionserreger
im hygienischen Sinne spielen sie keine Rolle, jedoch ist aus Personalschutzgründen das Vorhandensein blutübertragbarer Viren und somit Hepatitis- und HIV-Infektionen zu beachten. Parasiten spielen bei Wundinfektionen keine große Rolle. Eine erwähnenswerte Ausnahme ist die Leishmaniose der alten Welt („Orientbeule“). Diese Protozoen gelangen durch den Stich der Sandfliege Phlebotomos in das Gewebe und lösen dort eine chronifizierende Infektion, teils mit chronischen Wunden, aus. In Deutschland häufig auftretende Ektoparasiten wie die Krätzmilbe Sarcoptes scabiei hominis lösen einen punktuellen Juckreiz aus, der zu schnell bakteriell be siedelten oder sekundär infizierten Kratzwunden führt.
7.3 Hygiene in der Wundversorgung Hygienemaßnahmen können und sollen heute auf der Basis einer Risikobewertung geplant und durch geführt werden. Dies erfordert Fachkenntnis bei der Planung und Durchführung; das unreflektierte Ab arbeiten von Vorschriften ist nicht sinnvoll. Unter Berücksichtigung von Expertenstandards und anderen Quellen soll jede Einrichtung Verfahrens anweisungen entwickeln, die juristisch gesehen eine Selbstverpflichtung der jeweiligen Einrichtungen dar stellen. Im Regelfall sollen sich alle Mitarbeitenden der Einrichtung an diese Standards halten, jedoch ist im Einzelfall eine patientenindividuelle Abweichung zulässig. Diese muss dokumentiert werden. Das Hygienerecht liefert hierzu wertvolle Hinweise. Es dient auch in Straf- und Zivilverfahren erstrangig als Grundlage der Begutachtung, weswegen ihm der nächste Abschnitt gewidmet ist.
7.3.1 Grundlegendes zum Hygienerecht – vom Gesetz bis zur Empfehlung Gesetze und Verordnungen Gesetze müssen befolgt werden, enthalten jedoch wenige unmittelbare Hinweise für die Praxis
7.3 Hygiene in der Wundversorgung Tab. 7.1 Für die Wundversorgung relevante Gesetze mit dazugehörigen Verordnungen Gesetze Infektionsschutzgesetz (IfSG)
Assoziierte Verordnungen Trinkwasserverordnung (TrinkWV 2018) Hygieneverordnungen für medizinische Einrichtungen der Bundesländer
Medizinproduktege- Medizinproduktebetreiberverordsetz (MPG) nung (MPBetreibV) MedizinproduktesicherheitsplanVerordnung (MPSicherheitsplanV) Arbeitsschutzgesetz Biostoffverordnung (BiostoffV) (ArbSchutzG) Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) Arzneimittelgesetz (AMG)
Arzneimittelbücher (DAB, Pharm. Eur.)
Sozialgesetzbücher (SGB)
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Heimgesetze der Bundesländer
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Diese Versicherung soll Schäden aus Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten abdecken. Sie erlässt Vor schriften und Regeln, die früher als Unfallverhütungs vorschriften (UVV) bezeichnet wurden. Heute werden sie als BG-Regeln (BGR, hier BGR 250) bezeichnet. Diese müssen befolgt werden. Verstöße können z. B. durch ausbleibende Zahlungen an betroffene Ar beitnehmer oder Regresse bei den Arbeitgebern ge ahndet werden, wenn gegen die Vorgaben verstoßen wurde und ein Schadensfall (Berufsunfall, Berufs krankheit) eingetreten ist. Weiterhin gibt es für alle Betriebe Unfallverhütungsvorschriften allgemeiner Art, die DGUV-Regeln, die beispielsweise die Prüfung auf Fehlströme bei elektrischen Geräten vorschreiben. Arbeitgeber müssen notwendige Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer treffen und die ent sprechenden Schutzmittel zur Verfügung stellen. Die Arbeitnehmer müssen sich an die Arbeits anweisungen halten und die Schutzmittel einsetzen.
Normen und Empfehlungen (› Tab. 7.1). Ihre Umsetzung bedarf also weiter gehender Erläuterungen beziehungsweise einer ins Detail gehenden Darstellung zur praktischen Umsetzung sowohl für die am Patienten Tätigen als auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Aufsichtsbehörden. Hierzu werden Verordnungen sowohl vom Bund als auch von den Bundes ländern – da im föderalistischen System Gesundheit Ländersache ist – erlassen (› Tab. 7.1). Auch Ver ordnungen haben Gesetzescharakter und Verstöße dagegen können geahndet werden. Für die Biostoffverordnung und die Gefahr stoffverordnung gibt es relativ praxisnahe Durch führungsbestimmungen, die Technischen Regeln (TR). Ihre Abkürzungen lauten TRBA für biologische Arbeitsstoffe bzw. TRGS für Gefahrstoffe, die durch rote Rauten mit innenliegenden schwarzen Symbolen gekennzeichnet sind, z. B. Wundbenzin. Im Gesundheitswesen gilt die TRBA 250.
Berufsgenossenschaftliche Veröffentlichungen Nahezu alle im Gesundheitswesen am Patienten Tä tigen sind in der Berufsgenossenschaft für Gesund heitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) versichert.
Normen Normen beruhen auf Konsensbeschlüssen ent sprechender Gremien, die vor allem mit Indus triemitarbeitern besetzt sind. Diese Normen re präsentieren den aktuellen Stand der Technik. Gesetzescharakter haben sie jedoch nicht, d. h., man kann durchaus zu abweichenden Lösungen kommen. Im Schadensfall muss allerdings gezeigt werden, dass die eigenen Lösungen zum selben Ziel führen wie die Normen. Derzeit sind in Deutschland noch drei Normen gebäude vorhanden: • Deutsches Institut für Normung (DIN) • Europäische Normen (EN) • Weltnormen (ISO = International Organisation for Standardisation)
Empfehlungen Verschiedene Fachorganisationen geben darüber hinaus Empfehlungen zur Hygiene heraus. Diese re präsentieren den Stand der medizinischen Wissen schaft. In der Hygiene gelten nach § 23 Abs. 3 IfSG aus schließlich die Empfehlungen der Kommission für
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Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) und der Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie (ART) am Robert Koch-In stitut (RKI) in Berlin als Stand der medizinischen Wissenschaft. Sinnvolle Empfehlungen können aber auch von anderen Organisationen gegeben werden. Ein Bei spiel stellen die Leitlinien der AWMF (Arbeits gemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) dar, die auf einer Zusammen fassung und Bewertung der Weltliteratur beruhen. Expertenstandards des DNQP (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege) werden ent wickelt, um in verschiedenen Einrichtungen die Im plementierung des aktuellen Stands der Pflegetechnik zu ermöglichen. Daher gehören auch hygienerelevante Aussagen von Expertenstandards dazu. Überdies können Empfehlungen einzelner Ex perten Berücksichtigung finden, wenn sie schlüssig begründet und für die eigene Situation zutreffend sind.
7.3.2 Praktische Hygiene: Basishygiene und erweiterte Hygienemaßnahmen
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Die Basishygiene umfasst die immer und durch jeden Mitarbeitenden zu leistenden Hygienemaßnahmen. Demgegenüber sind erweiterte Hygienemaßnahmen zu ergreifen, wenn die Weiterverbreitung von Infektionserregern zu vermeiden ist. Dies kann in drei Säulen geschehen. Man unterscheidet:
Personalbezogene Maßnahmen Diese umfassen in der Basishygiene die Händehygiene einschließlich korrekter Anwendung von Hand schuhen und bei Bedarf den Wechsel kontaminierter Arbeitskleidung. Erweiterte Hygienemaßnahmen sind Barrieremaßnahmen (persönliche Schutzaus rüstung, PSA), also Schutzkittel, Schürzen, MundNase-Schutz, ggf. FFP-Maske der entsprechenden Klasse, Schutzbrille und ggf. Visier. Das Dokument Personalhygiene umfasst Fest legungen im Hygieneplan zur Arbeitskleidung, Schutzkleidung bei Bedarf und der obligaten Händehygiene. Rechtsgrundlagen sind die Bio stoffverordnung mit den gemäß TRBA 400 in einer
Gefährdungsbeurteilung erhobenen arbeitsplatzund tätigkeitsbezogenen Risiken für Mitarbeiter und der TRBA 250 Biologische Arbeitsstoffe in Einrichtungen des Gesundheitsdienstes und der Wohlfahrtspflege mit praktischen Empfehlungen. Hinweise finden sich auch in diversen RKI-Empfeh lungen. Besonders hervorzuheben ist die RKI-Emp fehlung Anforderung an Schutzkleidung.
Arbeitskleidung Besondere Arbeitskleidung ist von der TRBA / BGR 250 nicht gefordert, jedoch sollte sie sinnvoller weise von heller Farbe sein, um Kontaminationen gut erkennen zu können. Sie sollte bei mindestens 60 °C waschbar sein, allerdings gibt es auch potente Desinfektionsverfahren bei 40 °C. Vor allem das in Pflegeeinrichtungen und der ambulanten Pflege populäre Waschen der Arbeitskleidung bei den Mit arbeitern zu Hause ist nicht verboten, jedoch ist die Ziffer 4.2.7 Satz 4 der TRBA 250 zu beachten: Kon taminierte Arbeitskleidung ist vom Arbeitgeber des infizierend aufzubereiten. Accessoires wie Krawatten sind kein sinnvoller Bestandteil der Arbeitskleidung. Beim Verbandwechsel soll der Arztkittel abgelegt werden. Empfehlungen für die Arbeitskleidung gibt es auch von der Deutschen Gesellschaft für Kranken haushygiene (www.dgkh.de).
Schutzkleidung Schutzkleidung (Einmalkittel, Schürze) und Schutz mittel (Handschuhe, Mund-Nase-Schutz und ggf. Haube, Schutzbrille) sind durch den Arbeitgeber zu stellen. Wiederaufzubereitende Schutzkleidung muss durch den Arbeitgeber in einem geeigneten (geprüften) desinfizierenden Waschverfahren auf bereitet werden. Sie darf nicht mit nach Hause genommen werden.
Händehygiene Die Händehygiene unterteilt sich in Händewaschen, Händedesinfektion, Handpflege und Stellung von Handschuhen. Grundlagen sind die TRBA 250
7.3 Hygiene in der Wundversorgung sowie die RKI-Empfehlung „Händehygiene in Ein richtungen des Gesundheitsdienstes“ aus dem Jahr 2016. Allerdings hat im Jahr 2009 die Händehygiene durch die von der WHO initiierte Aktion „Saubere Hände“ einen neuen Schwerpunkt erhalten. Er hebungen über den Desinfektionsmittelverbrauch in einzelnen Bereichen ergab, dass die Hände teilweise viel zu selten desinfiziert werden. Gerade die Hände desinfektion gilt aber unangefochten als die ein fachste und effektivste Maßnahme zur Vermeidung der Übertragung von Infektionen. Die Händewäsche wird bei Arbeitsbeginn nach Eintreffen in der Einrichtung, vor Pausen, nach Pausen und nach Arbeitsende durchgeführt. Auch wenn eine sichtbare größere Kontamination vor liegt, kann nach gründlicher Entfernung mittels desinfektionsmittelgetränktem Einmalhandtuchs eine Händewäsche erfolgen. Zum Hautschutz soll te so selten wie möglich gewaschen werden. Zur gründlichen Händetrocknung werden Einmalhand tücher aus einem Spender verwendet. Danach folgt die hygienische Händedesinfektion. Nach aktuellen RKI-Empfehlungen meint dieser Begriff nur den eigentlichen Desinfektions vorgang. Die sauberen und trocknen Hände werden mit einer Hohlhandvoll Händedesinfektionsmittel 30 Sekunden lang eingerieben. Die Benetzung der Fingerspitzen und Daumen ist besonders zu be achten. Leicht zu vermitteln ist das 5 + 2-Schema der Indikationen der Händedesinfektion: • Vor und nach Patientenberührung • Vor aseptischen Tätigkeiten • Nach Kontakt mit potenziell kontaminiertem Material (einschließlich dem eigenen Toiletten gang) und der patientennahen Umgebung • Vor Entnahme der Handschuhe aus der Box und nach Ausziehen der Handschuhe Bei der chirurgischen Händedesinfektion werden Hände und Unterarme – frühestens 10 Minuten nach der Waschung! – vollständig mit Desinfektions mittellösung benetzt. Dieser Vorgang sollte 1,5– 3 Minuten durchgeführt werden. Handbürsten werden nur noch zur Nagelreinigung eingesetzt. Nach jeder Desinfektion ist zu beachten, dass die Hände trocken sind, bevor die Handschuhe angelegt werden, um Hautirritationen zu vermeiden. Handschuhe sind immer anzulegen, wenn eine Kontamination mit Körperflüssigkeiten zu erwarten
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ist, damit auch bei der Wundversorgung. Keim arme Handschuhe reichen zum Selbstschutz; soll die Wunde oder der sterile Verband direkt mit den Händen berührt werden, müssen sterile Handschuhe angelegt werden. Die Desinfektion von Hand schuhen ist nicht empfehlenswert und die Tragezeit am Stück für ein Paar soll auf 15 Minuten begrenzt werden. Nach dem Ausziehen der Handschuhe müssen die Hände desinfiziert werden, da die Hand schuhe schon in der Packung Mikroperforationen haben, bei der Arbeit weitere Mikroperforationen entstanden sein könnten und man sich beim Aus ziehen kontaminiert haben könnte. Der Einsatz von medizinischen Hautschutzpräparaten und Pflegecreme gehört genauso zur Händehygiene wie die Händewaschung und Hände desinfektion selbst. Bei Allergikern können reine Alkoholpräparate zur Desinfektion eingesetzt werden, bedingen aber einen erhöhten Hautpflegebedarf.
Umfeldbezogene Maßnahmen Diese Hygienemaßnahmen für das Umfeld Patienten umfassen die Flächendesinfektion, Umgang mit Medizinprodukten, Umgang Arzneimitteln, Geschirr und Wäsche sowie die fallentsorgung.
der den mit Ab
Flächenreinigung und -desinfektion Bei jedem Verbandwechsel können erhebliche Mengen an Keimen an die Umgebung abgegeben werden, die anhaftend an Partikel oder auch in Wund spülungstropfen freigesetzt werden. In stationären Einrichtungen ist eine Flächendesinfektion nach Hygieneplan nach der Wundversorgung sinnvoll. Hierzu bieten sich die fertig getränkten Tüchlein aus entsprechenden Verpackungen an.
Umgang mit Medizinprodukten Zwar geht die Sterilisation in Arztpraxen auf grund technischer Forderungen immer mehr zurück, dennoch findet natürlich nach wie vor eine Aufbereitung von Medizinprodukten statt.
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Das einschlägige Rechtsgebäude umfasst das Medizinproduktegesetz (MPG), die Medizinprodukte betreiberverordnung (MPBetreibV) sowie die gemein same Empfehlung der Kommission für Kranken haushygiene und Infektionsprävention am RKI (KRINKO / RKI) und dem Bundesinstitut für Arznei mittel und Medizinprodukte (BfArM) für die Praxis. In Bezug auf die Sterilisation kommen noch euro päische Normen dazu, die allerdings keine Rechts sicherheit vermitteln, sondern nur eine widerlegliche Vermutung, dass die Aufbereitung ordnungsgemäß gelaufen sein könnte. Entsprechend erlaubt die Rechtsprechung, davon abzuweichen; jedoch muss gezeigt werden können, dass das vorgegebene Ziel voll erreicht wurde. Detailerörterungen können nicht Gegenstand dieser Leitlinie sein, jedoch sollen generelle Forderungen vorgestellt werden: 1. Für jedes aufzubereitende Medizinprodukt muss eine Arbeitsanweisung vorhanden sein, die genau und verständlich wiedergibt, wie vorzugehen ist, und die Herstellerangaben des jeweiligen Medi zinprodukts zur Aufbereitung berücksichtigt. Der Umfang dieser Arbeitsanweisung muss dem Auf bereitungsaufwand angemessen sein und kann für unkritische (Kontakt mit intakter Haut, z. B. Blutdruckmanschette, Stethoskop) und semi kritische Medizinprodukte (Kontakt mit intakter Schleimhaut, z. B. Klemme zur Mundpflege) in einer einfachen Zeile im Reinigungs- und Des infektionsplan bestehen. 2. Für kritische (bestimmungsgemäß Durchstoßen intakter Haut oder Schleimhaut, Blutkontakt) Medizinprodukte, wie die zur chirurgischen Wundversorgung, sollte stets eine komplette Arbeitsanweisung im Rahmen eines validierten Verfahrens vorhanden sein. Diese umfasst detailliert alle Aufbereitungsschritte: a. Reinigung und Desinfektion, wie aufzuberei ten ist, worauf bei der Aufbereitung besonders zu achten ist, wie der Aufbereitungserfolg zu überprüfen ist. b. Welche Instrumente wie zu packen sind. c. Die anzuwendenden Sterilisationsparameter und die Dokumentation. d. Wie die Freigabe erfolgt. Letztere muss eindeutig sein und allen Mitarbeitern die Sicherheit geben, dass nur einwandfreie Medizinprodukte angewendet werden.
3. Auch die Lagerung von eingekauftem Sterilgut muss geregelt sein. Allgemein gilt, dass eine geschützte Lagerung (staub- und lichtgeschützt in Schubladen oder Schränken oder Boxen) von sechs Monaten möglich ist, während eine ungeschützte Lagerung (z. B. auf einem Verband wagen oder in einem Fahrzeug des notärztlichen Dienstes) die Haltbarkeit nur etwa 48 Stunden (unverzüglicher Verbrauch) beträgt.
Umgang mit Arzneimitteln und Dosierbehältern Arzneimittel sind nach Angaben der Hersteller zu lagern; Arzneimittelkühlschränke brauchen nicht regelmäßig desinfiziert zu werden. Es reicht aus, wenn sie in angemessenen Umfang gereinigt werden. Behälter und Gegenstände zum Mörsern von Tabletten bzw. komplette wiederzubeschickende Dosierbehälter müssen sauber gespült sein; eine Desinfektion ist nicht erforderlich. Mehrdosisbehälter, die zum ersten Mal an gestochen werden, müssen mit Datum und Uhrzeit beschriftet werden. Die vom Hersteller angegebene Standzeit ist zu berücksichtigen. Physiologische Kochsalzlösung (z. B. als Wundspüllösung) ist zum unverzüglichen Gebrauch bestimmt. Prinzipiell wird jedoch auf die Europäische Pharmakopoe hingewiesen, die besagt, dass Wundspüllösungen in Einmalbehältern und steril sind. Stets sind die Her stellerangaben zu beachten, dies gilt auch für Mehr dosisbehälter wie Tuben oder Spender. Medikamente sind grundsätzlich nach Hersteller angaben zu lagern.
Umgang mit Abfall Der bei der Wundversorgung anfallende Ab fall wird heute in den Hausmüll entsorgt. Dabei müssen scharfe und spitze Gegenstände in bruchsicheren, fest verschlossenen und durch stichsicheren Behältern entsorgt werden. Dies gilt auch, wenn ein Sicherungsmechanismus gegen Nadelstichverletzung vorhanden ist. Die Ent sorgung erfolgt gemäß Anhang 8 der TRBA 250
7.5 Risikobewertung zur Planung von Hygienemaßnahmen nach den Abfallschlüsselnummern AS 18 01 04 (z. B. Handschuhe) bzw. AS 18 01 01 („Sharps“), siehe unten.
7.4 Basishygiene: patientenbezogene Maßnahmen Diese umfassen Injektionen und Punktionen. Bei Injektionen muss eine Hautdesinfektion durch Sprühen von Hautdesinfektionsmittel und Wischen oder Wischen mit einem entsprechend getränkten Tupfer (auch als Fertigprodukt für die ambulante Pflege) durchgeführt werden. Bei der subkutanen Injektion genügt meist eine Sprühdesinfektion mit Abwarten der Einwirkzeit, danach können Rückstände mit einem keimarmen Tupfer (vom Hersteller sterilisiert, jetzt jedoch un steril gelagert und verwendet) entfernt werden. Bei intramuskulären Injektionen im Glutealbereich findet erst eine Reinigung durch Sprühen ohne Ein halten der Einwirkzeit, dann Wischen mit keim armem Tupfer statt und abschließend die Des infektion durch erneutes Sprühen und Wischen nach Ende der Einwirkzeit mit keimarmem (bei Risiko patienten, Cortisoninjektion oder gewebstoxischen Substanzen sterilem) Tupfer oder Tupfen mit fertig getränktem, sterilem Tupfer und Abwarten der Ein wirkzeit. Injektionen sind auf desinfizierten Unterlagen vorzubereiten; diese kann auch in der ambulanten Pflege z. B. durch die Desinfektion eines Tab letts mit einem Alkoholtüchlein erreicht werden. Aus Personalschutzgründen müssen stichsichere Arbeitsmittel, deren Spitzen direkt nach Einsatz abgedeckt werden können, zum Einsatz kommen. Die Entsorgung von Kanülen und Skalpellen erfolgt im durchstichsicheren, bruchsicheren und flüssig keitsdichten Behältern, die dicht verschlossen sind. Werden hierzu Kanister verwendet, müssen deren Etiketten mit dem Hinweis Abfall überklebt und ggf. vorhandene Gefahrstoffkennzeichen unkennt lich gemacht werden. Da Kanister keine Abstreich mechanismen für Kanülen besitzen, ist es ratsam, die gesamte Spritze mit der Kanüle in den Kanistern
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zu entsorgen. Bei Kanülensammelbehältern mit Abstreichvorrichtung kann die Kanüle gefahrlos abgestreift werden; Voraussetzung ist allerdings, dass die Abstreichvorrichtung zu den verwendeten Kanülen passt. Einmal angestochene und angeschlossene Infusionsflaschen haben eine Standzeit von maximal 72 Stunden (ohne Inhaltsstoffe, die Bakterien verwerten können, nämlich physiologische Kochsalzlösung oder Ringerlösung), Lösungen mit verwertbaren Substanzen (z. B. Aminosäureprä parate) haben eine Standzeit von 24 Stunden bzw. 12 Stunden (besonders nahrhafte Lipidlösungen, aber auch Schmerzmittel auf Lipidbasis). Die Infusionssysteme dürfen maximal 96 Stunden be nutzt werden, nach der Infusion von Lipiden nur 24 Stunden. Diskonnektionen sind möglichst zu ver meiden. Portpunktionen werden nach großflächiger Des infektion der Einstichstelle mit einem Remanenz desinfektionsmittel (Alkohol + Octenidin in fixer Mischung) mit sterilen Handschuhen unter Ver wendung von Spezialkanülen vorgenommen; zur Fixation empfehlen sich heute sterile Folien.
7.5 Risikobewertung zur Planung von Hygienemaßnahmen Der Erstellung eines Hygienedokuments gehen eine Risikoanalyse und eine Risikobewertung voraus. Notwendige Maßnahmen werden geplant und nach Beschluss der Hygienekommission in durch die Einrichtungsleitung in Kraft gesetzten Arbeits anweisungen (Hygieneplan) festgeschrieben. Folgende Fragen fließen in die Risikobewertung mit ein: • Welche potenziellen Infektionserreger sind zu erwarten? • Welche Risikofaktoren, die das Infektionsrisiko erhöhen, bestehen bei den Patienten? • Welche Maßnahmen zur Unterbrechung von Infektionswegen kann ich ergreifen? Daraus ergeben sich dann die einrichtungs spezifischen Profile, nach denen ein sinnvoller, praktikabler Hygieneplan erstellt werden kann.
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7.6 Anforderungen der Hygiene an das chirurgische Débridement
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Je nach Ausmaß der Wunde kann das chirurgische Débridement in einem voll ausgestatteten OP-Saal oder einem Raum für kleine Operationen (vormals Eingriffsraum) stattfinden. Die Verantwortung der Entscheidung, welche Ausstattung benötigt wird, obliegt dem Operateur. Dieser muss auch ent scheiden, welche Schutzkleidung gebraucht wird. Minimalstandard sind sterile chirurgische Hand schuhe und eine Einmalschürze (zum Schutz der Arbeitskleidung). Im Zweifel ist jedoch sterile OP-Kleidung einschließlich Mund-Nase-Schutz (vor allem bei länger dauernden Eingriffen) und Haube anzulegen. Ist mit starker Aerosolbildung oder Spritzen zu rechnen (z. B. Ultraschall-Débridement oder Jet-Lavage), wird die Schutzkleidung durch ein Visier oder Mund-Nase-Schutz und Schutzbrille er gänzt. In Verbandräumen oder Wundversorgung in Räumen für kleine Operationen oder OP-Sälen ist darauf zu achten, dass aseptische Wunden vor septischen Wunden versorgt werden. Kleinere, wenig invasive Débridementeingriffe können auch in Arztpraxen oder in häuslichen Be reich unter den dortigen Bedingungen durchgeführt werden. Minimalanforderungen sind hier: • Eine saugfähige Unterlage, ggf. eine sterile Unterlage, zur kurzfristigen Ablage von Instru menten und Kompressen • Der Einsatz von keimarmen Einmalhandschuhen, wenn die Wunde nur mit Instrumenten berührt wird (Non-Touch-Technik), oder sterile Hand schuhe, wenn eine direkte Wundberührung als erforderlich angesehen wird Besondere Anforderungen an die Raumlufttech nik gibt es normalerweise nicht, bakterienfrei gefilterte Belüftung wie im OP muss aber bei sehr ausgedehnten Wunden wie z. B. Verbrennungen oder Körperhöhlen- und Knochenbeteiligungen erwogen werden. In diesem Fall ist also das Débridement in einem voll ausgestatteten OP-Saal vorzuziehen. Das biochirurgische Débridement mit Maden entspricht aus hygienischer Sicht einem Verbandwechsel; methodisch wird auf die
entsprechende Literatur und den Ratgeber der ICW e. V. verwiesen. Generell sind sterile In strumente und Kompressen bzw. Tupfer zu ver wenden. Die Entsorgung von Abfällen erfolgt in stationären Einrichtungen gemäß Abfallschlüssel AS 18 01 04 bzw. 18 01 01 (scharfe Gegenstände in geeigneten Behältern, die dann zusammen mit Abfall der Gruppe AS 18 01 04 entsorgt werden können). Stark blutige Abfälle von Patienten mit infektiöser Hepatitis B, C und HIV sollten als infektiöser Müll (AS 18 01 03*) entsorgt werden. Amputate werden in undurchsichtigen Behältern nach AS 18 01 02 entsorgt Im häuslichen Be reich werden alte Verbände möglichst in un durchsichtigen Plastikbehältern in den normalen Hausmüll gegeben.
7.7 Anforderung der Hygiene an den Wundverbandwechsel 7.7.1 Räumlichkeiten Die Räumlichkeiten müssen den Anforderungen der TRBA 250 entsprechen; alle Flächen müssen also leicht zu reinigen und zu desinfizieren sein. Es gilt: 1. Bei Verbandwechseln werden generell Bakterien von der Wundoberfläche auf die Unterlage und den Boden abgegeben. Dies ist besonders bei Be siedlungen oder Infektionen mit multiresistenten Erregern zu berücksichtigen. Daher sind z. B. Untersuchungsstühle oder Betten sinnvollerwei se mit einer Unterlage zu schützen, die nach dem Verbandwechsel entsorgt oder bei mindestens 60 °C gewaschen wird. Dies gilt nicht, wenn glatte Flächen desinfiziert werden können, also der Verbandwechsel z. B. auf glatten Flächen, etwa einer kunstlederbezogenen Liege, statt findet. 2. Sterilgut muss in geschlossenen, staub- und licht geschützten Schränken oder Schubladen gelagert werden (MPBetreibV). 3. Eine antiseptische Arbeitsfläche – im Idealfall steril abgedeckt – muss zur Vorbereitung der benötigten Materialien geschaffen werden.
7.8 Wundversorgung bei potenziell infektiösen Patienten
7.7.2 Ablauf Vorbereitung Neben allen benötigten Instrumenten und Materialien werden eine undurchsichtige Abfall tüte für den alten Verband sowie eine Nierenschale zum Auffangen der Spüllösung bereitgestellt. Ein durchstichsicherer und flüssigkeitsdichter Behälter dient der Entsorgung der sogenannten Sharps wie Kanülen, Skalpellklingen etc., die auch dort entsorgt werden müssen, wenn sie stichsicher sind. Schutzkleidung ist bei besonderen Infektions risiken oder dem Risiko der Besiedlung mit multi resistenten Besiedlungen bereitzulegen. Bei der Ver sorgung von größeren Wunden, die entsprechend länger dauert kann, sollte ein Mund-Nase-Schutz gleichfalls erwogen werden. Eine flüssigkeitsdichte Einmalschürze ist sinn voll bei Spülungen, um Kontamination der Arbeits kleidung und damit einen erforderlichen Wechsel zu vermeiden. Bei Verbandwechsel nur mit Instrumenten (No[n]-Touch-Technik) kann dieser mit frisch des infizierten Händen oder bei mehr gewünschtem Selbstschutz nach Händedesinfektion mit keim armen Einmalhandschuhen durchgeführt werden. Sterile Handschuhe sind obligat, wenn während des Verbandwechsels die Wunde direkt mit den Händen berührt werden muss. Der alte Verband wird in eine undurchsichtige Plastiktüte und dann in stationären Einrichtungen im früheren „B-Müll“ (AS 18 01 04) entsorgt. Nun wird die Wunde geeignet gereinigt und ggf. des infiziert. Der alte Grundsatz, dass aseptische Wunden von innen nach außen und septische Wunden von außen nach innen gereinigt werden sollen, ist nicht nur obsolet, sondern verstößt auch gegen geltendes Recht. Es ist immer von innen nach außen zu reinigen. Gebrauchtes Einmalinstrumentarium wird in durchstichsicheren, flüssigkeitsdichten Behältern entsorgt. Wiederaufzubereitendes Instrumentarium wird bei der Trockenentsorgung in geeignete Trans portbehälter nach einer Grobreinigung z. B. mit einer Kompresse in ein Desinfektionsmittelbad eingelegt. Dann werden die Handschuhe ausgezogen und in die Plastiktüte bzw. den B-Müll (jetzt AS 18 01 04) entsorgt. Nach einer Händedesinfektion können
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Dokumentationsmaßnahmen wie z. B. eine Foto grafie durchgeführt werden. Dann werden – nach erneuter Händedesinfektion – frische Handschuhe, ggf. sterile Handschuhe (direkter Wundkontakt), an gelegt.
Durchführung und Beendigung Das bereitgelegte neue Verbandmaterial wird ausgepackt, dabei sind Kontaminationen zu ver meiden. Das Zuschneiden von Verbandmaterial (Herstellerangaben!) auf die richtige Größe oder auch das instrumentelle Einlegen von Tamponaden können zur Kontamination führen, ggf. kann auch die Wundumgebung steril abgedeckt werden. Nach Beendigung des Verbandwechsels wird die Nierenschale geleert und desinfiziert, der Abfall in der ambulanten Pflege in die Hausmülltonne ent sorgt, sonst nach AS 18 01 04. Die Entsorgung der Handschuhe und die Händedesinfektion schließen den Verbandwechsel ab.
7.8 Wundversorgung bei potenziell infektiösen Patienten 7
Mit multiresistenten Erregern (MRE) besiedelte oder infizierte Patienten Multiresistente Bakterien wie Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA), Methicillinresistente Staphylococcus epidermidis (MRSE), Vancomycin- beziehungsweise Vancomycin- und Linezolid-resistente Enterokokken (VRE / LVRE) sowie 3- bzw. 4-MRGN-Enterobakterien, Pseudomonas und Acinetobacter neigen mehr zur Be siedlung als Infektion, dennoch kommen Infektionen vor. MRGN steht für multiresistente gramnegative Stäbchen, wobei die Einteilung nach vier ausgewählten Antibiotikagruppen erfolgt (› Tab. 7.2). Isolierungsmaßnahmen sollten nach Risiko bewertung vorgesehen werden. Beispielsweise wird ein Mund-Nase-Schutz nur bei Aerosolbildung benötigt, dann ist in der Regel auch eine Haube sinn voll. Ein mehrlagiger Mund-Nase-Schutz kann auch
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7 Hygiene
Tab. 7.2 Definition der Multiresistenz bei gramnegativen Bakterien Antibiotikaklassen zur Bewertung: Penicilline, Cephalosporine, Carbapeneme, Fluorchinolone 3 von 4 Klassen resistent
3-MRGN
4 von 4 Klassen resistent
4-MRGN
Carbapenem-Resistenz + / − beliebige 4-MRGN andere Klassen laut Definition KRINKO / RKI bei Enterobakterien und Acinetobacter sp.
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als Berührungsschutz dienen, um bei versehentlicher Berührung der Nase eine Besiedlung des Nasenvor hofs zu verhindern. Das Reservoir für MRSA und MRSE ist der NasenRachen-Raum und die Haut, bei den entsprechenden 3- und 4-MRGN und VRE / LVRE sind es der Darm und die Harnröhrenmündung. Pseudomonas, ein Wasserkeim, wird oft im Trachealsekret und auf Wunden gefunden, gehört aber nicht zur mensch lichen Flora. Acinetobacter ist ein Umweltkeim, der gerne Haut und Atemwege besiedelt oder Pneumonien und Wundinfektionen auslöst. Bei Besiedlung des Nasen-Rachen-Raums ist beim Sprechen und beim Absaugen mit erregerhaltigem Sekretaerosol zu rechnen; Schutzkittel und Handschuhe sowie ein Mund-Nase-Schutz (auch als Berührungs schutz!) und ggf. eine Haube sind dann sinnvoll. Pflegeutensilien sind patientengebunden zu verwenden, dies gilt auch für eingesetzte Arznei mittel wie Antiseptikalösung oder Salben für den Wundrand. Abfälle können wie üblich als B-Müll (AS 18 01 04) entsorgt werden. Abfall- und Medizin produkte-Behälter werden vor Verbringung aus dem Zimmer desinfizierend abgewischt. Die Wäsche wird im Zimmer der Betroffenen in Wäschesäcken gesammelt, die zusätzlich in einem Plastiksack stecken. Der Plastiksack kann vor dem Abtransport der Wäsche unkompliziert entfernt und entsorgt werden; der Wäschesack wird dann normal weitergeleitet. Aufgrund von Kapitel 2.6 der BGR 500 können gewerbliche Wäschereien eine Transportdeklaration („Wäsche zur besonderen Aufbereitung“, vormals „infektiöse“ Wäsche) ver langen. Geschirr kann einer desinfizierenden Aufbereitung (Spülmaschine mit Spülprogramm > 65 °C) zugeführt werden.
Trockene Verbände, insbesondere solche mit Silberanteil, haben eine ausreichende Schutzwirkung; somit stellt eine isolierte Wundbesiedlung keine In dikation für eine Isolierung der Betroffenen, wenn diese Patienten ihre Verbände nicht selbst öffnen.
7.9 Maßnahmen bei Patienten mit infektiöser Hepatitis B, Hepatitis C und HIV-Infektion Bei der Wundversorgung steht der Selbstschutz im Vordergrund, hier sind grundsätzlich Handschuhe sinnvoll. Blutgetränkte Verbände dieser Patienten sind, wenn nicht nur in geringen Mengen anfallend oder in der ambulanten Pflege, infektiöser Müll (AS 18 01 03*) und damit in dauerhaft verschließ baren, durch die Bundesanstalt für Materialprüfung geprüften Kunststoffbehältern zu entsorgen. Kon taminierte Wäsche und Arbeitskleidung sind in Sä cken für infektiöse Wäsche zur Wäscherei zu geben. Geschirr kann jedoch wie üblich gespült werden; eine Temperatur von 65 °C sollte nicht unter schritten werden.
Maßnahmen bei der Wundversorgung von Patienten mit akuten Infektionen Wundtherapeuten halten sich an angeordnete Hygienemaßnahmen, insbesondere im Rahmen des Ausbruchsmanagements wie z. B. durch virale Gas troenteritiden. Kennen sie die betroffenen Patienten nicht, erkundigen sie sich bei der Stationsleitung; in der ambulanten Pflege werden entsprechende Infor mationen im Tourenbuch oder einem anderen ge eigneten Informationsmedium hinterlegt.
7.10 Fazit Bedingt durch die strenger werdenden Kontrollen der Behörden und die Tätigkeit des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen
7.10 Fazit (IQTIG), muss jede Einrichtung mit kleinen oder großen Operationen ein entsprechendes Hygiene konzept vorweisen können. Ergänzend zu der Darstellung hier wären noch Arbeitsanweisungen zur präoperativen Hautantiseptik, perioperativen Antibiotikaprophylaxe und kalkulierten Antibio tikatherapie vorzuhalten sowie eine gewissenhafte Infektionsstatistik zu führen. LITERATUR Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Anforderungen an die Hygiene bei der Aufbereitung von Medizinprodukten. 2012. Aus: www.rki. de/Infektionsschutz/Krankenhaushygiene/ (letzter Aufruf: 13.12.2018).
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Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Händehygiene in Einrichtungen des Gesundheitsdienstes. 2016. Aus: www.rki.de/Infektionsschutz/ Krankenhaushygiene/ (letzter Aufruf: 13.12.2018). Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Prävention postoperativer Wundinfektionen. 2018. Aus: www.rki.de/Infektionsschutz/Krankenhaushygiene/ (letzter Aufruf: 13.12.2018). Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Prävention der Infektion durch Enterokokken mit speziellen Antibiotikaresistenzen. 2018.Aus: www.rki. de/Infektionsschutz/Krankenhaushygiene/ (letzter Aufruf: 13.12.2018). Schwarzkopf A. Hygiene in der Arztpraxis. 4. A. Wiesbaden: mhp-Verlag, 2018. Schwarzkopf A. Multiresistente Erreger im Gesundheitswesen. 2. A. Wiesbaden: mhp-Verlag, 2016.
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KAPITEL
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Sabine Eming, Stephan Schreml
Physiologie und Pathologie der Wundheilung
8.1 Effiziente Komplexität der Wundheilung Sabine Eming
Kernaussagen • Während der Wundheilung müssen verschie dene Zellpopulationen ihre Aufgabe durch ein komplexes Netzwerk unterschiedlicher Faktoren zeitlich und räumlich koordiniert aufeinander abgestimmt erfüllen. • Für den Wundheilungsprozess verwendet die Natur molekulare und zelluläre Mechanismen, wie sie prinzipiell auch bei anderen physiolo gischen (z. B. embryonale Entwicklung) und pathologischen Prozessen (z. B. Fibrose, Tumor wachstum, Metastasierung) beobachtet werden. Der Prozess der Gewebereparatur ist ein zellbio logisch komplexes Geschehen mit dem Ziel einer möglichst raschen Wiederherstellung der Barrierefunktion der Haut. Während der Wund heilung müssen verschiedene Zellpopulationen ihre Aufgabe durch ein komplexes Netzwerk unterschiedlicher Faktoren zeitlich und räumlich koordiniert aufeinander abgestimmt erfüllen. Die erforderlichen Signale erhalten die Zellen im Wesentlichen durch Zell-Zell-Interaktionen, durch Zell-Matrix-Kontakte oder durch zytokinvermittel te Wechselwirkungen. Grundsätzlich wird in der Wundheilung zwischen der Geweberegeneration und der Gewebereparatur unterschieden. Während bei der Regeneration eine Restitutio ad integrum des geschädigten Gewebes in Morphe und Funktion erreicht wird, führt der Vorgang der Reparatur durch einen narbigen Ersatz des geschädigten Gewebes zum Wundverschluss. Obwohl die Haut durch ihre natürliche Abwehr- und Schutzfunktion prinzipiell durch eine große reparative Kapazität gekennzeichnet ist, hat sie nur eingeschränkte Fä
• Es gibt eine Vielzahl von systemischen Grunderkrankungen, die als Ursachen für das Symptom „schlecht heilende Wunde“ differen zialdiagnostisch in Betracht gezogen werden müssen. • Das Ungleichgewicht zwischen erhöhter Aktivität entzündlicher Mediatoren, proteo lytischer Enzyme und verminderter Aktivität ihrer Inhibitoren werden als wesentliche lokale Störfaktoren in chronischen Wunden angesehen. higkeiten zur Regeneration, d. h. zur narbenlosen Heilung und Neubildung der Hautanhangsgebilde. In der Regel ist der Heilungsprozess bei jedem Ulkus mit der Narbenbildung und einem Verlust der Hautanhangsgebilde abgeschlossen. Eine Narbe ist der gesunden, unverletzten Haut funktionell immer unterlegen. Eine narbenfreie Wundheilung ist lediglich bei Schädigungen der Haut möglich, die auf die Epidermis beschränkt bleiben; diese Wunden werden als Erosionen („Schürfwunden“) bezeichnet. Schleimhäute sind hingegen durch eine hohe Regenerationsfähigkeit und geringe Narben bildung gekennzeichnet.
8.1.1 Phasen der Wundheilung Die physiologische Wundheilung ist ein zeitlich und örtlich stringent kontrollierter Vorgang. Zur vereinfachten Darstellung werden mehrere Phasen unterschieden, die sich in einer bestimmten Abfolge zeitlich und räumlich überlappen (› Abb. 8.1). In den vergangenen Jahren gab es große Fortschritte
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8 Physiologie und Pathologie der Wundheilung
Abb. 8.1 Die Phasen der physiologischen Wundheilung, die sich räumlich und zeitlich überlappen: [P591/l231] a entzündliche Phase, H&E-Färbung; b proliferative Phase mit Angiogenese, CD31-Immunhistochemie; c Narbe, Sirius-Rot-Färbung und Analyse im polarisierten Licht; E = Epidermis, D = Dermis; HE = proliferierender epithelialier Wundrand; SF = subkutanes Fettgewebe
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in einem besseren Verständnis der molekularen und zellulären Steuerungsmechanismen, welche einem erfolgreichen Heilungsprozess zugrunde liegen. Initial kommt es zu einer ausgeprägten entzündlichen Reaktion, zur Eliminierung von defektem Gewebe und von Keimen. Es folgen die Induktion der Bildung neuer Gefäße sowie eine Aktivierung der Keratinozyten und Fibroblasten. Schließlich werden neues Gewebe in der Dermis gebildet und die Wunde epithelisiert. Nach dem Wundschluss folgen der narbige Umbau und die Anpassung des Ersatzgewebes an die biomecha nischen Erfordernisse.
Gerinnung und Entzündungsphase Die unmittelbare Folge jeder Verletzung, die über die Epidermis hinausgeht, ist die Aktivierung der Gerinnungskaskade. Vernetzte Fibrinmoleküle, Fibro nectin, Vitronectin und Thrombospondin dienen in der Folge als wichtige Leitstrukturen für einwan dernde Zellen (› Abb. 8.1a). Thrombozyten im Fibringerinnsel setzen eine Vielzahl unterschiedlicher Wachstumsfaktoren frei, z. B. VEGF, PDGF, TGFβ und Amphiregulin, die nachfolgende Wund heilungsprozesse einleiten. Zeitgleich kommt es infolge einer Gefäßdilatation und einer Erhöhung
8.1 Effiziente Komplexität der Wundheilung der Gefäßpermeabilität zu einer verstärkten An sammlung von Blutplasma im Interstitium. Dieser Vorgang unterstützt die Wundreinigung durch Aus schwemmung von Zelltrümmern, Fremdkörpern und Bakterien. Neutrophile Granulozyten wandern in das Wundareal ein und sorgen für die Abwehr ein gedrungener Mikroorganismen über Phagozytose und Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS). Die Produktion hochpotenter Proteasen wie bei spielsweise Leukozyten-Elastase, Cathepsin G, Pro teinase 3, uPA und die Matrixmetalloproteinasen (MMP) 8 und 9 bewirkt ein endogenes Débridement. Proinflammatorische Zytokine (IL-1α, -β, TNFα) stimulieren nachgeschaltete Mediatorsysteme wie beispielsweise KGF, IL-6, IL-8 und MCP1. Aus dem Blut rekrutierte Monozyten wandern nach 2 bis 3 Tagen in das Wundgewebe ein und differenzieren zu Wundmakrophagen; sie agieren als zentrale Effektoren der Angiogenese und der Fibroblastenproliferation. Die in das Wundgewebe infiltrierenden Mono zyten / Makrophagen reagieren auf eine Vielzahl von Umgebungssignalen aus dem verletzten Gewebe und integrieren diese in eine Repara turantwort. Die genauen molekularen Faktoren, welche die funktionale Plastizität der Makrophagen während eines Heilungsprozesses steuern, sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Insbesondere Studien in der Grundlagenforschung haben in der vergangenen Dekade zur Entschlüsselung der Mechanismen der Monozyten- / Makrophagen plastizität im Wundgewebe beigetragen. Klinische Studien bestätigten zwischenzeitlich das Konzept, dass über eine Modulation der Makrophagen aktivierung in eine das Gewebe zerstörende Ent zündung eingegriffen und die Wiederherstellung der Gewebeintegrität gefördert werden kann. Mono zyten / Makrophagen haben sich bei Wundheilungs störungen und der Förderung der Wundheilung als wichtiges therapeutisches Ziel herausgestellt.
Granulationsphase Das funktionell über Mediatorkreisläufe vernetz te gefäßreiche Granulationsgewebe sprosst entlang der provisorischen extrazellulären Matrix in den Gewebedefekt ein (› Abb. 8.1b). Nekrotisches Gewebe wird an der Einwanderungsfront abgebaut
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und neugebildete extrazelluläre Matrix (ECM) am Übergang zum Normalgewebe abgelagert. Im Verlauf nimmt die Zellzahl signifikant zu und Keratinozyten wandern über das Granulationsgewebe. In dieser Phase ist das Epithel fragil und sehr anfällig für Scher kräfte, z. B. beim Verbandwechsel. An der Wan derungsfront produzieren die Keratinozyten inter stitielle Kollagenase (MMP-1) und als Bestandteile der Basalmembran Fibronectin und Laminin-332. Distal gelegene Keratinozyten sind zusammen mit mesenchymalen Zellen des Granulationsgewebes an der Regeneration der Basalmembranzone betei ligt. In dieser Phase der engen Wechselwirkungen zwischen Epithel und Mesenchym ist die zeitliche und räumliche Balance der einzelnen Faktoren ent scheidend. Während die Initiierung der Granulations gewebsbildung ohne epithelialen Einfluss stattfindet, benötigen Keratinozyten für die Stimulation ihres Wachstums Reize des Wundgrundes.
Epithelisierung Wundrandständige und von den Hautanhangs gebilden abstammende Keratinozyten wandern über das Granulationsgewebe und führen durch Mitose und Zelldifferenzierung zur Wiederherstellung der epithelialen Barriere. Die Epithelisierung bringt die Wundheilung zum Abschluss. Parallel setzt die Ausreifung der kollagenen Fasern und der extra zellulären Matrix ein und das Gewebe kontrahiert. Das Granulationsgewebe wird zunehmend wasserund gefäßärmer, nimmt an Elastizität ab und bildet sich zu Narbengewebe um.
Frühes und spätes Narbengewebe Nach dem epithelialen Wundschluss ist die Barrierefunktion der Haut weitestgehend wieder hergestellt. Die epidermale Hyperproliferation und die für die Wundheilung typische Kerati nisierung, charakterisiert z. B. durch die Gen expression von Keratin 6 und 16, normalisiert sich. Im darunterliegenden Bindegewebe finden noch für längere Zeit Umbauprozesse statt, die das zell reiche, matrixarme Granulationsgewebe in ein zell armes, matrixreiches Narbengewebe umwandeln
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8 Physiologie und Pathologie der Wundheilung
(› Abb. 8.1c). Zellen des späten Granulations gewebes bzw. der frühen Narbe sterben möglicherweise durch programmierten Zelltod (Apoptose). Die den Zelltod auslösenden Signale und mögliche Konsequenzen für die Qualität der Narbenbildung sind bislang unzureichend definiert und Gegenstand aktueller Untersuchungen.
8.1.2 Pathologie der Wundheilung Die physiologischen Wundheilungsmechanismen können durch eine Vielzahl lokaler Störfaktoren und / oder systemischer Grunderkrankungen sowie Alterungsprozesse behindert werden. In den letzten Jahren haben neue Erkenntnisse in der Stamm zellbiologie, in der Genexpression und – regulation sowie in Techniken der Zellkultur und Entwicklung von Tiermodellen das Verständnis der Physiologie und Pathologie der Gewebereparatur entscheidend verbessert. Insbesondere die moderne Lokal therapie chronischer Wunden leitet sich aus der Kombination der neuen Erkenntnisse der Grund lagenforschung und der klassischen Therapie prinzipien ab. Um die zugrunde liegenden lokalen und systemischen Störfaktoren der Wundheilung zu erkennen und kausale Therapien einzuleiten, sind meist ausgedehnte differenzialdiagnostische Überlegungen – oft mit einem interdisziplinären Ansatz – erforderlich. 8
8.1.3 Wundheilung an der Schnittstelle zur Karzinogenese Allgemeiner Konsens besteht schon seit den frühen Beobachtungen durch Rudolf Virchow darin, dass die oben dargestellten grundlegenden zellulären Mechanismen, die den Gewebeaufbau in der physiologischen Wundheilung regulieren, prinzipiell auch das Wachstum und die Me tastasierung maligner Tumoren steuern. Parallele Abläufe zwischen der Wundheilung und der Karzinogenese werden insbesondere durch die Ent wicklung von Neoplasien im Rahmen einer chro nischen Entzündung deutlich. Eine chronische Wunde ohne Abheilungstendenz muss daher immer auch an ein neoplastisches
Geschehen denken lassen. So können sich bei spielsweise Plattenepithelkarzinome als MarjolinUlkus im Bereich persistierender Ulzera, älterer Narben, von Verbrennungen oder Bestrahlungs feldern entwickeln. Darüber hinaus kennzeichnen Blasenbildung, Wundheilungsstörungen der Haut und die Prädisposition zur Karzinomentwicklung das klinische Bild hereditärer Epidermolysen wie z. B. der Epidermolysis bullosa dystrophica und des Kindler-Syndroms. Somit gilt der Grundsatz: Be steht der klinische Verdacht auf eine neoplastische Veränderung, ist eine bioptische Abklärung er forderlich. Verzögerungen in der Diagnosestellung führen zu einer Verschlechterung der Prognose und einem erhöhten Risiko der Metastasierung. Deshalb sollten bei allen chronischen Wunden, die nicht innerhalb von acht Wochen auf eine adäquate Therapie ansprechen, Probebiopsien aus dem Wundrand und Wundbett entnommen werden. Ein exophytisch wachsender und / oder unregel mäßiger Wundrand, eine ungewöhnlich hohe Blutungsneigung und / oder Schmerzen können auf neoplastische Veränderungen hinweisen und sollten Anlass für eine histologische Abklärung sein. LITERATUR Brown A, Tantcheva-Poor I, Eming SA. Parallelen zwischen Wundheilung, chronisch entzündlichen Dermatosen und Neoplasien – Wissenswertes für die Praxis. Hautarzt 2014; 65: 934–943. Dissemond J, Augustin M, Eming SA et al. für die Arbeitsgemeinschaft Wundheilung (AGW) der DDG. Modern wound care – practical aspects of non-interventional topical treatment of patients with chronic wounds. J Dtsch Dermatol Ges 2014; 12: 541–554. Eming SA, Wlaschek M, Scharffetter-Kochanek K. Wound healing in the elderly. Hautarzt 2016; 67: 112–116. Eming SA, Martin P, Tomic-Canic M. Wound repair and regeneration: Mechanisms, signaling, and translation. Sci Transl Med 2014; 6: 265sr6. Löhrer R, Eming R, Wolfrum N, Krieg T, Eming SA. Autoinflammatory diseases as cause of wound healing defects. Hautarzt 2011; 62: 524–533. Martin P. Wound healing – aiming for perfect skin regeneration. Science 1997; 276: 75–81. Schäfer M, Werner S. Cancer as an overhealing wound: an old hypothesis revisited. Nat Rev Mol Cell Biol 2008; 9: 628–638. Willenborg S, Eming SA. Macrophages – sensors and effectors coordinating skin damage and repair. J Dtsch Dermatol Ges 2014; 12: 214–221.
8.2 pH-Wert und Wundheilung
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8.2 pH-Wert und Wundheilung Stephan Schreml
Kernaussagen • Obgleich die Mechanismen der Wundheilung auf zellulärer Ebene wissenschaftlich ausführ lich untersucht sind, ist der Kenntnisstand bezüglich klinischer Basisparameter, z. B. dem pH-Wert oder auch pO2 und H2O2, noch unzureichend. • Die Wundheilung wird stark durch Verände rungen des pH-Werts reguliert, da diese die Enzymaktivität regulieren (z. B. Matrixmetallo proteinasen), die Proliferation und Migration von Zellen alterieren (z. B. Keratinozyten, Fibroblasten) und die Aktivität therapeutisch eingesetzter Enzyme (z. B. Streptokinase) beeinflussen.
8.2.1 Einführung Der Heilungsprozess kutaner Wunden hängt von lokalen Wundfaktoren, systemischen Mediatoren, möglichen zugrunde liegenden Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Durchblutungsstörungen sowie der Art der Hautverletzung ab. Abhängig vom Gleichgewicht der beteiligten Faktoren, ist der Wundheilungsprozess entweder physiologisch (akute Wunden) oder pathologisch verzögert (chronische Wunden). Chronische Wunden sind durch unzureichende Reparaturmechanismen gekennzeichnet, die das Erreichen eines dauer haften anatomischen und funktionellen Ergeb nisses in einer angemessenen Zeitspanne ver hindern. Chronische Wunden stellen daher in der interdisziplinären Behandlung eine große Heraus forderung dar. Die Heilung akuter (physiologisch) Wunden be steht aus drei zeitlich und räumlich überlappenden Phasen (› Kap. 8.1): 1. Entzündung 2. Proliferation (Neoangiogenese, Granulation, Re epithelisierung) 3. Geweberstrukturierung (Tissue Remodeling), z. B. Organisation der extrazellulären Matrix (ECM)
• Die zelluläre Verarbeitung der pH-Ver änderungen im Extrazellulärraum wird u. a. durch Protonen-sensitive G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (pH-GPCRs) mediiert. • pH-Wert-Verschiebungen verändern das Mikrobiom auf Wunden, was ein Problem bei der Heilung chronischer Wunden darstellen kann. • Der pH-Wert wird in den aktuellen Behand lungsregimen selten berücksichtigt. Kennt nisse über den pH-Wert von Wunden und eine dementsprechend adaptierte Wundtherapie könnten zukünftig die Heilung chronischer Wunden verbessern.
Die initiale Entzündungsphase nach einer Ver letzung der Haut bewirkt die Ausschüttung von Zytokinen, Chemokinen, Wachstumsfaktoren und Wasserstoffperoxid (H2O2). Diese chemoattraktiven Faktoren rekrutieren verschiedene Zelltypen wie z. B. Granulozyten und Makrophagen in die Wunde und leiten so die Wundheilung ein. Auch haben die pH-Gradienten des Wundmilieus eine erhebliche Auswirkung auf zelluläre Funktionen wie Proliferation und Mi gration. Die anschließende Proliferationsphase beginnt mit einer zeitlichen Überlappung. Diese Phase ist gekennzeichnet durch Neoangiogenese, die Bildung von Granulationsgewebe und extrazellulärer Matrix sowie der Reepithelialisierung. Die Neoangiogenese ist durch die erhöhte Stoffwechselaktivität für den Nachschub an Nährstoffen, Sauerstoff und weiterer Faktoren essenziell. Fibroblasten proliferieren und Kollagensynthese sowie -ablagerung sind deutlich hochreguliert. Nach der Entstehung des eigentlichen Wundbetts wird die Wundoberfläche mit einer Epi thelschicht überzogen. Die Reepithelialisierung basiert auf der Differenzierung, Proliferation und Migration von epidermalen Keratinozyten, die ak tiviert werden und von den Wundrändern in die Wundmitte migrieren. Hier konnte kürzlich gezeigt
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8 Physiologie und Pathologie der Wundheilung
werden, dass der pH-Wert für die zentripetale Migration von Keratinozyten und für deren Pro liferation am Wundrand entscheiden ist. Die Geweberestrukturierung beginnt wenige Tage nach der Hautverletzung und kann bis zu zwei Jahre dauern. In dieser Phase trägt eine Reihe von Proteinasen zur koordinierten Wundheilung bei. Diese Proteinasen werden durch das Wundmilieu in ihrer Aktivität modifiziert, z. B. durch Ver änderungen des pH-Werts in den verschiedenen Stadien der Wundheilung. Veränderungen des pH-Werts im Wundmilieu haben dabei massiven Einfluss auf die Aktivität der an diesen Prozessen beteiligten Enzyme wie z. B. Matrixmetalloprotein asen (MMPs). Im Gegensatz zur akuten Wundheilung unterliegen chronische Wunden nicht dem ein deutig definierten schrittweisen Heilungsprozess akuter Wunden, sondern sind durch ungeregelte permanente Entzündung gekennzeichnet, welche die Bildung einer anatomischen und funktionellen Integrität in einer angemessenen Zeitspanne beein trächtigt. Für einen detaillierteren Einblick in das pa thophysiologische Verhältnis zwischen pH-Wert und Wundheilung konzentrieren sich die nachstehenden Abschnitte auf Faktoren, welche die Hautoberfläche bzw. den pH-Wert der Wunde beeinflussen, sowie auf die Auswirkung von Veränderungen des pHWerts auf den Wundheilungsprozess. 8
8.2.2 Einfluss verschiedener Faktoren auf den pH-Wert der Haut Der pH-Wert der Hautoberfläche darf nicht mit dem pH-Wert der unterschiedlichen Hautschichten verwechselt werden. Der pH-Wert des Stratum corneum steigt mit zunehmender Tiefe ab der Haut oberfläche allmählich an. Aufgrund des Fehlens des Stratum corneum und der tieferen Hautschichten muss der pH-Wert von Hautwunden gesondert betrachtet werden. Der durchschnittliche pH-Wert der Hautoberfläche wird meist am volaren Unter arm gemessen. Das in der Literatur beschriebene Spektrum reicht von 4,0 als niedrigstem Wert bis etwa 6,5. Üblicherweise liegt der Bereich am volaren Unterarm bei standardisierten Bedingungen (Tem
peratur, Luftfeuchtigkeit, kein Waschen der Haut für 24 Stunden bis mehrere Tage vor Messung) zwischen etwa 4,5 und 5,5, was wir in mehreren Untersuchungen nachweisen konnten. Es wird vermutet, dass viele verschiedene Fak toren Auswirkungen auf den pH-Wert der Haut oberfläche haben; allerdings sind die Ergebnisse der Studien oft widersprüchlich. In der Literatur wurden Unterschiede im pH-Wert der Haut oberfläche je nach Lokalisation beschrieben, die jedoch, mit Ausnahme intertriginöser Regionen, in anderen Studien häufig nicht bestätigt werden konnten. Abgesehen davon wurde ein zirkadianer Rhythmus des pH-Werts am Unterarm mit etwa 5,3 am Spätnachmittag und von circa 4,9 in der Nacht beschrieben. Einige Autoren berichteten über einen niedrigeren pH-Wert der Hautoberfläche von Männern als der von Frauen, während andere Autoren keine geschlechtsspezifischen Unterschiede feststellen konnten. Ein Grund für diese Wider sprüche könnten die unterschiedlichen und nicht standardisierten Bedingungen in den verschiedenen Studien sein. Standardisierte Konditionen sind für Studien des pH-Werts der Hautoberfläche von großer Bedeutung, weil Routineverfahren wie z. B. Übergießen mit Leitungswasser den pH-Wert für viele Stunden erhöhen. Es sollte beachtet werden, dass Leitungswasser in vielen europäischen Ländern einen pH-Wert von 8 hat. Es wurden mehrere endogene Signalwege iden tifiziert, die zum Säuregrad des Stratum corneum beitragen: • Erzeugung von cis-Urocaninsäure (cUCA) aus Filaggrin • Durch sekretorische Phospholipase A2 kataly sierte Generierung freier Fettsäuren aus Phos pholipiden • Azidifizierung durch den Natrium-Protonen-Aus tauscher NHE1 (siehe unten) Andere Protonentransporter wie z. B. Monocarboxy lat-Transporter (MCTs) scheinen hier weniger eine Rolle zu spielen. Aufgrund des fehlenden Stratum corneum wurden in akuten und chronischen Wunden höhere pH-Werte als auf einer intakten Hautoberfläche gemessen. In akuten Wunden liegen initial pH-Werte von 7 bis über 8 vor und auch auf chronischen venösen Ulzera finden sich oft hohe Werte von im Durchschnitt über 7.
8.2 pH-Wert und Wundheilung
8.2.3 pH-Wert des Stratum corneum und Regulation der Hautbarriere Für eine detailliertere Beschreibung der Physiologie und Pathophysiologie der Hautbarriere möchten wir auf eine Arbeit von Madison (2003) verweisen. Die Lamellenkörperchen und die Fettzusammen setzung im Stratum corneum sind wesentliche Be standteile der Hautbarriere. Diese werden u. a. durch epidermale Eisen- und Kalziumgradienten reguliert, die von den Veränderungen des pHWerts des Stratum corneum abhängen. Die direkte Regulation der epidermalen Barriere-Homöo stase und der Integrität des Stratum corneum durch dessen pH-Wert ist gut erforscht. Sowohl der durch Serin-Protease verursachte Abbau der Corneodesmosomen (z. B. auch Desmoglein 1) als auch die β-Glucocerebrosidase-Aktivität (bedeutend für die Verarbeitung von Lipiden) werden von Ver änderungen des pH-Werts beeinträchtigt. Ein molekularer Hinweis für die Bedeutung der Protonenproduktion für die Wiederherstellung der Hautbarriere wurde bei Untersuchungen des Natrium-Protonen-Austauschers NHE 1 gefunden. NHE 1 ist ein spezifischer Natrium-Protonen-Aus tauscher, der den pH-Wert des Stratum corneum und auf der Hautoberfläche reguliert. Im Vergleich zu Wildtyp-Mäusen zeigten NHE 1(– / –)-Mäuse eine signifikant verzögerte Wiederherstellung der Hautbarriere. In eigenen Arbeiten konnten wir zeigen, dass im Verlauf der akuten Wundheilung von Spalthautent nahmestellen im Randbereich die Expression von NHE1 kontinuierlich ansteigt und damit zur Wieder herstellung des pH-Wertes bzw. der epidermalen Barriere beiträgt. In chronischen venösen Wunden fanden wir am Wundrand eine deutlich erhöhte NHE-Expression im Vergleich zum Wundzentrum, was möglicherweise die am Wundrand gefundenen niedrigen pH-Werte (circa 6,5) im Vergleich zu den hohen Werten im Wundzentrum (circa 7,5) erklärt. Wir fanden weiterhin, dass diese pH-Gradienten die Proliferation von Keratinozyten am Wundrand und deren zentripetale Migration behindern und somit ein Grund für die Persistenz chronischer Wunden darstellen könnten (siehe unten). Veränderungen der Expression von anderen untersuchten Protonen transportern wie z. B. Monocarboxylat-Trans
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portern (MCTs) waren hingegen nicht festzustellen. Dies zeigt die Bedeutung eines genau regulierten pHWerts für die Wundheilung.
8.2.4 Zelluläre Verarbeitung von Signalen durch veränderte extrazelluläre pH-Werte Es sind vier Protonen-sensitive G-Proteingekoppelte Rezeptoren (GPCRs) bekannt: GPR4 (GPR19), TDAG8 (GPR65, T-Cell Death-associated Gene 8), OGR1 (GPR68, Ovarian Cancer GPCR 1) und G2A (GPR132, G2 Accumulation Protein). Diese GPCRs werden unterschiedlich stark in ver schiedenen Geweben exprimiert, jedoch weiß man äußerst wenig über ihre Expression in der Haut und in Wunden. Diese GPCRs werden hauptsächlich durch die Protonierung verschiedener Histidin reste aktiviert, sobald der extrazelluläre pH unter den physiologischerweise vorliegenden Wert fällt, also beispielsweise den pH-Wert, den wir im Rand bereich chronischer Wunden gefunden haben. Bis lang ist bekannt, dass diese Protonen-sensitiven GPCRs bei der Tumorzellproliferation, Apoptose, Metastasierung, Angiogenese, der Funktion von Immunzellen und bei inflammatorischen Prozessen eine Rolle spielen. Dies ist vor allem interessant, da Tumoren und Wunden sehr viele Gemeinsam keiten aufweisen, die u. a. durch Schwankungen des extrazellulären pH-Wertes reguliert werde (› Tab. 8.1). Eine positive oder negative Modulation einer Vielzahl anderer GPCRs ist bereits ein erfolgreiches Instrument zur Behandlung vieler Krankheiten, wie beispielsweise von Allergien, Magenulzera und Bluthochdruck. Mehr als 50 % der auf dem Markt befindlichen Pharmaka wirken dabei direkt oder indirekt über GPCRs. Zusätzlich zu den Protonen-sensitiven GPCRs ist bekannt, dass im zentralen Nervensystem so genannte Acid-sensing Ion Channels (ASICs) Schwankungen der extrazellulären Protonenkon zentration registrieren. Weder die Expression noch die mögliche Rolle solcher ASICs in Wunden ist erforscht. Weitere Protonen-sensitive Proteine sind die TRPVs 1 und 4 (Transient Receptor Po tential Channel Vanilloid Subfamily), die bei der
8
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8 Physiologie und Pathologie der Wundheilung
Tab. 8.1 Gemeinsamkeiten von Tumorwachstum und Wundheilung in Bezug auf den pH-Wert pH-Dysregulation
Tumoren Inverser zellulärer pH-Gradient pHe ~6,2–7,0 200 Meter (Stadium IIa) • Bei Gehstrecke 15 % II°ige Verbrennung • > 10 % III°ige Verbrennung • < 8 und > 60 Jahre
Die Therapie der frischen Verbrennungswunde richtet sich in allererster Linie nach ihrer Tiefe (s. o.). Erstgradige Verbrennungen bedürfen in der Regel lediglich einer rein symptomatischen Therapie. Bei Verbrennungen II° sollte bei der Aufnahme zunächst in Analgosedierung die Abtragung der Blasen erfolgen. Erst dieser Schritt ermöglicht die Beurteilung der Tiefe und damit die Festlegung der weiteren Therapie (› Abb. 14.2). Bei IIa°igen Verbrennungen ist eine spontane Abheilung binnen circa zwei Wochen zu erwarten. Es existiert eine Vielzahl von Wundauflagen für diese Indikation. Dies reicht von einfachen Wunddistanzgittern wie z. B. Fettgaze bis hin zu Auflagen aus Seide, Milchsäure o. ä. Ziel der topischen Therapie ist die Vermeidung von Infekten, möglichst lange Intervalle zwischen den Verbandwechseln, Schmerzarmut für den Patienten und eine zügige Abheilung. Im eigenen Patientengut erfolgt häufig die Anwendung von Fettgaze in Kombination mit einem topischen Antiseptikum in Gelform. Hier empfiehlt sich der zweitägige Verbandwechsel zur erneuten Gelapplikation und Beurteilung der Wundflächen. Alternativ können Wundauflagen verwendet werden, die, wie oben beschrieben, längere
Abb. 14.1 Patient mit Verbrennungen beider Unterschenkel bei Aufnahme im Verbrennungsbad [P578]
Abb. 14.2 Erst nach mechanischem Débridement von Blasen und Ruß kann die Tiefe der Verbrennung genauer abgeschätzt werden. Der rechte Unterschenkel ist großteils IIa°ig verbrannt (rötlicher Wundgrund), der linke insbesondere zentral IIb°ig (auch blasenbildend, aber mit hellem, avaskulärem Wundgrund). [P578]
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14 Krankheitsbilder bei Verbrennungen
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Abb. 14.3 Großteils III°ige Verbrennung der Schulter und des Armes. Man beachte den ledrigen Aspekt der Läsion. [P578]
Intervalle zwischen den Verbandwechseln zulassen. Dies empfiehlt sich insbesondere bei sicher IIa°igen Verbrennungen und auch bei Kindern, um die periprozedurale Belastung möglichst gering zu halten. Aufgrund der Beeinträchtigung der Perfusion sowie der Zerstörung der Basalzellschicht ist bei einer IIb°igen Verbrennung keine Spontanheilung zu erwarten. Daher dient die initial begonnene topische Therapie in besonderem Maße der Vermeidung von Infektionen. Hier werden daher in den allermeisten Fällen wie o. g. Fettgaze und topische Antiseptika verwendet. Die weitere Therapie der IIb°igen Verbrennung erfolgt in der Regel chirurgisch. Ähnlich verhält es sich bei der III°igen Verbrennung (› Abb. 14.3). Bei zirkulären III°igen Verbrennungen ist zudem zu beachten, dass diese stark kontrahieren und so zu Perfusionsstörungen im Bereich der Extremitäten bzw. am Thorax zu Exkursionsproblemen führen können.
14.5.1 Débridement Ab einer IIb°igen Verbrennung liegen nekrotische Gewebeanteile vor, die entfernt werden müssen, um eine Abheilung zu erreichen. Bis in die 1970er-Jahre hinein wurde mit einem chirurgischen Débridement häufig lange zugewartet, in der Hoffnung, dass sich der Patient bis dahin stabilisieren würde. Erst durch die Arbeiten von Janzekovic änderte sich dies hin zu einer frühen Exzision der Nekrosen und anschließender Defektdeckung mit autologen Hauttransplantaten. Sie konnte zeigen, dass ein solches
Vorgehen mit einer deutlich geringeren Morbidität und Mortalität einhergeht. Ein Débridement der nekrotischen Gewebeteile kann auf verschiedene Arten erfolgen. In den letzten Jahren hat zunehmend das enzymatische Débridement an Bedeutung gewonnen. Dies erfolgt z. B. mittels Ananasenzymen (NexoBrid®) und birgt den Vorteil einer selektiveren Abtragung der Nekrosen. Beim chirurgischen Débridement wird zwischen zwei grundlegend verschiedenen Techniken unter schieden. Beim tangentialen Débridement werden dünne Gewebeschichten tangential entfernt, bis vitaler Wundgrund – erkennbar an punktuellen Blutungen – zutage tritt. Vorteil dieser Technik ist der potenzielle Erhalt dermaler und subdermaler Strukturen, die langfristig zu einem besseren Narbenbild führen. Nachteilig sind der hohe zeitliche Aufwand sowie ein erhöhter Blutverlust. Die tangentiale Technik findet insbesondere bei IIb°igen Verbrennungen Anwendung, da hier bei einer intradermalen Schädigung vitale Dermisanteile verbleiben, die auf diese Weise erhalten werden können. Die tangentiale Nekrektomie erfolgt meistens mittels eines speziellen Messers, dem sogenannten Weck-Messer®. Durch die Vorwahl einer Schablone lässt sich eine definierte Abtragungstiefe einstellen. Für größere Flächen bietet sich das Humby-Messer® an, mit dessen Hilfe auch großflächige Nekrosen schnell débridiert werden können. An besonders diffizilen Stellen wie den Händen oder dem Gesicht können HydrochirurgieSysteme nützlich sein, um eine möglichst feine und sparsame Abtragung der Nekrose zu erreichen. Das Gegenstück zur tangentialen Nekrektomie stellt die epifasziale Nekrektomie dar. Hier wird die komplette Haut nebst Unterhautfettgewebe bis auf die Muskelfaszie abgetragen. Sie findet in der Regel bei III°igen Verbrennungen Anwendung, da hier eine transdermale Schädigung vorliegt. Verwendet werden dazu konventionelle Instrumente. Um den Blutverlust zu minimieren, werden hier überwiegend monopolare Schneideinstrumente eingesetzt. Die epifasziale Nekrektomie bietet den Vorteil des schnellen und blutsparenden Vorgehens, jedoch auf Kosten des gesamten Subkutangewebes und evtl. vorhandener Dermisanteile. Die nachfolgende Hauttransplantation direkt auf die Faszie führt dann aufgrund der mangelnden Verschiebeschicht häufig zu stark adhärenten, schmerzhaften und einschränkenden Narben. Daher geht man aktuell
14.5 Therapie der frischen Verbrennungswunde
Abb. 14.4 Massiver Infekt und verbliebene Nekrosen bei einem Patienten mit 85 % verbrannter Körperoberfläche und temporärer Deckung mit Fremdhaut. [P578]
eher dazu über, auch beim Erwachsenen teilweise nur in das das subkutane Fettgewebe und nicht bis auf die Faszie zu débridieren. Durch verschiedene Konditionierungstechniken, z. B. Unterdrucktherapie, kann dann über mehrere Sitzungen ein Wundgrund erreicht werden, der noch eine Verschiebeschicht bietet und eine Spalthauttransplantation aufnehmen kann. Bei sehr ausgedehnten Flächen oder instabilen Patienten kann es erforderlich sein, eine epifasziale Nekrektomie durchzuführen, um Zeit und Blut zu sparen. Zudem ergibt sich durch die längere Zeit bis zum definitiven Verschluss ein höheres Infektionsrisiko (› Abb. 14.4). Hier muss also das Erreichen einer potenziell besseren Narbenqualität sorgfältig gegen den längeren Behandlungsverlauf und die damit assoziierten Risiken abgewogen werden. Bei Strom- und Verkohlungsverletzungen sind häufig tiefere Strukturen wie Muskeln, Faszien und Sehnen betroffen. Hier muss die radikale Resektion alles avitalen Gewebes erfolgen, um Infekten vorzubeugen und eine Defektdeckung zu ermöglichen. Häufig sind bei diesen Verletzungen Kompartmentspaltungen indiziert, sodass die Muskulatur direkt inspiziert werden kann.
14.5.2 Hautersatz Nach Débridement des Verbrennungsschorfes ist der Verschluss der Wundfläche von entscheidender Bedeutung, um eine zeitnahe Abheilung zu erreichen.
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Dies geschieht in den meisten Fällen mittels autologer Spalthauttransplantation. Die Haut wird mit einem Dermatom in einer Dicke von 0,2–0,3 mm entnommen. Klassische Entnahmestellen sind hier die Oberschenkel und bei Kindern der Kopf. Bei großflächigen Brandverletzungen ist die Auswahl an zur Verfügung stehenden Spenderstellen häufig limitiert, sodass auch weniger günstige Entnahmestellen in Kauf genommen werden müssen. In ästhetisch und funktionell relevanten Bereichen wie dem Gesicht und den Händen wird die zu transplantierende Haut häufig nur gestichelt, um eine Drainage des Wundsekrets zu gewährleisten. In anderen Arealen steht die Expansion der Haut im Vordergrund, sodass hier sogenannte Mesh-graftTransplantate angewendet werden (› Abb. 14.5). Hierzu wird die Haut mittels einer Walze netzförmig expandiert. Je nach genutzter Walze lassen sich Oberflächenvergrößerungen von 1:1,5 bis 1:9 erreichen. Je größer die Maschenweite, desto schlechter und langsamer die Einheilung, weswegen in den meisten Fällen ein Verhältnis von 1:1,5 gewählt wird. Wenn aufgrund der Ausdehnung der Verbrennung nicht ausreichend autologe Haut zur Verfügung steht, können die débridierten Areale auch mit temporären Hautersatzmaterialien bedeckt werden, um abzuwarten, bis sich Spenderstellen oder IIa°ige Areale regeneriert haben. Hier kommen beispielsweise menschliche Spenderhaut oder auch xenogene Produkte zum Einsatz.
Abb. 14.5 Zustand nach chirurgischem Débridement und Spalthauttransplantation. Man beachte das Netzmuster am Arm bei Mesh-graft-Transplantation auf eine tangentiale Nekrektomiestelle. Auffallend ist zudem die deutliche Weichteilstufe am ventralen Thorax nach epifaszialer Nekrektomie. Inmitten der Großteils angewachsenen Hauttransplantate zeigen sich Inseln septischer Hypergranulation. [P578]
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14 Krankheitsbilder bei Verbrennungen
14.5.3 Weitere Verfahren
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Eine Sonderform des Hautersatzes stellt die Technik nach Meek dar, bei der die entnommene Haut mittels eines aufwendigen Systems als Epithelinseln transplantiert wird. Dies ermöglicht die effiziente Nutzung auch kleinster Spenderstellen und ein noch größeres Expansionsverhältnis. Auch die Aufbereitung von autologen Keratinozyten zu Sprühsuspensionen und deren anschließende Applikation auf die Wunde kann bei Verbrennungen Anwendung finden. Bei besonders ausgedehnten Verbrennungen, bei denen nicht ausreichend autologe Spenderstellen zur Verfügung stehen, können autologe Keratinozyten gezüchtet werden. Hierzu bedarf es einer wenige Quadratzentimeter großen Hautbiopsie, aus der dann in spezialisierten Instituten autologe Keratinozyten kultiviert und vermehrt werden können. Diese werden anschließend als Sheets auf die Verbrennungswunden appliziert und können beispielsweise mit dermalen Matrizes oder Spenderhaut (Sandwichverfahren) kombiniert werden. Neben der Wiederherstellung der Hautbarriere kommt insbesondere dem Unterhautgewebe und damit der resultierenden Narbenqualität eine besondere Bedeutung zu. Wie bereits oben erwähnt, kann das subkutane Fettgewebe konditioniert werden, um eine Hauttransplantation aufzunehmen. Sollte dies z. B. aufgrund der thermalen Destruktion nicht möglich sein, besteht die Möglichkeit, kommerziell erhältliche dermale Ersatzmatrizes anzuwenden. In Abhängigkeit von ihrer Dicke und Beschaffenheit können diese entweder direkt mit einem Hauttransplantat bedeckt werden oder sie brauchen einige Zeit, bis Gefäße aus dem Wundbett eingesprosst sind und die Matrix vaskularisiert haben.
14.6 Therapie infizierter Verbrennungswunden 14.6.1 Prävention, Diagnostik und Keimspektrum Eines der Hauptrisiken bei Patienten mit ausgedehnten Verbrennungsverletzungen stellt die Wundinfektion dar. Dies erklärt sich, neben den
großen Wundflächen, auch durch die reduzierte Immunkompetenz. Daher sind Maßnahmen der Prävention hier von entscheidender Bedeutung. Diese beginnen mit dem entsprechenden Personalschlüssel, um eine 1:1- oder 1:2-Betreuung schwerbrandverletzter Patienten zu gewährleisten. Zudem sollten Verbrennungspatienten in Einzelboxen mit separater Klimaregulation und Schleusensystem untergebracht werden. Verbandwechsel sollten unter sterilen Kautelen erfolgen, um die Keimbelastung möglichst zu reduzieren. Trotz all dieser Maßnahmen kann es zu lokalen und systemischen Infektionen kommen. Die primäre Diagnostik der Wundinfektion erfolgt klinisch im Rahmen der Verbandwechsel. Hier sind immer auch Abstriche der Wunde und des Nasen- / Rachenraums zu gewinnen. Am häufigsten nachgewiesen werden Koagulase-negative Staphylokokken im Rahmen der Standortflora. Insbesondere problematisch sind jedoch gramnegative Keime. Sie sind mit einer höheren Mortalität assoziiert und führen häufiger zu Transplantatverlusten. Wie in anderen Bereichen gewinnen auch bei Verbrennungspatienten multirestistente Erreger (MRE) an Bedeutung. Neben MRSA sind hier multiresistente Pseudomonaden zu nennen. Auch Keime mit hoher Resilienz wie insbesondere Acinetobacter baumanii sind für Verbrennungsintensivstationen zunehmend ein Problem. Unter diesem Gesichtspunkt stellt eine regelmäßige Surveilance des individuellen Keimspektrums eine absolute Notwendigkeit dar.
14.6.2 Topische und systemische Therapie Jede topische und systemische antibiotische Therapie geht mit dem Risiko einer Selektion resistenter Keime einher und sollte daher mit Bedacht eingesetzt werden. Wie bereits beschrieben, können auch bei der infizierten Wunde multiple topische Antiseptika zur Anwendung kommen. Am häufigsten finden hier aktuell Polihexanidpräparate Anwendung. Diese weisen jedoch beispielsweise eine Pseudomonas-Lücke auf, sodass hier z. B. Jodpräparate eingesetzt werden können. Neben der geringen Zytotoxizität der anzuwendenden Präparate sollte auch auf eventuelle Wechselwirkungen
14.8 Fazit mit Wundauflagen sowie einen möglichen Eiweißfehler geachtet werden. In Anbetracht der Zunahme von MRE kommen auch bei der topischen Behandlung Reservetherapeutika in Einzelfällen in Betracht. Eine systemische antiinfektive Therapie sollte nur bei klinisch relevanter systemischer Infektion erfolgen. Bei stabilem Allgemeinzustand sollte nach Möglichkeit auf einen Keimnachweis zur Einleitung einer gezielten Therapie gewartet werden. Bei schweren Infektionen kann eine kalkulierte Breitbandantibiose begonnen werden. Hier ist zu berücksichtigen, dass initial häufig grampositive Keime dominieren, während sich das Keimspektrum im Verlauf in den gramnegativen Bereich verschiebt.
14.6.3 Chirurgische Therapie Ausgenommen von kleinen, isolierten Infektherden benötigt eine infizierte Verbrennungswunde in den meisten Fällen auch eine chirurgische Therapie. Solche Infektionen gehen in den meisten Fällen von verbliebenen Nekrosen aus, die eines chirurgischen Débridements bedürfen.
14.7 Verbrennungsfolgen Die bedeutendste Folge von Verbrennungen stellt die großflächige Narbenbildung dar. Die Narbenqualität kann durch den Erhalt beziehungsweise den Ersatz von Unterhautgewebe verbessert werden. Auch eine schnelle Defektdeckung trägt zu einer Reduktion der Narbenlast bei, da die Zeit bis zur Abheilung direkt mit der Ausbildung von Narben korreliert. Häufig werden aufgrund funktionell und ästhetisch störender Narben Folgeeingriffe erforderlich. Diese reichen vom Auflösen von Narbensträngen mittels Z-Plastiken bis zu deren Resektion und Rekonstruktion mittels Vollhauttransplantaten oder freien Lappenplastiken. Auch die Transplantation von autologem Fettgewebe zur Verbesserung der Narbenqualität gewinnt zunehmend an Bedeutung. Für die Verbesserung der Narbenqualität können zudem perkutane Kollageninduktionen (Medical Needling) oder auch Dermabrasio beziehungsweise Laserresurfacing erfolgen.
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Überdies besteht im Bereich von Verbrennungsnarben immer das Risiko einer malignen Entwicklung mit der Entstehung eines Plattenepithelkarzinoms, dem sogenannten Marjolin-Ulkus. Bei chronischen Wunden im Bereich von Narben oder instabilen Hautarealen sollte daher eine Biopsie zur Klärung der Dignität erfolgen, wobei das Risiko mit der Dauer des Bestehens der Narbe beziehungsweise der Ulzeration korreliert.
14.8 Fazit Für die adäquate Therapie von Verbrennungen und die Festlegung einer Strategie ist zunächst die korrekte Abschätzung von Tiefe und Ausdehnung essenziell. Entsprechend therapiert, stellen heutzutage auch schwerste Verbrennungen Verletzungen dar, die überlebt werden können. Hierzu bedarf es neben einem multidisziplinären Konzept insbesondere eines frühen chirurgischen Débridements und der Rekonstruktion der Hautoberfläche. Zunehmend an Bedeutung gewinnt die Verbesserung des Narbenbildes, z. B. durch die Nutzung dermaler Ersatzstoffe. Infektionen stellen trotz ausgedehnter Präventionsmaßnahmen ein häufiges Problem dar und können mit dem Verlust von Spalthauttransplantaten und einer höheren Mortalität einhergehen. Auch über die Akutphase hinaus benötigen Verbrennungspatienten häufig noch Folgeeingriffe zur Korrektur von Narbensträngen. LITERATUR Hirsch T, Limoochi-Deli S, Lahmer A et al. Antimicrobial activity of clinically used antiseptics and wound irrigating agents in combination with wound dressings. Plast Reconstr Surg 2011; 127: 1539–1545. Kolbenschlag J, Goertz O, Behr B et al. Antiseptika in der Plastischen Chirurgie. Handchir Mikrochir Plast Chir 2012; 44: 254–258. Lehnhardt M, Hartmann B, Reichert B (Hrsg.). Verbrennungschirurgie. Heidelberg: Springer; 2016. Pruit, BA Jr, McManus AT, Kim SH et al. Burn wound infections: current status. World J Surg 1998; 22: 135–145. Pruitt BA Jr, McManus AT. The changing epidemiology of infection in burn patients. World J Surg 1992; 16: 57–67. Vogt PM, Mailänder P, Jostkleigrewe FRB, Hartmann B, Adams HA. Zentren für Schwerbrandverletzte in der Bundesrepublik Deutschland. GMS Verbrennungsmedizin 2008. GMSVerbrennungsmedizin 2008; 2: Doc03.
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KAPITEL
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Joachim Dissemond, Knut Kröger
Seltenere Ursachen chronischer Wunden Kernaussagen
• Für eine erfolgreiche Behandlung von Patienten mit chronischen Wunden ist es wichtig, alle pathogenetisch relevanten Faktoren zu diagnostizieren, um eine kausal ansetzende Therapie zu ermöglichen. • Neben Vaskulitiden und Vaskulopathien gibt es beispielsweise neuropathische, metabolische, hämatologische und exogene Faktoren sowie Neoplasien, Infektionen, Medikamente, genetische Defekte und primäre Dermatosen, die chronische Wunden verursachen können.
15.1 Einleitung In Europa können die meisten chronischen Wunden einem Ulcus cruris venosum, diabetischem Fußulkus, Dekubitus oder arteriellen Wunden zugeordnet werden. Mindestens 10 bis 20 % aller Wunden entsprechen allerdings keiner dieser häufiger auftretenden Ursachen. Es wurden bereits über mehrere Hundert von eher selten diagnostizierten Entitäten für chronische Wunden berichtet, von denen hier eine Auswahl vorgestellt wird (› Tab. 15.1). Die Kenntnis der Ursache(n) ist nach entsprechender Diagnostik die Grundlage einer adäquaten, meist interdisziplinären und interprofessionellen Therapie.
15.2 Krankheitsbilder 15.2.1 Vaskulitis Vaskulitiden umfassen verschiedene Krankheitsbilder, die zu Entzündungen der Gefäßwände mit nachfolgender Schädigung führen. Die Einteilung
• Es können auch multiple Ursachen sowie Kofaktoren und Komorbidiätaten sein, die zu chronischen Wunden führen bzw. deren Abheilung verhindern. • Insbesondere bei atypischer Lokalisation oder therapierefraktären Verläufen von Wunden ist die Abklärung ansonsten seltenerer Ursachen von entscheidender Bedeutung.
erfolgt entsprechend der Klassifikation der ChapelHill-Konsensuskonferenz (› Tab. 15.2). Trotz sehr großer Unterschiede der verschiedenen Vaskulitiden gibt es einige Gemeinsamkeiten bei den klinischen Erscheinungsbildern an der Haut. So kommt es oft zu einer Purpura, im weiteren Verlauf ggf. auch zu Tab. 15.1 Ursachen chronischer Wunden (Auswahl) • Gefäßerkrankungen, z. B. chronische venöse Insuffizienz,
periphere arterielle Verschlusskrankheit, Lymphödem • Vaskulitiden / Vaskulopathien, z. B. kutane leukozytoklas-
tische Angiitis, Polyarteritis nodosa, Livedovaskulopathie • Dermatologische Erkrankungen, z. B. Pyoderma gan-
graenosum, Necrobiosis lipoidica, Epidermolysis bullosa • Infektionskrankheiten, z. B. Ekthyma, Leishmaniose,
Mykobakteriose • Neoplasien, z. B. Basalzellkarzinom, Plattenepithelkar-
zinom, Lymphom Erkrankungen, z. B. Kalziphylaxie, Oxalose, Diabetes mellitus • Medikamente, z. B. Hydroxyurea, Anagrelid, Cumarin • Exogene Faktoren, z. B. Dermatitis artefacta, Radiatio, Trauma • Hämatologische Erkrankungen, z. B. Sichelzellanämie, Dysproteinämie, Leukämie • Genetischer Erkrankungen, z. B. Klinefelter-Syndrom, Progeroid-Syndrom, Faktor-V-Leiden-Mutation • Metabolische
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15 Seltenere Ursachen chronischer Wunden
Tab. 15.2 Klassifikation von Vaskulitiden entsprechend der Einteilung der Chapel-Hill-Konsensuskonferenz von 2012 Vaskulitis größerer Gefäße
Beispiele • Takayasu-Arteriitis • Riesenzellarteriitis
Vaskulitis mittelgroßer Gefäße
• Polyarteriitis nodosa • Kawasaki-Erkrankung
Vaskulitis kleinerer Gefäße
• ANCA-assoziierte
Vaskulitis • Mikroskopische Polyangiitis • Granulomatose mit Poly-
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angiitis (Wegener) Granulomatose mit Polyangiitis (Churg-Strauss) • Immunkomplex-Vaskulitis • Hypokomplementämische Vaskulitis • Kryoglobulinämische Vaskulitis • IgA-Vaskulitis (SchönleinHenoch) • Eosinophilie
Vaskulitis variabler Gefäßgrößen
• Morbus Behçet • Cogan Syndrom
Vaskulitis einzelner Organe
• Kutane
Mit systemischer Erkrankung assoziierte Vaskulitis / systemische Vaskulitis
• Lupus-Vaskulitis • Rheumatoide Vaskulitis
Mit wahrscheinlicher Ätiologie assoziierte Vaskulitis / sekundäre Vaskulitis
• Hepatitis-C-Virus-assozi-
leukozytoklastische Angiitis • Kutane Arteriitis • Isolierte Aortitis
ierte kryoglobulinämische Vaskulitis • Hepatitis B-Virus-assoziierte Polyarteriitis nodosa • Syphilis-assoziierte Aortitis
Nekrosen. Wenn Ulzerationen auftreten, sind diese meist multipel und häufiger an den unteren Extremitäten lokalisiert sowie von lividen Erythemen umgeben. Typisch ist zudem eine ausgeprägte Schmerzhaftigkeit. Die am häufigsten diagnostizierte Vaskulitis ist die kutane leukozytoklastische Angiitis (› Abb. 15.1). Sie beschreibt eine in Schüben verlaufende Entzündung der kutanen Blutgefäße, die beispielsweise durch Medikamente, Infektionen oder Neoplasien
Abb. 15.1 Kutane leukozytoklastische Angiitis mit palpabler Purpura und mehreren Ulzerationen des Unterschenkels [P580]
verursacht wird. Klinisch kommt es initial zu einer palpablen Purpura und im weiteren Verlauf ggf. zu schmerzhaften Ulzerationen. Zum Ausschluss einer viszeralen Manifestation sollte eine entsprechende Diagnostik insbesondere in Hinblick auf eine Nierenbeteiligung erfolgen. Zusätzlich zu einer konventionellen histopathologischen Diagnostik sollte auch eine direkte Immunfluoreszenz (DIF) durchgeführt werden. Bei Nachweis von IgA-Ablagerungen (IgA-Vaskulitis [Schönlein-Henoch]) in der DIF besteht oft eine systemische Beteiligung. Für die Therapie ausgeprägter Vaskulitiden ist eine systemische Immunsuppression beispielsweise mit Glukokortikoiden notwendig.
15.2.2 Thrombangiitis obliterans Als Thrombangiitis obliterans wird eine nicht arteriosklerotisch bedingte Entzündung der kleinen und mittleren Arterien und Venen bezeichnet. Be-
15.2 Krankheitsbilder troffen sind überwiegend junge männliche Raucher zwischen dem 20. und 45. Lebensjahr. In Mitteleuropa wurde eine Inzidenz von zehn Patienten pro 100.000 / Jahr beschrieben, allerdings mit deutlich abnehmender Tendenz in den letzten zwei Jahrzehnten. Histopathologisch handelt es sich um eine Vaskulitis unklarer Ätiologie. Im Gegensatz zu anderen Vaskulitiden bleibt die Architektur der Gefäßwand erhalten. Fibrinoide Medianekrosen werden nicht beobachtet und die Lamina elastica interna bleibt intakt. Immunhistochemische Analysen zeigen eine Infiltration von zytotoxischen T-Lymphozyten ebenso wie von T-Helfer-Lymphozyten. Die diagnostischen Kriterien der Thrombangi itis obliterans sind bis heute nicht standardisiert. Am weitesten verbreitet sind die klinischen Kriterien nach Shionoya. Hierzu gehören das Rauchen, Krankheitsbeginn vor dem 50. Lebensjahr, segmentale arterielle Verschlüsse der unteren oder oberen Extremität, Phlebitis migrans und das Fehlen von weiteren arteriosklerotischen Risikofaktoren. Eine sichere klinische Diagnosestellung setzt die Erfüllung aller fünf Kriterien voraus. Der duplexsonografische oder angiografische Nachweis sogenannter Korkenzieherkollateralen stützt zudem die Diagnose. Es existieren keine spezifischen Laborveränderungen und auch eine Biopsie hilft nur bei Nachweis der typischen frühen Veränderungen. Als typische, jedoch nicht spezifische Symptome werden oft eine initial einseitige Claudicatio intermittens, Ruheschmerzen oder auch ein Raynaud-Syndrom beschrieben. Klinisch kommt es zum Auftreten akraler livider Erytheme, Plaques und Nodi, bis sich schließlich Nekrosen und Ulzerationen ausbilden, die zu Spontanmutilationen führen können (› Abb. 15.2). Der Verlauf der Erkrankung ist meist chronisch in Schüben. Die Prädilek tionsstellen sind die Vorfußbereiche und Zehen. Die wichtigste therapeutische Maßnahme ist die strikte Nikotinkarenz. Medikamentös kann eine rheologische Behandlung mit Prostaglandinen eingeleitet werden. Nur in Einzelfällen ist eine gefäßchirurgische oder endovaskuläre Therapie sinnvoll.
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15 Abb. 15.2 Schmerzhafte Wunden bei Thrombangiitis obliterans [P580]
Es besteht eine gehäufte Assoziation mit chronisch entzündlichen (Darm-)Erkrankungen, Neoplasien und / oder einem metabolischen Syndrom. Als Pathergie-Phänomen wird das Auftreten nach teilweise minimalen Verletzungen oder operativen Eingriffen beschrieben. Typisch sind initial druckdolente, erythematöse Nodi oder sterile Pusteln, die oft als „Insektenstich“ fehlgedeutet werden und rasch ulzerieren. Die polyzyklischen Ulzerationen weisen meist einen dunkel-lividen, teils unterminierten, äußerst schmerzhaften Randsaum auf (› Abb. 15.3). Der Krankheitsverlauf ist nach mehreren Wochen bis Jahren selbstlimitierend. Eine Hilfe bei der Diagnostik ist der PARACELSUS-Score, der die wichtigsten Diagnosekriterien zusammenfasst (› Tab. 15.3). Mittel der ersten Wahl für die systemische Therapie sind Glukokortikoide. Die beste Evidenz
15.2.3 Pyoderma gangraenosum Pyoderma gangraenosum ist eine destruktiv-ulze rierende neutrophile Dermatose unklarer Ätiologie.
Abb. 15.3 Pyoderma gangraenosum an der Brust [P580]
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15 Seltenere Ursachen chronischer Wunden
Tab. 15.3 PARACELSUS-Score für die Diagnostik eines Pyoderma gangraenosum; ≥ 10 Punkte = Pyoderma gangraenosum sehr wahrscheinlich, 4) • Lokales Pathergie-Phänomen
15 Zusatzkriterien (1 Punkt)
• Suppurative
Inflammation in der Histopathologie • Unterminierter Randsaum • Systemerkrankungen assoziiert
besteht ansonsten für Ciclosporin und den TNFαInhibitor Infliximab.
15.2.4 Livedo-Vaskulopathie Die Livedo-Vaskulopathie ist eine thrombosierende Vaskulopathie kutaner Gefäße, die sekundär zu sehr therapierefraktären Ulzerationen führt. Bei der Erstmanifestation handelt es sich oft um junge Erwachsene ohne familiäre Prädisposition. Frauen sind etwa 3× häufiger als Männer betroffen. Prädilektionsstellen sind die distalen Unterschenkel und insbesondere die Malleolarregionen. Nicht spezifische Kardinalsymptome der LivedoVaskulopathie (› Abb. 15.4): • Livedo racemosa • Ulzera • Atrophie blanche Die meist sehr schmerzhaften Ulzerationen sind bizarr geformt und von einem inflammatorischhämorrhagischen Randsaum umgeben. Der klinische Verlauf ist chronisch rezidivierend. Für die Diagnostik sollte eine Biopsie entnommen werden. Für die systemische Therapie werden rheologisch wirksame Medikamente wie niedermolekulares Heparin oder direkte orale Antikoagulationen (DOAK) wie Rivaroxaban sowie Kompressionstherapie eingesetzt.
Abb. 15.4 Rezidivierend auftretende Livedo-Vaskulopathie [P580]
15.2.5 Kalziphylaxie Kalziphylaxie ist eine seltene, potenziell letal verlaufende Erkrankung unklarer Ätiopathogenese. Von zentraler Bedeutung sind Störungen im Kalziumphosphatstoffwechsel. Die Erkrankung betrifft überwiegend Patienten mit (terminaler) Niereninsuffizienz. Es kommt zu einer verminderten Vitamin-D3-Synthese und einem kompensatorischen Anstieg des Parathormons. Es resultiert eine Erhöhung des Kalziumphosphatproduktes. Bei Überschreitung der Löslichkeitsschwelle werden dann Kalksalze in Gefäßwänden und subkutanem Fettgewebe abgelagert. Hierdurch entsteht eine Gewebeischämie. Klinisch imponieren livide Erytheme, aus denen sich äußerst schmerzhafte und sehr therapierefraktäre Ulzerationen insbesondere an den distalen Unterschenkeln entwickeln (› Abb. 15.5). Die Kalziphylaxie ist eine Erkrankung, die histopathologisch gesichert werden sollte und die zu einer hohen Mortalität führt. Bei der Therapie ist die forcierte Dialyse eventuell in Kombination mit der systemischen Gabe von Natriumthiosulfat wichtig. Vitamin-K-Antagonisten sollten abgesetzt werden.
15.2.6 Ulcus hypertonicum Martorell Ulcus hypertonicum Martorell beschreibt das Auftreten ischämischer, sehr schmerzhafter Nekrosen und Ulzerationen bei Patienten mit arterieller Hypertonie. Frauen sind häufiger als Männer betroffen, mit einem
15.2 Krankheitsbilder
115
15
Abb. 15.5 Kalziphylaxie an den Unterschenkeln bei einer dialysepflichtigen Patientin [P580]
Abb. 15.6 Ulcus hypertonicum Martorell [P580]
Altersgipfel zwischen dem 50. und 75. Lebensjahr. Neben dem insuffizient eingestellten arteriellen Hypertonus besteht bei mehr als der Hälfte der Patienten ein Diabetes mellitus Typ 2. Durch eine stenosierende Arteriosklerose der dermalen und subkutanen Arteriolen durch eine subendotheliale Intimafibrose kommt es reaktiv zu einer Hyalinose der Media. Die äußerst schmerzhaften Ulzerationen haben einen polyzyklischen, violett-schwarzen Wundrand, finden sich meist an den dorsolateralen distalen Unterschenkeln und treten bei der Hälfte der Patienten beidseitig auf (› Abb. 15.6). Die Diagnose sollte histopathologisch durch eine große Biopsie gesichert werden. Als Therapie der Wahl wird die Exzision mit chirurgischer Deckung beschrieben.
Hälfte der Patienten besteht eine Assoziation zu Diabetes mellitus; Frauen sind 2–3× häufiger betroffen. Die Erkrankung beginnt meist mit einer bräunlichroten Papel mit lividem Randsaum, die sich im weiteren Verlauf zu einer derben Plaque mit gelblichem Zentrum und Teleangiektasien entwickelt. Wenn das Zentrum dann zunehmend atroph wird, können sehr schmerzhafte Ulzerationen auftreten (› Abb. 15.7). Die Prädilektionsstellen sind die Streckseiten der Unterschenkel und die Fußrücken. Für die Diagnostik sollte eine Biopsie entnommen werden. Es gibt keine zugelassene oder gut evaluierte Therapie. Neben Glukokortikoiden und UVTherapien liegen einige wenige Studien zu der erfolgreichen systemischen Therapie mit Fumarsäreestern, Ciclosporin oder TNFα-Inhibitoren vor.
15.2.7 Necrobiosis lipoidica
15.2.8 Infektionskrankheiten
Necrobiosis lipoidica ist eine entzündliche granulomatöse Hauterkrankung. Bei mindestens der
Es gibt zahlreiche Infektionskrankheiten, die zu chronischen Wunden führen können. Prädisponierende
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15 Seltenere Ursachen chronischer Wunden
15
Abb. 15.7 Ulzerierende Necrobiosis lipoidica diabeticorum [P580]
Faktoren sind z. B. mangelnde Hygiene, Mangelernährung, Adipositas, Diabetes mellitus, Immunsuppression oder Ekzeme. Als Ekthyma (simplex) bezeichnet man ulzerierende Pyodermien, die durch bakterielle Superinfektion vorbestehender Verletzungen entstehen. Klinisch zeigt sich primär eine Pustel mit umgebendem Erythem. Sekundär entstehen scharf begrenzte, wenig schmerzhafte Ulzerationen, die selten größer als 3 bis 5 cm sind. Typisch ist der wie ausgestanzt wirkende erythematöse Randsaum (› Abb. 15.8). Das Auftreten der sehr therapierefraktären und meist multipel vorkommenden Ulzera wird bevorzugt an den Beinen und gluteal beobachtet. Der klinische Befund und die Anamnese sind so typisch, dass nach klinischer Inspektion keine weiterführende Diagnostik notwendig ist. Die Therapie erfolgt meist ausschließlich topisch, beispielsweise mit Antiseptika. Leishmaniosen werden durch obligat intrazelluläre protozoische Leishmania-Parasiten verursacht. Ihr Verbreitungsgebiet sind die Tropen, Asien, Ost-
Abb. 15.8 Multiple, scharf begrenzte und wenig schmerzhafte Ulzera bei Ekthyma [P580]
afrika und zunehmend auch der Mittelmeerraum. Nagetiere und Hunde sind das Erregerreservoir. Über den Speichel von Sandmücken gelangen die Erreger in die Haut der Betroffenen. Die Prädilektionsstellen sind alle Areale, die nicht von Kleidung bedeckt sind. Neben der kutanen Leishmaniose gibt es die viszeralen (Kala Azar) und mukokutanen (Espundia) Verläufe. Bei der kutanen Leishmaniose entsteht an der Einstichstelle ein Erythem. Nach einer Inkubationszeit von zwei Wochen bis zu einem Jahr ist eine erythematöse Papel mit lividem Randsaum sichtbar, die oft ulzeriert (› Abb. 15.9). Die meist wenig schmerzhaften Ulzerationen haben eine Größe von 1–5 cm. Für die Diagnostik sollten möglichst mehrere Biopsien sowohl für die konventionelle Histopathologie als auch für den kulturellen Nachweis entnommen werden. Ohne Therapie heilt die kutane Leishmaniose meist nach 1–2 Jahren spontan ab. Bei größenprogredienten Befunden oder mukokutanen und viszeralen Verläufen sollte immer auch eine systemische Therapie erfolgen. Empfohlen werden z. B. N-Methylglucamin-Antimonat, Miltefosin, Pentamidin oder Amphotericin B.
15.2 Krankheitsbilder
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15
Abb. 15.9 Kutane Leishmaniose an der Wange [P580]
15.2.9 Neoplasien Primär kutane Neoplasien, die zu Wunden führen können, sind z. B. maligne Melanome, Basalzellkarzinome, kutane Lymphome und spinozelluläre Karzinome (SCC). Das SCC ist ein lokal destruierend wachsender, primär epithelialer maligner Tumor. Das durchschnittliche Lebensalter bei Erstmanifestation ist 70 Jahre; Männer sind 2× häufiger als Frauen betroffen. Klinisch beginnt ein SCC oft mit einer erythematösen Makula, auf der sich eine Hyperkeratose entwickelt. Im weiteren Verlauf entsteht ein indolenter Tumor, der ulzerieren kann (› Abb. 15.10). Eine Sonderform des SCC stellt das sogenannte Marjolin-Ulkus dar. Nach einem Zeitraum von mehreren Jahren oder Jahrzehnten kommt es insbesondere in den Narben von Verbrennungen zu einer karzinomatösen Transformation. Bei dem Verdacht auf einer Neoplasie sollten unbedingt eine oder besser mehrere Biopsien entnommen werden. Die Therapie der Wahl ist meist die vollständige Exzision.
15.2.10 Medikamente Zu chronischen Wunden kann es auch durch die Einnahme verschiedener Medikamente wie beispielsweise Hydroxyurea kommen. Hydroxyurea ist ein Medika
Abb. 15.10 Spinozelluläres Karzinom (Marjolin-Ulkus) am Oberschenkel auf einer langjährig bestehenden Verbrennungsnarbe [P580]
ment, das von Patienten mit myeloproliferativen Erkrankungen, z. B. CML, Polycythaemia vera oder essenzielle Thrombozythämie, eingenommen wird. Nach einer Einnahmedauer von meist mehreren Jahren können eine Atrophie blanche und sehr schmerzhafte Ulzerationen auftreten. Diese Hautveränderungen sind oft symmetrisch an den distalen Unterschenkeln und insbesondere um die Malleolen lokalisiert (› Abb. 15.11). Die Diagnose wird in der Zusammenschau der Anamnese, des klinischen Befundes und des histopathologischen Ergebnisses gestellt. Außer dem Absetzen des verursachenden Medika ments gibt es keine spezifische Therapie für diese Wunden.
15.2.11 Kutane Artefakte Kutane Artefakte sind selbstschädigende Handlungen, die in nahezu allen Teilgebieten der Medizin auftreten.
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15 Seltenere Ursachen chronischer Wunden
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Abb. 15.11 Ulzerationen nach langjähriger Einnahme von Hydroxyurea [P580]
Es handelt sich dabei um autoaggressive Handlungen mit Schädigung des Körpers, ohne dass hiermit eine direkte Intention zur Selbsttötung verbunden ist. Kutane Artefakte finden sich gehäuft bei Frauen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, insbesondere bei Patienten mit medizinischen Kenntnissen. Bei einem Teil der Patienten dienen kutane Artefakte einem sekundären Krankheitsgewinn, z. B. im Rahmen von Rentenbegehren oder dem Gewinn von Aufmerksamkeit. Für die Selbstverletzung werden oft chemische Substanzen, Nadeln, Rasierklingen oder abschnürende Bänder an manuell gut erreichbaren Arealen genutzt. Das klinische Bild ist sehr heterogen. Kutane Artefakte sind meist scharf begrenzt, oft striär und gut von der umgebenden Haut abzugrenzen (› Abb. 15.12). Die Anamnese der Patienten mit dem Auftreten „über Nacht“ kann schon richtungweisend sein. Die Therapie gestaltet sich sehr schwierig. Eine psychiatrische Mitbehandlung ist meist sinnvoll.
15.2.12 Genetische Erkrankungen Es gibt zahlreiche, potenziell mit dem Auftreten chronischer Wunden assoziierte genetische Erkran
Abb. 15.12 Scharf begrenztes artefizielles Ulkus am Skrotum [P580]
kungen. Das Klinefelter-Syndrom ist mit einer Prävalenz von 1:590 männlichen Neugeborenen der am häufigsten beschriebene genetische Defekt. Meist liegt eine numerische Chromosomenaberation in Form einer Trisomie (47,XXY) zugrunde. Die Patienten zeigen eine Gynäkomastie, Hodenhypoplasie, Azoospermie, erhöhte FSH-Spiegel, Hochwuchs, Adipositas, Osteoporose und Anpassungsstörungen. Die Inzidenz von Phlebothrombosen ist aufgrund verschiedener thrombogener Faktoren bis zu 20× höher als bei der Normalbevölkerung. Die chronischen Wunden entsprechen meist einem postthrombotischen Ulcus cruris (› Abb. 15.13). Als Progeroid-Syndrome werden genetische Erkrankungen bezeichnet, die zu einer vorzeitigen Alterungssymptomatik führen. Beispiele dieser sehr seltenen Krankheitsbilder sind Werner-Syndrom, Xeroderma pigmentosum und Rothmund-ThomsonSyndrom. Durch eine fehlerhafte DNA-Reparatur resultiert oxidativer Stress und eine veränderte Transkriptionskontrolle. Neben Wundheilungsstörungen kommt es gehäuft auch zu neurodegenerativen Erkrankungen, Arteriosklerose und Neoplasien.
15.3 Fazit
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15
Abb. 15.13 Patient mit Klinefelter-Syndrom und postthrombotischen Ulcera crurum [P580]
Das Rothmund-Thomson-Syndrom Typ II ist eine autosomal rezessiv vererbte Genodermatose, der eine Mutationen des für eine Helikase codierenden RECQL4-Gens zugrunde liegt. Klinische Symptome der Patienten sind u. a. faziale Poikilodermie, verzögertes Wachstum, wenig Körperbehaarung, Katarakt und Skelettanomalien (› Abb. 15.14). Chronische Wunden können bereits nach Mikrotraumata auftreten. Für die Diagnostik genetischer Defekte ist eine Genanalyse notwendig. Wichtig ist es, bei allen Patienten mit Progeroid-Syndromen Neoplasien als Ursachen für die Wundheilungsstörungen auszuschließen. Therapeutisch ist bei den meisten genetisch bedingten Erkrankungen lediglich eine symptomatische Therapie möglich.
15.3 Fazit Auch wenn bei den meisten Patienten mit chronischen Wunden CVI, PAVK, Druck oder Diabetes mellitus die wesentlichen pathophysiologischen
Abb. 15.14 Chronische Wunden an den Füßen eines Patienten mit Rothmund-Thomson-Syndrom Typ II [P580]
Faktoren darstellen, sollten die relevanten Diffe renzialdiagnosen insbesondere bei atypischer Lokalisation oder therapierefraktären Verläufen bekannt sein und ggf. ausgeschlossen werden. Zudem ist zu beachten, dass es zunehmend Erkenntnisse über relevante Kofaktoren und Komorbiditäten gibt, wie beispielsweise Adipositas, Diabetes mellitus, hämatologische Erkrankungen, Ekzeme oder (Lymph-)Ödeme, die chronische Wunden nur selten verursachen, jedoch für den therapierefraktären Verlauf von entscheidender Bedeutung sein können. LITERATUR Dissemond J. Blickdiagnose chronischer Wunden – Über die klinische Inspektion zur Diagnose. Köln: Viavital-Verlag; 2016. Dissemond J. Chronisches Ulcus cruris. Hautarzt 2017; 68: 614–620. Jockenhöfer F, Gollnick H, Herberger K et al. Aetiology, comorbidities and cofactors of chronic leg ulcers –
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15 Seltenere Ursachen chronischer Wunden
Retrospective evaluation of 1,000 patients from 10 specialised dermatological wound care centers in Germany. Int Wound J 2016; 13: 821–828. Körber A, Klode J, Al-Benna S et al. Genese des chronischen Ulcus cruris bei 31.619 Patienten im Rahmen einer
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Expertenbefragung in Deutschland. J Dtsch Dermatol Ges 2011; 9: 116–121. Mekkes JR, Loots MA, Van Der Wal AC, Bos JD. Causes, investigation and treatment of leg ulceration. Br J Dermatol 2003; 148: 388–401.
KAPITEL
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Joachim Dissemond, Knut Kröger, Jan Kottner
Pathologische Hautveränderungen
16.1 Wunde oder keine Wunde? Joachim Dissemond, Knut Kröger
Kernaussagen • Krankheitsbilder, die beispielsweise mit Blasen und / oder Erosionen einhergehen, sollten pathophysiologisch abgeklärt werden. Oft ist eine interdisziplinäre Behandlung der teils autoimmunologischen oder infektiologischen Erkrankungen notwendig. • Ekzeme sind keine Wunden. Daher ist der Einsatz von Wundauflagen hier nicht sinnvoll.
16.1.1 Einführung Nicht alles, was aussieht wie eine Wunde, folgt auch den Gesetzmäßigkeiten der Versorgung chronischer Wunden. Es gibt Krankheitsbilder, die mit Veränderungen der Haut einhergehen, aber bei denen die Regeln der modernen feuchten Wundbehandlung nicht zum Erfolg führen und teilweise sogar kontraindiziert sind. Für pflegerische und ärztliche Wundexperten ist es daher wichtig, die Grenzen der Sinnhaftigkeit einer modernen feuchten Wundversorgung zu kennen. Im Folgenden sind exemplarisch einige Krankheitsbilder aufgeführt, bei deren lokaler Therapie die feuchte Wundbehandlung nicht indiziert ist.
16.1.2 Gramnegativer Fußinfekt Unter dem Begriff gramnegativer Fußinfekt versteht man eine durch gramnegative Bakterien, oft aber auch eine im Rahmen von Mischinfektionen hervorgerufene sehr exsudative Entzündung, die meist in den Zehenzwischenräumen beginnt und sich nach proximal ausbreitet (› Abb. 16.1a). Bei den Patienten besteht oft eine Tinea pedis der
• Es gibt Krankheitsbilder wie beispielsweise Intertrigo oder gramnegative Fußinfekte, die mit starker Exsudation einhergehen und bei denen eine feuchte Wundtherapie kontraindiziert ist. • Eine moderne feuchte Wundtherapie ist bei trockenen Nekrosen kontraindiziert.
Zehenzwischenräume, die über einen längeren Zeitraum mit Antimykotika behandelt wurde. Diese Antimykotika sind auch gegen eine Reihe von grampositiven Bakterien wirksam. Durch die Mazeration der Haut im Rahmen der Mykose und die Eradikation grampositiver Bakterien wird das Wachstum gramnegativer Bakterien gefördert, insbesondere von Pseudomonas aeruginosa oder aber auch von Klebsiella-, Enterobacter- oder Proteus-Spezies. Weitere begünstigende lokale Faktoren sind das Tragen von wenig atmungsaktivem Schuhwerk oder eine plantare Hyperhidrose. Zudem scheinen bei den Patienten gehäuft Diabetes mellitus und atopische Diathese, periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK) oder chronische venöse Insuffizienz (CVI) vorzuliegen. Neben der körperlichen Untersuchung mit dem sehr typischen klinischen Bild ist es notwendig, einen bakteriologischen Abstrich zu entnehmen, eine mykologische Kultur anzulegen und die serologischen Entzündungsparameter, wie beispielsweise Blutbild, BSG und CRP, zu bestimmen. Der klinische Befund ist meist durch den intensiven, süßlich fauligen Geruch der gramnegativen Bakterien gekennzeichnet. Neben den ggf. ausgeprägten Ödemen kommt es zu sehr exsudativen, schmerzhaften Erosionen, die
122
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16 Pathologische Hautveränderungen
Abb. 16.1 a Initialer gramnegativer Fußinfekt bei ausgeprägter Tinea pedum; b gramnegativer Fußinfekt mit ausgeprägter Weichgewebeinfektion [P580]
sich im weiteren Verlauf auch zu Ulzerationen entwickeln können (› Abb. 16.1b). Oft findet sich das Krankheitsbild in unterschiedlicher Ausprägung beidseitig. Als Komplikation können sich chronische Ulzerationen oder ausgeprägte lokale Infektionen bis hin zu einer Sepsis entwickeln. Im Gegensatz zur ansonsten propagierten modernen feuchten Wundversorgung ist es hier wichtig, das feuchte Wundmilieu zu beseitigen. Die Lokaltherapie basiert auf austrocknenden und antiseptischen topischen Therapien. Bei sehr ausgeprägten Befunden beziehungsweise einer Weichgewebeinfektion kann eine systemische Antibiose sinnvoll sein. Zudem ist es unbedingt notwendig, die begünstigenden Faktoren, die zur Entstehung des gramnegativen Fußinfektes geführt haben, zu diagnostizieren und adäquat zu behandeln, da es sonst zu einem chronisch-rezidivierenden Verlauf kommen kann.
16.1.3 Acne inversa Die Acne inversa wird international als Hidradenitis suppurativa bezeichnet. Es handelt sich um eine chronisch-rezidivierende Erkrankung durch Entzündungen des Follikelepithels der Talgdrüsen- und Terminalhaarfollikel. Sekundär werden auch die apokrinen Schweißdrüsen in den inflammatorischen
Prozess mit einbezogen. Zu einer Erstmanifestation kann es ab der Pubertät in jedem Lebensalter kommen; meist sind bereits jüngere Erwachsene zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr erstmalig betroffen. Die exakte Prävalenz der Acne inversa ist nicht bekannt; in Deutschland soll etwa 1 % der erwachsenen Bevölkerung betroffen sein. Das Verhältnis von betroffenen Frauen zu Männern beträgt etwa 2–5:1. Die Familienanamnese ist bei 40 % der Patienten positiv. Die exakte Ätiologie der Acne inversa ist unbekannt. Diskutiert wird ein kausaler Zusammenhang mit Zigarettenkonsum, da in verschiedenen klinischen Untersuchungen bis zu 97 % aller Betroffenen Raucher waren. Zudem findet sich gehäuft eine Adipositas. Die klinisch oft sehr ausgeprägten und rezidivierend auftretenden bakteriellen Infektionen werden als sekundäres Problem zum eigentlichen Krankheitsprozess gesehen. Ein lokal begünstigender Faktor ist eng anliegende Kleidung. Ein sehr ausgeprägter Verlauf kann auch mit einer Immunsuppression oder Diabetes mellitus assoziiert sein. Die Prädilektionsstellen der Acne inversa sind die intertriginösen Areale (› Abb. 16.2). Bei Männern tritt die Acne inversa häufig am Perineum oder perianal auf und ist in der Ausprägung oft schwerer als bei Frauen, die häufiger axillär und / oder submammär betroffen sind. Klinisch zeigt sich bei den Patienten eine kutane Inflammation mit multi-
16.1 Wunde oder keine Wunde?
123
Seltene, aber gefürchtete Spätkomplikation kann das Auftreten einer sekundären Amyloidose oder eines Plattenepithelkarzinoms sein. Die aktuelle deutsche Leitlinie empfiehlt bei schweren Verläufen die kombinierte systemische Gabe von Clindamycin und Rifampicin. Seit 2015 ist auch der Tumornekrosefaktor(TNF)-α-Inhibitor Adalimumab für die systemische Therapie zugelassen. Insbesondere bei Narben oder Fistelgängen sollte eine radikale Exzision erfolgen. Begleitend ist eine Lokaltherapie, beispielsweise mit Polihexanid oder Octenidin, sinnvoll. Die Risikofaktoren, insbesondere der Zigarettenkonsum, sollten beseitigt werden.
16.1.4 Intertrigo
Abb. 16.2 Axillär lokalisierte Acne inversa [P580]
plen Nodi, Pusteln und / oder Abszessen. Bei einem länger persistierenden Verlauf ist das Auftreten von Narbensträngen und fistulierenden Gängen, aus denen sich oft Eiter exprimieren lässt, typisch. Zudem können Erosionen, Ulzerationen und in der Wundumgebung Mazerationen und Ekzeme auftreten. Eine weit verbreite Klassifikation ist die nach Hurley: • Stadium I – einzelne oder mehrere abgrenzbare Abszesse; keine Fisteln • Stadium II – ein oder mehrere weit auseinderliegende Abszesse mit Fistelgängen und Narbenbildung • Stadium III – flächiger Befall mit Abszessen, Fistelgängen und Narbenzügen Neben den somatischen Veränderungen fühlen sich die oft bewegungseingeschränkten Patienten aufgrund der Erkrankung erheblich stigmatisiert und psychisch belastet, was zu einer sozialen Isolation führen kann.
Als Intertrigo werden pathologische erythematöse Hautveränderungen in den Intertrigines zusammengefasst. Intertrigines sind alle Areale des Körpers, an denen sich Hautflächen direkt berühren. Ätiologisch kommt es durch die Hautreibung zu einer physikalischen Reizung und einem Sekretstau. Lokal begünstigend wirkt eine vermehrte Schweißproduktion, welche die Hautoberfläche mazeriert, eine Verminderung des pH-Werts bedingt und so die Hautbarrierefunktion schwächt. Zudem liegen bei den Betroffenen oft eine Adipositas oder ein Diabetes mellitus vor. Das klinische Bild ist meist so typisch, dass keine weiterführende Diagnostik notwendig ist. Es sollte aber nach relevanten Mikroorganismen gesucht werden, die zu einer Superinfektion des Krankheitsbildes führen. Besonders häufig sind hier Infektionen mit Candida albicans. Neben bakteriologischen Abstrichen sind daher auch mykologische Untersuchungen sinnvoll. In den Intertrigines kommt es zu scharf begrenzten Erythemen, die zentral oft Mazerationen aufweisen. In diesen Erythemen können sich im Verlauf Erosionen oder sogar Ulzerationen ausbilden (› Abb. 16.3a). Die Patienten beschreiben häufig ein unangenehmes Wärmegefühl mit Juckreiz und brennenden Schmerzen. Bei der durch Hefen verursachten Intertrigo candidamycetica sieht man typischerweise zusätzlich Pusteln an den Rändern und in der Umgebung der Erytheme (› Abb. 16.3b). Die Prädilektionsstellen der Intertrigo sind inguinal,
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16 Pathologische Hautveränderungen
Abb. 16.3 a Sehr ausgeprägte erosive, teils ulzerierende Intertrigo; b Intertrigo candidamycetica [P580]
16 submammär, in den Bauchfalten und in der Rima ani zu finden. Differenzialdiagnostisch sollte ggf. eine Inkontinenz-assoziierte Dermatitis (IAD) (› Kap. 16.2) ausgeschlossen werden. Eine spezifische Therapie orientiert sich an den ggf. nachgewiesenen Erregern. Im Gegensatz zu den Grundprinzipien der feuchten Wundbehandlung versucht man bei den betroffenen Patienten eher ein trockenes Milieu zu erzielen. Nach Säuberung erfolgt die Einlage beispielsweise von trockenen, nicht irritierenden Kompressen. Adjuvante Maßnahmen sollten begünstigende Faktoren beseitigen. So sollten beispielsweise eine Gewichtsreduktion und eine Meidung von enganliegender Kleidung und Reibung angestrebt werden, da ansonsten ein chronisch-rezidivierender Verlauf droht.
16.1.5 Trockene Nekrose, trockene Gangrän Entsprechend der aktuellen Definitionen der ICW (Initiative Chronische Wunden e. V.) wird als Nekrose abgestorbenes, zuvor vitales Gewebe bezeichnet (› Abb. 16.4a). Als Gangrän wird ein abgestorbenes Körperteil, beispielsweise eine Zehe oder ein Vorfuß, bezeichnet (› Abb. 16.4b). Bei der Beschreibung von abgestorbenem Gewebe in Wunden sprechen wir daher von Nekrose und nicht von Gangrän. Trockene Nekrosen und Gangrän sind in der Regel nicht infiziert und geben keine Zerfallsprodukte an die darunterliegende Wunde ab. Sie haften der darunterliegenden Wunde fest an und bilden eine saubere, keimfreie Wundabdeckung. Da die Wunde
Abb. 16.4 a Trockene Nekrose; b trockene Gangrän; c Fuß mit feuchter Nekrose und Gangrän [P580]
16.1 Wunde oder keine Wunde? bereits keimfrei und fest abdeckt ist, ist in einer solchen Situation eine feuchte Wundbehandlung kontraproduktiv. Sie führt nur dazu, dass die trockene Nekrose feucht wird und von Keinem besiedelt werden kann. Durch eine trockene Nekrose hindurch kann keine Wundauflage die Wundheilung positiv beeinflussen. Das therapeutische Ziel bei Vorliegen einer trockenen Nekrose ist es, diese solange trocken zu erhalten und als Wundabdeckung zu nutzen, bis sie sich spontan löst oder für die weitere Wundbehandlung entfernt werden muss. Eine trockene Nekrose oder Gangrän, die sich lockert, löst sich von den Wundrändern und bildet keine feste Wundabdeckung. Da man unter dieser losen Nekrose die Wunde nicht beurteilen und nicht reinigen kann, sollte die Nekrose zeitnah entfernt werden. Wenn eine Nekrose oder Gangrän feucht ist, weist dies meist auf eine bakterielle Infektion hin. Feuchte Nekrosen beeinflussen die Wundheilung negativ, da von ihnen Zerfallsprodukte des Gewebes freigesetzt werden (› Abb. 16.4c). Außerdem bieten sie einen Nährboden für Bakterien, die sich dort trotz lokaler Anwendung von Antiseptika oder systemischer Applikation von Antibiotika erhalten können. Eine feuchte Nekrose darf nicht durch eine feuchte Wundbehandlung konserviert werden. Feuchte Nekrosen müssen durch ein adäquates, möglichst chirurgisches Débridement zeitnah und vollständig aus der Wunde entfernt werden. Eine feuchte Gangrän muss chirurgisch amputiert werden. Bis zu dem möglichst zeitnah durchgeführten Débridement sollte eine feuchte Nekrose durch einen Verband, der das Exsudat der Wunde fest bindet, abgedeckt werden, damit dem bakteriellen Gewebezerfall die Feuchtigkeit entzogen wird. Hierzu eignet sich beispielsweise Superabsorber.
16.1.6 Blasen an der Haut Es gibt zahlreiche pathophysiologische Gründe, warum Blasen an der Haut entstehen (› Tab. 16.1). Oft sind es ursächlich (lokalisierte) Ödeme bei entzündlichen Veränderungen. Für die adäquate Therapie ist es zwingend erforderlich, die Ursache für die Blasenbildung herauszufinden und, falls möglich, ursächlich zu behandeln. Bei der Lokaltherapie von Blasen ist
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Tab. 16.1 Krankheitsbilder, bei denen es zu Blasen an der Haut kommen kann •
Physikalische / mechanische Schädigung, z. B. Dermatitis solaris, Erfrierung • Arzneimittelreaktionen, z. B. Steven-Johnson-Syndrom, toxisch epidermale Nekrolyse (› Abb. 16.5a) • Bullöse Autoimmundermatosen, z. B. bullöses Pemphigoid (› Abb. 16.5d), Pemphigus vulgaris (› Abb. 16.5e) • Insektenstichreaktionen, z. B. Mückenstich, Culicosis bullosa • Internistische Krankheitsbilder, z. B. Porphyria cutanea tarda, Bullosis diabeticorum • Infektionskrankheiten – Viren, z. B. Herpes simplex, Herpes zoster (› Abb. 16.5b) – Bakterien, z. B. Erysipel (› Abb. 16.5c), Impetigo contagiosa – Pilze, z. B. Candidose, Kryptokokkose
es wichtig, eine bakterielle Superinfektion sowie Schmerzen durch adhäsive Verbände zu verhindern. Es besteht keine grundsätzliche Notwendigkeit, die primär sterilen Blasen zu eröffnen oder sogar die Blasendächer abzutragen. Differenzialdiagnostisch müssen Pusteln abgegrenzt werden. Bei Pusteln besteht der Blaseninhalt aus Eiter (lat. Pus). Wenn Blasen Druckschmerzen verursachen oder beispielsweise das Anziehen von Kleidung behindern, können sie steril punktiert und mit trockenen, sterilen Verbänden abgedeckt werden.
Bullöses Pemphigoid Das bullöse Pemphigoid (BP) ist die am häufigsten auftretende subepidermale bullöse Autoimmundermatose. Frauen sind häufiger als Männer betroffen. Die meisten Patienten sind bei der Erstmanifestation älter als 60 Jahre. Die subepidermale Spaltbildung wird durch die Bindung von Autoantikörpern an die Basalmembranzone verursacht. Die Antikörper richten sich gegen Hemidesmosomen, die eine Verbindung zwischen den basalen Keratinozyten und der Basalmemebranzone gewährleisten. Als Auslöser für Krankheitsschübe werden zahlreiche Medikamente oder ionisierende Strahlung beschrieben. Zudem findet sich bei Patienten mit BP eine potenzielle
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16 Pathologische Hautveränderungen
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Abb. 16.5 a Toxisch epidermale Nekrolyse als Ausdruck einer schweren Arzneimittelreaktion b Herpes zoster, synonym als Gürtelrose bezeichnet c Bullöses Erysipel durch Streptokokkeninfektion d Bullöses Pemphigoid e Pemphigus vulgaris [P580]
Assoziation mit Neoplasien. Die Verdachtsdiagnose kann meist bereits nach Erhebung der Anamnese und klinischer Inspektion gestellt werden. Serologisch sollten mittels indirekter Immunfluoreszenz (IIF) die spezifischen IgG-Antikörper gegen die BP230 und / oder BP180 bestimmt werden. Zudem sollten Biopsien entnommen werden, um sowohl eine konventionelle Histologie mit HE-Färbung als auch eine direkte Immunfluoreszenz (DIF) durchzuführen. Initial beschreiben die Patienten urtikarielle Erytheme und ausgeprägten Juckreiz. Es kommt dann meist in Schüben zum Auftreten von initial klaren, später hämorrhagischen, prallen Blasen. Wenn diese Blasen aufplatzen, entstehen
scharf begrenzte Erosionen (› Abb. 16.5d). Die Schleimhäute sind eher selten betroffen. Die Behandlung basiert wesentlich auf der systemischen Therapie mit immunsuppremierenden Medikamenten. Die Therapie der ersten Wahl sind meist systemische Glukokortikoide. Im weiteren Verlauf wird die Therapie oft mit weiteren Substanzen, wie z. B. Azathioprin oder Mycophenolatmofetil, ergänzt. Bei therapierefraktären Verläufen wurden gute Therapierfolge mit dem Anti-CD20-Antikörper Rituximab beschrieben. Bei lokalisierten Befunden kann auch eine ausschließlich topische Therapie mit hochpotenten Glukokortikoiden (meist Clobetasol) versucht werden.
16.1 Wunde oder keine Wunde?
Pemphigus vulgaris Pemphigus vulgaris (PV) ist die am häufigsten auftretende Form einer intraepidermalen bullösen Autoimmundermatose. Sie tritt bei Männer und Frauen etwa vergleichbar oft auf. Zu einer Erstmanifestation kommt es meist im 3. bis 6. Lebensjahrzehnt. Durch die Bildung von Autoantikörpern gegen desmosomale Proteine wird eine Akantholyse mit Spaltbildung innerhalb der Epidermis verursacht. Die Autoantikörper richten sich gegen Desmo glein 1 und / oder 3, die als Cadherine für die Adhäsion der Keratinozyten verantwortlich sind. Es kann eine Assoziation zu verschiedenen anderen Krankheitsbildern wie beispielsweise Myasthenia gravis, Lupus erythematodes, Neoplasien oder aber auch zur Einnahme von Medikamenten bestehen. Nach Erhebung der Anamnese und klinischer Inspektion kann die Verdachtsdiagnose meist bereits gestellt werden. Ein typisches, allerdings nicht beweisendes klinisches Testverfahren ist das positive Nikolski-Phänomen. Hierbei können auf scheinbar nicht betroffener Haut die oberen Hautschichten mit tangentialem Druck eines Fingers verschoben werden. Serologisch können die Antikörper gegen Desmoglein 1 oder 3 nachgewiesen werden. Zudem ist die Entnahme von Biopsien für die konventionelle und die DIF-Untersuchung sinnvoll. Bei etwa der Hälfte der Patienten beginnt die Erkrankung mit therapierefraktären Erosionen der Schleimhäute. Im weiteren Verlauf können zusätzlich schlaffe Blasen am gesamten Integument entstehen. Bedingt durch die sehr dünne Blasendecke platzen die Blasen sehr rasch, sodass klinisch oft ausschließlich Erosionen bestehen (› Abb. 16.5e). Ohne Therapie kann es zu letalen Verläufen kommen. Die Therapie ist vergleichbar mit der des BP, allerdings oft deutlich langwieriger.
16.1.7 Ekzeme Ein Ekzem, synonym als Juckflechte oder Dermatitis bezeichnet, ist ein Symptom verschiedener Krankheitsbilder (› Tab. 16.2). Hinsichtlich der symptomatischen Beschreibung muss zwischen akuten und chronischen Ekzemen differenziert werden. Ein akutes Ekzem läuft meist in verschiedenen Stadien ab. Klinisch kommt es initial
127
Tab. 16.2 Krankheitsbilder, die zu Ekzemen führen • Atopisches Ekzem („Neurodermitis“) • Exsikkationsekzem • Stauungsekzem • Seborrhoisches Ekzem • Skabies und postskabiöses Ekzem • Kutanes T-Zell-Lymphom, z. B. Mycosis • Kontaktekzem
fungoides
– Allergisches Kontaktekzem – (Photo-)toxisches Kontaktekzem
zu einem hellen Erythem (Stadium erythematosum) mit juckenden Bläschen (Stadium vesicolosum). Wenn die Bläschen platzen, resultiert ein Nässen (Stadium madidans). Nach Austrocknung bilden sich gelbliche Krusten (Stadium crustosum). Bei beginnender Abheilung kann eine Schuppung (Stadium squamosum) beobachtet werden (› Abb. 16.6a). Schließlich resultiert eine postinflammtorische Hyperpigmentierung. Diese Stadien müssen nicht immer sukzessive durchlaufen werden. Bei vielen Patienten sind verschiedene Aspekte zeitgleich zu sehen. Bei einem chronischen Ekzem kommt es zu einer Lichenifikation, die eine Vergröberung und Verdickung der Hautstruktur beschreibt (› Abb. 16.6b). Es können auch Papeln auftreten. Aufgrund des Juckreizes sieht man bei akuten und chronischen Ekzemen oft auch unterschiedlich tiefe Exkoriationen, die durch das Kratzen der Haut entstehen (› Abb. 16.6c). Für eine erfolgreiche Therapie sollte unbedingt eine Diagnose gestellt werden. Hierfür ist meist eine dermatologische Beurteilung sinnvoll. Ekzeme werden oft für „wunde Haut“ beziehungsweise „oberflächliche Wunden“ gehalten und dann fälschlich mit Wundauflagen oder sogenannten Wund- und Heilsalben abgedeckt (› Abb. 16.6d). Da es sich um eine kutane, nichtinfektiöse Inflammation handelt, sollten zumindest bei ausgeprägteren Befunden zeitlich begrenzt Externa mit Glukokortikoiden eingesetzt werden (› Kap. 37). In der längerfristigen Therapie chronischer Krankheitsbilder können oft andere Externa als Alternativen, wie beispielsweise Calcineurin-Inhibitoren, zum Einsatz kommen. Für die Rezidivprophylaxe ist meist eine konsequente Hautpflege (› Kap. 41) ausreichend. Der Kontakt zu potenziellen Allergene sollten gemieden werden (› Kap. 42). Übermäßiges Waschen und Baden bzw.
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128
16 Pathologische Hautveränderungen
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Abb. 16.6 a Akutes Ekzem mit Krusten und Schuppung b Chronisches Ekzem mit Lichenifikation c Atopisches Ekzem mit zahlreichen Exkoriationen d Wundauflagen warden für die Therapie eines Ekzems genutzt. Dieses Vorgehen ist falsch. e Eczéma craquelé bei einem Patienten mit Exsikkationsekzem [P580]
der übermäßige Gebrauch von Seifen oder Duschmitteln tragen zu einer Austrocknung der gesamten Haut und somit zu einer Verstärkung von Juckreiz bei.
Exsikkationsekzem Das Exsikkationsekzem wird synonym auch als Austrocknungsekzem oder asteatotisches Ekzem bezeichnet. Es handelt sich um ein Ekzem, das aufgrund einer verminderten Talgproduktion der Haut (Sebo-
stase) entsteht. Von einem Exsikkationsekzem sind insbesondere ältere Menschen und Atopiker betroffen. Seltene Ursachen sind Mangelernährung, Ichthyosen oder systemisch eingenommene Medikamente wie z. B. Retinoide. Trockene Haut (synonym Xerosis cutis) macht in den ersten Lebensjahrzehnten oft keine Beschwerden. Ab der zweiten Lebenshälfte führt die zunehmende Austrocknung zu einem unangenehmen Spannungsgefühl. Typischerweise kommt es häufiger im Winter (Heizperiode) zu einer Verschlimmerung der Austrocknung. Die Symptome beginnen oft an
16.2 Inkontinenz-assoziierte Dermatitis den Unterschenkeln. Morphologisch kommt es in den Ekzemen zu typischen netzförmigen Einrissen der Haut, was auch als Eczéma craquelé bezeichnet wird (› Abb. 16.6e).
16.1.8 Fazit Es gibt immer wieder Patienten mit Krankheitsbildern, bei denen die Grundprinzipien der modernen feuchten Wundversorgung nicht 1:1 übertragen werden können. Hier ist es wichtig, möglichst interdisziplinär und interprofessionell die zugrunde liegenden Faktoren zu diagnostizieren und zu behandeln. Der Einsatz von modernen Wundprodukten ist hier meist nicht erforderlich oder sogar kontraindiziert.
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LITERATUR Dissemond J, Augustin M, Eming SA et al. Moderne Wundtherapie – praktische Aspekte der lokalen, nicht-interventionellen Behandlung chronischer Wunden. J Dtsch Dermatol Ges 2014; 12: 541–554. Has C, He Y. Focal adhesions in the skin: lessons learned from skin fragility disorders. Eur J Dermatol 2017; 27: 8–11. Ingram JR, Woo PN, Chua SL et al. Interventions for hidradenitis suppurativa. Cochrane Database Syst Rev 2015; 10: CD010081. Kottner J, Lichterfeld A, Blume-Peytavi U. Maintaining skin integrity in the aged: a systematic review. Br J Dermatol 2013; 169: 528–542. von Kobyletzki LB, Beckman L, Smirnova J et al. Eczema and educational attainment: a systematic review. Br J Dermatol 2017; 177: 47–49.
16
16.2 Inkontinenz-assoziierte Dermatitis Jan Kottner
Kernaussagen • Direkter und wiederholter Kontakt der Haut mit Urin und / oder Stuhl kann eine Inkontinenzassoziierte Dermatitis (IAD) verursachen. • Klinische Zeichen der IAD sind Erytheme, Erosionen, Exkoriationen und Schmerzen.
16.2.1 Ätiologie und Pathogenese Die sogenannte Inkontinenz-assoziierte Dermatitis (IAD) entsteht durch den wiederholten und länger andauernden Kontakt von Urin und / oder Stuhl mit der Haut. Sie ist damit eine toxische Kontaktdermatitis (L24.-). Die Exposition gegenüber Stuhl, insbesondere flüssigem Stuhl, stellt für die Haut ein besonders hohes Risiko dar. Okklusive Bedingungen durch inadäquates Inkontinenzmaterial oder langes Liegen auf einer nicht belüfteten Unterlage oder Matratze und wiederholte Hautreinigungen tragen ebenfalls zur Entstehung einer IAD bei. Dieses Phänomen tritt in allen Altersgruppen auf. Bei Neugeborenen und Kleinkindern ist die Diagnose „Windeldermatitis“ (L22) etabliert. Bei Jugendlichen und Erwachsenen sollte jedoch eher von IAD gesprochen werden, da der Begriff „Windel“ in dieser Altersgruppe als nicht adäquat betrachtet wird und
• Prävention und Therapie der IAD bestehen aus Kontinenzförderung, adäquatem Einsatz aufsaugender oder ableitender Hilfsmittel und strukturiertem Hautschutz.
die IAD unabhängig von der Art des verwendeten Kontinenzmaterials entstehen kann. Vergleichbar mit anderen Kontaktdermatiden führt der Kontakt mit Urin und / oder Stuhl zu einer direkten Schädigung der Hautbarriere und nachfolgender Entzündungsreaktion. Konkret werden folgende pathogenetische Mechanismen diskutiert: 1. Die vermehrte Feuchtigkeit auf der Hautoberfläche führt zur Hyperhydratation des Stratum corneum (SC). Dabei verlieren das SC und die gesamte Epidermis ihre strukturelle Integrität und Widerstandfähigkeit gegenüber mechanischen Einflüssen. Gleichzeitig wird die Permeabilität des SC erhöht; irritierende Stoffe auf der Hautoberfläche (z. B. Tenside von Hautreinigungsmitteln) können leichter in die epidermalen und dermalen Schichten eindringen und dort Irritationen auslösen. Wiederholte Wechsel von Feuchtigkeit auf der Hautoberfläche und
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16
16 Pathologische Hautveränderungen
Trocknungen (z. B. Freilagerung oder nach dem Wechsel von Inkontinenzmaterial) führen zu einem Verlust natürlicher Feuchthaltefaktoren der Korneozyten, wodurch das SC austrocknet. 2. Urin enthält Harnstoff (Urea); dieser wird durch Urease in Ammoniak und Kohlenstoffdioxid gespalten. Ammoniak löst sich in Wasser und erzeugt eine basische Lösung. Somit wird der pH-Wert der Hautoberfläche erhöht. In der Folge wird der Zusammenhalt des SC weiter geschwächt und die Hautflora verändert sich. 3. Im Stuhl befinden sich Verdauungsenzyme – Lipasen und Proteasen. Diese greifen die Lipide und Proteine des SC direkt an. Da in flüssigem Stuhl die Darmpassage besonders schnell ist, sind die Enzyme noch aktiv. Das erklärt, weshalb das IAD-Risiko bei Diarrhö besonders hoch ist. 4. Aufgrund des Stuhls auf der Hautoberfläche kommt es zu einer hohen Last von Bakterien und Pilzen. Insbesondere auf vorgeschädigter Hautbarriere kommt es oft zu einer sekundären Infektion. Am häufigsten sind Infektionen mit Candida albicans. Es konnte auch gezeigt werden, dass aufgrund der gestörten Hautbarriere Bakterien in tiefe epidermale und dermale Schichten penetrieren und dort Entzündungsreaktionen verursachen. 5. Okklusion durch Inkontinenzmaterial oder langes Liegen auf okklusiven Matratzen führen zu einer Erhöhung der Feuchtigkeit und Temperatur unmittelbar auf der Hautoberfläche (Mikroklima der Haut). Dies verstärkt die Hyperhydratation des SC (siehe Punkt 1) und erhöht die Permeabilität. Insbesondere die gestiegene Hauttemperatur trägt zur erhöhten Entzündungsneigung bei. 6. Wiederholte Hautreinigungsprozeduren erhöhen wiederum die Feuchtigkeit auf der bereits vorgeschädigten Haut. Die waschaktiven Substanzen (Tenside) in den Hautreinigungsmitteln wirken irritierend. Manche Hautreinigungsmittel haben einen basischen pH-Wert, wodurch der pH-Wert der Haut erhöht wird. Die wiederholte Reibung auf der Hautoberfläche durch Waschlappen und beim Trocknungsvorgang erzeugt eine mechanische Irritation. Durch die erhöhte SC-Feuchtigkeit ist der Reibungskoeffizient höher als bei trockener Haut und somit sind die resultierenden Scherkräfte innerhalb der epidermalen und dermalen Schichten besonders hoch.
Obwohl jeder der sechs pathogenetischen Mechanismen zur IAD-Entstehung beiträgt, kommen in der klinischen Realität die Faktoren gleichzeitig vor. Diese wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig. Ursachen für die Entstehung einer Inkontinenzassoziierten Dermatitis • Erhöhte Stratum-corneum-Feuchtigkeit • Erhöhter pH-Wert auf der Hautoberfläche • Verdauungsenzyme • Bakterien und Pilze • Okklusion und Reibung • Hautreinigungsprozeduren
16.2.2 Symptome und Klassifikation Die IAD weist die klassischen Zeichen einer Entzündungsreaktion der Haut auf. Frühe Formen der IAD sind durch Erytheme gekennzeichnet, aber die Epidermis ist noch intakt. Ein weiteres charakteristisches Symptom ist das Verschwinden des Hautprofils und ein „glänzender“ Aspekt (› Abb. 16.7). Mazerierte Haut hat ein weißliches Aussehen. Im weiteren Verlauf entstehen typische klinische Zeichen eines Kontaktekzems, Erosionen und Exkoriationen, die teilweise großflächig sein können. Jede Form der IAD ist sehr schmerzhaft, insbesondere bei Manipulationen oder Lagerungen. Missempfindungen wie Brennen, Kribbeln oder Jucken treten ebenfalls häufig auf. Die IAD tritt typischerweise perianal, perineal oder auch an den Innenseiten der Oberschenkel auf. Es gilt zu beachten, dass die IAD grundsätzlich
Abb. 16.7 Frühe Form der IAD mit Ödem und „glänzender“ Haut. [P580]
16.2 Inkontinenz-assoziierte Dermatitis
131
Tab. 16.3 Klinische Merkmale von Dekubitus und IAD im Vergleich Dekubitus Über Knochenvorsprung oder unter einem medizinischen Hilfsmittel (z. B. Kanüle, Katheter, Schiene)
Inkontinenz-assoziierte Dermatitis Perineal, perianal, Innenseiten der Oberschenkel, Gesäß
Ätiologie
Immobilität, eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit
Urin und / oder Stuhlinkontinenz
Tiefe
Am Beginn Kategorie I oder tiefe Gewebeschä- Teilverlust der Haut (Erosion, Exkoriation) digung („Deep Tissue Injury“), zum Schluss in der Regel Kategorie III / IV
Form
Rund, oval, klar abgrenzbare Ränder
Ungleichmäßige Form und undeutliche Ränder
Weitere Merkmale
Nekrosen und Unterminierungen können auftreten
Umgebende Haut typischerweise mazeriert
Lokalisation
nur dort vorkommt, wo Urin und / oder Stuhl in direkten Kontakt mit der Haut treten oder traten. Je nach Körperposition sind die konvexen Körperareale am häufigsten betroffen. Ausgeprägte Erytheme oder andere pathologische Hautzeichen, die in Bereichen sichtbar sind, die nicht direkt mit Urin oder Stuhl in Kontakt gekommen sind (z. B. in Hautfalten bei adipösen Patienten), sind keine IAD. Typische Differenzialdiagnosen sind Intertrigo oder andere Formen von Kontaktekzemen, die von der IAD abgegrenzt werden müssen. Es kann auch Verwechslungsgefahr mit Dekubitus der Kategorien 1 und 2 bestehen. Differenzialdiagnostische Hinweise finden sich in › Tab. 16.3. In der Praxis kommen IAD und Dekubitus sehr häufig gleichzeitig vor (› Abb. 16.8). Aufgrund der gestörten Hautbarriere sind sekundäre Infektionen häufig. Candida albicans ist die häufigste Pilzinfektion, die mit IAD assoziiert ist. Satellitenläsionen in Form von Pusteln sind dafür
typisch. Die Diagnose sollte immer auf der Basis eines mikrobiologischen Abstrichs erfolgen. International gibt es mindestens 10 standardisierte Instrumente zur Einschätzung des IAD-Risikos bzw. der IAD-Schwere. Eine stark vereinfachte Klassifikation ist das „Ghent Globale IADKategorisierungsinstrument (GLOBIAD)“ (https:// www.skintghent.be). Dieses liegt in über 15 Sprachen vor und erlaubt somit eine vergleichbare internationale Kommunikation. Kategorie 1 ist gerötete Haut, aber es liegt noch kein Hautverlust vor. Kategorie 2 ist durch Hautverlust gekennzeichnet (› Abb. 16.9). In beiden Fällen können zusätzlich klinische Zeichen einer Infektion vorliegen.
16.2.3 Prävention und Therapie Alle inkontinenten Patienten haben das Risiko, eine IAD zu entwickeln. Somit sind prophylaktische Maßnahmen notwendig. Ist eine IAD entstanden, muss diese behandelt werden. Der Übergang zwischen Prävention und Therapie ist unscharf. Die Evidenz für oder gegen bestimmte Maßnahmen ist schwach, doch es gibt drei Grundprinzipien.
Förderung der Kontinenz
Abb. 16.8 Ausgeprägte IAD und Dekubitus Kategorie III / IV [P580]
Sofern möglich, soll die Kontinenz gefördert, wiederhergestellt oder erhalten werden. Dafür kommt eine Reihe konservativer (z. B. Beckenbodentraining, Blasentraining) bis hin zu operativen Verfahren in Betracht. Diese Form der Kausaltherapie ist bezüglich
16
132
16 Pathologische Hautveränderungen
16
Abb. 16.9 Ghent Globales IAD-Kategorisierungsinstrument (GLOBIAD) [T1052]
der IAD-Prävention und -Therapie am effektivsten. Dennoch ist dieses Therapieziel in vielen Bereichen nicht realistisch, z. B. in der Intensivmedizin, in der Geriatrie oder der Langzeitpflege.
Ableitende und aufsaugende Hilfsmittel Inkontinenz per se ist in der Regel keine Indikation für den Einsatz ableitender Systeme wie beispielsweise Blasenverweilkatheter. Es gibt jedoch Situationen, in denen ableitende Systeme kurzzeitig eingesetzt werden können, wenn entweder eine schwere großflächige IAD vorliegt oder massiv dünnflüssiger Stuhl
unkontrolliert abgeht. Dann sollen beispielsweise Fäkalkollektoren zum Einsatz kommen, um die IADHeilung zu fördern und die Haut zu schützen. Aufsaugende Hilfsmittel spielen bei der Versorgung von inkontinenten Patienten eine wesentlich größere Rolle. Die Qualität und Effektivität dieser Produkte hängt im Wesentlichen von der Saugleistung und der Atmungsaktivität ab. Es sollen grundsätzlich Produkte bevorzugt werden, die ein leistungsfähiges Saugmaterial aufweisen sowie weich und atmungsaktiv sind. Insbesondere nach Stuhlinkontinenzepisoden müssen aufsaugende Hilfsmittel unmittelbar gewechselt werden. Hilfsmittel, die okklusive Bedingungen schaffen, fördern die IAD-Entstehung.
16.2 Inkontinenz-assoziierte Dermatitis Nebenwirkungen von aufsaugenden Hilfsmitteln können allergische Kontaktekzeme sein. Zahlreiche chemische Verbindungen im Hilfsmittelmaterial können Sensibilisierungen verursachen, vor allem dann, wenn die aufsaugende Kapazität erschöpft ist und es zu einem Reflux von Flüssigkeit aus dem aufsaugenden Kern zurück zur Haut kommt. Dem muss durch häufige Wechsel unbedingt vorgebeugt werden.
Strukturierte Hautpflege Hautschutzprodukte können helfen, den direkten Kontakt der Haut mit Urin und / oder Stuhl zu verhindern oder abzumildern. Typische wirksame Bestandteile dieser topischen Formulierungen sind lipophile visköse (z. B. Vaseline, Paraffin) oder filmbildenden Substanzen und Polymere (z. B. Dimeticon, Acrylate). In sogenannten „Barriereprodukten“ liegen oft Mischungen dieser Komponenten vor, zusammen mit anderen Hilfsstoffen wie Emulgatoren oder Konservierungs- und Duftstoffen. Das Vorliegen oder die Konzentration eines bestimmten Bestandteils sagt nichts über die Wirksamkeit der Gesamtformulierung aus. Aufgrund der Heterogenität der auf dem Markt befindlichen Produkte und der verfügbaren Studien kann derzeit keine Aussage darüber getroffen werden, ob ein Hautschutzprodukt besser als ein anderes ist. Die verfügbare Evidenz legt jedoch nahe, dass die Verwendung eines Hautschutzprodukts besser ist, als kein Produkt zu verwenden. Hautschutzprodukte müssen in ausreichender Menge und Frequenz (ggf. nach Herstellerangaben) angewendet werden. Sobald Urin und / oder Stuhl auf der Hautoberfläche sind, muss eine Hautreinigung erfolgen. Diese soll so gründlich, aber so schonend wie möglich mit weichen Lappen oder Tüchern durchgeführt werden. Wasser soll sparsam verwendet werden, da es die vorgeschädigte Haut weiter schädigt. Zur Entfernung von Stuhl können Waschlösungen mit milden Tensiden angewendet werden. Auf keinen Fall sollen klassische alkalische Seifen benutzt werden. Bei vorgeschädigter und vulnerabler Haut können entsprechende Feuchttücher oder Einweg-Waschsysteme eine Alternative zu Wasser und Hautreinigungsmitteln darstellen. Nach jeder Hautreinigung soll die Haut vorsichtig abgetrocknet werden.
133
Hautpflegeprodukte können helfen, die Hautbarriere zu stärken und wiederherzustellen. Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen Hautschutz- und Hautpflegeprodukten kaum möglich, denn die Inhaltstoffe und Wirkungen sind ähnlich. Hautschutzprodukte helfen bei der Regeneration irritierter Haut und viele Hautpflegeprodukte haben gleichzeitig hautschützende Wirkung. Eine vorhandene IAD muss behandelt werden. Die IAD-Heilung kann maßgeblich beschleunigt werden, wenn die Exposition gegenüber den Irritanzien auf ein Minimum reduziert wird. Die topische Behandlung richtet sich nach dem klinischen Bild. Akut nässende IAD kann mit austrocknenden Präparaten oder mit weichen zinkhaltigen Produkten (z. B. weiche Zinkpaste DAB) kurzzeitig behandelt werden. Die Reepithelisierung kann mit Hautschutz- oder lipophilen Hautpflegeprodukten gefördert werden. Beim Vorliegen einer Infektion muss antimikrobiell bzw. antimykotisch behandelt werden. Maßnahmen zur Prävention und Therapie der Inkontinenz-assoziierten Dermatitis • Förderung der Kontinenz • Aufsaugende, ggf. ableitende Hilfsmittel • Strukturierte Hautpflege: Hautschutz, Hautreinigung,
Hautpflege
16.2.4 Fazit Wiederholte und länger andauernde Exposition gegenüber Urin und / oder Stuhl führt zu einer irritativen Kontaktdermatitis exponierter Hautareale. Exzessive Feuchtigkeit auf der Hautoberfläche, erhöhte pH-Werte, Okklusion, Verdauungsenzyme aus dem Stuhl und wiederholte Hautreinigungsprozeduren sind die Ursachen für die Entstehung von IAD. Wirksame Strategien zur Prävention und Therapie der IAD sind Kontinenzmanagement, die Verwendung leistungsfähiger, aufsaugender Hilfsmittel und strukturierte(r) Hautschutz und -pflege. LITERATUR Beeckman D, Van Damme N, Schoonhoven L et al. Interventions for preventing and treating incontinence-associated dermatitis in adults. Cochrane Database Syst Rev 2016; 11: CD011627.
16
KAPITEL
17
Joachim Dissemond
Pathologische Narben Kernaussagen
• Hypertrophe Narben sind auf das ursprüngliche Verletzungsgebiet beschränkt und treten besonders häufig nach Verbrennungen auf. • Keloide dehnen sich über das ursprünglich verletze Gebiet hinaus aus. • Für die Wahrscheinlichkeit, Keloide zu entwickeln, scheint es eine genetische Disposition zu geben.
17.1 Einführung Ein zentrales Ziel der Wundbehandlung ist der vollständige Wundverschluss. Alle chronischen Wunden werden mit der Ausbildung einer Narbe abheilen. Eine narbenfreie Wundheilung (Restitutio ad integrum) ist bei Menschen bislang lediglich als Fetus möglich. Narben bestehen aus faserreichem Ersatzgewebe, das überwiegend von Fibroblasten gebildet wird. Nach diesem Wundverschluss gibt es im Narbengebiet über mehrere Monate und teilweise Jahre weiterhin einen Gewebeab- und -umbau, der vor allem von Matrixmetalloproteinasen (MMPs) reguliert wird. Im Laufe der Zeit kommt es durch eine Kontraktion der Myofibroblasten zu einer Narbenschrumpfung; die Dichte der Blutgefäße nimmt ab und führt zum Abblassen des Narbengewebes. Bei Störungen im Ablauf der physiologischen Narbenbildung können sich auch pathologische Narben in Form von hypertrophen Narben oder Keloiden ausbilden.
17.2 Pathologische Narben Pathologische Narben stellen für die Betroffenen oft eine erhebliche Belastung dar, die man als behandelnder Arzt nur dann erfassen kann, wenn man diesen Faktor auch bestimmt. Der Vancouver Scar
• Exogene Faktoren, die das Risiko für das Auftreten pathologischer Narben erhöhen, sind z. B. Zug- und Druckkraft. • Es gibt viele verschiedene interventionelle und nicht interventionelle Behandlungsoptionen für Patienten mit pathologischen Narben, die oft kombiniert eingesetzt werden sollten.
Scale (VSS) Score (› Tab. 17.1) ist im klinischen Alltag etwas aufwendiger, kann aber insbesondere in Verbindung mit einer Fotodokumentation bei Therapiewunsch den Patienten ebenso wie den Therapeuten als Argumentationshilfe dienen. Tab. 17.1 Beurteilung pathologischer Narben entsprechend der Vancouver Scar Scale (VSS) Merkmal Vaskularität
Eigenschaft Normal Pink Rot Violett Pigmentierung Normal Hypopigmentiert Hyperpigmentiert Flexibilität Normal Weich Nachgiebig Prall Hart Kontraktur Größe Flach < 2 mm 2–5 mm > 5 mm Gesamt
Punktwert 0 1 2 3 0 1 2 0 1 2 3 4 5 0 1 2 3 max. 13
136
17 Pathologische Narben
Abb. 17.2 Keloide [P580] Abb. 17.1 Hypertrophe Narbe [P580]
17.2.1 Hypertrophe Narben
17
Hypertrophen Narben sind auf das ursprüngliche Verletzungsgebiet beschränkt und treten oft schon wenige Wochen nach Wundverschluss auf. Sie sind höher als das umgebende Hautniveau und können Patienten kosmetisch oder funktionell stören (› Abb. 17.1). Bislang wurde bei den Betroffenen keine genetische Prädisposition beschrieben, sodass die Narben sich im Verlauf spontan oder durch Therapie zurückbilden können und das Risiko der Betroffenen bei erneuten Verletzungen in anderen Arealen nicht höher als bei der Normalbevölkerung ist. Besonders hoch ist mit 67 % das Auftreten hypertropher Narben nach Verbrennungen.
17.2.2 Keloide Der Begriff Keloid geht auf den französischen Dermatologen Jean Louis Alibert zurück, der 1816 das „cheloid“ von dem griechischen Begriff „chele“ für Krebsschere ableitete. Keloide dehnen sich über das ursprünglich verletze Gebiet hinaus aus (› Abb. 17.2). Sie entstehen zwar ausschließlich in zuvor verletztem Gewebe, jedoch kann es sich bei den Verletzungen auch um Minimaltraumata wie beispielsweise Follikulitiden, Exkoriationen oder Insektenstiche handeln. Sie bilden sich meist erst mehrere Monate, teilweise auch erst Jahre nach dem Wundverschluss. Keloide können grundsätzlich an jeder Stelle des Körpers auftreten.
Typische Prädilektionsstellen sind jedoch Ohren, Sternum, Schultern und Nacken. Hier wurde ein potenzieller Zusammenhang mit erhöhter Hautspannung diskutiert. Das Lebensalter der Erstmanifestation beträgt bei beiden Geschlechtern meist zwischen 10 und 30 Jahre bzw. durchschnittlich 23 Jahre; eine Geschlechtsprädominanz besteht nicht.
17.3 Pathophysiologie Ein pathophysiologisch zentraler Aspekt der gestörten Narbenbildung scheint in der gestörten Regulation der Myofibroblasten zu liegen. Hier kommt es zu einer verlängerten und verstärkten Aktivierung der Zellen mit unphysiologischer Zunahme der Kollagensynthese. In hypertrophen Narben und Keloiden ist die Aktivität von MMP-1 erniedrigt und die Aktivität anderer MMPs wie beispielsweise MMP-2 erhöht. So wird der Katabolismus in der extrazellulären Matrix (ECM) gefördert. Strukturproteine wie Fibrin, Fibronektin, Glykosaminoglykane und Kollagen Typ III werden durch Kollagen, überwiegend Typ I, ersetzt. Einfluss auf die Stimulierung der Myofibroblasten nehmen verschiedene Faktoren. Beim exogenen Einfluss sind es physikalische Faktoren wie beispielsweise Zug- und Druckkraft. Aus der Verbrennungsbehandlung ist bekannt, dass auch Wundheilungszeiträume die Narbenbildung beeinflussen können. Wenn Wunden länger als drei Wochen bestehen, entgleitet die Zytokin-mediierte Steuerung der komplexen Interaktion zwischen epidermalen Keratinozyten
17.5 Narbentherapie und Wundfibroblasten, die Fibroblastenaktivität wird autonom und es resultiert eine Überproduktion von Kollagen. Endogene Faktoren sind u. a. Zytokine, von denen die Wirkungen von überexprimierten Transforming-Growth-Factor(TGF)-β-Isoformen und Platelet-Derived Growth Factor (PDGF) am besten untersucht sind. Zudem werden verschiedene genetische Faktoren diskutiert, bei denen allerdings mehr als nur ein Genlocus involviert zu sein scheint. Hier wird seit vielen Jahren über den Zusammenhang mit positiver Familien- und Eigenanamnese sowie dunklen Hauttypen berichtet. Diskutiert werden autosomal dominante Vererbungsmodi mit inkompletter Penetration sowie auch häufiger autosomal rezessive Vererbungsmodi.
17.4 Prävention pathologischer Narben Grundsätzlich stellen Narben den Abschluss der Wundheilung dar. Insofern ist eine Narbenbildung nach entsprechend tiefer Verletzung bei Menschen obligat. Es gibt jedoch zahlreiche Faktoren, die sowohl das Ausmaß als auch die Wahrscheinlichkeit einer pathologischen Narbenbildung beeinflussen können. So sollten bei operativen Eingriffen an Patienten mit erhöhtem Risiko für pathologische Narben möglichst atraumatische OP-Techniken geplant werden. Das Auftreten von Narben kann insbesondere bei interventionellen Eingriffen oft nicht verhindert werden. Hier kann allerdings eine Reihe von Faktoren beachtet werden, um das Risiko für pathologische Narben zu senken (› Tab. 17.2). Wichtig in diesem Zusammenhang ist es zudem, Patienten im Vorfeld über mögliche Risiken aufzuklären.
137
Tab. 17.2 Beeinflussbare Faktoren bei operativen Eingriffen, die potenziell Einfluss auf den Verlauf der Narbenbildung haben • Inzisionslinien • Vertikale
an den Hautspaltlinien orientieren
Schnittführung
• Atraumatische Wundrandbehandlung • Minimierung
des zentrifugalen Zugs während der OP
• Minimierung
des zentripedalen Zugs (Adaption) durch ausreichende Unterminierung bzw. spannungsfreie Plastik und mehrschichtige Naht zur Zugentlastung
• Passendes
Nahtmaterial wählen
• Entlastende Verbände, z. B. Strips
oder Bandagen an
Extremitäten • Adäquater Verband
und -wechsel, z. B. mit elastischen Pflastern oder Silikonfolien
• Vermeidung
postoperativer Infektionen
keit einer medizinischen Behandlung ausschließlich beim Auftreten von Symptomen, die von den Betroffenen als belastend empfunden werden. Hierzu zählt insbesondere das Auftreten von Juckreiz und / oder Schmerz. Sehr problematisch sind zudem funktionelle Beeinträchtigungen z. B. durch Bewegungseinschränkungen bei Narben über Gelenken mit daraus resultierenden Kontrakturen. Sehr selten können sich in Narben auch Plattenepithelkarzinome ausbilden. Oft sind es aber eher ästhetische beziehungsweise kosmetische Beeinträchtigungen, die zu einem Therapiewunsch führen.
17.5.1 Wait-and-see Bei hypertrophen Narben sollte zunächst abgewartet werden, ob es zu einer spontanen Rückbildung innerhalb der ersten 12–24 Monate kommt. Insbesondere bei sogenannten unreifen Narben, die sich klinisch rot, juckend und meist nur diskret erhaben darstellen, sollten keine invasiven Therapien durchgeführt werden.
17.5 Narbentherapie Da es sich sowohl bei hypertrophen Narben als auch bei Keloiden grundsätzlich um benigne Hautveränderungen handelt, ergibt sich die Notwendig-
17.5.2 Kryotherapie Kryotherapien sind ein seit vielen Jahren gut etablierte Therapieverfahren für die Behandlung von
17
138
17
17 Pathologische Narben
pathologischen Narben. Meist wird hier flüssiger Stickstoff eingesetzt, der Temperaturen von bis zu minus 190 °C erreicht. Gewebenekrosen werden durch direkte Zell- und Gefäßschädigungen mit ischämischem Zelltod erzielt. Die Applikation kann als Spray- oder Kontaktverfahren auch gut im ambulanten Bereich durchgeführt werden. Bei der praktischen Durchführung wird die Kälte meist zweimal für 10–30 Sekunden appliziert. Behandlungswiederholungen können bei unzureichendem Erfolg alle 4–6 Wochen erfolgen. Zumeist sind mindestens drei Behandlungen notwendig. Die Effektivität der Kryotherapie kann durch intraläsionale Verfahren gesteigert werden. Häufig beobachtete Nebenwirkungen der Kryotherapien sind neben Schmerzen während der Therapie vor allem teils reversible Depigmentierungen. Da es postinterventionell oft zu Blasen und in der Folge zu nässenden Erosionen kommt, sollte auf eine antiseptische Nachbehandlung geachtet werden. Die Ansprechraten liegen etwa bei 40–80 % und die Rezidivraten bei 0–45 %. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Effektivität der Kryotherapie durch den kombinierten Einsatz mit TriamcinolonInjektionen gesteigert werden kann.
17.5.3 Glukokortikoide Intraläsional applizierte Glukokortikoide und insbesondere Triamcinolonacetonid werden seit vielen Jahrzehnten erfolgreich für die Behandlung pathologischer Narben eingesetzt. Sie wirken u. a. antiinflammatorisch, vasokonstriktorisch, hemmen die Fibroblastenproliferation und inhibieren die Kollagensynthese. Die praktische Durchführung erfolgt mit 10–40 mg Triamcinolonacetonid pur oder in Kombination mit Lidocain 1:1–1:4 verdünnt. Mit Spritzen oder Hochdruckinjektor (Dermojet) wird hier streng intraläsional injiziert. Ein BlanchingEffekt (Abblassen) des injizierten Gewebes zeigt den Endpunkt der Infiltration an. Meist folgen mehrere Wiederholungen in Abständen von 2–6 Wochen. Eine Vereisung unmittelbar vor der intraläsionalen Glukokortikosteroidinjektion erleichtert durch die Ödementstehung die anschließende Injektion und reduziert Schmerzen. Die Ansprechraten nach
Therapie mit intraläsionalen Glukokortikosteroiden liegen in verschiedenen Studien bei circa 50–100 %, die Rezidivraten bei 9–50 %. Die intraläsionale Glukokortikoidinjektion ist einfach durchzuführen, kostengünstig und zeigt eine hohe Effektivität bei geringen Nebenwirkungen. Hier muss allerdings beachtet werden, dass es bei zu tiefer Injektion zu einer irreversiblen Atrophie des subkutanen Fettgewebes kommen kann. Oft werden Glukokortikoide als Kombinationsverfahren insbesondere auch für die Prävention von Rezidiven nach Exzision mit guten Erfolgen eingesetzt.
17.5.4 Druckbehandlung Durch die Druckbehandlung resultiert eine lokale Hypoxie, die u. a. durch verminderte Wundspannung zu einer Beschleunigung der Kollagenreifung führt. Für die Druckbehandlung pathologischer Narben können beispielsweise individuell angepasste Strümpfe, Handschuhe, Magnetknöpfe oder Ohrclips verwendet werden. Insbesondere postoperativ kann auch eine Vakuumtherapie eingesetzt werden. Oft ist es jedoch sinnvoll, Therapien in Kooperation mit Fachleuten aus der Orthopädietechnik oder Epithetik zu planen. Generell sollten Druckbehandlungen möglichst frühzeitig begonnen und über den gesamten Tag für mindestens 6, besser 24 Monate durchgeführt werden. Die effektiv eingesetzten Materialien sollten Druckwerte um 20–30 mmHg vermitteln. Allerdings wird die konsequente Umsetzung der therapeutischen Empfehlungen durch die Patienten bei diesen Therapieverfahren mit 25). Für die Erfassung der Adipositas bei diesen Frauen ist die
Habituelle Normvarianten der Beinform Habituelle Normvarianten des Beines sind von Lipödemen abzugrenzen. Die Bandbreite der Beinformen ist groß und z. T. ethnisch begründet. Die klinischen Zeichen der Schmerzhaftigkeit, der Hämatomneigung und der Kragenbildung oberhalb des Knöchels sind hier hilfreich in der differenzialdiagnostischen Abgrenzung.
Lipohypertrophie bei Adipositas Die wichtigste Abgrenzung zum Lipödem ist die Lipohypertrophie bei Adipositas. Auch hier kommt es zu einer Zunahme von Fettgewebe, die aber neben einer Ausprägung an den Extremitäten auch den Körperstamm betrifft. Der BMI sollte deutlich erhöht sein und auch die WHR sollte pathologische Werte aufweisen. Bei extremer Adipositas sind die Unterschenkelödeme Folge einer funktionellen chronischen venösen Insuffizienz (Dependency-Syndrom) mit allen zugehörigen Merkmalen und Komplikationen oder sogar Lymphödemen.
Lipomatosis dolorosa Die Lipomatosis dolorosa, auch Morbus Dercum genannt, stellt eine seltene Erkrankung dar, die durch Übergewicht und chronische, therapieresistente Schmerzen gekennzeichnet ist. Typisch sind stärkste Schmerzen im Bereich von Fettgewebsablagerungen. Weitere Symptome können Fatigue, Depression und andere psychiatrische und psychologische Auffälligkeiten sein. Gerade
20.3 Krankheitsbilder bei Lipödem
167
Tab. 20.5 Differenzialdiagnosen des Lipödems nach Shavit et al. Besonderheiten Pathophysiologie
Lipödem Multifaktoriell, Lipohypertrophie, primär
Lymphödem Adipositas Störungen der Lymph- Multifaktoriell gefäße, primär oder sekundär
Morbus Dercum Genetisch
Disproportion
+
–
–
+
Beginn
Pubertät
Jedes Alter
Jedes Alter
Postmenopausal
Geschlecht
Weiblich
Beide Geschlechter
Beide Geschlechter
Weiblich
Hautkonsistenz
Fest
Weich bis sklerotisch
Fest
Fest
Hautfarbe
Normal, Ekchymosen
Braun
Normal
Normal, manchmal Ekchymosen
Ausdehnung
Bilateral, überwiegend Unilateral oder bilaBeine teral, am häufigsten Arme und Beine
Bilateral, zentral betont
Bilateral, Rumpf, Arme, Beine
Symmetrie
Symmetrisch
Symmetrisch
Symmetrisch
Klinik
„Cuff Sign“, fehlende Papillomatose, Definition der Achilles- positives Stemmersehne Zeichen
Zentrale Fettleibigkeit
Schmerzhafte Lipome, Beteiligung von Extremitäten und Rumpf
Beteiligung der Füße / Hände
–
+
–
+
Ansprechen auf Kompressionstherapie
–
+
–
+
Metabolisches Syndrom
Stimmungsschwankungen Diabetes
Kann asymmetrisch sein
Häufige Assoziationen Depression, chronische Rezidivierende venöse Insuffizienz Erysipele Hypermobilität
die juxtaartikuläre Form zeigt teilweise Überschneidungen zum Lipödem.
20.3.4 Therapie Da die Ursache des Lipödems bisher unbekannt ist, gibt es keine kausale Therapie. Das Ziel der Behandlung ist daher eine Besserung der subjektiven Symptome, eine Verhinderung der Progredienz des Lipödems im Sinne einer weiteren Fettgewebsvermehrung sowie eine Verhinderung der Ausbildung eines Lipolymphödems. Bei den Frühstadien des Lipödems stehen daher die Gewichtsregulation und die körperliche Aktivität im Vordergrund. Diese Therapie ändert an der Verteilungsstörung des Fettgewebes nichts, verlangsamt aber die Progression der Fettgewebsvermehrung und lindert die subjektiven Symptome. Da es sich beim Lipödem nicht
um ein wässriges oder proteinreiches Ödem handelt und in den frühen Stadien der Erkrankung der lymphatische Rückfluss sogar erhöht ist, ist die manuelle Lymphdrainage dort nicht indiziert. Mit zunehmender Ödematisierung des Gewebes im Sinne eines Lipolymphödems brauchen die Patienten eine entstauende Therapie, die dann der Therapie der des Lymphödems gleicht (› Kap. 20.2.7). Eine Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes ist mit den konservativen Mitteln nicht zu erreichen. Hierzu kann die Liposuktion hilfreich sein. Bei der Liposuktion des Lipödems sind meist deutlich größere Fettmengen zu entfernen als bei kosmetischen Operationen. Die wissenschaftliche Datenlage zu den Fragen, wann und nach welchen Kriterien eine Liposuktion indiziert ist und wie gut die Langzeitergebnisse bzgl. Symptomlinderung und Gewichtsreduktion sind, ist unzureichend.
20
168
20 Ödeme
Abb. 20.12 Oberflächliche Wunden bei einer Patientin mit Lipödem. Ursächlich sind hier rezidivierende Traumata beim Liegen und Aufstehen aus dem Bett oder vom Stuhl. Durch die großen Umfänge und das Gewicht entstehen hohe Scherkräfte. Therapeutisch ist neben der adäquaten Wundversorgung (Exsudatmanagement) und der komplexen Entstauungstherapie (reduziert das Gewicht und verbessert die Mikrozirkulation) das Vermeiden weiterer Traumata als Ursache wichtig. [O1089]
Abb. 20.11 Anamnestisch aus einem Insektenstich entstandene Infektion des Fettgewebes bei einer Patientin mit Lipödem. [O1089] a: druckdolenter nekrotisierender Weichteilinfekt bei erster Vorstellung; b: nach chirurgischer Ausräumung erkennt man die dicke subkutane Fettgewebsschicht und die freiliegende Muskelfaszie.
20.3.5 Lipödem und Wunden 20
Ein Lipödem macht per se keine Wunden. Wunden, die bei Patienten mit Lipödem auftreten, sind meist primär durch eine lokale Infektion (› Abb. 20.11) oder ein Trauma (› Abb. 20.12) bedingt und durch die mit den großen Fettgewebsmassen verbundenen Mikrozirkulationsstörungen in ihrer Heilung verzögert. Bei den Weichteilinfektionen bei Patienten
mit Lipödem spielt, anders als beim Lymphödem, das Erysipel eine geringe Rolle. Die Infektionen werden häufig durch Staphylokokken verursacht und neigen zur Abszedierung. Nach der Infektsanierung steht hier neben allen anderen Aspekten der Wundversorgung die Kompressionstherapie im Zentrum der Therapie. LITERATUR Bellini E, Grieco MP, Raposio E. A journey through liposuction and liposculture: Review. Ann Med Surg 2017; 24: 53–60. Caruana M. Lipedema: A commonly misdiagnosed fat disorder. Plast Surg Nurs 2018; 38: 149–152. Reich-Schupke S, Schmeller W, Brauer WJ et al. S1-Leitlinie: Lipödem. J Dtsch Dermatol Ges 2017; 15: 758–767. Shavit E, Wollina U, Alavi A. Lipoedema is not lymphoedema: A review of current literature. Int Wound J 2018; 15: 921–928. Wollina U, Heinig B. Differentialdiagnostik von Lipödem und Lymphödem: Ein Leitfaden für die Praxis. Hautarzt 2018; 69: 1039-1047.
KAPITEL
21
Wolfgang Tigges, Eike Tigges
Adipositas-assoziierte Wundbehandlung Kernaussagen
• Adipositas und Übergewicht ist ein Krankheitsbild mit zunehmender Prävalenz in Europa. • Adipositas vermittelt Krankheitsbilder, in deren Folge chronische Wunde entstehen können. • Die spezifischen Behandlungsoptionen bei Menschen mit chronischen Wunden, insbesondere die adjuvanten Maßnahmen der Wundbehandlung, sind regelmäßig auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen.
21.1 Einführung Adipositas ist laut WHO definiert als chronische Krankheit mit übermäßiger Gewichtsentwicklung, die mit einer Vermehrung des Körperfettes einhergeht. Übergewicht und Adipositas werden durch den Body-Mass-Index (BMI) definiert (› Tab. 21.1), der jedoch bezüglich einer krankheitsbedingten Gewichtsentwicklung nur eingeschränkte Aussagekraft besitzt, da weder der absolute noch der relative Fettanteil berücksichtigt werden. Tab. 21.1 Body-Mass-Index BMI (kg / m2) Klassifikation < 18,5
Untergewicht
18,5 1 Jahr), MLD kann bedarfsgerecht verordnet werden ohne Belastung des Budgets. Kein Antrags- oder Genehmigungsverfahren erforderlich. Dies betrifft: – Indikationsschlüssel LY3 (Malignome, sekundäre Lymphödeme nach onkologischer Behandlung, ICD: C00-C97) – Indikationsschlüssel LY2 (u. a. Extremitätenlymphödeme Stadium III ICD: I89.02 und seit 19.5.2016 auch Stadium II ICD: I89.01, hereditäre Lymphödeme ICD: Q82.0-) Beispiele • Posttraumatische und postentzündliche Ödeme mit Wunde entsprechen einem prognostisch kurzfristigen Behandlungsbedarf (LY1a / b, 6 Behandlungen pro Verordnung, max. 12 Behandlungen pro Quartal) und sind budgetrelevant. • Phlebödem mit Ulcus cruris entspricht zwar einem längerfristigen Behandlungsbedarf, allerdings mit Budgetrelevanz (LY2a, 6 Behandlungen pro Verordnung, max. 30 Behandlungen pro Quartal) • Lymphödeme mit chronischer Wunde liegen meist im Stadium II oder III vor mit Gewebsfibrose und Wundrandinduration, hier gilt die budgetneutrale Langfristverordnung. Therapiezeit pro Behandlung: MLD-30, MLD-45, MLD-60 (Minuten) Es ist wichtig, auf dem MLD-Rezept im Rahmen der Phase I die Anlage einer lymphologischen Kompressionsbandage zu vermerken und entsprechendes lymphologisches Bandagematerial zu verordnen. In der Erhaltungsphase sollte darauf geachtet werden, dass die Anlage der Kompressionsstrümpfe gleich nach der MLD erfolgt.
313
32.4 Entstauende Atem- und Bewegungstherapie 32.4.1 Atemtherapie Intensive Atemtherapie bewirkt eine Erhöhung des venösen Blutflusses und eine Steigerung des Lymphflusses.
32.4.2 Entstauende Bewegungstherapie beim Lymphödem Bewegungstherapie und sportliche Aktivität sind wirksame Komponenten der komplexen physikalischen Entstauungstherapie (KPE). Durch gezieltes Bewegungstraining wird die Lymphangiomotorik im Sinne einer erhöhten Pulsation der Lymphangione stimuliert und andererseits vor allem in Kombination mit der Kompressionsbehandlung der interstitielle Druck erhöht (› Abb. 32.4). Dies führt zur vermehrten Aufnahme von Gewebeflüssigkeit in die initialen Lymphgefäße (Lymphbildung) und unterstützt damit die Entstauung. Neben der entstauenden Bewegungsgymnastik haben sich in der Ödemtherapie Sportarten wie (Nordic) Walking und Radfahren (Hometrainer) bewährt. Schwimmen und Wassergymnastik sind nur bei geschlossenen Hautverhältnissen möglich, dabei ist auch auf Hygienekriterien und moderate Wassertemperaturen zu achten.
Abb. 32.4 Entstauende Bewegungstherapie beim Lymphödem [T1054]
32
314
32 Systematik der Physiotherapie
32.4.3 Bewegungstherapie bei CVI und Ulcus cruris venosum
32
Entstehung und Schweregrad der CVI korrelieren mit einer reduzierten Funktionsfähigkeit der MuskelGelenk-Pumpen der Beine und einer Einschränkung der Sprunggelenksbeweglichkeit. Dies wird auch durch die Krankheitsbilder „Dependency Syndrome“ und arthrogenes Stauungssyndrom verdeutlicht. Patienten mit Ulcus cruris venosum zeigen bei gleicher Bewegungszeit eine deutlich geringere Schrittzahl auf. In der Basistherapie der CVI spielen deshalb die Verbesserung von Bewegungseinschränkungen und die Steigerung der Eigenmobilität eine primäre Rolle. Zur Effektoptimierung sollen Kompressions- und Bewegungstherapie immer kombiniert werden. Durch optimale Ausnutzung der Muskelpumpe führt diese Kombination zu einem verbesserten venösen Rückfluss und zu einem vermehrten lymphatischen Abtransport im Bereich der unteren Extremität. Die Effektivität der Wadenmuskulatur hängt weitgehend von der Verbesserung der Sprunggelenksbeweglichkeit ab. Ein spezifisches Venentraining beinhaltet Gehtraining, Sprunggelenksaktivierung und wiederholtes Hochlagern der unteren Extremitäten. Das Venentraining kann in der Gruppe oder individuell durchgeführt werden. Bei Lähmung oder weitgehender Immobilität ist aktives Training nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Hier implementiert die physiotherapeutische Behandlung das passive Durchbewegen der Gelenke mit dem Ziel der Kontrakturprophylaxe sowie zur Verbesserung des venösen Rückstroms und der Lymphangiomotorik. Durch regelmäßiges Bewegungstraining können eine Verbesserung der Ulkusheilrate und eine Reduktion der Rezidivquote erzielt werden. Die kutane Mikrozirkulation wird optimiert, der tcpO2-Wert steigt an. Neben der verbesserten Sprunggelenksbeweglichkeit berichten die Patienten auch über eine Reduktion der Wundschmerzen.
32.4.4 Strukturiertes Gehtraining als konservative Therapie der PAVK Körperliche Aktivität und Bewegungstraining führen bei arteriellen Vaskulopathien nicht
nur zu einer deutlichen Verbesserung der Gehstrecke, sondern auch zu einer Verbesserung der maximalen Sauerstoffaufnahme im Gewebe. Die positiven Effekte des Bewegungstrainings auf Glukose- und Fettstoffwechsel sind bekannt. Die lokale Produktion von VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) wird angeregt; dies begünstigt die Bildung von Kollateralen und die Verbesserung der endothelialen Funktion. Entzündliche Reaktionen werden gedrosselt, der mitochondriale Stoffwechsel und die lokale Muskelfunktion angeregt. Nach Revaskularisation arterieller Durchblutungsstörungen führt ein gezieltes Gefäßtraining bei chronischen Wunden zu einer verbesserten Heilungstendenz. Das strukturierte Gehtraining ist indiziert in der konservativen und medikamentösen Therapie der PAVK, in der Nachsorge interventioneller und operativer Behandlungsverfahren sowie im Sinne der kardiovaskulären Sekundärprophylaxe. Hierbei ist überwachtes Gehtraining (z. B. in einer Rehasportgruppe) dem nicht überwachten Gehtraining unbedingt überlegen. Auch Patienten mit PAVK und chronischer Wunde sollen nach Revaskularisation, soweit es die Wundverhältnisse zulassen, dem strukturierten Gehtraining zugeführt werden. Das strukturierte Gehtraining ist wirksam, wenn mindestens 3 × pro Woche 30 bis 60 Minuten trainiert wird. Dieses Programm im Rahmen einer Gefäßsportgruppe beinhaltet nicht nur Gehphasen, sondern auch Aufwärmphase, Dehnungsund Koordinationsübungen sowie Spiele. Ein selbstständiges tägliches Bewegungsprogramm über 60 Minuten mit 5- bis 15-minütigen Belastungsintervallen ist ebenfalls zu empfehlen; die Intensität darf maximal bis zum Eintreten des Belastungsschmerzes reichen. Sinnvoller ist die Ermittlung der Trainingsgehstrecke; diese beträgt unter standardisierten Untersuchungsbedingungen 70 % der maximalen Gehstrecke (Zeitpunkt des Auftretens von Claudicatio-bedingten Schmerzen). Neben dem reinen Gehen ist im Rahmen des arteriellen Gehtrainings besonders Nordic Walking wirksam. Das Mittrainieren der Armmuskulatur fördert den kardiovaskulären Effekt. Ist ein strukturiertes Gehtraining durch Lähmung oder andere funktionelle Gründe nicht
32.5 Intermittierende pneumatische Kompression (IPK)
315
32.5.2 Apparative Ausstattung der IPK
Abb. 32.5 IPK mit Beinmanschetten – 3-Kammer-System [M291]
möglich, empfiehlt sich als Alternative regelmäßiges Arm-Ergometertraining.
32.5 Intermittierende pneumatische Kompression (IPK) 32.5.1 Wirkung der IPK Bei der IPK handelt es sich um ein dynamisches Kompressionssystem mit ständigem Wechsel von Druckaufbau und Druckentlastung. (› Abb. 32.5). Sie ist eine apparative, prozessorgesteuerte Methode; die eingesetzten Geräte variieren entsprechend Indikation und Lokalisation. Die IPK führt zu einer Ödemreduktion des behandelten Extremitätenbereichs und verbessert den venösen und lymphatischen Rückstrom. Es konnte eine Verbesserung der Mikro- und Makroperfusion nachgewiesen werden; die Methode wird, bei definierten Voraussetzungen, auch als konservative Maßnahme bei arteriellen Durchblutungsstörungen eingesetzt. Da eine Aktivierung der Fibrinolyse nachgewiesen wurde, besteht eine wichtige Indikation der IPK in der Thromboembolieprophylaxe. Nach ersten Erkenntnissen kommt es während der IPK durch die Wirkung von Druck- und Scherkräften auf das Gefäßendothel zu einer Freisetzung von Gewebeplasminogen und vasodilatierendem Stickstoffmonoxid (NO).
Steuergerät / Generator: Über das Steuergerät lassen sich folgende Behandlungsparameter einstellen: Druckaufbau, Druckhaltephase, Pausenzeit und Zykluswiederholung. Die therapeutischen Druckwerte variieren zwischen 12 und 200 mmHg. Der Druckaufbau erfolgt intermittierend oder sequenziell, d. h. fortlaufend von distal nach proximal. Dem Prinzip der Kompressionstherapie vergleichbar, verwenden einige Geräte der apparativen intermittierenden Kompression (AIK) einen Druckgradienten, d. h., der Druck nimmt von distal nach proximal ab. Durch die intermittierende Kompression wird der Effekt der Muskelpumpe imitiert. Mehrstufengeräte ermöglichen das Einstellen verschiedener Druckstufen entsprechend der Gewebebeschaffenheit und Lokalisation. Sie sollten bevorzugt bei lymphologischen Befunden eingesetzt werden. Manschetten: Die doppelwandigen, insufflierbaren Manschetten variieren entsprechend der zu entstauenden Lokalisation. Es gibt Fuß-, Unterschenkel- und Extremitätenmanschetten (Beine, Arme) sowie Hosenund Jackensysteme. Die Manschetten können einund mehrkammerig sein. Nur mehrkammerige Manschetten sind für den intermittierenden und den sequenziellen Druckaufbau geeignet. Die Luftkammern liegen nebeneinander oder sind, wie im Heilmittelverzeichnis gefordert, überlappend.
32.5.3 Indikationen und Kontraindikationen zur IPK Indikationen und Kontraindikationen entsprechen denen der AWMF S1-Leitlinie zur intermittierenden pneumatischen Kompression. MERKE
Auch wenn die IPK in einigen Bereichen sehr positive Effekte zeigt, gibt es keine Indikation, in der sie die einzige und zwingend notwendige Therapiemaßnahme wäre.
32
316
32
32 Systematik der Physiotherapie
Indikationen: • Thromboembolieprophylaxe • Postthrombotisches Syndrom (wenn keine medikamentöse Prophylaxe möglich) • Ulcus cruris venosum ohne Heilungstendenz (trotz adäquater Kompressionsbehandlung) • Ausgeprägte CVI C4b – C6 (CEAP-Klassifikation) • Lymphödem einer Extremität, nur additiv! (bei fehlender Kompensation unter KPE) • PAVK mit stabiler Claudicatio intermittens oder kritischer Ischämie (wenn strukturiertes Gehtraining und Revaskularisation nicht möglich) Bedingte Indikationen: • Posttraumatisches Ödem • Therapieresistentes Phlebödem • Lipödem • Extremitätenlymphödem additiv zur KPE • Hemiplegie mit sensorischer Störung und Ödem • Thromboembolieprophylaxe zusätzlich zur medikamentösen Prophylaxe Absolute Kontraindikationen: • Dekompensierte Herzinsuffizienz • Thrombose, ausgedehnte Thrombophlebitis • Erysipel und Phlegmone • Kompartmentsyndrom • Schwere Hypertonie ohne medikamentöse Einstellung • Okkludierende Prozesse im Lymphabstrombereich, bei denen es unter IPK zu einem Stau im Leisten- oder Genitalbereich gekommen ist Bedingte Kontraindikationen: • Ausgedehntes, ggf. offenes Weichteiltrauma • Ausgedehnte Polyneuropathie • Blasenbildende Dermatosen Bei absoluten Kontraindikationen darf keine IPK durchgeführt werden. Bei Kombinationsödemen mit kardialer Komponente steht die medikamentöse Rekompensation im Vordergrund. Bei den bedingten Kontraindikationen ist IPK unter engmaschiger klinischer Kontrolle möglich. In Bezug auf die Entstauungstherapie des Lymphödems kann die intermittierende pneumatische Kompression die KPE nicht ersetzen und stellt eine adjuvante Therapieform dar. Sie ist geeignet für distal betonte Extremitätenödeme ohne Beteiligung des ipsilateralen Rumpfquadranten und bei eingeschränkter Mobilität des Patienten. Für die IPK wird vor allem ein Verschieben freier Flüssigkeit in
den interstitiellen Gewebespalten beschrieben. Ein zentraler Lymphabfluss und eine wesentliche Eiweißmobilisation aus dem Interstitium konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Deshalb empfiehlt es sich, stets eine zentrale und periphere Entstauungsbehandlung über KPE voranzustellen, ehe die IPK-Behandlung begonnen wird. Die IPK kann bei Patienten mit Lymphödem als Heimtherapie eingesetzt werden und stellt damit eine im Selbstmanagement durchführbare Therapieergänzung an MLD-freien Tagen dar. Die IPK ist eine anerkannte adjuvante Entstauungsmaßnahme, kann aber bei phlebologischen und lymphologischen Befunden weder die Kompressionstherapie noch die komplexe physikalische Entstauung ersetzen. Gute Ergebnisse der Ödemreduktion finden sich beim Revaskularisationsödem, postoperativen und entzündungsbedingten Ödem. Der positive Nebeneffekt der Thromboembolieprophylaxe lässt sich zusätzlich perioperativ ausnutzen. Bei immobilen oder in der Mobilität stark eingeschränkten Patienten scheint die IPK eine sinnvolle Methode zur passiven Aktivierung der fehlenden Muskelpumpenfunktion zu sein. Bei hemiplegischen Patienten wird die IPK zur Verbesserung der sensorischen Störung eingesetzt. Zur Verhinderung von Haut- und Nervenschäden durch den Manschettendruck empfiehlt es sich, die Extremität durch einen textilen Hautschutz und bei Risikopatienten durch zusätzliche Polsterung zu schützen. Um frühzeitig Komplikationen, wie z. B. ein Genitallymphödem, detektieren zu können, bedarf es einer sorgfältigen Indikationsstellung und regelmäßiger Verlaufskontrollen.
32.5.4 IPK und Wundheilung Eine verbesserte Heilungsrate, beschleunigte Abheilungszeit, optimierte Hautdurchblutung und Schmerzreduktion wird in mehreren Studien für die Anwendung der IPK beim Ulcus cruris venosum beschrieben. Es gibt Hinweise, dass die IPK additiv zur Kompressionstherapie die Abheilung eines venösen Ulkus verbessert. Für die Behandlung chronischer Wunden bei CVI empfiehlt sich die Verwendung mehrstufiger Manschetten mit sequenziellem Druckaufbau von distal nach proximal. Es versteht sich von selbst, dass vorliegende Wunden durch
32.5 Intermittierende pneumatische Kompression (IPK) eine saubere, flüssigkeitsdichte Verbandsanordnung abgedeckt sein müssen, ehe die Kompressionsmanschette an der betroffenen Extremität angelegt wird. Wird eine Manschette für mehr als einen Patienten benutzt, ist nach jeder Anwendung eine Wischdesinfektion erforderlich.
32.5.5 IPK in der Praxis Die intermittierende pneumatische Kompressionsbehandlung ist nicht der stationären oder ambulanten Behandlung in einer medizinischen Einrichtung vorbehalten. Sie eignet sich vor allem bei langfristigem Einsatz zur Selbstbehandlung im häuslichen Bereich. IPK-Steuergerät und Kompressionsmanschetten sind Hilfsmittel und können patientenbezogen verordnet werden. Im Rahmen von Einzelfallentscheidungen werden nach Indikationsprüfung die Kosten für die häusliche IPK-Behandlung übernommen. Im Hilfsmittelverzeichnis § 139 Abs. 2 sind die Qualitätsanforderungen an IPK-Medizinprodukte festgelegt. Auch soll vor Verordnung in einer mehrtägigen Testbehandlung die Wirksamkeit der Methode nachgewiesen werden. Der Therapieverlauf ist ärztlich zu überwachen und eine Aufklärung des Patienten über Nutzen, Risiken und Alternativen der IPK hat zu erfolgen. Wichtige Adressen: Deutsche Lymphologische Gesellschaft
Lindenstraße 10 79877 Friedenweiler [email protected]
Lymphselbsthilfe e. V.
Zum Köpfwasen 9 91074 Herzogenaurach [email protected]
Deutsche Gefäßliga (Gefäßsportgruppen)
Mühlenstraße 21–25 50321 Brühl [email protected]
LITERATUR AWMF. S2k-Leitlinie: Diagnostik und Therapie der Lymphödeme. 05/2017. AWMF Reg. -Nr. 058–001. https://www. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/058-001l_S2k_Diagnostik_und_Therapie_der_Lymphoedeme_2017-05.pdf (letzter Zugriff: 26.2.2019). AWMF. S3-Leitlinie: Diagnostik und Therapie des Ulcus cruris venosum. 2008. AWMF Reg. -Nr. 037–009. Aktuelle Dermatologie 2009; 35 (06): 221–224.
317
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KAPITEL
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Theresa Hauck, Raymund E. Horch
Hautersatzmaterialien – Ein Überblick über kultivierte autologe Epidermis zur Behandlung von Wunden Kernaussagen
• Gezüchtete Hautersatzmaterialien kommen sowohl im Rahmen der Versorgung von Schwerbrandverletzten als auch zunehmend bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Wunden zum Einsatz. • Die Kombination von kultivierten autologen Keratinozyten auf alloplastischen oder gemischt
33.1 Einführung Die Wundheilung der Haut als natürlicher biologischer Prozess kann als Musterbeispiel zur Abwehr von Umwelteinflüssen und als elementarer Prozess in der Geweberegeneration angesehen werden. Ziel dabei ist die erfolgreiche Reepithelialisierung der Wundoberfläche. Insbesondere im Rahmen der Versorgung von Schwerbrandverletzten übersteigt häufig das Ausmaß der betroffenen Körperoberfläche und somit der betroffenen Haut die eigenen körperlichen Ressourcen hinsichtlich der vorhandenen Spalthautspenderareale, sodass der Einsatz von Hautersatzmaterialien erforderlich wird. Diese sollten die Eigenschaften sowohl der Epidermis als auch der Dermis ersetzen. Sie müssen zum einen eine Schutzfunktion nach außen vor Infektion und Austrocknung ausüben, zum anderen muss ein Transport von wichtigen Stoffen durch die dermale Matrix möglich sein, um die Wundheilung zu optimieren. Durch die effektive Verwendung von Hautersatzmaterialien gelang es, die Anzahl an Hauttransplantationen zu verringern und die Rekonvaleszenzzeit schwerstbrandverletzter Patienten zu verkürzen. Gezüchtete Hautersatzmaterialien sind jedoch nicht nur essenziell bei Schwerbrandverletzten. Auch im Rahmen der Versorgung von Patienten mit chronischen und komplexen Wunden finden sie zunehmend Anwendung.
synthetisch-biologischen Trägersubstanzen wird bereits erfolgreich klinisch eingesetzt. • Bisher können die heute verfügbaren Hautersatzprodukte eine Spalt- oder Vollhauttransplantation noch nicht vollständig ersetzen.
Trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung gibt es bisher kein Hautersatzprodukt, das klassische autologe Spalthauttransplantate zur Behandlung tiefer Wunden permanent in einem einzeitigen Vorgehen vollständig ersetzen könnte. Dies ist weiterhin Gegenstand aktueller Forschung, die verschiedenste Ansätze des sogenannten Tissue Engineerings („Gewebezüchtung“) mit einbezieht.
33.2 Einteilung der verfügbaren Hautersatzmaterialien Entsprechend ihrer grundlegenden Anwendung lassen sich Hautersatzmaterialien in verschiedene Gruppen einteilen. Das Gewebe kann zum einen auf die frische Wunde aufgebracht und bis zur Heilung dort belassen werden (temporärer Hautersatz). Andererseits kann das Gewebe auf die Wunde aufgebracht und im Verlauf durch autologe Hauttransplantate ersetzt werden (semipermanent). Sind dermale und / oder epidermale Analoga primär als endgültiger Hautersatz verwendet worden, so werden diese der Gruppe der permanenten Hautersatzmaterialien zugeordnet. Zudem lassen sich synthetische und biologische, epidermale und dermale sowie zellfreie und zellbesiedelte Materialien unterscheiden.
320
33
33 Überblick über kultivierte autologe Epidermis
33.3 Besonderheiten der Verbrennungswunde
33.4 Entwicklung der Keratinozytenkulturen
Der Erfolg in der Behandlung von Patienten mit Verbrennungswunden ist von einem raschen Débridement der Wunden mit Entfernung der denaturierten Proteine und des avitalen Gewebes sowie dem zügigen Wundverschluss abhängig. Die frühe operative Therapie führt im Gegensatz zu einer vorerst konservativen Therapie, in der zunächst gegebenenfalls über mehrere Wochen antimikrobielle Verbände bis zur Separation des nekrotischen Gewebes zum Einsatz kommen, zu einer höheren Überlebenszahl und verringerten Krankenhausaufenthaltsdauer. Dies kann auf eine geringere Ausschüttung inflammatorischer Mediatoren und einer reduzierten bakteriellen Besiedelung der Wunde und damit auf eine geringere Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines SIRS (Systemic Inflammatory Response Syndrome) und Multiorganversagens zurückgeführt werden. Als etabliertes chirurgisches Standardverfahren zur Wiederherstellung der geschädigten Körperoberfläche dient die autologe Spalthauttransplantation. Dieser Goldstandard der autologen Hauttransplantation stößt allerdings bei Schwerstbrandverletzten an seine Grenzen, da die zur Transplantation zur Verfügung stehenden unverbrannten Hautareale je nach Ausmaß der Verbrennung auf ein Minimum reduziert sind. Somit musste nach Alternativen für eine autologe Spalthauttransplantation gesucht werden. Während der letzten Jahrzehnte fanden vermehrt durch Zellkultivierung gewonnene Hauttransplantate klinische Anwendung im Alltag von Verbrennungsmedizinern. Im Gegensatz zu allogenen Hautersatzprodukten oder allogenen Hauttransplantaten, die aufgrund einer wahrscheinlichen späteren Abstoßungsreaktion nur als vorübergehende Weichteildeckung dienen können, sollen kultivierte autologe Hautersatzmaterialien eine langfristige und endgültige Lösung in der rekonstruktiven Chirurgie bieten. Die Anforderungen an moderne, durch Zellkultivierung gewonnene Hauttransplantate sind stetig wachsend und umfassen insbesondere einen kurzen Kultivierungszeitraum mit einer raschen und ausreichenden Verfügbarkeit des gezüchteten Hautäquivalents.
Die Grundlage für die großflächige klinische Anwendung von Keratinozytenkulturen bildeten die Berichte von Rheinwald und Green im Jahr 1975. Ihnen gelang die serielle Subkultivierung von Keratinozyten mit Multiplikationsintervallen von weniger als 24 Stunden in definierten Medien auf letal bestrahlten Mäusefibroblasten als „Feeder Layer“. Zudem wurde 1977 der Epidermal Growth Factor (EGF) beschrieben, der unabhängig von hormonellen Einflüssen das rasche Wachstum epidermaler Zellkulturen ermöglichte. Die Zusammenstellung perfekt abgestimmter Medien war sodann Gegenstand der Forschung zahlreicher Arbeitsgruppen, sodass in der Folge die Keratinozyten auch ohne einen „Feeder Layer“ hergestellt werden konnten. Diese Entdeckung schaffte die Grundlage dafür, auch ausgedehnte Wunden nach Débridement und Anlage eines temporären Hautersatzes endgültig innerhalb von etwa 3–4 Wochen decken zu können. Prinzipiell kann die weitere Entwicklung in vitro kultivierter Hautersatzmaterialien in zwei unterschiedliche Richtungen eingeteilt werden. So kann zum einen die Bildung mehrschichtiger epithelialer Transplantate, also sog. Sheet Grafts, erfolgen. Zum anderen werden sie für die Entwicklung zusammengesetzter epidermaler und dermaler Analoga verwendet.
33.5 Kultivierte autologe Epidermis – Cultured Epidermal Autografts (CEA) Der Einsatz kultivierter epidermaler Hautäquivalente aus autologen Keratinozyten (Cultured Epidermal Autografts, CEA) wird aufgrund vieler Nachteile der Methode kritisch diskutiert. Neben einer längeren Krankenhausverweildauer und einer höheren Rate notwendiger Korrekturoperationen aufgrund kontrakter Narben fallen bei CEA im Vergleich zur klassischen autologen Spalthauttransplantation auch deutlich höhere Kosten an. Die Einheilungsrate von CEA und die entsprechende Notwendigkeit von wieder-
33.6 Zellsuspensionen holten Transplantationen variiert in der Literatur deutlich und liegt bei berichteten Einheilungsraten von teilweise unter 50 % unter der Einheilungsrate von Spalthauttransplantaten. Bakterielle Infektionen werden hierfür als Hauptursache angesehen. In der Regel bestehen applizierte kultivierte Epidermistransplantate aus 3–5 Zelllagen, was im Umgang während und nach der Transplantation zu Problemen führen kann. Zudem zeigen die Transplantate eine fehlende Adhärenz sowie eine Neigung zur Blasenbildung noch Monate nach der Transplantation, insbesondere bei mechanischer Belastung. Dies ist insbesondere bei chronischen Wunden und Schwerstbrandverletzten mit drittgradigen Verbrennungen mit fehlender dermaler Komponente zu beobachten. Hier fehlen junktionale Anheftungsstrukturen, ohne die es zur vermehrten Blasenbildung kommt. Somit wurde die Entwicklung von Dermis-Ersatzprodukten bzw. von Kombinationspräparaten dermaler Analoga unterschiedlicher Zusammensetzung angestrebt und bereits klinisch erfolgreich eingesetzt. Alternativ wurden chirurgische Ansätze mit der Keratinozytenkultur kombiniert. So kann die temporäre Deckung débridierter Wunden mit allogener oder xenogener Haut erfolgen, um dermale Anteile zu integrieren. Aufgrund der anfänglichen immunsuppressiven Komponente heilen diese zunächst ein. Auf diese Weise kann der Zeitpunkt bis zur Verfügbarkeit der CEA überbrückt werden. Hierbei dient das Allograft als Schutz vor Infektion. Im Verlauf kann nach Abtragen der immunkompetenten Alloepidermis die als Anheftungsstruktur benötigte verbliebene Allodermis mit den kultivierten epidermalen Transplantaten bedeckt werden. Im Rahmen der Behandlung Schwerbrandverletzter werden die Allografts für eine stabile temporäre Wundbedeckung verwendet, bis erneut Spenderareale für Spalthaut zur Verfügung stehen. Die Spalthaut kann für diesen Einsatz entsprechend expandiert werden.
33.6 Zellsuspensionen Mangoldt schilderte bereits 1895 das Abschaben von Haut-Zellclustern vom Unterarm, deren Suspension in autologem Wundserum und Blutbestandteilen
321
und anschließende Applikation auf Wunden zum Verschluss großer Wundflächen. Er beschrieb, dass einzelne Zellen bzw. Zellcluster besser am Wundbett haften als Hautstücke. Auch Injektionen in das Wundbett, die abgeschabte, in Serum suspendierte Zellen beinhalteten, wurden durchgeführt. Diese Methode fand allerdings aufgrund der Gefahr der Entstehung von Epithelzysten keine verbreitete Anwendung. Fibrin nimmt eine Schlüsselrolle in der Wundheilung ein und wurde u. a. auch zur Fixierung von Spalthaut auf dem Wundgrund angewendet. Somit waren in Fibrinkleber suspendierte Keratinozyten ein vielversprechender Ansatz. Hunyadi et al. berichteten 1988 von einer erfolgreichen Verwendung von nicht kultivierten, trypsinierten humanen Keratinozyten suspendiert in einer Fibrinmatrix bei Patienten mit Ulcus cruris venosum. Weitere Arbeitsgruppen griffen diese Idee auf und konnten eine reproduzierbare Einheilung von in Fibrinkleber bzw. Fibringel suspendierten Keratinozyten zeigen. Die Keratinozyten-Fibrin-Suspension ist bereits nach zehn Tagen verfügbar. Verglichen mit CEA, die erst nach drei Wochen zur Verfügung stehen, ist die Methode somit schneller einsatzbereit. Es zeigte sich, dass bei Aufbringen in Fibrin suspendierter Keratinozyten auf eine Wundfläche eine Reepithelialisierung in etwa einer Woche erreicht werden kann. Allerdings war auch hier, ähnlich wie bei CEA, eine mechanische Instabilität zu beobachten. Letztere wird durch Transplantation eines gemeshten Fremdhauttransplantats auf den Keratinozyten-Fibrin-Verband erreicht. Zunächst zeigte sich eine Einheilung des Fremdhauttransplantats, die der einer autologen Spalthauttransplantation ähnelte. Nach etwa zwei Wochen fand jedoch eine Abstoßungsreaktion statt. Im Rahmen der Versorgung Schwerstbrandverletzter spielt auch der Einsatz allogener Zellen eine Rolle, die bei oberflächlichen Verletzungen die Re epithelialisierungszeit verkürzen können. Auch bei drittgradigen Verbrennungen, die temporär mit einem Hautersatzmaterial bedeckt werden, kann deren Einsatz zu einer schnelleren Wiederverfügbarkeit führen.
33
322
33 Überblick über kultivierte autologe Epidermis
33.7 Kultivierte Zellen und biologische oder gemischt synthetisch-biologische Trägersubstanzen
33
Ausgereifte, differenzierte Zellen haben nicht die Fähigkeit, sich noch weiter zu teilen. Es wird daher davon ausgegangen, dass diese Zellen nicht zum Prozess der Reepithelialisierung beitragen können. Vielmehr sind proliferierende Basalzellen für die initiale Rekonstruktion des Epithels verantwortlich, sodass diese Zellen für einen Wundverschluss benötigt werden. Aus experimentellen und klinischen Studien wurde ein Konzept entwickelt, das eine Verkürzung der Zeit für die Produktion von Hautersatzmaterialien im Labor und eine rasche Integrierung der kultivierten epidermalen Zellen in ein natürliches Medium beinhaltet. Die Kombination von kultivierten autologen Keratinozyten auf alloplastischen oder gemischt synthetisch-biologischen Trägern ist sowohl experimentell als auch klinisch erfolgreich untersucht worden. Die kultivierten Keratinozyten müssen, um großflächige Wunden behandeln zu können, nachhaltig und gleichmäßig verteilt auf eine Trägersubstanz aufgebracht werden. Hierfür wurden Spray-Techniken entwickelt. Diese ermöglichen es mithilfe einer Fibrinmatrix, die kultivierten Zellen gleichmäßig auf eine große Fläche zu verteilen. Dass die kultivierten Keratinozyten diesen Prozess überstehen, konnte sowohl experimentell als auch klinisch gezeigt werden. Ronfard et al. gelang es 2000, das Wachstum kultivierter Keratinozyten noch zu optimieren, indem sie die Keratinozyten auf eine stabilisierte Fibrinmatrix aufbrachten. Die Keratinozyten konnten dann nach ausreichender Proliferation auf der Fibrixmatrix gemeinsam mit dieser auf den Empfänger transplantiert werden. Somit gelang es, Keratinozyten einfach und verlässlich zu übertragen. Das enzymatische Ablösen der kultivierten Keratinozyten von ihren Kulturschalen kann schädlich für die Zellen sein und wird als der Hauptgrund für ein fehlendes Haften der Sheets auf Wundflächen angesehen. Ein entscheidender Vorteil wäre deshalb die Verwendung einer dermalen Matrix,
auf die die kultivierten Keratinozyten aufgebracht und gemeinsam mit dieser transplantiert werden. Hierdurch könnte eine enzymatische Behandlung vermieden und gleichzeitig ein Dermis-Ersatz bereitgestellt werden. Die Herstellung von dermalen Regenerationsmatrizes ist bereits von mehreren Gruppen untersucht worden. Yannas stellte 1981 durch Zentrifugation primär trypsinierter Keratinozyten und Fibroblasten in eine KollagenGlykosaminoglykan-Matrix (C-GAG) ein Hautäquivalent her. Dieses konnte erfolgreich auf Meerschweinchen transplantiert werden. Dieser Ansatz konnte sich unter anderem aufgrund der schwierigen Herstellung nicht durchsetzen. Heute finden synthetische Materialien wie Biobrane® oder Integra® klinische Anwendung bei Brandverletzten. Diese dienen als temporärer Verband und werden nach Entfernung durch die Transplantation dünner Spalthaut oder CEA ersetzt. Ein Einsatz im Rahmen drittgradiger Verbrennungen wird aktuell diskutiert. Suprathel® wird im Rahmen zweitgradiger Verbrennungen verwendet. Es muss nicht wieder vom Wundgrund entfernt werden, sondern löst sich im Rahmen der fortschreitenden Reepithelialisierung von alleine ab (› Abb. 33.1, › Abb. 33.2). In den letzten Jahren kam als ein bedeutender Vertreter der biologischen Matrizes die Kollagen-Elastin-Matrix Matriderm® zum Einsatz. Matriderm® wird zum dermalen Ersatz verwendet und kann großflächige Areale abdecken. Eine Besiedelung
Abb. 33.1 Verbrennung Grad 2a von Gesicht und Unterarm bei Explosion eines Benzinfasses [P607]
33.8 Ausblick
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Abb. 33.2 Ergebnis 17 Tage nach Blasenabtragung und Auflage von Suprathel® auf Gesicht und Unterarm [P607]
mit Keratinozyten und Fibroblasten sowie ADSC (Adipose Derived Stromal Cells) könnte als Ersatz der Epidermis, Dermis und Subcutis dienen.
33.8 Ausblick Auch in Zukunft wird Tissue Engineering auf dem Gebiet der Hautersatzmaterialien für Patienten mit unterschiedlichen Arten von Wunden eine entscheidende Rolle spielen. Eine weitere vielversprechende Therapie ist die Stammzelltherapie. Humane epidermale und mesenchymale Stammzellen bilden eine aussichtsvolle Option zur Therapie von Patienten mit Verbrennungen oder chronischen Wunden in näherer Zukunft. Zudem wird Wachstumsfaktoren und Zytokinen eine große Bedeutung beigemessen. Diese bioaktiven Moleküle sollen, gebunden an eine entsprechende Matrix, in gerichteter Reihenfolge und Konzentration freigesetzt werden und somit die Wundheilung positiv beeinflussen.
Neben Weiterentwicklungen auf Zellebene können auch technische Entwicklungen einen Beitrag zur Einheilung von Hautersatzprodukten leisten. Hier konnte die Vakuumtherapie zur Vorbereitung des Wundgrundes und Fixierung von Hautersatzprodukten angewendet werden. Weiterentwicklungen in diesem Bereich können zu einer stetigen Verbesserung der Ergebnisse beitragen. Jedoch sind sowohl in der Grundlagenforschung als auch im klinischen Bereich weitere Fortschritte notwendig, um einen vollständigen, funktionellen Ersatz für die Spalt- oder Vollhauttransplantation durch Hautersatzmaterialien zu erreichen. LITERATUR Atiyeh BS, Costagliola M. Cultured epithelial autograft (CEA) in burn treatment: three decades later. Burns 2007; 33 (4): 405–413. Burd A, Ahmed K, Lam S, Ayyappan T, Huang L. Stem cell strategies in burns care. Burns 2007; 33 (3): 282–291. Horch RE, Kopp J, Kneser U, Beier J, Bach AD. Tissue engineering of cultured skin substitutes. J Cell Mol Med 2005; 9 (3): 592–608.
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324
33 Überblick über kultivierte autologe Epidermis
Nguyen DQ, Potokar T S, Price P. An objective long-term evaluation of Integra (a dermal skin substitute) and split thickness skin grafts, in acute burns and reconstructive surgery. Burns 2010; 36 (1): 23–28. Ter Horst B, Chouhan G, Moiemen NS, Grover LM. Advances in keratinocyte delivery in burn wound care. Adv Drug Deliv Rev 2018; 123: 18–32.
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Uhlig C, Rapp M, Hartmann B, Hierlemann H, Planck H, Dittel KK. Suprathel – an innovative, resorbable skin substitute for the treatment of burn victims. Burns 2007; 33 (2): 221–229.
KAPITEL
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Knut Kröger, Joachim Dissemond
Systematik der medikamentösen Therapie Kernaussagen
• Bei Patienten mit PAVK, Diabetes mellitus oder CVI als Ursache chronischer Wunden kann versuchsweise die Gabe von ASS oder einem niedermolekularen Heparin angeraten sein. • Bei Patienten mit chronischen Wunden und gleichzeitiger Immunsuppression kann versuchsweise die Gabe eines Kalziumantagonisten sinnvoll sein.
34.1 Einführung Es gibt aktuell keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz, dass Medikamente die Heilung verschiedener chronischer Wunden effektiv fördern. So erschöpft sich die medikamentöse Therapie im Rahmen der Wundheilung in der Regel in der antibiotischen Bekämpfung der Weichteilinfektion. Es kann aber sinnvoll sein, proliferationshemmende Medikamente wie Chemotherapeutika, Glukokortikoide und andere Immunsuppressiva, falls möglich, zu pausieren, bis die erwünschte Wundheilung erreicht ist. Viele ältere multimorbide Patienten nehmen unabhängig von der Wundbehandlung eine Vielzahl von Medikamenten ein, die beispielsweise aus internistischer Sicht notwendig sind. Dazu gehören vor allem Präparate, die das kardiovaskuläre Risiko reduzieren, oder Medikamente, welche die Symptome chronischer Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Stützapparats lindern. Lässt man die Antidiabetika, die indirekt über die Verbesserung des Glukosestoffwechsels die Wundheilung beeinflussen, außen vor, ist über die Wirkung dieser Medikamente auf die Wundheilung wenig bekannt. Verhalten sich Antihypertensiva oder Antiaggreganzien hinsichtlich der Wundheilung neutral oder sollte man
• Es gibt aktuell keinen Grund, bestimmte Medikamente abzusetzen, um die Wundheilung zu fördern. Versuchsweise können bei gestörter Heilungstendenz ACE-Hemmer gegen Kalziumantagonisten ausgetauscht werden. • Eine Umstellung von Medikamenten sollte immer in Absprache mit dem Haus- oder Facharzt erfolgen. einzelne dieser Medikamente meiden, austauschen oder sogar gezielt einsetzten? Im Folgenden sollen die Effekte ausgewählter, weit verbreiteter Präparate auf die Wundheilung aufgezeigt und diskutiert werden.
34.2 Kalziumkanal-Blocker Kalziumkanal-Blocker werden synonym auch als Kalziumantagonisten bezeichnet und klinisch entweder als Antihypertensiva oder Antiarrhythmika eingesetzt. Der Effekt der Kalziumantagonisten Nifedipin und Amlodipin auf die Wundheilung wurde im Tierexperiment an Ratten getestet. Dazu wurden den Tieren gezielt zwei gerade Schnittwunden paravertebral zugefügt. Zehn Tage später wurde die Belastbarkeit der Narbe getestet. Die Festigkeit der Wunden war bei den Tieren, die Kalziumantagonisten erhalten hatten, deutlich höher als bei den Tieren ohne dieses Medikament. Auch die Kontraktion der Wunde am 4. und 16. postoperativen Tag war ausgeprägter. Die Phase der Epithelisierung wurde jedoch nicht beeinflusst. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass Kalziumantagonisten die Wundheilung verbessern und vor allem bei Patienten unter Glukokortikoidtherapie
326
34 Systematik der medikamentösen Therapie
Abb. 34.1 Anteil der abgeheilten Wunden in Abhängigkeit von der Zeit für die mit Eucerin bzw. mit Amlodipin und Phenytoin behandelten Tiere (modifiziert nach Hemmati et al. 2014) [F1034-001]
eingesetzt werden sollten. Als Ursache der stabileren Wunden wurde die bessere Reifung und Quervernetzung von Kollagenfasern diskutiert. Eine weitere Studie analysierte den Effekt von Amlodipin auf die Wundheilung bei Hasen. Ihnen wurde in einem Bereich des Rückens in der Größe von 20 × 20 mm die Haut herausgeschnitten, sodass das subkutane Fettgewebe frei lag. Die Tiere wurden in fünf Gruppen zu fünf Tieren eingeteilt und erhielten zusätzlich zu dem wundabdeckenden Verband entweder keine lokale Behandlung oder je nach Gruppe eine topische Behandlung mit Eucerin 1 %, mit Phenytoin 1 % in Eucerin, mit Amlodipin 1 % in Eucerin oder mit Amlodipin 1 % und Phenytoin 1 % in Eucerin. Alle Behandlungen wurden einmal pro Tag durchgeführt, bis eine vollständige Heilung erreicht wurde. › Abb. 34.1 zeigt, dass die Wundheilung unter der Kombination von Amlodipin und Phenytoin deutlich schneller verlief als unter der Vergleichstherapie mit Eucerin, das keinen Effekt hatte. 34
34.3 Beta-Rezeptorenblocker Beta-Rezeptorenblocker, synonym β-Blocker oder Betablocker, haben ihre klinische Indikation zur Blutdrucksenkung und zur Regulation des Herzrhythmus. In der Wundheilung werden sie vor allem bei Patienten mit Verbrennungen eingesetzt. Bei Schwerverbrannten kommt es nach einigen Tagen
zu einer proinflammatorischen Stressreaktion. Die Kortisonspiegel, aber auch die Katecholaminspiegel steigen an und führen zu einer katabolen Stoffwechsellage mit Abbau der Muskelmasse und Störung der Wundheilung. Die Stressreaktion kann durch die Gabe von β-Blockern reduziert werden. Die genauen Mechanismen sind unklar, aber β-Blocker scheinen den Abbau der Muskulatur durch eine Steigerung der Eiweißsynthese zu stabilisieren. Auch die Keratinozyten, die für die Epithelialisierung am Ende der Wundheilung zuständig sind, haben an ihrer Oberfläche β-Rezeptoren. Diese scheinen für die Wundheilung eine große Rolle zu spielen, da Störungen der Funktion oder der Anzahl dieser β-Rezeptoren mit einer Reihe von Hauterkrankungen assoziiert sind. In einem Modell zur Simulation der chronischen Wundheilungsstörungen menschlicher Haut fördern β-Blocker die Migration der Keratinozyten in die Wunde und beschleunigen die Reepithelialisierung.
34.4 Angiotensin-ConvertingEnzym-Inhibitoren Angiotensin II spielt eine Rolle in entzündlichen und fibrogenen Prozessen im gesamten Körper und beschleunigt unter anderem die Wundheilung. Es induziert die Genexpression für Kollagen Typ I
34.6 Antiaggreganzien, z. B. Acetylsalicylsäure, Clopidogrel
327
und beeinflusst die Proliferation und Migration von Fibroblasten. Die Angiotensin-Converting-EnzymInhibitoren, Synonym ACE-Hemmer, haben einen antifibrogenen Effekt. In einer Studie an 45 Ratten wurde der Effekt von ACE-Hemmern auf die Wundheilung nach simulierter Dünndarmoperation untersucht. Die Ratten erhielten im Trinkwasser für sieben Tage postoperativ entweder Lisinopril in zwei verschiedenen Konzentrationen (50 bzw. 5 mg / l) oder Placebo. Am 8. postoperativen Tag erfolgte eine Relaparatomie und der Darm wurde aufgeblasen. Der Druck, der nötig war, um die Darmnaht platzen zu lassen, wurde gemessen. Lisinopril in der hohen Dosis behinderte die Wundheilung. Alle Kriterien der Wundheilung wie der Druck, bei dem die Darmnaht riss, ebenso wie die Gewebespiegel von Hydoxyprolin und Kollagen und die Epithelisation waren signifikant schlechter als in der Kontrollgruppe ohne Lisinopril. Die niedrigere Dosis Lisinopril hatte keinen messbaren negativen Einfluss auf die Stabilität der Narben.
Placebogruppe. Insgesamt 52 % der Patienten in der ASS-Gruppe wiesen eine signifikante Reduktion der Ulkusgröße auf, aber nur 26 % in der Placebogruppe. Die Ulkusgröße war in der ASS-Gruppe nach zwei und vier Monaten signifikant kleiner als in der Placebogruppe. Eine weitere Studie aus dem Jahre 2012 bestätigt den Effekt. Dazu wurden insgesamt 78 Patienten mit einem Ulcus cruris venosum mit einem Durchmesser > 2 cm prospektiv randomisiert mit 300 mg ASS behandelt bzw. nicht behandelt. Eine komplette Epithelialisierung wurde bei 21 (73 %) von 28 Patienten unter ASS und 17 (75 %) von 23 Patienten in der Kontrollgruppe erreicht. Die mittlere Abheilungszeit war unter ASS signifikant kürzer. Sie betrug 12 Wochen in der ASS-Gruppe und 22 Wochen in der Kontrollgruppe.
34.5 Antiaggreganzien, z. B. Acetylsalicylsäure, Clopidogrel
Das nichtsteroidale Antiphlogistikum (NSAP, NSAID) Ibuprofen hemmt nichtselektiv die Cyclooxygenase I und II, die im Körper für die Bildung von entzündungsvermittelnden Prostaglandinen verantwortlich sind. Dadurch wirkt Ibuprofen schmerzstillend (analgetisch), entzündungshemmend (antiphlogistisch) und fiebersenkend (antipyretisch). Diclofenac ist ein nichtselektiver Inhibitor der Cyclooxygenasen mit ähnlicher Wirkung. Klinische Studien, die den Effekt dieser Medikamente auf die Wundheilung direkt untersucht haben, liegen nicht vor. Allerdings gibt es einen Wundverband, der Ibuprofen als Schmerzmittel enthält und so eine schmerzärmere Wundversorgung ermöglichen soll. In einer randomisierten doppelblinden Studie an 122 Patienten, die entweder den Ibuprofen-haltigen Verband oder einen Ibuprofen-freien Kontrollverband erhielten, wurde die Wundheilung weder verbessert noch verzögert. In der Augenheilkunde werden NSAID bei der schmerzhaften oberflächlichen Hornhautabschürfung eingesetzt. Eine große Analyse mehrere Publikationen kommt zu dem Ergebnis, dass NSAID
Antiaggreganzien wie Acetylsalicylsäure (ASS) und Clopidogrel hemmen die Aggregration von Thrombozyten und spielen eine ganz entscheidende Rolle in der antiatherosklerotischen Therapie von Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung (KHK), Karotisstenose oder einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (PAVK). Niedrig dosiert sollen Patienten Antiaggreganzien lebenslang einnehmen, um das Fortschreiten der Atherosklerose zu bremsen. Der Effekt von ASS auf die Heilung chronisch venöser Ulzera wurde bereits 1994 in einer prospektiven placebokontrollierten, doppelblinden, randomisierten Studie an 20 Patienten getestet. Diese erhielten entweder 300 mg ASS täglich bzw. Placebo und eine standardisierte Kompressionstherapie. Nach vier Monaten konnte bei 38 % der Patienten in der ASS-Gruppe eine Ulkusheilung erreicht werden, aber bei keinem Patienten in der
34.6 Nichtsteroidale Antiphlogistika, z. B. Diclofenac, Ibuprofen
34
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34 Systematik der medikamentösen Therapie
bei dieser Anwendung den Schmerz effektiv lindern, ohne die Heilung der Hornhautverletzung zu verzögern.
34.7 Antikoagulanzien, z. B. Heparine, Vitamin-KAntagonisten
34
Das Antikoagulans Heparin beeinflusst sowohl über eine Veränderung des basalen Fibroblast Growth Factor (bFGF) als auch über den Transforming Growth Factor-β1 (TGF-β1) die Proliferation der Fibroblasten sowie die Kollagenbildung und moduliert so die Wundheilung. Außerdem spielt Thrombin bei der Initiierung der Wundheilung eine zentrale Rolle. Da alle Heparine über die Aktivierung von Antithrombin wirken, sollten sie auch über diesen Mechanismus die Wundheilung beeinflussen; bislang gibt es aber keine guten klinischen Daten zu diesem Thema. Eine Metaanalyse zu dem Einfluss von Heparin auf die Wundheilung nach Verbrennungen kommt zu dem Ergebnis, dass Heparin sowohl auf die Mortalität, aber auch auf die Wundheilung bzw. Einheilung von Hauttransplantaten einen günstigen Effekt hat. Allerdings waren die Studien nicht für diese Fragestellung konzipiert; daher sind die Ergebnisse nur sehr vorsichtig zu interpretieren. Für das Ulcus cruris venosum gibt es eine randomisierte Studie aus dem Jahr 2015. In dieser Studie wurden über einen Zeitraum von vier Jahren insgesamt 284 Patienten rekrutiert. Alle Patienten erhielten die optimale Therapie und wurden entweder in eine Kontrollgruppe oder eine Therapiegruppe randomisiert. Letztere erhielt über 12 Monate zusätzlich zu der Standardtherapie 2.850 I. E. Nadroparin s. c. einmal täglich. Die Wundheilung wurde planimetrisch erfasst. Die Nadroparin-Gruppe zeigte eine Heilungsrate von 83,0 % nach 12 Monaten, während die Heilungsrate in der Kontrollgruppe 60,6 % betrug. Die weitere Analyse der Ergebnisse nach Altersgruppen zeigte, dass die Gruppe der älteren Patienten von der Langzeitbehandlung mit Heparin am meisten profitierte. Diese Gruppe hatte auch die niedrigste Rezidivrate.
Tab. 34.1 Verlauf der Ulkusgröße bei 85 Patienten mit Diabetes mellitus und / oder PAVK, die randomisiert entweder Dalteparin oder Placebo erhielten. Angegeben ist die absolute Anzahl und in Klammern der Anteil in %.
Geheilt (intakte Haut)
Dalteparin n = 43 14 (33)
Placebo n = 42 9 (21)
Verbessert (Abnahme 15 (35) der Ulkusgröße ≥ 50 %)
11 (26)
Unverändert (Abnahme 7 (16) der Ulkusgröße SNRI > SSRI) gegen brennenden Schmerz, beispielsweise Amitripty lin, Duloxetin, Fluoxetin • Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Natriumkanäle gegen stechende Schmerzen, bei spielsweise Carbamazepin, Oxcabazepin
41.6 Besonderheiten von Patienten mit chronischen Wunden Tab. 41.2 WHO-Stufenschema Stufe Stufe 1:
Medikament Nicht-Opioid-Analgetikum, z. B. nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID), Metamizol und Paracetamol, ggf. in Kombination mit Koanalgetikum und Adjuvanzien
Stufe 2:
Schwaches Opioid, z. B. Tramadol und Tilidin, ggf. in Kombination mit einem nichtopioidem Analgetikum und / oder Koanalgetika und Adjuvanzien
Stufe 3:
Starkes Opioid, z. B. Morphin, Hydromorphon, Oxycodon, Fentanyl, Buprenorphin, Tapentadol und Methadon, ggf. in Kombination mit nichtopioiden Analgetika und / oder Koanalgetika und Adjuvanzien
• Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kal
ziumkanäle gegen stechenden, elektrisierenden Schmerz, beispielsweise Gabapentin, Pregabalin Adjuvant werden u. a. Laxanzien, Antiemetika, Myotonolytika und Bisphosphonate eingesetzt. Es gibt keine international einheitlich ver wendete Empfehlung einer Langzeittherapie mit opioidhaltigen Analgetika. Eine Anwendung von opioidhaltigen Analgetika mit einer Therapiedauer > 3 Monate wird entsprechend der S3-Leitlinie „Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumor bedingten Schmerzen“ als Langzeitanwendung de finiert. Bei allen nicht tumorbedingten chronischen Schmerzen ist eine Therapie mit opioidhaltigen Analgetika aufgrund unzureichender Daten lage als individueller Therapieversuch anzusehen. Dezidiert aufgeführt werden in der erwähnten Leit linie als mögliche Indikationen für eine kurzfristige (4–12 Wochen) und langfristige (> 26 Wochen) Therapie mit opioidhaltigen Analgetika: • Der chronische Extremitätenschmerz bei ischä mischen und entzündlichen arteriellen Ver schlusskrankheiten (ICD 10 I70-I79) • Der chronische Schmerz bei Dekubitus der Ka tegorie 3 und 4 (ICD 10 L 89.2- und L89.3-) Die schmerzlindernde Wirkung von Opioiden (unter suchte Substanzen: Tramadol, Codein, Morphin, Oxycodon, Fentanyl) liegt entsprechend der Leitlinie, basierend u. a. auf einer Metaanalyse von 60 RCTs, bei chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen deutlich unterhalb der klinisch als relevant geltenden Wirkung bei einer Dosierung im unteren bis mittleren
367
Dosisbereich (z. B. Oxycodon maximal 60 mg pro Tag, Morphin maximal 120 mg pro Tag) entsprechend der VAS. Die Langzeitanwendung der untersuchten Opio id-Analgetika bis zu drei Monaten zeigte eine schwache, aber statistisch signifikante Schmerzlinderung. Es be stand auch unter Berücksichtigung anderer Literatur kein Unterschied in der Wirkungsstärke zwischen Opiaten und Analgetika der Stufe 2 (Opioide) und der Stufe 1 (NSAID) bei den in den Studien untersuchten Krankheitsbildern Osteoarthrose, Neuralgie nach Herpes zoster, diabetische Polyneuropathie, unspe zifische Kreuzschmerzen und Fibromyalgie. Ein An wendungsversuch opioidhaltiger Analgetika sollte des halb wegen der eingeschränkten schmerzlindernden Wirkung bei nicht tumorbedingten Schmerzen nur bei Inanspruchnahme zusätzlicher Maßnahmen und unter Berücksichtigung der möglichen Neben wirkungen auch der Stufe-1-Analgetika erfolgen. Wichtig bei kombinierten Therapieformen ist die Kenntnis darüber, dass eine Kombination von starken und schwachen Opioiden nicht sinnvoll ist, da schwache Opioide eine antagonistische oder teil antagonistische Wirkung auf starke Opioide haben und so die Wirkung starker Opioide aufheben.
41.6 Besonderheiten von Patienten mit chronischen Wunden Patienten mit chronischen Wunden haben in der Regel eine lange Schmerzanamnese; Chronifizierungsprozesse haben schon eingesetzt. Dieser Umstand muss in der Akuttherapie von Patienten mit chronischen Wunden berück sichtigt werden. Denn bedingt durch die Verselbst ständigung des Schmerzgeschehens führt eine erfolgreiche Wundheilung zwar häufig zu einer Schmerzreduktion, aber nicht zu einer Schmerz freiheit. Eine bereits begonnene Schmerztherapie muss also dem Behandlungsplan angepasst werden. Ein plötzliches Absetzen langfristig eingenommener Opioide führt in diesem Kontext zu einer Zunahme an Nebenwirkungen und ist daher kontraproduktiv. In der Therapie von Schmerzen bei chronischen Wunden stellen Lokal- oder Regionalanästhesie
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41 Schmerztherapie bei Patienten mit chronischen Wunden
Abb. 41.1 Anwendung von Emla® Creme zur Schmerzreduktion vor einem chirurgischen Débridement eines Ulcus cruris venosum. Emla® Creme wird aufgetragen, mit einem okklusiven Verband abgedeckt und für mindestens 30 Minuten, besser für 1–2 Stunden, belassen. [O1089]
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verfahren eine sinnvolle und wichtige Ergän zung und Erweiterung des Therapiespektrums dar. Hierbei muss in topische Verfahren durch den Einsatz schmerzlindernder Cremes und in vasive Regionalanästhesien mit Katheterverfahren unterschieden werden. Neuroaxiale Anästhesie verfahren wie die Peridural- oder spinalanästhesie, die Rückenmarksstimulation (Spinal Cord Sti mulation, SCS) oder die Ganglienblockade haben außerhalb einer multimodalen Schmerztherapie in der Behandlung chronischer Wunden keinen nennenswerten Stellenwert. Lokalanästhetika werden in der akuten Schmerz therapie chronischer Wunden als topische oder Regionalanästhesie meist nur innerhalb eines begrenzten Zeitrahmens eingesetzt. Dabei hemmen Lokalanästhetika wie Lidocain, Mepivacain, Bupivacain oder Ropivacain die Weiterleitung eines elektrischen Impulses. Abhängig von der Isolation der Nerven, werden mit zunehmender Konzentration des Lokalanästhetikums zuerst die vegetativen, dann die sensiblen und schließlich die motorischen Nerven blockiert. Bei der lokalen Anästhesie im Bereich chronischer Wunden ist die Gefahr von Keimverschleppung und Nekrose bildung von infiziertem ischämischem Gewebe zu berücksichtigen. Eine besondere Möglichkeit der lokalen Schmerzbekämpfung bei oberflächlichen chronischen Wunden, wie z. B. einem Ulcus cruris venosum, stellt die Anwendung von Lokalanästhetika und Morphin in Creme- oder Gelform dar. Emla® ist eine Creme, die auf 1 g jeweils 25 mg Lidocain und Prilocain enthält. Sie wird laut Fachinformation nach der me chanischen Reinigung in einer Schicht von circa 1–2 g / 10 cm2 bis zu insgesamt 10 g aufgetragen
und möglichst mit einem sterilen Okklusivverband abgedeckt (› Abb. 41.1). Emla® Creme wurde in Studien zur Behandlung des Ulcus cruris bis zu 15mal innerhalb von 1–2 Monaten angewendet, ohne dass ein Wirkungsverlust oder eine erhöhte lokale Reaktion festgestellt wurde. Die maximale Plasma konzentration bei größeren Applikationsmengen als 10 g Creme zur Behandlung des Ulcus cruris wurde nicht geprüft. Die Applikationszeit sollte mindestens 30 Minuten betragen. Eine Verlängerung der Ap plikationszeit bis zu mehreren Stunden kann die Anästhesie weiter verbessern. Nach Entfernung der Creme sollte sofort mit der Intervention begonnen werden. Es wurden vereinzelt kasuistisch über das Auftreten von Kontaktsensibilisierungen berichtet. Es gibt einen Polyurethan-Schaumstoffverband, bei dem pro cm2 Schaum 0,5 mg Ibuprofen eingearbeitet wurde. Das Ibuprofen soll in einem feuchten Milieu kontinuierlich abgegeben werden und kann je nach Exsudatmenge entsprechend den Herstellerhinweisen bis zu 7 Tage auf Wunden belassen werden. Hierzu existieren mehrere klinische Studien. Bei der topischen Anwendung von Ibuprofen besteht aber ebenfalls das Risiko von Kontaktsensibilisierungen. Es existieren mehrere Magistralrezepturen für die Herstellung eines Hydrogels für die Wundbehand lung, in das Morphium für die lokale Schmerztherapie eingearbeitet wurde. Im Universitätsklinikum Essen ist eine Rezeptur für Patienten mit schmerzhaften Wunden entwickelt und in Studien getestet worden, bei dem als Konservierungsmittel Polihexanid zu gesetzt wurde (› Tab. 41.3). Die Abdeckung erfolgt z. B. mit einer sterilen Fettgaze. Das BTM-pflichtige Morphin-Wundgel sollte alle 24 Stunden auf die Wunden aufgetragen werden. Bei großflächigen Wunden ist eine systemische Resorption zu erwarten.
41.6 Besonderheiten von Patienten mit chronischen Wunden Tab. 41.3 Rezeptur eines Morphinhydrochlorid-Gels 0,1 % für die Wundbehandlung entsprechend einer Rezeptur aus dem Universitätsklinikum Essen nach Dissemond und Geisheimer. Die Verordnung erfolgt über ein BTM-Rezept. Morphinhydrochlorid-Trihydrat 0,1 g Natriumedetat
0,1 g
Hydroxyethylcellulose 250 G
4,5 g
Polihexanid-Konzentrat 20 %
0,2 g
Aqua dest.
ad 100 g
Invasive Verfahren wie die regionalanästhesio logische Blockierung von peripheren Nerven sind zwar durch einen im Vergleich zu der oralen oder topischen Applikationsform deutlich höheren Auf wand gekennzeichnet, haben aber neben dem ei gentlichen schmerzlindernden Effekt noch einige die Wundheilung positiv unterstützende Aspekte. Der Schwerpunkt der Regionalanästhesieverfahren betrifft
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vor allem Verfahren, durch die Nerven der unteren Extremitäten blockiert werden. Ein Ulcus cruris venosum entsteht zumeist im Innervationsgebiet des N. ischiadicus, kann aber bei kranialer Ausdehnung auch Anteile des N. femoralis betreffen. Die Blockaden werden meist als Katheterverfahren unter Zuhilfe nahme einer Medikamentenpumpe durchgeführt. Dies bietet zum einen die Möglichkeit, dieses Verfahren über die Wirkdauer einer Single-Shot-Blockade hinaus auszudehnen, zum anderen die Option, über eine patientenkontrollierte Analgesie die Therapie besser an den wirklichen Bedarf des Patienten anzupassen. Regionalanästhesieverfahren blockieren vegeta tive Nerven. Diese Sympatikolyse führt zu einer Vasodilatation im Innervationsgebiet des betäubten Nervs. Dies hat neben einer Verbesserung der Gewebsoxygenierung und der Abwehrsituation eine sympatoadrenerge Abschirmung der Wunde zur Folge (› Abb. 41.2). Es resultieren eine verringerte
Abb. 41.2 Einflussfaktoren auf die Wundheilung ohne Regionalanästhesie [F210-025]
41
370
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41 Schmerztherapie bei Patienten mit chronischen Wunden
Mediatorenausschwemmung und in deren Folge ein geringerer Gewebs- und psychischer Stress. Weniger Ausschwemmung von Katecholaminen führt zu einer geringeren Vasokonstriktion. Die Reduktion von Mediatoren resultiert in einem geringeren Gewebsödem und dadurch wiederum in einer bes seren Sauerstoffversorgung. Diese Effekte lassen sich mittels oraler oder topischer Schmerztherapie nicht erreichen. Durch den Einsatz regionalanästhesiologischer Verfahren kommt es zu entscheidenden Ver änderungen hinsichtlich der Nutrition und der Sauerstoffversorgung der betroffenen Wunde. Die Sympatikolyse als Folge einer Regionalanästhesie führt zu einer Verminderung der Vasokonstriktion, woraufhin die Gewebsperfusion verbessert wird. Dies wiederum resultiert in einer Erhöhung des Gewebssauerstoffpartialdrucks. Über strukturelle Veränderungen wie Kollageneinbau und Wund stabilität und Verbesserungen der Abwehrlage kommt es zu einer Verbesserung der Wundheilung (› Abb. 41.3). Durch den Einsatz der Regionalanästhesiever fahren kann somit ein therapeutischer Ansatz auf mehreren Ebenen verfolgt werden. Neben der Lin derung von Schmerzen führen diese Verfahren auch zu einer Verbesserung der Wundheilung. Durch die Steuerung der Anästhsie durch den Patienten (Patient Controlled Regional Anaesthesia, PCRA) können sie besser am tatsächlichen Bedarf
des Patienten orientiert werden. Negative Effekte einer hochdosierten oralen Schmerztherapie wie Sedierung, Müdigkeit oder Immobilisation können damit reduziert werden. Nicht zuletzt stellt der Um stand, dass Verbandwechsel auf diese Weise deutlich schmerzärmer durchgeführt werden können, einen für den Patienten nicht zu unterschätzenden po sitiven Effekt dar.
41.7 Fazit Die Therapie von Schmerzen bei Patienten mit chro nischen Wunden ist ein essenzieller Bestandteil der Behandlung und eine Voraussetzung für eine erfolg reiche Wundheilung. Wann immer möglich, sollte die Schmerzreduktion durch eine zeitnahe Therapie der Grunderkrankung erfolgen. Für die Wund therapie können Externa eingesetzt werden, die der Schmerzvermeidung oder der direkten Schmerz therapie dienen. Reicht dies nicht aus, ist eine systemische medikamentöse Schmerztherapie ein zuleiten, die dem WHO-Schema folgen sollte. Diese kann im Einzelfall als individueller Behandlungs versuch über mehrere Monate gegeben werden. Regionalanästhesieverfahren können zudem in der Initialphase einer Wundtherapie neben einer Schmerzreduktion zu einer Verbesserung der Wundheilung führen.
Abb. 41.3 Einfluss der Regionalanästhesie auf die Wundheilung [F210-025]
41.7 Fazit LITERATUR Buggy D. Can anaesthetic management influence surgicalwound healing? Lancet 2000; 356: 355–357. Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. S3-Leitlinie, Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS), AWMF-Leitlinien-Register Nr. 041/003. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/145-003l_S3_LONTS_2015-01.pdf (letzter Zugriff: 26.2.2019).
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Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. S1-Leitlinie Pharmakologisch nicht interventionelle Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen, AWMFRegisternummer 030/114. https://www.awmf.org/uploads/ tx_szleitlinien/030-114l_S1_Neuropathischer_Schmerzen_ Therapie_2014-abgelaufen.pdf (letzter Zugriff: 26.2.2019). Von Korff M, Saunders K, Thomas Ray G et al. De facto long-term opioid therapy for noncancer pain. Clin J Pain 2008; 24: 521–527.
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KAPITEL
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Finja Reinboldt-Jockenhöfer, Anna Lena Kahl, Manfred Schedlowski
Placebo
Kernaussagen • Mechanismen, welche die Placeboantwort steuern, sollten gezielt eingesetzt werden, um die Effektivität pharmakologischer Interventionen speziell und medizinischer Behandlungen allgemein zum Wohle des Patienten zu optimieren. • Aktuell fehlen klinische Studien, welche die These eines Placebo-induzierten positiven Einflusses auf die Wundheilung bezüglich der objektiven Parameter untermauern. Allerdings
gibt es Hinweise, dass subjektive Parameter wie die Lebensqualität durch erwartungsinduzierte Placeboeffekte beeinflusst werden können. • Diese Aspekte sollten zukünftig bei der Ausund Weiterbildung in medizinischen Berufen, aber auch in der praktischen Versorgung von Patienten mit Wunden verstärkt berücksichtigt werden.
42.1 Einleitung
42.2 Placeboeffekt
Das Wort Placebo stammt aus dem Lateinischen und bedeutet im ursprünglichen Sinne „ich werde gefallen“. Indessen definiert sich Placebo im modernen medizinischen Kontext als Scheinbehandlung bzw. als Scheinmedikament ohne pharmakologisch aktiven Wirkstoff. Der durch den Einsatz eines Placebos hervorgerufene sogenannte Placeboeffekt, sprich die positiven physiologischen und / oder psychologischen Veränderungen, setzt sich aus verschiedenen Faktoren, wie dem natürlichen Krankheitsverlauf und der Fluktuation von Symptomen, oder aber statistischen Phänomenen, wie der Regression zur Mitte, zusammen. Davon abzugrenzen ist die individuelle Placeboantwort, die einen bedeutenden Teil des Placeboeffekts ausmacht und aus den folgenden drei interdependenten Komponenten besteht: der Erwartungshaltung des Patienten hinsichtlich eines möglichen Therapieerfolgs, assoziativen Lernprozessen wie die klassische Konditionierung sowie der Qualität und Quantität der Arzt-Patienten-Interaktion.
In den Fokus der medizinischen Forschung rückte der Placeboeffekt erst in den 1950er-Jahren mit der Einführung kontrollierter randomisierter Studien. In diesem Zusammenhang wird der Placeboeffekt häufig als Störgröße bewertet, welche die Einschätzung der Wirksamkeit von pharmakologischen sowie nichtpharmakologischen Behandlungen erschwert. In klinischen Prüfungen von Arzneimitteln stellen Placebos einen unabdingbaren Bestandteil dar und werden dazu genutzt, zu Vergleichszwecken eine Kontrollgruppe zu behandeln mit der Prämisse, keine Medikamenteneffekte bzw. spezifischen therapeutischen Effekte hervorzurufen. Dennoch zeigen sich in diesen Kontrollgruppen regelmäßig Effekte, die normalerweise lediglich durch ein spezifisches Medikament erzielt werden. Davon ausgehend, dass ein Placebo ein pharmakologisch nicht aktiver Stoff ist, bleibt zu erklären, wie eine Placebogabe diese Wirkungen und Effekte hervorruft. Bis dato existieren weitaus mehr Studien, in denen Placebogruppen als Vergleichsgruppen genutzt
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42 Placebo
werden, als Untersuchungen zu dem Effekt selbst. Dennoch gewinnt die wissenschaftliche und klinische Relevanz der Placeboantwort in vielen Bereichen der Medizin immer mehr an Bedeutung. Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen machen deutlich, dass ein besseres Verständnis der neurobiologischen und neuropsychologischen Mechanismen des Placeboeffekts eine enorme Bedeutung sowie wesentliche Auswirkungen auf die klinische Praxis beinhalten. Diese dem Placeboeffekt zugrunde liegenden Mechanismen wurden bereits in gesunden Probanden wie auch im Kontext diverser Erkrankungen, z. B. im Zusammenhang mit chronischem Schmerz sowie mit neurologischen, psychiatrischen und gastrointestinalen Erkrankungen, untersucht. Die Forschungsergebnisse dieser Studien dokumentieren, dass Placeboeffekte hauptsächlich durch kognitive Prozesse wie die Erwartungshaltung und durch assoziative Lernprozesse gesteuert werden. So konnte dokumentiert werden, dass die reine Erwartungshaltung eines Probanden, ein starkes Schmerzmedikament zu erhalten bzw. nicht mehr zu erhalten, den schmerzlindernden Effekt des verabreichten Opiats signifikant verstärkte bzw. aufhob. Konditionierte pharmakologische Reaktionen, die auch ohne eine gerichtete Erwartung des Patienten entstehen können, wurden in unterschiedlichsten körperlichen Systemen, z. B. dem Schmerzsystem, dem motorischen System, dem Immunsystem oder dem autonomen Nervensystem, nachgewiesen. Neurowissenschaftliche Untersuchungen der vergangenen drei Jahrzehnte konnten eindrücklich belegen, dass diese neuropsychologischen Phänomene den Gesamterfolg einer Therapie substanziell beeinflussen können. In diversen klinischen Studien konnte dokumentiert werden, dass durch die Gabe von Placebos die jeweilige Symptomatik einer bestehenden Erkrankung reduziert und der Heilungsprozess positiv beeinflusst werden konnte. So reduzierte z. B. selbst die offene Gabe eines Placebos, sprich die reine Erwartungshaltung, substanziell die Schwere der Symptomatik bei Patienten mit Reizdarmsyndrom im Vergleich zu einer nicht behandelten Kontrollgruppe. Des Weiteren führte bei Parkinson-Patienten allein die Erwartung, ein wirksames Medikament zu erhalten, zu einer Verbesserung der motorischen Symptomatik und zu-
sätzlich zu einer Dopaminausschüttung im Striatum. Nierentransplantierte Patienten zeigten eine verstärkte Immunsuppression nach Implementierung einer konditionierten Placeboantwort in die bestehende Medikation. Die Bedeutung der Erwartungshaltung bzw. der assoziativen Lernprozesse für Placeboeffekte im Zusammenhang mit unterschiedlichen physiologischen Systemen ist jedoch nach wie vor unklar. Die neurowissenschaftlich am besten untersuchte Placeboantwort stellt die Placeboanalgesie dar. Hier zeigen diverse Studien mithilfe bildgebender Verfahren des zentralen Nervensystems, dass eine verminderte Schmerzwahrnehmung mit einer Aktivierung des deszendierenden, schmerzhemmenden Systems und einer dadurch bedingten reduzierten Aktivität in den klassischen schmerzverarbeitenden Arealen des Gehirns einhergeht. Eine Aktivierung ähnlicher Regionen wie die des schmerzhemmenden Systems konnte ebenfalls für Placeboantworten in Zusammenhang mit Emotionen nachgewiesen werden. Die gemeinsamen und unterschiedlichen Beiträge verschiedener Hirnregionen in Bezug auf andere physiologische Systeme betreffende Placeboantworten sind bislang unklar. Bei der Entstehung eines Placeboeffektes existiert zudem eine große interindividuelle Varianz, wobei sich diese in unterschiedlich starker Ausprägung der Placeboantwort äußert. Während einige Patienten bzw. Probanden gut auf Placebointerventionen ansprechen und somit ausgeprägte Placeboantworten zeigen (Responder), reagieren andere überhaupt nicht auf diese Interventionen (Non-Responder). In diesem Zusammenhang wird aktuell intensiv nach sogenannten Prädiktorvariablen geforscht, sprich psychologischen, neuroendokrinen und genetischen Faktoren, die mit einer Placeboantwort assoziiert sind und einen entsprechenden Vorhersagewert besitzen. So scheinen psychologische Variablen seitens der Patienten bzw. Probanden, wie die Ängstlichkeit, das Ausmaß an Depressivität oder auch Optimismus, einen Teil der Varianz bzgl. der Placeboantwort zu erklären. Eine genetische Komponente könnte hier ebenfalls eine Rolle spielen. Auch die individuelle Hirnanatomie scheint die Fähigkeit zu Placeboantworten zu beeinflussen.
42.4 Fazit
42.3 Placebo in der Wundheilung Es existieren ältere Studien, die zeigen, dass Wundheilungsprozesse durch psychologische Faktoren, insbesondere durch Stress und Schmerzen, beeinflusst werden. Systematische Untersuchungen zur Bedeutung erwartungsinduzierter Placeboeffekte auf die Wundheilung liegen jedoch kaum vor. In einer Studie wurde untersucht, ob allein die Erwartungshaltung, ein Medikament zur Wundheilung zu bekommen, diese auch beschleunigt. Hierbei handelte es sich um künstliche, durch einen ablativen Laser induzierte Wunden, also akute Wunden von 22 gesunden Männern. Den Probanden wurden an beiden Oberschenkeln Wunden zugefügt; die Verum-Gruppe erhielt ein vermeintlich innovatives Wundgel auf die eine und ein neutrales, nicht aktives Gel auf die andere Seite appliziert. Die Kontrollgruppe erhielt Letzteres beidseits. In der Realität erhielten beide Gruppen ein identisches, neutrales, nicht aktives Wundgel. Die Wundgrößenverkleinerung wurde an Tag 1, 4 und 7 nach dem Trauma mittels Planimetrie ermittelt und ab Tag 9 bei den täglichen Verbandwechseln mit der Applikation des Hydrogels klinisch beurteilt. Insgesamt zeigten sich bei dieser Untersuchung weder intra- noch interindividuelle signifikante Unterschiede bezüglich der Bestehensdauer oder Wundheilung. Somit konnten bei dieser Kohorte keine erwartungsinduzierten Placeboeffekte bezüglich der Wundheilung von akuten Wunden beobachtet werden. Vor dem Hintergrund dieser Befunde wurden in einer RCT erwartungsinduzierte Placeboeffekte bei Patienten mit chronischem Ulcus cruris (Bestehensdauer > 8 Wochen) untersucht. Hierzu wurde über 12 Wochen beobachtet, ob durch die Vermittlung einer Erwartungshaltung, ein neues, besonders wirksames Präparat zu bekommen, die Wundheilungsprozesse ebenso wie physiologische Faktoren inklusive Lebensqualität beeinflusst werden können. Insgesamt konnten 20 Patienten mit chronischem Ulcus cruris rekrutiert und evaluiert werden. Auch hier gab es zwei Versuchsbedingungen (je n = 10). Der Verumgruppe wurde mitgeteilt, dass es sich bei dem applizierten Produkt
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um ein spezielles neues Gel-Präparat handele, das sich positiv auf die Wundheilung und etwaige Schmerzen auswirken könne; die Kontrollgruppe erhielt eine besonders engmaschige und detailliert dokumentierte Behandlung mit dem gleichen Gel, aber der Information, dass es sich um ein konventionelles Wundgel handele. Die aktuell vorgestellten vorläufigen Ergebnisse dokumentieren, dass sich auch hier die objektiven Parameter wie Wundflächenverkleinerung und Schmerzen in beiden Gruppen nicht unterscheiden, jedoch scheint sich die Lebensqualität der Patienten in der Verumgruppe, gemessen über den Wound-Qol, signifikant zu verbessern.
42.4 Fazit Insgesamt dokumentieren die bisherigen experimentellen und klinischen Befunde zur Placeboantwort in den unterschiedlichen physiologischen Systemen und Endorganfunktionen, dass die Mechanismen, welche die Placeboantwort steuern (effektive Kommunikation mit dem Patienten, welche die Erwartungshaltung der Patienten beeinflusst, sowie assoziative Lernprozesse), gezielt eingesetzt werden sollten, um die Effektivität pharmakologischer Interventionen speziell und medizinischer Behandlungen allgemein zum Wohle des Patienten zu optimieren. Aktuell fehlen klinische Studien, welche die These von einem Placebo-induzierten positiven Einfluss auf die Wundheilung bezüglich der objektiven Parameter untermauern. Allerdings lassen die genannte Untersuchungen erste Hinweise darauf zu, dass subjektive Parameter wie die Lebensqualität durch erwartungsinduzierte Placeboeffekte beeinflusst werden können. Diese Resultate sollten zukünftig bei der Aus- und Weiterbildung in medizinischen Berufen, aber auch in der praktischen Versorgung von Patienten mit Wunden verstärkt berücksichtigt werden. LITERATUR Bingel U, Wanigasekera V, Wiech K et al. The effect of treatment expectation on drug efficacy: imaging the analgesic benefit of the opioid remifentanil. Sci Transl Med 2011; 3: 70ra14.
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42 Placebo
Enck P, Bingel U, Schedlowski M, Rief W. The placebo response in medicine: minimize, maximize or personalize? Nat Rev Drug Discov 2013; 12: 191–204. Schedlowski M, Enck P, Rief W, Bingel U. Neuro-bio-behavioral mechanisms of placebo and nocebo responses: Implications for clinical trials and clinical practice. Pharmacol Rev 2015; 67: 697–730.
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Walburn J, Vedhara K, Hankins M, Rixon L, Weinman J. Psychological stress and wound healing in humans: a systematic review and meta-analysis. J Psychosom Res 2009; 67: 253–271. Vits S, Dissemond J, Schadendorf D et al. Expectation-induced placebo responses fail to accelerate wound healing in healthy volunteers: results from a prospective controlled experimental trial. Int Wound J 2015; 12: 664–668.
KAPITEL
43
Alexander Risse
Körperwahrnehmung Kernaussagen
• Körperwahrnehmung ist ein postplatonisches, anthropologisch-dualistisches Konstrukt. • Der Leib ist der eigentliche Gegenstand menschlichen Erlebens (Subjektivität). • Konstanter Leibesinselschwund durch Polyneuropathie ist die einzige notwendige und gleich-
zeitig hinreichende Bedingung des diabetischen Fußsyndroms. • Subjektive Tatsachen sind härter als objektive Tatsachen.
43.1 Einführung
43.2 Der Leib
Der Begriff Körperwahrnehmung setzt voraus, das Etwas (ein Körper) von Etwas wahrgenommen wird. Das wahrnehmende Etwas wird unterschiedlich bezeichnet: Bewusstsein, Psyche, Geist, Verstand, Vernunft u. v. m. In neuerer Zeit wird auch häufiger das Gehirn als das wahrnehmende Etwas vorgestellt. Bei vorherrschender babylonischer Sprachverwirrung ist allen Autoren ein uraltes, unhinterfragtes anthropologisches Konzept gemein: die Aufspaltung des Menschen in einen Körper und eine Seele (Bewusstsein etc.). Dieses Konzept heißt „anthropologischer Dualismus“ und ist vor circa 3.000 Jahren durch die Philosophen Platon und Aristoteles konstruiert worden – mit weitreichenden Folgen für das menschliche Selbstverständnis. Der Geist wurde als das Primäre und Wesentliche gewertet, der die Aufgabe hat, den minderwertigen Körper mit seinen Regungen und Trieben unter Kontrolle zu halten. Die christliche Pastorale hat diese Position verschärft und weiter moralisch aufgeladen mit den Konsequenzen der Sexualfeindlichkeit und anorektischen Diätvorschriften. Eines der medizinischen Fachgebiete hält das platonische Konzept im Titel: Psycho-Somatik.
Ein gewaltiges Gegenstandsgebiet zwischen Körper und Geist wurde vergessen: der Leib. „Leib wird als das bestimmt, was jemand in der Gegend seines eigenen Körpers, unmittelbar von sich spürt.“ In der Welt sind Patienten wie Therapeuten zunächst leiblich, die intellektuellen Deutungen sind dem leiblichen Geschehen nachgeordnet. Während die akademische Tradition die intellektuelle Dimension zu stark gewichtet und damit die leibliche Dimension übersieht, sind den Angehörigen leibnaher Berufe (Wundmanager, Pflege) diese Phänomene unmittelbar zugänglich, wobei hier häufig scharfe Begrifflichkeiten fehlen. Die weiteren Näherungen an den Leib folgen weiter unten.
43.3 Chronische Wunden und ihre Therapeuten Im Problemhorizont der chronischen Wunden, ihrer Behandlung und der Betreuung von betroffenen Patienten stößt das Deutungskonzept des anthropologischen Dualismus insbesondere beim diabetischen Fußsyndrom an seine Grenzen. Im habituellen Denkstil therapeutischer Praxis ist
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43
43 Körperwahrnehmung
der Körper primärer Handlungsort, die Psyche des Patienten kommt überwiegend als Störfaktor unter dem Begriff der schlechten Compliance in den Blick. Therapeuten zielen auf objektive Ergebnisse, Patienten leben in einer Welt subjektiver Tatsachen. Subjektivität (subjektive Tatsächlichkeit) findet sich in der Gesamtheit des Leibes. Therapeuten und Patienten begegnen sich somit dauernd auf völlig unterschiedlichen anthropologischen Niveaus. Die Bedeutung dieses anthropologischen Grundkonflikts besteht für Patienten und Angehörige darin, dass sie permanent missverstanden werden. Die Bedeutung für Therapeuten besteht in Fassungslosigkeit gegenüber dem Verhalten der Patienten mit häufig aggressiver Schuldzuweisung und Entwertung: schlechte Compliance. Warum tragen die Patienten ihre Kompressionsstümpfe nicht? Warum laufen die Patienten auf ihren diabetogenen Fußwunden herum? Wie kann man die Compliance verbessern? Viele Fragen, die trotz des gewaltigen technischen Fortschritts bisher ungelöst sind. Bei allen chronischen Wunden spielt die verletzte körperliche Integrität eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus bestimmt aber die geänderte leibliche Ökonomie, d. h. die anthropologische Tiefenschicht, noch vor jeder psychologischen Verarbeitung den Verlauf der Erkrankung. In der Beschäftigung mit dem diabetischen Fußsyndrom (DFS) lässt sich die Problematik des anthropologischen Dualismus und den in seiner Folge vergessenen Leib paradigmatisch herausarbeiten.
Bei DFS besteht in dieser Perspektive eine gestörte Verbindung zwischen Fuß und Gehirn. Hier gelingen bereits tiefe und differenzierte Einsichten in die Problematik der Polyneuropathie: Die Schmerzlosigkeit verwirrt bei bedrohlichen Zuständen. Das Fehlen dieses sonst zuverlässigen Anzeichens von Entzündung oder Gefäßproblemen erzeugt einen Widerspruch zwischen dem eigenen Erleben und der vom Arzt vermittelten Information: Ein Fuß, der normal aussieht und nicht weh tut, soll hochgefährdet sein? Diese Widersprüchlichkeit kann dazu führen, dass die Aussagen des Arztes an Glaubwürdigkeit verlieren. Eine weitere Näherung wird mit der neurologischen und psychologischen Begriffsbildung des Neglect versucht: Beim Neglect „werden Teile des Körpers nicht mehr im Gehirn abgebildet, sodass sie quasi nicht mehr existieren“. Neglect jedoch ist zur Deutung des Patientenverhaltens nicht geeignet, weil die kortikale Repräsentation erhalten ist: Patienten können über ihre Füße reden. Weitere psychologisch nachvollziehbare Folgen wie berufliche Gefährdung, Veränderung der sozialen Rolle, Verlust der Selbstständigkeit, Verlust der sexuellen Identität werden beschrieben. Viele Arbeiten beschäftigen sich mit depressiven Symptomen. Alle diese Betrachtungen im üblichen Vergegenständlichungshorizont einer psychologisch-reduktionistisch-introjektionistischen Anthropologie sind hilfreich, bieten aber für das Verständnis der grundlegenden Dynamik keine Hinweise.
43.4 Klassische psychologische Deutungsansätze der Körperwahrnehmung durch die Psyche
43.5 Körper und Leib
Die Besonderheiten im Verhalten der Patienten mit DFS wurden auch von Psychologen und Psychotherapeuten untersucht. Im psycho-somatischen Denkstil dieser Fachgruppen besteht ebenfalls die Grundannahme der Zweiteilung des Menschen in eine Psyche und einen Körper, wobei die Psyche sich ein Bild vom anhängenden Körper macht. Es entstehen Körperbild und Körperbildstörungen.
Für die medizinische Theorie und die therapeutische Praxis sinnvoll ist also die Erweiterung des anthropologischen Dualismus durch die Dimension des Leibes. Um auf die Spur dieses Leibes zu kommen, sollte man einmal versuchen, bei geschlossenen Augen an sich herunterzuspüren. Man merkt sofort, dass das nicht genauso kontinuierlich funktioniert, wie man sich betasten kann. Das, was uns hier begegnet, ist eine lose Abfolge von Inseln in der Gegend unseres Körpers: Leibesinseln. Konstant vorhanden sind die Leibesinsel des Mundes (orale Zone), eine genitale und anale Insel und immer auch die beiden
43.6 Konsequenzen für die Arzt-Patient-Beziehung Leibesinseln der Füße. Bei manchen Menschen schwillt eine über lange Zeiten unbemerkte Leibesinsel z. B. um die Mittagszeit drängend an: die gastrale Leibesinsel (Hunger). Entsprechend schrumpft das Bewussthaben auf primitive Gegenwart zu (Konzentrationsstörungen). Die oben ausgeführte, skizzenhafte Darstellung kann in umfangreicher Literatur detaillierter nachgelesen werden. Die Systematik der Leibesinseln wurde erforscht an Patienten, die im Ersten Weltkrieg durch Kriegsverletzung amputiert werden mussten und an „Phantomschmerzen“ litten. Erstaunlicherweise hatten viele Patienten immer gleichartige Beschwerden im Bereich der amputierten, fehlenden Gliedmaßen. Trotz des fehlenden Körperteils bestand die Leibesempfindung weiter: Phantomglieder sind also Leib ohne Körper. Diese psychiatrischen Forschungsergebnisse sind alt und daher in der Diabetologie und der gesamten Medizin in Vergessenheit geraten. Bleibt man auf der Spur der Leibesinseln und dem Phänomen des Leibes überhaupt, besteht z. B. bei diabetischer Polyneuropathie – in Umkehrung der Phantomgliederlebnisse – also nicht „Leib ohne Körper“, sondern „Körper ohne Leib“: Man kann die Beine sehen, aber die Leibesinseln sind durch die Polyneuropathie verschwunden. Die Subjektivität ist vom Körperteil abgezogen. Man könnte auch von einer „inneren Amputation“ sprechen. Anthropologisch bedeutet dies: Leibesinselschwund. Spontan, d. h. ohne nachzudenken, leben die Menschen (Patienten wie Therapeuten) in einer Welt der Empfindungen und dieser Leibesinseln: Welt der Subjektivität (subjektive Tatsächlichkeit). Diese Welt der Subjektivität ist es, die uns umtreibt und die uns zum Handeln drängt: Kein Patient geht zum Arzt z. B. mit der Klage: „Herr Doktor, helfen Sie mir, meine Nervenleitgeschwindigkeit hat abgenommen, meine Lipoproteinlipase arbeitet zu langsam!“ Das grundlegende Drama diabetischer (und anderer) Polyneuropathien besteht nun darin, dass durch den Verlust der Empfindungen auch die Subjektivität im Bereich der Leibesinseln der Füße verloren geht: Menschen mit Polyneuropathie behandeln ihre Füße wie Umgebungsbestandteile. Nicht nur die Warnfunktion des Schmerzes ist verloren gegangen, sondern auch die spontane Sorge um die Füße. Es handelt sich also nicht nur um einen Wahrnehmungsverlust, sondern Leibesinsel-
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schwund verändert den gesamten Menschen von Grund auf. Die Polyneuropathie hat weitere Konsequenzen. Die Betroffenen haben das Gefühl, nicht mehr mit beiden Beinen im Leben zu stehen – beim Schuhkauf werden häufig Schuhe ausgesucht, die mehrere Nummern zu klein sind. Grund: Die Oberflächenempfindung ist verloren gegangen; man hat das Empfinden, keinen Schuh anzuhaben. Werden die Schuhe enger gewählt, vermittelt der dumpfe, protopathische Druck, der dann entsteht, wieder die Sicherheit, Schuhe anzuhaben (subjektive Tatsächlichkeit). Hier hilft das Aufzeichnen der Füße und der Vergleich mit dem Grundriss der Schuhe nicht (objektive Tatsächlichkeit). Das Verhalten der Patienten wird sich nicht ändern, denn nicht die Wahrnehmung ist gestört, sondern die leibliche Ökonomie. Verloren gegangene Subjektivität und fehlendes Schmerzempfinden machen dann auch erklärlich, warum die Patienten die verordneten hässlichen breiten, flachen Schuhe oder die lästigen Orthesen nicht mehr tragen und damit Verletzungen immer wieder durch Druck unterhalten. Im Krankenhaus stehen die Patienten kurz nach einer Minimalamputation – „mal eben zur Toilette!“ – auf und zerreißen sich die frischen Operationsnähte etc. 43
43.6 Konsequenzen für die Arzt-Patient-Beziehung Falsche Signalvermittlung an den Therapeuten durch verloren gegangene Subjektivität der Füße des Patienten – schlechte Compliance des Patienten aus Sicht des Therapeuten. Nicht nur die Wahrnehmung des Patienten scheint verändert, die geänderte leibliche Ökonomie scheint auch die habituelle Wahrnehmung des Arztes zu verändern. Aus der verloren gegangenen Subjektivität der Füße entsteht offenbar eine völlig falsche Signalvermittlung an den behandelnden Therapeuten. Trotz manchmal grotesker Verletzungen sind die Patienten entspannt und signalisieren dem Arzt: Es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Dies könnte erklären, warum auch die Therapeuten häufig nicht schnell genug handeln. Umgekehrt können die Therapeuten, solange sie von Körper
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43 Körperwahrnehmung
und Geist (Psyche) ausgehen, die Patienten, deren Subjektivität durch Polyneuropathie verändert ist, nicht verstehen. Sie nennen dieses Verhalten schlechte Compliance und werden entweder aggressiv, zynisch oder resignieren. Das gilt insbesondere dann, wenn die zuvor mehrfach vermittelten Schulungsinhalte auf kognitiver Ebene immer wieder schlichtweg vergessen werden. Eine vertiefte, anthropologisch korrekte Sichtweise könnte hier helfen, das gegenseitige Verständnis zu verbessern: Die diabetische Polyneuropathie führt nicht nur zum Wahrnehmungsverlust, sondern verändert den gesamten Menschen durch Leibesinselschwund. Sie bleibt, auch nach behobener Störung der defekten Körperteilfunktion, eine lebenslange Bedrohung für die Füße der Menschen mit Diabetes. Es handelt sich nicht um ein einfaches Problem der Nervenleitung, sondern greift in die Subjektivität des Menschen ein. Schulung und andere Aufklärungsmaßnahmen reichen daher nicht aus
43.7 HSAN und BIID 43
Ähnliche Phänomene wie beim diabetischen Fußsyndrom zeigen die Patienten mit hereditärer sensorischer und autonomer Neuropathie (HSAN) – Kinder, die ohne Schmerzempfindung geboren werden, frühzeitig multiple Verletzungen und Verstümmelungen erleiden und eine extrem verkürzte Lebenserwartung aufweisen. Noch stärkere Hinweise zeigen Menschen, die bei gesunder Verfassung alles daran setzen, ein Körperteil loszuwerden, weil die zugrunde liegende Leiblichkeit dieses nicht enthält. Das Krankheitsbild der Apotemnophilie („Liebe zum Abschneiden“) – Body
Integrity Identity Disorder (BIID) – ruft bei anthropologisch-dualistischer Deutung das gleiche Unverständnis hervor wie beim DFS. Im Kontext des Leibes wird das sofort verständlich.
43.8 Fazit Radikale Änderungen der leiblichen Ökonomie und damit der Gesamtheit des Menschen und seiner Lebenswelt wie bei Polyneuropathie oder Body Integrity Identity Disorder bedingen keine Körperwahrnehmungsstörung, also keinen Verlust der Wahrnehmung des Körpers durch eine Psyche. Es handelt sich hier um eine durch Leibesinselschwund hervorgerufene radikale Änderung der leiblichen Ökonomie und damit der Gesamtheit des Menschen und seiner Lebenswelt. Lösen Patienten bei Therapeuten die Gegenübertragung von Verständnislosigkeit, Fassungslosigkeit oder gar Aggression aus, so ist dies ein Hinweis auf leibliche Phänomene, die über reine Körperwahrnehmungsstörungen hinausgehen. Der Begriff der Körperwahrnehmung muss um das Gegenstandsgebiet des Leibes ergänzt werden. LITERATUR Brand P, Yancey P. Pain: The gift nobody wants. Zondervan: HarperCollins; 1993. Risse A. Der etwas andere Zugang zum diabetischen Fuß-Syndrom, angewendete Neue Phänomenologie. In: Uschok A (Hrsg.): Körperbild und Körperbildstörungen. Bern: Hogrefe 2016; 153–165. Schmitz H. System der Philosophie. Bd. II, Teil 1: Der Leib. Bonn: Bouvier; 1965. Schöning D. Krankheitserleben bei diabetischem Fußsyndrom und Ulkusrezidiv. Diabetologe 2012; 8: 207–212. Woods S, Clever HU. Psychologische Aspekte des diabetischen Fußssyndroms. Diabetologe 2006; 2: 18–26.
KAPITEL
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Christine Blome, Matthias Augustin
Lebensqualität Kernaussagen
• Da chronische Wunden die gesundheitsbezogene Lebensqualität erheblich beeinträchtigen können, wird empfohlen, die Lebensqualität der Betroffenen regelmäßig zu messen. • Für die Messung der Lebensqualität wird unter mehreren standardisierten deutsch-
44.1 Was ist gesundheitsbezogene Lebensqualität? Während die globale Lebensqualität sich auf alle Lebensbereiche bezieht, umfasst die gesundheitsbezogene Lebensqualität ausschließlich Aspekte, die von Gesundheit und Krankheit beeinflusst werden. Sie wird als ein multidimensionales Konstrukt verstanden, das Wohlbefinden und Funktionsfähigkeit aus Patientensicht abbildet. Die im Einzelnen berücksichtigten Dimensionen können sich je nach Definition und Instrument unterscheiden; häufig werden etwa die Dimensionen Körper, Emotionen, Sozialleben und Alltagsfunktionen betrachtet. Des Weiteren wird zwischen der krankheitsübergreifenden bzw. generischen und der krankheitsspezifischen Lebensqualität unterschieden. Instrumente, welche die generische Lebensqualität messen, erlauben einen Vergleich zwischen Patienten mit verschiedenen Erkrankungen sowie mit der Allgemeinbevölkerung. Der Vorteil krankheitsspezifischer Instrumente hingegen liegt darin, dass diese genauer die Beeinträchtigung beim jeweiligen Krankheitsbild erfassen und Therapieerfolge somit differenzierter abbilden können.
sprachigen Fragebögen heute der Wound-QoL empfohlen. • Anhand der erhobenen Daten kann die Behandlung geplant sowie ggf. im Verlauf angepasst werden.
44.2 Weshalb ist es in der Wundversorgung wichtig, Lebensqualität zu messen? Chronische Wunden können die Lebensqualität der Betroffenen stark beeinträchtigen. So gehen Wunden oft mit psychischem und körperlichem Leid sowie einer Einschränkung in Alltag und Berufsleben einher. Konkrete Beispiele für körperliche Beeinträchtigungen sind Schmerzen, Mobilitätseinschränkungen, Geruch und Exsudat sowie Schlafprobleme. Psychische Belastungen entstehen häufig aufgrund einer wahrgenommenen Abhängigkeit, Körperbildveränderungen oder einer Beeinträchtigung des sozialen Lebens. Hinzu kommen vielfach berufliche Belastungen sowie Belastungen durch die Behandlung selbst. Diese Beeinträchtigungen der Lebensqualität von Patienten mit chronischen Wunden zu messen ist aus mehreren Gründen wichtig und hilfreich. Zum einen erlauben es diese Informationen, den Handlungsbedarf differenzierter einzuschätzen. Je nach Schwerpunkt der aktuellen Einschränkungen kann beispielsweise die Behandlung angepasst oder unterstützende Maßnahmen können ergriffen werden. Wird die Messung der Lebensqualität im Behandlungsverlauf wiederholt, gibt dies Aufschluss
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44 Lebensqualität
über den Erfolg der Therapie und dient so auch als Qualitätskontrolle. Die subjektive Einschätzung der Patienten ist hier ein wichtiger Endpunkt in Ergänzung zu objektiven Messungen des Behandlers wie etwa der Wundgröße: Aus Sicht der Patienten ist letztlich die Verbesserung der Lebensqualität maßgeblich für den Behandlungserfolg und und diese hängt vielfach nur bedingt mit objektiven Messungen zusammen. Anhand einer klinischen Verbesserung oder Verschlechterung der Wunde kann also nicht ohne Weiteres auf den subjektiven Nutzen der Therapie für den Patienten geschlossen werden. Zudem bietet die Erhebung der Lebensqualität in der Wundversorgung eine Grundlage, um mit den Patienten über ihre Belastungen ins Gespräch zu kommen und auf dieser Basis die Behandlung gemeinsam abzustimmen. Die Arzt-Patient-Kommunikation beziehungsweise allgemeiner die Kommunikation zwischen Behandler und Patient kann wiederum Einfluss auf die Patientenzufriedenheit und die Therapietreue beziehungsweise Adhärenz haben. Dies spielt beispielsweise bei Patienten mit diabetischem Fußsyndrom eine besonders wichtige Rolle, weil die Anforderungen an die Adhärenz bei einer Diabeteserkrankung hoch sind und neben Diät, Nichtrauchen, körperlicher Aktivität, Medikation und Blutzuckermessung eben auch vorbeugende Maßnahmen zur Verschlechterung bestehender und Verhinderung neuer Wunden umfassen. 44
44.3 Wie kann Lebensqualität in der Wundversorgung gemessen werden? Die Zeit, die für die Versorgung des einzelnen Patienten zur Verfügung steht, ist meist begrenzt; auch daher bedarf es zur Lebensqualitätsmessung einfacher und zeitsparender Instrumente. Die Fragebögen sollten für Patient und Behandler schnell verständlich sein und auch in der Interpretation wenig Aufwand bereiten. Zur standardisierten Messung der Lebensqualität stehen verschiedene deutschsprachige Instrumente zur Verfügung, die teils für Wunderkrankungen allgemein,
teils für bestimmte Indikationen wie Dekubitus oder diabetisches Fußulkus (DFU) entwickelt wurden.
44.3.1 Messinstrumente für chronische Wunden allgemein Für den Einsatz bei Wunderkrankungen allgemein wurde der Kurzfragebogen „Wound-QoL“, ergänzt durch das Praxisinstrument „Wound-Act“, auf Basis dreier umfangreicherer Fragebögen entwickelt. Diese sind das „Freiburger Lebensqualitätsassessment für Wunden“ (FLQA-w), die deutsche Version des „Cardiff Wound Impact Schedule“ (CWIS) und der „Würzburger Wundscore“ (WWS). Diese Instrumente werden im Folgenden näher dargestellt. Der FLQA-w misst die wundspezifische Lebensqualität mit 24 Items (Fragen) mit je fünf Antwortmöglichkeiten. Er umfasst die Dimensionen körperliche Beschwerden (5 Items), Alltagsleben (5 Items), Sozialleben (3 Items), Psyche (4 Items), Therapiebelastung (4 Items) und Zufriedenheit (3 Items) sowie drei 10-stufige Skalen zu Gesundheitszustand und Lebensqualität insgesamt. Neben Gesamtwerten für jede dieser Dimensionen kann ein Gesamtwert zur Lebensqualität insgesamt berechnet werden. Untersuchungen der Messgenauigkeit des FLQA-w zeigten eine ausreichende interne Konsistenz mit einem Cronbachs Alpha > 0,85. Ebenfalls für eine gute Messgenauigkeit sprechen die Ergebnisse einer Messwiederholung innerhalb von vier Wochen („Test-Retest-Reliabilät“). Abhängig vom Vergleichsinstrument war auch konvergente Validität, d. h. eine Übereinstimmung mit anderen Fragebögen zu verwandten Konstrukten, gegeben. Der CWIS besteht aus drei Skalen (Dimensionen): Wohlbefinden (7 Items), Sozialleben (14 Items) sowie körperliche Symptome und Alltagsleben (24 Items); es sind jeweils fünf Antwortoptionen vorgesehen. Zwei zusätzliche Items erheben die Lebensqualität insgesamt anhand einer zehnstufigen Skala. Der CWIS bezieht sich insbesondere auf die Lebensqualität von Menschen mit Beinwunden. Die englischsprachige Originalversion des CWIS zeigte konvergente Validität hinsichtlich des generischen Lebensqualitätsinstruments SF-36. Auf Messgenauigkeit wies hin, dass eine Testwiederholung
44.3 Wie kann Lebensqualität in der Wundversorgung gemessen werden? des CWIS nach 5–7 Tagen stark mit der ersten Erhebung korrelierte (r = 0,86 bis 0,93). Auch in der deutschsprachigen Übersetzung erwies sich der CWIS als valide und reliabel: Die interne Konsistenz lag bei Cronbachs Alpha = 0,76 bis 0,88; der Bogen korrelierte in mittlerer bis starker Höhe mit dem SF-36 und differenzierte zwischen Probanden mit offenen und geheilten Wunden. Allerdings beschrieben Probanden das Instrument als teilweise schwer verständlich. Der WWS umfasst 17 Einzelfragen und deckt die Bereiche Schmerzen, Emotionen und psychische Stimmung, Schlaf, Finanzen, Alltagsleben, Mobilität, Urlaub, soziale Isolation, Gefühl des Krank- oder Behindertseins, Heilungsüberzeugung, Angst vor Amputation sowie Einschätzung verkürzter Lebenserwartung durch die Wunde ab (je fünfstufige Antwortvorgabe). Es wird jedoch nur ein Gesamtwert zur Lebensqualität insgesamt berechnet, keine dimensionsspezifischen Werte. Zusätzliche Fragen erheben die Nutzung von Mobilitätshilfen oder Entlastungsschuhen sowie den Zeitbedarf für die Wundversorgung. Die konvergente Validität des WWS wurde für Patienten mit Beinwunden anhand der Korrelation mit Fragebögen zur generischen Lebensqualität bestätigt (Nottingham Health Profile und SF-36). Klinische Änderungen konnte der WWS zudem sensitiver abbilden als die beiden genannten generischen Fragebögen. Die genannten Instrumente sind entweder recht umfangreich mit einer Länge von bis zu sieben Seiten oder aber bilden im Falle des WWS keine verschiedenen Dimensionen der Lebensqualität ab. Dies veranlasste die Autoren dieser Instrumente zu einer gemeinsamen Weiterentwicklung, dem Wound-QoL. Hierzu wurden zunächst die drei beschriebenen Fragebögen im Rahmen der Routineversorgung von 154 Probanden mit Beinwunden beantwortet. Anhand dieser Daten wurden unter den insgesamt 92 Items diejenigen ausgewählt, die inhaltlich nicht redundant waren, die wichtigsten Bereiche der Lebensqualität abdeckten sowie gute psychometrische bzw. messtheoretische Eigenschaften aufwiesen. Ein Expertenteam optimierte und vereinheitlichte die Formulierungen, Antwortmöglichkeiten und Instruktionen und leitete mithilfe von Faktoranalysen Subskalen zu einzelnen Dimensionen her.
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Der so entwickelte Wound-QoL (› Abb. 44.1) setzt sich aus 17 Items in drei Subskalen zusammen. Die Items 1–5 beziehen sich auf körperliche Einschränkungen, z. B. „In den letzten sieben Tagen hatte ich Schmerzen an der Wunde“, die Items 6–10 auf die Psyche, z. B. „ … war ich wegen der Wunde niedergeschlagen“, und die Items 11–16 auf das Alltagsleben, z. B. „ … waren meine Freizeitaktivitäten wegen der Wunde eingeschränkt“. Item 17 erfasst zusätzlich die finanzielle Belastung des Patienten aufgrund der Wunde, wurde aber keiner Subskala zugeordnet. Für die Items gibt es jeweils fünf Antwortmöglichkeiten (gar nicht, ein bisschen, mittelmäßig, ziemlich, sehr). Sollte eine Selbsteinschätzung des Patienten nicht möglich sein, z. B. aufgrund kognitiver Beeinträchtigungen, kann die Lebensqualität durch eine nahestehende Person anhand des Wound-QoL eingeschätzt werden. Hier gilt es zu beachten, dass Stellvertreter dazu neigen, die Lebensqualität etwas schlechter einzuschätzen als die Betroffenen selbst, wie erste Untersuchungen aufzeigen. Der Wound-QoL-Gesamtwert ergibt sich aus dem Mittelwert aller Items. Zudem können Subskalen berechnet werden. Dies kann insbesondere dann nützlich sein, wenn ein Patient seine Lebensqualität in den verschiedenen Bereichen als sehr unterschiedlich einschätzt und die Behandlung entsprechend angepasst werden soll. Für die Praxisnutzung des Wound-QoL steht zudem der Wound-Act zur Verfügung, ein von Wundexperten entwickeltes Zusatzformular im Umfang einer Seite. Für jedes Item des Wound-QoL, in dem der Patient eine deutliche Beeinträchtigung angibt, lässt sich mit dem Wound-Act die entsprechend ergriffene unterstützende Maßnahme dokumentieren. Für diese Maßnahmen finden sich im Wound-Act jeweils verschiedene Vorschläge. Inzwischen wurden die Messeigenschaften des Wound-QoL in weiteren Validierungsstudien untersucht. Es zeigte sich eine gute interne Konsistenz in allen Subskalen und auf der Globalskala und auch die Retest-Reliabilität, konvergente Validität und Änderungssensitivität wurden bestätigt. Somit kann der Bogen als reliabel, d. h. messgenau, und valide, also die Lebensqualität als Momentaufnahme und im Zeitverlauf gut abbildend, angesehen werden.
44
386
44 Lebensqualität
44
Abb. 44.1 Der Fragebogen „Wound-QoL“ zur Erfassung der Lebensqualität bei Menschen mit chronischen Wunden [F1025-001]
44.3 Wie kann Lebensqualität in der Wundversorgung gemessen werden?
44.3.2 Messinstrumente für bestimmte Arten chronischer Wunden Ein Instrument, das speziell für die Erhebung der Lebensqualität von Menschen mit Dekubitus entwickelt wurde, ist der „Pressure Ulcer Quality of Life Questionnaire“ (PU-QOL). Bislang liegt dieses Instrument leider nur in englischer Sprache vor; angesichts des umfangreichen Materials, das die Fragebogenentwickler für zukünftige Übersetzungen des PU-QOL zur Verfügung stellen, wird jedoch womöglich bald auch eine deutsche Version zur Verfügung stehen. Der Fragebogen richtet sich an erwachsene Patienten, die an einem Dekubitus jeder Lokalisation und Schwere leiden. Er umfasst insgesamt zehn Subskalen (Schmerzen, Exsudat, Geruch, Schlaf, Vitalität, Mobilität, Alltagsaktivitäten, Wohlbefinden, Selbstwahrnehmung und Aussehen sowie soziale Partizipation) mit insgesamt 81 Items mit je drei Antwortmöglichkeiten. Der PU-QOL wurde in England an 400 Patienten aufwendig validiert – auch unter Einsatz moderner psychometrischer Methoden (Rasch-Analyse). Er ist mit einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit von 40 Minuten in der Praxis womöglich weniger praktikabel; einzelne interessierende Skalen können jedoch auch isoliert erhoben werden. Speziell für den Einsatz bei Menschen mit DFU ist die „Diabetic Foot Ulcer Scale“ (DFS) verfügbar. Sie bildet die Dimensionen Freizeit, körperliche Gesundheit, Alltagsaktivitäten, Emotionen, Non-Compliance, Familie, Freunde, Behandlung, Behandlungszufriedenheit, positive Einstellung und Finanzen ab. Da das Originalinstrument mit 58 Items recht umfangreich ist, wurde zusätzlich die Kurzversion DFS-SF („Diabetic Foot Ulcer Scale – Short Form“) mit 29 Items entwickelt. Beide Instrumente erwiesen sich in Validierungsstudien als intern konsistent, reliabel, valide und
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änderungssensitiv. Der DFS ist auch in deutscher Sprache verfügbar.
Fazit Inzwischen steht eine Reihe einfach anzuwendender und validierter Fragebögen zur Verfügung, um die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Wundpatienten zu messen. Dabei kann zwischen Instrumenten für chronische Wunden allgemein und spezifischen Instrumenten für DFU oder Dekubitus ausgewählt werden. Die mit diesen Bögen erfassten Beeinträchtigungen können helfen, patientenseitige Bedürfnisse sowie den bisherigen Therapieerfolg besser zu verstehen und die Behandlung entsprechend anzupassen. LITERATUR Augustin M, Conde Montero E, Zander N et al. Validity and feasibility of the wound-QoL questionnaire on healthrelated quality of life in chronic wounds. Wound Repair Regen 2017; 25: 852–857. Augustin M, Herberger K, Rustenbach SJ, Schäfer I, Zschocke I, Blome C. Quality of life evaluation in wounds: validation of the Freiburg Life Quality Assessment-wound module, a disease-specific instrument. Int Wound J 2010; 7: 493–501. Bann CM, Fehnel SE, Gagnon DD. Development and validation of the Diabetic Foot Ulcer Scale-short form (DFS-SF). Pharmacoeconomics 2003; 21: 1277–1290. Blome C, Baade K, Debus ES, Price P, Augustin M. The “Wound-QoL”: a short questionnaire measuring quality of life in patients with chronic wounds based on three established disease-specific instruments. Wound Repair Regen 2014; 22: 504–514. Gorecki C, Brown JM, Cano S et al. Development and validation of a new patient-reported outcome measure for patients with pressure ulcers: The PU-QOL instrument. Health Qual Life Outcomes 2013; 11: 95.
Danksagung
Wir danken Frau Alina Bruhns für die Unterstützung bei der Manuskripterstellung.
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KAPITEL
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Alexander Risse
Sekundärer Krankheitsgewinn Kernaussagen
• Münchhausen-Syndrom ist ein zu häufig und besinnungslos benutzter Begriff von Organtherapeuten. • Krankheitsgewinn ist nichts Verwerfliches, sondern dient der Krankheitsbewältigung.
45.1 Einführung Die Beschäftigung mit sekundärem Krankheitsgewinn im Kontext chronischer Wunden impliziert die Vermutung, bestimmte Problem der Wundheilung seien durch den Patienten selbst verursacht. Durch die weitergehende Vermutung, der Patient unterlaufe das Bemühen des Therapeuten mutwillig aus persönlichem Interesse, bekommt die Attribuierung jeweils eine stark peiorative bzw. abwertende Färbung. Weiterhin bemerkenswert ist, dass der Begriff Münchhausen-Syndrom von Organärzten generell dort benutzt wird, wo eine patienteninduzierte Selbstverletzung oder andere Erkrankung vorzuliegen scheint und es sich in korrekter Diktion zunächst um ein Artefakt-Syndrom handelt. Da bei chronischen Wunden Heilungsverläufe häufig kompliziert verlaufen und hierdurch gelegentlich o. g. Fantasien auftauchen, lohnt es, sich näher mit dem Gegenstandsgebiet Krankheitsgewinn auseinanderzusetzen.
45.2 Definitionen Krankheitsgewinn Vorteil, den ein Kranker aus der Tatsache und Art seiner Krankheit zieht. Innerhalb der europäischen Kultur kann ein Kranker gewöhnlich auf Schonung und Anteilnahme rechnen. Die Unterscheidung von primärem und
• Nicht heilende, ordnungsgemäß behandelte Wunden sollten an Selbstmanipulation denken lassen. • Artefakte können nicht mit den Mitteln der Wundtherapie behandelt werden sekundärem Krankheitsgewinn geht auf Sigmund Freud zurück. Er schreibt: „Unter durchschnittlichen Verhältnissen erkennen wir, dass dem Ich durch das Ausweichen in die Neurose ein gewisser innerer Krankheitsgewinn zuteil wird. Zu diesem gesellt sich in manchen Lebenslagen ein greifbarer äußerer, in der Realität mehr oder weniger hoch einzuschätzender Vorteil.“ Die Deutungen und Erklärungsversuche beziehen sich damit zunächst auf die Behandlung von intrapsychischen Prozessen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und sind damit weit entfernt von der Fragestellung des sekundären Krankheitsgewinns im Rahmen der Behandlung chronischer Wunden. Hier sollte zunächst immer von psychischer Gesundheit der Patienten ausgegangen werden. Primärer Krankheitsgewinn Innere Vorteile, die ein Kranker aus seinen neurotischen Symptomen und aus der Flucht in die Krankheit ziehen kann; z. B. kann er dadurch den als schmerzlich empfundenen Situationen aus dem Wege gehen. Obwohl das Symptom selbst unangenehm ist, gestattet es doch, unangenehmen Konflikten auszuweichen und ein größeres Übel zu vermeiden. Sekundärer Krankheitsgewinn Äußere Vorteile, die ein Kranker nachträglich aus bereits bestehenden neurotischen Symptomen ziehen kann, z. B. eine Rente. Oft so in die Augen tretend, dass der Krankheitsgewinn fälschlicherweise für die alleinige Ursache der Symptome gehalten wird. Während beim primären
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45 Sekundärer Krankheitsgewinn
Krankheitsgewinn die Entstehung der Krankheitssymptome eng mit dem daraus resultierenden Gewinn zusammenhängt, entsteht der sekundäre Gewinn aus den zunächst zufällig, z. B. anlässlich eines Unfalls entstehenden Krankheitserscheinungen. Eine scharfe Grenze zwischen primärem und sekundärem Krankheitsgewinn ist jedoch nicht immer möglich. Bei chronischen Wunden besteht also zunächst eine organische Erkrankung und nicht ein intrapsychischer Konflikt der mit dem neurotischen Symptom den primären Krankheitsgewinn bietet. Der sekundäre Krankheitsgewinn könnte hier, auch ohne neurotische Grundkonstellation, darin bestehen, dass sozial isolierte Patienten durch die Chronifizierung ihrer Wunde den regelmäßigen Kontakt zu einer Pflegeperson sicherstellen. Prof. Siebolds spricht hier von Genesungshemmung des Klagenden. Die Aufgabe des Wundmanagements besteht also hier, ohne differenzierte tiefenpsychologische Erwägungen, den sozioökonomischen Rahmen zu klären und dem Patienten einen geschützten Raum zu bieten, in dem die Wundbehandlung ohne entsprechendes Agieren stattfinden kann.
45
Tertiärer Krankheitsgewinn Vorteile, die nicht die erkrankte Indexperson, sondern ein Dritter wie z. B. Angehörige, Psychotherapeuten oder Wundmanager erzielt. Beispiel: das Gefühl, gebraucht zu werden. Von tertiärem Krankheitsgewinn profitieren in der Regel alle Gesundheitsberufe. Bezogen auf die Thematik dieser Monografie: Im Rahmen dieser Störung fügen sich Patienten Wunden zu, induzieren künstlich Krankheitssymptome oder interferieren höchst negativ mit einer laufenden Therapie, verhindern z. B. den Heilungsprozess einer Verletzung, indem sie infektiöses Material in die Wunde einbringen. Wenngleich diese Manipulationen in einem destruktiven Selbstdialog zwischen dem Patienten und seinem Körper ablaufen, erlangen sie ihre interaktionelle Bedeutung erst durch die Tatsache, dass Ärzte miteinbezogen werden. Sekundärer und tertiärer Krankheitsgewinn, i. e. das Zusammenspiel von Patient und Therapeut, können in der Konstellation einer psychosomatischen Kollusion zu einer beide Seiten befriedigenden Chronifizierung der Wunde und ihrer Behandlung führen, ohne dass ein therapeutischer Fortschritt erzielt werden muss oder auch nur angestrebt wird.
45.2.1 Selbstmanipulierte Krankheiten, Selbstbeschädigung, Artefakte Diese Störungen sind dadurch charakterisiert, dass die Betroffenen Krankheitssymptome, und zwar überwiegend körperliche, aber auch psychiatrische, vortäuschen, aggravieren oder aber selbst erzeugen. Die Motivation bleibt zunächst im Unklaren. Hierbei geht es nicht um die Erlangung bestimmter direkter Vorteile, wie es bei der Simulation der Fall ist. Das Verhalten wird eingesetzt, um die Patientenrolle anzunehmen, sich in medizinische Behandlung zu begeben sowie Krankenhausaufnahmen und invasive medizinische Maßnahmen zu erreichen. Die Leitphänomene zeigt › Tab. 45.1.
45.2.2 Simulation Eine Simulation liegt vor, wenn ein Patient in einer sozialen Bedrängnis oder aufgrund einer persönlichkeitsinhärenten Tendenz eine Krankheit vorschützt, um so der Notlage zu entkommen, oder aber in der Übernahme einer Krankenrolle definierte äußere Vergünstigungen anstrebt. Dieses Verhalten
Tab. 45.1 Phänomenologie der selbstmanipulierten Krankheit 1.
Vorgetäuschte / selbstinduzierte Symptome aus allen medizinischen Teilgebieten
2.
Auffallendes medizinisches Wissen
3.
Hoher Prozentsatz aus medizinischen Berufen
4.
Komplizierte Anamneseerhebung
5.
Beginn oft nach wirklicher Erkrankung, nach Trauma, in einer Lebenskrise
6.
Sozial angepasste Patienten
7.
Deutliches Überwiegen des weiblichen Geschlechts
8.
Suchtartige Verlangen nach ständig neuen Krankenhausaufenthalten sowie invasiven diagnostischen und therapeutischen Eingriffen
9.
Auffallende Bereitschaft, sich diesen Maßnahmen zu unterziehen
10.
Zunächst scheinbare Abwesenheit eines aus der Situation der persönlichen Lebensumstände verstehbaren Motivs
11.
Pathologische Arzt-Patient-Beziehung
45.4 Kutane Artefakte steht meist im Dienst des Selbstschutzes und nicht im Konflikt zu ihm, wenngleich eine mögliche dissoziale Komponente nicht übersehen werden darf.
45.2.3 Münchhausen-Syndrom und weitere Syndrome Dieses Syndrom ist für jene klassische Patientengruppe mit chronischen artifiziellen Störungen zu reservieren. Syndromal liegen bei ihr neben einer heimlichen Selbstmisshandlung mit häufig bizarrer Körpersymptomatik v. a. Züge einer Pseudologia phantastica, Anzeichen einer sozialen Entwurzelung mit zahlreichen Beziehungsabbrüchen, häufigen dissozialen Entwicklungen mit Delinquenz und Drogenabhängigkeit und ein extensives Wandern von Krankenhaus zu Krankenhaus als dominantem Lebensstil vor. Zur Kenntnis weiterer seltener und / oder psychiatrische Entitäten (Süchtige Selbstschädigung; offene Selbstbeschädigung; Münchhausen-by-proxy; Selbstschädigung im Rahmen psychotischer Störungen, Skin-Picking-Syndrom) sei auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen.
391
von Wundtherapeuten eher von größerer Häufigkeit zeugen. Die Datenlage ist lückenhaft, die Dunkelziffer daher wahrscheinlich hoch. Die Einjahresprävalenz der artifiziellen Störungen soll 1,3–1,8 % betragen. Die Diagnose wird in vielen Fällen erst nach monate- bis sogar jahrelangem Krankheitsverlauf oder auch gar nicht gestellt. Das Münchhausen-Syndrom, 5–10 % der Gesamtgruppe der artifiziellen Störungen, ist extrem selten. Amerikanische Autoren geben die Prävalenz artifizieller Störungen mit 4 % in der Allgemeinbevölkerung und mit 21 % im klinischen Kontext an. Deutsche Autoren schätzen die Prävalenz auf 0,05–0,4 % und geben eine 5- bis 8-mal höhere Häufigkeit bei Frauen an. Das DSM-5 bezeichnet die Prävalenz von Artefakten als unbekannt, „vermutlich wegen der absichtlichen Täuschung bei diesem Krankheitsbild“, schätzt dennoch, dass circa 1 % der Patienten in Krankhäusern entsprechende Verhaltensweisen zeigen. Epidemiologische Daten zu selbstinduzierten Störungen bei chronischen Wunden fehlen.
45.4 Kutane Artefakte 45.2.4 Übergänge: bewusst, unbewusst Die Übergänge von bewusster Aktion (Täuschung) zu unbewussten neurotischen bzw. psychotischen Prozessen sind fließend. Von unbewusst zu bewusst in aufsteigender Reihung finden sich: Psychosomatosen > Hypochondrie > selbstmanipulierte Krankheiten > Essstörungen > bewusst > Simulanz. Artefaktsyndrome beinhalten also ebenfalls unbewusste Aktionsanteile, die im organmedizinischen Setting nur schwer differenzierbar sind.
45.3 Epidemiologie der Artefaktsyndrome Selbstmanipulierte Krankheiten mit dem Ziel sekundären Krankheitsgewinns scheinen insgesamt selten zu sein, wenngleich Erfahrungsberichte
Die Angaben zu artifiziellen Störungen sind in der wissenschaftlichen Literatur kasuistisch und kontingent. Eine synoptische Deutung der Störungen bei Ulcus cruris und anderen Hauterkrankungen gibt Dissemond. Folgende Merkmale sieht er als bemerkenswert an: • Kutane Artefakte beschreiben psychische Störungen. • Es handelt sich um autoaggressive Handlungen. • Sie kommen gehäuft bei Frauen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr vor, insbesondere bei Patientinnen mit medizinischen Kenntnissen. • Bei einem Teil der Patienten dienen kutane Artefakte einem sekundären Krankheitsgewinn. • Verwendung von chemischen Substanzen, Nadeln, Rasierklingen oder abschnürenden Bändern. • Mechanische Manipulationen durch Kratzen, Reiben oder Quetschen. • Kutane Artefakte sind meist an manuell gut erreichbaren Arealen lokalisiert, scharf begrenzt
45
392
45 Sekundärer Krankheitsgewinn
oder striär, gut von der umgebenden Haut abzugrenzen. • Oft ist die Anamnese der Patienten mit dem Auftreten „über Nacht“ schon richtungweisend. Die angeführten Merkmale entnimmt Dissemond einem Positionspapier der European Society of Dermatology and Psychiatry, das vielen anderen Autoren ebenfalls als Zitierquelle dient. Auch hier fehlen Angaben über die Häufigkeiten. Die meisten Arbeiten, die sich mit selbstinduzierten Störungen bei Wunden beschäftigen, beziehen sich auf Patientinnen mit definierten psychiatrischen Krankheiten und nicht auf den vermutlich häufigen Zusammenhang von Wundheilungsverzögerung zur Sicherstellung von Sozialkontakten (Wundversorgung, Arzttermine etc.), also normalpsychologisch verstehbaren Motivationen, die durch empathische Aussprache leicht geklärt werden könnten
45
45.5 Sekundärer Krankheitsgewinn: eine Synopsis für Wundtherapeuten
merksam zu sein und ggf. entsprechende Fachkompetenz mit einzubeziehen. Erfahrungsberichte von praktisch Tätigen lassen vermuten, dass auch bei psychisch gesunden Patienten ggf. unbewusst, vorbewusst oder bewusst Aktionen unternommen werden, um den Wundheilungsverlauf zu verzögern, z. B. mechanische Irritationen mit Stricknadeln, Feilen, Ausduschen von Wundbereichen, Einbringen von Hunde- oder Katzenkot in die Wunden u. v. m. Der sekundäre Krankheitsgewinn besteht dann – normalpsychologisch leicht nachzuvollziehen – in dem Versuch, den Kontakt zu den durch die Wundbehandlung ermöglichten sozialen Kontakten aufrechtzuerhalten. Auch hier besteht die Aufgabe der Wundtherapeuten nicht in der offenen, ggf. sogar aggressiven Konfrontation mit dem agierenden Verhalten des Patienten (Manipulation!), sondern in dem vorsichtigen, empathischen, wertschätzenden Umgang mit dem Problem, das u. U. ohne offene Ansprache, unter Inkaufnahme eines verzögerten Heilungsprozesses, die Integrität und Würde des Patienten sicherstellt. Sekundärer Krankheitsgewinn ist in dieser Perspektive kein Aufruf zu detektivischer Arbeit, sondern ein Phänomen, auf das die Patienten ein Anrecht haben.
Intrapsychische Konflikte und psychiatrische Erkrankungen können zu selbstmanipulierten Krankheiten führen, die sich an der Haut manifestieren oder sogar zu Wunden mit ernsthafter Gefährdung führen. Es resultieren Artefaktsyndrome (selten: Münchhausen-Syndrom). Hier ist therapeutisch der Psychotherapeut beziehungsweise Psychiater einzubinden. Zu warnen ist vor dem Versuch, die Problemstellungen mit den Mitteln des Wundmanagements zu lösen. Die Aufgabe des Wundtherapeuten ist es, in diesem Bereich auf-
LITERATUR Eckhardt A. Das Münchhausen-Syndrom, Formen der selbstmanipulierten Krankheit. München: U&S; 1989. Ferrara P, Vitelli O, Bottaro G. Factitious disorders and Munchausen syndrome: the tip of the iceberg. J Child Health Care 2012; 17: 366–374. Freud S. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Werke Bd. 11. Frankfurt: S. Fischer; 1944. Kapfhammer HP. Artifizielle Störungen und Simulation. In: Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg.): Psychiatrie und Psychotherapie. Heidelberg: Springer 2003; 1456–1457. Willi J. Die Zweierbeziehung. Reineck Hamburg: Rowohlt; 1990.
KAPITEL
46
Kerstin Protz, Finja Reinboldt-Jockenhöfer
Wunddokumentation
46.1 Wundanamnese und -beurteilung Kernaussagen • Eine gut und verständlich ausgeführte Wunddokumentation ist die Grundlage des Zusammenwirkens aller an der Therapie Beteiligten und somit ein wichtiger Pfeiler des Behandlungsprozesses. • Die Wunddokumentation ist ein Kommunikationsmittel, das Brüchen in der Therapie vorbeugt und die Versorgung der Patienten unterstützt. • Fotoaufnahmen unterstützen den schriftlichen Wundbefund, sind aber kein Ersatz.
46.1.1 Einführung Die (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärzte (MBO-Ä 1997) verpflichtet laut § 10 Mediziner zur Dokumentation ihrer getroffenen Maßnahmen. Dies stellt gleichermaßen eine Gedächtnisstütze für den Behandler dar und dient dem Interesse des Patienten an einer ordnungsgemäßen Dokumentation seiner Therapie. Entsprechend ist diesem auf Anfrage Einsicht zu gewähren. Die Wunddokumentation ist Grundlage für eine koordinierte Therapie. Sie stellt die Art der durchgeführten Maßnahmen dar, garantiert die Nachweisbarkeit der geleisteten Tätigkeiten und ist die Basis für eine einheitliche Wundbehandlung. Zusätzlich bildet sie den Heilungsverlauf ab und liefert Fakten, die für eine Prognoseeinschätzung notwendig sind. Probleme werden schnell erfasst und können behoben werden. Die adäquate Wunddokumentation macht den Behandlungsprozess für alle an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen nachvollziehbar, beugt Versorgungsbrüchen vor und wirkt Schnittstellenproblematiken entgegen. Neben ihren Funktionen als Mittel der
• Fotoaufnahmen ermöglichen eine kontaktarme Befundung der Wunde, sind ggf. für die Abrechnung erforderlich, unterstützen die Telemedizin und können als Bilderserie den Heilungsverlauf visualisieren und nachvollziehbar machen. • Konventionelle Fotoaufnahmen können Wunden nicht dreidimensional erfassen und Taschen sowie Fistelungen nicht darstellen.
Koordination und der Abrechnung ist sie ein wesentlicher Bestandteil der Qualitätssicherung. Im Falle eines Rechtsstreits gilt eine vollständige Dokumentation als Nachweis der geleisteten Arbeit („Was nicht dokumentiert ist, gilt als nicht gemacht“). Die durchgeführte Arbeit ist stets persönlich und zeitnah, innerhalb von 24 Stunden, in der Dokumentation zu vermerken. Dieser Eintrag darf nicht im Voraus vorgenommen werden und ist nicht an Kollegen delegierbar. Bei vorhandener Handzeichenlegende ist ein Handzeichen als Unterschrift ausreichend. Die Handzeichenlegende ist jährlich zu aktualisieren, da sich die Handschrift im Laufe der Zeit verändert. Neue Mitarbeiter tragen sich umgehend ein. Wenn Korrekturen vorgenommen werden müssen, sind diese entsprechend kenntlich zu machen. Der Einsatz von Korrekturfluid, Überklebungen, Schwärzungen oder gar die Entnahme und Neuverfassung ganzer Seiten können rechtlich als Urkundenfälschung gewertet werden. Einrichtungen, welche die erforderliche schriftliche Begleitung des Versorgungsprozesses versäumen, drohen im Schadensfall Regressforderungen und Aufkündigung des Behandlungsvertrags.
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46 Wunddokumentation
Die Wunddokumentation dient in vielfacher Hinsicht der rechtlichen Absicherung. Lehnt der Patient z. B. die Versorgung oder Aspekte derselben ab, hält der Therapeut dies ebenfalls in der Dokumentation fest. Bei ablehnender Haltung des Patienten sind diesem nachvollziehbar die Risiken seiner Entscheidung darzustellen. Diese Belehrung ist ebenfalls in der Dokumentation festzuhalten. Neben der rechtlichen Absicherung erleichtert die Wunddokumentation ebenso die Weitergabe der relevanten Informationen und hilft bei der Organisation. Eine standardisierte Wunddokumentation ermöglicht die Darstellung der durchgeführten Wundversorgung im Versorgungsprozess und sichert so die Qualität der Behandlung. Daraus resultiert eine erhöhte Sicherheit in der Versorgung. Auch nach längeren Abwesenheitszeiten der Behandelnden, z. B. durch Urlaub oder Krankheit, ist die Behandlung anhand der Dokumentation sofort ersichtlich. Der Behandler kann nachvollziehen, was therapeutisch zu beachten und wann und womit die Wundversorgung durchzuführen ist. Probleme wie beispielsweise Komplikationen oder allergische Reaktionen werden zeitnah festgehalten und behandelt. Dies steigert die Qualität der Versorgung und sichert die Kontinuität der Therapie. Entsprechend der AWMF S3-Leitlinie „Lokaltherapie chronischer Wunden bei den Risiken CVI, PAVK und Diabetes mellitus“ ist die Wunddokumentation „(…) Teil der Dokumentation im Rahmen des Behandlungs- bzw. Pflegevertrages. Sie umfasst das Erst-Assessment, den Heilungs- und den Therapieverlauf.“
Die Wunddokumentation bildet die Grundlage der therapeutischen und pflegerischen Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden. Schon die äußere Form des Dokumentationsbogens beugt eventuell auftretenden Problemen beim Ausfüllen vor. Um Verläufe einfach, überschaubar und zeitnah erfassen zu können, empfiehlt es sich, einfache Wunddokumentationsbögen zu verwenden. Die Daten sollten überwiegend durch Ankreuzen eingegeben werden. Bei Freitextfeldern besteht die Gefahr, „Romane“ zu schreiben, wodurch Verläufe nicht nachvollziehbar bzw. nicht schnell ersichtlich sind. Die vorformulierten, allgemein verständlichen Definitionen eines Ankreuzbogens vermeiden subjektive Einschätzungen wie „Wunde sifft“, „sieht gut aus“, „o. B.“ etc. Auffällige Besonderheiten, die durch die vorgegebenen Beschreibungen des Ankreuzbogens nicht definiert werden, sind z. B. unter einem Feld „Sonstiges“ einzutragen oder im allgemeinen Berichtsblatt festzuhalten. Möglichen Verständnisproblemen durch Sprache, Schriftbild und Ausdruck beugen solche Dokumentationsbögen vor. Ein weiterer Vorteil ist, dass Veränderungen zeitnah auf den ersten Blick zu erkennen sind. Dafür sollte pro Bogen nur eine Wunde dokumentiert werden. Zurzeit existieren in Deutschland keine allgemeingültigen, standardisierten Wunddokumen tationsbögen. Jede Einrichtung und Praxis erarbeitet und implementiert oft im Rahmen einer Arbeitsgruppe einen eigenen, auf individuelle Schwerpunkte abgestimmten Bogen. CAVE
46.1.2 Voraussetzungen
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Um den Anforderungen der Wunddokumentation wie Wundbeurteilung, Darstellung des Heilungsverlaufs und Problemerfassung gerecht werden zu können, sind spezielle Kenntnisse notwendig. Hierzu gehören u. a. umfassendes Wissen über Anatomie und Physiologie der Haut, Entstehung von Wunden, Wundheilungsphasen und -stadien, Kenntnisse über den aktuellen Stand der Wissenschaft und sachgerechtes Dokumentieren. Erst eine grundlegende Kenntnis dieser Aspekte ermöglicht eine adäquate Aufnahme der Fakten, die in der Wunddokumentation enthalten sein sollten.
Herausgabe von Patientenunterlagen an Krankenkassen Die Krankenkassen fordern oft Patientenunterlagen an. Als Gründe werden meist Genehmigung und Abrechnungsprüfung angegeben. Dies ist nicht zulässig, denn den Kassen Einblick in die Dokumentation zu geben, verstößt gegen die gesetzlich verankerte Aufgabenteilung, selbst wenn ein eventueller Versorgungsvertrag eine solche Klausel beinhalten sollte (Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 20.11.2008, Az.: S 40 [31, 24] KN 133 / 04 KR). Auszüge aus der Dokumentation und andere Patientenunterlagen gehen ausschließlich an den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Sie können auch der Krankenkasse zur Weitergabe an den MDK zugesandt werden, müssen dafür aber in einem entsprechend adressierten, verschlossenen Umschlag sein.
46.1 Wundanamnese und -beurteilung
46.1.3 Wundanamnese medizinisch und pflegerisch Die in der Wundanamnese erfassten Fakten bilden die Grundlage für eine adäquate Wunddokumentation. Sie beinhaltet u. a. Informationen über das soziale Umfeld, das Krankheitsbild, psychosoziale Aspekte und wundauslösende sowie die Abheilung negativ beeinflussende Faktoren. Beispielhafte Inhalte sind: Erfassung von Patienten- / Angehörigenwissen zu • Wundursache / n • Bedeutung spezieller Maßnahmen z. B. Kompressionstherapie, Bewegung, Druckverteilung • Symptomen, z. B. Wundfeuchtigkeit, Geruch, Juckreiz • Wundheilung und Vorstellung zur Abheilungszeit Erfassung wund- und therapiebedingter Einschränkungen, z. B. • Schmerzen, z. B. Stärke anhand einer visuellen Analogskala oder per Fremdeinschätzung, Qualität, Lokalisation, Dauer, Häufigkeit, bisherige Erfahrungen mit Maßnahmen zur Schmerzlinderung, situationsbedingtes Auftreten • Mobilitäts- / Aktivitätseinschränkungen, z. B. Treppen steigen, einkaufen gehen • Unangenehme Gerüche, Exsudatmengen, Juckreiz, Ödeme • Schwierigkeiten bei der persönlichen Hygiene • Abhängigkeit von anderen / fremder Hilfe • Psychosoziale Aspekte, z. B. Frustration, Trauer, Depression, soziale Isolation, Ängste, Sorgen • Einschränkungen bei der Kleider- und Schuhauswahl • Schlafstörungen Abfrage von bereits vorhandenen wundbezogenen Hilfsmitteln: • An- und Ausziehhilfen, medizinische Kompressionsstrümpfe, orthetische Schuhversorgung, druckverteilende Matratzen, Sitzkissen und Positionierungshilfen Selbstmanagementkompetenzen von Patienten / Angehörigen zu • Umgang mit wund- und therapiebedingten Einschränkungen (siehe oben) • Verbandwechsel • Ernährung
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• Blutzuckereinstellung • Rauchentwöhnung • Gefäßsport • Hautschutz und -pflege • Entstauenden Maßnahmen, wie Aktivierung der
Muskelpumpen, Hochlegen der Beine über Herzniveau • Erhalt von Mobilität und Alltagsaktivitäten, z. B. Spaziergänge, Hobbys, Einkäufe • Krankheitsspezifischen Maßnahmen, z. B. Fußpflege und -inspektion, Bewegungsübungen, Kompressionsversorgung Zusätzlich sollten folgende Angaben Berücksichtigung finden: • Alter • Medikation • Allergie / n • Soziales Umfeld, z. B. wie und mit wem lebt der Patient (Erdgeschoss, Treppenhaus ohne Fahrstuhl, Angehörige etc.)? Ist er selbstständig, oder benötigt er Hilfe? Wer versorgte den Patienten bisher (ärztlich, häuslich, pflegerisch)? • Immunstatus, Tumor(en) • Begleit- und Stoffwechselerkrankungen, Operation(en) • Erfassung des geistigen und seelischen Zustands • Lebensgewohnheiten, z. B. Rauchen, Alkohol, Sport • Information über Krankheitsbild und Einstellung dazu • Kontinenzsituation
46.1.4 Wundassessment: Kriterien der Wunddokumentation Eine Wunddokumentation verdeutlicht gleichermaßen sowohl den bisherigen Versorgungsprozess als auch den Heilungsverlauf bzw. aktuellen Zustand der Wunde. Beispielhafte Inhalte für ein Wundassessment bzw. eine Wundeinschätzung sind: • Medizinische Wunddiagnose: Grunderkrankung, Wundart / -klassifikation und Schweregradeinteilung der Wunde bzw. der Grunderkrankung • Beispiele der Wundklassifikation: z. B. Ulcus cruris venosum / arteriosum / mixtum, diabetisches Fußulkus, Dekubitus, Verbrennung, postoperative Wundheilungsstörung
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46 Wunddokumentation
• Beispiele Schweregradeinteilung: Dekubitus-
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klassifikation z. B. nach European Pressure Ulcer Advisory Panel (EPUAP), Klassifikation diabetisches Fußulkus nach Wagner / Armstrong, Klassifikation der chronisch venösen Insuffizienz (CVI) nach Widmer oder CEAP, Klassifikation der PAVK nach Fontaine • Bisherige diagnostische und therapeutische Maßnahmen zur Wundversorgung und zur Grunderkrankung • Wundlokalisation: schriftlich ausformuliert und auf einem Schaubild eingezeichnet; ggf. Fotoerstellung • Wunddauer: notwendig, um Belastungen, Behandlungszeiten und die Heilungszeit für den Patienten einzuschätzen • Rezidive: Erfassung von Anzahl und rezidivfreier Zeit; erlaubt Hinweise auf mögliche Problematiken bei der Prävention • Wundgröße: Erfassung anhand der Perpendicular-Methode, d. h. der größten Länge und Breite (diese steht im 90°-Winkel zur Länge) in cm, Tiefe in cm, Erfassung von Taschen / Untertunnelungen / Fisteln anhand der Uhrmethode • Wundrand / -umgebung: z. B. unterminiert, vital, mazeriert, livide, nekrotisch, ödematös, wulstig, gerötet, Juckreiz, trocken, rissig • Wundgrund / Gewebeart: z. B. Nekrose, Fibrinbelag, Granulationsgewebe, Knochen, Sehne • Wundgeruch: ja / nein • Exsudation: Menge, Beschaffenheit, Farbe • Infektionsanzeichen: Rötung, Schwellung, Überwärmung, Funktionseinschränkung, Schmerzen • Wundschmerzen: – Intensität anhand z. B. visueller Analogskala, Smiley-Skala, numerischer Rangskala, verbaler Rating-Skala oder per Fremdeinschätzung – Situationen, die mit Schmerzen einhergehen, und solche, die zur Verbesserung führen – Qualität: z. B. pochend, brennend, stechend Zudem sollten Angaben zur medikamentösen Therapie wie vollständiger Produktname und -größe (u. a. für Nachbestellungen erforderlich), Datum und Handzeichen der durchführenden Person enthalten sein. Jeder Verbandwechsel ist in der Dokumentation festzuhalten; Veränderungen zum Vorzustand
werden vermerkt. Ein vollständiges Wundassessment, insbesondere die Wundvermessung, erfolgt bei chronischen Wunden spätestens nach zwei bis vier Wochen und zusätzlich nach wundbezogenen Interventionen bzw. akuten Veränderungen, z. B. chirurgischem Débridement, Infektion. Bei akuten Wunden sollte so ein Wundassessment wöchentlich erfolgen. Im Abstand von maximal vier Wochen sollte zudem eine Überprüfung der Wirksamkeit aller Maßnahmen stattfinden und ggf. notwendige Änderungen im Maßnahmenplan und in der Dokumentation vermerkt werden. Nachfolgend werden einzelne Assessmentkriterien ausführlicher betrachtet.
Größenbestimmung der Wunde Die Veränderung der Wundgröße gilt als wesentlicher Faktor für die Beurteilung des Heilungsverlaufs. Die Wundgröße sollte nicht mit Aussagen wie „handteller-“, „tomaten-“, „stecknadelkopf-“ oder „Ein-Euro-Stück-groß“ beschrieben werden. Dies sind keine exakten Angaben. Auch Aussagen wie „Wunde sieht gut aus“, „Wunde o. B.“ (ohne Befund) gehören mangels Aussagekraft nicht in eine Wunddokumentation. Herkömmlich wird die Wunde mit einem Einmalpapierlineal ausgemessen (› Abb. 46.1). Allerdings kann diese Methode nicht die Form einer Wunde abbilden. Mehrfachmessinstrumente wie Stomaschublehren, vernietete Kunststofflineale und Schablonen können nicht sachgerecht oder nur mit großem Aufwand und Kosten desinfiziert werden und begünstigen so die Verschleppung von Keimen. Deshalb sollten diese Instrumente nicht zum Einsatz kommen. Bei der Messung wird alternativ zu der oben genannten Perpendicular-Methode vertikal (Länge → Fuß-Kopf-Achse) und horizontal (Breite) jeweils der größte Abstand der Wundränder zueinander bestimmt. Die Längen- und Breitenachsen stehen beim Vermessen im 90°-Winkel zueinander. Der entsprechende Körperteil wird sowohl schriftlich ausformuliert als auch bildlich anhand einer stilisierten Zeichnung dargestellt. Auf vielen Wunddokumentationsbögen / -systemen ist zu diesem Zweck ein
46.1 Wundanamnese und -beurteilung
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Abb. 46.1 Vermessen der Wunde mit Einmalpapierlineal [M291]
Abb. 46.2 Vermessen von Wunden mittels Planimetrie [M291]
menschlicher Körper schematisch dargestellt, auf dem die genaue Lokalisation angegeben werden kann. Es ist wichtig, dass innerhalb des Teams eine Übereinstimmung in Bezug auf die Messpunkte besteht und nicht bei jeder Wundinspektion an anderen Punkten gemessen wird. Eine Methode, die sich nicht an den Körperachsen, sondern an der Ausrichtung der Wunde orientiert, ist die Uhrmethode. Unabhängig von der Lage der Wunde wird hier die längste Ausdehnung gemessen. Davor ist die Ausrichtung der Uhr im Team möglichst eindeutig zu definieren. Als Orientierung gilt das Zifferblatt der Uhr, also zwölf Uhr kopfwärts, sechs Uhr fußwärts. Eine genauere Vorstellung von der Wunde vermittelt eine möglichst exakte Nachzeichnung der Wundumrisse. Diese kann unter Zuhilfenahme einer sterilen doppelseitigen Folie angefertigt werden. Hierzu wird diese Folie auf der Wunde aufgebracht und deren Umrisse mit einem wasserfesten Stift, ohne allzu großen Druck auszuüben (Schmerzauslöser!), nachgezogen. Bei Verwendung einer doppelseitigen sterilen Folie kann die obere, nicht kontaminierte Folie in der Wunddokumentation abgeheftet werden. Die auf der Wunde verbliebene, kontaminierte Haftfolie wird entsorgt. Zusätzlich werden das Erstellungsdatum und die Lage der Wunde festgehalten. Die Verwendung einer Folie, die über Kästchen – also eine Rasterung – verfügt, kann durch die Erfassung der Kästchenzahl zudem eine Angabe über die Wundfläche vermitteln (› Abb. 46.2).
Ein Kästchen entspricht dabei einer Größeneinheit von 1 cm2. Jedes Kästchen, das über die Hälfte gekennzeichnet ist, wird mitgezählt. Dieses Vorgehen wird als Tracing bzw. Planimetrie bezeichnet. Diese Methode ist auch computergestützt durchführbar. Zudem sind verschiedene Computerprogramme zur Wunddokumentation erhältlich, die nach einer punktuellen Erfassung des Wundrands (unter Definition eines Größenmaßstabs, z. B. Einmalpapierlineal) die Wundfläche selbstständig errechnen.
Wundtiefe Bei der Ermittlung der Wundtiefe gibt es verschiedene Möglichkeiten wie z. B. sterile Pinzetten (› Abb. 46.3), sterile skalierte Sonden, sterile Knopfkanülen oder sterile Spülkatheter. Wenn die Wunde unterminiert ist, wird jeweils der tiefste Wundort vermessen. Cave: Ein Einsatz von sterilen Watteträgern ist nicht zu empfehlen, da diese Rückstände in der Wunde hinterlassen können. Bei unterminierten Wunden ist es empfehlenswert, sich bei der Angabe der Lage der jeweiligen Wundtasche an der Uhrzeit zu orientieren. An den Füßen oder Händen werden Zehen und Fingerspitzen als „zwölf Uhr“ definiert; Ferse und Handgelenk gelten als „sechs Uhr“. Das sogenannte Auslitern bestimmt das Volumen der Wunde in Millilitern. Hierbei wird die Wunde mit einer sterilen Transparentfolie abgedeckt.
46
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46 Wunddokumentation entsprechende Definition im hausinternen Standard erleichtert die Einschätzung. Das Exsudat ist zudem nach Farbe (› Tab. 46.1) und Konsistenz (› Tab. 46.2) zu beurteilen.
Wundrand
Abb. 46.3 Tiefenmessung der Wunde mit steriler Pinzette [M291]
Das Erscheinungsbild des Wundrands erlaubt Rückschlüsse auf den Heilungsverlauf und teilweise auch auf die Ätiologie. Hier kommt es z. B. zu Einblutungen, Hyperkeratosen oder Nekrosen. Der Zustand des Wundrands und seine Entwicklung sind dementsprechend in der Wunddokumentation festzuhalten, z. B. livide, hyperkeratotisch, unterminiert, ödematös, gerötet oder mazeriert.
Wundumgebung
46
Mit einer Spritze mit Kanüle wird dann erwärmte Ringer- oder physiologische Kochsalzlösung in die Wunde eingefüllt. An der Spritzenskala lässt sich ablesen, welches Volumen in Millilitern die Wunde hat. Cave: Diese aufwendige Methode ist kostenintensiv, da sie hohen Zeit- und Materialeinsatz erfordert. Zudem birgt sie ein Verletzungspotenzial für den Patienten und wird häufig als unangenehm empfunden. Wenn der Patient bei der Erfassung anders liegt als bei einer vorangegangenen Messung, kann sich zudem das Ergebnis verfälschen.
Die Beurteilung der Wundumgebung erlaubt ebenfalls Rückschlüsse auf den Heilungsverlauf und teilweise auf die Ätiologie. Hier gibt es Hinweise, z. B. auf Infektionen, Hautpflegezustand, Exsudatmanagement, mangelnde Druckverteilung oder Hautläsionen durch eine inadäquate Kompressionsversorgung. Der Zustand der Wundumgebung ist dementsprechend in der Wunddokumentation festzuhalten, z. B. trocken, schuppig, überwärmt, hyperpigmentiert, ekzematisiert oder mazeriert.
Wundexsudat
Wundgrund
Das Wundexsudat variiert je nach Wundzustand, -größe, -phase, -stadium und Krankheitsbild. Die Exsudatmenge ist eine relative Größe und lässt sich nicht objektiv beschreiben. Begriffe wie viel, mittel, mäßig, wenig oder kaum beschreiben lediglich subjektive Wahrnehmungen. Über die jeweilige Bedeutung sollte im Behandlungsteam Einigkeit bestehen. Einen Anhaltspunkt für einen Rückschluss auf die Exsudatmenge liefern die Häufigkeit der Verbandwechsel, die Anzahl der durchnässten Auflagen sowie die Materialauswahl bezüglich Saugkraft, Aufnahmevermögen und Retention. Eine
Der Wundgrund erlaubt Rückschlüsse auf den Heilungsverlauf. Es erfolgen die Bestimmung von Gewebeart, z. B. Nekrose, Sklerose, Fibrin, Granulation und die Feststellung des Ausmaßes der betroffenen Gewebsschichten, z. B. Epidermis, Dermis, Subcutis, freiliegende Strukturen wie Knochen, Sehne oder Muskulatur. Farbmodelle sollten nicht zum Einsatz kommen, da sie zu ungenau sind. So deutet z. B. die Farbe Schwarz auf eine Nekrose. Im angeweichten Zustand kann diese aber auch gelb sein. Sehnen- und Knochenstrukturen oder Fibrinbeläge sind aber ebenfalls gelb.
Tab. 46.1 Exsudatfarben und deren mögliche Bedeutung* Transparent, klar, bernsteingelb Normales, seröses Erscheinungsbild oder z. B. durch Lymph- / Harnwegsfistel
Trübe, milchig oder cremefarben Fibrinfäden durch Entzündung, Infektion
Gelb, braun
Blutzellen im Exsudat, z. B. Darm- / Harnwegsfistel, durch Verletzung Rückstände durch Wundauflagen, z. B. Hydrokolloidverband, Wundschorfbestandteile
Grün
Grau, blau
Infektion durch Pseudomonas aeruginosa
Rückstände von silberhaltigen Wundauflagen
46.1 Wundanamnese und -beurteilung
*Fotos: M291, ganz rechts: O1014
Rot, rosa
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46 Wunddokumentation
Tab. 46.2 Mögliche Ursachen verschiedener Exsudatviskositäten Zäh, klebrig oder hochviskös • Hoher Eiweißanteil aufgrund eines entzündlichen Prozesses • Rückstände von Verbandmaterial, z. B. Hydrokolloidverband, oder von topischen Präparaten • Nekrosen in der Autolyse • Sekret aus Darmfistel
Wundgeruch Der Wundgeruch erlaubt u. a. Rückschlüsse auf den Keimstatus einer Wunde. Zudem hat er gravierende Auswirkungen auf die Lebensqualität des Patienten. Untypischer Wundgeruch sollte mit Ja oder Nein erfasst werden. Spezifizierungen wie süßlich, säuerlich, faulig, jauchig, stinkend oder fäkal beziehen sich auf subjektive Eindrücke und sind nicht eindeutig. Daher sollte sich eine Aussage über den Wundgeruch darauf beschränken, ob dieser vorliegt oder nicht. Aufbewahrung von Patientenunterlagen Patientenunterlagen und somit auch die Wunddoku mentation sind laut Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) § 630 f. für eine Dauer von 10 Jahren aufzubewahren. Dem entspricht auch § 10 der (Muster-)Berufsordnung für Ärzte. Allerdings definiert BGB § 199 Abs. 2, dass eine Klagefrist für Schadensersatzansprüche auf Verletzungen von Körper und Gesundheit von 30 Jahren besteht. Daher empfiehlt es sich für Einrichtungen und Versorger, diese Unterlagen 30 Jahre lang aufzubewahren.
46
46.2 Wundfotografie 46.2.1 Einführung Neben der schriftlichen Wundbeurteilung dient die Dokumentation mit digitalen Fotografien der Veranschaulichung der geleisteten Versorgung. Ein häufig geäußerter Vorbehalt gegenüber der digitalen Fotodokumentation ist die Manipulierbarkeit.
Dünnflüssig, laufend oder niedrigviskös • Geringer Eiweißanteil, z. B. durch Mangelernährung, venöse Erkrankung oder dekompensierte kardiale Erkankung • Sekret aus Lymph-, Gelenkspalt- oder Harnwegsfistel
Dennoch haben digitale Fotos vor Gericht Bestand, da jede Art der Dokumentation veränderbar ist. Voraussetzung für eine Wundfotografie ist die Wahrung der rechtlichen Gesichtspunkte. Die fotografische Dokumentation hat den Vorteil, dass ein Befund auf kontaktarme Weise verdeutlicht und Heilungsverläufe visualisiert nachvollziehbar dargestellt werden können. Grenzen bestehen bei der Erfassung der Dreidimensionalität einer Wunde, da das Ausmaß von Gängen, Fistelungen, Wundtaschen / -höhlen und Farben nicht adäquat abgebildet werden kann. Fotos ersetzen nicht die schriftliche Dokumentation, sondern stellen lediglich eine Ergänzung dar. Zudem sind sie Grundlage der Wundbeurteilung im Rahmen der Telemedizin. Diese gewinnt insbesondere in facharztarmen ländlichen Regionen, in Bereichen, wo aufgrund struktureller Voraussetzungen kaum Fachärzte verfügbar sind, sowie in der stationären Altenpflege zunehmend an Bedeutung. Eine Fotodokumentation muss bestimmte Kriterien erfüllen. Sie dient der Visualisierung des aktuellen Wundzustands und verdeutlicht den Heilungsverlauf, wobei die Bilderfolge als Verlaufskontrolle angesehen werden kann. Dies gilt insbesondere bei Entlassungsoder Verlegungsberichten. Eine Wunde wird immer nach der Reinigung fotografiert, es sei denn, dass spezielle Auffälligkeiten, z. B. im Verbandmaterial, vorab festgehalten werden sollen. Die Größe der Wunde ist erkennbar zu machen. Dies kann z. B. durch das Anlegen eines Einmalpapierlineals bei der Aufnahme gewährleistet sein. Dieses sollte nicht weiß sein, da Skalen, Nummerierungen und Notizen, insbesondere bei Verwendung von Blitzlicht, später auf dem Foto nicht zu erkennen sind. Deshalb sollte das Einmalpapierlineal eine leichte Einfärbung, z. B. gelb, grau etc., haben.
46.2 Wundfotografie Damit das Foto dem jeweiligen Patienten eindeutig zuzuordnen ist, müssen auf dem Lineal bei jeder Aufnahme ein Patientencode oder der Name, Vorname und das Geburtsdatum des Patienten, das Datum der Fotografie und die Körperseite, auf der sich die Wunde befindet, verzeichnet sein. In der Klinik stehen hierfür Patientenetiketten mit allen Daten zur Verfügung. Auch die Fotodokumentation muss nachvollziehbar sein. Die Aufnahmen erfolgen unter Einsatz von Makrofunktion mit einem identischen Lichteinfall (bei Bedarf Blitz), gleicher Auflösung und Abstand sowie aus demselben Winkel. Dabei achtet der Fotograf darauf, dass Lichteinfall und Perspektive keine störenden Schatten auf das Motiv werfen (› Abb. 46.4), die im Nachhinein eventuell als Nekrose, Taschen o. Ä. fehlinterpretierbar sind. Der Patient sollte dabei
403
jeweils in der gleichen Position liegen bzw. sitzen. Die Verwendung eines neutralen, ruhigen Hintergrunds, z. B. durch einfarbige OP- oder Handtücher (› Abb. 46.5a), verstärkt die Aussagekraft des Fotos. Der Untergrund / Hintergrund sollte einheitlich, aber nicht weiß sein (› Abb. 46.5b), um Problemen mit dem Weißabgleich beim Blitzen vorzubeugen. Grundvoraussetzung für die Fotodokumentation ist die Einwilligung des Patienten oder ggf. seiner Angehörigen bzw. Betreuer. Der Patient wird vorab adäquat aufgeklärt und erfährt alles über Grund und Durchführung der Aufnahmen sowie deren Zweck und Verbleib (vgl. StGB § 201a Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen). Die jederzeit widerrufbare Zustimmung ist schriftlich in der Akte des Patienten zu fixieren und der Dokumentation beizugeben. Eine Fotodokumentation sollte bei chronischen Wunden ebenfalls spätestens alle vier Wochen und zusätzlich bei gravierenden Veränderungen der Wundsituation erfolgen. Es empfiehlt sich, einen einrichtungsinternen Standard über die Anforderungen an die jeweiligen Kriterien zur Fotoaufnahme zu erstellen. CAVE
Abb. 46.4 Schattenbildung [M291]
Im niedergelassenen ärztlichen Bereich sind für die Abrechnung der Behandlung bestimmter Krankheitsbilder, z. B. Ulcus cruris venosum, Wundfotografien zu Behandlungsbeginn und dann mindestens alle vier Wochen unerlässlich. Dies begründet sich auf Vorgaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV; EBM 2013 Ziffer 02312).
46
Abb. 46.5 a Gut erkennbare Wundsituation vor neutralem, ruhigem Hintergrund; b Wunde vor weißem, unruhigem Hintergrund [M291]
404
46 Wunddokumentation
46.2.2 Voraussetzungen und Vorgehensweise
• Aufklärung und Information des Patienten über
• Foto immer erst nach der Wundreinigung
(› Abb. 46.7) erstellen. Ausnahme: besondere Auffälligkeiten sollen vorab festgehalten werden.
die Fotoerstellung und den Verbleib.
• Einholen der Zustimmung des Patienten oder des
gesetzlichen Betreuers und schriftliche Fixierung in der Akte; die Zustimmung kann jederzeit widerrufen werden. • In Ausnahmefällen, z. B. zur Beweiserhebung bei Verlegung, werden Fotos vor Einverständniseinholung erstellt. Das Einverständnis ist dann rückwirkend einzuholen. Wenn dieses verweigert wird, sind die Bildaufnahmen entsprechend zu verwerfen. • Immer gleiches Kameramodell nutzen. • Fotos immer unter den gleichen Bedingungen erstellen, um eine Aussagekraft zu ermöglichen. • Das Foto muss dem jeweiligen Patienten eindeutig zuordbar sein: neben dem Erstellungsdatum Patientencode, Patientenetikett oder Name und Geburtsdatum vermerken. • Um Wundgröße und -verlauf kenntlich zu machen, Einmalmaßband oder graduierte Fotokärtchen verwenden; ggf. Angabe der Körperregion / -seite; Maßband immer an der gleichen Stelle anlegen. • Um Messfehler zu vermeiden, ggf. Punkte der Wundabmessung auf dem Foto markieren. • Erstellung jeweils einer Nah- und Übersichtaufnahme (› Abb. 46.6).
Abb. 46.7 a Fotodokumentation vor Wundreinigung, b Fotodokumentation nach Wundreinigung [M291]
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Abb. 46.6 a Erstellung einer Übersichtsaufnahme, b Erstellung einer Nahaufnahme [M291]
46.2 Wundfotografie
• Neutralen, ruhigen Hintergrund verwenden, z. B.
einfarbige Tücher (nicht weiß wegen Problemen mit dem Weißabgleich) unterlegen (› Abb. 46.5a) • Auf ausreichende Bildschärfe sowohl bei der Wunde als auch der Umgebung achten; Nutzung von Makro- oder Automatikfokus und Bildstabilisator. • Schattenbildung vermeiden. • Auf gleiche Lichtverhältnisse wie bei vorangegangenen Aufnahmen, realistische Farbwiedergabe und hohe Auflösung achten. • Auf gleichen Abstand, Winkel (parallel zum Aufnahmepunkt) und gleiche Position des Patienten wie bei vorangegangenen Aufnahmen achten; nach Ersterstellung diese Angaben in der Dokumentation vermerken. • Nah- und Übersichtsaufnahme erstellen. • Bei jedem Patienten je nach Lichtverhältnissen entscheiden, ob ohne (› Abb. 46.8) oder mit Blitz (› Abb. 46.9) fotografiert wird; diese Ent-
Abb. 46.8 Fotodokumentation ohne Blitz [M291]
405
scheidung bei späteren Aufnahmen beibehalten und immer zur gleichen Tageszeit und bei gleichen Lichtverhältnissen fotografieren; Reflexionen / Spiegelungen durch den Blitz vermeiden; ggf. für unterstützende seitliche Beleuchtung sorgen. • Die Wunde sollte mindestens ein Drittel des Fotos einnehmen. • Abschließend wird das Foto der jeweiligen Patientenakte zugeordnet.
46.2.3 Technische Voraussetzungen Die digitale Kamera sollte über folgende Funktionen und Eigenschaften verfügen: • Blitz- und Makrofunktion; optimal wäre ein Ringblitz (aus Kostengründen einrichtungsintern abzuwägen). • Großes LCD-Display (mindestens 2 Zoll, d. h. 5,1 cm Diagonale), um die Tauglichkeit der erstellten Aufnahme umgehend prüfen zu können. • Die Standardauflösung für Fotoerstellung sollte mindestens 1.984 × 1.488 Pixel (3 MB) betragen. • Automatische Datums- und Zeiterfassung. • Bildstabilisator. • Ausreichend große externe Speicherkarte. • Computer mit Archivierungssoftware mit Suchfunktion, Kameraanschlussmöglichkeit, z. B. über USB, Farbdrucker und Fotopapier. • Um nachträgliche Veränderungen nachvollziehen zu können, muss die Archivierungssoftware Veränderungen kontrollierbar und im System sichtbar machen. Fotos sollten möglichst täglich von der Speicherkarte heruntergeladen und auf einem externen Medium gesichert werden. Tipp
Abb. 46.9 Fotodokumentation mit Blitz [M291]
Die ausgedruckte Aufnahme kann abhängig von der Bearbeitungssoftware, dem Drucker und dem verwendeten Papier variieren. Bei speziellen Wundverläufen, wie Unterminierungen oder Fistelgängen, sind der Fotodokumentation Grenzen gesetzt. Solche Wundzustände können durch eingelegte sterile Pinzetten (› Abb. 46.3) oder auf der Wundumgebung angebrachten Transparentfolien mit eingezeichneten Markierungen verdeutlicht werden.
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46 Wunddokumentation
46.2 Wundfotografie
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46 Wunddokumentation
3-dimensionale Wundfotografie
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Bei der 3-dimensionalen (3D) Wundfotografie handelt es sich um eine Methode in der Bilddokumentation in drei Ebenen, bei dem folgenden Parameter erfasst werden: • Länge • Breite • Tiefe Hieraus können Umfang und Volumen berechnet werden. Im zeitlichen Verlauf ist es dann möglich, Aussagen wie beispielsweise Flächenreduktion, mittlere Tiefe oder maximale Größe darzustellen. Bei den bislang verwendeten 2-dimensionalen (2D) Vermessungstechniken werden meist ausschließlich Länge und Breite erfasst. Diese Verfahren zeigen gerade in ihrer Interrater-Reliabilität, also dem Ausmaß der Übereinstimmungen des Ergebnisses bei unterschiedlichen Durchführern, sehr variabel, sodass neue kombinierte Systeme zur exakteren Wundbeobachtung, -bewertung und -dokumentation gefordert wurden und nun mit der 3D-Wundfotografie zur Verfügung stehen. Eines dieser 3D-Systeme soll im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Das System Silhouette (ARANZ Medical, Christchurch, Neuseeland) besteht aus einer 3D-Kamera, die an einen Computer angeschlossen wird, auf den zuvor eine spezielle Software aufgespielt wurde (› Abb. 46.10). Das System ermöglicht eine 3D-Wundfotografie mit Vermessung in allen drei Ebenen und ein Dokumentationssystem mit eigener Patientendatenbank. Die Kamera kann aufgrund der geringen Größe (100 × 67 mm) und Gewicht (240 g) sowie durch die kugelförmige Struktur mit nur einer Hand bedient werden. Mittig im Gehäuse sitzt eine 5-Megapixel-Kamera, die eine automatische Belichtung mit zwei LED-Blitzen (je 10.000 Lux) und einen festen Fokus für eine möglichst schnelle (1,2 Sekunden Auslösezeit) und unkomplizierte Fotodokumentation besitzt. Dementsprechend wird die maximale Arbeitsdistanz (Abstand Kamera – Wunde) durch das System vorgegeben. Drei Laser sind im gleichen Abstand um die Kamera herum angeordnet und treffen sich bei der optimalen Arbeitsdistanz von 235 mm (max. 285 mm) in einem Punkt, an dem die größtmögliche Messgenauigkeit und Bildqualität vorliegen. An der
Abb. 46.10 a Anwendungsbeispiel für die 3D-Vermessung einer Wunde; b Kameraunterseite mit 3 Lasern, 2 LED-Blitzen, 3D-Kamera [T1060]
Gehäuseseite befindet sich ein Knopf für das einhändige Auslösen der Kamera. Das aufgenommene Foto wird umgehend auf den PC übertragen und im System gespeichert. Um ein 3D-Foto einer Wunde zu erstellen, wird exakt der gleiche Vorgang durchlaufen wie bei einem 2D-Foto. Dies bedeutet, dass jedes mit dem System erstellte 2D-Foto die notwendigen Daten für eine 3D-Vermessung enthält. Da die Parameter für die Erstellung eines Fotos von dem System bezüglich Abstand, Autofokus, Belichtung und Auflösung vorgegeben werden, ist das System in der Lage, eine vom Anwender durch Umfahren des Wundrandes mit der Computermaus oder einem speziellen Stift für einen Touchscreen definierte Wunde zu vermessen und o. g. Parameter zu erfassen. Das Erstellen eines 3D-Fotos inklusive der Vermessung dauert, je nach Wundgröße, circa eine Minute. Dabei liegt die mini-
46.3 EDV-gestützte Wunddokumentation male Wundgröße bei 2 × 2 mm und die maximale Wundgröße bei 250 × 180 mm, da die Kameralinse in Kombination mit den fixierten Lasern ein definiertes Sehfeld besitzt. Für jeden Patienten legt der Benutzer eine Patientenakte an, die beliebig viele Patienteninformationen enthalten kann. Um zum ersten Mal eine neue Wunde mit diesem System zu dokumentieren, muss die Wunde anatomisch lokalisiert und dokumentiert werden, sodass das System diese automatisch richtig zuordnen und Berichte mit möglichst vielen Wundinformationen ausstatten kann. Nachdem ein 3D-Wundfoto erstellt worden ist, wird die Wunde manuell auf dem Computer, mittels Umfahren des Wundrandes mit der Maus, definiert. Das System berechnet die o. g. Messdaten, die anschließend in die Patientenakte aufgenommen werden, und vergleicht sie mit vorangegangen Vermessungen, sodass gleichzeitig Größenveränderungen in Prozent vom System angegeben werden. Des Weiteren werden diese Daten für die übersichtlichere Darstellung in Graphen eingefügt. Sofern ein Übersichtsbericht gewünscht wird, erstellt das Programm einen übersichtlichen PDF-Bericht mit allen verfügbaren Patienten- / Wunddaten, Fotos und grafischen Darstellungen (› Abb. 46.11).
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46.3 EDV-gestützte Wunddokumentation Für die Ansprüche des zeitnahen Datentransfers, insbesondere bei Patientenentlassungen und -verlegungen, ist die EDV-gestützte Wunddokumentation ein hilfreiches Organisationsmittel. Für die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit sowie Vernetzung der an der Wundversorgung beteiligten Personen haben solche Systeme eine große Bedeutung. Sie garantieren den zeitnahen, transparenten und umfassenden Austausch relevanter Daten, ermöglichen eine kontinuierliche Therapie und beugen Schnittstellenproblematiken vor. Die Einverständniserklärung des Patienten ist die Voraussetzung für die Übermittlung seiner Daten an Dritte. Nach Abfrage der grundsätzlichen Wunddaten bieten einige solcher Programme eine Auswahl der infrage kommenden Wundversorgungsprodukte an und kalkulieren nach Anwahl die jeweiligen Kosten. Auch die für die Wundversorgung benötigte Arbeitszeit kann als Faktor berücksichtigt werden. Zudem können die Daten für statistische Auswertungen genutzt werden. Die Ergebnisse und Verläufe der EDV-gestützten Dokumentation sind
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Abb. 46.11 Beispiel einer Dokumentation in einem System für die 3D-Wundvermessung [T1060]
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46 Wunddokumentation
leicht abrufbar, unkompliziert zu bearbeiten, zu versenden und zu vervielfältigen. So können daraus z. B. Entlassungs- / Behandlungs- und Verlegungsberichte erstellt werden. Ist das System innerhalb eines Netzwerks etabliert, ist es der handschriftlichen Dokumentation überlegen, da die Einträge per Datenfernübertragung versendbar sind. Hierfür sind gesicherte Verbindungen Voraussetzung. Zudem sind unterschiedliche Zugriffsrechte für verschiedene Berufsgruppen / Versorger möglich. Üblicherweise können digitale Wundbilder in die EDV-gestützte Dokumentation integriert werden. Hierbei wird der Größenmaßstab definiert, auf dem digitalen Foto werden per Maus einzelne Punkte am Wundrand gekennzeichnet und aus deren Abstand und Lage wird die Größenangabe der Wundfläche errechnet. Dieses Verfahren ermöglicht exaktere Ergebnisse als das Abmessen oder Abmalen per Hand. LITERATUR Bundesärztekammer. (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte in der Fassung
46
des Beschlusses des 118. Deutschen Ärztetages 2015 in Frankfurt am Main. Dtsch Arztebl 2015; 112(31–32): A-1348 / B-1132 / C-1104. Chiang N, Rodda OA, Kang A, Sleigh J, Vasudevan T. Clinical evaluation of portable wound volumetric measurement devices. Adv Skin Wound Care 2018; 31(8): 374–380. Deutsche Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung (DGfW). Lokaltherapie chronischer Wunden bei Patienten mit den Risiken periphere arterielle Verschlusskrankheit, Diabetes mellitus, chronische venöse Insuffizienz. 2012. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 091/001. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/091-001l_ S3_Lokaltherapie_chronischer_Wunden_2012-ungueltig. pdf (letzter Zugriff: 26.2.2019). Dissemond J, Bültemann A, Gerber V, Jäger B, Münter KC, Kröger K. Definitionen für die Wundbehandlung. Hautarzt 2016; 67: 265–266. Kieser DC, Hammond C. Leading wound care technology: The ARANZ medical silhouette. Adv Skin Wound Care 2011; 24 (2): 68–70. Protz K. Moderne Wundversorgung. 9. A. München: Elsevier; 2019. Röhlig HW, Nusser B. Rechtliche und praktische Aspekte der Wundbehandlung und -dokumentation. WundForum 2010; 2: 9–19. Wundzentrum Hamburg e. V., Standards. www. wundzentrum-hamburg.de/standards (letzter Zugriff: 26.2.2019).
KAPITEL
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Veronika Gerber
Anforderungen
47.1 Anforderungen an ein Wundteam Kernaussagen • Menschen mit chronischen Wunden benötigen Versorgungsstrukturen, die auf die komplexen Anforderungen und Aufgaben abgestimmt sind. • Für die Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden ist ein interprofessionelles und einrichtungsübergreifendes Team erforderlich, das nur funktioniert, wenn alle Akteure gut geschult sind.
• Je mehr Personen an der Behandlung eines Wundpatienten beteiligt sind, umso wichtiger ist die Klärung der Zuständigkeiten. Die Dokumentation spielt eine wesentliche Rolle bei der Kommunikation und Informationssicherung. • Die Struktur des Wundmanagements ist abhängig von der Einrichtung.
47.1.1 Einführung
47.1.2 Das fallbezogene Team
Menschen mit chronischen Wunden benötigen Versorgungsstrukturen, die auf die komplexen Anforderungen und Aufgaben abgestimmt sind. Der reine Blick auf die Wunde wird nur einen Teil der Erfordernisse verdeutlichen. Um einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen, bedarf es einer sorgfältigen Ursachenanalyse, Ursachenbehandlung, Lokal- sowie Begleittherapie und Patientenedukation. Hieraus ergibt sich die Zusammensetzung eines interprofessionellen und interdisziplinären Wundteams. Dieses Wundteam agiert einrichtungsübergreifend. Zudem benötigen Krankenhäuser einrichtungsinterne Regelungen der Zuständigkeiten im Rahmen von Diagnostik und Therapie chronischer Wunden. Hier hat sich die Einrichtung eines hausinternen Wundmanagements mit freigestellten pflegerischen Wundexperten sowie einem zugeordneten Facharzt bewährt. Dieses Kapitel ist auf die Darstellung eines klinikinternen Wundteams fokussiert. Um die Komplexität der Thematik aufzuzeigen, werden nachfolgend anhand eines Fallbeispiels alle erforderlichen Behandler aufgeführt. In › Kap. 47.2 werden Lösungsansätze für die Zusammenarbeit einrichtungsübergreifend aufgezeigt.
An der Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden sind viele Behandler beteiligt. Am Beispiel eines Patienten mit einem durch Diabetes bedingtem Fußulkus wird die Komplexität des erforderlichen Teams deutlich: Frau X, 64 Jahre alt, kommt mit einer Sepsis, ausgelöst durch ein bislang unentdecktes Fußulkus, auf die Intensivstation (› Abb. 47.1). Sie ist durch den über Jahrzehnte schlecht eingestellten Diabetes fast erblindet und hat eine schwere Polyneuropathie. Der Internist behandelt die Sepsis, der Diabetologe stellt den völlig entgleisten Blutzuckerspiegel ein, der Unfallchirurg wird bereits am ersten Tag konsiliarisch hinzugezogen, um eine eventuell erforderliche Amputation zu planen. Das pflegerische Stationsteam übernimmt die intensivpflegerischen Maßnahmen, der pflegerische Wundexperte der Klinik gemeinsam mit dem Diabetologen die Wundtherapie. In diesem Fall wird nach Wunddébridement eine Unterdrucktherapie angelegt. Nach sieben Tagen wird die Patientin auf die internistische Station verlegt, für die der beteiligte Diabetologe zuständig ist. Der Wundexperte übernimmt weiterhin die Verbandwechsel; nun reicht ein PU-Schaumverband, da die Infektion vollständig
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47 Anforderungen
Abb. 47.1 Aufnahmebefund [P592]
Abb. 47.2 Entlassungsbefund 14 Tage nach Aufnahme in die Klinik [P592]
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abgeklungen ist. Eine Amputation war nicht erforderlich. Ab jetzt ist die Einbindung der Patientin möglich: Eine Diabetesberatung wird durch die Diätassistentin vorgenommen. Die Beratung zur Schuhversorgung und Klärung, wer zu Hause die Verbandwechsel durchführen wird und sie im Alltag unterstützt, übernimmt der Wundexperte (› Kap. 48). Am 14. Tag wird die Patientin in ihr häusliches Umfeld entlassen (› Abb. 47.2). Ein Pflegedienst wird eingeschaltet, der nach Vorgabe die Verbandwechsel und eine Wundkontrolle sowie Hautpflege durchführt. Der Hausarzt überwacht den Gesundheitszustand, der niedergelassene Diabetologe übernimmt die Insulineinstellung und das an die Klinik angeschlossene Wundzentrum verordnet die Wundauflagen und passt die lokale Therapie an. Eine Podologin übernimmt die podologische Komplexbehandlung und überprüft langfristig die Füße auf Läsionen oder andere Auffälligkeiten. Die Patientin wird vom Wundexperten angeleitet, ihre Schuhe vor dem Anziehen aus-
zuschütteln und zu ertasten, ob der kleine Zeh in der richtigen Position ist, da die Zehenhebersehne zerstört ist. Die Zusammensetzung des fallbezogenen Wundteams ist abhängig • vom Aufenthaltsort der Patienten, z. B. Klinik, Reha-Klinik, häusliches Umfeld, Pflegeheim, • vom Krankheitsbild, z. B. Gefäßerkrankung, Diabetes, dermatologische Erkrankung, • von der Wundbehandlungsart, z. B. OP-Team bei Unterdrucktherapie, • von regionalen Gegebenheiten, z. B. Stadt / Land, Verfügbarkeit von Experten, • von der Mobilität und den finanziellen Möglichkeiten der Patienten. Im aufgezeigten Fall waren 11 unterschiedliche Professionen und Einrichtungen beteiligt. Es können durchaus mehr als 20 Personen am selben Fall beteiligt sein. Allein bei dem Pflegedienst sind durch Urlaub und Krankheit mindestens drei verschiedene Personen eingebunden, im Wundzentrum mindestens drei (Arzt, pflegerische Wundexpertin, MFA), beim Stationsteam ist die Anzahl noch höher. Somit wird ersichtlich, dass sehr gute Abstimmungen, ein standardisiertes Vorgehen und eine übersichtliche und vollständige Dokumentation dringend erforderlich sind.
47.1.3 Strukturen Die Struktur des Wundmanagements ist abhängig von der Einrichtung. Für Krankenhäuser ist es empfehlenswert, dass auf Stationen, die üblicherweise Menschen mit chronischen Wunden behandeln, mindestens zwei pflegerische Wundexperten zugeordnet sind. Diese sollten mit den behandelnden Ärzten die lokale Wundtherapie absprechen, die Verbandwechsel durchführen, den Verlauf beurteilen und dokumentieren. Weitere Aufgaben sind die Patientenedukation und die Regelung der nachstationären Versorgung. Bewährt hat sich die Einrichtung eines zentralen Wundmanagements (ZWM) und zentraler Wundbehandlungsräume (Wundambulanzen). Die Vorteile sind: • Bündelung zeitlicher und personeller Ressourcen.
47.1 Anforderungen an ein Wundteam
• Speziell geschultes Team entwickelt Routine. • Interdisziplinäre Nutzung möglich. • Alle erforderlichen Materialien sind in der Nähe.
• Geräte für Diagnostik und spezielle Therapien
wie z. B. Ultraschall assistiertes Débridement, Kaltplasmatherapie, Lasertechnik können bereitgestellt und so wirtschaftlich genutzt werden. • Hygienische Voraussetzungen sind gegeben. • Behandlungsliege erleichtert das Arbeiten. • Kamera zur Wundfotografie vorhanden. • Digitale Wunddokumentation mit Schnittstelle zu externen Behandlern kann genutzt werden. • Ruhiger Arbeitsbereich bietet gute Gesprächsgrundlage für Anamnese und Edukation. • Die dort tätigen pflegerischen Wundexperten können zudem einen „Konsildienst“ für die Bereiche leisten, die über keine pflegerischen Wundexperten verfügen und nur selten Menschen mit chronischen Wunden versorgen (HNO-Abteilung, Kinderklinik, …). Ideal ist es, wenn für den Konsildienst ein Oberarzt mit verantwortlich zeichnet, ggf. die Diagnostik veranlasst und die Therapie festlegt. Eine Zusatzqualifikation im Bereich der Wunddiagnostik und -behandlung ist empfehlenswert.
Personelle Besetzung Die personelle Besetzung des zentralen Wundmanagements ist abhängig von der Patientenzahl und der medizinischen Ausrichtung der Klinik. Empfohlen werden kann eine pflegerische Planstelle für 400–500 Betten. Da die Kontinuität auch bei Urlaub oder Krankheit gewährleistet werden muss, ist die Besetzung in kleineren Häusern (bis 500 Betten) mit Teilzeitkräften vorzuziehen. Neben der Grundqualifikation als Gesundheits- und Krankenpflegeperson soll für die Funktion als pflegerische Fachexpertin laut DNQP Expertenstandard „Pflege von Menschen mit chronischen Wunden“ ein Grundund Aufbaukurs zum Wundmanagement absolviert werden. Für zugeordnete Ärzte ist neben der Facharztausbildung eine wundbezogene Zusatzqualifikation sehr empfehlenswert.
413
In Reha-Kliniken mit hohem Aufkommen von Wundpatienten ist die Einrichtung eines Wundbehandlungsraums mit Besetzung durch pflegerische Wundexperten sinnvoll. Zudem wird für immobile Patienten ebenfalls ein Konsildienst benötigt. Schwieriger ist in der Regel die ärztliche Versorgung: Wenn die Ausrichtung der Reha-Klinik beispielsweise internistisch, neurologisch oder onkologisch ist, wurden die behandelnden Ärzte in ihrer Ausbildung selten mit chronischen Wunden konfrontiert. Eine Zusatzqualifikation im Bereich der Wunddiagnostik und -behandlung ist in diesem Fall empfehlenswert. Für Krankenhaus und Reha-Klinik ergeben sich Schnittstellen zu den einrichtungsinternen Bereichen Stationen, Ambulanzen, Entlassmanage ment, OP, Physiotherapie, Hygienemanage ment, Küche, Labor, Zentraleinkauf, Apotheke und Ver waltung sowie einrichtungsübergreifend zu nieder gelassenen Fachärzten, Hausärzten, Pflegediensten, Pflegeeinrichtungen und Homecare-Unternehmen. Hier ist die Einrichtung einer Datenbank mit Zusatzinformationen über die Netzwerkpartner hilfreich.
Qualifikation Für die Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden ist ein interprofessionelles und einrichtungsübergreifendes Team erforderlich, das nur funktioniert, wenn alle Akteure gut geschult sind. Hier sind derzeit die größten Schwachstellen auszumachen: Begonnene Therapien werden ambulant nicht weitergeführt oder die Lokaltherapie qualitativ inakzeptabel durchgeführt. Der Heilungsverlauf wird nicht richtig beurteilt und dokumentiert, somit sind rechtzeitige Interventionen oft nicht möglich. Für alle beteiligten Professionen kann festgestellt werden, dass in der Berufsausbildung und im Studium das Thema „chronische Wunden“ eine untergeordnete Rolle spielt. Angebote zur fachlichen Weiterentwicklung sind somit dringend erforderlich. Es gibt spezielle Kurse der Fachgesellschaften Initiative Chronische Wunden (ICW) und Deutsche Gesellschaft für Wundbehandlung (DGfW) sowie überwiegend in Österreich von Herrn Kammerlander, die sich inhaltlich
47
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47 Anforderungen
wenig, von Prüfung, Praxisteil und Umfang deutlich unterscheiden. Alle genannten Kurse sind zertifiziert und werden somit extern überprüft. Bei den Seminaren der ICW sind jährlich acht Stunden Fortbildung zur Thematik gefordert um den Titel nach Ablauf der Gültigkeit von fünf Jahren weiter führen zu dürfen. Somit ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Thematik sichergestellt. Da die praktische Umsetzung des Gelernten in hohem Maß zur Qualität beiträgt, können die Fortbildungspunkte auch durch eine Hospitation in einer anerkannten Wundambulanz erworben werden. Die ideale Voraussetzung für ein Wundteam ist eine gemeinsame theoretische Grundlage. Im Rahmen von internen Fortbildungen und Fallbesprechungen kann die Qualität kontinuierlich verbessert werden.
47.1.4 Prozessorganisation
47
Je mehr Personen an der Behandlung eines Wundpatienten beteiligt sind, umso wichtiger ist die Klärung der Zuständigkeiten. Es gibt immer inhaltliche Überschneidungen, die ohne Absprache zu Doppel- oder Fehlinformationen führen. Dies beginnt bereits bei der Anamnese. Die ärztliche Anamnese fokussiert sich auf Erkrankungen, Diagnostik und Therapie. Die pflegerische Wundanamnese soll laut Expertenstandard DNQP folgende Parameter enthalten: • Wunddiagnostik: – Grunderkrankung – Bisherige diagnostische und therapeutische Maßnahmen • Wundlokalisation: grafisch und schriftlich • Wunddauer, Schweregrad • Rezidivzahl • Einflussfaktoren • Mobilitäts- und andere Einschränkungen, Schmerzen, Ernährungsstatus, psychische Verfassung • Wissen des Patienten / Bewohners und seiner Angehörigen über Ursachen und Heilung der Wunde • Selbstmanagementkompetenzen Hier wird deutlich, dass Doppelerfassungen mit der ärztlichen Anamnese gegeben sind. Die ärzt-
lich erfassten Daten werden teilweise auch für die Pflegedokumentation benötigt. Für die Therapieplanung sind beide Dokumente eine sehr gute Basis. Zur Erfassung der Lebensqualität eignet sich beispielsweise der Wound-QoL-Bogen, den der Patient selbst ausfüllt. Der nächste Prozessschritt ist die Zielvereinbarung unter Einbeziehung des Patienten. Die Wundbeurteilung sollte im Rahmen einer Visite ebenso gemeinsam erfolgen wie die Planung der Lokaltherapie. Ein intern festgelegtes Beurteilungsraster hilft, dass nichts übersehen wird. Beispiel eines Rasters für das Wundassessment: • Wundgröße: Länge, Breite, Tiefe, cm2 • Wundzustand: Gewebeart, Beläge, Taschen • Exsudat: Quantität und Qualität • Wundgeruch: ja / nein • Wundrand: Form, Farbe, Zustand • Wundumgebung: Hautzustand • Infektionszeichen, Allergien • Wundschmerz Je ausführlicher der Dialog zwischen Arzt, Patient und pflegerischem Wundexperten bei der Erstvorstellung erfolgt, desto reibungsloser gestaltet sich der weitere Verlauf. Der Arzt kann die Datenerfassung im Verlauf an den pflegerischen Wundexperten delegieren. Bei unerwarteten Ereignissen ist der Dialog sofort wieder aufzunehmen. Hier sind Erfahrung und Vertrauen für das Team von großem Vorteil. Die Aufgabenzuordnung zwischen ZWM und den Wundexperten auf den Stationen (WE) ist sorgfältig zu definieren. Je nach Auslastung kann das Entlassmanagement dem ZWM oder den WE zugeordnet werden. Ohne Absprache verlässt sich der eine auf den anderen! Gleiches gilt für die Erfassung des Wundassessments bei Aufnahme und Entlassung sowie für die Wundanamnese, die Patientenedukation und Zielüberprüfung. Regelmäßige Arbeitsgruppensitzungen (Wundzir kel), möglichst auch unter Beteiligung der „Wundärzte“, ermöglichen eine zeitnahe Anpassung der Arbeitsabläufe an neue Gegebenheiten. In diesen Sitzungen kann auch die Auswahl von Wundmaterialien gemeinsam mit dem Zentraleinkauf und / oder den Apothekern diskutiert und der Einsatz wundzustandsbezogen definiert werden. Eine regelmäßige Auswertung der Behandlungsergebnisse
47.1 Anforderungen an ein Wundteam liefert Erkenntnisse über die Wirksamkeit der eingeleiteten Therapie, steigert die Qualität, motiviert die Beteiligten durch Erfolgserlebnisse und führt zu objektiven Analysen ihres Handelns. Diese Wundzirkel sollten von der Krankenhausleitung unterstützt und die dort gefassten Beschlüsse sollten für das Krankenhaus verbindlich sein. So kann wirtschaftliches und qualitativ hochwertiges Handeln im Wundmanagement für die gesamte Klinik sichergestellt werden.
47.1.5 Kommunikationsstrukturen Die Dokumentation spielt eine wesentliche Rolle bei der Informationssicherung. Es lohnt sich, ein gut strukturiertes Dokumentationssystem zu nutzen, das einen schnellen Überblick über bereits veranlasste Diagnostik, vereinbarte Ziele, eingeleitete Therapien und den Heilungsverlauf sowie die eingebundenen Institutionen und Behandler ermöglicht. Werden bei jedem Verbandwechsel Wundfotos angefertigt, kann sich der behandelnde Arzt jederzeit über den Wundzustand informieren, ohne den Verband zu entfernen. Dies ermöglicht die erforderliche Wundruhe und die optimale Nutzung zeitlicher Ressourcen für Ärzte und Pflegepersonal. Bei der zurzeit in Kliniken herrschenden Personalknappheit im Pflegebereich ist es sehr hilfreich und notwendig, dass bei den Verbandwechseln nicht auf den Arzt gewartet werden muss. Zur Erleichterung der einrichtungsübergreifenden Informationsvermittlung sowie zur Qualitätssicherung ist die Nutzung eines digitalen Systems zur Wunderfassung und Dokumentation sehr empfehlenswert. In manchen Krankenhausinformationssystemen (KISS) ist eine rudimentäre Wunddokumentation enthalten. Das Problem besteht allerdings darin, dass diese Systeme aus datenschutzrechtlichen und sicherheitsbezogenen Aspekten keine Schnittstelle mit dem ambulanten Bereich zulassen. Daher kann eine webbasierte Insellösung für die Wundambulanz hier eine Möglichkeit sein. Vorteile: • Zentrale Sammlung aller Wundparameter • Möglichkeit der statistischen Auswertung und somit der Qualitätskontrolle • Kontrolle über Materialverbräuche
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• Erkennung von Problemen, z. B. Anstieg multiresistenter Erreger
• Kommunikation mit dem Netzwerk: Über-
leitungsdokumente werden automatisch erstellt
• Voraussetzung für Telemedizin • Konsil: Behandlungspläne können ausgedruckt an die Stationen gegeben werden
• Alle Kontaktinformationen zu Netzwerkpartnern können hinterlegt werden
47.1.6 Fazit Als Wundteam kann eine einrichtungsinterne Abteilung, bestehend aus den zuständigen Ärzten und pflegerischen Wundexperten, verstanden werden. Es entstehen Schnittstellen zu allen Bereichen der Einrichtung, die durch Klärung der Informationswege und Zuständigkeiten bestmöglich beschrieben werden sollten. Eine Stellenbeschreibung für die pflegerischen Wundexperten ist sehr empfehlenswert. Für den ärztlichen Bereich ist die Klärung der Zuständigkeiten interdisziplinär erforderlich. Wird ein „Wundarzt“ vom Direktorium berufen, ist er in der Regel interdisziplinär zuständig. In anderen Einrichtungen ist der jeweilige Facharzt zuständig. Mindestens ein geeigneter Behandlungsraum sowie eine geeignete Wunddokumentationssoftware werden benötigt. Der Erfolg ist von der Kompetenz der Akteure, der Umsetzung des Konzeptes sowie von geeigneten Kommunikationsstrukturen abhängig. LITERATUR Bauer P, Otto U (Hrsg.). Mit Netzwerken Professionell Zusammenarbeiten. Band II: Institutionelle Netzwerke in Steuerungs- und Kooperationsperspektive. Tübingen: dgvt-Verlag; 2005. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP). Expertenstandard Pflege von Menschen mit chronischen Wunden. https://www. dnqp.de/fileadmin/HSOS/Homepages/DNQP/Dateien/ Expertenstandards/Pflege_von_Menschen_mit_chronischen_Wunden/ChronWu_Akt_Auszug.pdf (letzter Zugriff: 26.2.2019). Initiative Chronische Wunden e. V. (Hrsg.). Lernbegleitbuch ICW. 3. A. Eigenverlag; 2017. London F. Informieren, Schulen, Beraten. Praxishandbuch zur Patientenedukation. 2. A. Bern: Hans Huber; 2010.
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47 Anforderungen
Panfil EM, Schröder G (Hrsg.). Pflege von Menschen mit chronischen Wunden. 3. A. Bern: Hans Huber; 2015. Schicker G. Praxisnetze im Gesundheitswesen. In: Schubert H (Hrsg.): Netzwerkmanagement. Koordination von professionellen Vernetzungen. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2008; 146–166.
Voigt W (Hrsg.). Kommunikation und Transparenz im Gesundheitswesen. Marburger Schriftenreihe.BadenBaden: Nomos; 2015. Wimmer A, Wimmer J, Buchacher W, Kamp G. Das Beratungsgespräch. Skills und Tools für die Fachberatung. Wien: Linde; 2012.
47.2 Anforderungen an das Entlassmanagement und die strukturierte ambulante Wundversorgung Kernaussagen • Die Entlassung von Patienten aus der Klinik muss gut vorbereitet werden. • Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Einrichtungen ist sicherzustellen.
47.2.1 Entlassmanagement
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Um den in der Klinik eingeleiteten Behandlungsprozess ambulant fortführen zu können, bedarf es einer strukturierten Überleitung. Dies ist im SGB V gesetzlich geregelt: SGB V § 39 Krankenhausbehandlung (1) „ … Die Krankenhausbehandlung umfasst auch ein Entlassmanagement zur Lösung von Problemen beim Übergang in die Versorgung nach der Krankenhausbehandlung … “. Ein Entlassungsbrief an den Hausarzt ist absolut nicht ausreichend, da in der Regel weitere Behandler eingebunden werden müssen. Je nach Krankheitsbild und Selbstpflegemöglichkeit des Patienten variiert die Zusammensetzung der zu informierenden Personen und Institute. Daher beinhaltet die Arbeit einer Überleitungspflege eine Bedarfsanalyse, Identifikation der ambulanten Behandler, des Hilfsmittelbedarfs, der benötigten Materialien und Leistungen. Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) hat zu diesem Thema einen eigenen Expertenstandard entwickelt. Der DNQP-Expertenstandard „Entlassmanagement in der Pflege“ hat folgende Zielsetzung: „Jeder Patient mit einem poststationären Pflege- und Unterstützungsbedarf erhält ein individuelles Entlassungsmanagement zur Sicherung einer kontinuierlichen und bedarfsgerechten Versorgung.“ Voraussetzung ist das schriftliche Einverständnis des Patienten. Bei der Auswahl der ambulanten Leistungserbringer hat der Patient ein uneingeschränktes
• Ein funktionierendes Netzwerk erleichtert die intersektorale Kooperation.
Wahlrecht. Vorgefertigte Überleitungsprotokolle erleichtern eine strukturierte Dokumentation. Bei Bedarf kann der Klinikarzt Wundauflagen und Medikamente für die ersten sieben Tage nach der Entlassung verordnen. Hierdurch sollen Versorgungsabbrüche oder Unterbrechungen vermieden werden.
47.2.2 Erfordernisse im ambulanten Sektor der Wundversorgung Die Information und Koordination der Akteure ist im ambulanten Sektor noch herausfordernder als in der Klinik, da es keine gemeinsame Dokumentationsgrundlage und keine klare Aufgabenzuordnung gibt. Beispiel: Ein Patient mit Ulcus cruris venosum wird von seinem Hausarzt, dem Gefäßchirurgen, dem Physiotherapeuten und dem Pflegedienst betreut. Wer verordnet die Kompressionstherapie? Wer schult den Patienten bezüglich gesundheitsförderlichen Verhaltens? Wer überprüft den Erfolg der Kompressionstherapie? Eine klare Absprache unter den Beteiligten ist eine gute Voraussetzung für ein erfolgreiches Agieren. Unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots und der rechtlichen Vorgaben sollte eine Aufgabenzuordnung so erfolgen, dass die Abläufe strukturiert sind. Anhand des oben genannten Beispiels hier ein Vorschlag: Der Hausarzt erkennt die Notwendigkeit der Behandlung und überweist an
47.2 Anforderungen an das Entlassmanagement und die strukturierte ambulante Wundversorgung den Gefäßchirurgen. Dieser führt die Diagnostik durch und leitet die Kausaltherapie ein. Er verordnet manuelle Lymphtherapie sowie die Wundauflagen und ein Mehrlagensystem zur Kompressionstherapie und schaltet einen Pflegedienst zur Wundversorgung und Kompressionsanlage ein. Die Medizinische Fachangestellte mit Zusatzqualifikation zur Wundbehandlung misst den Wadenumfang, legt den ersten Verband und den Kompressionsverband korrekt an und informiert den Patienten, dass Bewegung sowie das Hochlegen der Beine mehrmals täglich die Therapie unterstützen. Bei der Wiedervorstellung in der gefäßchirurgischen Praxis wird der Wadenumfang zur Qualitätskontrolle erneut vermessen. Die genannten Aufgaben können natürlich auch anders verteilt werden. Es kommt auf die Akteure und die Situation an. Daher sind Kommunikation und Dokumentation unerlässliche Mittel zur Sicherstellung der Prozesse.
47.2.3 Qualitätssicherung Die Sicherstellung der Qualität zur Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden ist eine große Herausforderung. Dies ist darin begründet, dass es nicht nur um die Standards der eigenen Einrichtung geht, sondern auch um die Standards der eingebundenen Partner. Der vorgegebene Therapieplan soll fachgerecht umgesetzt, die Wirksamkeit der Maßnahmen überprüft sowie Veränderungen erkannt und rückgemeldet werden. Das erfordert eine gute Auswahl der eingebundenen Partner und den Aufbau geeigneter Kommunikationsstrukturen. Dies wird wieder an einem Beispiel besser verständlich: Beispiel: Bei Frau X., Patientin mit einem Ulcus cruris mixtum, wird vom Hausarzt eine Wundinfektion mit einem multiresistenten Pseudomonas aeruginosa diagnostiziert. Die lokale Wundtherapie muss angepasst werden. Der Pflegedienst ist schnellstmöglich zu informieren. Der Gefäßchirurg benötigt die Information ebenso wie alle an der Behandlung beteiligten Personen. Patientin und Angehörige sind in Hygienemaßnahmen einzuweisen.
417
Um einrichtungsübergreifend Qualität zu messen und sicherzustellen, sind somit geeignete Instrumente erforderlich. Neben der Dokumentation ist die Kommunikation hierzu unerlässlich. Hilfreich kann auch die Führung eines „Wundpasses“ sein, den die Patienten zu jedem Arztbesuch mitbringen. Hier können diagnostische und therapeutische Maßnahmen eingetragen und der Wundzustand vermerkt werden. Entsprechende Dokumente sind bereits verfügbar, so z. B. der ICW Wundpass, der kostenlos über die Homepage der ICW abgerufen werden kann. Ziel ist die Vermeidung von Doppeluntersuchungen, die Beurteilung des Verlaufs und die Überprüfung der Wirksamkeit der Therapie.
Netzwerkaufbau Der Aufbau von regionalen Netzwerken erleichtert die Zusammenarbeit sehr. Im Rahmen von Qualitätszirkeln können unter den Partnern Kommunikationsstrukturen vereinbart werden, die somit nicht bei jedem neuen Fall diskutiert werden müssen. Der Deutsche Wundrat e. V. und die ICW e. V. haben einen Expertenrat zur Strukturentwicklung in der Wundversorgung eingerichtet, der aus ärztlichen und pflegerischen Wundspezialisten, Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigung, Krankenkassen, Politik, der medizinischen und pflegerischen Fachgesellschaften sowie der Medizintechnologie zusammengesetzt ist. Diese Experten haben ein Thesenpapier verfasst, Qualitätsanforderungen der jeweiligen Berufsgruppen definiert, die erforderliche Diagnostik und Therapie für die Diagnosen diabetisches Fußsyndrom, Dekubitus und Ulcus cruris beschrieben. Als Best Practice wird die Bildung eines regionalen Netzwerkes angesehen. Hier ein noch nicht abschließend konsentierter Vorabdruck zur Definition erforderlicher Qualität: • Das Netzwerk sichert die interprofessionelle, interdisziplinäre und transsektorale Versorgung im Bereich von chronischen Wunden und / oder palliativer Wundbehandlung. • In diesem Netzwerk arbeiten die Versorgungsbereiche und an der Versorgung beteiligten
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47 Anforderungen
Berufsgruppen transparent, kontinuierlich und qualitätsgesichert zusammen. • Die am Netzwerk Beteiligten erarbeiten zunächst die regional notwendigen Struktur- und Prozesskriterien, um dann gemeinsam die Aufgaben, die Verantwortlichkeiten und den Weg der Kommunikation zu definieren. Zur Selbstorganisation benennt das Netzwerk eine Netzwerkkoordination. • Das Netzwerk entwickelt Standards für alle erforderlichen Prozessschritte. • Das Netzwerk stellt sicher, dass ein Lotse für jeden Wundpatienten zur Verfügung steht. Aufgabe des Lotsen ist die Koordination der Netzwerkpartner. • Jeder Netzwerkpartner ist eigenverantwortlich und verpflichtet sich, die Versorgung leitliniengerecht und in der geforderten Sorgfalt, Vollständigkeit, Richtigkeit und Qualität zeitgerecht durchzuführen. • Die umfassende Dokumentation aller durchgeführten Schritte ist verpflichtend. • Das Netzwerk schafft eine gemeinsame Kommunikationsplattform, um einen routinemäßigen, niederschwelligen und strukturierten Informationsaustausch zwischen den Beteiligten zu ermöglichen. • Das Netzwerk führt regelmäßig Netzwerktreffen, Fallkonferenzen und Qualitätszirkel durch.
47.2.4 Fallmanagement In Rheinland-Pfalz ist im Oktober 2018 das Projekt Versorgungsmanagement Wunde (VeMaWuRLP) gestartet. Ziel ist, ein flächendeckendes Versorgungsmanagement zur Begleitung von Menschen
47
mit chronischen Wunden zu etablieren. Damit sollen eine Erhöhung der Therapietreue sowie ein besseres Ergebnis erreicht werden. Fallmanager schulen den Patienten und seine Angehörigen, um ein motivierendes Lebensumfeld zu schaffen. Das Projekt läuft über insgesamt drei Jahre. Bei positivem Studienausgang soll die Vorgehensweise in der Regelversorgung etabliert werden.
47.2.5 Fazit Der Erfolg der Wundbehandlung hängt maßgeblich mit der Qualität der Durchführung verordneter Maßnahmen zusammen. Ein verlässliches Netzwerk ermöglicht eine kontinuierliche Weiterentwicklung und erleichtert den Informationstransfer. Zurzeit ist leider der notwendige Aufwand nicht gegenfinanziert. Entsprechende Modellvorhaben sollen per Studie den Nutzen belegen und eine Basis für die Übernahme des Fallmanagements in die Regelversorgung bilden. LITERATUR Bauer P, Ullrich O (Hg.). Mit Netzwerken Professionell Zusammenarbeiten. Band II: Institutionelle Netzwerke in Steuerungs- und Kooperationsperspektive. Tübingen: dgvt-Verlag; 2005. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP). Expertenstandard Entlassmanagement in der Pflege. 2009. https://www.dnqp.de/fileadmin/HSOS/ Homepages/DNQP/Dateien/Expertenstandards/Entlassungsmanagement_in_der_Pflege/Entlassung_Akt_Auszug.pdf (letzter Zugriff: 26.2.2019). Schicker G. Praxisnetze im Gesundheitswesen. In: Schubert H (Hrsg.): Netzwerkmanagement. Koordination von professionellen Vernetzungen. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2008; 146–166. Voigt W (Hrsg.). Kommunikation und Transparenz im Gesundheitswesen. Marburger Schriftenreihe.BadenBaden: Nomos-Verlag; 2015.
KAPITEL
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Matthias Augustin, Rachel Sommer
Gesundheitsökonomie und personenzentrierte Versorgung chronischer Wunden in Deutschland Kernaussagen
• Chronische Wunden sind von erheblicher sozioökonomischer Bedeutung und erfordern aufgrund des hohen Leidensdrucks der Patienten und häufiger Befundeskalation frühzeitiges und sachgerechtes Handeln. • Aus gesundheitsökonomischer Sicht kommt der Vermeidung der Wundentstehung durch rechtzeitige kausale Behandlung sowie der schnellen Erkennung und evidenzbasierten Behandlung auftretender Wunden eine hohe Bedeutung zu. • Gesundheitsökonomisch von Nutzen sind a. die gute Qualifizierung der versorgenden Ärzte und Pflegenden, b. der Einsatz von Leitlinien und Standards,
48.1 Kosten und Versorgungslage chronischer Wunden in Deutschland Chronische Wunden gehen weltweit mit erheblichen sozio-ökonomischen Lasten für Staat und Gesellschaft wie auch relevanten Einbußen der Lebensqualität bei Betroffenen und Angehörigen einher. Wesentliche Determinanten dieser direkten und indirekten Kosten sind die protrahierten Krankheitsverläufe, die sich Jahre oder sogar Jahrzehnte erstrecken, die erhebliche Komorbidität der Menschen sowie ausgeprägte körperliche, psychische und soziale Beschwerden als Folge der Wunden. Durch die lange Entstehungszeit, aber auch durch die vorausgehende Entwicklung der zugrunde liegenden Pathologie, z. B. Gefäßerkrankungen, entsteht ein langfristiger, kontinuierlicher Bedarf nach Versorgung, der in Deutschland wie auch in den meisten anderen Ländern häufig nicht hinreichend gedeckt ist.
c. das Arbeiten in Netzwerken, d. die Kommunikation der Versorgenden über den einzelnen Patienten sowie e. die Verfügbarkeit sachgerechter Informationen am Ort. Digitale Technologien werden zukünftig zu einer Erhöhung der Wirtschaftlichkeit in diesen Bereichen beitragen. • In der Versorgung gilt nach deutschem Sozialrecht das Primat „Nutzen vor Kosten“. • Die Determinanten von Kosten wie auch die Möglichkeiten der Kostenvermeidung sind gut beschrieben und bedürfen in der Praxis kontinuierlicher Beachtung.
Die ökonomische Bedeutung der chronischen Wunden liegt jedoch nicht nur in der Entstehung monetärer Kosten für die Betroffenen, ihre Angehörigen, die Krankenversicherungen und den Steuerzahler, sondern auch in den intangiblen Kosten, d. h. den Belastungen für die Betroffenen und ihr Umfeld. So weisen über 90 % der Patienten mit Ulcus cruris erhebliche Einbußen ihrer Lebensqualität und nachhaltige Beeinträchtigungen ihrer Lebensumstände auf. Das letztere Konzept wird als „Cumulative Life Course Impairment“ (CLCI) bezeichnet. Es beinhaltet die Einsicht, dass die unterbliebene frühzeitige Verbesserung der Wundsituation zu einem z. T. nicht mehr reversiblen Schaden für die Betroffenen führt („Missed Opportunities“), selbst wenn die Wunde wieder abheilt. Auch ist protrahiertes Leid über die Zeit ein ökonomischer Malus. Etwa 80 % der Betroffenen leiden etwa unter starken Schmerzen, davon etwa 50 % ohne relevante Besserung durch die bisherige Schmerztherapie. Neben den Schmerzen und
420
48 Gesundheitsökonomie und personenzentrierte Versorgung chronischer Wunden in Deutschland
der ständigen Behandlungsbedürftigkeit sind die Patienten von einer Vielzahl weiterer Belastungen und daraus resultierend Therapiebedarfen betroffen. Im „Patient Needs Questionnaire“ zeigte sich anhand von 22 Items, dass im Versorgungsmanagement chronischer Wunden neben dem vorrangigen Ziel der kompletten Wundheilung auch intermediäre Ziele wie die Schmerzminderung, Verbesserung der Mobilität, die Minderung unangenehmer Gerüche und das Exsudatmanagement von großer Bedeutung sind. Patientenseitige Belastungen wie „Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung“ oder „Verlust von Autonomie“ spielen ebenfalls eine große Rolle für die Planung patientenzentrierter Versorgung. Diese intangiblen Kosten sind ein wesentliches Argument dafür, chronische Wunden frühzeitig und konsequent zu versorgen oder – noch besser – zu vermeiden. Maßstab ökonomischen Handelns ist dabei das Anliegen der Vereinten Nationen (UNO) in ihren „Sustainable Goals“ und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach einem rechtzeitigen und ausreichenden Zugang zu sachgerechter medizinischer Versorgung im Sinne der „People-centered Health Care“. Die Versorgung dieser Wunden bleibt nach den aktuellen Erkenntnissen der Versorgungsforschung hinter ihrem Potenzial zurück. Zielsetzung des vorliegenden Kapitels ist es, wichtige gesundheitsökonomische Erkenntnisse zur Versorgung chronischer Wunden auf dem Boden von Studiendaten und Erhebungen in Deutschland zu charakterisieren. Es wird dabei herausgestellt, dass ökonomische Vorgehensweise und solidarische Versorgung kein Widerspruch sind, sondern sich in der Versorgung chronischer Wunden bedingen.
48.3 Ergebnisse 48.3.1 Systematische Literaturrecherche In der Recherche zur Gesundheitsökonomie chronischer Wunden fanden sich bis 2017 insgesamt 492 relevante Arbeiten, die sich relativ gleichmäßig auf das Ulcus cruris, diabetisches Fußsyndrom, Dekubitalulzera und Wunden im Allgemeinen verteilten (› Abb. 48.1). Von diesen 492 Arbeiten stammten 21 (4,3 %) aus Deutschland. Häufigste Themen der gesundheitsökonomischen Analysen waren Kosten im Allgemeinen (56 %), gefolgt von Kosten-Effektivitätsuntersuchungen (22 %), Krankheitskostenstudien (13 %) und Modellierungen (7 %; › Abb. 48.2). In den Publikationen zu therapeutischen Maßnahmen dominierten Arbeiten über Wundversorgung allgemein (50 %), gefolgt von Lokaltherapien (20 %) und Kompressionstherapie (15 %). Chirurgische Interventionen waren mit 7 % seltener vertreten (› Abb. 48.3). Die gesundheitsökonomischen Analysen beruhten dabei weit überwiegend auf Daten aus klinischen Studien (59 %), gefolgt von Metaanalysen
48.2 Methoden
48
Folgende Methoden wurden zur Aufarbeitung eingesetzt: 1. Systematische Literaturanalyse in den internationalen medizinischen Datenbanken (Pubmed) inkl. ergänzende Handrecherche 2. Multisource-Datenanalyse durch eigene Primärund Sekundärdatenquellen
Abb. 48.1 Gesundheitsökonomische Analysen bei chronischen Wunden: Verteilung der Indikationen (n = 492 Studien) [P593/L231]
48.3 Ergebnisse
421
Abb. 48.4 Gesundheitsökonomische Analysen bei chronischen Wunden: Verteilung der Studientypen [P593/L231]
Abb. 48.2 Gesundheitsökonomische Analysen bei chronischen Wunden: Verteilung der Kostenthemen (COI = Costof-Illness-Studien) [P593/L231]
Die Erkenntnisse aus der publizierten Literatur werden nachfolgend synoptisch zusammengefasst.
48.3.2 Erkenntnisse aus der publizierten Literatur
Abb. 48.3 Gesundheitsökonomische Analysen bei chronischen Wunden: Verteilung der Therapiebereiche [P593/L231]
(18 %), systematischen Reviews (13 %) und epidemiologischen Studien (10 %; › Abb. 48.4).
Chronische Wunden sind in Deutschland häufig und mit hohen direkten Kosten verbunden. Durch den demografischen Wandel, die sehr heterogenen Ätiologien und die immanente Zunahme von Risikokrankheiten wie peripheren Gefäßleiden und Diabetes mellitus steigt auch die sozio-ökonomische Bedeutung der chronischen Wunden. Mehrere Primärdatenstudien haben gleichermaßen gezeigt, dass die Behandlung der chronischen Wunden mit Blick auf die Jahreskosten insbesondere aus Kostenträgersicht der GKV von hoher Relevanz sind (› Tab. 48.1). Die mittleren Kosten für das Ulcus cruris betrugen beispielsweise in Deutschland im Schnitt jährlich 9.500 €. Mittlere Exzess-Jahreskosten von etwa 8.000 € fanden sich
Tab. 48.1 Prävalenz und Krankheitskosten des Ulcus cruris in Deutschland nach Einzelkostenrechnung Wundart
Prävalenz in D (ca) 0,31
Personen in D (ca.) 254.200
Mittlere Zeit bis Abheilung (Mon.) 48
Direkte Kosten pro Patient / Jahr (Euro) € 10.000
Jahreskosten in (Mrd. Euro) 2,54
Dekubitus
0,35
287.000
72
€ 8.000
2,30
Ulcis cruris
0,42
344.400
65
€ 12.000
4,13
Diabetisches Fußulcus
Gesamt
885.600
8,97
48
422
48 Gesundheitsökonomie und personenzentrierte Versorgung chronischer Wunden in Deutschland
Abb. 48.5 Einbußen der Lebensqualität bei Patienten mit chronischer Veneninsuffizienz (Widmer-Stadium I – IIIa, in grau-blau) und mit Ulzera (in orange-rot). In den verschiedenen Dimensionen: Schlecht heilende Wunden (H2H, Hard-to-Heal-Wunden jeglicher Genese) weisen die höchsten Krankheitslasten auf. In blau wird die Lebensqualität dargestellt, die durch Ulkusheilung potenziell zu gewinnen ist. [P593/L231]
48
bei Ulcus cruris, bei arteriellen Ulzera sogar von über 10.000 € pro Patient und Jahr. Chronische Wunden gehen mit erheblichen intangiblen Kosten (Einbußen an Lebensqualität) und hoher Krankheitslast einher. Diese determinieren die Ziele der Behandlung. Die Belastungen der Lebensqualität finden sich bei fast allen Patienten (> 95 %) und betreffen alle Teilbereiche wie körperliches und psychisches Befinden, soziale Kontakte, Beruf und Freizeit sowie die Therapie selbst (› Abb. 48.5). Aus den Einbußen an Lebensqualität und der hohen Krankheitslast dieser Patienten resultieren wichtige Therapieziele („Patient Needs“), die im Einzelfall zu ermitteln sind (› Tab. 48.2). Deren Zielerreichung wird als relevanter ökonomischer Nutzen der Behandlung angesehen. Häufigste genannte Therapieziele sind nach kompletter Heilung die Minderung von Schmerzen, Exsudat und Geruch, aber auch allgemeine Anliegen wie weniger
Tab. 48.2 Häufigste genannte Ziele der Behandlung chronischer Wunden aus Patientensicht, gemessen an n = 290 Patienten mit dem Patient Benefit Index (PBI) 10 häufigste Therapieziele bei Wunden Vollständige Wundheilung
% der Patienten 100
Schmerzfrei sein
97
Weniger belastet durch Arzt- und Klinik- 96 termine sein Einen normalen Alltag führen können
94
Vertrauen in die Therapie haben
92
Keinen Ausfluss aus der Wunde haben
92
Keinen schlechten Geruch aus der Wunde haben
89
Keine Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung haben
86
Eine klare Diagnose und Therapie finden 85 Weniger Zeit für die tägliche Behandlung 84 benötigen
48.3 Ergebnisse
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Abhängigkeit von Ärzten und Kliniken sowie Rückkehr in ein normales Alltagsleben (› Tab. 48.2). Stärkste Kostenfaktoren bei chronischen Wunden sind die stationäre Krankenhausbehandlung, gefolgt von Ressourcenbindung für Pflegepersonal und für Wundmaterial. Wesentliche Kostenfaktoren der Versorgung chronischer Wunden am Beispiel des Ulcus cruris sind die stationäre Behandlung und ambulante Pflege, gefolgt von den topischen Wundtherapeutika (› Abb. 48.6). Klinische Prädiktoren der Krankheitskosten sind die Wundgröße, Wunddauer und das Vorliegen arterieller Durchblutungsstörungen. In einer umfassenden Real-World-Studie an Patienten aller Versorgungsbereiche zeigten sich in der Regressionsanalyse die stationäre Therapie sowie klinische Unterschiede als wichtige Prädiktoren (› Tab. 48.3, › Tab. 48.4).
Abb. 48.6 Kostenverteilung in der Versorgung chronischer Wunden nach Kostengruppen (n = 526 Patienten) [P593/L231]
Tab. 48.3 Korrelationsanalyse und Regressionsanalyse (› Tab. 48.4) mit den Prädiktoren bzw. Gruppenunterschieden höherer Kosten in der Versorgung des Ulcus cruris Parameter Krankenhausaufenthalte
Einheit Anzahl
Korrelation mit Kosten r = p .651 < 0,001
n 502
Wundgröße
cm2
.472
< 0,001
502
Anzahl Wunden
n
.437
< 0,001
502
Wunddauer
Jahre
.321
< 0,001
502
Lebensqualität
FLQA Score
.267
< 0,001
502
Versorgungsqualität
Qualitäts-Index
.257
< 0,001
502
Tab. 48.4 Korrelationsanalyse (› Tab. 48.3) und Regressionsanalyse mit den Prädiktoren bzw. Gruppenunterschieden höherer Kosten in der Versorgung des Ulcus cruris Parameter Wundtyp
Behandlung in Pflegedienst Wundschluss Alleinlebend
Subgruppe Ulcus cruris venosum
Mittlere Kosten / Jahr [€] 8.847
Arterielles Ulkus
13.060
Gemischtes Ulkus
11.917
Wundzentrum
11.802
Hausarzt
9.011
Ja
7.057
Nein
14.971
Intermittierend
8.606
Nein
10.894
Ja
11.063
Nein
9.366
Test
p