Cézanne, Klee, Kandinsky: Zur Phänomenologie der Kunst des Sehens 9783495823798, 9783495491829


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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee)
1.1 Ein kleiner Spaziergang von Paul Klee
1.2 »Ich gehe, also bin ich« – Geist in Bewegung
1.3 Bewegung und Zeit
1.3.1 Das Problem von Zeit und Bewegung in der Philosophie
»in der Zeit leben« – Aristoteles
»Zeit erleben« – Augustinus
»die Zeit leben« – Kohelet 3,1–8
1.3.2 Bewegung bei Klee
1.3.3 Zeitlichkeit der Bewegung
2 Kurze Einführung in die Phänomenologie
2.1 Phänomenologische Grundbegriffe bei Husserl
2.2 Phänomenologie als Theorie der Erfahrung (Waldenfels)
(1) Phänomenologie »beschreibt«: Phänomenologie geht von Erfahrung aus.
(2) »indem sie selbst einen Gesichtspunkt einnimmt«: die intentionale Erfahrung.
(3) »schließlich die ›Rückbeziehung der Phänomenologie auf sich selbst‹ – kritische Deutung.
2.3 Strukturphänomenologie nach Heinrich Rombach
2.4 Bernhard Waldenfels – responsive Phänomenologie
2.5 Grundphänomene Sagen – Hören – Sehen
Sehen – Sagen
Hören – Sehen
3 Ikonik – Phänomenologie des Sehens
3.1 Grundphänomen »Wahrnehmen«
3.2 Bildsehen nach Edmund Husserl
3.3 Ikonik nach Max Imdahl
3.4 Maurice Merleau-Ponty – Paul Cézanne, sein Lehrer
3.5 Bernhard Waldenfels – Grundphänomen Sehen
Grundphänomen Sehen
Phänomenologische Epochè
3.5.1. Grundformel: »etwas als etwas« Sehen – Semantik des Sehens.
Sinn des Bildes zeigt sich genetisch
3.5.2. Grundformel: Sehen ist bild- und leibhaftes Sehen – Syntax des Sehens
Körper und Leib
Leibhaftiges Malen
3.5.3. Sehereignis – »Sehen in Bildern und gemäß Bildern«
Medium Bild
fungierendes Bildmedium
Reflexivität des Mediums Leib
Bild und neue Wirklichkeit
4 Ikonische Differenz
4.1 Zeitlichkeit der Ikonischen Differenz
»Zeit-Sinn« (Eikon 108–109); (OZ 138, 138)
4.2 Logik der Bilder
4.3 Ikonische Differenzen – Syntax und Semantik des Sehens
4.4 Bild, Bildsyntax, Bildlichkeit
Nullpunkt ›hier-jetzt‹ und Horizont des Bildes
Bild-Sinn
5 Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7)
5.1 Gleichnisse: Sonne (507b ff) Linie (509d ff)
Das Sonnengleichnis (507b ff)
Das Liniengleichnis (509d ff)
5.2 Höhlengleichnis (514a ff)
5.3 Platons Mirror von Mischa Kuball
5.4 Bild, Abbild, Bildlichkeit
6 Paul Cézanne
6.1 Kopernikanische Wende des Sehens
Die Zentralperspektive bei Cézanne
6.2 Kunst des Sehens
6.2.1 Ordnung des Sehens
6.2.2 Nur Farben sind wahr
Farbflecken
Textur
6.2.3 Geometrie
6.2.4 Neue Sehordnung
Neue Bildidee
Tiefe – dritte Dimension
Auge und Geist
6.3 Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«
6.3.1 Motiv Natur
6.3.1.1 Montagne Sainte-Victoire
6.3.1.1.1 Ikonologisch ikonographisch
Vor-ikonographische Beobachtungen
Ikonographische Bemerkungen
Ikonologische Bedeutung
6.3.1.1.2 Ikonik
6.3.2 Sensation colorante et colorée
Die Diskussion um »disegno (Zeichnung)« und »colore (Farbe)«
Empfindung und Realität
6.3.2.1 Palette und Logik der Farben
Farbpalette
Farbenlogik
Farbmodulationen
6.3.2.2 Ikonische Differenz
Potentialität
Simultaneität
6.3.2.3 Leben – Stillleben – Bildnisse
Tiefe
6.3.2.3.1 Stillleben
6.3.2.3.2 Bildnisse
6.3.3 Realisieren – das Problem Cézannes
6.3.3.1 Das Problem Motiv – »nach der Natur realisieren«
6.3.3.2 Das Problem der »sensation«
6.3.3.3 Das Problem Realisieren
Auge und Geist
6.3.3.4 Medium Leib – reflexives leibhaftiges (Sich)Sehen
6.4 Bild – Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens
6.4.1 Bewegung – Sehen ist beweglich
6.4.2 Bild-Zeit
6.4.2.1 Zeitsinn
6.4.2.2 Malen ist leibhaft und zeitlich
6.4.2.3 Augenblick – Kairos
6.4.3 Bildraum
Sichtbar – unsichtbar
6.4.4 Bild – Ereignis des Sehens und Sichtbarmachens
7 Paul Klee
Revision der Perspektive
7.1 Phänomenologie der Kunst des Sehens
7.1.1 Schema des Kunstsehens im »Naturstudium«
Totalisierung
7.1.2 Exkurs: Heideggers »Geviert«
7.2 Bildnerisches Denken – Bewegungslehre
7.3 Bildnerische Formlehre (BF)
7.3.1 Bildnerische Mittel – Elementare Formen
7.3.1.1 Punkt der spazieren geht
Punkt – der spazieren geht
7.3.1.2 Linien als Bewegungsspuren
Linie – Formen
Linie Spur »Bewegungsphysiognomik«
Linie – organologisch
7.3.1.3 Fläche Raum
Raum
Perspektive
7.3.2 Bildnerische Mittel: Gewicht – Hell-Dunkel – Tonalität
7.3.2.1 Gewicht – Waage
7.3.2.2 Hell-Dunkel Werte
7.3.2.3 Tonalität
Struktur – Takt – Rhythmus
Strukturale und individuelle Rhythmen
7.3.3 Bildnerische Mittel: Farbe
Farben nach dem Tagebuch
7.3.3.1 Delaunay
Simultaneität und »Zeit-Sinn«
7.3.3.2 Farbe – Qualität
7.3.3.3 Kosmologie der Farben
7.3.4 gegenständliche Dimension: Konstruktion Gestalt Name Stil
Gliederung – Konstruktion
Namen
7.3.5 stilistische Dimension – Komposition
Ausdruck
Stil
7.4 Bildnerische Gestaltungslehre (BG)
7.4.1 Schöpfung
Genesis »ab ovo«
Kunst als Schöpfung
7.4.2 Leben
Natur
Dynamischer Kosmos
Organismen
7.4.3 Mensch
7.4.4 Geist
7.5 Bewegung: vom Künstler zum Bildbetrachter
Bewegung und Zeit
7.5.1 Künstler und Betrachter sind beide produktiv und rezeptiv
7.5.2 Zeitbestimmte Bildelemente
Linie
Pfeil
Farbe
Auge
7.6 Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez
Musik und Klee
7.6.1 Zeitlichkeit von Musik und Kunst
Zeitmodi in Bild und Musik
7.6.2 Linien, Töne, Perspektiven
Melodische Linien
Haupt- und Nebenlinien (Boulez 51–54, 60–61)
Klang-Perspektiven
7.6.3 Struktur Takt Rhythmus
Takt Struktur
Rhythmen
Schachbrett
7.6.4 Polyphonie Komposition
Komposition
Organische Komposition
7.6.5 Johann Sebastian Bach
7.6.6 Klee im Fruchtland Ägypten
8 Kandinsky
Stationen der Kunst Kandinskys
8.1 Das »Bild«: Heuhaufen Monets und Moskau
8.2 Phänomenologischer Ansatz
8.2.1 Innen Außen
8.2.2 Reduktionen
Eidetische Reduktion
Phänomenologische Reduktion
Transzendentale Reduktion
Prinzip der inneren Notwendigkeit
Geist Seele
Der Blaue Reiter
8.2.3 Bewegung (Klee) – Spannung (Kandinsky)
8.3 »Über das Geistige in der Kunst« (ÜG)
Zeitlicher Hintergrund
8.3.1 Inhalt von ÜG – Farben physisch psychisch
8.3.1.1 Die Methode von ÜG
Kontrast – Kontrapunkt – Komposition
8.3.1.2 Farbe physisch-psychisch
Kapitel VI. Formen- und Farbsprache
8.3.2 Synästhesie von Sehen und Sinnen
8.3.3 Farbe – Musik
8.3.4 Farbe und Form
Farbschemata
8.4 Über die Formlehre (ÜF)
8.4.1 Große Abstraktion
Bild-Dinge: gegenständlich – abstrakt
Was ist abstrakt?
Abstrakt oder gegenstandslos
›Konkrete‹ Kunst
Farbe und Form
8.4.2 Große Realistik
»Reinkünstlerisches« – »Gegenständliches«
8.4.3 Große Abstraktion und Große Realistik sind identisch
8.5 Von Punkt und Linie zu Fläche (PLF)
Methode von PLF
8.5.1 Urelement Punkt
Leinwand
Geometrischer Punkt
Lebendes Wesen
Komposition Punkt Quadrat
Punkt und Kreis
8.5.2 Linie
Formen der Linien
8.5.3 Fläche (Grundfläche)
Quadrat (PLF 130ff)
Leben
8.6 Komposition
8.6.1 Komposition VI
8.6.2 Komposition VII
Die Zentrumskonfiguration
Komposition VII
8.7 Zeit und Bewegung
Zeit und Bewegung bei Aristoteles
Transitorische Zeit
Zeit in Musik und Malerei
Anhang
Abkürzungen
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Abbildungen
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Cézanne, Klee, Kandinsky: Zur Phänomenologie der Kunst des Sehens
 9783495823798, 9783495491829

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Klaus Kienzler

Cézanne, Klee, Kandinsky

Zur Phänomenologie der Kunst des Sehens

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823798

.

B

Klaus Kienzler Cézanne, Klee, Kandinsky

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Klaus Kienzler

Cézanne, Klee, Kandinsky Zur Phänomenologie der Kunst des Sehens

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Klaus Kienzler Cézanne, Klee, Kandinsky On the Phenomenology of the Art of Seeing The works of the artists Paul Cézanne, Paul Klee, and Wassily Kandinsky are examined in this volume from a phenomenological perspective. Each of them makes a turn in the understanding of art in his own way. This is characterized by Klee’s famous 1920 sentence: »Art does not reproduce the visible; rather it makes visible.« Kienzler uses exemplary works to examine the way in which the three painters deal with basic philosophical themes such as time and movement. At the same time, he is interested in exploring the extent to which phenomenological approaches (Heidegger, Welte, Fink, Rombach, Merleau-Ponty) are able to illuminate classical modern art.

The author: Klaus Kienzler, Dr. theol., born in 1944, retired professor of fundamental theology at the University of Augsburg, belonged for many years to the international German-French discussion group of Emmanuel Levinas, Paul Ricœur, Bernhard Casper and others.

https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Klaus Kienzler Cézanne, Klee, Kandinsky Zur Phänomenologie der Kunst des Sehens Die Arbeiten der Künstler Paul Cézanne, Paul Klee und Wassily Kandinsky werden in diesem Band phänomenologisch betrachtet. Auf je eigene Weise vollzieht jeder von ihnen eine Wendung im Kunstverständnis. Bezeichnend dafür ist Klees berühmter Satz von 1920: »Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« Klaus Kienzler untersucht an exemplarischen Werken, auf welche Weise sich die drei Maler mit philosophischen Grundthemen wie Zeit und Bewegung auseinandergesetzt haben. Zugleich geht es ihm darum auszuloten, inwieweit phänomenologische Ansätze (Heidegger, Welte, Fink, Rombach, Merleau-Ponty) Malerei der klassischen Moderne zu erhellen vermögen.

Der Autor: Klaus Kienzler, Dr. theol., geb. 1944, Prof. i. R. für Fundamentaltheologie an der Universität Augsburg, gehörte über viele Jahre dem internationalen deutsch-französischen Gesprächskreis von Emmanuel Levinas, Paul Ricœur, Bernhard Casper u. a. an.

https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Cover: Wassily Kandinsky, Quadrate mit konzentrischen Kreisen, Lenbachhaus München Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49182-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82379-8

https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1 1.1 1.2 1.3

. . . .

17 17 20 24

. . . . . . . . . . . .

24 30 32

Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee) . . . . . . Ein kleiner Spaziergang von Paul Klee . . . . . . »Ich gehe, also bin ich« – Geist in Bewegung . . Bewegung und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Das Problem von Zeit und Bewegung in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Bewegung bei Klee . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Zeitlichkeit der Bewegung . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Kurze Einführung in die Phänomenologie . . . . . . . . Phänomenologische Grundbegriffe bei Husserl . . . . Phänomenologie als Theorie der Erfahrung (Waldenfels) Strukturphänomenologie nach Heinrich Rombach . . . Bernhard Waldenfels – responsive Phänomenologie . . Grundphänomene Sagen – Hören – Sehen . . . . . . .

. . . . . .

40 40 41 47 52 55

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Ikonik – Phänomenologie des Sehens . . . . . . . . . Grundphänomen »Wahrnehmen« . . . . . . . . . . Bildsehen nach Edmund Husserl . . . . . . . . . . . Ikonik nach Max Imdahl . . . . . . . . . . . . . . . Maurice Merleau-Ponty – Paul Cézanne, sein Lehrer Bernhard Waldenfels – Grundphänomen Sehen . . . 3.5.1. Grundformel: »etwas als etwas« Sehen – Semantik des Sehens. . . . . . . . . . . . . . 3.5.2. Grundformel: Sehen ist bild- und leibhaftes Sehen – Syntax des Sehens . . . . . . . . . .

. . . . . .

61 62 65 69 73 79

. .

82

. .

83

. . . . . .

7 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Inhaltsverzeichnis

3.5.3. Sehereignis – »Sehen in Bildern und gemäß Bildern« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

4 4.1 4.2 4.3 4.4

Ikonische Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitlichkeit der Ikonischen Differenz . . . . . . . . . . Logik der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ikonische Differenzen – Syntax und Semantik des Sehens Bild, Bildsyntax, Bildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . .

94 95 102 104 107

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7) . . Gleichnisse: Sonne (507b ff) Linie (509d ff) Höhlengleichnis (514a ff) . . . . . . . . . Platons Mirror von Mischa Kuball . . . . . Bild, Abbild, Bildlichkeit . . . . . . . . . .

. . . . .

114 115 117 120 125

6 Paul Cézanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kopernikanische Wende des Sehens . . . . . . . . . . . 6.2 Kunst des Sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Ordnung des Sehens . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Nur Farben sind wahr . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Neue Sehordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Motiv Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.1 Montagne Sainte-Victoire . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Sensation colorante et colorée . . . . . . . . . . . 6.3.2.1 Palette und Logik der Farben . . . . . . . . . . . 6.3.2.2 Ikonische Differenz . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.3 Leben – Stillleben – Bildnisse . . . . . . . . . . 6.3.3 Realisieren – das Problem Cézannes . . . . . . . 6.3.3.1 Das Problem Motiv – »nach der Natur realisieren« 6.3.3.2 Das Problem der »sensation« . . . . . . . . . . . 6.3.3.3 Das Problem Realisieren . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.4 Medium Leib – reflexives leibhaftiges (Sich)Sehen

128 129 136 138 140 143 145

. . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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155 156 158 173 179 184 188 200 204 207 211 214

Inhaltsverzeichnis

6.4 Bild – Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Bewegung – Sehen ist beweglich . . . . . . . . 6.4.2 Bild-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2.1 Zeitsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2.2 Malen ist leibhaft und zeitlich . . . . . . . . . 6.4.2.3 Augenblick – Kairos . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Bildraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Bild – Ereignis des Sehens und Sichtbarmachens 7 Paul Klee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Phänomenologie der Kunst des Sehens . . . . . . . . 7.1.1 Schema des Kunstsehens im »Naturstudium« . . 7.1.2 Exkurs: Heideggers »Geviert« . . . . . . . . . . 7.2 Bildnerisches Denken – Bewegungslehre . . . . . . . . 7.3 Bildnerische Formlehre (BF) . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Bildnerische Mittel – Elementare Formen . . . . 7.3.1.1 Punkt der spazieren geht . . . . . . . . . . . . 7.3.1.2 Linien als Bewegungsspuren . . . . . . . . . . 7.3.1.3 Fläche Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Bildnerische Mittel: Gewicht – Hell-Dunkel – Tonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.1 Gewicht – Waage . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.2 Hell-Dunkel Werte . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.3 Tonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Bildnerische Mittel: Farbe . . . . . . . . . . . . 7.3.3.1 Delaunay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3.2 Farbe – Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3.3 Kosmologie der Farben . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 gegenständliche Dimension: Konstruktion Gestalt Name Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.5 stilistische Dimension – Komposition . . . . . . 7.4 Bildnerische Gestaltungslehre (BG) . . . . . . . . . . 7.4.1 Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

218 219 220 221 225 229 233 237

. . . . . . . . . .

239 243 243 249 251 258 263 265 270 275

. . . . . . . .

279 281 282 285 290 292 298 301

. . . . . . .

303 306 306 310 315 323 325

9 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Inhaltsverzeichnis

7.5 Bewegung: vom Künstler zum Bildbetrachter . . . . . 7.5.1 Künstler und Betrachter sind beide produktiv und rezeptiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Zeitbestimmte Bildelemente . . . . . . . . . . . 7.6 Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez . 7.6.1 Zeitlichkeit von Musik und Kunst . . . . . . . . 7.6.2 Linien, Töne, Perspektiven . . . . . . . . . . . . 7.6.3 Struktur Takt Rhythmus . . . . . . . . . . . . 7.6.4 Polyphonie Komposition . . . . . . . . . . . . 7.6.5 Johann Sebastian Bach . . . . . . . . . . . . . 7.6.6 Klee im Fruchtland Ägypten . . . . . . . . . . 8 Kandinsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Das »Bild«: Heuhaufen Monets und Moskau . . . 8.2 Phänomenologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Innen Außen . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Reduktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Bewegung (Klee) – Spannung (Kandinsky) . 8.3 »Über das Geistige in der Kunst« (ÜG) . . . . . . 8.3.1 Inhalt von ÜG – Farben physisch psychisch . 8.3.1.1 Die Methode von ÜG . . . . . . . . . . . 8.3.1.2 Farbe physisch-psychisch . . . . . . . . . 8.3.2 Synästhesie von Sehen und Sinnen . . . . . 8.3.3 Farbe – Musik . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Farbe und Form . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Über die Formlehre (ÜF) . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Große Abstraktion . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Große Realistik . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Große Abstraktion und Große Realistik sind identisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Von Punkt und Linie zu Fläche (PLF) . . . . . . . 8.5.1 Urelement Punkt . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Linie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.3 Fläche (Grundfläche) . . . . . . . . . . . .

. 326 . . . . . . . . .

329 333 340 343 346 350 354 360 363

. . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . .

366 368 370 372 374 383 387 388 389 391 394 395 399 401 402 407

. . . . .

. . . . .

. . . . .

409 412 416 422 425

10 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Inhaltsverzeichnis

8.6 Komposition . . . . . . . . . 8.6.1 Komposition VI . . . . 8.6.2 Komposition VII . . . 8.7 Zeit und Bewegung . . . . .

. . . .

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. . . .

. . . .

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428 428 432 439

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451

Anhang

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

463

Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

465

11 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Einleitung

Am Anfang der folgenden Studien stand eine Überraschung. Ich beschäftigte mich wieder einmal mit dem Thema der Zeit. Ein zentrales Thema der Philosophie und besonders auch der Phänomenologie seit Husserl. Dabei ging ich natürlich auf Aristoteles zurück. Dort las ich zu meiner Überraschung nicht nur die bekannte Definition der Zeit, sondern, was ich immer schon mitlas, aber nicht mitbedachte, dass Aristoteles nicht nur von der Zeit sprach, sondern von einem Begriffspaar, nämlich von »Zeit« und »Bewegung«. Und vor allem las ich erstaunt, dass beide, Zeit und Bewegung, »sich wechselseitig bestimmen«. Sicher, den Umlauf der Gestirne kann man in kleinste Intervalle teilen und man erhält so den aristotelischen Begriff der Zeit, nämlich die Zeit als »Zahl der Bewegung«. Mit anderen Worten kann man Zeit zählen – unsere Uhr. Aber nach Aristoteles gilt »wechselseitig«: man kann die Bewegung der Gestirne nach der aristotelischen Zeit zählen, aber was ist, wenn die »Bewegung« – nicht nur die Bewegung der Gestirne – das »Zeitmaß« vorgibt. Es dürfte einleuchten, dass für die Umläufe der Gestirne die aristotelische Zeit gilt, aber was ist mit den anderen zeitlichen Zyklen, der Organismen etwa oder auch der menschlichen Lebenszeiten? Es dürfte einleuchten, dass ein solcher Ausgang, die Dinge zu sehen, unsere Sicht in vielerlei Weise verändert. Bis heute bleibt man weithin bei der aristotelischen Sicht in Philosophie, Wissenschaft, aber auch Kunst. Und da ereilte mich die zweite Überraschung: Paul Klee setzte seine Kunsttheorie mit dem Begriff der »Bewegung« an. Die entscheidende Wende für die hervorgehobene Betrachtung der philosophischen Grundbegriffe von »Zeit« und »Bewegung« ist die klassische Beschreibung bei Aristoteles in Physik IV 10–14. Dort heißt es, »Zeit« ist nicht mit der »Bewegung« einfach identisch, aber auch nicht ohne Bewegung denkbar: die Zeit ist »etwas an der Bewegung«. Sie ist »Zahl der Bewegung (ἀριθμός κινήσεως)«. Aber auch Bewegung ist nicht einfach auf den Begriff von Zeit zurück13 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Einleitung

zuführen, sondern andererseits bestimmt auch die Bewegung über die Zeit. Zeit und Bewegung sind so etwas wie ein Zwillingspaar, gleich und zugleich ungleich: »Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit und können dies, weil sich beide wechselseitig bestimmen. Die Zeit nämlich bestimmt die Bewegung, indem sie ihre Zahl ist; die Bewegung aber die Zeit«. 1 Diese Dualität von Zeit und Bewegung hat gewaltige Folgen für Philosophie und Wissenschaften, aber auch für die Kunst, und für unsere Zeit- und Lebenseinstellungen ganz allgemein. Allerdings hat Aristoteles diese Erkenntnis von der wechselseitigen Bestimmung von Bewegung und Zeit selbst nicht weiterverfolgt, sondern er ist bei der »Zahl der Zeit« geblieben. Und es wurde über Jahrhunderte zur Tradition, von Zeit und Bewegung zu sprechen. Es dürfte aber einleuchten, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob ich alle Dinge der Welt – nämlich Gestirne, Leben und Menschen – nach dem Maß der aristotelischen Zeitmessung beschreibe oder das Zeitmaß von deren inneren Bewegung her nehme: also die physikalische Welt nach den physikalischen Gesetzen, das Leben nach den biologischen Vorgängen und die Menschen nach den menschlichen Bewegungs- und Handlungsweisen beschreibe. Eine solche Beschreibung spricht der physikalischen Beschreibung keineswegs das Recht ab, auch Vorgänge des Lebens und Handlungen des Menschen nach physikalischen Gesetzen zu erforschen, sofern diese die Bereiche der Physis des Lebens und Menschen betreffen; sie gibt aber auch zu erkennen, dass sie die Einschränkung des Lebens und des Menschen allein auf die physikalischen Gesetze das Leben und den Menschen um Dimensionen verkürzt und auf eine Dimension reduziert. Die neue Betrachtung der Bewegung ist von hervorgehobener Bedeutung für die Philosophie und Wissenschaften. Ich habe das für die Philosophie, die Wissenschaften und die Theologie schon ausgeführt. 2 Die jetzige Beschäftigung mit der Kunst hat ergeben, dass dies auch für die Kunst erheblich ist. Kurz gesagt gilt: nicht nur »in der Zeit« zu leben (nach Aristoteles), sondern »die Zeit zu (er)leben« (nach Augustinus u. a.).

Aristoteles, Physik IV 12, 220b. Kienzler, Klaus (2017), Bewegung in die Theologie bringen. Theologie in Erinnerung an Klaus Hemmerle. Freiburg; ders. (2018), Glauben – Wie geht das? Phänomenologie des Glaubens. Denkimpulse in Erinnerung an Klaus Hemmerle. Berlin.

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Einleitung

Der Würzburger Philosoph Heinrich Rombach nennt sein wichtiges Werk der Strukturphänomenologie eine »Philosophie der Bewegung« (StO 9 f.; StA 102). Die Freiburger Phänomenologische Philosophie von Martin Heidegger und vor allem von Eugen Fink haben dazu wichtige Ansätze vorgelegt. Für die Kunst ist der französische Phänomenologe Merleau-Ponty ein bedeutsamer Vordenker. Bernhard Waldenfels war sein Schüler und ist der bedeutendste Kenner der französischen Phänomenologie. Ähnlich spricht mein Lehrer, der Religionsphilosoph und spätere Bischof Klaus Hemmerle von Aachen – der von Rombach angeregt wurde – von dem Grundwort der Bewegung. Sein Denken kann als »Theologie der Bewegung und Beziehung« (Michael Böhnke) wiedergegeben werden. Bewegung wird so zum Paradigma philosophischen, wissenschaftlichen und theologischen Denkens. Es bedeutete eine Überraschung, dass ich nach langem Interesse an der Kunst Paul Klees auf die Sicht Klees stieß, der den Begriff der »Bewegung« zum Grundbegriff seines künstlerischen Schaffens machte. So heißt es deutlich in seiner Bildnerischen Formlehre: »Was heißt im (Kunst)Werk Bewegung? Unsere Werke werden sich in der Regel doch nicht bewegen? Wir sind doch keine Automatenfabrik. Nein, unsere Werke werden von sich aus meist ruhig an ihrem Platz bleiben. Und trotzdem sind sie ganz Bewegung« (BF 94). Mit anderen Worten geht nach Klee das Schaffen der Kunst von Anfang bis zum Ende aus der »zeitlichen« Bewegung bzw. aus Bewegungen hervor.

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1 Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee)

1.1 Ein kleiner Spaziergang von Paul Klee Am Anfang der Schöpferischen Konfession (SK) steht das Motto von Paul Klee: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar«. Darauf beschreibt er den Malvorgang insgesamt als kleinen Spaziergang. Es ist die Beschreibung eines Bewegungsvorganges. Klee will sein Motto offensichtlich in Form eines humorvollen Spazierganges wiedergeben. Er erzählt den Spaziergang mit dem Rückgriff auf die elementaren Formen der Malerei wie Punkt, Linie, Fläche sowie den Raum (BF). Es zeigt sich aber, indem er zur Beschreibung des Vorganges elementare geometrische Elemente gebraucht, um einen Spaziergang zu erzählen, dass er den Vorgang nicht allein aus geometrischen Mitteln konstruiert, sondern er haucht den Elementen von Punkt, Linie, Fläche und Raum Leben ein. Die formalen Elemente bilden die sichtbare Struktur des Vorganges, um damit die unsichtbare Lebendigkeit des Spazierganges erfahrbar bzw. sichtbar zu machen. Die geometrischen Elemente ziehen sozusagen lebendige, physische und psychische, sogar menschliche Kleider an. Klee erzählt den Spaziergang folgendermaßen: »Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen (Unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie.) Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden ist. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien). Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie).

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Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee)

Wir durchqueren einen umgepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes. Ganz kühl bin ich auch nicht mehr: über neuer Flußgegend liegt Nebel (räumliches Element). Bald wird es indessen wieder klarer. Korbflechter kehren heim mit ihren Wagen (das Rad). Bei ihnen ein Kind mit den lustigsten Locken (die Schraubenbewegung). Später wird es schwül und nächtlich (räumliches Element). Ein Blitz am Horizont (die Zickzacklinie). Über uns zwar noch Sterne (die Punktsaat). Bald ist unser erstes Quartier erreicht. Vor dem Einschlafen wird manches als Erinnerung wieder auftauchen, denn so eine kleine Reise ist sehr eindrucksvoll« (SK 76–77).

Es ist deutlich der Vorgang einer Bewegung, den Klee mit diesem humorvollen Spaziergang schildert. Grundlage für die Beschreibung sind die Formelemente von Punkt, Linie, Fläche, Raum, wie er sie später in der Bildnerischen Formlehre (BF) vortragen wird. Er wird dort die einzelnen Elemente und Bewegungen, die er hier in Klammern wiedergibt, einzeln und umfangreich beschreiben. Es ist aber von Anfang an deutlich, dass Klee sich dazu nicht allein auf das sichtbar Formale der elementaren Formen stützt, sondern diese mit Leben erfüllt, d. h. sie mit Bewegtheit und Leben ausstattet und so das sozusagen Unsichtbare dessen, was beim Spaziergang mitgeschieht, erfahrbar macht. »Nach Klee lassen sich alle Bewegungen in Linien ausdrücken.« Eines der wichtigsten Axiome in Klees Linientheorie lautet: Die Linie ist die Spur einer Bewegung (BF 13, 14) (Linie 43 f.). Oder Bewegungen und Leben hinterlassen »Spuren«; sie lassen in den formalen Elementen von Linien, Flächen, Raum Spuren. Der Maler sucht diese Spuren auf und bringt sie zur Darstellung. Bewegung benötigt gewiss die formale Struktur des Verlaufs eines Weges, hier des Spazierganges, aber vor allem auch all das, was sich dabei bewegt und mitbewegt, also des Sich-Bewegenden, in diesem Fall des Gehenden bzw. des sehenden Malers. Im Laufe der Begegnung tritt der Gehende bzw. Sehende immer mehr in den Vordergrund. Es ist der Maler. Zu ihm gesellen sich Andere, ein Wir; schließlich eine konkrete Gesellschaft. Wie kann eine solche Beschreibung eines Spaziergangs den Vorgang der Malerei sichtbar machen? Die Grundlage der formalen Elemente ist die »Linie«. Sie ist die erste Erscheinung des sich in Bewegung setzenden »Punktes«, der wie Klee sagen wird, »spazieren geht« (BF 5). Aber auch die Linie entfaltet sich in verschiedensten Formen und Erscheinungsweisen. Klee nennt hier schon die großen Stufen 18 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ein kleiner Spaziergang von Paul Klee

der Entwicklung von der einfachen Linie zur Fläche und dem Raum, wie er sie in der Bildnerischen Formlehre (BF) vortragen wird. Klee fasst die kleine Reise zusammen und nennt auch die zentralen Begriffe, die darin führend sein werden. Aber alle zunächst einmal geometrisch klingenden Formen bilden kein statisch konstruktives Gebilde, sondern sind Momente einer ganzheitlichen Bewegung. Es sind die verschiedensten Linien: »Flecken. Tupfen. Flächen glatt. Flächen getupft, gestrichelt. Wellenbewegung. Gehemmte, gegliederte Bewegung. Gegenbewegung. Geflecht, Gewebe. Gemauertes, Geschupptes. Einstimmigkeit. Mehrstimmigkeit. Sich verlierende, erstarkende Linie (Dynamik)« (SK 77). Schließlich erfolgt die kleine Reise des Malvorganges oder des Spazierganges nicht als bloßes Konstruieren von mehr oder weniger geometrischen Elementen oder Variationen der Linie, sondern der Sehende oder Malende wird offensichtlich immer mehr als Subjekt oder Person in den Vorgang hineingenommen. Empfindungen, Gefühle, Emotionen von Ruhe bis Gewalt gehen in den Gang ein. Klee fährt fort: »Das frohe Gleichmaß der ersten Strecke, dann die Hemmungen, die Nerven! Verhaltenes Zittern, Schmeicheln hoffnungsvoller Lüftchen. Vor dem Gewitter der Bremsenüberfall! Die Wut, das Morden« (SK 77). Schließlich erscheint am Ende des Weges so etwas wie Sinnhaftigkeit und Qualität des Ganzen: »Die gute Sache als Leitfaden, selbst im Dickicht und Dämmerung. Der Blitz mahnte an jene Fieberkurve. Eines kranken Kindes … Damals« (SK 77). Merleau-Ponty sieht in der Beschreibung des kleinen Spazierganges das Motto des Schaffens Klees: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar«. Er beschreibt dabei das Wesen der Bewegung der Linie eindrucksvoll: »[Die Kunst] imitiert, wie Klee sagt, nicht mehr das Sichtbare, sie ›macht sichtbar‹, sie ist der Aufriß einer Genese der Dinge. Niemals vielleicht vor Klee hatte man ›eine Linie träumen lassen‹. Der Anfang des Linienzuges legt eine bestimmte Ebene oder einen Modus des Linearen fest, eine bestimmte Seins- und Entstehungsweise der Linie, ›als Linie zu laufen‹. Mit Rücksicht auf sie hat jede folgende Krümmung einen diakritischen Wert und wird eine Beziehung der Linie zu sich selbst herstellen; sie bildet ein Abenteuer, eine Geschichte, einen Sinn der Linie, je nachdem sie mehr oder weniger, schneller oder langsamer, merklicher oder weniger merklich abweichen wird. Während sie im Raum voranschreitet, nagt sie doch am prosaischen Raum und den partes extra 19 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee)

partes; sie entwickelt eine Weise, sich aktiv im Raum auszudehnen, in der sowohl die Räumlichkeit eines Dinges als auch die eines Apfelbaumes und eines Menschen mit inbegriffen sind. Um die erzeugende Achse eines Menschen anzugeben, braucht der Maler, wie Klee sagt, ›ein so verwirrendes Liniendurcheinander, daß von einer wirklich einfachen Darstellung nicht die Rede sein‹ könne. Möge er also wie Klee beschließen, sich streng an das Prinzip der Entstehung des Sichtbaren, der fundamentalen, indirekten oder, wie Klee sagt, absoluten Malerei zu halten« (AG 308).

1.2 »Ich gehe, also bin ich« – Geist in Bewegung Der Spaziergang der Schöpferischen Konfession kann an ein anderes Projekt erinnern. Dieses andere Projekt, das aus der Schweiz stammt und dessen Thema die Umwelt ist, kann aber die Tragweite des humorvollen Spazierganges Klees auf seine Weise erhellen. »Ich gehe, also bin ich«, nennt der Leiter der »Forschungs- und Dokumentationsstelle Kind und Umwelt (CH-Muri)« Marco Hüttenmoser ein interessantes Projekt: »Schulweg selbständig und sicher erleben«. 3 Beteiligt waren an diesem Projekt Kinder und Schüler aus Liechtenstein, die nach ihrem Schulweg befragt wurden und diesen malten. Das auffallende Motto des Projekts erinnert bewusst an Descartes »Cogito, ergo sum (ich denke, also bin ich)« und möchte dazu eine Alternative formulieren. Dem Motto Descartes »Ich denke, also bin ich« der Philosophen stellt Hüttenmoser bewusst provokant das »Ich gehe, also bin ich« entgegen, das gewiss den Kindern besser entspricht, aber vielleicht darüber hinaus das menschliche Wesen nicht weniger treffend beschreibt. Zwar geht es beim »Gehen« nicht um eine Alternative zum »Denken (cogitare)«, aber Kinder bewegen sich, gehen und regen dabei vielfache Denkprozesse an. Man könnte sagen: »Ich gehe, also denke ich, also bin ich«. Was ist der Gedanke dieses Projektes? Untersucht wird der Weg zum Kindergarten oder zur Schule der Kinder. Es wird festgehalten, dass eine große Mehrheit der Kinder über eine unterschiedliche Strecke zu Fuß dorthin geht, eine kleinere Anzahl aber, wie es oft üblich ist, mit dem Auto zum Kindergarten oder zur Schule gefahren wird. Hüttenmoser, Marco (2009), https://www.kindundumwelt.ch/_files/VCLBalzers. pdf.

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»Ich gehe, also bin ich« – Geist in Bewegung

Schließlich sollen die Kinder ihren Weg auf einer Zeichnung festhalten. Der Kern der Untersuchung besteht darin, ob es markante Unterschiede bei den Kindern gibt, die den Weg zu Fuß gehen, von denen, die mit dem Auto gefahren werden. Ein genaueres Studium der Zeichnungen weist auf eine Fülle von Ereignissen und Begebenheiten hin, denen die Kinder zu Fuß begegnen, während diejenigen, welche mit dem Auto zur Schule fahren, den Schulweg kaum kennen. Es ist eine banale Erfahrung. Aus dem Auto heraus sind Ereignisse, die es wert sind, in Zeichnungen festzuhalten sind, kaum gegeben. Die Außenwelt fliegt an den meist getönten Autoscheiben vorbei. Von der näheren oder weiteren Umwelt ist kaum etwas zu erkennen. Die Kinder verpassen einen wichtigen Zugang zur Welt. Für die Kinder dagegen, welche zu Fuß auf dem Weg sind, trifft das Motto des Projektes zu: »Ich gehe, also bin ich«. Denn was besagt dieses Wort anderes als lebendige Kontakte mit der Natur, den Tieren, mit den anderen Kindern und mit Menschen überhaupt. In diesen Kontakten und Begegnungen lernen sich die Kinder selbst am besten kennen. Das Ergebnis nach Hüttenmoser ist: »Die Schulwegsituation der Kinder von Balzers kann man auf Grund der Zeichnungen wie folgt zusammenfassen: Die Kinder von Balzers gehen zum weitaus größten Teil zu Fuß in den Kindergarten und in die Schule. Das spiegelt sich in all jenen Zeichnungen, in denen vielfältige, für die Entwicklung der Kinder sehr wichtige Schulwegerlebnisse mit Dingen aus der Natur, mit Tieren und insbesondere mit anderen Kindern dargestellt werden. Die Zeichnungen zeigen aber auch, dass eine große Zahl der Kinder auf dem Schulweg Befürchtungen hegen, ja Angst haben. Die Ängste der Kinder konzentrieren sich dabei vor allem auf die Situation beim Queren von Straßen, an und auf dem Fussgängerstreifen. Der Motorfahrzeugverkehr selbst wird dabei weitgehend ausgeblendet.«

Alle diese Erfahrungen machen die anderen Kinder in den Autos nicht. Es ergeben sich interessante Vergleiche zwischen den Schulwegen des Projektes und der kleinen Reise der Schöpferischen Konfession von Paul Klee. Schauen wir dazu auf ein Bild von Paul Klee mit dem Titel L=Platz im Bau (1923) (→ Abb. 1, S. 465), so können wir einen gleichen Vorgang sehen: beide Male geht es um ein Gehen, um Bewegung, an Häuser vorbei und auf Straßen. Dabei können sich die beiden Wege gegenseitig erläutern und kommentieren. Etwa in der Weise: Warum bringt der Schulweg zu Fuß den Kindern die 21 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee)

Wirklichkeit der Welt in einer ganz anderen Weise nahe? Und ereignet sich die kleine Reise, wie sie Klee beschreibt, auch wirklich in unserer Zeit und Welt? Das Bild L=Platz im Bau gibt den kleinen Spaziergang Klees bildnerisch auf ähnliche Weise wieder (→ Abb. 1, S. 465). Der Name »L=Platz« gibt darauf einen Hinweis. Das Pädagogische Skizzenbuch Klees (PS 5 fig.12) enthält eine Graphik, die ein »L=Gebiet« markiert. Die Graphik gibt eine Bewegung wieder, die einmal als »Punktverschiebung« und sodann als »linearactiv« charakterisiert wird. Mit anderen Worten gibt die Bewegung auf dem Bild die Verschiebung eines Punktes wieder oder man könnte auch von dem Spaziergang des Punktes sprechen. Die Verschiebung des Punktes wird durch eine geschwungene Linie wiedergegeben, deshalb wird der Punkt »linearaktiv« und das Gebiet, welches die Linie umschreibt, mit einem großen »L« bezeichnet. Außerdem wird die Bewegung der Linie noch »flächenpassiv« genannt, also die Linie führt noch nicht zu einer Fläche als Ende, sondern ist noch flächenoffen. Man kann den Vorgang des L=Platz im Bau als Spaziergang auf einem geschwungenen Weg sehen, der Weg ist als geschwungene Linie dargestellt. Von den unterschiedlichen Punkten der Linie, das sind von verschiedenen Perspektiven aus, gehen unterschiedliche Blickrichtungen, denen perspektivisch unterschiedliche Gebäudeformen entsprechen. Die Perspektiven von unterschiedlichen Blickpunkten gehen nicht auf feste Flächen und Formen von Häusern, sondern sind form- und flächenoffen. Das Bild zeigt auf schöne Weise, wie unterschiedliche Blickrichtungen und Perspektiven bei Klee jeweils »ganz andere Häuser« ergeben. Die Häuser auf dem L=Platz im Bau recken sich und verrenken sich, umspielen ihre Grundlinien nach allen Seiten hin, lassen den Augenpunkt wandern, operieren mit Paradoxien und so fort. Je nach Wechsel der Perspektive wechselt auch der Anblick der Häuser und der Umwelt. Sie werden frontal oder von der Seite oder von hinten oder wie auch immer gezeigt. Klee will offensichtlich dem perspektivischen Blickwechsel auf einem Bild folgen. Es ist nichts anderes als den Verlauf der Blickveränderungen im Lauf des Spazierganges bzw. Bewegung darzustellen. Es ist der Weg durch eine wirkliche Welt, wie sie sich uns zeigt. (Boehm 122–123) Es sei noch einmal auf das Projekt Schulweg zurückgekommen. Und dazu sei ein zweiter Blick auf die Zeichnungen der Kinder geworfen, dieses Mal im Vergleich mit dem Bild L=Platz im Bau von Klee. 22 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

»Ich gehe, also bin ich« – Geist in Bewegung

Und in der Tat sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede überraschend und erstaunlich. Die Kinder, welche zu Fuß gehen, zeichnen, was sie sehen, was sie zu Fuß abgeschritten haben, was sie kennen gelernt haben, wem sie begegnet sind. Sie sehen ihre Welt aus den verschiedensten Perspektiven. Der Schulweg bringt den Kindern die Umwelt näher, wenn sie zu Fuß unterwegs sind, sie sind ganz anders mit ihrer Welt, mit unserer Welt vertraut und wachsen in sie spontan hinein. Ihre Zeichnungen sind von einer großen Reihe von Sehereignissen und Begegnungen erfüllt. Ganz anders auf den Zeichnungen von Kindern, die mit dem Auto in die Schulen oder in den Kindergarten gefahren werden. Die Straßen sind Fantasiegebilde und im Übrigen leer. Auch die Umgebung und Umwelt wie Häuser, Gebäude oder auch Menschen sind nicht zu sehen und werden nicht erinnert, weil die Kinder entweder uninteressiert im Auto sitzen oder auf ihren Smartphones wischen oder anderes tun. Die Kinder können den im Auto zurückgelegten Weg nicht wirklich erfahren und deshalb auch über ihn und den durchquerten Stadtteil nichts berichten. Im ersten Fall erleben Kinder die Umwelt, wie sie wirklich ist; im zweiten Fall erleben Kinder kaum etwas. Entsprechendes will die bewegliche Kunst Klees erreichen. Das Projekt »Schulwege« wurde vorgestellt unter dem Titel »Geist in Bewegung«. Daran erinnert das Motto des Projektes: »Ich gehe, also bin ich«. Im Gehen entdecke ich Welt, Menschen und mich selbst; das Gehen regt das Denken an: »Ich gehe, also komme ich zum Denken, also bin ich«. Das Motto wurde ausdrücklich dem Descartes’ »Ich denke, also bin ich« entgegengestellt. Übrigens hat dies auf philosophische Weise auch schon Gassendi mit seinem Motto »ambulo ergo sum (Ich gehe, also bin ich)« ausgedrückt (Schwellen 26 f.). In der Tat, dass der Geist durch Gehen in Bewegung kommt, ist eine alte Weisheit. Zu diesem Thema hat sich außer Gassendi die Philosophie immer wieder Gedanken gemacht. Zur Veranschaulichung eine andere Begebenheit. Bekannt war und ist in der Wissenschaft das Wort Flauberts: »Nur beim Sitzen kann man denken und schreiben (On ne peut penser et écrire qu’assis)«; wohingegen Nietzsche umgehend replizierte und meinte, daß »nur ergangene Gedanken Wert haben«. Was er damit sagen wollte, hat er in Ecce homo näher ausgeführt: »So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kom-

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men aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – ich sagte es schon einmal – die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.« 4 Dazu seien andere Bonmots aus der Philosophie angefügt, die Ähnliches zum Ausdruck bringen: »Wir müssen gehen, um denken zu können«, schreibt Thomas Bernhard in seiner Erzählung Gehen. »Wenn wir gehen, […] kommt mit der Körperbewegung die Geistesbewegung. […] Wir gehen mit unseren Beinen, sagen wir, und denken mit unserem Kopf.« Das war auch schon Montaigne vertraut: »Mein Geist geht nicht voran, wenn ihn nicht meine Beine in Bewegung setzen.« Und Rousseau bekannte seinerseits: »Im Wandern liegt etwas meine Gedanken Anfeuerndes und Belebendes, mein Körper muß in Bewegung sein, wenn es mein Geist sein soll.« 5 – Einige Petitessen zum Thema »Philosophie« und »Gehen«.

1.3 Bewegung und Zeit Die einführenden Beispiele wollten andeuten, dass Paul Klee wie kaum ein anderer Künstler, »Bewegung« zur Grundlage seiner bildnerischen Arbeit gemacht hat. Das war nicht main-stream. Es ist vielleicht der Grund, warum das Werk Paul Klees aus dem main-stream nicht nur seiner Zeit, sondern auch des Kunstverständnisses bis heute etwas herausfällt, man sich manchmal schwertut, ihn in eine Kunstrichtung einzuordnen und man dabei zwischen Einzelgänger und Neuerer schwankt.

1.3.1 Das Problem von Zeit und Bewegung in der Philosophie »Bewegung« und »Zeit« sind seit Aristoteles Grundfragen der Philosophie. Aristoteles beantwortet sie mit dem Hinweis auf die kosmische und lineare Zeit. Dieses Zeitverständnis ist aber eines; ein anderes hat Augustinus vorgetragen. In jüngerer Zeit hat der französische Phänomenologe Paul Ricœur die Aporie von Raum und Zeit

Nietzsche, Friedrich, Götzendämmerung. »Sprüche und Pfeile«, Nr. 34 bzw. ders., Ecce homo, »Warum ich so klug bin«, KSA III, 1084–1085. 5 Bernhard, Thomas (1981), Gehen, Frankfurt 65; Rousseau, Montaigne, in: https:// www.zeit.de/kultur/2018-06/wandern-gehen-pilgern-philosophie-geist-soziale-kon takte/komplettansicht. 4

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Bewegung und Zeit

zum Thema seines dreibändigen Meisterwerkes Temps et récit (Zeit und Erzählung) gemacht. 6 Er geht dabei von den unterschiedlichen Konzepten zur Zeit bei Aristoteles und bei Augustinus aus. Er nennt das Zeitverständnis des Aristoteles »kosmisch« und »linear«, das des Augustinus »psychologisch« und »phänomenologisch«. Es ist der Ausgangspunkt und die Grundlage des großen Werkes von Ricœur. Deshalb in Kürze eine Erinnerung der wichtigsten Eigenschaften der Zeit bei Aristoteles und Augustinus, um die Grundlagen des Kommenden zu verstehen. Was ist Zeit? Was Bewegung? Wie sind sie zu (er)fassen? »in der Zeit leben« – Aristoteles Aristoteles Ausführungen zur Zeit finden sich in Physik IV 10–14. Zeit ist nach Aristoteles nicht mit der Bewegung identisch, aber auch nicht ohne Bewegung denkbar: die Zeit ist »etwas an der Bewegung«. Sie ist »Zahl der Bewegung (ἀριθμός κινήσεως)«. »Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit und können dies, weil sich beide wechselseitig bestimmen. Die Zeit nämlich bestimmt die Bewegung, indem sie ihre Zahl ist; die Bewegung aber die Zeit«. 7 Die bis zu Augustinus (und auch über ihn hinaus) maßgebende aristotelische Konzeption der Zeit ging davon aus, der menschliche Geist sei in die Zeit des physikalischen Universums integriert. Aristoteles hatte in der Physik Zeit und Bewegung miteinander verknüpft und die gleichförmige Drehung des Firmaments als Grundlage der Zeit angesehen. Das Zeitverständnis des Aristoteles prägt bis heute weitgehend unser Weltbild: es ist »kosmisch« und »linear«, ihr Symbol ist der Pfeil. Die vier besonderen Eigenschaften der Zeit nach Aristoteles sind: 1) Zeit ist die Zahl der Bewegung (ἀριθμός κινήσεως). Zeit kann man nach ihren Intervallen zählen, man kann die Zeit-Punkte messen, sie sind die Grundlage unserer normalen Uhrzeit. Hartmut Rosa spricht von der »gezählten Zeit«. 2) Aristoteles versteht die Zeit räumlich, sie wird nach »vorher – nachher (κατά πρότερον και ὕστερον)« oder linear gezählt. Da6 Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung, 3 Bde. (1983–1985), übers. von R. Rochlitz u. A. Knop, München. 7 Aristoteles, Physik IV 12, 220b.

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Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee)

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mit hängt zusammen, dass man oft von der Verräumlichung der Zeit spricht. Zeit ist eine kosmische Größe: Gestirne sind nach Aristoteles die ideale Ortsbewegung, nach ihrem Umschwung lassen sich feste Zeit-Punkte festlegen. Das Erfahren solcher Zeit kann man auf die Formel bringen: »in der Zeit bzw. nach der Uhr leben«

Doch auf die Definition des Aristoteles zurückkommend bestimmen sich Zeit und Bewegung wechselseitig, Zeit kann an der Bewegung abgezählt werden, die »gezählte Zeit«. Aber was ist, wenn die Bewegung selber die Zeit vorgibt. Aristoteles ist sich der Problematik dieses Zirkelschlusses wohl bewusst: Es geht um zwei Ansätze von Zeit. Einmal die »gezählte Zeit«, die wir kennen. Aber was ist mit der Zeit, die an einer jeweiligen Bewegung sein Maß nimmt? Aristoteles macht darauf auch die Probe: Man vergleiche den Fall, dass zwei Bewegungen gleichzeitig stattfinden. Hierzu bemerkt er: »es verlaufen somit zwei Zeiten nebeneinander. Oder doch nicht?« Seine Antwort lautet: »Wenn wir Hunde und Pferde vor uns haben, je sieben, dann ist das dieselbe Zahl. So ist es auch bei gleichzeitig ablaufenden Bewegungen dieselbe Zeit, nur ist vielleicht die eine Bewegung schnell, die andere langsam […], aber die Zeit ist dieselbe, wenn die Zahl für ihre Dauer gleich ist«. 8 Das scheint ein folgenreicher Trugschluss zu sein. Lassen wir einmal Pferd und Mensch miteinander laufen. Sollte es da nicht möglich sein, von zweierlei Zeiten zu sprechen, von der Menschenzeit und von der Pferdezeit? Weswegen wird aber die Zeit der Bewegung sowohl des Pferdes als auch des Menschen auf den »ἀριθμός κινήσεως« zurückgeführt? Der entscheidende Gedanke ist, dass für Aristoteles eine spezielle Bewegung die Zahl der Zeit überhaupt bestimmt, nämlich die Kreisbewegung der Gestirne: »Da es eine Ortsveränderung gibt, unter diesen wieder die Kreisbewegung, so wird alles durch etwas gleichnamiges gezählt […], Zeit durch einen bestimmten Zeitabschnitt«. Im Grunde lässt Aristoteles Pferd und Hund nicht gegeneinander, sondern gegen die kosmischen Gestirne laufen. Das ist eine Möglichkeit, aber eine einseitige. Organismen und menschliches Leben haben andere zeitliche Zyklen als die Gestirne. Nach der Aussage 8

Aristoteles, Physik IV 14, 223b.

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Bewegung und Zeit

über das wechselseitige Verhältnis von Zeit und Bewegung des Aristoteles wäre eine bestimmte organische oder menschliche Bewegungsweise zu nennen und deren innere Zeit zu messen. Die einseitige Festlegung aber auf die lineare, kosmische Zeit ist für die weitere Entwicklung fatal. Sie beherrschte das wissenschaftliche und philosophische Denken gute 2000 Jahre. »Bewegung« ist seit Aristoteles eine der Grundfragen der Philosophie, die sie seither zu lösen suchte. Vielleicht dachte Albert Einstein an den gerade angeführten Zirkel des Aristoteles, wenn er äußerte: »Bewegung wurde über Jahrtausende verschleiert« 9. Vielleicht dachte Einstein daran, dass Zeit nicht nur kosmischer Art, sondern auch »Lebenszeit« ist. Wie wird dann Zeit gemessen? »Zeit erleben« – Augustinus Paul Ricœur nennt das Zeitverständnis des Augustinus: »psychologisch« und »phänomenologisch«. »Psychologisch«, weil Augustinus die Wahrnehmung der Zeit nicht mit dem Umlauf des Kosmos verbindet, sondern Zeit vor allem eine Erfahrung der inneren Welt der »Seele« ist, eine »distentio animi (Erstreckung der Seele)«. Augustinus führt zur Verdeutlichung die Musik bzw. ein »Lied« an, um zu zeigen, wie sich Zeit tatsächlich aus der Vergegenwärtigung von vergangenem und künftig zu erwartendem Ton konstituiert, also das lineare Verständnis von Vorher und Nachher nicht ausreicht, sondern Zeit sich aus dem Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildet. Ricœur nennt das Zeitverständnis »phänomenologisch«, weil für ihn der phänomenologische Hinweis auf die innere Welt des Geistes wichtig ist. Zeit kann demnach im Blick auf die (kosmische) Außenseite (Aristoteles) oder die (geistige) Innenseite (Augustinus) betrachtet werden. Damit verschiebt sich auch das Symbol von Zeit: sie wird nicht mehr so sehr durch den linearen Pfeil dargestellt, sondern besser durch das Symbol des Flusses oder der Welle beschrieben. Die Ausbreitung der Zeit wird dann weniger als linear vorgestellt, sondern als sich wellenartig ausbreitend; vor allem wird die Zeit nicht so sehr durch gleichwertige Zeitpunkte gemessen, sondern wie eine Welle durch Amplitude (also Intensität des Erlebens) und Frequenz (also Maß der Ausbreitung). 9 Einstein, Albert (1988), Die Evolution der Physik. Von Newton bis zur Quantentheorie, 17.

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Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee)

Die vier besonderen Eigenschaften der Zeit nach Augustinus sind: 1) Zeit resultiert aus der »distentio animi«: Zeit meint eine Erstreckung der Geistseele des Menschen; sie meint eine Zeit–Spanne. 2) Zeit wird nicht räumlich vorgestellt, sondern in den Zeitdimensionen von Gegenwart – Vergangenheit – Zukunft. 3) Zeit wird nicht in Zeit-Punkte eingeteilt, sondern die Zeit-Spanne meint eine »Dauer«, die sich aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstituiert. 4) Das Erfahren solcher Zeit kann man auf die Formel bringen: »Zeit erleben« (z. B. bei der Musik nach Confessiones XI 28,38). Ricœur hält als Ergebnis fest, »dass es zwischen einer Augustinischen und einer Aristotelischen Konzeption keinerlei denkbaren Übergang gibt« (ZE III, 34–35). 10 Das besagt für ihn: Zeit sei nicht zu fassen, nicht festzuhalten. Zeit sei nicht nur zu »zählen«, sondern, so das Ergebnis des Werkes von Ricœur, zu »er-zählen«. Unser rechtes Verhältnis zur Zeit in beiden Weisen ihres Erscheinens ist nach Ricœur das »Erzählen«. Deshalb der Titel Ricœurs »Temps et récit (Zeit und Erzählung).« »die Zeit leben« – Kohelet 3,1–8 In der Bibel haben wir einen Text, der von der Zeitlichkeit und von unterschiedlichen Zeiten spricht. Ein paar Verse daraus: »1 Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: 2 eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, 4 eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz; 7 eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, 8 eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden« (Kohelet 3,1–8).

Wenn wir dieses Zitat nicht nur als frommen Spruch betrachten, sondern als Aussage mit einem wahren Kern, dann erscheint die Zeit hier nicht passiv, als Dimension, in die wir eben eingefügt sind (»in der Zeit leben«), sondern aktiv, die etwas anregt und bewirkt, wie Lachen, Tanzen, Gebären, Sterben usw. Wie tritt Zeit eigentlich in Erscheinung? In dem Text von Kohelet wird die Zeit im Zusammenhang 10

Ricœur, Zeit und Erzählung III, a. a. O., 34–35.

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mit verschiedenen Lebensweisen oder Handlungen wiedergegeben, mit Verben oder Tun-Wörtern wie Lachen, Weinen. Jede dieser Handlungen hat eine eigene Zeit. Die besondere Zeitlichkeit macht offensichtlich die Erscheinung der jeweiligen Handlung aus. Die Zeit hat nicht mehr die passive Rolle des ›in der Zeit‹, sondern erscheint geradezu als aktivierendes Moment der Handlung, sozusagen als ihr Motor. Heidegger hat sich in seinen frühen Untersuchungen mit dem Urchristentum und den Briefen des Neuen Testamentes befasst. Er hat die Einstellung zur Zeit im Urchristentum genannt: Nicht »in der Zeit leben«, sondern »die Zeit selbst leben« (GA 60, 82). Das ist eine gelungene Formulierung. Sie entspricht dem Zeitverständnis von Kohelet. Paul Klee hat die Bewegung für sich zur Grundlage seines Schaffens und Lehrens gemacht. Allerdings hat er längere Zeit darum gerungen, wie seine Tagebücher bezeugen. Er hat aber recht früh geäußert, wohin sein Weg führen sollte, wenn er im Tagebuch schreibt: »Ingres soll die Ruhe geordnet haben, ich möchte über das Pathos hinaus die Bewegung ordnen (Die neue Romantik)« (Tb 941). Er weiß, dass die zeitgenössische Kunst vor allem das Modell der Ruhe oder der Statik verfolgte, und dass er gegen die Standards die »Bewegung« setzen wollte. Paul Klee weiß von der klassischen Diskussion, die das Kunstverständnis beherrschte und in Lessings Laokoon sein Thema hatte. Für Lessing stand das »räumliche«, nicht »zeitliche« Verständnis der Kunst im Vordergrund. Dieses Verständnis hat die Kunst weitgehend beherrscht. Dagegen bringt nun Klee das »zeitliche« Verständnis ein, wie aus seiner zentralen Aussage der Schöpferischen Konfession hervorgeht: »Bewegung liegt allem Werden zugrunde. In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff« (SK 78). Beide Aussagen sind von fundamentaler Bedeutung, nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Philosophie und die Phänomenologie, deren Sinn wir hier verfolgen: »Bewegung liegt allem Werden zugrunde«, und »Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff«. Diese Aussagen sollten nicht überlesen werden, sondern sie geben das Grundverständnis der Werkauffassung Klees wieder. »Bewegung« und »Zeit« sind nach Klees eigenen Aussagen die Grundworte seines Schaffens. 29 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bilder sind ganz Bewegung (Paul Klee)

1.3.2 Bewegung bei Klee Paul Klee hat wie kaum ein anderer Künstler »Bewegung« zur Grundlage seiner bildnerischen Arbeit gemacht. Er hat die Problematik grundsätzlich formuliert. In einer einführenden Lektion der Beiträge zur bildnerischen Formlehre hat er den Bauhausschülern die Frage gestellt: »Was heißt überhaupt im Werk Bewegung? Unsere Werke werden sich in der Regel doch nicht bewegen? Wir sind doch keine Automatenfabrik. Nein, unsere Werke werden von sich aus meist ruhig an ihrem Platz bleiben. Und trotzdem sind sie ganz Bewegung« (BF 94). Auf dieser Grundlage formulierte Klee wiederum in der Schöpferischen Konfession sein Werkverständnis, das aber nicht für eine begrenzte Zeit gilt, sondern für das Werk Klees insgesamt. Klee formuliert: »Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln)« (SK78). Klee charakterisiert mit dieser Beschreibung das bildnerische Schaffen als »Grundphänomen«, wie wir solche und ähnliche Handlungsweisen phänomenologisch nennen werden. Denn nach diesem phänomenologischen Verständnis ereignet sich bei der (künstlerischen) »Bewegung« entsprechend dem Zitat Klees ein Dreifaches: (1) das Kunstwerk entsteht durch den Künstler, sein Bildsehen und seine Hand, ein gegenständliches »Werk« (Bild), das durch die ›Bewegung festgelegt ist‹, (2) nämlich durch die ›Bewegung des Künstlers‹ mit Auge und Hand, dem Bildsehen und -schaffen. (3) Damit kommt die ganze und eine künstlerische ›Bewegung‹, das wir »Grundphänomen« des Kunstschaffens nennen werden, zu ihrer Vollendung. Dieser dreifache Knoten der künstlerischen Handlung wird uns später näher beschäftigen. Merleau-Ponty nennt das bildnerische Gestalten ebenfalls »Grundphänomen« (PW 320–324). Husserl hatte von »Kinästhesie« gesprochen (Hua VI, 164). Husserl hatte die Kunst oder »Ästhetik« wieder auf die Grundlage der »Aisthesis« zurückgeführt. »Aisthesis« ist Empfinden, Wahrnehmung. Nach Husserl ist in der Kunst von Wahrnehmung und von verschiedenen Formen (sinnlicher) Wahrnehmung auszugehen. Die »Kinesis« im Begriff der »Kinästhesie« meint Bewegung. Wahrnehmung und ihre Formen, darunter auch das Sehen, vollziehen sich durch bestimmte Bewegungsformen. Wahrnehmen, Empfinden, Sehen sind Bewegungsvollzüge. Mit »Be30 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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wegen« ist dabei nicht nur ein einfaches Gehen gemeint, sondern ein »Sich-Bewegen«. Sich-Bewegen ist seit der Philosophie des Aristoteles die Auszeichnung des Lebendigen. Kinästhesie ist damit die lebendige Bewegung des Wahrnehmens oder Sehens, eine Bewegung, die von dem Wahrnehmenden ausgeht und auf ihn zurückkommt (Schwellen 68 f.). Lebendige Bewegungen wie Sich-Bewegen sind mit anderen Worten »transitiv« und »reflexiv«, sie strahlen wahrnehmend in die Welt aus (transitiv) und kehren zum Wahrnehmenden zurück (reflexiv). Nur so ereignet sich Wahrnehmung und Sehen; sie sind Grundphänomene. 11 Paul Klee hat zeitlebens daran gearbeitet und geforscht, die Bewegung des bildnerischen Sehens und Wirkens zu studieren und darzustellen. Das ergibt sich aus den frühen schriftlichen Werken und Aufzeichnungen, die in großer Fülle im Klee-Zentrum in Bern liegen, soweit sie uns bekannt sind. Welche Bedeutung Klee dem Studium der Bewegung gibt, wird etwa deutlich aus den vorliegenden Aufzeichnungen zu unterschiedlichen Zeiten. Es liegen uns ausführliche Vorlesungsnotizen aus den Jahren 1921–1922 vor, die Klee in einem größeren Konvolut mit dem Titel Bildnerische Formlehre hinterlassen hat (BF). Wir haben dann die sehr umfangreichen Vorlesungsnotizen ab 1923, die Klee dann Bildnerische Gestaltungslehre nannte (BG). Diese neue Bezeichnung seiner Lehre ist keine Nebensächlichkeit, sondern Klee hat ausdrücklich auf diesen Umstand hingewiesen. Es hängt mit dem vertieften Verständnis von »Bewegung« zusammen. Für Klee ist der Begriff »Form« der Bildnerischen Formlehre nicht mehr ausreichend, sondern der Begriff der »Gestalt« in der Bildnerischen Gestaltungslehre bringt das Kunstschaffen besser zum Ausdruck. Klee äußert sich dazu in der Bildnerische Gestaltungslehre. Denn es setzt sich bei ihm die Überzeugung durch, dass die Bewegung die Grundvoraussetzung dafür ist, dass Gestaltung sich ereignen und damit Gestalt, also das bildnerische Werk überhaupt entstehen kann. »Kinästhesie«: gr. »kinesis« = Bewegung; gr. »aisthesis« = Empfinden; Kinästhesie ist demnach »Bewegungsempfindung« (Selbst 39 f.). Husserl gebraucht Bewegen vor allem als »Sichbewegen«, das Kennzeichen des Lebendigen, des Lebens, ist (Hua VI, 164). Sich-bewegen = lebendig sein (Selbst 76–88, 108 ff.). »Sich bewegen«, gr. Leben, ist transitiv und reflexiv (Selbst 108). Das gilt vor allem für das Leibbewusstsein, das durch sinnliche Reflexivität ausgezeichnet ist, im »ich bewege mich« einen »intentionalen Bogen« ausführt und so einen eigenen »Funktionskreis« ausführt (Schwellen 20, 23). Es hat die Charakteristika eines »Grundphänomens« (s. unten).

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Bewegung sei überall, es gebe letztlich keine starren Dinge. »Bewegung liegt allem Werden zugrunde« (SK 78), hat er schon in der Schöpferischen Konfession festgehalten. Es handelt sich um einen Kernsatz seiner Gedanken zur Kunst als Schöpfung. So lehrte er im Bauhaus. Der Begriff der »Gestaltung« erinnert an Goethes Metamorphosenlehre. 12 Goethe spricht dort von »Bildung«, was der »Gestaltung« Klees entspricht. Klee erläutert dazu: »Die Lehre von der Gestaltung befasst sich mit den Wegen, die zur Gestalt (zur Form) führen. Es ist wohl die Lehre von der Form, jedoch mit Betonung der dahin führenden Wege. Das Wort Gestaltung charakterisiert das eben gesagte durch seine Endung. ›Formlehre‹, wie es meist heisst, berücksichtigt nicht die Betonung der Voraussetzungen und der Wege dahin. Formungslehre ist zu ungewohnt. Gestaltung knüpft in seinem Sinne außerdem deutlich an den Begriff der zu Grunde liegenden Voraussetzungen an. Und ist darum desto mehr vorzuziehen« (BG I.1/4).

Klee hatte in der früheren Bildnerischen Formlehre die »Bewegung« unter dem Begriff der »Mechanik« abgehandelt. Aber auch die anderen Definitionen der Begriffe »Statik« und »Dynamik«, Grundbegriffe der Bewegung, stimmten für ihn später nur bedingt. Denn so stellt Klee mit Bestimmtheit fest: »Bewegung ist in Wahrheit Norm. Und wenn Bewegung in Wahrheit Norm ist, dann ist auch Dynamik Norm. Norm heisst gewöhnlich Zustand. Der gewöhnliche Zustand der Dinge im Weltraum ist also: der Zustand der Bewegung. Gestaltung ist Bewegung« (BG II.21/6). 13

1.3.3 Zeitlichkeit der Bewegung Mit der Neufassung der »Bewegung« ist auch eine Neufassung der »Zeit« verbunden. (Eikon 149 ff., 273–286). Man kann wie vom »Bild-Raum« von der »Bild-Zeit« (Zeit 6) sprechen. Und wie man von dem »Bild-Sinn« spricht, so kann man auch von einem »ZeitSinn« sprechen (Eikon 108–109); (OZ 138, 138). 14 »Bild-Sinn« meint das Bildereignis, meint das Sinngeschehen in statu nascendi des BilGoethes Metamorphosen s. (Schöpfung 173 f.), (Wege 124 ff.). So steht es am Anfang der Hauptabteilung »Mechanik« (BG II.21/6); vgl. (Schöpfung 178); (Geo 85). 14 Vgl. (Zeit 1–24); (Eikon 279); (Abstrakt 51); Dietmann, Lorenz (1987), »Bildrhyth12 13

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des (PW 18). »Zeit-Sinn« meint den zeitlichen Charakter des Bildereignisses, meint die zeitliche Wahrnehmung des Entstehens des Bildes, die Wahrnehmung des status nascendi. Es sei erinnert an das Zwillingspaar »Zeit« und »Bewegung« bei Aristoteles. Aristoteles geht von dem ›aristotelischen‹ Zeitverständnis aus, um die Bewegung zu messen. Nimmt man aber die Dualität von »Bewegung« und »Zeit« ernst, wie wir es uns vorgenommen haben, dann kann man auch von der »Bewegung« ausgehen, um die »Zeit« zu messen. »Bewegung« bringt den »Bild-Raum« und die »Bild-Zeit« hervor; sie zeigt den »Bild-Sinn« auf, der aus der räumlichen Darstellung und dem »Zeit-Sinn« hervorgeht. Paul Klee beschreibt in der Schöpferischen Konfession Zeit und Bewegung auf diese Weise. Paul Klee weiß von der klassischen Diskussion, die das Kunstverständnis beherrschte und in Lessings Laokoon sein Thema hatte. Für Lessing stand das »räumliche«, nicht »zeitliche« Verständnis der Kunst im Vordergrund (Zeit 6). Dieses Verständnis hat die Kunst weitgehend beherrscht. Warum diese Festlegung Lessings auf die »räumliche« Kunst? Selbstverständlich hat es die klassische Kunst auch mit der Zeit zu tun. Das Genre des »historischen Bildes« stellt eine eigene Kategorie der Malerei dar (Zeit 14–18). Dieses Genre hebt aber die Räumlichkeit der Kunst nicht auf. Laokoon ist eine historisierende antike Darstellung im klassischen räumlich-plastischen Medium. Boehm unterscheidet für die »Bild-Zeit« zwischen »dargestellter Zeit« und »Zeit der Darstellung« (Zeit 11, 20 ff.). Laokoon ist ein Beispiel historisierender »dargestellter Zeit«. Es wird eine griechisch antike Erzählung plastisch dargestellt. Es bedarf aber der historischen Erzählung, um die Plastik »Laokoon« zu erkennen und zu verstehen. Das Wesen des zeitlichen Erkennens kommt somit von außen, aus der Erzählung. Imdahl wird von »wiedererkennender Kunst« sprechen. Die »Zeit der Darstellung« geht nicht von außen hervor, sondern aus dem Inneren, von der Darstellung selbst, d. h. dem Prozess der Darstellung, von dem Wahrnehmen des Motivs bis zur Herstellung des Werkes. Dieser Prozess ist ein zeitlicher Prozess. Nach MerleauPonty geht das Werk aus der Wahrnehmung hervor, die ein zeitlicher Vorgang, und aus der Produktion des Werkes, welche wiederum ein zeitlicher Vorgang ist (ebd.). Das Ergebnis ist ein Werk oder Bild »dargestellter Zeit«. »Zeit« ist nach Boehm »die Grundkategorie der mik und Zeitgestaltung in der Malerei«, in: Paflik, Hannelore (Hrsg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim, 89–124.

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Malerei« (Zeit 3). Sie wohnt dem Bild in zweifacher Weise inne: die »Zeit der Darstellung« wohnt dem Bild selbst inne, ist Voraussetzung der Darstellung des Bildes, und Zeit kann im Bild dargestellt werden, die »dargestellte Zeit« im Bild. Das »räumliche« Verständnis der Kunst hatte Folgen für das zeitliche Verständnis der Kunst insgesamt. Dieses Verständnis von Zeitlichkeit der Kunst, das sich aus dem räumlichen ergab, bestimmte weithin die traditionelle Kunst. Dagobert Frey hat dieses Verhältnis der Malerei zur Zeit untersucht. 15 Die Frage nach Zeit und Bewegung des Bildes erscheint zunächst fragwürdig, da Bilder sich doch gerade durch Statik, Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit auszuzeichnen scheinen. Diese Charakterisierung des Bildes bezieht sich aber besonders auf den statischen Bildträger; die Definition des statischen Bildträgers beruht auf der ontologischen Interpretation, die von der Statik und Unveränderlichkeit des Seienden, das den endlichen und beweglichen Dingen zugrunde liegt, ausgeht. Das Bildphänomen wird mit dem Modell der Statik gleichgesetzt. Wenn die Kunstgeschichte das Problem der Zeit in den Blick bekommt, bezieht sie sich zumeist auf die Statik des Materials und nicht auf die des Mediums. So definiert Dagobert Frey das Wesen der Bildkunst als unveränderlich und von Dauer, da es in allen seinen Teilen gleichzeitig gegenwärtig sei. Frey nennt als entscheidenden Antrieb der Statik für die bildkünstlerische Gestaltung die Überzeitlichkeit des Bildes. Dank dieser Überzeitlichkeit vermag das Bild religiöse und soziale Funktionen zu erfüllen. »In dem Bildwerk tritt kraft seiner Überzeitlichkeit die Gottheit in ihrer Zeitlosigkeit zur Erscheinung, durch das Bildwerk wird dem dargestellten Menschen die Dauer der Existenz verliehen und gewährleistet«. Das Bildwerk wird damit dem Urerlebnis des Menschen, seiner Vergänglichkeit und Sterblichkeit, entgegengestellt. Die Überzeitlichkeit des Bildes versinnbildlicht die Zeitlosigkeit, die alles Lebendige umgibt. In der Darstellung wird der unveränderliche Raum von der Bewegung im Raum geschieden; die Bilder werden in ihrem Realitäts- und Zeitcharakter aufgespalten: in das zeitlos Umfassende als wahrhaft Seiendes und in die endlichen und beweglichen Dinge der Erscheinungen. »Die Sprache der bildenden Kunst wurde, eben weil sie statisch war, zur Sprache der Zeitlosigkeit.« Die Kunst 15 Frey, Dagobert (1955), Bausteine zu einer Philosophie der Kunst. Darmstadt 1976, 213 ff.

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vermag so den Bereich des Sinnlichen mit dem Bereich des Zeitlosen zu verbinden: darauf beruht ihre ikonische Macht. Es ist die »Form« der bildnerischen Gestaltung, welche die Überzeitlichkeit oder Zeitlichkeit des Bildgegenstands bestimmt. Insofern er typisiert und idealisiert wird, erscheint er als überzeitlich und das dynamische, lebendige Modell wird zum Symbol der Zeitlosigkeit. Insofern er als einmalig und einzigartig, als individuell aufgefasst wird, kann er zeitlich einem bestimmten Zeitpunkt zugeordnet werden. »Das bedeutet also, daß alle realistischen Stilphasen in der Kunst zu einer Betonung der Zeitlichkeit, alle idealistisch-klassischen zur Überzeitlichkeit tendieren«. Entscheidend für das Erleben der Zeitlichkeit oder Überzeitlichkeit des Bildes ist vor allem auch die Art des Verhältnisses zum Betrachter. »Je entschiedener die Realitätssphären des Bildwerkes und des Betrachters getrennt sind, um so stärker wird auch die Überzeitlichkeit des Bildwerks hervortreten […]. Je mehr dagegen das Bildwerk auf den Betrachter bezogen erscheint und in seinen Lebensraum eintritt, um so mehr wird die Überzeitlichkeit des Bildes in Frage gestellt. Es wird verzeitlicht, woraus sich eine gewisse Profanierung wie eine innigere und tiefe Vermenschlichung ergeben kann. Das zeitlich Distanzierte wird vergegenwärtigt, indem der Betrachter in seiner subjektiven Gegenwärtigkeit an ihm teilnimmt«. Betrachter und Bild stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Einerseits wird das Bild in den zeitlichen Lebensablauf des Betrachters aufgenommen und die Art und Weise der Rezeption wird von dessen Zeitlichkeit bestimmt; andererseits wird der Betrachter in die überzeitliche oder zeitliche Realitätssphäre des Bildwerks hineingezogen und aus der eigenen Zeitlichkeit herausgehoben. 16 Dagegen bringt Klee das »zeitliche« Verständnis der Kunst ein. »Bewegung liegt allem Werden zugrunde. […] Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff« (SK 78). Klee bringt ein anderes Verständnis der Malerei ein. Er beginnt seine bildnerische Lehre von vorne, um Stufe für Stufe aufzuzeigen, wie aus der Bewegung Zeit hervorgeht. So beginnt er mit Punkt und Linie. Es ist die Erzählung des Spazierganges: »Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das ›Zeit‹. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen« (SK 78).

16

Ebd.

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Diese Bemerkung erinnert an das berühmte Beispiel der »Linie« bei Kant. Nach Kant bedarf jede Linie der Handlung, die Linie praktisch zu ziehen. Linie ist nie nur abstrakte Idee der Vernunft, sondern auch die Linie muss gezeichnet werden. D. h. eine Linie ist nicht nur ein geometrisches zeitloses Element, sondern sie bedarf der Aktion des Zeichnens. Übrigens ist nach Kant die Linie auch die Grundfigur jeden Urteils der Vernunft, also auch der synthetischen Sätze, die der Kern der Urteilskraft der Vernunft sind. Auch die synthetischen Sätze sind nach Kant überraschenderweise »zeitlich«. 17 Allerdings kennt Kant offenbar nur die gerade Linie, die direkte Gerade zwischen zwei Punkten. An dieser Stelle mag sichtbar werden, wieweit Klee auch von dem geometrischen und philosophischen Begriff entfernt ist, wenn man sich die Lebendigkeit und Vielfältigkeit sich bewegender Linien bei Klee vor Augen führt. Es mag schon erstaunen, dass Kant selbst das Fundament seines philosophischen Denkens, das synthetische Urteil apriori, zeitlich erklärt, es aber kaum zu erkennen ist, wie die Lebendigkeit und Vielfalt der Linien Klees denkerisch zu bewältigen wären. Man wird zum Ergebnis kommen, dass es letztlich dem Denken nicht möglich ist, Bewegung und Zeit zu beherrschen. Vernunft kann Bewegung und Zeit letztlich nicht erklären, was dem Bonmot von Valery entspricht: »Es ist unmöglich, einen Rhythmus zu denken« (Schwellen 70). Mit anderen Worten Bewegungs- und Zeitvorgänge wie Rhythmen sind letztlich nicht auszudenken. Klee fährt fort, wie die Bewegung vom Punkt zu Linie zeitlich ist, so auch die Bewegungen von der Linie zur Fläche und zum Raum. Klee wendet seine Einsicht der Zeitlichkeit auf das Kunstwerk insgesamt an, nach zwei Seiten schauend, nämlich einmal auf das Entstehen des Werkes und zum anderen auf das Betrachten des Werkes. Klee spricht von dem Werk als »produktiver« und »rezeptiver« Bewegung. Das Kunstwerk wird produziert durch den Künstler. Klee legt aber nicht weniger Gewicht auf das Betrachten des Kunstwerks. Das Wahrnehmen bzw. Betrachten des Bildes ist aber nicht nur Sache des Kunstbetrachters, sondern der Künstler nimmt sein Motiv ebenso wahr und betrachtet es nach der Vollendung. Alles geschieht in der Zeit. Das Schaffen des Künstlers ist produktiv: »Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht 17

Kant KrV B 154 f.; s. Geo 89.

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anders als ein Haus« – also ist das bildnerische Werk von der Zeit abhängig. Klee führt die produktive Tätigkeit des Künstlers näher aus: »Ein gewisses Feuer (des Künstlers) zu werden, lebt auf, leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt als Funke, den Kreis schließend, woher es kam: zurück ins Auge und weiter« (SK 78). Klee verknüpft die Tätigkeit des Künstlers hier mit dem Sehen des Betrachters. Künstler und Betrachter sind jeweils produktiv und rezeptiv (BF 95–96). Der Künstler ist zunächst produktiv, dann aber auch rezeptiv, da er von der Hand zum Auge übergeht und das von ihm Produzierte in Augenschein nimmt: »Die beiden Vorgänge, das Bauen und das Behauen, spielen sich in der Zeit ab. Schon im Anfang der produktiven Handlung, kurz nach der initialen Produktivbewegung, setzt schon die erste Gegenbewegung ein, die initiale Rezeptivbewegung. Das heißt: der Schaffende kontrolliert, was er bis dahin schuf, ob es gut so war. Das Werk als menschliche Handlung (Genesis) ist, sowohl produktiv als rezeptiv: Bewegung« (PS 13). »Und der Betrachter, wird er auf einmal fertig mit dem Werk? (Leider oft ja.)«. Und nicht nur der Maler ist bei seinem Werk auf die Zeit angewiesen, sondern auch der Betrachter. »Sagt nicht Feuerbach, zum Verstehen eines Bildes gehöre ein Stuhl? Wozu der Stuhl? Damit die ermüdenden Beine den Geist nicht stören. Beine werden müd vom langen Stehen. Also, Spielraum: Zeit« (SK 78).

Also auch der Betrachter ist nach Klee von der Zeit abhängig. Bildsehen ist demnach ebenso zeitlich. Eine wichtige Bemerkung von Klee, denn später wird er umfangreich von dem produktiven und rezeptiven Charakter der Sehereignisse sprechen. Produktiv ist der Künstler, rezeptiv der Seher, beide gehören in die eine zeitliche Bewegung der Kunst. Wie geht das Sehen vor dem Kunstwerk zeitlich vor sich? »Produktiv liegt es an der manuellen Begrenzung des Schaffenden (er hat nur zwei Hände). Rezeptiv liegt es an der Begrenzung des aufnehmenden Auges. Die Begrenzung des Auges ist die Unmöglichkeit, eine auch ganz klein gemessene Fläche zu gleicher Zeit scharf zu sehen. Das Auge muß die Fläche abgrasen, eine Partie nach der anderen abgrasend schärfen, eine nach der anderen dem Gehirn in Erinnerung geben, welches die Eindrücke sammelt und aufspeichert. Das Auge begeht die ihm im Werk eingerichteten Wege« (PS 13).

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Hier spricht Klee einen wichtigen Grundsatz seiner Kunst aus. Es ist zugleich auch der Grund für den zeitlichen Charakter des Bildes: das Sehen kann nicht das Ganze des Gemäldes in einem aufnehmen, sondern wandert vom Ganzen zum Einzelnen hin und her, um so nacheinander – zeitlich – sich ein Bild zu machen. Klee erläutert weiter: Das Auge des Betrachters ›verfolgt die Wege, welche der Künstler im Werk eingerichtet hat‹. Deshalb ist »auch des Betrachters wesentliche Tätigkeit zeitlich. Der bringt Teil für Teil in die Sehgrube, und um sich auf ein neues Stück einzustellen, muß er das alte verlassen. Einmal hört er auf und geht, wie der Künstler. Hält er’s für lohnend, kehrt er zurück, wie der Künstler«. – Das Auge des Sehenden verfolgt so die Wege des Künstlers. Er beschränkt sich aber nicht auf die physische Bewegung des Künstlers, sondern vom Betrachter ist ebenso eine psychische Bewegung verlangt. »›Dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Betrachters sind im Kunstwerk Wege eingerichtet. (In der Musik dem Ohr Zuleitungskanäle – das weiß ein jeder – im Drama beides beiden)‹« (SK 78). 18 In dem letzten Zitat deutet Klee eine Gemeinsamkeit von »Musik« und »Kunst« an. Diese Gemeinsamkeit besteht vor allem auch für die Malerei. Diese besondere Zeitlichkeit der Malerei wird uns bei Klee besonders begegnen. Die Eigenheit eines solchen zeitlichen Bildsehens ist das »simul et singulariter«, d. h. das »Ganze« und das »Einzelne« zusammen sehen (Zeit 7 ff.). Im Unterschied zur normalen linearen Sprache ist die stumme Sprache des Bildes eine prozesshafte Bewegung, die von allen Seiten zugleich in Gang kommt. Die Zeitlichkeit des Bildes hängt wesentlich mit dem nicht linearen Erschließungsweg des Auges zusammen. Er beschreibt die Richtung vom Detail zum Gesamtbild, vom Simultanbild zum Einzelelement. »Erforderlich ist ein Hin und Her des Blickes. Räumliche Bestimmungen in der Wahrnehmung ergeben sich aus einem zeitlichen Prozess: Der Bildraum ›zeitigt‹ sich« (Zeit 12). Entscheidend ist, daß das teilnehmende Auge das Bild als ein Ganzes betrachtet und nicht als Einzelnes oder als Summe von Einzelteilen. »Simultaneität« und »Sukzession« (simul et singulariter) sind Kennzeichen des Grundphänomens des zeitlichen Bildgeschehens, der »Bild-Zeit«. Klee schließt seine Betrachtung zu Bewegung und Zeit mit gestanzten, sein Werk im ganzen prägenden Aussagen: 18

Vgl. (BG II,21.58–64); (Schöpfung 15–16).

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Bewegung und Zeit

»Charakter: Bewegung. Zeitlos ist nur der an sich tote Punkt. Auch im Weltall ist Bewegung das Gegebene. Ruhe auf Erden ist zufällige Hemmung der Materie. Dies Haften für primär zu nehmen eine Täuschung« (SK 78).

Mit der Charakteristik des Künstlers durch Zeit und Bewegung wird zugleich die Berufung des Künstlers als »Schöpfer« nahe gelegt: »Die Genesis der ›Schrift‹ ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es als Produkt erlebt« (SK 78).

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2 Kurze Einführung in die Phänomenologie

Die bisherigen Bemerkungen zum Kunstverständnis Paul Klees sind am besten phänomenologisch zu erläutern und zu vertiefen. Die bisherigen Themen wie Gehen und Sehen, Bewegung und Zeitlichkeit sind Grundworte der Phänomenologie. Um sie zu erschließen, ist eine kurze Einführung in die Phänomenologie notwendig, wie sie hier verstanden wird. Die Weise phänomenologischen Sprechens, wie es im Folgenden geübt wird, ist ein nicht übliches Lesen und Sprechen. Es handelt von den Grundworten bzw. Grundphänomenen der Phänomenologie und ihren Formen und Darstellungen in der Kunst.

2.1 Phänomenologische Grundbegriffe bei Husserl Der Religionsphilosoph Bernhard Welte eröffnete seine Vorlesungen gewöhnlich mit dem Kernsatz der Phänomenologie »Ich erkenne etwas«. Dabei hat jedes Wort seine eigene Bedeutung, vor allem aber der Zusammenhang des Satzes. Denn es ist der Ausdruck der sogenannten »Intentionalität«, neben der »Konstitution« der Hauptbegriff der »Phänomenologie« im Sinne Husserls. Intentio kommt von »intendere« und meint die Gerichtetheit eines Aktes (hier »erkennen«) auf einen Gegenstand (hier »etwas«). Der Begriff geht auf Franz Brentano zurück, der Intentionalität als Kriterium benutzt, um zwischen Psychischem und Physischem zu unterscheiden, und der mit dieser Unterscheidung die Psychologie gegenüber den naturalistischen Tendenzen seiner Zeit verteidigen wollte. Laut Brentano ist dem Psychischen eine Gerichtetheit zu eigen, die dem Physischen vollkommen fehlt. Gedanken, Wünsche, Ängste verweisen auf etwas anderes: Der Gedanke ist Gedanke von etwas; der Wunsch ist Wunsch nach etwas, die Angst ist Angst vor etwas. Intentionalität wird zur zentralen Kategorie in der Phänomenologie Husserls. Allgemein bezeichnet Intentionalität bei Husserl die Gerichtetheit des Bewusst40 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Phänomenologie als Theorie der Erfahrung (Waldenfels)

seinaktes auf einen Gegenstand. Husserl nennt die Unterscheidung von Akt und Gegenstand »Noesis« und »Noema«. Der andere Hauptbegriff ist der der »Konstitution«. Husserl nimmt an, die Empfindungsdaten, die im Bewusstsein vorkommen, erfahren eine vergegenständlichende Auffassung. Empfindungen, die zunächst nur in zeitlicher Folge und in räumlichem Nebeneinander auftreten, erhalten in einem besonderen Akt, den Husserl als Apperzeption bezeichnet, eine Formung und werden so zu Gegenständen. Die Phänomenologie hat sich seit Husserl weiterentwickelt. Husserls Phänomenologie ist eine »Bewusstseins«-Phänomenologie. Das Verfahren dieser Phänomenologie ist bekannt: Die »Intentionalität« wird durch drei Reduktionen erreicht: die »phänomenologische« Reduktion klammert alle Vormeinungen und Vorentscheidungen über den Erkenntnisgegenstand ein (Epochè); die »eidetische« Reduktion schält die Wesensschau der Gegenstandes heraus; schließlich führt die »transzendentale« Reduktion auf den letzten und ursprünglichen Boden zurück; es ist bei Husserl das transzendentale Bewusstsein und das transzendentale Ego. Husserls Phänomenologie ist so letztlich Bewusstseins-Phänomenologie. Ziel der Phänomenologie ist die »Konstitution« des Phänomens, der Aufbau der Gegenständlichkeit des Wissens und Erkennens nach erfolgter Reduktion. 19 Die klassische Phänomenologie ist vor allem durch den Weg »zu den Sachen selbst« charakterisiert. Es ist der Weg der »Reduktionen«: »phänomenologische Reduktion« auf die Sachen selbst; »eidetische Reduktion« auf die Form des Bewusstseins, das durch »Intentionalität«, das Korrelat von Noesis und Noema, gekennzeichnet ist. Ziel der Phänomenologie ist die »Konstitution«, der Aufbau der Gegenständlichkeit des Wissens und Erkennens nach erfolgter Reduktion.

2.2 Phänomenologie als Theorie der Erfahrung (Waldenfels) Ich werde nun versuchen, die Grundzüge der Phänomenologie nach Bernhard Waldenfels wiederzugeben 20, weil Waldenfels von der Erfahrung ausgeht, also nicht vom Bewusstsein wie Husserl. Gegen die Bewusstseinsphilosophie Husserls wurden die meisten Bedenken geHalder, Alois (2000), »Phänomenologie«, in: Philosophisches Wörterbuch, Freiburg, 246. 20 Zur Selbstvorstellung Waldenfels s. (Wissen). 19

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

äußert und damit auch gegen die Methode der Phänomenologie insgesamt vorgetragen. Aber die Phänomenologie hat sich seit Husserl weiterentwickelt. Waldenfels nennt seinen Vorschlag zur Phänomenologie eine »Theorie der Erfahrung«. Mit der Erfahrung sind wir aber mitten in unserem Thema. Denn Erfahrung ist die Grundweise von Wahrnehmung und Sehen. Waldenfels’ Definition von Phänomenologie lautet: »(1) Phänomenologie beschreibt leitende Gesichtspunkte unserer Erfahrung, (2) indem sie selbst einen Gesichtspunkt einnimmt und (3) schließlich in ›Rückbeziehung der Phänomenologie auf sich selbst‹ (Husserl Hua, Bd. I, S. 178, Bd. III, § 65) die phänomenologische Praxis selbst noch einmal einer kritischen Deutung unterwirft« (GN 20). 21 – Erläutern wir die Grundlagen der Phänomenologie nach Waldenfels nach den drei Stufen und den Stichworten, die kursiv wiedergegeben sind: (1) Phänomenologie »beschreibt«: Phänomenologie geht von Erfahrung aus. Der Anfang ist das Beschreiben. Beschreiben ist eine Weise des Gehens, einen Weg beschreiben, einen Weg gehen. Erzählen ist der erste Schritt der Erfahrung. Zum Gehen gehört das Motiv des »Weges«. Weg verweist auf das »Gehen« und dabei auf das Kriterium, ob »es geht«. Ich nenne die Formel »es geht« bei Heinrich Rombach die heuristische Formel seines beweglichen Denkens (StO). Die Formel entspricht vielerlei Aussagen, etwa der von Kafka: »Die Wege entstehen dadurch, dass man sie geht«. Oder von Handke: »An den Orten zu denen ich gefahren wurde, bin ich nie gewesen. Nur im Gehen öffnen sich die Räume […]. Nur der Geher holt sich ein und kommt zu sich. Nur was der Geher denkt, gilt«. 22 Die Formel »es geht« erinnert an die Formel »Fac et videbis«, die Klaus Hemmerle bei Franz von Baader gefunden hat (AS I, 216). Die Formel könnte dementsprechend auch wiedergegeben werden: »Handle (Gehe) und du wirst sehen (bzw. erkennen)«. Im Übrigen gilt dies auch für das Verständnis heutiger Wissenschaften. Rombach hat darauf aufmerksam gemacht. Seit Galilei gilt auch für die Wissenschaften: Sie wollen vor allem »ars inveniendi« – S. Handeln 63 ff. Zur zweifachen Revision von Husserls eidetischer und transzendentaler Phänomenologie (GN 21). 22 Handke, Peter (1987), Die Abwesenheit. Ein Märchen, Frankfurt, 116. 21

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Phänomenologie als Theorie der Erfahrung (Waldenfels)

»Forschung« – sein, nicht nur »ars demonstrandi« – »Wissenschaft« – Demonstrationsmethode (StA 42–43). Aber auch in den Kunst- und Kulturbereichen gilt dieselbe Überzeugung. Kunst ist besonders erfinderisch und kreativ. Deshalb sagte Pablo Picasso kurz und treffend: »Ich suche nicht, ich finde« (Schwellen 126): »Ich suche nicht – ich finde. Suchen ist das Ausgehen von alten Beständen und ein Findenwollen von bereits Bekanntem. Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die im Ungeborgenen sich geborgen wissen, die in der Ungewissheit, in der Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem sichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen. 23«

Kunst ist eine »ars inveniendi«, keine »ars demonstrandi«. Kunst macht nicht Altbekanntes sichtbar, sondern Neues. (2) »indem sie selbst einen Gesichtspunkt einnimmt«: die intentionale Erfahrung. Unter Erfahrung ist phänomenologisch zu verstehen, dass sich ›etwas als etwas‹ zeigt, was Husserl Intentionalität nennt. Die Phänomenologie befasst sich nicht direkt mit dem, was sich zeigt, sondern als wie oder ›als was‹ es sich zeigt. Z. B. erfährt ein Waldarbeiter oder ein Naturliebhaber einen Baum sehr unterschiedlich. Das bedeutet, dass alles, was sich zeigt, ›als‹ etwas gemeint, gegeben, verstanden, gedeutet oder behandelt wird. Das Schlagwort der Phänomenologie »Zu den Sachen selbst« kann leicht missverstanden werden. Die Sachen zeigen sich nicht direkt, sondern indirekt, indem sie sich über eine dritte Dimension oder über Gesichtspunkte eröffnen. Der leitende Gesichtspunkt des Naturliebhabers ist die Schönheit der Natur, die

»Pablo Picasso« (2008), in: Almut Haneberg, Kreatives Gestalten – meditatives Erleben, München, 38.

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

des Holzarbeiters die Pflege des Waldes. Die Sachen, das Was, zeigen sich je nach der Zugangsart, das Wie. Waldenfels spricht von dieser Unterscheidung des Was und Wie als »signifikativer Differenz«. »Als Theorie der Erfahrung befasst Phänomenologie sich nicht direkt, sondern indirekt mit dem, was sich zeigt, indem sie es so nimmt, wie oder als was es sich zeigt. Der Rückgang zu den Sachen selbst führt stets über eine dritte Dimension oder Instanz, die den Zugang eröffnet. So wird bereits in der V. Logischen Untersuchung (§ 17) [bei Husserl – KK] unterschieden zwischen dem ›Gegenstand, welcher intendiert ist‹, und dem ›Gegenstand, wie er intendiert ist‹ und das viel zitierte ›Prinzip aller Prinzipien‹, das Husserl in den Ideen I aufstellt, gebietet, dass ›alles, was sich uns in der Intuition originär (sozusagen in seiner leibhaftigen Gegenwart) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt‹. Heidegger schließt sich dem auf seine Weise an, wenn er in den methodischen Vorerwägungen von Sein und Zeit der Phänomenologie die Aufgabe zuweist, ›das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen zu lassen‹« (GN 21–22). Die Formel »etwas als etwas« [die signifikative Differenz – KK] (s. auch eidetische Reduktion), ist für Waldenfels »gewissermaßen das methodische Nadelöhr der Phänomenologie«, ist so etwas wie die Grundformel der Phänomenologie. Sie formuliert eine »Grunddifferenz« (GN 24), die in weiteren Differenzen gründet und nach Waldenfels weitere eröffnet. Waldenfels hat darauf hingewiesen, dass der Ursprung der Philosophie überhaupt, das »Staunen«, das Aufgehen einer Differenz, der »Grunddifferenz« von Sein und Seiendem ist. Für jedes Sehen und Denken ist das Auftreten von Differenzen entscheidend. Dies gilt für jede (Natur)Wissenschaft, umso mehr für die Geisteswissenschaften und ihre Sachbereiche, die nicht ohne weiteres aus der klassischen Logik abgeleitet werden können. Die Grunddifferenz durchzieht die Grundoperationen der Phänomenologie, die Reduktionen, nämlich die der »phänomenologischen«, »eidetischen« und »transzendentalen Reduktion«. Dazu seien nur die wichtigsten Unterscheidungen genannt. Die methodischen Reduktionen der Phänomenologie gehen nach Waldenfels zurück auf eine Ausfaltung der Grunddifferenz. Sie werden zur »eidetischen Differenz« und »transzendentalen Differenz«. »Dabei antwortet die eidetische Reduktion auf die Frage, wie das ›als etwas‹ zu denken ist, während die transzendentale Reduktion erklärt, wie sich die Diffe44 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Phänomenologie als Theorie der Erfahrung (Waldenfels)

renz von ›etwas‹ und ›als etwas‹, von Was und Wie ihrerseits denken lässt […]. Transzendentale Phänomenologie geht damit über in eine genetische Phänomenologie« (GN 29–32). Für die Kunst können ähnliche, aber der Kunst besonders entsprechende Vorgehensweisen genannt werden. Gottfried Boehm hat zur Kennzeichnung der modernen Bildwissenschaft den Begriff der »ikonischen Differenz« eingeführt. Boehm bezeichnet die maßgeblichen Vorgehensweisen der Bildwissenschaft (Ikonik) durch das Bestimmen der Differenzen innerhalb des Bildes. Die »ikonische Differenz« ist der Ausdruck für das Gesamt der aufzusuchenden und aufzufindenden Differenzen im Bild. Sie bezeichnet sozusagen die Grunddifferenz innerhalb des Bildes, das sich in eine große Anzahl einzelner Unterschiede ausdifferenziert. Waldenfels spricht in seiner Theorie der Erfahrung von den Differenzen als Gesichtspunkten. Solche Gesichtspunkte bzw. Differenzen kennzeichnen die Erscheinungen bzw. Bildwerke von Anfang an: »Die Gesichtspunkte, unter denen etwas erscheint, stellen sich ihrerseits als Differenzen dar, abgehoben von anderen Gesichtspunkten. […] Etwas tritt hier auf und nicht dort, heute und nicht gestern, nachher und nicht gleichzeitig, drinnen und nicht draußen, als dieses und nicht als jenes, als etwas und nicht als jemand, als Ich und nicht als Du, als Eigenes und nicht als Fremdes, als solches und nicht als solches usf. Die Einnahme des Gesichtspunktes geschieht okkasionell, von Fall zu Fall im jeweiligen Ereignis, das Ordnungen verwirklicht oder verändert und somit kein bloßes Ereignis unter anderen ist. Um das eigentümliche Privileg zum Ausdruck zu bringen, das dem Hier und Jetzt zukommt, spricht Husserl wiederholt von einem ›Nullpunkt‹ (vgl. Hua IV, 158). Die Stelle, von der aus sich ein Bezugsfeld entfaltet, ist keine gewöhnliche Stelle im System. Karl Bühler hat diesen Gedanken sprachtheoretisch umgesetzt in der Konzeption eines ›Zeigefeldes‹, das sich als ›Hier-jetzt-ich-System der subjektiven Orientierung‹ darstellt« (GN 22).

Neben diesen fundamentalen Differenzen ist ein Bild in allen seinen Elementen, Mitteln und Darstellungen von einer Vielzahl weiterer Differenzen geprägt. Waldenfels wird einen ganzen Fächer solcher Bestimmungen und Differenzen aufmachen. »Die phänomenologische Epochè, die sich auf die Welt im ganzen richtet, fächert sich auf in spezifische Varianten wie ikonische, pikturale, auditive, kinetische oder narrative Epochè (Differenzen), die in den diversen Künsten praktiziert werden« (Sinne 15).

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

(3) »schließlich die ›Rückbeziehung der Phänomenologie auf sich selbst‹ – kritische Deutung«. Die phänomenologische Praxis unterwirft sich selbst noch einmal einer kritischen Deutung, so Husserl (Hua I, 178; III, § 65). Die Phänomenologie unterzieht sich noch einmal einer grundsätzlichen Kritik, die aus ihr selbst kommt. Es ist eine selbstbezügliche Kritik der Phänomenologie, indem sie auf ihren Weg zurückblickt und ihn noch einmal einer kritischen Prüfung unterzieht. Wie ist das zu verstehen? Das Verfahren hängt mit dem grundlegenden Begriff der Erfahrung zusammen. Erfahrung muss auf ihre Plausibilität überprüft werden. Dazu ist sie aber auf ihre eigene innere Stichhaltigkeit angewiesen. Eine originäre Erfahrung kann nicht von außen beurteilt werden, sonst wäre sie keine originäre Erfahrung und wäre von außen abzuleiten. Wie aber kommt die Phänomenologie zu einer inneren Prüfung ihres Ergebnisses? Indem sie Rechenschaft gibt über das Wesen der Erfahrung und wie sich Erfahrung ergibt. Es ist dabei nach dem Was der Erfahrung und dem Wie der Erfahrung gefragt. Das Was der Erfahrung nimmt die Sache der Erfahrung in den Blick. Diese muss aber neu sein, da es ansonsten keine wirkliche Erfahrung wäre. Wie kommt das Wie der neuen Erfahrung zur Erscheinung? Durch die phänomenologische Zugangsart des Wie. Die Überprüfung gilt also dem »Was«, dem »Sachbezug« der Erfahrung, und dem »Wie«, der »Zugangsart« der Erfahrung. Die Einheit beider Wege, des Was und des Wie, zu einem einheitlichen Ergebnis zu führen ist aber schwierig. Denn es kommt zur kritischen Rückfrage: Trifft das Wie die Sache der Erfahrung und ist das Was in dem Wie der Erfahrung auch wirklich gemeint bzw. getroffen. Der phänomenologische Vorgang ist ein Prozess, eine Bewegung, wie ihn Husserl formuliert hat. Das betreffende Husserl-Wort ist den Cartesianischen Meditationen entnommen und lautet: »Der Anfang ist die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist« (Hua I, 77). Am Anfang geht es um Sachen und Dinge. Sie stehen stumm vor dem Forschenden. Die Erfahrung am Anfang ist »stumm«. Ziel des phänomenologischen Prozesses ist, die Sachen durch Erfahrung selbst zum Sprechen zu bringen. Sinn der Phänomenologie ist es, die Sachen selbst zur Aussprache ihres eigenen Sinnes zu führen. Die Phänomenologie bedient sich dazu zweier Wege, des Sachbezuges und der Zugangsart. Kein Weg darf sich aber verabsolutie46 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Phänomenologie als Theorie der Erfahrung (Waldenfels)

ren, weder der Sachbezug noch die Zugangsart, sondern beide sind aufeinander zu zuführen: »Erfahrung bedeutet zunächst ein Geschehen, in dem die ›Sachen selbst‹ jeweils zutage treten. Empirie, nicht Empirismus, meint nicht das Vorhandensein von Daten und auch nicht deren Sammlung in Datenbanken […]« – damit ist der Weg eines einseitigen »Empirismus« versagt. Die Zugangsart darf aber auch nicht einseitige Sinnbehauptung sein, etwa in der Form des Fundamentalismus, sondern es ist Aufgabe der Phänomenologie, die Erfahrung zur Aussprache des originären Sinnes der Sachen zu bringen: »Erfahrung bedeutet einen Prozess, in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge Struktur und Gestalt annehmen. Die Phänomenologie hat es, wie es bei Merleau-Ponty heißt, mit einem Sinn in statu nascendi (PW 18) zu tun und nicht mit den Gegebenheiten einer fertigen Welt«. 24 Ergebnis des phänomenologischen Weges ist demnach das »Aussagen« (Was) und »Sich-Zeigen« (Wie) der »Sachen selbst«. Diese Sichtweise der Wahrnehmung als Prozess der Erfahrung hat für das Kunstverständnis erhebliche Bedeutung. Kunst hat es nicht mit einer »fertigen Welt« zu tun, sondern mit einer Welt der Vielfalt von Möglichkeiten der Erscheinung. Das unterscheidet Kunst von der Theorie, die die Welt gerne festlegen würde. Kunst eröffnet Möglichkeiten der Realisation. Die Phänomenologie hat es mit den Phänomenen in statu nascendi zu tun (PW 18), also in ihrem Entstehen. Entscheidend dafür sind die Gesichtspunkte, unter denen ein Phänomen sich zeigt. Waldenfels hatte hinsichtlich der Erfahrung von solchen unterschiedlichen »Gesichtspunkten« gesprochen. Das wird für die Kunst erheblich. Sie variiert bei ihrem Sehen und Schaffen mit einer Fülle von Möglichkeiten der Wirklichkeit, indem sie diese in statu nascendi beschreibt. Es ist das Wesen der Kunst, dass sie dabei nicht nur irgendwelche Fantasiegebilde erfindet, sondern die Sinnhaftigkeit der Sachen selbst aufzeigt und zum Ausdruck bringt. Der Zustand des in statu nascendi gilt für die Kunst insgesamt. Es bringt die Zeitlichkeit der Kunst zum Ausdruck. Das Ziel der Kunst ist nach Merleau-Ponty der »kreative Ausdruck« der Erscheinungen (Sinne 145–148). Waldenfels, Bernhard (1997), Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt, 18.

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

2.3 Strukturphänomenologie nach Heinrich Rombach Besondere Bedeutung für die erneuerte Freiburger Phänomenologie hatte Heinrich Rombachs Strukturphänomenologie. Rombach reiht sich in die Reihe der Freiburger Phänomenologie ein und spricht von der »Philosophie der Bewegung« (StO 9 f.; StA 102). Rombachs Studien galten dem Versuch, die Freiburger Phänomenologie fortzuschreiben. Er wollte die Phänomenologie auf ein neues Niveau heben. In einer kurzen Autobiographie ging er auf den Schritt von Husserl zu Heidegger ein, von der transzendentalen Phänomenologie Husserls, die für ihn eine Bewusstseinsphänomenologie war, zur Phänomenologie Heideggers, die sich zuerst der Lebensphilosophie zuwandte, die Heidegger dann zur Daseinsanalytik und Fundamentalontologie vertiefte. Rombach formuliert in der genannten Autobiographie seinen Schritt einer erneuerten Phänomenologie: »Mit meiner eigenen Phänomenologie versuche ich den Gedanken [Heideggers] aufzunehmen, ihn aber dadurch zu erweitern, dass ich die ›Offenbarkeit des Seins‹ nicht nur im Verstehen des Menschen, sondern in jeder Wirklichkeitsform des Seienden sehe [, die sich] in ›Grundstrukturen‹ oder ›Grundphänomenen‹ auslegt. […] Meine ›Strukturphänomenologie‹ geht dahin, die Grundphänomene, die das Menschsein tragen, als elementarer denn ›Dasein‹ und ›Sein‹ anzusehen«. 25 – Diese Aussage wird im Folgenden Grundlage der Auslegung der Strukturphänomenologie Rombachs und der Folgen davon sein. Kommen wir auf die Kernaussage von Rombachs Neuformulierung der Phänomenologie zurück: »Mit meiner eigenen Phänomenologie versuche ich den Gedanken (Heideggers) aufzunehmen, ihn aber zu erweitern, dass sich die ›Offenbarkeit des Seins‹ […] in ›Grundstrukturen‹ oder ›Grundphänomenen‹ auslegt«. Rombach nennt sein erneuertes Verständnis der Phänomenologie ›Tiefenphänomenologie‹. Im Zentrum stehen dabei die zentralen Begriffe von »Grundphänomenen« und »Grundstrukturen«. Grundphänomene sind immer schon beachtet worden. Aristoteles etwa gibt als Grundwort der »Bewegung« das Verb »Bauen« an (Physik 201a). Aristoteles fügt hinzu, die Grundbewegung und Grundstruktur des Bauens gelte für eine Reihe anderer Handlungsweisen 25 Rombach, Heinrich (o. J.), Versuch einer Selbstdarstellung, Broschüre der Verlage Alber und Herder o. J., Freiburg.

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Strukturphänomenologie nach Heinrich Rombach

wie »Lernen, Heilen, Gehen und Springen, Altern und Reifen« (Physik III und V). Der neben Husserl und Heidegger bedeutende Freiburger Phänomenologe Eugen Fink hat von den »Grundphänomenen menschlichen Daseins« gesprochen: Arbeiten, Kämpfen, Lieben, Spielen, Erkennen, Gestalten. 26 Rombach erweitert die von Fink genannten um das Wahrnehmen (StA 133 f.) und Handeln (StA 347– 376). Und er führt andere an, indem er die Bezugspersonen dazu jeweils nennt: Glauben (Kierkegaard 27), Bekennen (Augustinus) (StA 133), Kennen, Erkennen, Bekennen (Pascal 28); Habermas nennt Arbeiten 29 und Herrschaft als solche 30. Bei Hemmerle spielen die Grundphänomene eine zentrale Rolle wie Gehen, Leben, Sprechen, Spielen (AS II, 124–161), ähnlich die Grundspiele: Interesse, Dasein, Sprechen, Sich-Geben (AS II, 12–121). Grundphänomene zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Handlung ansagen: »bauen«, »sprechen«, »geben«, »lieben«. Grundphänomene sind Handlungsweisen, die nicht auf andere zurückgeführt werden können, die aber einen ganzen Strauß von verwandten Handlungen aus sich entlassen, wie das Beispiel des Aristoteles zeigt. Zugleich ist deutlich, dass die Ansage einer Handlung nicht ausreicht, auch nicht, dass ich diese Handlung ausführe, sondern die Handlung bedarf einer oder mehrerer Ergänzungen, bedarf einer »Grundstruktur«, wie Rombach formuliert. Diese eigene Grundstruktur der Grundphänomene ist aufzuzeigen. Schließlich wird ein Grundphänomen erst dann erfasst, wenn es in seinem spezifischen Vollzug (bauen, geben, sprechen etc.) und in seiner besonderen Grundstruktur (Geber, Empfänger, Gabe oder das Geben) berücksichtigt wird. Oder anders ausgedrückt: die besonderen Auszeichnungen der Grundphänomene sind: (a) Verbalität und (b) Transitivität.

Fink, Eugen (1979), Grundphänomene menschlichen Daseins, Freiburg; s. Rombach (StA 133 ff.). Waldenfels Aufnahme der Grundphänomene Finks als »operative Begriffe« der Phänomenologie, s. (Wissen 3). 27 Rombach, Heinrich (1988), Die Gegenwart der Philosophie. Die Grundprobleme der abendländischen Philosophie und der gegenwärtige Stand des philosophischen Fragens, Freiburg, 169–170. 28 Rombach, Heinrich (1965–1966), Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg, hier 2, 205–208. 29 Rombach, Gegenwart, a. a. O., 168–169. 30 Vgl. Habermas, Jürgen, »Erkenntnis und Interesse« (1965), in: ders., Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt 1968, 146–168. 26

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

Im Folgenden soll ein erster Eindruck der Grundphänomene wiedergegeben werden, welche bei Rombach u. a. eine besondere Rolle spielen: Gehen, Sprechen, Geben; es sind Grundphänomene der »Bewegung«. Was sind die Vollzugsweisen und Grundstrukturen der Grundphänomene der »Bewegung«? (a) Zur Verbalität – das meint die Priorität des Verbums, der sogenannten »Tun«-Worte, wie sie etwas antiquiert, aber genau genannt werden. Oder in den Worten Hemmerles: ›fac et videbis‹ (AS I, 216): »Tue, handle, um zu erkennen«. Zuerst kommt das Tun. Es hat Priorität: Handlungen oder Vollzüge wie leben, spielen, arbeiten, sprechen, geben sind solche Grundphänomene menschlichen Daseins. (b) Zur Transitivität – die Grundphänomene sind transitive Tunworte oder Vollzugsweisen; sie folgen einer eigenen (Grund)Struktur. Diese Grundstrukturen sind zu erheben: die Modi des »Erkennens« führen etwa den Akkusativ »etwas« (»etwas erkennen«) mit sich; Modi des »Gebens« den Dativ »jemandem« und den Akkusativ »etwas« (»jemandem etwas geben«). Diese Grundstrukturen sind formaler Art, meinen also noch kein bestimmtes Objekt.

Was das bedeutet hat etwa Hannah Arendt zu Heideggers Denken an dessen 80ten Geburtstag geäußert. Sie beschrieb Heideggers Denken als »transitives« Geschehen, das nicht zuerst ein »Denken über etwas«, sondern ein »Etwas Denken« sein wollte, also auf den Vollzug und die Lebendigkeit des Denkens aus war. Denken ist unserem allgemeinen Verständnis nach ein Denken »über etwas«; Denken und Gegenstand stehen sich gegenüber, Denken ist gegenständliches Denken. »Etwas denken« dagegen geht nicht auf ein konkretes Etwas, sondern vor allem auf den Vollzug und auf die Lebendigkeit des Denkens selbst. Solches Denken ist transitiv. Es stellt sich das Etwas nicht als Objekt gegenüber, sondern geht sozusagen in das Etwas über, um es nicht von außen, sondern von sich selbst her zu bedenken. Denken und Etwas bilden keinen Gegensatz, sondern bilden eine Einheit, eben das »Etwas Denken«. (c) Ein weiteres Merkmal der Grundphänomene ist ihre Mehrdimensionalität oder »Simultaneität«. Während die normale Sprache linear konstituiert ist, also vom Subjekt zur Aussage über ein Objekt verläuft, laufen in den Grundphänomene mehrere Momente wie in einem Netz oder Knoten zusammen. Grundphänomene benötigen deshalb auch eine eigene Sprechweise.

Als Paradigma für die Ganzheit des Vollzugs und für die Mehrdimensionalität der Grundphänomene mag das »Geben« dienen. Die De50 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Strukturphänomenologie nach Heinrich Rombach

skription des Vollzugs von »Geben« kann als paradigmatisch für alle Grundphänomene dienen. »Geben« ist ein ganzheitlicher Vollzug. Führend dabei ist der Vorgang des »Gebens«. In ihm müssen aber alle Positionen oder Pole des Gebens miteinander in Beziehung treten und stehen, d. h. die Simultaneität vollzieht sich zwischen: Geber, Empfänger und Gabe. Nur so »geht« »Geben«, »gelingt« und »glückt« es. Was ergibt sich, wo das Verbum, die Tätigkeitsform, führend wird? Gabe und »Geben« sind in der neueren Philosophie zu einem zentralen Thema geworden. Aber auch zu einem kontroversen. Als Beispiel mag die Auseinandersetzung in Frankreich zwischen JeanLuc Marion und Derrida angeführt werden. Während Marion Geben und Gabe als Grundphänomen in die Philosophie zurückbringt, bestreitet Derrida die Möglichkeit eines reinen Gebens insgesamt. Für ihn gleitet jedes Geben in Ökonomie ab, was dem Geben selbst widerspricht. Ob man das Geben von Seiten des Gebenden, des Beschenkten oder auch der Gabe bedenkt, das Geben verdirbt sofort, sobald es von einer Seite allein betrachtet wird. Denn dann bemächtigt sich nach Derrida die Ökonomie sofort der Gabe und des Gebens. Wie das Dilemma vermeiden? Das Geben ist aus der Ökonomie zu befreien. Was heißt das? Geben wird im Allgemeinen im Zusammenhang von Geben und Nehmen verhandelt. Dem Geben auf der einen Seite entspricht ein Nehmen auf der anderen; hier der Geber, dort der Empfänger. Wird nur ein Pol bedacht, gerät Geben in die Falle des ökonomischen Rechnens. 31 »An-ökonomisches« Geben, so die Alternative, ist verwickelter. Bernhard Waldenfels spricht von einem »nehmenden Geben« und einem »gebenden Nehmen« (AR 609 ff., DG2, 280). 32 D. h. der Empfänger wirkt auf den Geber ein und so auch der Geber auf den Empfänger. Mit anderen Worten, das Geben in seinem Vollzug ist als ganzer zu sehen, aus ihm konstituieren sich die Momente. Das Geben als Ganzes zu sehen, heißt, die Trias des Grundphänomens des Gebens im Blick zu haben: den »Geber« und den »Empfänger« und das »Geben« bzw. die »Gabe«. »Sich-Geben, [heißt …] Vorrang der Bewe-

Marion, Jean-Luc (1998), Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris; Derrida, Jacques (1991), Falschgeld. Zeit geben I [Donner le temps 1. La fausse monnaie. Editions Galilée], München 1993. 32 Zum Begriff des »An-ökonomischen« s. Waldenfels, Bernhard (2012), Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Frankfurt, 228–233, bes. 230. 31

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

gung vor den Objekten des Gebens«. 33 Es ist die Beziehung zwischen Geber und Empfänger in ihrem Zu- und Ineinander zu betrachten; davon ist dann auch die »Gabe« bzw. Gegengabe betroffen. Derrida selbst gesteht zu, dass es natürlich ein Geben gibt, wenn es auch im gewohnten Denken nicht gedacht oder zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Antwort zeigt die Stärke der Strukturphänomenologie: ihr geht es um die Handlung selbst (das Geben), ohne sich auf die einzelnen Positionen (Geber, Gabe, Beschenkter) festzulegen. Es ist also die gesamte Beziehung zum Ausdruck zu bringen, die Beobachtung nur einzelner Positionen verdirbt sofort die Handlung des Gebens. Diesem Paradigma eines »Grundphänomens« werden wir im Folgenden immer wieder begegnen. Es wird geradezu zum Markenzeichen der Strukturphänomenologie werden (DG 2 278, 288). Wir werden dazu das »Sehen« als Grundphänomen der Kunst beschreiben.

2.4 Bernhard Waldenfels – responsive Phänomenologie Die Phänomenologie als »Theorie der Erfahrung«, wie wir sie oben beschrieben haben, gehört zum Gesamtprogramm der »responsiven Philosophie«, wie sie von Bernhard Waldenfels konzipiert wird. Die responsive Phänomenologie hat aber auch Folgen für die Kunsttheorie von Waldenfels, deshalb ist der Ansatz kurz vorzustellen. Das Sprechen ist die erste Vorlage für die responsive Phänomenologie von Bernhard Waldenfels. »Antworten« ist dabei das Grundwort. »Antworten« steht für das Sagen dem »Anderen« gegenüber. Der Ansatz für Waldenfels Responsivität ist das Sprechereignis als Antworten. Im Sprechereignis macht nicht nur das Ich den Anfang, sondern der Andere macht seinerseits den Anfang. Das Paradigma für die Responsivität ist das Geschehen des Antwortens. »Allerdings müssen wir dabei unterscheiden zwischen den Antworten (answer), die wir geben oder nicht geben, und dem Geben der Antwort selbst (response). Letzteres gehört zum Geschehen des Sagens, das niemals im Gesagten aufgeht. Nehmen wir eine Situation, in der ein Anderer mich anspricht, wortlos oder in Worten, so ergibt sich ein Anspruch, Hoffmann, Veronika (2013), Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg, 531.

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Bernhard Waldenfels – responsive Phänomenologie

auf den ich nicht nicht antworten kann. Es liegt an mir, wie ich antworte, das heißt, was ich zur Antwort gebe; es liegt nicht an mir, ob ich antworte. Keine Antwort ist auch eine Antwort. Der recht abgenutzte Satz von Watzlawick: ›Wir können nicht nicht kommunizieren‹ bekäme einen neuen Klang, wenn er umgeformt würde in ›Ich kann nicht nicht antworten‹. Die eigene Initiative geht hervor aus einem fremden Anspruch, also ist sie auf gewisse Weise nicht meine Initiative. Das Antworten ist ein Ereignis, vergleichbar dem Aufgreifen von etwas, was mir auffällt oder einfällt; ein Gedanke kommt, wie Nietzsche betont, »wenn ›er‹ will, und nicht wenn ›ich‹ will«. 34 Der Unterschied eines Sprechens, das sachlich oder thematisch auf eine Frage antwortet, und eines Sprechens, das zuerst Antworten ist, wie ihn Waldenfels zugrunde legt, ist offensichtlich. Am wenigsten dürfte Sprechen in der linearen Abfolge von Fragen und Antworten stattfinden, es sei denn im Abfragen von Prüfungen oder logischem Ableiten von Begründungen in Wissenschaft und Philosophie – wobei ein solches Sprechen als Antworten mit einem Fragezeichen zu versehen ist. Das überwiegende Sprechen ist ohne Zweifel das Antworten auf ein Ereignis, eine Situation, eine An-Frage, einen Appell, auf einen Anderen u. a. Das Paradigma der responsiven Phänomenologie von Waldenfels ist das Sprechen und dabei das Antworten. Daher auch der Name der Responsivität. Aber Responsivität findet Waldenfels nicht nur im Sprechen, sondern auch im Handeln, letztlich in jedem menschlichen Verhalten im Umgang miteinander und in der Welt. Der Anlass des Antwortens ist eine Anfrage, eine Initiative, die von einem Anderen kommt. Die Initiative kann aber auch von Anderem oder Fremdem überhaupt kommen. Auf diese Weise kommen Erfahrungen und Wahrnehmungen zustande: wir werden von etwas außer uns getroffen, angesprochen, bewegt. Das heißt, etwas kommt auf uns zu, bevor wir von uns aus darauf zugehen. Entscheidend dabei ist die doppelte Blickrichtung. Es ist ein Doppelereignis: Auf der einen Seite der Anspruch, ein Widerfahrnis, ein Anblick oder eine Anrede, die Waldenfels »Pathos (Widerfahrnis)« nennt, lösen eine Antwort aus, eine »Response« im oben genannten Sinn. Das Pathos geschieht mir und trifft mich, und andererseits bin ich es selbst, der die Antwort gibt. Das Widerfahrnis ist kein objektives Ereignis, das als Fakt zu konstatieren wäre, sondern das Widerfahrnis geschieht mir. Aber auch die 34

Nietzsche, KSA 5,20 f.; DG1, 299.

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

Antwort, ob als Wort oder Tat, ist kein Ereignis, das als Faktum festgestellt werden könnte, sondern ein Ereignis, das geprägt ist durch das, wovon es getroffen oder affiziert ist und worauf es antwortet. Die Antwort als Response ist ohne das vorgängige Widerfahrnis nicht zu verstehen und das Pathos ist nicht zu verstehen ohne das Widerfahrnis an mir oder an dem, den es berührt (OZ 226–227). Für Waldenfels ist das Doppelereignis von »Pathos« und »Response« die Grundlage jeder Responsivität. Das Doppelereignis ist gegenwendig. Diese Überzeugung gilt selbst für die Philosophie, etwa den Anfang der Philosophie bei Platon: »Der Anfang ist kein Sagen oder Tun, vielmehr ein πάθος, ein Widerfahrnis, also auch kein bloßer Zustand, wie vielfach in Übersetzungen zu lesen ist. Es beginnt, damit, daß uns etwas anrührt, trifft, affiziert« (Plato 11). Ein solches Widerfahrnis steht nach Waldenfels für die Philosophie überhaupt, »das Philosophieren beginnt mit dem Pathos des Staunens (Plato 10)«. Das »Staunen«, der Anfang der Philosophie nach den Griechen, ist eine pathetische Anfrage. Deshalb gilt es, die »Geburt des Logos aus dem Pathos« zu begreifen (Plato 10). Der Ausgang der Philosophie vom Antworten statt vom Fragen hat Folgen für das Verständnis der Philosophie selbst: »Hinter den Satz, der Mensch sei ein Lebewesen, das einen Logos hat, tritt ein Fragezeichen. […] Logos, der uns im Pathos widerfährt, ist kein aussagender (apophantischer oder prädikativer), sondern ein antwortender (apokritischer oder responsiver) Logos. Dies ist ein Logos, der nicht primär über etwas, sondern von anderem her spricht und auf etwas antwortet. […] Doch der Logos neigt dazu, den Vorsprung des Pathos einzuholen, in dem er sich das Fremde aneignet und es beherrscht, indem er das Pathos logifiziert und hegemonisiert« (Plato 11).

Auch in seinen Ausführungen zur Kunst ist für Waldenfels die Responsivität die Grundlage. Auch hier unterscheidet er zwischen Pathos und Response. Demnach ist das Bild die Antwort auf ein Ereignis, das ihm vorausgeht, von dem wir getroffen werden und auf das wir antworten. Etwas falle auf, woraufhin wir aufmerken. Die Antwort darauf ist das gesehene Bild, die Bildgestalt, der eidos oder die Evidenz (SK 125 f.). Auf dieser Grundlage definierte Waldenfels das Bild als »Ikonopathie« 35, die im Gegensatz zur Ikonologie nicht vom Logos, sondern vom Pathos bestimmt sei. Auf die entscheidende Boehm, Gottfried; Mersmann, Birgit; Spies, Christian (Hrg.) (2008), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München, 56–57.

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Grundphänomene Sagen – Hören – Sehen

Frage, wie dieses Pathos ausgelöst werde, verweist Waldenfels auf die Bildstruktur, auf die Linien und Farben und das Figur-Grundverhältnis«. Die Umwendung (Umkehr) vom Fragen zum Antworten hat letztlich schwerwiegende Bedeutung für alle responsiv Beteiligten. Die größte Veränderung ergibt sich für das Subjekt. »Beim Eingehen auf einen Anspruch handelt es sich um einen Bezug, der aus einem Entzug erwächst« (AR 235). Antworten ist Eingehen auf einen fremden Anspruch. Deshalb hat die Kreativität des Antwortens einen paradoxen Charakter: Im Antworten ›geben wir, was wir nicht haben‹. »Das Ereignis des Antwortens definiert sich nicht durch das Ich des Sprechers, sondern das Ich bestimmt sich umgekehrt durch das Antworten als Antwortender. Wo neuartige Gedanken entstehen, gehören sie weder mir noch dem Anderen. Sie entstehen zwischen uns«. 36 Wo Kunst responsiv verstanden wird wie bei Waldenfels, kann für »Sprechen« »Sehen« eingesetzt werden und wird diese Aussage zur Grundlage auch des Grundphänomens des Bildsehens: das Ereignis des »Sehens« geschieht im »Sichtbarwerden« eines Bildmotivs, das den Künstler anspricht, und das der Künstler »sichtbar macht«, indem er es zur Darstellung bringt. Das Ergebnis dieses Vorgangs des Sehens«, das ein Ereignis »zwischen uns« ist, zwischen Künstler und dem Motiv, ist das »Bild« (Ordo 243). Der Anspruch umfassender Responsivität ist von solcher Radikalität, dass nach Waldenfels die traditionelle Bestimmung des Menschen als des vernunftbegabten Lebewesens übersetzt werden müsste in den Satz: »Der Mensch ist ein Lebewesen, das Antworten gibt«; und Freiheit hieße dann nicht Ausgang von sich selbst, sondern bedeutete die Fähigkeit, »nicht schlechthin bei sich selbst, sondern woanders anzufangen« (ebd.).

2.5 Grundphänomene Sagen – Hören – Sehen In der Literatur zur Kunst des Grundphänomens des Sehens werden immer wieder Zusammenhänge und Analogien mit denen des Sprechens und des Hörens angeführt. Dies hängt offensichtlich mit der Gemeinsamkeit zusammen, als Grundphänomene zu fungieren. 36 Waldenfels, Topographie, a. a. O., 53. Zum Motiv »Geben, was wir nicht haben« s. (AR 620); (AS II, 146); (Gabe 542).

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

Grundphänomene zeigen gewisse Ähnlichkeiten; es sind aber auch Unterschiede festzuhalten. Analogien sind hilfreich, um gemeinsame Charaktere der unterschiedlichen Grundphänomene zu erkennen und festzuhalten. Zugleich sind aber auch Unterschiede zu markieren. Für Paul Klee ist aufschlussreich, dass er sich in seinen »Tagebüchern« (Tb) mehr über Musik auslässt als über die Malerei. An zentralen Stellen kommt er aber auf Analogien zwischen Musik und Malerei zu sprechen und nimmt aus ihnen wichtige Anregungen für sein Kunstschaffen mit. Sehen – Sagen Es werden immer wieder Analogien zwischen den Grundphänomenen des »Sprechens« und des »Sehens« angeführt. In der Tat gibt es Gemeinsamkeiten. Das hängt mit dem Charakter der Grundphänomene zusammen. Es hilft auch, das Sehen als Ereignis besser zu verstehen, wenn es mit dem Sagen betrachtet wird. »Dem Malen gelingt es, Erfahrungen ins Bild zu bringen, so wie das Sprechen und Schreiben Erfahrungen zur Sprache bringt« (Sinne 153). Allerdings sind die Unterschiede nicht weniger wichtig. Merleau-Ponty hat sich zum Verständnis des Werkes von Cézanne einige Zeit von der Zeichen- und Sprachtheorie Saussures anregen lassen. Mit Saussure wollte er den Versuch machen, die starre Zuordnung von Zeichen und Sinn (Signifiant und Signifié) durch eine bewegliche zu ersetzen, welche die Simultaneität ihres Ineinanders und Auseinanders zu sehen erlaubt. Merleau-Ponty hört auf, das sprachliche Zeichen (aber auch das bildliche Zeichen) als Sinnträger zu beschreiben. »Bei de Saussure haben wir gelernt, daß die einzelnen Zeichen für sich genommen nichts bedeuten, daß jedes von ihnen weniger einen Sinn ausdrückt, als daß es einen Sinnabstand zwischen sich selbst und den anderen Zeichen angibt … sprachliche Bedeutungen werden erst durch die zwischen ihnen auftauchenden Unterschiede hervorgebracht« (AG 111). Darin liegen drei wichtige Konstruktionsprinzipien des bildlichen Systems. Erstens ist das einzelne (das isolierbare) Element für sich bedeutungslos und insofern nichtig. Es wird bedeutungsstiftend durch einen zweiten Gedanken, nämlich den einer lateralen Verbindung mit anderen Elementen. Sinn artikuliert sich nicht in der finalen Zuordnung von Zeichen und Sinn, sondern aus dem Prozeß einer lateralen Verknüpfung der Zeichen untereinander. Es bilden sich allmählich Sinnkonfigurationen heraus: ›Man kann sagen, dass malen 56 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Grundphänomene Sagen – Hören – Sehen

kontrastieren ist‹. Das einzelne Element, als ›signifiant‹, weist nicht auf ein anderes außer sich, das ›signifié‹, sondern verweist zurück auf sich und die Syntax des Ganzen. Das Bild weist nicht über sich hinaus, von sich weg, sondern es verweist zurück auf sich selbst. (Mont 100) Es besteht kein Zweifel daran, dass der Maler in dieser Schicht arbeitet, wenn er malt. (Logos 301). Das Sprechen und alle Formen der Responsivität wie das Bildsehen u. a. beruhen auf einem »Geben« und »Nehmen«. Der Antwortende geht auf den Ansprechenden ein, er »nimmt« dessen Anregung und Anfrage auf und »gibt« darauf seine eigene Antwort. Für die responsive Phänomenologie des Sprechens hat Waldenfels ein »Antwortregister« vorgeschlagen. Dieses Antwortregister ist der Versuch, die »sprachliche Syntax« in einem Fächerschema, von Waldenfels »Antwortfächer« genannt, zusammenzufassen. Das sprachliche Register nennt alle sprachlich relevanten Sprechweisen und Sprechformen. Es öffnet das ganze Feld der Zeichentheorie, der Semiotik der Sprache. Nach Waldenfels ist die »perzeptive Syntax« (PW 58) vergleichbar der »sprachlichen Syntax« (Selbst 58). Beim Grundphänomen »Sagen« fächert der »Antwortfächer« die Struktur des Sprechens, die Syntax der Sprache, auf. Analog kann von der Syntax des bildhaften Sehens (perzeptive Syntax) gesprochen werden. Denn wie das Sagen responsiv ist, d. h. auf eine Anfrage antwortend, so ist analog das »Sehen« responsiv, d. h. Antwort auf ein Widerfahrnis oder Motiv. Wie man bei der Zeichentheorie der Semiotik zwischen »Syntax«, »Semantik« und »Pragmatik« aufteilt, so spricht Waldenfels von der Bildsemiotik als »Syntax«, »Semantik« und »Pragmatik« des Bildes. Für den Fächer der sprachlichen Syntax stehen die W-Fragewörter. 37 Das formale Wie verweist auf ein semantisch-ontologisches Was und ein pragmatisch-praktisches Wozu (SF 217). Das Schema der Fächer kann auch für die Bildsemiotik nützlich sein. Die Syntax der Wahrnehmung bzw. des Sehens kann so mit den W-Fragen wiedergegeben werden: »Wahrnehmung [ist …] der Urmodus der Intentionalität […]. Dies bedeutet, dass alles, was ist, sich als etwas (was) oder als jemand (wer wem) zeigt und thematisiert wird, und dies in der Offenheit meines bestimmten Horizontes oder

37

Zu den W-Fragen: s. (Schwellen 20–26), (GN 24–30, 49–52, 59–62, 67) passim.

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

Kontextes (worin), im Rahmen einer bestimmten Ordnung (wie) und im Lichte einer bestimmten Vernunft (Leib)« (DG1 354). Und für das Medium »Leib« (Selbst 9) gilt entsprechend: »Der Leib antwortet auf die Fragen: Wodurch, Womit oder Wie, nicht auf die Frage: Wer oder Was« (Schwellen 20–26) (GN 24–30). Das Ereignis »gehört zum Geschehen des Sagens, das niemals im Gesagten aufgeht«, formulierte Waldenfels (Plato 12 f.). Ebensolches wäre vom Bildsehen zu sagen: das Ereignis des Bildsehens geht nicht im gesehenen Bild auf. Die Anregung des Anderen (z. B. eines Motivs) ist ein Widerfahrnis, das mich (den Künstler) betrifft und affiziert, das es ohne Anrede an mich (ohne den Künstler) nicht gäbe. Wie die Antwort nicht auszusagen ist, wenn nicht ihre Herkunft aus der Anregung des Anderen zugleich vernommen wird, so wird auch das Kunstwerk nicht verstanden, wenn es nicht von der Herkunft des Motivs durch den Künstler gelesen wird. Das Ereignis des Sagens geht niemals ganz in dem Gesagten auf. Das Ereignis der Kunst geht nicht im objektiven sichtbaren Werk auf. Es bedarf des Künstlers, der versucht, das unsichtbare Ereignis durch seine Realisation sichtbar zu machen. Im Sinne von Paul Klee wäre zu formulieren, der Künstler zeigt das »Unsichtbare im Sichtbaren« auf. Verdoppelung des Sehens in Sehen und Gesehenes bzw. in eine Verdoppelung des Bildens in Bildwerdung und Gebilde, eine Verdoppelung, die der Zweiheit von Sagen und Gesagtem im Bereich der Rede entspricht. Sehen bedeutet hier das Ereignis des Sichtbarwerdens, das Zum-Vorschein-kommen und speziell das Ins-Bild-treten, das in jeder Beschreibung sichtbarer Gestalten und Sachlagen enthalten ist. Es deutet sich das Ereignis des Sehens an, das Sehen als Sichtbarwerden und Sichtbarmachen (Ordo 243). Hören – Sehen Wie gesagt, ist bei Paul Klee nicht ein gleiches Befassen mit der Sprache festzustellen wie mit der Musik (wenigstens nach den Tagebüchern). Und doch gibt es bei Klee einige interessante Hinweise seines Zeichen- und Sprachverständnisses für sein Kunstschaffen. Etwa ist sein Interesse an dem alten Material von Sprachen der Graphologie bekannt (Linie 8–9). Ein weiterer Zug mag darüber hinaus interessant erscheinen. Bekannt sind die Fülle von Zeichnungen bzw. Handzeichnungen gerade in der Spätzeit. Seit der Antike ist für das künstlerische Schaffen das Wort sprichwörtlich geworden: »Nulla 58 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Grundphänomene Sagen – Hören – Sehen

dies sine linea« (Plinius). Klee machte es zu seinem Tagesprogramm. Die Handzeichnungen u. a. waren nicht so sehr als einzelne Werke gedacht, sondern geradezu als Reihen. Man hat dabei von dem »visuellen Tagebuch« Klees gesprochen. Offensichtlich hatten diese Zeichnungen, die nach der Aussage seiner Frau an einem Tag nach und nach von dem Arbeitstisch fielen, nicht einen einzelnen künstlerischen Wert, sondern der Wert ergab sich aus dem Tagebuchcharakter, aus der Möglichkeit, sich zeitlich an die Entstehung eines Werkes o. ä. zu erinnern. Diese Produktion von Zeichnungen hat einen ›narrativen‹ Charakter. Es gibt einen Eindruck wieder, der für die Kunstwerke Klees insgesamt gilt, dass auch Klees Einzelwerke meist einen erzählerischen Charakter haben. Dieser Eindruck mag hier einmal zunächst so stehen bleiben. 38 Auf die große Gemeinsamkeit von Hören und Sehen oder Musik und Malerei bei Paul Klee hat der Komponist Pierre Boulez in einer eigenen schönen Schrift hingewiesen. 39 Boulez ist vor allem durch das Verhältnis von Musik und Malerei bei Klee angeregt. Gleich zu Beginn trifft Boulez die wichtige Feststellung, dass bei beiden Formen des Hörens und Sehens die Gemeinsamkeiten wie Unterschiede bewusst gemacht werden müssen. Eine grundsätzliche Gemeinsamkeit besteht für ihn darin, dass beides elementare Bewegungsformen sind. Ihr innerer Antrieb ist dabei die »Zeit«, im »Raum« breiten sie sich aus. Gemeinsam ist beiden, dass ihre Zeit nicht die geläufige chronologische Zeit ist, sondern eine jeweils eigene (Boulez 84). Die Zeiten der Musik und die der Kunst sind unterschiedlich. Es ist vor allem das Ziel der Schrift von Boulez, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser unterschiedlichen Zeitformen herauszuarbeiten. Auf der Grundlage der elementaren Konstitution aus Zeit und Bewegung gehen dann seine Betrachtungen zur Musik und zur Kunst (insbesondere von Paul Klee) hervor. Sehen und Hören sind für Boulez Ereignisse. Er spricht von Klang- und Bildereignissen. Gemeinsam ist beiden der Zusammenhang von Sukzession und Simultaneität der Töne und Klänge. Für Boulez zeichnet sich Musik vor allem durch die Gleichzeitigkeit von »Simultaneität« und »Sukzession« aus. Simultaneität und SukzesS. Zilch, Harriet (2004), Die Engelsdarstellungen von Paul Klee. Verwendung und Verfremdung eines Symbols, Bamberg, 153 ff. 39 Boulez, Pierre (1989), Le pays fertile. Paul Klee. Texte préparé et présenté par Paule Thévenin, Paris. 38

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Kurze Einführung in die Phänomenologie

sion sind Momente der Bewegung. Wenn er das »Sehen« mit dem »Hören« vergleicht, haben Simultaneität und Sukzession der Bewegungsformen des Sehens und Hörens zwar gemeinsame Züge, sie unterscheiden sich dabei aber auch. Vor diesem Hintergrund entfaltet Boulez mit Klee ein breites Gespräch zu Musik und Malerei. Man könnte an ein Wort von Cézanne denken: »Malen heißt nicht einfach die Natur nachahmen, sondern eine Harmonie unter zahlreichen Bezügen herstellen, sie in ein eigenes Tonsystem übertragen, indem man sie nach dem Gesetz einer neuen und originalen Logik entwickelt« (Gasquet 80). Die Analogie von Bild und Musik wird uns im weiteren Verlauf immer wieder verstärkt begegnen.

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3 Ikonik – Phänomenologie des Sehens

Wenn Bernhard Waldenfels über Malerei und Kunst spricht, stellt er die »erste Frage: Woraus besteht ein Bild?« (Sinne 42) Er folgt damit seinem Lehrer Merleau-Ponty, der äußerte, »Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen« (PW 82) (Schwellen 102). Um diese Frage einigermaßen zu beantworten, wären alle in Frage kommenden Wissenschaften wie Physik, Chemie, Physiologie, Neurologie, Philosophie u. a. zu befragen. Das kann hier nicht geschehen. Es ist ein anderer Weg einzuschlagen. Es hat sich die Rede vom »iconic turn« in der Kunst eingebürgert, entsprechend dem »linguistic turn« in den Sprachwissenschaften. Doch auch damit ist keine schnelle Antwort zu erwarten. Darauf macht einer der führenden Vertreter des iconic turn und der Autor der »Ikonischen Differenz« aufmerksam. Gottfried Boehm schreibt: »Bei aller Aktualität lässt sich die Bilderfrage nicht mit allzu schnellen Diagnosen und Rezepten weiterführen. Wenn alle – oder fast alle – von den ›Bildern‹ reden, die die unterschiedlichsten Disziplinen entdeckt haben, bedarf es der Verständigung über die Prämissen. Wenn es tatsächlich jene ›Wende zum Bild‹ gibt, die der Begriff iconic turn umschreibt, dann kommen nicht nur Tages- und Oberflächenphänomene ins Spiel, sondern tragende Voraussetzungen unserer Kultur. In diesem Sinne diskutieren wir die These: Bilder besitzen eine eigene, nur ihnen zugehörige Logik. Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln. Und erläuternd fügen wir hinzu: diese Logik ist nicht prädikativ, das heißt nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet. Sie wird nicht gesprochen, sie wird wahrnehmend realisiert« (Boehm 34). Dieser Überzeugung folgt unser Beitrag, indem wir das Wort von Merleau-Ponty aufgreifen, der von der »ikonographischen Philosophie des Sehens« (AG 287) spricht. Wir bestimmen diese Weise

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

einer Philosophie des Sehens näher, indem wir sie als Phänomenologie des Bildsehens angehen. 40

3.1 Grundphänomen »Wahrnehmen« Ästhetik (Kunst) hat ihre Wurzeln in der Aisthesis (Wahrnehmung) (Böhme). Die fünf Sinne stehen für die verschiedenen Wahrnehmungserfahrungen: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Alle fünf Sinne stellen Grundphänomene dar und müssten eigens untersucht werden. Heinrich Rombach hat für die Grundphänomene insgesamt das »Grundphänomen der Wahrnehmung« beispielhaft vorgestellt und entfaltet (StA 133–346). Auch Merleau-Ponty spricht von »Grundphänomenen« (PW 320–324). Den fünf Sinnen sind unterschiedliche Weisen der Künste zugewiesen (Selbst 95 ff.). Bei allen Unterschieden sind Gemeinsamkeiten festzustellen. Wahrnehmungsvorgänge vollziehen sich als unterschiedliche Bewegungsformen. Um diese Gemeinsamkeit der Bewegungsformen geht es uns vor allem. Zuerst geht es uns aber um das eigenständige Grundphänomen des bildnerischen Sehens. Sehen und Bildsehen gehören zum Stamm des Grundphänomens »Wahrnehmen« (Selbst 192 ff.). Zunächst seien einige Bemerkungen zu diesem Grundphänomen gemacht. Spontan werden wir als Wahrnehmungen nennen, wenn wir danach gefragt werden: »Es ist mir kalt« oder »Ich sehe einen Baum« (Böhme 36 ff.). Dabei ist gleich festzustellen, dass wir beidemal zwar ›etwas‹ wahrnehmen, die Wahrnehmungen aber sehr unterschiedlicher Art sind. Die Wahrnehmung »Ich sehe einen Baum« wird bereits auf die Ebene der besonderen Art der Wahrnehmung des Sehens gehoben. Das hat zur Folge, dass dabei anscheinend von einem konkreten »Ich« und einem bekannten »Gegenstand« die Rede ist. Auf der Ebene einer ersten Wahrnehmung, einer ersten Kenntnisnahme eines ungenauen Subjekts mit dem Gegenüber eines Gegenstandes, das noch nicht konkretes Sehen ist, ist dies aber noch nicht der Fall. Eine erste originäre Wahrnehmung ist dagegen »Es ist mir kalt«. Hier geht es um eine gefühlte Empfindung. Eine Empfindung, eine Bewegung, die mir widerfährt. Weder das Ich noch die Kälte ist ge-

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Zur Geschichte des Sehens s. (Sinne), (Eikon 201–218).

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Grundphänomen »Wahrnehmen«

nauer bestimmt. Es ist eine Regung, eine Bewegung, die mich erreicht, und die jetzt einen Zustand ausmacht (Selbst 47 f.). Gernot Böhme nennt »Atmosphäre« die erste wahrgenommene Wirklichkeit: »Für uns ist die Atmosphäre die erste Wahrnehmungswirklichkeit, aus der erst Subjekt und Objekt ausdifferenziert werden. Wahrnehmung ist eine Einheit von Subjekt und Objekt, ein Zusammenschluss. Subjekt und Objekt verschmelzen in der Wahrnehmung. Sie werden zu einer Einheit, nicht aber in der Art, daß sie sich dadurch verändern, sondern in der Art, daß sie neue gemeinsame Zustände bilden. Die Atmosphäre ist die Anregung eines gemeinsamen Zustandes von Subjekt und Objekt. Für die Wahrnehmungswirklichkeit sind diese Anregungszustände immer das erste Seiende. So etwas wie Subjekt und Objekt, und ferner Dinge und Substanzen ergeben sich erst aufgrund einer partiellen Entkopplung. Sie sind in letzter Analyse auch gar nicht wirklich im Sinne der Wahrnehmungswirklichkeit, sondern nur denkbar. Das Ich ist in diesem Sinne zwar ein leibliches Mich-spüren, aber nicht als abstrakter Ich-Pol. Der Gegenstand ist in diesem Sinne wirklich im Sinne einer spürbaren Sinnesqualität« (Böhme 56).

Böhme stellt die Bedeutung des Mediums, des Mittleren, heraus. Für das Wahrnehmen sind es zuerst so etwas wie »Atmosphären«, etwas »zwischen Subjekt und Objekt«, »relational«, wie Aristoteles sagt, »Zwischenphänomene mit einer selbständigen Seinsweise«, »Medium für die gemeinsame Wirklichkeit, die Subjekt und Objekt, Wahrnehmenden und Wahrgenommenen verbindet. [Es ist] für das Hören […] Luft, für das Sehen Luft oder Wasser […] Anregungszustand des Mediums, dessen energeia […]« (Böhme 53–54). In der Wahrnehmung konstituieren die »Sinne« noch nicht den Status von »Subjekt«- »Objekt« im rationalen Sinn. Subjekt und Objekt sind noch nicht entgegengesetzt, sondern relativ zueinander (Selbst 95). »Das Sehen ist weder ein bestimmter Modus des Denkens noch eine Selbstgegenwart; es ist mein Mittel, von mir selbst abwesend zu sein, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner selbst innewerde« (AG 311). MerleauPonty spricht von der Wahrnehmungswelt als einer »Vorwelt«, einer vorprädikativen »Lebenswelt«, die den Zusammenhang des Lebens eröffnet, ohne sich in substanzielle Instanzen auseinander zu dividieren (PW 80) (Selbst 100). Dem entspricht auch die Vorstellung der vor-rationalen »Inspiration« »Das, was man Inspiration nennt, sollte wörtlich genommen werden: Es gibt tatsächlich eine Inspiration und Expiration des Seins, ein Atmen im Sein, eine Aktion und Passion, die 63 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonik – Phänomenologie des Sehens

so wenig voneinander zu unterscheiden sind, daß man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, wer malt und wer gemalt wird« (AG 286). Böhme fasst noch einmal zusammen, was sich durch diese etwas abstrakten Überlegungen ergeben hat. Sie waren nötig, weil die Herrschaft der traditionellen Metaphysik, und das heißt in diesem Zusammenhang der Substanzontologie, bisher verhinderten, das zur Geltung zu bringen, worum es in der Ästhetik eigentlich geht. Zwar hat man auch traditionell gesagt, dass das Thema der Ästhetik das (Er) Scheinen sei, aber Schein wurde immer aufgefasst als Erscheinung von Etwas und dabei in einem Gegensatz zum eigentlichen Seienden gesehen. Um die phänomenale Wirklichkeit, mit der es die Ästhetik zu tun hat, als solche zu würdigen, war es nötig, gewissermaßen die traditionellen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Das Wirkliche ist für die Ästhetik primär das Gegenwärtige, die spürbare Anwesenheit. Es empfiehlt sich deshalb, Wirklichkeit und Realität als zwei verschiedene Seinsweisen zu unterscheiden (Böhme 56). Böhme entdeckt das Mediale des Atmosphärischen in einer Vielgestalt der Kunst: »Die Malerei der Renaissance hat sich auch sonst mit der Darstellung eines abwesenden Was? dem ›Io non so‹ (Je ne sais quoi) beschäftigt. Eine ganze Sequenz von Bildnissen – vom Antlitz des Salvator Mundi bis zum berückenden Lächeln einer Bella – spürt dieser unsagbaren Realität nach. Man hat sie unter anderem auch unter dem Begriff der Grazie, das heißt der Anmut, des Charmes, der Aura diskutiert. Grazie wird als ein atmosphärisches Phänomen beschrieben, das sich nicht da oder dort fixieren lässt, sich vielmehr ausbreitet, in unserer Sprache: simultaneisiert. Grazie ist mehr Wirkung als Sache. Was sich derart zeigt, ist auch deshalb so unwiderstehlich, weil es eine Entblößung bewirkt. Nichts mehr tritt zwischen das Sichtbare und das Auge des Betrachters, keine Zuschreibung, kein Wort. Es gewinnt, wie vielfach betont worden ist, selbst eine dialogische Qualität, es blickt zurück« (Böhme 32). Das »Sehen« ist eine Form der sinnlichen Wahrnehmung. Das Grundphänomen der Wahrnehmung bestimmt Waldenfels folgendermaßen: »Wahrnehmung [ist der] Urmodus der Intentionalität […]. Dies bedeutet, dass alles, was ist, sich als etwas (was) oder als jemand (wer wem) zeigt und thematisiert wird, und dies in der Offenheit meines bestimmten Horizontes oder Kontextes (worin), im Rahmen einer bestimmten Ordnung (wie) und im Lichte einer bestimmten Vernunft (bzw. Leib)« (kursiv – KK) (DG1 354). – Es sei 64 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bildsehen nach Edmund Husserl

bemerkt, dass Waldenfels das »Sehen« hier wie andere Grundphänomene mit Interrogativpronomina (W-Fragewörtern) charakterisiert und definiert. Zuerst ist Wahrnehmung im Urmodus eine Bewegung, ein Prozess. Aus dieser Bewegung bzw. dem Prozess kristallisiert sich die Intentionalität heraus, d. h. die Struktur der sichtbaren Gestalt. Der Urmodus der Wahrnehmung ist noch ohne eigentliches Subjekt oder Objekt: »Wo es noch kein etwas gibt, gibt es auch noch keinen jemand. Mit dem Perzept (Wahrgenommenen) gerät der Perzipient (Wahrnehmende) in Bewegung, auch er wird zum Wahrnehmenden erst im Prozeß des Sichtbarwerdens. Strenggenommen müßte es deshalb heißen: ›Man (oder es) nimmt in mir wahr, nicht ich nehme wahr‹« (PW 253) (Sinne 139). Im Prozess des Wahrnehmens, der Perzeption, entfaltet sich das Grundphänomen in die drei Dimensionen des »Wahrnehmens« als »Wahrnehmender« und »Wahrgenommenes«; das ist der Beginn des »Sichtbarwerdens« und »Sichtbarmachens« des Bildes, der Beginn von Subjekt und Objekt in der Wahrnehmung. Im Folgenden beschreiben wir nach diesen Aussagen Waldenfels’ die Kunst des Sehens phänomenologisch, indem wir die Unterscheidungen von »Was« und »Wie« des Bildes, von »Zugangsart« und »Sachgehalt« der Malerei, oder von »Aktmodalität«, d. i. das Ereignis des Sehgeschehens, und von »Gegenstandsmodalität«, d. i. dem Gehalt der Themen, zu Grunde legen. 41 Dieser Unterscheidung folgen die zwei Kapitel: 3. »Ikonik« und 4. »Ikonische Differenz«.

3.2 Bildsehen nach Edmund Husserl In Husserls Phänomenologie findet eine Rehabilitierung des Sinnlichen und der Sinne statt. Husserl sucht in der Phänomenologie den Logos der Phänomene. Er findet den genuinen Logos nicht nur in der Rationalität, sondern auch im »Logos der ästhetischen Welt« (Hua. XVII, 297) (Schwellen 102). Das hat Folgen für das Kunstverständnis, die Ästhetik. In der klassischen Philosophie war es üblich, die Ästhetik als besondere Erkenntnisweise unter die philosophischen Abteilungen wie Metaphysik, Ethik u. a. zu zählen. Husserl erkennt in Vgl. die Unterscheidung des Sehens von: Energeia – Ergon (Aristoteles) bzw. Ereignis – Gestalten (Sinne 14–15).

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

der Ästhetik einen eigenen genuinen Logos, der auf der Aisthesis (Wahrnehmung) gründet. Gernot Böhme nennt in der Folge Ästhetik deshalb »Aisthetik« (Böhme). Wahrnehmung (Aisthesis) ist das Urbeispiel sinnlichen Erfahrens und Erlebens, auf dem alle anderen Erlebnisarten aufbauen. Kein Fühlen, Wollen und Vorstellen lässt sich denken ohne eine erste Gewissheit und originäre Evidenz, d. i. »wahr-nehmen«. Husserl unterscheidet zwischen »äußerer« und »innerer« Wahrnehmung, eine Unterscheidung, die offensichtlich dem Grundbegriff der Phänomenologie als »Intentionalität« zugrunde liegt. Zur Rede von der ikonischen Wende (iconic turn) führten die weiterführenden Forschungen zum Sehen, der hervorgehobenen Form sinnlicher Wahrnehmung. Anstoß zum Überdenken der Geschichte des Sehens war Konrad Fiedler im 19. Jahrhundert. 42 Er befreite das Sehen aus seiner passiven Rolle in der philosophischen Erkenntnislehre und teilte ihm eine aktive Rolle zu. Künstlerisches Bildsehen ist nicht mit einer Photoaufnahme zu vergleichen, ist nicht ein Abbilden eines Weltausschnittes, sondern ist nach Fiedler eine Bewegung, die zu einem Ausdruck, dem Bild, führt. Es ist ein Sehen, das nicht einfach abbildet und kopiert, was es sieht, sondern das mit der Tätigkeit der Hand kooperiert; es ist ein Malen, das Anschauung und Tätigkeit (poiesis) verbindet. Fiedler nannte diese Produkte »Sichtbarkeitsgebilde«. Er hat allerdings die unterschiedlichen Formen (Bilder, Zeichnungen, Plastiken) nicht mehr weiter untersucht. (Bild 17–19) Fiedler eröffnete durch seine Vorarbeiten Husserl u. a. einen Weg zum tieferen Verständnis des Sehens. Erst durch die Phänomenologie Husserls gelangte die Wahrnehmung dann wiederum in eine maßgebende Rolle für die Bildreflexion. Ein Sehen, das nicht bloß eine Welt widerspiegelt, sondern sie mit hervorbringt, ist selbst schon ein Tun, das Husserl »Kinästhese« nennt (Hua VI, 164). Sehen ist ein sinnliches Wahrnehmen (Aisthesis) und ein (Sich-)Bewegen (Kinesis) zugleich: Bewegung der Augen und des Blickes, Erkundungen und Tastversuche, mit dem Einsatz des Sich-Bewegenden, seines eigenen Leibes; all das ist bei jedem Sehakt im Spiel. Fiedler sprach vom »nicht mehr bloß durch die Augen, sondern durch den ganzen

Fiedler, Konrad (1887), Schriften zur Kunst I-II, hrg. von Gottfried Boehm, München 1971.

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Bildsehen nach Edmund Husserl

handelnden Menschen vollzogene Sehen« des Künstlers. 43 Das Sichtbarmachen des Malers ist zugleich ein Sichtbarwerden. Husserl formuliert immer wieder, das Sichtbare »konstituiert sich«. Es konstituiert sich im Sehen, wie sich bei dem Erkennen der Gegenstand konstituiert (SF 205–209). Die Restitution des Sinnlichen als einer Sphäre entstehenden Sinnes wirkt sich aus auf unsere Auffassung von Wirklichkeit. Der Durchblick durchs Fenster war bis zu Husserl das vorherrschende Beispiel des Sehens. Diese Sicht der Perspektive förderte ein elementares und einseitiges Bewusstseinsmodell. Dieses geht von gerichteten Sehbahnen aus. Das Sehen entspricht so in etwa einem Tasten, das sich eines virtuellen Stockes bedient. Dieses Modell fördert, wie man feststellte, eine Rationalisierung des Sehens. Diese besteht darin, dass das wahrgenommene Bild, die Wahrnehmung selbst, geometrisiert wird (Bild 17–19). Die Welt zerfällt in atomare Empfindungsdaten (Pixel), die als bloße Bausteine dem Aufbau von Gegenständen dienen, die zu realen Dingen konstruiert werden. Dagegen steht nun bei Husserl eine dynamische Weltauffassung. Husserl spricht von Wahrnehmungen als Empfindungen, die für ihn zugleich »Empfindnisse« sind, also keine substantivischen Empfindungen, sondern geschehendes Empfinden. Scheler und Merleau-Ponty werden sich dieser dynamischen und ganzheitliche Sicht anschließen. Heidegger spricht von der »Befindlichkeit« des Daseins. Es tun sich Befindlichkeiten oder Sinnesfelder auf in den verschiedenen Selbst-, Welt- oder Fremderfahrungen. Es sind »Sphären entstehenden Sinnes«, wie sie Waldenfels nennt. Oder Gernot Böhme spricht ähnlich von diesen qualitativen Zuständen als »Atmosphären«. Es sind qualitative Erfahrungsfelder, »Sinnesqualitäten«, wie sie Waldenfels beschreibt (SF 205–209). Wahrnehmen und Sehen als Sphären entstehenden Sinnes wirken sich auf unsere Auffassung von Wirklichkeit aus. Empfinden ist nicht mehr nur subjektive Anmutung, sondern eine ganzheitliche Befindlichkeit. Für sie ist die konkrete Ordnung des Sichtbaren keine fertige Ausstattung, die realiter in den Dingen oder idealiter im Geist bereitliegt oder bloß subjektiven Erlebnissen entstammt. Unser Wahrnehmungs- und Weltglaube, von dem Husserl spricht, lässt sich nie in ein Wissen verwandeln, das dem propositionalen Raster von Ja-Nein-Unterscheidungen unterliegt. Etwas kann 43

Ebd. 214.

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

je nach Gewicht, das ihm im Gravitationsfeld unserer Interessen, Begierden und Neigungen zufällt, mehr oder weniger wirklich sein. Prozesse der Entwirklichung und Neuverwirklichung erklären auch, wieso Malerei zur Konstitution einer Welt beiträgt. Eine fertige Welt wäre nur abzubilden, eine unfertige ist fort- und umzubilden (SF 205–209). Nach Waldenfels sind die wesentlichen Aussagen Husserls für das Bildsehen, die wegen ihrer grundsätzlichen Beschreibung des Sichtbarmachens und -werdens des Bildes zitiert sein mögen: »Das Bild gehört zum Wie des Erscheinens, bevor es als ein eigentümliches Was in Erscheinung tritt. Deshalb hat die phänomenologische Bildbetrachtung teil an der phänomenologischen Epochè, die den normalen Blick anhält, und an der phänomenologischen Reduktion, die vom Gesehenen auf das Sehen, von Seh- und Bildgehalten auf das Blickereignis zurückgeht. Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang von einer ikonischen beziehungsweise pikturalen Epochè. […] Vorweg sei erinnert an Husserls bahnbrechende Erneuerung der Bildkonzeption, die in den ästhetischen Bereich übergreift, aber viel allgemeiner ansetzt. Für Husserls Bildtheorie sind zwei Motive maßgebend, negativ gesehen die Destruktion einer erkenntnistheoretischen Bildertheorie, in der die äußeren, realen Dinge durch innere Bilddinge verdoppelt werden, so daß Bilder eine bloße Ersatzrolle spielen, positiv gesehen der Aufweis eines Bildbewußtseins, in dem die Intentionalität eine spezifische Form annimmt. Die Bildlichkeit besteht für Husserl darin, daß wir ein Bildding als (abbildendes) Bild (als Bildobjekt) auffassen und auf diese Weise im (abbildenden) Bild etwas Abgebildetes (das Bildsujet) sehen. Die Bildlichkeit resultiert also nicht aus einer Verdoppelung der äußeren Wirklichkeit, sondern aus einer internen Verdoppelung des Bildes in Abbildendes und Abgebildetes, entsprechend der Verdoppelung des Zeichens in Bezeichnendes und Bezeichnetes. Das Bild selbst, das in der Bildvorstellung fungiert, bleibt im strengen Sinne unsichtbar. Das Bild sehen wir nicht. Es zeigt sich indirekt im Bildhaften der Dinge und des Sehens; mit der adjektivischen Wortwahl betonen wir diesen indirekten Charakter, der uns noch öfters begegnen wird. Das Bild gehört zum Wie des Erscheinens, bevor es als ein eigentümliches Was in Erscheinung tritt« (Sinne 134–135).

Husserl hat entsprechend seines phänomenologischen Ansatzes ein »Bildbewusstsein« vorgetragen, das maßgebend für die weitere Entwicklung geworden ist. Dem Bildbewusstsein entspricht eine spezifische Intentionalität, die zwischen »Abbilden« (Aktmodalität) und »Abgebildetem« (Gegenstandmodalität) unterscheidet. Mit anderen Worten ist der reale Gegenstand als »Bildobjekt« »abzubilden« und 68 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonik nach Max Imdahl

wird als »Bildsujet« »abgebildet«. Das Bildsujet ist so das Bildhafte, das sich in den Objekten zeigt, und dem Bildhaften, das das Sehen auf-zeigt. Wir sehen und verstehen die Wirklichkeit bildhaft. D. h. Das Bildsehen hat Folgen für unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wirklich ist nicht, was schlicht der Fall ist, sondern was sich unter bestimmten Auswahlbedingungen verwirklicht. Die Ordnung des Sichtbaren entsteht mit dem Sehen und mit den Dingen im Zuge einer Erfahrung, die sich zwischen Gesehenem, Sehendem und Mitsehendem abspielt und dem Geburtsstadium nie völlig entwächst. Insofern gilt: »Die phänomenologische Welt ist nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Stiftung des Seins; die Philosophie nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, gleich der Kunst, Realisierung von Wahrheit« (PW 17) (SF 205–209).

3.3 Ikonik nach Max Imdahl Max Imdahl (1925–1988) war viele Jahre an der Ruhr-Universität Bochum als Kunsthistoriker tätig. Waldenfels erzählt in seinem Freiburger Vortrag Wissenschaft von seinen Gesprächen mit dem Kollegen in Bochum, den er für einen der »Pioniere der neuern Bildwissenschaften« hält (Wissen 6). 44 Auf ihn geht der Terminus der »Ikonik« in der Kunstgeschichte zurück. Seine Methode der Ikonik stand in einem gewissen Gegensatz zu den herrschenden Methoden der Kunstwissenschaft, sie wurde nicht überall anerkannt, sie bildete dann aber doch Schulen aus. Imdahl geht es um das besondere Sinngeschehen des Bildes, die Ikonik, das nicht auf andere, etwa theoretische oder rationale Weise ersetzt werden kann. »Thema der Ikonik ist das Bild als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist. Über diese Unersetzbarkeit läßt sich nicht abstrakt diskutieren. Um sie zu gewahren und sich ihrer bewußt zu werden, bedarf es der konkreten Anschauung eines Bildes, und zwar ist eine spezifisch ikonische Anschauungsweise unerläßlich«. 45

S. Waldenfels zu Imdahl (Schwellen 102–123, 137–139) und (Ordo). Imdahl, Max (1994), »Ikonik. Bilder und ihre Anschauung«. In: Boehm, Gottfried (Hrg.): Was ist ein Bild, München, 300–324 hier 300.

44 45

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

In einem seiner Hauptwerke Giotto. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik und dessen Fresken in der Arena-Kapelle in Padua hat Imdahl Ikonik folgendermaßen wiedergegeben: »Der ikonischen Betrachtungsweise oder eben der Ikonik wird das Bild zugänglich als ein Phänomen, in welchem gegenständliches, wiedererkennendes Sehen und formales, sehendes Sehen sich ineinander vermitteln zur Anschauung einer höheren, die praktische Seherfahrung prinzipiell […] überbietenden Ordnung und Sinntotalität [das erkennende Sehen] (Giotto 92 f.).«

In dieser Formulierung wird das Ziel der Ikonik im Sinne Imdahls knapp umrissen. Einmal fällt auf, dass er das »Bild« als »Phänomen« bezeichnet. Waldenfels äußert über seinen Kollegen, dass sich dieser zwar nicht der Abteilung der philosophischen Phänomenologie zugerechnet hätte, »doch umso intensiver praktizierte er die Phänomenologie« (Wissen 6). Soweit haben wir den Beitrag der Phänomenologie etwa Husserls schon kennen gelernt, dass sie grundsätzlich von den beiden Betrachtungsweisen des »Sachbezugs« (Was) und der »Zugangsart« (Wie) ausgeht. Ein Bild wird demnach auf zwei Weisen betrachtet, dem »Was«, dem Thema, und dem »Wie«, der Form, nach. Etwas Ähnliches deutet Imdahl an, wenn er von dem »gegenständlichen« und dem »formalen« Sehen spricht. Im Untertitel des Buches Giotto ist Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. Ikonografie und Ikonologie sind die damals führenden Richtungen der Kunstgeschichte angesprochen. Imdahl ergänzt die Serie mit der von ihm vorgetragenen Sehweise der »Ikonik«. Imdahl geht es um eine neue Weise des Bildsehens. Dafür stehen die Bezeichnungen des gegenständlichen Sehens als »wiedererkennend«, und des formalen Sehens als »sehendes Sehen«. In diesen Bezeichnungen steckt bereits ein Moment der Auseinandersetzungen mit den anderen Auffassungen der Kunstgeschichte. Das größere Unverständnis erwuchs Imdahl jedoch aus der angedachten dritten Anschauung einer höheren, die praktische Erfahrung prinzipiell überbietenden Ordnung als Sinntotalität, dem erkennend sehenden Sehen. Die Unterscheidung bei Imdahl gegenüber den führenden Methoden der Kunstgeschichte ist keine grundsätzliche. In seinen Ansatz gehen die führenden wissenschaftlichen Methoden durchaus ein. Im Blick hat Imdahl aber vor allem die »Ikonologie« der WarburgSchule und ihres bekanntesten Vertreters Erwin Panofsky. Dieser hatte die Ikonologie 1939 zu einem Dreistufenschema der Interpreta70 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonik nach Max Imdahl

tion von Kunstwerken entwickelt: (1) die präikonographische Analyse oder Semantik: Was ist dargestellt? (2) die ikonographische Analyse oder Syntax: Wie ist es dargestellt? (3) die ikonologische Interpretation oder Pragmatik: Was bedeutet es? Dabei fragt Panofsky jeweils nach dem besonderen Sinn des Betrachtens, nach dem (a) Phänomensinn, (b) dem Bedeutungssinn, (c) dem Dokumentensinn. Waldenfels interpretiert Imdahl folgendermaßen: »›Ein Bild, das seine Aufgabe erfüllt, ist nicht in erster Linie etwas, was ich sehe, sondern etwas, demgemäß und womit ich sehe (Merleau-Ponty)‹. Hierbei ist jedoch zu fragen, wie das Was sich zum Wie und Womit verhält, mit anderen Worten: wie die Bilderwelt mit der Erfahrungswelt korrespondiert. Im Anschluss an Max Imdahl können wir in der Kunsttheorie zwei extreme Deutungsweisen unterscheiden, nämlich eine ikonographisch-ikonologische, die sich am inhaltlichen Bildsinn, an der Semantik des Bildes orientiert, und eine formalistische, die sich auf den formalen Bildsinn, auf die Syntax des Bildes beschränkt. Dabei treten die ›Erfahrungen eines autonomen, sehenden Sehens‹ und die eines ›heteronomen, wiedererkennenden Gegenstandssehens‹ auseinander; die eigentliche Bildleistung geht so verloren. Demgegenüber spricht sich Imdahl für eine Ikonik aus, die Syntax und Semantik zusammenfügt und eine ›Durchdringung von sehendem und wiedererkennendem Sehen‹ zulässt« (SF 216).

Die Ikonik als Interpretationsmethode historischer wie zeitgenössischer, nichtgegenständlicher Kunst zielt v. a. auf das Aufspüren bildimmanenter Sinnstrukturen, die sich einem »reinen Sehen« – von Imdahl ›sehendes Sehen‹ genannt – erschließen. Sie lehnt die Ergebnisse anderer Analyse-Methoden, allen voran der ikonographischikonologischen, nicht grundsätzlich ab, sondern geht über sie ausdrücklich hinaus, indem sie sich nicht auf die Identifizierung des Gegenständlichen – ›wiedererkennendes Sehen‹ – beschränkt, sondern auch das in die Analyse einbezieht, was über reine Gegenständlichkeit hinausgeht, was man als das eigentlich Künstlerische des Kunstwerks bezeichnen könnte (während die Ikonologie das Kunstwerk im Grunde als ein historisches Dokument betrachtet). In den Analysen der Bildstrukturen untersucht Imdahl bildimmanente Aspekte wie Bewegungs- und Handlungsabläufe, Positionen, Blickrichtungen etc. Auf diese Weise wird gewissermaßen eine Binnenerzählung innerhalb des Bilds deutlich. Die Binnenerzählung ergänzt die semantische und syntaktische Leseart des Bildes und führt sie in einer höheren Leseart zusammen.

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

Das wiedererkennende Sehen von Gegenständen, die uns bereits vor der Bilderfahrung vertraut sind, berücksichtigt den inhaltlichen Bildsinn, die Semantik des Bildes: das, was gemeint und gezeigt wird. Dieses Sehen gilt als heteronom, weil die Gesetze des Sichtbaren hier nicht dem Bild selbst entstammen. Dem entspricht die ikonographisch-ikonologische Interpretationsmethode, wie sie beispielhaft von Erwin Panofsky ausgeübt wurde. Nehmen wir etwa Giottos Bild der Gefangennahme, das sich in dem Freskenzyklus der ArenaKapelle in Padua befindet. Die Bildmittel bestehen in der Anordnung von Figuren in perspektivischer Projektion und szenischer Choreographie. Das Verständnis ist vorikonisch. Das sehende Sehen berücksichtigt den formalen Bildsinn, die Syntaktik des Bildes: die Art und Weise, wie etwas dargestellt ist. Dieses Sehen kann man als autonom betrachten, weil hier die Gesetze des Sichtbaren dem Bild selbst entstammen. Dem entspricht die formale Interpretationsweise, wie sie etwa von Konrad Fiedler propagiert wird. Wo in der Malerei noch Gegenstände auftreten, sind sie als solche gleichgültig; sie bilden das bloße ›Sujet‹. Die entscheidenden Bildmittel bestehen hier in der planimetrischen Komposition, im Aufbau eines autonomen Blick- und Bildraumes mit Hilfe von Linien, Farben und Ebenen. (Ordo 234–236) Waldenfels hat auf ähnliche Weise »wiedererkennendes« und »sehendes Sehen« im Blick auf die Kunstgeschichte unterschieden: »Ich denke an die Differenzierung des Sehens in ein sehendes Sehen, das uns Neuartiges und Unsichtbares sehen läßt, und ein wiedererkennendes Sehen, in dem wir sehen, was wir im Grunde bereits kennen. Ordnungen des Sichtbaren verweisen auf Bildstiftungen, in denen Neues sich durch Verformung bestehender Sichtweisen Bahn bricht. Bilder wie der Isenheimer Altar sind Schlüssel- und Schwellenbilder, die Unsichtbares sichtbar machen, indem sie uns nicht bloß anderes sehen lassen, sondern anders sehen lassen. Mich selbst interessiert in besonderem Maße das Blickgeschehen, das durch Bildwirkungen in Gang gesetzt wird. Ich sehe darin so etwas wie eine Geburt des Eidos aus dem Pathos. Auch der Blick ist ein antwortender Blick, bevor er Gesehenes verarbeitet. An dieser Stelle kreuzt die Ikonik die Bahnen einer pathisch grundierten, responsiven Phänomenologie, für die jedes Wort, jede Geste und auch jeder Blick aus der Ferne kommt« (Wissen 7).

Zusammenfassend kann gesagt werden: Max Imdahl hat seinen hermeneutischen Ansatz, die »Ikonik«, als »Betrachtungsweise« definiert (Giotto 13). Er unterscheidet dabei die drei Modi des Sehens: 72 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Maurice Merleau-Ponty – Paul Cézanne, sein Lehrer

ein gegenstandsbezogenes, heteronomes, ›wiedererkennendes‹ und ein bildflächenbezogenes, autonomes, ›sehendes Sehen‹. Erst in einer Synthese dieser Sichtweisen kann nach Imdahl die spezifische Qualität eines Bildes erkannt werden. Diese Synthese hat Imdahl als ›erkennendes Sehen‹ bezeichnet. In diesem Sinne könnte man neben der Reihung ›Ikonographie, Ikonologie, Ikonik‹, die Imdahl als Untertitel für sein Giotto-Buch gewählt hat, den dialektischen Dreischritt von Ikonographie (wiedererkennendem Sehen), Formanalyse (sehendem Sehen) und Ikonik (erkennendem Sehen) setzen. Die Unterscheidung dieser Sichtweisen hat er in dem Band »Giotto« von 1980 aus der Arena-Kapelle exemplarisch vorgeführt.

3.4 Maurice Merleau-Ponty – Paul Cézanne, sein Lehrer Merleau-Ponty beginnt seine Studien Das Sichtbare und das Unsichtbare mit einem Ausblick auf eine Phänomenologie des Sehens und dazu mit einer Erinnerung an Augustinus: »Wir sehen die Sachen selbst, die Welt ist das, was wir sehen: Formulierungen dieser Art sind Ausdruck eines Glaubens, der dem natürlichen Menschen und dem Philosophen gemeinsam ist, sobald er die Augen öffnet; sie verweisen auf eine Tiefenschicht stummer Meinungen, die unserm Leben inhärent sind. Aber seltsam an diesem Glauben ist, daß wir – sobald wir versuchen, ihn als These oder Aussage zu formulieren, sobald wir uns fragen, was dieses Wir, dieses Sehen, das Ding oder die Welt sei, – in ein Labyrinth von Schwierigkeiten und Widersprüchen geraten. Was der Heilige Augustinus von der Zeit sagt, daß sie einem vollkommen vertraut sei, daß keiner jedoch sie dem anderen zu erklären vermöge, das gilt auch für […] das Sehen [kursiv – KK]« (SU 17–18).

Merleau-Ponty sieht ähnliche Schwierigkeiten, das »Sehen« zu erklären, wie Augustinus Schwierigkeiten hatte, die »Zeit« zu erklären. Vielleicht, so könnte man vermuten, hängen die offenen Fragen mit dem Rätsel der Zeit überhaupt zusammen. Und das in der Weise, dass wie es unmöglich ist, die Zeit (anders als der Raum) begrifflich festzumachen bzw. zu definieren, so ist es zwar möglich, die Darstellung des Sehens, das Was, zur Anschauung zu bringen, aber nicht das Geschehen des Sehens, das Wie des Ereignisses, in Worten zu erfassen. Als Beispiel dafür mag die Feststellung von Valery dienen: »Es ist unmöglich, einen Rhythmus zu denken« (Schwellen 70).

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

Der Ertrag der Phänomenologie Husserls zeigte sich erst, als Merleau-Ponty damit begann, die theoretischen Fundamente der philosophischen Wahrnehmung in Frage zu stellen. Husserl hatte die Bildwissenschaft selbst nicht so sehr interessiert, es ging ihm um die Phänomenologie der Wahrnehmung [PW]. Diese wurde dann Titel eines der Hauptwerke von Merleau-Ponty. Aber Husserls Phänomenologie hatte zur Voraussetzung das transzendentale Ego und Bewusstsein. Auch Merleau-Pontys Hauptwerk, die Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) hat sich weithin noch nicht vom Bann dieses Vorverständnisses gelöst. Der Wandel vollzog sich dann in dem unvollendeten Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare [SU], angeregt durch einige Essays, die auf dem Weg dorthin entstanden waren. Hier ist vor allem der bereits 1942 verfasste (1945 gedruckte) Aufsatz Der Zweifel Cézannes [Zweifel] zu nennen. Cézanne wurde für Merleau-Ponty über Jahrzehnte geradezu zum Mentor und Leiter seines eigenen denkerischen Weges. Entscheidend wurde die Schrift Auge und Geist (1961) [AG]. In diesem Titel deutet sich bereits unscheinbar die Wendung an, dem sinnlichen Auge Selbständigkeit und produktive Gestaltung zuzusprechen, dem Auge eigenen Geist zuzuerkennen. Sehen ist nicht weniger eine geistige Aktivität; diese manifestiert sich in ihren Möglichkeiten vor allem auch künstlerisch. (Bild 17) Was die frühe Ausarbeitung der Phänomenologie angeht, so hält sich Merleau-Ponty zunächst an die Bildtheorie Husserls. Das hatte anhaltende Folgen. Husserl nahm das Bewusstsein zur Grundlage der Phänomenologie. Dem entsprach für die Bildtheorie ein entsprechendes »Bildbewusstsein«, wie wir gesehen haben. Daraus ergeben sich nach Waldenfels aber drei wichtige Voraussetzungen: 1. Das Bildbewusstsein gilt als bloße Modifikation eines originären Wahrnehmungsbewusstseins. Dafür wird letzten Endes auf Seiten des Abzubildenden wie auf Seiten des Abbildenden eine bildfreie Realität vorausgesetzt. Was ins Bild kommt, ist nicht schon bildhaft. Den realen Gegenstand, etwa den Eiffelturm, kann ich auch ohne Bild inspizieren. Bilder sind wie Inseln im Meer der Wirklichkeit. Eben deshalb wird das Bild als Abbild gefasst. 2. Das doppelte in etwas und als etwas, das die Bildlichkeit ausmacht, ist weder in der äußeren noch in einer inneren Wirklichkeit gegeben; es kann gar nicht darin gegeben sein, da die Bildlichkeit nicht zu den realen Prädikaten zählt. Die Ähnlichkeit zwischen zwei Wesen, und seien es Zwillinge, macht das eine nicht zur Kopie des 74 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Maurice Merleau-Ponty – Paul Cézanne, sein Lehrer

anderen. Eben deshalb bedarf die Bildwerdung einer besonderen Bewusstseinsleistung. Bilder sind Bildobjekte für ein bildgebendes Subjekt. 3. Die Unsichtbarkeit des fungierenden Bildes lässt sich beheben durch die Reflexion auf das Bildbewusstsein, die alle Bildkomponenten in thematische Objekte verwandelt. Als präreflexive Erscheinungsweise ist die Unsichtbarkeit eine vorläufige. (Sinne 134–135) Der Charakter der Bewusstseinsphilosophie hat weitreichende Folgen für das Bildverständnis und das Bildsehen. Es ist der cartesisch-zentralperspektivische Bildbegriff. Die Zentralperspektive meint demnach, die Bilder sind nach dem Modell eines Fensters (»finestra aperta«) zu sehen. Cézanne wurde für Merleau-Pontys zum Lehrer auf dem Weg in ein unbekanntes Land. An ihm konnte er sich klar machen, wie unzureichend dieser überkommene neuzeitliche, cartesisch-zentralperspektivische Bildbegriff ist und auf welche Erfahrungen der Philosoph rekurrieren kann, wenn er eine Revision versucht. Das frühe Datum 1945 des Cézanne-Essays Der Zweifel Cézannes wird erklärbar, wenn man berücksichtigt, dass Merleau-Ponty schnell in der Lage war, die offenen Probleme zu diagnostizieren, sie zu lösen vermochte er aber noch nicht. An Cézanne scheitert der Versuch, die Wahrnehmung mit Sehbahnen zu erörtern, die ideal konstruierbar sind, indem sie den abstrakten Augenpunkt mit dem Bildpunkt verbinden. Die Sehbahnen lassen sich als zweidimensionale Bildpunkte auf eine dreidimensionale imaginäre Bildebene bannen; die Schnittpunkte lassen sich als Bildpunkte definieren. Das wussten die Erfinder der Zentralperspektive wie Dürer. Sie entwickelten dazu technische Verfahren, deren populärste Variante durch Dürers Unterweisung der Messung in Umlauf kam. Das Bild auf die imaginäre Projektionsfläche aufgetragen, die selbst unsichtbar ist, ermöglicht den perspektivischen Durchblick, wodurch Realitäten bildlich wahrgenommen werden können. Dieses Modell hatte in der Folgezeit durchschlagenden historischen und theoretischen Erfolg. (Bild 18, Logos 294) 1945 veröffentlichte Merleau die Phänomenologie der Wahrnehmung. In diesem Text finden wir Anzeichen, das Phänomen Bild anders zu begreifen. Diese galten dem Phänomen der Wahrnehmung und auch der Bildwissenschaft: Das Bild gehört zum Wie des Erscheinens, bevor es als ein eigentümliches Was in Erscheinung tritt. Des75 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonik – Phänomenologie des Sehens

halb hat die phänomenologische Bildbetrachtung teil an der phänomenologischen Epochè, die den normalen Blick anhält, und an der phänomenologischen Reduktion, die vom Gesehenen auf das Sehen, von Seh- und Bildgehalten auf das Blickereignis zurückgeht. Merleau-Ponty zieht mit seinem Spätwerk Konsequenzen aus dem, was ihn Cézanne schon früher gelehrt hatte. Auf diesem Wege gelangte er dahin, das Sehen und das Bild als ein zentrales Thema seiner Philosophie zu behandeln. Dabei war es möglich, für die Grundfakten der Malerei, für das Sehen und das Bild eine neue theoretische Fundierung zu versuchen. Nach dem Modell des offenen Fensters ist die Frontalität des Bildes für das Sehen bestimmend. 46 Diese Sehrichtung fußt auf der Struktur des Bewusstseins: hier musste die Revision des Sehens beginnen. Schon in Konrad Fiedlers philosophischer Sicht begegnen wir dem Motiv, die Welt und das Sehen von »Innen« her zu begreifen. Merleau-Pontys Einsicht besteht im Grunde darin, dem Ort des Auges gegenüber den Dingen seine scheinbare Selbstverständlichkeit zu nehmen. Zwar scheint es unvermeidlich, auf etwas zu blicken, schon weil unsere Sehorgane frontal organisiert sind. Merleau-Ponty äußert aber Zweifel. Bewegen wir uns denn sehend immer nur an der Vorder- oder Frontseite der Wirklichkeit? Hat sie den Charakter einer Fassade oder einer Oberfläche, die das offene Auge in Distanz hält? Wir leben doch in, nicht vor der Welt! Merleau-Ponty bringt eine Sicht ins Spiel, die geeignet ist, den Frontcharakter unseres Sehens zu revidieren. – Es sei erinnert an Paul Klees L=Platz (→ Abb. 1, S. 465) und an seinen Spaziergang des Punktes (SK) –. Die Sicht lässt sich auf die Devise bringen: »j’en suis«, ich gehöre dazu, ich gehöre der Welt an. »Daß die Gegenwart der Welt eben Gegenwart ihres Fleisches für mein Fleisch (de sa chair à ma chair) ist, daß ich ›zu ihr gehöre‹ und nicht sie selber bin« (SU 168). »Der Blick ist nämlich selbst Einkörperung des Sehenden in das Sichtbare, Suche nach sich selbst im Sichtbaren, dem es zugehört (en est)« (SU 173). Die Intentionalität des Bewusstseins, dass sich die Dinge im Strahl der Aufmerksamkeit abschatten, suggerierte die »Sachen selbst«, zu denen sich Husserl aufmachte, als Dinge vor Augen, als Dinge gegenüber. Für Merleau-Ponty gilt es jetzt, einen angemesseneren Ort, inmitten der Realität einzunehmen. Schon Husserl hatte S. Waldenfels zu den Täuschungen u.a etwa des Offenen Fensters nach MerleauPonty u. a. (Selbst 48 ff.).

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Maurice Merleau-Ponty – Paul Cézanne, sein Lehrer

den Gedanken an eine »ursprünglichere Welt vor aller Thesis« entwickelt. Merleau-Ponty sucht diese Konsequenzen festzuhalten, die Erfahrungsschicht vor allem Bewusstsein und aller Wissenschaft sollte nicht wieder als ein transzendentaler Grund entweltlicht werden. Die Realität auf einen Akt des Denkens zu gründen, hieße sie als »Hypothese« begreifen, aber nicht als tragenden Boden, als die »Urarchè« oder »Urheimat« der entwickelten Phänomenologie. (Logos 294–295) Wo die Urheimat des Sehens suchen, wo die Mitte des Sehens zwischen Auge und Welt finden? Nach Merleau-Ponty ist »das Auge in der Welt, die Welt im Auge« (Bild 19). Dieser rätselhafte Einschluss fordert ein anderes Modell von Wahrnehmung. Merleau-Ponty musste auch die phänomenologischen Grundlagen seines Denkens revidieren, die Wahrnehmungsachse der Intentionalität mit ihrer zweipoligen Akzentuierung (nach Noesis und Noema) abbauen, wenn er ein angemessenes Verständnis von Auge und Bild gewinnen wollte. Vor allem versuchte er zu denken, was dem naiven Bewusstsein auf unumstößliche Weise festzustehen scheint: dass der Sehende sich nicht gegenüber der Realität aufbaut, sondern sein Tun in ihr vollzieht. Die eigentümliche Verschränkung von Sehen und Gesehenem veranlasste Merleau-Ponty, deren Gründe aufzuspüren. War das Modell der Selbstreflexion, Modell der geistigen Reflexivität, dafür geeignet? Er wandelt es auf signifikante Weise ab. Selbstreflexion des Sehens meint eine doppelte menschliche Befähigung: zu sehen und dabei sich selbst zu sehen. Auch Husserls intentionales Bewusstsein verschränkte das, was er intentio recta (Blick auf die Dinge) und intentio obliqua (Blick auf dieses Sehen durch es selbst) nannte. Merleau-Ponty verpflanzt dieses selbstbezogene Tun in die Mitte der Welt zurück: indem er den Akt des indirekten Sehens nicht auf das Sehen, sondern auf den eigenen Körper richtet. Die Tragweite dieser Blickänderung versteht man erst dann, wenn man ihre empirische Basis berücksichtigt. Jeder hat sich selbst tausende Male so erfahren: z. B. die eigene Hand betrachtend, sieht er etwas, aber gleichzeitig auch sich selbst in seiner körperlichen Präsenz, erfährt er sich zugleich sehend und gesehen. Dieser Grundgedanke lässt sich auf einfache Weise nachvollziehen. Die antike Theoria (als Schau) fundierte sich in der Praxis. Davon abgesehen: jeder der sieht (z. B. den Baum vor dem Fenster) erfährt das Gesehene dort und draußen (in einer gewissen Entfernung) und er erfährt es zugleich in sich selbst präsent, wenn er es anschaulich erlebt hat. 77 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonik – Phänomenologie des Sehens

Damit ist aber auch die Position des Auges gegenüber einer fassadenhaften Wirklichkeit verschoben, in die Mitte der Dinge versetzt. Merleau-Ponty hatte in der Phänomenologie der Wahrnehmung den Leib noch als transzendentale Konstitutionsbasis ins Spiel gebracht, als das eigentliche Ego der Intentionalität. »Bewußtsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes« (PW 167 f.). Diese Funktion mußte seine wirkliche Stellung inmitten der Welt noch verdecken (Logos 297). Jeder menschliche Körper repräsentiert eine Mitte. Seine Auszeichnung besteht darin, eine existierende, eine gelebte und leibhafte Reflexivität zu sein, in der sich Blick und Anblick überkreuzen. Diesen Kreuzungspunkt zeichnet nicht die Transparenz reinen Denkens aus, sondern dasjenige, was Merleau-Ponty mit seiner Lieblingskategorie »chair« umschrieb. 47 Merleau-Ponty nennt Fleisch, chair, die durchgängige Textur, die bewirkt, daß unser Leib und die Dinge sich in ein einziges Weltgewebe (tissu du monde) einfügen. Zu dieser Einsicht gelangt Merleau-Ponty durch eine überraschende Wende. Wenn unser Leib zugleich sehend und sichtbar ist, warum sollen dann nicht auch umgekehrt die Dinge, als Annex des Leibes, zugleich sichtbar und sehend sein. Was dem Leib recht ist, scheint den Dingen billig. Damit kommt es zu einer Umkehrung des Blicks, einem renversement, wie es etwa Paul Klee mit dem Gefühl ausspricht, »daß die Dinge, etwa die Bäume im Wald, mich anblicken (me regardent)« (AG 286). Im Malen spielen Aktion und Passion ineinander. Sehender und Gesehenes vertauschen ihre Rollen in einer Art »Inspiration und Expiration des Seins«, so »daß man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, Wer malt und wer gemalt wird« (Sinne 151–152). Die leibhafte Überkreuzung der Blicke lässt die Betrachtung der Welt von außen, in Distanz, aus der Position des Gegenübers, als möglich aber abgeleitet erscheinen. Der sehende Leib, sichtbarer Wirklichkeit zugewandt, ist zugleich sichtbarer Leib und hat als solcher Anteil an der allgemeinen Sichtbarkeit der Dinge. Insoweit gehört er der Natur an, kehrt zu ihr zurück, weil er ihr entstammt. Sein »zweiblättriges Wesen«, seine doppelte Zugehörigkeit zur Ordnung der Objekte wie zur Ordnung der Subjekte macht ihn zum Kreuzungspunkt, zu einer Nahtstelle der Realität. (Bild 17–21)

Zu dem Begriff der »Überkreuzung« (»Chiasmus«), den Begriffen »corps« – »chair« und »formule bzw. essence charnelle« s. (AG 278–281), (Schwellen 24–26).

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Bernhard Waldenfels – Grundphänomen Sehen

3.5 Bernhard Waldenfels – Grundphänomen Sehen Grundphänomen Sehen Wenn Bernhard Waldenfels über Malerei und Kunst handelt stellt er die »erste Frage: Woraus besteht ein Bild?« (Sinne 42) Er antwortet mit Merleau-Ponty und dem Versuch einer »ikonographische Philosophie des Sehens« (AG 287). Waldenfels erste Frage lautet nicht: »Was ist ein Bild?« Denn darauf erhielte er als Antwort einen Gegenstand. Aber ein Bild ist gerade kein Gegenstand, sondern das Ergebnis eines komplexen Vorganges. Es ist der gleichzeitige Vorgang des Sichtbarmachens und darin zugleich des Sichtbarwerdens. »Die Relation zwischen dem Sichtbarwerden in der Wahrnehmung und dem Sichtbarmachen in der bildenden Kunst wird der Leitfaden […] für die Philosophie der bildenden Kunst« (Schwelle 103). Der Ausgangspunkt einer solchen »ikonischen Philosophie des Sehens« ist nach Merleau-Ponty das bild- und leibhafte Sehen. Der Leib ist das Medium, das für anderes durchlässig ist wie Licht und Luft, ein Organ, mittels dessen wir anderes erreichen und anderes uns erreicht: »Der Leib antwortet auf die Frage: Wodurch, Womit und Wie, nicht auf die Frage Wer? Oder Was? In diesem Sinne erscheint der Leib als Sinnes- und Bewegungsapparatur mit verschiedenen Sinnes- und Bewegungsorganen, die uns ein leibliches Merkund Wirkfeld eröffnen (Wodurch), als Ausdrucksorgan, mittels dessen das innerlich Erlebte sich äußerlich kundtut (Womit), schließlich als Orientierungszentrum, von dem aus das, was ich merke und bewirke, sich nach rechte und links, oben und untern, vorn und hinten, nah und fern anordnet. Dementsprechend stellt sich die Rückbezüglichkeit des Leibes als ein Sichgewahren, Sichbewegen, Sichempfinden, Sichausdrücken, Sich-irgendwo-Befinden« (Schwellen 20–21). Es sind »Bilder, die, wie schon für Husserl, Sartre oder Merleau-Ponty, zuallererst Medien sind, worin und wodurch wir sehen, und nicht etwas, das wir sehen. Wir sehen in Bildern und sehen gemäß Bildern, bevor wir Bilder als solche sehen. Dies bedeutet, daß unsere leiblich verankerte Erfahrung nicht nur sprachlich, sondern auch bildlich geprägt ist. Der Mensch ist nicht nur ein Lebewesen, das einen Logos hat, sondern auch eines, das Eikones (Bilder) besitzt und von ihnen besessen ist« (kursiv – KK).

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

Bilder sind Medien, die wie Medien wirken, nämlich die Gegenstände und Handelnden Was und Wer in neue Möglichkeiten und Wirklichkeiten durch die Funktionen des Wodurch, Womit und Worin transponieren (Wissen 6). Die wichtigsten sinnlichen Erfahrungen sind sprachlich und/ oder bildlich verfasst. Die Präpositionen worin, wodurch, gemäß etc. machen darauf aufmerksam, dass es sich bei dem Bildsehen um ein komplexes Geschehen mit unterschiedlichen Bahnen, Bewegungen, Regeln, Strukturen handelt. Ein Sehen, das sich in einem bestimmten Gesichtsfeld vollzieht, unterliegt Bedingungen, die das Sehen zugleich ermöglichen und zugleich beschränken. Dazu gehören die Perspektiven mit ihren Sehbahnen, Sehrichtungen und Sehweiten, die auf einen beweglichen Standort innerhalb des Gesichtsfeldes verweisen. Dazu gehören ferner Horizonte und Grenzlinien, an denen Sichtbares in ein Unsichtiges übergeht, das selbst noch zum Reich des Sichtbaren gehört. (SF 207–208) Nach Waldenfels sind die wichtigsten Voraussetzungen des Bildsehens: »Das bildliche Sehen zerteilt sich […] in die Modi des Sehensals (1), des Sehens-in (2) und des Sehens-durch (3)« (Sinne 12, 117– 120). In diesen Bahnen zeichnet sich das Sehen als Grundphänomen ab. Die Bahnen des Sehens sind – Sehen »als« (etwas) – Sehen »in« (Anteil des Sehenden) – Sehen »durch« (Medium) –. Das »Sehen als« steht für das »etwas Sehen«; das »Sehen in« meint dabei den Anteil des »Sehenden«, der ›im etwas‹ sein Bild sieht; das »Sehen durch« bringt das »Medium« ins Spiel, kraft dessen für den Sehenden ›im etwas‹ das Bild selbstbezüglich zum Ausdruck kommt. Ikonisches Sehen entspricht so der »Aktintentionalität«, wie sie Merleau-Ponty nennt, dem Grundphänomen als Sehereignis oder »Blickereignis« (Waldenfels). Es entspricht der »Gegenstandsmodalität« des »Sehens«, die zugleich die innere Struktur des Sehens als »etwas«, »in« und »durch« aufweist. Die Beschreibung der Weise des Vorgangs des Bildsehens als Grundphänomen zeigt zugleich an, dass es dabei um die Gemeinsamkeit und Einheit aller drei Bahnen des Bildsehens geht, dem »als«, »in« und »wodurch«. Erst in der Simultaneität und Gemeinsamkeit aller drei Geschehensbahnen ereignet sich ikonisches Sehen. Analog der »Transitivität« des »Sagens« kann hier vom »Fungieren« der Bildsehens gesprochen werden. Merleau-Ponty spricht von »fungierender Intentionalität«. »Der Aktintentionalität, d. h. dem thetischen Gegenstandsbewußtsein […] liegt eine ›fungierende In80 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bernhard Waldenfels – Grundphänomen Sehen

tentionalität‹ zugrunde, die jene erst ermöglicht; Heidegger nennt sie die Transzendenz« (PW 475). Die ›fungierende Intentionalität‹, die »Aktintentionalität« (das Wie des Mediums Bild), bringt das Ereignis des Sehens zur Sprache. Sie ist vor allem Thema dieses 3. Kapitels. Im nächsten 4. Kapitel werden wir die »Ikonische Differenz« betrachten, die Sehordnung des bildlichen Sehens, die »Gegenstandsintentionalität« (das Was des Sujets). Was die Bilder zum Ausdruck bringen, sind Themen und Gestaltungen, die mit den künstlerischen Mitteln von Farben, Linien, Flächen etc. zur Darstellung kommen. Phänomenologische Epochè Kunst ist kein einfaches Abbilden einer vermeintlichen Realität. Kunst ist nicht die Kopie einer fertigen Welt: »Eine fertige Welt wäre nur abzubilden, eine unfertige ist fort- und umzubilden« (SF 207). So sieht die Phänomenologie das künstlerische Werk. Die Kunst ist in ihren verschiedenen Künsten ein Durchbrechen der gewohnten Einstellungen und zugleich die Einübung in eine neue Erfahrung. »Um die Übermacht der Realität zu brechen und das Bildmedium in seinem Fungieren zu thematisieren, bedarf es einer besonderen Art von phänomenologischer Epochè« (Sinne 51). »Deshalb hat die phänomenologische Bildbetrachtung teil an der phänomenologischen Epochè, die den normalen Blick anhält, und an der phänomenologischen Reduktion, die vom Gesehenen auf das Sehen, von Seh- und Bildgehalten auf das Blickereignis zurückgeht« (Sinne 135). »Fungieren« wird die Ausdrucksweise der Phänomenologie für die phänomenologischen Reduktionen und die neue Erfahrung sein, die das Kunstwerk eröffnet. Für Waldenfels steht die Epochè für das grundsätzliche Anhalten der gewohnten Erfahrungen und der damit verbunden Reduktionen nicht nur des Sehens, sondern auch aller anderen sinnlichen Wahrnehmungen: »Epochè, ein Anhalten der natürlichen Erfahrungsbewegung, ein Bruch mit dem Selbstverständlichen. Die phänomenologische Epochè, die sich auf die Welt im ganzen richtet, fächert sich auf in spezifische Varianten wie ikonische, pikturale, auditive, kinetische oder narrative Epochè, die in den diversen Künsten praktiziert werden« (Sinne 15). Waldenfels selbst spricht im Zusammenhang mit der Bildkunst von der ikonischen beziehungsweise pikturalen Epochè (Sinne 135). Das Grundphänomen Sehen hat seine eigene Vollzugsweise und 81 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonik – Phänomenologie des Sehens

seine eigene innere Logik, seine eigene Struktur des Sehvorgangs. Wie wir bei dem »Sagen« von der »Verbalität« des Sprechens ausgegangen sind, so kann das »Sehen« als »Ikonik« oder das »Hören« als »Akustik« wiedergegeben werden. Dem phänomenologischen Vorgehen entsprechend formuliert Waldenfels zwei Grundsätze: 1. 2. 3.

Die erste Grundformel des Bildsehens lautet: »Wir sehen etwas als etwas im Bilde« (Sinne 117 f.). Die zweite Grundformel lautet: »Uns fällt etwas auf durch das Bild hindurch« (Sinne 118). Schließlich wäre als dritte Grundformel die Einheit des Grundphänomens Bildsehen zu nennen, die Einheit von »Wir sehen in Bildern und gemäß Bildern« (Wissen 6).

3.5.1. Grundformel: »etwas als etwas« Sehen – Semantik des Sehens. »Sobald wir es mit einer visuellen Erfahrung zu tun haben, besagt dies, daß etwas als etwas sichtbar wird« (Sinne 43). Wir sehen »etwas als etwas« ist eine Grundoperation der phänomenologischen Reduktion. Es ist die »eidetische Reduktion«. Wir sehen »etwas als etwas im Bilde« (Sinne 117 ff.) ist die phänomenologische Grundoperation des Bildsehens. Sie tritt in der Kunst als »ikonische« oder »pikturale Differenz« auf, wie sie Waldenfels nennt. Sinn des Bildes zeigt sich genetisch Die »eidetische Reduktion« führt das Erkennen phänomenologisch auf die wesentlichen Gründe und Gehalte zurück. Das Erkennen versucht das »etwas als etwas« möglichst exakt zu bestimmen. Allerdings haben wir schon darauf aufmerksam gemacht, dass das »etwas als etwas« von den unterschiedlichen Erfahrungen abhängt, in deren Zusammenhang Erkennen stattfindet. Ein Wald ist für einen Holzfäller oder einen Spaziergänger etwas anderes. Der Holzfäller sieht den Wald als seinen Arbeitsplatz an, der Spaziergänger als Erholungsraum. Diese Erkenntnis gilt auf besondere Weise für das künstlerische Werk. Der Maler etwa will nicht nur das »etwas als etwas« abbilden, sondern dem »als« auf den Grund gehen. Das künstlerische Sehen ist ein Prozess, der der Erfahrung auf den Grund geht, um nicht nur 82 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bernhard Waldenfels – Grundphänomen Sehen

vorgegebene Erfahrungen wiederzugeben, sondern die Möglichkeiten von Erfahrungen zu finden und ihnen Gestalt zu geben. »Erfahrung bedeutet einen Prozess, in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge Struktur und Gestalt annehmen. Die Phänomenologie hat es, wie es bei Merleau-Ponty heißt, mit einem Sinn in statu nascendi zu tun« (Sinne 141). Merleau-Ponty zeigt eindrucksvoll auf, wie sich der Künstler zurück versetzt in die Gründe möglicher Erfahrungen und daran arbeitet: Es gilt »sich in ein vorausgehendes ›Es gibt‹ zurückversetzen, in die Landschaft und auf den Boden der wahrnehmbaren Welt und der ausgestalteten Welt, wie sie in unserem Leben, für unseren Leib da sind […] diesen gegenwärtigen Leib, den ich den meinen nenne, diesen Wachtposten, der schweigend hinter meinen Worten und meinen Handlungen steht. […] In dieser primordialen Geschichtlichkeit wird das unbeschwerte und improvisierende Denken der Wissenschaft lernen, wieder bei den Dingen und sich selbst zu verweilen […] Die Kunst und namentlich die Malerei schöpfen aus jenem Meer rohen Sinnes (sens brut), von dem das produzierende Denken nichts wissen will« (AG 13, 277–278).

3.5.2. Grundformel: Sehen ist bild- und leibhaftes Sehen – Syntax des Sehens Waldenfels zweite Grundformel lautet: »Uns fällt etwas auf durch das Bild hindurch« (Sinne 118). Die zweite Grundformel steht für das »Sehen in«, das den Anteil des »Sehenden« meint, der ›im etwas‹ sein Bild sieht. Hier gewinnt das Wie der Gegebenheit ein besonderes Gewicht (vgl. Hua III, 411 f.). Dies betrifft die farbliche Ausbreitung, die Konturierung von Figuren, die Orientierungsweisen wie Vorder- und Rückansicht, die Klarheit unter Einschluss der Beleuchtung und ähnliche Aspekte, die einer anfänglichen Bildlichkeit der Dinge zuzurechnen sind und die samt und sonders in die bildliche Darstellung mit eingehen. Es betrifft vor allem aber, dass das bildhafte Sehen leibhaft ist. (Sinne 43) Das bild- und leibhafte Sehen hat weitreichende Konsequenzen für das Leibverständnis im Schaffen des Malers selbst.

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

Körper und Leib 48 Für den Anteil des Malers am Bild steht das bekannte Wort Valérys: »Der Maler bringt seinen Leib ein«, nur so verwandelt er die Welt in Malerei (Sinne 149). Merleau-Ponty hat ausgehend von diesem Wort die Rolle des Sehenden in das Kunstwerk eingebracht. Der Sehende bringt seinen Leib ein. In der Tat kann man sich kaum vorstellen, wie ein Geist malen könnte. »Indem der Maler der Welt seinen Leib leiht, verwandelt er die Welt in Malerei«. Um diese Verwandlung zu verstehen, muss man den Leib in seinem »Fungieren« begreifen. Der fungierende Leib ist kein Stück des Corpus (corps), kein Bündel von Funktionen, die irgendwie miteinander verbunden sind, sondern »ein Geflecht aus Sehen und Bewegung«. Mein beweglicher Leib zählt zur sichtbaren Welt, ist ein Teil von ihr, und kann sich deshalb im Sichtbaren orientieren. Umgekehrt jedoch hängt auch das Sehen von der Bewegung ab. Man sieht nur, was man betrachtend anschaut. Was wäre das Sehen ohne jede Bewegung der Augen? Das verbietet es, das Sehen mit dem Denken zu verwechseln, ein Denken etwa, das im Geist ein Bild der Welt bildet, ein substantivisches Gebilde, ein geistiges Abbild, einen Begriff. Durch seinen Leib, der selbst sichtbar ist, eignet sich der Sehende nicht das an, was er sieht, sondern er nähert sich ihm, er öffnet sich auf die Welt hin. Wie ist dies möglich? Was geschieht dabei? »Das Rätsel liegt darin, daß mein Leib zugleich sehend und sichtbar ist«. Indem der Leib sehend die Dinge betrachtet, kann er sich auch selbst sehen. »Er sieht sich sehend, er betastet sich tastend, er ist für sich selbst sichtbar und spürbar«. Es ist ein »Selbst«, das nicht – wie im Denken der Geist – alles rezipiert und reflektiert, sondern der sich verbindet mit dem, was es sieht, und von dem berührt wird, was er berührt, ein Empfinden von Empfindendem und Empfundenem. (Schwellen 34–36) Der »Körper« (corps) ist ohne Innen und ohne ein »Selbst«. Ein menschlicher »Leib« ist gegeben, wenn es zwischen Sehendem und Sichtbarem, zwischen Berührendem und Berührtem, zwischen dem einen Auge und dem anderen, zwischen einer Hand und der anderen zu einer Art Überkreuzung (Chiasmus) kommt, zu einer Berührung des Empfindenden. Das Ich, das Selbst, bildet sich aus dieser Begegnung des Empfindenden mit der Welt. Dafür steht als immer wieder-

Zu dem Begriff der »Überkreuzung« (»Chiasmus«), den Begriffen »corps« – »chair« und »formule bzw. essence charnelle« s. (AG 278–281), (Schwellen 24–26).

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holtes Beispiel bei Husserl, Levinas, Sartre u. a. der Händedruck einer Begrüßung, bei dem der Andere als Anderer und zugleich meine Hand als meine erfahren wird, und dabei ich mein Ich erfahre. In der Überkreuzung der Hände ereignet sich die Erfahrung des Selbst. 49 Aus diesem Paradox ergeben sich nach Merleau-Ponty andere Folgen. Sichtbar und beweglich zählt mein Körper zu den Dingen, ist er eines von ihnen, er ist in das Gewebe der Welt eingelassen. Da er aber sieht und sich bewegt, erfasst er die Dinge in seinem Umkreis; sie bilden einen Anhang seiner selbst, »sie sind seinem Fleisch eingeprägt (incrustées dans sa chair)«, sie bilden einen Teil der Definition des eigenen Selbst. Umgekehrt ist auch die Welt aus eben dem Stoff des Körpers gemacht. Überkreuzung von Selbst und Welt. Mit diesem besonderen System wechselseitiger Bezüge (Überkreuzungen) ist auch die Malerei zu beschreiben. Die Überkreuzungen illustrieren das Rätsel des Leibes, und dieses Rätsel rechtfertigt sie. Denn weil die Dinge und mein Leib aus demselben Stoff gemacht sind, muss sich das Sehen irgendwie in ihnen vollziehen, muss ihre Sichtbarkeit in ihm, dem Leib, gegeben sein: »Die Natur ist im Inneren«, sagt Cézanne. »Die Elemente von Qualität, Licht, Farbe, Tiefe, die sich vor uns befinden, sind dort nur, weil sie in unserem Leib ein Echo hervorrufen, weil er sie empfängt. Jenes innere Äquivalent, jene sinnliche Formel (formule charnelle) ihrer Gegenwart, die die Dinge in mir erwecken, in der der Blick die Motive wiederfindet, die seine Sicht der Welt konstituieren. Dann erscheint ein Sichtbares in der zweiten Potenz, ein sinnliches Wesen (essence charnelle) oder ein Bild des ersten« (AG 278–281). – Merleau-Ponty spricht vom Außen und Innen des Leibes als vom »Leibbewußtsein« des Innen und dem »Körperschema« des Außen. »Jeder menschliche Körper repräsentiert eine solche Mitte. Seine Auszeichnung besteht darin, eine existierende, eine gelebte und leibhafte Reflexivität zu sein, in der sich Blick und Anblick überkreuzen. Diesen Kreuzungspunkt zeichnet nicht die Transparenz reinen Denkens aus, sondern dasjenige, was Merleau-Ponty mit seiner Lieblingskategorie ›chair‹ umschreibt« (Bild 17– 21).

Der »Händedruck« als durchgehendes Motiv des Chiasmus bei Merleau, Levinas u. a. (DG1 351–358).

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Leibhaftiges Malen Damit ist ein vertieftes Verständnis des bildnerischen Wirkens, des Malens, gegeben. Es beginnt mit einem Sehen, das nicht wir bewirken, sondern das in uns wirkt, es nimmt dem Maler den Pinsel aus der Hand; »seine ureigensten Handlungen, so scheint es ihm, […] gehen aus den Dingen selbst hervor wie Zeichenmuster. […] Auf dem unvordenklichen Grund des Sichtbaren hat sich etwas bewegt, hat sich etwas entzündet, das nun seinen Leib überkommt, und alles, was er malt, ist eine Antwort auf diese Anregung, seine Hand ›nur das Instrument eines fernen Willens‹« (Sinne 156–157). »Ein Sehen, das nicht bloß eine Welt widerspiegelt, sondern sie mithervorbringt, ist selbst ein Tun, ein selbstempfundenes Sichbewegen, das Husserl Kinästhese nennt« (Schwellen 68–69). Augenbewegung und Blickführung, Tastversuche und Erkundungsgänge mitsamt dem vielfältigen Register der Leiblichkeit kommen bei jedem Sehakt ins Spiel. Das »nicht mehr bloß durch die Augen, sondern durch den ganzen handelnden Menschen vollzogene Sehen«, das Fiedler beim Künstler findet 50, beginnt schon im Bereich des gewöhnlichen Sehens. »[…] Ein Sehen, das sich von den Dingen anregen und einnehmen läßt, wird mehr inszeniert als produziert (vgl. Hua IV, 98, 259). Eben deshalb hebt das Sichtbarmachen des Malers an mit einem Sichtbarwerden. Das Sichtbare ›konstituiert sich‹, sagt Husserl häufig« (SF 207). Das Tun des Malers ist ein Sichtbarmachen, das Ergebnis ist ein Sichtbarwerden der Welt. Das Geheimnis der Malerei ist die Sichtbarkeit. »Was wir da sagen, läuft auf eine triviale Feststellung hinaus: Die Welt des Malers ist eine sichtbare Welt, die nicht anders als sichtbar ist, eine fast verrückte Welt, da sie ja vollständig und doch nur partiell ist. Die Malerei erweckt einen Rausch und läßt ihn bis zu seiner äußersten Stärke anwachsen, und dieser Rausch ist eben das Sehen […] Die Malerei bringt nichts zum Bewußtsein und insbesondere nicht das Tastbare. Sie macht etwas ganz anderes, fast das Umgekehrte: Sie verleiht demjenigen sichtbare Existenz, was das profane Sehen für unsichtbar hält […] das Sehen bewohnt das Auge, wie der Mensch sein Haus« (AG 284 f.).

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Fiedler, Kunst, a. a. O., 214.

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3.5.3. Sehereignis – »Sehen in Bildern und gemäß Bildern« Wie schon Husserl deutlich gezeigt hat, unterliegt das Bild einer eigentümlichen bildlichen Differenz, einer Differenz zwischen dem, was bildhaft sichtbar wird, und dem, worin es sichtbar wird. Ähnlich wie wir beim Zeichen zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem unterscheiden, können wir zwischen Gebildetem und Bildendem beziehungsweise zwischen bildlich Dargestelltem und bildlich Darstellendem unterscheiden. (Sinne 44) (Selbst 115 f.) Thema der »ikonischen Philosophie des Sehens« sind »Bilder, die, wie schon für Husserl oder Merleau-Ponty, zu allererst Medien sind, worin und wodurch wir sehen, und nicht etwas, das wir sehen. Wir sehen in Bildern und sehen gemäß Bildern, bevor wir Bilder als solche sehen«. (Wissen 6). Medium Bild Was wir sehen, ist ein Sehen »in«, »durch« und »gemäß« »Wenn das Sehereignis sichtbar wird, so nur indirekt, etwa im Spiegel; dabei mag es sich um eine spiegelnde Oberfläche, ein Spiegelgerät oder den fremden Blick handeln. Wir sehen den Blick im Spiegel, wobei dieser als ein mediales Drittes fungiert. Dabei wiederholt sich die leibliche Selbstverdoppelung« (Sinne 150 f.). 51 Wir sehen nicht direkt, sondern in einem Medium, »in« und »durch« ein Drittes. Das geläufige Beispiel dafür ist der Spiegel. Der Spiegel ist vor allem das Paradigma des geistigen Sehens, des Geistes. Erkennen ist Reflexion des Geistes, Spiegelung der Dinge in der reflexen Transparenz des Geistes. Der Spiegel dient auch als Beispiel des sinnlichen Sehens. Diese Analogie kann aber nur funktionieren, wenn der Unterschied der jeweiligen Transparenz beachtet wird. Im sinnlichen Sehen kann nicht die reflektierende Transparenz des Geistes vorausgesetzt werden, ansonsten wäre Sehen schon Denken und Erkennen. Es stellt sich die Frage nach dem medialen Dritten des Sehens. Es sind verschiedenste Medien möglich, nicht nur der Geist, nicht nur der Spiegel. Als Beispiel für das sinnliche Sehen mag das Wasser dienen: Wenn ich im Schwimmbecken durch das Wasser hindurch die Fliesen sehe, sehe ich sie nicht trotz des Wassers und der Zum »Medium« Leib (Schwellen 20 ff.); zum Medium »Spiegel« (Selbst 31–37), (Schwellen 30–37); »gemäß« (SF 216).

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Reflexe, ich sehe sie eben durch diese hindurch, vermittels ihrer (AG 306). Es sind noch ganz andere mediale Modi möglich: Wenn etwa Johann Georg Hamann ausruft: »Rede, dass ich dich sehe« (Handeln 330). Eine ähnliche, aber zentrale Rolle spielt das »Gesicht« bei Levinas. Im Gesicht begegnet mir der Andere mit seinem Anspruch, der zugleich mich in die Verantwortung ruft. Das führt zu der obigen Aussage von Waldenfels hinsichtlich des medialen Dritten im Selbst: »Es wiederholt sich die leibliche Selbstverdoppelung« (Sinne 150). 52 fungierendes Bildmedium Im Medium des Spiegels wiederholt sich die Verdoppelung des »Selbst«, das aus der Verdoppelung, der Kreuzung des Leibes hervorgeht. Dabei, so formuliert Waldenfels, »fungiert« das Medium, z. B. der Spiegel, als »mediales Drittes«. »Fungieren« bezeichnet hier das Geschehen der Verdoppelung, das Entstehen des Selbst, durch die Überkreuzung von Selbst und Welt. Das Verb »Fungieren« wird zu einem Grundbegriff des Grundphänomens Bildsehen. Analog zur »Transitivität« des Sagens kann hier vom »Fungieren« der Bildsehens gesprochen werden. MerleauPonty spricht von »fungierender Intentionalität«. »Der Aktintentionalität, d. h. dem thetischen Gegenstandsbewußtsein […] liegt eine ›fungierende Intentionalität‹ zugrunde, die jene erst ermöglicht; Heidegger nennt sie die Transzendenz« (PW 475). Fungieren meint hier die »Aktintentionalität«, also den Akt (das Sehen) als Geschehen und Ereignis und die das Geschehen begleitende Intentionalität, also die Sehordnung. Das Grundphänomen zeigt sich nämlich als ein Geflecht untereinander und miteinander fungierender Bewegungen und Bahnen. So fasst Waldenfels die Grundhandlung des »Fungierens« für die verschiedensten Bewegungen folgendermaßen zusammen: »In einem ähnlichen Sinne, wie Husserl und Merleau-Ponty von fungierender Funktionalität, fungierendem Ich, fungierendem Leib oder fungierender Sprache sprechen, können wir das Bild, das etwas als solches sichtbar macht, als fungierendes Bild bezeichnen, dessen Fungieren durch keine Thematisierung völlig einzuholen ist. Es findet seinen Ort in einer medialen Zwischensphäre inmitten diverser Optiken, Praktiken und Techniken, die ihrerseits das Fungieren des Bildes mitprägen. Es antwortet nicht auf die 52

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Frage Was oder Wer, sondern auf die Frage Wie, die in all diesen Fällen auf kontingente Modalitäten trifft: Wir sehen so und nicht anders. […] Das Rätsel der Sichtbarkeit liegt nun darin, daß das Sichtbarwerden und Sichtbarmachen selbst mit den Mitteln des Sichtbaren geschieht. In diesem Sinne pflege ich von einer potenzierten Sichtbarkeit zu sprechen« [SK 45]. 53

Das Sehen entspricht dem Grundphänomen in der oben phänomenologisch beschriebenen Form. Die Kennzeichen dafür sind vor allem der Grundzug des »Ereignisses« des Sehens und der »Sehordnung« bzw. Logik des werdenden Bildes. Das »Fungieren« bezeichnet dabei die mediale Zwischensphäre, in der alle Bewegungen des Sehens wie Sehbahnen, Sehweisen und Gestaltungen zusammenlaufen und koordiniert werden. In diesem Medium werden die Weichen für das Wie des Sehens gestellt, koordiniert und ausgeführt. Entscheidend ist, dass die Ganzheit des Phänomens in allen Dimensionen bewahrt wird. Was vom »fungierenden Bild« gesagt wird, kann auf gleiche Weise auf den »fungierenden Leib« übertragen werden.: der fungierende und gegenwärtige Leib ist nicht ein Stück im Raum, kein disparates Bündel von Funktionen, sondern ein Geflecht aus Sehen und Bewegung, wie es dem Grundphänomen des Sehens entspricht (AG 278–279). Der Leib ist schließlich das gesuchte Medium, das mediale Dritte, in ihm vollzieht sich das Sichtbarmachen, Sichtbarwerden und schließlich das sichtbare Bild. Reflexivität des Mediums Leib »Fungierender Leib« meint den »Selbst-« und »Fremdbezug« des Leibes (Selbst 42 ff.). Waldenfels spricht von dem anfänglichen »Leibbewußtsein«. »Dieses Bewußtsein lebt aus der Spannung zwischen Stummheit und Ausdruck, zwischen Unbekanntheit und Bekanntheit; ihm ist ein leibliches Un- oder Vorbewußtsein eingeschrieben (Schwellen 21). Wird das Leibbewusstsein aufgeweckt durch eine Berührung oder Ähnliches, wird das Selbst des Leibes geweckt, wird die Selbstbezüglichkeit oder eine Art von »Reflexion« angesprochen. 54 Levinas Waldenfels weist auf eine ganze »Reihe fungierender Begriffe« bei Merleau-Ponty hin wie: Abweichung, Übersetzung, Nachträglichkeit, Überschuss (DG1 114 ff.). 54 Zur leiblichen Reflexivität s. Métraux, Alexandre; Waldenfels, Bernhard (Hrsg.) (1986), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München, 236– 257. 53

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

spricht von »Rekurrenz«. 55 »Das Rätsel liegt darin, daß mein Leib zugleich sehend und sichtbar ist. Er, der alle Dinge betrachtet, kann sich zugleich auch selbst betrachten und in dem, was er dann sieht, ›die andere Seite‹ seines Sehvermögens erkennen. Er sieht sich sehend, er betastet sich tastend, er ist für sich selbst sichtbar und spürbar« (AG 280–282). »Erwin Strauß sagt […] im Empfinden erlebt der Empfindende sich und die Welt, sich in der Welt, sich mit der Welt« (Selbst 99). »Auf diese Weise verschränkt sich der Ort des Betrachters vor dem Bild mit einem Blickpunkt im Bild. Der Sehende sieht nicht nur etwas, er wird indirekt Zeuge seines eigenen Sehens« (Wissen 7). Der Leib ist Medium, aber nicht in sich ruhend, sondern lebendig in Bewegung. Merleau-Ponty nennt Fleisch chair. Wenn unser Leib zugleich sehend und sichtbar ist, dann sind umgekehrt die Dinge ebenso zugleich sichtbar und sehend. Damit kommt es zur Umkehrung des Blicks, einem renversement, wie es Klee erfährt, »daß die Dinge, etwa die Bäume im Wald, mich anblicken (me regardent)« (AG 286), so »daß man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, Wer malt und wer gemalt wird« (Sinne 151–152). Die französische Wendung »me regarde« enthält den Doppelsinn, dass sie als »es blickt mich an« oder als »es geht mich an« verstanden werden kann. »Dies verlockt dazu, dem Bild eine emphatische Form von Alterität zu unterschieben, als sei das Bild selbst eine Art Gesicht, visage […] Diese spezifische Verdoppelung des Blicks beginnt bereits mit dem Spiegel, der mich mit der Andersheit meiner selbst und meiner Welt konfrontiert, so daß ich mich-selbst und die Dinge mit fremden Augen sehe. Sie setzt sich fort beim Maler, der sich selbst mit ins Bild bringt wie in den berühmten Gemälden von Vermeer und Velazquez. Auch der Wechselblick ist nur insofern als bildhaft zu bezeichnen, als ich mich im Bild und gemäß dem Bild als mich Selbst entdecke« (Sinne 155).

Cézannes Malerei wurde für Merleau-Ponty zum Ausgangspunkt seiner Reflexionen über die menschliche Wahrnehmung. Eine seiner Thesen lautete: Nicht wir betrachten das Bild, sondern es ist das Bild, das uns betrachtet. Und: In allem Sehen werden wir selber von dem Gesehenen gesehen. Boehm meint dazu:

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»Rekurrenz« bei Levinas (JS 227 ff., 241–243), (DG 1, 329–330).

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Bernhard Waldenfels – Grundphänomen Sehen

»Ja das klingt so etwas animistisch, dass die Dinge nun auf eine magische Weise belebt wären. Auf der Ebene sollte es man vielleicht doch nicht verstehen. Jedenfalls ist es nicht gemeint, sondern gemeint ist etwas, was jeder Analyse standhält: nämlich, dass Bilder eine Dialogqualität bekommen. Und dieses Zurückblicken der Bilder auf uns ist letztlich als eine Fähigkeit der Bilder zum Dialog mit uns zu verstehen. Und wir erwarten ja von einem Dialogpartner, dass er eine eigene Souveränität hat und nicht einfach reflektiert, was wir an ihn herantragen. Der Dialogpartner ist nicht ein Spiegel, sondern ist ein anderes Selbst« (DLF).

Für Merleau-Ponty ist Wahrnehmung nicht durch die Gerichtetheit unseres Verstandes möglich, sondern es ist das Geschehen, das uns ansieht. Wir schauen uns also nicht nur Cézannes Gebirge vom Montagne Sainte-Victoire an, sondern es ist auch das Gebirge, das uns ansieht. Der Leib lebt vom »Chiasmus«, der Überkreuzung von Selbst und Welt. Chiasmus ist als ein Geflecht sich überkreuzender Bahnen oder als Verdoppelung bekannt. Dies besagt aber nicht, dass zwei Entitäten teilweise identisch sind wie Kreise, die sich begegnen und überschneiden, sondern dass verschiedenartige Bewegungen sich an einem gemeinsamen Ort treffen, genauer: dass sie einen gemeinsamen Ort bilden. Waldenfels spricht von der »Körperikonik«, dass nämlich der Körpersprache eine ebenso eigenartige Körperikonik entspricht. Damit ist gemeint, dass der Reflexivität des sinnlich Gegebenen eine sinnliche Reflexion unseres Leibes entspricht, der sehend ist und zugleich gesehen wird (Sinne 90). Oder Merleau-Ponty antwortet mit dem sogenannten »Körperschema« (Selbst 118–119). Merleau-Pontys Grundgedanke lautet: beim Körperschema handelt es sich nicht um eine Wahrnehmung in dem Sinne, dass zu den Objekten meiner Wahrnehmung noch ein anderes hinzuträte, nämlich mein Körper als etwas, das stets dabei ist, sondern die Einheit des eigenen Leibes stellt sich durch den Umgang mit der Welt her. Die Strukturierung oder Gestaltung der Leiblichkeit, das Körperschema, entspricht dem Weltbezug. Die Kreuzung lässt sich selbst nicht wieder lokalisieren (Sinne 150). 56

Waldenfels beschreibt das »Leibbewusstsein« oder das »Körperschema« als »Geflecht des assymetrischen Ineinanders« (DG1 359 ff.), von »sinnlicher Reflexion« und der »Überkreuzung« von Körper und Leib, »der sehend ist und zugleich gesehen wird« (Selbst 384 ff.). Das Körperschema ist vielleicht zu vergleichen mit einer zweiseitig sensitiven Membrane oder einem heutigen Optischen Touchscreen.

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Ikonik – Phänomenologie des Sehens

Das »in mir« lässt sich allerdings nicht streichen. Das »Man« oder »Es«, das in mir wahrnimmt, wird nur dann dem fundamentalen Charakter der Wahrnehmung gerecht, wenn es als ein leibliches Selbst gedacht wird, das auf mannigfache Weise der Welt angehört, die in ihm Gestalt annimmt. Die Reflexion, die diesem Selbstsein innewohnt, ist zunächst kein separater Akt, sondern ein Rückbezug der Leiblichkeit auf sich selbst, wie schon Husserl es in den Cartesianischen Meditationen formuliert (Hua I, 128). Bei Merleau-Ponty wird daraus die »Reflexivität des Sinnlichen« (AG 287): 57 »Doch warum spielt gerade der Leib diese entscheidende Rolle? Die Antwort, die in Das Sichtbare und das Unsichtbare in extenso entfaltet wird, lautet: Weil der Leib zugleich sehend und sichtbar ist, desgleichen berührend und berührt, sich bewegend und bewegt. Es gibt hier noch kein Subjekt, das den Leib als eigenen Leib und als fremdartiges Körperding auffaßt, seine Intentionen auf ihn richtet, ihn benennt; Sehender und Gesehener fallen vielmehr zusammen« (Sinne 150).

Bild und neue Wirklichkeit Die Welt des Malers ist nicht die alte oder fertige Welt. Im Sehereignis werden die Instanzen des Was, Wer und Wem neu bestimmt. Im strengen Sinne wird hier nichts wieder- oder weitergegeben, weil es in solchen Umbruchsituationen gar nichts gibt, was wieder- oder weiterzugeben wäre. Das sehende Sehen wohnt der Entstehung des Gesehenen und Sehenden bei, die im Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens mit auf dem Spiel steht. Dem Sehereignis entspricht ein Bildereignis, das nicht bloß sichtbar macht, was zuvor hier, dort, anderswo oder an sich schon sichtbar ist, sondern was unter neuentstehenden Bedingungen zugleich sichtbar und unsichtbar wird. Wenn in diesem Zusammenhang so häufig von Unsichtbarkeit die Rede ist, so handelt es sich nicht um eine Sichtbarkeit höherer Ordnung, sondern um das »Unsichtbare dieser Welt« (SU 198), das ihr zugehört, indem es sie überschreitet. Streng genommen besteht das Fiktive dann nicht darin, das Unsichtbare sichtbar zu machen, »sondern sehen zu lassen, wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren ist« (Ordo 243).

S. zur »Reflexivität des Sinnlichen« (Selbst 384 ff.); (PW 118, 403); (SU 322 314); (Sinne 90, 140).

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Bernhard Waldenfels – Grundphänomen Sehen

Indem Husserl dem Wahrnehmungsbewußtsein den bloßen Abbildcharakter streitig macht, gibt er der Bildlichkeit ihre Eigenfunktion zurück. Indem er die Wahrnehmung mit offenen Horizonten ausstattet, öffnet er den Raum für eine Einbildungskraft, die nicht bloß Phantomen und Phantasmen nachjagt. Ihre volle Produktivkraft erreicht sie allerdings erst dort, wo sie nicht nur Unsichtiges sichtbar macht, sondern das Gefüge des Sichtbaren und die Bedingungen des Sehens selbst noch verändert. Diese Einbildungskraft entführt uns nicht in eine andere Welt, sondern läßt die Welt als andere erscheinen. Insofern können wir mit Merleau-Ponty sagen: »Das Imaginäre haust in der Welt« (PW 69). Damit ist der Kunst ein Ort vorgezeichnet, der nicht bloß der des Scheins, auch nicht des schönen Scheins ist (SF 207–208): »Die Restitution des Sinnlichen als einer Sphäre entstehenden Sinnes wirkt sich aus auf unsere Auffassung von Wirklichkeit. Wirklich ist nicht, was schlicht der Fall ist, sondern was sich unter bestimmten Auswahlbedingungen verwirklicht. Unser Wahrnehmungs- und Weltglaube, von dem Husserl spricht, läßt sich nie in ein Wissen verwandeln, das dem propositionalen Raster von Ja/Nein-Unterscheidungen unterliegt. Etwas kann je nach Gewicht, das ihm im Gravitationsfeld unserer Interessen, Begierden und Neigungen zufällt, mehr oder weniger wirklich sein. Prozesse der Entwirklichung und Neuverwirklichung erklären nicht nur, wieso die Sicherheit des Alltagslebens durch Wahnvorstellungen durchlöchert werden kann, sie erklären auch, wieso Malerei zur Konstitution einer Welt beiträgt. Eine fertige Welt wäre nur abzubilden, eine unfertige ist fort- und umzubilden« (SF 207).

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4 Ikonische Differenz

Gottfried Boehm hat zur Kennzeichnung der modernen Bildwissenschaft des »iconic turn« den Begriff der »ikonischen Differenz« eingeführt. Boehm hat den Begriff der »ikonischen Differenz« folgendermaßen gefasst: »Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem, was sie an Binnenereignissen einschließt. Das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der Form, der Figur etc.) beinhaltet, wurde vom Künstler auf irgendeine Weise optimiert. Die Regeln dafür sind historisch veränderlich, von Stilen, Gattungsordnungen, Auftraggebern usw. geprägt. Bilder – wie immer sie sich ausprägen mögen – sind keine Sammelplätze beliebiger Details, sondern Sinneinheiten. Sie entfalten das Verhältnis zwischen ihrer sichtbaren Totalität und dem Reichtum ihrer dargestellten Vielfalt. Das historische Spektrum möglicher Wechselbestimmungen dieser ikonischen Differenz ist ausgesprochen reich« (Bild 29–31). 58

Was das Grundphänomen des Bildsehens betrifft, wird man sagen können: Die »ikonische Differenz« gibt die andere Seite des Grundphänomens »Sehen« wieder. Während »Ikonik« das Ereignis oder Geschehen des Bildsehens meint, formuliert die »Ikonische Differenz« die Bild- oder Sehordnung der Ikonik. Bei der Ikonischen Differenz geht es um die Logik der Bilder. Die Logik der Bilder geht aus dem Prozess der Erfahrung hervor, Sinn zu erzeugen. »Erfahrung bedeutet einen Prozess, in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge ›Struktur‹ und ›Gestalt‹ annehmen. Die Phänomenologie hat es, wie es bei Merleau-Ponty heißt, mit dem Sinn in statu nascendi zu tun« (PW 18). Sinn entsteht, indem die Dinge Struktur und Gestalt annehmen. 58

S. Boehm 50, 52 f.; Sinne 46.

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Zeitlichkeit der Ikonischen Differenz

Die »Ikonische Differenz« entspricht der phänomenologischen Reduktion (Sinne 51 f., 73). Die phänomenologische Reduktion geht »zu den Sachen selbst«, sie geht »vom Gesehenen auf das Sehen, von Seh- und Bildgehalten auf das Blickereignis zurück« (Sinne 135). Die Ikonische Differenz bestimmt die Bild- und Sehordnung des sinnlichen Wahrnehmens innerhalb der phänomenologischen Betrachtung näher (Sinne 142): »Das phänomenologische und hermeneutische Als [des etwas als etwas], das uns bei Husserl und Heidegger im Rahmen der Intentionalität und des praktischen Verstehens begegnet, ist also zu ergänzen durch ein spezifisch ikonisches bzw. pikturales Als, sobald wir die Bildsphäre betreten. Dieses findet seine Entsprechung in einem spezifisch signitiven oder semiotischen Als« (Sinne 45).

Das Ergebnis der »eidetischen Reduktion« ist das Aufgehen des »etwas als etwas«. Dieses »etwas als etwas« wird von zwei Komponenten bestimmt, vom Auf-Zeigen und Aus-Sagen. Deshalb fächert Waldenfels die »Ikonische Differenz« noch einmal auf in die »signifikative« (Washaltige) und »pikturale Differenz« (Wieförmige), die Binnendifferenzen der bildlichen Darstellung und der bildnerischen Elemente. Die »signifikative Differenz« kann in der Formel ausgesagt werden: sie drückt aus, »was etwas sagt: etwas als etwas«; die »pikturale Differenz« »was etwas zeigt: etwas als etwas« (Sinne 42–47). In der Ikonik selbst geht es zunächst um das Bildereignis, um das Sinngeschehen in statu nascendi (PW 18). Es geht nicht nur um das Sagen eines Was, sondern auch um das Zeigen eines Wie. »In Anbetracht der Tatsache, daß das Bild nicht nur einen sekundären Zusatz darstellt, sehen wir im Bild, bevor wir das Bild sehen. Das ikonische oder pikturale Als entspringt einer Art von Selbstdifferenzierung. Das Bild unterscheidet sich nicht bloß von anderem, sondern es unterscheidet sich in und von sich selbst, ähnlich wie der Leib, der zugleich als Leib fungiert und als Körperding in der Welt vorkommt« (Sinne 45).

4.1 Zeitlichkeit der Ikonischen Differenz Die innewohnende Logik der Ikonischen Differenz ist die Zeit. Die der Kunst des Sehens innewohnende Logik ist nach Gottfried Boehm überhaupt die Zeit. Das entspricht dem Blick auf den Vorgang der Ikonik, der zeitlicher Art ist. »Die Zeit ist die Grundkategorie der 95 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonische Differenz

Malerei« (Zeit 3). Die Zeitlichkeit der Ikonischen Differenz wird ausdrücklich in den drei zentralen Begriffen von »Simultaneität« und »Sukzession« sowie »Potentialität«. »Zeit-Sinn« (Eikon 108–109); (OZ 138, 138) »Simultaneität« und »Sukzession« (simul et singulariter) sind Kennzeichen des Grundphänomens des zeitlichen Bildgeschehens. Das ergibt sich aus der anfänglichen Definition der Ikonischen Differenz. »Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem, was sie an Binnenereignissen einschließt. Das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der Form, der Figur etc.) beinhaltet, wurde vom Künstler auf irgendeine Weise optimiert« (Bild 29). Die Kennzeichen des Grundphänomens des Sehens sind »Simultaneität« und »Sukzession«, die Zusammenschau von Ganzem und Einzelnem. Simultaneität und Sukzession beschreiben die Grundstruktur des Ikonischen Differenz: auf einer Grundfläche tritt ein einzelnes Element auf (etwa ein Punkt). Schon tritt eine Grundorientierung in Kraft. Der Punkt schwimmt zunächst sozusagen ohne weiteren Bezugspunkt, aber es ist nicht gleich, ob er oben oder unten, links oder rechts auftritt. Es bricht in der Grundfläche eine erste Differenz auf, die aber noch nicht ausdrücklich ist. Der Punkt schwebt oder schwimmt. Seine Position wird er aber immer mitnehmen, sie wird allerdings von einem weiteren Punkt eindeutig bestimmt werden. Es ist der Punkt den Husserl »Nullpunkt« nennt. Nullpunkt und Horizont räumen ein festes Bildfeld ein, schaffen die Situationen in ein begrenztes und stabiles Bildfeld um, machen das Bild zum Bild. Eine bestimmte Position wird der Punkt erst einnehmen, wenn ein zweiter Punkt, sein Bezugspunkt, auftritt. Es ist sein Partner oder sein Widerpart; es erscheint eine »Relation« von einem zum anderen; es ist zugleich eine Differenz, aber eine Binnendifferenz innerhalb der Grundfläche, die nun innerhalb des Bezugsrahmens die Koordinaten der beiden Punkte markiert. Es sind räumliche Unterschiede, verschiedene Orte. Aber um sie genauer zu bestimmen, sind nicht nur ihre Örter zu markieren, sondern ihre Beziehung zu berücksichtigen. Und hier tritt sofort die Erkenntnis Kants auf, dass dort, wo Relationen sind und diese Relationen zu bestimmen sind, eine Beziehung zu generieren ist. Wie bei der Linie Kants ist aber das Verhältnis 96 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Zeitlichkeit der Ikonischen Differenz

innerhalb der Relation, d. i. ihre Beziehung, nur zeitlich wiederzugeben. Mit anderen Worten wird jede Position eines Punktes oder eines anderen Elementes wie einer Figur etc. auf dem Grund zugleich eine räumliche und zeitliche Verortung nach sich ziehen. Das gilt nicht nur für alle Arten formaler Elemente wie geometrischer Formen oder anderer in der Definition oben genannten Elemente wie Farbe, Figuren etc., die alle Kontraste ausbilden, für alle möglichen Differenzen und Kontraste, die im Binnenraum einer Darstellung auftreten können. Für sie alle gilt, dass sie ihre einzelnen Bestimmungen erhalten durch die Beziehung als Einzelne auf alle anderen Einzelnen auf der Fläche des Bildes und darüber hinaus und auf besondere Weise auf das Ganze der Darstellung. Für sie alle, ob räumliche oder figürliche oder farbige Kontraste oder Differenzen gilt sowohl die Verräumlichung wie die Zeitigung des Bildes. Sie temporalisieren und verräumlichen sich unabsehbar. Die aus den Differenzen und Kontrasten hervorgehenden Bezüge gestalten den »Bildraum« und generieren die entsprechende »Bildzeit«. Für sie alle gilt, dass der Blick des Betrachters der Kunst Hin und Her geht vom Einzelnen zum Ganzen und zurück vom Ganzen zum Einzelnen. Dieser Weg der Simultaneität ist kein unnützer Weg; denn er wird jeweils durch Neues bereichert. Das ist das Wesen und das Geheimnis der Zeit, dass sie immer wieder Neues sichtbar macht und Altes erneuert. Es ist die gleiche Zeiterfahrung, die ein Wanderer macht, wenn er von einem Ort auf sein Ziel zu- und denselben Weg wieder zurückgeht, wobei der Weg und was er sieht wahrscheinlich wie neu erscheint, nicht weil eine Stunde oder zwei inzwischen vergangen sind, sondern weil sich in der neuen Zeit neue Ansichten und Einsichten (wie beim Gehen und Wandern überhaupt) gebildet haben. Die Erfassung eines Bildes beruht nicht auf einer logischen Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem, d. i. der logischen Vermittlung von Teil und Ganzem, sondern der bildnerische Bezug zwischen Teil und Ganzem ist ein besonderer und eigener, nämlich der Simultaneität. Simultaneität begründet laut Boehm die Zeitlichkeit des Bildes und damit die eigene Sprache der Bilder, d. i. des Bildmediums und die damit gegebene Sinndarstellung. Mit der Ikonischen Differenz ist ein wichtiges Merkmal des Bildes gegeben: »Simultane Realitäten lassen sich ausschließlich zeigen. […] Die bildliche Simulation verkörpert die Inhalte. So trifft man in Bildern immer auf Verschränkungen des Grundes mit Figurationen« (Boehm 29–30). 97 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonische Differenz

Boehm unterscheidet die »Zeit der Darstellung« und die »Zeit des Dargestellten« (Zeit 20) (Eikon 223 ff.). Von Rodin stammt dazu das bedeutsame Wort: »Der Künstler ist wahrheitsliebend, und die Photographie lügt, denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still« (AG 311). Rodin vertritt vehement die Zeitlichkeit der Kunst: »Eine Kunst, die Leben in sich hat, restauriert die Werke der Vergangenheit nicht, sie setzt sie fort«. Kunst ist keine Ruhigstellung des Alten, sondern ein Voraussehen eines Neuen: »Werke gehören nicht mehr der Zeit an, in der sie geschaffen wurden, ihr Ansehen verändert sich unaufhörlich und die Figuren haben für mich einen seltsamen neuen, fremdartigen Eindruck« (Eikon 226). Die Unterscheidung von »Zeit der Darstellung« und »Zeit des Dargestellten« entspricht der des Vorgangs des Bildgeschehens und der Binnendifferenzen des Bildes. Dem Vorgang der Zeit der Darstellung entspricht eine Sehweise, die das Bild im Wechselspiel zwischen »Sukzession und Simultaneität« (Zeit 11) betrachtet. Die temporale Bilderfahrung geht aus den Eigenschaften des Bildes selbst hervor. Das Bild ist seinem Ursprung nach ein Kontrastphänomen, Ikonische Differenz, das sich in der Unterscheidbarkeit von Fläche und Binnenelementen zeigt; die Relation der Elemente, die auf der Fläche interagieren, bestimmt die Gestalt des Bildes. »Wenn wir die Zeitlichkeit der Bilder wahrnehmen wollen, so müssen wir den Blick auf das Ganze im Blick auf das Einzelne festhalten und umgekehrt, im Blick auf das Einzelne den Horizont des Ganzen kopräsent halten« (Zeit 20). Die Ikonische Differenz bringt den Vorgang der Ikonik mit dem Ziel der vielfältigen Differenzierung des Bildes zusammen. Die Ikonische Differenz enthält beide Vorgänge, den des Geschehens der Ikonik, dem Sichtbarmachen und Sichtbarwerdens des Bildes, und der formalen und sachhaltigen Binnendifferenzen des Bildes. Das Geschehen der Ikonik war Thema des 3. Kapitels; die sachhaltigen Binnendifferenzen des Bildes sollen jetzt Gegenstand sein. Die in der Definition Boehms angedeuteten Differenzen sollen nun aber nicht einfach aufgezählt und systematisch genannt werden, sondern die Differenzen sind aus dem Vorgang des Bildgeschehens zu verfolgen. Differenzen sollen jetzt nicht nach einer systematischen Logik aufgezählt werden, sondern einer anderen Logik folgend aus dem Vorgang des Bildwerdens selbst abgeleitet werden. Der Vorgang soll in seinem Vorgang der Ausdifferenzierung betrachtet werden. Ikonische Differenz meint das Sinngeschehen des Bildereignisses, meint das Entstehen des Bildsinnes, das Aufgehen des »etwas als 98 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Zeitlichkeit der Ikonischen Differenz

Etwas«, das Zeigen und die Gestaltung des Bildes. Die »ikonische Differenz« ist die Differenz eines anschaulichen Ganzen und der darin sich ausdifferenzierenden Einzelbestimmungen, also die Differenz von Sinntotalität und Einzelheiten, zunächst anschaulich von Grund und Figur (Selbst 67 f.). Die ikonische Differenz ordnet das Einzelne, Thema oder Element, in das Ganze ein und zeigt so Sinn. »Simul et singulariter« (simultan und Einzelnes) wird das Kennzeichen der Ikonischen Differenz sein. Die Sinnfindung des Ganzen, des »etwas als etwas«, geschieht im Durchgang einer Vielfalt von Einzelbestimmungen. Diese sind semantischer wie syntaktisch formaler Art. Die Ikonische Differenz formuliert so einmal die grundlegende Differenz des Sehens zu allen anderen Weisen und Handlungen der Wahrnehmung wie des Erkennens. Sinn zeigt sich unter den Bedingungen des entsprechenden Grundphänomens. Die Grundlage ist die Differenz gegenüber anderem Handeln, aber auch die grundlegende Differenz im Geschehen des Sehens selbst, der Binnendifferenzen. Das Grundphänomen des Bildsehens entfaltet seine eigene Struktur. Die syntaktische Struktur artikuliert das Aufgehen oder Erscheinen des Sinnes oder Gehaltes. Die formalen Einzelbestimmungen des Kunstwerkes wie der Elemente Linien, Farben, Fläche fächern sich noch einmal in eine Vielfalt von Binnendifferenzen auf, die mit jedem dieser Elemente gegeben sind. Die formalen Bestimmungen formulieren schließlich zusammen den semantischen, sinnhaften Gehalt des »etwas als etwas«. Das Wechselspiel von »Simultaneität« und »Sukzession« eröffnet zugleich ein weites Feld von Möglichkeiten bzw. »Potentialitäten«. – Entscheidend ist, dass Kunstwerke und Bilder Sinneinheiten sind. Sie entfalten das Verhältnis zwischen ihrer sichtbaren Totalität und dem Reichtum ihrer dargestellten Vielfalt. Die Sinneinheiten sind zu beachten, es ist andererseits die große Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Die Vielfalt der Gestaltungen werden durch die Binnendifferenzen, d. h. die Kontraste, der Einzelmomente anschaulich. Nehmen wir das einfache Beispiel des Wanderers, der sich von einem Ort aufmacht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Nachdem er dort angekommen ist, kehrt er auf dem anscheinend selben Weg zurück, der ihm aber wie neu oder wenigstens ziemlich anders erscheint. Er erkennt, dass man so auf dem Weg denselben sehr unterschiedlich, etwa in verschiedensten Farben und Formen, aber auch in 99 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonische Differenz

verschiedenem Kräfteeinsatz erleben kann. Jede wirkliche Erfahrung lebt von der Überraschung, von der gewaltigen Potentialität der Möglichkeiten. Imdahl hatte zwischen »wiedererkennendem« und »sehendem Sehen« unterschieden. ›Wiederkennendes‹ Sehen ist, das bloß wiedererkennt, das »etwas als etwas« so nimmt, wie es schon einmal erkannt wurde. Das ›sehende Sehen‹ macht einen Unterschied zwischen der Möglichkeit, Neues zu sehen, und der Möglichkeit, auf neuartige Weise zu sehen. Im erstgenannten Falle ist das Neue ein Was: »ein etwas«, das sich durch den unbestimmten Artikel zu erkennen gibt als der Fall eines Allgemeinen. Jede neue Tatsache kann als Fall dieses Allgemeinen erkannt werden. Im zweiten Falle handelt es sich um ein neuartiges Wie, um eine neue Gestalt oder Struktur, die es erlaubt, das Bekannte mit anderen Augen und in einem neuen Licht zu sehen. Die Sehart, ob alt oder neu, verweist auf eine bestimmte Sehordnung. (Ordo 237) Die Phänomenologie betrachtet das Sichtbarmachen und Bildwerden genetisch, in statu nascendi (PW 18). Das wird anschaulich, wenn wir unseren Blick auf die Malerei Cézannes richten: dort sind die einzelnen Elemente unbestimmt – die einzelne Faktur des Pinsels, die einzelne Faktizität von Farbe und Form. Man kann niemals sagen, was dieser oder jener »Flecken (tache)« bedeutet. Einzeln bleiben die Elemente stumm. Es ergibt sich aber eine unvorhergesehene »Potentialität«, die wir mobilisieren, wenn wir die einzelnen Elemente in einen Zusammenhang bringen, sie als Konstellationen eines Ganzen »realisieren«. »Bei de Saussure haben wir gelernt, – schreibt Merleau-Ponty – daß die einzelnen Zeichen für sich genommen nichts bedeuten, daß jedes von ihnen weniger einen Sinn ausdrückt, als daß es einen Sinnabstand zwischen sich selbst und den anderen Zeichen angibt, […] sprachliche Bedeutungen werden erst durch die zwischen ihnen auftauchenden Unterschiede hervorgebracht« (AG 111). Dann eröffnen sich dem Auge und dem Bild unnennbar viele Wege. Robert Musils bedient sich im »Mann ohne Eigenschaften« der beiden Erfahrungsmöglichkeiten, des »Wirklichkeitssinnes« und des »Möglichkeitssinnes« (Boehm 199–204) (Schwellen 110). In jedem Sehen steckt eine hohe »Potentialität«. Das kann mit einer Beobachtung verbunden werden, die Edmund Husserl immer wieder analysiert und reflektiert hat. Sie ist elementar und betrifft nicht nur Bilder, sondern jede Wahrnehmung, die Husserl »Abschattung« nennt. In jeder Anschauung, so Husserl, präsentiert sich die 100 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Zeitlichkeit der Ikonischen Differenz

sichtbare Vorderseite von etwas, die eine unsichtbare Rückseite impliziert. Die »Mitvergegenwärtigung«, »Appräsentation«, ist zwingend und unvermeidlich, weil wir die sichtbaren Dinge nicht wie Attrappen oder Konstrukte sehen, denen die Rückseite fehlt. Wir sehen in der Regel einen »ganzen Gegenstand«, obwohl sich uns nur seine sichtbare Hälfte zeigt. Wir haben dies bei unseren anfänglichen Erzählungen vom Schulweg und vom Spaziergang bei Klee gesehen. Husserls Überlegungen sind deshalb bildtheoretisch interessant, weil er zeigen kann, dass bereits die Wahrnehmung ein Verhältnis zum Unbestimmten enthält. Das entscheidende Argument besagt nämlich, dass die sichtbare Vorderseite und die unsichtbare Rückseite kategorial völlig divergieren, gänzlich unterschiedlichen Klassen zugehören. Die Vorderseite von etwas ist immer thematisch, die Rückseite ist nie thematisch, sondern implizit und das heißt »potentiell«. Warum potentiell? Ist sie nicht einfach verdeckt und deshalb nicht zu sehen? Von Potentialität kann man mit Recht sprechen, weil sich der gleiche Gegenstand, je nach Sichtweise und Einstellung, ganz verschieden zu zeigen vermag und dabei doch seine Identität behauptet. Er verfügt über das Potential, sich in verschiedenen Ansichten zu zeigen. Dies wäre nicht denkbar, wenn er nicht mit Unbestimmtheit verbunden wäre, die ihm den Spielraum zu unterschiedlichen Präsentationsweisen eröffnete. In einer freien Fortführung des Gedankens von Husserl kann man sagen, dass in jeder Wahrnehmung von etwas eine spannungsvolle, eine »unmögliche« Synthese von Sichtbarem und Unsichtbarem, von thematisch Identifizierbarem und unthematischem Horizont stattfindet. In jedem Objekt verschränken sich beide Aspekte. Diese Argumentation hat Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung oder dem postumen Le visible et l’invisible (Das Sichtbare und das Unsichtbare) weitergeführt. (Boehm 208–211) Das Sehen des »etwas als etwas« eröffnet im künstlerischen Bildsehen eine Vielzahl von Möglichkeiten und Gestaltungsweisen: »Der Anblick, mit dem unser Sehen anhebt, äußert sich in einer Vielfalt bildnerischer Formen« (Sinne 153). Imdahl erweitert die Bedeutung der Zeitlichkeit der ikonischen Differenz auf die Kunstgeschichte insgesamt. Das Spektrum eines solchen neuen Sehens ist nach Imdahl das »simul et singulariter«, das Ganze und das Einzelne zusammen Sehen. In der Kunstgeschichte steht nach Imdahl vor allem Delaunay für die neue Art des Sehens, 101 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonische Differenz

den sogenannten »Kolorismus«. Der Kolorismus hat nach Imdahl für die Darstellung der Wirklichkeit möglicherweise eine ähnlich umfassende Bedeutung wie die Zentralperspektive für den »Linearismus«. Die Strahlenlinien der Zentralperspektive bringen gewiss einen großen Darstellungsgewinn. »Für die gegenstandslose Malerei ließe sich erwägen, ob nicht der von Delaunay erstrebte, praktizierte und theoretisch erörterte Kolorismus in eben demselben Maße zum Ausdruck einer zeitlichen Simultaneität wird, in welchem der zentralperspektivische Linearismus Ausdruck einer räumlichen Homogenität ist« (GS3 211).

4.2 Logik der Bilder Bei der Ikonischen Differenz geht es um die Logik der Bilder. Der Grundkontrast, der die Ikonische Differenz ausmacht, erschließt den Bildsinn: »Bilder besitzen eine eigene, nur ihnen zugehörige Logik. Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln. Und erläuternd fügen wir hinzu: diese Logik ist nichtprädikativ, das heißt nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet. Sie wird nicht gesprochen, sie wird wahrnehmend realisiert« (Boehm 34).

Der Bildsinn des Kunstwerks findet in der Neuformulierung des »etwas als etwas« seinen Ausdruck. Was Bilder in aller Vielfalt »zeigen«, was sie »sagen«, verdankt sich einem visuellen Grundkontrast, der zugleich der Geburtsort des bildlichen Sinnes ist. Was auch immer ein Bildkünstler darstellen will, es verdankt seine Existenz der »ikonischen Differenz«. Sie markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen lässt, der zugleich alles Faktische überbietet. »Das stupende Phänomen, daß ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche Zugang zu unerhörten sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen kann, läßt sich aus der Logik des Kontrastes erläutern, verrnittels derer ›etwas als etwas‹ ansichtig wird« (Bild 29–31). Es ist ein eigenartiges Phänomen, dass ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche den Zugang zu sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen. Wodurch kommt dies zustande? Kunstwerke haben ein un102 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Logik der Bilder

terschiedliches materielles Substrat. Aber man wird sie nicht darauf zurückführen können. Bilder gehen in Materie nicht auf. »Auf Oberflächen, im Schmutz der Farbe, in Stein, auf Holz oder Leinwand, auf lichtempfindlichen Trägern oder digitalen Schirmen zeigt sich stets auch etwas Anderes: eine Sicht, ein Anblick, ein Sinn – eben ein Bild.« Mit anderen Worten: das Bild ist ein Bedürfnis im Menschen; es bedarf weniger, ganz elementarer Manipulationen, damit im unscheinbaren Kontinuum der materiellen Welt nicht nur etwas »vorkommt«, sondern sich da oder dort etwas »zeigt«: sich dem Auge ein Sinn eröffnet. Das »Ikonische« beruht mithin auf einer vom Sehen realisierten »Differenz«. Sie begründet »die Möglichkeit, wenige Striche beispielsweise als eine Figur zu sehen« (Boehm 36–37). Unter »Logik der Bilder« verstehen wir die dem Sehen eigentümliche Weise, das »etwas als etwas« neu zu erschließen, Sinn zu erzeugen. Für diesen Prozess ist ein visuelles Kontrastverhältnis maßgeblich: irgendein Element (in der Regel eine Vielzahl) erscheint vor einem Grund. Der Kontrast lässt sich als ikonische Differenz beschreiben, d. h. eine zunächst nur visuelle Beziehung wird »als« bedeutungsvoll angesehen, sie zeigt etwas. Die Frage ist, wie werden aus visuellen Kontrastverhältnissen ikonische. Die Logik der Bilder umfasst eine qualitative Transformation, die sich auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben lässt. In ihr wandelt sich das Faktische ins Imaginäre; entsteht jener Überschuss an Sinn, der bloßes Material (Farbe, Mörtel, Leinwand, Glas usw.) als eine bedeutungsvolle Ansicht erscheinen lässt. Diese Inversion ist das eigentliche Zentrum des Bildes und seiner Theorie. Unbestimmtheit ist dafür unverzichtbar, denn sie schafft erst jene Spielräume und Potentialitäten, die das Faktische in die Lage versetzen, sich zu zeigen und etwas zu zeigen. Die Generierung bildlichen Sinns geht auf ein Sehen »als« bzw. ein Sehen »in« zurück. Aber dieser Prozess ist nicht nach dem Vorbild der Sprache zu verstehen. Bildsinn ist nicht-prädikativ, deshalb auch nicht auf die Ja/ Nein-Logik von Aussagesätzen zurückzuführen. »Wahr« oder »falsch« sind Bilder nicht, wohl aber deutlich bzw. dunkel. Ihre Evidenz ist nicht die des Satzes. Eher sollte man von einer Logik der Intensität oder der Kräfte sprechen. Der sinngenerierende Akt vollzieht sich nicht nach dem Muster der Prädikation (S ist P), sondern nach dem einer qualitativen Wahrnehmung dessen, was sich in der ikonischen Differenz zeigt. (Boehm 208–211) 103 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Ikonische Differenz

Sehen und Sprechen sind unterschiedliche Grundphänomene. Bildnerisches Sehen geschieht als ein Auf-Zeigen. Sprechen ist ein Aus-Sagen in Worten und Sätzen. Was Bilder sagen wollen, zeigen sie. Das Sprechen beginnt mit Worten, d. h. mit dem Logos. Boehm spricht vom Anfang der Kunst als einem »stummen Logos« (s. Logos). Über den stummen Logos lässt sich zunächst nichts sagen, er ist erst zum Sprechen zu bringen. Der stumme Logos ist aber der Anfang der Kunst, der in der Erfahrung sich zeigt. Es lässt sich mit Heidegger als ein elementares Sehenlassen, als ein Aufweisen bestimmen. Das Zeigen geht dem Sagen voraus. Das Sagen beruht auf dem Zeigen. Es gehört zur Stärke der Phänomenologie, dass sie das begriffliche Sprechen über etwas und das Begründen von Aussagen über etwas niemals völlig ablöst von der Erfahrung, die darin zur Sprache kommt oder ins Bild kommt. Der Wiener Sprachtheoretiker Karl Bühler, der zum Umfeld der Phänomenologie gehört, verankert das Symbolfeld der Sprache in einem Zeigefeld. 59 Im Gebrauch von Zeigwörtern wie ›ich‹, ›du‹, ›hier‹, ›jetzt‹ oder ›dies-da‹ verschränken sich Zeigen und Sagen (Bühler). Für ein Denken, das Erfahrungen in Sprache übersetzt, sind begriffliche Schärfe und argumentative Strenge, Sekundärtugenden. Daraus resultiert die Nähe von Erfahrung zur Kunst, eine Verwandtschaft von Ästhesiologie (Wahrnehmungswissen) und Ästhetik (Kunstwissen) (Wissen 7). »Die ikonische Logik ist nichtprädikativ, das heißt nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet. Sie wird nicht gesprochen, sie wird wahrnehmend realisiert« (Boehm 34).

4.3 Ikonische Differenzen – Syntax und Semantik des Sehens Die »Ikonische Differenz« meint eine »Grunddifferenz« oder einen »Grundkontrast«, der jedes Bild bestimmt. Die Grunddifferenz betrifft die Differenz von Ganzem und Einzelbestimmungen des Bildes. Der Grundkontrast, die »Urdifferenz« (Sinne 42), wird durch eine Vielfalt von Binnendifferenzen des Bildes verwirklicht. Die Binnendifferenzen betreffen dabei die wichtigsten Elemente und Mittel des Bildes wie Linien, Flächen, Farben u. a. Waldenfels unterscheidet dabei die »signifikative« und »pikturale Differenz«. 59

Zum Organon Modell von Karl Bühler (Selbst 237).

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Ikonische Differenzen – Syntax und Semantik des Sehens

Entsprechend der phänomenologischen Erfahrung: Das Zeigen geht dem Sagen voraus. Das Sagen beruht auf dem Zeigen. Waldenfels benennt weitere Binnendifferenzen der Ikonik. Die »signifikative Differenz« kann in der Formel ausgesagt werden: sie drückt aus, »was etwas sagt: etwas als etwas«; die »pikturale Differenz« dagegen, »was etwas zeigt: etwas als etwas« (Sinne 42–47, 52 f.). Waldenfels spricht auch von einem »signitivem« und »pikturalem« »Als« (Sinne 45). Das pikturale Als bringt das bildnerische »etwas als etwas« syntaktisch formal zum Ausdruck. Das »etwas als etwas« hat daneben sachhaltige semantische Bedeutung, indem das »signitive« »etwas als etwas« unserem Wissen und Erkennen dient. Waldenfels spricht hier von »signifikativer Differenz«. Die »signifikative Differenz« des Sehens entspricht der phänomenologischen »eidetischen Differenz« und hat zum Inhalt »was etwas sagt: etwas als etwas« (Sinne 42 ff.). Die »signifikative Differenz« entspricht nach den Grundoperationen der Phänomenologie der »eidetischen Differenz« (GN 29–32). Die »eidetische Differenz (Reduktion)« hat wiederum selbst eine besondere Bedeutung im Verhältnis zur zentralen »transzendentalen Differenz (Reduktion)«. »Die eidetische Reduktion antwortet auf die Frage, wie das ›als etwas‹ zu denken ist, während die transzendentale Reduktion erklärt, wie sich die Differenz von ›etwas‹ und ›als etwas‹, von Was und Wie ihrerseits denken lässt […] Transzendentale Phänomenologie geht damit über in eine genetische Phänomenologie« (GN 29–32), d. h. einer Phänomenologie in statu nascendi. Die eidetische Differenz formuliert das sachhaltige Was des »etwas als etwas«, sie hat semantische Bedeutung. Die transzendentale Differenz denkt das Verhältnis von »Was« und »Wie«. Sie denkt und klärt, wie das semantische Was und das formale Wie zusammengehen. Sie nennt den transzendentalen Grund, bei Husserl etwa das transzendentale Bewusstsein oder Ego. »[…] daß etwas als etwas auftritt. Diese phänomenologische Urdifferenz scheidet das, was erscheint, von der Art und Weise, wie es erscheint. Das Wie, das von dem Was unterschieden wird, tritt selbst wieder in zwei Formen auf, nämlich als das intentionale Wie des Gemeintseins: der intentionale Sinn, und als das intuitive Wie der Gegebenheit: Art und Grad anschaulicher Fülle (vgl. Hua III, §§ 130–132). Beide Modalitäten sind eng aufeinander bezogen, da sich die Intention, soweit sie sich erfüllt, in der Anschauung erfüllt, so daß wir sehen, was wir meinen. Die maßgebliche Differenz zwischen dem sachhaltigen Was und dem intentionalen Wie bezeichne ich als signifikative Differenz« (Sinne 42).

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Ikonische Differenz

Boehm ordnet die signifikative Differenz als kulturgeschichtliches Ereignis der Menschheitsgeschichte ein: »Etwas als etwas zu bestimmen, ist ein bedeutungsstiftender Grundakt, der sich aber nicht nur sprachlich, sondern auch zwischen dem Auge und der materiellen Welt einspielt. So niedrig die Schwelle zwischen visuellem Artefakt und bloßem Gegenstand im vermeintlichen Geschmier kleiner Kinder, in archaischen Gebilden oder im Kontext der Moderne auch erscheinen mag, der Sache nach markiert sie eine Zäsur sondergleichen. Denn: mit der materiellen Manifestation eines Immateriellen, das dadurch sichtbar wird, definiert sich Humanität. Ihr erster Protagonist war, soweit die vorzeitlichen Funde das belegen, ein homo pictor, lange bevor er sich in der Antike als zoon logon echon bestimmte« (Boehm 37–38).

Die signifikative Differenz ist für Waldenfels geradezu Kennzeichen menschlichen Tuns und Schaffens als Kunst: »Es gibt für den Phänomenologen nur Kunst, denn jedes Phänomen ist für ihn immer schon ein Etwas-als etwas (Wiesing)« (Sinne 72 f.). »pikturale Differenz« – Die »signifikative Differenz« kann in der Formel ausgesagt werden: sie drückt aus, »was etwas sagt: etwas als etwas«. Die »pikturale Differenz« drückt aus, »was etwas zeigt: etwas als etwas« (Sinne 42–47, 52 f.) (Bild 30). Die pikturale Differenz betrifft alle möglichen Elemente, Figurationen, Gestaltungsweisen, Sehbahnen, Sehrichtungen und Sehweiten wie »Tiefe, Farbe, Form, Linie, Bewegung, Umriß, Physiognomie« eines Bildes (AG 315). 60 Alle diese Modalitäten haben den Sinn, etwas zu »zeigen«, den Betrachter sozusagen auf den rechten Weg durch das Bild zum Sinn des Gemäldes zu führen Waldenfels blickt einmal auf das komplexe Geschehen der verschiedenen Elemente, die den Sinn des Kunstwerkes zum Ausdruck bringen: »Das Wie der Gegebenheit, das sich in unserem Bewußtsein konstituiert, hängt immerzu ab von einem vorgegebenen Material, das seine Form empfängt wie eine Knetmasse. Mit diesem traditionellen Ansatz hat die Gestalttheorie aufgeräumt. Es gibt kein neutrales Rohmaterial, es gibt nichts, was nicht schon auf diese oder jene Weise geformt wäre. Die minimale Differenz, ohne die wir gar nichts und gar nicht sehen würden, besteht aus einer Figur vor einem Hintergrund (s. ikonische Differenz -KK). Die weitere Ausdifferenzierung führt zu Farb- und Tonskalen, zu Tastfeldern, Farb60

Zur Physiognomie der Bilder (Selbst 69).

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Bild, Bildsyntax, Bildlichkeit

niveaus, Vor- und Nachbildern und ähnlichen Organisationsweisen. Diese Wahrnehmungssyntax (PW 58) enthält bereits wichtige Elemente einer pikturalen Syntax, nämlich Farbflecken, die sich ausbreiten; Linien, die ihren Weg suchen; Farbkontraste, die ein Flimmern erzeugen; Gestalten, die sich überdecken oder durchschimmern; Bewegungen, die das Sehfeld in Unruhe versetzen; perspektivische Ansichten, die einander ergänzen oder verdrängen; Lichteffekte und Schattenspiele; Flächigkeit, räumliche Tiefe, voluminöse Dichte und ähnliches. Wie es Vorgestalten der Geometrie gibt, so etwa die Rundung des Rades oder das Kugelige des Balles, so können wir ähnlich auch von Vorgestalten der Malerei sprechen. Die ›Ding-Sprache‹ (langage-chose] oder ›Vor-Sprache‹ (free langage), die Merleau-Ponty in der sprechenden Sprache am Werk sieht (SU 167 f.), fände ihre Entsprechung in einer bestimmten Art von Ding-Bildern oder Vor-Bildern, die dem sehenden Sehen im Sinne von Max Imdahl innewohnen. Selbst Husserl nähert sich einer solch elementaren Sinnlichkeit, wenn er in seinen Analysen zur passiven Synthesis hinter die gegebene Ordnung zurückgeht und erklärt: ›Ein Urphänomen ist die Unordnung in Form eines Haufens von Flecken in einem sonst einförmigen visuellen Feld‹ (Hua XI, 134)« (Sinne 138). 61

4.4 Bild, Bildsyntax, Bildlichkeit Für die responsive Phänomenologie des Sprechens hat Waldenfels ein »Antwortregister« vorgeschlagen. Dieses Antwortregister ist der Versuch, die »sprachliche Syntax« in einem Fächerschema, von Waldenfels »Antwortfächer« genannt, zusammenzufassen. Das sprachliche Register nennt alle sprachlich relevanten Sprechweisen und Sprechformen. Es öffnet das ganze Feld der Zeichentheorie, Semiotik der Sprache. Nach Waldenfels ist die »perzeptive Syntax« (PW 58) vergleichbar der »sprachlichen Syntax« (Selbst 58). Beim Grundphänomen »Sagen« fächert der »Antwortfächer« die Struktur des Sprechens, die Syntax der Sprache, auf. Analog kann von der Syntax des bildhaften Sehens (perzeptive Syntax) gesprochen werden. Denn wie das Sagen responsiv ist, d. h. auf eine Anfrage antwortend, so ist analog das »Sehen« responsiv, d. h. Antwort auf ein Widerfahrnis oder Motiv.

Von Goya stammt die Aussage: »In der Natur gibt es ebenso wenig Farben wie Linien« (Sinne 140).

61

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Ikonische Differenz

Wie man bei der Zeichentheorie der Semiotik zwischen »Syntax«, »Semantik« und »Pragmatik« aufteilt, so spricht Waldenfels von der Bildsemiotik als »Syntax«, »Semantik« und »Pragmatik« des Bildes. Für den Fächer der sprachlichen Syntax stehen die W-Fragewörter. 62 Das formale Wie verweist auf ein semantisch-ontologisches Was und ein pragmatisch-praktisches Wozu (SF 217). Das Schema der Fächer kann auch für die Bildsemiotik nützlich sein. Die Syntax der Wahrnehmung bzw. des Sehens kann so mit den W-Fragen wiedergegeben werden: »Wahrnehmung [ist …] der Urmodus der Intentionalität […]. Dies bedeutet, dass alles, was ist, sich als etwas (was) oder als jemand (wer wem) zeigt und thematisiert wird, und die in der Offenheit meines bestimmten Horizontes oder Kontextes (worin), im Rahmen einer bestimmten Ordnung (wie) und im Lichte einer bestimmten Vernunft (Leib)« (DG1 354).

Und für das Medium »Leib« (Selbst 9) gilt entsprechend: »Der Leib antwortet auf die Fragen: Wodurch, Womit oder Wie, nicht auf die Frage: Wer oder Was« (Schwellen 20–26) (GN 24–30) Waldenfels entfaltet im Antwortregister einen ganzen Fächer von Dimensionen, die sich vor dem Hintergrund des Sagens für das konkrete Sprechen eröffnen. Es sind die »W-Fragen« und die entsprechenden »W-Fragewörter« oder Interrogativpronomina. Für das Sehen wird man entsprechende Blick-Richtungen und -Bahnen erkennen, denen entlang sich ein Bild realisiert: Was – 1. Sache, die dargestellt wird – Sachbezug Wer – 2. der Maler, der sich ausdrückt – Selbstbezug Wem – 3. der Appell, der sich an den Künstler richtet – Fremdbezug

Das sind die großen Bildachsen, auf denen sich die Bildereignisse vollziehen. Daneben berücksichtigt das konkrete Sprechen bzw. Sehen aber eine weitere Fülle von Bilddimensionen und -situationen, wie das Fächer-Schema bei Waldenfels zeigt. Es sind die 7 großen W-Fragen, die jedes Antworten nach Waldenfels, jedes Sprechen und Handeln und so auch das Sichtbarmachen und Sichtbarwerden des Bildes leiten:

Zu den W-Fragen: s. (Schwellen 20–26) (GN 24–30, 49–52, 59–62, 67) bei Waldenfels passim.

62

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Bild, Bildsyntax, Bildlichkeit

Abb. 2: Schema: Fächer der Responsivität, nach Bernhard Waldenfels, in: AR 200 63

Die W-Fragen suchen nach einer Antwort im Wort oder Bild: Sich – reflexiver Leib-Selbstbezug Was/Worauf – Akkusativ Wer/Wem – Nominativ, Vokativ, Dativ Wann/Wo – Zeit/Raum Worin – Kontext, Situation, Horizont Wie – Weltbilder, Kunststile, Richtungen Vor wem – Instanz, Forum (z. B. Bauhaus) Wem gemäß – Normen, Traditionen, Regeln Sehereignisse entsprechen dem »sehenden Sehen«. Dabei werden die Instanzen des semantischen Was, Wer und Wem neu bestimmt. Im strengen Sinne wird dabei kein Inhalt wieder- oder weitergegeben, weil es in solchen Sehereignissen gar nichts gibt, was wieder- oder weiterzugeben wäre. Denn das »sehende Sehen« (Imdahl) wohnt der Entstehung des Gesehenen und Sehenden, dem Bildgeschehen (in statu nascendi) bei, das sich im Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens vollzieht. Das Bildgeschehen folgt nicht einem bestehenden sichtbaren Was, sondern dem Wie des Entstehens, dem Sichtbarmachen des Neuen. Dem Sehereignis entspricht ein Bildereignis, das nicht bloß sichtbar macht, was zuvor hier, dort, anderswo oder an sich schon sichtbar ist, sondern was unter neu entstehenden Bedingungen hier, dort und anderswo zugleich sichtbar und 63

Aus: Reinhard Feiter, Handeln, 213.

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Ikonische Differenz

unsichtbar wird. Das »sehende Sehen« spannt eine räumliche und zeitliche neue Welt auf (wann, wo, wie, worin, gemäß), entsprechend der Ansage von Paul Klee: »Wie die Baumkrone sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin sichtbar entfaltet, so geht es auch mit dem Kunstwerk« (Jena 82). (Ordo 243). Das Bildereignis eröffnet einen vielfältigen »Bild«- und »ZeitRaum«. (Logos 293) Dieser ist verankert in der Erfahrungssituation. Sie eröffnet einen Bildraum, den Raum der Ikonischen Differenz. Allerdings ist dieser strukturale Raum umschlossen von einem nicht strukturierten Anfang und Ende. Das Bild geht aus einer volativen »Situation« hervor und wird begrenzt durch einen unbestimmten »Horizont«. Nullpunkt ›hier-jetzt‹ und Horizont des Bildes 64 Für Waldenfels ist Kunst vor allem ein »Bildereignis«. Dazu bringt er eine entscheidende Dimension ein, die bisher noch kaum zur Sprache gekommen ist, auf die etwa Heidegger, aber auch Bühler hingewiesen haben, die haecceitas, die Konkretheit und Individualität, die im Bild zum Ausdruck kommt. Um den Bildraum zu beschreiben, ist von seiner Verankerung im »Hier« und »Jetzt« zu beginnen, es sind die »Raumachsen« zu verfolgen, es sind der Hervorgang des Raumes aus der »Bewegung« und die Bewegungsbahnen nachzuvollziehen. Schließlich ist die »Orientierung« im Raum wiederzugeben wie Nähe und Ferne, Drinnen und draußen, Höhe und Tiefe u. a. Mit anderen Worten ist nach Waldenfels das Bildereignis zu verorten. Gemeint ist die konkrete »Situation«. Beim Bild ist es wie beim Sagen. Waldenfels führt dazu aus: »Wie Karl Bühler in seiner Sprachtheorie ausführlich darlegt, ist das Symbolfeld [des Sagens und Sehens – KK] verankert in einem ›Zeigefeld‹. […] Das Sagen kann weder auf Sachen zurückgeführt werden, die gegeben sind, noch auf Akte, die durch mich oder Andere vollzogen werden. Hier liegt zugleich die Grenze einer Theorie der Sprechakte. Das Sagen ist ein Sprechereignis, das nur unter bestimmten Bedingungen als Sprechakt gedeutet werden kann. […] Um das eigentümliche Privileg zum Ausdruck zu bringen, das dem Hier und Jetzt zukommt, spricht Husserl wiederholt von einem ›Nullpunkt‹ (vgl. Hua, Bd. IV, S. 158). Die Stelle, von der aus sich ein Bezugsfeld entfaltet, ist keine gewöhnliche Stelle im System. Karl Bühler hat diesen Gedanken sprachtheoretisch umgesetzt in der Konzeption 64

S. »Nullpunkt« und »hier-jetzt« (Schwellen 25, 126–130, 207, 218).

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Bild, Bildsyntax, Bildlichkeit

eines ›Zeigefeldes‹, das sich als ›Hier-jetzt-ich-System der subjektiven Orientierung‹ darstellt« (DG2, 209–211).

Das Sprechereignis ist individuell und konkret verankert. Diese Verortung erfolgt durch das »Hier-jetzt-ich – Zeigefeld« (Bühler). Das Zeigefeld ist durch einen ganzen Kranz von sprachlichen Hinweisen umgeben. Das erinnert an »das Grundphänomen der Situation« bei Heinrich Rombach (StA 133–149). Dies gibt uns das Recht, von der »Sprechsituation« gelingenden Sprechens und Antworten zu reden. Und ebenso von der Erfahrungssituation des Sehens und des Bildes. Wie der volatile Anfang, so schließt eine Grenze, der Horizont, das Bild ab. Nullpunkt und Horizont räumen ein festes Bildfeld ein, schaffen die Situationen in ein begrenztes und stabiles Bildfeld um, machen das Bild zum Bild. Ursprung und Werk des Bildes sind von Unbestimmtheiten umfasst. »Ein Bild, das seine Aufgabe erfüllt, ist nicht in erster Linie etwas, was ich sehe, sondern etwas, demgemäß und womit ich sehe (SF 216). Hierbei ist jedoch zu fragen, wie das Was sich zum Wie und Womit verhält, mit anderen Worten: wie die Bilderwelt mit der Erfahrungswelt korrespondiert« (AR 200).

Im Sehereignis, dem sehenden Sehen, »werden die Instanzen des Was, Wer und Wem neu bestimmt. Im strengen Sinne wird hier nichts wieder- oder weitergegeben, weil es in solchen Umbruchsituationen gar nichts gibt, was wieder- oder weiterzugeben wäre. Das sehende Sehen wohnt der Entstehung des Gesehenen und Sehenden bei, die im Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens mit auf dem Spiel steht. Dem Sehereignis entspricht ein Bildereignis, das nicht bloß sichtbar macht, was zuvor hier, dort, anderswo oder an sich schon sichtbar ist, sondern was unter neuentstehenden Bedingungen zugleich sichtbar und unsichtbar wird. Da es aber keine allumfassende Seh- und Bildordnung gibt (Schwellen 106 ff.), verschiebt sich die Unsichtbarkeit, ohne deshalb zu verschwinden. Das Ereignis des Sehens und Bildens, das ein Feld der Sichtbarkeit eröffnet, findet nicht selbst seinen Platz in dem Feld, das es eröffnet – als wäre das sehende Sehen Teil des Gesehenen oder als könnte das Bilden selbst noch in das Bild eingehen« (Ordo 243). – Es bilden sich offene Horizonte, die sich mit dem Bildgeschehen einstellen und verschieben.

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Ikonische Differenz

Bild-Sinn Merleau-Ponty hat den Sinn des Bildes, den Sinn der Bildlichkeit, zusammengefasst. Man kann auch vom »Bild-Sinn« reden (SF 207). Zunächst sei an Boehm erinnert, der vom Sichtbarmachen im Bild als Erzeugen von Sinn spricht: »Bilder besitzen eine eigene, nur ihnen zugehörige Logik. Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln. Und erläuternd fügen wir hinzu: diese Logik ist nichtprädikativ, das heißt nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet. Sie wird nicht gesprochen, sie wird wahrnehmend realisiert« (Boehm 34).

Merleau-Ponty fasst eindrücklich die Sichtbarkeit, den »Bild-Sinn«, in Worte: »Das Wort ›Bild‹ (image) hat einen schlechten Ruf, weil man gedankenlos geglaubt hat, daß eine Zeichnung ein Abdruck, eine Kopie, ein zweites Ding sei, und das geistige Bild eine Zeichnung dieser Art in unserer privaten geistigen Rumpelkammer. Wenn nun aber das Bild nichts dergleichen ist, so gehören Zeichnung und Gemälde ebensowenig wie das Bild der Sphäre des An-sich an. Sie sind das Innen des Außen und das Außen des Innen, das die Doppelnatur des Empfindens möglich macht, ohne die man niemals die Quasi-Gegenwart und die imminente Sichtbarkeit verstehen könnte, die das ganze Problem des Imaginären ausmachen. Das Gemälde, die Mimik des Komödianten sind keine Hilfsmittel, die ich aus der wirklichen Welt entnehme, um mittels ihrer prosaische Dinge in ihrer Abwesenheit darzustellen. Das Imaginäre ist viel näher am Gegenwärtigen und gleichzeitig viel weiter von ihm entfernt. Viel näher, weil es das Diagramm seines Lebens in meinem Leib ist, sein Mark oder seine sinnliche Kehrseite (envers charnel), die erstmalig den Blicken ausgesetzt wird, und weil in diesem Sinne gilt, was Giacometti nachdrücklich zum Ausdruck bringt: ›Was mich an jeder Malerei interessiert, ist die Ähnlichkeit, das heißt das, was für mich die Ähnlichkeit ist, was mich veranlaßt, ein wenig die äußere Welt zu entdecken.‹ Das Imaginäre ist aber auch viel weiter vom Gegenwärtigen entfernt, weil das Gemälde nur nach Maßgabe des Leibes ein Analogon ist, weil es dem Geist keine Gelegenheit bietet, die konsumtiven Beziehungen der Dinge nachzuvollziehen, sondern dem Blick die Konturen einer Innenschau darbietet, damit er sich mit ihnen vermähle und dem Sehen zu erkennen gibt, womit es innen ausgestattet ist, das imaginäre Gewebe des Wirklichen« (AG 282 f.).

Gottfried Boehm versucht das Entstehen der Bildkunst mit dem Wesen des homo sapiens in Verbindung zu bringen. Der Mensch ist nicht weniger homo pictor. 112 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bild, Bildsyntax, Bildlichkeit

»Man kann darüber streiten, ob dieser Sinn für das Bild, diese Befähigung in der Arbeit an Materie Bedeutungen aufscheinen zu lassen, eine anthropologische Mitgift darstellt oder kulturgeschichtlich erworben wurde. Ungeklärt ist auch, ob die Befähigung zum Bild und die Befähigung zu sprechen, gleichzeitig aufgetreten sind. Die ältesten bildartigen Artefakte reichen, mit den Faustkeilen, länger als einhunderttausend Jahre zurück, wir wissen nicht auf welche Weise sich jene frühen Menschen untereinander verständigten. Hans Jonas entscheidet sich in seinem Beitrag für eine anthropologische Option, die er im homo pictor als konstitutive differentia specifica verankert. Die pikturale Differenz, die dem Menschen spezifisch ist, definiert sich als das Vermögen das bewegliche Wahrnehmungsfeld des alltäglichen Sehens mit seinen offenen Rändern, seiner flexiblen Neuanpassung an Situationen in ein begrenztes und stabiles Bildfeld umzustilisieren, als Bildwerk, als Gefäß, als Ritzzeichnung dgl. zu gestalten. Die Frage nach einer kulturgeschichtlichen Genese dieser Abstraktionsleistung nimmt Meyer Schapiro in den Blick, wenn er in seinem Essay darauf hinweist, wie voraussetzungsreich und wenig selbstverständlich bereits die Setzung einer neutralen, randbegrenzten Malfläche ist. In der Höhlenmalerei glaubte er sie noch nicht voraussetzen zu dürfen. Eine derartige kulturgeschichtliche Retrospektive ließe sich umstandslos durch einen Blick auf die Avantgarden unseres Jahrhunderts erweitern, die ihrerseits daran gearbeitet haben, die Prämissen des Bildes zu erkunden, zu vereinfachen, in Frage zu stellen oder aufzuheben.« (Bild 31).

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5 Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7)

Platon unterscheidet in seinem Höhlengleichnis im 7. Buch seines Hauptwerks Politeia zwischen zwei Formen von Realität, die Realität der visuellen Welt und die Realität der Ideen. Es ist einer der einflussreichsten Texte der europäischen Kulturgeschichte. Platons Unterscheidung stellt bis heute für die bildenden Künste einen grundlegenden Text dar, er enthält aber auch ein besonderes Problem. Bis in die Moderne haben sich Philosophie und Kunst am Thema der Realität immer wieder gerieben. In Wissenschaft und Kunst stand man vor der Frage, sich im Sehen und Wissen zwischen der Realität in der visuellen Form und der Wiedergabe einer idealen Form zu entscheiden. Das Höhlengleichnis fasst die bisherigen philosophischen Abschnitte der Politeia unter dem Aspekt der »Paideia« (Erziehung, Bildung) zusammen. Das Ziel des Dialogs des Staates ist die Ausbildung der höchsten Funktionsträger des Staates. Sokrates stellt am Anfang des Dialoges fest, zur Paideia bedarf es der besten Ausbildung. Die beste Ausbildung wird aber durch die höchste Wissenschaft ermöglicht. Dies bedeutet: »das Wesen des Guten [ist] der Gegenstand der größten Wissenschaft (505A).« Das Wissen um das »Gute« ist also das höchste Ziel der Philosophie, aber auch der Kultur und des Staates. Sokrates weiß aber auch vom derzeitigen Zustand der Bildung im Staat. Jetzt gibt es zweierlei Ansichten: »den großen rohen Haufen, der die Sinnenlust für das eigentliche Gute hält, und die Gebildeten, die verständige Einsicht haben« (505A). Wie aber den höchsten Gegenstand der Wissenschaft, das Wesen des Guten, erreichen? Wie es den Menschen lehren? Die Antwort auf diese Frage soll nach Plato nicht sofort gegeben werden, sondern folgt dem nun folgenden Weg des Sokrates: die Frage nach der Erziehung der Philosophen. Diese Frage erweist sich aber als sehr komplex. Die Erziehung der Menschen zum höchsten Staatsdienst hat zunächst den gerecht denkenden und handelnden Menschen zum Ziel. Aber die Gerechtigkeit hat über sich noch etwas Höheres: die »Idee des 114 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Gleichnisse: Sonne (507b ff) Linie (509d ff)

Guten«. Und hier verknoten sich die Schwierigkeiten des Erkennens und Lehrens auf höchste Weise, denn das höchste und auch schwierigste der Lehrstücke ist die Idee des Guten. Es ist zu sagen, dass die Idee des Guten noch über der Gerechtigkeit steht, denn erst »durch ihre Hinzunahme (des Guten) wird das Gerechte und alles Sonstige erst brauchbar und förderlich« (504e– 505c) – wie Sokrates formuliert. Er verlangt, an die Betrachtung der Idee des Guten höchste Anforderungen in Bezug auf die Genauigkeit und Reinheit der Lehre zu stellen. Eine Definition des Guten vermag Sokrates nicht zu geben, da man, erfahren wir später, das Gute nicht »lernen« kann, sondern selbst erfahren muss. Deshalb schlägt Sokrates einen Umweg vor, eine Veranschaulichung anhand eines »Sprösslings« des Guten (508d). Es ist die »Sonne«. Deshalb folgen die drei Gleichnisse der »Sonne«, der »Linie« und der »Höhle« in der Schrift Politeia. Sie sind als Weg, sozusagen als Stufen zu lesen und zu verstehen, um sich der »Idee des Guten« zu nähern.

5.1 Gleichnisse: Sonne (507b ff) Linie (509d ff) Das Sonnengleichnis (507b ff) Die Sonne wird als Abkömmling des Guten (508c) verstanden. Um etwas sehen zu können, ist das Auge und der zu sehende Gegenstand nötig. Allerdings bedarf es noch des Dritten, des Sonnenlichtes. Ohne Licht kann das Auge nicht sehen. So wie das Licht das Sehen der Dinge ermöglicht, so die Idee des Guten die Einsicht in die Ideen. 508c–509a »So stelle dir denn dasselbe auch bei der Seele vor. Wenn sie sich auf das richtet, worauf die Wahrheit herabscheint und das Seiende, so sieht sie es auf einmal ein und erkennt es nun, und es zeigt sich, dass sie Einsicht hat. Richtet sie sich aber auf das, was mit Finsternis vermischt ist, auf das Werdende und Vergehende, so meint sie nur, wird schwachsinnig und ändert ihre Meinungen hin und her, so wie einer, der keine Einsicht hat.« 508a »Gesichtssinn und das Vermögen des Gesehenwerdens (Finsternis) [ist] durch ein edleres Band verbunden, [… es ist das] Auge [das] sonnenartigste.« 508d »Unter dieser Sonne also, sagte ich, denke dir, verstehe ich den Sprössling des Guten, den das Gute als sein Ebenbild zeugte, und was es selbst im denkbaren Bereich in Bezug auf Denken und Gedachtes ist, das ist diese im sichtbaren Bereich in Bezug auf Gesicht und Gesehenes.«

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Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7)

509b »Du wirst wohl einräumen, glaube ich, dass die Sonne dem Gesehenen nicht nur die Sichtbarkeit verleiht, sondern auch Werden, Wachsen und Nahrung, ohne dass sie selbst ein Werden ist?« 509a–c »Und doch ist das Gute nicht Wesen, sondern es steht noch jenseits des Wesens (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) und übertrifft es an Würde und Macht«. 511d–e Sokrates stellt zum Schluss fest, dass »den vier bisherigen Abschnitten (Vermuten, Glauben, Verstand, Vernunft) vier Seelenzustände entsprechen«. Um diese Seelenzustände zu begreifen, ist das folgende Liniengleichnis gedacht.

Das Liniengleichnis (509d ff) Dem Sonnengleichnis schließt sich das Liniengleichnis an, welches eigentlich gar kein Gleichnis ist, sondern die Kurzform der philosophischen Theorie und Lehre Platons. Es werden die Bereiche des Sichtbaren und des Einsehbaren unterschieden. Der Bereich des Sichtbaren ist aufgeteilt in den Bereich der Bilder (εἰκασία) (A), der Schatten Phantasmata (Spiegelungen) bzw. der Wahrscheinlichkeiten und Meinungen, und den Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände wie Tiere, Pflanzen und Werkzeuge (Bereich des Glaubens, πίστις) (B). Der Bereich des Einsehbaren teilt sich in den Bereich des Verstandes (διάνοια) (C) (Geometrie Arithmetik) und den der Vernunft (νόησις) (D) (Denken nach Arche Telos, Ideen). Entsprechend den Abschnitten des Liniengleichnisses ist eine Treppe von Tätigkeiten denkbar, welche die verschiedenen Stufen bis zur Einsicht verdeutlicht: Vermuten (εἰκασία) (A), Glauben (πίστις) (B), Nachdenken (διάνοια) (C) und Einsehen (νόησις) (D). Die »Linie« im Gleichnis steht für diesen stufenweisen Aufstieg. Das folgende Höhlengleichnis stellt nun anschaulich den Weg dar, welchen der Philosoph in seiner Zeit zurücklegen muss, um zu der Idee des Guten (E), dem Ziel der ganzen Untersuchung, zu gelangen. Die drei Gleichnisse Platons sind miteinander zu lesen. Sie führen von dem Gleichnis der Sonne zu dem der Linie. Das Nebeneinander der drei Gleichnisse lässt die innere Entwicklung des Bildvorgangs verfolgen. Es wird etwa deutlich, auf welcher Ebene der Erkenntnis sich die Beteiligten in der Höhle befinden.

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Höhlengleichnis (514a ff)

Abb. 3, Schema der drei Gleichnisse Sonne, Linie und Höhle (nach Egon Gottwein) 65

5.2 Höhlengleichnis (514a ff) 514a Gleich zu Beginn wiederholt Sokrates noch einmal deutlich den Sinn des Dialoges und nun vor allem auch des folgenden Höhlengleichnisses. Es geht um die condition humaine, um die »menschliche Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung«, das höchste Ziel der Idee des Guten zu erreichen. Das Gleichnis verlegt die Welt der Dinge mitsamt den Menschen und ihrem Verhalten in einen unterirdischen Höhlenraum. Dort fühlt sich der Mensch wie in der Welt oben heimisch, ohne zu ahnen, dass es wesenhaft zu seinen Bedingungen gehört, nur auf einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit fixiert zu sein, der dazu nur eine schattenhafte Wirklichkeit wiedergibt. Das Höhlengleichnis zeigt also den Weg, welchen die Philosophen zurücklegen müssen, um zur Idee des Guten zu gelangen: Vorstellen muss man sich Menschen in einer Art Höhle, die ihr gesamtes Leben dort verbracht haben. Sie sitzen in dieser Höhle. Fesseln verhindern sogar die Bewegung des Kopfes. Somit können sie nur auf die Rückwand der Höhle sehen. Hinter ihnen befindet sich eine Mauer und noch dahinter ein Feuer als einzige Lichtquelle. Hinter der Mauer – zwischen Mauer und Feuer – tragen Menschen, welche auch sprechen, Statuen von Menschen und anderen Dingen vorbei, die über die Mauer ragen. Das Feuer wirft die Schatten der Gegenstände auf die Höhlenwand und das Echo wirft die Stimmen der Träger zurück. 65

Abb. 03 https://www.gottwein.de/Grie/plat/PlatStaatHoehle.php

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Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7)

Die gefesselten Menschen nennen die ihnen sichtbaren Schatten wirklich und halten das Echo für die Stimmen der Schatten. Nun fährt das Gleichnis fort mit dem Hinweis, einer der Gefesselten würde losgebunden und gezwungen, sofort in das Licht zu sehen. Als Folge wäre er geblendet und unfähig die Dinge zu erkennen, welche die Schatten warfen, und er wäre ratlos, wenn er auf die Frage antworten müsste, was die Dinge seien. Er würde die zuvor gesehenen Schatten für wahrer halten als die Gegenstände. Müsste er direkt ins Feuer sehen, würde er vor Schmerzen fliehen. Würde er sodann mit Gewalt aus der Höhle geführt und ans Sonnenlicht gebracht, würde er wieder starke Schmerzen erleiden und nichts erkennen. Auf der Oberfläche würde er sich aber mit der Zeit an die Helligkeit gewöhnen und langsam anfangen, Verschiedenes zu unterscheiden und auch zu erkennen: zunächst die Schatten oder Spiegelbilder im Wasser. Später könnte er nachts den Himmel betrachten und irgendwann wäre es ihm möglich, die Sonne selbst zu sehen, nicht nur ihr Spiegelbild. Dann würde er erkennen, dass die Sonne die Ursache aller Dinge ist und das Sehen erst ermöglicht. Rückblickend wäre er sehr froh über die Veränderung seines Horizonts. Müsste er nun wieder in die Höhle zurück, würde er dort nichts sehen können, und seine Kameraden würden ihn verhöhnen und sagen, er habe sich dort, wo er herkomme, die Augen verdorben. Wenn er nun versuchen würde, einen von ihnen loszubinden und ihn mit sich nach oben zu nehmen, würden sie ihn umbringen. Man kann das Höhlengleichnis auf verschiedene Weise verstehen. Einer gängigen Lesart zufolge wird die Idee des Guten als das »größte Lehrstück« angesehen, das im Sonnen- und Liniengleichnis von Buch VI der Politeia beginnt und im anschließenden Höhlengleichnis das Bildungsprogramm von Buch VII vollendet ist. Es geht um Bildung (παιδεία) im Kampf gegen die Bildungslosigkeit (απαιδεία). Traditionell betrachtet geht es dabei um zwei grundlegende Erkenntnisweisen, eine sinnliche und eine geistige, dazu zwei Erkenntnisorte, den der Sinnendinge und den der Ideen, sowie zwei Seins- und Erkenntnisquellen, die Sonne und das Gute. Dem entspricht der Aufstieg vom Schattenreich der Sinne zum vollen Sonnenlicht, von den bloßen Abbildern zu den Ideen als den wahren Urbildern. Platon wird so zum Urheber einer Zweiweltentheorie, der Schatten dieser Welt und der Ideen. 118 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Höhlengleichnis (514a ff)

Bernhard Waldenfels schlägt eine andere Sichtweise vor. Er versteht das Gleichnis nicht so sehr als Lehrstück, sondern als ein »Erzählen« der »conditio humana« (Plato 92, 84). Das Höhlengleichnis nimmt seinen Ausgang in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung. Platon konzentriert sich jedoch nicht auf einen fixen Ort, sondern er erzählt die Geschichte als einen Weg, als »Übergang von einem dunklen Innenraum zu einem hellen Außenraum und umgekehrt im Rückgang vom Hellen ins Dunkle. […] Wie im Falle von Tag und Nacht, von Wachen und Schlafen, von Geburt und Tod haben wir es mit Schwellenereignissen zu tun, die in Verben wie Hellwerden und Dunkelwerden, Aufwachen und Einschlafen, Entstehen und Vergehen ihren Ausdruck finden. Es bilden sich Übergangsphänomene in Gestalt von Dämmerung und Zwielicht« (Plato 71–72).

Und so Weidenfels weiter: »Als Zuhörer oder Leser des platonischen Höhlengleichnisses werden wir aufgefordert, uns unsere eigene Lage vor Augen zu führen. Doch was im Höhlenleben geschieht, wird nicht als unabänderliches Geschick hingestellt. […] Es wird von seinem Wendepunkt her beschrieben im Blick auf eine zu erhoffende Lösung der Fesseln und eine Heilung vom Unverstand (515c), die religiöse Erlösungserwartungen wachruft. Die Wende kommt nicht dadurch zustande, daß Sehende den Schauplatz wechseln, so daß sie Höheres, Geistiges zu sehen bekommen; sie besteht vielmehr darin, daß der Schauplatz selbst sich wandelt und Sehende sehend werden« (Plato 85).

Der Übergang des Erzählens, der dem Szenenwechsel des Erzählten entspricht, kann sich nur in einem Hören, Sehen und Lesen vollziehen, das die Hörenden, Sehenden und Lesenden verwandelt und mitzieht, das den Blick anstachelt und anleitet. Hierin liegt das sokratische Element der platonischen Paideia (Plato 92): »Wir nähern uns auf diese Weise einer Blickinszenierung, in der das Sichtbarmachen des Sichtbaren sich mit einem hintergründigen Unsichtbarbleiben des Sichtbaren verschränkt (Anm. siehe Mischa Kuball Licht- Rauminstallationen)« (Plato 72).

Waldenfels stellt den Vorgang des Gleichnisses phänomenologisch als Kinaisthesis dar. Es geht dabei um Wahrnehmung, Sehen. Die Aisthesis stellt sich, wie bei Phänomenologen der Wahrnehmung üblich, als Kinaisthesis dar. Beim Sehen ist der Leib als ganzer beteiligt. Aber im Gleichnis auf besondere Weise. Der Körper der Höhlenbewohner ist unbeweglich an seinen Platz gebannt, bevor es zu ersten Gehver119 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7)

suchen kommt; doch diese Bewegungslosigkeit ist selbst schon Ausdruck einer erstarrten Bewegung und eines gelebten Nichtkönnens. Nur Lebendes, das sich selbst bewegt, lässt sich fesseln. Bewegung ist auch Voraussetzung des Sehens selbst. Zum Sehen gehört etwa eine bestimmte Blickrichtung. Die Gefesselten sind lediglich imstande, nach vorn zu starren; sie sind eingezwängt wie in einen Kinositz, bevor man sie nötigt, aufzustehen, den Hals umzudrehen und ins offene Licht zu blicken. Der Sehvorgang spielt sich ab in einem beschränkten Sehraum, der in eine Vorderbühne des schattenhaft Sichtbaren und eine Hinterbühne der unsichtbaren Schattenerzeugung zerfällt, so dass das Sichtbarwerden der Schatten und das Sichtbarmachen durch die Gaukler sich in den gesehenen Schattenbildern erschöpft. Das Höhlengleichnis führt uns die Verkörperung des Sehens vor Augen, aber indirekt, in Form einer Deprivation, im Zerrbild einer partiellen Entkörperung. Die Umlenkung des Blicks, in der sich die Bildung vollzieht, bedeutet eine Umkehrung »mit dem ganzen Leibe« und »mit der ganzen Seele« (Plato 51, 80), unter Einschluss des »Auges der Seele« (533d); im Zuge der Umgewöhnung lernen wir nicht bloß, anderes zu sehen, wir lernen anders sehen. (Plato 79–80) Schließlich rührt die Lösung der Fesseln zum Schluss an ein Rätsel. »Sooft einer entfesselt und gezwungen würde, mit einem Male aufzustehen …« (515c), so fragt es sich, von wem entfesselt oder wodurch? Dürfen wir mit dem Wunder einer Art Spontanbefreiung und Spontanheilung rechnen? Wenn nicht, so stellt sich die Frage: Wer befreit die Befreier? (Plato 88) Am Ende des Höhlengleichnisses steht unübersehbar die drohende Tötung des unwillkommenen Befreiers, und man kann sich unschwer vorstellen, wie sich die Gaukler und Bildzauberer daran nach Kräften beteiligen.

5.3 Platons Mirror von Mischa Kuball Mischa Kuball untersucht in seinen Arbeiten seit vielen Jahren die Dimensionen von Kunst und besonders von Licht. Mit seinem Werkkomplex platons mirror entwickelt er seit 2007 eine Serie von Installationen, Projektionen und fotografischen Arbeiten. 66 Es ergeben sich Mischa Kuball: Platons Spiegel, hrg. v. Andreas Beitin, Leonhard Emmerling und Blair French, Köln 2012.

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Platons Mirror von Mischa Kuball

daraus hochaktuelle Fragestellungen in und für die Kunst. Lichtpolitik und Medienpolitik werden innerhalb dieses Projektes neu verhandelt. Medien- und Lichtkünstler Mischa Kuball hat zahlreiche Projekte in Kooperation mit Institutionen im In- und Ausland realisiert, u. a. im Bauhaus Dessau (1992), Jewish Museum, New York (2002), Hamburger Kunsthalle (2007), NTT-Intercommunication Center Tokyo (2008). Temporäre Installationen wurden am Eingang der Kunstsammlung NRW Düsseldorf (2005), der Neuen Nationalgalerie Berlin (1999), dem ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (2005) und dem Centre Pompidou Metz (2010) installiert. Die Idee zu »Platons mirror« basiert auf einem der einflussreichsten Texte der europäischen Literatur: Platons Höhlengleichnis. In ihm wird die Unterscheidung zwischen zwei Formen der Wirklichkeit formuliert: der sichtbaren Realität und der (wahren) Realität der Ideen. Einen Künstler wie Kuball, der sich wie kein zweiter in seiner Kunst mit dem Phänomen des Lichts auseinandersetzt, musste das Höhlengleichnis zur künstlerischen Auseinandersetzung herausfordern. In zugleich einfachen und höchst effektiven Anordnungen mit Projektoren und reflektierenden Silberfolien, Fotografien und Videos schafft Kuball einerseits Räume, die als Gleichnisse der Platonischen Höhlensituation zu verstehen sind, andererseits übersetzt er in seinen Fotografien und Videos das komplexe Verhältnis von Lichtquelle, Spiegelung, Schattenrissen und Abbild in scheinbar endlos zu erweiternde Mediationsstufen, auf denen sich die Wirklichkeit als die Wirklichkeit ihrer Reflexion immer erneut konstituiert. Kuball führt in 4 Räume: Im ersten Raum ist entsprechend Platons Gleichnis eine Kellersituation ohne natürliches Licht eingerichtet, nur eine künstliche Quelle, so dass an der Projektionswand nur Schatten auftauchen: der Schatten der eigenen Person, die sich bewegt; Schatten anderer Personen, die in den Raum kommen oder durch ihn gehen. Andere Quellen. Schatten die durch andere Quellen auf der Wand erscheinen. Alle Gestalten sind mehr oder weniger undeutlich, es gibt keine genauen Informationen. Die Schatten begegnen sich, berühren sich auf unterschiedlichen Projektionsebenen. Was nehmen wir von uns als Schatten wahr? Was von den Bewegungen im Raum? Im zweiten Raum ist die Projektionsfläche nicht mehr eine Leinwand, sondern eine dünne Silberfolie, die sich ständig leicht bewegt, sich jedem Luftzug kräuselt. Die Projektionsfläche ist also ständig in 121 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7)

Bewegung; die Schatten sind es ebenso und damit ganz undeutlich, sie sind kaum mehr zu identifizieren. Im dritten Raum läuft oberhalb der Projektionsfläche ein farbiges Video mit realen Gestalten. Die Installation erinnert so an Platos Anordnung einer Brücke, über die wirkliche lebendige Gestalten gehen oder getragen werden. Wie sehen die Personen im Keller sich selbst als Schattenbilder und sich gegenüber den wirklichen Videobildern? Schließlich hat Kuball in einem eigenen Raum vier großformatige Fotos der bewegten Silberfolien aufgehängt. Hier ist kein Zusammenhang mit der Wirklichkeit mehr zu erkennen, sondern nur ein erstarrtes Fluidum. Die Beschäftigung Kuballs mit dem Thema des Höhlengleichnisses erfolgt in einer Zeit, in der das Problem der »Realität« kaum mehr unter philosophischen, sondern fast ausschließlich unter soziologischen und politischen Gesichtspunkten betrachtet wird. Er verknüpft mit Platons Höhlengleichnis heutige Fragen der Kunst und Gesellschaft: Werden wir unsere Wahrnehmungen von Wirklichkeit mit Hilfe der heute möglichen Geräte und Anordnungen überprüfen oder werden wir unsere Wahrnehmungen ungeprüft von den uns umgebenden Medien übernehmen? Also wie wirklich ist die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, ist sie wirklich überprüft oder virtuell? Kuballs Installationen stellen im Grunde alle Dimensionen und Mittel der (Mal)Kunst zur Diskussion. Bekannt ist Platos Verurteilung des damaligen Kunstgewerkes und der Künstler. Es ist aber auf den Hintergrund dieser Haltung zu achten, der heute nicht weniger aktuell ist. Für Plato sind Bilder grundsätzlich »Abbilder von Abbildern«. D. h.: Wir sehen nicht die wirklichen Bilder, sondern die Bilder, die wir sehen, sind schon »Abbilder«. Die wahren Bilder sind nach Plato die »Ideen«, ihre irdischen Erscheinungen sind »Abbilder«. Was Plato tadelt, ist vor diesem Hintergrund das Wesen der Malerei, eben »Abbilder von Abbildern« wiederzugeben. Vor diesem Hintergrund ist aktuell durchaus unser Sehen zu artikulieren, also zu fragen, was wir denn wirklich sehen. Das Projekt Kuballs führt unmittelbar in die Problematik hinein. In der Tat werden dabei wichtige Fragen des Sehens der Kunst gestellt. Im 1. Raum ist das Licht Thema. Es herrscht im Raum kein Sonnenlicht und kein natürliches Licht. Eine künstliche Lichtquelle, die gerade noch Schatten wirft. In späteren Erweiterungen experimentiert Kuball mit allen möglichen Geräten und Anordnungen von 122 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Platons Mirror von Mischa Kuball

Lichtquellen, bis hin zur neuartigen Bildgenerierung durch Computer-Tomografie. Die unterschiedlichen Anordnungen von Lichtquellen durchkreuzen die Selbstverständlichkeit eines konstanten Lichtes und verweisen auf die breite Palette des Lichtes von Sonnenlicht bis Schattenlicht als Voraussetzungen jeden Sehens. Licht ist nicht nur Grundthema der Philosophie Platos, sondern auch der Kunst, das Vermögen des Sichtbarmachens und Sichtbarwerdens. Im 2. Raum ist Spiegelung das Thema. Kuball nennt sein Projekt des Höhlengleichnisses bewusst Platons mirror. Dahinter steht die herrschende Vorstellung, Wahrnehmen und Erkennen werden vor allem durch Spiegelphänomene ermöglicht. Für die geistige Reflexion ist es die gängige Vorstellung, für das sinnliche Wahrnehmen wird mit Behelfen gearbeitet, wobei natürlich die Anfrage bleibt, wo und auf welche Art und Weise in den Wahrnehmungen sich Spiegelungen ereignen. In der Versuchsanordnung steht dafür die Silberfolie. Mit ihr wird aber zugleich die Problematik sichtbar, die mit den Weisen von Spiegelungen gegeben ist. Anschaulich werden dafür alle Probleme durch das leichte Bewegen der Silberfolien, wobei alle Gestalten volativ bis unkenntlich werden. Im 3. Raum ist der Status der Bilder sozusagen Thema. Selbstverständlich sind in der Höhle alles nur Schattenbilder. Aber wie unterscheiden sich Schatten von Schattenbildern der Wirklichkeit von bloßen Schattenbildern, oder mit Platos Begriffen, wie unterscheiden sich bloße »Abbilder« von »Abbilder von Abbildern«. Dafür mag die Anordnung stehen, dass über der Projektionsfläche (Silberfolie) auf einem Streifen ein echtes Video abläuft. Es ist deutlich, dass die Schatten nicht zu unterscheiden sind, also nicht zu unterscheiden ist das bloße Abbild des echten Videos von den natürlichen Schatten. Plato spitzt das Dilemma dadurch noch zu, dass er auch von Gauklern spricht, die sich in die Gestalten über die Brücke einmischen und auf diese Weise gerade mit dem Bildsehen spielen, indem sie den Zusehern falsche Bilder vorgaukeln. Mit den Gauklern sind nach Plato wohl auch Maler gemeint. Insgesamt ist bei diesem Experiment keine Unterscheidung von Wirklichkeit und Fiktion mehr möglich. Im 4. Raum sind vier großformatige Fotos aufgehängt. Es sind vier Zufallfotos von Schatten auf den bewegten Silberfolien. Zu erkennen sind dabei bewegte Streifen und darin undeutliche, nicht identifizierbare Schattengestalten. Die Fotos ermöglichen kaum eine Erkenntnis. Sie sind aus dem Kontext herausgenommen, es sind keine Rahmen, keine Hintergründe, Grundrisse u. ä. zu sehen, etwa ent123 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7)

sprechend der »Ikonischen Differenz« von Bildern, der Differenzen von »Grund« und »Figurationen« usw. Die Bewegtheit der Fotos ist stillgestellt. Sie können in keinen Zusammenhang eingeordnet werde. Damit ist wohl die Schwäche der Fotografie für die bildende Kunst überhaupt thematisiert, die nur überwundern werden kann, wenn die Fotografie bewusst arrangiert wird, also in einen besonderen Kontext und damit wiederum ruhig gestellt wird. Mischa Kuball untersucht in seinen Arbeiten seit vielen Jahren die soziopolitischen Dimensionen von Kunst und besonders von Licht. Mit seinem Werkkomplex Platons mirror entwickelt er seit 2007 eine Serie von Installationen, Projektionen und fotografischen Arbeiten. Durch elegante und zugleich einfache Anordnungen mit farbigen, sich bewegenden Projektionen und Silberfolie entwirft Kuball darin Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume analog zu Platons Höhle. Während die lose hängende, hauchdünne Folie sich schon durch geringste Bewegungen der Betrachter im Raum kräuselt, werden Licht und Bewegung sowie die schemenhaften Schatten der Betrachter auf den Wänden des Ausstellungsraumes sichtbar. Kuballs Publikum ist weder angekettet noch dazu verdammt, für immer die Schatten an der Wand zu betrachten, sondern mobil und dazu fähig, Form und Raum durch die eigene physische Präsenz zu animieren. Man kann sich selbst in das Licht des Projektors stellen, den eigenen schemenhaften, mehrfach duplizierten Schatten durch die Reflexionen der Folie in den Raum werfen oder aber sich nach Belieben von der Ebene der Repräsentation zurückziehen: »Das Darstellende lässt sich nicht auf etwas Dargestelltes beziehen, die Schattenspiele bieten keine eindeutige Interpretationsmöglichkeit. Gezeigt werden Abbilder der Wirklichkeit, Spiegelungen – wie schon im Titel angedeutet. Im doppelten Sinn also parodiert Kuball Wahrnehmungstheorien des 20. Jahrhunderts, die ihren Ursprung im Dualismus der Antike haben. Eine dialektisch-visuelle Demonstration von Medienkritik, Rezeptionsästhetik und medialer Pseudorealität«. 67

67 Bredekamp, Horst (2012), Das Spiel von Licht und Schatten, in: Mischa Kuball: Platons Spiegel, hrg. v. Andreas Beitin, Leonhard Emmerling und Blair French, Köln, 271–289.

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Bild, Abbild, Bildlichkeit

5.4 Bild, Abbild, Bildlichkeit Plato fragt im Höhlengleichnis nach unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ist die condition humaine ein Leben im Schattenreich und/oder ist der Aufstieg ins Reich des Lichtes, der Wahrheit und Ideen, möglich. Oder in heutiger Version: Leben und erleben wir die wirkliche Wirklichkeit oder lassen wir uns von der Scheinwirklichkeit virtueller Bilder einfangen. Plato ist bestrebt, die überwiegende Scheinwahrheit der Menschen gleichnishaft darzustellen. Sie betrifft die Meinung der Menschen über die Wirklichkeit des Lebens und betrifft entsprechend das gemeine Verständnis der bildenden Kunst. Nach Waldenfels erzählt Plato die »Urlüge (πρῶτον ψεῦδος), die in der Annahme besteht, »daß wir Bilder sehen, anstatt in Bildern zu sehen, oder daß wir Bilder herstellen, anstatt etwas ins Bild zu bringen« (Plato 85). Der Grundirrtum der Menschen besteht im Allgemeinen darin, dass sie »Bilder (bzw. Schattenbilder) sehen« und diese für die Wirklichkeit halten. Der Philosoph erkennt dagegen den Unterschied, von »Bilder sehen« und »in Bildern sehen«. Richtig ist, dass wir »in Bilder« sehen, Bilder gehören zu unserem Leben und Erkennen, »Bilder« sind aber nicht die wirkliche Welt, sondern wie sich uns die Welt in Bildern zeigt. Nach Plato wird dieser Grundirrtum von der bildenden Kunst bzw. den Malern gefördert. Sie geben vor, »Bilder herzustellen«, die sie als wirkliche Gestalten vorgeben, und ihre genuine Tätigkeit missverstehen, nämlich ihre Wahrnehmungen »ins Bild zu bringen«, d. h. ihr künstlerisches Projekt ins Bild zu bringen, d. h. sichtbar zu machen. Es ist bekannt, dass Plato die bildende Kunst abwertet. Das geschieht auf Grund der vorausgesetzten Ontologie. Für ihn verfehlen die Maler oft den ontologischen Status der von ihnen geschaffenen Bilder. Plato nennt die Bilder der Kunst »Abbilder« der Wirklichkeit; noch mehr, er wertet sie als »Abbilder von Abbildern« ab, nämlich als Abbilder von Naturdingen, die ihrerseits nur schwache Abbilder von Ideen sind. Plato korrigiert und widerruft diese Auffassung. Das eigentlich Sichtbare, nämlich geistig Sichtbare ist das εἶδος, die Idee, und nicht die Abbilder, noch weniger deren Abbilder, die nur von der Wahrheit wegführen (Politeia 596 A ff., bes. 597 E). Als Zuhörer oder Leser des platonischen Höhlengleichnisses werden wir aufgefordert, uns unsere eigene Lage vor Augen zu füh125 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Platon – Höhlengleichnis (Politeia I, 6–7)

ren. Doch was im Höhlenleben geschieht, wird nicht als unabänderliches Geschick hingestellt wie die vergeblichen Mühen des Sisyphus oder die Qualen des Tantalus. Es wird von seinem Wendepunkt her beschrieben im Blick auf eine zu erhoffende Lösung der Fesseln und eine Heilung vom Unverstand (515c). Die Wende kommt nicht dadurch zustande, dass Sehende den Schauplatz wechseln, so dass sie Höheres, Geistiges zu sehen bekommen; sie besteht vielmehr darin, dass der Schauplatz selbst sich wandelt und Sehende sehend werden. Nun erst werden Bilder als Bilder erkannt, so wie erst im Wachen Träume als Träume zum Vorschein kommen: »Faßt man Bilder als Medien, die als das Worin und Wodurch des Sehens eine eigene Wirkkraft entfalten, so können sie durch kein noch so sublimes Sehen von etwas überboten werden« (kursiv – KK) (Plato 85).

Bildlichkeit, so will Plato sagen, besteht in einer »Bildhaftigkeit in den Dingen«, deren Gestaltungskraft der Herstellung künstlicher Bilder vorausgeht und sie übersteigt. Was »sich bildet«, ist nicht schon Bild, es wird Bild. In diesem Sinne gibt es eine Lebendigkeit des Bildes, die es erlaubt, den Maler als Lebensbildner, als »Zoo-graphen« zu titulieren (Plato 76–77). Ein solches Bild ist mehr als ein bloßes Abbild, das lediglich Gesehenes und Gewusstes wiedergibt. Es befördert ein »sehendes Sehen« im Sinne von Max Imdahl. Sehendes Sehen impliziert: »Andererseits gilt das Licht als ein Drittes, zwischen sehendem Auge und gesehener Farbe; dies würde aber besagen, daß ihm eine eigentümliche Unsichtbarkeit innewohnt, so wie umgekehrt das Blickfeld einen blinden Fleck aufweist« (Plato 87). Waldenfels interpretiert das Höhlengleichnis als »Inszenierung, in der das Sichtbarmachen des Sichtbaren sich mit einem hintergründigen Unsichtbarbleiben des Sichtbaren verschränkt« (Plato 71–72). Und hier kommt die Politeia in die Nähe dessen, wie Plato die Bildlichkeit auch, und zwar authentischer, begreift. Plato versteht bildende Kunst im Sophistes als »Sichtbarmachen« bzw. Sichtbarkeit, und beschreibt so den originären Status der Bildlichkeit: »Platon bestimmt das Bild im Sophistes als die Sichtbarkeit des an ihm selbst Unsichtbaren, ontologisch gewendet als die Anwesenheit des Abwesenden, als Erscheinung des an sich Verborgenen, das in seiner Erscheinung scheint, aber so, dass es in diesem Scheinen nicht aufgeht, sondern seine Erscheinung zugleich übersteigt (Platon, Sophistes 240 B ff.). Bild (εἰκών)

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Bild, Abbild, Bildlichkeit

ist hier also gerade kein Abbild (εἴδωλον), das auf ein selber auch sichtbares Urbild verweist, sondern es ist die Sichtbarkeit dessen, was sonst, ohne Bild, unsichtbar bleibt. Es verweist über sich selbst hinaus auf das, was die Sichtbarkeit transzendiert«. 68

Aus der Malerei kennen wir das Bemühen, Unsichtbares sichtbar zu machen, ohne es in Sichtbares zu verwandeln, aber auch ohne es vom Sichtbaren abzusondern; das Unsichtbare wäre dann das »Unsichtbare dieser Welt«, wie es bei Merleau-Ponty heißt (Plato 93).

Halfwassen, Jens (2005), »Schönheit und Bild im Neupatonismus«, in: Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen. Hrsg. v. Verena Olejniczak Lobsien; Claudia Olk. Berlin 43–57, hier 43.

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6 Paul Cézanne

Picasso und andere große Künstler nannten Cézanne »unser aller Vater«. Cézanne bedeutete eine Wende. 69 »Und ob ich ihn kenne! Er war der einzige Meister, den ich hatte. Natürlich habe ich mir seine Gemälde angesehen. Jahrelang habe ich sie studiert Cézanne! Er war unser aller Vater.« Die bekannte Bemerkung Pablo Picassos gegenüber dem Photographen Brassai aus dem Jahre 1943 wäre leicht zu ergänzen durch ähnliche Aussagen anderer Künstler der Avantgarde. So wie sich Picasso bei der Entwicklung seiner kubistischen Phase von Cézanne ermutigt sah, fühlte sich Henri Matisse bei seinem fauvistischen Abenteuer von ihm ›moralisch unterstützt‹. Max Beckmann empfand ihn schon 1903 in Paris als seine ›größte Liebe‹, die er später seinen Malerschülern empfahl, und für Wassily Kandinsky war Cézanne der Künstler, der der Malerei wieder eine Seele gegeben hat. 70 Kudielka nennt Cézanne nicht nur Vater, sondern findet in ihm ein Rätsel, das wohl des Künstlers eigenstes Geheimnis ist und bleiben wird: »Das eigentliche Rätsel Cézannes, das Geheimnis Cézannes, bis heute ist es: was hat er überhaupt gemalt? Was in der Tat hat er gemalt, wenn es keine Gegenstände sind, wenn es kein Steinhaufen ist, oder im anderen Falle, wenn es nicht einfach nur Früchte sind? Und warum hat er die Menschen so gemalt, wie er sie gemalt hat? Das Schwierigste an Cézanne ist tatsächlich die Frage: was sehen wir dort? Sind das Landschaften im alten Genresinne, Stillleben im Sinne des Genres, was hat er gemalt? Und diese Schwierigkeit besteht bis heute fort und ist einer der Gründe, weswegen sich die Kunstwissenschaft beispielsweise ganz ungern mit Cézanne beschäftigt. Einfach weil die Frage schier unübersteiglich scheint, die Frage: was hat er gemalt?« (DLF) Zu Cézanne s. Boehm (Mont, Logos), Badt (Badt), Dittmann (Kunst), Waldenfels (Sinne 140–158), Merleau-Ponty (AG), Gasquet. 70 Grom, Bernhard (2003), Menschen- und Weltbilder moderner Malerei, München, 173. 69

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Kopernikanische Wende des Sehens

Vielleicht stammt das Rätsel auch aus einem anderen Grund, wenn Kudielka fortfährt: »Der Betrachter im Sinne Cézannes, Cézanne selber und die Betrachter seiner Bilder, erfährt sich nicht mehr als stehendes und bleibendes Ich, das einer objektiven, fixierten Welt gegenübersteht. Sondern man erfährt sich in der Tat als Teilhaber einer Bewegung. Und Cézannes großes Gelingen ist eben dies, dass er diese Beweglichkeit artikuliert hat. Das ist ja viel mehr als der Vorgang, dass die Bilder laufen lernten. Die reine Veränderlichkeit einer Bildwahrnehmung, wie wir sie im Film haben, führt ja eher dazu, dass man selber träge und statisch wird. Dass man sich nicht mehr selber in der Weise sehend bewegt, sondern dass man sich nur von Außen bewegen lässt. Was Cézannes Bilder tun, geht sehr viel weiter. Sie ziehen uns selber in eine Beweglichkeit hinein, die er an sich selber erfahren hat und zu Zeiten auch negativ erfahren hat, in der Erfahrung nicht mehr Herr seiner selber zu sein – vor dem Motiv« (DLF).

Cézanne vom Thema und vom Hintergrund der »Bewegung« her gelesen. Diese Sicht ist ungewöhnlich. Sie führt aber mitten in unser Thema hinein. Ihr will das Folgende nachgehen.

6.1 Kopernikanische Wende des Sehens Nach Kudielka hängt diese Wendung der Bildwahrnehmung oder des Bildsehens mit der Bewegung zusammen. Und der Grund dieser Wendung im Bildsehen ist die Abkehr von dem bis dahin gültigen Sehschema der Zentralperspektive. Oder man kann auch an das Motiv Paul Klees denken: ›Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar‹. Cézanne will nicht das Sichtbare wiedergeben oder abbilden, sondern sichtbar machen. Was? Die Kunst sieht bis ins 19. Jahrhundert auf dem Schirm der Zentralperspektive. Wir sind gewohnt, im Allgemeinen ebenso zu sehen. Die Zentralperspektive bei Cézanne Welche Wende brachte Cézanne? Man kann von einer kopernikanischen Wende in der Kunst sprechen (Mont 29 f.). Die ursprüngliche kopernikanische Wende war ein naturwissenschaftlicher Vorgang, der das Weltbild der Menschen veränderte. Dieser Vorgang ereignete sich zuerst im physikalischen Weltbild. Andere wissenschaftlichen und kulturellen Bereiche folgten später. Etwa Kant wollte die kopernikanische Wende ausdrücklich für die Philosophie nachholen. Was 129 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Cézanne

war der Kern der kopernikanischen Wende gewesen? Das alte Weltbild hatte sich verändert. Die alte Weltordnung galt nicht mehr. Die Erde und der Mensch standen nicht mehr im Mittelpunkt des Kosmos. Sie standen wörtlich nicht mehr in der Mitte, während sich die Gestirne und alles um sie drehten. Der Mensch wurde aus der Mitte verdrängt. Er musste sich neu finden. Er musste sozusagen alles neu vermessen, von sich aus. Er musste einen neuen Stand gewinnen, als Subjekt sich neu orientieren. Das geschah zunächst physikalisch naturwissenschaftlich, dann aber etwa auch in der Subjektphilosophie seit Descartes. Mit der kopernikanischen Wende hatte sich das Weltbild verschoben. Verschiedene Weltbilder traten auseinander, das alte und das neue. Dies bemerkte man auch für die Kunst. Es wurde nun erkannt, dass hinter den verschiedenen Stilformen der Kunst unterschiedliche Weltbilder standen. Kurt Badt hat bei Emile Zola einen Text gefunden, der die Situation zur Zeit Cézannes gut beschreibt (Badt 178–182). Er stammt aus einer Zeit, als Zola noch Cézannes bester Freund war. Cézanne dürfte damals den Überzeugungen Zolas noch zugestimmt haben. Der Essay trägt den Titel L’Ecran (der Schirm, der Film) und beschreibt plastisch die Weltbilder der verschiedenen Kunstrichtungen unterschiedlicher Zeiten. Die Kunst vollzieht sich demnach wie auf einem großen Schirm, einem Weltbild, das allen Handlungen und Gestaltungen einer Epoche ihre Prägung verleiht. Emile Zola geht noch von der dominierenden Vorstellung seiner Zeit aus, erkennt darin aber schon einige wichtige »Deformationen«: »Jedes Kunstwerk ist wie ein Fenster, das auf die Schöpfung hinaus geöffnet ist; in den Fensterrahmen eingespannt, gibt es da eine Art durchsichtigen Schirm (une sorte d’Ecran transparent), durch den hindurch man die Gegenstände mehr oder minder entstellt (déformés) erblickt, indem sie mehr oder minder empfindliche Veränderungen der Linien und Farben erleiden. Diese Veränderungen haben ihre Ursache in der Natur des Schirmes«.

Dann beschreibt Zola plastisch damals herrschende Weltbilder (Schirme) der Kunst: »Der klassische Schirm ist ein schönes Blatt sehr reinen Talkes, von feinem und dichtem Korn und milchiger Weiße. Auf ihm zeichnen sich die Formen der Dinge klar, mit einfachen schwarzen Strichen. Die Farben der Dinge werden abgeschwächt, indem sie durch die verschleierte Klarheit hindurch gehen, manchmal erlöschen sie dabei sogar ganz und gar. Die Linien er-

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Kopernikanische Wende des Sehens

leiden eine spürbare Entstellung, tendieren alle auf die (regelmäßig) gebogene oder die gerade Linie, flachen sich ab, dehnen sich in die Länge, mit langgezogenen Wellen. Die Schöpfung (die Natur) verliert in diesem kalten und wenig durchlässigen Kristall alle ihre Härten, alle ihre lebenden und leuchtenden Energien; sie bewahrt nur ihre Schatten und erscheint auf der glatten Oberfläche wie ein Basrelief. (Mit einem Wort, der klassische Filter ist ein Vergrößerungsglas, das die Linien entwickelt und die Farben am Durchtreten verhindert.) Der romantische Schirm ist eine Spiegelscheibe ohne Stanniol, rein, doch an gewissen Stellen ein wenig trübe, und mit den sieben Tönen des Regenbogens gefärbt. Sie läßt die Farben nicht nur hindurch, sondern gibt ihnen noch mehr Kraft; manchmal verwandelt und mischt sie sie. Die Umrisse erleiden hier ebenfalls Veränderungen; die geraden Linien neigen dazu zu zerbrechen, die Kreise werden zu Dreiecken. Die Natur, die uns dieser Schirm zeigt, ist unruhig und bewegt. Die Formen zeichnen sich kräftig, mittels großer Schatten- und Lichtflecke ab. Die Illusion des Natürlichen ist hier stärker und verführerischer; es gibt keinen Frieden, aber das Leben selbst; ein Leben, das intensiver ist als das unsrige; keine reine Entfaltung der Linien noch eine nüchterne Zurückhaltung der Farben, dafür aber die ganze Leidenschaft der Bewegung und den ganzen funkelnden Glanz erträumter Sonnen. Alles in allem ist der romantische Schirm ein Prisma mit mächtiger Brechung, das jeden Lichtstrahl ablenkt und ihn in ein blendendes Sonnenspektrum zerlegt. Der realistische Schirm ist eine einfache Fensterscheibe, sehr dünn, sehr klar, die behauptet, so vollständig durchsichtig zu sein, daß die Erscheinungen ganz hindurchdringen und sich daher in ihrer vollen Wirklichkeit darbieten. Daher gibt es hier weder in den Linien noch in den Farben eine Veränderung, sondern eine genaue, freie und naive Wiedergabe. Der realistische Filter leugnet seine eigene Existenz. Das aber ist wirklich zu viel des Stolzes. Was er auch sagen mag, er existiert, und deshalb kann er sich nicht rühmen, uns die Schöpfung in der strahlenden Schönheit der Wahrheit zu geben. So rein, so dünn, so sehr er nur Fensterglas sein mag, er hat dennoch eine eigene Farbe, eine gewisse Dicke; er färbt die Dinge, er bricht ihre Formen wie jeder andere (Filter). Übrigens gestehe ich ihm gerne zu, daß die Bilder, die er gibt, wirklicher sind; er gelangt zu einem hohen Grade genauer Wiedergabe. Sicherlich ist es schwer, einen Filter zu beschreiben, dessen Haupteigenschaft darin besteht, fast nicht zu existieren; ich glaube aber, ihn gut zu beurteilen, wenn ich sage, daß ein feiner grauer Staub seine Durchsichtigkeit beeinträchtigt. Jedes Ding, das durch dieses Material hindurchgeht, verliert seine Pracht oder, vielmehr, wird etwas schwarz. Andererseits werden die Linien üppiger, gewissermaßen übertrieben in Hinsicht auf ihre Breite. Das Leben entfaltet sich mit großer Fülle, ein materielles, ein wenig schwerfälliges Leben. Im Ganzen, der realistische Schirm, der letzte, der sich in der zeitgenössischen Kunst gezeigt hat, ist ein glattes

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Paul Cézanne

Fensterglas, sehr durchsichtig, ohne klar zu sein, das so treue Bilder gibt, wie ein Filter es überhaupt kann«.

Unverkennbar ist in dieser Beschreibung die Kritik an den herrschenden Grundrichtungen der zeitgenössischen Malerei. Der Klassizismus von Ingres und seinen Schülern wird als leblos, farblos und energielos abgelehnt. Die Romantik, die die Welt durch einen regenbogenfarbenen Schleier sieht, kommt besser davon; sie gibt den Farben der Wirklichkeit gesteigerte Kraft, sie zeigt das Leben und seine Gegensätze mit erhöhter Gewalt, leidenschaftlicher Bewegung und den Glanz erträumter Sonnen. Sie besitzt Leidenschaft und Freiheit, keine säuberlichen Trennungen, sondern Bewegung und Glanz. So hat sie Delacroix gemalt. (Badt 215–253) Der Realismus kommt der strahlenden Schönheit der Wahrheit am nächsten, aber auch er verdunkelt, schwärzt die Dinge. Seine Linien sind üppig und breit, das Leben, wie er es darstellt, fett, materiell und schwer. Das aber, sagt Zola, ist das treueste Bild der Wirklichkeit, das die Kunst zu geben vermag. Was er hiermit beschreibt, ist die Wirklichkeit, die Rousseau und Courbet in den Landschaften entdeckt hatten. Zu ihnen war dann noch Manet hinzugekommen, für den sich Zola damals aufs energischste einsetzte und mit dessen Kunst er sich geradezu identifizierte hatte. Dennoch war die hervorragendste Figur der ganzen Gruppe damals noch Courbet, der auch den von gewissen Kritikern hingeworfenen Namen ›Realismus‹ für seine Kunst angenommen und dann als sein Programm verteidigt hatte. (Badt 184–193) Ohne Zweifel waren Zolas und Cézannes Sympathien auf Seiten des écran réaliste; aber ihm, Zola, dem radikalen Gegner aller Schulen genügte es nicht, wenn die realistische Kunst in der üblich gewordenen Form weitergeführt wurde; er wollte sie in origineller und persönlicher Weise erneuert sehen. Und zwar hinsichtlich jener kühnen Entstellungen (déformations), auf denen alle Kunstwerke beruhen, und zu denen auch der Realismus trotz seiner Naturtreue neigt. Indem Zola solche Gedanken äußerte, dachte er sicherlich an seinen Freund Paul Cézanne, mit dem er sich damals als Realist in der Kunst verbunden fühlte, und dessen Arbeiten schon damals die Natur rücksichtsloser deformierten als die Werke irgendeines anderen Künstlers. Bald sollten sich aber Zola und Cézanne hinsichtlich der realistischen Darstellung von Wirklichkeit unversöhnlich verfeinden. In der Kunst schien eine solche radikale Neuvermessung nicht nötig. Auch in der Kunst war es zu einer neuen Vermessung der Welt 132 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kopernikanische Wende des Sehens

gekommen, die »Perspektive« oder das »offene Fenster«. Die Perspektive war selbst ein Kind der physikalischen kopernikanischen Wende. Denn die Bilderwelt der Kunst wurde nun mathematisch und geometrisch perspektivisch wiedergegeben. Das perspektivische Vermessen wurde zur klassischen Darstellung der dreidimensionalen Kunstwelt. Sie ist es vielfach heute noch. Dann aber erkannte man, dass diese Welt der Perspektive nicht die wirkliche Welt des Sehens wiedergibt. Cézanne war bei weitem nicht der erste. Er machte aber damit radikal Ernst: »Er ist eine Epochenfigur, weil er eine Wendung vollzog, die seitdem alle betrifft, alle Maler, alle Künstler, alle Betrachter, die sich sehend mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Diese Wendung bestimmt das Verhältnis von Auge, Bild und Realität neu. Was sich wandelt, ist die Rolle des Sehens. Es wird Fundament und Medium der Malerei, ein Vorgang, dessen Struktur an jene Evolution der Denkungsart erinnert, die wir mit dem Namen des Kopernikus bezeichnen« (Mont 30).

Cézanne hat sich selbst so gesehen: »Meine Methode ist der Haß gegen das Phantasiegebilde, sie ist Realismus, aber ein Realismus, verstehen Sie wohl, voll von Größe, der Heroismus des Wirklichen« (Gasquet 29). Die Studien Cézannes entdeckten hinsichtlich der Perspektive die »Treue zu den Phänomenen« (Sinne 142). Die erlebte Perspektive unserer Wahrnehmung ist nicht die geometrische oder photographische Perspektive. Merleau-Ponty macht auf einige Unterschiede aufmerksam: In der Wahrnehmung erscheinen die nahen Gegenstände kleiner, die fernen größer als auf einer Photographie, weshalb zum Beispiel ein heranbrausender Zug im Kino sehr viel schneller an Größe zunimmt und dadurch auch viel schneller auf uns zuzufahren scheint als ein wirklicher Zug unter denselben Bedingungen. Zu behaupten, ein von der Seite betrachteter Kreis sähe wie eine Ellipse aus, heißt der wirklichen Wahrnehmung das Schema aufzusetzen, was wir sehen müssten, wenn wir eine Kamera wären: In Wirklichkeit sehen wir eine Form, die um die Ellipse herum oszilliert, ohne eine Ellipse zu sein. Auf einem Porträt von Madame Cézanne bildet der Fries an der Wand, zu beiden Seiten des Körpers, keine gerade Linie: Doch man weiß, daß die beiden sichtbaren Teilstücke einer durchgezogenen Linie, die in der Mitte durch einen breiten Papierstreifen zugedeckt wird, gegeneinander versetzt zu sein scheinen. Es stimmt freilich, daß diese Deformationen durch ihre Übertragung auf 133 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Cézanne

die Leinwand etwas Starres bekommen, denn es fehlt die spontane Bewegung, durch die sie in der Wahrnehmung einen Gesamteindruck hervorrufen, der dem der geometrischen Perspektive gleicht (AG 10). Ein neuer Realismus? Welchen? Nicht Courbet, nicht Zola – welchen? Ein neues Bildkonzept – es ist ein neues Sehen, eine neue Bildordnung und -struktur der Bewegungs- und Handlungsabläufe, Positionen, Blickrichtungen etc. Das neue Sehen wendet sich gegen die herkömmlichen und dominierenden Einstellungen. Es ist eine Wendung von dem sogenannten »Sichtbaren« zu dahinter oder darunter liegenden Dimensionen des anscheinend »Nicht-Sichtbaren« und doch für die Wirklichkeit Gründenden. In den Worten Cézannes: »Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe, die Farbe sind der Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche, sie steigen von den Wurzeln der Welt auf« (Gasquet 16). Eine radikale, aber weitsichtige Antwort gibt Imdahl. Das neue Sehen betrifft, wie das Zitat andeutet, vor allem das Farbsehen. Imdahl verweist auf Delaunay und dessen Forderung nach einem neuen Farbensehen. Das Spektrum eines solchen neuen Sehens ist das ›simul et singulariter‹, das Ganze und das Einzelne zusammen Sehen. Der »Kolorismus« Delaunays hat nach Imdahl für die Darstellung der Wirklichkeit möglicherweise eine ähnlich umfassende Bedeutung wie die Zentralperspektive für den »Linearismus«. Die Strahlenlinien der Zentralperspektive bringen gewiss einen großen Darstellungsgewinn. »Für die gegenstandslose Malerei ließe sich erwägen, ob nicht der von Delaunay erstrebte, praktizierte und theoretisch erörterte Kolorismus in eben demselben Maße zum Ausdruck einer zeitlichen Simultaneität wird, in welchem der zentralperspektivische Linearismus Ausdruck einer räumlichen Homogenität ist« (GS3 211). Mit dieser Sicht hat Imdahl eine radikale Wende der Kunst im Blick. Mit der Wendung von den Linien, dem »Linearismus«, zu den Farben, dem »Kolorismus«, wäre eine tiefgreifende Veränderung verbunden: Demnach wäre für die klassische Zentralperspektive der »Raum« das bildnerische Pendant, der Linearismus, für die Farbenwelt Delaunays und Cézannes dagegen die »Zeit«, der Kolorismus. Die Malerei Cézannes wäre so unter dem Vorzeichen der Zeit zu betrachten. Der Vorgang der kopernikanischen Wende ist in der Kunst tatsächlich viel komplexer als bisweilen vermutet, denn er erschüttert eine scheinbar selbstverständliche bildgeschichtliche Basis. Seit der 134 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kopernikanische Wende des Sehens

frühen Neuzeit hatten Bilder im rechtwinkligen Koordinatensystem der Architektur (das heißt an der Wand als Fresken, Gemälde oder Stiche) ihren fraglosen Ort. Sie selbst waren als Durchblicke durch die Wand, das heißt als »offene Fenster (finestra aperta)« konzipiert. Ihre äußere Einbindung wiederholte sich in ihrem inneren Aufbau: das perspektivische Bild basiert auf Orthogonalität, es bringt in seiner Fläche Grund- und Aufriss in ein stabiles wechselseitiges Verhältnis. 71 Die Perspektivmathematik hatte die analytischen Grundlagen dafür geschaffen, indem sie das Bild als einen vertikalen Durchschnitt durch die Sehpyramide definierte. Eine höchst folgen- und erfolgreiche Rationalisierung des Darstellungsvorganges, dessen Revision unter anderem auch von Paul Klee, der darin ein anderer Alberti gewesen sei, betrieben wurde. (Boehm 86–87). Die Analogien für die unterschiedlichen Vorstellungen und Darstellungen des Bildsehens der damaligen Zeit sind zahlreich. Die Überzeugung geht auf eine neue Logik des Sehens hinaus. Cézanne denkt an eine Analogie mit der Musik: »Malen heißt nicht einfach die Natur nachahmen, sondern eine Harmonie unter zahlreichen Bezügen herstellen, sie in ein eigenes Tonsystem übertragen, indem man sie nach dem Gesetz einer neuen und originalen Logik entwickelt« (Gasquet 80). Die Analogie zur Musik wird im weiteren Verlauf immer wieder und verstärkt auftauchen. Damit wird die große Wende auch begrifflich gefasst. Cézanne etwa unterscheidet zwischen »Bild-Raum« und (zeitlichem) »Daseins-Raum« (Gasquet 116). 72 Die Kopernikanische Wende hat die Bildkonzeption verändert: eine neue Bild- und Sehordnung ist erfordert, die Koordination der Darstellung von Raum und Zeit wird neu, um nur zwei Kunstrichtungen zu nennen: Impressionismus – ist ein neuer Blick auf den Raum; Kubismus – ist ein neuer Blick auf die Zeit, Bewegungen werden aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt.

Zur Orthoästhesie Husserls (Selbst 55). Zur Bild-Zeit s. (Eikon 279). Dieses Verständnis fand Cézanne bei seinen Zeitgenossen und später nicht überall. Bezeichnend etwa Sedlmayrs Begründung – es fehlten in Cézannes Bildern oftmals in einem geradezu extremen Maße die Hinweise auf die »vorgewußten« Dinge, so besonders die als Gerüst in das Sichtbare hineingetragene »wissenschaftliche« Perspektive oder auch die begrenzende Linie. Zum anderen aber hält Sedlmayr Cézannes Malerei für malerisch, ja für die malerischste überhaupt (Sedlmayr, Hans (1948), Verlust der Mitte, Salzburg. 97 ff.) (GS3 144).

71 72

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6.2 Kunst des Sehens Michael Lüthy beschreibt die Folgen der kopernikanischen Wende im späten 18. Jahrhundert als dramatische Umbrüche. Im Zuge der generellen geistigen und materiellen Umwälzungen und der sozialen, kulturellen und metaphysischen Folgen verändert sich auch der Referenzrahmen der Kunst. Während die alten Bezugsgrößen schwinden – das Prinzip der Nachahmung, die Gliederung der Gattungen und Darstellungsmodi, die Patronats- und Auftragsverhältnisse –, gingen die Künstler auf die Grundlagen ihres eigenen Tuns zurück. Zunehmend frei von ihren tradierten Aufgaben, begannen sie, sich selbst zu erforschen, indem sie ihre Selbst- und Weltwahnehmung prüften und über ihre Gestaltungsmedien reflektierten. Konkurrierend wurden in der Folge das Subjekt oder aber das Medium als jener letzte Grund vorgeschlagen, auf dem die Kunst basiere. In diesen unterschiedlichen Fundierungen wurde die Autonomie der Kunst jeweils anders ausgelegt. In dem einen Fall verstand man sie als Freisetzung des Künstlers von unmittelbaren Vorgaben politischer, religiöser oder weltanschaulicher Art. Der Künstler stellte, so das neue Selbstverständnis, nicht (mehr) dar, was anderswo vorgegeben war oder wozu er veranlasst wurde, sondern beanspruchte den Status als selbstbestimmtes Subjekt. Das Kunstwerk, als Ausdruck des Künstlers verstanden, nahm gewissermaßen dessen Gestalt an. Im anderen Fall gründete man die Autonomie der Kunst auf der Eigengesetzlichkeit des Werks, dessen Sinn sich nicht nur von den anderen wahrnehmbaren Dingen abhob, sondern sich auch von seinem Autor ablöste. Beide Fundierungen forderten ein je eigenes, neues Beurteilungsprinzip gegenüber den Erzeugnissen der Kunst. Die individuelle Sicht des Künstlers oder aber die Eigenlogik künstlerischer Form sollten in ihrer jeweiligen Legitimität anerkannt und zugleich als die eigentlichen Pointen künstlerischer Produktivität begriffen werden. Auf dem Grund der künstlerischen Tätigkeit stoßen wir folglich nicht auf Eines, auf »Substanz« oder »Sein«, sondern auf einen Dual von Subjekt und Medium und dem dazwischen sich abspielenden Prozess; der Prozess ereignet sich als dynamische Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Medium, die sich auf keine der beiden Seiten reduzieren lässt. Beides verbindet sich im künstlerischen Akt, der sich an der Nahtstelle von Medium und schreibendem bzw. sich schreibendem Subjekt bewegt. Lüthy möchte an den Gemälden Cézannes ausführen, was es 136 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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heißt, Kunstwerke als jenes doppelte Vermittlungsgeschehen zu begreifen. Die Wahl fiel nicht zuletzt deshalb auf Cézanne, weil seine Malerei in einer für diesen Zusammenhang einschlägigen Weise gegensätzlich gedeutet wird. Die einen erkennen in ihr, in der Nachfolge von Merleau-Pontys phänomenologischer Cézanne-Deutung, jene »kopernikanische Wende« der Kunst, die das subjektivierte, im eigenen Leib zentrierte Sehen zum Fundament der Malerei erklärt. Die anderen hingegen, dem formalistischen Moderneverständnis zuneigend, begreifen sie als jene entscheidende, bis weit ins 20. Jahrhundert und in die ungegenständliche Malerei hineinwirkende Offenbarung, dass ein Bild, bevor es irgend etwas darstellt, zunächst einmal eine Oberfläche ist, die von Farben in einer bestimmten Anordnung bedeckt wird. Cézannes Malerei gilt sowohl als Kronzeuge der Subjektivierung als auch der medialen Selbstreferenz der modernen Malerei. Damit aber stellt sich die Frage, ob – und gegebenenfalls warum – nach Lüthy beide Deutungen zugleich richtig sein können. (Lüthy 189–190) Lüthy gibt ohne Zweifel eine wichtige Beschreibung des kopernikanischen Umbruchs für das Kunstverständnis. Allerdings wäre eine Erweiterung der Sicht einzubringen. In Frage steht nicht nur der Dual von Subjektverständnis oder die Eigenständigkeit des Mediums Bild. Denn gerade der genannte Merleau-Ponty ist nicht auf ein Subjektverhältnis zu reduzieren, sondern hat in seiner Auseinandersetzung mit Cézanne zum weiteren und besonderen SubjektWeltverhältnis, zum Selbst-Leibverhältnis, durchgefunden. Es stände also nicht nur das Subjekt – Medium Verhältnis zur Debatte, sondern der Ternar von Subjekt – Welt – Medium. Dieses dreifache Vermittlungsgeschehen erinnert in etwa an die Vermittlungen des Bildsehens bei Imdahl: das »wiedererkennende Sehen« umfasst alles, was das Subjekt (der Betrachter) aus der (Kunst)Welt an Erkenntnis und Wissen mitbringt; das »sehende Sehen« steht für das autonome Sehen des Mediums Bild. Und schließlich antwortet das »erkennende Sehen« auf das Zusammen aller Weisen des Bildsehens. Im Folgenden ist zu fragen, wie sich die kopernikanische Wende bei Cézanne darstellt: Wie konstituiert sich also das Sehen Cézannes in der Situation neu? Zum einen ist aufzuzeigen, inwieweit Cézanne tatsächlich den klassischen »Linearismus« überwindet und welche Alternative er für die neue Bildordnung praktiziert. Ist der neue »Kolorismus« die fällige Antwort? Zum anderen ist zu fragen, wie 137 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Cézanne seinerseits auf die von Lüthy beschriebene Situation des Umbruchs und der daraus erfolgenden Aufspaltung der Kunstrichtungen antwortet. Es ist die Frage, ob Cézanne nicht (wenigstens anfänglich) in der Weise der Ikonik Imdahls antwortet, also im Sinne Merleau-Pontys die Kunstrichtungen von »wiederkennendem Sehen«, »sehendem Sehen« und »erkennendem Sehen« bzw. von Subjekt (Künstler und Betrachter), von medialer Selbstreferenz des Bildes und von ikonischem Zusammen zu verbinden sucht. Boehm gliedert Cézanne auf ähnliche Weise in die Entwicklung der Kunstgeschichte ein: »Ich glaube, man kann die Veränderung, die Cézanne in Gang gebracht hat, im Grunde nicht überschätzen. Und zwar deswegen, weil zum ersten Mal, wenn ich Recht sehe, in der europäischen Geschichte so etwas wie eine Sehbewusstheit sich etabliert hat. Das heißt also die Einsicht, dass bereits das Sehen eine Logik hat. Die ganze europäische Tradition war im Grunde darauf abgestellt, dass die Sinnesvermögen den höheren geistigen Vermögen zuliefern, dass sie nur chaotische Voraussetzungen beinhalten, die dann von höherer Instanz geordnet werden müssen; während es jetzt darum geht, dass die Sinnesleistung selbst schon eine eigene Logik hat und diese Logik gilt es zu entdecken. Und Cézanne gehört zu den großen Vorkämpfern dieser Option« (DLF).

6.2.1 Ordnung des Sehens Bei Cézanne stellt sich die Frage nach der Logik und Ordnung des Sehens. Cézanne war Schüler Pissarros, den er sehr schätzte und der großen Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung hatte. Boehm zitiert eine Lehranweisung Pissarros an seine Schüler, die erhellend für Cézannes Schaffen sein kann und vieles vorwegnimmt, was wir dann als Cézannes Besonderheit ansehen werden. Pissarro empfahl darin dem Maler, zunächst ein Motiv zu suchen, das seinem eigenen Wesen (tempérament) entspreche, um es mehr auf Form und Farbe denn auf Zeichnung zu betrachten. Die Umgrenzung der Form nennt er überflüssig, sie schade zudem dem Gesamteindruck und zerstöre die Empfindungen (sensation). Die Tonstufen des Farbflecks (tache) erzeugen die Gestalt der Dinge, ihre Zeichnung. Der Verzicht auf Umgrenzungen gebe stattdessen dem Binnenwert (der Masse) eine Funktion. Es heißt dann wörtlich: »Hat man ein Motiv gewählt, muß man sehen, was sich rechts und links von ihm befindet, und an 138 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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allem gleichzeitig malen (à tout simultanément). Arbeiten Sie nicht Stück für Stück, tragen Sie überall Farben auf in genauer Beobachtung der Tonwerte im Verhältnis zur Umgebung. Malen Sie mit kleinen Pinselstrichen und versuchen Sie, Ihre Wahrnehmungen sogleich festzuhalten. Das Auge darf sich nicht auf einen bestimmten Punkt konzentrieren, sondern muß alles aufnehmen und dabei die Reflexe der Farben auf ihre Umgebung beachten. Arbeiten Sie nebeneinander am Himmel, Wasser, an den Zweigen und an der Erde, und verbessern Sie immer wieder, bis das Ganze stimmt. Bedecken Sie schon in der ersten Sitzung die ganze Leinwand und arbeiten Sie, bis es nicht mehr hinzuzufügen gibt. Beobachten Sie die Luftperspektive genau vom Vordergrund bis zum Horizont, den Widerschein (reflet) des Himmels und des Laubes. Haben Sie keine Angst kräftige Farben aufzutragen, verfeinern Sie nach und nach die Arbeit. Gehen Sie nicht nach Regeln und Prinzipien vor, sondern malen Sie, was Sie wahrnehmen und empfinden. Malen Sie flott und ohne Zögern, denn es ist wichtig, den ersten Eindruck (impression) festzuhalten. Nur keine Schüchternheit vor der Natur! Man muß kühn sein, auch auf das Risiko hin, sich zu irren und Fehler zu machen. Es gibt nur einen Lehrer: die Natur« [kursiv-KK] (Mont 39 f.). In der Anweisung Pissarros an die Malerei sind einige der wichtigsten Stichworte genannt, die für das Schaffen Cézannes kennzeichnend sein werden: Auszugehen ist von dem »Motiv«, das von der »Natur« ausgeht, auf das »Auge« des Malers trifft und dabei dessen Empfinden (»tempérament«) anregt, um das Gesehene in der Sprache der »Farbe« wiederzugeben (»sensation colorante«). Pissarro legt dabei vor allem Wert auf die »Farbe«, während die »Form« nur sekundäre Funktion hat, und die Farbe nach Art von Tonstufen aufzutragen nahegelegt wird. Mit besonderer Betonung wird dem Maler das ›simul et singulariter‹ empfohlen (»à tout simultanément«). Der Maler hat immer das »Ganze« im Blick zu halten, von Anfang des ersten bis zum letzten Pinselstrich. Es ist die Aufgabe des »Auges«, alle Verhältnisse um das Bild wie Kontexte oder Lufteigenschaften und vor allem die Binnenverhältnisse des Bildes wie die Formen und Farben zugleich im Blick zu behalten, um jeden einzelnen Pinselstrich mit Bedacht, aber auch Mut anzubringen. Wenn wir im Folgenden einmal zuerst darauf achten, wie Cézanne an sein Werk geht, so können wir von dem Prinzip der Ikonischen Differenz »simul et singulariter« ausgehen, d. h. es ist die besondere

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Arbeitsweise des Künstlers, vom Einzelnen, den Differenzen, auszugehen und dabei das Ganze im Blick zu haben.

6.2.2 Nur Farben sind wahr Farbflecken Die Bilder Cézannes bestehen zuerst aus Farbflecken (Mont 80 ff.). Die gesehenen Dinge, sie sind in den Bildern des Malers nur ein Klecks Farbe. Die einzelnen Farbflecke, sie bedeuten für Cézanne nichts. Erst aus dem Gewebe dieser Farbflecke entsteht ein Bild. Und zwischen ihnen, so Gottfried Boehm, befindet sich bei Cézanne alles Unwägbare, Ambivalente und Imaginäre. Rilke sprach in einem Brief nach einem Besuch einer Cézanne Ausstellung von den »wunderbar angeordneten Flecken« 73. Nach dem Zeugnis seines Freundes Joachim Gasquet soll Cézanne selbst gesagt haben, die Natur zeige sich ihm als ein Gefüge von »Flecken«. Auch Badt spricht davon, Cézanne habe geglaubt, es seien ihm die Flecken, die er malte, in der Natur vorgegeben gewesen (Mont 132). Gewiss, »keinem Maler, sei er nun, wer er sei, erscheint die Welt als ein Gefüge von Farbflecken, derart, daß […] er sie auf seiner Leinwand bloß wiederhole«; der Maler »erfindet, schafft, bringt die Flecken mit seiner Phantasie als Ausdrucksmittel für sein Naturbild hervor« (GS3 82). Nicht einhellig in der Kritik ist die Deutung der Cézanneschen Flecken. Badt hat sie verstanden vor allem als eine durchaus künstlerische, von allen außerkünstlerischen Erfahrungsabsichten unabhängige »Grundlegung des Zusammenbestehens der Dinge« und »nicht als die Wiedergabe irgendwelcher Teile dieser Dinge« (Badt 19 f., 131–140). Dagegen hat Sedlmayr die Cézanneschen Flecken als bereits im Außerkünstlerischen gegebene Phänomene der Dingwelt zu verstehen und sie vom »reinen Sehen« her zu erklären geglaubt, nämlich als solche optische Sensationen, die »in der natürlichen Erfahrung« dann sich einstellen, wenn »nur das Auge wach ist, während der Intellekt noch ruht«. Nach Sedlmayr beruht der Zauber solcher Sensationen dann, daß alles »neu« aussieht; »in dem Augenblick« aber, »wo unser helles Wissen sich einmengt, löst diese Er-

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Rilke, Rainer Maria (1952), Briefe über Cézanne. B1–3, Frankfurt 1987, 289.

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scheinung sich auf und der Zauber ist zu Ende« 74. Scharf hat Badt diese negative Deutung verurteilt. Es bleibt jedoch der Hinweis auf das reine Sehen, positiv und mit Fiedler zu sprechen, der Hinweis auf die »Hervorbringung der Welt ausschließlich in Rücksicht auf ihre sichtbare Erscheinung«, und zwar mit dem Anspruch, »daß der Mensch zu einer geistigen Herrschaft über die Welt nicht nur im Begriff, sondern auch in der Anschauung zu gelangen imstande« sei. Die Malerin Mathilde Vollmoeller glaubte angesichts der Bilder Cézannes die Beziehung des Malers zu dem zu malenden Motiv sei ähnlich gewesen: »Wie ein Hund hat er davorgesessen und einfach nur geschaut, ohne alle Nervosität und Nebenabsicht« (GS3 80–81). Diesen Satz hat Rilke ausdrücklich hervorgehoben. Textur Kudielka meint: »Cézanne ist wahrscheinlich der erste Maler, der mit der großen abendländischen Überlieferung des Sehstrahls gebrochen hat, der Vorstellung, die sowohl die Optik wie die Malerei seit der Renaissance bestimmt hat: dass unser Sehen linear gerichtet ist. Genauso wie der Lichtstrahl selber, so blicken wir. Und so ist ja auch die Zentralperspektive entstanden.« Cézanne, so der Berliner Kunstwissenschaftler, hat die perspektivische Ordnung der Dinge aufgegeben zugunsten wechselnder Ansichten und Details. Wenn er malte, dann versuchte er an möglichst vielen Stellen eines Bildes gleichzeitig zu arbeiten, um unterschiedliche Blickwinkel und Einzelaspekte einer Szene zeitgleich erfassen zu können. Die Umstellung der Perspektive hatte eine Umstellung des Malens zur Folge. Die perspektivische Ordnung war nicht mehr die Vorlage. Was Cézanne malte, war ein Teppich von Farbflecken, die zu Flächen und Sequenzen moduliert wurden. (Mont 93) Badt gibt uns einen Eindruck des Schaffens. 75 Er bringt das Schaffen Cézannes auf den Begriff der »Grundlegung des Zusammenbestehens der Dinge«: Cézanne komponiert einen Bildzusammenhang nicht mehr aus einzelnen Dingen, sondern aus lauter kleinen Farbflecken, die das Gegenständliche erst aus sich hervorbringen und das auch nur so weit, wie es für den Zusammenhang des Ganzen und dessen Sinngehalt notwendig ist. Aber es ist eine ganz andere, durchaus nicht impressionistische Struktur, die aus den Farbteilchen 74 75

Sedlmayr, Verlust, a. a. O., 125. S. (Badt 19, 25 ff., 131–140).

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eine Bildeinheit in Fläche und Raum macht. Es ist kein lockeres, spannungs- und richtungsloses Gewimmel von Farbpunkten, kein beweglich schwebender Farbenschleier, sondern es ist ein lückenlos dichtes Gefüge aus rhythmischen Reihen von horizontal, vertikal, diagonal gerichteten kurzen Pinselzügen, ein Ganzes aus Farbstufungen und Kontrasten, die sich konstruktiv verflechten und überlagern; und aus dieser Komposition im Kleinen wird die Komposition im Großen und werden schließlich auch die gegenständlichen Zusammenhänge erzeugt. Da das Gefüge kein lockeres Gewebe mehr ist, erweckt es auch nicht die Illusion von Licht und Atmosphäre, es stellt überhaupt nichts Stoffliches und Vergängliches mehr dar. Es bildet »eine Harmonie parallel zur Natur« (Gasquet 9), kein Farbfleck ist auf stoffliche Qualitäten von Naturgegenständen darstellerisch bezogen, sondern alle Teile sind bestimmt von ihrer Funktion in der Farbkomposition. Jeder Fleck geht zwar zurück auf eine Sinnesempfindung vor der Natur, une sensation colorante, aber jede dieser Wahrnehmungen wird sofort übersetzt in ein Gefüge aus Farbtonstufungen, durch die den Dingen eine höhere Realität, ein Daseinssinn zuteil wird, dadurch, daß die Gegenstände aus der Farbe überhaupt erst hervorgebracht werden. Jeder Farbfleck ist als solcher eine kleine Farbfläche. Die Kleinstruktur aus Flecken ist ein lückenloser Zusammenhang in der Fläche, ein Geflecht, in dem es, wie Cézanne unterstreicht, »keine lockere Masche geben darf, kein Loch, durch das die Wahrheit entschlüpft« (Gasquet 8). Die Fläche behauptet sich als selbständiges, einheitliches »Gebilde« (Novotny), das nicht von den Formen und Erscheinungsqualitäten der dargestellten Objekte abhängt (Gasquet 113–114). Modulieren (Mont 85–87, 100–102) – Aber wenn dieses »Gebilde« eine Welt körperhaft-räumlicher Objekte hervorbringen soll, dann muss es, trotz seinem Flächencharakter, Körper- und Raumvorstellung repräsentieren. Wie kann das geschehen? Cézanne antwortet: durch Farbmodulationen. Er kritisiert scharf das mangelhafte Modellieren bei Gauguin und seinem Kreis und bei den Neoimpressionisten (Gasquet 37, 26). Er selbst will nicht einzelne Gegenstände modellieren, sondern die Farbstufen des ganzen Gebildes so modulieren, dass es ein lückenloses Gebilde wird und doch eine körperräumliche Welt aus sich hervorgehen lässt. 76 Cézanne »modelliert« nicht, sondern »moduliert« (Gasquet 37, 75, 114, 116 f.); (Mont 85–87; 100–102); (Badt 31 ff.).

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Lüthy stellt die Bedeutung der »Modulation« im Sinne Cézannes heraus. Mit dem Prinzip der Modulation kontrastierender Flecken habe Cézanne die klassische Bildordnung Punkt für Punkt durchkreuzt. Die symbolische Ordnung des klassischen Bildes gründete in einer Metaphysik der Schönheit als Angemessenheit und Proportion. Kompositorisch manifestierte sich dies als Hierarchie von Teil und Ganzem, Zentrum und Peripherie, Vorne und Hinten, Hell und Dunkel. Im Mittelpunkt des Gemäldes, buchstäblich und metaphorisch, stand der »Bildheld« und spielte sich das Hauptgeschehen ab, während die Peripherie und der Hintergrund des Bildes als Echo und Bestätigung des Hauptgeschehens dienten. Gleichzeitig wurde das Bild als Durchblick (»prospectus«, »prospectiva«) aufgefasst. Der Blickpunkt des Betrachters und der Fluchtpunkt des Bildes standen dabei in einem unumkehrbaren Verhältnis zueinander, allein schon deshalb, weil der räumliche Durchblick mit der geforderten Prägnanz und Lesbarkeit der Darstellung verbunden war. Bei Cézanne hingegen überwiegt das Heterogene das Homogene, das Offene das Geschlossene, die Peripherie das Zentrum, die Zerstreuung die Konzentration (Lüthy 199). 77

6.2.3 Geometrie Pissarro empfahl dem Maler, zunächst ein Motiv zu suchen, das seinem eigenen Wesen (tempérament) entspreche, um es mehr auf Form und Farbe denn auf die Zeichnung hin zu betrachten. Die Umgrenzung der Form nennt er überflüssig, sie schade zudem dem Gesamteindruck und zerstöre die Empfindungen (sensation). Die Tonstufen der Farbflecke (tache) erzeugten die Gestalt der Dinge, d. i. auch ihre Zeichnung. (Mont 39 f.) Die Zeichnung muss also aus der Farbe resultieren, wenn man will, dass die Welt in ihrer Dichte wiedergegeben wird, denn sie ist ein einziges lückenloses Gebilde, ein Organismus von Farben, durch die hindurch sich die Flucht der Perspektive, die Konturen, Geraden und Kurven als Kraftlinien konstituieren. »Die Zeichnung und die Farbe

Zur »Matrix« des Bildraums: Tiefe, Nähe, Licht und Schatten, Oben Unten, fest beweglich (Mont 101 ff.). Die Matrix des Bildes mit dem Motiv zu vereinen waren ein Grund des problematischen Realisierens Cézannes (Mont 102).

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sind nicht mehr voneinander zu trennen; in dem Maße, wie man malt, zeichnet man; je mehr die Farbe harmoniert, um so präziser wird die Zeichnung. Im Reichtum der Farbe erreicht die Form ihre Fülle« (AG 12). Von daher ist auch die rätselhafte Aussage Cézannes zu verstehen. »Der Natur nach Grundformen von Zylinder, Kugel und Kegel behandeln, das Ganze perspektivisch geordnet, so daß jede Seite eines Gegenstandes, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt. Die dem Horizont parallel laufenden Linien ergeben die seitliche Ausdehnung, d. h. einen Ausschnitt der Natur, oder wenn Sie lieber wollen, des Schauspiels, das der Pater omnipotens aeterne Deus vor Ihren Augen ausbreitet. […] Alles, was ich Ihnen erzähle, der Kegel, der Zylinder, der konkave Schatten, das sind eben meine Steckenpferde, sie bringen mich an einem Morgen der Müdigkeit in Schwung, setzen mich in Erregung. Ich vergesse sie schnell, sobald ich sehe« (Gasquet 22). »Alles in der Natur modelliert sich wie Kugel, Kegel und Zylinder. Man muß auf Grund dieser einfachen Formen malen lernen, dann wird man alles machen können, was man will« (Gasquet 22, 76). 78

Diese Aussage erscheint aufs Erste verwirrend, hat Cézanne doch selbst gesagt, dass er nicht geometrisch vorgehe, sondern die Farbflecke auf andere Weise anordne. Allerdings fährt er fort, dass ihn die geometrischen Formen anfänglich in Schwung brächten, ihn sozusagen auf Ideen bringen, was auch der Sinn seiner Vor-»Zeichnungen« sein dürfte, er dann aber bei seinem Schaffen einen anderen Weg geht. Allerdings fügen sich ihm die Farbflecken – danach sucht er – von selbst zu »Formen«, Grenzen und Gestalten, zu »Physiognomien«. Lüthy bringt die Aussagen Cézannes auf einen plausiblen Nenner: »Die Bausteinfunktion konnten sie (die Farbflecken) deshalb erfüllen, weil sie verschiedene Dualitäten in sich aufhoben. Jede ›tache‹ ist Form und Farbe, Malerei und Zeichnung, Licht und Dunkelheit, materieller Rohstoff und Form in einem« (Lüthy 199). Cézanne fährt fort, und korrigiert zugleich den zunächst möglichen Eindruck des »Linearismus«:

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S. (Mont 109), (Badt 121–122).

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»Die zu diesem Horizont senkrecht stehenden Linien ergeben die Tiefe. Für uns Menschen ist die Natur aber mehr in der Tiefe als an der Oberfläche, daher die Notwendigkeit, in unsere Lichtschwingungen, die wir durch rote und gelbe Töne ausdrücken, eine genügende Menge Blau einzufügen, um die Luft fühlbar zu machen« (Gasquet 22).

Es bleibt der Eindruck, dass Cézanne an der Aufgabe der neuen Bildordnung, die ihm vorschwebte, und der (perspektivischen) Sehordnung noch arbeitete. Ein gewisses Schwanken seiner Einstellung lässt sich aus der dann folgenden Aussage herauslesen: »Ich verheimliche es nicht, auch ich bin Impressionist gewesen. Pissarro hat einen ungeheuren Einfluß auf mich gehabt. Aber ich habe aus dem Impressionismus etwas Festes und Beständiges machen wollen, wie die Kunst der Museen« (Gasquet 23, 75, 114). – Die neue Sehordnung stand Cézanne klar vor Augen. Er erkannte aber auch die Gefahr, dass diese zur Auflösung der Naturordnung neigte, wie er es bei den Impressionisten wahrnahm. Deshalb wollte er durchaus malen, was er sah, die »sensations colorantes«, aber nicht nur im Sinne des Impressionismus, sondern in der Art, dass er sich zugleich zur Klassik bekannte, er »in Harmonie parallel zur Natur« malen wollte.

6.2.4 Neue Sehordnung Neue Bildidee Der Artikel Zweifel Cézannes von Merleau-Ponty ist auf dem Weg zu einer neuen Bildidee. Cézanne ist eine Epochenfigur, nicht, weil er am Bild Wichtiges verändert hätte, sondern weil er ihm insgesamt neue Regeln gibt. Damit werden Äquivalenzen zwischen Malerei und Wirklichkeit begründet, die jenseits aller Abbildlichkeit liegen, die darauf zielen, das Original der Realität durch ein sekundäres Abbild wiederzugeben. Das Bild selbst hat Erkenntniswert, es ist so gut eine Probe auf die Wirklichkeit wie die von Wissenschaft oder Alltagswissen. Merleau-Ponty war schon lange von der geistigen Wendung des Spätwerkes Cézannes angezogen worden. Der Zweifel Cézannes – »Le doute de Cézanne« lautete der Titel seines Essays von 1945 (AG 3–28). Worin bestand der Zweifel? Der Zweifel bestand in dem, was wir sehen, und in dem Rätsel, wie und was Cézanne sah. Das herkömmliche Modell der Bildtafel, das vom späten Mittelalter bis

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ins 19. Jahrhundert kaum bestritten war, verlor seine Selbstverständlichkeit und blieb nicht länger ohne Alternative. Ihm eignete die Orientierung an einem Fenster (finestra aperta), das einen fiktiven, aber stabilen Bildraum öffnet. Frontalität ist dabei seine bestimmende Eigenschaft. Der Betrachter steht nicht nur vor der Fläche des Bildes, sondern auch vor einer ›dargestellten‹ Bildwelt. Die Frontalität des Blickes ist dabei als Regel vorgegeben, ist das Bauprinzip des Bildes. Alles Dargestellte zeigt sich in einer Abfolge des gerichteten Hintereinander, wobei die vorderen Dinge die hinteren verdecken. Nähe und Tiefe erweisen sich unter diesen Bedingungen als unumkehrbar. Der Horizont – alles andere als offen – wurde, vermittels des perspektivischen Fluchtpunktes, zu einem konstruktiven Mittel, um den Zusammenhalt der Bildordnung zu garantieren. Die Tätigkeit des Auges reduziert sich zu einem Sehstrahl, der leicht in die geometrische Form einer Sehpyramide übersetzt werden kann. Das Sehen wird zum passiven Operator einer festliegenden Bildordnung, die im Prinzip messbar und deshalb auch konstruktiv zu simulieren ist. Das Bild als Durchblick (pro-spectus, pro-spettiva) ist schon von sich her ein treffendes Modell für das Bewusstsein, dessen Selbstbeziehung zwischen den Polen des Augenpunktes und des Fluchtpunktes im Horizont liegt. Merleau-Ponty sollte später im dritten Abschnitt des Essays Das Auge und der Geist die cartesischen Implikate dieses Bilddenkens eigens herausarbeiten und seine begrenzte Tragweite darlegen (AG 278 ff.). Aber schon jetzt steht fest, dass die ganze Beweglichkeit des Sehens aus einem solchen Bildbewusstsein verschwindet. Der Sache nach – und Merleau-Ponty verdeutlichend – lassen sich die Zweifel Cézannes anschaulich begründen, die man mit den Bildern machen kann. Man bemerkt bei Cézanne nicht nur die Abschwächung der Perspektive, sondern auch das Auftreten von Inversionen, d. h. was dem Motiv nach fern ist, kann gleichzeitig auch als nah gesehen werden und umgekehrt. Nähe und Ferne verlieren ihren eindeutigen Stellenwert in einem gerichteten Hintereinander, sie werden austauschbar. Der »Bildraum« büßt seine unterscheidbare Eigenexistenz ein, er wird zu einem veränderlichen Teppich von ›taches‹, einem aktivierten Bildgrund aus offenen, zeitbestimmten Texturen. Der Bildraum als eindeutige Folgeordnung der drei Bildgründe verschwindet zugunsten eines »Zeitraumes«. Das Ergebnis dieses neuen Konzeptes ist die Relativierung der Frontalität als der das Bild beherrschenden Struktur. (Logos 293). Cézanne hat diesen zentralen Gedanken seiner künstlerischen 146 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Arbeit auch vielfach metaphorisch umschrieben. Die Metaphern suchen vor allem festzuhalten, wofür wir kaum Worte haben: dass das Auge den Dingen nicht nur gegenüber ist, sie nicht nur mit dem Sehstrahl abtastet, sondern so in ihnen ist wie die Dinge in ihm; dass Bilder nicht nur eine Objektwelt in Distanz entwerfen, sondern auch eine, in der das Tun der Wirklichkeit selbst sichtbar wird, sie als eine andere Art von Subjektwelt erscheint. Tiefe – dritte Dimension Merleau-Ponty entdeckt bei Cézanne die Dimension der Tiefe. Die gewohnte Malerei ist für ihn nur ein Trick, der unseren Augen eine ähnliche Projektion darbietet wie die, welche die Dinge für uns in der gewöhnlichen Wahrnehmung haben. Sie lässt uns in Abwesenheit des wirklichen Gegenstandes diesen so sehen, wie man ihn im Leben sieht, und vor allem lässt sie uns einen Raum dort sehen, wo keiner ist. Das Gemälde ist ein flacher Gegenstand, der uns durch einen Trick darbietet, was wir in Anwesenheit unterschiedlich hervorgehobener Dinge sehen würden. Es sind die Dimensionen der Höhe und Breite, die dem zweidimensionalen Bild fehlen. Dazu die »Tiefe«, sie ist die von den beiden anderen abgeleitete »dritte Dimension«. Die Tiefe, die dritte Dimension, hat etwas Paradoxes: Ich sehe Gegenstände, die sich verdecken, die ich also nicht sehe, da sie ja hintereinander stehen. Ich sehe sie, und doch sind sie nicht wirklich sichtbar. Dieses Geheimnis ist keines, denn ich sehe sie nicht wirklich, oder wenn ich sie sehe, handelt es sich um eine andere Breite. Auf der Linie, die meine Augen mit dem Horizont verbindet, verdeckt der Vordergrund stets alle anderen Teile, und wenn ich von der Seite her die gestaffelten Gegenstände zu sehen glaube, liegt dies daran, dass sie sich nicht ganz und gar verdecken. Ich sehe sie also, den einen außerhalb des anderen, nach einer anders bemessenen Breite. Man ist immer diesseits oder jenseits der Tiefe. Niemals sind die Dinge eines hinter dem anderen. Das Überlagern und das Verbergen der Dinge gehen nicht in ihre Definition ein. In allem, was sie an Positivem haben, sind sie nur Gedanken, die ich bilde, nicht aber Attribute der Dinge. Cézanne sagt dazu, er wisse, daß im selben Augenblick ein anderer Mensch, von einem anderen Ort her – besser noch: Gott, der überall ist –, in ihr Versteck dringen könnte und sie voll entfaltet sehen würde. An dieser Stelle spricht er davon, wir sehen nur »einen Ausschnitt der Natur, oder wenn Sie lieber wollen, das Schauspiel, das der 147 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Cézanne

Pater omnipotens aeterne Deus vor Ihren Augen ausbreitet […] Ich beziehe mich auf die Vernunft des Pater Omnipotens« (Gasquet 22). Und weiter: »Was ich Tiefe nenne, ist nichts, oder ist meine Teilhaben an einem Sein ohne Einschränkung und zunächst am Sein des Raumes jenseits jeden Gesichtspunktes. Die Dinge überlagern sich gegenseitig, weil das eine außerhalb des anderen ist. Der Beweis dafür ist, daß ich eine Tiefe sehen kann, wenn ich ein Gemälde betrachte, das, wie jedermann bestätigen wird, keine hat, und das für mich die Illusion einer Illusion hervorruft« (AG 292–294). 79 Cézanne geht es um die »Treue zu den Phänomenen« (Sinne 142). Zwar liegt auch für Sedlmayr ein Zauber der Cézanneschen Malerei darin, dass alles »neu« aussieht, in dem Augenblick aber, wo unser helles Wissen sich einmengt, löse sich die Erscheinung auf und der Zauber sei zu Ende. Er vermisst bei Cézanne gerade die Treue zu den Phänomenen. Denn – und das ist Sedlmayrs entscheidende Begründung – es fehlen in Cézannes Bildern die Hinweise auf die »vorgewussten« Dinge, so fehlt ihm besonders das Gerüst der in das Sichtbare hineingetragenen »wissenschaftlichen« Perspektive. Bei Cézanne fehlt nach Sedlmayr mit anderen Worten die Zentralperspektive. Zum anderen aber hält Sedlmayr Cézannes Malerei für malerisch, ja für die malerischste überhaupt. 80 Sedlmayrs Stellungnahme bezeugt, wie ungewöhnlich Cézannes Bildsehen zu seiner Zeit war. (GS3 144) Auge und Geist Für Paul Cézanne sollte das Sehen mehr sein als nur das optische Abtasten einer Oberfläche. Cézanne wollte von der Wirklichkeit keine fotographischen Abbilder liefern. Er stellte vielmehr die Frage: Was geschieht mit uns, wenn wir ein Bild sehen? Seine Kunst handelt fast ausschließlich vom Sehen und von der Wahrnehmung. Cézannes Treue gegenüber dem Auge und die Genauigkeit seines Blicks, so Gottfried Boehm, verwandelte die versteinerte Wirklichkeit wieder zu etwas Offenem. In seiner Malerei erscheinen die Dinge deshalb oft wie erneuert, so als würden sie eben erst entstanden sein. (Mont 105 ff.)

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Zu Nähe und Ferne s. (Mont 97). Sedlmayr, Verlust, a. a. O., 97 ff.

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Kudielka findet den Grund für diese Treue und Offenheit zu den Phänomenen in der Beweglichkeit des Bildsehens Cézannes: »Cézanne hat in der Wahrnehmung vor der Natur draußen gesehen, wahrgenommen, dass unser Sehen selber beweglich ist, so beweglich wie unsere Eindrücke auch sind. Und zwar nicht in der Weise, dass wir den Kopf hin und her bewegen, sondern dass das Sehen eine Tätigkeit ist, die in großen Sprüngen unwillkürlich vollzogen wird, sakkadischen Sprüngen sagt man heutzutage dazu, und die das den Sehstrahl, die gerade Linie verunsichernde Moment haben, dass unsere Blickachse innerhalb von einer Sekunde drei bis viermal umbricht, bis zu 20 Grad. Und diese Mobilität des Sehens ist zum ersten Mal wirklich realisiert worden in den Bildern von Cézanne« (DLF). Cézanne geht es um die »Treue zu den Phänomenen«. Diese hängt vom rechten Sehen und vom Auge des Betrachters ab. Cézanne entdeckt, dass es vor der geometrischen und der photographischen Perspektive bereits eine gelebte Perspektive gibt. So sieht das von der Seite betrachtete Kreisrund eines Tellers nicht wie eine Ellipse aus, vielmehr oszilliert es um eine Ellipse, ohne eine zu sein. Von einer Verzerrung der Perspektive sprechen hieße ein Schema anwenden, das dem gewöhnlichen Kameraauge gemäß ist, nicht aber dem leiblichen Auge. Der Blick entdeckt, wie ein Teller sich zur Seite neigt. Der Tisch von Gustave Geffroy erstreckt sich bis an den unteren Bildrand, doch wenn unser Auge über eine große Oberfläche wandert, ändert sich ständig der Blickwinkel und die Oberfläche als ganze krümmt und verzieht sich (PW 369) Die Einheit und Konsistenz der Dinge besteht für den Maler Cézanne nicht in einem fixen Substrat oder einem festen Gegenstand oder einer Substanz, das allen Eigenschaften des Dinges zugrunde liegt, sondern in einem einzigartigen Akzent, einer Symbolik, die allen Dingen eigen ist, so etwa die Zerbrechlichkeit, Starrheit und Durchsichtigkeit eines Trinkglases. »Sieht ein Kranker den Teufel, so sieht er auch seinen Geruch und Flammen und Rauch, da die Bedeutungseinheit Teufel die jenes beißend-schwefelig-feurigen Wesens ist.« Ähnliches hat Cézanne im Sinn, wenn er selbst noch den Geruch einer Landschaft bildlich einzufangen sucht. Merleau-Ponty zitiert Hedwig Conrad-Martius, die von einer Selbstkundgabe des Gegenstandes spricht: Eine Farbe ist wie das »Herausgehen des Dinges aus sich selbst«. Der Blick, der von den Dingen initiiert wird, deutet sich hier bereits an (Sinne 142–143).

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Abb. 4, Paul Cézanne: Stillleben mit Früchtekorb, 1886 (Schema nach Erle Loran) 81

Das Bild ist 1888–1890 entstanden. Es ist ein Diagramm der verschiedenen Perspektiven auf das Stillleben in Farbe (s. ähnliches → Abb. 6, S. 467 mit gleicher Komposition). Es sind unterschiedliche Blickperspektiven aus verschiedenen Richtungen und Höhen (s. Augen I, Ia, II, IIa rechts). Es ist ein Zimmer mit einem Tisch, worauf ein Tuch und diverse Früchte liegen, abgebildet. Es ist eine Momentaufnahme, es sind keine Personen oder Bewegungen zu sehen. Zum Bild – Im Vordergrund des Bildes (bzw. des gemalten Stilllebens) ist ein weißes Tuch zu sehen, auf dem Früchte liegen. Im Mittelpunkt sind ein Korb mit Früchten und eine Vase zu erkennen. Dominierende Formen sind der große Korb mit Früchten, in der Bildmitte der runde Krug (F), dann eine kleine Zuckerdose (D) und ein Kännchen (E). Im Hintergrund sieht man ein Zimmer mit Tischen, Stühlen und einem Wandbehang. Ein dominierender Bildgegenstand ist der dunkelbraune Tisch (A). Zum Raum – Der Raum des Bildes ist mit den Früchten sehr ausgenutzt, nur links und oben ist etwas Freiraum zu erkennen. Der Früchtetisch scheint den Raum wie eine Barriere zuzustellen. Das Bild ist sowohl dreidimensional in seiner Wirkung, aber immer wieder auch zweidimensional, durch die leicht verschobene Linienführung und die nicht logisch ineinandergreifenden Vorder- und HinterAus: Loran, Erle (1963), Cézannes Composition. Analysis of his form, with diagrams, Los Angeles; in: Kurt, Leonhard (1982), Cézanne, Hamburg 37.

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grundlinien. Das entspricht unserem Sehen: wir sehen zweidimensional und frontal, aber mit dreidimensionaler Wirkung. Dadurch ist der Raum zwar naturalistisch, aber dennoch verzerrt dargestellt. Zu der Besonderheit von Cézannes Darstellung – Cézanne gebraucht ein einfaches Darstellungsmittel, das es vor ihm in der Geschichte der Malerei noch nicht gegen hat, das aber nach ihm bis auf unsere Tage zu einer unvergleichlichen Entfaltung gekommen ist. Das Diagramm macht dies anschaulich. Das Diagramm zeichnet vier unterschiedliche Augen- bzw. Blickpunkte auf. Die geflochtene Vorderwand des Obstkorbes, die Zuckerdose links und das Kännchen rechts, sind etwa von der gleichen Augenhöhe gesehen (I); auf die Öffnung des Kugeltopfes, die Tischplatte und die Oberseite des Korbes blickt aber das Auge von einem sehr viel höheren Punkt (II). Dadurch wird die dreidimensionale eigentliche Gestalt der Dinge stärker erfassbar, zugleich aber eine engere Bindung ihres räumlichen Daseins an die zweidimensionale Ebene erreicht. Alles was in die Tiefe flieht, wird wie eine Falltür nach vorn in die Höhe gezogen, die Ferne in greifbare Nähe gerückt. Das betrifft auch die Tiefen des Hintergrundes. Nicht weniger wichtig ist die seitliche Verschiebung des Standpunktes. Während die Vorderfront des Korbes leicht von links vorn gesehen wird (Ia), entfaltet der Henkel seinen Bogen unter einem viel weiter rechts liegenden Gesichtswinkel (IIb). Hier liegt der geschichtliche Ausgangspunkt der Doppelansichten, die Picasso und Braque später in ihre Bilder einführen. Ferner ist die Linksneigung der Vertikalen für Cézanne bezeichnend: das Kännchen und die Zuckerdose kippen ebenso stark von rechts nach links (DE) wie der Kugeltopf von hinten nach vorne (F). Diese beiden Bewegungen sind in den meisten Bildern Cézannes mehr oder weniger bestimmend für die Dynamik des Bildraumes; das Gefälle von rechts nach links und die Aufrichtung von hinten nach vorn. Da jedoch andere vertikale Linien als feststehende Achsen durch das ganze Bild durchgeführt sind, entsteht jene Wechselwirkung von Statik und Dynamik, die für Cézannes Bildbau entscheidend sind. Dieses Verfahren, d. h. mehrere Ansichten bzw. Perspektiven auf ein Mal darzustellen, ist typisch für die Darstellungen Cézannes. Der Blick geht aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich auf die Dinge. Oft stellt er die vorhandenen Gegenstände in verschiedenen Perspektiven dar, so dass mehrere Ansichten auf einen Blick ermög151 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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licht werden. Blickbewegungen erzeugen Spannungen, bringen die Dinge in Bewegung, regen Sehprozesse an. Das Bild beginnt zu erzählen. Es ist die Antwort Cézannes auf die klassische Zentralperspektive. Ulrike Becks-Malorny schreibt in ihrer 1995 publizierten Monografie zu Cézanne, dass Cézanne in seinen Bildkompositionen jeglichen »Eindruck von Künstlichkeit« bzw. »einer perfekten Illusion« vermeiden will und deshalb sich zum Beispiel Holzklötze oder Bücher bedient, mit deren Hilfe er die Gegenstände in »Schrägstellung« versetzt, damit der Betrachter weiß, dass es keine Illusion ist, die er dort auf dem Bild sieht, sondern die Wirklichkeit. 82 Denn im Grunde genommen ist »die erlebte Perspektive, nicht diejenige unserer Wahrnehmung.« Es ist eher »die geometrische oder photographische Perspektive: In der Wahrnehmung erscheinen die nahen Gegenstände kleiner, die fernen größer als auf einer Photographie (…). Zu behaupten, ein von der Seite betrachteter Kreis sähe wie eine Ellipse aus, heißt der wirklichen Wahrnehmung das Schema dessen zu substituieren, was wir sehen müssten, wenn wir eine Kamera wären: In Wirklichkeit sehen wir eine Form, die um die Ellipse herum oszilliert, ohne eine Ellipse zu sein«, stellt Maurice Merleau-Ponty fest (AG 10). Folglich ist es, nach Becks-Malorny Auffassung, Cézanne möglich, dank dieser »verzerrten Perspektiven, Tiefenräumlichkeit zu suggerieren« und »gleichzeitig die Zweidimensionalität der Bildfläche zu betonen.« Dadurch gelingt es Cézanne ebenfalls »eine völlig neue Art gegenständlicher Darstellung im Raum [zu erreichen], das Stillleben neu auf der Basis der Zweidimensionalität zu erfinden und ihm Raumtiefe zu verschaffen, allein durch künstlerische Mittel.« Dieses gelingt Cézanne vor allem, da er den Raum als »das Substrat, aus dem die Dinge entstehen, in dem sie aber auch Zusammenhang erfahren«, betrachtet. Das Bild wirkt insgesamt leicht disharmonisch, die Farbwirkung ist übersteigert und spannungsreich. Ebenso verunsichernd wirkt die ganze wacklige Komposition, ein merkwürdiger Widerspruch zwischen harmonischem Bildmotiv (Stillleben) und der Art der Darstellung, die ganz und gar nicht still ist. Dies sind schon erste wichtige Darstellungsformen des Expressionismus, dem es eher auf starken Ausdruck gesteigerte Farben und damit auf ein spannungsreiches InS. Becks-Malorny, Ulrike (1995), Paul Cézanne, Wegbereiter der Moderne, Köln, 55–57.

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nenleben verweisend ankommt. Es ist ein häufig in der Malerei verwendetes Motiv (das Früchtestillleben) und wird verwendet, um es zu verfremden d. h. nicht in seiner friedlichen natürlichen Schönheit darzustellen. Sondern es ist Ausdruck eines spannungsreichen Innenlebens. Warum unterschiedliche Perspektiven? Cézanne gibt darauf selbst Hinweise: »Ich möchte dir sagen«, schreibt er an seinen Sohn, »daß ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, daß bei mir jedoch die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr schwierig ist. Ich kann die Intensität, die sich vor meinen Sinnen entfaltet, nicht erreichen, ich besitze diesen großartigen Farbenreichtum nicht, der die Natur beseelt. Hier, am Ufer des Baches, vervielfachen sich die Motive, das gleiche Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein Studienobjekt von stärkstem Reiz und von solcher Mannigfaltigkeit, daß ich glaube, mich über Monate beschäftigen zu können, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich bald mehr nach rechts, bald mehr nach links beuge« (Gasquet 80). Und Rilke erweitert die Sicht auf das neue Bildsehen: »Bei der dunkelsten Farbigkeit einsetzend, deckte er ihre Tiefe mit einer Farblage, die er ein wenig über sie hinausführte und immer so weiter, Farbe über Farbe erweiternd, kam er allmählich an ein anderes kontrastierendes Bildelement, bei dem er, von einem neuen Zentrum aus, dann ähnlich verfuhr. Ich denke mir, daß die beiden Vorgänge […] sich gegeneinander stimmten, daß sie sozusagen zugleich zu sprechen anfingen, einander fortwährend ins Wort fielen, sich beständig entzweiten. Und der Alte (Cézanne) ertrug ihren Unfrieden […]« (Kunst 224).

Lühty weist auf eine interessante Eigenheit bei Cézanne hin. 83 Er nennt einen weiteren wichtigen Grund für die Treue zu den Phänomenen, die nicht nur durch offene Augen, sondern durch die leibhafte Nähe des Motivs zum Künstler ermöglicht wird: Das zwischen Künstler und Welt vermittelnde Medium war für Cézanne das Licht. Zugleich aber war er sich bewusst, dass dieses im Bild nicht reproduziert, sondern nur durch etwas anderes, durch Farbe, dargestellt werden konnte. Aufgrund dieser Eigenart, »durch anderes« zu repräsentieren, besteht eines der Geheimnisse von Cézannes Malerei in der Überlagerung von »Sehen« und »Berühren«. Wie schon die AmLüthy, Michael (2006), »Subjektivität und Medialität bei Cézanne – mit Vorbemerkungen zu Dürer, Kersting und Manet«, in: Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, hrsg. von Michael Lüthy und Christoph Menke, Berlin 2006, S. 189–207.

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bivalenz der Begriffe »motif« und »sensation« zeigt, war das Gesehene für Cézanne immer zugleich dasjenige, was ihn im Inneren »berührte«. Ähnlich Imdahl, der den Betrachter immer wieder als »Betroffenen« bezeichnet, also als einen, der von dem Motiv getroffen bzw. betroffen ist. Wurde das Gesehene dann als Bild realisiert, entstand dieses aus lauter einzelnen kleinen »Berührungen« der Leinwand. Lühty weist auf die austauschbare Verwendung von »tache« und »touche«. Tatsächlich sind »tache« (»Fleck«) und »touche« (»Pinselstrich«) auch etymologisch verwandt, während »touche« von »toucher (berühren)« kommt und so die Bedeutung der »Berührung« mit sich führt. (Gasquet 62, Mont 51). Merleau-Ponty spricht von »Leibbewusstsein« oder von »Körperschema«. Dieselbe Überblendung zeigt sich in Cézannes Beschreibung seines Sehens. Er wünschte sich, »Der Künstler muss eine lichtempfindliche Platte sein, auf der sich die Landschaft abzeichnet.« Cézanne wollte ebenso präzise wahrnehmen können wie eine photografische Platte. Mit dem Vergleich des eigenen Sehens mit einer photografischen Apparatur griff er aber gerade nicht auf den naheliegenden Vergleich von Auge und Kameraobjektiv zurück. Vielmehr verglich er die photografische Platte und das Gehirn. Das Gehirn steht dabei für Reflexion; die photographische Platte vertritt eine andere Art der Speicherung und Wiedergabe des Sehens und des Gesehenen. Auge und Geist wird ein reflexives Vermögen zugesprochen, aber auf unterschiedliche Weise. Der Maler aus Aix will die Natur, die sich nicht von selbst offenbart, realisieren. Die Wirklichkeit dokumentiert sich für ihn in Sehdaten. Cézanne wird konkret in einem Brief aus Aix, den 26. Mai 1904: »Plaudereien über Kunst sind fast zwecklos. Der Literat drückt sich durch Abstraktionen aus, während der Maler mit Hilfe der Zeichnung und der Farbe seine Empfindungen und Wahrnehmungen konkretisiert. Man muß das, was man vor sich hat, durchdringen und beharrlich fortfahren, sich so logisch wie möglich auszudrücken.« Sich so logisch wie nur möglich auszudrücken, das ist Cézannes künstlerisches Diktum: alles muss gewissermaßen durch das Nadelöhr des Auges. Es ist nicht die Logik des Gehirns, sondern des Auges, aber es ist nicht desto weniger Logik, nur anders. 84 Er spricht von den ›sensations colorantes‹, von den farbigen Eindrücken im Akt des Sehens. Zur Logik der Augen (Gasquet 20, 23). Das heißt nicht, dass Cézanne das Irrationale anstrebe. Im Gegenteil: Auge = Geist (Gasquet 80).

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Dabei zeigt sich: »Jedes reflexive Modell wird scheitern, ›sich selbst sehen zu sehen‹. Denn gegenüber der Unmittelbarkeit der Berührung wird jedes ›sehende‹ Bewußtsein [scheitern …] oder anders formuliert: Das Gehirn sieht nicht« (Lühty 200 f.). Der Maler unterwirft sich der Logik der Farben, nicht der des Gehirns. Denn nur die Farbe ist für Cézanne der Ort: »wo sich unser Gehirn und das Weltall begegnen.« (Gasquet 12)

6.3 Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation« Lüthy nennt eines der großen Rätsel, vor die Die Kunst Cézannes stellt. Es ist das »Realisieren«, das Cézanne immer wieder anstrebte: »Es wird nie genau zu bestimmen sein, worin das Ziel von Cézannes ›réalisation‹ bestand – jenes ›Realisierens‹, als das er seine malerische Tätigkeit begriff und dessen Verfehlen er bis zu seinem Lebensende fürchtete« (Lüthy 196). Im Vorgriff auf das Kommende kann das Realisieren mit dem Vorgang ineins gesehen werden, das »Sichtbare« in das »Sichtbarmachen« zu transponieren, d. h. durch den bildnerischen Weg durch das Sichtbare hindurch, das Nicht-Sichtbare, aber Gründende, der Natur usw. ins Bild zu bringen: »Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe, die Farben sind der Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche, sie steigen von den Wurzeln der Welt auf« (Gasquet 16). Eine erste Vorstellung von der Arbeit der Realisation geben die Begriffe, die Cézanne benutzte, wenn er sein künstlerisches Verfahren beschreibt. Da ist zunächst das »Motiv«, mit dem er nicht nur die gegenständliche Vorlage des Bildes meinte, sondern ebenfalls die Motivation für seine unermüdliche Arbeit des Beobachtens und Malens. »Aller sur le motif« nannte er seinen Gang zur Arbeit, das folglich bedeutet, in eine Beziehung zu einem äußeren Objekt zu treten, das ihn zugleich innerlich bewegte und das es im Lichte dieses doppelten Bezugs bildnerisch auszuarbeiten galt. Das Sichtbare war ihm Darstellungsgegenstand und Inspirationsquelle. Dann der Begriff »sensation«. Er ist am ehesten zu übersetzen als »Empfindung« und gilt als weiterer Schlüsselbegriff in Cézannes Vokabular. Zunächst meint er die visuelle Wahrnehmung im Sinne einer Impression, also eines vom Objekt ausgehenden optischen Sin155 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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nesreizes. Zugleich umfasst er die Emotion als psychische Reaktion auf das Wahrgenommene. Ausdrücklich stellte Cézanne nicht das darzustellende Objekt, sondern die »sensation« in den Mittelpunkt seiner malerischen Bemühungen. Damit formulierte er eine Beziehung zur Welt, die gleichzeitig Ergreifen und Ergriffenwerden war. Auch der Künstler ist nach Imdahl der »Betroffene«. Das Medium, das zwischen den Dingen und den Empfindungen vermittelt, ist – auf das Sehen bezogen – das Licht sowie – auf die Übersetzung in Malerei bezogen – die Farbe. Die »réalisation« von Cézannes Malerei zielte folglich auf mehreres zugleich. Sie galt zunächst dem Naturmotiv in seiner unendlichen Vielfalt und dann den Empfindungen, welche dieses in ihm auslöste, und schließlich dem »Gemälde« selbst, dessen Gelingen die anderen »Realisierungen« erst ermöglichen. (Lüthy 197–198) »Motiv«, »sensation« und »Werk« sind so die drei führenden Worte, nach denen Cézanne sein Streben der »Realisation« ausrichtet. Darin zeichnet sich die Grundstruktur des Grundphänomens der Kunst des »Sehens« ab: das »Motiv«, das den Künstler anspricht, das sein »Empfinden (sensation)« hervorruft, wobei es gilt, beide »Motiv« und »sensation« des Künstlers im Werk des »Bildes« zusammenzubringen. Das Streben nach »realisieren« hat nach Boehm zum Ziel: »Diese Wendung bestimmt das Verhältnis von Auge, Bild und Realität neu. Was sich wandelt, ist die Rolle des Sehens« (Mont 30). Das Folgende ist der Versuch, auf dem Hintergrund des Grundphänomens des »Sehens« und der Grundstruktur von »Motiv«, »sensation« und »Bild« das Werk Cézannes in Grundzügen zu beschreiben.

6.3.1 Motiv Natur Mit Natur ist bei Cézanne das »motif« gemeint. (Mont 99 ff.) »Ich muß nach der Natur realisieren«, schreibt er 1906 an den Sohn 1906. Und weiter wiederholt er immer wieder, er müsse in »Harmonie parallel zur Natur« arbeiten (Gasquet 9). Und: »Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe, die Farbe sind der Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche, sie steigen von den Wurzeln der Welt auf« (Gasquet 16). 85

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Zu Natur bzw. Landschaft s. (Kunst 83–128).

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Cézanne beginnt das Gespräch mit Gasquet »Ich habe ein Motiv« (Gasquet 8–9, 117) und erklärt dann gestenreich: Cézanne: Ich halte mein Motiv, – (Er faltet die Hände.) Ein Motiv, sehen Sie, das ist so – Gasquet: Wie? Cézanne: Nun ja! […] wenn ich beim Malen denke, wenn ich dazwischenkomme, dann stürzt alles ein und ist verloren. Gasquet: Wieso, wenn Sie dazwischenkommen? Cézanne: Der Künstler ist nur ein Aufnahmeorgan, ein Registrierapparat für Sinneseindrücke, aber ein guter, sehr komplizierter. – Er ist eine empfindliche Platte, aber die ›Platte‹ ist vorher durch viele Bäder in den Zustand der Empfindlichkeit versetzt worden, Studien, Meditationen, Leiden und Freuden, das Leben haben sie vorbereitet. – Aber wenn er [der Künstler als subjektives Bewußtsein] dazwischenkommt, wenn er sich willentlich einmischt, der Elende, in den Übersetzungsprozeß, dann bringt er nur seine Bedeutungslosigkeit hinein, das Werk wird minderwertig. Gasquet: Der Künstler wäre also geringer als die Natur? Cézanne: Nein, das habe ich nicht gesagt. Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur […]. Der Maler ist ihr nebengeordnet, wenn er nicht eigenwillig eingreift. Sein ganzes Wollen muß schweigen. Er soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Vorurteile, vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein. – Die Natur draußen und die hier drinnen [er schlägt sich an die Stirn] müssen sich durchdringen, um zu dauern, zu leben, ein halb menschliches, halb göttliches Leben, das Leben der Kunst. Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir. Ich objektiviere und fixiere sie auf meiner Leinwand. Sie sprachen mir neulich von Kant. Vielleicht rede ich dummes Zeug, aber mir scheint, daß ich das subjektive Bewußtsein dieser Landschaft wäre und meine Leinwand ihr objektives Bewußtsein. Meine Leinwand und die Landschaft, beide außerhalb von mir, aber die letztere chaotisch, vergänglich, wirr, ohne logisches Dasein, ohne jede Vernunft; die erstere dauernd, kategorisiert, teilhabend an der Modalität der Ideen. Ich weiß, ich weiß, das ist eine Interpretation, ich bin kein Universitätler« (Gasquet 8–10).

Ein sehr dichter Text des Künstlers Cézanne. Der Maler beginnt mit dem »Motiv«; er ›hält es‹. Wie? Die »Natur« bietet das Motiv ihm an. Er nimmt es nicht, indem er es im Denken verarbeitet. Cézanne schließt das Denken als reflexives Medium zunächst aus. Es würde das Motiv vernichten. Cézanne nennt ein anderes reflektierendes Medium, einen Spiegel, in dem sich das Motiv ›widerspiegelt‹. Das ist aber nicht der reflexive Geist, sondern er nennt es eine registrierende ›Platte‹, die das Motiv registriert und es empfindend aufnimmt. Damit beginnt die Arbeit des Künstlers. Sie ist nebengeordnet, an der 157 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Natur ausgerichtet, sie ist ›in Harmonie parallel zur Natur‹ zu vollenden. Die Natur ist das ›Außen‹ ; die registrierende Platte ist das ›Innen‹, es ist der Künstler selbst. Die Erläuterungen, die Cézanne dann nach dem Gedächtnis Gasquets anfügt, sind hoch philosophisch und damit auch unsicher, ob sie von Cézanne selbst stammen, obwohl wir wissen, dass er durchaus Kant gelesen hat: nämlich der Künstler sei das ›subjektive Bewusstsein‹ der Natur und das Bild auf der Leinwand ihr ›objektives Bewusstsein‹. Die daraus folgenden philosophischen Bestimmungen der ›Natur‹ bezeichnet er als chaotisch, wirr und ohne jede logische Vernunft, 86 und des ›Künstlers‹ als repräsentativ in der objektiven Leinwand, als Teilhaber an den Ideen und bei allem ›kategorisierend‹, gibt Cézanne als seine Interpretation aus, ohne sie näher auszuführen. Eines der wichtigsten Motive Cézannes ist die Montagne Sainte Victoire. Dieses Motiv sei deshalb beispielhaft für das Verhältnis Cézannes zur Natur betrachtet. 87 6.3.1.1 Montagne Sainte-Victoire 6.3.1.1.1 Ikonologisch ikonographisch Wenn im Folgenden das Motiv des Montagne Sainte Victoire vor allem nach der Interpretation von Imdahl wiedergegeben wird, so ist zuerst etwas Grundsätzliches zur Einschätzung von Cézanne durch Imdahl vorauszuschicken. Nach Imdahl bedeutet Cézanne eine grundlegende Wende in der Kunstgeschichte. In seinem Aufsatz Cézanne-Braque-Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandsehen wendet Imdahl seine Kunsttheorie auf Cézanne an. Er findet in der herkömmlichen Kunst einen deutlichen Hang zum gegenständlichen Sehen, das er »wiederkennendes Sehen« nennt. Gemeint ist damit das Sehen, welches mit jedem Bild automatisch einen Gegenstand in der Wirklichkeit verbindet. Diesem »Gegenstandsehen« stellt Imdahl die »Bildautonomie« entgegen, also das Streben der Künstler, von dem Zwang zum gegenständlichen Sehen loszukommen und stattdessen »autonome« Bilder zu schaffen,

»Natur« als »sens brut« (AG 278). S. Boehm, Gottfried (1988), Paul Cézanne: Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt a. M.; Cezanne, Paul (1990), Bilder eines Berges. Einführung von Hajo Düchting, München.

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Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«

deren Formen unabhängig sind von einem Bezug zum Gegenständlichen. Imdahl nennt dieses Sehen »sehendes Sehen«. Für Imdahl liefert Cézanne ein Paradigma dieser besonderen Malerei, in dem das Streben nach Bildautonomie – Ungegenständlichkeit – ausgeprägt ist und Cézanne zugleich mit dem Motiv als Gegenstand ringt. Diese Malerei zur Bildautonomie strebt danach, sich von der Bindung an den Gegenstand zu emanzipieren und nur ihren eigenen immanenten Gesetzen zu folgen. Das Bild wird dadurch »autonom«, es ist »reine Form« (GS3 303). Imdahl verweist zur Erläuterung seines Standpunktes hinsichtlich Cézanne auf Sedlmayrs Verlust der Mitte. Das Buch enthält ein Kapitel über die Kunst Paul Cézannes. 88 Darin heißt es, Cézanne habe das Reich der Farbe an sich entdeckt. Das Ursprüngliche der Kunst finde bei Cézannes daher nicht in einem gegenständlichen Bezirk, sondern durch ein Verhalten statt, durch das sogenannte »reine Sehen«, welches selbst eine äußerste Teilnahmslosigkeit des Geistes an den Erlebnissen des Auges zu seiner Bedingung hat. Es gibt in der natürlichen Erfahrung einen Zustand, der dieser von Cézanne zum Prinzip erhobenen Haltung einigermaßen entspreche. Es ist jener seltene Zustand zwischen Erwachen und vollem Wachsein, in dem sozusagen nur das Auge wach ist, während der Intellekt noch ruht. (GS3 143) Allerdings bleibt das autonome Bild bei Cézanne schließlich doch noch mit dem Gegenstand verbunden. Aber seine »optisch autonome, immanent geregelte Bildkonstruktion« setzt schon eine »Umwertung des normalen Verhältnisses zwischen sehenden und wiedererkennenden Gegenstandssehen zugunsten des sehenden Sehens« voraus. Gewöhnlich ist es so, dass das gegenständliche wiedererkennende Sehen das sehende Sehen dominiert. Das sehende Sehen ist dabei dem wiedererkennenden Sehen so sehr untergeordnet, dass es schwer fällt, sich davon zu lösen und sich dem sehenden Sehen hinzugeben. Cézanne geht gewissermaßen die ersten Schritte zu dieser neuartigen Art des Sehens, allerdings noch, ohne sich vollkommen vom Gegenstand zu lösen oder gar ›ungegenständlich‹ zu werden (GS3 304). Das Sehen des Betrachters ist gewöhnlich und kulturell zu einem wiedererkennenden Sehen angehalten, wird also entsprechend automatisch bestimmte Gegenstände assoziieren, wo der Maler nur Fle88

Sedlmayr, Verlust der Mitte, a. a. O., 97 ff.

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cken und Flächen hinterlassen hat. »Insofern in Cézannes Bild aber der Gegenstand aus einer optisch immanent geregelten Kontextualisierung von bloßen, dem gegenstandsfreien Sehen begegnenden Sichtbarkeitswerten hervorgeht, wird er für den Betrachter zum Anlaß eines solchen Gegenstandssehens, das nicht wie gewöhnlich das sehende dem wiedererkennenden, sondern umgekehrt das wiedererkennende dem sehenden Sehen subordiniert« (GS 316). Malen und Betrachten (Beschauen) des Bilds sind so zwei unterschiedliche Arten der Leistung. Der Malvorgang emanzipiert sich nach Imdahl bei Cézanne vollständig von jeder Form der Mimesis (Nachahmung), von jeder bewussten Nachbildung eines Gegenstands, so wie sie (die Mimesis) innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte über Jahrhunderte hinweg Brauch gewesen war. Für den Maler bedeuten die Sichtbarkeitswerte (Flecken, Flächen) nichts als sie selbst: Flecken und Flächen. Im Vorgang des Betrachtens dagegen stellt der kulturell geprägte Betrachter, von den Flecken und Flächen ausgehend, wiederum Bezüge und Zusammenhänge zu Gegenständen her. Auf diese Weise werden im Akt des Sehens rein optischer Sichtbarkeitswerte Gegenstände neu erschaffen. »Eben auf diese Weise wird der Gegenstand, mit Cézanne selbst zu reden: ›realisiert‹« (GS3 316). Imdahl sieht in diesem Hang zur Ungegenständlichkeit, die nicht zugleich Abstraktion bedeutet, eine bedeutsame Wende der Kunstgeschichte bei Cézanne. Imdahl überprüft seine Sicht der Bedeutung Cézannes vor allem im Blick auf die Montagne Sainte Victoire. Er interpretiert das berühmte Motiv in Anknüpfung an das Gespräch zwischen Cézanne und Gasquet. Es ist die Fortsetzung des oben bereits wiedergegebenen Teils dieses Gespräches (GS3 314–319): »Cézanne: Die Sonne scheint und die Hoffnung lacht im Herzen. Gasquet: Sie sind zufrieden heute morgen? Cézanne: Ich halte mein Motiv, – – (Er faltet die Hände.) Ein Motiv, sehen Sie, das ist so – Gasquet: Wie? Cézanne: Nun ja! – – (Er wiederholt seine Bewegung, entfernt die Hände voneinander, die zehn Finger gespreizt, nähert sie dann langsam, langsam, faltet sie wieder, verschränkt sie krampfhaft ineinander.) Hier, das ist es, was man erreichen muß. Wenn ich zu hoch oder zu tief greife, ist alles verpfuscht. Es darf keine einzige lockere Masche geben, kein Loch, durch das die Erregung, das Licht, die Wahrheit entschlüpft. Ich lenke, verstehen Sie, den Realisationsprozeß auf meiner Leinwand in allen Teilen

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gleichzeitig. Ich bringe im gleichen Antrieb, im gleichen Glauben alles miteinander in Beziehung, was auseinanderstrebt. – Alles, was wir sehen, nicht wahr, verstreut sich, entschwindet. Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muß ihr das Erhabene der Dauer geben, mit den Elementen und der Erscheinung all ihrer Veränderungen. Die Kunst muß ihr in unserer Vorstellung Ewigkeit verleihen. Was ist hinter der Natur? Nichts vielleicht. Vielleicht alles. Alles, verstehen Sie. Also verschränke ich diese umherirrenden Hände. Ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest, ich bringe sie zusammen. – Sie bilden Linien, sie werden Gegenstände, Felsen, Bäume, ohne daß ich daran denke. Sie nehmen ein Volumen an, sie haben einen Wirkungswert. Wenn diese Massen, diese Gewichte auf meiner Leinwand, in meiner Empfindung den Plänen, den Flecken entsprechen, die mir gegeben sind, die wir da vor unseren Augen haben, gut, meine Leinwand verschränkt die Hände. Sie schwankt nicht. Sie greift nicht zu hoch und nickt zu tief. Sie ist wahr, sie ist dicht, sie ist voll. – Aber wenn ich die geringste Ablenkung habe, die leiseste Schwäche fühle, besonders wenn ich einmal zu viel hineindeute, wenn mich heute eine Theorie fortreißt, die der von gestern widerspricht, wenn ich beim Malen denke, wenn ich dazwischenkomme, dann stürzt alles ein und ist verloren« (Gasquet 8–9).

Das Motiv kommt, wie gesehen, von der Natur. Nach Imdahl nimmt Cézanne von der Natur nur die »(Sichtbarkeit) der Natur« wahr. Er nimmt von der Natur den reinen Sinneneindruck (sensation) entgegen. Diese Eindrücke sind »gegenstandsfrei«, »begriffsblind«, d. h. sie geben durch die wahrnehmbaren Farben und Flächen im Künstler keine bildnerischen Räume und Gegenstände wieder. Es ist ein sehendes Sehen allein von Farbflecken (taches) und Flächen (plans). Diese sind »systemlos« und »chaotisch«. ›Alles, was wir sehen, nicht wahr, verstreut sich, entschwindet‹. Cézanne »habe vor der Natur gesessen und wie ein Hund, nur geschaut« (GS3 314–315) (Mont 97 f.). Cézanne hatte für den Akt des Malens selbst ein Sehen im Sinn, das gegenstandsfrei ist, also ohne die imaginative Deutung der Farbflecke als Gegenstände auskommt. Diesem Akt eine malerische Entsprechung zu geben, führt ihn zu einer weitgehend reinen Fleckenmalerei, ohne jede bewusste Assoziation eines Gegenstands, ohne jede Form der Systematisierung. Das Auge des Malers ist in diesem Prozess so autonom tätig, dass sich auf der Leinwand gewissermaßen etwas Neues ergibt. »Ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest, ich bringe sie zusammen. – Sie bilden Linien, sie werden Gegenstände, Felsen, Bäume, 161 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Cézanne

ohne daß ich daran denke«. Der Maler erschafft ein neues, rein optisches Gebilde aus Flecken und Flächen, das von jedem Gegenstandsbezug frei ist, sich von Abbildhaftigkeit gänzlich gelöst hat. Stattdessen entwickelt es eigene Gesetze, die dem reinen, dem ›sehenden Sehen‹ verpflichtet sind und damit eine ganz neue Form des Sehens ›realisieren‹. (Gasquet 8) Imdahl: »Die ›plans‹ oder ›taches‹ sind als das nur-optische Material der Bildkonstruktion von vornherein durch nichts anderes bestimmt als durch die Möglichkeit, mit ihnen als den Daten der bloßen Optizität des Motivs und im Kontakt mit dieser einen optisch in sich begründeten, nur aus sich verständlichen und das ganze Bildfeld gleichmäßig aktivierenden Zusammenhang zu bilden […]. An die Stelle des verstandesmäßigen, auf das wiedererkennende Sehen des Gegenstandes gestützten Ordnens tritt die Ordnungskraft der (begriffsblinden) Sinne« (GS3 315). Am kürzesten fasst Imdahl dieses Prinzip zusammen in dem Aphorismus, dass »jedes Bewußtsein vom Gegenstande das Malen selbst lähmt« (GS3 315). Das Sehen des Malers wird bei Cézanne also in »reine […] Sichtbarkeitswerte« aufgelöst, die jede bewusst angelegte Assoziation eines Gegenstands ablehnt. Nach den grundsätzlichen Überlegungen Imdahls können die Gemälde Cézannes vom Montagne Sainte Victoire nach seiner Methode der »vor-ikonographischen«, »ikonographischen«, »ikonologischen« und »ikonischen« Bildbetrachtung wiedergegeben werden. Zur Methode siehe Imdahls Buch Giotto. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. Es geht dabei um die Schritte der Bildauslegung von: vor-ikonographische Beobachtungen, ikonographische Bemerkungen, ikonologische Bedeutungen und schließlich der Ikonik als Bildganzes (Schwellen 103). Vor-ikonographische Beobachtungen Vom Motiv des Montagne Sainte Victoire sind 34 Gemälde und ca. 60 weitere Aquarelle und Zeichnungen bekannt, dabei gemalt an unterschiedlichen Orten: Atelier Chemin des Lauves, am Steinbruch Bibemus, am Standpunkt Plateau d’Entremont, zu unterschiedlichen Jahreszeiten, Tagzeiten, Wetter u. a. (Mont 90–92) Zu diesen unterschiedlichen Orten und Zeiten das Motiv zu malen, sind uns einige interessante Bemerkungen aus der Korrespondenz Cézannes bekannt. Sie geben Hinweise auf die Sehweise Cézannes. Er war immerfort bemüht, die unterschiedlichen Sehweisen zu erforschen. Es versteht sich, dass jede verschiedene Einstel162 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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lung der Augen, aber auch jede Veränderung von Außen durch Wetter, Tages- und Jahreszeit oder durch Ortswechsel die Sehweise veränderte. So gibt Cézanne seine wiederholten Versuche und Aktionen dadurch zu verstehen, dass sie ihm auf dem Weg der »Realisierung« seiner Kunst entscheidende Tage waren. So in einem Brief: »Aix, den 8. September 1906 – Schließlich will ich Dir sagen, dass ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, doch dass bei mir die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr mühselig ist. Ich kann nicht die Intensität erreichen, die sich vor meinen Sinnen entwickelt, ich besitze nicht jenen wundervollen Farbreichtum, der die Natur belebt« (Gasquet 80).

Neben der Gefahr des Scheiterns spricht er noch einen ganz anderen Grund an, warum ihn ein Motiv nicht loslässt und er immer wieder auf ein selbes Motiv zurückkommt. Es ist die Vielgestaltigkeit der Motive und damit die große Potentialität der Möglichkeiten des Realisierens: »Hier, am Ufer des Flusses, vervielfachen sich die Motive; dasselbe Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein Studienobjekt von äußerstem Interesse und von solcher Mannigfaltigkeit, dass ich glaube, ich könnte mich während einiger Monate beschäftigen, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich bald mehr nach rechts, bald mehr nach links wende« (Gasquet 72).

Diese Bemerkungen gelten vor allem für das Motiv des Montagne Sainte Victoire. Kudielka gibt seine Eindrücke dazu so wieder: »Manchmal scheint sich der Berg in seiner Nähe und Ferne zu verändern. Manchmal ist er von einer bezwingenden Klarheit und eine halbe Stunde später beginnt er sich atmosphärisch zu verhüllen oder nimmt er eine andere Position ein, gewissermaßen einem Selber gegenüber. Und ich glaube, das hat Cézanne auch fasziniert, die Beweglichkeit dieser Anschauung selber. Es ist nicht nur, dass sich unser Sehen bewegt, sondern die Erscheinung selber ist keine tote, konstante, sondern selbst wenn sie ein Steinhaufen ist, ein Ereignis. Und das, glaube ich, ist die zweite Faszination für diesen Berg, warum er ihn so oft gemalt hat, warum er immer, jeden Tag gewissermaßen, neu da gewesen ist für ihn« (DLF).

Diese Bemerkungen machen darauf aufmerksam, dass es schwierig ist, über alle vorliegenden Bilder, Aquarelle und Zeichnungen Cézannes zum Mont Sainte-Victoire allgemeine Aussagen zu treffen. Es wäre nötig, auf jedes einzelne Bild einzeln einzugehen und es konkret 163 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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zu besprechen. Es ist sinnvoll, diesen Weg der Interpretation zu gehen, wie wir es bei Dittmann oder Düchting vorfinden. 89 Ikonographische Bemerkungen Die Montagne Sainte Victoire ist der höchste und beherrschende Berg um Aix-au-Provence, er ragt imposant heraus, er ist auch geologisch interessant, er repräsentiert das Land, in dem Cézanne seine Wurzeln hat, wo auch seine Kunst beheimatet ist. Merleau-Ponty kann dieses geologische und kulturelle Interesse Cézannes an diesem Berg gut verstehen und vollzieht es in einer eigenen Betrachtung nach. Er schreibt zu der Beziehung von Cézanne zu diesem Berg: »Er war der Ansicht, daß man Malen lernen könne, daß das geometrische Studium der Flächen und Formen notwendig sei. Er informierte sich über die geologische Struktur der Landschaften. Diese abstrakten Verhältnisse sollten sich im Tun des Malers auswirken, aber stets nach Maßgabe der sichtbaren Welt. Wenn er einen Pinselstrich macht, sind die Anatomie und die Zeichnung darin so gegenwärtig, wie es die Spielregeln in einer Partie Tennis sind. Motiviert werden die einzelnen Striche des Malers nie allein von der Perspektive, der Geometrie, den Gesetzen der Farbzerlegung oder von welchen Kenntnissen auch immer. Für all die Pinselstriche, die nach und nach ein Bild hervorbringen, gibt es nur ein einziges Motiv, die Landschaft in ihrer Totalität und absoluten Fülle – und genau das nannte Cézanne ein ›Motiv‹. Zunächst versuchte er sich Klarheit über die geologischen Schichten zu verschaffen. Dann bewegte er sich nicht mehr von der Stelle und schaute nur noch bis ihm die Augen, wie Madame Cézanne sagte, aus dem Kopf heraustraten. Er ließ die Landschaft in sich ›aufkeimen‹. Alle Wissenschaft mußte vergessen werden, damit die Landschaft mit Hilfe dieser Wissenschaft wieder als werdender Organismus wahrgenommen werden konnte. Die Teilansichten, die in den Blick aufgenommen wurden, mußten verbunden werden, um das, was durch die Unstetigkeit der Augen zerstreut wird, wieder zu sammeln, um, wie Gasquet sagt, ›die herumirrenden Hände der Natur zu verschränken‹. ›Es gibt eine Weltminute, die vorüberzieht, man muß sie in ihrer Wirklichkeit malen.‹ Die meditative Betrachtung hörte plötzlich auf. ›Ich habe mein Motiv‹, sagte Cézanne, und er erklärte, daß er weder zu hoch noch zu niedrig greifen dürfe, denn die Landschaft müsse lebend in ein Netz gehen, das nichts hindurchläßt. Jetzt machte er sich von allen Seiten gleichzeitig an sein Bild, umgab die erste Kohlezeichnung, das geologische Skelett, mit Farbflecken. Das Bild gewann an Fülle, Bezügen, Konturen und Harmonie, alles reifte gleichzeitig heran. 89

S. Cézanne, Berg, a. a. O.; (Kunst 83–128).

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Die Landschaft, sagte er, denkt sich in mir, ich bin ihr Bewußtsein. Nichts ist weiter entfernt vom Naturalismus als diese intuitive Wissenschaft. Die Kunst ist nicht Nachahmung, sie ist aber ebensowenig ein bloßes Fabrizieren, das den Wünschen des Instinkts oder des guten Geschmacks gehorcht. Sie ist eine Ausdruckshandlung. So wie das Wort beim Namen nennt, d. h. das, was uns unklar vorschwebte, in seinem Wesen erfaßt und als erkennbares Objekt vor uns hinstellt, so, sagt Gasquet, ›objektiviert‹, ›projiziert‹ und ›fixiert‹ auch der Maler. Und so wie das Wort dem, was es bezeichnet, nicht ähnlich ist, so ist auch die Malerei kein Trompe-d’oeil; Cézanne ›malt‹, seinen eigenen Worten zufolge, ›was noch nicht gemalt ist und verwandelt es absolut in Malerei‹. Wir vergessen ständig die flüssigen und äquivoken Erscheinungen« (AG 14–16).

Ikonologische Bedeutung Der Montagne Sainte Victoire hat eine große symbolische Bedeutung. Das ist immer schon so gewesen und war für Cézanne ohne Zweifel sehr mächtig: das Gefühl (sensation) der Höhe und Erhabenheit. Es ist eine Empfindung, die heute wie damals noch wirkt. Kudielka spricht es so aus: »Also zunächst fasziniert ihn an dem Berg, dass er das Gegenüber schlechthin ist, zeigt auch in gewisser Weise seinen geradezu maßlosen Anspruch: das ist das Gegenüber. Und dieses direkte Gegenüber nun in einem gewaltigen Ding zu haben, das einen gewissermaßen als Maler arretiert, ein wirkliches großes Gegenüber zu haben, ist sicher die eine motivische Faszination. Die andere Faszination ist die Präsenz des Berges selber in der Landschaft. Der Berg selber ist im Grunde ein riesiges atmosphärisches Ereignis. Er ist ja gewaltig, so als ob man einen Dreitausender in den Alpen abgeschnitten hätte und auf Meereshöhe dort unten gelagert hätte« (DLF).

Mit diesem Eindruck reiht sich der Berg – für Cézanne ganz sicher – in die Metaphorik der Berge überhaupt, der Berge wie des Sinai der Bibel, des geschichtsträchtigen Berges Mont Ventoux seit Petrarca, die großen Berge der Geschichte Europas, der Heiligen Berge der Religionen wie des Fuji in Japan u. a. Poussin, Caspar David Friedrich, um nur zwei von vielen zu nennen, waren zeitlebens von dem Motiv großer Berge gefesselt. (Mont 90) Das Erleben einer Urerfahrung am Berg für die Künste und Kulturen der Menschheit verbindet auch Boehm mit den Darstellungen des Berges bei Cézanne: »Aufstreben und Lagern des Berges, Genese aus Elementen der Malerei, Doppeldeutigkeit von Chaos und Monumentalität. Es ist eine ganz anschauliche Gleichung, die wir beobachten zwischen der weiten, horizontal aus-

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gebreiteten Ebene und dem Aufsteigen des Berges in die Vertikale« (Mont 92).

6.3.1.1.2 Ikonik Wie sieht nun Imdahl das Bild der Montagne Sainte Victoire, wenn er es als großes Beispiel seines Kunstverständnisses der »Ikonik« heraushebt. Zunächst ist zu betonen, dass für Imdahl alle Vorstufen des »wiedererkennenden« und »sehenden Sehens« von Bedeutung sind, sie alle in der Gesamtschau der Ikonik vereint sind, es aber über die genannten Gesichtspunkte noch eine Dimension der Kunst, eben die originäre »Ikonik« gibt, welche Imdahl im Motiv des Berges von Cézanne wieder findet. Die Sicht Imdahls mag im Zitat wiedergegeben werden, da sie sehr präzise formuliert ist: »Die Malerei von Paul Cézanne, die hier mit dessen Bild ›Montagne Sainte Victoire‹ vorgestellt wird, ist eine Operation mit ›sensations colorantes‹, mit ›plans‹, ›taches‹, ›tons‹, ›nuances‹ – um alle diese Bezeichnungen des Malers selbst zu verwenden. Sie ist eine Operation mit bloßen Sehdaten, die der Maler dem Naturmotiv, vor dem er malt, entnimmt. Als diese Operation stellt sich die Malerei Cézannes auch dar. Es gibt kein vom Maler mitgebrachtes Leitbild, keine Gewißheit von den Dingen, keine Perspektive als das sozusagen schon außerkünstlerisch garantierte System von Raumbewältigung. Cézannes Malerei mit bloßen ›tons‹, ›nuances‹ oder ›couleurs‹ impliziert die Verdrängung allen wiedererkennenden Sehens, das heißt den Verzicht auf semantische Besitztümer und deren Kombinatorik zugunsten eines nur sehenden oder – wie man auch gesagt hat – reinen Sehens. ›Si je pense en peignant, si j’interviens, patatras! Tout fout le camp‹. Hiermit ist ausgesprochen, daß jedes Wiedererkennen, das heißt jedes vom reinen Sehen bloßer ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹ ablenkende Bewußtsein das Malen verunmöglicht: Während die Bildlichkeit seit der Renaissance eine den Erkenntniskategorien des Subjekts schon unterworfene Wirklichkeitserfahrung voraussetzt und damit die Bestimmungskraft des Subjekts über Raum, Ereignis, Figur oder Gegenstand herausstellt, geht die Bildlichkeit Cézannes wie überhaupt des Impressionismus hinter solche Vollmachten zurück auf die Stufe eines Subjekt- Verhaltens in Hingabe an die Erscheinung. Cézanne hat sein malerisches Verfahren selbst beschrieben: ›Je prends, à droite, à gauche, ici, là, partout, ses tons (les tons de la nature), ses couleurs, ses nuances, je les fixe, je les approche … Ils font des lignes. Ils deviennent des objets, des rochers, des arbres, sans que j’y songe‹. Dieser Satz besagt erstens, daß die ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹ in einen Zusammenhang zu bringen sind, nämlich aus kontingentem Beieinander in ein System mit Notwendigkeit. Und zweitens ist gesagt, daß diese Systembildung aus bloßen ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹ ein Sichtbarmachen von Landschaftsdingen

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ist, jedoch keine Absicht auf dieses Sichtbarmachen besteht. Für die Interpretation der Malerei Cézannes sind solche Äußerungen des Malers über sein Malen nicht unerheblich, denn die Bilder Cézannes enthalten das Verfahren, dem sie sich verdanken, sichtbar in sich aufgehoben. Sie zeigen wie nur selten sonst Bilder zuvor in ihrem Fertigsein ihr Entstandensein« (GS3 404 ff.).

Und weiter: »Cézannes Bild ist ein Gebilde aus Farbflecken, aus bloßen ›sensations colorantes‹, die als solche nichts außer sich bedeuten und deren Zusammenschluss ein autonomes geregeltes koloristisches System ergibt. Die Bilder haben eine deutliche Textur. Die Bildebene besteht aus einem Teppich von Farbflecken. Der Blick, die Optik, wird durch die Farbformen des Gemäldes angeregt. Mit ihnen konstruiert der Maler das Bild, aber nicht indem die Formen die Struktur des Bildes betonen. Die Optik wird vom Farbauftrag geprägt. Die Struktur ist eine Folge des Farbbaus. Cézanne arbeitet nicht mit Farbe und Form, er begreift die Farbe als Form. Würde man die koloristische Faktur aus der Montagne löschen, so wäre das Bild insgesamt gelöscht. Es bliebe der Aufbau des Berges nicht erhalten. Farbe und Form vereinigen sich zu farbigen Flächen. Diese sind die Bausteine der Matrix, aus der sich die Darstellung der Natur erst bildet« (Imdahl ebd.).

Cézanne will sein ›Empfinden (sensation)‹ vor dem Berg sichtbar machen. Dafür spricht die Deutlichkeit der Flecken und der Kontraste und die Künstlichkeit der Farben. Einem giftigen Chromgrün, einem scharfen Blau, einem ambivalenten Violett und einem fetten Ocker kann man jederzeit ansehen, dass sie die sichtbare Natur nicht täuschend nachahmen wollen. Alles liegt an der Optik der Flecken. Sie machen deutlich, dass das Motiv nicht einen bekannten Bildeindruck wiedergeben will. »Das einzelne Element des Bildes, die Flecken, hat keine Bedeutung für sich. Es ist in einem lapidaren Sinn für sich bedeutungslos. Die Flecken verweisen aber zugleich auf einen konstruktiven Zusammenhang. Mit jedem einzelnen Element setzt Cézanne immer auch eine Beziehung oder Kontrast zu anderen Elementen. Es bilden sich allmählich Sinnkonfigurationen heraus: ›Man kann sagen, dass malen kontrastieren ist‹. Das einzelne Element, als ›signifiant‹, weist nicht auf ein anderes außer sich, das ›signifié‹, sondern verweist zurück auf sich und die Syntax des Ganzen. Das Bild weist nicht über sich hinaus, von sich weg, sondern es verweist zurück auf sich selbst. Das betrachtende Auge wird immer wieder vom einzelnen Element auf die ganze Struktur und von der wieder aufs Einzelne zurück167 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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geführt. Folgt man der Bildstruktur und binden wir das einzelne Element in den Zusammenhang ein, so werden wir den Schlüssel von Cézannes Bild erkennen können. Der Bewegungsvorgang des Künstlers und seine Botschaft an das Auge des Betrachters ist deutlich« (Mont 100). Wieder in der präzisen Beschreibung von Imdahl: »Eine analytische Beschreibung des Bildes der Montagne Saint-Victoire muß aufzählen, was in Simultaneität vor Augen steht. Cézannes Bild exponiert eine Vielzahl von ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹, die als solche, jeweils für sich genommen, nichts außer sich sind, das heißt bloße Materialität der Farbe, in ihrem Zusammenwirken jedoch Sinn haben in doppelter Hinsicht. Die ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹ haben Sinn als die Werte eines koloristischen Systems, welches selbst allein nach den Gesetzen des bloßen Farbensehens geregelt ist. Die Dichte, ja Endgültigkeit des koloristischen Systems ist unverkennbar. Darüber hinaus haben die ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹ innerhalb dieses koloristischen Systems Sinn als die Bewirkung einer Weltgesehenheit, in der Felsen, Bäume, Häuser oder was es auch sei zur Erscheinung kommen. Man sieht in Cézannes Bild als dem einen und selben Sehangebot bloße ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹, man sieht das aus ihnen gebildete endgültige, dichte koloristische System und man sieht Felsen, Bäume, Häuser oder was es auch sei. Aber – auch das erweist die Anschauung des Bildes unmittelbar – die Bäume, Felsen, Häuser kommen nicht je und je auskonturiert als fertige, verfügbare Dinge zur Erscheinung, sondern in Bindung an jenes koloristische System, welches selbst aus bloßen ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹ gebildet ist und diese systematisiert. Man kann es auch so formulieren, daß das aus ›tons‹, ›nuances‹, ›couleurs‹ gebildete und allein den Regeln des bloßen Farbensehens verpflichtete koloristische System nichts anderes ist als der Übergang von den Gegebenheiten einer bloßen Farbmaterialität in die Erscheinung von Felsen, Bäumen, Häusern oder was es auch sei« (GS3 406 f.).

»Das koloristische System bewirkt die Erscheinung von Landschaft, es bringt sich aus der Landschaft hervor« (ebd.). Es ist zu bemerken, dass sich nichts in der Wirklichkeit dem einzelnen Element zuordnen lässt. Es verweist auf nichts, was wir mit konkreten Gegenständen wie Baum, Haus usw. identifizieren könnten. Erst die Abfolge der Flecken, der Kontext, erzeugt Wiedererkennbares, so etwas wie Ebene, Berg, Himmel u. a. Cézanne will keine Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit herstellen, kein Abbild erzeugen. Unähnlicher kann nichts anderes sein als der Farbfleck in der artifiziellen Fraktur Cézannes zu einem Ding der äußeren Wirklichkeit. Cézanne äußerte dazu nach Gasquet: ›Die Natur ist nicht an der Oberfläche‹. Und: ›Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts 168 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«

bestehen‹. Nach Cézanne habe sich der Maler nicht an der sichtbaren Oberfläche der Dinge zu halten, sondern mit den Farben zu den Wurzeln der Dinge hinabzusteigen, oder besser umgekehrt die Dinge aus den Farben neu aufsteigen zu lassen. Mit diesem Vorgehen schafft Cézanne nach Boehm ›ein bildhistorisches Ereignis allerersten Ranges‹ (Mont 98). Er setzt die Ästhetik der Naturnachbildung außer Kraft. Die Naturdarstellung Cézannes repräsentiert nicht den Kosmos, wie wir ihn aus der älteren Landschaftsmalerei kennen. Die ›taches‹ sind vor-gegenständlich, d. h. noch nicht gegenständlich. Sie sind einzeln noch auf keinen konkreten Gegenstand zu beziehen. Sie repräsentieren nur das Substrat, aus dem sich das »Bild« formt. Sie formen zusammen die Matrix, aus dem sich das Bild nach Raum, Tiefe, Nähe, Licht und Schatten, Oben und Unten, fest und beweglich ausdifferenziert. Die Matrix gibt die ganze Komplexität der Naturdeutung Cézannes wieder. Die Idee des Landschaftsbildes verändert sich durch Cézanne erheblich. Die Montagne Cézannes zeigt, dass die Natur nichts ist, was schon vorliegt, sondern etwas, das sich bildet. Wieder in der Formulierung von Imdahl: »Während die Bilder der Renaissance und des Barock auf den Gewißheiten des begrifflichen, wiedererkennenden Sehens aufbauend dem bildbetrachtenden Subjekt ein Bewußtsein von anthropozentrischer oder anthropokratischer Welthabe vermitteln, ist im Falle der Malerei Cézannes das Ichbewußtsein des Betrachtersubjekts unter den Kategorien solcher Welthabe nicht zu diskutieren. Die in der Sensibilität des reinen Sehens vollzogene Systembildung von bloßen ›tons‹, ›nuances‹ und ›couleurs‹ ist erfahrbar als eine Sinn-Stiftung von Grund auf, nämlich als eine vom Sinnlosen ins Sinnhafte führende Konstruktion, zumal diese farbimmanente, ganz auf das reine Sehen orientierte und nur nach den Gesetzen des reinen Sehens geregelte Konstruktion eine Weltgesehenheit im Simultanausdruck von natura naturans und natura naturata offenbart: Einerseits steht eine demiurgische Tat vor Augen, andererseits führt die Erfahrung der natura naturans in der natura naturata hinter jedes Ichvermögen zurück, das sich in der exakten Bestimmungskraft der Dinge und im systematischen Umgang mit exakt bestimmten Dingen ausprägt. Gerade dieses Vermögen von Welthabe erlischt, wie immer man in diesem Verlust eine Einschränkung oder eine Bereicherung von Ichbewußtheit erblicken möchte. Was überhaupt die impressionistische Einstellung betrifft, so erkannte diese jedenfalls im Verlust jeder Subjekt-Objekt-Relation, die in der begrifflichen Bestimmungskraft

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Paul Cézanne

des Subjekts beruht, den Gewinn eines Gefühls von Leben. Der Determinismus widerspricht jeder Selbstempfindung des Subjekts«. 90

Und »die Bilder Cézannes zeigen wie nur selten sonst Bilder zuvor in ihrem Fertigsein ihr Entstandensein […]. Im Medium des selbst dichten, endgültigen koloristischen Systems ist eine vordingliche Materialität offen auf Dinglichkeit und Dinglichkeit offen auf eine vordingliche Materialität, so daß im einen das andere immer mitgesehen wird und mitgesehen werden muß. Die Dinge bringen, indem sie überhaupt zur Erscheinung kommen, ihren Bezug auf ein materiales, vordingliches Substrat zum Vorschein, wie umgekehrt das vordingliche Substrat auf Dinglichkeit verweist. Man könnte sprechen von einer Weltgesehenheit im Simultanausdruck von Genese und Dinglichkeit« (GS3 406–410).

›Simultanausdruck von Genese und Dinglichkeit‹. Genese und Dinglichkeit, beides zusammen (simultan), das ist das Geheimnis Cézannes. Rilke sprach es aus: Er nannte die innerste Absicht des Malens Cézannes die »Dingwerdung« dessen, was der Künstler vor der Natur sah und was er im Bild darstellen wollte. Dingwerdung war aber nichts Vorliegendes, sondern ein Ereignis, das der Künstler selbst erreichen sollte. Es entstand im Laufe des künstlerischen Schaffens. Das Ereignis lag nicht vor, sondern es war der Ausdruck des Erlebnisses des Künstlers. Und was für Cézanne die Kunst zur Kunst machte, war, das Dargestellte sollte nicht (impressionistisch) ephemer sein, sondern das Ding sollte eine unzerstörbare Wirklichkeit werden – eine fast unlösbare Aufgabe, einem ephemeren zeitlichen Ereignis einen überzeitlich unzerstörbaren Ausdruck zu verleihen. Rilkes Formulierung von der ›überzeugenden Dingwerdung, die durch sein eigenes Erlebnis bis ins Unzerstörbare hinein gesteigerte Wirklichkeit‹ dargestellt, ist zur klassischen Formulierung zur Kunst Cézannes geworden. (Gasquet 119–120) Oder ähnlich der Hinweis auf den genetischen Blick Cézannes auf den Berg und seinen Urstand nach Merleau-Ponty: Es gilt »sich in ein vorausgehendes ›Es gibt‹ zurückversetzen, in die Landschaft und auf den Boden der wahrnehmbaren Welt und der ausgestalteten Welt, wie sie in unserem Leben, für unseren Leib da sind […] diesen gegenwärtigen Leib, den ich den meinen nenne, diesen Wachtposten, der schweigend

Tiefe vertritt den Bildsinn in statu nascendi »natura naturans naturata« (Imdahl, Bildautonomie, Abb. 1).

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Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«

hinter meinen Worten und meinen Handlungen steht. […] In dieser primordialen Geschichtlichkeit wird das unbeschwerte und improvisierende Denken der Wissenschaft lernen, wieder bei den Dingen und sich selbst zu verweilen […] Die Kunst und namentlich die Malerei schöpfen aus jenem Meer rohen Sinnes (sens brut), von dem das produzierende Denken nichts wissen will« (AG 277–278). »Diese primordiale Welt wollte Cézanne malen, und deshalb erwecken seine Bilder den Eindruck einer Natur im Urzustand, während Photographien derselben Landschaft stets an den Menschen denken lassen, der sich bald in ihr niederlassen und sie bearbeiten wird« (AG 10, 13). (Sinne 141)

Werfen wir beispielhaft einen Blick auf eines der letzten Gemälde des Montagne Sainte-Victoire in Basel. Der Unterschied von Natur- und bildnerischer Darstellung durch Cézanne wird sofort deutlich, wenn man ein Foto mit Blick auf den Montagne Sainte-Victoire von dem Ort aus betrachtet, von wo aus Cézanne den Berg mehrmals, nämlich von Les Lauves aus, gemalt hat. (→ Abb. 5, S. 466) Mit dem Älterwerden werden die Bilder Montagne SainteVictoire immer dunkler und kontrastreicher. Die Beobachtung geht von gewissen tiefen Farbtönen im Motiv aus; für diese mussten die Äquivalente auf der Palette gefunden werden, und in Hinsicht auf diese einmal gesetzten Grundfarbtöne waren die Objekte zu betrachten, bis sie die Farbwerte hergaben, um weitere Wirklichkeitsdaten zu übersetzen. Zwischen den ursprünglich gesetzten und allen späteren Farbflecken musste jene Richtigkeit der Beziehung herrschen, die Cézanne die »Logik der Farben« genannt hat (Gasquet 20, 122). Das Bild Montagne Sainte-Victoire von Basel zeigt dunkelgrüne, blaugrüne und einzelne rotbraune Farblagen, die sich dunkel zusammenschließen. Eine breite Bahn steigt im linken Bildviertel auf und weitet sich auf der rechten Bildhälfte in der Ebene bis nach vorne hin. Sie rahmt ein helles Zentrum, das eingerahmt ist durch das kühle Bläulich des fernen Berges und den warmen, ockerfarbenen Lichtbereich der Erde. Ein Licht der Erde antwortet dem Licht des in den Himmel aufsteigenden Berges. Dessen Blau spiegelt sich in der Ebene und wird aufgenommen in einzelnen Streifen des Himmels, der aus mannigfach gestuften Grautönen, aus Grauviolett und gebrochenem Blau besteht. Das Blau aber setzt schon ganz vorne im Bilde ein, in einer schmalen Bahn am unteren Bildrand links. Spiegelungen finden sich im Bild, Wiederholungen und Umkehrungen: Mit Grünstufen spiegelt die Erde sich im Himmel. Licht sammelt sich im Erdbereich. Die Erde verschließt sich in Dunkelheit und öffnet sich zugleich dem 171 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Cézanne

Licht. Der Himmel erscheint nur in verhaltener Helligkeit und hat so selbst Anteil am Dunkel. Die weiße Spitze des Berges spiegelt sich in dem zentralen dunkeln Punkt der Erde. Eine neue Einheit, ein neues Wechselspiel von Erd- und Himmelsphäre wird in diesem Gemälde anschaulich. Nichts Einzeldingliches wird mehr gezeigt. Und dennoch nimmt dieses Bild Bezug auf ein konkretes Motiv. Schwarzkonturen weisen den Vordergrund als einen Wald aus, und die links aufsteigende Zone von dunkel leuchtendendem Grün deutet wohl einen mächtig aufragenden Baum an. Von einer Anhöhe blickt man steil auf die Ebene mit links vorne perspektivisch verkürzten Bauten in Ocker und Rot. Aus dem konkreten Motiv gewinnt Cézanne seine Darstellung des Universalen. Die »taches colorées«, die großen, kraftvoll gestuften Flecken dunkelklarer und heller Farben sind keine abstrakten Setzungen, sondern Äquivalente von Dinglichem in seinem Zusammen mit einer Welt, einem Zusammen von Kräften des Dinglichen, des Materiellen: Der groß aufragende Baum links geht über in das Aufsteigen des Berges und in die grünen Wolken im Himmel. Rechts senkt sich der Berg, und mit ihm sinken die Bewegungen im Himmel, sinkt der Horizont; sinkt über das braune Band der nach rechts führenden Straße. Eine Gesamtbewegung umkreist, wie beim Mont Sainte-Victoire in Zürich, eine dunkle Mitte. Über ihr steht der Gipfel des Berges im fremden Weiß eines aus dem Grunde ausgesparten Flecks, während die Weißflecken links vorne durch aufgetragenes Weiß erzielt werden. Das Hell-Dunkel der neuzeitlichen Malerei kehrt in solchen Werken wieder, aber in dem Sinne, daß nun das irdische Sein seine Dunkelheit farbig konkretisiert, damit in neuem Sinne gestaltbar macht und sie zum weißen Licht des Grundes emporführt. (Kunst 118–119) Imdahl fasst seine Sicht des Berges Sainte-Victoire so zusammen: »Als jenes koloristische System ist Cézannes Bild das Phänomen eines sehenden Sehens, nämlich eines Sehens, das von allem gegenständlichen Vorwissen und Wiedererkennen absieht. Als die Erscheinung von Landschaft ist das Bild das Phänomen eines wiedererkennenden Sehens, insofern Landschaft ein Gegenstand des wiederkennenden Sehens ist. Man kann sprechen von einer Bildlichkeit, in der das sehende Sehen das wiedererkennende Sehen beherrscht und ermöglicht – aber auch von einer Weltgesehenheit, in der das Bewirkte unter dem Horizont des Bewirkenden oder die natura naturata unter dem Horizont der natura naturans sichtbar wird« (Imdahl, Bildautonomie, Abb. 1) 172 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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6.3.2 Sensation colorante et colorée Der zweite Grundbegriff, den Cézanne nennt, wenn er von seinem künstlerischen Verfahren spricht ist die »sensation colorante (farbige Empfindung)«. 91 Der Begriff »sensation« ist am ehesten zu übersetzen mit »Empfindung« und gilt als weiterer Schlüsselbegriff in Cézannes Vokabular. Ausdrücklich stellte Cézanne nicht das darzustellende Objekt, sondern die »sensation« an die erste Stelle seiner malerischen Bemühungen. Sie ist die erste Regung auf das Motiv des Künstlers, sie ist gleichzeitig ein Ergreifen und Ergriffenwerden. Das Medium, das zwischen den Dingen und den Empfindungen vermittelt, ist – auf das Sehen bezogen – das Licht, doch »das Licht (die Sonne) existiert für den Maler nicht« (Gasquet 68), deshalb »sind für den Maler nur die Farben wahr« (Gasquet 48). Wenn der Künstler das Licht der Welt malen will, muss er dafür farbige Äquivalente einsetzen. Platon steht für die Einstellung, dass das Licht weder in den Bereich des Sichtbaren gehört noch es den Sehenden zur Verfügung steht. Er fasst es als jenes Dritte zwischen Sehen und Gesehenem, von dem das »sonnenhafte Auge«, auch das »Auge des Geistes«, seine Sehkraft empfängt. Das Auge ist das sonnenhaftigste, sonnenartigste unter den Sinnesorganen (Politeia VI, 508 b). Wenn aber alles im Lichte der Sonne gesehen wird, kann es dann noch einmal eine Idee der Sonne, des Lichtes geben, wie es bei Platon eine Idee des Guten gibt, oder führt die Bewegung, die »über das Sein hinaus« (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) führt, auch über das Reich der Sichtbarkeit hinaus? »Ich habe die Natur kopieren wollen, es gelang mir nicht, von welcher Seite ich sie auch nahm. Aber ich war mit mir zufrieden, als ich entdeckt hatte, dass die Sonne z. B. nicht wiedergegeben werden kann, sondern daß man sie durch etwas anderes repräsentieren muß, durch die Farbe als solche. Man muß die Natur nicht reproduzieren, sondern repräsentieren. Wodurch? Durch gestaltende farbige Äquivalente« (Gasquet 75).

Das Wiedergeben der Natur durch farbige Äquivalente nannte Cézanne auch »Realisieren«. Realisieren meint so das geglückte Finden von Äquivalenten und ihre Anwendung auf der Leinwand. »Nach der Natur malen bedeutet nicht, das Objekt kopieren, sondern Farbeindrücke (sensations colorants) zu realisieren. – Es gibt eine rein maleri91

Zur »sensation colorante colorée« s. (Mont 81 ff., 87–89, 112 ff.).

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sche Wahrheit der Dinge. – Wie schwer ist es doch, unbefangen an die Natur heranzutreten, man sollte sehen können wie ein Neugeborener« (Gasquet 20).

Die Diskussion um »disegno (Zeichnung)« und »colore (Farbe)« Für Pissarro, den Lehrer Cézannes, waren die beiden Elemente der Malerei »Form« und »Farbe« (Gasquet 75). Wobei er Cézanne empfahl, weniger auf die Form zu achten, sondern mehr auf die Farbe. »Für den Maler sind nur die Farben wahr« (Gasquet 48). Die Diskussion um die Wahrheit der Farbe durchzieht die Geschichte der Kunst und der Philosophie. Es ist die Diskussion um »disegno (Zeichnung)« oder »colore (Farbe)«. (Badt 31 ff.) Eine entscheidende Diskussion über das Wesen der Farben beginnt mit Descartes. Descartes legt den Farben nur sekundäre Qualitäten bei. Merleau-Ponty hat sich ausführlich mit den philosophischen Einordnungen der Farben bei Descartes beschäftigt: »Hätte er (Descartes) jene andere und tiefere Offenheit zu den Dingen untersucht, die uns die sekundären Qualitäten, namentlich die Farbe, ermöglichen, so hätte er, da kein regelhaftes oder abbildendes Verhältnis zwischen ihnen und den wahren Eigenschaften der Dinge besteht und da ihre Botschaft von uns dennoch verstanden wird, vor dem Problem einer Universalität und einer Offenheit zu den Dingen gestanden, ohne Begriffe dafür zu besitzen. Er hätte herausfinden müssen, wie das unbestimmte Raunen der Farben uns Dinge, Wälder, Stürme, schließlich die Welt vergegenwärtigen kann. Und er hätte vielleicht die Perspektive als einen Einzelfall in ein umfassenderes ontologisches Vermögen integrieren müssen. Aber für ihn ist es selbstverständlich, daß die Farbe Schmuck und Kolorit ist, daß alle Macht der Malerei auf der der Zeichnung beruht, und die der Zeichnung in dem geregelten Verhältnis zwischen ihr und dem Raum an sich, wie es die perspektivische Projektion lehrt« (AG 292–293).

Interessant ist, dass Merleau-Ponty die philosophische Qualifizierung der Farben von dem zentralperspektivischen Sehen abhängig macht, das für Descartes bestimmend ist. Dagegen wendet MerleauPonty ein, dass Farben nicht begrifflich beschrieben werden können wie Substanzen und ihre Eigenschaften, sie aber innerhalb der Ontologie einen eigenen Platz verdienten. Imdahl nennt die Diskussion um »disegno« und »colore« eine solche zwischen »Linearismus (Linie)« und »Kolorismus (Farbe)«. Ihnen liegt die Wertunterscheidung zwischen einer vorherrschend zeichnerisch-linearen und einer vorherrschend malerisch-farbigen 174 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Darstellungsweise zugrunde, und zwar in der Weise, dass die Farbe nur auf die Sinne, die Zeichnung dagegen auf die Vernunft gerichtet sei. In Kants Kritik der Urteilskraft heißt es zum Beispiel dementsprechend: »In der Malerei, Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten, in der Baukunst, Gartenkunst, sofern sie schöne Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Empfindung belebt, aber nicht anschauungswürdig und schön machen: vielmehr werden sie durch das, was die schöne Form erfordert, mehrenteils gar sehr eingeschränkt, und selbst da, wo der Reiz zugelassen wird, durch die erstere allein veredelt« (KdU § 14).

Giorgio Vasari hatte in der Kunstlehre den »disegno« als »padre delle tre arti nostre« gewürdigt, als »giudizio universale«, als Ausdruck der »idea di tutte le cose della natura« (GS3 21,145). Imdahl hat die Geschichte der Farbe in der neueren französischen Geschichte und in der Zeit Cézannes erforscht und in einer umfangreichen Studie publiziert. 92 Es ist eine Geschichte der Emanzipation der Farbe in Stufen, die Imdahl so wiedergibt. Die in dieser Zeit vorgebrachten Theorien lassen sich in folgenden Entwicklungsstufen zusammenfassen: Le Bruns (1619–1690) schließt sich noch der herrschenden Meinung Descartes an, Farbe ist sekundäre Akzidenz an der körperlichen Substanz; oder malerisch gesprochen, ist die Linie (Kontur) der primäre Bildwert; ihm sind Hell-Dunkel und Farbe untergeordnet. Nach de Piles (1635–1709) Auffassung sind das Hell-Dunkel des disegno und die Farbe (colore) primärer Bildwert; ihnen ist der Kontur untergeordnet. Nach Eugène Delacroix’ (1798–1863) Auffassung ist die Farbe der primäre Bildwert; ihr sind Hell-Dunkel und Kontur untergeordnet. Die Farbe erhält eine immer reichere Entfaltung als primärer Stoff der Kunst; und schließlich wird Malerei Kunst, insofern sie ein System aus Farben wird. (GS3 184) Delacroix hat für die Entwicklung der bildnerischen Mittel Entscheidendes geleistet. Cézanne sagte: »er hat die schönste Palette Frankreichs […] wir Maler sind alle in ihm« (Gasquet 49). Delacroix wurde bestimmend für die Bedeutung der Farben in der Malerei Imdahl, Max (1987), Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München.

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Cézannes. Charles Baudelaire hat sich in dem Sinne geäußert, dass ein Bild von Delacroix sofort beim ersten Hinsehen einen reichen, beglückenden oder auch melancholischen Eindruck auf die Seele ausübe. Farben können sehr verschiedene Empfindungen auslösen, solche der Trauer, der Heiterkeit, der Beklemmung und der Befreiung, wobei diese Empfindungswerte durch die Farben nicht sozusagen mittelbar symbolisiert, sondern unmittelbar suggeriert werden, weil sie in den Farben selbst unmittelbar wesenhaft und sichtbar gegeben sind. Delacroix hat die Bedeutung der Farbe hervorgehoben (»a inventé la couleur pour la couleur«), er hat ihnen Existenz verliehen (»le fait exister«) (GS3 166–7). Die spätere Farbenkunst Cézannes wurde erst möglich, nachdem Delacroix eine neue Stufe der Malerei aus der Farbe und mittels der Farbe erreicht hatte. Er hatte die Lebendigkeit und die inneren Bezüge der Figuren und Objekte untereinander und mit dem Raum durch die Farbe auszudrücken verstanden. Er hatte die inneren Beziehungen und Gesetzlichkeiten der Farbe, unabhängig von ihrer Beziehung auf die Stofflichkeit der Dinge sehr genau untersucht und eingesetzt. Auch die Impressionisten lernten, die malerischen Mittel frei schaffend einzusetzen, statt sie zur Nachahmung von Einzelheiten zu benutzen. Aber was Delacroix an freiem Spiel der Farben erfunden hatte, um geistige Gehalte sinnlich zu vermitteln, das benutzten sie, um das optische Phänomen, Sinnesempfindungen vor der Natur in ihrer Lebendigkeit, Licht- und Farbenglanz der Natur zu gestalten. Für Cézanne aber war die Kunst Delacroix’ das Beispiel für die Möglichkeit, das Bildganze aus frei gesetzten und folgerichtig entwickelten Farbfolgen aufzubauen, die Farbgestaltung zum tragenden Grund des Malens, zum einheitlichen Mittel einer Komposition zu machen. Delacroix hat aber der Natur mit den Farben einen romantischen Sinn gegeben. Dagegen hat Cézanne ihre Bedeutung anderswo gesehen als Delacroix und deshalb dessen Romantik in Gesinnung und Gestaltung ignoriert. (Gasquet 108–109) Von Delacroix führte nach Imdahl der Weg dann weiter zur Farbe als »forme mobile totale« von Delaunay, zur Kunst der immer reicheren Entfaltung und Aussagekraft der Farben, so dass aus der Malerei vor allem ein System aus Farben wird. (GS3 184) 93

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Zu Cézanne und Farben seiner Zeit s. Imdahl, Farbe, ebd., 113–121 und (AG 6–7).

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Empfindung und Realität Der Begriff »sensation« ist am ehesten zu übersetzen als »Empfindung«. Zunächst meint er die visuelle Wahrnehmung im Sinne einer Impression, einen vom Objekt ausgehenden optischen Sinnesreiz. Zugleich umfasst er die Emotion als psychische Reaktion auf das Wahrgenommene. Ausdrücklich stellte Cézanne nicht das darzustellende Objekt, sondern die »sensation« in den Mittelpunkt seiner malerischen Bemühungen. Cézanne ist ein Künstler, der sich seiner Situation in der modernen Epoche bewusst wird. Der Mensch ist die einsame, auf sich selbst gestellte Existenz. Er steht der Natur alleine gegenüber. Für die im 19. Jahrhundert herrschende naturwissenschaftliche Denkweise ist die Wirklichkeit eine Welt von messbaren Quantitäten, Kräften und Funktionszusammenhängen geworden, die nicht zuerst bezogen ist auf die menschliche Existenz, darum auch kein mögliches Fundament für einen geschlossenen künstlerischen Wirklichkeitsentwurf bietet. Der Künstler steht allein einer ungedeuteten Mannigfaltigkeit von Welterscheinungen gegenüber. Wenn es aber bei der Wirklichkeit und Wahrheit im künstlerischen Sinne nicht geht um das Aussehen dieses oder jenes Gegenstandes, das sich dem Auge bei der Wahrnehmung darbietet, sondern um die Wirklichkeit als ein Ganzes und die Dinge im Zusammenhang dieses Ganzen, dann kann der moderne Künstler diesen Zusammenhang nur noch in sich selbst finden, in der eigenen inneren Erfahrung, in dem intuitiven schöpferischen Vermögen, in »jener Urkraft, das heißt dem Temperament« (Gasquet 11, 106 f.). (Badt 95–98) Damit formuliert Cézanne eine Beziehung zur Welt, die gleichzeitig Ergreifen und Ergriffenwerden ist. Cézanne bediente sich eines begrifflichen Konzeptes, das auch in Kreisen der Impressionisten verbreitet war und neue Plausibilitäten zu schaffen erlaubte: der »sensation« oder »sensation colorante«. Damit ist der Wechsel der Aufmerksamkeit verbunden: nicht eine Mimesis, ein Abbilden der Dinge, ist beabsichtigt, sondern zunächst die Schau anonymer und verstreuter Sehdaten. (Boehm 199–204) Um das Phänomen der Empfindungen des Künstlers zu beschreiben, spricht Cézanne von »sensation« als »tempérament«, also der eigenen inneren Erfahrung, der es aber nicht nur um die verstreuten atmosphärischen Sehdaten wie bei den Impressionisten geht. Er verwendet dafür immer wieder den Vergleich mit einer »lichtemp-

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findlichen Platte«. Die Empfindungen sind das Registrieren aller sinnlichen Wahrnehmungen vor der Natur wie auf einer Platte: »Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur. [Dazu ist aber nötig] Sein ganzes Wollen muß schweigen. […] Dann wird sich auf seiner lichtempfindlichen Platte die ganze Landschaft abzeichnen. Um sie auf die Leinwand zu bannen, sie aus sich herauszustellen, muß dann das Handwerk einsetzen, aber ein ehrfurchtsvolles Handwerk. Denn […] die gesehene Natur, die empfundene Natur, die dort draußen (er deutet auf die grüne und blaue Ebene) und die hier drinnen – (er schlägt sich an die Stirn), beide müssen sich durchdringen, um zu dauern, zu leben, ein halb menschliches, halb göttliches Leben, das Leben der Kunst, hören Sie – das Leben Gottes. Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir. Ich objektiviere sie, übertrage sie, mache sie fest auf meiner Leinwand« (Gasquet 9–10).

Cézanne gebraucht große Worte, um die Empfindungen in der Seele des Künstlers zum Ausdruck zu bringen: »Eine Weltminute zieht vorüber. Sie in ihrer Wirklichkeit malen! Und alles darüber vergessen. Mit ihr eins werden. Und die lichtempfindliche Platte sein. Das Bild geben von dem, was wir sehen, und dabei alles vergessen, was vor uns erschienen ist« (Gasquet 14). Boehm gibt einen weiteren Hinweis auf die Auslegung von »sensation« durch Gilles Deleuze. Dieser gibt in seiner Analyse der »sensations« Cézannes, die sich in seinem Buch über Francis Bacon findet, einen interessanten Hinweis. Er beschreibt deren ambivalente Rolle, ihre doppelte Richtung: sie vermitteln Eindrücke von der Realität und sind zugleich Empfindungen im Subjekt selbst. In der Sensation vollzieht sich mithin eine spannungsvolle Verschmelzung dessen, was wir sehen, mit dem, wie wir sehen. Sie lässt sich weder der Welt der Objekte noch derjenigen der Subjekte alternativ und eindeutig zuordnen, sie durchbricht also eine fundamentale erkenntnistheoretische Unterscheidung. In der Sensation verknüpft sich die Energie der menschlichen Sinne mit derjenigen der äußeren Realität. Dies verleiht ihr selbst einen oszillierenden Status. (Boehm 199–204) Dazu mag an eine Entsprechung in der Phänomenologie erinnert werden. 94 Heidegger ersetzt Empfindungen mit Empfindnissen, und schließt sich damit Scheler, Erwin Straus und Merleau-Ponty an, die die substantivischen Empfindungen durch ein prozessuales Empfinden ersetzen. Heidegger spricht von der Befindlichkeit des Daseins. 94

Vgl. Cézanne und die Phänomenologie (Kunst 297–318).

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Welt-, Fremd- und Selbsterfahrung greifen so ineinander. Die verschiedenen Sinnesfelder kondensieren sich zu Sinnesqualitäten, die in ihrer Eigenart nach Maßgabe von Ähnlichkeit, Kontrast und raum-zeitlicher Nachbarschaft über sich hinausweisen. Farbqualitäten sind keine isolierten Atome und keine formlosen Bausteine, sondern Strahlungsherde, die, wie Merleau-Ponty sich ausdrückt, an einer allgemeinen »Ausstrahlung des Sichtbaren« (AG 309) partizipieren. Die Farbqualitäten weiten sich aus zu Farbfeldern und öffnen sich hin zur Welt der Farben. (SF 205) Der Künstler sollte in seinem Gemälde sein ganzes empfindendes Inneres ausdrücken und einbringen. »Dann wird sich auf seiner lichtempfindlichen Platte die ganze Landschaft abzeichnen« (Gasquet 9). Die ganze Breite sinnlicher Wahrnehmungen ist in die »sensations colorantes« und im Bild einzubringen. So beschreibt es Cézanne: »Der blaue bittere Duft der Pinien in der Sonne muß sich vermählen mit dem grünen Geruch der Wiesen und dem Hauch der Felsen des fernen Marmors vom Sainte-Victoire-Gebirge. Das muß man wiedergeben, und zwar allein in den Farben, ohne Literatur. Die Kunst, glaube ich, setzt uns in den Stand der Gnade, wo wir die universelle Emotion, wie in den Farben, so überall finden. – Der Tag wird kommen, wo eine einzige Mohrrübe, die ein Maler so mit Maleraugen gesehen hat, eine Revolution hervorbringen kann. – Man machte [im 19. Jahrhundert vor Delacroix] eine Landschaft als von außen zusammengesetzt, komponiert, man wußte nicht, daß die Natur mehr in der Tiefe liegt als an der Oberfläche. Man kann die Oberfläche verändern, schmücken, aufputzen, aber man kann so die Tiefe nicht berühren. Die Farben sind der Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche, sie steigen von den Wurzeln der Welt auf. – Ich stelle mir die Farben bisweilen vor als große Noumena, leibhaftige Ideen, Wesen reiner Vernunft. Ich denke an nichts, wenn ich male, ich sehe Farben, sie ordnen sich, wie sie wollen, alles organisiert sich, die Bäume, Felder, Häuser, durch Farbflecken. Es gibt nur noch Farben und in ihnen Klarheit, das Sein, welches sie denkt« (Gasquet 10, 25).

6.3.2.1 Palette und Logik der Farben Farbpalette Von der Farbpalette Cézannes sagt Kudielka: »Cézanne hat, wenn es nicht sein musste, nicht gemischt. Cézanne hat mit, muss man sich vorstellen, elf Gelbs, fünf Rots, drei Grüns, drei Blaus, einem Schwarz und einem Weiß gemalt. Wobei das Weiß in der Regel nur zur

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Aufhellung des Blaus gedient hat und sonst einfach nur durchscheinende Leinwand oder durchscheinender Papiergrund ist. Das in sich selber verlangt eine geradezu wissenschaftliche Genauigkeit des Sehens, denn ich muss ja auf meiner Palette immer wählen, welche Farbe ich nehme. Monet hat mit sechs, sieben Farben gemalt, die er virtuos gemischt hat. Cézanne hat das nicht getan, sondern zu seiner Genauigkeit des Sehens gehörte eigentümlicherweise die Fähigkeit, nicht nur die unübersehbare Vielfalt der Nuancen draußen in der Natur im Blick zu behalten, sondern auch die Möglichkeiten einer riesigen Palette, die er gehabt hat. Das muss man sich vorstellen, was das mental bedeutet: eine Palette mit cirka zwanzig Farben und dazu hin die verwirrende, undurchschaubare Vielfalt der Nuancen draußen und die Spannung, die dann entsteht, eigentlich im Arbeiten selber« (DLF).

Die Vielfalt der Nuancen betrifft nicht nur die Palette der Farben, sondern es macht auch den Reichtum der Farben selbst aus, wie Merleau-Ponty das für das rote Farbfeld beschreibt: »Als Zeichensetzung im Feld der roten Dinge, das die Dachziegel, die Fahne der Grenzwärter und der Revolution, gewisse Böden bei Aix oder auf Madagaskar umfaßt, ist es eine Markierung auch im Feld der roten Kleider, das neben Frauenkleidern auch die Roben von Professoren, von Bischöfen und von öffentlichen Advokaten umfaßt, desgleichen im Feld des Putzes und der Uniformen. Und streng genommen bleibt sich die Röte des Kleides nicht gleich, sondern verändert sich je nach dem, ob sie in dieser oder in einer anderen Konstellation auftritt, ob das reine Wesen der Revolution von 1917 darin seinen Niederschlag findet oder das Wesen des ewig Weiblichen, das des Staatsanwalts oder das der nach Husarenart gekleideten Zigeuner, die vor fünfundzwanzig Jahren über eine Brauerei der Champs-Elysees herrschten. Ein bestimmtes Rot ist auch ein Fossil, hervorgeholt aus dem Untergrund imaginärer Welten. (…) [Es ist] eine bestimmte Differenzierung, eine ephemere Modulation dieser Welt, weniger also Farbe oder Ding als Differenz zwischen Dingen und Farben, augenblickliche Kristallisation des Farbigseins oder der Sichtbarkeit« (SU 174 f.). (SF 205)

Farbenlogik Cézannes Malen gründet auf einer gekonnten Farbenlogik. (Gasquet 122 f.) Diese bedeutet die Richtigkeit genau gesetzter Farben. Diese Richtigkeit richtet sich nicht nach dem Bezug auf die Darstellung besonderer Dingeigenschaften; sondern sie bedeutet, aus der Konsequenz eines farbigen Systems zu komponieren: »eine Grammatik und einen Satzbau der Farben« durchzuhalten, »eine Farbenlogik, die nicht die Logik des Gehirns ist« (Badt 28, 20). 180 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Cézanne komponiert einen Bildzusammenhang nicht mehr aus einzelnen Dingen, sondern aus lauter kleinen Farbflecken, die das Gegenständliche erst aus sich hervorbringen und das auch nur so weit, wie es für den Zusammenhang des Ganzen und dessen Sinngehalt notwendig ist. Aber es ist eine ganz andere, durchaus nicht impressionistische Struktur, die aus den Farbteilchen eine Bildeinheit in Fläche und Raum macht. Es ist kein lockeres, spannungs- und richtungsloses Gewebe von Farbpunkten, kein beweglich schwebender Farbenschleier, sondern es ist ein lückenlos dichtes Gefüge aus rhythmischen Gruppen und Reihen von horizontal, vertikal, diagonal gerichteten kurzen Pinselstrichen; und aus dieser Komposition im Kleinen wird die Komposition im Großen und werden schließlich auch die gegenständlichen Zusammenhänge erzeugt. Da das Gefüge kein lockeres Gewebe mehr ist, erweckt es auch nicht die Illusion von Licht und Atmosphäre, es stellt überhaupt nichts Stoffliches und Vergängliches mehr dar. Es bildet »eine Harmonie parallel zur Natur« (Gasquet 9); kein Farbfleck ist auf Naturgegenstände direkt darstellerisch bezogen, sondern alle Teilchen sind bestimmt von ihrer Funktion in einem eigenen Medium der Farbkomposition. Jeder Fleck geht zwar zurück auf eine Sinnesempfindung vor der Natur, ›une sensation colorante‹, aber jede dieser Wahrnehmungen wird sofort übersetzt in ein Gefüge aus Farbtonstufen, die etwas Über- und Zwischendingliches bedeuten, und durch die den Dingen eine höhere Realität, ein Daseinssinn zuteil wird, eben dadurch, dass die Gegenstände und ihr Zusammenhang aus jenem übergegenständlichen Medium der Farbe überhaupt erst hervorgebracht werden. 95 Jeder Farbfleck ist als solcher eine kleine Farbfläche. Die Kleinstruktur aus Flecken ist ein lückenloser Zusammenhang in der Fläche, ein Geflecht, in dem es »keine lockere Masche geben darf, kein Loch, durch das die Wahrheit entschlüpft« (Gasquet 8). Die Fläche behauptet sich als selbständiges, einheitliches »Gebilde«. Farbmodulationen Wenn dieses Geflecht eine Welt räumlicher Objekte hervorbringen soll, dann muss es, trotz seinem Flächencharakter, Körper- und Raumvorstellungen hervorrufen. Wie kann das geschehen? Cézanne antwortet: durch Farbmodulationen. Er selbst will nicht einzelne 95

Imdahl, Farbe a. a. O., 113–121.

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Gegenstände »modellieren«, sondern die Farbstufen des ganzen Gebildes so »modulieren«, daß es sein lückenloses Gebilde behält und doch eine körper-räumliche Welt aus sich hervorgehen lässt. 96 Die wissenschaftliche, seit der Renaissance angewandte Perspektive hatte den Sinn gehabt, den Raum wie einen ruhenden Behälter zu konstruieren, in dem sich Figuren frei bewegen und so ›modelliert‹ werden. Cézannes Bildraum ist kein solches Gehäuse, in welches Objekte nachträglich, in bestimmter Lage zueinander, hineinkomponiert werden können, mit leerem Raum zwischen sich, sondern umgekehrt: der Raum ist bei Cézanne das Ergebnis eines dichten Gefüges unverrückbar aneinander gebundener Körper, und diese Körper sind wieder erst hervorgebracht aus jenem einheitlichen Flächengebilde aus Farbflecken, von dem oben die Rede war. Dieses – und nicht ein Raumgerüst und nicht einzelne Gegenstände – ist die alles tragende Grundstruktur, aus der heraus komponiert wird. Das Bild verdichtet, »realisiert sich« aus ihr heraus in allen Teilen gleichzeitig. Boehm spricht mit Badt von der Chromatik der Farben, die Cézanne einsetzt: »Die chromatische Logik orientiert sich an den drei Primärfarben, den Fundamenten der farbigen Welt. Diese ersten Größen definiert, dass sie sich wechselseitig nicht herleiten lassen. Niemals lässt sich ein Rot aus einem Blau oder aus einem Gelb ausmischen. So eigenständig diese farbigen Kräfte sind, als bildliche Valeurs treten sie in Beziehung, wirken sie sich aus. Cézanne befreundet sie, indem er den drei primären Energien jene zugesellt, die sich vermittels wechselseitiger Mischung aus ihnen ergeben. Diese benachbarten, damit sekundären Farben sind Violett (das aus Blau-Rot folgt), Grün (das aus Gelb-Blau kommt) und Orange, mitunter mit hellen Braun getrübt (das aus Rot-Gelb seine Existenz bezieht). Damit entsteht eine Folge von Nachbarschaften, innerhalb derer schon die bloße Farbstellung Nähe und Ferne (z. B. zwischen roten und blauen Tönen), Wärme und Kälte oder Licht uns Schatten veranschaulichen kann. Isolierte komplementäre Kontraste, in denen anstelle farbiger Nachbarschaften reine Polaritäten aktiviert werden (z. B. das Grün mittels des Rot, das Violett mittels des Gelb), sind seltener. Cézanne benötigt eine Ebene des farbigen Zusammenhangs, nämlich die sukzessive ›Abfolge primärer und sekundärer Valeurs‹« (Mont 87–88).

Chromatischer Farbsatz – Modulation ist ein musikalischer Begriff (Badt 27–30). Dass dieses Wort mehr bedeutet als eine metaphorische Redeweise, hat Badt gezeigt durch eine Analyse der Technik CéCézanne »modelliert« nicht, sondern »moduliert« (Gasquet 37, 75, 114, 116 f.); (Mont 85–87; 100–102); (Badt 31 ff.).

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Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«

zannes: seine »Technik sei als Poetik« zu verstehen. Im System der Musik ist die Bedeutung jedes Tons abhängig vom Grundton einer Skala und von dem Intervall zu dem Grundton. Bei Cézanne seien nun, meint Badt, die Farbflecke in ihrer Bedeutung ebenfalls abhängig von Grundfarben, auf die sie in Stufenreihen und Intervallen bezogen sind. Cézannes Farbtonreihen gründen sich nach Badt auf Hell-Dunkel Werte, die den reinen Farben als solchen eigen sind. Reine Farben mit gleichem Sättigungsgrad sind verschieden »tief« (dunkel) oder »hoch« (hell). So lassen sich Skalen aufbauen, in denen die verschiedenen Farben – anders als im Farbenkreis – in fortlaufender Reihe vorkommen. In der Musik sind nun die Töne und ihre Intervalle durch ein Tonsystem allgemeingültig festgelegt und gegeben. Ein Maler aber, der ähnlich aus Farbskalen komponieren will, muss für jedes Bild erst eine Chromatik aufstellen. Er muß den Bereich der Farbtöne einer Reihe bis zur Wiederholung des Grundtons in höherer oder tieferer Lage für jedes Bild selbst setzen und ebenso das kleinste zulässige Intervall. Das unternimmt nun Cézanne nicht nach freier Willkür, sondern im Kontakt mit der Natur »sur le motif« (Badt 256 Anm. 5). Die Grundlagen der Farbkomposition entnimmt er der sichtbaren Naturerscheinung, aber nicht aus den besonderen Formen, Farben und Ausdrucksqualitäten einzelner Dinge, sondern aus der farbigen Errechnung ihres Zusammenhangs im Raum. Das Wahrnehmen dieses Zusammenhangs ist ein schöpferischer Akt, bei dem der Blick die Wirklichkeit durchdringt und an ihrer farbigen Erscheinung Andeutungen und Hinweise erkennt, deren Entwicklung dazu führt, den Geist, die Seinsverfassung, der Natur zu entdecken, die Dinge und Wesen der Welt hervortreten lassen. »Meine Studien […] wären also nur Konstruktionen nach der Natur, gegründet auf die Mittel, die Empfindungen und Entwicklungen, die das Modell mir eingibt« (Gasquet 81). Dass Cézanne in Begeisterung gerät vor Bildern von Veronese, scheint hier begründet zu liegen. Cézanne glaubt, dass da, wenn auch von völlig anderen Voraussetzungen aus, etwas Verwandtes vorliege. Der Maler ist »zu den verflochtenen Wurzeln der Dinge hinabgestiegen und mit den Farben wieder emporgestiegen. Er bringt die Dinge, die er in sich aufgenommen hat, ganz neu hervor, […] als ob sie eine geheimnisvolle Musik geatmet hätten« (Gasquet 36, 116– 118).

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6.3.2.2 Ikonische Differenz Nimmt man die Bildlogik der Kunst Cézannes in den Blick, so wird man unmissverständlich auf das Werden des Werkes verwiesen, den status nascendi des Werkes. Bestimmend für diese Sichtweise auf das Werk Cézannes ist das Hervortreten, das Werden des Werkes, die »Ikonische Differenz« in statu nascendi. »Die Bilder Cézannes zeigen wie nur selten sonst Bilder zuvor in ihrem Fertigsein ihr Entstandensein« (GS3 406 ff.). Bei Cézanne geht es vor allem um das Bildereignis, um das Sinngeschehen in statu nascendi, um das Entstehen des Bildsinns (PW 18). Gottfried Boehm hat den Prozess des Bildwerdens mit MerleauPonty auf folgende Weise zusammenfassend beschrieben: »Man darf Merleau-Pontys Absichten so verstehen, daß er den Versuch machen wollte, die starre Zuordnung von Zeichen und Sinn (signifiant und signifié) durch eine bewegliche zu ersetzen, welche die Simultaneität ihres Ineinanders und Auseinanders zu sehen erlaubt. MerleauPonty hört auf, das sprachliche Zeichen (von da aus aber auch das bildliche Zeichen) als Sinnträger zu beschreiben. »Bei de Saussure haben wir gelernt, daß die einzelnen Zeichen für sich genommen nichts bedeuten, daß jedes von ihnen weniger einen Sinn ausdrückt, als daß es einen Sinnabstand zwischen sich selbst und den anderen Zeichen angibt, […] sprachliche Bedeutungen werden erst durch die zwischen ihnen auftauchenden Unterschiede hervorgebracht« (AG 111). (Logos 301).

Darin liegen drei wichtige Konstruktionsprinzipien des bildlichen Systems. Erstens ist das einzelne (das isolierbare) Element für sich bedeutungslos und insofern nichtig. Es wird bedeutungsstiftend durch einen zweiten Gedanken, nämlich den einer lateralen Verbindung mit anderen Elementen. Sinn artikuliert sich nicht in der finalen Zuordnung von Zeichen und Sinn, sondern aus dem Prozess der lateralen Verknüpfung der Zeichen untereinander. Es bilden sich allmählich Sinnkonfigurationen heraus: ›Man kann sagen, dass malen kontrastieren ist‹. Das einzelne Element, als ›signifiant‹, weist nicht auf ein anderes außer sich, das ›signifié‹, sondern verweist zurück auf sich und die Syntax des Ganzen. Das Bild weist nicht über sich hinaus, von sich weg, sondern es verweist zurück auf sich selbst (Mont 100): »Dabei wird drittens gerade der Abstand, die Grenze, der Kontrast der Zeichen zum sinnstiftenden Movens. Was Merleau-Ponty sprachliche Matrix

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nennt, ließe sich im Bilde gerade als das komplexe Geflecht von Grenzen, Kontrasten, Verschiebungen beschreiben, deren Vieldeutigkeit so weit reicht wie die unerschöpfliche Fülle verschiedener Farben, Linien, Flächen etc.« (Logos 301).

Der Bildsinn eines Werkes von Cézanne erschließt sich aus dem Prozess der »Ikonischen Differenz« in ihren beiden grundlegenden Momenten, des »simul et singulariter«, der »Simultaneität«, und der »Potentialität«, wie wir sie oben beschrieben haben. »Potentialität« ist die Unbestimmtheit und zugleich Vielgestaltigkeit des Einzelnen, das durch Differenzen im Bild hervortritt; »Simultaneität« hat das Ganze im Blick. Potentialität Für Gottfried Boehm ist die Unbestimmtheit des ersten Eindrucks und die damit gegebene »Potentialität« der Werke Cézannes besonders auffällig. An Bildern Cézannes, besonders des Spätwerks, fällt auf, dass sie die schnelle Wiedererkennbarkeit der Realität und ihrer Gegenstände außer Kraft setzen (z. B. oben der Montagne Sainte Victoire von Basel). Boehm erklärt und erläutert diesen Eindruck. Wir sehen nicht primär Dinge, sondern eine Textur aus Farbformen, die zu sehen gibt, uns die Augen allererst öffnet: zum Beispiel für diese Landschaft mit ihren Wolken, mit Himmel und Berg, mit Häusern, Bäumen und Wegen. Zwischen dem bestimmbaren semantischen Gehalt (Montagne Sainte Victoire) und der liquiden Struktur des Bildes baut sich eine spannungsvolle und vieldeutige Beziehung auf. Um ein Wort Wittgensteins zu übernehmen: das Bild hat »Spiel«, und betrachtend werden wir dazu angehalten, dieses Spiel zu spielen. Die kurzen und distinkten Wege sind dem Auge abgeschnitten, solche also, die es gestatten würden, die Farben und Formen ganz bestimmten Dingen schnell und eindeutig zuzuordnen – wie wir dies aus so vielen Bildern gewohnt sind. Cézanne durchbricht diese Konvention. Er bietet uns stattdessen lange Wege an, steigert das Bild – über das Bekannte hinaus – zu einem Spielraum für das Auge. Spielräume aber schaffen unabsehbare Möglichkeiten, gelenkt durch jeweilige Regeln. Es ist diese Steigerung der ikonischen Potentialität, die Cézanne auch historisch auszeichnet. Er hatte selbst ein deutliches Wissen von dieser Veränderung. »Wir erkennen daran, dass er das Bild und seine Wahrnehmung als Prozess, als temporale Explikation, verstand und dafür das Verb ›realisieren‹ einführte« (Boehm 199–204). 185 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Die Form des Spiels ist in der Kunst bekannt. Es sei daran erinnert, dass im Felde der Ästhetik »defizitäre« Konzepte immer wieder eine Rolle gespielt haben. Als Beispiel lassen sich etwa die »vaghezza« in der italienischen Kunsttheorie benennen, samt ihrer Ausformung zum »sfumato« in der Malerei Leonardo da Vincis, oder das ästhetische Ein-Satz-Theorem »Je ne sais quoi?«, das eine generelle Unbestimmbarkeit des Ästhetischen zu suggerieren scheint, ihm einen benennbaren Sachgehalt abspricht, den man durch die Frage: »Was?« zu ermitteln vermöchte. Die Vermutung verdichtet sich zu der Hypothese, die sich mit einer Frage Wittgensteins formulieren lässt: »Ist das unscharfe [Bild] nicht oft gerade das, was wir brauchen« (Boehm 200). Der Aspekt der Unbestimmtheit erweist sich als unausweichlich, wenn wir unseren Blick auf die einzelnen Elemente der Malerei Cézannes lenken. Dort zeigt sich höchst Befremdliches: jedes einzelne Moment von ihnen ist definitiv unbestimmt – die schiere Faktur des Pinsels, die schiere Faktizität von Farbe und Form. Man kann niemals sagen, was dieser oder jener »tache« bedeutet. In seinen einzelnen Farbformen zieht sich das Bild gleichsam in völlige Stummheit, in Referenzlosigkeit zurück. Es steigert dabei aber seine Potentialität, die wir mobilisieren, wenn wir die einzelnen Elemente in einen Zusammenhang bringen, sie als Konstellationen eines Ganzen »realisieren«. Wir reden von den langen Wegen des Auges und tatsächlich eröffnet das Bild unbenennbar viele Wege – immer zu sich selbst. Mit Worten Robert Musils gesprochen, die sich im Mann ohne Eigenschaften finden, bedient sich hier der »Wirklichkeitssinn« eines »Möglichkeitssinnes«. Cézanne gelingt es, eine erstaunliche Einsicht zu formulieren, nämlich mit autonomen, das heißt mit völlig unähnlichen Mitteln der Malerei die sichtbare Natur zu erfassen. Das Stichwort »Potentialität«, das mehrfach gebraucht wird, um Cézannes Bildkonzept zu beschreiben, ist höchst aufschlussreich. Es widerspricht nämlich der Auffassung, Bilder seien damit befasst, die Wirklichkeit gleichsam nachzubauen, sie gegebenenfalls zu simulieren. Eine Voraussetzung wird außer Kraft gesetzt, die seit Descartes und bis heute als selbstverständlich gegolten hat: dass die Welt als ›res extensa‹ aus einem Korsett stabiler Gegenstände besteht, auf deren Oberflächen variable Eigenschaften zu beobachten sind, wie die Sinnlichkeit von Farbe, Licht und Schatten, mit all ihren Veränderungen. Diese Ontologie dinglicher Substanzen hat sich als Konvention der Wahrnehmung eingebürgert. Cézanne aber entdeckte, dass sie einer 186 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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genauen Analyse, seiner konzentrierten visuellen Arbeit »sur le motif«, nicht standhält. Und er zog malend Konsequenzen daraus. Er ordnete die Textur der Farbformen nicht Dingen zu, sondern einer Logik der Struktur der Farben. Farbe ist den Dingen nicht attribuiert, sondern selbst eine primäre Größe, die das Schauspiel der Natur sichtbar macht. Wir wissen aus den schriftlichen Quellen, wie mühsam es gewesen ist, die erwähnten Prämissen zu erschüttern, die sich in der Hierarchie primärer und sekundärer Sinnesqualitäten, wie sie aus der Geschichte der Philosophie geläufig sind, verfestigt haben. Die trügerische Veränderlichkeit des Sinnlichen gilt danach als ein nachrangiges Phänomen, das einer Verankerung an messbaren, und das heißt objektiven Eigenschaften bedarf, solchen, die ein solides Wissen von der Welt begründen. Cézanne entwickelte deshalb nicht zufällig ein Verfahren, das sein Wissen von den Dingen der Natur einklammerte, um die Wahrnehmung der Natur aus der Vieldeutigkeit des Sehens zu erneuern. (Boehm 199–204) Simultaneität Simultaneität meint das Zusammensehen in allen Differenzierungen, Unterscheidungen, Einzelheiten im Bild zu einem Ganzen, zu einem Bild. Wenn Cézanne malte, dann versuchte er an möglichst vielen Stellen eines Bildes gleichzeitig zu arbeiten, um unterschiedliche Blickwinkel und Einzelaspekte einer Szene zeitgleich erfassen zu können. »Die optische Simultaneität des Bildes, d. h. die Konkretisierung des Sinnes, ist ein Prozeß, der von allen Seiten her zugleich in Gang kommt, sich nicht entlang einer sprachlichen Sequenz linear und nacheinander entrollt. Diese Verschiedenheit in der Bewegungsform des sprachlichen und des stummen Logos ist besonders signifikant« (Logos 300).

Imdahl hat den Zusammenhang von »Potentialität« und »Simultaneität«, der Ikonischen Differenz, folgendermaßen zusammengesehen: »Bekanntlich ermöglichen Werke der modernen Kunst unterschiedliche, oft gegensätzliche Interpretationen, und dies bei gleichem phänomenalem Befund. Im Falle des Bildes von Cézanne besteht der gleiche phänomenale Befund in der ›gleichförmigen Textur‹ des koloristischen Systems aus bloßen Farbflecken, darin also, daß in der Bildlichkeit Cézannes die Dinge nicht

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in endgültiger linearer Artikulation wie Verfügbarkeiten des wiedererkennenden Sehens zur Geltung kommen. Kurt Badt hat die Bildlichkeit Cézannes als eine Welt im dichtesten Zusammenbestande gedeutet, innerhalb derer jedes je einzelne existiert. ›Im unerschütterlichen Strukturzusammenhange des Ganzen‹ (das heißt des koloristischen Systems) erscheinen die Dinge in der Bedeutung von ›dauernd‹ und ›unzerstörbar‹ (Rilke) (Badt 164). Entsprechend der von uns vorgeschlagenen Interpretation ist die Bildlichkeit Cézannes als der Simultanausdruck von Genese und Dinglichkeit ein Simultanausdruck von natura naturans und natura naturata. Man gelangt zu solchen Deutungen – sei es nun die Vision einer dauernden, ›ewigen‹ Welt im unzerstörbaren Zusammenhange oder die Anschauungseinheit von natura naturans und natura naturata –, wenn man das Bild Cézannes nicht auf ein bloß retinales und im übrigen belangloses Ereignis reduziert: Was immer die Natur ist oder als was sie unter welchen Gesichtspunkten auch immer vorgestellt werden mag, in Cézannes Bildlichkeit ist sie vorgestellt als ein das je einzelne in sich zusammenfassendes oder gar generierendes Prinzip. Das Überzeugende dieser Vorstellung liegt nicht in der Bestätigung theoretischer Spekulationen, sondern allein in der Sichtbarkeit des Bildes selbst« (GS3 409).

6.3.2.3 Leben – Stillleben – Bildnisse Der Maler heißt im Griechischen ζωγράφος, er ist also jemand, der Lebendiges darstellt, der ein lebendiges Bild malt. Cézanne verbindet mit der Farbe das Lebendige. Farbe ist Ausdruck von Leben: »Es gibt nur einen Weg, alles wiederzugeben, alles zu übersetzen: die Farbe. Die Farbe ist biologisch, möchte ich sagen, sie macht allein die Dinge lebendig« (Gasquet 20). Tiefe Es ist die Tiefe, in welche die Farbe führt. In der Tiefe gründet das Leben der Farbe: »Die Natur ist nicht an der Oberfläche«. Und: »Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen«. Nach Cézanne hat sich der Maler nicht an der sichtbaren Oberfläche der Dinge aufzuhalten, sondern mit den Farben zu den Wurzeln der Dinge hinabzusteigen, oder besser umgekehrt die Dinge aus den Farben neu aufsteigen zu lassen (Gasquet 16). Mit diesem Vorgehen schafft Cézanne nach Boehm »ein bildhistorisches Ereignis allerersten Ranges« (Mont 98). Der Natur das Leben wiederzugeben, gibt ihr und allem in der Natur so etwas wie ein neues Wesen. Es macht die Dinge der Natur zu 188 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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empfindenden Wesen, zu Partnern des Malers, dessen besondere Begabung das »Empfinden (sensation)« ist: »Die Bäume als empfindende Wesen? Was gibt es Gemeinsames zwischen einem Baum und uns? Zwischen einer Kiefer, wie sie mir erscheint, und einer Kiefer, so wie sie an sich ist? Ja, wenn ich das malen würde […] Ich möchte, sagte ich mir, den Raum und die Zeit malen, damit sie die Formen der Farbenempfindung werden, denn ich stelle mir manchmal die Farben vor als große, nouomenale Entitäten, als leibhaftige Ideen, Wesen der reinen Vernunft, mit denen wir in Beziehung treten könnten. Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sie ist in der Tiefe. Die Farben sind der Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche. Sie steigen aus den Wurzeln der Welt auf. Sie sind ihr Leben, das Leben der Ideen. Die Zeichnung ist ganz Abstraktion. So darf man sie auch niemals von der Farbe trennen. Das ist so, als ob Sie ohne Worte denken wollten, in reinen Zahlen, in reinen Symbolen. Sie ist eine Algebra, eine Schrift. Sobald sie auf das Leben stößt, wenn sie Empfindungen kennzeichnet, wird sie farbig. Der Fülle der Farbe entspricht immer die Fülle der Zeichnung« (Gasquet 25). (Wege 87)

Kudielka übersetzt das Erfahren des Lebendigen in den Farben für das Sehen insgesamt: »Sie können einem Baum, wenn Sie ihn wirklich sehen, nicht Blätter anmalen, das gibt es nicht. Das sehen Sie nicht. Sie sehen farbige Empfindungen, ›sensations colorantes‹ oder ›colorées‹, wie Cézanne das auch genannt hat. Das heißt, sie bewegen sich auf einer Ebene, wie er es selber gesagt hat, von farbigen Empfindungen, die das einzig authentische sind, was sie sehen. Und ich weiß natürlich, dass das Blatt eines Ahornbaumes so aussieht wie es aussieht, wenn ich ganz nahe hingehe. Aber wenn ich es auf zwanzig Meter Entfernung male, dann sehe ich etwas ganz anderes. Ich sehe pleine Ebenen von Farben, verschiedenartig beleuchtet und das versucht Cézanne zu malen. Das ist die eigentliche Treue gegenüber der Wahrnehmung, die keine gegenüber den Gegenständen ist. Denn ich sehe sie ja nicht als Gegenstände diese einzelnen Dinge, diese einzelnen Teile zum Beispiel eines Baumes, die bestimmte Farben an sich tragen« (DLF). 97

Kandinsky hat es dieses bildnerische Sehen des Lebendigen besonders angetan: »Cézanne. Er verstand aus einer Teetasse ein beseeltes Wesen zu schaffen oder richtiger gesagt, in dieser Tasse ein Wesen zu erkennen. Er hebt die ›nature morte‹ zu einer Höhe, wo die äußerlich ›toten‹ Sachen innerlich lebendig werden. Er behandelt diese Sachen ebenso wie den Menschen, da 97

»Natur« – »sens brut« (AG 278).

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er das innere Leben überall zu sehen begabt war. Er bringt sie zu farbigem Ausdruck, welcher eine innere malerische Note bildet und preßt sie in die Form, welche zu abstrakt klingenden, Harmonie ausstrahlenden, oft mathematischen Formeln heraufgezogen werden. Nicht ein Mensch, nicht ein Apfel, nicht ein Baum werden dargestellt, sondern das alles wird von Cézanne gebraucht zur Bildung einer innerlich malerisch klingenden Sache, die Bild heißt. So nennt auch schließlich seine Werke einer der größten neuesten Franzosen – Henri Matisse: Er malt ›Bilder‹. Um dieses zu erreichen, braucht er keine anderen Mittel als den Gegenstand (Mensch oder sonst etwas) als Ausgangspunkt und die der Malerei und nur ihre eigenen Mittel – Farbe und Form« (ÜG 34).

Wie gelang es Cézanne genauer, die Dinge und Menschen lebendig darzustellen? Nach Merleau-Ponty hat »Cézanne die Physiognomie der Gegenstände und Gesichter gemalt« in diesem Zusammenhang zitiert er Goyas Bemerkung: »›In der Natur gibt es ebenso wenig Farben wie Linien‹ (SC 182, dt. 193). Was es gibt, sind Gestalten, Farbkontraste, Konfigurationen, die jedem Farbfleck sein besonderes Gepräge geben« (Sinne 140). Die Dinge zeigen bei Cézanne alle ein Gesicht, ihr Gesicht, das Merleau-Ponty mit »Physiognomie« wiedergibt: »Cézanne wollte dieser Physiognomie genau in dem Moment habhaft werden, wo sie aus der Farbe aufsteigt. Ein Gesicht ›wie einen Gegenstand‹ malen, bedeutet nicht, daß man alles Gedankliche darin tilgt. ›Ich verlange, daß der Maler es interpretiert‹, sagt Cézanne, ›der Maler ist kein Idiot‹. Doch diese Interpretation darf kein vom Sehen getrenntes Denken sein. ›Wenn ich all die kleinen Blaus und Kastanienbrauns male, lasse ich es so blicken, wie es blickt […]. Teufel nochmal, wenn die Leute ahnten, wie man durch die Verbindung eines schattierten Grüns und eines Rots einen Mund traurig macht oder eine Wange lächeln läßt.‹ Der Geist ist sichtbar und ablesbar an den Blicken, die doch selber nichts anderes sind als Farbkomplexe. Der Geist anderer bietet sich uns nur als inkarnierter dar, muß sich in einem Gesicht und in Gesten verkörpern. Es ist nutzlos, dem die Unterscheidungen von Seele und Körper, von Denken und Sehen entgegenzuhalten, denn Cézanne geht eben auf die primordiale Erfahrung zurück, aus der diese Begriffe und Vorstellungen stammen und wo sie noch untrennbar verbunden sind. Der Maler, der denkt und unmittelbar auf den Ausdruck zusteuert, verfehlt das Geheimnis des plötzlichen Erscheinens eines Menschen in der Natur, das sich stets erneuert, sobald wir jemanden erblicken« (AG 13).

Versuchen wir, Cézannes Darstellungsweisen des Lebens an zwei wichtigen Genres seines Werkes, den Stillleben der Natur und den Bildnissen vor Personen, nachzuvollziehen. 190 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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6.3.2.3.1 Stillleben Cézannes Malerei macht aus, dass er sowohl die Physiognomie der Dinge wie die der Gesichter aus der Farbe aufsteigen lässt. Dazu kommt der bekannte Effekt, dass auch seine Porträts Züge eines Stilllebens annehmen. 98 »Seine Malerei ist der Versuch, durch die vollständige Restitution der sinnlichen Konfiguration die Physiognomie eines Dinges oder eines Gesichts selbst zu gewinnen« (Sinne 143). »Das Verfahren der Operationalität von Farbflecken lässt sich an Landschaften wie an Figurenbildern (und Ereignisbildern, Giotto) durchführen« (Imdahl) (GS3 319). Bekannt ist das frühe stolze Wort Cézannes, mit dem er dem stolzen Paris den Fehdehandschuh hinwarf: »Mit einem Apfel will ich Paris in Erstaunen versetzen«. Das Wort bringt zum Ausdruck, wie selbstbewusst Cézanne schon früh von seiner Kunst überzeugt war und welch hohe Bedeutung dabei bereits das Stillleben hatte. Er wollte ein neues Sehen der Natur in die Kunstwelt bringen, ein neues Sehen selbst der unscheinbar natürlichen Dinge wie eines Apfels, der aber nicht klassisch geformt auf dem Tisch läge, sondern den man ›riechen‹ und ›anfassen‹ könne (Selbst 98). Bild »Stillleben mit Äpfeln und Orangen« (→ Abb. 6, S. 467). Zur Bildgestaltung – Eine hell leuchtende, weiß graue und z. T. gelblich-blaue Fläche erfasst als erstes den Blick des Betrachters. Es ist ein weißlicher Stoff, der auf einem Tisch gefaltet ist und den Vordergrund des Bildes bestimmt. Auf diesem befinden sich rotorange gelbe Kugeln, die als Früchte, dem Bildtitel nach als Äpfel und Orangen zu bestimmen sind. Dazu ein weißer Krug, der verziert ist mit Blumen und anderen bunten, die Farben der Früchte aufgreifenden Ornamenten; eine weiße, ovale Obstschale mit Orangen sowie ein ebenfalls weißer, runder und scheinbar nach vorn kippender Teller, auf dem sich Äpfel befinden; dann zusätzlich lose verteilte Früchten auf der weiß leuchtenden Tischdecke (s. auch → Abb. 4, S. 150). Die helle Stoffdecke, zusammen mit den sich darauf angeordneten Gegenständen, bildet einen Kontrast zu den dunkleren, schwer wirkenden und hauptsächlich in Blau-Tönen gehaltenen Stoffen, die den Hintergrund bilden, und die auch die reinen Gelb-, Orange- und Rot-Töne der Früchte sowie der Ornamente des Kruges enthalten bzw. wieder aufgreifen. Dabei ist der linke Stoff eher mit warmen und eckigen Ornamenten verziert, der rechte mehr mit kälteren und 98

Zu den Stillleben Cézannes (Kunst 223–252), (Badt 116–130).

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gerundeten Mustern. Die Stoffe verlaufen dank ihrer Falten ineinander. Wie Berge eines Landschaftsbildes erheben sich die blauen Stoffe im Hintergrund, wie Schneefelder oder Gletscher fallen die weißlichen Decken vom Tisch. Die Stoffkomposition erinnern an Bergmassive, ähnlich den Landschaftsbildern des Motivs der Montagne Sainte-Victoire. Zur Farbe – Dank der aufeinander abgestimmten Farben entsteht einerseits ein Wechselspiel zwischen einer 2-D und der 3-D Wahrnehmung und somit das Gefühl einer verzerrten Perspektive. Andererseits besteht auf der Bildfläche ein perfekt aufeinander abgestimmter, harmonischer Farbübergang der Bildmotive. »Wie macht er das nur?« hat sich Renoir gefragt. »Er kann keine zwei Farbtupfen auf die Leinwand setzen, ohne dass es schon sehr gut ist«. 99 Kein Pinselstrich ist unüberlegt auf die Leinwand gesetzt, was manchmal Stunden dauern konnte, denn »jeder Pinselstrich musste eine Unendlichkeit von Bedingungen erfühlen.« Er musste »die Luft, das Licht, den Gegenstand, die Ebene, den Charakter, die Zeichnung, den Stil enthalten«, wie es Emil Bernard berichtet (AG 13). Dabei geht es Cézanne nicht um das Schaffen »schöner Werke«, sondern in erster Linie um das Erlangen immer neuer Einsichten durch das Malen selbst, was sich besonders darin äußert, dass er nicht selten seine »Bilder nach getaner Arbeit vor seinen Motiven liegen gelassen, dort [einfach] vergessen« hat (Mont 10). Somit wundert es auch nicht, dass sich Cézanne für seine Bild-Kompositionen auch Zeit genommen hat, wie es Louis Le Bail bei einem Besuch im Atelier des Künstlers beobachtete: »Das weiße Tuch kaum, mit angeborenem Empfinden, auf dem Tisch drapiert, da legte er sich die Pfirsiche zurecht, indem er die Farbtöne schroff gegeneinander setzte und die Komplementärfarben zum Schweigen brachte, die grünen Töne gegen die roten, die gelben gegen die blauen, und indem er die Früchte so drehte, neigte und ausbalancierte, wie er es haben wollte, wobei er dafür Ein- oder Zwei-Sous-Stücke zu Hilfe nahm. Er tat das mit größter Sorgfalt und viel Behutsamkeit, man spürte, dass es für ihn eine Augenweide war«. 100

Üppige, warme Töne bestimmen auch in dem Bild Stillleben mit Äpfeln und Orangen die Farbe der Früchte, wogegen das Blau der Hintergrundstoffe kontrastiert und die leuchtende Decke mit ihrem wei99 100

Doran, Michael (Hrg.) (1982), Gespräche mit Cézanne, Zürich, 210. Becks-Malorny, Cézanne, a. a. O., 56.

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ßen Geschirr Licht ins Bild bringt. Eine lebendige Farbharmonie beherrscht diese Leinwand. Cézanne entwickelt die Komposition aus einzelnen über die Leinwand verteilten Farbtupfern, aus denen sich allmählich Form und Volumen eines Gegenstandes aufbauen. Diese Farbharmonie entsteht vor allem durch die »koloristische Logik« der Farben und nicht nur dank ihrer Anordnung auf der Leinwandfläche. Damit ist »eine Folge benachbarter, nach Farbe und Helligkeit ähnlicher, wenn auch klar unterschiedlicher Töne« gemeint, d. h. dass sich die »koloristische Logik« aus den Primär- und Sekundärfarben bildet, wobei die Primärfarben das Fundament bilden, da sie »eigenständig« sind und sich »wechselseitig nicht herleiten lassen.« Jedoch »als bildliche Valeurs treten sie in Beziehung, wirken sie sich aus. Cézanne befreundet sie, indem er den drei primären Energien jene zugestellt, die sich vermittels wechselseitiger Mischung aus ihnen ergeben«: d. h., Violett (gebildet aus: Blau-Rot), Grün (gebildet aus: Gelb-Blau) und Orange, das zu hellem Braun getrübt wird (gebildet aus: RotGelb). »Damit entsteht eine Folge von Nachbarschaften, innerhalb derer schon die bloße Farbstellung Nähe und Ferne, Wärme und Kälte oder Licht und Schatten veranschaulichen kann«, wie es Boehm beschreibt (Mont 87–88). Dieser gestalterische Vorgang ist ein mühsames »Modulieren« mit Farben. Dabei geht Cézanne zwar von der Farbe des Gegenstands aus, zum Beispiel dem Rot-Gelb eines Apfels, bindet diese jedoch zugleich in das koloristische Gefüge ein, das eigenen Kontrast- und Harmoniegesetzen folgt. So löst er die Farben von der unmittelbaren Gegenstandsbeschreibung und stellt ihren Eigenwert heraus. Zu den Perspektiven: Ein Aspekt, der die Stabilität des Bildes außer Kraft setzt, ist die ständig schwankende Einteilung des Vordergrunds und Hintergrunds: Einerseits wird dank der Dreieck-Tischkomposition, der Bildhorizontalen (zwischen dem hellen und dunklen Stoffen) und der Obstgruppe hinter dem Teller das Bild eindeutig in Vordergrund und Hintergrund eingeteilt. Auffallend aber sind die Kippeffekte zwischen dem Vorder- und Hintergrund. Sie entstehen durch die Darstellung der Gegenstände in unterschiedlichen Perspektiven. Die Obstschale und der Krug scheinen eher flächig als dreidimensional dargestellt zu sein und der scheinbar kippende Teller kippt gar nicht, sondern ist in eine Schrägstellung gesetzt. Dieser Effekt wird dank eines Holzklotzes, der unter den Teller geschoben wird und noch unter der Decke zu erblickenden ist, erreicht. Dadurch wird eine Darstellung einer größeren Aufsicht 193 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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als bei den anderen Bildelementen ermöglicht. Demzufolge entsteht bei dem Betrachter der Eindruck, er sehe die unterschiedlichen Bildelemente in unterschiedlichen Ansichten auf ein Mal (s. oben → Abb. 4, S. 150). Bewegung – Der blaue Stoff im Hintergrund der linken Bildhälfte ist dunkler als in der rechten. Auf Grund dieser Schattierung der blauen Stoffe entsteht eine runde Bewegung, die von der rechten unteren Bildecke zum oberen Bildrand verläuft und am rechten Bildrand unten endet. Dadurch wird das Szenario auf der weißlichen Decke noch mehr in den Vordergrund gerückt, so dass es fast aus dem Bild heraus zu fallen bzw. herausgedrückt zu werden droht. Unterstützt wird dieser Effekt durch den schweren Faltenwurf des weißlichen Stoffes, der leicht diagonal – aber gegen die Gesetze der Schwerkraft – nach rechts-unten fällt, so dass er in diese Richtung auch die Früchte und das Geschirr mit sich zieht. Der einzelne Apfel, der genau in der Bildmitte platziert ist, scheint ebenfalls mit der Decke bzw. von der Decke abzurollen. Unterstützt wird dieser Fall bzw. Zug der weißlichen Decke noch zusätzlich durch den nach vorn-rechts scheinbar kippenden Apfel-Teller. Auf diese Weise entsteht eine dynamische Diagonale, die das komplette Arrangement auf der Tischdecke mit sich aus dem Bild hinaus zu ziehen droht. Wird diese Linie (von unten rechts nach oben links) weiterverfolgt, so entdeckt man eine Obstgruppe hinter dem Teller. Diese Früchte werden nach hinten hin immer kleiner und scheinen sich dadurch in dem dicken Stoff zu verlieren, was wiederum eine Tiefenwirkung erzeugt und somit ebenfalls ein Gegengewicht zu dem herunterfallenden Obst auf der herabrutschenden Decke. Ungewiss ist, ob die Obstschale und der Krug ebenfalls mit der Tischdecke abrutschen, denn es kann nicht definitiv bestimmt werden, ob sie tatsächlich auf dieser weiß-leuchtenden Decke stehen. Die Stabilität des Bildes wird aber einerseits durch die Komposition des Stilllebens auf der weißlichen Decke, andererseits durch die Horizontale, an der sich der helle, weißliche Stoff mit den dunklen, blauen berührt, unterstützt. Die durch die Stoffe gebildete Horizontale lässt nämlich eine Horizontlinie (wie in einem Landschaftsbild) assoziieren und die Komposition der Früchte ist eine gezielte DreieckTischkomposition. Beide vermitteln das Gefühl von Festigkeit und Ordnung. Die Basis der Dreieckkomposition bildet die Parallele zu der Tischplatte. Die zweite Linie des Kompositionsdreiecks beginnt an dem äußersten Apfel in der rechten Bildhälfte, der auf der Tisch194 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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ecke liegt. Sie läuft über den Krug hindurch bis zu der obersten Orange auf der Obstschale, von da aus die dritte Dreieckslinie zu den Äpfeln auf dem Teller und von dort zurück. Abgesehen von dieser die Stabilität des Bildes unterstützenden Tischkomposition wirken zusätzlich die Gegenstände auf der Decke, sowohl die Früchte wie auch das Geschirr, wie Figuren auf einer Bühne, was wiederum ein Gefühl von Ordnung und Statik verleiht. Eine solche zwiespältige Komposition, die einerseits bewegt und chaotisch und andererseits doch in sich ruhend und geordnet wirkt, ist ein wesentliches Merkmal der Malweise Cézannes, was sowohl in den früheren als auch in den späteren Werken des Künstlers beobachtbar ist. Besonders die bühnenhafte Anreihung der Gegenstände ist in den früheren Bildern Cézannes sichtbar. 6.3.2.3.2 Bildnisse Die Dinge zeigen bei Cézanne alle ein Gesicht, ihr Gesicht, das Merleau-Ponty mit »Physiognomie« wiedergibt: »Cézanne wollte dieser Physiognomie genau in dem Moment habhaft werden, wo sie aus der Farbe aufsteigt. Er wollte ein Gesicht ›wie einen Gegenstand‹ malen« (AG 13). Cézannes Malerei lässt sowohl die Physiognomie der Dinge wie die der Gesichter aus der Farbe aufsteigen. Dazu kommt der bekannte Effekt, daß auch seine Porträts Züge eines Stilllebens annehmen. 101 »Seine Malerei ist der Versuch, durch die vollständige Restitution der sinnlichen Konfiguration die Physiognomie eines Dinges oder eines Gesichts selbst zu gewinnen« (Sinne 143). »Das Verfahren der Operationalität von Farbflecken lässt sich an Landschaften wie an Figurenbildern (und Ereignisbildern, Giotto) durchführen« (Imdahl) (GS3 319). Dazu sei das Bild Madame Cézanne im gestreiften Rock angeführt (→ Abb. 7, S. 468). Am 22. Oktober 1907 schreibt Rilke an seine Frau (anlässlich seines Besuches der Gedächtnisausstellung Cézannes 1907 im Pariser Herbstsalon) 102: »Heute schließt der Salon. Und schon, da ich zum letzten Mal von dort nach Hause gehe, möchte ich ein Violett, ein Grün oder gewisse blaue Töne wieder aufsuchen, von denen mir scheint, dass ich sie hätte besser, unvergeßZu den Stillleben Cézannes (Kunst 223–252), (Badt 116–130). Zu den Bildnissen Cézannes s. (Kunst 201–222), (Badt 140–147), (GS3 531, 525 f., 528). 101 102

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licher hätte sehen müssen. Schon, obwohl ich so oft aufkmerksam und unnachgiebig davorgestanden habe, wird in meiner Erinnerung der große Farbzusammenhang der Frau im roten Fauteuil so wenig wiederholbar wie eine sehr vierteilige Zahl. Und doch hab ich sie mir eingeprägt, Ziffer für Ziffer. [Rilke spricht vom Bildnis Madame Cézanne im gestreiften Rock von 1877. 72,5 � 56 cm. Boston, Museum of Fine Arts. R. 324.] In meinem Gefühl ist das Bewußtsein ihres Vorhandenseins zu einer Erhöhung geworden, die ich noch im Schlafe fühle; mein Blut beschreibt sie in mir, aber das Sagen geht irgendwo draußen vorbei und wird nicht hereingerufen. Schrieb ich von ihr? – Vor eine erdig-grüne Wand, in der ein kobaltblaues Muster (ein Kreuz mit ausgesparter Mitte +) rar wiederkehrt, ist ein roter, ganz gepolsterter niedriger Sessel geschoben; die rund gewulstete Lehne rundet und senkt sich nach vorne zu Armlehnen (die wie der Rockärmelstumpf eines Armlosen geschlossen sind). Die linke Armlehne und die Quaste, die voller Zinnober von ihr herunterhängt, haben schon nicht mehr die Wand hinter sich, sondern einen breiten unteren Randstreifen aus grünem Blau, gegen den ihr Widerspruch laut anklingt. In diesen roten Fauteuil, der eine Persönlichkeit ist, ist eine Frau gesetzt, die Hände im Schoß eines breit senkrecht gestreiften Kleides, das ganz leicht mit kleinen verteilten Stücken grüner Gelbs und gelber Grüns angegeben ist, bis an den Rand der blaugrauen Jacke, die eine blaue, mit grünen Reflexen spielende Seidenschleife vorne zusammenhält. In der Helligkeit des Gesichts ist die Nähe all dieser Farben zu einer einfachen Modellierung ausgenutzt; selbst das Braun des über den Scheiteln rund aufgelegten Haars und das glatte Braun in den Augen muß sich äußern gegen seine Umgebung. Es ist, als wüßte jede Stelle von allen. So sehr nimmt sie teil; so sehr geht auf ihr Anpassung und Ablehnung vor sich; so sehr sorgt jede in ihrer Weise für das Gleichgewicht und stellt es her: wie das ganze Bild schließlich die Wirklichkeit im Gleichgewicht hält. Denn sagt man, es ist ein roter Fauteuil (und es ist der erste und endgültigste rote Fauteuil aller Malerei): so ist er es doch nur, weil er eine erfahrene Farbensumme gebunden in sich hat, die, wie immer sie auch sein mag, ihn im Rot bestärkt und bestätigt. Er ist, um auf die Höhe seines Ausdrucks zu kommen, um das leichte Bildnis herum ganz stark gemalt, daß etwas wie eine Wachsschicht entsteht; und doch hat die Farbe kein Übergewicht über den Gegenstand, der so vollkommen in seine malerischen Äquivalente übersetzt erscheint, daß, so sehr er erreicht und gegeben ist, doch andererseits auch wieder seine bürgerliche Realität an ein endgültiges Bild-Dasein alle Schwere verliert. Alles ist, wie ich schon schrieb, zu einer Angelegenheit der Farben geworden: Eine nimmt sich gegen die andere zusammen, betont sich ihr gegenüber, besinnt sich auf sich selbst. Wie im Mund eines Hundes bei Annäherung verschiedener Dinge verschiedene Säfte sich bilden und bereit halten: zustimmende, die nur umsetzen, und korrigierende, die unschädlich machen wollen: so entstehen im Innern jeder Farbe Steigerungen oder Verdünnungen, mit deren Hilfe sie das Berührt-

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Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«

werden durch eine andere übersteht. Neben dieser Drüsenwirkung innerhalb der Farbintensität spielen die Spiegelungen […] die größte Rolle: schwächere Lokalfarben geben sich ganz auf und begnügen sich damit, die stärkste vorhandene zu spiegeln. In diesem Hin und Wider von gegenseitigem vielartigen Einfluß schwingt das Bildinnere, steigt auf und fällt in sich selbst zurück und hat nicht eine stehende Stelle […]«. 103

Eine besondere Wirkung hatte das Portrait Cézannes Der Gärtner Vallier (1906, Tate Gallery London) auf Martin Heidegger. Wir wissen, Heidegger hatte sich in der Zeit seiner Kunstaufsätze stark mit Paul Klee befasst. Er wollte in dieser Zeit ein Buch zur Kunst von Paul Klee schreiben. Davon sind nur Notizen erhalten. 104 Dann aber wandte sich Heidegger Paul Cézanne zu. Er reiste wiederholt nach Südfrankreich an die Orte Cézannes. Vom 20. März 1958 stammt die Notiz: »Ich liebe Aix, Bibemus, das Gebirge Sainte-Victoire. Ich habe hier den Weg Paul Cézannes gefunden, dem, von seinem Beginn zu seinem Ende, mein eigener Weg des Denkens in gewisser Weise entspricht«. In Cézanne fand er einen Weggenossen in der Kunst. Er fühlte »ein Zusammengehören des Dichtens und des Denkens« (Gedicht Cézanne). »Diese Tage in der Heimat Cézannes wiegen eine ganze Bibliothek philosophischer Bücher auf. Wenn einer so unmittelbar denken könnte, wie Cézannes malte«. 105

Cézanne hatte mehrere Bildnisse von dem Gärtner Vallier gemalt. Das Portrait des Gärtners Vallier sprach Heidegger besonders an. Zum einen war es wohl die Art und Weise, wie Cézanne Personen ins Bild brachte, wie wir es eben bei Rilke gesehen haben. Zum anderen erkannte Heidegger aber in der Kunst und Dichtung Cézannes ein Ereignis, das er in der Philosophie dieser Zeit philosophisch zu denken versuchte. Er hat dem Bild Der Gärtner Vallier das Gedicht »Cézannes« gewidmet, das diese Zusammengehörigkeit ins Wort zu fassen sucht. »Cézanne Das nachdenksam Gelassene, das inständig Stille der Gestalt des alten Gärtners Vallier, der Unscheinbares pflegte am Chemin des Lauves. Rilke, Briefe, a. a. O., 58–60; aus (Kunst 205–207). Pöggeler, Otto (2002), Bild und Technik Heidegger, Klee und die moderne Kunst, München, 117 ff. 105 Ebd. 172; (Eikon 162 f., 294). 103 104

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Paul Cézanne

Im Spätwerk des Malers ist die Zwiefalt von Anwesendem und Anwesenheit einfältig geworden, ›realisiert‹ und verwunden zugleich, verwandelt in eine geheimnisvolle Identität. Zeigt sich hier ein Pfad, der in ein Zusammengehören des Dichtens und des Denkens führt?« 106

Heidegger findet in der »Gestalt des alten Gärtners«, wie Cézanne sie uns vermittelt, das Gelassene und das Stille, das zugleich nachdenksam und inständig ist. Er gebraucht Grundworte seines späteren Denkens. Hierzu bemerkt Heidegger in einer weiteren Fassung des Textes: »Was Cézanne la réalisation nennt, ist das Erscheinen des Anwesenden in der Lichtung des Anwesens – so zwar, daß die Zwiefalt beider verwunden ist in der Einfalt des reinen Scheines seiner Bilder. Für das Denken ist dies die Frage nach der Überwindung der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem.« 107

Heidegger spricht die Grundworte seines späteren Denkens an. Er nennt die »ontologische Differenz«. Damit bezeichnet Heidegger den Unterschied des »Seins«, das nichts »Seiendes« ist, aber alles Seiende ermöglicht. Während es Heidegger zuvor um die herrschende Differenz in der Philosophie ging, geht es dem späteren Denken um die Zwiefalt von Sein und Seiendem, aber nicht nach dem traditionellen Seinsverständnis, sondern um das Aufgehen des Seienden aus dem Sein, von Anwesen und Anwesenheit, von Hervorkommen des Verborgenen in die Unverborgenheit, wie Wahrheit geschieht. Wahrheit ist die geschehende Einfalt, ist die geheimnisvolle Identität des ontologischen Ereignisses. Dieses selbe Ereignis sieht Heidegger im Gärtner Vallier ins Bild gebracht. Heidegger nennt das Ereignis des Künstlers mit dem Hauptwort Cézannes »réalisation«. Er sieht also das von ihm Angedachte von Cézanne im Bild realisiert. Er sieht die »réalisation« geschehen in dem, was Cézanne selbst inständig suchte. Die »réalisation« bringt im Bild »signifié« und »signifiant« zusammen. Die Ein-

106 Heidegger GA 81, 327, hier ganz zitiert nach: Seubold, Günter (1996): Kunst als Enteignis. Heideggers Weg zu einer nicht mehr metaphysischen Kunst. Bonn, 107. 107 Pöggeler, Bild, a. a. O., 174; Kreß, Carl Friedrich (2013), Heideggers Umweltethos, 124–127.

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Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«

heit der Zwiefalt kommt in der stillen Gestalt des Gärtners zur Erscheinung. Gottfried Boehm hat das Bild kommentiert und es in den Bahnen des Malens Cézannes nachvollzogen. Es entspricht ganz dem Charakter dem Kunstverständnis Cézannes. Es ist ein »temporales« Werk; es trägt die Spuren der Zeit an sich. Cézanne zeichnet es als Bildereignis, als Bildgeschehen in statu nascendi, das seine Herkunft in seiner Präsenz nicht ablegt, sondern bleibend in sich trägt. »Was wir sehen, den Gärtner, den Stuhl, die Natur, die ihn umgibt, die Ecke der Hauswand, den Ausblick auf Himmelsblau, all dies kommt vom Prozess der bildlichen Genese niemals frei. Das Bild ist deshalb nicht auf reine Gegenwart angelegt, es ist vielmehr präsentierend: d. h. es holt in die Gegenwart, liefert ihr aber nichts aus. Es ist dieses Unkorrumpierbare, vom Hintergrund seiner Genese stets Gehaltene, was Cézannes Bilder auszeichnet. Die Ruhe des Gärtners Vallier verdankt sich nur vordergründig seinem Sitzen mit übergeschlagenen Beinen und in den Schoß gelegten Händen, die Augen von der Hutkrempe verschattet. Es ist kein idyllisches Motiv, welches den Blick lenkt, sondern ein Bildbau, der vermöge seiner vorgegenständlichen Ebene zu erkennen gibt, dass alles, was ist, zurückverweist in einen Prozess des Hervorkommens. Figur und Gesicht Valliers, die besonnte Hauswand hinter ihm – in allem sehen wir die farbige Physis mit, die das Sichtbare begründet. Das Bild zeigt beides zugleich und in einem« (Eikon 162–163).

Diese Beschreibung erinnert an die Interpretation des authentischen Bildbegriffs Platons von Jens Halfwassens: »Platon bestimmt das Bild im Sophistes als die Sichtbarkeit des an ihm selbst Unsichtbaren, ontologisch gewendet als die Anwesenheit des Abwesenden, als Erscheinung des an sich Verborgenen, das in seiner Erscheinung scheint, aber so, dass es in diesem Scheinen nicht aufgeht, sondern seine Erscheinung zugleich übersteigt (Platon, Sophistes 240 B ff.). Bild (εἰκών) ist hier also gerade kein Abbild (εἴδωλον), das auf ein selber auch sichtbares Urbild verweist, sondern es ist die Sichtbarkeit dessen, was sonst, ohne Bild, unsichtbar bleibt. Es verweist über sich selbst hinaus auf das, was die Sichtbarkeit transzendiert«. 108

108 Halfwassen, Jens (2005), »Schönheit und Bild im Neupatonismus«, in: Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen. Hrsg. v. Verena Olejniczak Lobsien; Claudia Olk. Berlin, 43–57, hier 43.

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6.3.3 Realisieren – das Problem Cézannes Der dritte Grundbegriff, den Cézanne für seine künstlerisches Handeln immer wieder nennt, ist die »Realisation«. 109 Realisation ist sogar »das höchste Ziel«, das er durch sein Tun zu erreichen sucht. Es ist zugleich das Ziel, zu dem er sich immer wieder vergeblich unterwegs fühlt, vor dem er immer wieder zu scheitern scheint. Welches sind die Gründe für dieses Scheitern? In den Selbstaussagen Cézannes dazu nennt er verschiedene Gründe. Es sind aber vor allem jene Aufgaben, denen sich der Künstler verpflichtet fühlt und die wir bisher behandelt haben: »parallel zur Natur« malen und die Natur durch die »sensations colorantes« zum Ausdruck bringen. Dazu einige der wichtigsten Aussagen Cézannes: Aus Berichten von Emil Bernard 1904/05: »Was mir fehlt, das ist die Realisation. Vielleicht komme ich noch so weit, aber ich bin alt, und es ist gut möglich, daß ich sterbe, ohne dieses höchste Ziel erreicht zu haben: Realisieren! (Gasquet 75).

An seinen Sohn, Aix 13. Oktober 1906: »Mein Nervensystem ist sehr geschwächt, und nur die Ölmalerei kann mich aufrecht erhalten. Man muß die Arbeit fortsetzen. Ich muß also nach der Natur realisieren« (Gasquet 80).

An Emil Bernard, Aix 23. Oktober 1905: »[…] gestattet mir, Ihnen wieder, und gewiß ein wenig zu oft, von der Hartnäckigkeit zu sprechen, mit der ich die Realisation jenes Teiles der Natur verfolge, der vor unsern Augen liegend das Bild ergibt. (25) Nun aber ist die zu lösende Aufgabe – welches auch immer unser Temperament oder unsere Kraft angesichts der Natur sei – das Bild dessen zu geben, was wir sehen, und dabei alles zu vergessen, was vor uns dagewesen ist. Das, glaube ich, muß dem Künstler erlauben, seine ganze Persönlichkeit zu geben, sei sie nun groß oder klein« (Gasquet 80).

An den Sohn, Aix 8. September 1906: »[…] Schließlich will ich Dir sagen, daß ich als Maler hellsichtiger werde vor der Natur, doch daß bei mir die Realisation meiner Empfindungen immer sehr mühselig ist. Ich kann nicht jene Intensität erreichen, die sich

109

S. (Badt 161–173); (Mont 54–66); (Gasquet 120 f.).

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Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«

vor meinen Sinnen entwickelt, ich besitze nicht jenen wundervollen Farbenreichtum, der die Natur belebt« (Gasquet 80).

An Roger Marx, Aix 23. Januar 1905 »Mein Alter und meine Gesundheit werden mir nie erlauben, den Traum von Kunst zu realisieren, den ich mein ganzes Leben lang verfolgt habe« (Gasquet 81).

Und Cézanne selbst im Gespräch mit Gasquet: »Ich lenke, verstehen Sie, den Realisationsprozeß auf meiner Leinwand in allen Teilen gleichzeitig. Ich bringe im gleichen Antrieb, im gleichen Glauben alles miteinander in Beziehung, was auseinanderstrebt.« (Gasquet 8–9)

Lüthy hat das Problem des »Realisierens« bei Cézanne folgendermaßen beschrieben: »Es wird nie genau zu bestimmen sein, worin das Ziel von Cézannes ›réalisation‹ bestand – jenes ›Realisierens‹, als das er seine malerische Tätigkeit begriff und dessen Verfehlen er bis zu seinem Lebensende fürchtete. Eine erste Vorstellung davon geben jedoch die Begriffe, die Cézanne benutzte, wenn er sein künstlerisches Verfahren beschrieb. Da ist zunächst das ›Motiv‹, [… dann] ›sensation‹ […]. Die ›réalisation‹ von Cézannes Malerei zielte folglich auf mehreres zugleich. Sie galt zunächst dem Naturmotiv (»motif«) in seiner unendlichen Vielfalt, des Weiteren den Empfindungen (»sensations«), welche dieses in ihm auslöste, und schließlich dem ›Gemälde‹ selbst, dessen Gelingen die anderen ›Realisierungen‹ erst ermöglichen würde« (Lüthy 198 f.).

»Realisieren« heißt so nach Cézanne, die beiden Vorgänge des »Sehens« und »Empfindens« zusammenzubringen und zusammen auszuführen. Die Problematik der »Realisation« ist bei Cézannes bereits mit den oben zitierten Worten der Einführung in sein Werk vorgezeichnet. Die Worte seien deshalb unter diesem neuen Gesichtspunkt des »Realisationsprozesses«, den Cézanne dort schon anführt, noch einmal in den Stufen von »Motiv«, »sensation« und »réalisation« erinnert und zitiert (s. oben Gasquet 8–9): »Cézanne: ein Motiv, sehen Sie, das ist so: Nun ja! – – (Er wiederholt seine Bewegung, entfernt die Hände voneinander, die zehn Finger gespreizt, nähert sie dann langsam, langsam, faltet sie wieder, verschränkt sie krampfhaft ineinander.) Hier, das ist es, was man erreichen muß. Wenn ich zu hoch oder zu tief greife, ist alles verpfuscht. Es darf keine einzige lockere Masche

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geben, kein Loch, durch das die Erregung, das Licht, die Wahrheit entschlüpft. Ich lenke, verstehen Sie, den Realisationsprozeß auf meiner Leinwand in allen Teilen gleichzeitig. Ich bringe im gleichen Antrieb, im gleichen Glauben alles miteinander in Beziehung, was auseinanderstrebt. – Alles, was wir sehen, nicht wahr, verstreut sich, entschwindet. Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muß ihr das Erhabene der Dauer geben, mit den Elementen und der Erscheinung all ihrer Veränderungen. Die Kunst muß ihr in unserer Vorstellung Ewigkeit verleihen. Was ist hinter der Natur? Nichts vielleicht. Vielleicht alles. Alles, verstehen Sie. Also verschränke ich diese umherirrenden Hände. Ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest, ich bringe sie zusammen. – Sie bilden Linien, sie werden Gegenstände, Felsen, Bäume, ohne daß ich daran denke. Sie nehmen ein Volumen an, sie haben einen Wirkungswert. Wenn diese Massen, diese Gewichte auf meiner Leinwand, in meiner Empfindung den Plänen, den Flecken entsprechen, die mir gegeben sind, die wir da vor unseren Augen haben, gut, meine Leinwand verschränkt die Hände. Sie schwankt nicht. Sie greift nicht zu hoch und nickt zu tief. Sie ist wahr, sie ist dicht, sie ist voll. – Aber wenn ich die geringste Ablenkung habe, die leiseste Schwäche fühle, besonders wenn ich einmal zu viel hineindeute, wenn mich heute eine Theorie fortreißt, die der von gestern widerspricht, wenn ich beim Malen denke, wenn ich dazwischenkomme, dann stürzt alles ein und ist verloren« (Gasquet 8–9).

Cézanne erläutert den Prozess und die Problematik der »Realisation« selbst. Es sind verschiedene Schritte: Zuerst ist alles, was wir sehen, »Natur«. Was aber ist hinter dem, was wir Natur nennen? Nichts oder Alles. Es ist deshalb die Pflicht des Künstlers, sichtbar zu machen, was in der Natur ist und es ins Bild zu bringen. Mehr noch, dem Ephemeren Dauer, Erhabenheit und Ewigkeit zu geben. Dazu ist der Künstler durch sein Schaffen bestimmt. Der Künstler hat dazu nur Farbflecken und Farbtöne, er muss sie durch sein bildnerisches Schaffen zu Dingen modulieren. Es ist dann die Frage nach dem »Empfinden« (sensation) und Sehen des Künstlers, wie die Flecken zu komponieren sind, so dass daraus Dinge und Gestalten werden. 110 Es geht um das Empfinden des Künstlers, mit den Augen zu arbeiten, dabei aber alles Denken und alles Wissen draußen zu lassen, weil sonst das Ganze zerstört wird. Ganz zu Beginn nennt er aber das Entscheidende: Er muss die 110 Er musste »die Luft, das Licht, den Gegenstand, die Ebene, den Charakter, die Zeichnung, den Stil enthalten«, wie es Emil Bernard berichtet (AG 13).

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unterschiedlichen Vorgänge zusammenbringen, nämlich so wie er die Hände verschränkt, um alles miteinander zugleich zu sehen und zu verbinden. Lüthy erläutert ausdrücklich, wie er dieses bildnerische Verfahren Cézannes, die beiden Vorgänge des »Motivs« und der »sensation« zusammenzuführen versteht: »Malen hieß, jene gegenläufigen Bewegungen des Aufnehmens und Abgebens, der ›Impression‹ und der ›Expression‹, in einer einzigen Geste ineinander aufgehen zu lassen. Als Cézanne habe erklären wollen, ›was ein Motiv sei‹, habe er, so erinnert sich Gasquet, ›die Hände voneinander entfernt, um sie dann ganz langsam mit gespreizten Fingern wieder aneinander anzunähern, sie ineinander zu schieben und fest miteinander zu verschränken.‹ Diese Verschränkung zu leisten, überantwortete Cézanne den farbigen Flecken, aus denen seine Bilder sich zusammensetzen. Sie bildeten das Grundelement, aus dem er, je später im Oeuvre desto ausdrücklicher, seine Bilder ›baute‹. Diese Bausteinfunktion konnten sie deshalb erfüllen, weil sie verschiedene Dualitäten in sich aufhoben. Jede ›tache‹ ist Form und Farbe, Malerei und Zeichnung, Licht und Dunkelheit, materieller Rohstoff und Form in einem. Statt die Dinge durch die Linie zu umreißen, durch das Spiel von Licht und Schatten zu modellieren und schließlich durch die Farbe zu kolorieren, so wie es in der klassischen Kunst geschah, basierte Cézanne seine Malerei allein auf einem differentiellen System kontrastierender Farbmarkierungen. Komposition ersetzte er durch ein Verfahren, das er Modulation nannte. Die ›tache‹ war folglich Endpunkt und Ausgangspunkt zweier gegenläufiger Prozesse. In ihr wurden komplexe Erfahrungen und Verfahren eingefaltet, um anschließend daraus die Ordnung des Bildes zu entfalten« (Lüthy 198 f.).

Lüthy nennt das bildnerische Verfahren Cézannes in den beiden Vorgängen »Impression« und »Expression«. Es sind »gegenläufige Bewegungen« von »Aufnehmen« und »Abgeben«. Es sind unterschiedliche Weisen des Malens gegenüber der klassischen Kunst, die von einem leeren Raum ausging, in den Figuren und Gestalten gestellt und modelliert wurden. Cézanne nannte sein Verfahren »modulieren«. Modulieren meint, dass Raum und Figuren nicht vorgegeben sind, sondern im Malen erst entstehen, entstehen durch die beiden gegenläufigen Prozesse der Impression und Expression. In seinen Selbstaussagen hat Cézanne immer wieder von den beiden Grundhandlungen gesprochen, die nötig sind, damit das Realisieren gelingen kann, und wobei er immer wieder zu scheitern schien. Worin lagen die Schwierigkeiten seines Malens? Es sind Schwierigkeiten »nach der Natur« und der Farben (»sensations colorantes«). 203 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Nach der ersten positiven Kommentierung der Grundbegriffe Cézannes von »Motiv«, »sensation« und »réalisation« (s. oben), ist die Reihe ein zweites Mal durchzugehen, aber nicht mit dem Blick auf ihren positiven Stellenwert im Bildereignis, sondern im Blick auf die Problematik der Realisierung im Schaffen Cézannes. 6.3.3.1 Das Problem Motiv – »nach der Natur realisieren« »Ich muß nach der Natur realisieren«, schrieb Cézanne 1906 an seinen Sohn (Gasquet 80, 113, 118). Cézanne hatte sein Malen gestenreich eingeführt: »Cézanne: ein Motiv, sehen Sie, das ist so: Nun ja! – – […] Alles, was wir sehen, nicht wahr, verstreut sich, entschwindet. Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muß ihr das Erhabene der Dauer geben, mit den Elementen und der Erscheinung all ihrer Veränderungen. Die Kunst muß ihr in unserer Vorstellung Ewigkeit verleihen. Was ist hinter der Natur? Nichts vielleicht. Vielleicht alles. Alles, verstehen Sie« (Gasquet 9–10).

Cézanne erkannte bald, warum er vor der Natur scheitern musste: »Ich habe die Natur kopieren wollen, es gelang mir nicht, von welcher Seite ich sie auch nahm. Aber ich war mit mir zufrieden, als ich entdeckt hatte, dass die Sonne z. B. nicht wiedergegeben werden kann, sondern daß man sie durch etwas anderes repräsentieren muß, durch die Farbe als solche. Man muß die Natur nicht reproduzieren, sondern repräsentieren. Wodurch? Durch gestaltende farbige Äquivalente« (Gasquet 20).

Cézanne erkannte, dass er die Natur nicht kopieren konnte, sondern wiedergeben musste durch farbige Äquivalente wie die Sonne. Er wurde an das Wesen der Farben verwiesen, an die farbigen Äquivalente. Für Kudielka ist dies ein entscheidender Schritt: »Ja, das ist eine wunderbare Formulierung von Merleau-Ponty und ganz sicher in der Intimität des malerischen Sehens geschieht dies, dass der Maler anfängt, wie Cézanne auch sagt, einem Motiv zu gehorchen. […] Realisieren, das heißt für den zurückgezogen lebenden Maler: er muss vom Wissen der Realität absehen. Er begreift die Wirklichkeit als ein Ereignis des Auges und alles vermeintliche und subjektive Wissen über diese Wirklichkeit will er ausschalten. Er will vorurteilslos malen. […] Die Natur als Kunst zu realisieren, das heißt für Cézanne, sie nicht schon im Voraus zu deuten. Er will die Natur nicht durchschauen, um sie zu entzaubern. Malen was man sieht, nicht malen, was man imaginiert – so lautet seine elementarste Forderung« (DLF).

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Das entspricht Äußerungen Cézannes: »Der Maler soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit, vergessen, vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein. Wenn ich beim Malen denke ist alles verloren. Die Landschaft denkt sich selber in mir, ich bin ihr Bewusstsein« (Gasquet 10).

»Dingwerdung« – Rilke war sehr aufmerksam auf die Äußerungen des Scheiterns Cézannes. Er meinte, Cézanne habe nur noch gearbeitet »[…] im Zwiespalt mit jeder einzelnen seiner Arbeiten, deren keine ihm das zu erreichen schien, was er für das Unentbehrliche hielt. La réalisation nannte er es, und er fand es bei den Venezianern, die er früher im Louvre gesehen und wieder gesehen und unbedingt anerkannt hatte. Das Überzeugende der Dingwerdung, die durch sein eigenes Erlebnis an dem Gegenstand bis ins Unzerstörbare hinein gesteigerte Wirklichkeit, das war es, was ihm die Absicht seiner innersten Arbeit schien« (Kunst 224).

Rilke nannte die innerste Absicht des Malens Cézannes die »Dingwerdung« dessen, was der Künstler vor der Natur sah und was er im Bild darstellen wollte. (Badt 43, 164) Dingwerdung war aber nichts Vorliegendes, sondern ein Ereignis, das der Künstler selbst erreichen sollte. Es entstand im Laufe des künstlerischen Schaffens. Das Ding, die Natur, lag nicht vor, sondern es war der Ausdruck des Erlebnisses des Künstlers. Und was für Cézanne die Kunst zur Kunst machte, war, das Dargestellte sollte nicht (impressionistisch) ephemer sein, sondern das Ding sollte eine unzerstörbare Wirklichkeit werden – eine fast unlösbare Aufgabe, einem ephemeren zeitlichen Ereignis einen überzeitlich unzerstörbaren Ausdruck zu verleihen. Rilkes Formulierung von der ›überzeugenden Dingwerdung, die durch sein eigenes Erlebnis bis ins Unzerstörbare hinein gesteigerte Wirklichkeit‹ dargestellt, ist zur klassischen Formulierung zur Kunst Cézannes geworden. Imdahl hat das Wort Rilkes aufgenommen und in seiner Sprache so ausgedrückt: »Auf diese Weise werden im Akt des Sehens rein optischer Sichtbarkeitswerte Gegenstände neu erschaffen. Eben auf diese Weise wird der Gegenstand, mit Cézanne selbst zu reden: ›realisiert‹« (GS3 316). Natur als Motiv – An Emile Bernard schreibt Cézanne: »Gestatten Sie mir, Ihnen wieder und gewiß ein wenig zu oft, von der Hartnäckigkeit zu sprechen, mit der ich die Realisierung jenes Teils der Natur

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verfolge, der vor unseren Augen liegend das Bild ergibt. Nun aber ist die zu lösende Aufgabe, das Abbild dessen zu geben, was wir sehen, und dabei alles zu vergessen, was vor uns dagewesen ist« (Gasquet 79).

Boehm: »Man muss sich klar machen, dass in Bildern Cézannes jeder einzelne Fleck, den man da beobachten kann, für sich ja einfach zunächst mal er selbst ist, ohne Bedeutung. Und erst in dem wir als Betrachter lernen, diese Fleckenordnung zu realisieren – ein Lieblingswort von Cézanne – in dem Maße tritt uns aus dieser Ordnung von bedeutungsfreien und bedeutungslosen Flecken etwas entgegen, zeigt sich etwas, zeigt sich die Welt, zeigt sich die Realität in einem bestimmten Ausschnitt« (DLF).

Boehm verfolgt den Vorgang, wie im Sehen aus den Farbflecken eine entsprechende Ordnung hervorgeht. Diese Ordnung ist eine Komposition der Farbflecken, nicht der Gegenstände. Dass dadurch eine klar gegliederte Welt von Objekten hervorgebracht werden muss, ist das besondere Problem der Realisation, über dessen Schwierigkeit Cézanne immer klagt und von dem er glaubt, dass er es nie völlig gelöst habe. Als Grund gibt er einmal an, dass sein Ausgangspunkt von dem zu erreichenden Ziel, das heißt von der Darstellung der Natur, zu weit entfernt war. Der Ausgangspunkt ist die in den Naturerscheinungen wahrgenommene Wirklichkeit. Dieser erste Blick gab Cézanne eine zweite Sichtweise der Erscheinungen ein. Sie führen zum Entwurf von Grundplänen für die Modulation. Sie sind aber so beschaffen, dass sie von Einzeldingen nicht ausgehen können, im Gegensatz zu aller älteren Kunst. Erst im Fortschreiten der Realisation kann Einzeldingliches aus den Grundstrukturen in die Sichtbarkeit treten, und nur im voll realisierten Werk kann die Bildidee voll in der Wirklichkeit Fuß fassen. Es gilt, dass die Gestalten, welche aus den farbigen Kompositionen hervorgehen, eine erkennbare Beziehung haben zur Wirklichkeit im alltäglichen Sinne. Diese Realisation bis zur Annäherung an die Wirklichkeit im alltäglichen Sinne heißt aber nun nicht, daß nachträglich in jenes erste übergegenständliche Ganze Details von möglichst großer Naturnähe eingetragen werden könnten. Sondern die Objekte, die Einzelgestalten müssen zu einer Deutlichkeit gebracht werden, die sie ausdrücklich aus dem Ganzen empfangen, so daß sie ihre Dinglichkeit aus allgemeinen Bildstruktur beziehen. Denn diese Allgemeinstruktur bedeutet Grund der Wirklichkeit im Ganzen. Die Dinge müssen also aus dem allgemeinen Modulationszusammenhang 206 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Grundbegriffe Cézannes: »motif« – »sensation« – »réalisation«

heraus bis an die Grenze der Erkennbarkeit entwickelt werden, damit sie dann auch als einzelne in der Bedeutung von ›dauernd‹, ›unzerstörbar‹ erscheinen, wie Rilke schon 1907 davon gesprochen hat, es gehe Cézanne ›um das Überzeugende der Dingwerdung, die bis ins Unzerstörbare hinein gesteigerte Wirklichkeit‹. (Gasquet 119–120). Das Problem des Motivs der Natur ist offensichtlich, dass die Natur, so wie sie dem Künstler vor Augen liegt, nicht einfach wie ein Abbild abgemalt werden kann, sondern das Bild-Ding in einem eigenen Verfahren aus den Farbelementen komponiert werden muss, worin im Ergebnis aber das anfängliche Abbild der Natur ansichtig sein muss. Dieses Ziel zu erreichen ist offensichtlich sehr schwer. Die Natur ist dann nicht einfach Abbild, sondern Motiv im Sinne Cézannes. 6.3.3.2 Das Problem der »sensation« Cézanne muss das Motiv in farbigen Äquivalenten wiedergeben. Dabei entstehen neue schier unüberwindbare Probleme, wie Cézanne mit weiteren Gesten zeigt: »Cézanne: ein Motiv, sehen Sie, das ist so: Nun ja! – […] Ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest, ich bringe sie zusammen. – Sie bilden Linien, sie werden Gegenstände, Felsen, Bäume, ohne daß ich daran denke. Sie nehmen ein Volumen an, sie haben einen Wirkungswert. Wenn diese Massen, diese Gewichte auf meiner Leinwand, in meiner Empfindung (sensation colorante) den Plänen, den Flecken entsprechen, die mir gegeben sind, die wir da vor unseren Augen haben, gut, meine Leinwand verschränkt die Hände. Sie schwankt nicht. Sie greift nicht zu hoch und nicht zu tief. Sie ist wahr, sie ist dicht, sie ist voll […]. Aber wenn ich die geringste Ablenkung habe, die leiseste Schwäche fühle, besonders wenn ich einmal zu viel hineindeute, wenn mich heute eine Theorie fortreißt, die der von gestern widerspricht, wenn ich beim Malen denke, wenn ich dazwischenkomme, dann stürzt alles ein und ist verloren« (Gasquet 9–10).

Mit dem Komponieren der farbigen Äquivalente treten weitere Probleme auf: Wie werden die farbigen Sehdaten zu Figuren und Gestalten? Und nach welcher Regel muss das Komponieren geschehen, durch Sehen allein oder durch Theorie und Denken? Oder durch beides: durch Auge und Geist? Realisieren meint zunächst nichts anderes als den Vorgang der Übertragung, vermöge dessen der Maler die gesehenen Dinge in 207 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Cézanne

»sensations colorantes« (farbige Sehdaten) übersetzt. Diese Übertragung erfordert eine künstliche Einstellung. Sie will geübt sein, denn sie durchbricht den Alltag, überhaupt die Optik unserer Bedürfnisse, mit der wir die Dinge als nützlich oder unnütz, brauchbar oder unbrauchbar, greifbar oder fern ansehen. Diese Art der Wahrnehmung wäre uns vertraut. Cézanne meint jedoch etwas völlig anderes, wenn er von Sehen spricht. Vor allem meint er nicht das Ding und seine variablen Eigenschaften. Er hebt die natürliche Einstellung des Auges auf. Diese Bemühung hat Cézanne einen Akt des Vergessens genannt. (Mont 54–55) »Der Maler soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit, vergessen, vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein. Wenn ich beim Malen denke ist alles verloren. […] Die Landschaft denkt sich selber in mir, ich bin ihr Bewusstsein« (Gasquet 9–10) »Nach der Natur malen bedeutet nicht, das Objekt kopieren, sondern Farbeindrücke realisieren. Es gibt eine rein malerische Wahrheit der Dinge. – Wie schwer ist es doch, unbefangen an die Natur heranzutreten, man sollte sehen können wie ein Neugeborener« (Gasquet 20).

In der Sprache der Phänomenologie gesprochen unterwarf Cézanne sein Wissen von Wirklichkeit einer Einklammerung, einem Akt der anschaulichen Reduktion. Diese Abspaltung des gewonnenen Eindrucks von der Sache beruht nicht auf Willkür. Cézanne – und mit ihm andere Künstler – hatten entdeckt, dass es auf diesem Weg möglich war, den Bann einer erstarrten Wirklichkeit zu brechen. Der naturwissenschaftliche Positivismus des 19. Jahrhunderts hatte die Wirklichkeit zum Rohstoff, zur Funktion des Wissens und der wissenschaftlichen Beherrschung verfremdet. Es bedurfte eigener Anstrengungen, dieses wirksame Klischee der Wirklichkeit aufzulösen. Warum nicht alles vergessen, was wir von ihr wissen, und sei es für die Zeit jener ausdrücklichen Betrachtung, in der das Bild entsteht? Die Konzentration auf die rein visuelle Seite des Sehens erwies sich als Instrument einer Erneuerung des Zugangs zur Welt. Die ganze Vielfalt der Wirklichkeit filtert sich im Durchgang durch jenes einzige Organ des Auges. Alles muss durch das Nadelöhr der visuellen Daten. Realisieren umschreibt nach Gottfried Boehm zunächst die Übertragung vom wahrgenommenen Ding zu einem Äquivalent im Auge des Malers, den Sehdaten. Sie haben eine ausschließlich inneroptische Existenz, gehören zum Bewusstsein, dessen der sie hat. Ein 208 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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zweiter Schritt lässt sich vom ersten kaum trennen. Er besteht in der faktischen Umwandlung der sensations colorantes in bildliche Äquivalente. Der Fleck tritt für das gewonnenen Sehdatum ein. Oder: die gesehene Wirklichkeit steigt aus der Potenz der Farbe neu auf. Die malerische Übersetzung geschieht bei Cézanne durch eine Folge von Einsätzen wie Farbkontraste, Tonstufen, Formwerte und Konstruktion des Bildzusammenhangs. Realisieren meint somit die Übersetzung der sichtbaren Erscheinung in die eigene Wirklichkeit des Bildes. Warum aber war dieses Realisieren permanent vom Scheitern bedroht, eine Bemühung, von der der Künstler noch in seinen letzten Tagen sagte, er hoffe, sie werde ihm eines Tages gelingen? Warum erweist sich das Realisieren so mühevoll? Die Schwierigkeiten resultieren zunächst einmal von der weitreichenden Abstraktion, die diesem Vorgang innewohnt. Der Künstler muss von seinem Wissen der Realität absehen. Das ganze Ausmaß des Absehens reicht weiter. Was in der Natur z. B. der warme Glanz eines Felsens ist, den die Sonne bescheint, der Reflex von Licht, das strahlende Blau am Himmel, die gleißende Wärme der Nähe und die Kühle der Ferne, was Tausende Gräser, Blumen, Blätter, Steine, Tiere sind, all dem kann im Bild nur ein Klecks Farbe entsprechen, ein Stück Materie, die der Pinsel flach verteilt. Ist eine tiefere Kluft denkbar als die zwischen Natur und Malerei? Was hat diese Abfolge von roten, grünen, braunen, gelben, blauen Farbklecksen mit dem Reichtum der Wirklichkeit gemein? Die Schwierigkeit des Realisierens hat es mit der Überwindung dieser Kluft zu tun. Malerei kann nur gelingen, wenn sich eine Brück bauen lässt, wenn man ein völliges Äquivalent der Wirklichkeit erzeugen kann. Realisieren umfasst also die Spannung zwischen der Abstraktion von Wirklichkeit und im Gegenzug ihrer Neuschöpfung aus den Mitteln der Malerei. Es gehört zu den faszinierenden Geheimnissen der Kunst Cézannes zu sehen, wie die scheinbar prosaische Abfolge von Farbflecken vieldeutig lesbar wird. Diese Lesbarkeit stützt sich in der Regel nicht auf das einzelne Element des Bildbaus, sondern auf den Kontext, das Gewebe von Farbformen. Dem einzelnen Fleck lässt sich oftmals gar nichts Wirkliches zuordnen. Dem Kontext aber lesen wir Aspekte der Wirklichkeit ab: den Schatten eines Tales, Häuser darin, eine Wiese, den Reflex von Wolken. Erst über den Kontext stellt sich die Fülle der Welt ein. Die Bedeutungslosigkeit ist der Keim von Vieldeutigkeit, einer vielfachen Lesbarkeit. Vieldeutigkeit wird zum Ve209 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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hikel einer Malerei, die trotz des Verzichts auf direkte Ähnlichkeit zwischen Bild und Original dennoch ein evidentes Bild von Wirklichkeit entwirft. Vieldeutigkeit der einzelnen »taches« darf man nicht mit Ungenauigkeit verwechseln. Vieldeutigkeit beschreibt die vielen Möglichkeiten der Aussage. So kann der gleiche »tache« die Wand eines Gemäldes, die Immaterialität von Licht, die Aura einer Landschaft miterwecken. Derselbe Fleck ist genau abgestimmt gegenüber seinen Nachbarn und im Bezug auf das Ganze, d. i. die Summe aller Elemente in simultaner Sicht. Der Rückverweis des Fleckes als Teil, zurück auf das Bildganze, beschreibt seine gleichzeitig syntaktische Rolle. Mit Musils Unterscheidung darf man sagen: es ist der Möglichkeitssinn des Künstlers, auf den sich sein Wirklichkeitssinn stützt. Die Übersetzung der Dinge in Äquivalente, die letztlich identisch sind mit den Mitteln der Malerei, macht aus der Summe sichtbarer Sachverhalte eine Textur, d. i. einen Text, der lesbar ist. Cézannes Bilder versteht man erst, wenn das Sehen auch zum Lesen wird, die abstrakten Elemente in ihrer Vieldeutigkeit zu einem Sinn zusammenwachsen. Der Maler verwandelt die äußere Wirklichkeit in die Logik eines Farbtextes. Alle Wahrnehmung etwa der Montagne Sainte-Victoire ist zugleich die Lektüre eines Gewebes von Farbflecken. Die Natur lesen, das ist die Absicht des Realisierens. Die Text- und Lesemetapher verschleiert aber auch wichtige Aspekte. Die Kunst ist ein erfundenes System, das eine rein geistige Äquivalenz herstellt. Der farbige »tache« ähnelt zwar dem Dargestellten nicht, doch erkennen wir in den »taches« die Montagne wieder. Äquivalenz setzt die Andersartigkeit des bildlichen Mediums voraus. Cézanne hat die besondere Leistung der Farbe begriffen, nämlich darzustellen ohne abzubilden. Das Empfundene, Gesehene soll von der Farbe selbst nicht bezeichnet oder ausgedrückt werden, die Farbe soll selbst das Empfundene, das Gesehene sein. Sie leistet dies paradoxerweise, weil sie nicht ähnlich ist. Mit dem jeweiligen Ton setzt der Maler auch den Aspekt des Gegenständlichen, zur Widererkennung des Motivs, mit: »Um die Welt in ihrer Wesenheit zu malen, muss man solche Maleraugen haben, die in der Farbe allein den Gegenstand sehen, sich seiner bemächtigen und ihn sich mit anderen Objekten verbinden lassen« (Mont 62). Realisieren heißt deshalb auch immer, den richtigen Ton zu finden, der transparent ist, um die vielfältigen Aufgaben und Funktonen zu befriedigen. Das Suchen dieser Farbwerte erweist sich als ein riskantes und langwieriges Geschäft. Denn die jeweilige Farbe muss nicht primär bezeichnen, sie 210 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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muss eine Sache sein, sie muss im richtigen Tonschritt zu allen anderen Elementen des Bildes stehen, sie ist ein Teil-Ganzes. Cézanne beschwor die prekäre Situation seiner Arbeit vielfach. (Mont 54–62) Wie gelingt es, die Natur nicht einfach nach dem ersten Augenschein abzubilden, sondern »in Harmonie parallel zur Natur« ein neues Bild zu komponieren? Es ist sozusagen eine zweite Natur dafür nötig, aber nicht die Natur außen, sondern die Natur innen, ein »inneres Äquivalent« der Natur. Merleau-Ponty: »›Die Natur ist im Inneren‹, sagt Cézanne. »Die Elemente von Qualität, Licht, Farbe, Tiefe, die sich vor uns befinden, sind dort nur, weil sie in unserem Leib ein Echo hervorrufen, weil er sie empfängt. Jenes innere Äquivalent, jene sinnliche Formel (formule charnelle) ihrer Gegenwart, die die Dinge in mir erwecken, in der der Blick die Motive wiederfindet, die seine Sicht der Welt konstituieren. Dann erscheint ein Sichtbares in der zweiten Potenz, ein sinnliches Wesen (essence charnelle) oder ein Bild des ersten« (AG 278–281).

Merleau-Ponty spricht vom »Körperschema«: »Bleiben wir beim Sichtbaren im engeren und prosaischen Sinne: Wer auch immer der Maler sei, während er malt, praktiziert er eine magische Theorie des Sehens. Er muß zugeben, daß die Dinge in ihn übergehen oder daß, entsprechend dem sarkastischen Dilemma von Malebranche, der Geist Cézanne aus den Augen tritt, um sich unter den Dingen zu ergehen, da er ja unaufhörlich sein hellseherisches Tun nach ihnen ausrichtet. Er muß wohl zugeben, daß das Sehen, wie ein Philosoph sagt, eine Spiegelung oder eine Konzentration des Universums ist, oder daß, wie ein anderer sagt, der ίδιος κόσμος sich durch das Sehen auf einen κοινός κόσμος hin öffnet, daß schließlich dasselbe Ding dort im Innern der Welt und hier im Innern des Sehens ist; dasselbe oder, wenn man will, ein ähnliches Ding, jedoch durch eine wirksame Ähnlichkeit, die Entstehung, Genese und Metamorphose des Seins in seinem Sehen ist. Es ist das Gebirge selbst, das sich von dort hinten vom Maler erschauen läßt und das er mit seinem Blick befragt« (AG 284 f.).

6.3.3.3 Das Problem Realisieren »Cézanne: ein Motiv, sehen Sie, das ist so: Nun ja! – – (Er wiederholt seine Bewegung, entfernt die Hände voneinander, die zehn Finger gespreizt, nähert sie dann langsam, langsam, faltet sie wieder, verschränkt sie krampfhaft ineinander.) Hier, das ist es, was man erreichen muß. Wenn ich zu hoch oder zu tief greife, ist alles verpfuscht. Es darf keine einzige lockere Masche geben, kein Loch, durch das die Erregung, das Licht, die Wahrheit entschlüpft. Ich lenke, verstehen Sie, den Realisationsprozeß auf meiner Lein-

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wand in allen Teilen gleichzeitig. Ich bringe im gleichen Antrieb, im gleichen Glauben alles miteinander in Beziehung, was auseinanderstrebt« (Gasquet 9–10).

Nach diesen Aussagen Cézannes ist das Realisieren das Zusammenführen und Zusammenbringen aller Elemente und Dimensionen des Bildes, das Realisieren geschieht auf der Leinwand in allen Teilen gleichzeitig. Das, was das Bild sichtbar macht, liegt nicht vor, weder in der Realität noch im Geist des Künstlers, sondern es ist das Zwischen von beiden in einem Dritten, wie es Waldenfels formuliert: »Für sie (die Kunst) ist die konkrete Ordnung des Sichtbaren keine fertige Ausstattung, die realiter in den Dingen oder idealiter im Geist bereitliegt oder bloß subjektiven Erlebnissen entstammt. Die Ordnung des Sichtbaren entsteht mit dem Sehen und mit den Dingen im Zuge einer Erfahrung, die sich zwischen Gesehenem, Sehendem und Mitsehendem abspielt und dem Geburtsstadium nie völlig entwächst. Insofern gilt: ›Die phänomenologische Welt ist nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Stiftung des Seins; die Philosophie nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, gleich der Kunst, Realisierung von Wahrheit‹ (PW 17)«. (SF 208–9) Auge und Geist Das Realisieren bringt somit zwei Dinge zusammen: das Motiv der Natur draußen und das Bild der Natur im Künstler. Mit ähnlichen Gedanken, aber in anderen Begriffen drückt Emile Bernard dasselbe aus. In Berichten über Begegnungen von 1904/05 sagte Cézanne: »Beim Malen gibt es zwei Dinge: das Auge und das Gehirn. Beide müssen sich gegenseitig helfen. Man muß an ihrer wechselseitigen Entwicklung arbeiten, aber als Maler: am Auge durch die Anschauung vor der Natur, am Gehirn durch die Logik der geordneten Sinnesempfindungen, wodurch die Ausdrucksmittel sich ergeben« (Gasquet 80). 111

Gestalten heißt realisieren, eine der emotionalen Sphäre entrückte, objektive Realität herstellen. Wenn der Künstler, als subjektives Bewusstsein, mit seinem Denken, Fühlen und Wollen in den Realisationsprozess eingreift, dann bringt er nur seine persönliche Geringfügigkeit hinein. »Er soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit, vergessen, vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein. Wenn ich beim Malen denke ist alles verloren: 111

Zum Auge (AG 283), zur Intuition (Gasquet 81).

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dann, in dieser selbstlosen Unterwerfung, denkt sich die Natur in mir, die Leinwand wird das objektive Bewußtsein dieser Landschaft« (Gasquet 9–10). Diese Sätze haben eine bemerkenswerte Verwandtschaft mit Ausdrücken der Mystiker, mit ihren Anweisungen zur Selbstaufgabe und Versenkung, um zur Schau des unwandelbar Einen und Wahren zu gelangen. »›Cézanne hat im Weltbild die mystisch-innerliche Konstruktion gespürt‹, hat Franz Marc gesagt« (Gasquet 118). Einmal spricht Cézanne davon, dass Auge und Gehirn beim Malen beteiligt sein müssen. Ein anderes Mal weist er jeden Eingriff des Gehirns in das Malen strikt zurück. Es gilt, auf die Logik des Sehens zu achten, die eine andere Logik ist als die bloß des Verstandes oder der Vernunft. Das Sehen des Künstlers wendet sich nicht gegen das Denken überhaupt, aber es ist ein anderes Wahrnehmen. Cézanne ist zu verstehen, wenn er sagt, dass »unsere Augen denken«. Der Maler aus Aix will die Natur, die sich nicht von selbst offenbart, realisieren. Die Wirklichkeit dokumentiert sich für ihn in Sehdaten. Er spricht von den ›sensations colorantes‹, von den farbigen Eindrücken im Akt des Sehens. Er unterwirft sich der Logik der Farben, nicht der des Gehirns. Denn nur die Farbe ist für Cézanne der Ort: »wo sich unser Gehirn und das Weltall begegnen« (Gasquet 12). »Für den Maler sind nur die Farben wahr. Ein Bild stellt zunächst nichts dar, soll zunächst nichts darstellen als Farben. Geschichten, Psychologie, das steckt trotzdem drin, denn die Maler sind keine Dummköpfe. – Es gibt eine Farbenlogik, parbleu, der Maler muß ihr gehorchen, nicht der Logik des Gehirns. Wenn er sich an diese verliert, ist er verloren. An die Augen muß er sich verlieren. Die Malerei ist eine Optik, der Inhalt unserer Kunst liegt primär in dem, was unsere Augen denken« (Gasquet 48).

Merleau-Ponty macht eine wichtige Beobachtung bei den Gesprächen mit Emile Bernard. Er sagt, es fällt auf, daß Cézanne stets versucht, den vorgefertigten Alternativen auszuweichen, die man ihm unterbreitet – der der Sinne und des Verstands, des sehenden und des denkenden Malers, der Natur und der Komposition, des Primitivismus und der Tradition. »Man muß sich eine Optik schaffen«, sagt er, aber »unter Optik verstehe ich ein logisches Sehen, also nicht irgend etwas Vernunftwidriges«. »Handelt es sich um unsere Natur oder die außerhalb von uns?« fragt Bernard. Cézanne antwortet: »Um beide.« – »Sind Natur und Kunst nicht verschieden?« – »Ich möchte sie vereinen. Die Kunst ist eine persönliche Wahrnehmung. Diese Wahr213 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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nehmung liegt für mich in der Empfindung, und vom Verstand verlange ich, sie zum Werk zu gestalten.« Aber selbst diese Formulierungen räumen den geläufigen Begriffen ›Sensibilität‹, ›Empfindung‹ einerseits, ›Verstand‹ andererseits, zu viel Kredit ein, weshalb Cézanne damit niemanden überzeugen konnte und es vorzog, zu malen. Statt Dichotomien auf sein Werk anzuwenden, die im Übrigen mehr zu den Schultraditionen als zu deren Begründern – Philosophen oder Malern – gehören, sollte man lieber dem eigentlichen Sinn seiner Malerei nachspüren, der gerade darin besteht, sie in Frage zu stellen. »Cézanne glaubte nicht, dass er zwischen der Empfindung und dem Denken wählen müsste, wie zwischen dem Chaos und der Ordnung. Er will die festen Dinge, die in unserem Sehfeld erscheinen, nicht von der flüchtigen Weise ihres Erscheinens trennen, er will die Materie malen, wie sie im Begriff ist, sich eine Form zu geben, will die durch eine spontane Organisation entstehende Ordnung malen. Er zieht die Grenze nicht zwischen den ›Sinnen‹ und dem ›Verstand‹, sondern zwischen der spontanen Ordnung der wahrgenommenen Dinge und der menschlichen Ordnung der Ideen und Wissenschaften. Diese primordiale Welt wollte Cézanne malen, und deshalb erwecken seine Bilder den Eindruck einer Natur im Urzustand, während Photographien derselben Landschaft stets an den Menschen denken lassen, der sich bald in ihr niederlassen und sie bearbeiten wird. Cézanne wollte nie ›wie ein unvernünftiges Tier malen‹, sondern den Verstand, die Ideen, die Wissenschaften, die Perspektive und die Tradition wieder in Verbindung bringen mit der natürlichen Welt, die von ihnen doch begriffen werden soll. Er wollte, wie er sagt, die Wissenschaften, die ›aus der Natur hervorgegangen sind‹, wieder mit ihr konfrontieren (AG 10, 13). (Eikon 213 f.) Wie schwierig es für Cézanne war, einen Weg zwischen Auge und Geist zu finden, beide in eine Balance zueinander zu bringen, machen diese Beobachtungen von Merleau-Ponty überdeutlich. Es ist eines der Probleme, vor denen Cézanne stand, wenn er sich um das Realisieren bemühte. 6.3.3.4 Medium Leib – reflexives leibhaftiges (Sich)Sehen Sehen – sich selber sehen – Maurice Merleau-Ponty formulierte einmal, dass nichts schwerer zu wissen sei als das, was wir sehen (AG 278 ff.). Wie vielleicht kein anderer Autor des 20. Jahrhunderts verschrieb sich Merleau-Ponty der Malerei, und es war Paul Cé214 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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zannes künstlerisches Werk, das ihn inspirierte in seinem Bemühen, eine Theorie des Sehens zu entwickeln, indem er den Versuch machte, mit Cézanne die Wahrheit des Blicks zu finden. Nach Merleau-Ponty ›denken wir mit den Augen‹ (AG 284 f.). Das bedeutet, die Welt ist nicht nur vor uns – uns gegenüber, sondern wir sind selber sehend in diese Welt verstrickt. Der französische Philosoph entwickelte aus dieser eigentümlichen Verschränkung von Sehen und Gesehenem ein neues Modell der Selbstreflexion. Das heißt, so Gottfried Boehm: ich empfinde nicht nur optisch, sondern im selben Moment auch leibhaftig. »Es ist vorweggesagt schon sehr bemerkenswert, dass ein werdender Philosoph, noch dazu dieses Kalibers wie Merleau-Ponty, einer der großen Erneuerer der Phänomenologie in Frankreich, sich hat an die Hand eines Malers nehmen lassen, wenn man das so sagen darf. Aber sein eigener Beitrag bestand darin, dass er die Intelligenz des Auges mit derjenigen des Körpers, des Leibes eng verbunden hat. Und dazu war seine Schlüsselerfahrung, dass der Leib, unser eigener Leib, die einzige Stelle in der Welt ist, die zugleich sieht und sich sieht. Man kann die Hand sehen und man kann die Hand zugleich als die eigene Hand sehen und empfinden. Und diese Verschränkung ist der Versuch, nun tatsächlich auch philosophisch der Wahrnehmung einen Ort zu verschaffen. Die Wahrnehmung ist nicht irgendein frei schwebendes Organ des Bewusstseins oder dergleichen, sondern die Wahrnehmung ist ein Organ des Leibes« (DLF).

Boehm kommt auf die einmalige Stelle des Leibes bei Merleau-Ponty zu sprechen: der Leib ist die einzige Stelle in der Welt, der zugleich sieht und sich sieht. Das macht die einzigartige Funktion des Leibes aus, das die Phänomenologie der Wahrnehmung und des Sehens seither bestimmt. Boehm präzisiert. Die frontale Gerichtetheit des Sehens schließt die Rückwendung auf den Körper stets ein. Würden wir unsere Augen wie die Insekten seitlich am Kopf tragen, so meinte MerleauPonty einmal, wir würden in einer ganz anderen Welt leben, schon weil wir unseren Körper ganz anders erführen. Diese Welt erschiene vermutlich transparent und schwerelos wie ein Kristall, ohne jene zentrierende Arche inmitten der Welt. Die Auszeichnung unseres Sehens hat mit der Leiblichkeit des Menschen zu tun. Er ist als sehender Leib offen für die sichtbare Welt und hat zugleich als sichtbarer Leib an der allgemeinen Sichtbarkeit der Realität Anteil.

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»Wir behaupten also, daß unser Leib ein zweiblättriges Wesen ist, auf der einen Seite ist er Ding unter Dingen, und auf der anderen sieht und berührt er sie; und wir stellen fest, da es offensichtlich so ist, daß er diese zwei Eigenschaften in sich vereinigt und daß seine doppelte Zugehörigkeit zur Ordnung des ›Objekts‹ und des ›Subjekts‹ uns zur Entdeckung ganz unerwarteter Beziehungen zwischen diesen beiden Ordnungen führt […]. Er kann sie [sc. die Dinge] nur deshalb berühren und sehen, weil er, verwandt mit ihnen und als solcher selbst sichtbar und berührbar, sein eigenes Sein als Mittel benutzt, um an ihrem Sein teilzunehmen, weil eine jede der beiden Seinsweisen Archetyp der anderen ist, weil also der Leib (corps) zur Ordnung der Dinge gehört so wie die Welt universelles Fleisch (chair universelle) ist« (SU 180–181).

Merleau-Ponty spricht wieder vom »Körperschema«, das sich wie eine Membrane anfühlt, zweiseitig empfindsam ist. Das Körperschema meint die Außenseite. Merleau-Ponty hatte in der Phänomenologie der Wahrnehmung den Leib noch als transzendentale Konstitutionsbasis ins Spiel gebracht, als das eigentliche Ego der Intentionalität. »Bewußtsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes« (PW 167 f.). Diese Funktion musste die wirkliche Stellung des Leibes inmitten der Welt noch verdecken. (Logos 296) Das Sehen, überhaupt die Sinne, realisieren die leibhafte Selbstbeziehung, artikulieren den stummen Logos, dessen Auszeichnung darin besteht, das Zentrum der Welt zu bezeichnen. Es lokalisiert sich inmitten und es geschieht »mitten aus den Dingen heraus […] da, wo ein Sichtbares sich anschickt zu sehen, zum Sichtbaren für sich selbst durch das Sehen aller Dinge wird und die ursprüngliche Einheit des Empfindenden mit dem Empfundenen besteht, wie die des Wassers im Eiskristall« (AG 280). (Logos 296–297) »Indem der Maler der Welt seinen Körper leiht, verwandelt er die Welt in Malerei« (AG 278). Leibhafte Reflexivität – »Die Natur ist im Inneren«, sagt Cézanne. Die Natur ist natürlich zuerst draußen. Aber dass die Natur auch im Inneren ist, macht den entscheidenden Vorteil des leibhaftigen Sehens aus: »Die Elemente von Qualität, Licht, Farbe, Tiefe, die sich vor uns befinden, sind dort nur, weil sie in unserem Leib ein Echo hervorrufen, weil er sie empfängt. Jenes innere Äquivalent, jene sinnliche Formel (formule charnelle) ihrer Gegenwart, die die Dinge in mir erwecken, in der der Blick die Motive wiederfindet, die seine Sicht der Welt konstituieren. Dann erscheint

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ein Sichtbares in der zweiten Potenz, ein sinnliches Wesen (essence charnelle) oder ein Bild des ersten« (AG 278–281).

Merleau-Ponty spricht vom »Leibbewußtsein«. Damit ist die Innenseite des zweiblättrigen Wesens gemeint. Die existierende Reflexivität des Leibes ist das wirkliche Zentrum, weil sich nur da Blick und Anblick kreuzen, sich zu einer Einheit fügen, nach Merleau-Ponty »eine Art Schlange des Ourobos«, in der sich Anfang und Ende, Tun und Leiden, Sehen und Gesehenwerden berühren. Merleau-Ponty wiederholt damit aber nicht einfach die reine Struktur der Selbstreflexion. Es handelt sich um einen »Narzissmus« des Körpers: »er, der alle Dinge betrachtet, kann sich dabei zugleich auch immer selbst betrachten und in dem, was er gerade sieht, ›die andere Seite‹ seines Sehvermögens erkennen – ein ›Sich‹ nicht durch Transparenz wie das Denken, sondern […] ein ›Sich‹ durch ein Einswerden, durch eine narzisstische Verbundenheit dessen, der sieht, mit dem, was er sieht […]. ein Sich also, das den Dingen verhaftet ist, das eine Vorder- und eine Rückseite […] hat« (AG 280).

Die Kategorie »chair«, deren deutsche Übersetzung »Fleisch« das semantische Feld nur unvollkommen wiedergibt, meint diesen Kreuzpunkt, an dem sich die scheinbar ausschließenden Prozesse: Subjekt des Sehens zu sein und zugleich sein Objekt, vermöge der ausdrücklichen Simultaneität, die der Leib allein garantiert. (Logos 297) »Tache« »touche« – Deleuze macht in seiner Interpretation von Cézanne auf eine andere bedeutsame Eigenheit aufmerksam. In seinem Buch Logique de la sensation geht er auf die Komplexität des Verhältnisses zwischen Visualität und Taktilität in der Malerei ein. Deleuze behauptet, dass die Definition der Kunst durch Linie (Linie) und Farbe visuell, dagegen jene durch Strich (trait) und Fleck (tache) taktil sei. 112 Den Begriffen »trait« und »tache« lässt sich ein dritter hinzufügen: »touche« (Pinselstrich) (Gasquet 62). So beschrieb Cézanne die réalisation des Malens: »Je vois, par taches. Une touche après l’autre, une touche après l’autre«. Cézannes Spätwerk wurde von Merleau-Ponty als Beispiel für eine taktile Malerei betrachtet. Und Richard Shiff 113 entwirft in seiner Cézanne-Monographie eine

Deleuze, Gilles (2002), Logique de la sensation, Paris, 145. Shiff, Richard (1995), Cézanne et la fin de l’impressionnisme : étude sur la théorie, la technique et l’évaluation critique de l’art moderne, Paris, 167.

112 113

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Theorie der taktilen »touche« in der Malerei. »Der Pinselstrich verweist zunächst auf Jeweiligkeit: […] elle transforme la totalité de la vision en une expérience personnalisée et fragmentée, associée au temps et au lieu de l’artiste«. Die Bedeutungen von »touche« enthalten ein ganzes Netz der Relationen, das ein Kunstwerk durchzieht. Diese drei Bedeutungen bilden nach Diaconu das ästhetische Dreieck neu: Im ersten Sinne betrifft die »touche« (Pinselstrich) den Rezipienten, der im Bild einen gewissen künstlerischen Stil, die Prägung einer Subjektivität erkennt; der zweite Sinn verbindet das Werk mit der dargestellten Welt; schließlich impliziert der dritte die leiblichen Bewegungen des Künstlers im Prozess des Schaffens. Damit fasst der Begriff »touche« (Pinselstrich) die Funktionen des Kunstwerks zusammen: die identifizierende oder die auf sich selbst verweisende Funktion [die Kunst als Ausdruck ihres Verfassers], die ikonische oder darstellende Funktion und die performative Funktion. Die Betonung der dritten Funktion kennzeichnet die Kunst der letzten Jahrzehnte im Rahmen einer Neubesinnung auf das Phänomen der Leiblichkeit. 114

6.4 Bild – Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens »Das ›sehende Sehen‹ (Imdahl) wohnt der Entstehung des Gesehenen und Sehenden bei, die im Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens mit auf dem Spiel steht. Dem Sehereignis entspricht ein Bildereignis, das nicht bloß sichtbar macht, was zuvor hier, dort, anderswo oder an sich schon sichtbar ist, sondern was unter neu entstehenden Bedingungen zugleich sichtbar und unsichtbar wird« (Ordo 243).

Sehen ist nach Waldenfels ein Ereignis, bei dem sich sowohl der Sehende wie das Gesehene konstituieren. Es ist das Grundphänomen des ›Sehens‹, bei dem der Künstler etwas ›sichtbar macht‹ und etwas ›sichtbar wird‹. Der Ternar des Grundphänomens lässt das Ereignis des »Sehens« gelingen. Das Sehereignis macht Neues sichtbar. Wodurch die Frage entsteht, was schon sichtbar ist und wie Neues sichtbar wird. Es ist die Frage, wie das Neue zugleich am (bisher) Sicht-

114 Diaconu, Madalina (2003), Tasten, Riechen, Schmecken: eine Ästhetik der anästhesierten Sinne, Königshausen, 95.

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baren erscheint und sich (als noch nicht Gesehenes) dagegen als Unsichtbares abhebt. Bewegung ist nur räumlich sichtbar, nicht ebenso zeitlich. Sichtbarkeit verbreitet sich im Raum. Wie wird dagegen Zeit sichtbar? sie wird nicht sichtbar, wohl aber erfahrbar. Raumerfahrungen fassen das Was des Sehens, das Wie muss miterlebt werden. Das Was betrifft die sichtbaren Grenzen außen, das Wie die Erfahrungen innen. »Zeit und Bewegung vollziehen sich nicht im Raum – sondern bewirken den Raum und die Dinge« (Mont 103).

6.4.1 Bewegung – Sehen ist beweglich Kudielka: »Das Sehen ist beweglich. Das ist die ganz schlichte, banale Wahrheit, die inzwischen auch die Gehirnphysiologie entdeckt hat, und der eigentümlicherweise Jahrhunderte von Malerei widersprochen haben in dem Versuch, das Sehen stillzulegen, es zu konstruieren in statischen Räumen. Das, was Cézanne tut, ist diese Beweglichkeit anzunehmen, zu akzeptieren und ein Äquivalent dafür zu suchen. Ich kann also keine Blätter mehr malen, ich male eigentlich gar keine Gegenstände mehr. Ich male farbige Orte. Das sind alles sehr schwierige Fragen, sehr elementare, mit denen sich Cézanne lange Jahre beschäftigt hat, bis er zu seinen Lösungen dazu gekommen ist. Und diese Lösungen sind in der Tat so revolutionär, dass Picasso sagen konnte: Cézanne, das ist der Vater von uns allen. Und was er damit meinte war: der hat etwas getan, was jedem modernen Maler fortan als Problem vor Augen stehen sollte: nämlich er hat mit der einfachen Erfahrung angefangen, für die es keine traditionellen Lösungen gibt: wie verhalte ich mich zur sichtbaren Welt, wenn diese sichtbare Welt eben ein Vorgang ist, eine Bewegung ist, ein Ereignis ist und nicht etwas Statisches. Wie gehe ich damit um?« (DLF).

Der Blick auf die Montagne de Sainte Victoire zeigt, dass die Bildordnung nicht vorgegeben ist, sondern sich die Ordnung immer bildet, sie vom Prozess der Bildwerdung nicht abgelöst werden kann, auf Grund der Bewegtheit des gemalten Bildes. Wenn Cézanne nicht von einem vorgegebenen Raum ausgeht, sondern von der Bewegung, wie Kudielka meint, dann sei versucht aufzuzeigen, wie »Bewegung« Die Kunst Cézannes prägt, und weiter, wie dabei »Zeit« von der Bewegtheit des Gemäldes her verstanden wird. Denn offensichtlich kann die aristotelische Zeit für die neue Zeit nicht mehr genügen. 219 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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»Zeit und Bewegung vollziehen sich nicht im Raum – sondern bewirken den Raum und die Dinge – ihrer Existenz nach« (Mont 102 f.). »Bildzeit« und »Bildraum« (Zeit 6) sind Folgen der Bewegtheit. Mit ihnen ereignet sich das Bildgeschehen. Es ist dem Ereignis des Bildgeschehens in Raum und Zeit nachzugehen.

6.4.2 Bild-Zeit In den Jahren als Nietzsche lebte und schrieb, erprobten französische Maler ein neues Zeitverständnis, gleichfalls vor der Natur, dessen künstlerische Folgen kaum zu überschätzen sind. 115 Die temporale Analyse eines Bildes aus diesem zeitlichen Umkreis (z. B. von Claude Monet) führt schnell ins Zentrum eines Bilddenkens, das einer veränderten Wahrnehmung von Wirklichkeit entsprechen sollte. Träger der zeitlichen Bestimmung ist nicht die Figur oder ein Motiv, überhaupt kein erinnerbarer Inhalt, keine Darstellung oder Ikonographie, sondern die Struktur der »Form«. Das Formkonzept Cézannes war kleinteilig und unstet, fern vom Formkonzept der Tradition. Gemeint ist, was die Maler ›taches‹ oder »touches« nannten. Der Blick erfasst sie nicht so sehr als begrenzte Größen, sondern als farbige Entitäten, die vermöge minimaler Kontraste wirksam werden und so ein flächendeckendes Kontinuum ausbilden. Das Gemalte ist ohne hierarchische Ordnung, schon deshalb, weil der Maler mit dem Blick auf die Natur vor Augen nichts anderes tut, als den ›richtigen‹ Kontrast zu setzen, ihn der Struktur nach zu wiederholen. Zweierlei ist an diesem Befund vor allem bemerkenswert: Was immer ein so arbeitender Maler darstellt, er bindet es an ein vorgegenständliches Element, das in allem, »was« wir sehen (Baum, Berg, Wiese usf.), mitgesehen werden kann. Zum anderen: Das einzelne Element, der Farbpartikel, ist dagegen seinem Bedeutungsstatus nach zunächst völlig leer. Der einzelne »tache« sagt oder bezeichnet: »nichts«. Die Brücke der Referenz zum Gegenstand ist abgebrochen. Sie baut sich über den Kontext erst allmählich wieder auf.

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Zur Bild-Zeit s. (Zeit 6); (Eikon 279); (Abstrakt 51).

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Bild – Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens

6.4.2.1 Zeitsinn Zeit der »Momentaneität« 116 – Der Zusammenhang und das Kontinuum des Bildes gehen aus der Sukzession und Simultaneität der Zeit hervor. Unsere Wahrnehmung der Zeit folgt im Allgemeinen der Uhrzeit, d. h. der gerichteten Sukzession von Zeitpunkten. Die zeitliche Wahrnehmung der Bilder Cézannes unterscheidet sich davon jedoch wesentlich. Lessing plädierte für die Räumlichkeit der Kunst, darin hatte die Zeit zunächst keinen eigenen Platz. Und doch machte Lessing einen ersten Schritt auf ein neues Zeitverständnis der Kunst zu. Dies lässt sich an einem der bekanntesten Lehrstücke der älteren Kunstliteratur, Lessings Theorie vom »fruchtbaren Augenblick«, sehr schnell dartun (Zeit 13 f.). Jener dargestellte Augenblick nämlich kann fruchtbar genannt werden, in dem die zeitlichen Dimensionen des ›Voraus‹ und des ›Gewesen‹ – obwohl selbst nicht dargestellt – doch mit angeschaut werden können. Wenn Lessing dabei die Einbildungskraft aufruft, so nicht als Vermögen bloßen Ausphantasierens, sondern als Vermögen, welches wir als eine Erinnerungskraft beschreiben, die Vergangenes vorzuhalten vermag oder an Gegenwärtigem Vergangenes und Zukünftiges mit zu entwickeln, und d. h.: mit zu sehen erlaubt. Jedenfalls ist es der Zeitsinn in uns, der uns gestattet, die »transitorisch« (Zeit 13, 23) angelegte Bewegungsabfolge des Laokoon gegen das lineare Nacheinander zu lesen, das freie Spiel eines zeitlichen Hin und Her, eines Vor und Zurück in Gang zu setzen, und d. h. das Gebilde »fruchtbar« zu betrachten. Lessings Beispiel und seine Argumentation machen ohne weiteren Umstand deutlich, wie unterbestimmt das Sehen als ein Konstatieren von Sachverhalten wäre. In ihm steckt eine produktive Leistung des Aufbaus von Sinngebilden, die imstande ist, bestehende Wahrnehmungen zu erfüllen, d. h. fruchtbar zu ergänzen. In diesem Sinne impliziert die Kunst der Bilder stets auch eine Kunst des Sehens. Zugleich wird deutlich, dass das erinnernde Sehen eng mit der Kategorie der »Bildzeit« verbunden ist. (Eikon 107 ff.) Die zeitliche Wahrnehmung der Bilder Cézannes artikuliert sich aber gegenüber Lessings transitorischem Verständnis der Zeit noch einmal anders, nämlich über die Binnendifferenzen der Bilder und vor allem über die wiederholten Farbkontraste. Gottfried Boehm hat 116

Momentaneität Kairos (Eikon 190–192); (Mont 46–53); (Selbst 109–110).

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Paul Cézanne

die innere Zeitlichkeit, die »Bild-Zeit« (Eikon 279) und den »ZeitSinn« (Eikon 108–109); (OZ 138, 138), das Werden und Sichtbarmachen des Bildes, sehr detailliert und nachdrücklich verfolgt und beschrieben (Mont 46–53). Die Bewegungsrichtung der inneren Zeitlichkeit der Bilder Cézannes ist nicht linear, sondern der Bild-Sinn ist zunächst ungerichtet, schweifend. Es gibt kein zeitliches Von-Nach, kein Weg erschließt uns den Raum in seinen Richtungen. Was dem Auge Stoff gibt, sind – wie gesagt – Kontraste, binäre Relationen, die in sich minimale zeitliche Unterschiede enthalten. Je nach der Beschaffenheit von Farbe und Auftrag ist ein heftiger, ein fast verfließender oder ausgeglichener temporaler Impuls zu bemerken. Der Künstler steuert Bildgeschehen und Bildbau ausschließlich damit. Was immer wir sehen, wir sehen es dank der Optik der unscharfen Flecken. Von einzelnen Kontrasten reden wir im Grunde nur in einer künstlichen Einstellung, dem betrachtenden Blick zeigt sich stets ein ganzes Feld, in das sich die ›taches‹ einreihen. Erst in toto gewinnt das Bild anschauliche Präsenz, das einzelne Datum der Farbe ist unscheinbar und unstet. Die »sensation« erzeugt keinen harmonischen Dingbau, keine Komposition, in der sich ein wohlgeordneter Kosmos spiegelt, sondern sie ist »Datum«, d. h. eine kleinste Gegebenheit und Zäsur zugleich. Die Summierung der Flecken zu einem sichtbaren Feld verändert die temporale Qualität des Bildes wesentlich. Kleine Zeitmomente, ihr instabiles Nacheinander schließen sich über den Kontext zu einem »Zugleich der Zeit« zusammen. Schon die Maler und frühen Kritiker gaben diesem Sachverhalt einen Namen: »instantanéité« oder: »Momentaneität« (Augenblicklichkeit) (Mont 46–50). Er beschreibt, womit wir es zu tun haben: Durch Abfolge, durch Wiederholung von Elementen auf einer ganzen Fläche wird der jeweilige Moment zu einem Zustand, zur Dauer. Aber wie geschieht das? Indem er ganz auf sich, auf seiner mikroskopischen Kontingenz, beharrt. Das flüchtige Jetzt »eternisiert« sich, auf denkwürdige Weise. Nirgendwo ist die Flüchtigkeit unterdrückt, durch eine Hierarchie überformt, etwa durch die Hierarchie der Form einer Komposition, wie wir sie etwa an älteren Landschaftsbildern beobachten. Und dennoch: Das Flüchtige springt zu zeitloser Gegenwart um. Indem wir die vielen Momente betrachtend wiederholen, konstituiert sich in der Anschauung temporale Präsenz. (Eikon 188) Bildbau – Beobachten wir das künstlerische Verfahren Cézannes genauer, so sehen wir recht bald, dass er mit der Spur des Pinsels 222 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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(tache oder touche) stets auch eine rudimentäre Formqualität setzt. Die Flecken besitzen eine Festigkeit, sie pulsieren nicht, verwischen nicht ihre jeweilige Identität zugunsten der Dichte eines farbigen Schleiers wie die Impressionisten. Dazu gehört, dass Cézanne eine gröbere Körnung wählt, nicht die mikroskopische Winzigkeit des Farbmoleküls (eines Monet). Er vermeidet es allerdings auch, das farbige Element zu Flächenstücken auszuweiten. Für die Impressionisten ist das farbtragende und bildorgansierende Partikel seiner Natur nach gestaltlos, formindifferent. Nur deshalb kann es auch ein dichteres Kontinuum schaffen. Cézannes Bemühungen galten der Möglichkeit, das Sehdatum zu befestigen. Er spricht dabei auch von der Konstruktion des Bildes. Sein zentraler Begriff der Realisation hängt damit zusammen. Überhaupt stehen dafür die zahlreichen Wendungen und Sentenzen, mit denen er seine künstlerische Aufgabe als Etablierung einer dauernden und festen Bildordnung umschreibt. So die Bemerkung, er wolle aus dem Impressionismus etwas Dauerhaftes machen, wie die Kunst der Museen. Dennoch würden wir seine Malerei falsch verstehen, wenn wir sie als reine Gegenwelt zur fließenden Welt Monets begriffen. Cézannes künstlerische Lösung besteht nicht darin, die flüssige impressionistischen Bildform einzufrieren, ihr die Zeit zu entziehen und sie auf Dauer zu stellen. Seine Lösung zielt auf eine Synthese: Veränderung und Dauer als identische Seiten des gleichen sichtbaren Sachverhaltes darzustellen. Dies ist, was der Betrachter beobachtet, was seinem Auge Stoff gibt: das Ineinander von Bau und Fluss, von Flexibilität und Ordnung. (Mont 46–50) So mündet Cézannes Arbeit, der sich mit der Lehre Pissaros die Einsichten des Impressionismus angeeignet hatte, in eine ganz andere Deutung der Natur. Auch er geht davon aus, dass die Welt vor Augen, das Motiv, vor dem der Maler sitzt, Phänomen ist, ein Datum des Sehens (sensation). In der Treue gegenüber dem Phänomen lässt er sich durch niemanden überbieten. Es zeigt sich aber, dass das namenlose Sehdatum sehr verschieden interpretiert werden kann. Cézanne sprach von der Anstrengung, es zu realisieren. Das heißt: im Bilde jene Mitte zu treffen, in der es für das Auge flexibel bleibt und doch zum Gefüge einer Ordnung beiträgt. Cézanne gelangt aus identischen Prämissen zu einer anderen Deutung der Wirklichkeit. Man mag sie die komplexere, diejenige Monets die radikalere nennen. (Mont 51 ff.) Zeit des Erinnerns – Im Zentrum des Vermögens des Sehens 223 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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liegt eine Potenz, die in der kunstgeschichtlichen Diskussion kaum eine Rolle spielte: das Vermögen nämlich, Gesehenes zu behalten bzw. zu erinnern. Ob wir sehend wiedererkennen oder uns in einem freien und offenen Sehvollzug bewegen, wir registrieren nicht nur, was auf der Fläche eines Bildes vorhanden ist, wir ordnen vielmehr die gewonnenen Daten, übersehen Überflüssiges, d. h. wir vergessen, geben der Wahrnehmung eine Struktur, in der das Einzelne sein Recht behält und das Ganze dennoch zur Geltung kommt. Dieser Hinweis macht deutlich, dass die Fähigkeit des Auges zu behalten, nicht an Instanzen außerhalb der Kunstgeschichte delegiert werden kann. Sie betrifft das Bildersehen unmittelbar. Die Sukzession dargestellter Elemente auf einem Bilde vermögen wir überhaupt nur als einen Kontext zu begreifen, sofern wir imstande sind, ein eben gesehenes Datum erinnernd vorzuhalten, auch wenn sein unmittelbarer Eindruck längst vergangen ist. Die Kette der Sukzession knüpft sich erst dann, wenn dem zeitlichen Nacheinander des Blickes ein Vermögen entgegenarbeitet, welches die absinkenden Eindrücke zwar nicht fixiert (das wäre unmöglich), aber doch vergegenwärtigt. Geschähe dies nicht, würden wir eine Abfolge von Einzelwahrnehmungen haben, von denen jede so lange dauert, wie der Blick konzentriert und unbewegt das jeweilige Element erfasst. Von einem »Bild« würden wir dann aber nicht reden können, denn schon der einfachste Bildtyp (z. B. der monochrome) erfordert eine Bewegung des Blickes und damit Konzentrationswechsel und Abfolge, schließlich die gemeinsame Präsenz aller Details. Wir besitzen das Bild, wenn wir es betrachten, nicht im Modus der reinen Erinnerung. Sie setzt erst ein, wenn der unmittelbare Anblick nicht mehr möglich ist. Die Erinnerungsarbeit schiebt sich zwischen die Fülle der »Sukzessionen« und die »Simultaneität«. Bei ihr angelangt, erblicken wir das Bild ohne zeitlichen Verzug, im Nu des Sehens. Ein erinnerungsloser Zustand ist herbeigeführt, der Zenit der Wahrnehmung, in dem das Bild einen Augenblick lang in reiner Präsenz heraustritt. Diese Erfassung des Ganzen, in der wir allein die Totalität der Fläche vor uns haben, hält nicht lange vor. In ihr wird zudem ein Teil jener Vielfalt geopfert, die sich im Nacheinander erschlossen hatte. Der Blick taucht sehr schnell wieder in die Abfolge zurück. Zwischen den polaren Seheinstellungen der Sukzession und der Simultaneität entfaltet das Bild seinen anschaulichen Reichtum. Es ist eine Welt der Übergänge, in der das kleinste Detail seinen Horizont besitzt und noch die 224 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Bildtotalität an die Fülle der Einzelheiten zurückgebunden bleibt. Was so geschieht, ist mehr als ein einfacher Prozess der Ordnung, es ist ein Vorgang der Artikulation, schon deshalb, weil viele Elemente auf vielfältige Weise zu fungieren vermögen, sich da und dort einbinden lassen, Sinnverschiebungen beinhalten. Jeder Interpret weiß, dass Bilder nicht nur registriert, sondern gelernt werden wollen. In diesem Wechselspiel anschaulicher Synthesen und Analysen hat Erinnerung ihren Ort, gelangt sie zu ihrem Recht. Vor dem Bilde kann ich zwar jedes Detail, das mir etwa entfallen wäre, sofort und realiter neu aufrufen. Dennoch bleibe ich auf Erinnerung verwiesen, da wir dem Bilde noch lange nicht gerecht werden, wenn wir die Summe aller Details durchgegangen sind. Es handelt sich freilich mehr um ein physiognomisch-optisches, denn um ein kognitives Lernen, zumal für vieles in der anschaulichen Realität, z. B. für komplexe Farbbeziehungen, Inversionen der Bildgründe u. dgl., gar keine adäquaten Begriffe existieren (Eikon 107–108): »Wir erkennen daran, dass Cézanne das Bild und seine Wahrnehmung als Prozess, als temporale Explikation verstand und dafür auch das Verb ›realisieren‹ einführte, […] wenn wir die einzelnen Elemente in einen Zusammenhang bringen, sie als Konstellationen eines Ganzen realisieren« (Boehm 201).

Diese Beobachtungen an unserer Wahrnehmung von Bildern lassen sich darin zusammenfassen, dass das Wandern des Blickes in der Zeit von einem inneren Zeitsinn begleitet wird. Es ist ähnlich wie beim Zeitverständnis der Musik. Zu dessen Fähigkeiten gehört es, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges aktualiter aufeinander zu beziehen. Er konstituiert also zuallererst Zeiterfahrung, insofern wir durch ihn über Zeit verfügen können, ihrer blinden Abfolge nicht einfach unterworfen bleiben. Die Durchbrechung der blinden Abfolge öffnet unser Auge zuallererst für die Realität der Bildfläche, ihres Reichtums und ihrer anschaulichen Logik. Dem äußeren Sehen in der Zeit geht ein inneres Sehen »außerhalb« des Zeitablaufs parallel, genauer gesagt: ein erinnerndes Sehen in uns. 6.4.2.2 Malen ist leibhaft und zeitlich »Die Struktur seiner Bilder hat etwas zu tun mit der inneren Unruhe, die entsteht, wenn etwas Prozessuales und etwas, das sich als stabil erweist, also Werden und Sein sich miteinander verschränken. Das Geheimnis dieser

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Kunst ist, dass es Cézanne gelungen ist, so etwas wie Mobilität und so etwas wie Stasis im gleichen Bild zusammen zu bringen […]. Cézanne, dieser unruhige und unausgeglichene Mensch, versucht zu zeigen, wie beweglich die Beziehungen zwischen unseren Augen und den uns umgebenden Dingen sind. Und er hat bemerkt, dass unser Blick eher umherschweift. Cézanne hat das Sehen für die Kunst thematisiert und dadurch auch für alle nachfolgenden Betrachter verändert. Alberto Giacometti urteilte einmal: ›Cézanne zertrümmerte die Konventionen der Wahrnehmung‹« (DLF).

Aus den Briefen Cézannes ist ersichtlich, wie sehr der Künstler mit seiner ganzen Person, mit allen geistigen und leibhaften Kräften, beim Malen beteiligt war 117: Aix, den 21. September 1906 »Jetzt scheint es mir, dass ich besser sehe und dass ich hinsichtlich der Orientierung meiner Studien richtiger denke. Werde ich das so sehr gesuchte und so lange verfolgte Ziel erreichen? Ich wünschte es, aber solange es nicht erreicht ist, bleibt ein gewisser Zustand von Unbehagen bestehen, der erst verschwinden wird, wenn ich den Hafen erreicht haben werde, das heißt, wenn ich etwas realisiert haben werde, das sich besser als bisher entwickelt. Ich arbeite also weiter nach der Natur, und es scheint mir, als machte ich langsam Fortschritte. Ich hätte Sie gern bei mir gehabt, denn die Einsamkeit bedrückt einen immer ein wenig. Doch ich bin alt und krank und habe mir geschworen, lieber beim Malen zu sterben, als einem entwürdigten Siechtum zu verfallen« (DLF).

Aix, den 6. September 1906 »Ich möchte dir sagen«, schreibt er weiter an seinen Sohn, »daß ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, daß bei mir jedoch die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr schwierig ist. Ich kann die Intensität, die sich vor meinen Sinnen entfaltet, nicht erreichen, ich besitze diesen großartigen Farbenreichtum nicht, der die Natur beseelt. Hier, am Ufer des Baches, vervielfachen sich die Motive, das gleiche Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein Studienobjekt von stärkstem Reiz und von solcher Mannigfaltigkeit, daß ich glaube, mich über Monate beschäftigen zu können, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich bald mehr nach rechts, bald mehr nach links beuge« (Gasquet 80).

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Zeit des Malens (Eikon 190 ff.).

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Der Maler »bringt seinen Körper ein«, sagte Valéry (AG 278) (GS3 284). 118 In einem drei Wochen früher geschriebenen Brief, in dem er bereits von Erfahrungen berichtete, die er an demselben Bachufer machte, stellte er dafür eine Maxime auf. Es sei ausschlaggebend, ins Bild »ein Höchstmaß an Wechselbeziehungen hineinzubringen. Diese Wechselbeziehungen betrafen folglich nicht nur die einzelnen Bildelemente, sondern zugleich das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem beweglichen Auge des Malers« (Lühty 203). Cézanne wandte seine Aufmerksamkeit von der Registrierung visueller Sensationen und den Phänomenen des Lichts auf den eigenen Körper zurück: auf dessen rhythmische Bewegung und Zeitlichkeit. Unter diesen Voraussetzungen eines dynamisierten Sehens zu malen hieß, dem Bild nicht nur die gegenläufige Verschiebung von Augenpunkt und Sehfeld einzutragen, die das Wiegen des Körpers provozierte, sondern zugleich die Empfindung der eigenen Körperbewegung mit derjenigen der »beseelten« Natur zu verschmelzen – ein bildplastisches Problem, das man sich nicht schwierig genug vorstellen kann. Bereits Husserl verbindet das Sehen mit dem Sich-Bewegen, der Kinästehese: »Ein Sehen, das nicht bloß eine Welt widerspiegelt, sondern sie mithervorbringt, ist selbst ein Tun, ein selbstempfundenes Sichbewegen, das Husserl Kinästhese nennt« (Schwellen 68–69). Augenbewegung und Blickführung, Tastversuche und Erkundungsgänge mitsamt dem vielfältigen Register der Leiblichkeit kommen bei jedem Sehakt ins Spiel. Das ›nicht mehr bloß durch die Augen, sondern durch den ganzen handelnden Menschen vollzogene Sehen‹, das Fiedler beim Künstler findet, beginnt schon im Bereich des gewöhnlichen Sehens. […] Ein Sehen, das sich von den Dingen anregen und einnehmen läßt, wird mehr inszeniert als produziert (vgl. Hua IV, 98, 259). Eben deshalb hebt das Sichtbarmachen des Malers an mit einem Sichtbarwerden. Das Sichtbare ›konstituiert sich‹, sagt Husserl häufig« (SF 207). 119 In dem Kapitel der PW, das dem Empfinden gewidmet ist, begegnen wir bei Merleau-Ponty einem Malen und insbesondere einem Farbverhalten, das mit dem Bewegungsverhalten des Körpers geradezu parallel geht. Merleau-Ponty vertieft den physiognomischen Ausdruck der Farben durch eine neurophysiologische Eigenheit. Das 118 119

Valéry, Paul (1944), Eupalinos, Paris. S. Sehen und Bewegung (AG 278 ff.).

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»Farbverhalten geht wie das Blau- und Rotverhalten mit gleitenden oder abgehackten Bewegungen, mit Streck- oder Beugehaltungen einher. Merleau-Ponty beruft sich nicht nur auf neurophysiologische Studien aus der Schule von Kurt Goldstein, sondern auch auf die Farblehren von Goethe und Kandinsky. Den Farben eignen eine motorische Physiognomie, eine Rhythmik und eine vitale Bedeutung, die der Malerei eine somatische Infrastruktur verschaffen. Über seine dingliche Einbindung hinaus ist das Blau etwas, ›was mich zu einer bestimmten Weise des Sehens veranlaßt, etwas, das sich durch eine wohlbestimmte Bewegungsart meines Blickes abtasten läßt‹. Später wird aus einer Farbe wie dem Gelb ein sinnliches Teilganzen, das sich von selbst überschreitet und eine weltliche Dimension eröffnet (SU 277)« (Sinne 140).

Merleau-Ponty spricht vom »Leibbewußtsein« und »Körperschema«, um diesen Zusammenhang von künstlerischem Schaffen und leibhafter Bewegung des Künstlers zum Ausdruck zu bringen. Ähnliches gilt neben den Farben für die Formen eines Bildes. Es trifft etwa zu auf die Linie. »Linien sind keine Eigenschaft vorhandener Dinge, sondern Gliederungsverläufe, die sich gleich einem Geäst oder Geäder zu Linienfeldern ausformen. Dinge entstehen, indem sie bestimmte Umrisse annehmen, je nach Umfeld, Beleuchtung oder Augenmerk. Daher rührt die den Malern vertraute Auffassung, daß es keine an sich sichtbaren Linien gibt, daß weder der Umriß des Apfels noch die Begrenzung des Ackers oder der Wiesen hier oder dort sind, daß sie sich immer diesseits oder jenseits des betrachteten Punktes befinden, immer zwischen oder hinter dem, was man fixiert, angezeigt von den Dingen, in ihnen impliziert, ja sogar von ihnen gebieterisch gefordert, aber selbst keine Dinge (AG 36). So wird verständlich, daß der Maler Farben voluminös anschwellen, daß er Linien ›träumen lassen‹ kann. Farben und Formen entfalten ein Eigenleben, das sich niemals definitiv in Eigenschaften und Zweckdienlichkeiten von Dingen und Werkzeugen einspannen läßt. Menschliche Sinne und weltlich-sinnliche Gestalten kommunizieren miteinander diesseits der Schwelle, die Subjekt und Objekt voneinander trennt« (SF 206–207).

Und weiter: »Das Sehen, überhaupt die Sinne, realisieren die leibhafte Selbstbeziehung, artikulieren den stummen Logos, dessen Auszeichnung darin besteht, das Zentrum der Welt zu bezeichnen […]. Indem der Maler der Welt seinen Körper leiht, verwandelt er die Welt in Malerei« (Sinne 149).

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6.4.2.3 Augenblick – Kairos Nietzsche erkundete im Zarathustra seinen philosophischen Hauptgedanken von der »ewigen Wiederkehr«, die eine Wiederkehr des »Gleichen« sei. 120 Was uns in diesem Zusammenhang interessieren kann, ist die Einschätzung, die Nietzsche der Rolle der Zeit gibt: Sie ist keine Eigenschaft neben anderen, nicht eine der beiden Anschauungsformen, neben derjenigen des Raumes, kein metaphysisches Prinzip neben anderen Prinzipien. Dem Leser des Zarathustra enthüllen sich die Gestalten der Zeit als die größten Geheimnisse und eine unter ihnen, der Augenblick, als die Lösung aller Rätsel. Vom Augenblick, der uns hier interessiert, schreibt Nietzsche metaphernreich: »Zwei Wege kommen hier zusammen: die ging noch niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andere Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den Kopf: – und hier, an diesem Torwege, ist es, wo sie zusammenkommen. Der Name des Torwegs steht oben geschrieben: ›Augenblick‹.«

Unter den Modalitäten der Zeit wird der instabilsten, dem Augenblick, die größte Bedeutung zugemessen. Die Argumentation, in die sich Zarathustra mit dem Zwerg, dem Vertreter der »Schwere«, d. i. des einfachen Verstandes oder des alten Christentums, verstrickt, dreht sich um jene prekäre Realität, in der sich ein Hinauf und Hinab, ein Zurück und Hinaus (der Zeit) verbinden. Vermögen sie sich zu verbinden? Die eine unendliche Zeitlinie, die in die unabsehbare Vergangenheit weist, und die andere unendliche Zeitlinie, die hinaus in die Zukunft führt – sind sie nicht ein und dieselbe Linie, die keine Unterbrechung gestattet? Nietzsche sieht sie im Bilde des Torweges, unter Vorzeichen einer Engführung, zusammenstoßen. Was zeichnet den Augenblick dermaßen aus? Zarathustra fragt den Zwerg: »Und sind nicht solchermaßen alle Dinge verknotet, daß dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht?« Nietzsche gibt später seine Antwort wiederum in bildlicher Form, unter der Metapher des »Großen Mittags«: es ist die Zeit der kürzesten Schatten, der Umwendung der Bahn, wo sich Vor- und Nachmittag, Vergangenheit und Zukunft in einem unvergleichlichen Moment begegnen. Es ist diese Konvergenz, die den Augenblick auszeichnet. Er ist 120

Nietzsche, Werke in drei Bänden, a. a. O., KSA II, 409 f.

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kein beliebiger Punkt auf einer Skala, ihm eignet vielmehr eine profunde Doppeldeutigkeit. »Heisser Mittag schläft auf den Fluren. Singe nicht! Still! Die Welt ist vollkommen […] Flüstere nicht einmal! Sieh doch – still! der alte Mittag schläft, er bewegt den Mund: trinkt er nicht eben einen Tropfen Glücks – […] Das wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick – wenig macht die Art des besten Glücks. Still – Was geschah mir: Horch! Flog die Zeit wohl davon? Falle ich nicht? Fiel ich nicht – horch! in den Brunnen der Ewigkeit?« 121

Im Augenblick vereinigt sich die doppelte Sicht einer Paradoxie. Nur so ist es denkbar, dass der flüchtigste temporale Aspekt zum Tor einer Erfahrung von Dauer werden kann. Doppelt nimmt sich der Augenblick aus, weil er zugleich in und außerhalb der Zeit liegt. Nietzsche formuliert den Augenblick auf akustische Weise: ›Horch‹. ›Still‹. Die Akustik, Stimme und Musik, sind aber temporal konnotiert. Die Kraft des Augenblicks rührt daher, dass sich in seiner Punktualität, in einem Nu (ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick) durchblicken lässt auf ein Ganzes. In der höchsten Flüchtigkeit, in der Bejahung des Wechsels leuchtet seine Gegenwart auf. Wie wenig ontologisch Nietzsche argumentiert, wird u. a. daran deutlich, dass er die temporale Bestimmung der Akustik mit der optischen des Sehens verschränkt: der »Augen-Blick« ist für ihn ein »Blick der Augen« (den er durch getrennte, mit einem Strich verbundene Schreibweise semantisch ins Spiel bringt). Das Auge besitzt die Fähigkeit zur Simultaneität, wie die Musik; es ist diejenige: sich sehend ein Bild zu machen. Es liegt deshalb nahe, im Augenblick eine eminente ästhetische Potenz zu vermuten. Sie bedarf des Nadelöhrs einer jeweiligen Erfahrung, um gegenwärtig zu werden. Aber in keiner Erfahrung lässt sie sich ausschöpfen. Diese temporale Flüchtigkeit beinhaltet freilich keinerlei Defizit. Was Nietzsches Augenblick auszeichnet, ist also die Verschlingung des linearen, zeitlichen Nacheinanders zu einem unlösbaren, dichten Knoten. In ihm verbindet sich der Anfang mit dem Ende – deshalb darf man diese Koinzidenz des Momentes mit der Ewigkeit ›erfüllt‹ nennen. Gewesenes und Zukünftiges werden ›auf ein Mal‹ anschaubar. Damit ist auch erläutert, warum für Nietzsche jede künstlerische Form temporal bestimmt ist. Wie immer sie sich örtlich, räumlich, materiell konkretisiert, welche Sinne sie anspricht: 121

Ebd., 513 f.

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Zeit organisiert Form, bringt sie zum Sprechen. In der gelingenden Evidenz des Augenblicks erfahren wir mehr als eben diese Sekunde, weil wir – gemäß Nietzsches Einsicht – die Wiederholung miterfahren, ewige Wiederkehr, insoweit: Dauer. Dergleichen leistete für ihn nur die Kunst, die »eigentlich metaphysische Tätigkeit« (Eikon 188 ff.). Nietzsches »Augenblick« erinnert an Lessings Theorie vom »fruchtbaren Augenblick« im Blick auf Laokoon. Jener Augenblick nämlich kann fruchtbar genannt werden, in dem die zeitlichen Dimensionen des ›Voraus‹ und des ›Gewesen‹ – obwohl selbst nicht dargestellt – doch mit angeschaut werden können. Lessing bezieht sich dabei auf die Einbildungskraft, welche das Vermögen hat, das Vergangene vorzuhalten und an Gegenwärtigem Vergangenes und Zukünftiges mit zu entwickeln, d. h. mit zu sehen. Jedenfalls ist es der Zeitsinn in uns, der uns gestattet, die »transitorisch« (Zeit 13, 23) angelegte Bewegungsabfolge des Laokoon gegen das lineare Nacheinander zu lesen, das freie Spiel eines zeitlichen Hin und Her, eines Vor und Zurück in Gang zu setzen, und d. h., das Gebilde in Bewegung bzw. »fruchtbar« zu betrachten. Allerdings unterscheidet sich der Augenblick Nietzsches auch grundsätzlich von dem Lessings. Denn bei Nietzsche liegt das »Vor« und »Zurück« nicht transitorisch auf einer Linie, sondern sie verknoten sich gerade im Augenblick. In dieser Verschränkung sieht Zarathustra für einen »Augen-Blick« die Ewigkeit. Boehm sieht einen ähnlichen Vorgang bei Cézanne, wie Nietzsche den »Augenblick« metaphorisch beschreibt. Mit Blick auf Die Kunst Cézannes formuliert er: »Das Geheimnis dieser Kunst ist, dass es Cézanne gelungen ist, so etwas wie Mobilität und so etwas wie Stasis im gleichen Bild zusammen zu bringen« (DLF). Gehen Cézannes eigene Aussagen nicht in eine ähnliche Richtung? »Alles, was wir sehen, nicht wahr, verstreut sich, entschwindet. Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muß ihr das Erhabene der Dauer geben, mit den Elementen und der Erscheinung all ihrer Veränderungen. Die Kunst muß ihr in unserer Vorstellung Ewigkeit verleihen. Was ist hinter der Natur? Nichts vielleicht. Vielleicht alles« (Gasquet 9).

Es sei wieder an Rilke erinnert, der schon 1907 davon gesprochen hat, es gehe Cézanne »um das Überzeugende der Dingwerdung, die bis ins Unzerstörbare hinein gesteigerte Wirklichkeit« (Gasquet 119–120). 231 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Cézanne umschreibt seine künstlerische Aufgabe immer wieder als Etablierung einer dauernden und festen Bildordnung. So die Bemerkung, er wolle aus dem Impressionismus etwas Dauerhaftes machen, wie die Kunst der Museen. Dennoch würden wir seine Malerei falsch verstehen, wenn wir sie als reine Gegenwelt zur fließenden Welt Monets begriffen. Cézannes künstlerische Lösung besteht nicht darin, die flüssige impressionistischen Bildform einzufrieren, ihr die Zeit zu entziehen und sie auf Dauer zu stellen. Seine Lösung zielt auf eine Synthese: Veränderung und Dauer als identische Seiten des gleichen sichtbaren Sachverhaltes darzustellen. Dies ist, was der Betrachter beobachtet, was seinem Auge Stoff gibt: das Ineinander von Bau und Fluss, von Flexibilität und Ordnung. (Mont 52) Badt formuliert im Blick auf Rilke. Im unerschütterlichen Strukturzusammenhange des Ganzen (das heißt des koloristischen Systems) erscheinen die Dinge in der Bedeutung von ›dauernd‹ und ›unzerstörbar‹ (Rilke) (Badt 164, 19 f., 122–124). Lüthy sieht den »Augenblick« sich ereignen im Schaffen des Künstlers: »Cézannes ›réalisation‹, die Ich und Welt, innen und außen, Objekt und Empfindung, Ordnung der Malerei und Ordnung der Natur verschmelzen wollte, verwirklichte sich allein im flüchtigen Augenblick, in dem der Pinsel die Leinwand berührte – im Augenblick des Umschlags von Subjekt und Medium, der Medialisierung des Subjekts und der Subjektivierung des Mediums. Diese punktuelle, an den Augenblick der Artikulation gebundene Vermittlung ließ sich nicht in die Gewißheit einer ›Aussage‹ oder eines ›Inhalts‹ überführen, sondern nur als ein im Bild immer neu sich ereignendes Vermittlungsgeschehen realisieren. Wenn Cézannes Gemälde einen Effekt der Präsenz erzeugen, so handelt es sich folglich nicht um den epiphanischen Vorschein eines zugrundeliegenden ›Seins‹, sondern um den Effekt eben jenes Pulsierens der Oberfläche, das der Stabilität des Bildes und des dargestellten Raums entgegenwirkt und ein irritierendes Moment von Unkontrollierbarkeit einfügt« (Lüthy 206). 122

Hinter dem »Augenblick« Cézannes dürften auch jene Aussagen stehen, die er immer wieder hinsichtlich des »Weltmoments« seiner Kunst macht: »Es gibt eine Weltminute, die vorüberzieht, man muß sie in ihrer Wirklichkeit malen« (AG 15).

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Bewegung und Stillstand (Mont 102 ff.); (Eikon 273).

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»Der ›Weltmoment‹, nach dem Cézanne malen wollte und der seit langem vergangen ist, schlägt uns weiterhin von seinen Gemälden entgegen; und seine Berglandschaft Sainte Victoire erwächst immer wieder neu von einem Ende der Welt zum anderen, anders, aber nicht weniger intensiv als in dem harten Fels oberhalb von Aix. Essenz und Existenz, Imaginäres und Wirkliches, Sichtbares und Unsichtbares – die Malerei bringt alle unsere Kategorien durcheinander, indem sie ihre Traumwelt leiblicher Wesen (essences charnelles), wirksamer Ähnlichkeiten und stummer Bedeutungen entfaltet« (AG 288).

Der »Weltmoment« und die »Weltminute« meinen den Ursprung der Welt, die Welt am Anfang im Urzustand. »Diese primordiale Welt wollte Cézanne malen, und deshalb erwecken seine Bilder den Eindruck einer Natur im Urzustand, während Photographien derselben Landschaft stets an den Menschen denken lassen, der sich bald in ihr niederlassen und sie bearbeiten wird. Cézanne wollte nie ›wie ein unvernünftiges Tier malen‹, sondern den Verstand, die Ideen, die Wissenschaften, die Perspektive und die Tradition wieder in Verbindung bringen mit der natürlichen Welt, die von ihnen doch begriffen werden soll. Er wollte, wie er sagt, die Wissenschaften, die ›aus der Natur hervorgegangen sind‹, wieder mit ihr konfrontieren« (AG 10, 13).

6.4.3 Bildraum Paul Cézanne ist auf ein Sehen aus, das imstande ist, alles wie zum ersten Mal zu zeigen. Er malt die Dinge im Moment ihres Sichtbarwerdens. Für Cézanne, so der Kunstwissenschaftler Robert Kudielka, ist das Sehen jedoch kein statischer Vorgang. Optisch-physikalische Erkenntnisse bestärkten ihn schließlich in seiner Einsicht, dass das Auge nicht alles zugleich, sondern nacheinander registriert (DLF). »Das Bild ist ein Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens (Ordo 243)«. Wird das Bild in der Ikonik so definiert, »dann büßt der Bildraum seine unterscheidbare Eigenexistenz ein, er wird zu einem veränderlichen Folgephänomen, das sich aus dem Teppich der ›taches‹, der mehrfachen Kontur, dem aktivierten Bildgrund u. a. herleitet, mithin aus offenen, zeitbestimmten Texturen. Der Bildraum als eindeutige Folgeordnung der drei Bildgründe verschwindet zugunsten eines Zeitraumes« (Logos 293). Das Ergebnis dieses neuen Konzeptes ist die Relativierung der Frontalität als einer das Bild beherrschenden Struktur. Cézanne hat 233 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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diesen zentralen Gedanken seiner künstlerischen Arbeit auch vielfach metaphorisch umschrieben. Die Metaphern suchen vor allem festzuhalten, wofür wir kaum Worte haben: dass das Auge den Dingen nicht nur gegenüber ist, sie nicht nur mit dem Sehstrahl abtastet, sondern so in ihnen ist wie die Dinge in ihm; daß Bilder nicht nur eine Objektwelt in Distanz entwerfen, sondern auch eine, in der das Tun der Wirklichkeit selbst sichtbar wird, sie sich als eine andere Art Subjekt bestimmt. »Cézanne antwortet: »›Ich beziehe mich auf die Vernunft des Pater Omnipotens‹« (Gasquet 76). Er wendet sich in jedem Falle der Idee oder dem Plan eines unendlichen Logos zu (SNS 33).« (Logos 291–293) Der klassische Bildraum wird vor allem durch die bildnerischen Formen bestimmt. »Cézanne arbeitet nicht mit Farbe und Form, er begreift die Farbe als Form. Würde man die koloristische Faktur aus der Montagne löschen, so wäre das Bild insgesamt gelöscht« (Mont 95). Bei Cézanne wird der Bildraum nicht durch Farbe ausgefüllt, sondern die Farbekomposition bewirkt Raum und Zeit. Genau das nennt Bernard den Selbstmord Cézannes: Er zielt auf die Realität und versagt sich die Mittel, sie zu erreichen. Hier läge also der Grund für seine Schwierigkeiten wie auch für die Deformationen, denen man bei ihm vor allem zwischen 1870 und 1890 begegnet. Die im Profil dargestellten Teller oder Schalen auf einem Tisch müssten eigentlich Ellipsen sein, aber die beiden Scheitel der Ellipse sind abgestumpft und stark gedehnt. Der Schreibtisch in dem Porträt von Gustave Geffroy erstreckt sich gegen die Gesetze der Perspektive bis an den unteren Bildrand. Durch die Preisgabe der Zeichnung hätte sich Cézanne dem Chaos der Empfindungen überlassen. Die Empfindungen jedoch hätten die Gegenstände ins Schwanken gebracht und immer wieder seine Sinne getäuscht, wie sie es mitunter tun – wir bewegen zum Beispiel unseren Kopf und meinen, die Dinge selbst hätten sich bewegt –, wenn das Urteil den Augenschein nicht ständig berichtigt. Cézanne habe folglich, so Bernard, »die Malerei in Unwissenheit und seinen Geist in Finsternis« versinken lassen (AG 8–9). Doch Cézannes Gebrauch und Anordnung der Farben lässt seine Konzeption etwa im Gegenüber zum Impressionismus erkennen: Gelbs, drei Blaus, drei Grüns, ein Schwarz. Der Gebrauch der warmen Farben und des Schwarz zeigt, dass Cézanne den Gegenstand darstellen, ihn hinter der Atmosphäre wiederfinden will. Desgleichen verzichtet er auf die Farbzerlegung und ersetzt sie durch abgestufte Mi234 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bild – Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens

schungen, durch chromatische Nuancen, die sich über den Gegenstand ausbreiten, durch eine Farbmodulation, die der Form und dem von ihr empfangenen Licht folgt. Die Beseitigung präziser Konturen, der Vorrang der Farbe vor der Zeichnung haben bei Cézanne und im Impressionismus ganz offensichtlich nicht dieselbe Bedeutung. Der Gegenstand wird nicht mehr von Reflexen überlagert, verliert sich nicht mehr in seinen Beziehungen zur Luft und zu anderen Gegenständen, sondern wirkt wie dumpf von innen heraus beleuchtet, das Licht strömt von ihm aus, und daraus resultiert ein Eindruck von Festigkeit und Materialität. Cézanne verzichtet im Übrigen nicht darauf, die warmen Farben vibrieren zu lassen und erzeugt diese Farbempfindung durch den Gebrauch des Blaus. Zusammenfassend läßt sich sagen, dass er zum Gegenstand zurückwollte, ohne die impressionistische Ästhetik preiszugeben, die sich die Natur zum Vorbild nimmt. Emile Bernard erinnerte ihn daran, dass für die Klassiker klare Konturen, Komposition und Verteilung des Lichts ein Bild erst zu einem Bild machen. Cézanne antwortet: »Sie machten Bilder, und wir versuchen uns an einem Stück Natur.« Über die alten Meister sagte er, dass sie »die Wirklichkeit durch die Einbildungskraft und die sie begleitende Abstraktion ersetzt haben«, – und über die Natur, dass »man sich diesem vollkommenen Werk zu beugen habe. Alles was wir haben, haben wir von ihr, durch sie existieren wir, vergessen wir alles übrige«. Er sagt, er habe aus dem Impressionismus »etwas Festes und Beständiges machen wollen, wie die Kunst der Museen«. Seine Malerei wäre demnach ein Paradox: Sie sucht nach der Realität, ohne die Empfindung zu verlassen, ohne sich an etwas anderem zu orientieren als an der Natur in der unmittelbaren Impression, ohne die Konturen anzugeben, ohne die Farbe durch die Zeichnung einzurahmen, ohne das Bild perspektivisch anzulegen oder es überhaupt zu komponieren. (AG 8) Lüthy zieht die künftige Linie der Entwicklung aus: »Indem sich in der Kunst der Moderne die Aufmerksamkeit zunehmend vom Produkt auf die Produktion verschiebt und dem Akt der Hervorbringung häufig mehr Interesse entgegengebracht wird als dem hervorgebrachten Kunstwerk selbst, wandeln sich die »Inhalte«, welche die Kunst kommuniziert, radikal. Das Kunstwerk verdankt sich jener intimen Zwiesprache zwischen Künstler und Medium, die Kersting und Manet in unterschiedlicher Akzentuierung vorführen. In dieser Zwiesprache verschmilzt das Selbstgespräch des Künstlers, der im Fortgang zum Bild zu sich selbst zurückzukehren sucht, mit der im Bild vollzogenen modellhaften Vermittlung

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von Selbst und Welt. Beide Vermittlungsgeschehen – des Subjekts mit sich selbst und mit der Welt – werden vom Bild auf Dauer gestellt und dem Betrachter kommuniziert. Dieser im Bild bzw. als Bild kommunizierte Prozeß tritt in der Moderne an die Stelle dessen, was in der früheren Kunst Narration und Repräsentation waren« (Lüthy 196).

Sichtbar – unsichtbar Der Bildraum ist nicht vorgegeben, sondern geht aus dem Bildgeschehen hervor. Waldenfels hat auf die sichtbaren und unsichtbaren Dimensionen der Bilder immer wieder hingewiesen: »Das ›sehende Sehen‹ (Imdahl) wohnt der Entstehung des Gesehenen und Sehenden bei, die im Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens mit auf dem Spiel steht. Dem Sehereignis entspricht ein Bildereignis, das nicht bloß sichtbar macht, was zuvor hier, dort, anderswo oder an sich schon sichtbar ist, sondern was unter neuentstehenden Bedingungen zugleich sichtbar und unsichtbar wird. Da es aber keine allumfassende Sehund Bildordnung gibt, verschiebt sich die Unsichtbarkeit, ohne deshalb zu verschwinden. Das Ereignis des Sehens und Bildens, das ein Feld der Sichtbarkeit eröffnet, findet nicht selbst seinen Platz in dem Feld, das es eröffnet – als wäre das sehende Sehen Teil des Gesehenen oder als könnte das Bilden selbst noch in das Bild eingehen« (Ordo 243)

Zur Konstitution des Bildraumes ist auf die Aussage Waldenfels zur Responsivität oben zurückzukommen, um sie für das Bildereignis zu erläutern. »Das Ereignis des Antwortens definiert sich nicht durch das Ich des Sprechers, sondern das Ich bestimmt sich umgekehrt durch das Antworten als Antwortender. Wo neuartige Gedanken entstehen, gehören sie weder mir noch dem Anderen. Sie entstehen zwischen uns«. Was für das responsive Sagen gilt, hat für die Erfahrung und die Kunst unübersehbare Bedeutung. Denn wenn die Kunst seinen Anfang im Pathos hat und im Bild seine Antwortet findet, dann kann das Kunstwerk als »neuartiger Gedanke« oder kreative Erfahrung ausgelegt werden, die ohne das Ereignis des künstlerischen Gestaltens, dem Ereignis zwischen dem Widerfahrnis (Motiv) und Künstler, nicht verstanden werden kann. Das Bild gibt so das unsagbare und kreative »Zwischen« Motiv und Künstler wieder. Waldenfels legt in dieser Weise das Höhlengleichnis Platons aus. Dort geschieht »Sagen ohne Gesagtes«. Gleiches gilt für das Höhlengleichnis als Vorbild der Kunst. Es ist ein Überschuss des Sagens und des Zu-Sagenden im Gesagten, ein Überschuss, der im Gesagten angezeigt, aber nicht eigens ausgesagt wird und dessen Realisierung auf 236 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bild – Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens

die Sprache des Körpers und der Dinge, auf Symbole und Rituale, auf Techniken und auch auf Schrift angewiesen ist. Waldenfels erkennt darin einen Grundzug der Grundphänomene überhaupt: Es bedarf »der […] hyperbolischen Lesart, […] der Differenz von Sagen und Gesagtem, von λέγειν und λεγόμενα, von dire und dit (s. Levinas – KK), […] der Differenz von Schreiben und Geschriebenem, γράφειν und γράμματα, von écrire und écrit. […] Chiasmus von Wort und Schrift, zu ergänzen wäre der ›Chiasmus von Kunst und Werk‹, das Außerordentliche im Ordentlichen« (Plato 12 f.).

Im Sinne von Paul Klee wäre zu formulieren, der Künstler zeigt das »Unsichtbare im Sichtbaren« auf. Verdoppelung des Sehens in Sehen und Gesehenes bzw. in eine Verdoppelung des Bildens in Bildwerdung und Gebilde, eine Verdoppelung, die der Zweiheit von Sagen und Gesagtem im Bereich der Rede entspricht. Sehen bedeutet hier das Ereignis des Sichtbarwerdens, das Zum-Vorschein-kommen und speziell das Ins-Bild-treten, das in jeder Beschreibung sichtbarer Gestalten und Sachlagen enthalten ist. Es deutet sich das Ereignis des Sehens an, das Sehen als Sichtbarwerden und Sichtbarmachen (Ordo 243).

6.4.4 Bild – Ereignis des Sehens und Sichtbarmachens Das Ereignis des Sehens und Sichtbarmachens sei noch einmal mit einer präzisen Beschreibung von Waldenfels zusammengefasst. »Ein Sehen, das sich in einem Gesichtsfeld umtut, unterliegt spezifischen Bedingungen, die das Sehen zugleich ermöglichen und beschränken. Dazu gehören die Perspektiven mit ihren Sehbahnen, Sehrichtungen und Sehweiten, die auf einen beweglichen Standort innerhalb des Gesichtsfeldes verweisen. Dazu gehören ferner Horizonte, Grenzlinien also, an denen Sichtbares in ein Unsichtiges übergeht, das selbst noch zum Reich des Sichtbaren gehört; andernfalls hätten wir keine Dinge und keine Welt, sondern bloße Torsi und genau genommen nicht einmal das. Husserl verwendet große Sorgfalt darauf zu zeigen, wie wir das ›Unsichtliche‹ (Hua I, 85) mitsehen, ohne imstande zu sein, die offenen Stellen auszufüllen. Die Einsicht, daß bestimmte Unbestimmtheiten zur Struktur der Erfahrung hinzugehören, daß deren ›Vorzeichnungen‹ keine fertige Vorlage liefern, verleiht der Husserlschen Phänomenologie ihre Radikalität, mit der sie der her237 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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kömmlichen Abwertung der Perspektive als einem verzerrenden Augenschein entgegentritt. Die Philosophie hatte gegenüber den Errungenschaften einer ausgeklügelten Raum- und Bildkunst aufzuholen. Daß die perspektivische Darstellungsweise, auch die klassische Zentralperspektive, selbst noch auf eine kulturelle Erfindung zurückgeht, sollte darüber nicht vergessen werden. Von der Rehabilitierung der Sinne und des Sehens profitiert schließlich auch unsere Auffassung von Bild und Einbildungskraft. Bild und Zeichen sind laut Husserl keine Zutaten, die eine Außenwelt der Dinge verdoppeln, sondern Medien, in denen die Wirklichkeit selber sich auf spezifische Weise darstellt, und sei es in der Form fiktiver Möglichkeiten oder gar widersinniger bzw. unsinniger Bedeutungen. Der Pegasus ist ebenso wenig eine mentale, private Entität wie das runde Dreieck oder ein grünes Und« (SF 207–208). (Mont 24–29)

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Paul Klee hat wie kein anderer Künstler »Bewegung« zur Grundlage seiner bildnerischen Arbeit gemacht. Er hat die Problematik grundsätzlich formuliert. In einer einführenden Lektion der Beiträge zur bildnerischen Formlehre hat er den Bauhausschülern die Frage gestellt: »Was heißt überhaupt im Werk Bewegung? Unsere Werke werden sich in der Regel doch nicht bewegen? Wir sind doch keine Automatenfabrik. Nein, unsere Werke werden von sich aus meist ruhig an ihrem Platz bleiben. Und trotzdem sind sie ganz Bewegung« (BF 94).

Klee hat Bewegung für sich zur Grundlage seines Schaffens und Lehrens gemacht. Er weiß, dass die Kunst der Klassik vor allem das Modell der Ruhe oder der Statik verfolgte und er gegen diese Standards das Gegenteil der »Bewegung« setzen wollte. Allerdings hat er längere Zeit darum gerungen, wie seine Tagebücher bezeugen. Er hat sich aber recht früh geäußert, wohin sein Weg führen sollte, wenn er im Tagebuch schreibt: »Ingres soll die Ruhe geordnet haben, ich möchte über das Pathos hinaus die Bewegung ordnen (Die neue Romantik)« (Tb 941). Klee weiß von der klassischen Diskussion, die das Kunstverständnis seiner Zeit beherrschte und in Lessings Laokoon sein Thema fand. Bei Lessing stand für die Kunst das »räumliche«, nicht das »zeitliche« Verständnis im Vordergrund. Dieses Verständnis hat die Kunst weitgehend beherrscht (Eikon 257–264) (Zeit 6). Gegen dieses klassische Verständnis bringt Klee nun die »zeitliche« Perspektive ein, wie aus einer zentralen Aussage der Schöpferischen Konfession hervorgeht: »Bewegung liegt allem Werden zugrunde. In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff« (SK 78).

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Paul Klee

Die beiden Aussagen sind von fundamentaler Bedeutung: »Bewegung liegt allem Werden zugrunde«, und »auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff«. Diese Aussagen geben das Grundverständnis der Werkauffassung Klees wieder. »Bewegung« und »Zeit« sind nach seinen eigenen Aussagen Grundworte des Kunstschaffens. Klee beginnt seine Vorlesungen am Bauhaus von 1921/22 mit dem »Punkt, der sich in Bewegung setzt« (BF 5). Damit machte er die »Bewegung« zum Prinzip des bildnerischen Schaffens, zum Prinzip beider Lehren, der »Form-« und »Gestaltungslehre« (BF BG). Im Gegensatz zu einer »geometrischen« Auffassung der Formlehre wurde damit der Punkt nicht statisch geometrisch und metaphysisch aufgefasst, sondern dynamisch als der »Punkt, der sich in Bewegung setzt«. Damit wird auch der Gegensatz zu Kandinsky klar: »während Kandinsky sich anstrengte, den statischen Punkt vom typographischen und syntaktischen Zweck zu befreien, setzte Klee die Grundlage ›der bildnerischen Form‹ in der Linie der Bewegung«. Der Ansatz bei der Bewegung ist bei Klee nicht geometrisch formuliert, sondern »genealogisch« (wie bei Goethe), »biologisch oder anthropologisch« (Geo 83).

Die bildliche Gestaltung entsteht durch Bewegung: die Bewegung des Punktes ergibt die Linie, aus ihrer Bewegung entsteht die Fläche, aus der Flächenbewegung bildet sich der Raum, der Kreis entsteht aus dem Pendelschwung und die lebendige Spirale aus der peripheralen Bewegung des Kreises (BF) (Geo 84). Auf dieser Grundlage äußert sich Klee in der Schöpferischen Konfession zu seinem Werkverständnis, das nicht nur für eine begrenzte Zeit, sondern für das Werk Klees insgesamt gilt. Klee formuliert: »Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln)« (SK 78). Demnach entsteht nach Klee das Kunstwerk »aus der Bewegung« des Künstlers (d. h. Aktion) (1), ist es »die Gestalt gewordene Bewegung« (d. h. Zeit und Werk) (2) und wird ›vom Betrachter durch die Bewegung seines Sehens und Verstehens wahrgenommen‹ (d. h. den Betrachter) (3). Das Kunstwerk ist von Anfang bis Ende aus der Bewegung entstanden, ist Bewegung. Der Dreiklang des Grundphänomens des »Sehens« der Malerei (Künstler, Werk, Seher) ist unübersehbar. Die Bedeutung von »Bewegung« und »Zeit« im Kunstschaffen von Paul Klee ist im Folgenden aufzuzeigen. Auf dem Hintergrund dieser Auffassung Klees ist der große Umbruch im Weltverständnis 240 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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der Zeit zu erkennen, der kopernikanischen Wende und der Ablösung eines herrschenden Kunstverständnisses, wie wir das bei Cézanne bereits angedeutet fanden. Es ist von Interesse, wie Klee das Bildsehen und Kunstschaffen neu versteht. Es wird von Interesse sein, wie er von der Bewegung und der Zeit ausgehend Bild und Kunst konzipiert. Wie ist es möglich, auf diesen Grundlagen Kunst und Bild aufzubauen? Revision der Perspektive Paul Klee hat sich mit den umstürzenden Forschungen der Wissenschaften seiner Zeit, etwa der Relativitätstheorie Einsteins, wahrscheinlich nicht intensiv befasst. Wenigstens ist uns dazu aus den Unterlagen nichts Genaueres bekannt. Und doch gibt es einige Hinweise, dass sich Klee durchaus der Konsequenzen Einsteins für die Kunst bewusst war. So heißt es in der Schöpferischen Konfession: »Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist, und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind. Die Dinge erscheinen in erweitertem und vermannigfachtem Sinn, der rationellen Erfahrung von gestern oft scheinbar widersprechend. Eine Verwesentlichung des Zufälligen wird angestrebt« (SK 78 f.).

Die Formulierung von der »Relativität der sichtbaren Dinge« dürfte nicht beiläufig sein, sondern der Kontext der Formulierung macht auf die Sicht Einsteins aufmerksam. Kurz nach dieser Passage folgt in der Schöpferischen Konfession eine eindeutige Stelle, die in Kurzform das Verhältnis von Bewegung und Zeit im Sinne Einsteins anschaulich wiedergibt: »Ein paar Beispiele: Ein Mensch des Altertums als Schiffer im Boot, so recht genießend und die sinnreiche Bequemlichkeit der Einrichtung würdigend. Dementsprechend die Darstellung der Alten. Und nun: was ein moderner Mensch, über das Deck eines Dampfers schreitend, erlebt: 1. die eigene Bewegung, 2. die Fahrt des Schiffes, welche entgegengesetzt sein kann, 3. die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit des Stromes, 4. die Rotation der Erde, 5. ihre Bahn, 6. die Bahnen von Monden und Gestirnen drum herum.

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Ergebnis: ein Gefüge von Bewegungen im Weltall, als Zentrum das Ich auf dem Dampfer« (SK 79).

Klee gibt hier ein anschauliches Beispiel für Relativität im Sinne Einsteins und wie sich die Erfahrung von Relativität in der Erfahrung des alten und neuen Menschen auswirkt. Klees Tagebücher geben darüber hinaus einige Hinweise, wie Klee nicht sofort mit dieser neuen Welterfahrung umgehen konnte, sondern sie ihm für seine künstlerische Darstellung lange Zeit große Mühe und Schwierigkeiten bereitete. Denn es stand die klassische Sichtweise der Perspektive auf dem Prüfstand. Für die Jahre 1906/07 heißt es im Tagebuch: »Der Umschwung ist dann sehr krass gewesen, ich gab mich sommers 1907 ganz der Naturerscheinung hin und baute auf diese Studien die schwarzweißen Landschaften hinter Glas 1907/08. Kaum besitze ich dieses Stadium, langweilt mich die Natur schon wieder. Die Perspektiven sind zum Gähnen. Soll ich sie nun verzerren (auf mechanische Weise verzerren hab’ ich schon versucht)?« (Tb 831).

Auf eine weitere Einzelheit macht das Tagebuch ebenfalls aufmerksam, die aber für die Werke und Skizzen Klees über eine gewisse Zeit bedeutsam war: »Ich projiziere auf die Fläche, das heißt, das Wesentliche muß immer sichtbar werden, auch wenn es in der Natur, die auf diesen Reliefstil nicht eingestellt ist, unmöglich wäre […]. Ich lerne ganz von vorn, ich beginne zu formen, als ob ich nichts wüßte von aller Malerei. Denn ich habe ein ganz kleines unbestrittenes Eigentum entdeckt: eine besondere Art der dreidimensionalen Darstellung auf der Fläche […]. Ein fliegender Mensch! Hereinrenke die dritte Dimension in die Fläche […]. Ich träume sogar davon. Träume mich. Träume mich selber zu meinem Modell. Projiziertes Ich. Erwachend erkenne ich die Wahrheit. Ich liege kompliziert, aber flach, am Leintuch haftend. Ich bin mein Stil« (Tb 425).

Es könnte ein Kommentar sein zu einer Reihe von Bildern mit eigenartigen Zimmerperspektiven und Menschen. Es ist bekannt, dass in diesen Zeiten um die Relativität Einsteins eine große Diskussion stattfand, wie die vierte Dimension der Zeit in den dreidimensionalen Raum einzubringen wäre. Ein Vorschlag war, den dreidimensionalen Raum auf zwei Dimensionen zu verkürzen, wie es auch bei der Projektion eines dreidimensionalen Bildmotivs auf die zweidimensionale Leinwand geschieht, und in die frei gewordene dritte Dimension die vierte Dimension der Zeit einzutragen. In dieser Reihe von eigenarti242 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Phänomenologie der Kunst des Sehens

gen Bildern Klees liegen die Menschen in einem durch die Uhr angedeuteten dreidimensionalen Zeitraum flach (zweidimensional) auf dem Boden. 123 Die Diskussion um die »Perspektiven« bzw. »Dimensionen« macht einen umfangreichen Teil des Vorlesungsprogramms Klees aus. Im Hintergrund geht es u. a. um die Auseinandersetzung mit der Photographie. Von Rodin stammt dazu das Wort: »Der Künstler ist wahrheitsliebend, und die Photographie lügt, denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still« (AG 311). Den Themen des Verhältnisses von Raum und Zeit, den Fragen der Dimensionen und Perspektiven hat Klee einen großen Platz in seinen Vorlesungen eingeräumt. Im Grund ist es das neue Verständnis der Wirklichkeit, das Klee in allen Feldern seines Schaffens zu reformulieren versuchte. 124 Boehm erkannte in der klassischen Zentralperspektive »eine höchst folgen- und erfolgreiche Rationalisierung des Darstellungsvorganges«, und fährt dann fort, dass deren »Revision unter anderem von Paul Klee, der darin ein anderer Alberti gewesen ist, betrieben wurde« (Boehm 86–87).

7.1 Phänomenologie der Kunst des Sehens Der Aufsatz Wege des Naturstudiums, der in einer Festschrift aus Anlass der Weimarer Bauhauswoche 1923 veröffentlicht wurde, enthält ein graphisches Modell, das das künstlerische Schaffen nach Klee schematisch abbildete und Thema der Ausführungen eines Vortrags zum Thema war (WN).

7.1.1 Schema des Kunstsehens im »Naturstudium« Das Schema (→ Abb. 8, S. 469) enthält eine Skizze der Wege bildnerischen Sehens, die man grob betrachtet als Schema einer Phänomenologie der Kunst des Sehens auffassen und interpretieren kann 125: Man S. Klee, Paul (2018), Konstruktion des Geheimnisses. Ausstellung in Pinakothek der Moderne 2018, hrg. von Oliver Kase: »Zimmerperspektiven mit Menschen, Uhr und Ausgang, München, 92–97; Zimmerperspektive mit Einwohnern, 1921; s. auch (Boulez 71). 124 S. (PS 15–21) und (BF 13–19); vgl. Boehm 120 ff. 125 S. (BG A 30); (WN 67); (Marx 13); (Geo 87 f.); (Schmidt 5 f.); Peetz, Siegbert 123

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sieht innerhalb eines großen, als »Welt« bezeichneten Kreises einen kleinen, mit »Erde« bezeichneten Kreis, aus dem zwei blasenförmige Gebilde wie Keime hervorzuwachsen scheinen, die Klee als »Ich« bzw. »Künstler« und »Du« bzw. »Gegenstand« einander gegenüberstellt. Zwischen Künstler und Gegenstand spannt Klee ein Netz von Bezügen bzw. Wegen auf. Bei näherem Hinsehen wird man drei durch schwarze Pfeile hervorgehobene Wege erkennen, die Bewegungen des Künstlers sind. Da ist zunächst der optisch-physische Weg, der vom Auge des Künstlers zum Gegenstand geht, und dann gibt es zwei nicht-optische Wege, die den Gegenstand durchziehen sowie von oben und unten im Auge des Künstlers zusammentreffen. Diese beiden nicht-optischen Wege nennt Klee »Welt« und »Erde«, wobei er »Welt« als den »Weg kosmischer Gemeinsamkeit« und »Erde« als den »Weg gemeinsamer irdischer Verwurzelung« nennt. Wie die von Klee doppelt unterstrichenen Zusätze »Dynamik« bei »Welt« und »Statik« bei »Erde« zeigen, sind »Welt« und »Erde« als polare, Künstler und Gegenstand gleichermaßen durchwirkende Naturkräfte aufzufassen. Dass diese im Grunde nur Teilkräfte einer einzigen Kraft darstellen, zeigt nicht nur deren gemeinsame, die Figur einer Ellipse beschreibende Linie, sondern auch die Klammer links, welche die beiden mit Welt und Erde bezeichneten Wege durch den Terminus metaphysischer Weg miteinander verschränkt. Der Raum der Natur ist, so lässt sich jetzt präzisieren, ein Spielraum unterschiedlicher Wege und Kräfte. Klee interpretiert das Schema selbst folgendermaßen: »Die Art des Kunstbekenntnisses von gestern und des damit zusammenhängenden Studiums der Natur bestand in einer, man kann wohl sagen peinlich differenzierten Erforschung der Erscheinung. Ich und Du, der Künstler und sein Gegenstand suchten Beziehungen auf dem optisch-physischen Weg durch die Luftschicht, welche zwischen Ich und Du liegt. Auf diesem Weg wurden ausgezeichnete Bilder der von der Luft gefilterten Oberfläche des Gegenstandes gewonnen und damit die Kunst des optischen Sehens ausgebaut, gegenüber welcher die Kunst des Betrachtens und des Sichtbarmachens unoptischer Eindrücke und Vorstellungen vernachlässigt zurückblieb. Die Errungenschaft der Erforschung der Erscheinung braucht deswegen nicht unterschätzt zu werden, sie ist nur zu erweitern« (WN 63).

(1995), »Welt und Erde. Heidegger und Paul Klee«, in: Heidegger Studies 11, 167– 187, hier 169.

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Phänomenologie der Kunst des Sehens

Klee beschreibt im Zentrum des Schemas den alten Weg der Malerei. Es ist der optische Weg des Bildsehens in der Weise der Perspektive: Auge (Künstler) und Gegenstand (Du) sind sich einander gegenüber; der Künstler nimmt den optischen Eindruck wahr und bildet ihn ab. Wichtig dabei ist der Hinweis auf die Atmosphäre bzw. Luft, die zwischen beiden liegt. Die gemalte Figur ist die »Erscheinung« des Gegenstandes. Auffallend ist, dass Klee den Künstler »Auge« und »Ich« nennt und den Gegenstand »Du«. Das weist bereits weit über das bloße optische Gegenüber von Künstler und Gegenstand hinaus. Später wird Klee von einem »Resonanz«-verhältnis (WN 66) sprechen, die Andeutung eines hintergründigen responsiven Verhältnisses. Auffallend ist zudem, dass Klee neben den optischen Kraftlinien weitere nicht optische Beziehungen nennt, die nicht »sichtbar« sind, aber zum bildnerischen Sehen mitbedacht werden sollten, und er nicht nur auf die Kunst des Sehens, sondern auch die des Betrachtens hinweist. »Der heutige Künstler ist mehr als verfeinerte Kamera, er ist komplizierter, reicher und räumlicher. Er ist Geschöpf auf der Erde, und Geschöpf innerhalb des Ganzen […]. Dies kommt nun schrittweise so zum Ausdruck, daß in der Auffassung des natürlichen Gegenstandes eine Totalisierung eintritt, sei dieser Gegenstand Pflanze, Tier oder Mensch, sei es im Raum des Hauses, der Landschaft oder im Raum der Welt und so, dass zunächst eine räumlichere Auffassung des Gegenstandes an sich einsetzt. Der Gegenstand erweitert sich über seine Erscheinung hinaus durch unser Wissen um sein Inneres« (WN 63–66).

Die bisherige Kunst hat eine Spaltung zur Folge, die Spaltung von Subjekt (Künstler) und Objekt (Gegenstand). Das ist eine Folge der äußeren Gestalt der optischen Erscheinung. Die neue Kunst achtet darüber hinaus auf das Innere. Es geht um die Ganzheit des Anderen Du, das Außen wie Innen; es geht, wie Klee formuliert, um »Totalisierung«. Es geht um die Vermenschlichung des Menschen, um die ganze Gestalt von Tier oder Pflanze. Es geht zudem nicht mehr nur um die Feststellung des Gegenstandes, sondern um seine ganze Umwelt, sein Zuhause, die Landschaft, den Raum des Kosmos: »Über diese Arten der verinnerlichenden Anschauung des Gegenstandes hinaus gehen die folgenden zu einer Vermenschlichung des Gegenstandes führenden Wege, die das Ich zum Gegenstand in ein über die optischen Grundlagen hinausgehendes Resonanzverhältnis bringen. Erstens der nicht optische Weg gemeinsamer irdischer Verwurzelung, der im Ich von unten ins Auge steigt, und zweitens der nicht optische Weg kosmischer Gemein-

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samkeit, der von oben einfällt. Metaphysische Wege in Ihrer Vereinigung […]. Hier aber ist erläuternd vielleicht noch beizufügen, dass der untere Weg durch das statische Gebiet führt und statische Formen hervorbringt, der obere aber durch das dynamische Gebiet. Auf dem unteren, im Erdzentrum gravitierenden Weg liegen die Probleme des statischen Gleichgewichtes, die mit den Worten: ›Stehen trotz allen Möglichkeiten zu fallen‹ zu kennzeichnen sind. Zu den oberen Wegen führt die Sehnsucht, von der irdischen Gebundenheit sich zu lösen, über Schwimmen und Fliegen zum freien Schwung, zur freien Beweglichkeit« WN 66–67). 126

Der allgemeine optische Weg ist ein einseitiger asymmetrischer Weg vom Künstler zum Gegenstand. Die Kunstauffassung Klees geht dagegen verschiedene, nicht optische Wege vom Du zum Auge, den Weg über die Erde und den Weg über den Kosmos, d. h. die gesamte Welt. Klee nennt diese nicht optischen Wege »metaphysisch«, d. h. es sind Wege der Verinnerlichungen des Auges durch den Geist. Hinter der Redeweise steht das Motiv Klees vom Sichtbarmachen: »Bei der Kunst ist das Sehen (Außen – KK) nicht so wesentlich wie das Sichtbarmachen (Innen – KK)« (Tb 1134). »Diese Sichtbarmachung kann sich auf zwei Wegen vollziehen: Der eine, der durch das statische Gebiet der ›Erde‹ führt, ist gekennzeichnet durch die Beschäftigung mit Problemen des statischen Gleichgewichts und der Schwerkraft. Der andere Weg verläuft durch das dynamische Gebiet der ›Welt‹. Dieser zeichnet sich aus durch seine Sehnsucht, von der irdischen Gebundenheit sich zu lösen, über Schwimmen und Fliegen zum freien Schwung, zur freien Beweglichkeit« (WN 67). 127

Zum Verständnis des Schemas sind die Momente des »Auges«, der »Horizontalen« und »Vertikalen« sowie der Begriff der »Totalisierung« kurz zu erläutern. Auge – Die Hervorhebung des Auges erinnert an Goethes Verständnis des Auges: »Das Auge sieht keine Gestalten, es sieht nur, was sich durch Hell und Dunkel oder durch Farben unterscheidet. In dem unendlich zarten Gefühl für Abschattierung des Hellen und Dunkeln sowie der Farben, liegt die Möglichkeit der Mahlerey. Die Mahlerey ist für das Auge wahrer, als das

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S. Gleichgewichte – Gegengewichte (Tb 758, 760). S. (Schmidt 8); (Marx 12–20); (Boehm 87–89); (Geo 87).

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Phänomenologie der Kunst des Sehens

Wirkliche selbst. Sie stellt auf, was der Mensch sehen möchte und sollte, nicht was er gewöhnlich sieht […]. Das Auge ist das letzte, höchste Resultat des Lichtes auf den organischen Körper […]. Das Licht überliefert das Sichtbare dem Auge; das Auge überliefert’s dem ganzen Menschen. Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub; aber das Auge vernimmt und spricht. In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch. Die Totalität des Innern und Äußern wird durchs Auge vollendet«. 128

Nach Goethe sind die Farben das Medium der Malerei. Sie werden von den Augen wahrgenommen. Die Augen sind wie bei Plato sonnengleich, sie sind das Resultat des Lichtes, das sich den Augen als Farbe mitteilt. Für die Kunst der Augen, das Sehen, sind die Farben wahrer als alle äußere Wirklichkeit bzw. Gegenständlichkeit. Das Auge nimmt das äußerlich Sichtbare auf und wandelt es dem inneren Menschen an. Der innere Mensch wird Spiegel des äußerlich Sichtbaren, Spiegel zwischen der Welt von außen im Menschen innen. Goethe spricht von der Spiegelung vom Äußeren im Inneren als eine »Totalisierung«. Das »Sichtbarmachen« vollendet die Totalisierung von Innen und Außen. »Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen: dass der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt oder vielmehr erst den höheren Wert hineinlegt«. 129

Klee wird wie Goethe vom Künstler sagen, dass er nicht einfach die Natur kopiere, sondern sie erneut erschaffe. Klee spricht von dem Werk des Künstlers als »Schöpfung«. Horizontale und Vertikale – Im obigen Schema sind die Horizontale und Vertikale das Besondere. Beide Dimensionen haben bei Klee eine besondere Bedeutung. Es gibt eine bekannte Eintragung und Skizze von Klee in das Gästebuch des Braunschweiger Kaufmanns Otto Ralfs (1892–1955). Der Gästebucheintrag aus dem Jahre 1923 beginnt mit einer senkrechten Linie, deren unteres Ende auf dem Mittelpunkt einer waagerechten Linie ruht. Es handelt sich um ein Symbol für den aufrechten Stand des Menschen auf der Erdoberfläche; wie der begleitende Kommentar ausführt: »Wir stehen aufrecht und in der Erde verwurzelt«. Die Vertikale ist das Sinnbild des 128 129

Goethe (WA 5.2, 12; MA 6.2, 815–6). Goethe (HA 12, 46).

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Paul Klee

aufrecht auf der Erde stehenden Menschen. Dieses Motiv hat eine lange Tradition, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt: »Der Körper des aufrecht auf dem Boden stehenden Menschen ist die Verlängerung eines Strahls der Erdkugel, der im rechten Winkel zum Horizont verläuft. Seine Körperachse, die vom Erdzentrum ausgeht, richtet sich zum Himmel empor. Diese vertikale Linie bildet die Achse, die den Körper des Menschen in zwei völlig symmetrische Teile gliedert«. Klee fügt dem Motiv der Vertikalen an anderer Stelle hinzu »frei ist nur die Sehnsucht dorthin – zu Monden und Sonnen«. Die Erde ist das Sinnbild des mit der Erde Verwurzelten. Die Vertikale ist die Richtung nach oben, zum Himmel (Linie 51) (PS 20 f.). Totalisierung Um den Terminus der Totalisierung zu verstehen, ist auf das Kunstverständnis Klees einzugehen, auf das, was Klee für das Wesentliche an der Kunst hält, und auf das, was noch zu tun ist im Verhältnis zu anderen großen Kulturbereichen: »Auch der Kunst ist zu exakter Forschung Raum genug gegeben und die Tore dahin stehen seit einiger Zeit offen. Was für die Musik schon bis zum Ablauf des achtzehnten Jahrhunderts getan ist, bleibt auf dem bildnerischen Gebiet wenigstens Beginn. Mathematik und Physik liefern dazu die Handhabe in Form von Regeln für die Innehaltung und für die Abweichung. Heilsam ist hier der Zwang, sich zunächst mit den Funktionen zu befassen und zunächst nicht mit der fertigen Form. Algebraische, geometrische Aufgaben, mechanische Aufgaben sind Schulungsmomente in der Richtung zum Wesentlichen, zum Funktionellen gegenüber dem Impressiven. Man lernt hinter die Fassade sehen, ein Ding an der Wurzel fassen. Man lernt erkennen, was darunter strömt, lernt die Vorgeschichte des Sichtbaren. Lernt in die Tiefe graben, lernt bloßlegen, lernt begründen, lernt analysieren […].«

Und Klee fährt fort, um zu sagen, dass diese Bereiche für die Kunst nicht alles sein können, sondern dass es ihr letztlich um einen zentralen Bereich, das Ganze oder die »Totalisierung« geht: »wir konstruieren und konstruieren und doch ist Intuition immer noch eine gute Sache. man kann ohne sie Beträchtliches, aber nicht alles. man kann lange tun, mancherlei und vielerlei tun, wesentliches tun, aber nicht alles. Die Intuition ist trotzdem ganz nicht zu ersetzen. Man belegt, begründet, stützt, man konstruiert, man organisiert; gute Dinge. Aber man gelangt nicht zur Totalisation […]« (EV 69). Für die Mittlerstellung des Künstlers gebraucht Klee immer wieder den 248 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Phänomenologie der Kunst des Sehens

Begriff der »Intuition«, er steht für das Suchen nach Totalisierung. 130 Oben hat Klee die Einheit von Innen und Außen Totalisierung genannt. Totalisation meint die Sicht auf das Ganze, meint das »Sichtbarmachen« des Ganzen. Im Schema (s. oben) ist das Ganze angedeutet: Dazu gehören die Dimensionen des Raumes von Rechts nach Links und die Dimensionen von Oben nach Unten. Totalisation meint dieses »Geviert« aller Dimensionen, von Menschlichem und Dinglichen, von Himmlischem und Irdischem. Klee versteht seine Aufgabe als künstlerische Funktion des Mittlers, als Mittler zwischen Erde und Welt, zwischen Menschen und Gott, zwischen Diesseits und Jenseits (Schöpfung 175). Diese Redeweise erinnert an Martin Heidegger.

7.1.2 Exkurs: Heideggers »Geviert« Werner Haftmann spricht von den Momenten der Totalisation von Menschlichem und Dinglichem, von Himmlischem und Irdischem bei Klee als dem »Geviert« (Wege 73, 81). Er erinnert damit an die Rede vom »Geviert« bei Martin Heidegger. Diese gemeinsamen Vorstellungen bei Klee und Heidegger machen die Charakterisierung von Klees Denken als Phänomenologie plausibel. Peetz hat diesen Vergleich hinsichtlich des Gevierts bei Klee und Heidegger ausgeführt. 131 Heidegger hat das »Geviert« von »Erde« und »Himmel«, »Göttlichen« und »Sterblichen« in seinen Vorträgen Bauen Wohnen Denken und Das Ding verwandt. Im Ding-Aufsatz hat Heidegger das Geviert im Blick auf den »Krug« erläutert: »Erde« »ist die bauend Tragende, nährend Fruchtende, hegend Gewässer und Gestein, Gewächs und Getier«. Der »Himmel« »ist der Sonnenaufgang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers«. Die »Göttlichen« »sind die winkenden Boten der Gottheit. Aus dem verborgenen Walten dieser erscheint Gott in sein Wesen, das ihn jedem Vergleich mit dem Anwesenden entzieht«. Die »Sterblichen« »sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben kön130 131

S. (Schöpfung 8) (Boulez 127). Peetz, Welt, a. a. O., 167–187; (Schmidt 5).

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Paul Klee

nen. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen«. Erde wie Himmel, die Göttlichen wie die Sterblichen sind niemals allein für sich, sondern nur zusammen mit anderen, sie sind nur in der Einfalt, dem Tanz und Reigen der Vier, im Weltspiel. 132 In dem Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes bespricht Heidegger im Blick auf den »griechischen Tempel« (Tempel des Apollo von Bassae) die wichtigen Begriffe von »Erde« und »Welt«, die an Klees Schema erinnern. Zur »Welt« führt Heidegger aus: »Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab. Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales. Das Bauwerk umschließt die Gestalt des Gottes […]. Durch den Tempel west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes […] grenzt einen Bezirk als einen heiligen aus […]. Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall die Gestalt und den Lauf des Menschenwesens in seinem Geschick gewinnen […]«.

Zur »Erde« sagt Heidegger zusammenfassend: »Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Felsen das Dunkle […] heraus. Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt den Sturm selbst in seiner Gewalt […]. Dieses Herauskommen und Aufgehen selbst und im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die φύσις. Sie lichtet zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es die Erde […]. Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende […]. Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die dergestalt selbst erst als der heimatliche Grund hervorkommt«. 133

Die Bedeutung des Tempels besteht nicht in seinem bloßen Dastehen, seinem Vorhandensein allein. Der Tempel ist und bleibt ein Ereignis. Im Tempel ereignet sich das Geschehen des ›Sichtbarmachens‹ im Sinne Heideggers. »Im Dastehen des Tempels geschieht die Wahrheit. Das meint nicht, hier werde etwas richtig dargestellt und wiedergegeben, sondern das Seiende im Ganzen wird in die Unverborgenheit gebracht und in ihr gehalten. Halten heißt ursprünglich hüten. Im Gemälde van Goghs geschieht die Wahrheit. Das meint nicht, hier werde etwas Vorhandenes richtig abgemalt, sondern 132 Heidegger, Martin (1954), Vorträge und Aufsätze, Stuttgart, 143 f., 166, 170 f.; s. auch Pöggeler, Wegmarken, 247–267. 133 Heidegger, Martin (1972), Holzwege, Frankfurt, 30 f.

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Bildnerisches Denken – Bewegungslehre

im Offenbarwerden, des Zeugseins des Schuhzeugs gelangt das Seiende im Ganzen, Welt und Erde in ihrem Widerspiel, in die Unverborgenheit«. 134

Ein Rätsel bleibt bei diesem Vergleich des Gevierts von Heidegger und Klee. Ähnlichkeiten scheinen offensichtlich zu sein. Wer aber hat wen zu diesem Motiv angeregt. Wahrscheinlich Klee Heidegger, wenn man sich erinnert, dass Klee seinen Beitrag im Naturstudium 1923 veröffentlicht hat, dagegen Heideggers wesentlich später, in den Jahren 1950–1951, das Symbol des Gevierts in seine Beiträge zur Kunst eingebracht hat.

7.2 Bildnerisches Denken – Bewegungslehre Paul Klee hat ein umfangreiches Erbe nicht nur von Kunstwerken, sondern auch von Schriften, Vorlesungsaufzeichnungen, Vorträgen, Notizen u. a. hinterlassen. 135 Bei einer ersten Durchsicht wird deutlich, wie sehr ihn das Thema der »Bewegung« und damit der »Zeit« beschäftigte. Dabei war es keineswegs so, dass für ihn das Thema von Anfang an klar vor Augen stand, sondern er arbeitete sich, wenigstens soweit sich dies aus den Unterlagen sehen lässt, an dem Thema ab. Dies mag in der Durchsicht durch seine Aufzeichnungen verfolgt und dabei auf das Kunstschaffen Klees überhaupt hingewiesen werden. Dabei ist aber gleich festzustellen, dass die schriftlichen Aussagen nur ein Teil des Kunstschaffens Klees darstellen, sozusagen den theoretischen Teil, das Schaffen Klees als Künstler darüber hinaus aus seinen Werken im Einzelnen und im Ganzen zu erheben ist. Klee hat die Frage grundsätzlich gestellt: »Was heißt überhaupt im Werk Bewegung? Unsere Werke werden sich in der Regel doch nicht bewegen? Wir sind doch keine Automatenfabrik. Nein, unsere Werke werden von sich aus meist ruhig an ihrem Platz bleiben. Und trotzdem sind sie ganz Bewegung« (BF 94).

Die Antwort Klees fasst er zunächst in die Geschichte des kleinen Spaziergangs. Klee entwickelt zur Erörterung der Malerei als Bewegung zunächst keine Theorie des Malens, sondern er beschreibt den Ebd. 44 Der Ausdruck »Bildnerisches Denken« stammt nicht von Klee selbst, sondern wird gebraucht als Buchtitel von Spiller1, auch (Wege passim), (Schmidt 3, 12). 134 135

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Paul Klee

Malvorgang. Es ist ein Bewegungsvorgang. Klee erzählt den Spaziergang folgendermaßen. Er sei ein zweites Mal ganz erzählt: »Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen (Unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie.) Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien). Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie). Wir durchqueren einen ungepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes. Ganz kühl bin ich auch nicht mehr: über neuer Flußgegend liegt Nebel (räumliches Element). Bald wird es indessen wieder klarer. Korbflechter kehren heim mit ihren Wagen (das Rad). Bei ihnen ein Kind mit den lustigsten Locken (die Schraubenbewegung). Später wird es schwül und nächtlich (räumliches Element). Ein Blitz am Horizont (die Zickzacklinie). Über uns zwar noch Sterne (die Punktsaat). Bald ist unser erstes Quartier erreicht. Vor dem Einschlafen wird manches als Erinnerung wieder auftauchen, denn so eine kleine Reise ist sehr eindrucksvoll« (SK 76–77)

Klee will seine Malkunst offensichtlich in Form eines Spazierganges wiedergeben. Er beginnt nicht mit einer Theorie, sondern mit einer Tat, der ersten Tat des Punktes, die zur Linie führt. Mit Hilfe eines humorvollen Spazierganges will er eine topographische Karte erstellen, eine Landschaft des bildnerischen Schaffens. Er erzählt den Spaziergang mit Hilfe und dem Rückgriff auf die elementaren Formen der Malerei wie in Punkt, Linie, Fläche sowie den Raum (BF). Er führt in Klammern zunächst die verwendeten und später ausgeführten geometrischen Formen seiner Linientheorie an, sodann deren geometrische Entwicklung zu Flächen und schließlich zum Raum. Es zeigt sich aber, indem er zur Beschreibung des Vorganges elementare geometrische Elemente gebraucht, um einen Spaziergang zu erzählen, konstruiert er den Vorgang nicht allein aus geometrischen Elementen. In ihm findet Leben, Begegnung von 252 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bildnerisches Denken – Bewegungslehre

Menschen und Mensch und Tier statt. Er führt auch schon die bildnerischen Mittel wie Hell-Dunkel, Warm-Kalt u. a. ein, die er in seiner Lehre besonders behandeln wird und die die Qualität des Lebens bestimmen. Die formalen Elemente bilden die sichtbare Struktur des Vorganges, um damit die unsichtbare Lebendigkeit des Spazierganges erfahrbar bzw. sichtbar zu machen. Klee führt in Klammern die weitere Entwicklung seiner Lehre an: »Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie«. In der Linie stecken eine Fülle der Möglichkeiten des »Ausdrucks«. Neben dem analytischen Teil der formalen Mittel der Bewegung nennt Klee anschließend den großen Bereich der »Dynamik«. Und schließlich die Wirkung aller Elemente auf die »Psyche«. Die geometrischen Elemente ziehen sozusagen lebendige, physische und psychische, sogar menschliche Kleider an. Soweit die Erzählung vom Spaziergang. Der humorvollen Geschichte sei die Theorie der Kunst nach Klees angefügt. Die »ersten Leitsätze« der bildnerischen Kunst Klees lauten nämlich: »Beim Simpelsten war zu beginnen. Im Sinne des Entstehen-Lassens. – Beim Punkt fings an, dann wurde der Punkt in Bewegung gesetzt, und daraus entsteht die Linie, die sich frei ergeht, ein Spaziergang um seiner selbst willen. – Das Agens, ein Punkt, der sich verschiebt. – Bewegung liegt allem Werden zugrunde. – Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. – Das Bildwerk wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus. – Spielraum: Zeit. Charakter: Bewegung. – Auch im Weltall ist Bewegung das Gegebene. Ruhe auf Erden ist zufällige Hemmung der Materie. Dies Haften für primär zu nehmen, ist eine Täuschung. – Die Genesis der ›Schrift‹ ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es als Produkt erlebt. – Dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Beschauers sind im Kunstwerk Wege eingerichtet. – Das Auge begeht die ihm im Werk eingerichteten Wege. – Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung«. 136

Beim Simpelsten fings an, so Klee. Aber das Simpelste ist nicht auch das Selbstverständliche. Denn vom Punkt am Anfang wird nichts weiter gesagt, als dass er in Bewegung gesetzt wird und dadurch die Linie entsteht. Mit dem Punkt beginnt das Entscheidende: »Bewegung«. Sie liegt allem Werden zugrunde. Es entsteht die »Linie«. 136 »Lehrsätze« Klees zusammengestellt nach Kernsätzen aus BF 6, PS 1 sowie aus der weiteren Bildnerischen Formlehre von Werner Haftmann (Wege 55).

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Paul Klee

Von der Linie wird weiter gesagt: ihr »Agens« ist der Punkt, der sich in ihr frei ergeht. Bätschmann fügt dem hinzu: »Der ersten aktiven Linie können eine zweite und andere Linie beigeordnet werden. Klee setzte in der Bauhausvorlesung und in seinem Bauhausbuch mit der zweifach gebogenen Linie und ihren Umschreibungen ein, bestimmte damit die Bewegung zum Prinzip der Form und der Gestaltungsprobleme, womit er auch eine andere Genealogie implizierte als die Erforscher der geometrischen Elemente« (Geo 121). (Linie 126) Mit anderen Worten weicht Klee aus der Reihe Euklids und seiner Nachfolger ab und wählt eine andere Genealogie, d. h. ein anderes Prinzip als die geometrischen Elemente. 137 Bewegung ist so das Prinzip der Kunsttheorie, Prinzip der Form und Gestaltung der Kunst Klees. Für Klee bedeutet Leben Bewegung. Dies geht hervor aus seinem Werk, aus seinen Tagebüchern, aus seinen Theorien. Wie in der Philosophie Henry Bergsons liegt für Klee das Wesen und Wunder der Existenz in der Lebendigkeit bzw. Bewegung. Klee hat Bergsons Feststellung, dass die »Analyse« mit Starrem, Unbeweglichem operiere, während die »Intuition« in Bewegung, in die ›durée‹, versetze, in Wege des Naturstudiums verarbeitet. Für Bergson gilt: »Die Wirklichkeit ist reine Bewegung. Es existieren keine starren Dinge, sondern allein werdende Dinge, keine Zustände, die bleiben, sondern nur Zustände, die sich verändern. Die Ruhe ist nur scheinbar, oder vielmehr relativ.« Solche Aussagen Bergsons hatte Klee in seine Schöpferische Konfession aufgenommen (Schöpfung 172). Noch expliziter bezog sich Klee in seinem Unterricht auf Bergson, wenn er festhielt, dass Ruhe trügerisch sei und in Wirklichkeit Bewegung herrsche (BG II.21/6). Mit dem Begriff der »Bewegung« wird zugleich die »Zeit« genannt. Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert es Zeit. »Bewegung« und »Zeit« sind ein Paarbegriff, wobei einer den anderen braucht. »Charakter: Bewegung; Spielraum: Zeit«. Zeit ermöglicht so etwas wie das Spiel, den Spielraum der Bewegung, von Werden und Vergehen. Alles ist in Bewegung, alles erfordert Zeit. Schließlich sagen die Lehrsätze schon klar aus, wie Bilder aus der Bewegung entstehen und aus Bewegung bestehen. »Das bildnerische 137 Zur Geschichtlich und dem künstlerischen Anlass des Begriffs der »Bewegung« s. (Geo 85 f.).

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Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung«. Das bildnerische Werk wird durch drei Stationen der Bewegung charakterisiert: Es ist entstanden aus der Bewegung (des Künstlers), ist selbst als Werk gestaltete Bewegung und wird durch die Bewegung des Betrachtens beim Seher aufgenommen. In einer kurzen Aufzeichnung an anderer Stelle gibt Klee eine ähnlich zentrale Auskunft über das gesamte Programm seiner Kunsttheorie: »Der Mechanik untergeordnet: Statik: Lehre vom Gleichgewicht. Dynamik: Lehre der Kräfte aus dem Bewegungszustand. Kinematik: Lehre der Bewegung« (Spiller1 393). (KL 370). Vor diesem Hintergrund soll auf die Kunsttheorie Klees geachtet werden, soweit sie uns schriftlich vorliegt. Es soll gezeigt werden, wie »Bewegung« nicht nur am Anfang des Kunstverständnisses Klees steht, sondern sein Verständnis geradezu befördert, sie es in allen Schritten prägt und bestimmt. Dazu ist die schriftliche Hinterlassenschaft Klees durchzusehen. Wenn wir die beiden großen Konvolute des Nachlasses der Bildnerischen Formlehre (BF) und der Bildnerischen Gestaltlehre (BG) betrachten, so fällt auf, dass es sich beide Male um Vorlesungsnotizen zu den Kursen Klees am Bauhaus handelt; die ersten waren systematisierte Notizen der Kurse 1920/21, die zweiten sind ein sehr umfangreiches, kaum geordnetes Konvolut ab den Jahren 1923. Beide Male haben sie zur Grundlage und zum Anlass die Vorlesungen Klees, beide Male zu den mehr oder weniger gleichen Themen, allerdings nach und nach immer wieder erweitert. Doch ab 1923 nennte Klee die Aufzeichnungen nicht mehr Bildnerische Formlehre, sondern er führte dafür den Begriff der Bildnerischen Gestaltlehre ein. Dieser Titelwechsel hat große Bedeutung. Klee macht selbst darauf aufmerksam. Zur Einführung in eine Klasse hielt Klee in einem Schulheft fest, was er unter »Gestaltung« verstand: »Die Lehre von der Gestaltung befasst sich mit den Wegen, die zur Gestalt (zur Form) führen. Es ist wohl die Lehre von der Form, jedoch mit Betonung der dahin führenden Wege.« Anschließend präzisierte er sein Verständnis: »Das Wort Gestaltung charakterisiert das eben gesagte durch seine Endung. ›Formlehre‹, wie es meist heißt, berücksichtigt nicht die Betonung der Voraussetzungen und der Wege dahin. Formungslehre ist zu ungewohnt. Gestaltung knüpft in seinem Sinne außerdem deutlich an den Begriff der zu

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Grunde liegenden Voraussetzungen an. Und ist darum desto mehr vorzuziehen« (BG I.1/2).

Mit anderen Worten meint Form eine feste Gestalt. Gestaltung dagegen spricht den Weg an, der zur Form bzw. festen Gestalt führt. Gestaltung verfolgt also den Weg zur festen Gestalt, zur Form. Die Bildnerische Gestaltlehre kann somit insgesamt als Klees Bewegungslehre gelten. Was bei Klee die Begriffe »Form« und »Formung«, »Gestalt« und »Gestaltung« beinhalten, kann mit Goethes Einleitung zur Morphologie verdeutlicht werden. Goethe versteht den Begriff »Gestaltung« als »Bildung«. »Der Deutsche hat für den Complex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, dass ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei. Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, dass nirgends ein Bestehendes, nirgends ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern dass vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. […] Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem hervorgebrachten, als von dem hervorgebracht werdenden gehörig genug zu brauchen pflegt. Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes bedeuten«. 138

Mit dieser Analogie wird klar, wie stark Klees Lehre von Goethes genetischer und physiologischer Denkart geprägt war. Deutlich ist dabei Goethes Schwerpunkt auf dem Organischen und lebendigen. In der »anthropologischen« oder »biologischen« Analyse der Bildmittel lässt sich eine Erklärung dafür finden, warum Klee im Gegensatz zu Kandinsky etwa oder zu anderen »geometrischen« Elementarisierungen die vielfältigen Verbindungen mit dem Naturstudium, der Darstellung von Vorgängen in der Natur, der Darstellung der physischen und psychischen Bewegungen, mit musikalischen Darstellungen eingehen konnte (Geo 87, 84). Klee verweist immer wieder auf seine Begrifflichkeit: (BG I.1/4) »Die Lehre der Gestaltung befasst sich mit den Wegen, die zur Gestalt (zur Form) führen.« Er urteilt deutlich über den Sinn seiner Unter-

138

Goethe (HA 13, 55) (Schöpfung 108–109).

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scheidung: »Gut ist Formung. Schlecht ist Form; Form ist Ende ist Tod. Formung ist Bewegung ist Tat. Formung ist Leben« (BG I.2/78). Diese Überzeugung steht insgesamt hinter der Anlage des Konvolutes der Bildnerischen Gestaltungslehre. Diese ist eingeteilt in drei Teile: I. Allgemeine II. Principielle Ordnung III. Specielle Ordnung: Planimetrische Stereometrische Gestaltung. Außer dem I. Allgemeinen Teil enthält sie im II. Principiellen Teil im Wesentlichen die frühere Formlehre, und nun im III. Teil der Speciellen Ordnung die spezielle Gestaltungslehre. Klee erläutert diese Ordnung selbst folgendermaßen: »Der ganze ›Bau‹ der Gestaltungsmittel ist, einmal errichtet unverrückbar, unveränderlich, einmalig. Daher der Terminus principiell. […] Ein Princip ist grundsätzliche Voraussetzung zu allem Weitern; […] Der Bau der principiellen Ordnung der Mittel ist wohl ein sehr strenger und exacter Organismus. […] Aber dieser Organismus ist von einer unverrückbaren Starrheit, von einer einmaligen Vollkommenheit (= Formlehre – KK). Die eigentlich lebendig bewegte Gestaltung hat sich daher von der principiellen Ordnung loszulösen, und jeweils ein oder mehrere Organe jenes Organismus herauszugreifen und für sich zu einer organischen Vollendung neuzuordnen. Die Möglichkeiten gehen zur Vielmaligkeit über zur unendlichen Variabilität (= Gestaltunglehre – KK)« (BG I.3/5). (Schöpfung 112– 113)

Während es Klee im Kapitel zur Principiellen Ordnung um die Analyse der bildnerischen Elemente und Mittel ging [er nennt sie »ideelle Mittel«- KK], zeigte er in der Speciellen Ordnung die Möglichkeiten lebendiger Gestaltung auf (Schöpfung 111–113). »Klees Hauptintention bestand darin, den Studenten im Unterricht das Prozesshafte der bildnerischen Gestaltung zu vermitteln. Die Gestaltung muss ›lebendig‹ sein. Seine Lehre gründet daher nicht auf starren Regeln, sondern auf der Annahme, dass alles in Bewegung ist. Um die Lebendigkeit der bildnerischen Mittel und Elemente zu veranschaulichen, griff Klee vorwiegend in den ersten Jahren seiner Vorlesungstätigkeit immer wieder auf konkrete Beispiele aus der Natur zurück. Er nahm diese, wie er in einer Vorlesung erklärte, ›betrachtend zu Hilfe‹« (Schöpfung 7).

Für Klee drückt Gestalt etwas Lebendigeres aus als Form, denn »Gestalt ist mehr eine Form mit zugrundeliegenden lebendigen Funktionen. Sozusagen Funktion aus Funktionen.« Daraus zog er den Schluss: »Die Funktionen sind geistiger Natur. Bedarf nach Ausdruck liegt zu Grunde.« Die Mittel dazu müssten nach Klees Verständnis 257 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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rein ideeller Natur sein, die Verwendung von materiellen Mitteln wie Holz, Metall oder Glas schloss er dabei aus. Diese ideellen Mittel sind die Linie, das Hell-Dunkel und die Farbe. Und als Letztes gelte es zur Gestaltung noch den »Schauplatz« zu berücksichtigen: »Schauplatz ist die Fläche, genauer die begrenzte Ebene. Zwei Fragen sind: was tritt auf und wo tritt es auf.« Zu den Grundvoraussetzungen der Gestaltung gehört zudem, die Fähigkeit, die Dimensionen im Bild zu kennen und sich auf der Fläche und im Raum zu orientieren« (BG 1.1/4–5).

Im Folgenden beziehen wir uns vor allem auf die zwei umfangreichen Vorlesungsnotizen der Bildnerischen Formlehre (BF) und der Bildnerischen Gestaltunglehre (BG), sowie die dazugehörenden Vorträge und Artikel. Der Fokus dabei geht darauf zu sehen, wie Klee in seinen Vorlesungen von der Bewegung ausgeht und von dem Anfang der Bewegung an alle Schritte bzw. Themen die Bewegung weiter verfolgt und auszieht.

7.3 Bildnerische Formlehre (BF) In dem Vortrag von Jena im Jahr 1924 Über die moderne Kunst hat Paul Klee eine Systematik seiner Vorlesungsnotizen vorgetragen (Jena 81–95). Er hat zur Veranschaulichung der Bildnerischen Formlehre zuerst ein Gleichnis vom Baum gebraucht: »Lassen Sie mich ein Gleichnis gebrauchen, das Gleichnis vom Baum […]. Die Orientierung in den Dingen der Natur und des Lebens, diese verästelte und verzweigte Ordnung, möchte ich dem Wurzelwerk des Baumes vergleichen. Von daher strömen dem Künstler die Säfte zu, um durch ihn und durch sein Auge hindurchzugehn. So steht er an der Stelle des Stammes. Bedrängt und bewegt von der Macht jenes Strömens, leitet er Erschautes weiter ins Werk. Wie die Baumkrone sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin sichtbar entfaltet, so geht es auch mit dem Werk. Es wird niemand einfallen, vom Baum zu verlangen, daß er die Krone genau so bilde wie die Wurzel. Jeder wird verstehen, daß kein exaktes Spiegelverhältnis zwischen Unten und Oben sein kann. Es ist klar, daß die verschiedenen Funktionen in verschiedenen Elementarbereichen lebhafte Abweichungen zeitigen müssen. Aber gerade dem Künstler will man zuweilen diese schon bildnerisch notwendigen Abweichungen von den Vorbildern verwehren. Man ging so-

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Bildnerische Formlehre (BF)

gar im Eifer so weit, ihn der Ohnmacht und der absichtlichen Fälschung zu zeihn. Und er tut an der ihm zugewiesenen Stelle beim Stamme doch gar nichts anderes, als aus der Tiefe Kommendes zu sammeln und weiterzuleiten. Weder dienen noch herrschen, nur vermitteln. Er nimmt also eine wahrhaft bescheidene Position ein. Und die Schönheit der Krone ist nicht er selber, sie ist nur durch ihn gegangen« (Jena 82). 139

Bemerkenswert ist, dass Klee sein Kunstschaffen mit der »zeitlich und räumlichen« Entfaltung des Baumes vergleicht. Die folgende Übersicht über die Bildnerische Formlehre (BF) folgt dieser Darstellung. Es sind die Kapitel mit den Unterabschnitten: »elementare-formale Dimension« – »ideelle Mittel« (BF 1–41): Punkt-Linie-Fläche – Maß (BF 6–26) Tonalität – Gewicht (BF 27–41) Farbe – Qualität (BF 153–190) »gegenständliche inhaltliche Dimension« – »Konstruktion« (BF 42–80) (Jena 88–91) Gliederung Gestalt (BF 42–80) Namen »stilistische Dimension« – »Komposition« (Jena 91–95) Organismus (BF 80–104) Ausdruck Stil

Klee wird über große Teile spröde Ausführungen vortragen; es sind keine ausgeführten Texte, sondern Notizen. Aber Klee versteht es auch immer wieder, spröde theoretische Lehren sinnträchtig und leicht zu vermitteln. In Fall der Bildnerische Formlehre wird Klees Lehre anschaulich durch die Lithographie »Erhabene Seite« (→ Abb. 9, S. 469). Im Jahre 1923 hat Paul Klee zu der Serie von zwanzig lithographierten Postkarten, die anlässlich der Bauhaus-Ausstellung in Weimar herausgegeben wurden, zwei Karten beigesteuert. Die beiden Karten sind, wie es die Titelgebung im Werkverzeichnis verrät, auch inhaltlich als ein komplementäres Paar konzipiert. Klee nennt sie dort Die erhabene Seite und Die heitere Seite, Die erhabene Seite zeigt ein Gebilde aus Quadraten, Dreiecken und Kreisen in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau, über dem sich eine Architektur erhebt. Die 139

S. (Schmidt 8 ff.).

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zweite Postkarte Die heitere Seite zeigt dagegen die spielerisch künstlerische Welt am Bauhaus, die Klee in auffallend nur scheinbar naiven Formen gestaltete. Die beiden Seiten bringen den Künstler Klee gut zum Ausdruck: auf der einen Seite den formbewussten Künstler und auf der anderen Seite die heitere Persönlichkeit. 140 Die Postkarte Die heitere Seite stellt ein nächtliches Maskentreiben dar und verweist auf die berühmten Kostüm- und Laternenfeste der Bauhäusler, bei denen nach Gropius’ Programm von 1919 ein »heiteres Zeremoniell« abgespielt werden sollte. Die erhabene Seite dagegen zeigt ein auf einem Fundament vielgestaltiger Quader sich erhebendes tempelartiges Gebäude. Sie sollte die Maxime »Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau« aus dem Bauhaus-Manifest von 1919 veranschaulichen. Dazu kommt aber, dass Klee das graphische Gerüst, das der Karte Die erhabene Seite zugrunde liegt, aus einer eigenen früheren Zeichnung Inschrift übernommen hat, die schon zwischen 1917 und 1918 während seinem Kriegsdienst in Gersthofen, also noch vor der Gründung des Bauhauses, entstanden ist. Schließlich haben wir zwei weitere ähnliche Darstellungen, ein Aquarell von 1918 mit dem Titel Schrift-Architektonisch und zuletzt eine Ölfarbezeichnung mit dem Titel Gedenktafel, die Klee Walter Gropius am 16. Oktober 1923 zum Geburtstag widmete. Das graphische Schema der Karte kann so wiedergegeben werden: Die Darstellung gliedert sich in drei Teile: der untere (bzw. Körper), mittlere (bzw. Hals) und obere (bzw. Kopf) zeigen eine schematisch menschliche Gestalt. Der symmetrische obere Teil kann als Abbild einer Gebäudefront gelesen werden, deren Tor von einem Bogen in Form eines Auges überspannt ist. Das Augenmotiv mit Strahlen entspricht dem der Inschrift. Klees krönendes Auge erinnert so möglicherweise an die strahlenden Sterne, die bei Feiningers Titelblatt des Bauhaus-Programms von 1917 die gotischen Turmfassaden krönen. Die Elemente des oberen Teils Kreis, Dreiecke, Flächen sind symmetrisch geordnet um eine Mittelachse und dabei leicht nach rechts geneigt. In der mittleren Hälfte bildet ein kreisförmiges Element die 140 Thürmann, Felix (1981), Überlegungen zur Bedeutungskonstitution in der Malerei. Am Beispiel von Paul Klees Bauhauskarte ›Die erhabene Seite‹, in: H. Sturm, A. Eschbach (Hrsg.), Ästhetik und Semiotik, Tübingen, 59–70; (Spiller1 210); (Bauhaus 358–359).

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geometrische Mitte des symmetrisch geordneten Teils. Das ist zugleich der Ort des Übergangs zwischen oben und unten. Unten fallen die asymmetrische Anordnung (zur Mittelachse) und die ungleichförmigen Elemente auf. Nach Thürmann sagt das graphische Schema insgesamt aus: Es geht um die »Bildung einer Einheit höherer Ordnung«. 141 Das scheint Klees erster Antrieb zu sein: die »Bildung einer Einheit höherer Ordnung« sichtbar zu machen. Damit ist aber nicht weniger gemeint, als Klees Kunsttheorie bildnerisch darzustellen. Klee wollte den Schöpfungsprozess seines Werkes sichtbar werden lassen. In der Schöpferischen Konfession hatte er formuliert: »Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein; es wird Stück auf Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus« (SK 62–63). Gropius hatte die Metapher Häuserbau zur Ausstellung 1923 im Aufsatz Idee und Aufbau des staatlichen Bauhauses gebraucht. Andererseits ist bekannt, dass die Stellung der Maler am Bauhaus seit der Gründung umstritten war. Der Konflikt ist schon im Gründungsmanifest von 1919 angelegt, dessen erster Satz wie folgt lautet: »Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der grossen Baukunst«. Damit wird der Malerei eindeutig eine dienende Rolle gegenüber der Architektur zugedacht. Gerade einer solchen Unterordnung jedoch verweigert sich nach Klee mit seiner Karte Die erhabene Seite. Oder die Karte mag eine noch deutlichere Anspielung sein auf das Leitbild des Bauhauses von Gropius: »Das Bild der Kristallisation ist naturphilosophisches Leitbild der Genesis des Werks wie der geistigen Wirklichkeit des Baus: Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens« 142

In der Tat lässt sich in der Postkarte die formale Kunstlehre Klees bildnerisch wiederfinden. Versuchen wir dem Bau des Gebäudes bildnerisch zu folgen: Der untere Teil (Körper): Zwischen parallelen Grundlinien stehen quadratische Elemente mit unterschiedlichen Kennzeichen wie senkrecht und waagrecht geteilt, gekreuzt, dreieckig Thürmann, Klee, a. a. O., 66. Gropius, Walter (1919), Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar Staatliches Bauhaus Weimar, 39. 141 142

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usw. je nach dem Charakter der jeweiligen Fläche. Dies entspricht dem Anfang der bildnerischen Formlehre, die ›vom Punkt über die Linie zur Fläche‹ führt (BF 6–26). Es sind die ersten Bausteine oder Quader des Gebäudes. Auf ihnen sind Schriftzeichen zu sehen. 143 Diesem formalen Teil fügt Klee aber einen weiteren Teil der »bildnerischen Mittel« hinzu, in dem es um Gewichte und Gleichgewichte geht. Es geht um das Thema der »Statik«, wie oben schon verschieden angedeutet. Wie wichtig diese Betrachtung für das Bauen ist, wird deutlich sichtbar: die Bausteine sind verschieden und ungeordnet; es besteht von Schicht zu Schicht ein Ungleichgewicht, das ausgeglichen werden muss. Klee hat dies vor allem am Turmbau vorgeführt. Und die Darstellung der erhabenen Seite entspricht einem solchen Turmbau. BF 32–42 verweist auf das Bauen eines Turmes; und Klee berechnet mathematisch und graphisch die Mittel und Weg des Ausgleichens, damit der Turm um eine Mittelachse aufgerichtet werden kann. Klee zählt in seiner Formlehre die Farben unter die bildnerischen Mittel (BF 153–190). Und auch dies ist auf der Postkarte Die erhabene Seite zu beachten. Eine kritische Funktion der Karte kann auch in dieser Hinsicht festgestellt werden. Bei der Wiederverwendung der früheren Zeichnung der Bauhauskarte Die erhabene Seite hat Klee das graphische Muster flächig koloriert. Dabei gebrauchte er ausschließlich die Primärfarbentrias Gelb-Blau-Rot in ihrer reinen Form. Dieser Farbgebrauch ist in Klees Werk einmalig. Er erscheint auf den ersten Blick wie eine Huldigung an die holländische De Stijl-Gruppe, welche in ihrer Zeitschrift den ausschließlichen Gebrauch der Primärfarben propagierte. Es ist bekannt, dass van Doesburg 1921/22 längere Zeit in Weimar weilte und auch auf die Bauhäusler einen großen Einfluss auszuüben begann. »Nun wird Klees Reverenz jedoch dadurch fragwürdig, dass Die erhabene Seite von einer komplementären Karte mit dem Titel Die heitere Seite begleitet ist, und diese weist eine unterschiedliche Färbung auf. Deren Grundfläche ist, anders als bei der erhabenen Seite, nicht nur in schwarzer, sondern auch in gelber und roter Farbe gespritzt und zeigt alle möglichen Schattierungen von Mischungen in feinen Übergängen. Die Anwendung der Farbprinzipien der De Stijl-Gruppe durch Klee in nur einer der beiden sich ergänzenden Karten bekommt somit einen ironischen Charakter. Die Reduktion auf die drei reinen Primärfarben wird dadurch, dass ihr Klee 143

Vgl. Einst dem Grau der Nacht enttaucht, 1918; Dogmatische Komposition, 1918

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einen freieren, ›heiteren‹ Farbgebrauch gegenüberstellt, als Einseitigkeit denunziert«. 144

Im mittleren Teil (Hals) wird zum ersten Mal die »Bildung einer Einheit höherer Ordnung« sichtbar. Der rote Kreis in der Mitte ist der Mittelpunkt der gesamten Darstellung. Nun sind die Elemente in Ordnung gebracht und symmetrisch um die Achse versammelt. Eine klare Gliederung ist erkennbar. Das Ganze nimmt Gestalt an (BF 69 ff.). Schließlich der obere Teil (Kopf): Er unterscheidet sich von den anderen Parallelen. Es ist deutlich kein Turm, sondern ein Haus, mit großer Tür (Mund) und Bogen darüber (Auge). Dazu der Name »Bauhaus« und der Anlass »Ausstellung 1923«. Darüber im Strahlenkranz der »Sonne« der Name »Weimar«. Doch der Bau hat eine eigenartige Form. Es ist die Form eines Pentagramms. Dafür sprechen auch die zwei großen ineinander geschobenen Dreiecke. Und dann ließe sich der Kopf noch einmal anders lesen. Das Pentagramm hat die Form der jüdischen Kabbala und ist auch die Form der »Totalität« von Farben und Formen (BG A 37). 145 Dann bedeutete die Tür den Zugang zur Erkenntnis und Weisheit der jüdischen Kabbala. Und die Sonne mit ihren Strahlen über allem entspräche der Sonne Platos und dem Sitz von Erkenntnis und Weisheit in der jüdischen Tradition. Die Symbolik lässt auch An die Grenzen des Verstandes, 1927, u. ä. denken.

7.3.1 Bildnerische Mittel – Elementare Formen Verfolgen wir Klees Kunsttheorie der Bildnerische Formlehre vor dem Hintergrund der beiden Hinführungen des Kleinen Spazierganges und der Erhabenen Seite. Zuerst aber eine historische kunstgeschichtliche Erinnerung. Klee beginnt seine Vorlesungen über das bildnerische Schaffen klassisch wie etwa Leonardo da Vinci u. a. mit der Herleitung der »bildnerischen Mittel«, um von dort zu den Farben zu gelangen:

Thürmann, Klee, a. a. O., 67. Zu den unterschiedlichen Auslegungen s. »Kanon der Totalität« (Spiller1 488); auch »Pentagramm«, »Fünfeck« (Spiller1 507); »Kristall« s. oben Gropius, Programm, a. a. O., 39. 144 145

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»Wie da Vinci definiert auch Klee die Linie als Resultat der Punktbewegung. Beide Künstler bestimmen die Rangordnung der bildnerischen Mittel von der Linie über die Hell-Dunkeltöne zu den Farben« (Schöpfung 111 Anm. 531).

Der Punkt als Beginn der Geometrie geht auf Euklid zurück. Aus dem Punkt entwickelt sich die Linie. Allerdings wird die Entwicklung vom Punkt zur Linie wissenschaftlich und künstlerisch sehr unterschiedlich gesehen. Letztlich spiegelt dieser Dissens die große Diskussion um die »Zeit« wider um das Verständnis von Bewegung und Zeit im Sinne des Aristoteles oder eines anderen Verständnisses, für das Klee offensichtlich steht. Regine Bonnefoit hat diese Diskussion verfolgt und dargestellt. 146 Auch Dürer beginnt seine Underweysung der Messung von 1525 mit dem Punkt. An den Anfang stellt er die Messung »mit dem Zirckel und Richtscheyt in Linien, Ebnen und gantzen Corporen« (1525). Er fügt eine Hommage an den »aller scharffsinnigst Euclides« an. Mit dem Wort Messung schlägt er das deutsche Äquivalent für den Begriff Geometrie vor. Wie der antike Mathematiker entwickelt Dürer sein Lehrbuch aus den euklidischen Elementen. Der Punkt ist für ihn dabei »Anfang und Ende aller leiblichen Ding […]. Wenn nun diser Punckt von seynem ersten Anfang an eyn ander Ende gezogen wirdet, so heyst es eyn Lini« (Linie 23). Im Gegensatz zu Leon Battista Alberti bringt Dürer aber den Faktor Bewegung mit ins Spiel: der Punkt wird von der Hand des Zeichners zu einer Linie »gezogen«. Die entscheidende Differenz zu Klee besteht darin, dass Alberti dieses auseinander Hervorgehen nicht dynamisch durch die Bewegung, sondern statisch durch das Prinzip der Addition erklärt: »Wenn die Punkte sich in einer Reihe ununterbrochen aneinanderfügen, bringen sie eine Linie hervor«, liest man im ersten Buch von Albertis Traktats De Pictura von 1435. Das ist der Aristotelische Zeitbegriff. Für Klee hingegen ist die Ursache für die Entstehung einer Linie »ein Punkt, der sich verschiebt«. Klee beginnt mit der Bewegung, aber nicht mit einer mechanischen Bewegung, sondern genauer mit der Selbstbestbewegung. Der Spaziergang beschreibt nicht physikalisch eine mechanische Bewegung, sondern die Bewegung eines Spaziergängers bzw. das Schaffen des Malers zu einem Bild. Die Frage ist

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S. (Linie 23 ff.); (Geo 69–73).

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aber, wie kann man eine leibliche Selbstbewegung denken, die sich einen Raum schafft? Klee will den Vorgang zu einer Topographie des Künstlers beschreiben, die nicht der Bewegung des Fingers auf einer Karte vor ihm entspricht, sondern ein persönlicher Spaziergang werden soll. Die leibliche Selbstbewegung hat einen bestimmten Bezug zum Raum, der von der leiblichen Selbstbewegung her zu denken und nicht vorauszusetzen ist als ein leeres Schema, in das Bewegungen eingetragen werden wie in ein Formular. Wie ist eine leibliche Selbstbewegung denkbar, die sich einen Raum schafft, ohne dass dieser eigens vorgestellt wird? Als Demonstration für diese Unmöglichkeit fragt sich Valéry, wie es wäre, wenn wir versuchten, uns das Gehen idealiter beizubringen. 7.3.1.1 Punkt der spazieren geht Punkt-Linie-Fläche-Raum sind die grundlegenden bildnerischen Elemente. Klee nennt das »Maß« ihre charakteristische Wesenseigenschaft, denn es ist ihre Charakteristik, dass sie geometrisch ausgemessen werden können. Allerdings liegt bei Klee hier eine deutliche Forschungslücke vor. Klee selbst erwähnt in seinen Linientheorien nicht eine einzige Referenz, während er sich in seiner Farbenlehre explizit auf seine großen Vorgänger bezieht, wenn er zu Beginn der Vorlesungen zu den Farben einführt: »Ich will versuchen, Ihnen einiges Nützliche über die Farben zu sagen. Ich stütze mich dabei nicht allein auf mich selber, sondern übernehme, um Ihnen diese nützlichen Dinge zu übermitteln ohne Bedenken Gedanken von Leuten vom Fach und von anderen. Um einige wenige Namen herauszugreifen nenne ich Göthe, Philipp Otto Runge, dessen Farbkugel 1810 publiziert wurde, Delacroix und Kandinsky (Das Geistige in der Kunst)« (BF 153). Das wird wohl heißen, dass Klee sich in der Farbenlehre bewusst mit vorliegenden Farbkonzepten befasst, während er in der Linientheorie zwar der Tradition folgt, darin aber eigene Wege geht. Folgen wir den Ausführungen Klees. (Linie 10) Punkt – der spazieren geht »Ich beginne da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt, beim Punkt, der sich in Bewegung setzt […]. Kurz nach dem Ansatz des Stiftes […] entsteht eine Linie« (BF 5). Radikaler und ausführlicher beginnt Klee das Pädagogische Skizzenbuch: »Eine aktive Linie, die 265 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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sich frei ergeht, sein Spaziergang um seiner selbst willen, ohne Ziel. Das agens ist ein Punkt, der sich verschiebt […]. Dieselbe Linie mit Begleitungsformen. Dieselbe Linie, sich umschreibend« (PS 1 fig.1). Das Agens ist ein Punkt, der sich verschiebt. Daraus folgt die Linie. »Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie)«. Schon in der ersten winzigen bildnerischen Operation wird der dynamische Charakter des Punktes als Bewegungselement erkannt und rückt das Zeitmoment in das Blickfeld. Die Linie ist ein Punkt, der sich verschiebt. Eine Linie ist ein bewegliches Wesen. Es geht spazieren, um seiner selbst willen. »Ohne Ziel« oder »unendlich« ergänzt Klee. D. h. der Punkt ist und bleibt agens, er wird Linie, ohne Ende. Klees Bilder sind Bewegungsbilder. Sie haben keine Umgrenzung, keine festen Rahmen, die Bewegung geht über jede Grenze hinaus, »unendlich«, es sei denn, sie wird von einem anderen Element begrenzt. Für Klee ist die Ursache für die Entstehung einer Linie »ein Punkt, der sich verschiebt«. Dabei hält er sich andererseits an Dürer, der den Punkt passiv aus der Kraft des Zeichners hervorgehen lässt, während der Punkt in Klees Vorstellung das schöpferische Potenzial bereits in sich trägt. Auf der ersten Seite des Pädagogischen Skizzenbuchs wird der Punkt als »Agens« und somit als handelnde Kraft und tätiges Prinzip definiert (PS fig.1). (Linie 24) Der erste Künstler, der die Linie als Resultat der Bewegung eines aktiven Punktes beschreibt, ist Leonardo da Vinci. Zwischen 1505 und 1508 notiert er folgende Worte in den Codex Arundel (Fol. 159 recto): »[…] la linia esser creata dal moto del punto […]«. Leonardo löst das Problem der unsichtbar-sichtbaren Doppelnatur des Punktes nicht logisch wie Euklid und auch nicht wie Kandinsky, sondern visuell. Er nimmt ein »geistvolles Auge« an, in dem sich sozusagen das mathematisch-logische Denken und das anschauliche Denken in Bildern verbinden. Für Leonardo ist es die Bewegung, die den »Dimensionssprung zwischen Punkt, Linie und Fläche« ermöglicht. Damit werde »der Punkt zu einem Bewegungsnukleus, der im Bild selbst nicht sichtbar ist, aber unsichtbar als Dynamik zwischen den Bildelementen wirkt.« Jedenfalls ist für Leonardo das Werk nicht eine Summe von Punkten bzw. Teilen, wie bei Euklid und Aristoteles, sondern ein dynamisches, d. h. zeitliches Kontinuum. (Linie 25) Der schwedische Naturforscher und Theosoph Emanuel Swedenborg (1688–1772) beschreibt in seiner Hauptschrift Principia rerum naturalium das Wesen des Punktes als Bewegung. Linie, Fläche 266 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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und Körper entstünden durch die Bewegung des Punktes. Nach Swedenborg ist das gesamte Universum aus einem Punkt entstanden, der sich von einem inneren Drang (conatus) angetrieben plötzlich in Bewegung setzte. (Linie 26) Die russische Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) erweiterte diese Sicht: »Das, was eine Grenze erzeugt, ist analog der Bewegung. Die erzeugte Grenze ist ein Punkt, dessen Wesen Bewegung ist; aber da sie ohne Teile ist, so ist diese Wesenheit nicht wirklich Bewegung, sondern nur ein conatus dazu. […] Aus diesem ersten entstehen Ausdehnung, Raum, Figur und Aufeinanderfolge oder Zeit. Wie in der Geometrie ein Punkt eine Linie, eine Linie eine Fläche, eine Fläche einen Körper erzeugt, so strebt hier der Drang des Punktes nach Linien, Fläche und Körper. Mit anderen Worten: Das Weltall ist in ovo im ersten natürlichen Punkt erhalten (Kosmosgenesis)« (Linie 26).

Folgen wir noch einmal dem Spaziergang des Punktes und achten dabei auf die Kennzeichnungen Klees in Klammern dazu. Es sind die Stufen und Schritte, die Klee in der Bildnerischen Formlehre vollführt und welche die großen Schritte seiner Lehre dort ausmachen: »Machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei diese erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen (unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). – Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien). Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie). – Wir durchqueren einen ungepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht […] über neuer Flußgegend liegt Nebel. Bald wird es indessen wieder klarer. – Korbflechter kehren heim mit ihren Wagen (das Rad). Bei einem ein Kind mit den lustigen Locken (die Schraubenbewegung). Später wird es schwül und nächtlich. Ein Blitz am Horizont (die Zickzacklinie). Über uns zwar noch Sterne (die Punktsaat]. Bald ist unser erstes Quartier erreicht. Vor dem Einschlafen wird manches als Erinnerung wieder auftauchen, denn so eine kleine Reise ist sehr eindrucksvoll« (Wege 75–76).

Alle in Klammern in den Spaziergang eingefügten Stichworte der Linien-Flächen-Räume werden in der Bildnerischen Formlehre ge267 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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nannt und dort als Lehrmaterial zu den bildnerischen Mitteln wiederkehren. Vom »Nullpunkt« zum »Bildraum« und zur »Bildzeit« – Wie entstehen aus dem Punkt »Raum« und »Zeit«? Merleau-Ponty antwortet mit dem sogenannten »Körperschema« (Selbst 118–119). Es geht dabei um die Frage, wie sich einerseits der Leib bewegt und wie diese Leibbewegung einen gelebten Raum, in dem man sich bewegt, mitentstehen lässt. Merleau-Pontys Grundgedanke lautet: beim Körperschema handelt es sich nicht um eine Wahrnehmung in dem Sinne, dass zu den Objekten meiner Wahrnehmung noch ein anderes hinzuträte, nämlich mein Körper. Die Einheit des eigenen Leibes stellt sich durch die eigene Tätigkeit her. Die Gestaltung der Leiblichkeit geht aus von einer Betätigung, in dem der Leib eine Rolle spielt und von dem her er sich als einer erfährt. Beim Körperschema geht es nicht um das Aufzählen der Teile des Körpers, sondern um das Raumschema des Körpers, das durch eine Aufgabe bestimmt wird. Die Einheit bestimmt sich von dem her, was jeweils zu tun ist. Damit wird sie nicht mehr als eine ursprünglich theoretische Einheit gedacht, sondern es handelt sich um eine praktische Einheit, die sich in Handlungen selbst herstellt. Dafür wird phänomenologisch der »Punkt« ganz entscheidend, den Husserl den »Nullpunkt« nennt. Es ist der Punkt »hier« und »jetzt«, der voraussetzungsloser Nullpunkt ist, von dem alles Sehen und Sprechen ausgeht. Von »hier« und »jetzt« aus ergibt sich die wichtige Unterscheidung zwischen einer »Situationsräumlichkeit« und einer »Positionsräumlichkeit«. Die Positionsräumlichkeit verweist auf Positionen, also auf Stellen im Raum, während die Situationsräumlichkeit mit einer Situation zusammenzudenken ist. »Positionsräumlichkeit«: Raumpositionen wie die Präpositionen ›auf‹, ›neben‹, ›unter‹, ›in‹ sehen harmlos aus, als wären es sprachliche Bestimmungen unter anderen, die unsere Wahrnehmung gliedern. Aber in solchen Präpositionen steckt schon eine bestimmte Räumlichkeit, denn zu sagen: »Etwas ist auf einem andren« setzt eine Dimension des Oben und Unten voraus und, dass es eine Unterscheidung von Drinnen und Draußen gibt. Diese Unterscheidungen lassen sich ausgehend von einem homogenen Raumfeld gar nicht entwickeln, denn darin wäre jede Raumstelle prinzipiell gegen eine andere austauschbar. Räumliche Propositionen sind keine bloßen indexikalischen Ausdrücke im Sinne von Demonstrativpronomen wie ›dieses‹, ›jenes‹ ; es sind Orts- und Zeitadverbien wie ›hier‹, ›jetzt‹, die 268 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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sich direkt auf die Situation des Sprechens beziehen; sie geben Relationen zwischen den Dingen wieder, sie empfangen ihren Richtungssinn vom leiblichen Hier. Beim leiblichen Hiersein handelt es sich ganz deutlich um den Ort des Sprechers, um die leibliche Konstitution der Sprechsituation. Das ›Hier‹ taucht z. B. in der Sprachtheorie von Karl Bühler auf, der das Zeigefeld der Sprache, das ursprüngliche Feld der Zeichenverwendung und Zeichengebung, um einen Nullpunkt gruppiert, an dem ein ›Hier-jetzt-ich-System‹ entspringt. Das ›Hier‹ tritt auf als der Ort des Sprechers, der sich ohne ein leibliches Hiersein überhaupt nicht ausdrücken lässt. (Selbst 118–119) Die »Situationsräumlichkeit« ist immer verbunden mit einem leiblichen »Hier« und »Jetzt«. Sie baut sich von einem leiblichen Hier auf, das nicht nur eine Stelle im objektiven Raum ist, nicht bloß einen Raumpunkt neben anderen Raumpunktgen ausmacht, sondern als ›von hier‹ zu bezeichnen ist. Es ist genau der Ort, von dem eine Bewegung, eine Betätigung, eine Erfahrung, ein Tasten, ein Sehen ausgeht. Von hier geht eine Bewegung aus, die von hier nach dorthin führt. Die Situation des »Jetzt« bestimmt sich angesichts bestimmter Aufgaben. Die Situation eröffnet ein bestimmtes Raumfeld, in dem dieses oder jenes naheliegt, anderes ferner liegt, wieder anderes durch Hindernisse verstellt oder von den Grenzen des Raumfeldes ausgeschlossen ist. Husserl nennt das einen »Orientierungsraum« im Gegensatz zum »homogenen Raum«. Der orientierte Raum ist auf einen privilegierten Punkt hin ausgerichtet, eben auf das Hier, das Husserl auch als Nullpunkt bezeichnet, weil das Raumsystem hier entspringt in der Weise, dass dieser Entspringungsurpunkt selbst nicht auf den Koordinatenachsen einzutragen ist. »Dieser Nullpunkt bedeutet eine Art von vorgeographischer und vorhistorischer landmark. Er läßt sich in kein Kartennetz und keinen Kalender eintragen, da jede geographische und historische Orientierung von ihm ausgeht« (Schwellen 218). Vom orientierten Raum entfalten sich die bekannten Dimensionen von oben – unten, rechts – links, vorn – hinten. Vom orientierten Raum ist zu unterscheiden der homogene Raum, in welchem zwischen absoluten Raumgestalten bestimmte Relationen bestehen, ohne dass diese in einem Hier verankert oder von einem Hier aus entworfen wären. Der metrische Raum, in dem die Raumabstände gemessen werden, führt dann zu einer weiteren Ausgestaltung dieses homogenen Raumes. Descartes gewinnt daraus die extensio: jedes

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Ding hat seine Ausdehnung, sofern es im Raum vorkommt. (Selbst 114–118) (PW 123–127) Am Beginn von PS hieß es: »Eine aktive Linie, die sich frei ergeht, ein Spaziergang um seiner selbst willen, ohne Ziel. Das Agens ist ein Punkt der sich verschiebt« (PS 1 fig.1). Daraus entstehen die bildnerischen Gestalten durch die fortgesetzte Bewegung: die Bewegung des Punktes ergibt die Linie, aus ihrer Bewegung entsteht die Fläche, aus der Flächenbewegung bildet sich der Raum, der Kreis entsteht aus dem Pendelschwung und die lebendige Spirale aus der »peripheralen Bewegung«. Bei Klee ist die Linie als bewegter Punkt der Anfang, während für Kandinsky etwa der »geschlossen ruhende Punkt« »das Urelement« ist und er den »Sprung aus dem Statischen in das Dynamische« erst im zweiten Teil seiner Formlehre Punkt Linie Fläche (PLF) vollführen wird (PLF 57–128). 7.3.1.2 Linien als Bewegungsspuren Mit dem Einfachsten war zu beginnen. Im Sinne des Entstehen-Lassens. Beim Punkt fing es an. Damit fing die Bewegung an. Der Punkt wurde in Bewegung gesetzt und daraus entsteht die Linie. Die Linie ist ein erstes »ideelles bildnerisches Mittel« (Linie 66). (Eikon 19–21) In der Bildnerischen Formlehre unterscheidet Klee »drei formale Dinge«, auf die er in seinem Jenaer Vortrag von 1924 nacheinander eingegangen ist: »Linie, Hell-Dunkeltöne und Farbe« (Jena 86). Zuerst entsteht die Linie aus dem Punkt. Bewegung ist das Prinzip des Entstehens der formalen Elemente. Auch die Geometrie spricht von Punkten, die sich im Raume fortbewegen und also Linien werden, von Linien, die sich im Raume fortbewegen und Flächen werden, von Flächen, die sich im Raume fortbewegen und Körper werden. Aber die Geometrie fasst die Reihung oder Fortschreibung anders, nämlich nach dem Vorbild der aristotelischen Zeit (Schöpfung 202). Durch die Verschiebung der Linie entsteht die Fläche und durch deren Bewegung im Raum der dreidimensionale Körper. Klee begann seine erste Vorlesung zwar mit der euklidischen Abfolge der vier Elemente Punkt, Linie, Fläche und Körper, doch verließ er unmittelbar die Pfade des antiken Mathematikers, indem er die Bedeutung der Bewegung betonte und durch den Faktor Zeit die vierte Dimension in die Bewegungslehre einband. Im Gegensatz zu Euklid entsteht für Klee die Linie nicht durch die Verbindung eines Anfangs- und End270 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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punktes, sondern durch die Bewegung eines Punktes. Die Linie wächst gleich einer Pflanze organisch aus dem Punkt. Auf den Spuren Goethes griff Klee auf die »organologische« beziehungsweise die »genetische« Variante der euklidischen Geometrie zurück (Schöpfung 111). Die Linie ist zwar ein erstes »ideelles bildnerisches Mittel«. Sie ist aber mehr. »Die Linie, so Klee, ist Gedanke«. Sie ist aber mehr als ein idealer Gedanke, eine geometrische Form. Sie ist schöpferisch. Sie ist »Medium zwischen Erde und Kosmos«. Die Linie macht sichtbar, sie ist Mittler zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Die Linie ist »die erste bewegliche Tat«, ein primum movens, und damit schöpferisch. Die Linie gestaltet, sie wird Kunst. »Kunst ist ein Schöpfungsgleichnis«. Linie – Formen Die Linie steht an erster Stelle. In Klees Tagebüchern, Briefen, Aufsätzen und Vorlesungsmanuskripten finden sich zahlreiche Aussagen über ihr Wesen, ihre Entstehung, ihre Funktion im Bildwerk, ihre Wahrnehmung und ihr Ausdruckspotenzial. Schon früh haben Liniengestalten den jungen Künstler fasziniert: die Linien in der Natur, am ruhenden und bewegten menschlichen Körper, in den bildenden Künsten und selbst in der Musik oder im Tanz. So notiert er für die Vorlesung vom 9. Januar 1923: »Von der Linie wissen wir schon manches, weil wir sie am ausgiebigsten gebraucht haben«. Klee spricht in dieser Vorlesung von der Linie als der »reinen Abstracten« und weiter als »Strom in die Ferne. Gedanke. Bahn. Angriff. Degen. Stich. Pfeil. Strahl. Schärfe des Messers. Gerüst. Zimmermann aller Form. Lot« (BG I.2/84). (Linie 8) In der Schöpferischen Konfession gesteht er der Linie ferner »Ausdruck, Dynamik und Psyche« zu (SK 76). Klee drückt mit den Elementarmitteln physische und psychische Bewegungen aus, mit Fläche, Farbe, vor allem aber mit der Linie. Klee versteht es, die Linie zu aktivieren und Bewegung zu suggerieren. Er lässt sie in Krümmungen, Winkeln, Spannungen und Biegungen in einem ewigen Auf und Ab Wege beschreiben. Der Betrachter empfindet Bewegung, erlebt den Rhythmus und das freie Spiel dynamisch nach. Die Linie Klees läuft, springt, überschlägt sich und hinterlässt bald streng geometrische Spuren, bald freie Zeichen, an Pflanzen erinnernd, zaubert sie organische Gebilde. Der aktiven Linie können Begleitlinien zugeordnet werden. 271 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Oder diese Linie umschreibt sich selbst. Oder zwei Nebenlinien umspielen die Hauptlinie, ohne dass diese selbst erscheint. So entsteht Musik, eine Melodie, Polyphonie. Sie gerät in sich in Bewegung, wird barock und ist dem Vollen, aber auch dem Wirren zugewandt. Sie gewinnt Polarität. In dieser Polarität wird sie Ausdruck, gerade auch des Melodischen und Psychischen. (Wege 75) Linien ergehen in Schlangen- und die Zickzacklinie, sie bilden Wellen (Linie 54). Eine besondere Form der Linie kommt der Form der Spirale zu. (Linie 60) Die Spirale ist nicht nur eine Grundfigur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Musik, im Tanz und in der Literatur. »Die Spirale ist zweidimensional gesehen eine Linie, die sich aus sich selbst entrollt, ist eine offene, dynamische Figur, die von Drehung zu Drehung über sich hinausweist. Von einem Punkt ausgehend, den sie in immer neuen Umdrehungen umkreist, läßt sie sich grundsätzlich bis ins Unendliche fortsetzen. Dabei gewinnt sie bei jeder Umkreisung an Energie: an Expansionskraft, wenn wir ihren Verlauf von innen nach außen, an Konzentration, wenn wir ihren Verlauf von außen nach innen betrachten. Sie verbindet die beiden Pole des Anfanges, und des Endes, des Werdens und des Sterbens in ihrer dynamischen Gestalt und zeigt, daß sie untrennbar sind«.

Dynamik, Unendlichkeit, Werden und Sterben sind die Merkmale, die Klee an dieser Linienkonfiguration faszinieren. (Linie 60). 147 Linie Spur »Bewegungsphysiognomik« »Nach Klee lassen sich alle Bewegungen in Linien ausdrücken« Eines der wichtigsten Erkenntnisse in Klees Linientheorie lautet: Die Linie ist die Spur einer Bewegung. Ob es sich dabei um die Bewegung eines Punktes, eines Stiftes, eines Spaziergängers, Hundes, Tänzers, eines schauenden Auges oder einer akustischen Tonfolge handelt, ist gleich. Sie alle hinterlassen für Klee eine reale oder imaginäre Spur, die sich in Form einer Linie graphisch aufzeichnen lässt. Dabei deklariert er jegliche Bewegungsspur als etwas grundsätzlich Abstraktes, da nicht ihr Urheber selbst, sondern eben nur seine Spur wahrnehmbar ist. Klee erläutert die Bewegungsspuren in seiner Vorlesung zur Bildnerischen Mechanik (oder Stillehre) vom 29. Februar 1924. (Linie 43 f.) Klee vergleicht in seinen pädagogischen Schriften etwa eine geschwungene S-Kurve mit der Bewegungsspur eines Spaziergängers (PS 1 fig.1) und eine Zickzack-Linie mit der eines Geschäftsmannes 147

Beispiele zur Lebendigkeit der Linie s. Ranke, 1932, Träger für ein Schild, 1934.

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(BF 10). Klee betreibt hier »Bewegungsphysiognomik« (Klages), die er in seiner zweiten Vorlesung vom 28. November weiter vertieft, indem er die Beziehungen zwischen verschiedenen Individuen allein durch ihre linearen Bewegungsspuren ausdrückt. Wird die S-Kurve, auf welcher der Spaziergänger lustwandelt, von zwei parallel zu ihr verlaufenden Linien flankiert, so seien die »Begleitformen«, gemeint sind die Spuren der Begleitpersonen, »absolut konvergierenden Charakters« (BF 13). Dies bedeutet, dass sich alle drei »Individuen« über den einzuschlagenden Weg einig sind. Die sich überschneidenden Spuren des Spaziergängers und seines Hundes in diesem Beispiel sind nach Klee hingegen »effektiv konvergierender Natur, unter Wahrung der Selbständigkeit der begleitenden Linie«. In einem weiteren Beispiel kreuzen sich die Wege AB und CD zweier Spaziergänger nur ein einziges Mal in einem Punkt (BF 14): »Bei diesem neuen divergenten Beispiel aber sehen wir den Nebenmenschen nur einmal kurz über unseren Weg laufen, bei dem Punkte D«. Über die Möglichkeit, »Konvergenz« und »Divergenz« durch bloße Linien auszudrücken, äußert sich Klee bereits in der Schöpferischen Konfession. Oder zwei Nebenlinien umspielen die Hauptlinie, ohne dass diese selbst erscheint. Dann wird die aktive Linie imaginär; sie unterliegt als Idee den Nebenlinien, ist wirkende Kraft, ohne selbst anwesend zu sein. Schon mit diesen ersten Taten wird der Weg ins Reich der dichterischen Erkenntnis mit bildnerischen Mitteln angelegt und das kleine bildnerische Element zu großen Mitteilungen veranlasst. Kommen wir mit Klee auf seine kleine Reise in der Schöpferischen Konfession zurück und denken an die Entwicklung, wo Linien besonders markante Begegnungen, Gespräche und Gemütsbewegungen widergeben, und fabulieren mit Klee: Nach der Überquerung eines Flusses »treffen wir auf einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien). Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie). Wir durchqueren einen ungepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes« (SK 76). An dieser Stelle fehlt die Beschreibung des Linienverlaufs zwischen den Klammern, die Klee erst in seiner Vorlesung vom 28. November 1921 in Form einer linearen Spur nachliefert. Unter »Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie« 273 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Klee

versteht Klee, dass sich nicht nur physische, sondern auch seelische Bewegungen in Linien übersetzen lassen. (Linie 43) Klee verrät hier eine gewisse Nähe zu den sogenannten Ausdruckswissenschaften, die sich mit den verschiedenen Möglichkeiten beschäftigen, das Innerste des Menschen, seinen Charakter und Seelenzustand, am Körper und an dessen verschiedenen Ausdrucksbewegungen (Mimik, Gestik, Gang, Handschrift) abzulesen. Sie stützen sich dabei auf die Physiognomik und die Graphologie. Beiden Disziplinen gemeinsam ist die Funktion der Linie als diagnostischer Wegweiser. In seinem Jenaer Vortrag ging Klee auf seine Zeichnungen ein, die sich vor allem mit linearen Gestalten befassen. Es ist eine Hauptgruppe des Werkes von Klee: seine Zeichnungen und Handzeichnungen, seine Grotesken, phantastischen mythologischen Mischwesen, die Karikaturen, Burlesken, seine Komik u. a. Klee antwortet auf Anfragen: »Ich bin auch Zeichner«. Man hat ihm bei einigen Bildern dieser Art »Infantilismus« vorgeworfen. Klee erklärt darauf, dass seine Zeichnungen von Menschen etwa dieser Art bewusst ihren Ausgangspunkt nehmen von »der reinen Darstellung des linearen Elementes«. Wollte er dagegen den Menschen darstellen, so wie er wirklich ist, dann bedürfte er eines großen Durcheinanders von Linien (Jena 95). Zutreffend auch für Klee wäre das Wort von Henri Matisse: »Die Linie meiner Zeichnung ist die reinste und direkteste Übertragung meiner Emotionen«. 148 Wie sehr aber einfache reine Linien zu sprechen vermögen, können etwa die späten »Engel«-Zeichnungen u. ä. zeigen. Nach dem Vorbild von Klages betreibt Klee auch da »Bewegungsphysiognomik«. Jede Tat, die zum Bilde führt, könnte man zusammenfassend sagen, ist eine Bewegung, die sich im Bildwerk in Form einer Spur niederschlägt. (Linie 9) Linie – organologisch Klee beginnt wie die klassische Kunsttheorie mit Punkt und Linie. Das ist formal so. Inhaltlich aber unterscheidet er sich von der gemeinen klassischen Theorie. Auffällig ist seine Nähe zu Goethe. Auch Goethe entwickelt seine Theorien über die Metamorphose der Pflanze auf der Grundlage der euklidischen Geometrie. Seine Wachstumsgeschichte der Pflanze ist nichts anderes als »die organologische Va148

Vgl. Zilch, Engel, a. a. O., 77 ff., 153 f.

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riante dieser geometrischen Mythe«. Auf den Spuren von Goethe greift Klee in Weimar die »organologische«40 bzw. »genetische« Variante der euklidischen Geometrie auf, indem er die Entwicklung von Pflanzenstengel, Blatt und Frucht aus dem Samenkorn mit der Entstehung geometrischer Körper aus Punkt, Linie und Fläche gleichsetzt. Die Linie entsteht für ihn nicht wie bei Euklid durch die Verbindung eines Anfangs- und Endpunktes, sie wächst gleich einer Pflanze organisch aus dem Punkt hervor. Für Klee kommt die »formgenerierende« Kraft nicht von außen, vielmehr liegt sie in den Elementen selbst. Der Punkt birgt gleich einem Samenkorn das Bewegungspotenzial bereits in seinem Inneren. Die Verbindung von Linie und Bewegung machen es Klee möglich, die Linie nicht nur geometrisch formal einzusetzen, sondern mit ihr das Lebendige und Organische zur Darstellung zu bringen. Klee schreibt in seinem Manuskript zur Vorlesung vom 12. November 1926: »Der Punkt kommt in Bewegung, und es wächst ein wesentliches Gebilde auf Gestaltung beruhend«. (Linie 26) 7.3.1.3 Fläche Raum Fläche – Die Bewegungsbahn vom Punkt zur Linie ist klar. Das sind aber nur die ersten fundamentalen Bewegungsformen. In der ersten Vorlesung am Bauhaus vom 14. November 1921 führt Klee nach einer kurzen Einleitung aus: »da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt, beim Punkt, der sich in Bewegung setzt […]; dann »Kurz nach dem Ansetzen des Stiftes oder was es sonst Spitzes ist, entsteht eine Linie. […] Setze ich aber eine Linie an, ein kantiges Schwärz- oder Färbmittel, so entsteht eine Fläche […]« (BF 6). (Linie 23)

Klee greift wiederum auf den griechischen Mathematiker Euklid zurück, der im 4. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria seine Stoichea (Elemente) in 13 Büchern verfaßte. Das erste Buch beginnt mit den Definitionen von Punkt, Linie und Fläche: »1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat, 2. Eine Linie breitenlose Länge. […] 5. Eine Fläche ist, was nur Länge und Breite hat«. 149 Alberti hat als erster die euklidische Geometrie für die Malerei fruchtbar gemacht und die Maler von der Notwendigkeit dieses theoretischen Fundaments zu überzeugen versucht. (Linie 24) 149

Euklid, Die Elemente, Buch I-XIII, hrg. von Clemens Thaer, Darmstadt 1980.

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Paul Klee

Lassen wir nun das kleine Feld des bildnerischen Elements aus sich ein wenig weiterwachsen, um ein erweitertes Zusammenwirken zum Gebilde zu erzielen. Die aktive Linie kann befristet von Punkt zu Punkt voranschreiten, sie kann auf diesem Wege wieder auf sich selbst treffen und dann eine Figur bilden – von der Fläche zu Quadrat, Dreieck, Kreis. (Wege 76) Sind die Figuren mit linearem Charakter zu Ende geformt, entsteht ein neues Gebilde, die Fläche. Dabei wird die lineare Eigenschaft von der Flächenvorstellung unverzüglich abgelöst. Die Linie verliert ihre »aktive« Eigenschaft und nimmt »medialen« Charakter an. Die Linie umläuft nun die entstehende Fläche und wird nun ganz »passiv«. Diese Eigenschaften – aktiv, medial, passiv – sind die Ausdruckseigenschaften jeden Elements. Sie übernehmen im Gesamtorganismus wichtige Funktionen. Sie sind in der Kunst, aber auch im Organismus als bildnerische Mittel die Bänder, die die einzelnen Glieder aneinanderketten. Der Gesamtorganismus ist wie eine Kette aus einzelnen Elementen zusammengefügt, wobei ein Element »aktiv« das folgende hervorbringt; sobald es aber Gestalt angenommen hat, seine Funktion erfüllt hat, bleibt es »passiv« vorhanden. Den Vorgang der neuen Formung vermittelt das vorhergehende Element, es vermittelt als Medium, wird »medial« und erfüllt so die entscheidende Funktion der Fortbewegung oder Entwicklung. Diese Eigenschaften des Aktiven, Medialen und Passiven sind nicht nur Merkmale der elementaren Formen, sondern gelten auch für alle Weisen entstehender und vergehender Formen geometrischer, aber auch organischer oder menschlich-körperlicher Art (BF 8–13). (Wege 77) Durch das Mediale der Linie sind wir in das Reich der Fläche eingetreten, halten uns aber noch im Bereich des Maßes auf. Denn Punkt, Linie und Fläche sind messbar, sie sind formale Mittel des Maßes. Raum Weiter führt Klee aus: »Hätten wir eine Materie, um Flächen mit ähnlicher Wirkung fortzuschieben, so könnten wir eine ideelle Plastik in den Raum schreiben. Aber das ist leider schon Utopie« (BF 6). Perspektive Mit dem Raum betreten wir eine neue Dimension. Die Bewegung im zweidimensionalen Raum ist zu Ende. Das bisherige lineare Operationsfeld wird um ein Beträchtliches erweitert durch den Eintritt in die dritte Dimension, die Dimension des Raumes. Das ist das Reich der 276 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Perspektive. Die Perspektive wird zwar auch bemessen, etwa in der Zentralperspektive der Kunst. Die Zentralperspektive zwar geometrisiert die Perspektive des Kunstwerks. Doch ist die Perspektive stets bezogen auf den Standpunkt und das Blickfeld des Subjekts, d. h. der Standpunkt ist beweglich. Darauf macht Klee ausdrücklich aufmerksam. Daraus folgen eine Reihe neuer Anforderungen an den Künstler. Der Raum folgt der Perspektive des »hier« und »jetzt«, des jeweiligen »Nullpunktes« Die Perspektive unterliegt so ebenfalls der Bewegung, sie ist eine Folge der Bewegung. (Wege 81) Klee beschäftigt sich ausführlich mit den Dimensionen der Perspektive (PS 14–21). Es wird deutlich, dass sie für Klee ein wichtiger und zentraler Bestandteil seiner Bauhauslehre, seiner Bewegungslehre, ist. Er beginnt mit den vielen möglichen Perspektiven etwa von Eisenbahnlinien. Er operiert mit zweidimensionalen Linien, wechselt die Sicht zur dreidimensionalen Perspektive. Er erörtert dazu die gegebenen Dimensionen und geht dabei vor allem auf die Bedeutung der Senkrechten und Waagrechten ein. Durch Bewegung des Auges nach rechts oder links verschiebt sich zugleich die Senkrechte der perspektivischen Konstruktion. Die Waagerechte bedeutet das ebenso bewegliche Höhenmaß des Subjekts (Augenlinie). Die Raumperspektive verschiebt sich, wenn sich die Augenhöhe (die Vertikale) ändert oder der Horizont (Horizontale) wandert. Das Zentrum verschiebt sich dabei mit. Schließlich kommt es zur Diskussion von drei oder vier Dimensionen, wenn neben den drei räumlichen Dimensionen eine vierte Dimension in unser Wirklichkeitsbild eingefügt werden sollte, etwa der Zeit (BF 14–26). Die menschliche Perspektivität ist bildnerisch wichtig. Klee hat dazu 1925 eine Zeichnung in didaktischer Absicht in seinem Pädagogischen Skizzenbuch veröffentlicht (PS 20 fig. 44). (Boehm 121)

Abb. 10: Paul Klee: Haus, 1925 (PS 20 fig. 44)

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Wir sehen eine seltsame Konkretion des Begriffes »Haus«. Sichtbar ist die Vorderseite eines Hauses. Gegen die Erwartungen liegt dieses Haus aber flach am Boden, ohne dabei einen Grundriss abzubilden. Genauer gesagt: das Haus liegt horizontal am Boden und versucht sich mühsam aufzurichten: Dieses Bemühen wird bestärkt durch eine perspektivische Verkürzung, die allerdings ihre relevanten Gesetze an entscheidender Stelle missachtet. Klee markiert diese Stelle selbst mit seinem einsilbigen Kommentar: »das Animal« – er meint wohl den Betrachter – »[will] im Interesse seines Gleichgewichts sämtliche Senkrechten der Wirklichkeit auch projiziert als Senkrechte sehen […].« Der Maler Klee hält sich nicht daran. Technisch gesprochen unterminiert er die perspektivische Konvention, indem er Grund- und Aufriss nicht im rechten Winkel miteinander verbindet. Dieser Angriff Klees legt vor allem bloß, dass bildnerische Darstellungen Regeln folgen, welche diese lenken. Offenbar gibt es noch ganz andere Regeln als die herkömmlichen der Perspektive. Das lehrt auch ein Blick auf Klees Arbeit in den zwanziger Jahren, die ihn unter anderem damit beschäftigt zeigt, mit dem Haus ein klassisches Paradigma der Perspektive zu befragen und andere Regeln möglicher Häuser zu entdecken. Es sind alles Aquarelle, welche diese Sichtweisen Klees belegen. Klees ganz »andere« Häuser verrenken und recken sich, umspielen ihre Grundlinien nach allen Seiten hin, überlagern Inneres und Äußeres, lassen den Augenpunkt wandern, operieren mit Paradoxien und so fort. Klee zeigt so, dass man mit den Mitteln des Bildes eine Vielzahl von Regeln entwerfen kann, die das Gleiche darstellen, dass sich »Weisen der Welterzeugung« ausformen lassen, die zu ganz ungesehenen Häusern führen. Regeln, die wie bei Landkarten, eine Projektion in die Ebene vollziehen – nicht zufällig finden wir das Wort PLAN ins Bildfeld des L-Platzes hineingeschrieben (s. → Abb. 1, S. 465). Unvermittelt zeigen sich aber auch frontale Projektionen. Eine räumliche Konstruktion kann logisch richtig sein und doch falsch erscheinen. Man spricht von psychologischer Beweglichkeit. Zum Beispiel: im Interesse seines Gleichgewichts will der Mensch sämtliche Senkrechten auch projiziert bzw. fotografiert als Senkrechte sehen. Ebenso wird er einen Raum aus jeder veränderten Perspektive frontal sehen. Diese Frontalität hängt mit den anthropologischen Konstanten des Menschen und seinen Sehbedingungen zusammen: Die Senkrechte bedeutet den geraden Weg, die aufrechte Haltung oder den Stand des Menschen; die Waagerechte bedeutet seine Höhe, 278 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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seinen Horizont. Beide sind nach Klee »ganz diesseitige, statische Angelegenheit« (Wege 81). Der unterschiedliche Blick aus unterschiedlichen Perspektiven bringt unterschiedlichste Darstellungsmodi hervor, eine wichtige Erkenntnis für die bildnerischen Werke. Kunst und Malerei schöpfen aus einem umfangreichen potentialen Material. Zu denken ist an Bilder wie Der L-Platz im Bau (1923), die Häuser-Projektion (1923), Haus-Inneres (1919) oder Drehbares Haus (1921). »Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind« (SK 78 f.). (Schmidt 3–4)

7.3.2 Bildnerische Mittel: Gewicht – Hell-Dunkel – Tonalität Bisher entfaltete Klee seine Linientheorie auf vielgestaltige Weise. Linien sind die elementaren Formen der Abläufe von Bewegungsvorgängen. Linien sind sozusagen die geometrischen Schienen, auf denen sich die Bewegungen vollziehen. Das gilt nicht nur für die Physik, sondern auch für die Biologie, die Natur und den Menschen. Doch damit ist noch nicht alles gesagt zu den Bewegungsformen. Welche Formen der Bewegung sind möglich, die sich auf diesen Schienen vollziehen? Welche sind die formalen Mittel, die etwas in Bewegung setzen und welche die Formen der Bewegung bestimmen? (Wege 82) »Diese Sichtbarmachung kann sich auf zwei Wegen vollziehen: Der eine, der durch das statische Gebiet der ›Erde‹ führt, ist gekennzeichnet durch die Beschäftigung mit Problemen des statischen Gleichgewichts und der Schwerkraft. Der andere Weg verläuft durch das dynamische Gebiet der ›Welt‹. Dieser zeichnet sich aus durch seine Sehnsucht, von der irdischen Gebundenheit sich zu lösen, über Schwimmen und Fliegen zum freien Schwung, zur freien Beweglichkeit« (WN 66).

In dem Schema zum Naturstudium hatte Klee von den zwei Wegen der Sichtbarmachung gesprochen: Der untere Weg, der durch das Gebiet der Erde führt, ist der Bereich der ›statischen Formen‹ und der Probleme des »Gleichgewichts« und der Schwer-Kraft.

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Dieser Weg führt nun zu einem Schritt der bildnerischen Gestaltung. Denn Klee hatte in seiner Schöpferischen Konfession angekündigt: »Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das ›Zeit‹. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen. Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus« (SK 78).

Mit anderen Worten erfolgt ein wichtiger Schritt in der Bewegung. Bisher erfolgte die Bewegung im zweidimensionalen Bereich; mit dem Raum tritt aber die dritte Dimension auf mit allen Problemen, die wir oben gesehen haben. Es kommt die Frage auf nach der Entstehung des Bildwerkes, das Stück für Stück, Baustein für Baustein aufgebaut wird wie ein räumliches Haus. Und es kommt die Frage zurück nach der Perspektive, dem Standpunkt des Subjekts darin, vor allem die Dimensionen der Vertikalen und Horizontalen dabei (SK 78). Klee kommt von den elementaren Formen zu den formalen Bewegungsmitteln auf Grund seiner letzten Aussagen über die Perspektive und das Verhalten des Menschen. Er nannte es das ›Interesse des Menschen, sein Gleichgewicht zu halten‹, d. h. die Senkrechte zu bewahren und auf der Höhe der Horizontalen zu bleiben. »Die Probleme des statischen Gleichgewichtes sind mit den Worten: ›Stehen trotz allen Möglichkeiten zu fallen‹ zu kennzeichnen«. Es ist eine fundamentale Bestimmung für den Anfang von Bewegungen. Gerät das Gleichgewicht des Menschen außer Kontrolle, wird er in Bewegung geraten, wird er durch eine Gegenbewegung sein Gleichgewicht wiederherzustellen versuchen. Es kommt Dynamik ins Spiel. Dynamik ist Grund und Motor jeder Bewegungsform (BF 27): »Das überaus wichtige Problem des Gleichgewichts ist bei Klee dargestellt als dynamischer Ausgleich von unterschiedlichen Gewichten in der Fläche und im Raum« (Geo 84). Neben dem Bauen sind andere unterschiedliche Bewegungsformen zu nennen. Klee schließt deshalb die Untersuchungen der verschiedenen Formen von Bewegung an. Dazu sind neben den formalen Elementen von Punkt-Linie-Fläche-Raum die Darstellungsmittel bzw. die formalen Mittel zu nennen, welche die Bewegungsformen hervorbringen. Diese sind für Klee neben Gewicht (wie im Beispiel), Hell-Dunkel, Tonalität, Strukturen und Rhythmen, zuletzt die Farben. 280 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Das Gemeinsame der zu untersuchenden formalen Mittel ist das Gewicht bzw. ein unterschiedliches Gewichten. Gewichten meint ein Beurteilen nach Gewicht bzw. nach Wert (Wege 82). Bei den genannten Darstellungsmitteln handelt es sich immer um Be-Wertungen. Das Beispiel vom Gleichgewicht ist ein gutes Beispiel für die Darstellung des Anfangs einer Bewegung. Bei der Waage bzw. beim Gleichgewicht kommt etwas in Bewegung. Das gilt aber nicht nur für das Gleichgewicht, sondern für alle Formen von Ge-wichten bzw. den Formen des Be-wertens oder Be-urteilens. Das gilt für alle Elemente oder Zustände mit unterschiedlichen Kraft- oder Energiewerten. Werte von Hell-Dunkel oder der Tonalität sind Tonwerte, Werte der Farben sind Farbwerte. Diese vertreten unterschiedliche Energiewerte oder -Zustände. Wo solche unterschiedlichen Energiewerte auftreten, kommt es zu unterschiedlichen Bewegungsformen, um die Unterschiede auszugleichen. Wo aber Bewegung ins Spiel kommt, kommt auch Zeit ins Spiel, wenn auch auf unterschiedliche Weisen. 7.3.2.1 Gewicht – Waage Das Symbol des Gewichtes ist die Waage. Waage und Gewicht geben zu verstehen, wie eine Reihe von Bewegungsformen entstehen. Der Gleichgewichtszustand der Elemente kann in einfacher Weise symmetrisch, in höherer Weise asymmetrisch sein. Jeder Bewegung liegt eine Störung des Gleichgewichts zu Grunde und provoziert seine Wiederherstellung auf veränderter Ebene. »Die Handlung des Abwägens beginnt ohne Gleichgewicht und endet mit diesem […]. Auf die Natur angewandt: wo der Gang des Menschen in der anfänglichen Bewegung im Gleichgewicht gestört wird, versucht er es in der folgenden Gegenbewegung wiederherzustellen und es kommt zu einem komplizierten Rhythmus des Ganges, des Tanzes u. a. – als Ausdrucksformeln des Körpergefühls. Oder im Gebiet der Statik: wo er im komplizierten Baugebilde Störung und Ausgleich als Bewegungsimpulse so lange empfindet, bis der Schlussstein die Gleichgewichtsverhältnisse definitiv in Ordnung bringt«.

Für das Gebiet der Statik ist der »Turmbau« für Klee das Beispiel (s. → Abb. 9, S. 469). Einen Turm zu bauen ist zu vergleichen mit dem Gleichgewichtssinn des Menschen: Es ist »ein kleines Drama der Horizontalen, vermenschlichend ausgelegt: ich bin links ins Schwanken geraten und habe nach rechts mit der Hand ausgegriffen, 281 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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irgendwo Halt suchend, um nicht zu fallen. Oder Verlegung der Handlung auf die Vertikale: der Oberkörper ist zu schwer, die Vertikale fällt nach links, wenn nicht unten rechtzeitig die Korrektur erfolgt. Man verbreite durch Ausgreifen mit dem linken Bein die Basis« (BF 35–37). Diese Bemerkungen sind für viele Formen der bildnerischen Darstellung erheblich und anzuwenden. 150 Aus der Waage kann die Bewegungsform des »Kreisels« hervorgehen. Nehmen wir nämlich der Waage die irdische Stütze, so wird sie ihr Gleichgewicht verlieren und fallen, versetzen wir sie aber in Drehung, so wird sie die Schwingbewegung im aufrechten Gleichgewicht halten. In der Bewegungsformung ersetzt so der Kreisel die Waage. Und aus dem Lot wird das »Pendel« (der Ausgleich entsteht aus Bewegung und Gegenbewegung], dessen Bewegungsform erweitert werden kann durch Bewegung des Führungspunktes. Aus der Bewegung des schwerelos herum schwingenden Pendels wird der »Kreis« und bei sich verändernder Radiuslänge die »Spirale«. Klee führt so zu den höheren Symbolen der Bewegungsformung. Schließlich führt ihn der konsequente Umgang mit den bildnerischen Elementen nach langer und genauer Durchdringung zur Kunst und Poesie. Dafür steht schließlich der Kreis: »Diese reinste Bewegungsform, die kosmische, entsteht erst durch die Aufhebung der Schwerkraft. Durch den Wegfall irdischer Gebundenheit.« Klee hat sich auf die Formen der Bewegung konsequent eingelassen. Er hat bei dem »Punkt« begonnen und ist beim »Kreis« angelangt – zwei der großen Symbole der Kunst. (Wege 83) 7.3.2.2 Hell-Dunkel Werte »Das Auge sieht keine Gestalten, es sieht nur, was sich durch Hell und Dunkel oder durch Farben unterscheidet« (Goethe).

Ein weiteres Feld der Gewichtung und Beurteilung sind die Kontraste. Das Auge sieht zuerst Kontraste und formt daraus Gestalten. Die Hauptkontraste sind dabei die von Hell und Dunkel und die von Farben. Ein besonderes Maß bildnerischer Unterscheidung und Gestaltung ist mit dem Darstellungsmittel Hell-Dunkel gegeben. Im Grunde geht es dabei nicht mehr um eine Gewichtung, sondern um eine Bewertung, was hell und was dunkel sei. Arbeitet eine Waage 150

S. oben Abb. 9 Erhabene Seite; Schwankendes Gleichgewicht, 1922.

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mit Gewichten als Maßeinheiten, stehen solche für das Hell-Dunkel nicht zur Verfügung. (Wege 84–86) Auf dieser neuen Ebene sind alle Operationen unter dem neuen Vorzeichen zu vollziehen. Von Linie und Fläche sprachen wir. Die Erweiterung in die sozusagen »dritte Dimension« erfolgt jetzt nicht allein über das mathematische Vermessen, sondern über das Einschätzen der Distanzwerte von HellDunkel. Es sind Tonwerte. Hell-Dunkel bringt über die Quantität eine neue Qualität ins Spiel. Es dürfte einleuchtend sein, dass Klee als Maler besonderen Wert auf die Qualität des Hell-Dunkel legte. Er sagte von sich »Ich bin auch Zeichner«. Als Zeichner wurde ihm die Bedeutung von HellDunkel immer mehr bewusst. In der Schöpferischen Konfession erinnert er an die Arbeit und die lange Zeit, sich über das Hell-Dunkel für die Malerei klar zu werden. Sie war für ihn eine wichtige Stufe zum Umgang mit der Farbe (Jena 84). »Juni (1910) Übertragung des Schattenbildes, des Hell-Dunkel-Zeitmeßverfahrens in die Farbigkeit, so daß jeder Tonwertstufe je eine Farbe entspricht, also nicht die eine Farbe durch Weiß hellen oder durch Schwarz dunkeln, sondern immer eine Farbe für eine Stufe. Für die nächste Stufe die nächste Farbe. Ocker, Englischrot usw. […]« (Tb 879 871).

Und nicht nur zur Malerei führte ihn der Weg über das Hell-Dunkel, sondern, wie er sich im Tagebuch erinnert: Hell Dunkel eröffnet ihm »die Welt der Tonalität« (Tb 632 von 1905). Wie im Tagebucheintrag von 1910 (s. vorher) notiert, achtet er auf die »Tonwertstufen«. Mit den Tonwertstufen ist aber eine Brücke zur Farbigkeit gegeben, indem Klee jedem Tonwert eine eigene Farbe zuordnet. Mit der Tonalität war für Klee die Nähe von Malerei und Musik gegeben. Die Symbole, die neben der Waage die Bewegung formen, sind Kreis, Spirale, Kreisel und Pendel. Die Richtung, in welche die Bewegung geht, wird von Klee im Symbol des »Pfeils« angezeigt. Neben der qualitativen Bestimmung der Bewegungsformen ist die »Bewegungsrichtung« entscheidend für die Bestimmung der Form einer jeden Bewegung: »Der Vater des Pfeils ist der Gedanke: wie erweitere ich meine Reichweite dahin?« Bei dem Begriff der Bewegung sind nicht nur die Bewegungsformen zu beachten, sondern auch die Bewegungsrichtungen, die vom Pfeil dargestellt werden; denn die Pfeile sind bei Klee »Zeitpfeile« (BG II.21/63 f.). Klee verbindet etwa die Abstufungen von Hell zu Dunkel mit einem »Zeitpfeil«. Der Pfeil beginnt in der graphischen Darstellung 283 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Klees weiß und wird dann schwarz, das Zeichen, dass die Gewichtung bzw. der Energiewert der Bewegung sich zeitlich entwickelt und zunimmt. Er nennt die Abstufungen von Hell zu Dunkel ein »Zeitmeßverfahren in die Farbigkeit« (Tb 879 871) (PS 40 fig.76). »Sie besteht in der gesteigerten Energieentwicklung aus gegenwärtigem Weiß nach eintretend handelndem oder zukünftigem Schwarz hin. Warum nicht umgekehrt? Antwort: […] der Pfeil fliegt in der Richtung der Handlung […]. Das Weißgegebene, das viel- und sattgesehene Weiß, wird als ein Gewohntes vom Auge mit wenig Akklamation aufgenommen: auf das gegensätzlich Besondere der eintretenden Handlung hin aber steigert sich die Lebendigkeit des Blickes bis zum Gipfel oder zum Ende dieser Handlung (ebd.)«.

Der Pfeil vertritt so eine »eindeutig gerichtete Bewegung«, er ist ein »Zeitpfeil«. Der Pfeil ist wesentlicher zeitlicher Bestandteil der Bewegung. 151 Diese Bedeutung hat der Zeitpfeil auch für die Temperatur, für die Erhitzung von Wasser durch Feuer, für die Farbigkeit, für alles, was mit Energie zu tun hat (BF 136–142). 152 Ausgehend von der Beobachtung, dass ein Pfeil jederzeit eine eindeutige Richtung aufweist – unabhängig davon, ob er jemanden trifft (Aktivum) oder ob jemand oder etwas davon getroffen wird (Passivum), – erklärte Klee, wie sich eine »eindeutig gerichtete Bewegung« deutlich und unmissverständlich darstellen lasse: von einem farbigen Grund aus könne der Beginn der Handlung durch eine minimale Veränderung des Farbtons angeregt werden, anschließend kontinuierlich verstärkt zu einem »Gipfelpunkt« führen. Klee verbindet das Hell-Dunkel und die damit gegebenen Tonwertstufen mit der Erfahrung von Zeit. Für Klee hat das Hell-Dunkel geradezu kosmische Bedeutung. (Schöpfung 113): Da die Polarität von Hell und Dunkel beziehungsweise von Licht und Finsternis eine gemeinsame Grundlage für Kunst und Natur bildet, verglich Klee die Analyse der Schwarzweissmittel mit der Gliederung von hell zu dunkel in der Natur. Er unterschied die Bewegung von Weiss nach 151 »Pfeil« ist ein zentrales bildnerisches Motiv in der Kunst Klees, sei es als »Zeitpfeil« oder als »Richtungspfeil«: Abstürzender Vogel, 1919; Wandbild aus dem Tempel der Sehnsucht Dorthin, 1922; Scheidung Abends, 1922; Vor dem Blitz; 1923, Begrüssung 1922;, betroffener Ort, 1922. 152 Pfeil s. (Selbst 105); (Wege 86); (BG I.3).

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Schwarz im natürlichen und künstlichen Kosmos. Im Chaos seien Licht und Finsternis noch gar nicht geschieden. In der natürlichen Ordnung handle es sich um ein Fließen vom einen zum anderen Pol, während in der künstlichen Ordnung die Bewegung von Hell nach Dunkel in Abstufungen gegliedert sei. »Die naturhafte Bewegung von Weiss nach Schwarz ist feinste Ordnung in der Bewegung« (BG I.2/97). 7.3.2.3 Tonalität Was für die Malerei das Hell-Dunkel bedeutet, ist für die Musik die Tonalität. Auch hier handelt es sich um Distanzwerte, welche eine Bewegung hervorrufen. In der Musik ist der Zusammenhang mit den Zeitwerten deutlich, wenn die Tempo-Bezeichnung »Grave« oder ähnlich lautet und damit die Bewegung und die Zeitlichkeit angegeben wird. Der Modus der Tonalität beruht auf einer besonderen Strukturform. Es sind graphisch Wellenlinien, die Klee ebenfalls als Struktur visualisiert. 153 Klee geht den eingeschlagenen Weg um eine Stufe weiter. Die drei Operationen mit Linie, Fläche und Waage erweitern die formalen Mittel des Maßes und machen uns vertraut mit formalen Mitteln des Gewichts: »So gehe ich stufenweise weiter bis in die größte Tiefe, und halte dieses Zeit-Meßverfahren für grundlegend, was die Tonalität betrifft« (Tb 871 von 1910). Er unterwirft die Tonalität dazu ausdrücklich einem besonderen Verfahren, das er wiederum »Zeit-Messverfahren« nennt. Er bemisst die Tempi der Musik nicht nach mathematischen, sondern nach ›zeitlichen‹ Größen bzw. Werten. Für die Musik und Tonalität sind »Klänge«, »Takte« und »Strukturen« wie »Rhythmen« Maßeinheiten. Klee veranschaulicht die Struktur der Tonalität oder der Klangfiguren mit einem Experiment von Chladni (BG I.2/21). In seiner Vorlesung zur Principiellen Ordnung vom 27. November 1923 stellt Klee seinen Schülern die berühmten Chladnischen Klangfiguren vor, ohne jedoch den Namen ihres Entdeckers zu nennen: Ernst Florens Friedrich Chladni (1756– 1827). (Linie 150). Dabei handelt es sich um die physikalische Beschaffenheit von Tönen. Das Ziel ist, die Bewegungsform von Klängen und Tönen graphisch anschaulich zu machen. Die berühmten

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Tonalität Hell-Dunkel (Wege 86).

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Chladinschen Klangfiguren zeichnen sich durch Schwingungen im Sand ab. Dabei wird eine zunächst einheitliche Fläche (Sandschicht) durch Linien, die ein Muster bilden, strukturiert. (Linie 150 f.) Die Klangfiguren können nach Chladni visualisiert werden, wenn man auf eine Glasplatte Sand ausbreitet, dann am Rand mit dem Geigenbogen einen Klang erzeugt. Klee denkt dazu wiederum an die drei bekannten Faktoren im Entstehungsprozess der Klangfiguren, die sich mit den Eigenschaften »aktiv«, »medial« und »passiv« verbinden lassen: Dem Bogen als dem eigentlichen Auslöser der Bewegung kommt die aktive Rolle zu, der schwingenden Platte die mediale, die Sandkörner verhalten sich rein passiv; sie werden von den Schwingungen bewegt. Nachdem er seinen Schülern das Experiment erläutert hat, zeichnet Klee eine Wellenlinie an die Tafel. (Linie 150) Die periodische Bewegung der Tonschwingungen erklärt Klee dann am Beispiel der »Bewegung eines Hammers, der von dem Räderwerk einer Wassermühle nach regelmäßigen Zwischenzeiten gehoben wird und wieder fällt« (BF 88).127 Der Bewegung der Mühle entspricht nach Helmholtz die der Violinsaite, »die vom Bogen gestrichen wird, […]. Die Saite haftet eine Zeit lang am Bogen fest, wird von diesem mitgenommen, bis sie plötzlich losreisst, wie der Hammer in der Mühle«.128 In einer Übungsaufgabe im Pädagogischen Skizzenbuch erklärt Klee dazu eigens die Begriffe »aktiv«, »medial« und »passiv« am Beispiel der von Helmholtz beschriebenen Wassermühle, die den Hammer in periodischen Abständen auf eine Platte schlagen lässt (PS 12 fig.25).129 Auch das im Kreise geschwungene Pendel, mit dem Helmholtz periodische Bewegungen darstellt, findet sich in Klees Unterrichtsmaterialien wieder.130 Helmholtz verdeutlicht die Entstehung des Klanges, der Wellenlinie, durch ein fiktives Experiment von in Schwingung versetzter Materie: An einer Stimmgabel wird ein kurzer Stift befestigt. Bewegt man nun die nicht tönende Stimmgabel in gleichbleibender Richtung langsam über ein Blatt Papier, so hinterlässt sie eine gerade Linie. »Wird nun die Gabel über das Papier in derselben Weise hingeführt, aber so, dass ihre Zinken dabei in Schwingung versetzt sind, so wird sie eine symetrische Wellenlinie auf das Papier schreiben. […] Diese Linie, nachdem sie auf das Papier gezeichnet ist, bleibt stehen als ein Bild von derjenigen Art der Bewegung, welche das Ende der Gabel während der tönenden Schwingungen ausgeführt hat«.131

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Klees Wahl der Geraden als Symbol der starren Materie und der Wellenlinie als das bewegter Materie ist hier experimentell bereits vorweggenommen. (Linie 151) Struktur – Takt – Rhythmus Das Gliederungs- und Bewegungselement einer Fläche ist die Struktur. Eine Fläche wird durch die »Struktur« von Linien gegliedert; »Takt« und »Rhythmus« geben dann die Dynamik der Bewegung vor. (Wege 77) Die besondere Beschäftigung des Künstlers Klee besteht darin, dass er, wie er es mit allen Formen der Bewegung (s. Bewegungsphysiognomie) hält, so auch die Rhythmen in Linien übersetzt (Linie 151–152). Klee legt seine Rhythmuslehre zum ersten Mal im Januar 1922 vor und erweitert sie in den weiteren Jahren regelmäßig. Klee zeigt unter dem Stichwort Rhythmik unterschiedliche Erscheinungsformen des Rhythmus auf: »Ausgangspunkt sind akustische Rhythmen (durch Klopfzeichen in verschiedener Betonung zu vollziehen). Klee visualisiert die Stärke der Klopfzeichen durch unterschiedliche dicke, kurze, vertikale Striche. Danach kommt Klee auf die »Rhythmen in der Natur« zu sprechen. Es folgen »kulturelle Rhythmen«, worunter Klee die Taktschläge eines Dirigenten versteht. Zuletzt kommen die »fakturalen Rhythmen, die er als Spuren rhythmischer Bewegung definiert (Beispiel »Fußspuren im Schnee«). Schließlich wird der Ausdruck auf die unterschiedlichen Bewegungen wie Atmung, Ornamentik, Architektur, und vor allem auch auf die Musik angewandt (BG I.4/19–73). (Linie 151–152) Strukturale und individuelle Rhythmen Für das Verständnis der Musik, aber auch für andere Bereiche, und insbesondere für alle Formen des Lebendigen und des Lebens, wie Pflanzen, Tiere oder Menschen kommt den von Klee genannten »strukturalen und individuellen Rhythmen« besondere Bedeutung zu. Die vierte Bauhaus-Vorlesung vom 16. Januar 1922 eröffnet Klee mit der graphischen Darstellung sogenannter »strukturaler Rhythmen«. Um die Bedeutung des Begriffs richtig zu erfassen, musste zunächst geklärt werden, was Klee unter »Struktur« versteht. In seiner Vorlesung zur Principiellen Ordnung vom 10. November 1923 definiert er den Terminus als »Gliederungscharakter«. Anschließend zeichnet er eine waagerechte Gerade an die Tafel, die er durch kurze, 287 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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senkrechte Striche in gleiche Abschnitte unterteilt. Diese Skizze bezeichnet er als einfachstes Symbol einer linearen Struktur. Die Struktur entsteht durch die periodische Wiederholung der senkrechten Striche in gleichen Abständen. Die Zeichnung eines Schachbrettes ist dafür das geeignete Beispiel für Klee. Auf die zweidimensionale Struktur einer Fläche angewandt, wäre die einfachste Struktur das »Schachbrett« mit seinem regulierten Felderwechsel von Schwarz und Weiß. Es ist der einfachste strukturale Rhythmus, der von der einfachen Reihung bis zu komplizierten Taktbildungen aufsteigen kann. Merkmal ist die Wiederholung einer Einheit. Man kann Teile fortnehmen oder hinzufügen, ohne den rhythmischen Charakter, der auf der Wiederholung beruht, zu verändern. 154 (Linie 153–157) Die Leitsätze Klees zu rhythmischen Strukturen sind: Rhythmen mit strukturalem Charakter nennt er »dividuell«. Nehme ich der Struktur diesen »dividuellen Charakter«, so komme ich zur »individuellen Gliederung«. Die dividuelle Struktur gibt das objektive regulierte System einer Struktur wieder. Ihr Charakter ist die ständige Repetition ihrer Momente, also die Folge 1 + 1. Ist die Regel einmal gegeben, bleibt sie fest und kann nicht verändert werden. Die »individuelle Struktur« gibt die individuellen Abweichungen von der objektiven Struktur wieder. Sie enthält die subjektive, nicht regulierte Seite eines Phänomens. So hat jede Pflanze eine feste Struktur bzw. einen festen Gliederungscharakter, etwa den Artnamen, der sie einer bestimmten Familie zuweist. Jede Pflanze, jedes Tier und jeder Mensch besitzen aber darüber hinaus auch ihre eigene Individualität, die sie zwar mit ihrer Art verbindet, ihn aber auch als Individuum heraushebt (BF 65–71) (BG I.4/2,16). 155 Dem Leitsatz Klees entsprechend heißt das: Der strukturale Charakter ist dividuell, der nicht strukturale ist individuell. Wie sieht diese Unterscheidung bildnerisch aus? Etwa beim Schachbrett. Das Schachbrett hat einen »dividuell strukturalen« Aufbau. Es hat einen regulierten Felderwechsel von Schwarz und Weiß. Anlässlich des

154 Das Motiv des Schachs kommt in allen Variationen vor, z. B.: Dreitacte im Geviert, 1930; Der blühende Garten, 1930; Blühendes, 1934; Kamel in rhythm. Baumlandschaft, 1920; Physiognomie einer Blüte, 1922; Vorhang, 1924. 155 Strukturalrhythmen und individuelle Gliederungen (Spiller1 231), (Wege 77). Hauptgegensatz Dividuell-lndividuell. Symbole der Dividualität und Individualität (Struktur, Faktur, Rhythmus) (Spiller1 237).

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Rhythmischen zum Beispiel. Der einfache Rhythmus entspricht der linearen Maßdarstellung. Ich kann die Darstellung aber innerhalb des Systems auch variieren, indem ich die schwarzen Felder dunkler oder heller mache, also individuell gestalte. Das wäre keine Maßdarstellung allein mehr, sondern eine individuelle Hell-Dunkel bzw. Gewichts-Darstellung. 156 Der Künstler skizziert in der genannten Vorlesung weitere Kompositionsschemen, die von sogenannten »qualitativen« Wertunterschieden geprägt sind. Unter »qualitativ« versteht Klee, dass sich die Energiefelder im Bild nicht durch ihre Größe (Quantität), sondern durch unterschiedliche Helligkeitsstufen (Qualität) auszeichnen. Klee ersinnt Bildstrukturen, etwa auf einem Schachbrett, deren Reizpunkte er sich als weiße, schwarze und abgestufte Grautöne vorstellt. Man kann sich die Erscheinung dieser fiktiven Bilder ähnlich wie das Ölgemälde Rhythmisches vorstellen, das sich aus weißen schwarzen und grauen Rechtecken zusammensetzt. Die »individuellen« Strukturen erfordern unterschiedliche Zeitmodi oder Tempi, worauf Klee eigens aufmerksam macht. In dem Kompositionsschema auf Folio 109 der Beiträge zur bildnerischen Formlehre (BF 109) werden die Reizwerte besonderer Felder nach ihren Reizwerten für das Auge dargestellt. Reizwerte sind Energieträger wie Hell-Dunkel. Reines Weiß wird durch das größte Rechteck im Zentrum herausgehoben, da dieser Lichtwert das Auge am stärksten anzieht. Von dort wandert das Auge in zeitlichen Schritten zu den Kästchen »zweitens« »drittens«, bis »neuntens«, welchen stufenweise immer mehr Schwarz beigemischt wird« (Linie 82). Es deutet sich bereits an, dass die genannten Leitsätze Klees, und insbesondere die der »dividuellen« und »individuellen« Strukturen für die graphische Darstellung von Bewegungsformen und für die Malerei von Klee wichtig werden, insbesondere für die Beschreibung von Organischem und Lebendigem, aber auch für die graphische Darstellung etwa der Musik.

156 Rhythmische Strukturen und Schachbrettmotiv wechseln bei Klee gerne ab: Rhythmisches, strenger und freier, 1930; Junger Garten (Rhythmen) 1927; Wandbild 1924.

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7.3.3 Bildnerische Mittel: Farbe Klee hat in seinem Vortrag in Jena nach der Vorstellung der beiden Bereiche der formalen bildnerischen Elemente und Mittel, Linie und Hell-Dunkel, den dritten Bereich, die Farben, angesprochen. Er spricht von der Eigenheit der Farben: »Drittens die Farben, welche offenbar wieder andere Charakteristika aufweisen. Denn man kommt ihnen weder mit Messen noch mit Wägen ganz bei: Da, wo mit Maßstab und mit Waage keine Unterschiede mehr festzustellen sind, zum Beispiel von einer rein gelben zu einer rein roten Fläche von gleicher Ausdehnung und gleichem Helligkeitswert, bleibt immer noch die eine wesentliche Verschiedenheit bestehen, die wir mit den Worten Gelb und Rot bezeichnen. So wie man Salz und Zucker vergleichen kann bis auf ihr Salziges und ihr Süßes. Ich möchte daher die Farben Qualitäten nennen« (Jena 87).

Der Bereich Hell-Dunkel führte Klee zum bildnerischen Mittel der Farbe über. Auch hier will Klee das Zeitmessverfahren anwenden: »Hell-Dunkel Zeitmeßverfahren in die Farbigkeit […] jeder Tonwertstufe entspricht je eine Farbe« (TB 879 871). Das Hell-Dunkel zeigt Klee den Weg zum Verständnis der Farbe. Er setzt für die unterschiedlichen »Tonwertstufen« des Hell-Dunkel unterschiedliche Farben ein. Es sind Wertestufen, die wie beim Hell-Dunkel zugleich Marker von Zeitdistanzen sind. Deshalb kann er auch die Farben mit dem »Zeitmessverfahren« angehen. Interessant in der Formulierung ist der Hinweis hinsichtlich der »Tonwerte« auf die Musik, die bei Klee eine große Rolle spielt, wie wir sehen werden. Nach den Tagebucheinträge hat Klee lange für den Weg zum rechten Verständnis des Hell-Dunkels und vom Hell-Dunkel zur Farbe gebraucht (s. Tagebuch). Farben nach dem Tagebuch Bekannt ist die begeisterte Aussage Klees bei Gelegenheit seiner Reise 1914 nach Tunis. Er bekennt in Kairouan: »Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiß das. Das ist der glücklichen Stunde Sinn: Ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler« (Tb 926). Anschauungen über Licht, Farbe, Kosmos und Musik wurden vor allem durch drei Begegnungen geprägt: die Begegnung mit dem Blauen Reiter, die Begegnung mit dem Werk Robert Delaunays und 290 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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die Begegnung mit dem Licht Nordafrikas. Seit 1911 stand Klee den Künstlern des Blauen Reiter in München nahe (Franz Marc, August Macke, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Alexej Jawlensky), deren gemeinsames Ziel ein meditativer, synästhetischer Expressionismus war. Harmonielehre und Kontrapunktik sollten die Malerei dazu befähigen, ihre Elemente – Farbe und Linie – ebenso zu gebrauchen wie die Musik die Töne. Man glaubte an die Kraft der Malerei, insbesondere mittels der Farbe die Empfindungen des menschlichen Gemüts mitzuteilen. Im Jahre 1912 reiste Klee nach Paris, wo er Delaunay und dessen sogenannten »Orphischen Kubismus« kennen lernte. Der Begriff des »Orphismus« (abgeleitet von Orpheus, dem griechischen Sänger zwischen Diesseits und Jenseits) wurde von Apollinaire in Bezug auf Delaunays Werk geprägt und umschreibt die ihm eigene »poetische und musikalische Sprache« sowie dessen spirituelle Aussagekraft der Farbe. »Orphismus« bezeichnet die Auffächerung der Farbe in das reine Sonnenspektrum, also die vom Gegenstandsbezug befreite, autonome Farbe, und die Überführung der kubistischen Bildkonstruktion mittels prismatisch gebrochener Farben in seelisch-subjektive Dimensionen (GS3 204 f.). 1914 unternahm Klee eine Reise nach Tunesien, die ihm endgültig die Offenbarung von Licht und Farbe brachte. In zahlreichen Aquarellen erhalten seine Farben zunehmend mehr Intensität und Transparenz. Das Erleben des nordafrikanischen Lichtes ist Katalysator für seine Selbstfindung als Maler: »Es dringt so tief und mild in mich hinein, ich fühle das und werde so sicher, ohne Fleiß. Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiß das. Das ist der glücklichen Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler« (Tb 926). Fasziniert von der konstruktiven Rhythmik der arabischen Architektur mit ihren Kuppeln und weißen Kuben findet er zu einer »Synthese aus Städtebauarchitektur« und »Bildarchitektur«. Seine Bilder werden zu »Farbarchitekturen«, zu »gebauter Farbe«. 157 Dieser Gedanke weist bereits in Richtung Bauhaus, das ihn in den 20er Jahren beeinflusste. Die Bauhaus-Idee betonte das Konstruktivistische im Bild. Dementsprechend wird bei Klee in seinen 157 Tunis war für Klee vielfach anregend: Hammamet, 1914; Vor den Toren von Kairuan, 1924; Stadt mit den drei Kuppeln, 1924; Rote und weisse Kuppeln, 1914; im Stil von Kairuan 1924; Stadt der Türme, 1916; Architektur 1923.

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Weimarer Jahren das Prinzip, das Bild aus geometrischen Farbflächen aufzubauen, noch gesteigert: mosaik- und glasfensterhafte Tafeln aus farbigen Quadraten und Rechtecken (sog. »Magische Quadrate«) und schachbrettartige Kompositionen überwiegen. Klee beginnt seine Vorlesung am 28. November 1922 über die Farbenlehre mit den Worten: »Ich will versuchen, Ihnen einiges Nützliches über die Farben zu sagen. Ich stütze mich dabei nicht auf mich selber, sondern übernehme, um Ihnen diese nützlichen Dinge zu übermitteln ohne Bedenken Gedanken von Leuten vom Fach und von anderen. Um einige wenige Namen herauszugreifen nenne ich Goethe, Philipp Otto Runge, dessen Farbkugel (die) 1810 publiziert wurde. Delacroix und Kandinsky (das Geistige in der Kunst)« (BF 153).

Klee erwähnt Delaunay nicht ausdrücklich. Und doch ist sein Besuch 1912 in Paris und seine Übersetzung eines französischen Textes ins Deutsche zu erwähnen. Delaunay wurde ohne Zweifel für Klee wichtig auf dem Weg zur Farbe. 7.3.3.1 Delaunay Imdahl geht der Geschichte der Farbe in der traditionalen Kunst Frankreichs nach, um die Stellung von Delaunay darin festzustellen. Die Entwicklung der Geschichte der Farbe in der neueren Zeit ist beträchtlich. Imdahl fasste die Entwicklung zusammen (s. oben). Paul Klee hat einen zentralen Text von Delaunay Über das Licht übersetzt und 1913 in der Wochenzeitschrift Der Sturm veröffentlicht. Franz Marc und August Macke hatten Delaunay in Paris besucht, Klee ebenfalls im Jahr 1912. Aus dieser Zeit stammen von Delaunay die farbigen Facettierungen der Fensterbilder sowie die Formes Circulaires. Diese Farbkreise in geometrisch-flächigen Strukturen inspirierten Marc und Macke zu abstrakten Kompositionen. Ebenfalls haben die Fensterbilder Klee geprägt. Wenn Paul Klee 1914 seine Reise nach Tunis unternahm und dort ausrief: »Jetzt bin ich Maler«, dürfte die Begegnung mit Delaunay als Vorgeschichte dazu gehören. Delaunay machte in der französischen Farbentradition einen weiteren entscheidenden Schritt. Bei ihm wird der Maler zum »Komponisten der Farbe«: das formale Bild-Sujet wird durch rhythmische Farbzellen aufgebaut. D. h. die Farbe bestimmt das Bild-Sujet, nicht 292 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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mehr – wie bisher – das Sujet (der Gegenstand) die Farbgebung. Das besagt, dass das farbige Bild eine Komposition für sich ist, ohne dingliche Gegenstände, oder die Malerei wird gegenstandslos. Als Grundlage der gegenstandslosen Malerei erkannte Delaunay das Gesetz der Simultankontraste der Farben. 158 D. h. der Maler komponiert das Bild durch das Auftragen verschiedener Farben, indem er zugleich die Farben zueinander kontrastiert und dabei simultan das Ganze im Blick hat und in der Hinsicht darauf das Einzelne zu einem Ganzen komponiert. Das Interesse an dem Text Delaunays und seine deutsche Übersetzung lassen vermuten, dass dieses Bekenntnis zur Farbe von 1914 eine gewisse Vorgeschichte in der Begegnung mit dem Künstler hatte. Deshalb mag der Text Delaunays in der Übersetzung von Klee von einigem Interesse sein: Über das Licht. Von Robert Delaunay. »Im Verlauf des Impressionismus wurde in der Malerei das Licht entdeckt, das aus der Tiefe der Empfindung erfaßte Licht als Farben-Organismus aus komplementären Werten, aus zum Paar sich ergänzenden Maßen, aus Kontrasten auf mehreren Seiten zugleich. Man gelangte so über das zufällig Naheliegende hinaus zu einer universalen Wirklichkeit von größter Tiefenwirkung (nous voyons jusqu’aux étoiles). Das Auge vermittelt nun als unser bevorzugter Sinn zwischen dem Gehirn und der durch das Gleichzeitigkeitsverhältnis von Teilung und Vereinigung charakterisierten Vitalität der Welt. Dabei müssen sich Auffassungskraft und Wahrnehmung vereinigen. Man muß sehen wollen. Solange die Kunst vom Gegenstand nicht loskommt, bleibt sie Beschreibung, Literatur, erniedrigt sie sich in der Verwendung mangelhafter Ausdrucksmittel, verdammt sie sich zur Sklaverei der Imitation. Und dies gilt auch dann, wenn sie, die Lichterscheinung eines Gegenstandes, oder die Lichtverhältnisse bei mehreren Gegenständen betont, ohne daß das Licht sich dabei zur darstellerischen Selbständigkeit erhebt. Die Natur ist von einer in ihrer Vielfältigkeit nicht zu beengenden Rhythmik durchdrungen. Die Kunst ahme ihr hierin nach, um sich zu gleicher Erhabenheit zu klären, sich zu Gesichten vielfachen Zusammenklangs zu erheben, eines Zusammenklangs von Farben, die sich teilen, und in gleicher Aktion wieder zum Ganzen zusammenschließen. Diese synchromische Aktion ist als eigentlicher und einziger Vorwurf (sujet) der Malerei zu betrachten« (KL 58–59).

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Z. B. Robert Delaunay, Simultanfenster auf die Stadt, 1912, Oel.

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Imdahl hat drei wichtige Ergebnisse des koloristischen Bildkonzepts Delaunays festgehalten. Ob Imdahl dabei von dem Text Über das Licht angeregt worden ist oder nicht, mag dahingestellt sein, doch ist nicht zu übersehen, dass der Text gerade diese drei Ergebnisse in Kurzform anspricht. Erstens das Verhältnis von »natürlichem« und »reinem« Sehen; zweitens das autonome koloristisch System gegenüber dem klassischen System der Zentralperspektive; und drittens wie die Kunst auf die Natur als »mouvement vital du monde« mit eigenen bildnerischen Mitteln antwortet (Farben 143–146). Der erste Fragenbereich betrifft das »natürliche« und das »reine Sehen«. Delaunays Antwort lautet: »cherchons à voir (man muss sehen wollen)«. Dieser Fragebereich entspricht dem Teil Über das Licht: »Solange die Kunst vom Gegenstand nicht loskommt, bleibt sie Beschreibung, Literatur, erniedrigt sie sich in der Verwendung mangelhafter Ausdrucksmittel, verdammt sie sich zur Sklaverei der Imitation […]. Man muß sehen wollen […].« »Natürliches« Sehen ist gegenständliches Sehen. Es ist von ›Literatur‹, Konvention u. a. geprägt. Es bedarf der Umwendung zum »reinen« Sehen (»peinture pure«, GS3 177). Es bedarf eines eigenen Elans, das natürliche Sehen gegen das reine Sehen einzutauschen. Dazu bedarf es aber eines eigenen Aktes: »Cherchons à voir« (man muss sehen wollen). Der zweite Fragebereich betrifft die Fundierung des koloristischen Systems. Kann das koloristische System der allgemein anerkannten wissenschaftlich ausgewiesenen Zentralperspektive etwas Entsprechendes entgegensetzen? Es ist die Frage nach dem vermeinten gewöhnlichen Blick auf die Natur und dem neuen Blick der Kunst. In Über das Licht heißt es dazu: »Die Natur ist von einer in ihrer Vielfältigkeit nicht zu beengenden Rhythmik durchdrungen. Die Kunst ahme ihr hierin nach, um sich zu gleicher Erhabenheit zu klären, sich zu Gesichten vielfachen Zusammenklangs zu erheben, eines Zusammenklangs von Farben, die sich teilen, und in gleicher Aktion wieder zum Ganzen zusammenschließen. Diese synchromische Aktion ist als eigentlicher und einziger Vorwurf (sujet) der Malerei zu betrachten«.

Zuerst ist zu fragen, welchen Blick die Zentralperspektive auf die Natur ermöglicht. Delaunay artikuliert die Natur als »mouvement vital du monde«. Er übernahm damit die Anschauung der lebendigen Natur von Henry Bergson. Die Natur ist »mouvement (Bewegung)« 294 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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und dazu »vital (lebendig)«. Delaunay hatte andererseits entdeckt, dass Farbbeziehungen einerseits räumliche Wirkungen hervorrufen und andererseits, daß die Farben ebenso wie die Form Rhythmus und Bewegung aus sich schaffen, also Bewegung hervorrufen. In seinen Fenétres simultanées ist die Farbe dementsprechend zum wesentlichen Kompositionselement geworden; sie sind eine Architektur aus leuchtend reinen Farben und klingen wie Musik. Imdahl urteilt deshalb: Die Vorstellung der Wirklichkeit des Kolorismus hat eine ähnliche Bedeutung wie die Zentralperspektive für den Linearismus. Erbringen nämlich die Strahlenlinien der Zentralperspektive einen Darstellungsgewinn dadurch, dass sie das Endliche als den Teil eines potentiell Unendlichen veranschaulichen, dass das räumlich Diskrete systematisiert erscheint und mithin räumlich verschiedene Positionen miteinander vermittelt werden, so synchronisieren die vielseitig zueinander- und auseinanderspielenden, hier sich bekämpfenden und dort sich ergänzenden Farben des Spektrums verschiedene Aktionen, sozusagen im Sinne einer ständigen und nicht aussetzenden Gleichzeitigkeit von Systole und Diastole. Nach einem Satz Goethes hat der »die Prinzipien des Kolorismus entdeckt«, der »aus Systole und Diastole die Farbenharmonie entwickelte«. Für die gegenstandslose Malerei ließe sich erwägen, ob nicht der von Delaunay erstrebte, praktizierte und theoretisch erörterte Kolorismus in eben demselben Maße zum Ausdruck einer zeitlichen Simultaneität wird, in welchem der zentralperspektivische Linearismus Ausdruck einer räumlichen Homogenität ist (nach GS3 211). Der dritte Fragebereich fragt danach, wie die Kunst auf die Natur als »mouvement vital du monde« mit eigenen bildnerischen Mitteln antwortet. Für Delaunay ist die Natur fraglos »un mouvement vital du monde«. Damit übernimmt er die Begrifflichkeit der lebendigen Natur Bergsons. Der Begriff ist ein zeitlicher Begriff und entspricht in etwa dem anderen bekannten Begriff Bergsons der »durée (Dauer)« (Farbe 145). Für Delaunay heißt die Antwort: Die »simultaneité rythmique« ist das künstlerische Äquivalent zur »mouvement vital du monde«. Der Ausdruck enthält die beiden Elemente der »Simultaneität« und des »Rhythmus«. Beide Begriffe sind für die bildnerische Auffassung Delaunays entscheidend. »Simultaneität« meint die kompositorische Beschaffenheit des Bildes, »Rhythmus« weist auf dessen innere Bewegtheit hin. Das künstlerische Äquivalent zur »mouvement vital du

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monde« ist das Bild als »forme en mouvement, statique – et dynamique« (GS3 179). 159 In Über das Licht heißt es dazu: »das Gleichzeitigkeitsverhältnis von Teilung und Vereinigung charakterisiert die Vitalität der Welt […]. Diese synchromische Aktion ist als eigentlicher und einziger Vorwurf der Malerei zu betrachten«. Dies ist eine genaue Umschreibung der »simultaneité rythmique«. Klee hat in seiner deutschen Übersetzung die »synchromische Aktion« mit »synchrone Aktion« wiedergegeben. Aber mit dem Kunstwort der »symchronischen Aktion« ist genaue der Vorgang der »simultaneité rythmique« gemeint. Sie ist »symchrom«, als Simultaneität der Farben, und sie ist »synchron« hinsichtlich der Gleich-Zeitigkeit. Sie ist »Simultaneität«, d. h. Verhältnis von Einzelnem und Ganzem, das koloristische System, und diese ereignet sich gleichzeitig, d. h. in der »Zeit«. Die »symchrone Aktion« ist beides, sie verbindet die Simultaneität der Farben mit der Synchronie der Zeit: »Das Korrelat zur Vitalität der Welt ist hier nach allem Gesagten nicht eine Bewegung des Auges, wohl aber eine Bewegtheit im Auge. Denn ohne äußere Bewegung kann das Auge zugleich sowohl die einzelnen Farben als auch deren Ensemble sehen, es kann zugleich sehen, wie zum Beispiel ein Rot mit einem einerseits benachbarten Gelb bei schneller Bewegung einen disharmonischen, spannungsvollen Kontrast und überdies mit einem andererseits benachbarten Grün bei langsamer Bewegung einen komplementären, harmonischen Kontrast bildet, wobei demnach die Dreiergruppe RotGelb-Grün sowohl spannende schnelle als auch entspannende langsame Sensationen in sich enthält, welche selbst, wiederum zugleich, durch andere hinzutretende Farben gestört und beschleunigt oder entstört und verlangsamt werden können, und so weiter und so fort. Das Auge sieht simul et singulariter. In dem Maße also, in welchem das Auge die Farben nicht sukzessiv, sondern simultan sieht, sie jeweils einzeln und allesamt in sämtlichen, Harmonien und Disharmonien sowie schnellere und langsamere Impulse […] zugleich erfährt, im selben Maße offenbart sich, nach Delaunay, dem Auge im Farbensehen zwangsläufig der gleichermaßen nicht als Sukzession sondern als Simultaneität von Gegeneinander und Zueinander vorgestellte ›mouvement vital du monde‹. Zu so komplexer Wahrnehmung ist nur das farbensehende Auge fähig, und so hat auch Delaunay bemerkt, daß die auditive Perzeption notwendig sukzessiv ist, mechanisch wie das Ticken der Uhr und also nicht ausreichend für unsere Kenntnis vom Universum. Das Auge kann dagegen die als Simultanaktion von Teilung und Vereini-

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Vgl. Imdahl, Farbe, a. a. O., 139.

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gung vorgestellte Vitalität der Welt sinnlich erfahren, und zwar bietet die Malerei, indem sie die Spektralfarben entsprechend benachbart und also das Auge entsprechend provoziert, den Stoff, an dem das Auge dies alles erfahren kann. Darin erkannte Robert Delaunay für sich selbst die einzige wahre Aufgabe der Malerei« (GS3 179, 210). 160

Die Kunst gibt die »Vitalität der Welt« wieder. Deshalb die Aufforderung des Textes: »Die Natur ist von einer in ihrer Vielfältigkeit nicht zu beengenden Rhythmik durchdrungen. Die Kunst ahme ihr hierin nach, um sich zu gleicher Erhabenheit zu klären, sich […] zu erheben zu einem Zusammenklang von Farben, die sich teilen, und in gleicher Aktion wieder zum Ganzen zusammenschließen« (KL 58–59). Simultaneität und »Zeit-Sinn« Der zentrale Begriff der »Komposition der Farbe« Delaunays ist die »simultaneité rythmique« (rhythmische Simultaneität). Dieser Aspekt der Simultaneität wird für Klee besonders wichtig. Er weiß von der Bedeutung der Simultaneität in der Musik und in der räumlichen Kunst. Aber für die Malerei tun sich besondere Schwierigkeiten auf. Diese hängen mit der Darstellung eines simultanen Ganzen zusammen. Das ist sprachlich schon schwierig. Denn die Sprache hält sich an die Sukzession der Aussagen. Simultan meint aber Mehrdimensionalität und diese ist nur zeitlich auszudrücken. Was Delaunay dem Auge zuschreibt ist das Sehen einer »mehrdimensionalen Gleichzeitigkeit«. Klee hat zu Beginn seines Jenaer Vortrags eigens auf das »simultan und singulariter« der Kunst hingewiesen: »Bevor ich mit der Klärung der Gebiete beginne, die ich mit Krone und Wurzel verglich, muß ich wieder einiges Bedenken vorausschicken. Es ist nicht leicht, sich in einem Ganzen zurechtzufinden, das sich aus Gliedern zusammensetzt, welche verschiedenen Dimensionen angehören. Und solch ein Ganzes ist sowohl die Natur als auch ihr umgeformtes Abbild, die Kunst. Es ist schwer, ein solches Ganzes, sei es Natur oder Kunst, zu übersehen, und noch schwerer ist es, einem andern zum Überblick zu verhelfen. Das liegt an den allein gegebenen, zeitlich getrennten Methoden, ein räumliches Gebilde so zu verhandeln, daß eine plastisch-klare Vorstellung sich einstellt. Das liegt an der Mangelhaftigkeit des Zeitlichen in der Sprache. Denn es fehlt uns hier an den Mitteln, eine mehrdimensionale Gleichzeitigkeit synthetisch zu diskutieren.

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Ebd. 141

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Zu jeder zeitlich verrinnenden Dimension sollen wir sagen: ›Du wirst jetzt Vergangenheit‹ ; aber vielleicht stoßen wir auf der neuen Dimension dereinst auf eine kritische, vielleicht glückliche Stelle, die deine Gegenwart wiederherstellt. Und wenn es uns bei mehr und mehr Dimensionen immer schwerer fallen mag, uns die verschiedenen Teile dieses Gefüges gleichzeitig zu vergegenwärtigen, so heißt es, sehr viel Geduld zu haben. Was den sogenannten räumlichen Künsten längst gelang, was auch die zeitliche Kunst der Musik mit klingender Prägnanz in der Polyphonie schuf, dieses simultane mehrdimensionale Phänomen, das dem Drama zu seinen Höhepunkten verhilft, kennen wir auf dem wörtlich-didaktischen Gebiet leider nicht. Der Kontakt der Dimensionen muß hier außerhalb eintreten; nachträglich. Und vielleicht kann ich mich doch so weit verständlich machen, daß das Phänomen des mehrdimensionalen Kontaktes dann an dem einen oder andern Werke leichter und eher erlebt werden kann« (Jena 82–86),

Der Begriff der Simultaneität erfährt bei Klee mit Delaunay eine besondere Akzentuierung. Ins Räumliche übertagen bedeutet er: gleichzeitiges Sehen von Oben und Unten, Hinten und vorne, Innen und Außen, Links und Rechts, hervorgerufen durch die Bewegung des Betrachters um das Objekt, das sich selbst in Bewegung befindet. In diesem Sinne kommt noch die Transparenz steigernd hinzu, durch die ein gleichzeitiges Umfassen des ganzen Objekts von einem Standpunkt aus vollziehbar wird. Daß dem Musiker Klee bei dieser Gestaltungslehre die Rhythmik im Sinne kompositioneller Gliederung besonders nahe ist, ist nicht erstaunlich. 7.3.3.2 Farbe – Qualität Klee fährt in seinem Vortrag in Jena mit der näheren Bestimmung der Farben als Qualitäten fort. »Ich möchte daher die Farben Qualitäten nennen. Wir haben demnach formale Mittel des Maßes, des Gewichtes und der Qualität, die trotz grundsätzlicher Verschiedenheit gewisse Beziehungen zueinander unterhalten«. Die Art der Beziehungen der formalen Mittel geht aus der folgenden kurzen Begründung hervor: »Die Farbe ist erstens Qualität. Zweitens ist sie Gewicht, denn sie hat nicht nur einen Farbwert, sondern auch einen Helligkeitswert. Drittens ist sie auch noch Maß, denn sie hat außer den vorigen Werten noch ihre Grenzen, ihren Umfang, ihre Ausdehnung, ihr Meßbares. Das Hell-Dunkel ist ers-

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tens Gewicht, und in seiner Ausdehnung beziehungsweise Begrenzung ist es zweitens Maß. Die Linie aber ist nur Maß« (Jena 87). »Da wären zunächst die drei Dimensionen der Elementarmittel: Maß, Gewicht und Qualität. In der konkreten Anschauung hingegen liegt eine Hierarchie, eine Art Schachtelungsverhältnis vor, denn eine konkrete Farbfläche spricht alle drei Dimensionen an. Sie besitzt Qualität, Gewicht (Hell-dunkel-Farbton) und Maß (Ausdehnung). Die Tonalität, konkret dargestellt z. B. durch eine grauschraffierte Fläche, besitzt Gewicht und Maß (Ausdehnung), die Linie nur Maß« (Jena 86–87). (Schmidt 9).

Folglich müssen die Farben laut Klee nach allen drei Richtungen untersucht und vorgestellt werden: Nach dem Maß, d. i. dem Messbaren an Umfang, Grenzen usw.; nach dem Gewicht, d. i. nach den Helligkeitswerten, und schließlich nach der Qualität, also den je eigenen Qualitätswerden. Die Farbe hat alle drei Gebiete der formalen Mittel zu durchlaufen. Denn die Farbe ist auch Maß. Sie nimmt die Eigenschaften der Linie und ihrer Bewegungsform an. Auch bei der Farbe herrscht keine Statik, sondern Dynamik. In der Farbe entfaltet sich das gleiche Bewegungs- und Beziehungsspiel wie bei der Linie, Fläche etc. Klee hat diese Untersuchungen in seinen Vorlesungen durchgeführt und behandelt. (Wege 87) »Das Ordnungssymbol der reinen Linie ist der lineare Maßstab mit seinen verschiedensten Längen. Das Symbol des reinen Hell-Dunkel ist die Gewichtsskala mit ihren verschiedenen Stufen zwischen Weiß und Schwarz. Welche Ordnung ist nun der reinen Farbe eigen? In welcher Ordnung drückt sich Ihr Wesen am besten aus?« (Jena 87).

Auf der Ebene der farbigen »Qualität« sind wieder alle Teiloperationen neu zu vollziehen, von Punkt zur Linie zur zweiten Dimension der Fläche. Die folgende Erweiterung in die dritte Dimension erfolgt jetzt nicht allein »durch das Maß der Perspektive und das Gewicht von Dunklem und Hellern, sondern durch die räumliche Distanzwirkung der Farbe untereinander (zum Beispiel geschichtete und sich durchdringende Farbflächen). Die Distanzwerte der Farben sind unterschiedliche Energiewerte für das Auge und haben somit zeitlichen Charakter. Das Raum-Zeitliche entwickelt sich so in den Bewegungsrichtungen der Farbe: im Sinne der Steigerung der Energie (von Weiß ansteigend zu Grün zum Beispiel); im Sinne der Steigerung der Helligkeit (von Violett zu Gelb zum Beispiel); im Sinne der einfachen komplementären Beziehungen (von Rot zu Grün zum Beispiel);

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oder im Sinne der farbigen Erhitzung (von Blau zu Orange zum Beispiel)« (BG II.21/54–69). 161

Farbsymbole – Die natürliche Erscheinung der Farben ist uns im »Regenbogen« gegeben. Beim Regenbogen erscheinen die Farben in »linearer« Darstellung (BF 154). Aber die Farben liegen dort nur linear nebeneinander und können nur approximativ gemessen werden. Das Wesen der Farbe vollendet sich im spektralen »Farbenkreis«, wo nicht mehr das »Hierhin« oder »Dorthin« herrscht, sondern das »Überall«. Klee nennt es die »unendliche (farbige) Bewegung«, da der Kreis an kein Ende kommt, sondern immer zum Anfang zurückkehrt, um erneut umzulaufen. Klee nennt den Farbenkreis das Symbol, »wo die reinen Farben in Wahrheit zu Hause sind« (BF 156). In der Kreisfläche erkennt Klee die Form, welche am besten fähig ist, über die gegenseitigen Beziehungen der Farben Wesentliches auszusagen. Der Farbenkreis kann dabei auf zwei unterschiedliche Weisen beschritten werden: Einmal als Bewegung in »diametraler« Richtung und zum anderen als Bewegung in »peripheraler« Richtung (BF 158). Die Beziehungen der Farbwerte auf dem Farbenkreis sind erstens »diametral«. Die Kontrastierung und Wertung von Farben in ihren verschiedenen Hell-Dunkel-Stufungen nannte Klee im Bauhausunterricht diametrale Farbstufung, da die Farben bei der Anordnung auf einem Kreis bzw. in einer entsprechenden dreidimensionalen Anordnung einander diametral gegenüberstehen. Und so wie es hier drei Diameter gibt, sind auch an diametralen Beziehungen hauptsächlich drei zu erwähnen, welche sind: Rot/Grün, Gelb/Violett und Blau/ Orange – es sind die wichtigsten komplementären Farbpaare. Der Maler bleibt nicht ans Schwarze und Weiße gebunden, er kann in seinem Spiel mit den Helligkeitswerten den ganzen Farbkreis peripher abwandern, also farbige Bewegung in Gelb, Grün, Blau usw. Er steigert die Operation, indem er sich radial durch den Farbkreis bewegt, dann schreitet er von Blau über Grau zu Orange oder von Grün über Grau zu Rot usw. Dabei bemerkt er nun, daß die Elemente des Maßes und des Gewichts nicht mehr ausreichen zur Kennzeichnung des neuen formalen Elements Farbe. Ein Rot auf einer Fläche wird nicht definiert durch seine Maße, obwohl es auch Elemente des

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(Wege 87) (Jena 88).

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Bildnerische Formlehre (BF)

Messbaren hat, auch nicht durch sein Gewicht, obwohl zum Beispiel ein Rot, auf unsere imaginäre Waage gelegt, schwerer ist als Blau, es wird definiert durch seine Qualität – Rot, Gelb, Blau. (Wege 86) Bei der »peripheralen« Bewegung dem Kreisumfang entlang wechselt je eine Haupt- oder Primärfarbe mit einer der wichtigsten Misch- oder Sekundärfarben ab, wobei diese Mischfarben (drei an der Zahl) zwischen ihre zugehörigen Komponenten oder Hauptfarben zu liegen kommen: Grün zwischen Gelb und Blau, Violett zwischen Rot und Blau und Orange zwischen Gelb und Rot. Johannes Itten listet die Gegensatzpaare, die sich aus dem Farbkreis ableiten lassen, wie folgt auf: beruhigend-erregend; dünn-dick; durchsichtig-undurchsichtig; fern-nah; feucht-trocken; schattig-sonnig; leicht-schwer; luftig-erdig 7.3.3.3 Kosmologie der Farben Klee gibt einer losen Abteilung der Gestaltungslehre den Namen »Kosmologie der Farben«. In einem graphischen Schema gibt er seine Farbenlehre in einer scheibenförmigen Erddarstellung wieder (BG 1.2/156). 162 In der Formlehre spricht er vom »Kanon der Totalität (der Farben)« (BF 180, 176–177) und fügt eine ähnliche graphische Zeichnung bei. In der Tat beschreibt Klee die Farben in kosmischen Dimensionen. In diese Richtung könnte schon ein Eintrag aus dem Jahr 1910 in das Tagebuch weisen: »Und nun noch eine ganz revolutionäre Entdeckung: Wichtiger als die Natur und ihr Studium ist die Einstellung auf den Inhalt des Malkastens. Ich muß dereinst auf dem Farbklavier der nebeneinanderstehenden Aquarellnäpfe frei phantasieren können« (Tb 873). Klee will Natur mit dem Griff in seinen Malkasten der Farben schöpferisch gestalten. Klee entwickelt seine Farbentheorie mit Blick auf die Schöpfung. Am Beispiel des Regenbogens führt Klee an, dass die Skala der reinen Farben sich niemals ganz diesseitig (irdisch) abspielen kann, sondern im irdisch-kosmischen Zwischenbereich der Atmosphäre dem menschlichen Auge vermittelt wird. Im Gegensatz zu Goethe, der in seiner Farbenlehre von der Natur und davon ausging, dass das »trübe Mittel« (die Atmosphäre) die Farbwirkung erst

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(Dreieck 112).

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eigentlich zustande bringe, Farben also als Produkte des Hell-Dunkel (vom farblosen Weiß des Lichtes bis zum Schwarz) versteht, leitet Klee das Hell-Dunkel von der »absoluten Farbe« ab. Für ihn sind daher nur im Irdischen die Farben durch das »trübe Mittel« verunklärt, »beschwert«. In dem Versuch, diese »kosmische« Farbe auch im Irdischen auszudrücken, malt er Bilder, bei denen sich »Hell-Dunkelbelastete Farben« an den Rändern zu lichten, reineren Tönen in der Mitte hin öffnen. Klee verstand die Reflexionen über die Farbenlehre nicht als reine kunsttheoretische Spielerei. Ebenso wie andere formale Elemente der künstlerischen Schöpfung sah er die Farbgebung als Voraussetzung für eine schöpfungsgleiche Erschaffung des Kunstwerks an, da die Kunst ebenfalls einen in sich geschlossenen formalen Kosmos bilde. In diesem Kosmos spielte die Farbe eine herausragende Rolle, weil sie im Gegensatz zum graphischen Element seiner Kunst als die individuellere, intuitivere und über das Irdische hinausweisende künstlerische Ausdrucksform galt. Das kosmische Element, das Klee in den einander aufhebenden Kontrasten und Gegensätzen seiner künstlerischen Werke sah, spiegelt sich unmittelbar in einem Farbschema wider (Spiller1 488) (BG 1.2/156), einem komplexen dreidimensionalen Gebilde weltanschaulicher Tiefe und weltübergreifender Tragweite. So ordnet Klee die Farb- und Helligkeitswerte in Gestalt von Kugeln an, die wie Planeten auf ihren Farb-Bahnen zu kreisen scheinen. Hierbei greift er auf vergleichbare Ansichten und Illustrationen Philipp Otto Runges zurück, doch lehnt sich Klee weitaus enger als sein romantischer Vorgänger an die traditionellen, eigentlich anachronistischen Darstellungen des Kosmos an, wie sie beispielsweise in den noch ptolemäisch inspirierten Varianten der Frühen Neuzeit illustriert wurden. Diesen wohl bewusst archaisierenden Illustrationsmodus wählte Klee auch für ein Farbschema in Gestalt eines »Pentagramms« (BG A/37) (Spiller1 507), das schon von seiner Form her magische Konnotationen aufweist: Es galt in der zeitgenössischen Kunstdebatte als Symbol des Kristallinen und somit des übergeordneten Weltganzen. Zudem erinnert das fünfeckige Farbschema Klees an ältere Mikrokosmosdarstellungen sowie an die traditionelle Gestalt von Horoskopen. Auch hiermit deutet der Künstler unmittelbar die Abhängigkeit der Farbwerte von den Einflüssen des Kosmos an. Die Farblehre, wie sie in den Lagenbildern und besonders im Gemälde Hauptweg und Nebenwege zum Ausdruck gelangt, hatte für Klee also eine zutiefst 302 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bildnerische Formlehre (BF)

kosmische Dimension und verweist darüber hinaus auf ein Geflecht komplexer kulturgeschichtlicher Traditionen. 163 Klee fasst im Jenaer Vortrag das Bisherige so zusammen: »Das Maß ist das Kennzeichen des Elements Linie, Gewicht des Elements Hell-Dunkel, Qualität des Elements Farbe; formale Mittel des Maßes, des Gewichts, der Qualität, die trotz grundsätzlicher Verschiedenheit gewisse Beziehungen zueinander entfalten. Farbe ist Qualität, Gewicht und Maß. Hell-Dunkel ist Gewicht und Maß. Linie ist nur Maß. Im Gebiet der rein kultivierten Farbe schneiden sich alle drei.« In diesen Dimensionen der bildnerischen Mittel allein entscheidet es sich, »ob Bilder geboren werden sollen oder etwas anderes«. Denn alles, was in der Kunst entstehen und ausgedrückt werden kann – Traum, Idee, Phantasie – »ist erst ganz ernst zu nehmen, wenn es sich mit den passenden bildnerischen Mitteln restlos zur Gestaltung verbindet. – Bei vorhandener Beherrschung dieser Mittel ist die Gewähr gegeben, die Dinge so tragfähig zu gestalten, dass sie auch in weiter dem Bewusstsein entlegenere Dimensionen reichen werden« (Jena 93–94).

7.3.4 gegenständliche Dimension: Konstruktion Gestalt Name Stil Die folgenden Gliederungspunkte des Jenaer Vortrages sollen nur noch kurz referiert werden. Klee fährt fort: »Dieses elementar-formale Gebiet verlassend, komme ich nun zu den ersten Konstruktionen mit den eben aufgezählten Elementen dreier Kategorien. Hier liegt der Schwerpunkt unseres bewußten Schaffens […] ein Gebilde zu konstruieren, welches man Gestalt oder Gegenstand zu nennen pflegt. […] Hier verdichtet sich unser professionelles Tun. Hier ist es kritisch« (Jena 88). »Und dann entspricht das erste konstruktive Zusammenwirken solcher Mittel der Dimension der Gestalt oder, wenn man will, der Dimension des Gegenstandes. An diese Dimensionen schließt sich nun eine weitere Dimension, nach der sich die Fragen des Inhaltes abspielen« (Jena 90).

163 Zöllner, Frank (1929), Paul Klee, Hauptwege und Nebenwege, in: Wallraf-RichartzJahrbuch, 61 (2000), 263–290, hier http://archiv.ub.uni-Heidelberg.de/artdok/voll texte/2006/173/ S. 9–10.

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Gliederung – Konstruktion Was mit Gliederung und Konstruktion gemeint ist, kann man leicht nachvollziehen. Boehm bringt dazu ein anschauliches Beispiel: Wie entsteht zeichnerisch ein Haus? Wir nehmen einen Zeichenstift in die Hand und verfahren, wie Klee es mit dem Spaziergang angedeutet hatte. Wir gehen mit Klee vor und in der Bewegung baut sich ein Element nach dem anderen auf, wie wir es bisher in der Formlehre verfolgt haben. Er möchte die Linie also nicht gezogen denken, sondern sie spazieren gehen lassen, als ein »agens« aktivieren, als einen »Punkt, der sich verschiebt. An diesem Beispiel wiederholen sich die bisher entwickelten Momente der formalen Elemente und der formalen Mittel der Kunsttheorie Klees und werden anschaulich.

Abb. 11: Schemazeichnung eines Hauses (aus Boehm 123–127)

Was zuerst erscheint, ist ein Punkt auf einer hellen Fläche; dann eine gerade, vertikale Linie (Boehm 124 Abb. 55 a–d). Es zeigt sich zunächst die Linie samt Abständen zu den Seiten. Dann: ein zweiter, vertikaler Strich, parallel in einigem Abstand. Das bereits Beobachtete kompliziert sich. Manifest bleibt die dürftige Faktur – Linien aus Blei auf Papier, in einer entschiedenen Anordnung. Erkennbar aber wird bereits, dass da zwei Striche in ein Feld hineingetragen wurden, sich ein Innen gegenüber einem Außen zu konstituieren beginnt. Der dritte Strich zweigt vom ersten schräg nach oben rechts ab. Da wir zum Begriff des Hauses unterwegs sind, beginnt sich jetzt etwas zu zeigen. Jetzt kann man erstmals mehr sagen: nicht nur ein dritter Strich, sondern zugleich auch ein halbes Dach. Das Faktische der Linien springt in etwas Sinnträchtiges um. Wir sind nahe am Ziel. Und tatsächlich: der vierte Strich, der von der zweiter Linie nach links abbiegt, trifft sich mit der ersten Schräge: und fertig ist das Haus! Eine elementare Ansichtigkeit hat sich Schritt für Schritt aufgebaut, die mit dem vierten Zug sinnlich vors Auge tritt. Wir haben es mit einer der Ausformungen dessen zu tun, was man den Anfang,

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die Urszene des Ikonischen nennen kann: das Aufsteigen eines Sinnhaften aus materiellen Substraten. Weitere Zeichnungen (Boehm 125 Abb. 56 a–c) demonstrieren, wie wenig selbstverständlich es ist, zeichnend beim Anblick eines Hauses anzukommen. Nur ein Strich daneben, nur einer außer Kontrolle, und schon ist der Umkreis möglicher Häuser verlassen (Boehm 123–125). Was sagt diese einfache schematische Zeichnung eines Hauses über das Verfahren des Ikonischen? »Betrachten wir diesen Gedankengang abschließend nochmals den L=Platz im Bau (→ Abb. 1, S. 465) mit seinen Häusern. Wie steht es nun wirklich mit dem Verhältnis zwischen ›dem‹ Begriff und ›einem‹ Haus: einem der Häuser in der Vielfalt der möglichen? Was sehen wir? – Wir sehen, wie dieses Haus aussieht – Wir sehen, wie Häuser überhaupt aussehen können – Wir sehen, wie Klee Häuser darstellt – Wir sehen den Unterschied von Kunsthäusern und solchen auf einem wirklichen L-Platz – Wir sehen die Logik des bewegten Augenpunktes und Muster, perspektivischer Abweichungen – Wir sehen die Differenz von Linie und Farbe – Wir sehen, wir sehen … noch viel mehr und nichts Beliebiges. Mit anderen Worten, dieses Bild eröffnet einen gleichermaßen distinkten wie weiten Spielraum des Möglichen, innerhalb dessen bestimmte Entscheidungen getroffen worden sind. Im Bild zeigt sich also nicht ›der‹ Begriff des Hauses im Sinne einer repraesentatio singularis, sondern: so etwas wie ein Haus. So etwas wie – ist eine sprachliche Wendung, gleichsam mit langer Leine, was der Umkreis der Schema-Regel eröffnet« (Boehm 127).

Das Ikonische stellt keine Begriffe her oder dar. Es eröffnet Möglichkeiten. Es stellt Modelle oder Schemata zur Verfügung, die noch nicht Wirklichkeit sind, aber an der Wirklichkeit überprüft werden können. Es sei an Musil mit der Unterscheidung von »Möglichkeit« und »Wirklichkeit« erinnert. Namen Bisher haben wir es mit möglichen Gebilden und Gestalten zu tun. Nach Klee ist ein nächster Schritt zu vollziehen. »Zu Gebilden, die abstrakt Konstruktionen heißen mögen, konkret je nach der Richtung der herangelockten vergleichenden Assoziation Namen wie Stern, 305 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Vase, Pflanze, Tier, Kopf oder Mensch annehmen mögen« (Jena 90). Die bildnerischen Gestalten erhalten Namen.

7.3.5 stilistische Dimension – Komposition Ausdruck »Gewisse Maßverhältnisse der Linien, die Zusammenstellung gewisser Töne aus der Hell-Dunkel-Skala, gewisse farbige Zusammenklänge bringen jeweils ganz bestimmte und ganz besondere Arten des Ausdrucks mit sich« (Jena 90).

Stil »Und jede Gestaltung, jede Kombination wird ihren besonderen konstruktiven Ausdruck heben, jede Gestalt ihr Gesicht, ihre Physiognomie. Solche drangvolle Gebärde weist besonders deutlich nach der Dimension des Stils. Hier erwacht die Romantik … Unser Gebilde hat in der beschriebenen Weise nachgerade so viele und importante Dimensionen durchlaufen, daß es unbillig wäre, jetzt noch Konstruktion zu ihm zu sagen. Wir wollen ihm von nun an den tönenden Namen Komposition gerne zugestehn« (Jena 92).

Wohl für das Sommersemester 1924 ergänzte Klee die Vorträge vom 11. und 18. März mit weiteren Beispielen von gehemmter Bewegung des Menschen. Anschließend leitete er von der Situation des Menschen ins Gebiet des Stils über, da »der Stil im Grund die menschliche Einstellung zu diesen Fragen des Diesseitigen [statischen] und des Jenseitigen [dynamischen]« sei (BG II.21/88). Die architektonischen Stile werden aufgrund ihrer statischen oder dynamischen Ausrichtung analysiert. Am Ende der Vorlesungen zur Bildnerischen Mechanik kam Klee zum Schluss, dass in der ideellen bildnerischen Gestaltung eine absolute Dynamik möglich sei. Im selben Kapitel befinden sich einige lose Blätter, die ebenfalls von statischer und dynamischer Bewegung und vom davon abhängenden Stil handeln.

7.4 Bildnerische Gestaltungslehre (BG) Klee stellte am 19. Februar 1924, in der ersten Vorlesung zur bildnerischen Mechanik, fest, dass die Definitionen der Begriffe »Mechanik«, »Statik« und »Dynamik«, die er einem Philosophischen Wörterbuch 306 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bildnerische Gestaltungslehre (BG)

(1916) entnahm, nur bedingt stimmten. Denn »Bewegung ist in Wahrheit Norm. Und wenn Bewegung in Wahrheit Norm ist, dann ist auch Dynamik Norm. Norm heisst gewöhnlich Zustand. Der gewöhnliche Zustand der Dinge im Weltraum ist also: der Zu-stand der Bewegung« (BG II.21/6). Der Schein der Statik sei trügerisch, denn alle Dinge und Lebewesen bewegten sich gemeinsam. In der ›anthropologischen‹ oder ›biologischen‹ Analyse der Bildmittel lässt sich eine Erklärung dafür finden, warum Klee im Gegensatz zu Kandinsky oder zu anderen geometrischen Elementarisierungen die vielfältigsten Verbindungen mit dem Naturstudium, mit der Darstellung von Vorgängen in der Natur, mit der Darstellung der physischen und psychischen Bewegungen, mit der musikalischen Darstellung eingehen konnte (Geo 87). Auf die Bedeutung der Natur für Klees Lehre und Werk wurde in der Forschungsliteratur mehrfach hingewiesen. Obwohl immer wieder hervorgehoben wird, dass Klees Naturbegriff eng mit der Vorstellung der ›natura naturans‹ verknüpft ist, werden vor allem pflanzliche Motive in den Unterrichtsnotizen und in den Kunstwerken verglichen und miteinander in Verbindung gebracht. Eine solche motivische Engführung von Werk und Lehre ist zwar nicht falsch, sie sagt jedoch noch wenig über die Bedeutung der Natur im Unterricht aus. Denn diese liegt darin, das Prozesshafte der bildnerischen Gestaltung zu veranschaulichen. Die Natur ist in diesem Sinne »nur« Mittel zum Zweck. (Schöpfung 7) Klee hatte die frühere Bildnerische Formlehre weitergeführt in der Bildnerischen Gestaltungslehre. Er ist sich des Fortschritts hinsichtlich der Bewegungslehre sehr bewusst. Er leitet die Bildnerische Gestaltungslehre ein: »Die Lehre von der Gestaltung befasst sich mit den Wegen, die zur Gestalt (Form) führen. Es ist wohl die Lehre von der Form, jedoch mit Betonung der dahin führenden Wege. Das Wort Gestaltung charakterisiert das eben gesagte durch seine Endung. ›Formlehre‹, wie es meist heißt, berücksichtigt nicht die Betonung der Voraussetzungen und der Wege dahin. Formungslehre ist zu ungewohnt. Gestaltung knüpft in seinem Sinne außerdem deutlich an den Begriff der zu Grunde liegenden Voraussetzungen an. Und ist darum desto mehr vorzuziehen. ›Gestalt‹ (gegenüber Form) besagt ausserdem etwas lebendigeres. Gestalt ist mehr eine Form mit zugrunde liegenden lebendigen Funktionen. Sozusagen Funktion aus Funktionen« (BG I.1/2).

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In der Bildnerische Formlehre hat Klee Vorgänge aus der Natur, organische, physische und psychische Bewegungen zur Anschauung seiner Formlehre angeführt. In der Gestaltlehre haben die Themen des Lebendigen, des Physischen, Organischen und Menschlichen nicht mehr nur Anschauungscharakter, sondern sie sind Thema des Werdens und des Hervorgangs ihrer Gestalt. In der Einleitung bezeichnet Klee deutlich die Veränderung und den Fortschritt der Gestaltungslehre gegenüber der Formlehre. »Form« meint eine feste Gestalt; »Gestaltung« spricht den Weg an, der zur Form bzw. zur festen Gestalt führt. Gestaltung verfolgt also den Weg zur festen Gestalt, zur Form. Der Grundbegriff der Gestaltungslehre ist somit »Weg« bzw. »Be-wegung«, Prozess und Dynamik. Die Gestaltungslehre ist eine wichtige Vertiefung der Formlehre. Klee behandelt besonders in der Abteilung Mechanik den Begriff der »Bewegung« erneut und vertieft (BG II.21). Zu diesem Kapitel Mechanik ist eine Bemerkung Klees überliefert. Gegenüber der Formlehre, die es mit den elementaren festen Formen zu tun hat, die sich bewegen, ist die Gestaltungslehre darum bemüht, die innere Dynamik der Bewegung darzustellen: »Der Mechanik untergeordnet: Statik: Lehre vom Gleichgewicht. Dynamik: Lehre der Kräfte aus dem Bewegungszustand. Kinematik: Lehre der Bewegung. Dynamische Vorgänge haben innerhalb der Kunst insofern etwas zu tun, als sie sich gegenseitig im Gleichgewicht halten, also zur Statik gehören« (Spiller1 393). (KL 370)

Im I. Allgemeinen Teil der Bildnerischen Gestaltungslehre (BG I) sind Notizen abgelegt, die Grundsätze der bildnerischen Gestaltung enthalten. Klee betont, dass es in seiner Lehre darum gehe, das Werden einer Form zu vermitteln. Klee erklärt Gestaltungslehre als Vertiefung der Formlehre. Deshalb vertieft er noch einmal die Entstehung der bildnerischen Elemente – Punkt, Linie, Fläche und Körper –, sowie der bildnerischen Mittel – Linie, Hell-Dunkel und Farbe – mit der Bewegung aus dem Punkt heraus. Dabei verfolgt er die Bewegung der bildnerischen Elemente nicht nur als formale Elemente, sondern dynamisch in ihrem Werden vom Ursprung an, nicht nur geometrisch oder ideell, sondern geradezu kosmisch und schöpferisch. Dazu sei die Bewegung zwischen zwei gegensätzlichen Polen wie dem Chaos und dem Kosmos (Ordnung) oder der »Statik« und der »Dynamik« nötig. Die allgemeine, absolute Ordnung der forma308 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bildnerische Gestaltungslehre (BG)

len Elemente bezeichnete er als »principiell«. Die principielle Ordnung hatte er weitgehend in der Formlehre abgehandelt. Um eine lebendige Gestaltung zu erreichen, müssen die bildnerischen Elemente und Mittel »speciell«, d. h. ungewöhnlich, lebendig oder individuell entwickelt werden. Klee zeigt die verschiedenen Möglichkeiten der »speciellen Ordnung« oder Gliederung mit den bildnerischen Elementen und Mitteln auf (BG I.2). So sind etwa aus einem lebenden oder menschlichen Organismus einzelne oder mehrere Organe herauszugreifen und eigens zu behandeln. In der Einleitung zum Kapitel Specielle Ordnung formuliert Klee: »Gestaltung muss mit dem Begriff der Bewegung verbunden sein. Im principiellen Fall endet die Beweglichkeit in starrer Ruhe (z. B. in einem bestimmten Organismus). […] Der ganze ›Bau‹ der Gestaltungsmittel ist, einmal errichtet unverrückbar, unveränderlich, einmalig. Daher der Terminus principiell. Man kann nicht sagen: machen wir das noch einmal anders oder besser. Vollkommenheit ist hier absolut. Die eigentliche lebendig bewegte Gestaltung hat sich daher von der principiellen Ordnung loszulösen, und jeweils ein oder mehrere Organe jenes Organismus herauszugreifen und für sich zu einer organischen Vollendung neuzuordnen. Die Möglichkeiten gehen zur Vielmaligkeit über, zur unendlichen Variabilität [specielle Ordnung]« (BG I.3).

Deshalb behandeln im I. Allgemeinen Teil über die Farben die Kapitel Principielle Ordnung: die Farbe in Ruhe (BG I.2) und Specielle Ordnung: die Farbe in Bewegung (BG I.3). Unter dem II. Teil Planimetrische Gestaltung sind die Kapitel BG II.5–23 abgelegt, die sich mit zweidimensionalen Formen beschäftigen. Nach der Herleitung und Beschreibung der Wege, die zu den Elementarformen Kreis, Dreieck und Quadrat führen, werden diese anschließend auf ihre Innenkonstruktion hin untersucht. Klee führt analoge Untersuchungen hinsichtlich der Bewegung an wie bei den elementaren Formen Linie, Fläche, Raum. Klee ist dabei darum bemüht, die planimetrischen Konstruktionen auf ihre Entstehung hin zu analysieren. Unter dem III. Teil Stereometrische Gestaltung ist das Kapitel BG III.24 eingefügt. Nach der ausführlichen Behandlung der Fläche beschäftigte sich Klee abschließend im III. Teil, den Klee nicht unterteilte, sondern als Kapitel III.24 Stereometrische Gestaltung aufführte, mit der Darstellung der dreidimensionalen Körper Kubus,

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Pyramide, Oktaeder, Hexaeder, Kugel und Kegel und ihren dynamischen Bewegungseigenschaften.

7.4.1 Schöpfung Die Bewegung ist für Klees Bildnerische Gestaltungslehre zentral. Er stellt seine weitere Lehre ganz unter den Aspekt der Bewegung. In der Einleitung zur Gliederung wies Klee seine Schüler auf die Abhängigkeit der fertigen Form vom Entstehungsprozess bzw. Bewegungsprozess hin. In der Mechanik macht Klee die »Bewegung« zum ausdrücklichen Thema. Er beginnt paradigmatisch für die Gestaltlehre mit dem Gestaltwerden des Punktes. Der Punkt als Ursprung der Gestaltung muss dynamisch in Bewegung gesetzt werden, damit eine Form entsteht. Dass sich Klee dabei auf die natürlichen Wachstumsprozesse bezog, um die Bedeutung der Bewegung in der künstlichen Schöpfung zu erklären, ist nicht weiter erstaunlich, denn »Bewegung liegt allem Werden zugrunde« (SK 78). Es handelt sich dabei um den Kernsatz seiner Gedanken zur Schöpfung. Er offenbart sein universales Denken, denn die Bewegung ist nicht nur für die künstlerische Schöpfung zentral, sondern schöpferisch für die Entstehung »aller Dinge«, wie er im Textentwurf präzisierte. In der »elementaren Lehre vom Schöpferischen« (BG I.2/78) fasst Klee die wichtigste Erkenntnis der principiellen Ordnung zusammen: Das Verhältnis von Formung zu Form ist prinzipiell. Bewegung ist Voraussetzung für Formung. Formung bestimmt die Form und steht daher über ihr. Form ist also niemals nur Resultat, nie bloß als Ende, sondern immer als »Genesis«, als Werden, zu verstehen. Am Anfang der Vorlesungen zur Mechanik spricht Klee von der »Kosmogenesis als Grundlage« (BG II.21/129) (Schöpfung 146). Im Unterricht untersuchte Klee die für die Entstehung der bildnerischen Gestaltung verantwortlichen Bewegungsarten. Er setzte anstelle des statischen Prinzips der klassischen Kunst »das dynamische [Prinzip] des universellen Lebens« (Schöpfung 170). Klee nennt die Bildnerische Gestaltungslehre auch »unendliche Naturgeschichte« (BG II.21/130). In einer anderen Mappe mit dem Titel »Stil kosmohistorisch od. kosmogenetisch entwickelt« ist der Text der Unendlichen Naturgeschichte abgelegt. Klee beschrieb darin den Urzustand der »Gravi-

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Bildnerische Gestaltungslehre (BG)

tationslosigkeit« und die erste Tat, welche zur Gravitation führte (BG II.21/125–128). 164 Genesis »ab ovo« Für Paul Klee ist der Punkt nicht nur das Urelement der bildnerischen Gestaltung »Der Punkt liegt allem zu Grunde und ist also Urelement der Gestaltung« (BG I.3/6). »Der Punkt ist kosmisch« (BG II.21/122). Der Punkt ist kosmologisch der »Urpunkt« (BG II.6/102) (BG A/36), ist der Anfang »in ovo« (BG II.6/102). Diese Vorstellung entspricht etwa der Anschauung von der »Urpflanze« bei Goethe (Linie 27). Für Klee ist das Samenkorn das Paradigma für die Dynamik des Punktes. Am 5. 11. 1923 notiert er: »Das Samenkorn ist trotz primitiver Kleinheit ein höchstgeladenes Kräftezentrum. In ihm ist der bestimmte Anstoss eingeschlossen ganz ausgesprochen verschiedenartige Formergebnisse zu zeitigen. […] Ein gewisser Anlass von aussen, die Beziehung zur Erde und Atmosphäre erzeugt die Fähigkeit zu wachsen. Der schlummernde Formungs- und Gliederungswille erwacht in seiner genauen Bestimmtheit, der Bestimmtheit mit Bezug auf die zugrunde liegende Idee, auf den Logos oder wie übersetzt wurde: das Wort, welches im Anfang war. Das Wort als Voraussetzung, als Idee zur Genesis eines Werkes: Abstrakt gedacht haben wir hier den gereizten Punkt als latente Energie. Der Punkt im Begriff bei dem geringsten Anlass aus seiner Bewegungs-Verborgenheit hervorzutreten, sich fortzubewegen, eine Richtung oder Richtungen anzunehmen. Linear zu werden. Konkret-bildlich, das Samenkorn treibt Wurzel, die Linie richtet sich zunächst erdwärts aber nicht um da zu leben, sondern nur Kräfte zu holen zum Aufbau ins Luftreich« (BG I.2/7–8).

Bonnefoit geht auf die Traditionen ein: »Das Weltall ist in ovo«. Sie bezieht sich auf einen Bericht aus der Jüdischen Kabbala (Linie 32 ff.) 165: Als der Verborgene sich offenbaren wollte, begann er (zunächst) einen leuchtenden Punkt hervorzubringen. Bevor der leuchtende Punkt zum Durchbruch und zum Vorschein gekommen war, war der Unendliche (En-Soph) ganz verborgen und verbreitete kein Licht. Dieser leuchtende Punkt wird im Folgenden als Urpunkt bezeichnet: Von dem Urpunkt (= 0) bis zur letzten aller Stufen bildet immer eins die Schale (= Hülle) der anderen.107 Die Tatsache, dass Vgl. (Spiller1 3–7); (Geo 88 f.). Es handelt sich dabei um eine Textstelle über Die Elemente der Kabbalah von Erich Bischoff (1913), die Hans Kayser (1926), Orpheus. Vom Klang der Welt, wiedergab. Potsdam; s. (Linie 32 und Anm. 107). 164 165

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Paul Klee

sich die Begriffe »ovum«, »Urpunkt« und »Schale« in Hans Kaysers Werk, des Musikwissenschaftlers, wiederfinden, genügt für eine Identifikation der Quelle, die Klees Skizze zugrunde liegt. Es handelt sich um die jüdische Geheimlehre, die aus den verschiedensten Elementen besteht und sich stellenweise an die Bibel anlehnt. Ihr wichtigstes Werk ist das Buch Sofar, das von der creatio ex nihilo ausgeht. In ihm erscheint das Bild des Urpunkts, der im Anfang aus der Quelle des Nichts entsprang. Er ist der Uranfang der Schöpferkraft und damit der ihr zugeordneten Schöpfung. 166 Der Punkt nimmt in der Kunsttheorie von Klee einen symbolischen Charakter an. Für Klees Anschauungen sind die Ausführungen Christian von Ehrenfels (1859–1932) aufschlussreich. Für seine Kenntnis von Ehrenfels Kosmogonie sprechen gedankliche und terminologische Übereinstimmungen. 167 Vom Chaos des Weltanfangs spricht Klee »weltschöpferisch« (kosmogenetisch). »Es ist der mythische Urzustand der Welt, aus dem sich erst allmählich oder plötzlich, aus sich selbst, oder durch die Tat eines Schöpfers der geordnete Kosmos bildet«. Wie Ehrenfels bevorzugt Klee jene Formel, die Goethe im Faust anstelle des biblischen Satzes »Im Anfang war das Wort« setzt: »Im Anfang war die Tat«. Um es zur Tat kommen zu lassen, bedarf es sowohl für Ehrenfels als auch für Klee eines Anreizes von außen. Wie Klee in der Principiellen Ordnung (BG I.2/76) ausführt, liegt in dem Wort »gereizt« die ganze Voraussetzung zum tätigen Anfang eingeschlossen. Das Wort »gereizt« bezeichnet die Vorgeschichte einer anfänglichen Tat, ihren Zusammenhang mit dem Vorzeitigen, die Verbundenheit nach rückwärts. Was in Ehrenfels Kosmogonie »Reiz« und »im Anfang war die Tat« heißt, wird bei Klee zu »gereizt«, zu »tätigem Anfang« und »anfänglicher Tat«. Mit der Einführung des Punktes ist für Klee der konkrete »kosmogenetische Moment« gegeben. Dieser liegt in der »Feststellung eines Punktes im Chaos […]. Von ihm strahlt die damit erweckte Ordnung nach allen Dimensionen aus«. Für Klee endet alles Wissen der Menschheit beim »gereizten Punkt«, aus dem sowohl der Kosmos als auch das Kunstwerk entstehen. In dieser Analogie liegt für ihn die theoretische Basis für die Gleichsetzung von »Werk- und Weltenschöpfung«. 168 (Linie 32) 166 167 168

Scholem, Gershom (1992), Das Geheimnis der Schöpfung, Frankfurt. Christian von Ehrenfels (1916), Kosmogonie, Jena. Interessant der Unterschied von »Weltschöpfung und Werkschöpfung« bei Klee

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Bildnerische Gestaltungslehre (BG)

Analog zum natürlichen Ursprung wurde auch dem bildnerischen Ursprung eine gewisse latente Kraft zugeschrieben, die den bildnerischen Punkt in Bewegung setzen kann. Klee sprach daher vom »gereizten« Punkt auch als Ursprung der Gestaltung. Weil der Urpunkt »gereizt« sein muss, bietet sich der Vergleich mit dem Samenkorn und dem Ei an. Es braucht eine gewisse Kraft oder einen Trieb, damit der »Urpunkt« in Bewegung kommt. Wichtigste Voraussetzung für die bildnerische Tat ist die Bewegtheit. Man muss »gereizt«, »geladen«, bewegt sein, um bewegende Werke zu schaffen. Der Ursprung ist immer in Bewegung und deshalb kaum fassbar (BG I.2/76). (Schöpfung 145) Kunst als Schöpfung 169 Der Punkt als »Urelement«, der »Urpunkt« als Anfang des Kosmos, ist biologisch die »Urzelle« »ab ovo«. (Schöpfung 141 ff.). Im Samenkorn sind latente Kräfte verborgen, die den ›(Ur)Sprung‹ aus dem ruhigen in den bewegten Zustand bringen. Klee vergleicht das gesamte Kunstschaffen als schöpferische Tätigkeit: »Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig, sie ist ein Beispiel, ähnlich wie das Irdische ein kosmisches Beispiel ist. Die Freimachung der Elemente [der bildnerischen Mittel], ihre Gruppierung zu zusammengesetzten Unterabteilungen, die Zergliederung und der Wiederaufbau zum Ganzen auf mehreren Seiten zugleich, die bildnerische Polyphonie, die Herstellung der Ruhe durch Bewegungsausgleich, all dies sind hohe Formfragen, ausschlaggebend für die künstlerische Verständlichmachung, aber noch nicht Kunst im obersten Kreis. Im obersten Kreis beginnt das Geheimnisvolle und der Intellekt erlischt kläglich« (SK 80).

Im Gegensatz zu Franz Marc suchte Klee nach einem »entlegeneren, schöpfungsursprünglicheren Punkt, wo [er] eine Art Formel ahnte für Tier, Pflanze, Mensch, Erde, Feuer, Wasser, Luft und alle kreisenund Kandinsky, die zwar die gleiche Formulierung verwenden, aber nach ihren unterschiedlichen Konzeptionen ein anderes Verständnis haben. Kandinsky: »Ich denke, daß dieser seelische Prozeß der Befruchtung vollkommen dem physischen Prozeß der Geburt des Menschen entspricht. Vielleicht entstehen genau so die Welten. Das Malen ist ein donnernder Zusammenstoß verschiedener Welten, die in und aus dem Kampf miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind. Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entsteht, durch Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluß eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung« (Rb 25), (Abstrakt 42). 169 S. (Schmidt 4); zu »Genesis« s. (Jena 92 f.).

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Paul Klee

den Kräfte zugleich« (Tb 1008). Damit meinte Klee eine Weltformel, der alle Schöpfung zugrunde liege und die ihm erlaubte, der Genesis Dauer zu verleihen. (Schöpfung 159) »Der Begriff der Genesis bezeichnet also keinen (statischen) Zustand des Kunstwerks, er beinhaltet vielmehr den Begriff der Potentialität: Die Formen bestimmter Dinge tauchen auf und verschwinden wieder. Neue Formen treten in Erscheinung und lösen sich wieder auf. Die andauernde Genesis eines Kunstwerks demonstriert die changierenden Einbettungsverhältnisse, die unterschiedlichen ›Wahrheiten‹, in denen wir uns und die Gegenstände vorfinden. Deshalb erscheinen die Dinge ›in erweitertem und vermannigfachtem Sinn, der rationellen Erfahrung von gestern oft scheinbar widersprechend‹« (SK 79). (Schmidt 3–4)

Klee sieht in dem Weg des Künstlers den Weg »Vom Vorbildlichen zum Urbildlichen«. So formuliert er bereits in seinem Vortrag von Jena 1924: »Vom Vorbildlichen zum Urbildlichen! […] Berufen aber sind die Künstler, die heute bis in einige Nähe jenes geheimen Grundes dringen, wo das Urgesetz die Entwicklungen speist. Da, wo das Zentralorgan aller zeitlichräumlichen Bewegtheit, heisse es nun Hirn oder Herz der Schöpfung, alle Funktionen veranlasst, wer möchte da als Künstler nicht wohnen? Im Schosse der Natur, im Urgrund der Schöpfung, wo der geheime Schlüssel zu Allem verwahrt liegt? […] Unser pochendes Herz aber treibt uns hinab tief hinunter zum Urgrund, was dann aus diesem Treiben erwächst, möge es heissen, wie es mag, Traum, Idee, Phantasie ist erst ganz ernst zu nehmen, wenn es sich mit den passenden bildnerischen Mitteln restlos zur Gestaltung verbindet« (Jena 93). (Schöpfung 151)

Vom Künstler sagt Klee, er solle den »unendlichen Funken« aufnehmen und dem göttlichen Kraftquell »entgegengehen, soweit es eben geht«. Dann kann er von sich sagen: »Alles Faustische liegt abseits von mir. Ich nehme einen entlegeneren, ursprünglichen Schöpfungspunkt ein, wo ich Formeln einsetze für Mensch, Tier, Pflanze, Gestein und Erde, Feuer, Wasser, Luft und für alle kreisenden Kräfte zugleich. Tausend Fragen verstummen, als ob sie gelöst wären. Weder Lehren noch Irrlehren gibt es da. Die Möglichkeiten sind zu unendlich, nur der Glaube an sie lebt schöpferisch in mir« (Tb 1008).

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Bildnerische Gestaltungslehre (BG)

7.4.2 Leben Klee schreibt 1906 in sein Tagebuch: »Ich habe es erreicht, die ›Natur‹ direkt in meinen Stil umzusetzen. Der Begriff Studie ist überholt. Alles wird Klee sein […]. Ob ich auch auf farbigem Gebiet so weit komme? Jedenfalls ist ein Bann gebrochen, und zwar der schwerste, der härteste, den es für den Künstler gibt« (Tb 757). Eine interessante Aussage aus dem Jahr 1906. Klee hatte sich, wie üblich, zu Beginn seiner Kunsttätigkeit vor allem »mit Linien und naturalistischer Malerei« (TB 842) befasst. Doch dann geschah eine wichtige Wende. Es galt nicht mehr so sehr die Natur abzubilden, sondern was Klee zu zeichnen versuchte, war seine Bildwelt der Natur: »Alles wird Klee sein«. Natur und eigenes Leben waren sich nicht mehr gegenüber. Kunst hatte es nicht mehr nur mit der Natur als Objekt zu tun. Und doch war er noch Zeichner, wie er nebenbei bemerkte und sich fragte, ob er mit den Farben einmal ebenso weit käme. Natur Als Paul Klee 1898 nach München kam, machte er Bekanntschaft mit dem Jugendstil. Er übernahm in seinem künstlerischen Schaffen Motive und Gestaltungsmittel des Jugendstils wie Akt, Pflanze und ornamentale Linie in seinen eigenen etwas naiv-ironischen Stil. Der Jugendstil band das Verlangen nach Bewegung und Raum an die Blumen, und es war gerade die florale Ornamentik, in der die Künstler versuchten, die Idee einer naturhaften Bewegung, eines naturhaften Werdens, einer unmittelbaren Kreatürlichkeit anschaulich werden zu lassen. Bewegung und Dynamik waren somit die zentralen Begriffe des Jugendstils. Trotz aller programmatischen Beteuerung war nicht die Natur das Entscheidende, sondern die eigene schöpferische Linienführung. Die Linie wurde zum Symbol der Bewegtheit und der Dynamik, zur Chiffre des Lebendigen. (Schöpfung 54–55) Klee wurde sich seiner Wendung selbst bewusst: »Alles wird Klee sein«. Ein weiterer Tagebucheintrag kurze Zeit später verdeutlich die neue Einstellung: »Mein Urgebiet der psychischen Improvisation […] wagen, das zu gestalten, was die Seele gerade belastet. […] So wird meine reine Persönlichkeit zu Wort kommen, sich in größter Freiheit befreien können« (Tb 842). Auch auf dem farbigen Gebiet stellte er eine Entwicklung fest. »Mit farbigen und tonalen Flecken läßt sich jeder Natureindruck auf 315 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Klee

einfachste Weise festhalten, frisch und unmittelbar« (Tb 842). Was das für sein Schaffen bedeutete war ihm klar: »Und nun noch eine ganz revolutionäre Entdeckung: Wichtiger als die Natur und ihr Studium ist die Einstellung auf den Inhalt des Malkastens. Ich muß dereinst auf dem Farbklavier der nebeneinanderstehenden Aquarellnäpfe frei phantasieren können« (Tb 873). Schließlich war er sich dessen schon früh bewusst, welche Konsequenzen diese Einstellung für seine Kunst haben wird. »Die Natur kann sich Verschwendung in allem erlauben, der Künstler muß bis ins letzte sparsam sein« (Tb 857). Wie ist die Vorstellung Klees von einem nicht statischen, sondern dynamischen Kosmos in die bildnerische Welt zu übersetzen, da diese doch eher statisch erscheint? Wie vermag Klee seine Grundüberzeugung, dass die Welt als Ganzes in Bewegung ist und Statik die seltene Ausnahme, in seiner Kunst Ausdruck zu verleihen? Es ist von der Abteilung der »Mechanik« in die der »Dynamik« zu wechseln (BG II.21). Dynamischer Kosmos Für Klee ist Natur »Kosmos«, ein Weltganzes. Dynamik in Form von Bewegung und Energie ist für Klee die große, gesetzmäßige Triebfeder allen Geschehens. In seinen Bildern verknüpft die »unendliche, farbige Bewegung« die Welt des Dinglichen mit dem Geistigen. Der Kosmos, die Welt, »das Ganze« sind dynamischer Natur, »statische Probleme treten erst an gewissen Teilen des Weltganzen auf, (…) auf der Rinde der einzelnen Weltkörper« (als ein »Stocken an der äußeren Erdrinde«). Einen »statischen Imperativ« gibt es nur im irdischen Dasein. Statik ist der »Spezialfall«, wo die Gravitation zum Bewegungsende führt, wohingegen die Dynamik das »große Hauptgebiet, der endlose Bereich des Kosmos« ist. »Auch im Weltall ist Bewegung das Gegebene« – seine Vorstellung von der Kunst entwickelt Klee in Analogie dazu: Das Kunstwerk ist für ihn Teil einer das Weltganze bestimmenden Bewegung und entsteht vermittelt aus der Bewegung des Künstlers, und der bedarf der Bewegung des Betrachters, um rezipiert zu werden. Farbe, Bewegung und Kosmos stehen in untrennbarem Zusammenhang. Klees polyphone Bilder erscheinen hierbei als eine Metapher für die »Welt als Ganzes«, also in ihrer kosmischen Dimension.

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Bildnerische Gestaltungslehre (BG)

Organismen Das zentrale Moment der Dynamik ist das Leben oder der lebendige »Organismus« bei Klee. Klee beschreibt, was er unter Organismus versteht, je nach Sicht als »Komposition« (BF 69), »System« oder »Struktur« bzw. »Gliederung« (Schöpfung 108). Diesem Weg der Lehrentfaltung sei im Folgenden nachgegangen. Den Abschluss der Bildnerischen Formlehre bildet die »Konstruktion«. In der Formlehre werden die Einzelelemente entwickelt und in der Konstruktion im Ganzen zusammengeführt. In der Bildnerischen Gestaltlehre ist das Ziel die »Komposition«, d. i. darin geht es um das Verhältnis der einzelnen Bildteile zueinander und zum Ganzen (BG A/27). Organismus ist ein gutes Beispiel für eine Komposition: Die Beschreibung eines Organismus muss das ganze Netzwerk aller einzelnen Organe in den Blick nehmen und in ihrer Interaktion berücksichtigen. Am Montag den 15. Mai 1922 beendet Klee seinen Kurs der Bildnerischen Formlehre mit dem Hinweis auf das Ergebnis der »Konstruktion« und gibt zugleich einen Hinweis auf die Fortsetzung des Kurses der Bildnerischen Gestaltlehre mit dem Stichwort der »Komposition«: »1 Mein letztes Wort: Synthese der Verschiedenheiten ist jeder höher entwickelte Organismus 2 Der Weg zu dieser Erkenntnis war der analytische, d. h. die kritische Beschäftigung mit der Verschiedenheit (Teilen) für sich und in ihrem Verhältnis zueinander und zum Ganzen. 3 Den Verschiedenheiten suchte ich irgendein Gesicht zu geben, irgendeinen Sinn der mehr als formal war. 1 Die praktische Lösung gestellter Aufgaben musste natürlich erstens formal sein, unserem Metier entsprechend. Doch sollte die zu grundgelegte Idee den zu komponierenden Verschiedenheiten den NaturCharakter verleihen, damit 2 die Komposition ihre Natur fände.« (BF 143).

Mit »Komposition« beschreibt Klee die strukturale Gliederung des lebendigen Organismus. Der wichtigste Beitrag Klees zur Gestaltungslehre ist die Betonung der Bewegung für die Entstehung der Bilder. Bilder sind sozusagen lebendige Organismen. Ein Organismus als Bewegungsform ermöglicht, dass aus einem Element das nächste entsteht. Da die bildnerischen Elemente organisch zusammenhängen, spricht Klee von ihrer »Gliederung«. Die Gliederung kann aufgrund genetischer und physiologischer Analysen u. a. geklärt werden. Dafür bieten sich zur Vermittlung Anschauungsbeispiele wie die genetische

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Paul Klee

Analyse einer Pflanze oder die physiologische Analyse des menschlichen Organismus geradezu an. Die Beschreibung eines Organismus stellt aber vor spezifische Probleme. Für Klee vor allem vor graphische und bildnerische Probleme. Wie das Leben eines Organismus darstellen? Bildnerisch bietet sich die »Komposition« an. Um die Komposition zu beschreiben, ist auf die Zusammensetzung aller Teile, dann auf ihre Struktur und darin ihre »Gliederung« zu achten. Und hier findet Klee eine bildnerische Form, welche insgesamt erst eine Darstellung des Organischen ermöglicht. Am Montag, den 13. Februar 1922, beginnt Klee seine Vorlesung mit einer Aufgabe, die lautet: »Combination festgegliederter Charaktere mit gelöst gegliederten Charakteren zu einem organischen Ganzen (zur Composition)« (BF 69). Die Aufgabe geht von der Überzeugung aus, dass ein organisches Ganzes aus unterschiedlichen Elementen besteht. Nämlich aus Elementen, die aus einer festen Gliederung folgen (z. B. was einen Hund ausmacht), und aus Elementen, die nicht nur fest aus einer bestimmten Gattung (Hund) herzuleiten sind, sondern gelöst gegliedert sind (z. B. Hunderassen gehören alle zur Gattung Hund, sie unterscheiden sich als Rassen und dazu wiederum bis hin zum individuellen Charakter des einzelnen Exemplars). Die Aufgabe versucht zu klären, wie unterschiedliche Momente, z. B. Organe, in einem Ganzen agieren und vor allem interagieren können. Und wie ist dies graphisch aufzuzeigen? Klee zeigt dazu eine Interaktionsform auf, dass die Momente sich nicht gegenseitig auslöschen, sich auch nicht gegenseitig beherrschen, sondern miteinander agieren und einander dienen (BF 69 ff.). Denn nur so kann eine Gliederung entstehen, die Struktur funktionieren und sich eine Komposition der Einzelteile mit dem Ganzen bilden. (Schöpfung 125 f.) Mit dem Problem der Interaktion verschiedener Elemente in einem Organismus zu einer gelingenden Komposition ist schon das weitere Problem angesprochen. Zwar konnte Klee eine Lösung der festen und der losen Gliederung finden, aber das eigentliche Problem des Lebendigen und Organischen ist damit noch nicht gelöst, nämlich wie gestaltet sich ein bestimmter Organismus aus unterschiedlichen Momenten oder Organen als ganzer. Am Beispiel des Hundes: Was macht den Hund zum Hund? Und warum ist der Schäferhund ein Hund und keine Hyäne? Klee knüpft an die Antwort des Organismus und seiner Glie318 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Bildnerische Gestaltungslehre (BG)

derungsgestalten an und gewinnt dadurch einen Unterschied in der »Struktur«. Der Organismus als »Komposition« hat eine innere Gliederung und insgesamt eine »Struktur«. Klee versteht Struktur von der Komposition her. Er unterscheidet aber die Struktur nach ihren Eigenschaften, nämlich der »statischen« und »dynamischen« Struktur. Klee greift zur Lösung dieses Problems, vor das die Natur die bildnerische Kunst stellt, das Problem eines jeden Organismus und der Individualität seiner Glieder, auf die uns aus der Formlehre bekannten Unterscheidung von »dividueller« und »individueller Struktur« zurück. Die statische Struktur pflegt er dann »dividuell« zu nennen, die dynamische aber »individuell« (BG A/27). (Schöpfung 125 f.) Gliederungs- und Bewegungselement aller Naturdinge, seien sie belebt oder unbelebt, ist nach Klee ihre Struktur. Diese wird erkennbar als strukturaler Rhythmus, der von der primitivsten Reihung bis zu komplizierten Taktbildungen aufsteigen kann. Der strukturale Charakter ist »dividuell«. Nehme ich der Struktur diesen dividuellen Charakter, so gerate ich zur »individuellen« Gliederung. Die »dividuelle« Struktur gibt das objektive Regelsystem der Struktur wieder. Ist die Regel einmal gegeben, bleibt sie fest und kann nicht verändert werden. Die »individuelle Struktur« gibt die individuellen Abweichungen von der objektiven Struktur wieder. Sie enthält die subjektive, nicht regulierte Seite eines Phänomens. So hat jede Pflanze eine feste Struktur bzw. einen festen Gliederungscharakter, etwa den Artnamen, der sie einer bestimmten Familie zuweist. Jede Pflanze, jedes Tier und jeder Mensch besitzen aber darüber hinaus auch ihre eigene Individualität, die sie zwar mit ihrer Art verbindet, ihn aber auch als Individuum heraushebt. (Wege 77) Diese Unterscheidung in »dividuelle« und »individuelle« Struktur hat für die bildnerische Darstellung des Lebendigen große Bedeutung. Denn die Analyse des Organischen zeigt in der principiellen Ordnung einen strengen und exakten Organismus. »Der Bau der principiellen Ordnung der Mittel ist wohl ein sehr strenger und exacter Organismus, eine Zusammenfassung der Bedingtheiten als ›helldunkel‹ und als ›Farbe‹, somit Topographie für ›Hell‹, für ›Dunkel‹ ; ›Farben‹ ; ›gehellte Farben‹, ›gedunkelte Farben‹, oder farbiges Hell und farbiges Dunkel. Aber dieser Organismus ist von einer unverrückbaren Starrheit und von einer einmaligen Vollkommenheit. Die eigentlich lebendig bewegte Gestaltung hat sich daher von der principiellen Ordnung loszulösen, und jeweils ein oder mehrere Organe jenes Organismus herauszugreifen und für sich zu einer organischen Vollendung neuzuordnen. Die Mög-

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lichkeiten gehen zur Vielmaligkeit über zur unendlichen Variabilität, die ›individuelle Ordnung‹ (BG I.3/5)«. (Schöpfung 112)

Gliederungs- und Bewegungselement aller Naturdinge ist nach Klee ihre Struktur. Das gilt bildnerisch von allen Naturdingen, seien sie belebt oder unbelebt. Es gilt von den Dingen der Natur, welche nicht weniger eine innere Struktur besitzen. Für das Bauhaus und Klee etwa war das Maß der Vollkommenheit der Aufbau des Kristalls. 170 Er gilt vor allem für die lebendigen und organischen Dinge wie Pflanzen u. a. Es ist der strukturale Rhythmus, der von der primitivsten Reihung bis zu komplizierten Taktbildungen aufsteigen kann. Der strukturale Charakter ist »dividuell«. Nehme ich der Struktur diesen dividuellen Charakter, so gerate ich zur »individuellen« Gliederung. Ein anschauliches Beispiel eines bildnerisch strukturalen Rhythmus bietet das Aquarell Kristall-Stufung. Die Struktur gilt bildnerisch aber nicht nur für Naturdinge; in lebendigen Organismen wie Pflanzen u. a. werden ähnliche Strukturmerkmale aufgefunden. (→ Abb. 12, S. 470) Eine sehr informative Bildbeschreibung des Aquarells hinsichtlich des strukturalen Aufbaus findet sich bei Schmidt: »Das Bild Kristall-Stufung setzt sich aus zahlreichen regelmäßigen und unregelmäßigen geometrischen Formen zusammen, die farblich und von hell nach dunkel gestuft sind. Bei diesem Werk hat Klee mit einem ›lasierenden Verfahren‹ gearbeitet, bei dem durchscheinende Aquarellfarben schichtweise aufgetragen wird. ›Farbig belastete Helldunkel-Malerei‹ nannte Klee dieses summierende Verfahren. Dazu trug er zunächst eine Schwarz-WeißStaffelung auf das Papier auf, dann wurden die einzelnen Graustufen ›farbig belastet‹. Dadurch erreicht Klee eine räumliche Tiefenwirkung, eine Bewegung unseres Auges von ›vorne‹ nach ›hinten‹ bzw. von ›oben‹ nach ›unten‹. Zu dieser Bewegung kommt die diametrale Farbbewegung zwischen den Farben Rot und Grün, die sich immer wieder im Kleinen abspielt. Die hellsten, vordersten Farben sind ein Weiß, entstanden dadurch, dass das leicht graubraun getönte Papier an dieser Stelle frei blieb, und, direkt kontrastierend angeschlossen, ein helles Blau, mit einem leichten Grünton, so dass es helltürkis erscheint. Daran anschließend folgt ein Grau mit einem leichten Stich ins Rötliche, begleitet von einem ausgeblichenen Rot, in dem schwach das Grün durchschimmert. Nach diesen Stufen folgen drei immer dunkler werdende Grünabstufungen, in denen wiederum Rot leicht durchschimmert, flankiert von zwei komplementären rotbraunen Stufen, die in

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Gropius, Programm, a. a. O., 39.

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den schwarzen Hintergrund münden. Dieses Abstufungsmuster gilt, sieht man von einigen Variationen ab, für alle Gebilde. Die Gebilde, der Titel verrät es bereits, erinnern an Kristalle. Bemerkenswert ist, dass Klee, und hier ist er ganz naturgetreu, die Kanten der Kristallgebilde passiv darstellt, d. h. vorrangig, aktiv sind die Farbflächen, hierdurch entstehen indirekt (passiv) Begrenzungslinien. Bei etlichen Farbflächen sind diese zart hervorgehoben. Dies ist insofern naturgetreu, als auch bei einem echten Kristall die Kanten passiv entstehen, also eben auch eine ›lineare Nebenwirkung der Fläche‹ (PS 5 fig.9) darstellen. Zugleich weisen die Gebilde aber auch die typisch kleeschen Deformationen auf. Dies gilt vor allem für die Kristallgruppe im oberen linken Bereich des Bildes und für ein Gebilde im rechten unteren Bereich. Kristalle besitzen in der Regel aufgrund ihrer Molekülstruktur gerade Kanten. Einige Gebilde aber haben auch gebogene Kanten bzw. Begrenzungslinien. Dies deutet schon an, dass es hier nicht um eine naturgetreue Darstellung von Kristallen geht, sondern um deren Wachstum. Damit hätten wir neben unserer Beobachtungsbewegung eine zweite, eine Wachstumsbewegung. Diese verläuft entgegen der Blickbewegung von ›hinten‹ nach ›vorne‹. Die Kristalle wachsen aus dem Dunkel (d. h. aus dem Nichts, aus dem Nichtvorhandensein bzw. aus der Nichtsichtbarkeit) heraus, sie entstehen. Dabei zeigt sich bei den Gebilden, ebenfalls wie bei naturwüchsigen Kristallen, eine gegenseitige Verkantung und ein Über- und Ineinanderschieben. Doch bei genauerem Hinsehen haben wir es nicht allein mit (Größen-) Wachstum, sondern mit Tor zu einer zielgerichteten Entwicklung zu tun. Die Kristallgebilde sind am Anfang ihrer Entwicklung kantig, ihre Grundformen sind überwiegend das Rechteck und das Dreieck, am Ende ihrer Entwicklung aber sind einige der Gebilde kreisrund. Der Kreis gilt als Zeichen der Vollkommenheit. Klee bezeichnet die Kreisform als die reinste, kosmische Bewegungsform, da sie erst durch die Aufhebung der Schwerkraft, durch den Wegfall irdischer Gebundenheit entsteht (vgl. PS 34). Bezieht man dies mit ein, so haben wir nicht bloß eine Wachstums-bewegung vor uns, sondern sogar eine Vervollkommnungsbewegung. Wir sehen hier also, wie das Zusammenspiel aller drei Elementardimensionen Maß (Linie), Gewicht (Tonalität) und Qualität (Farbe) zunächst Gebilde entstehen lässt, die eine Gegenständlichkeit entwickeln, und dann, wie sich Bewegungen zwischen den Formelementen des Bildes abspielen.« (Schmidt 17–20).

Die Darstellung von Wachstumsprozessen mittels aquarellierter Farbstufungen kommt in den Jahren von 1921–23 gehäuft vor. Vor allem das Wachsen organischer Natur hat Klee beschäftigt. 171 Zu nennen wären etwa: Pflanzenwachstum und Hängende Früchte, 1921; Wachstum der Nachtpflanzen, 1922; Blumen und Früchte, 1927; belichtetes Blatt, 1929; Pflanzlich seltsam; 1929, Vor dem Schnee, 1929.

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Paul Klee

Diese Suche Klees nach dem Ursprung und der bildnerischen Darstellung des organischen Lebens erinnert an Goethes Suche nach der »Urpflanze« und darin nach dem Schema des Organischen überhaupt. Nach einem Besuch im botanischen Garten Palermos notierte Goethe am 17. April 1787: »Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebilden fiel mir die alte Grille wieder ein: ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muss es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes Gebilde Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären? Ich bemühte mich, zu untersuchen, worin denn die vielen abweichenden Gestalten von einander unterschieden seien, Und ich fand sie immer mehr ähnlich als verschieden«. 172

Im Gedicht zur Metamorphose der Pflanze schrieb Goethe 1798, dass sich alle Gestalten ähnlich seien und aufgrund eines geheimen Gesetzes sich entfalteten. Im Samen schlafe die Kraft zur Entfaltung des Vorbildes, das darin verschlossen sei. In einem Brief an Herder beschrieb er die Urpflanze als ein »Modell«, mit dem man unendliche Pflanzen erfinden könne. Diese Idee der unendlichen Formen, welche durch die freie Anwendung eines Gestaltungsprinzips entstanden, erwähnte Klee im Vortrag in Jena, wenn er davon sprach, dass der Künstler Gebilde formen könne, »die in der Natur einmal genauso waren oder sein werden, oder die auf andern Sternen (dereinst vielleicht einmal nachweisbar) genau so sein könnten.« Goethe verlangte, dass »die Idee über dem Ganzen walten und auf eine genetische Weise das allgemeine Bild abziehen« müsse. Die waltende Idee führe das Vielfältige auf eine Einheit zurück. Der Naturforscher Goethe fand nach sorgfältiger Analyse und Synthese seiner Beobachtungen in der Natur eine bestimmte, durchgängig feststellbare Konzeption, eine Grundidee der Natur und ihrem Wirken. In der Gestalt, im Blatt, in der Anlage des Knochenbaus der Säugetiere oder im Bau der Insekten, in der Kristallgestalt und in der Struktur des Granits und Basalts fand er ein »Urphänomen«, ein Gestaltungsgesetz verwirklicht, in dem er seine intuitive Auffassung von der Einheit der Natur bestätigt fand. Das Gesetz, nach dem die Natur sich entwickelte, nannte er Idee. Es ist ideell schaubar und doch unwirklich, weil es über jeder Wirklichkeit stehend ihr das sinnliche, natürliche, kreatürliche Sein vorschreibt. 173 172 173

Zitat nach (Schöpfung 156). Zitate nach (Schöpfung 156 ff.).

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Klee schreibt entsprechend: »Die Pflanze in ihrer ganzen Entwicklung vom Samen zur Wurzel (nach unten), bis zu dem sich ansetzenden Stamm (nach oben) geht vom Punkt zur Linie über, was im weiteren Verlauf zu komplizierteren Linienkomplexen, zu selbständigen Linienkonstruktionen führt, wie beim Gewebe des Blattes […].« (Schöpfung 140)

Und: »Montag den 29. Okt 23. Ein Blatt ist ein Teil vom Ganzen. Ist der Baum Organismus, so ist das Blatt Organ. Diese Kleinen Teile vom Ganzen sind in sich wieder gegliedert. Es walten in dieser Gliederung Ideen und Verhältnisse der Gliederung, die im Kleinen ein Abbild der Gliederung des Ganzen sind. Die Gliederung des Ganzen heisst Wurzel Stamm Krone. Die Gliederung der Krone heisst Ast, Zweig, Blatt, Blüte, Frucht. Die Gliederung des Blattes heisst: Stiel, Rippen, und Blattgewebe« (BG I.2/2).

7.4.3 Mensch Nachdem Klee den Organismus und seine Interaktionen mit den einzelnen Organen behandelt hat, kommt er auf den menschlichen Organismus und seine Organe zu sprechen. »Vergegenwärtigen wir uns von nun an den Organismus als Bewegungsmaschine, wo Bewegungsvollzug und Bewegungswille prompt ineinandergreifen« (BF 80). Den nicht gewöhnlichen Begriff des menschlichen Organismus als Bewegungsmaschine hatte Klee offensichtlich von Schiller. Schiller sprach etwa vom Blutkreislauf als »Maschine der willkürlichen Bewegung« (Schöpfung 123). Auf diesen Sprachgebrauch weist auch die weitere Behandlung des Themas bei Klee. Auf die anatomische Analyse folgte die Untersuchung der dienenden oder herrschenden Funktionen der einzelnen Organe innerhalb des ganzen menschlichen Organismus. Die herrschenden Funktionen etwa des Gehirns bezeichnet Klee als »willkürliche Bewegung«; die »unwillkürlichen Bewegungen« kommen vom Herzen, sie folgen der Freiheit der Person: »Das Gehirn unterwirft vermittelst der Nerven den Muskel seinem Willen, durch den Muskel gelangt der Befehl sehnenvermittelt an den Knochen, bis die ganze Materie trotz ihrer irdischen Gebundenheit sich eben doch bewegt.« Anschließend erweiterte Klee die »Naturstudien auf anatomisches Gebiet […] vom Gebiet der willkürlichen Bewegung auf das Gebiet 323 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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der unwillkürlichen Bewegung.« Während der Bewegungsapparat vom Hirn willkürlich gelenkt wird, ist die vom Herz ausgehende Bewegung unwillkürlich (BF 80–93). (Schöpfung 123) Wie verhält sich die physiologische Darstellung des menschlichen Lebens zur genetischen des organischen Lebens? Klee formuliert dazu den bildnerischen Zusammenhang zum Naturgeschehen mit vertieften Dimensionen. Klee greift dazu wiederum auf den Unterschied von ›dividuell‹ und ›individuell‹ zurück. (Wege 81) Am Montag den 27. Februar 1922 erläutert Klee eine Aufgabe. »Die Aufgabe vom letzten Mal lautete: Dreiteiliger Organismus; Erstes Organ, aktiven Charakters (Gehirn) Zweites Organ, medialen Charakters (Muskel) Drittes Organ, passiven Charakters (Knochen) Gehirn, Muskel und Knochen sollten nicht etwa als solche dargestellt werden, sondern stichwortartig aufgefasst werden im Hinblick auf ihre Stellung innerhalb des animalischen Bewegungsorganismus, den ich erörtert hatte Die Begriffe aktiv medial und passiv kann man am besten philologisch erläutern, sprachlich. wenn ich sage: Ich treibe, so ist das eine Aktive Form, wenn ich sage: Ich werde getrieben, so ist das der sprachliche Ausdruck des Passiven. Medialer Formausdruck aber wäre: Ich schliesse mich an, ich ordne mich ein, ich befreunde mich« (BF 87). 174

Um die strukturalen Organe aber in einen menschlichen Bewegungsorganismus zu verwandeln, braucht es den Übergang zur »individuellen« Gliederung. Die »dividuelle« Ordnung gibt sozusagen die natürliche Grundlage oder die Natur wieder. Natur drückt sich in den bekannten Ordnungsbegriffen aus: aktiv, medial, passiv. Die Knochenfunktion ist im Verhältnis zur Muskelfunktion passiv, der Muskel aber gehorcht dem Gehirn. So bildet sich die Hierarchie: Hirn (aktiv), Muskel (medial), Knochen (passiv]. Die natürliche (dividuelle) Grundlage wird durch Geist und Muskeln (individuell) in Bewegung gesetzt. Auf Grund dieser Dreigliederung macht Klee die Gliederung der Kräfte in einem Bild anschaulich. Er nimmt das Mühlrad als Beispiel eines Bewegungsmechanismus. Er erklärt das Bild vom Wasserrad mit Hammer so: das Wassergefälle ist aktiv, das Wasserrad medial, der Hammer passiv. Mit dem Bild vom Mühlrad kann Klee den menschlichen Bewegungsorganismus in seinen unterschiedlichen Tätigkeiten beschreiben: Der aktivierende Geist kann von einem Reich ins andere wech174 Dreiteilige Organismen mit aktiver, medialer und passiver Funktion (Spiller1 343).

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seln; er sieht die Dreigliederung von aktiv, medial und passiv als Eigenschaft der Gliederung; er bemerkt den Übergang vom Strukturalen zur individuellen Ordnung, erkennt den Bewegungsorganismus in der Natur, im Wachstum der Pflanze, die aus der aktiven Zone von Same, Wurzel und Boden über die mediale Zone von Zweigen und Blättern das passive Ereignis der Blüte hervorbringt; und er findet sie auch im eigenen Gang des Blutes – im aktiven Herzen, dem passiven Blut und der medialen Beteiligung der Lunge. Und einmal in die Blickrichtung dieser Perspektive getreten, wandelt sich das Aktive und Passive in andere Ausdrucksbereiche – ins Männliche und Weibliche zum Beispiel, oder, auf den Vorgang des Bildnerischen angewendet, ins Bauen und Behauen oder, auf die menschliche Tätigkeit angewendet, ins Produktive und Rezeptive. Und das Kunstwerk kann das alles zur Darstellung bringen. ›Das Werk als menschliche Handlung (Genesis) ist sowohl produktiv als rezeptiv‹ (BF 105) (BG II.21/6). 175

7.4.4 Geist Die unwillkürliche Bewegung ist Werk des Geistes, ist Handeln aus Freiheit. »Die Geschichte des Werkes, welches in erster Linie Genesis ist, kann in kurzen Zügen beschrieben werden als ein geheimer Funke von irgendwo her, welcher glimmend des Menschen Geist entzündet, des Menschen Hand bewegt und von da aus als Bewegung der Materie übermittelt wird, Werk wird. Der rezeptive Vorgang entspricht. Der Aufnehmende, welcher der Person des Schaffenden identisch sein kann, geht zwar sozusagen den umgekehrten Weg. Aber auch er ist durchaus zeitbewegt« (BF 95).

Diese Aussage erinnert an eine Aussage des Bauhaus-Kollegen Johannes Itten, der sich mit Klee auch malerisch gut verstand (Schöpfung 171): Itten sprach dabei von physischer, seelischer und geistiger Bewegung: Klees Bauhaus-Kollege Itten spricht in der Schrift Analysen alter Meister von physischer, seelischer und geistiger Bewegung. 176 Was er darunter versteht, erklärt er am Beispiel einer Linie: »Jeder Punkt, jede Linie, Fläche, jeder Schatten, jedes Licht und jede Farbe (Wege 80–81), (Tb 928), (KL 350). Itten, Johannes (1921), »Analysen alter Meister«, in: Utopia. Dokumente der Wirklichkeit, München. 175 176

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sind aus Bewegung geborene Formen, die wieder Bewegung gebären. […]. Will ich eine Linie erleben, so muss ich die Hand bewegen, der Linie entsprechend, oder ich muss mit meinen Sinnen der Linie folgen, also seelisch bewegt sein. Endlich kann ich eine Linie geistig vorstellen, sehen, dann bin ich geistig bewegt. Dieses sind nun drei unterschiedliche Grade des Bewegtseins. Zeichne ich die Linie mit der Hand, so bin ich physisch bewegt, das ist der erste, physische Grad der Bewegtheit. Bewege ich meine Sinne einer Linie entlang, so bin ich im zweiten, seelischen Grade der Bewegtheit. Wenn ich die Linie geistig vorstelle, so bin ich im dritten, geistigen Grade der Bewegtheit. […] Das heißt: Bewegungscharakter gleich Formcharakter. Dieses ist ein Hauptsatz unserer ganzen Untersuchung«. – Die physische Bewegung beim Ziehen der Linie entspräche dem, was Klee unter »Produktivbewegung« versteht, die seelische der »Rezeptivbewegung«. Itten fügt die Kategorie der geistigen Bewegung hinzu, bei der die Linie imaginär, also nur im Geiste vorgestellt bleibt. (Linie 87)

7.5 Bewegung: vom Künstler zum Bildbetrachter Bewegung und Zeit Am Montag, den 27. Februar 1922, geht Klee auf den Begriff der »Bewegung« ein (s. oben BF 94). Er beschreibt das »Kunstwerk« im Ganzen von der Bewegung her. Es geht um die Bewegung als Vorgang des Kunstschaffens überhaupt. Zum einen nimmt er dazu den Vorgang als ganzen in den Blick, zum anderen bedenkt er die »Zeitlichkeit« des Kunstwerkes. Klee beginnt mit der grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis von Bewegung und Kunst. Klee beginnt mit der schon zitierten Frage. Die Antwort darauf ist eine Gesamtschau auf die wichtigsten Bewegungsabläufe zum Hervorbringen eines Kunstwerkes: »Was heisst überhaupt im Werk Bewegung? Unsere Werke werden sich in der Regel doch nicht bewegen? Wir sind doch keine Automatenfabrik! Nein unsere Werke werden von sich aus meist ruhig an ihrem Platz bleiben. Und trotzdem sind sie ganz Bewegung. Allem Werden ist Bewegung eigen, und bevor das Werk ist, wird das Werk, genau wie die Welt, bevor sie war, nach dem Wort ›am Anfang schuf Gott‹ geworden ist, und des Weiteren wird, bevor sie in Zukunft ist (sein wird) […]« (BF 94).

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Der entscheidende Begriff ist der der Bewegung. Bewegung stellt bei Klee das wesentliche Gestaltungsprinzip dar. Daher kann Klee den in Lessings Laokoon gemachten Unterschied zwischen räumlicher und zeitlicher Kunst wieder aufheben: »Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen« (SK 78). Daraus schließt Klee, dass auch der Raum ein zeitlicher Begriff ist. Bewegung als gestalterisches Prinzip spielt eine wesentliche Rolle sowohl in der Produktion als auch bei der Rezeption eines Kunstwerks. Paul Klee hat in der Schöpferischen Konfession das bildnerische Werk umfassend beschrieben, indem er auf die drei konstitutiven Dimensionen hinwies: »Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln)« (SK 78). Das Bild (1) ist das Ergebnis des Schaffens des Künstlers (2) und des Rezipierens des Werkes (Betrachters) (3). Wir haben mit Klee bisher die Entstehung des Werkes verfolgt, dabei auf das Sehen und Handeln des Künstlers geachtet. Klee macht aber darauf aufmerksam, dass zum Werk auch die Aufnahme, das Rezipieren, unverzichtbar gehört. Deshalb ist schließlich auf den Dreiklang von Werk, Künstler und Sehender zurückzukommen, um das bildnerische Werk in seiner Vollendung zu würdigen. (Schmidt 3–4) »Das ist die initiale Produktiv-Bewegung, die Anfangshandlung des Schaffenden. Schon diese Anfangshandlung ist zeitlicher Natur, sie mag nun flach bleiben oder zum Raum führen: Es gehört Zeit dazu. Kurz nach dieser initialen Produktiv-Bewegung setzt schon beim Schaffenden die erste Gegenbewegung ein, die initiale Rezeptiv-Bewegung. D. h. der Künstler kontrolliert, was er bis jetzt gemacht hat. Und es war gut so, steht geschrieben. Abermals ein zeitlicher Vorgang. Zeitlos ist nur das Allerkleinste, der an sich tote Punkt. Wenn dieser Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso wenn sie diese Linie zur Fläche verschiebt, oder bei Bewegung von Flächen zu Räumen« (BF 95).

Auffällig ist wie Klee bei ähnlichen Aussagen immer auf der ganzen Bewegung von Anfang bis Ende besteht. Etwa: »Ein gewisses Feuer, zu werden, lebt auf, leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt als Funke, den Kreis schliessend, woher es kam: Zurück ins Auge und weiter« (SK 78). (Schöpfung 151) In der theoretischen Kunstlehre Klees heißt es zur Funktion eines Bildwerkes: die Art, wie sich der zeitlich bewegte Aufbau dem 327 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Auge mitteilt: Jedes Werk bewegt sich sowohl entstehend (produktiv) als aufgenommen (rezeptiv) in der Zeit. Das Kunstwerk ist das alles. »Das Werk als menschliche Handlung (Genesis) ist sowohl produktiv als rezeptiv« (BF 105) (Spiller1 369). Ähnlich wie in der zitierten Stelle wiederholt Klee immer wieder die Entstehung des bildnerischen Werkes. Die Vorlesungen zur Bildnerischen Mechanik etwa begann Klee mit der Feststellung, dass Bewegung in Wahrheit Norm sei. Der Schein der Ruhe sei trügerisch. Gestaltung ist für Klee Teil einer das Weltganze bestimmenden Bewegung. Bewegung umfängt auch das ganze Kunstwerk, das Erschaffen des Werkes und das Rezipieren. Kunstwerk ist dieses Ganze und Eine: das Werk selbst entstehe aus der Bewegung des Autors, veranschauliche Bewegung, und werde durch den Rezipienten im zeitlichen Nacheinander, das sich aus der Bewegung des Auges ergäbe, wahrgenommen. Bewegung liegt also nicht nur dem produktiven Arbeitsprozess zugrunde, sondern ebenfalls dem rezeptiven Vorgang (BG II.21/6). (Schöpfung 170) Wofür Klee plädiert, ist eine Interpretation des Kunstwerks ex statu nascendi. Der Betrachter vollzieht die Bewegung und lässt das Kunstwerk erneut entstehen. Damit sind wir beim vermutlich wichtigsten kunsttheoretischen Grundbegriff Klees angelangt: der »Genesis«. »Die Genesis der ›Schrift‹ ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es rein als Produkt erlebt« (SK 78). (Schmidt 3–4) Das Schöpferische der Kunst ist das fundamentale Prinzip der Gestaltungslehre Klees: »Der Weg zur Form, welcher von irgendeiner inneren oder äusseren Notwendigkeit dictiert sein soll, steht über dem Ziel, über dem Ende dieses Weges. Der Weg ist wesentlich und bestimmt den einmal abzuschliessenden und einmal abgeschlossenen Charakter des Werkes. Die Formung bestimmt die Form und steht daher über ihr. Form ist also nirgends und niemals als Erledigung als Resultat, als Ende zu betrachten, sondern als Genesis, als Werden, als Wesen. Form als Erscheinung aber ist ein böses gefährliches Gespenst. Gut ist Form als Bewegung, als Tun, gut ist tätige Form. Schlecht ist Form als Ruhe, als Ende, schlecht ist erlittene, geleistete Form. Gut ist Formung. Schlecht ist Form; Form ist Ende ist Tod. Formung ist Bewegung ist Tat. Formung ist Leben. In diesen Sätzen concentriert sich die hier mitten durchdrungene berührte elementare Lehre vom Schöpferischen« (BG I.2/78). (Schöpfung 199) 328 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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7.5.1 Künstler und Betrachter sind beide produktiv und rezeptiv In BF 94–99 erzählt Klee die Geschichte des Werkes in seinen wichtigsten Etappen. Besondere Aufmerksamkeit lenkt er dabei auf die Rolle des Malers und des Betrachters, also auf die »produktive« und »rezeptive« Rolle für das Werk: »Die Geschichte des Werkes, welches in erster Linie Genesis ist, kann in kurzen Zügen beschrieben werden als ein geheimer Funke von irgendwo her, welcher glimmend des Menschen Geist entzündet, des Menschen Hand bewegt und von da aus als Bewegung der Materie übermittelt wird, Werk wird« (BF 95). 177

Für das Werk bedarf es der Intuition des Künstlers und seiner Hand. Das ist die »produktive« Bewegung des Künstlers. Klee beschreibt den Bewegungsvorgang des Künstlers sehr detailliert unter dem Gesichtspunkt der »Zeit«, d. i. der »Bildzeit«, und zwar den »produktiven« wie den »rezeptiven«: »Der receptive Vorgang entspricht [dem]. Der Aufnehmende, welcher mit der Person des Schaffenden identisch sein kann, geht zwar sozusagen den umgekehrten Weg. Aber auch er ist durchaus zeitlich-bewegt. Schon physisch: das Auge erfasst auf der einfachsten Fläche bereits die Formen nicht mit gleichzeitiger Intensität. Dazu ist es physisch nicht im Stand, weil auf der Netzhaut nicht das ganze Bild mit gleicher Schärfe wahrgenommen wird (Linse Seh-Nerv Dreiteiliges Object Netzhaut Zentrum der Sehschärfe unscharfe Aussenbezirke), sondern nur die Partie I, die dem Punkt benachbart ist, welcher mit dem Brennpunkt der Linse und mit dem Zentrum der Sehschärfe auf der Netzhaut durch eine Gerade verbunden werden kann. Will das Auge die Partie II des Objectes scharf wahrnehmen, so muss es sich nach oben wenden, will es die Partie III scharf haben, so muss der Blick nach unten gesenkt werden. Augenmuskel drehn das Auge da und dorthin, auch von links nach rechts, von Ecke zu Ecke, im Kreis herum, und die hintereinander scharf gesehnen Partien notiren sich im Gehirn nach und nach zum Gesamteindruck. Das Gehirn hat die Fähigkeit, Erinnerungsbilder aufzuspeichern und zum Ganzen zu sammeln, das Auge hat die Fähigkeit, einen Ort zur Kontrolle und Befestigung immer wieder aufzusuchen« (BF 96). 178

(Schöpfung 151), (BF 105), (BG II.21/6). (Wege 77), (Geo89 f.). Klees Bewegungsmessen der Augen ist ein interessantes Forschungsgebiet geworden. Beim sogenannten »Eye-Tracking-Verfahren« werden die Blickbewegungen des Auges aufgezeichnet und zeitlich kartographiert. So erhält man ähnliche Bewegungsmuster wie Klee; vgl. Klee, Konstruktion, a. a. O., 107–109. 177 178

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Das ist eine präzise Beschreibung des Sehvorganges, der nicht mehr die Zentralperspektive voraussetzt, sondern je nach Perspektive bzw. Blickpunkt und Blickrichtung natürlich auch das Objekt unterschiedlich wahrnimmt. Nach BF 99 verfolgt Klee dann interessanterweise die unterschiedlichen Wege des Sehvorganges, welche sich durch die Perspektive und Blickrichtung, aber auch durch die unterschiedliche Verfassung des Objektes unterscheiden: »Es [das Auge] begeht diese Wege in verschiedener Art je nach der Einrichtung des Werkes. Ist das Werk mit Bestimmtheit und Festigkeit gebaut, so schreitet das Auge weidend von den Werten die es anziehn zu den (bei successiver Wertenwicklung) Werten die es weiter anziehn, wenn die ersten Werte schon abgegrast sind. (fig.18.) Ist das Werk formal mit Bestimmtheit und Festigkeit gebaut, aber, zugleich von starker Gegensätzlichkeit der Werte regiert, so bewegt sich das Auge mehr sprungweise, in der Art eines jagenden Tieres. (fig.19.) Ist das Werk was die Form seiner Werte betrifft aber nicht bestimmt und nicht fest, sondern gelöst und selbst Bewegung und Strom, so gibt sich das Auge wie ein Schifflein gelassen dieser Strömung hin, oder es segelt als Wolke in den leicht oder stürmisch bewegten Lüften (fig.20) (Bewegt-formigen Werken ist eine höhere Aktivität eigen)« (BF 99).

Am »Montag den 20. März 1922« führt Klee die Beschreibung der Sehwege weiter und charakterisiert sie durch unterschiedliche »Zeit«-Werte: »Die Funktion eines Bildwerkes ist die Art, wie des Bildwerkes zeitlich bewegter Aufbau sich dem Auge mitteilt, und wie der dem Bildwerk jeweils eigene Bewegungscharakter dem Auge und dem dahinter liegenden Aufnahme Vergnügen aufgezwungen wird. Damit ist die alte Geschichte vom Effekt berührt, aber durch die Betonung des dem Bildwerk jeweils eigenen Bewegungscharakters […]. Diese Arten des Effektes ordnend unterscheiden, heisst so viel als die Art der Bildwerke ordnen. Wie wir letztes Mal sahen bewegt sich jedes Werk, auch das allerknappeste sowohl entstehend (produktiv) als aufgenommen (receptiv) in der Zeit. Der Bau unseres Auges ist auf ein zeitliches Abtasten jeder Gesichts-Wahrnehmung eingerichtet. Das Auge steuert, von gewohnter Natur oder gewohnter Kultur ermüdet auf neue reizvolle Besonderheiten hin. Ist nun ein Bildwerk an der Reihe, solche besonderen Reize auszuüben, so steuert das Auge in ihrem Bereiche dahin, wo als grösste Anziehungskraft die stärkste bildnerische Energieentfaltung sich vordrängt. Ein solcher Anreiz ist immer relativer Natur. Wenn auf weisser Fläche, die das Auge neu-

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gierig gemacht hat, irgendwo ein besonders tiefes Schwarz hervorgebracht wird, so ist dies Schwarz im Vergleich zu jenem Weiss eine ganz starke Energie. Oder wenn auf Grüner Fläche, die zu genauerer Kenntnis anlockte ein stark gegensätzliches Rot sich vordrängt, so ist diesmal Rot die besondere Energie. Analog verhält es sich mit: Weiss auf Schwarz, Warm auf Kühl, lebhaft auf ruhig, und umgekehrt, höher auf niedriger, stärker auf schwächer, härter auf weicher. Oder handelnd auf Zuständlich, und wie die Gegensätzlichkeiten alle heissen, die, geformt, das Auge an sich zu reissen vermögen« (BF 105–106).

Klee belässt es nicht bei der Frage nach der Bewegung im Werk, sondern er gibt eine umfassende Antwort in Stichworten. Die Antwort fällt in der Art aus, dass Klee die »Bewegung« des bildnerischen Schaffens vom Anfang beim Künstler bis zur Ankunft beim Rezipienten in Stufen nachvollzieht. Auffällig ist, dass er auf jeder Stufe ausdrücklich auf die Dimension der »Zeit« verweist, welche jedem Vorgang der Bewegung eigens zuteil werden muss. Allerdings mag auffallen, dass Klee in seiner Aussage zwar die »Bewegung« in ihrem Vorgang sehr eindringlich beschreibt, von der darin beanspruchten »Zeit« allerdings nur allgemein redet, in der Form, dass jeder Vorgang ›Zeit brauche‹. Was man an dieser Stelle vermisst, dass Klee hier zu erkennen gibt, wie die genannte Bewegung jeweils eine eigene Zeit einfordere, also das, was man bewusst die »Bild-Zeit« nennt. Allerdings wird man nicht übersehen dürfen, dass Klee in BG II.21/58–64 überraschend ausführlich auf die Zeit eingeht, er dazu die Zeitformen der Sprache bemüht und deren Äquivalente im bildnerischen Denken aufzeigt. Zudem gibt er eine Reihe von Hinweisen, wie in seinen Erläuterungen der Elemente des bildnerischen Denkens jeweils auf die notwendige Zeit der anstehenden Bewegungsform aufmerksam zu machen sei, er also indirekt auch die Bild-Zeit im Blick hatte, wenn er sie auch nicht eigens benannte. Die Vorstellung einer produktiven und rezeptiven Bewegung gilt auch als Grundlage für Klees Gestaltungslehre am Bauhaus. In Bezug auf die rezeptive Bewegung konzentrierte sich Klee in den Beiträgen zur bildnerischen Formlehre vor allem auf die Augenbewegung, später in der Principiellen Ordnung führte er auch den psychischen Aspekt der Bewegtheit ein (BG II.21/6). (Schöpfung 197) Die Frage stellt sich auch hier nach dem Maler oder Künstler, auf welche Weise er das Werk beginnt und vollendet. Es ist die Frage nach der produktiven Bewegung. Und damit stellt sich die Frage nach der 331 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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»Zeit« beim Entstehen des Kunstwerkes. An einer Stelle der Bildnerischen Gestaltungslehre geht Klee sehr ausführlich auf die Problematik der Zeit ein, so dass es sich lohnt, diese Passage etwas ausführlicher zu zitieren (BG II.21/58–59). »Die Kardinalfrage: wie gestalte ich die Bewegung von hier nach dort? enthält ein zeitliches Moment. von ›hier‹ nach ›dort‹ bedeutet zeitlich ein ›vorher‹ und ein ›nachher‹. Die Bewegung muss so gestaltet werden, dass das ›hier‹ zuerst dann kommt und das ›dort‹ zuletzt. Es drängt sich also hier zum ersten Mal der zeitliche Begriff nach dem Vordergrund, und ist geeignet, uns zunächst etwas zu verwirren. Das ist aber nicht so schlimm. Denn das Zeitliche ist etwas durchaus Bildnerisches. Erstens spielt sich der produktive Teil, die bildnerische Arbeit in der Zeit ab, so gut als die Erschaffung von natürlichen Dingen: allen Wachstum Zeit. (viel Zeit) braucht« (sic!). (s. oben Linie bei Kant)

Aber und das ist für das Zeitverständnis entscheidend, wie es bei Kant nicht vorkommt: »Zweitens spielt der receptive Teil, das ist die Einwirkung des produktiv fertigen Gebildes auf das nachprüfende Auge ebenfalls in der Zeit ab. Weil der Betrachter ein Werk nicht in einem ›Augenblick‹ erfassen kann. Das bildnerische Werk bereitet Wege, die receptiv wieder zu begehen sind, die entweder nur mit dem bewegten Auge des Betrachters wieder begangen werden oder, wie die Innenräume eines Hauses, mit dem ganzen Körper abgewandelt werden. Das liegt vor allem an der örtlichen Begrenztheit des Auges. Das Auge kann nicht im ganzen Bereich des Bildnerischen zugleich sein, sondern immer nur in einem Teil. Es sieht sich selbst vor einem relativ kleinen Tafelbild vor dieselbe Aufgabe gestellt, wie ein weidendes Tier: Es muss in die Bewegung eintreten, weil es eben nicht auf einmal geschehen kann. Es rechnet als auch die bildnerische Gestaltung allgemein sowohl produktiv als receptiv mit der Zeit. Die specielle Bewegungsgestaltung rechnet in gesteigertem Mass mit dem Begriff der Zeit, insofern diese specielle Gestaltung nicht nur, wie jede andere beliebige Gestaltung, Zeit erfordert, um gestaltet und wahrgenommen zu werden, sondern auch in örtlich-zeitlich ganz bestimmter Weise verlangen muss: hier beginnt die Bewegung und dort endet sie. oder: Zuerst ›hier‹ und ›dann dort!‹ Dabei sind hier und dort verschiedene Örtlichkeiten und an verschiedenen Zeiten verknüpfte Örtlichkeiten. Und zwar receptiv bindend, d. h. der Betrachter ist zu zwingen denselben Weg in derselben Richtung zu gehen. Alle Gestaltung ist Bewegung, weil Sie irgendwo beginnt und irgendwo endet. Die Wege die das abtastende Auge begeht sind hierbei im Allgemeinen zeitlich-örtlich frei, das heisst es liegt kein Zwang für das Auge vor, gerade an einer bestimmten Stelle zu beginnen, an bestimmten Stellen fortzufahren und an einer bestimmten Stelle zu enden.

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Diesen Zwang übt nur eine specielle Bewegungsgestaltung aus, dadurch dass sie dem Auge ganz bestimmte Wege in ganz bestimmter Reihenfolge vorschreibt. Die specielle Bewegungsgestaltung fängt also nicht wie jede Gestaltung irgendwo an und hört nicht irgendwo auf, sondern sie beginnt an einem ganz bestimmten Ort, und verläuft in ganz bestimmter Richtung nach einem andern Ort, wo sie enden wird. Und Die Bestimmung der Richtung muss sich aus der Gestaltung heraus ergeben ohne assoziative Beihilfe des Pfeiles als Bewegungssymbol und ohne die Assoziationen, die sich beim Anblick tierischer oder menschlicher Formgebilde einstellen, von denen man erfahrungsgemäß weiß, nach welcher Richtung ihre Bewegung abläuft. Es übernimmt hier also das zeitliche Moment die besondere Rolle der Forderung, dass eine Stelle der Gestaltung als zeitlich früher und eine andere als zeitlich später zu kennzeichnen ist« (BG II.21/58–59).

Das ist eine recht genaue Beschreibung dessen, was mit der zeiträumlichen Orientierung bei Husserl und Bühler gemeint ist. Der nicht von anderswo her bestimmte räumliche und zeitliche »Nullpunkt« gibt die Markierung vor für die kommenden Koordinaten von Raum und Zeit des Bildraumes und der Bildzeit. Klee unterschied produktive und rezeptive Bewegung. So verfolgt das Auge die Wege, die der Autor im Werk eingerichtet hat. Er beschränkte die Rezeption nicht auf eine physische Bewegung des Auges, sondern verlangte vom Betrachter auch eine psychische Bewegung. Dieser hat das Werk nachzuschaffen. In seinen Überlegungen zur Rezeption bezog sich Klee auf die Augenbewegungstheorien und die aktuellere Gestaltpsychologie. In den Vorlesungen zur Bildnerischen Mechanik unterschied er die Bewegung im statischen Gebiet und im dynamischen Gebiet. Während Dynamik als der normale Zustand bezeichnet wird, ist Statik eine Täuschung, denn im statischen Gebiet existiere keine Ruhe, sondern »gehemmte« Bewegung (Schöpfung 15–16).

7.5.2 Zeitbestimmte Bildelemente Einige Symbole, Werte und Mittel ragen für die Bewegungstheorie Klees auf besondere Weise heraus. Es sind Elemente und Mittel, die zeitbestimmt sind.

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Linie Die Linien im Bild sind »Wegweiser« durch das Bild (Linie 70). Von den Wegen im Bilde spricht der Künstler in einer Vorlesung zur Bildnerischen Mechanik (oder Stillehre) vom 11. März 1924: »Das bildnerische Werk bereitet Wege, die receptiv wieder zu begehen sind«. Es handelt sich dabei um die gleichen Wege, die der Künstler zuvor im Schaffensprozess eingeschlagen hat und die nun »mit dem bewegten Auge des Betrachters wieder begangen« werden. Aufgabe des Künstlers sei, dem Betrachter die Wege im Bild einzurichten (BG II.21/58). (Schöpfung 170) »Dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Betrachters sind im Kunstwerk Wege eingerichtet. […] Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln)« (SK 78) (BG II.21/58). (Schöpfung 196)

Mit der rezeptiven Bewegung meinte Klee nicht nur die des Betrachters, sondern auch die des Schöpfers, dessen Werk aufgrund von Aktion und Reaktion, Bewegung und Gegenbewegung entsteht. In der Principiellen Ordnung sprach Klee von der Vorschöpfung, dem Bewegtsein als Voraussetzung für Gestaltung, von der Schöpfung und von der Nachschöpfung durch den Betrachter. Anschließend untersuchte er, was bei der Rezeption eines Kunstwerkes beim Betrachter physisch passiert. Klee bezog sich bei der Untersuchung der rezeptiven Bewegung nicht nur auf die »Augenbewegungstheorie«, sondern auch auf die jüngeren Forschungsergebnisse der Gestaltpsychologie. (Schöpfung 197) Pfeil »Die Gestaltung des Schwarzen Pfeiles besteht in der gesteigerten Energieentwicklung ausgegebenem, oder zuständlichem, oder perfektem Weiss nach eintretend handelndem oder gegenwärtigem Schwarz hin. Warum nicht umgekehrt? Antwort: es liegt ein starker Akzent auf der Verschiedenheit von minorer Besonderheit (in diesem Falle schwarz) zu majorer Allgemeinheit (in diesem Falle weiss). Weiss wirkt hier zuständlich, perfekt, gewohnt, ruhig, bewegungslos. Schwarz wirkt activ, besonders, ungewohnt, bewegt, am bewegtesten nach schwarz hin, dem Gegensatz zu dem in diesem Falle unbeweglichen weiss, am wenigsten bewegt an der Stelle des Schwarzen Ursprungs, wo aus dem Weiss gewohnten ganz leise die Schwarze Energie- oder Bewegungsentwicklung mit hellstem Grau beginnt (BG II 21/63)«.

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Der Energieentwicklung folgt so die Bewegungsentwicklung, d. h. es folgt die Bewegungsrichtung und damit die Zeitrichtung. »Das Weissgegebene, das viel- und sattgesehene Weiss wird als ein gewohntes und Perfektes vom Auge mit wenig Acclamation aufgenommen; auf das gegensätzlich-Besondere der eintretenden Handlung hin aber steigert sich die Lebendigkeit des Blickes bis zum Gipfel dieser bewegten Handlung. Dies Anwachsen von Energie, nach der ausserordentlichen Seite hin gerichtet, ist zwingend in Bezug auf die Bewegungsrichtung. (Anmerkung auch receptiv) Denn: Bei guter Verteilung und Besetzung der Rollen muss es auf diese Weise gelingen, die eindeutige Bewegung zu gestalten, den ›Pfeil als Attribut‹ durch seine Gestaltung zu überwinden« (BG II 21/64).

Der Pfeil als Symbol ist ein bildnerisches Hilfsmittel, um Richtung und Entwicklung der Zeit der Darstellung aufzuzeigen. Farbe Die Farben enthalten ebenfalls Energie und damit Zeitwerte. Klee führt seinen Weg zur Farbe geradezu auf ein neues Zeitverständnis zurück, das von ihm benannte Zeitmessverfahren: »Juni (1910) Übertragung des Schattenbildes, des Hell-Dunkel-Zeitmeßverfahrens in die Farbigkeit, so daß jeder Tonwertstufe je eine Farbe entspricht, also nicht die eine Farbe durch Weiß hellen oder durch Schwarz dunkeln, sondern immer eine Farbe für eine Stufe. Für die nächste Stufe die nächste Farbe. Ocker, Englischrot usw. […]« (Tb 879 871).

Klee kommt zu seinen Einsichten in die Farben durch Experimentieren und Konstruieren mit Farben. »Ich bin auch Zeichner. Ich versuchte die reine Zeichnung, ich versuchte die reine Hell-Dunkel-Malerei, und farbig versuchte ich alle Teiloperationen, zu denen mich die Orientierung auf dem Farbkreis veranlassen mochte. So daß ich die Typen der farbig belasteten Hell-Dunkel-Malerei, der farbigkomplementären Malerei, der bunten Malerei und der totalfarbigen Malerei ausarbeitete. Jedesmal verbunden mit den mehr unterbewußten Bilddimensionen. Dann versuchte ich alle möglichen Synthesen zweier Typen. Kombinierend und wieder kombinierend, und zwar immer unter möglicher Wahrung der Kultur des reinen Elementes. Manchmal träume ich ein Werk von einer ganz großen Spannweite durch das ganze elementare, gegenständliche, inhaltliche und stilistische Gebiet. Das wird sicher ein Traum bleiben« (Jena 95)

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Das Raum-Zeitliche aber entwickelt sich jetzt in den Bewegungsrichtungen der Farbe: im Sinne der Steigerung der Energie (von Weiß ansteigend zu Grün zum Beispiel); oder im Sinne der Steigerung der farbigen Helligkeit (von Violett zu Gelb zum Beispiel); oder im Sinne der einfachen komplementären Passage (von Rot zu Grün zum Beispiel); zum Beispiel; oder im Sinne der farbigen Kühlung (von Rot zu Grün zum Beispiel). In diesen Passagen von Qualitäten gestalten sich die Bewegungsorgane der farbigen Komposition (des »sens giratoire« Delaunays, s. schwarzer Pfeil oben). 179 Ebenso wenig wie die Linie haftet bei Klee die Farbe an den Dingen; sie führt vielmehr ein losgelöstes und bewegtes Eigenleben, nur den Bildgesetzen gehorchend. Durch Überblendung sowie durch Kontrastierung entsteht ein Vor und Zurück, Herauf und Herunter – Farbe wird bewegt-räumlich, zeitlich. Zur Veranschaulichung erzählt Klee etwa »folgende Geschichte: Denken wir uns, bevor wir an das Produkt herantraten, das folgende kleine Vorspiel: wir bewegten uns längere Zeit in der freien Natur, und waren erfüllt und ermüdet von ihren Plein-air-Eindrücken, so dass uns der Eintritt in ein dunkles Haus wie eine Rettung vorkam. Der Raum in dem wir uns nun befanden, war ganz schwarz, leer und schwarz. Der nächste Raum, in den wir eintraten, war wieder schwarz mit Ausnahme der einen bemalten Wand. Hier stürzt sich jetzt unser Auge, auf das höchste gereizt, auf die rein weisse Note, die ich mit erstens bezeichne. Dann auf die immer noch sehr helle Note »zweitens« und begibt sich des weitern nach den immer mehr nach dunkel abgestuften übrigen Werten. Auf diese Weise ordnet sich der Weg über die einzelnen Reizpunkte spiralenförmig um das zentrale Weiss. Die Reizpunkte rücken unter Innehalten der Beziehungen zur Zentrale immer mehr von ihr ab. Das Produkt bestand aus feierlich festen und ruhigen Formen, sein Rezept, die Funktion jenes festgeformten Gebildes, ist denkbar reinste Bewegungsform, ist Spirale« (BF 110). (Linie 83)

Auge Wie wird das Bild vom Betrachter rezipiert? Klee beschäftigt sich intensiv mit den Bewegungen des Auges bei der Betrachtung eines Bildes. In der Vorlesung vom 27. Februar 1922 fährt Klee fort: »Schon physisch: das Auge erfaßt auch schon auf der einfachsten Fläche die Formen nicht mit gleichzeitiger Intensität. Dazu ist physisch nicht im

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(Wege 86 f.), s. oben BG II.21/63.

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Stand, weil auf der Netzhaut nicht das ganze Bild mit gleicher Schärfe wahrgenommen wird, sondern nur die Partie I, die dem Punkt benachbart ist, welcher mit dem Brennpunkt der Linse und mit dem Zentrum der Sehschärfe auf der Netzhaut durch eine Gerade verbunden werden kann […]. Das Gehirn hat die Fähigkeit, die Erinnerungsbilder aufzuspeichern und zum Ganzen zu sammeln, das Auge hat die Fähigkeit, einen Ort zur Kontrolle und Befestigung immer wieder aufzusuchen« (BF 96). »Das Auge begeht diese Wege in verschiedener Art je nach der Einrichtung des Werkes. (1) Ist das Werk mit Bestimmtheit und Festigkeit gebaut, bei sukzessiver Wertentwicklung, so schreitet das Auge weidend von den Werten, die es anziehen zu den Werten, die es weiter anziehen, wenn die ersten Werte schon abgegrast sind. (2) Ist das Werk formal mit Bestimmtheit und Festigkeit gebaut, aber zugleich von starker Gegensätzlichkeit der Werte regiert, so bewegt sich das Auge mehr sprungweise, in der Art eines jagenden Tieres. (3) Ist das Werk, was die Form seiner Werte betrifft, aber nicht bestimmt und nicht fest, sondern gelöst und selbst Bewegung und Strom, so gibt sich das Auge wie ein Schifflein gelassen dieser Strömung hin, oder es segelt als Wolke in den leicht oder stürmisch bewegten Lüften« (BF 99)

Die unterschiedlichen Augenbewegungen überträgt Klee in seinem Manuskript zur Vorlesung vom 27. Februar 1922 in drei Linienformationen (BF 99). Im ersten Fall (1) bewegt sich das Auge in diagonalen Bögen von links oben nach rechts unten über die Bildfläche (fig. 18). Es schwingt sich in gleichförmigen Bewegungen von den Werten I zu II, III und IV. Das »jagende Auge« (2) hingegen schlägt Haken, ändert sprungartig die Richtung zwischen den Werten 1, 2, 3, 4 und 5 (fig. 19). Die dabei entstandene Linienfiguration ähnelt entfernt der Bewegungsspur des Geschäftsmanns (→ Abb. 4, S. 150), der zielstrebig seinen Terminen »hinterherjagt«. Im Gegensatz zu diesem ändert das jagende Tier seine Bahnen entsprechend der Fluchtrichtung der Beute nach allen Seiten, so dass sich die Linie mehrfach selbst überschneidet. Die Bewegungsspur des »wie ein Schifflein gelassen« der Strömung der Bildkomposition folgenden Auges (3) (fig. 20) ähnelt in ihrem freien Verlauf der Linie des Spaziergängers (→ Abb. 1, S. 465) (BF 99). Der Vergleich der Augenbewegung mit einem »jagenden Tier« findet sich schon bei Leonardo, der in seinem Modell des Augapfels von einem Hauptstrahl und Linien mit schwächerem »Unterscheidungsvermögen« ausgeht. Letztere spielen nach Leonardo »beim Funktionieren des Auges dieselbe Rolle […] wie die Hunde bei der

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Jagd, welche die Beute zwar aufspüren, aber nicht zu fassen kriegen«. (Linie 79–80) Bewegungsbilder unserer Augen nehmen nach Klee bei unterschiedlichen Sujets geradezu gestische Formen an. Klee nennt sie episch oder dramatisch u. a. (BF 112–113). »Die Funktion eines Bildwerkes ist die Art, wie des Bildwerkes zeitlich bewegter Aufbau sich dem Auge mitteilt, und wie der dem Bildwerk jeweils eigene Bewegungscharakter dem Auge und dem dahinter liegenden Aufnahmevermögen aufgezwungen wird […]. Wie wir das letzte Mal gesehen haben bewegt sich jedes Werk, auch das allerknappeste sowohl entstehend (produktiv) als aufgenommen (rezeptiv) in der Zeit. Der Bau unseres Auges ist auf ein zeitliches Abtasten jeder Gesichts-Wahrnehmung eingerichtet« (BF 105).

Ein Beispiel dieses wichtigen Bewegungsvorganges bei Klee kann das Bild Tor zur Tiefe bieten. Wie das Bild den Betrachter zu einer eigenen Bewegung veranlasst, ist ein komplexer Vorgang. Klee sagt, zuerst müsse das Bildwerk zeitlich bewegt aufgebaut sein und sich so dem Auge mitteilen können. In der Beschreibung von Schmidt werden dazu alle bisher besprochenen Momente, angefangen von den bildnerischen Formen, bildnerischen Mittel und Farben vom Künstler eingebracht, um den Betrachter durch das Bild zu leiten. Aber der Betrachter muss die Bewegung je nach Vermögen selbst annehmen und es receptiv aufnehmen. Wie der Künstler das Bildwerk zeitlich bewegt aufbaut, wie es vom Betrachter receptiv aufgenommen werden kann, dazu mag → Abb. 13, S. 471 eine Anleitung geben. Schmidt gibt eine inhaltsreiche Analyse: »Das Tor zur Tiefe weist verschiedene Bewegungsmuster auf. Das erste, was bei diesem Bild auffällt, ist die Tiefenwirkung, die zum einen durch den starken Kontrast zwischen den Farbflächen und der schwarzen Fläche und zum anderen durch die Gestaltung der Farbflächen selbst bzw. durch die Gitterstruktur der schwarzen Linien hervorgerufen wird. Schauen wir uns das Bild etwas genauer an. Zunächst die Farbflächen: Die Form, die am häufigsten auftritt, ist das Rechteck, neben Trapez, Dreieck und Rautenformen. Die Farben wirken kräftig, doch wird dieser Eindruck wieder durch den ungleichmäßigen Farbauftrag gemindert. Greift man irgendeine Farbfläche heraus, so erkennt man farblich dichtere und dünnere Bereiche. Diese Strukturierung stammt von dem Untergrund und dem Auftragen der Wasserfarben, und ist von Klee, der immer wieder mit Farben und Bildträgern experimentierte, bewusst so gestaltet worden. Der Firnis spielt hierbei wohl eine weniger wichtige Rolle. Mittels dieser Tech-

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Bewegung: vom Künstler zum Bildbetrachter

nik erhalten die Farbflächen eine Marmorierung. Einige von ihnen wirken daher wie massive Marmorblöcke, besonders die Farbflächen im unteren Bereich des Bildes. Die einzige Ausnahme bildet die schwarze Fläche. Sie ist von allen Flächen im Bild die gleichmäßigste und optisch dichteste. Wie auch schon bei Kristall-Stufung finden wir auch hier diametrale Farbbewegungen, und zwar im oberen Bereich zwischen Grün und Rot und zwischen Blau und Orange, ebenso im unteren Bereich des Bildes. Fast in der Mitte des Bildes in das Schwarz hineinreichend findet sich ebenfalls ein weiterer Komplementärkontrast zwischen Blau und Orange. Neben den diametralen kommen in diesem Bild auch peripherale Farbbewegungen vor. Diese finden sich rund um die schwarze Fläche: Oben zwischen Blau und Grün, rechts zwischen Rot und Orange, unten zwischen Blau und Grün und zwischen Rot und Orange und links ebenfalls wieder zwischen Rot und Orange. Indem die Farben so spannungsreich angeordnet sind, strahlt die schwarze Fläche umso mehr Ruhe aus. Kommen wir damit noch einmal zur auffälligsten Bewegung zurück: dem Sog in die Tiefe. Diesen verdankt das Bild der Tonalität. Das Gewicht des Bildes ruht auf der – im Vergleich zu den helleren und damit leichteren Farbflächen – schweren schwarzen Fläche. Hinzu kommt die Geometrie der Farbflächen. Während das Bild rechts eher flach wirkt, entsteht links der Eindruck von Räumlichkeit durch die hellrote Fläche, die nach vorne hochgeklappt erscheint und durch die direkt anschließende blaue und orange Fläche. Die orangefarbene Fläche ragt in die Tiefe, ähnlich wie ein Sprungbrett oder eine Planke, welche auf der Kante des roten Marmorblocks zu liegen scheint. Der Blick wandert entlang dieser Planke bis zur äußersten Kante, von wo aus einen die Dunkelheit empfängt. Das dramatische Geschehen wird eingerahmt von passiven und medialen Linien. Die medialen Linien sind die Umrisslinien der Farbflächen. Medial sind diese Linien deshalb, weil sie aktiv als Linie in Erscheinung treten, aber zugleich als Umrisslinie einer Fläche dienen. Die passiven Linien verlaufen durch die Farbflächen. Sie entstehen indirekt durch Kontraste in den linken Farbflächen und in denen rechts unten. Diese kontrastierenden Stellen, an denen die Linien passiv in Erscheinung treten, sind die außenräumlich behandelten Winkel und Seiten des Vierecks, welches den ›Rahmen‹ darstellt, der auf diese Weise erst nach und nach sichtbar wird. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Rahmen das Tor zur Tiefe ist, und nicht, wie man auf den ersten Blick annehmen würde, das ›Loch‹ selbst, das in die Tiefe hinabführt. Was den Betrachter im Abgrund erwartet, bleibt ungewiss – das Bild selbst liefert keine Anhaltspunkte« (Schmidt 18).

Klee schuf das Tor zur Tiefe, 1936, als letztes Werk des Jahres 1936. In diesem Jahr war er durch seine Krankheit bereits schwer beeinträchtigt. Der Titel des Bildes drückt zweifellos einen tieferen Sinn aus. Er beschwört die Nähe des Todes. 339 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Klee

7.6 Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez Pierre Boulez hat zu Musik und Paul Klee ein kleines Buch mit dem Titel »Le pays fertile (dt. Das Fruchtland)« herausgegeben. Er geht auf die Bedeutung der Musik in der Kunst von Paul Klee ein. 180 Dazu geht Boulez von den beiden unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung, nämlich von »Hören« und »Sehen«, aus. Es ist eine interessante Studie zu den beiden Grundphänomenen des »Hörens« und »Sehens« bzw. von »Musik« und bildnerischer »Kunst«, wobei Boulez von den Gemeinsamkeiten beider angetan ist, aber auch auf ihre Unterschiede hinweist. Für Boulez sind Hören und Sehen die elementaren Formen unserer sinnlichen Wahrnehmung und zugleich Grundweisen menschlicher Kultur. Gleich zu Beginn trifft Boulez die wichtige Feststellung, dass bei beiden Formen des Hörens und Sehens die Gemeinsamkeiten wie Unterschiede bewusst gemacht werden müssen. Eine grundsätzliche Gemeinsamkeit besteht für ihn darin, dass beides elementare Bewegungsformen sind. Ihr innerer Antrieb ist dabei die »Zeit«, im »Raum« breiten sie sich aus. Gemeinsam ist beiden, dass ihre Zeit nicht die geläufige chronologische Zeit ist, sondern eine jeweils eigene (Boulez 84). Die Zeiten der Musik und die der Kunst sind unterschiedlich. Es ist vor allem das Ziel des Werkes von Boulez, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser unterschiedlichen Zeitformen herauszuarbeiten. Auf der Grundlage der elementaren Konstitution aus Zeit und Bewegung gehen dann seine Betrachtungen zur Musik und zur Kunst (insbesondere von Paul Klee) hervor. Sehen und Hören sind für Boulez Ereignisse. Er spricht von Klang- und Bildereignissen. Gemeinsam ist beiden der Zusammenhang von Sukzession und Simultaneität der Töne und Klänge. Für Boulez zeichnet sich Musik vor allem durch die Gleichzeitigkeit von »Simultaneität« und »Sukzession« aus. Simultaneität und Sukzession sind Momente der Bewegung. Wenn er das »Sehen« mit dem »Hören« vergleicht, haben Simultaneität und Sukzession der Bewegungsformen des Sehens und Hörens zwar gemeinsame Züge, sie unterscheiden sich dabei aber auch. 180 Boulez, Pierre (1989), Le pays fertile. Paul Klee. Texte préparé et présenté par Paule Thévenin, Paris. Vgl. auch Düchting, Hajo (2001), Paul Klee. Malerei und Musik, München. Boulez verweist vor allem auf Bach, Mozart, Strawinsky, Webern (Boulez 24, 28).

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Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez

Dazu vergleicht Klee den graphischen Verlauf beider Ereignisse. Bei der Musik ist dieser in der Partitur niedergelegt. Auch Klee war es gewohnt, Partituren zu lesen (Boulez 93). Bei der Partitur vertritt die horizontale Notenlinie die Zeitlinie, hier wird die Sukzession der Töne aufgezeichnet. Aber diese Linie ist nicht die einzige; auf weiteren parallelen Notenlinien werden die Höhen und Tiefen der Musik markiert, also die Bewegung der Musik dargestellt (s. → Abb. 16, S. 361). So wird die Musik in ihrer Bewegtheit durch die Zeitformen zum Ausdruck gebracht, die Sukzession der Zeitform nach und darin zugleich, d. h. simultan, die Höhen und Tiefen. Sukzession und Simultaneität der Noten machen das Klangbild aus. Die Feststellung der Gemeinsamkeit von »Sukzession« und »Simultaneität«, aber auch gewisser Unterschiede bilden den Tenor der kommenden Betrachtungen. 181 Musik und Klee Klees größte Bewunderung galt Bach und Mozart. Mit ihnen war seiner Meinung nach der musikalische Höhepunkt erreicht. Klee: »Bach und Mozart sind moderner als das 19. Jahrhundert« (Tb 1081). Die Musik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stufte er als absteigend ein, und der Musik des 20. Jahrhunderts gegenüber verhielt er sich zurückhaltend. Klee lehnte die Romantik ab; dies war um 1920 in Deutschland und Frankreich eine allgemein verbreitete Haltung. Man besann sich z. B. auf Opern von Mozart, die in Vergessenheit geraten waren, wie etwa Cosi fan tutte u. a. Klee wurde 1920 als Lehrer an das Staatliche Bauhaus in Weimar, das später nach Dessau kam, berufen. Gewissen Tendenzen einer »Musikalisierung der Malerei« gegenüber, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgezeichnet hatten, blieb Klee ablehnend oder skeptisch. Wassily Kandinsky spricht von der »inneren Notwendigkeit« der Musik und der Kunst, also von etwas, das echt ist und so und nicht anders sein kann. Die Familie Klee war mit dem Ehepaar Kandinsky seit der Bauhauszeit befreundet und die beiden Künstler achteten sich gegenseitig sehr. »Mir steht Kandinsky nahe, und ich habe seine Schriften über Kunst mit großem Interesse gelesen. Die folgende Aussage deckt sich auch mit meinen eigenen Ideen: Musik und Malerei – zwei verschiedene Künste, und doch haben sie eine gemeinsame 181

Simultaneität und Sukzession s. (Eikon 108–111).

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Paul Klee

Wurzel, eine Wurzel, von der Kandinsky sagt, sie beinhalte einen ›ursprünglichen‹ Klang« (KL 85–86). Pierre Boulez sah 1947 zum ersten Mal Bilder von Paul Klee im Palais des Papes anlässlich des ersten Festivals von Avignon. Er entdeckte sie in einer Ecke neben großen Werken anderer Maler, die den Blick des Publikums auf sich zogen. Boulez fühlte sich aber von Klees Bildern viel stärker angesprochen; sein Interesse für den Künstler wurde geweckt und er wollte seine Werke und Theorien kennenlernen. Stockhausen schenkte Boulez Das Bildnerische Denken, einen Band zu Klees Form- und Gestaltungslehre, mit dem Hinweis, Klee sei der beste Kompositionslehrer. Boulez fand diese Aussage zuerst übertrieben, kam aber nach langer Lektüre auf Deutsch zum Schluss, dass Stockhausen recht hatte. Boulez stellt klar, dass es nicht möglich ist, eine Kunst direkt in die andere zu übersetzen. Paul Klee beherrschte die klassischen musikalischen Formen. Von diesen Regeln ausgehend, konnte er sich eine besondere Sichtweise rein malerischer Probleme aneignen. »Ich kenne ebenso gut die Musik und denke mir leicht dazu bildnerische Analoga aus« (Tb 862). Klees Theorien sind für Boulez nicht direkt für seine Kompositionen anwendbar, doch kann er häufig Konsequenzen daraus ziehen und wird damit in seiner eigenen kompositorischen Arbeit angeregt oder bestärkt. Die eigenen Ideen werden dank Klee geklärt und sichtbar. Klees Theorien veranschaulichen nach Boulez auf einfache Weise den schöpferischen Prozess der Kunst. Boulez ist überzeugt von der einfachen Weise, mit der Klee seine Beispiele darlegt; sie ist nach ihm allgemein verständlich und elementar. Klee beschränkt danach die Elemente der Imagination und lehrt damit vor allem zwei Dinge: 1) Die Vereinfachung und Beschränkung der Elemente auf ein einfaches Prinzip. 2) ausgehend von einem einfachen Prinzip entsteht ein großes Kraftpotential, das zu zahlreichen neuen Möglichkeiten führt. 182 Seinerseits entwickelt Pierre Boulez vom Werk und von den Theorien Klees ausgehend eine neue Anschauungsweise über Organisation und Rhythmus im musikalischen Raum. Wenn es sich also nicht um eine direkte Übersetzung von einer Kunst in die andere

182 S. (Boulez 146, 53, 64 f.); z. B. für die Themen der Konstruktion; zum Schach, Kreis, Senkrechte (Boulez 78; 125).

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Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez

handeln kann, dann aber um eine Korrespondenz, einen Austausch oder eine bewegliche Verbindung. Boulez sieht ein ähnliches Vorgehen des Komponierens in der Musik und bei Klee. Etwa »in einem ersten Arbeitsschritt analysiert Klee die bildnerischen Elemente – Punkt, Linie, Fläche, Körper – und die bildnerischen Mittel – Linie, Hell-Dunkel, Farbe. Diesen Vorgang veranschaulichte Klee an Beispielen aus der Musik oder der Natur wie etwa anhand einer Pflanze oder dem menschlichen Organismus. Anschließend zeigte er Möglichkeiten zur ›lebendigen‹ Gestaltung auf« (Schöpfung 78). Bei Malern wie bei Paul Klee finden sich oft graphische Hinweise bis hin zu deutlichen Übernahmen musikalischer Partituren und Klangbilder. Aber das Zusammenspiel von Sukzession und Simultaneität ist in der Malerei noch einmal anders zu betrachten als in der Musik. (Schwellen 73 f.)

7.6.1 Zeitlichkeit von Musik und Kunst Ein Grundsatz des Kommentars Boulez zur Kunstlehre Klees ist ein Zitat von Richard Wagner aus dem Parsifal: »Der Raum wird hier zur Zeit« (Boulez 102). Zwar entspricht die Wiedergabe nicht ganz dem Original Wagners »Zum Raum wird hier die Zeit«, aber das Zitat Boulez dürfte dem Zeitverständnis Klees nichtsdestoweniger entsprechen. Denn in der zitierten Form kommt das Zeitverständnisse Klees gut zum Ausdruck: Bei Klee wird der Raum zur Zeit, wie für die Musik gelten kann, dass die Zeit zum Raum wird. »Immer mehr drängen sich mir Parallelen zwischen Musik und bildender Kunst auf. Doch will keine Analyse gelingen. Sicher sind beide Künste zeitlich, das liesse sich leicht nachweisen. Bei Knirr sprach man ganz richtig vom Vortrag eines Bildes, damit meinte man etwas durchaus Zeitliches: die Ausdrucksbewegung des Pinsels, die Genesis des Effektes – beginnt sich immer stärker abzuzeichnen« (Tb 640). 183

Nach Klee zeigt sich die Zeitlichkeit der Musik vor allem in der Polyphonie, aber auch in der Malerei. Doch so Klee: »Die polyphone Malerei ist der Musik dadurch überlegen, als das Zeitliche hier mehr ein

183 S. Zilch, Engel, a. a. O., 77; »Ausdrucksbewegung« und »Bewegungsgestaltung« s. ebd., 83 ff.

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Paul Klee

Räumliches ist: der Begriff der Gleichzeitigkeit tritt hier noch reicher hervor« (Tb 1081). Zeitmodi in Bild und Musik Boulez geht sehr einlässlich auf die Zeitlichkeit von Kunst und Musik im Gespräch mit Klee ein (Boulez 102–119; 86–87). Zunächst stellt er die besondere Zeitlichkeit von Kunst und Musik heraus. Diese Zeitlichkeit hat für ihn nichts mit der allgemeinen chronologischen Zeit zu tun. Wenn in einem Konzert von Zeit gesprochen werden könne, dann nur im Sinne, wann das Konzert zu Ende ist, was aber nichts zu tun hat mit der inneren Zeitlichkeit der aufgeführten Werke (Boulez 84). Dabei gehe es um eine andere Zeit. Für Boulez gilt zunächst auch nicht die Unterscheidung Lessings, die Kunst dem Raum zuzuordnen und der Musik die Zeit. Für Boulez kann die Musik der Kunst helfen, ein neues Verständnis zur Zeit zu finden. Boulez geht von der grundsätzlichen Ähnlichkeit von Musik und Kunst aus. Damit ist Lessings Verteilung der Musik auf die Zeit und diejenige der Malerei auf den Raum bereits unterlaufen und eine Nähe zu Imdahls Kennzeichnung der Kunst spürbar. Nach Imdahl war die Zentralperspektive für den sogenannten »Linearismus« und mit der Zuteilung der Kunst zum Raum verantwortlich. Die Musik dagegen hat zunächst nichts mit einer räumlichen Vorstellung zu tun, was für die Malerei nicht unbedeutend sein dürfte. Die Malerei steht nach Boulez eher dem von Imdahl genannten »Kolorismus« nahe, der auch für die Musik immer wieder vergleichsweise herangezogen wird. Dann ließe sich erwägen, ob nicht der von Delaunay erstrebte, praktizierte und theoretisch erörterte Kolorismus für die Malerei in eben demselben Maße Ausdruck einer zeitlichen Simultaneität ist wie in der Musik. (GS3 211) Im Blick auf die Kunst Klees ist für Boulez die Zeit eine gleich wichtige Dimension wie der Raum (Boulez 102). Boulez versucht aber auch sofort den Unterschied in den Zeitformen von Bild und Musik zu erkennen. Ein Bild, etwa von Klee, begegnet dem Betrachter sofort als »Totalität«. Diese Totalität meint noch nicht das Bild in allen Einzelheiten, sondern in seiner globalen Struktur. Sodann wird der Betrachter das Bild überfliegen und in einer zunächst selbst gewählten Weise die Details analysieren, im Zusammenhang des Ganzen. Er wird nach einem bestimmten Weg wieder zur Totalität zurückkommen und so wird sich der Gesamteindruck runden, im Betrachter wird ein Bild 344 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez

entstehen. Das geschieht durchaus zeitlich, synchronisierend und synthetisierend. Der Zeitaufwand wird für einen ersten Eindruck nicht groß sein, allerdings bei jeder jeweiligen Vertiefung wesentlich aufwendiger. Boulez geht sodann auf den Zeitaufwand des Malers ein (Boulez 104–107). Selbstverständlich hängt dieser von dem Künstler selbst ab. Picasso arbeitete mit eingefleischten »Gesten«, Klee aber sehr aufwendig mit unterschiedlichen Materialien, Strukturen, Farben u. a. Das bedurfte bisweilen eines großen Zeitaufwandes. Der Künstler wendet diese Zeit aber dafür auf, damit er dem Betrachter einen Weg zum Kunstwerk mitgeben kann, einen Weg, der wiederum der Zeit bedarf. Ganz anders die Zeitlichkeit der Musik (Boulez 107). Es ist nicht möglich, von Anfang an einen globalen Blick auf das aufzuführende Werk zu haben. Das gilt wenigstens für den Hörer eines Konzertes. Er muss das Werk bis zum Schluss hören, und nur wenn er bis zum Schluss gehört hat, kann er sich ein Bild von dem Musikwerk machen. Mit anderen Worten nimmt die Aufnahme des Werkes mit Verlauf des Vortrages immer mehr zu und so kann ein Gesamteindruck des Werkes langsam wachsen. Es ist deutlich, dass das zeitliche Bewusstsein in beiden Fällen sehr unterschiedlich beansprucht wird. Im Fall des Musikstückes ist die »Sukzession« der Zeit von entscheidender Bedeutung. Es ist die Erinnerung, die das Gehörte behält und mit dem jetzt Gehörten und dem Kommenden verbindet. Dies erinnert an das Zeitverständnis des Augustinus, der die Musik zum Ausgang seines Zeitverständnisses nahm und sich damit von dem anderen, Aristotelischen Zeitverständnis absetzte. Ein Zeitverständnis, das für das Verstehen von Zeit bedeutsam geworden ist. Anders beim Kunstwerk. Es geht nicht von einer zeitaufwendigen Sukzession des Aufmerkens aus, sondern von der Totalität des ganzen Bildes in dem vorbestimmten Rahmen. Diese Totalität ist aber auch nicht alles, sondern sie ist als Simultaneität zu verstehen, als ein Ganzes, das in sich sehr wohl Einzelheiten enthält, die der Betrachter zusammensammelt und auf den globalen Eindruck zuführt. Somit enthält auch das Betrachten den sukzessiven Weg der Einzelheiten. Auch dieses Verhältnis des sukzessiven Betrachtens vor der Totalität im Blick bedarf des zeitlichen Aufwandes. Bei Klee gibt es interessanterweise eine ähnliche Überlegung. In einer Fußnote zur ersten Fassung seines Aufsatzes über Graphik 345 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Paul Klee

spricht Klee über die Schwierigkeiten, die ein Kunstwerk dem Bildbetrachter bereiten kann: »Der hauptsächliche Nachteil des Betrachters liegt darin, daß er zunächst vor ein Ende gestellt wird, und was die Genesis betrifft, scheinbar den umgekehrten Weg geht«. Der Betrachter wird demnach an das Ziel gestellt und muss den Weg des Künstlers in entgegengesetzter Richtung bis zum Ausgangspunkt zurücklaufen. Während ein musikalisches Werk stets in der »Reihenfolge der Conception« aufgenommen werde, müsse der Rezipient eines Bildwerkes sich seinen Weg selber suchen. Dies bedeute für den unkundigen Betrachter einen Nachteil, für den Sachverständigen jedoch den Vorteil, »die Reihenfolge beim Aufnehmen stark zu varieren und seine Vieldeutigkeit erst recht zu erkennen« (Linie 71). Nach Boulez sind die gestaffelten Einsätze der Musik gleichzeitig sichtbar und erfassbar; die Zeit wird sichtbar gemacht. Das Zeitempfinden in der Musik ist »à sens unique« (Boulez), verläuft also in einer Richtung und ist eindimensional. Der Raum in der bildenden Kunst führt in mehrere Richtungen (Boulez 110). Trotz dieser Ungleichheit können Bezeichnungen von der Musik auf die Kunst und umgekehrt übertragen werden, wie es bei Klee geschieht, wenn er für seine Werke die Tempi »lento«, »veloce« u. a. vorgibt oder auf die Rhythmen von Sonaten und Fugen hinweist (Boulez 111), oder wenn er für die Räume die Tonwerte von »acuto«, »medio«, »grave«, »denso« (aigu, medium grave, dense, avec de petits intervalles, avec des intervalles plus grands, un registre symétrique etc.) verwendet (Boulez 110).

7.6.2 Linien, Töne, Perspektiven Melodische Linien Boulez sieht von Anfang an eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Musik und Klee, wenn es um die elementaren Darstellungen beider Künste geht, angefangen von der »Linie«. Bei der bildnerischen Kunst wird man nach der Klassik davon ausgehen, dass die Linie linear ist, also geometrisch von einem Punkt zum anderen gezogen wird. Anders bei der »melodischen Linie«, wie sie der Musik zu Grunde liegt. Die melodische Linie ist weniger linear ausgezogen, sondern sie geht auf und ab, vor und zurück, sie wird ausgeschmückt (ornémentation) und folgt einem bestimmten Rhythmus (Boulez 51 ff.). 346 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez

Boulez findet von Anfang an Gefallen an dem Konzept der Linie bei Klee. Bei Klee trifft er von Anfang an auf eine lebendige Linie. Klee zieht eine Linie und ›schmückt‹ sie aus. Sie geht bei Klee auf eine Reise ähnlich der melodischen Linie (Boulez 52). Klees Linie folgt keiner »objektiven Geometrie« (Boulez 126). Im Gegenteil. Nach Boulez ist die Linie bei Klee keine »perfekte Linie«, sondern die Annäherung an eine Linie (n’est pas la ligne parfait, mais une approximation de la ligne). Und so ist es auch mit den anderen geometrischen Figuren bei Klee. Der Kreis ist ebenso wenig ein perfekter Kreis, sondern ein Kreis, der von der Hand gezogen ist. Hier kommt nach Boulez ein weiterer wichtiger Grundsatz von Klee zur Anwendung: Klee hält sich an die Geometrie und weicht zugleich von der Regel ab (le principe et la transgression du principe). Klee soll seinen Studenten einmal den Grundsatz vorgetragen haben: »Die grundlegende künstlerische Aufgabe besteht darin, die Bewegung auf der Grundlage des Gesetzes zu schaffen, das Gesetz als Referenz zu verwenden und sofort davon abzuweichen (La tâche artistique fondamentale consiste à créer le mouvement en se fondant sur la loi, à utiliser la loi comme référence et à s’en écarter aussitôt)« (Boulez 65).

Um Klees Verbindung von melodischer und bildnerischer Linie zu erklären, weist Bonnefoit auf die musiktheoretischen Schriften von Eduard Hanslick sowie Theodor Billroth (1829–1894) und vor allem auf Ernst Kurth zurück, deren Inhalt der Künstler gut kannte. Klee übertrug eine bereits ausgefeilte Linientheorie auf den Bereich der Musik, die ihm als zusätzliches Anschauungsmodell diente. (Linie 137–138). Die Musiktheorie von Ernst Kurth sei erwähnt, der die »melodische Linie« als die »Wegstrecke eines in Bewegung gesetzten Tones« beschrieb.184 Entsteht für Klee die Linie aus der Bewegung des Punktes, so definiert Kurth die melodische Linie als »Wegstrecke eines in Bewegung gesetzten Tones«. Beide erklären die Bewegung zum entscheidenden Faktor in der Liniengenese. Für Kurth ist das Wesen des Melodischen »nicht eine Folge von Tönen […], sondern das Moment des Übergangs zwischen den Tönen und über die Töne hinweg; Übergang ist Bewegung«. Bezeichnet der Berner Professor das Musizieren als eine »aus Bewegung hervorgegangene und eine 184 Kurth, Ernst (1913), Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, München, 60.

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Paul Klee

Bewegung versinnbildlichende Formung«, so entsteht für Klee das bildnerische Werk in gleicher Weise »aus der Bewegung«. Es »ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung«. Analog entwickelte sich bei Klee aus der Bewegung eines Grundbausteins, sei dieser ein Punkt oder ein Ton, ein Werk der bildenden Kunst beziehungsweise der Musik. Beide Theorien verbindet »die romantische Vision der Arabeske als einem organisch sich aus einem Punkt entwickelnden Liniengespinst«, so Bonnefoit. Die Musiktheorien von Ernst Kurth und Eduard Hanslick (1824–1904), dessen Schrift Vom Musikalisch-Schönen (1854) Klee bereits im Sommer 1902 gelesen, aber nur sehr knapp kommentiert hatte, sind nicht nur in Bezug auf Klees Linientheorie von Interesse. In beiden Theorien findet sich, wie Bonnefoit zeigt, auch der Vergleich vom organischen Ursprung aus dem pflanzlichen Keim. Beide Musiktheoretiker sahen in der Bewegung das zentrale Element der Musik. Hanslick endete seine These mit dem für die damalige Zeit höchst provokativem Satz: »Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen.« Auf dieser Theorie aufbauend entwickelte Ernst Kurth seine Linientheorie, die er 1917 in Bern unter dem Titel Grundlagen des linearen Kontrapunkts herausgab. Sowohl Kurth wie auch Klee erklärten die Bewegung zum entscheidenden Faktor der »Erformung« respektiv »Formung«, der »Formwerdung«. »Absolute Ruheempfindung in der Musik gibt es nicht; wo nicht Bewegung geschieht, liegt Wille zu Bewegung verborgen«, so Kurth (Schöpfung 203 f.). Das Buch von Kurth ist eine wichtige Quelle für Klees Ausführung über die »lineare Polyphonie«. Kurths Thesen waren in der Berner Musikszene, in der Klee seine Anfänge als Violinist gemacht hatte, sowie am Bauhaus, nachweislich bei Itten und Kandinsky, verbreitet. (Linie 139) (Schöpfung 203). Haupt- und Nebenlinien (Boulez 51–54, 60–61) Den aktiven Linien können nach Klee Begleitlinien zugeordnet werden: So entsteht um eine feste Melodie ein kleines Polyphones. Oder diese Linie umschreibt sich selbst: sie gerät in sich in Bewegung. Oder zwei Nebenlinien umspielen die Hauptlinie, ohne daß diese selbst erscheint. (Wege 75) Was Boulez an der Linientheorie Klees weiterhin interessiert, ist, dass es bei Klee meist nicht um eine einsame Linie geht, sozusagen eine Hauptlinie, sondern diese von einer oder mehreren Ne348 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez

benlinien begleitet und umspielt wird. Dieses Bild entspricht am besten der melodischen Linie der Musik, deren melodische Hauptlinie von unterschiedlichen Nebenlinien begleitet und rhythmisch und klanglich angereichert wird (s. → Abb. 16, S. 361). Das ergibt die Frage, wie Haupt- und Nebenlinien sich zueinander verhalten, welche Beziehungen sie verbinden und unterscheiden. Hier greift Boulez auf die Erzählung Klees von dem Punkt, der spazieren geht und dabei verschiedene Erlebnisse hat, zurück. Er erinnert an die Begegnung des Spaziergängers mit einem Anderen und überträgt dies auf die Begegnung zweier musikalischer Linien bzw. Stimmen (Boulez 61). Die ans Anekdotische grenzende Beschreibung des Verhaltens zweier Stimmen erinnert Boulez an Klees »Reise ins Land der besseren Erkenntnis«, in der sich auch die Wege der Protagonisten kreuzen und trennen: Nach dem Übersetzen über einen Fluss trifft der Reisende auf »einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden« ist. »Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien)«. (Linie 140) Schon in den ersten beiden Bauhaus-Lektionen untersuchte Klee das Verhalten zweier Linien, die sich umspielen, parallel zueinander verlaufen, in einem Punkt schneiden, um dann wieder getrennter Wege zu gehen (KL 13, 14). Von Musik ist dort noch gar nicht die Rede. Die Linien werden als Wege bzw. Bewegungsspuren von Individuen gedeutet. Diese nach dem Vorbild von Klages betriebene »Bewegungsphysiognomik« überträgt Klee anschließend auf den Bereich der Musik. Seinen Versuch, einen sogenannten »individuellen« und »strukturalen Rhythmus« in zwei Linien zu übersetzen, kommentiert der Künstler wie folgt: »Das Individuum fühlt sich erhaben durch seine höhere Eigenart, bedarf keiner besonderen Betonung seines Ichs, und geht in quantitativer Stille flötenhaft für sich dahin, trotz der Kameradschaft der schweren strukturalen Instrumentation« (Boulez 54). Der Künstler spricht hier den musikalischen Linien Charaktereigenschaften zu, die sich in ihrem Lauf und Verhalten zueinander äußern. So wie die Bewegungsspuren des Spaziergängers und des Geschäftsmanns auf deren Wesensart schließen lassen, so der Verlauf der melodischen Linien auf die der Töne. Eine Bewegungsphysiognomik von Tönen (Linie 140).

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Paul Klee

Klang-Perspektiven Boulez räumt dem Thema der Perspektive bei Klee breiten Raum ein. Er erkennt im Thema der Perspektive und der damit gegebenen Veränderungen und Verschiebungen von Räumen ein wichtiges Analogon zu den verschiedenen musikalischen Welten, Klangperspektiven, kulturellen und zeitlichen Harmonien und Klangwelten (Boulez 55–75). In der Tat ist die Behandlung der Perspektiven bei Klee sehr umfangreich. Sie wird bis in Einzelheiten von Boulez aufgegriffen und für die musikalische Welt interpretiert. So beginnt er wie Klee mit den vielen möglichen Perspektiven von Eisenbahnlinien (Boulez 55), erörtert dazu die Dimensionen, die Bedeutung der Senkrechten und Waagrechten, wie sich die Raumperspektive verschiebt, wenn sich die Augenhöhe (die Vertikale) ändert oder der Horizont (Horizontale) wandert, wie sich das Zentrum verschiebt (Boulez 68–69, 73). Schließlich kommt es zur Diskussion von drei oder vier Dimensionen, wenn neben den drei räumlichen Dimensionen eine vierte Dimension in unser Wirklichkeitsbild eingefügt werden soll. Boulez fügt in der Tat eines der eigenartigen Bilder mit den nur zwei Dimensionen für den Raum und der dritten Dimension der Zeit von Klee ein (Boulez 71) (s. oben Anm. 128).

7.6.3 Struktur Takt Rhythmus Boulez konzentriert sich vor allem auf die Teile der elementaren Formlehre, welche die Elemente der Struktur, des Rhythmus, der Polyphonie u. a. enthalten. Hier sieht er die meisten Entsprechungen zwischen Musik und Kunst. Weil Klee Musiker war, verwendete er die Begriffe wie Struktur (Boulez 36, 173), Takt, Rhythmus (Boulez 34), Klang, Synkope (Boulez 35), Polyphonie (Bewegungsausgleich), Harmonie, Klang, Dynamik, Variation, Kontrapunkt, Fuge (Boulez 88, 93), Sonate (Boulez 34, 117) oft und nie vage, sondern er wusste, wovon er sprach. Dies ist in seinen Unterlagen zu den Bauhaus-Kursen deutlich ersichtlich. Takt Struktur Nach der Behandlung der elementaren Formen von Punkt, Linie und Fläche sagt Klee ausdrücklich, dass er nun »auf das musikalische Gebiet überwechselt«. Und er nennt als Einstieg die Begriffe »Struktur«, 350 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Musik und Malerei bei Klee – Echo von Pierre Boulez

»Rhythmus« und »Takt«: »Grundlegende Struktur ist hier der Takt. Für das Ohr ist der Takt einigermaßen latent, wird aber doch durchempfunden als strukturales Netz, auf dem sich die Quantitäten und Qualitäten der musikalischen Ideen abspielen« (Spiller1, 270). Diesen Teil beginnt Klee mit dem Phänomen des Rhythmus, wobei Klee vorerst keine akustischen, sondern optische Rhythmen behandelt. Es geht ihm zunächst um Flächendekoration und Ornamentik und nicht um Musik. Erst danach macht sich Klee an die Aufzeichnung von Takten, musikalischen Gebärden, Melodien und Rhythmen durch bloße Linien. Da der Künstler über den Rhythmus in die Musiktheorie einsteigt, folgert Düchting, dass er für Klee das eigentliche tertium comparationis gewesen sei. Der Rhythmus gelte ihm als das bindende Glied zwischen Musik und bildender Kunst, da er wie kein anderes Element »die zeitliche Bewegung« beider Künste verdeutliche. Die gleiche Ansicht vertritt Wolfgang Kersten, der zusätzlich auf die Bedeutung des Taktes hinweist, den Klee als die »grundlegende Struktur« der Musik bezeichnet: »Mithilfe der Begriffe ›Rhythmus‹ und ›Takt‹ verzahnte Klee Musik und Malerei so miteinander, daß er zwischen beiden Gebieten scheinbar problemlos hin und her zu wechseln vermochte«. 185 (Linie 137) Boulez hat auf Anregung von Klees selbst Kompositionen mit dem Namen »Structures« hinterlassen (Boulez 173). Rhythmen Wie wir gesehen haben gliedert die Struktur eine Fläche und gibt ihr Bewegungsmoment an. Für die Musik gibt der Takt die Gliederung vor, der Rhythmus gibt das Bewegungsmoment wieder. Die Partitur macht Gliederung und Bewegung lesbar als strukturaler Rhythmus, der von der primitivsten Reihung bis zu komplizierten Taktbildungen aufsteigen kann. Merkmal ist die Wiederholung einer Einheit. Man kann Teile fortnehmen oder hinzufügen, ohne den rhythmischen Charakter, der auf der Wiederholung beruht, zu verändern. (Wege 77) Das Bewegungsmoment des musikalischen Werkes wird durch den Rhythmus wiedergegeben. Wenn es bei der Musik um Dynamik und Zeit geht, so wird diese durch den Rhythmus erzeugt. Dynamik und Zeit der Musik sind nicht in der »chronometrischen« Zeitrech185

Düchting, Hajo (1997), Paul Klee. Malerei und Musik, New York, 14.

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nung zu finden, sondern im Rhythmus des Werkes und im Wollen des Künstlers. Aus diesem Grund diskutiert Boulez das musikalische Zeitverständnis auch im Zusammenhang mit der Vorstellung der Rhythmen (Boulez 84–87). Für Boulez sind die »strukturalen« und »individuellen Rhythmen« für die Musik von hervorragender Bedeutung. Boulez nennt die Unterscheidung Klees von »strukturalen« und »individuellen Rhythmen« einzigartig und genial (Boulez 44). Diese Unterscheidung ist wichtig vor allem für die graphische und bildnerische Darstellung des Lebens, des Organischen und der Natur, für Boulez aber auch sehr aufschlussreich für die Musik (Boulez 46). »Individuelle Rhythmen« – In der 5. Lektion vom 30. Januar 1922 übersetzt Klee einen sogenannten »individuellen Rhythmus« in eine geschwungene, mehrfach die Richtung wechselnde Linie (BF 56). Zeichnet sich der »strukturale Rhythmus« durch die stete Wiederholung von gleichen Momenten aus, so ist im »individuellen Rhythmus« »das repetierende Moment ausgeschlossen«. Dementsprechend ist in der Umsetzung dieser Art von Rhythmus in die Linie keine Teilstrecke mit einer anderen identisch. Die »individuellen Gliederung« kann nie auf 1 + 1 reduziert werden. In ihr gelangt man in den Bereich der Proportionen, zum Beispiel a; b = b : (a + b) = Goldener Schnitt; das ist eine wichtige Größe gerade in der klassischen Kunst, auch in der Kunst Klees. Und Boulez sieht Entsprechungen in der Musik, etwa im Hinblick auf Intervalle. Der individuellen Rhythmik kommt nach Klee die Rolle der führenden Melodie, der »strukturalen« die der Begleitung zu. Der Bereich der Struktur und der Proportion ist die Bewegungsform des Rhythmischen und Melodischen. 186 Schachbrett Im Bild des Schachbretts sieht Klee einen starken Bezug zur Musik, denn es verkörpert für ihn die Einteilung und Unterteilung von Zeit und Raum. Horizontale Einteilung steht für die Zeit; Vertikale Einteilung für den Raum. Auch in der Musik spielt sich die Zeit in der Horizontalen ab; man liest eine Partitur von links nach rechts. In der Horizontalen vollzieht sich die Unterteilung der Zeit. Melodische Linien, Akkorde und Intervalle dehnen sich im Raum aus, werden also Bei Rhythmen greift Klee meist auf die Musik zurück: Pastorale (Rhythmen), 1927; Rhythmen einer Pflanzung, 1925; Rhythmisches, 1930.

186

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vertikal durch die Vertikale abgebildet. Klee spielt mit dem Prinzip des Schachbrettes und verändert es (Boulez 77–78). Schema des Schachbretts sind für Klee Ausgang einer Serie von Bildern, den sogenannten Quadratbildern. Boulez erkennt, dass Klee in den Darstellungen des Schachschemas den strukturalen mit dem individuellen Rhythmus verbindet. Die Darstellung der Schachfelder müssen sich nicht struktural 1 zu 1 wiederholen, also horizontal 1 schwarz zu weiß und vertikal 1 weiß zu schwarz, sondern die Flächen können durch Hell und Dunkel oder durch unterschiedliche Farben und dazu noch verschieden proportional, d. h. individuell, variieren (Boulez 78–83). Für Boulez hat das große Bedeutung für die Musik. Denn der Rhythmus der Musik zeigt Ähnlichkeiten. Wie beim Schach die Flächen (vertikal wie horizontal) die Zeit abbilden, so in der Musik die einzelnen Module das »Tempo« des Werkes (Boulez 84–86). Allerdings, und hier beginnt Boulez seine Überlegungen der Zeit, sieht er einen entscheidenden Unterschied in der Musik und in der Kunst. Das Schachbrett stellt die Totalität vor Augen. Die Totalität der einzelnen Fächer wird in einem ersten Eindruck festgehalten, ohne dass die Besonderheiten der Fächer schon erkannt werden. Das Schachbrett muss in seinen Einzelheiten sozusagen zeitlich abgearbeitet werden. Anders in der Musik. Hier geht der Weg von Modul zu Modul, ohne dass die Totalität des Werkes schon sichtbar ist, sondern diese muss nach und nach sichtbar werden (Boulez 86–87). »Klee übertrug den räumlichen Rhythmus des schwarz-weissen Schachbrettes auf den zeitlichen Takt. Schon Ernst Mach habe Taktstrukturen und Melodien mit räumlichen Muster verglichen, eine Idee, die mit zu Klees Theorie von der Polyphonie der Malerei beitrugen« (Schöpfung 127). 187 (Linie 154) »Auf die chladnischen Klangfiguren folgt die Wellenstruktur im Sand als Symbol der kleinteiligen Belebung. Die Welle formt durch ihre Bewegung Sandgebilde, die man als Kanäle bezeichnen kann. Die Bewegung formt. Als weiteres Beispiel erläuterte Klee die Entstehung eines Tones in der Musik. (BG I.2/24–25)« (Schöpfung 128).

»Kulturelle Rhythmen« – In seiner Vorlesung vom 16. Januar 1922 hält Klee die Bewegung eines vom Dirigenten geschwungenen Taktes in Linien und Punkten fest (BF 51). Die Visualisierung von Musik ist 187 Das Muster des Schachbretts in der Musik: Harmonie in Blau und Orange, 1923; Alter Klang, 1925; Neue Harmonie 1934.

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in diesem Fall das Ergebnis zweier Übersetzungen: Takte werden zunächst in Handbewegungen übertragen und diese anschließend graphisch fixiert. Klee kommentiert seine Aufzeichnung ausführlich (Linie 157–161).

7.6.4 Polyphonie Komposition In BG IV.4. wurde nur von einem einzigen Weg ausgegangen, auf dem das Auge durch das Bild »spaziert«. Der Künstler kann nach Klee jedoch genauso gut mehrere Wege einrichten, die sich durch das Gemälde schlängeln, streckenweise parallel zueinander verlaufen, sich wieder trennen oder sich überschneiden. Es ist diese Kompositionsmethode, die Klee nach dem Vorbild der Kontrapunktlehre als »bildnerische Polyphonie« bezeichnet. Es handelt sich um ein Gestaltungsprinzip, das sich ab den zwanziger Jahren bis in sein Spätwerk verfolgen lässt. Unter Kontrapunkt versteht man die »Technik der Kombination gleichzeitig erklingender musikalischer Linien«. Diese Definition zeigt, wie selbstverständlich in der Musikwissenschaft bis heute die Veranschaulichung von Musik durch Linien ist. In der kontrapunktischen Musik, die sich während des späten Mittelalters entwickelt und ihren Höhepunkt mit Johann Sebastian Bach erreicht, erklingen verschiedene Melodien zusammen. Obgleich jede von ihnen ihre eigene, unabhängige Bewegungsrichtung hat, wahren sie eine harmonische Wechselbeziehung und erzeugen auf diese Weise den Eindruck eines organisierten Ganzen. Analog zur polyphonen Musik bedeutet »bildnerische Polyphonie« für Klee die Kombination mehrerer Linien in einem Bild, die zwar ihre eigenen Wege gehen, aber dennoch aufeinander reagieren«. 188 Die Rede von den »Wegen« in der Musik findet sich in mehreren musiktheoretischen Werken der Jahrhundertwende. (Linie 140) In einem zwischen 1919 und 1921 niedergeschriebenen Text gibt Klee seiner Überzeugung Ausdruck, dass der Bildbetrachter aus der Beschäftigung mit polyphoner Musik ebenso viel Nutzen ziehen könne wie der Künstler: »Aber bei der Musik durch die Besonderheit polyphoner Kunstwerke Erkenntnisse schöpfen, in diese kosmische Sphäre tief eindringen, um als ge188 S. das Kapitel Von der »Bewegungsphysiognomik« zur »bildnerischen Polyphonie« (Linie 140 ff.).

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wandelter Kunstbetrachter draus hervorzugehn, und dann im Bild diesen Dingen nachzuwarten, das ist schon besser. Denn die Gleichzeitigkeit mehrer[er] selbständiger Themen ist eine Sache, die nicht nur in der Musik sein kann, wie alle typischen Dinge nicht nur an einem Ort gelten, sondern irgendwo und überall verwurzelt sind, organisch verankert« (KL 13).

Die polyphone Musik dient Klee als ein didaktisches Modell, um Schüler und Bildbetrachter für das gleichzeitige »Zusammenklingen« unterschiedlicher Elemente im Kunstwerk zu sensibilisieren. Bei diesen kann es sich um Linien, aber auch um Farbflächen handeln, die in transparenten Schichten übereinander gelegt zusammen erklingen. (Boulez 37) (Linie 141) Aus den Notizen zu seinem Bauhaus-Unterricht geht weiterhin hervor, was Klee selbst unter polyphoner Malerei verstand: »Durch Überlagerung verschieden strukturierter Flächen entsteht eine bildnerische ›Vielstimmigkeit‹, ein Zusammenklang der bildnerischen Mittel, wobei der Farbe besondere Bedeutung eingeräumt wird.« Ähnlich wie bei Schönbergs Zwölftonsystem, das zeitgleich entstand (1923), wird das Werk aus einer Grundreihe von Farb-Tönen abgeleitet, jeder Ton festgelegt durch seine Beziehung zur vorbestimmten Grundreihe, woraus sich eine Gesetzmäßigkeit ergibt, die im Einzelnen jedoch nicht kontrollierbar ist. Eine derartige »Farbakustik« entwickelt Paul Klee mit Hilfe des Farbkreises, indem er die drei anwachsenden und verklingenden Grundfarben Rot, Blau und Gelb »dynamisch« und »polyphon« sich durchdringen läßt: Ist eine dreistimmige Bewegung erkennbar, bei der die Farb-Stimmen kanonartig hintereinander einsetzen, spricht er vom »Kanon der Totalität« (BF 180, 176–177). Polyphone Farbbewegungen im Bild ergeben sich von außen nach innen, von unten nach oben, von einer Seite zur anderen oder diagonal; Farbpaare können sich zu Farbgängen erweitern, d. h. von einer Komplementärfarbe zur anderen, ferner von warm zu kalt, von dunkel zu hell, von »Dur« nach »Moll«. 189 So entstehen chromatische Farbskalen und »polytonale« Kompositionen mit meist mehreren Zentren. Von den musikalischen Ambitionen Klees (der übrigens selbst von Jugend an Geige spielte, zeitweise sogar im Berner Orchester) künden auch die Strenge des 189 Es wäre eine ganze Reihe polyphoner Motive im Werk Klees zu nennen: Polyphon gefaßtes Weiß, 1930; Polyphonie, 1932; Ad Parnassum, 1932; Polyphone Strömungen, 1929.

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Aufbaus, die formale Ausgewogenheit und Klarheit, die Farb- und Flächenspannungen und die vibrierend- rhythmische Bewegung der Farben vieler seiner Werke. Sie erinnern an Fugen von Bach und legen Bezeichnungen nahe wie »Orchestrierung der Farbe«, »Bildgesang« oder »Polyphonie der Malerei«. Diesem Phänomen liegt ein Verständnis zugrunde, das die reine Farbe als eine »jenseitige Angelegenheit« erkennt. Während für Klee das Hell-Dunkel einen Quantitätswert darstellt (meß- und wägbar, er spricht z. B. von »Schwarzbeschwerung«), hat die reine Farbe einen Qualitätswert: innerer Reichtum und Gestaltungspotenz der Farbe gründen in ihrer »jenseitigen Herkunft«. Komposition Komposition wirft die Frage auf, wie Regelwerk eines musikalischen Stückes (continuité) und Originalität (varieté) verbinden? (Boulez 130–146) Und wieder antwortet Boulez mit Klees Grundsatz: »La tâche artistique fondamentale consiste à créer le mouvement en se fondant sur la loi, à utiliser la loi comme référence et à s’en écarter aussitôt.« »Die grundlegende künstlerische Aufgabe besteht darin, die Bewegung auf der Grundlage des Gesetzes zu schaffen, das Gesetz als Referenz zu verwenden und sofort davon abzuweichen« (Boulez 65). Boulez geht dazu intensiv auf eine Aufgabe ein, die Klee seinen Schülern gestellt hat. Für ihn ist Klees Lösung eine außerordentliche Demonstration der Fähigkeiten Klees, komplexe Probleme durch einfache Experimente zu lösen. In diesem Falle ging es Klee nicht zuerst um Musik, sondern um Strukturprobleme, nämlich um die Beziehung zwischen einzelnen Elementen und ihre Veränderung. Die Aufgabe der Schülerarbeit war: Wie ist die Beziehung zwischen einzelnen Elementen mit unterschiedlichem Charakter zu erreichen. (BF 69 ff.) Hier sollte die Kombination zwischen festen und flüssigen Formen untersucht werden. Eine Kombination aber, wo die Elemente nicht nur aufgereiht werden, sondern aufeinander einwirken. Aber nicht so einwirken, dass sie den Anderen auslöschen, ihn aber auch nicht obsiegen lassen. Elemente, die aufeinander einwirken, so dass die Einwirkung bestehen bleibt und die beiden doch nicht verändert, nicht im Auflösen der Identität, sondern im gegenseitigen Wachsen. Klee führt das Experiment mit einer »Senkrechten« und einem »Kreis« durch. Dadurch kann er die verschiedenen Fehlformen, Verkrümmungen etc. der beiden unterschiedlichen Elemente 356 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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aufzeigen. Seine Antwort ist: Über die Senkrechte einen transparenten Kreis zu legen, etwa eine optische Linse. Das Ergebnis wird eine insgesamt neue Gestalt sein. Der Kreis wird nicht mehr der frühere sein, aber doch noch Kreis, und die Senkrechte wird nicht mehr die Gerade sein, sondern vielleicht ein Zickzack wie ein Blitz. Boulez erkennt dann im berühmten Gemälde Der Physiognomische Blitz, 1927, tatsächlich das Ergebnis der Aufgabe. Mit anderen Worten ist aus der Beziehung zweier unterschiedlicher Charaktere etwas Neues geworden. Für Boulez geht es bei der Komposition um das gleiche Prinzip: Es geht um unterschiedliche melodische Linien, eine Hauptlinie und verschiedene Nebenlinien. Es ist Aufgabe der Komposition, die Linien zu ihrem Recht kommen zu lassen neben allen anderen. Wenn musikalische Figuren kreiert werden, dann sind sie zur gegenseitigen Veränderung geschaffen. Organische Komposition Boulez sieht Ähnlichkeiten zwischen der Musik und der Natur. Die Quelle dazu sieht Boulez in den Metamorphosen Goethes, auf die sich Webern in seiner Musik immer wieder bezieht. Die Pflanze entsteht danach aus einer einzigen Zelle und entwickelt sich danach organisch. Boulez spricht von einem organischen Plan, der sehr geometrisch abläuft (avec une géométrie très précise). Das Ergebnis formuliert Boulez: »Elle est dans le même temps une et multiple (die Pflanze ist zur gleichen Zeit eins und multipel)« (Boulez 152). Es ist offensichtlich, dass Klee, wie Boulez ebenfalls feststellt, die Theorie der musikalischen Rhythmen auf das Leben und die Natur überträgt. Es sind die Schemen der »strukturalen bzw. dividuellen und individuellen Rhythmen«. Boulez verfolgt Klees Naturforschungen intensiv und stellt fest, dass es Klee nicht zuerst um eine poetische Naturbetrachtung geht, sondern Klee den Organismus einer Pflanze oder eines lebendigen Wesens erfassen will. Dazu gebraucht er geometrische Gesetze. Da sie aber nicht auf der Hand liegen, versucht Klee sie geradezu wieder zu erfinden (reinventer). Er gebraucht dazu Schemata wie die der »dividuellen« und »individuellen« Strukturen. Klee will bildnerisch schöpferisch wirken. (Boulez 150–163). Boulez findet bei Klee große Ähnlichkeiten in der Darstellung von Musik und Natur. Das Modell der Ähnlichkeiten findet er in den Gliederungs- und Bewegungsmomenten von Musik und Natur, vor allem der Wachstumsmodelle in der Pflanzenwelt und den Bewegungsmomenten der musikalischen Komposition. Es sind die Ähn357 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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lichkeiten der »strukturalen bzw. dividuellen und individuellen Rhythmen«. Zwei Darstellungen von Klee machen diese bildnerische Ähnlichkeit der Struktur des Wachstums der Natur und des Fortschritts in der Musik sehr anschaulich. (→ Abb. 14, 15, S. 472) Klee beschäftigte sich schon sehr früh mit der Natur, mit ihren Wachstumsabläufen und Strukturen. Er besaß eine Naturaliensammlung unterschiedlichster Pflanzen und Pflanzenteile (Blüten, Blätter, Moose, Gräser, Samen, Algen und Flechten), Kleintiere wie Schmetterlinge oder Seeigel und auch Steine. Er nutzte diese mit wissenschaftlichem Interesse als Formensammlung. Mit dem Versuch, die Geheimnisse der Natur zu ergründen, erstrebte Klee eine Neuschaffung, eine Analogie zwischen der Schöpfung und dem künstlerisch schöpferischen Akt, in der seiner Ansicht nach Natur und Schöpfung den gleichen Gesetzen unterliegen. In dem Aquarell »Kristall-Stufung« (s. → Abb. 12, S. 470) haben wir die inneren Strukturvorgänge des Wachstums des Kristalls gesehen. 190 Nicht anders oder noch komplexer ist das Wachstum im Bereich des Organischen zu sehen. In dem Ölgemälde Pflanzenwachstum spitzte Klee die strukturierte Schematisierung natürlicher Vorgänge zu und setzte seine Naturbetrachtung geometrisch um. Rechtecke, Dreiecke, Kreise und Kreissegmente symbolisieren durch ihre gestaltete Darstellung und für diese Phase typischen Farbabstufungen Wachstum und die Vorstellung einer aufstrebenden Energie. 1920 schrieb Klee in seiner Schöpferischen Konfession: »Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig. Sie ist jeweils ein Beispiel, ähnlich wie das Irdische ein kosmisches Beispiel ist« (SK 220). Klee wollte keine Kunstwerke schaffen, die nur durch das äußere Erscheinungsbild der Natur angeregt waren, sondern die wie die Schöpfung selbst einem inneren Schöpfungsprozess entsprungen waren. Dieser Prozess wiederum blieb im Inneren der Schöpfung erhalten. In seinem Tagebuch von 1914 notierte er: »Die Schöpfung lebt als Genesis unter der sichtbaren Oberfläche des Werkes« (Spiller1 463). Und in seinem Aufsatz Wege des Naturstudiums schrieb er 1923: »Die Zwiesprache mit der Natur bleibt für den Künstler conditio sine qua non« (WN 63). (→ Abb. 8, S. 469) Analogien von Musik und Malerei interessierten Klee als passioniertem Violinisten besonders. Bereits 1919 hatte er die hierar190

S. auch Physiognomische Kristallisation, 1924.

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chische Struktur von Bachs Musik im Aquarell im Bachschen Stil, 1919, wiedergegeben. Fuge in Rot (→ Abb. 15, S. 473) weist bildliche Ähnlichkeiten mit anderen Darstellungen zum Thema biologischen und natürlichen Wachstums auf wie Pflanzenwachstum (s. → Abb. 14, S. 472), Wachstum der Nachtpflanze, 1922, Pflanzlich seltsam,1929 u. a. Die Darstellungen stammen zumeist um die gleiche Zeit der Jahre 1921 bis 1923. Fuge in Rot ist die erste Arbeit Klees, in der er die strenge Ordnung der musikalischen Fuge mittels gestufter lasierender Farbschichten programmatisch in die Malerei überführte. In der Fuge in Rot agiert Klee nicht nur als Maler, sondern auch als Komponist. Er verwendet einen Bildtitel, der die Komposition als Farbfuge ankündigt. Sprachlich kann das Word »Fuge« sowohl auf fugere (flüchten) als auch auf fugare (jemanden in die Flucht schlagen) zurückgeführt werden. Beide lateinischen Begrifflichkeiten legen eine Beschleunigung nahe, bei der Schritte schneller werden, die Zeit verrinnt, der Ort entschwindet. In diesem Aquarell strebt eine Formation aus geometrischen Gebilden in Richtung des rechten Bildrands. Jede Form wird mehrfach wiederholt und wechselt dabei von einem dunklen zu einem helleren Ton im Spektrum von Rot und Rosa, wird grösser und wieder kleiner. Der Titel gibt Aufschluss: Die Fuge bezeichnet in der Musik eine kompositionelle Form, die von Wiederholung und Mehrstimmigkeit bestimmt ist. So wird im Laufe der Fuge eine Melodielinie mehrmals in unterschiedlichen Höhen nachgeahmt – wenn die zweite Linie in einer anderen Tonhöhe einsetzt, hat sich die erste Linie bereits gewandelt. Beide können an sich auch selbständig funktionieren und verbinden sich doch in einem harmonischen Zusammenspiel. Das Aquarell ist ein Versuch, Form- und Farbbewegungen in ihrer zeitlichen und räumlichen Entwicklung darzustellen. Diese Bewegungen werden sowohl über das graduelle Übereinanderlagern von Formen im perspektivlosen Raum visualisiert als auch mittels kontinuierlich chromatischer Farbabstufungen von Weiss zu Schwarz über Rot. Die räumlich-zeitliche Progression erscheint in den individuellen Lagen. In dieser einfachen künstlerischen Formel löst sich der Gegensatz zwischen statischer geometrischer Form und Bewegung auf. Bewegung und Statik fallen zusammen und bilden – durchaus in Entsprechung der Theorie Klees – eine Synthese von gegensätzlichen Elementen. Fuge in Rot ist ein wesentlicher Baustein im Entwicklungspro359 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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zess von Klees polyphoner Malerei. Es gelingt ihm, Formen aus sich selbst heraus zu entwickeln und sie gleichzeitig ihre eigene Entwicklung reflektieren zu lassen. Damit visualisiert er die Musik, die Kunst und die Natur als Prinzipien schöpferischer Kraft. (Ausstellung Beyeler, Basel, 2018) Will Grohmann interpretiert die Fuge in Rot ganz auf die Musik hin: »Die Fuge in Rot ist schon durch den Titel auf das spekulative Phänomen der Musik bezogen. In den vier Hauptformen (Krug, Niere, Kreis und Rechteck) könnte man Thema, Antwort, Thema in der dritten und Antwort in der vierten Stimme sehen. Die wechselnde Tonart läge dann in dem wechselnden Formcharakter, das Fortschreiten des Themas in der Entwicklung der Farbe (Gelb-Rosa-Violett). Eine gesetzmäßige Farbenabstufung lebt sich in gesetzmäßig aufeinander bezogenen Formen aus, und das Blatt müßte dem Musiker wie dem Augenmenschen lebendig sein, sofern beide aus der sinnvollen Ordnung das Echo einer universelleren Ordnung herausfühlten«. 191

Pierre Boulez kommentiert: »Klee hat seine eigene Fuge aufgeführt (gemalt). Es ging ihm sicher nicht darum, eine grafische Notation zu einer Fuge zu malen.«

7.6.5 Johann Sebastian Bach Am 16. Januar 1922 stellte Klee die beiden Anfangstakte von Bachs dreistimmigem Adagio aus der sechsten Sonate in G-Dur für Violine und Cembalo in Linien vor (BF 52 Beilage fig.22). 192 Der Künstler selbst nennt sein Vorgehen »mikroskopieren«. Er legt quasi einen »Partikel« eines polyphonen Musikstückes unter das Mikroskop, um die Überlagerung und Kreuzung der »Stimmlinien« mit wissenschaftlicher Genauigkeit in jeder Phase graphisch zu verfolgen. Das graphische Diagramm der Sonate Bachs hat Ähnlichkeiten mit der Fuge in Rot (→ Abb. 15, S. 473). Denn wie er dort die Struktur und Entwicklung einer Fuge Bachs bildnerisch und farbig dargestellt hat, einer Fuge, deren kompositionelle Form die Mehrstimmigkeit und Wiederholung ist, so übersetzt er nun die Struktur einer Sonate,

191 192

Grohmann, Klee, a. a. O., 215. (Boulez 52–60); (Linie 144); (Spiller1 285–287 Beilage).

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deren Charakter ebenfalls die Mehrstimmigkeit melodischer Linien ist, in ein graphisches Schema.

Abb. 16, S. 361 Übersetzung der beiden Anfangstakte von Bachs dreistimmigem Adagio aus der sechsten Sonate in G-Dur für Violine und Cembalo in Linien, 16. Januar 1922 (BF 52 Anhang)

Abb. 16 ist ein kleiner Ausschnitt aus einer größeren Beilage. Es ist der Übergang vom ersten zum zweiten Takt des Adagios. Klee wählt zur graphischen Übersetzung drei Darstellungen: A. Die herkömmliche Notenschrift am oberen Rand der Graphik: das Adagio mit der Tonhöhe und Tondauer in dem horizontalen Liniensystem, das einen Umfang von drei Oktaven umspannt. B. Die »quantitative« Darstellung, wie sie Klee nennt, in den Vertikalstrichen, für Takte und Taktteile. Es ist das Metrum des Musikstückes, eine lineare Darstellung, die bloße Struktur der Sonatenform, Musik ohne Dynamik.

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C. Die »qualitative« Darstellung verleiht der Linie mehr oder weniger Gewicht, analog der Tonqualität. Durch die unterschiedliche Stärke und Gewichtung der Linie sucht Klee die Tonqualität und Dynamik des Stückes zu veranschaulichen. (Spiller1 285)

In seiner Vorlesung vom 30. Januar 1922 übersetzt Klee einen sogenannten »individuellen Rhythmus« in eine geschwungene, mehrfach die Richtung wechselnde Linie, die er aufgrund ihrer Selbständigkeit als »Individuum« bezeichnet (BF 56). Diese wird in einer zweiten Skizze von einem »strukturalen Rhythmus«, kurz »Struktur« genannt, begleitet, der in spitzen und rechtwinkligen Stufen die Linie umspielt (BF 57). Anschließend erinnert er seine Schüler an die graphische Übersetzung der beiden Anfangstakte von Bachs Adagio (BF 52): »Ich habe neulich ein musikalisches Gebilde ins bildnerische übersetzt. Also kann ich mir jetzt auch das Umgekehrte denken, und mich fragen, wie würde sich unser Individuum mit seiner Struktur als Musik anhören«? Unter dem »Umgekehrten« versteht er den Versuch, sich vorzustellen, wie sich die Linie des »individuellen« und die Zacken des »strukturalen Rhythmus’« in Musik zurückübersetzt anhören würden (BF 52). Nach Klee erkennen wir in dieser neuen Darstellung das Verhältnis der drei Stimmen zueinander, was die Örtlichkeit nach Länge und Höhe betrifft. Die Rede von der »Örtlichkeit« im Verhältnis der Stimmen deutet Klees Vorstellung von der polyphonen Musik als einem räumlichen, mehrdimensionalen Gebilde an. Im (verkürzten) Schema ist der Übergang vom ersten zum zweiten Anfangstakt wiedergegeben. Bald sind es zwei, bald drei Stimmen, die zusammenklingen. Im ersten Takt sind es zwei Stimmen. Die beiden Stimmen (zweite und dritte Stimme) des ersten Taktes unterscheiden sich sehr in der Individualisierung. Die untere hat sichtlich strukturalen Charakter im Vergleich zur oberen, welche individuell gehalten ist. Im zweiten Takt sind es drei Stimmen: Der späte Einsatz der ersten Stimme erfolgt etwas unterhalb der zweiten, will sie überspringen, was fürs erste nicht gelingt; erst nach der kurzen Pause der zweiten Stimme erlangt sie das erstrebte Übergewicht. Die zweite wird bei individuellem Eintritt der ersten zum strukturalen Charakter degradiert; sie bildet durch ihre Höhenlage im Gegensatz zur dritten, die sich an dieser Stelle etwas vertieft, ein Joch, unter dem sich die erste individuelle bewegt. Nach der Pause geht die zweite parallel mit der dritten. Die dritte bleibt ihrem strukturalen Charak-

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ter von Anfang an treu, bis zu der Stelle, wo die zweite sich ihr parallel zugesellt. Durch die Transkription der Anfangstakte von Bachs dreistimmigen Adagio in Linien gelingt es Klee, ein Bewegungsbild der zwei Takte zu schaffen, nämlich den zeitlichen und räumlichen Verlauf der Musik sichtbar zu machen, durch das Markieren des Metrums, der Tonalität und Dynamik, den die traditionelle Notenschrift nur durch eine begrenzte Anzahl von Zeichen symbolisieren kann.

7.6.6 Klee im Fruchtland Ägypten Pierre Boulez hat das Fruchtland (Ägypten) zum Motiv seines Buches gewählt (→ Abb. 17, S. 474). 193 In der bildnerischen Darstellung des Fruchtlandes mit seinen Haupt-Nebenwegen findet Boulez die Summe der bildnerischen Darstellungen der Musik durch Klee versammelt. 194 Das Gemälde ist aufschlussreich für das bildnerische Verständnis von Klees Schaffen, aber auch der musikalischen Analogien wegen hinsichtlich der Bildkonstruktion, der Farbgebung, des kunst- und musiktheoretischen Hintergrundes. Der Aufbau des Bildes korrespondiert der Beschreibung »Haupt und Nebenwege«. 195 In der Mitte verläuft der gerade konturierte Hauptweg, mehrfach unterteilt, farbig differenziert, beinahe auf die Mitte ausgerichtet und sich in seiner horizontalen Binnengliederung schichtweise verjüngend. Links und rechts davon verlaufen die kleinteilig gestalteten Nebenwege sehr viel unregelmäßiger – verschlungene und ungeordnete Pfade, die bisweilen im Nichts enden, jedenfalls nicht immer an jenem fiktiven, blau-grauen Horizont, der dem Hauptweg ein Ziel zu geben scheint. Die Farbkontraste bewegen sich vor allem zwischen Blau-Orange und Rot-Grün. Klee schreibt dazu an seine Frau »Ich male eine Landschaft etwa wie den Blick von den weiten Bergen des Tales der Könige ins Fruchtland«. 193 Boulez, Pierre (1989), Le pays fertile. Paul Klee. Texte préparé et présenté par Paule Thévenin, Paris, 169. 194 Das »Fruchtland« hat bei Klee ein großes Echo hinterlassen: Legende am Nil, 1937; Blick in das Fruchtland, 1932; Abend in Ägypten, 1929. 195 S. Zöllner, Frank (1929), Paul Klee, Hauptwege und Nebenwege, in: WallrafRichartz-Jahrbuch, 61 (2000), 263–290; (Spiller1 212).

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Die farbigen Lagenbilder, und hier besonders Hauptweg und Nebenwege, atmen den Geist des Südens, sie spiegeln unmittelbare Licht- und Farberfahrungen wider, die Klee wie andere Künstler vor ihm in den Mittelmeerländern, im Ursprungsraum der westlichen Kultur, gesammelt hatte, in diesem Fall in Ägypten. Ihre Farbigkeit zeuge – so die in der älteren Literatur vorherrschende Meinung – von den in Ägypten erfahrenen atmosphärischen Eindrücken und weise die Spuren ›einer uralten Kultur‹ auf. Das Blau erinnere an das Wasser des Nil, die Erdfarben an seinen Schlamm, das Gelb-Orange an die ägyptische Sonne, die Farbschichtungen an Ornamentbänder in den Grabkammern Assuans. Die theoretischen Grundlagen für die Gestaltung der Farb- und Helligkeitswerte seiner Gemälde und Aquarelle hatte Klee bereits einige Jahre früher zumindest teilweise im Druck veröffentlicht. So thematisierte der Künstler in seinem 1925 publizierten Pädagogischen Skizzenbuch seine Auffassung vom tonalen Gleichgewicht im Bild folgendermaßen (PS 23 fig. 49): Hell- und Dunkeltöne wirken bei gleicher Grundfläche verschieden gewichtig, und daher erhält die helle Fläche zur Unterstützung ein kleines schwarzes Zusatzgewicht. Da Rot bei gleicher Flächenausdehnung intensiver wirkt als Blau, stellt Klee dem Blau das intensivere und gleichzeitig komplementäre Gelb zur Seite, um die Farbbalance wiederherzustellen: Tatsächlich gleicht die hohe Intensität der hinzugenommenen Farbe das subjektiv empfundene Übergewicht des gegenüberstehenden roten Quadrats wieder aus. Mit Blick auf diese im Pädagogischen Skizzenbuch publizierten Ausführungen eröffnen die genannten Lagenbilder also einen farbtheoretischen Dialog mit dem Betrachter, sie suggerieren quasi eine kunsttheoretische Bedeutung der Bilder. 196 Die später im Bauhausunterricht, in Vorträgen und Veröffentlichungen entwickelte Systematik seiner Farbenlehre lässt auch einige Schlüsse hinsichtlich der Lebenshaltung des Künstlers zu, und diese Lebenshaltung spiegelt sich in Hauptweg und Nebenwege wider: In dem Gemälde kommt vor allem der Kontrast zwischen den Farben Blau und den Orangestufungen zum Tragen. Verglichen mit dem hauptsächlichen Farbgegensatz besitzen andere Kontraste wie der 196 Nach Ägypten existiert eine ganze Reihe von sogenannten »Lagenbildern«: Monument im Fruchtland, 19229; Monument an der Grenze des Fruchtlandes, 1929; Einsames, 1928; individuelle Höhenmessung der Lagen, 1930; Blick in das Fruchtland, 1932; Abend in Ägypten, 1929; vermessene Felder, 1929; Feuer Abends, 1929.

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zwischen Grün und Rot weniger Bedeutung, sie gelten also nach Klees Auffassung als Nebenkontraste. Dementsprechend bezeichnet Klee zum Beispiel in seinem Jenaer Vortrag vom Januar 1924 in Anlehnung an die klassische Farbenlehre (vor allem an Runge) Rot, Blau und Gelb als Hauptfarben sowie Violett, Orange und Grün als hauptsächliche Nebenfarben. Der Titel des Bildes spiegelt nun auf der farblichen Ebene insofern Klees Benennung der Hauptfarben, der Nebenfarben und der hauptsächlichen Farbkontraste wider, als hier nicht die Hauptfarben vorgeführt werden, sondern ein hauptsächlicher Farbkontrast. Hauptweg und Nebenwege ist ein sehr musikalisches Werk, räumlich, tief und es hat wunderbare Analogien zur Musik. Wenn man diesen Hauptweg betrachtet, der spaltet sich stückweise nach links und rechts in Halbe, Viertel und Achtel auf. Wie das in der Musik auch einen Rhythmus erzeugen kann, imitiert Klee das durch die Linien einerseits, andererseits aber auch durch die Klänge, die er den Farben verleiht, die Rhythmen wie das Ganze angeordnet ist, wie sich eine Farbe zur nächsten rhythmisch dazugesellt und einen Gesamtklang ergibt, den Farbklang der Musik. Die Beziehung zwischen Musik und Bildender Kunst ist für mich, so bemerkt Boulez zum Schluss, ein faszinierendes und spannendes Gebiet. Dann kommt aber einmal der Moment, wo ich die Bilder von Paul Klee ohne Denken und in Beziehung setzen betrachten und auf mich wirken lassen will. Sie sind einmalig, genial und nie ganz fassbar; mit ihnen taucht man in eine ganze Welt, in der es keine Erklärungen mehr braucht.

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8 Kandinsky

Wer tatsächlich das erste abstrakte Bild gemalt hat, sei dahingestellt. Aber mit dem Namen Wassily Kandinsky ist die Abstraktion in der Kunst unwiderruflich verbunden seit seinem Aquarell von 1910, das nur aus Farben, Flächen und Linien besteht. Kandinsky hat Klee zur Gruppe des Blauen Reiters geführt. Später wurden beide Kollegen im Bauhaus. Sie wohnten praktisch Tür an Tür. Sie lehrten am Bauhaus teilweise zu ähnlichen Themen. Sie schätzten sich gegenseitig, obwohl sie sich ihrer teilweise unterschiedlichen Kunstauffassung bewusst waren. Im Folgenden sei der Frage nachgegangen, welche Auffassungen ihnen, die oft gemeinsam genannt werden, gemeinsam waren und worin sie sich unterschieden. Stationen der Kunst Kandinskys Zuerst mögen einige Stufen des künstlerischen Schaffens Kandinskys genannt werden: 1896 beginnt seine Künstlerlaufbahn in München. Er studiert bei Franz von Stuck an der Münchner Akademie. Zu seinen Kommilitonen zählt Paul Klee. 1) Kandinsky begann 1903 Über das Geistige in der Kunst. Dies betrifft die inhaltliche Entwicklung von 1903/04 bis 1914. Die Veröffentlichung ist mit 1912 datiert. 2) 1911 gründete er mit Franz Marc die Redaktion Blauer Reiter. Im selben Jahr begann der Maler ein ›ungegenständliches‹ Vokabular zu entwickeln, zugleich konzipierte er sein inhaltlich anspruchvollstes Programm in Über das Geistige in der Kunst. Es entstanden die ersten so genannten Impressionen, Bilder, die sich Impulsen der »äußeren Natur« verdanken. 3) Die gegenständlichen Bilduntertitel wecken Assoziationen und lassen ein Interesse an Gegenständlichkeit erkennen. 4) Im Artikel Über die Formfrage entwickelte Kandinsky ein theoretisch interessantes bipolares Modell mit den Antipoden »Große 366 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Abstraktion« und »Große Realistik«. Das gegenständliche Bild figuriert darin unter bestimmten Voraussetzungen als entgegengesetzte Alternative zum abstrakten. Zwischen beiden entfaltete sich für ihn das Spektrum an Ausdrucksformen. Jede Abstraktion sei aufgrund ihrer Mittel eine eigene Realität, und umgekehrt bedeute jede gegenständliche Darstellung immer auch eine Abstraktion von der Wirklichkeit. Kandinsky setzte ein Gleichheitszeichen zwischen beide Pole. Keine Malkunst solle bei der »Realistik« Motiv und Betrachter trennen, vielmehr sollten sich die Gegenstände selbst aussprechen können. Ihre Selbstbezogenheit entspreche jener der gegenstandsfreien Formen der »großen Abstraktion«. 5) Im Buch Der Blaue Reiter bildeten Kandinsky und Franz Marc eine Fülle gegenständlicher Werke unterschiedlichster Provenienz ab und traten für die Existenz einer zeitlich und räumlich grenzenlosen Weltkunst ein. 6) 1914 schrieb Kandinsky das Bühnenstück Violette, in welchem er Bilder mit szenischen Handlungen dem freien Spiel von farbigem Licht und geometrischen Formen gegenüberstellte, eine Anwendung des bipolaren Modells. Auch im 1928 aufgeführten Bühnenwerk Bilder einer Ausstellung nach dem gleichnamigen Musikstück von Modest Mussorgski sind gegenstandslose und gegenständliche Elemente konfrontiert. Gemeinsam handeln sie als Akteure in logisch unauflösbaren Erzählungen. 7) Mehrere an sich ungegenständliche Bilder nach 1914 enthalten kleine, eindeutig erkennbare Motive. 1916/17 malte Kandinsky unerwartet figurative, szenische Darstellungen und Ansichten von Moskau. 8) In den 1920er Jahren bezog Kandinsky Natur und Kunst explizit aufeinander. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland und seiner Tätigkeit im Bauhaus fällt die Hinwendung zu einer geometrischkonstruktiven Formensprache auf. 1926 ist sein Buch Punkt und Linie zu Fläche erschienen. Es enthält Gegenüberstellungen von bildnerischen Grundelementen und naturwissenschaftlichen bzw. technischen Fotografien. Ist darin sein Bemühen um Rationalisierung der künstlerischen Mittel festzustellen, die sich gegen die subjektivexpressive Werkphase zuvor steht? Aber die gegenstandsfreie Kunst bleibt im Diskurs mit der Lebenswelt. 9) 1938 übernahm Kandinsky den von van Doesburg eingeführten Begriff konkret, um den Autonomiestatus seiner Werke zu bekräftigen. Zugleich kehrte die Figuration unübersehbar in seine 367 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

Malerei zurück! Deutlich wird dies am Prinzip der Balance, das nun häufig Anwendung fand. Das Spiel mit Gleichgewichtskräften erfordert eine körperlich-räumliche Lesart, selbst wenn man die einzelnen Konfigurationen nicht eigentlich als Gegenstände bezeichnen kann. (Abstrakt 16–17)

8.1 Das »Bild«: Heuhaufen Monets und Moskau Der Beginn des Kunstschaffens Kandinskys ist mit einigen unvergesslichen Sehereignissen verbunden, die er in den Rückblicken schildert: Die Begegnung mit den Heuhaufen Monets im Museum, persönlichen Erfahrungen mit Ansichten Moskaus und unvergessene Ereignisse mit der Musik: »Zu derselben Zeit erlebte ich zwei Ereignisse, die einen Stempel auf mein ganzes Leben drückten und mich damals bis in den Grund erschütterten. Das war die französische impressionistische Ausstellung in Moskau – in erster Linie ›der Heuhaufen‹ von Claude Monet – und eine Wagneraufführung im Hoftheater – Lohengrin. Vorher kannte ich nur die realistische Kunst, eigentlich ausschließlich die Russen, blieb oft lange vor der Hand des Franz Liszt auf dem Porträt von Repin stehen u. dgl. Und plötzlich zum ersten Mal sah ich ein Bild. Daß das ein Heuhaufen war, belehrte mich der Katalog. Erkennen konnte ich ihn nicht. Dieses Nichterkennen war mir peinlich. Ich fand auch, daß der Maler kein Recht hat, so undeutlich zu malen. Ich empfand dumpf, daß der Gegenstand in diesem Bild fehlt. Und merkte mit Erstaunen und Verwirrung, daß das Bild nicht nur packt, sondern sich unverwischbar in das Gedächtnis einprägt und immer ganz unerwartet bis zur letzten Einzelheit vor den Augen schwebt. Das alles war mir unklar, und ich konnte die einfachen Konsequenzen dieses Erlebnisses nicht ziehen. Was mir aber vollkommen klar war – das war die ungeahnte, früher mir verborgene Kraft der Palette, die über alle meine Träume hinausging. Die Malerei bekam eine märchenhafte Kraft und Pracht. Unbewußt war aber auch der Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes diskreditiert. Im ganzen hatte ich den Eindruck, daß ein kleines Teilchen meines Märchen Moskau doch auf der Leinwand schon existierte« (Rb 15). (Sinne 49)

Zwei Aussagen fallen heraus: »Zum ersten Mal sah ich ein Bild …« Und: »Unbewußt war aber auch der Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes diskreditiert« (GS3 141). Das Bild war für ihn vor allem die Malerei der Palette. Der Gegenstand, das Sujet, selbst der Autor war Nebensache. (Eikon 140–144) 368 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Das »Bild«: Heuhaufen Monets und Moskau

Auch bei dem anderen Gemälde von Moskau sprach er ausdrücklich von einem Bild: »Auch in diesem Bild habe ich eigentlich nach einer gewissen Stunde gejagt, die immer die schönste Stunde des Moskauer Tages war und bleibt. Die Sonne ist schon niedrig und hat ihre vollste Kraft erreicht, nach der sie den ganzen Tag suchte, zu der sie den ganzen Tag strebte. Nicht lange dauert dieses Bild: noch einige Minuten und das Sonnenlicht wird rötlich vor Anstrengung, immer rötlicher, erst kalt und dann immer wärmer. Die Sonne schmelzt ganz Moskau zu einem Fleck zusammen, der wie eine tolle Tuba das ganze Innere, die ganze Seele in Vibration versetzt. Nein, nicht diese rote Einheitlichkeit ist die schönste Stunde! Das ist nur der Schlußakkord der Symphonie, die jede Farbe zum höchsten Leben bringt, die ganz Moskau wie das fff eines Riesenorchesters klingen läßt und zwingt. Rosa, lila, gelbe, weiße, blaue, pistaziengrüne, flammenrote Häuser, Kirchen – jede ein selbständiges Lied – der rasend grüne Rasen, die tiefer brummenden Bäume, oder der mit tausend Stimmen singende Schnee, oder das Allegretto der kahlen Äste, der rote, steife, schweigsame Ring der Kremlmauer und darüber, alles überragend, wie ein Triumphgeschrei, wie ein sich vergessendes Halleluja der weiße, lange, zierlich ernste Strich des Iwan Weliky Glockenturmes. Und auf seinem hohen, gespannten, in ewiger Sehnsucht zum Himmel ausgestreckten Halse der goldene Kopf der Kuppel, die zwischen den goldenen und bunten Sternen der andern Kuppeln die Moskauer Sonne ist. Diese Stunde zu malen, dachte ich mir als das unmöglichste und höchste Glück eines Künstlers« (Rb 11–12).

Wiederum spricht Kandinsky von dem »Bild«. Im Unterschied zum Heuhaufen Monets ist das Sujet Moskau zentral, aber es ist kein Naturbild von Moskau. Die herausgehobene rechte »Zeit«, sozusagen der Kairos, spielt eine Rolle, auf die Kandinsky lange wartet. Der richtige Moment verwandelt das Sujet in reine Musik, in den Schlussakkord einer Symphonie. Später spricht Kandinsky von einer Transformation des Sehereignisses in »ein abstraktes ›Bild‹« aus Farben und Tönen und Linien. (Theater 243) Diese Transformation eines Bildes in Musik ereignete sich für Kandinsky buchstäblich bei einer Aufführung von Lohengrin: »Lohengrin schien mir eine vollkommene Verwirklichung dieses Moskau zu sein. Die Geigen, die tiefen Baßtöne und ganz besonders die Blasinstrumente verkörperten damals für mich die ganze Kraft der Vorabendstunde. Ich sah alle meine Farben im Geiste, sie standen vor meinen Augen. Wilde, fast tolle Linien zeichneten sich vor mir. Ich traute mich nicht, den Ausdruck zu gebrauchen, daß Wagner musikalisch ›meine Stunde‹ gemalt hatte. Ganz klar wurde mir aber, daß die Kunst im allgemeinen viel machtvoller

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ist, als sie mir vorkam, daß andererseits die Malerei ebensolche Kräfte, wie die Musik besitzt, entwickeln könne. Und die Unmöglichkeit, selbst diese Kräfte zu entdecken, jedenfalls zu suchen, verbitterte noch mehr meine Entsagung. Ich war aber nie stark genug, um meinen Pflichten allem zum Trotz zu folgen und unterlag der für mich zu starken Versuchung« (Rb 15). »Moskau: Die Doppeltheit, die Kompliziertheit, die höchste Beweglichkeit, das Zusammenstoßen und Durcheinander in der äußeren Erscheinung, die im letzten Grunde ein eigenes, einheitliches Gesicht bildet, dieselben Eigenschaften im inneren Leben, was dem fremden Auge unverständlich ist (deshalb die vielen, sich widersprechenden Urteile der Ausländer über Moskau) und was doch ebenso eigenartig und im letzten Grunde vollkommen einheitlich ist – dieses gesamte äußere und innere Moskau halte ich für den Ursprung meiner künstlerischen Bestrebungen. Es ist meine malerische Stimmgabel. Ich habe das Gefühl, daß es immer so war, und daß ich mit der Zeit und dank den äußeren formellen Fortschritten dieses ›Modell‹, nur immer mit stärkerem Ausdruck, in vollkommenerer Form, im Wesentlicheren gemalt habe und jetzt male« (Rb 34).

Kandinsky spricht vom »inneren und äußeren Moskau«. Mit anderen Worten er erlebte »das Bild«, mehr noch er lebte im Bild: »Sie lehrten mich, im Bilde mich zu bewegen, im Bilde zu leben. … den Beschauer im Bilde ›spazieren‹ zu lassen« (Rb 20). Es ist der ›Ursprung meiner Kunst‹.« In diesem besonderen Zusammen von »Innen« und »Außen« sieht Kandinsky die Besonderheit seiner Kunst. Dazu steht er auch später. Es ist eine Aussage an Grohmann erhalten, wo er für sich auf dieser Eigenheit besteht: »Sie denken europäisch, ich russisch, d. h. sie denken logisch, wir denken auch logisch, aber zugleich in Bildern«. 197 Das »Denken in Bildern«, diese Selbstaussage Kandinskys, bleibt bedeutsam für seine Kunsttheorie und sein Kunstschaffen. Kandinsky spricht hervorgehoben von »Bild« seit seinen Erfahrungen von 1908.

8.2 Phänomenologischer Ansatz Im Schema Naturstudium haben wir das Künstlerbekenntnis Paul Klees gesehen. Es war Anlass, das Bildsehen Klees phänomenologisch zu lesen und zu interpretieren. Etwas Entsprechendes, wenn auch nicht in derselben Deutlichkeit, mag das immer wiederholte Motiv 197

Grohmann, Will (1927), Wassily Kandinsky, Leben und Werk, Köln 1958, 158.

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Phänomenologischer Ansatz

Kandinskys von der Malerei als Farbklavier oder Malkasten sein: »Im Allgemeinen ist also die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten« (ÜG 49). Kandinsky nimmt das Motiv des Künstlers aus der menschlichen Naturerfahrung. Es ist die Kurzform einer phänomenologischen Beschreibung der Erfahrung von Natur, wie er an anderer Stelle erläutert: »Die ›Natur‹, d. h. die stets wechselnde äußere Umgebung des Menschen, versetzt durch die Tasten (Gegenstände) fortwährend die Saiten des Klaviers (Seele) in Vibrationen. Diese Wirkungen, welche uns oft chaotisch zu sein scheinen, bestehen aus drei Elementen: das Wirken der Farbe des Gegenstandes, seiner Form und das von Farbe und Form unabhängige Wirken des Gegenstandes selbst« (ÜG 60).

Die Naturerfahrung geht demnach aus drei Elementen hervor: von der Farbe sowie von der Form eines Gegenstandes und von dem Gegenstand selbst. Farbe und Form sind die Wahrnehmungsweisen des Sehens (Subjekts), der Gegenstand steht für das Gegenüber (das Objekt). Die Aktmodalität des Wahrnehmens und die Gegenstandsmodalität des Objektes sind genannt, das Ergebnis ist die Naturerfahrung. Die Übertragung von der Natur auf die Musik ist für den Künstler ein vorgegebener Vorgang. Zuerst betont der vierzehnjährige Junge die Bedeutung eines Malkastens mit Ölfarben (RB 23). Dieser Malkasten ist ein »Farbklavier« wie bei Klee. »Die Farbe ist ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste die Seele in Vibration bringt« (TB 873).

Nun tritt bei Kandinsky an die Stelle des Klaviers der Künstler, welcher über dieselben drei Elemente verfügt: »Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt. So ist es klar, daß die Farbenharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muß. Diese Basis soll als Prinzip der inneren Notwendigkeit bezeichnet werden« (ÜG 49, 60).

Und er fährt fort:

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»Und wir kommen ohne weiteres zum Schluß: auch hier ist das Zweckmäßige maßgebend. So ist es klar, daß die Wahl des Gegenstandes (= beiklingendes Element in der Formharmonie) nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muß. Also entspringt auch die Wahl des Gegenstandes dem Prinzip der inneren Notwendigkeit« (ÜG 60).

Deutlich ist bei Kandinsky die Zuordnung des Schaffens des Künstlers zu der Natur. Wie sich die Natur durch Form und Farbe zu erfahren gibt, so bringt der Künstler seine Welt zur Darstellung. Dazu dient das »Prinzip der inneren Notwendigkeit«. Es ist das zentrale Prinzip des Bildes, das zentrale Prinzip für die Farben und ihre Harmonie, aber auch für die Wahl des Themas bzw. Gegenstandes. Das Prinzip ist kein spekulatives Prinzip, sondern eine inneres, d. h. seelisches. Hier ist schon die Aussage Kandinskys vom Künstler als Schöpfer angedeutet. Wie der Schöpfer die Natur mit innerer Notwendigkeit erschaffen hat, so erschafft der Künstler sozusagen eine zweite »Schöpfung«. Das Werden des Kunstwerks ist ›Genesis‹, »Weltschöpfung« (Rb 25). Kandinsky nennt die neue Kunsterfahrung »erleben«, andere Interpreten sprechen von einem »neuen Sehen« (Abstrakt 19 Anm. 38). André Breton spricht von Kandinsky als einem »Revolutionär des Sehens« (Abstrakt 25). 198 Einige Züge einer Phänomenologie des neuen Sehens von Kandinsky seien angedeutet.

8.2.1 Innen Außen Die Unterscheidung von Innen und Außen, wie Kandinsky sie im Bild von Moskau erfahren hat, hält Kandinsky als Ursprung seines künstlerischen Schaffens: »Dieses gesamte äußere und innere Moskau halte ich für den Ursprung meiner künstlerischen Bestrebungen« (Rb 34). (Abstrakt 60 f.) Die Unterscheidung von »Innen« (Aktmodus) und »Außen« (Gegenstandsmodus) erinnert an die phänomenologische Grundunterscheidung. Das Bildsehen ist nach Kandinsky kein naiver Blick, sondern ein »intentionaler« Akt (Abstrakt 18–19). Bild ist für Kandinsky »Er198

Breton, André (1976), Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg, 128.

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Phänomenologischer Ansatz

scheinung«. Die Ausdrucksqualitäten von Farbe und Form geben das Gesehene als Erscheinung wieder. Der Anfang von Punkt und Linie zu Fläche (PLF) lautet denn auch: »Jede Erscheinung kann auf zwei Arten erlebt werden. Diese zwei Arten sind nicht willkürlich, sondern mit den Erscheinungen verbunden – sie werden aus der Natur der Erscheinungen herausgeleitet, aus zwei Eigenschaften derselben: Äusseres – Inneres« (PLF 13). Kandinsky nennt das Bildsehen »erleben«. Das Erleben lebt vom Blick nach Innen: »Das Erleben der ›geheimen Seele‹ der sämtlichen Dinge, die wir mit unbewaffnetem Auge, im Mikroskop oder durch das Fernrohr sehen, nenne ich den ›inneren Blick‹. Dieser Blick geht durch die harte Hülle, durch die äußere ›Form‹ zum Inneren der Dinge hindurch und läßt uns das innere ›Pulsieren‹ der Dinge mit unseren sämtlichen Sinnen aufnehmen. Und diese Aufnahme wird beim Künstler zum Keim seiner Werke. Unbewußt. So erzittert die ›tote‹ Materie. Und noch mehr: die inneren ›Stimmen‹ der einzelnen Dinge klingen nicht isoliert, sondern alle zusammen – die ›Sphärenmusik‹« (E 183).

»Innen« und »Außen«: »der Malerei, […] der Kunst im abstrakten Sinne […] stehen zwei Mittel zur Verfügung: 1. Farbe. 2. Form. Die Form allein, als Darstellung des Gegenstandes (realen oder nicht realen) oder als rein abstrakte Abgrenzung eines Raumes, einer Fläche, kann selbständig existieren. Die Farbe nicht« (ÜG 51). Die »Form« dient der Darstellung des (realen) Gegenstandes, sie gibt die Grenzen des Gegenstandes wieder. Sie gibt das »Außen« wieder, kann aber auch das »Innen« gestalten. Die »Farbe« tut es nicht. Die Farbe geht von »Innen« aus. Will sie zum Ausdruck kommen, ist sie auf die Form angewiesen, der ihr nach Außen zum Ausdruck verhilft. Die phänomenologische Unterscheidung von »Innen« (Aktmodus) und »Außen« (Gegenstandsmodus) ist im Begriff der »Form« verankert. »Die Form im engeren Sinne ist jedenfalls nichts weiter wie die Abgrenzung einer Fläche von der anderen. Dies ist ihre Bezeichnung im Äußeren. Da aber alles Äußere auch unbedingt Inneres in sich birgt (stärker oder schwächer zum Vorschein kommend), so hat auch jede Form inneren Inhalt. Die Form ist also die Äußerung des inneren Inhaltes. Dies ist ihre Bezeichnung im Inneren«. Hier kann man an das Motiv des Klaviers denken, wobei man statt »Farbe« »Form« setzt: ›der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste (= Form) zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration 373 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

bringt‹. So ist es klar, dass die Formenharmonie auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muss (ÜG 54). Die »Form« ist der Anker, der Innen und Außen zusammenhält. Wenn nach dem »Innen« gefragt wird, dann ist es zunächst die »Farbe«, die subjektiv wahrgenommen wird, während das »Außen« durch die formalen Elemente wie Linie, Flächen dem Ausdruck dient. Form und Farbe sind aber keine völlig unterschiedlichen Entitäten, wie die Kunst erweist, denn die Farbe gibt auch Formen vor, wie die nicht gegenständliche Kunst zeigt. Die Unterscheidung von »Innen« und »Außen« geschieht phänomenologisch durch das Verfahren der Reduktionen. Diese Verfahren kann man auch zur Interpretation der Grundlagen von Kandinskys Kunst anwenden.

8.2.2 Reduktionen Ein Kerngedanke Kandinskys ist die Unterscheidung von »Großer Abstraktion« und »Großer Realistik«. Die Begriffe werden dabei jeweils durch die Verfahren der Reduktion gewonnen. Kandinskys Kerngedanken lassen sich am besten phänomenologisch lesen und interpretieren. 199 Als große Reduktion lassen sich die beiden Formeln 199 Michel Henry reiht Kandinsky in die Phänomenologie ein, aber nicht in die Husserls, sondern in eine »Phänomenologie des Lebens«: »[…] Die Theorie der abstrakten Malerei, die Kandinsky in seinen drei Hauptwerken ›Über das Geistige in der Kunst‹, ›Punkt und Linie zu Fläche‹ sowie ›Rückblick‹ entwickelt, bezieht sich auf eine Phänomenologie. Aber diese Phänomenologie besitzt ihre eigene Originalität und unterscheidet sich tiefgehend von derjenigen, die Husserl eben zu jenem Zeitpunkt ausarbeitet, da Kandinsky die Abstraktion entdeckt. In einem Wort gefasst ist die Phänomenologie Husserls, Heideggers und ihrer Nachfolger eine Phänomenologie der Wahrnehmung oder der Welt, indem sie den Ort alles Seienden in das Licht dieser Welt und somit in die Evidenz verlegt. […] Nach Kandinsky wird uns dagegen eine Offenbarung gegeben, die viel wesentlicher als jene der sichtbaren Welt ist und dieser vorausliegt. Es ist die Offenbarung des sich uns ereignenden Lebens, das ein unsichtbares Leben ist und unsere wahre Natur, unsere Seele ausmacht. Wenn die Kunst eine metaphysische Tragweite besitzt, wie es die größten Schöpfer immer angenommen haben, und solche Kunst das tiefste Wesen der Dinge meint, dann bezieht sie sich auf das Leben. Die Malerei selbst muss das Bündnis zerbrechen, das sie seit jeher geschlossen hatte mit der Welt, die wir sehen, denn sie muss das Unsichtbare malen.« Henry, Michel (1993), »Das Geheimnis der letzten Werke. Das Unsichtbare bei Kandinsky«, in: Kandinsky. Hrsg. v. Jelena Hahl-Koch, Stuttgart, 375–384.

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Phänomenologischer Ansatz

Kandinskys lesen: Die »Große Abstraktion« erfolgt durch das Reduzieren des »Künstlerischen« auf das Minimum: »Das zum Minimum gebrachte ›Künstlerische‹ muß hier als das am stärksten wirkende Abstrakte erkannt werden, wodurch die Seele des Gegenstandes am stärksten klingt, da die äußere Schönheit nicht mehr ablenken kann […]. Das Ergebnis ist der ›innere Klang‹« (ÜF 26). Die »Große Realistik«: »Das zum Minimum gebrachte Gegenständliche muß in der Abstraktion als das am stärksten wirkende Reale erkannt werden […]. Das Ergebnis ist wiederum der ›innere Klang‹« (ÜF 28). Die Phänomenologisierung des Bildsehens ist für Kandinsky Einstieg in die Theorie der Abstraktion bzw. der ungegenständlichen Bilder. Kandinsky selbst spricht von dem »Phänomenologisieren« der Welt (Abstrakt 20). 200 »Das neue Sehen macht aus realen Gegenständen Dinge […]. Ein Bild ist deshalb letztlich immer eine Abstraktion und nie Abbild im vollen Sinn. Jedes Element unterliegt bildnerischen Bedingungen und ist in ein Beziehungsgefüge der Teile mit dem Ganzen der Fläche integriert. Die Spezifik des jeweiligen Gefüges bestimmt die Elemente unabhängig von der außerbildlichen Realität und verleiht dem Werk seine ikonischen Qualitäten« (Abstrakt 24).

Das Bild, um das es Kandinsky geht, wenn er ausdrücklich von »Bild« spricht, ist kein Abbild, sondern im künstlerischen Sinn Abstraktion. Denn die Bildlichkeit des Bildes ergibt sich aus dem besonderen Gefüge eines Ganzen, von dem her jedes einzelne formale Element seine Gestalt bzw. Dinghaftigkeit erhält, ein inneres Beziehungsgefüge, das sich zunächst nur auf sich selbst und sich nicht auf eine äußere Gestalt bezieht. Kandinsky wird die Selbstreferenz der Bildlichkeit in der Unterscheidung von »Großer Realistik« und »Großer Abstraktion« zum besonderen Thema der Formlehre machen. Dieselbe Phänomenologisierung ist auch die Grundlage von Punkt, Linie und Fläche: »Selbstverständlich kann jede Erscheinung (= Phänomen) der äußeren und inneren Welt einen linearen Ausdruck erhalten« (PLF 71).

200

Vgl. der wiederholte Begriff von »Erscheinung« = Phänomen (PLF 13, 71, 109).

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Kandinsky

Eidetische Reduktion Die eidetische Reduktion geht auf das Wesen (Eidos) der Phänomene. Sie führt phänomenologisch das Sehen und Erkennen auf die wesentlichen Gründe und Gehalte zurück. Im Sinne von Kandinsky kann man vom Geistigen oder Seelischen als dem Wesentlichen sprechen. Häufig beschreibt Kandinsky das neue Sehen von Kunst und Realität als Sehen des Wesentlichen bzw. des Geistigen. So war das Buch Der Blaue Reiter dem Erleben des Geistigen in allen Dingen gewidmet. Kandinsky exemplifizierte das Thema in dem Aufsatz Über die Formfrage der Schrift. Anschaulich benennt er den Wechsel der zwei Sehweisen im Aufsatz Über die Mauer vom Januar, 1914: »Kurz und klar: schmerzlos können, wie wir gesehen haben, die Farben von den Gegenständen getrennt werden, lebendig liegen sie auf unserer Hand und stecken durch ihr Pulsieren den lebhafteren Seelenpuls an.« Es ist die frühe Erfahrung, wie er sie bei der ersten Begegnung mit den Heuhaufen Monets gemacht hatte. Er hatte das Bild ohne Gegenstand gesehen, es vom Gegenstand getrennt, um vom Geistigen des Bildes berührt zu werden. Die Farben brachten seine Seele zum Vibrieren. Ein solches Sehen bedeutet zugleich ein Absehen vom »Praktisch-Zweckmässigen«. Die Phänomenologisierung der sichtbaren Welt, ihre Reduktion auf die Visualität ist hierfür verantwortlich. Kandinsky spricht von »Phänomenologisieren« der Welt (Abstrakt 20). Die Kunst bringt die Welt zur »Erscheinung« (PLF 13, 71, 109). Die Gegenstände bzw. Dinge werden durch das Absehen von ihrer natürlichen Bedeutung zu Bild-»Dingen« (Abstrakt 18, 24). Er nennt die »Dinge« des Lebens ebenso »Erscheinungen« wie die einzelnen »Farben«. Die Farben konstituieren vor allem die Erscheinungen der Dinge. Die Farben sind die bestimmenden elementaren künstlerischen Formen der Bilder nach Kandinsky. Die Farben sind, wie gesehen, die Tasten, welche die Seele in Schwingung bringen (Abstrakt 47). Hinsichtlich der Bildlichkeit sind für Kandinsky die »Farben« wesentlich. Aber nicht nur die Farben sind Wirkung zeigende Wesen, sondern Kandinsky behandelt vor allem auch die elementaren Mittel und »Formen« der Kunst als »Wesen«, ja als geistige Wesen. So einige Beispiele: »Der geometrische Punkt ist ein unsichtbares Wesen. Es muss als ein unmaterielles Wesen definiert werden. Materiell gedacht gleicht der Punkt einer Null« (PLF 21).

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Phänomenologischer Ansatz

»Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes […]. Sie ist aus der Bewegung entstanden« (PLF 57). »Die Form selbst, wenn sie auch ganz abstrakt ist und einer geometrischen gleicht, hat ihren inneren Klang, ist ein geistiges Wesen mit Eigenschaften, die mit dieser Form identisch sind. Ein Dreieck (ohne die nähere Bezeichnung, ob es spitz, flach, gleichseitig ist) ist ein derartiges Wesen« (ÜG 53). »Bleibt die Form abstrakt, bezeichnet sie keinen realen Gegenstand, sondern ist ein vollkommen abstraktes Wesen. Solche rein abstrakte Wesen, die als solche ihr Leben haben, ihren Einfluß und ihre Wirkung, sind ein Quadrat, ein Kreis, ein Dreieck, ein Rhombus, ein Trapez und die unzähligen anderen Formen, die immer komplizierter werden und keine mathematische Bezeichnung besitzen. Alle diese Formen sind gleichberechtigte Bürger des abstrakten Reiches« (ÜG 55). Selbst die normalen Gegenstände des Lebens haben in der Tiefe ein beseeltes Wesen. »Cézanne. Er verstand aus einer Teetasse ein beseeltes Wesen zu schaffen oder richtiger gesagt, in dieser Tasse ein Wesen zu erkennen« (ÜG 34). Kandinsky erkannte dies, wie er in einem späten Text am Vergleich zwischen Linie und Fisch deutlich macht: »Die isolierte Linie wie auch der isolierte Fisch sind lebendige Wesen mit ihren eigenen Kräften – verborgenen Kräften. Es ist die Umgebung der Linie und des Fisches, die das Wunder zustande bringt, dass die verborgenen Kräfte erwachen, der Ausdruck strahlend wird und der Eindruck tief […]. Die Umgebung ist die Komposition. Die Komposition ist die organisierte Summe von inneren Funktionen« (Abstrakt 24).

Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht so das wahre Kunstwerk »aus dem Künstler«. Von ihm losgelöst bekommt das Kunstwerk ein selbständiges Leben, es wird zur Persönlichkeit, zu einem selbständigen, geistig atmenden Subjekt, welches auch ein materiell reales Leben führt, welches ein Wesen ist (ÜG 114). Malerei und Musik bekommen eine immer wachsende Tendenz »absolute« Werke zu schaffen, d. h. vollkommen objektive, selbständige Wesen. Diese Werke stehen der in abstracto lebenden Kunst (dem Rein- und Ewig-Künstlerischen) näher (E 212). Kandinsky führt die formalen Elemente der Bildlichkeit »Farben« und »Formen« auf ihr geistiges Wesen zurück. An dieser Stelle ist der Hang zu einem strikten Essentialismus bzw. Substanzialismus nicht zu übersehen (Abstrakt 24). Das entspricht Kandinskys wiederholtem Einzug von universalen »metaphysische Prinzipien« in seine Kunsttheorie (Abstrakt 47–48).

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Kandinsky

Phänomenologische Reduktion Die phänomenologische Reduktion schränkt alle gewohnten Vormeinungen und Vorentscheidungen ein. Sie versucht »zu den Sachen selbst« vorzudringen. Das entspricht bei Kandinsky der phänomenologischen Epochè des »Praktisch-Zweckmäßigen«. Das Praktisch-Zweckmäßige steht bei Kandinsky für die praktische Erfahrungsweise der Gegenstände. Die Gegenstände werden in ihrer praktischen Bedeutung oder »Zweckmäßigkeit« gesehen. Diese Betrachtung legt sich über die Gegenstände, blendet dabei die Innenseite aus, das Wesen der Sachen selbst, das Seelische oder Geistige. Im Bildsehen wird dieses äußere Sichtbare gleichsam ins Leere gestellt, um neu erfahren zu werden. Hinter dem praktisch funktionalen Schleier tritt der Gegenstand neu hervor, den Kandinsky »Ding« nennt. Das Sehen ist kein naiver Blick, sondern ein »intentionaler Akt« (Abstrakt 20). Man muss das Auge entsprechend einstellen wollen. Dann vollzieht sich der Wechsel: von der an Faktizität und Funktionalität orientierten Auffassung zu einer ausschließlich auf die Wirkungsweise der Dinge konzentrierten; das ist strukturell ein Übergang zwischen zwei Ebenen. Ein neuartiger Zusammenhang zwischen der sinnlich erfahrbaren Realität und der abstrakten Malerei entsteht. Kandinskys Sehen erfolgt unter den Bedingungen seiner Malerei. Das Absehen vom gewohnheitsmässigen, wiedererkennenden Sehen (»praktischzweckmässige Bedeutung«) ist zugleich ein Hinsehen auf die (formale) Bildhaftigkeit der Welt, »auf die Sachen selbst«. Die Welt erscheint in einem neuen Klang: »Die Welt klingt« (ÜF 38). Sie klingt den künstlerischen Wirkweisen von Farbe und Form entsprechend. Auf einen mittelmäßig empfindenden Menschen wirken die gewohnten Gegenstände ganz oberflächlich. Eine ganz einfache Bewegung von Menschen z. B. deren praktischen Zweck man nicht erkennt, wirkt an und für sich als eine bedeutende geheimnisvolle, feierliche. Sie wirkt als reiner Klang, so dramatisch und packend, daß man stehen bleibt wie vor einer Vision, bis man plötzlich den praktischen Zweck der Bewegung erkennt und der Zauber verschwunden ist. Der praktische Sinn löscht den abstrakten Sinn aus (ÜG 106). Wer weiß, vielleicht sind unsere »abstrakten« Formen alle miteinander »Naturformen«, aber keine »Gebrauchsgegenstände«. Diese Kunst- und Naturformen sind »zwecklos«, wodurch sie eine klare Stimme besitzen, für die ein »Ohr« notwendig ist (E 199). 378 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Phänomenologischer Ansatz

Dadurch aber wird den Menschen im Allgemeinen erst das Erleben des Geistigen in den materiellen Dingen ermöglicht (Rb 32). Der reine Klang tritt in den Vordergrund. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration, die komplizierter, übersinnlicher ist (ÜG 29). »Alles zeigte mir sein Gesicht, sein innerstes Wesen, die geheime Seele, die öfter schweigt als spricht. So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte Punkt (Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir seine Seele. Das war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu ›begreifen‹, die heute im Gegensatz zur ›Gegenständlichen‹ die ›Abstrakte‹ genannt wird« (Rb 13).

Transzendentale Reduktion Die transzendentale Reduktion geht auf das Prinzip der Phänomenalität. Sie legt die Grundlage der phänomenologischen Untersuchung frei. In der Husserlschen Phänomenologie ist das Bewusstsein und das transzendentale Ego das transzendentale Prinzip. Sollte für die Phänomenologie der Kunsttheorie Kandinskys nach dem transzendentalen Prinzip gefragt werden, so muss dieses »innere Notwendigkeit« und »Geist« genannt werden. Prinzip der inneren Notwendigkeit Kandinsky ging die »innere Notwendigkeit« des Künstlers wiederum in der Situation eines anderen »wunderbaren« Ereignisses auf: »Es war die Stunde der einziehenden Dämmerung. Ich kam mit meinem Malkasten nach einer Studie heim, noch verträumt und in die erledigte Arbeit vertieft, als ich plötzlich ein unbeschreiblich schönes, von einem inneren Glühen durchtränktes Bild sah. Ich stutzte erst, dann ging ich schnell auf dieses rätselhafte Bild zu, auf dem ich nichts als Formen und Farben sah und das inhaltlich unverständlich war. Ich fand sofort den Schlüssel zu dem Rätsel: es war ein von mir gemaltes Bild, das an die Wand angelehnt auf der Seite stand. Ich versuchte den nächsten Tag bei Tageslicht den gestrigen Eindruck von diesem Bild zu bekommen. Es gelang mir aber nur halb: auch auf der Seite erkannte ich fortwährend die Gegenstände, und die feine Lasur der Dämmerung fehlte. Ich wußte jetzt genau, daß der Gegenstand meinen Bildern schadet. Eine erschreckende Tiefe, eine verantwortungsvolle Fülle von allerhand Fragen stellten sich vor mich. Und die wichtigste: was soll den fehlenden Gegenstand ersetzen? Die Gefahr einer Ornamentik stand klar vor mir, die tote Scheinexistenz der stilisierten Formen konnte mich nur abschrecken. Erst nach vielen Jahren geduldiger Arbeit, angestrengten Denkens,

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Kandinsky

zahlreicher vorsichtiger Versuche, sich immer entwickelnder Fähigkeit, die malerischen Formen rein, abstrakt zu erleben, immer tiefer in diese unermeßlichen Tiefen sich zu vertiefen, kam ich zu den malerischen Formen, mit denen ich heute arbeite (an denen ich heute arbeite), und die, wie ich hoffe und will, sich viel weiter entwickeln werden. Es hat sehr lange gedauert, bis diese Frage, ›Was soll den Gegenstand ersetzen?‹, in mir zu einer richtigen Antwort kam. Oft schaue ich in meine Vergangenheit zurück und bin verzweifelt, wie viel Zeit ich an dieser Lösung verbraucht habe. […] Frage, ›Was soll den Gegenstand ersetzen?‹ […] Trost: nie konnte ich es über mich bringen, eine Form zu gebrauchen, die auf logischem Wege – nicht rein gefühlsmäßig in mir entstand. […] Alle Formen kamen ›von selbst‹« (Rb 21). »Diese Basis soll als Prinzip der inneren Notwendigkeit bezeichnet werden« (ÜG 49).

Die innere Notwendigkeit entsteht nach Kandinsky aus drei »mystischen« Gründen. Sie wird von drei mystischen Notwendigkeiten gebildet: »1. hat jeder Künstler, als Schöpfer, das ihm Eigene zum Ausdruck zu bringen (Element der Persönlichkeit), 2. hat jeder Künstler, als Kind seiner Epoche, das dieser Epoche Eigene zum Ausdruck zu bringen (Element des Stiles im inneren Werte, zusammengesetzt aus der Sprache der Epoche und der Sprache der Nation, solange die Nation als solche existieren wird), 3. hat jeder Künstler, als Diener der Kunst, das der Kunst im allgemeinen Eigene zu bringen (Element des Rein- und Ewig-Künstlerischen, welches durch alle Menschen, Völker und Zeiten geht, im Kunstwerke jedes Künstlers, jeder Nation und jeder Epoche zu sehen ist und als Hauptelement der Kunst keinen Raum und keine Zeit kennt)« (ÜG 65, 71).

Das Ergebnis des Prinzips der inneren Notwendigkeit ist die »reine Kunst« (ÜG 65, 117). Eine Epochè will ihr Leben künstlerisch äußern. Ebenso will der Künstler sich äußern und wählt die ihm seelisch verwandten Formen. Diese beiden Elemente sind subjektiver Natur. Das Rein- und Ewig-Künstlerische ist dagegen das objektive Element, welches mit Hilfe des subjektiven verständlich wird. Das unvermeidliche Sich-Ausdrücken-wollen des Objektiven ist die Kraft, die hier als innere Notwendigkeit bezeichnet wird. »Die Entwicklung der Kunst ist eine fortschreitende Äußerung des Ewig-Objektiven im Zeitlich-Subjektiven […]. Die heute anerkannte Norm ist eine Eroberung der geistigen Notwendigkeit […] sie ist aber die heute bereits äußere Notwendigkeit« (ÜG 68). 380 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Phänomenologischer Ansatz

»Ich fühlte immer mehr und deutlicher, daß es in der Kunst nicht auf das ›Formelle‹ ankommt, sondern auf einen inneren Wunsch (Inhalt), der das Formelle gebieterisch bestimmt. [Es gilt] die Kunstfrage ausschließlich auf der Basis der inneren Notwendigkeit zu lösen, welche die sämtlichen bekannten Regeln und Grenzen in jedem Augenblick umzuwerfen imstande war. So trennte sich für mich das Reich der Kunst vom Reich der Natur immer mehr, bis ich beide als selbständige Reiche vollkommen durchfühlen konnte« (Rb 25).

Geist Seele Das Ergebnis des Prinzips der inneren Notwendigkeit ist die »reine Kunst« (ÜG 65, 117). Was ist jedoch »reine Kunst«? Wie äußert sie sich? Kandinsky nennt die Verwirklichung der »reinen Kunst« die »Epoche des großen Geistigen«. Die »reine Kunst« ist die Verwirklichung des Geistes, die Vibration der Seele, das Erleben des reinen Klanges (ÜG 125). Das Wesen der reinen Kunst ist in Kandinskys Motiv des Künstlers bereits angekündigt: »Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt« (ÜG 49). Kandinsky sieht in dieser Fähigkeit, die Vibration der Seele zu erfahren und auszudrücken, geradezu seine Berufung zur Kunst: »Meine Fähigkeit, mich in das innere Leben der Kunst (und also auch meiner Seele) zu vertiefen« (Rb 23). Das Erleben heißt, das innere Leben im Werke (Rb 31), den Geist der Dinge zu fühlen, diesen Geist, wenn auch ganz unbewusst, zu erleben, so wie noch heute das Äußere der Dinge unbewusst von den Menschen im allgemeinen erlebt wird, was den Genuß des Publikums an der gegenständlichen Kunst erklärt. Dadurch aber wird den Menschen im allgemeinen das Erleben des Geistigen in den materiellen Dingen bedingt (Rb 32). Mit dem Geist verbindet Kandinsky den christlichen Geist, er schaut eschatologisch auf das Kommen des Geistes. Er hofft auf den großen Tag der dritten Offenbarung. »Heute ist der große Tag einer der Offenbarungen dieses Reiches. Die Zusammenhänge dieser einzelnen Reiche wurden wie durch einen Blitz beleuchtet; sie traten unerwartet, erschreckend und beglückend aus der Finsternis. Nie waren sie so stark miteinander verbunden und nie so stark voneinander abgegrenzt. Dieser Blitz ist das Kind der Verdüsterung des geistigen Himmels, der schwarz, erstickend und tot über uns hing. Hier fängt die große Epoche des Geistigen an, die Offenbarung des Geistes. Vater – Sohn – Geist« (Rb 29).

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Kandinsky

»Wäre unsere Zeit der Schwelle der ›dritten‹ Offenbarung ohne die zweite denkbar? Christus ist, nach seinen eigenen Worten, nicht gekommen, um das alte Gesetz zu stürzen. Wenn er sprach: ›Es ward euch gesagt […] und ich sage euch […]‹, so brachte er das alte materielle Gesetz als sein geistig gewordenes Gesetz. Ich bemerkte, daß diese Kunstanschauung christlich ist und daß sie zu derselben Zeit die nötigen Elemente zum Empfang der ›dritten‹ Offenbarung, der Offenbarung des Geistes, in sich birgt« (Rb 30).

Kandinsky verwendet für den Ausdruck der reinen Kunst neben dem »Geist« noch andere verschiedene Begriffe wie: »reiner Klang« oder »geheime Seele«. »Der Klang ist also die Seele der Form, die nur durch den Klang lebendig werden kann und von innen nach außen wirkt« (ÜF 17). »Der reine Klang tritt in den Vordergrund. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration, die komplizierter, übersinnlicher ist« (ÜG 29). »So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte Punkt (= Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir seine Seele. Das wurde für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu ›begreifen‹, die heute im Gegensatz zur ›Gegenständlichkeit‹ die ›Abstrakte‹ genannt wird.« Das Erleben der »geheimen Seele« der sämtlichen Dinge (E 183). Intuition ist »innerer Klang des Geistes« (ÜF 20). »Die normalen Werke der abstrakten Malerei entspringen der gemeinsamen Quelle aller Künste: der ›Intuition‹ (E 138) »Theorien konnten nie das Element der ›Intuition‹ ersetzen, weil das Wissen als solches unfruchtbar ist, es muß sich begnügen, das Material und die Methoden zu liefern. Die Intuition kann aber ihren Zweck auch nicht ohne das Mittel erreichen und wäre allein ebenfalls unfruchtbar« (E 116). Der Geist ist lebendig machender Geist: »Das heißt der schaffende Geist (welchen man als den abstrakten Geist bezeichnen kann) findet einen Zugang zur Seele« (ÜF 15). Henri Rousseau, der als Vater dieser Realistik zu bezeichnen ist, hat diesen Weg geöffnet (ÜF 38) (ÜG 40). »Die Welt klingt«. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen. So ist die tote Materie lebender Geist (ÜF 38).

Der Blaue Reiter Das Ende des Rückblicks (Rb), aber auch das Ende von Über das Geistige in der Kunst und ein Vorblick auf Den Blauen Reiter sind ein Bekenntnis zum lebendigen Geist: »Ich glaube, daß die künftige Philosophie, außer dem Wesen der Dinge, auch ihren Geist mit besonderer Aufmerksamkeit studieren wird. Dann wird die Atmosphäre gebildet, die den Menschen im allgemeinen die Fähigkeit ermöglichen 382 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Phänomenologischer Ansatz

wird, den Geist der Dinge zu fühlen, diesen Geist, wenn auch ganz unbewußt, zu erleben, so wie noch heute das Äußere der Dinge unbewußt von den Menschen im allgemeinen erlebt wird, was den Genuß des Publikums an der gegenständlichen Kunst erklärt. Dadurch aber wird den Menschen im allgemeinen erst das Erleben des Geistigen in den materiellen Dingen bedingt. Und durch diese neue Fähigkeit, die im Zeichen des ›Geistes‹ stehen wird, kommt der Genuß der abstrakten absoluten Kunst zustande. Mein Buch Über das Geistige in der Kunst und ebenso Der Blaue Reiter hatten hauptsächlich den Zweck, diese unbedingt in der Zukunft nötige, unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken. Der Wunsch, diese beglückende Fähigkeit in den Menschen, die sie noch nicht hatten, hervorzurufen« (Rb 32). Die bisherigen Bemerkungen, die sich aus einer phänomenologischen Betrachtung des Werkes Kandinskys ergeben, sind am Werk und an den Schriften Kandinskys zu verifizieren. Dabei fällt der Focus wie bei Klee vor allem auf die theoretischen Schriften ÜG, ÜF und PLF sowie die Beiträge in Rb, E u. a. Wie bei Klee ist auch für Kandinsky zu sagen, dass die theoretischen Schriften Aufschlüsse und Einblicke in das jeweilige Werk geben, sie aber die konkreten Werkanalysen und Werkinterpretationen nicht ersetzen können.

8.2.3 Bewegung (Klee) – Spannung (Kandinsky) Unsere Studie nimmt seinen Ausgang von Aristoteles Begriff der »Zeit«. Der Begriff der Zeit wird von Aristoteles durch das Begriffspaar von »Zeit« und »Bewegung« definiert: die Zeit wird durch die Bewegung gemessen und die Bewegung durch die Zeit. Der überraschende Ansatz Klees war, wie herausgestellt, vor allem durch den Ansatz bei der »Bewegung« geprägt. Bewegung wurde zum Grundbegriff der phänomenologischen Interpretation Klees, wie wir sie vorgelegt haben. Die Frage ist nun, ob dieser Ansatz für die neuere Kunst insgesamt gilt – Hinweise haben wir bei Cézanne gefunden, bei dem die Wende zu einem neuen Kunstverständnis sichtbar ist –, ob ein ähnliches Konzept auch bei Kandinsky vorliegt. Kandinsky und Klee haben viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in den Werkbeschreibungen. Kandinsky ersetzt den Begriff »Bewegung« ausdrücklich durch 383 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

»Spannung«; in der Spannung sei Bewegung enthalten. 201 In PLF 58 fügt Kandinsky eine Bemerkung über seinen Sprachgebrauch ein: »Den fast allgemein üblichen Begriff ›Bewegung‹ ersetze ich durch ›Spannung‹«. Kandinsky führte in PLF den Begriff der »Spannung« neu ein: Die Bewegung rühre von einer Kraft und einer Spannung zwischen zwei Polen her. Obwohl der Terminus »Spannung« Anfang der 1920er-Jahren in Philosophie, Kunst- und Musikwissenschaft und im Tanz sehr verbreitet war, schien ihn Klee, wie bemerkt wurde, erst Mitte des Jahrzehnts in seinen Unterricht einzuführen, wie ein »Lehrplan« von September 1925 belegt. Grund dafür war wohl die gemeinsame Arbeit mit Kandinsky im Bauhaus. Kommentare führen den Begriff der »Spannung« Kandinskys auf die russischen und ungarischen Konstruktivisten zurück (Schöpfung 213). Sie gehen davon aus, dass die Kleesche Verwendung des Begriffs aufgrund des Dialoges mit Kandinsky und Moholy-Nagy erfolgt sei. Da Kandinsky den Begriff »Bewegung« »ungenau« fand, ersetzte er ihn mit »Spannung«. Diese sei »die dem Element innelebende Kraft, die nur einen Teil der schaffenden ›Bewegung‹« bedeute. Er begründete den Zusammenhang von Spannung und Bewegung einerseits so, dass die schaffende Bewegung, welche eine bestimmte Richtung habe, als Spannung verstanden werden könne, und andererseits so, dass die Spannung aus der Bewegung entstanden sei. Der Begriff »Spannung« beinhaltet bei Kandinsky damit die für Gestaltung verantwortlichen Faktoren Kraft, Bewegung und Richtung. Nach Moholy-Nagy war ein Bild das Produkt »von Spannungen in Farben- und (oder) in Formverhältnissen auf der Fläche«. Kandinsky hält den Begriff der »Bewegung« für ungenau und führt deshalb den Begriff der Spannung ein: »Der übliche Begriff ist ungenau und führt deshalb auf unrichtige Wege, die zu weiteren terminologischen Mißverständnissen verleiten. Die ›Spannung‹ ist die dem Element inne lebende Kraft, die nur einen Teil der schaffenden ›Bewegung‹ bedeutet. Der zweite Teil ist die ›Richtung‹, die auch von der ›Bewegung‹ bestimmt wird. Die Elemente der Malerei sind reale Resultate der Bewegung, und zwar in der Form: 1. der Spannung, und 2. der Richtung« (PLF 58).

201 Zu »Spannung« (Kandinsky) s. (PLF 13, 58, 132), zu »Bewegung« (Klee) (BG II.5 Wege zur Form).

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Phänomenologischer Ansatz

»Bewegung« ist aber der fundamentalere Begriff. »Spannung« ist nur ein Teilbegriff. Spannung meint »Kraft«, die Energie- und Kräfteverteilung innerhalb der gesamten Bewegung. Bewegung enthält auch die »Richtung«, die aber nicht monolinear verlaufen muss, sondern sich vielfältig ergeben kann. Klee hat den Begriff der Spannung nachträglich für die Bewegung beschrieben. Der andere Teilbegriff der Bewegung der »Richtung« ist bei Klee immer berücksichtigt, ist aber im Folgenden besonders im Auge zu behalten. »Spannung« ist und bleibt aber der zentrale Begriff in PLF. Kandinsky konstruiert die Theorie von PLF auf der Grundlage des Begriffs der Spannung. Hier stellt sich natürlich die Frage, was Kandinsky mit den Begriffen Spannung, Kraft und Bewegung meint. In der Literatur taucht der passende Oberbegriff, die kleinste gemeinsame Basis dieser Wörter, auf: die Linie bei Kandinsky sei die »Fahrtrinne der Energie«. Eine Spannung ist eine Form der Energie, welche zum Beispiel beim elektrischen Strom gemessen und in einer Zahl ausgedrückt werden kann. Spannung entsteht immer aus energiegeladenen Teilchen. Kraft findet man in der Physik vor, sie wirkt auf Massen und stellt auch eine Art Energie dar. Auch die Bewegung muss einen Energieimpuls erhalten, um entstehen zu können. Alle drei Begriffe haben es mit Energie zu tun. Wie Kandinsky verstand auch Klee unter inneren Spannungsverhältnissen »die verschiedenen Vorgänge, welche von innen heraus zu der Form des Ganzen« führten, mit anderen Worten »die Wege zur Form des Bildganzen«. Bonnefoit belegt durch Textvergleiche, dass Ludwig Klages Auffassung von Form und Spannung sowohl von Klee als auch von Kandinsky aufgegriffen wurde (Linie 119–120). Doch Spannung ist nach Klee aber nur ein Teilaspekt des umfassenderen Begriffs der »Bewegung«. Denn »Kraft« und »Spannung« sind in dem dynamischen Begriff der Bewegung nicht nur enthalten, sondern machen dessen Begriff aus. Klee fügte seinen Vorlesungen ein langes Kapitel ein: Wege zur Form (BG II.5) 202. Dort führte er den Begriff der »Spannung« ein und widmete das erste Unterkapitel der Definition. Die Bewegung rühre von einer Kraft und einer Spannung zwischen zwei Polen her (5a BG 202 Zu dem Kapitel »Wege zur Form« gibt es einen »Plan im Grossen« (BG II.5/2) und ein ausführliches Verzeichnis zum Thema »Spannung« mit eigenen Ordnungsnummern (z. B. 5a – 5h BG II.5/3) und dazu einen gesonderten Überblick über das Kapitel »Spannungen der Elementarformen (ihr Inhalt)« (BG II.5/64–70), (Schöpfung 213 f.).

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Kandinsky

II.5/4). Dazu erläuterte er den Terminus »Spannung« als Wille und als Vollzug. Spannung ist abstrakt und konkret. Abstrakt ist die Spannung »Wille«, konkret ist sie »Vollzug«. Klee spricht deshalb von »Spannungswille« und »Spannungsvollzug« (5b1 BG II.5/9). Klee konkretisiert so den zunächst leeren Begriff der Spannung auf den gesamten Vollzug hin. Spannung ist nach Klee sodann einseitig oder mehrseitig. Die Spannung ist einseitig, wenn nur ein Partner aktiv ist. Dabei kommt es zu keiner Bewegung. Sind mehrere Partner aktiv, ist sie mehrseitig. Dafür gibt Klee das Beispiel des Fisches und des Fischers an. Beide tendierten zur Angel, bis zum Moment des Einhakens des Fisches. Danach tendieren ihre Kräfte in die entgegengesetzte Richtung (5b2 BG II.5/12). Ein wichtiger Gesichtspunkt für die Begriffe von Spannung und Bewegung. Die Spannung entsteht aus dem Bewegungsvorgang. Die Bewegungsrichtung geht nicht nur von einer Stelle aus (z. B. Punkt), sondern sie resultiert aus einer Beziehung zwischen verschiedenen Elementen. In einem weiteren Schritt erläutert Klee verschiedene Spannungsvorgänge zwischen bildnerischen Elementen. In einem gesonderten Umschlag untersuchte Klee die Spannungsvorgänge zwischen Punkt und Punkt, Punkt und Linie, Linie und Linie, Punkt und Fläche, Linie und Fläche, Fläche und Fläche sowie Punkt und Körper, Linie und Körper, Fläche und Körper und zu guter Letzt Körper und Körper. Er unterschied jeweils die Situation im Stadium von Spannungswille und Spannungsvollzug. Mit verschiedenen geometrischen Konstruktionen werden verschiedene Arten von Spannungsverhältnissen dargestellt (5c BG II.5/16). Die Spannungen können vielseitig gerichtet sein. Das hängt nicht von einer festen Position ab (z. B. Punkt), sondern von den unterschiedlichen Elementen, die im Spiel sind. Die verschiedenen Bewegungsvorgänge schlagen sich in den verschiedenen Bewegungs-Richtungen nieder. In einem längeren Unterkapitel erklärte Klee dann die Formwerdung aus dem Punkt (»ab ovo«) mittels der Triebkräfte im Ursprung. Es ist ein dynamisches Wachsen aus dem Samen, kein qualitativer Sprung wie bei Kandinsky, der von der Statik des ruhenden Punktes zur Dynamik der Linie übergeht (5h BG II.5/77–88). Klee ging es hauptsächlich darum, seinen Schülern zu erklären, dass eine Elementarform nicht ist, sondern von innen her entsteht. Der Entstehungsprozess beginnt beim »gereizten« Punkt – »ab ovo«. Unterschiedliche (Trieb)Kräfte, sei es die statische Gravitation, die 386 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

»Über das Geistige in der Kunst« (ÜG)

dynamische Schwungkraft oder das zwischen Statik und Dynamik sich bewegende Pendel führen zur endgültigen Form. Form ist das Ergebnis des dynamischen Wachsens und Werdens. Der Ansatz Kandinskys bei dem Begriff der »Spannung« wird auch Konsequenzen für den Begriff der »Zeit« haben.

8.3 »Über das Geistige in der Kunst« (ÜG) Über das Geistige in der Kunst (ÜG) ist in verschiedenen Stufen zwischen 1904 bis 1914 entstanden und im Jahr 1912 erschienen. Zeitlicher Hintergrund Die Schrift ÜG ist vor dem Hintergrund der Zeit bzw. auf dem Hintergrund der Zeiterfahrung Kandinskys zu sehen. Dazu sind einige Hinweise bekannt wie: »Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich«. »Ein wissenschaftliches Ereignis räumte eins der wichtigsten Hindernisse auf diesem Wege. Das war die weitere Teilung des Atoms. Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich. Plötzlich fielen die dicksten Mauern. Alles wurde unsicher, wackelig und weich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ein Stein vor mir in der Luft geschmolzen und unsichtbar geworden wäre. Die Wissenschaft schien mir vernichtet: ihre wichtigste Basis war nur ein Wahn, ein Fehler der Gelehrten, die nicht im verklärten Licht mit ruhiger Hand ihr göttliches Gebäude Stein für Stein bauten, sondern in Dunkelheit aufs Geratewohl nach Wahrheiten tasteten und blind einen Gegenstand für einen anderen hielten.«

Der Einschätzung dieser Situation folgte nach Kandinsky eine deutliche Zeitkritik: »Zwei Vorgänge (heute) […]: 1. Das Zersetzen des seelenlos-materiellen Lebens des 19. Jahrhunderts, d. h. das Fallen der für einzig fest gehaltenen Stützen des Materiellen, das Zerfallen und Sichauflösen der einzelnen Teile. 2. Das Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts, welches wir miterleben und welches sich schon jetzt in starken, ausdrucksvollen und bestimmten Formen manifestiert und verkörpert« (Rb 16). (ÜF 44)

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Kandinsky

Es war die Zeit der Zeit- und Welterklärer, um nur auf eine der Strömungen hinzuweisen, die für Kandinsky Bedeutung hatten, die Theosophen u. a. (ÜG 25) (Abstrakt 39). »In einer Zeit voll Fragen, Ahnungen, Deutungen, Widersprüchen schien ein Harmonisieren am wenigsten passend. Kampf der Töne, verlorenes Gleichgewicht, unerwartete Trommelschläge, scheinbar zielloses Streben, zerrissener Drang […]. Daraus war ein Ganzes zu bilden, welches Bild heißt« (ÜG 32, 92). »Die Malerei sucht nach ›neuen Formen‹, und noch sehr wenige wissen, daß dies ein unbewußtes Suchen nach dem neuen Inhalt war« (E 92). »Jeder Epoche ist ein eigenes Maß künstlerischer Freiheit zugemessen, und über die Grenze dieser Freiheit vermag die genialste Kraft nicht zu springen. Aber dieses Maß muß jedesmal erschöpft werden und wird jedesmal erschöpft. Es mag die widerspenstige Karre sich sträuben, wie sie will« (ÜG 32).

8.3.1 Inhalt von ÜG – Farben physisch psychisch Es soll versucht werden, einen knappen Abriss der inhaltlichen Entstehung von Über das Geistige in der Kunst (ÜG) zu geben. Dies betrifft die inhaltliche Entwicklung von 1903/04 bis 1914 (Abstrakt 274). Erste Ideen sind in der Aphorismensammlung Das Definieren der Farben um 1903/04 und vor allem im Text Die Farbensprache von 1904 zu finden. Dieser ist gedanklich klar entwickelt. Es geht bereits um die Möglichkeiten einer eigenen, vom Naturalismus befreiten Farbensprache auf der Grundlage affektiver Wirkungseigenschaften und verschiedenartiger Kombinationsmöglichkeiten mit Formen und Fakturen. Kandinsky beschreibt die Farbbeeinflussung durch verschiedene geometrische Formen. Ein »Abstrahieren von Naturformen« zieht er in Betracht, möchte aber jede Ornamentalität vermeiden. Die Abkehr von der gegenständlichen Malerei ist als Fernziel bereits anvisiert. Das spätere 6. Kapitel, das bis 1911 mit Farbensprache überschrieben war, bildet den Keim von ÜG. 1908/09 folgte ein Text, der inhaltlich breiter angelegt ist und das Themenfeld des nachfolgenden Buches absteckt. Dazu seien die Stichworte genannt: Suche nach einem »malerischen Generalbass« 388 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

»Über das Geistige in der Kunst« (ÜG)

auf der Grundlage von Farbanalysen und die Erprobung vielfältiger Kombinationsarten; Musik und Dichtung als Leitbilder neuer bildnerischer und semantischer Möglichkeiten; Emanzipation vom äußerlichen Naturvorbild; Kunst als »Seelensprache« und das »Bild« als »lebendiges Wesen«, Freiheit des künstlerischen Ausdrucks; der Künstler als Führer des »geistigen Lebens«, dargestellt als aufsteigendes spitzes geistiges Dreieck, das von Materialismus und Technikgläubigkeit bedroht ist; der alles umfassende Dualismus von geistig – materiell. Kandinsky knüpft die Auffassung vom Künstlerischen erstmals ganz an Farbe und Form und unterscheidet sie von den Möglichkeiten gegenständlicher Darstellung, auf die er gleichwohl noch nicht verzichten kann. 1909 erweiterte er den Text zum Buch und unterschied einen allgemeinen von einem spezifisch bildkünstlerischen Teil. Das jetzt farbiger ausgemalte Bild des geistigen Dreiecks verbindet alle vier Kapitel der ersten Hälfte. Es folgt ein zweiter bildnerischer Teil zur Farbensprache. Dann werden Veränderungen der Kunst in den Rahmen eines allgemeinen gesellschaftlichen Wandels von historischer Tragweite gestellt. Der Wandel sei überall erkennbar: in Kunst, Politik, Religion und Wissenschaft. (Abstrakt 274) Erschienen ist die Schrift 1912. 8.3.1.1 Die Methode von ÜG Das Ziel seiner Bemühungen über die Kunstelemente der Malerei war: »Die Gründung einer Grammatik, welche die Regeln der Konstruktion enthält«. Die systematische Analyse habe sich allererst der Grundelemente anzunehmen, und da wieder zunächst dem »Urelement der Malerei« (PLF 31). Nur auf diesem Wege einer mikroskopischen Analyse wird die Kunstwissenschaft zur umfassenden Synthese führen. In den Kapiteln Punkt, Linie und Grundfläche (PLF) entwickelt Kandinsky einen Teilaufriss dessen, was er in Über das Geistige in der Kunst von der Zukunft als »Malgrammatik«, als »Generalbass« (ÜG 70) (ÜF 27) im Sinne Goethes, eingefordert hatte. In ÜG 51 stellt Kandinsky in Kurzform und Stichworten sein Kunstverständnis vor: »[…] die Malerei […] Kunst im abstrakten Sinne […] wird […] schließlich die rein malerische Komposition erreichen. Zu dieser Komposition stehen ihr zwei Mittel zur Verfügung: 1. Farbe. 2. Form«. 389 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

Dazu sind einige Bemerkungen zu machen: Wenn Kandinsky von der »malerischen Komposition« spricht, dann meint er die Kunst der Malerei als ganze. Zu beachten ist aber, dass Kandinsky hier schon einschränkt, »Kunst im abstrakten Sinn«, wobei der Sinn der abstrakten Kunst an dieser Stelle noch nicht geklärt ist. Kandinsky wird die abstrakte Kunst in der folgenden Schrift Über die Formlehre (ÜF) zum ausführlichen Thema machen. ÜG wird sich überwiegend mit dem einen darstellerischen Mittel beschäftigen, der »Farbe«. Über die »Form« wird er im Blauen Reiter eine eigene Untersuchung nachschieben (ÜF). 203 Dementsprechend ist die folgende Passage mit einer knappen Beschreibung der beiden Mittel von Form und Farbe kursorisch. Vor allem die Form wird kurz charakterisiert, die Farbe wird ausführlicher dargestellt, mit dem Focus auf die Beziehung von Farbe und Form, ohne dass dieses wichtige Verhältnis schon aufgelöst würde: »Die Form allein, als Darstellung des Gegenstandes (realen oder nicht realen) oder als rein abstrakte Abgrenzung eines Raumes, einer Fläche, kann selbständig existieren. Die Farbe nicht. Die Farbe lässt sich nicht grenzenlos ausdehnen. Man kann sich das grenzenlose Rot nur denken oder geistig sehen. Wenn man das Wort Rot hört, so hat dieses Rot in unserer Vorstellung keine Grenze. Dieselbe muss mit Gewalt, wenn es nötig ist, dazu gedacht werden. Das Rot, was man nicht materiell sieht, sondern sich abstrakt vorstellt, erweckt andererseits eine gewisse präzise und unpräzise innere Vorstellung, die einen rein inneren, physischen Klang hat« (ÜG 51).

Kontrast – Kontrapunkt – Komposition Zu erinnern ist an die Aussagen Goethes: »Das Auge sieht keine Gestalten, es sieht nur, was sich durch Hell und Dunkel oder durch Farben unterscheidet« (s. oben). Das Auge bildet sich Gestalten und Begriff durch das Erfahren von Unterscheidungen wie HellDunkel oder Differenzen bzw. Kontraste von Farben. Solche Differenzen sind Kontraste, Kontrapunkte usw. Das Ergebnis ist die Komposition. Kontrast »Das dynamische Moment beginnt mit dem Nebeneinanderetzen von mindestens zwei Erregungen: Elementen, Farben, Linien, Tönen, Bewegungen usw.« (E 165).

203 Kandinsky verbindet mit den beiden bildnerischen Mittel auch Namen seiner Zeit: »Matisse – Farbe. Picasso – Form. Zwei große Weisungen auf ein großes Ziel« (ÜG 34).

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»Über das Geistige in der Kunst« (ÜG)

Kontrapunkt: »Die Farbe bietet ein Material zu einem Kontrapunkt, die selbst unendliche Möglichkeiten in sich birgt, wird in Vereinigung mit der Zeichnung zum großen malerischen Kontrapunkt führen, auf welchem auch die Malerei zur Komposition gelangen wird und sich als wirklich reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt. Und immer derselbe unfehlbare Führer bringt sie auf diese schwindelnde Höhe: das Prinzip der inneren Notwendigkeit!« (ÜG 57).

Komposition »So ist die Komposition nichts weiter als eine exakt-gesetzmäßige Organisierung der in Form von Spannungen in den Elementen eingeschlossenen lebendigen Kräfte« (PLF 100).

Die rein malerische Komposition hat in Bezug auf die Form zwei Aufgaben vor sich: 1. 2.

Die Komposition des ganzen Bildes. Die Schaffung der einzelnen Formen, die in verschiedenen Kombinationen zueinander stehen, sich der Komposition des Ganzen unterordnen (ÜG 57)

Da die Zahl der Farben und der Formen unendlich ist, so sind auch die Kombinationen unendlich und zur selben Zeit die Wirkungen. Dieses Material ist unerschöpflich. (ÜG 54) 8.3.1.2 Farbe physisch-psychisch Über das Geistige Kapitel V (ÜG 5) beginnt: »Wenn man die Augen über eine mit Farben besetzte Palette gleiten läßt, so entstehen zwei Hauptresultate: 1. es kommt eine rein physische Wirkung zustande, d. h. das Auge selbst wird durch Schönheit und andere Eigenschaften der Farbe bezaubert […]. 2. das zweite Hauptresultat des Beobachtens der Farbe ist die psychische Wirkung derselben. Hier kommt die psychische Kraft der Farbe zutage, welche eine seelische Vibration hervorruft. Und die erste, elementare physische Kraft wird nun zur Bahn, auf welcher die Farbe die Seele erreicht […]« (ÜG 45). »Psychisch stehen Farben mit allen Sinnen in Zusammenhang. So können manche Farben unglatt, stechend aussehen, wogegen andere wieder als etwas Glattes, Samtartiges empfunden werden, so daß man sie gern streicheln möchte. (Ultramarinblau dunkel, Chromoxydgrün, Krapplack.)

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Kandinsky

Selbst der Unterschied zwischen kalt und warm des Farbentones beruht auf dieser Empfindung. Es gibt ebenso Farben, die weich erscheinen (Krapplack) oder andere, die stets als harte vorkommen (Kobaltgrün, grünblau Oxyd), so daß die frisch aus der Tube ausgepreßte Farbe für trocken gehalten werden kann« (ÜG 47). »Wenn uns aber die Assoziation in diesem Falle nicht ausreichend erscheint, so werden wir uns auch in der Wirkung der Farbe auf die Psyche mit dieser Erklärung nicht begnügen können. Im Allgemeinen ist also die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt. So ist es klar, daß die Farbenharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muß. Diese Basis soll als Prinzip der inneren Notwendigkeit bezeichnet werden« (ÜG 59).

Die Farben haben zunächst eine rein physische Wirkung, d. h. das Auge wird durch die Schönheit und andere Eigenschaften der Farbe bezaubert (ÜG 43). – Die Schönheit der Farbe und der Form ist (trotz der Behauptung der reinen Ästheten oder auch Naturalisten, die hauptsächlich auf »Schönheit« zielen) kein genügendes Ziel in der Kunst. Nervenvibration wird freilich vorhanden sein, sie bleibt aber hauptsächliche im Bereich der Nerven stecken (ÜG 98). Aber der oberflächliche Eindruck der Farbe kann sich zu einem Erlebnis entwickeln (ÜG 43). Der elementaren Wirkung entspringt eine tiefergehende, die eine Gemütserschütterung verursacht (ÜG 45). Kapitel VI. Formen- und Farbsprache Thema des Kapitels ist das Verhältnis von Form und Farbe. Die Form kann selbständig existieren, die Farbe nicht. Aber Farben bilden »Kontraste«, diese erzeugen Spannungen, von den Spannungen gehen unterschiedliche Bewegungen aus. Johannes Itten listet die Gegensatzpaare, die sich aus dem Farbkreis ableiten lassen, wie folgt auf: neben der Folge von kaltwarm, die weiteren wie beruhigend-erregend; dünn-dick; durchsichtig-undurchsichtig; fern-nah; feucht-trocken; schattig-sonnig; leichtschwer; luftig-erdig. Im Blick auf die physische Wirkung von Farben hebt Kandinsky besonders zwei Wirkungen der Farben hervor, nämlich ihr Hell-Dunkel und das Gefühl von Wärme-Kälte. Es sind diese zwei großen Abteilungen in der Palette der Farben, 392 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

»Über das Geistige in der Kunst« (ÜG)

die nach Kandinsky sofort ins Auge fallen: 1. Wärme und Kälte des farbigen Tones und 2. Helligkeit oder Dunkelheit desselben. So entstehen sofort vier Hauptklänge jeder Farbe: entweder ist sie I. warm und dabei 1. hell oder 2. dunkel, oder sie ist II. kalt und 1. hell oder 2. dunkel. (ÜG 72) Dabei ist sofort ersichtlich, dass sowohl Hell-Dunkel wie auch Kalt-Warm unterschiedliche Energiewerte und durch Werteskalen darzustellen sind. Aufgrund dieser Grundeinteilungen kann Kandinsky eine Reihe von Farbkombinationen, Farbmischungen und FarbForm-Konstellationen beschreiben. Es sind dynamische Werte, die Bewegungen hervorrufen und zu dynamischen Prozessen anregen. Die ungleichen Werte müssen ausbalanciert werden. Die großen Kontraste der Farben und ihre psychischen und symbolischen Äquivalente sind etwa: Blau = kalt, Himmel, übersinnlich, Unendlich, Ruhe (ÜG 77). Gelb = warm, irdisch, aufdringlich, aggressiv (ÜG 76). Den Tonwerten nach: Schwarz: dunkel – Weiss: hell (ÜG 80–83); den Farbwerten nach: Rot – Grün oder Orange – Violett (ÜG 83–87). Wie Kandinsky in seinen umfangreichen Einzeluntersuchungen der bildnerischen Mittel Farben vorgeht, kann hier nur durch einige stark gekürzte Beispiele angedeutet werden. In den folgenden Beschreibungen werden die Farben nach den unterschiedlichen Werten beschrieben. Zuerst nach den vier Hauptklängen von Hell-Dunkel und Kalt-Warm. Dann aber auch nach den für Kandinsky Entsprechungen in der Musik. Schließlich werden unterschiedliche psychische Wirkungsweisen auf die Seele angeführt. Dazu einige Beispiele: Gelb ist eine warme Farbe, bewegt sich auf den Betrachter zu, strahlt exzentrisch aus. Es steigert sich bei Aufhellung; vertieftes, sehr dunkles Gelb gibt es nicht. Gelb hat die Eigenschaft materieller Kraft, die sich unbewusst auf den Gegenstand stürzt und ziellos nach, allen Seiten ausströmt. In einer geometrischen Form eingesperrt, beunruhigt es, sticht, regt auf. Diese Eigenschaft kann gesteigert werden und klingt dann wie eine immer lauter geblasene Trompete oder Fanfarenton. Es hat Verwandtschaft mit den Gemütszuständen der blinden Tollheit, Tobsucht, des Wahnsinns. Es ist die Farbe der Verschwendung, der Sommerkräfte (ÜG 76 f.). Blau ist eine kalte Farbe, entfernt sich vom Betrachter; in einem brauen Kreis versinkt das Auge in einer konzentrisch zurückweichenden Bewegung. Blau vertieft und steigert sich bei Verdunkelung, ruft den Menschen ins Un393 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

endliche, in übersinnliche Tiefe und Ruhe. Aufgehellt wird es gleichgültig, indifferent, weit vom Menschen. Die Stufen des Blaus sind ähnlich den Instrumenten Flöte, Cello, Baßgeige, Orgel (ÜG 97 f.). Gelb bekommt bei Abkühlung durch Blau sofort grünlichen Ton, wirkt kränklich und übersinnlich. Die entgegengesetzten Bewegungen von Blau und Gelb heben sich schließlich auf in der Ruhe des reinen Grüns. Dieses verlangt nichts, ruft nirgends hin, ist selbstzufrieden, beschränkt, gleicht der Bourgeoisie (ÜG 73 f.). Zum Gelb hin wird es lebendig, jugendlich und freudig, zum Blau hin wird es nachdenklich (ÜG 79). Im Weiss sind alle Farben verschwunden, es ist großes Schweigen, aber voll Möglichkeit wie das Nichts vor der Geburt. Schwarz ist das Nichts ohne Möglichkeiten, Abschluß für alle Zeiten. Jede andere Farbe klingt auf diesem Schweigen stärker (ÜB 82). Das Grau hat die Ruhe des Grüns ohne dessen Möglichkeiten, trostlose Ruhe mit schwacher Hoffnung. Im Rot ist Brausen und Glühen, mehr in sich als nach außen, männliche Kraft (ÜG 83 f.). (vgl. PLF 63 ff.). Bei der Darstellung der Wirkung der Farben in Verbindung mit Gegenständen wird der Eigenklang der Elemente stark überdeckt oder erscheint speziell: Rot an einem menschlichen Gesicht etwa wird zum Zeichen für Gemütserregung; als Himmelsrot spezialisiert es sich zum Stimmungswert des Abendrots. Der nicht spezifische abstrakte »reine« Klang bewirkt eine feinere, übersinnliche Erregung, der Betrachter bekommt nicht selten einen »kosmischen« Eindruck. Einer der ersten Schritte in das Reich des Abstrakten ist, die Raumillusion auszuschließen, die Fläche beizubehalten und sie als ideelle Fläche und Raum zugleich zu nutzen, den Betrachter zu einer selbstvergessenen Auflösung im Bild zu zwingen, wie wenn man in eine Straße, die man bisher nur vom Fenster aus beobachtet hat, selbst hineingeht. (ÜG 121 ff.)

8.3.2 Synästhesie von Sehen und Sinnen Kandinsky behandelt vor allem die Synästhesien von Sehen – Geschmack (ÜG 46 f.), von Sehen – Sinne (ÜG 47) und von Sehen – Hören (ÜG 48). Kandinsky nennt das Bildsehen »erleben«. Es ist zu ergänzen, dass das »neue Sehen« Kandinskys nicht nur einen Modus des Erkennens vertritt, sondern alle Sinne umfasst und anspricht. Das neue Sehen ist ein Erfahren und Erleben mit allen Sinnen. 394 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

»Über das Geistige in der Kunst« (ÜG)

Sehen verbindet sich mit dem Geschmack: Schmecken ist eine »psychische Erschütterung, die eine andere, ihr entsprechende Assoziation hervorruft. Z. B. die rote Farbe kann eine der Flamme ähnliche seelische Vibration verursachen, da das Rot die Farbe der Flamme ist. Das warme Rot wirkt aufregend, dieses Rot kann bis zu einer schmerzlichen Peinlichkeit steigen« (ÜG 46 f.). Sehen geht zusammen mit dem Hören: »Das Hören der Farben ist so präzis, daß man vielleicht keinen Menschen findet, welcher den Eindruck von Grellgelb auf den Baßtasten des Klaviers wiederzugeben suchen oder Krapplack dunkel als eine Sopranstimme bezeichnen würde« (ÜG 48). Überhaupt geht Sehen mit den Sinnen zusammen: »In einer Art Echo kommen andere Gebiete des Seelischen zum Mitklingen. Stark fühlende Menschen sind wie gut gespielte Geigen, welche bei jeder Berührung mit dem Bogen in allen Teilen und Fasern vibrieren. Bei der Annahme dieser Erklärung muß freilich das Sehen nicht nur mit dem Geschmack, sondern auch mit allen anderen Sinnen in Zusammenhang stehen. Dieses ist auch der Fall. Manche Farben können unglatt, stechend aussehen, wogegen andere wieder als etwas Glattes, Samtartiges empfunden werden, so daß man sie gern streicheln möchte. (Ultramarinblau dunkel, Chromoxydgrün, Krapplack.) Selbst der Unterschied zwischen kalt und warm des Farbentones beruht auf dieser Empfindung. Es gibt ebenso Farben, die weich erscheinen (Krapplack) oder andere, die stets als harte vorkommen (Kobaltgrün, grünblau Oxyd), so daß die frisch aus der Tube ausgepreßte Farbe für trocken gehalten werden kann« (ÜG 47–48).

8.3.3 Farbe – Musik Die besonders enge Verbindung zwischen Farbe und Musik ist für Kandinsky bezeichnend. Dies kommt schon bei seinem oft wiederholten Motiv zum Ausdruck: »Die Farbe ist ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste die Seele in Vibration bringt« (ÜG 48). Kandinsky greift zur Beschreibung der Kunst immer wieder auf die Musik zurück, auf Klänge und Töne, auf Instrumente und musikalische Gebilde (s. Impression III (Konzert), 1911).

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Kandinsky

Malerei und Musik zeigen eine unübersehbare Nähe: »Das ist sehr einfach im ersten Moment. Die Musik drückt sich durch den Ton aus, die Malerei durch die Farbe, und so weiter. Allgemein bekannte Dinge. Aber die Unterschiede endigen nicht hier. Die Musik, zum Beispiel, braucht für ihre Mittel (die Klänge) die Zeit und die Malerei braucht für die ihrigen (die Farben) die Fläche. Zeit und Fläche müssen genau ›bemessen‹ sein und Klang und Farbe müssen genau ›begrenzt‹ sein – diese ›Begrenzungen‹ sind die Grundlage des ›Gleichgewichtes‹ und also der Komposition« (E 207). Für Kandinsky hat alles, was er sieht und malt, einen inneren Klang, hat seine eigene Musik. »Das Wort ist ein innerer Klang« (ÜG 28). Wird der innere Klang »reiner Klang«, kommt die Seele zum Vibrieren. »Der reine Klang tritt in den Vordergrund. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration, die komplizierter, übersinnlicher ist« (ÜG 29).

»Henri Rousseau, der als Vater dieser Realistik zu bezeichnen ist, hat diesen Weg geöffnet. ›Die Welt klingt‹« (ÜF 37) (ÜG 29). Die Malerei setzt den Klang der Welt um: »die ›Sphärenmusik‹ als ein reines malerisches Mittel gebraucht – also in seinem reinen inneren Klang« (E 183). Nicht nur die Dinge der Welt haben einen musikalischen Klang: »Jede Form hat einen Inhalt (inneren Klang). Es gibt keine Form, wie überhaupt nichts in der Welt, was nichts sagt« (ÜG 54). Vor allem haben bei Kandinsky die »Farben« einen besonderen musikalische Klang: So klingt Grellgelb – wie hohe Trompetentöne (ÜG 45), Helles Blau – wie Flöte, Dunkles Blau – wie Cello, tiefer gehendes Blau – wie der Kontrabass, tiefes, feierliches Blau – wie der Klang einer tiefen Orgel (ÜG 78) Bei Kandinsky sind die Synästhesien von Sehen und Hören bezeichnend. Wieder nur ein paar Beispiele: »Helles warmes Rot wirkt entschlossen, laut triumphierend wie Fanfaren; Zinnober ist wie gleichmäßig glühende Leidenschaft, Tubaton und starke Trommelschläge, durch Blau wird es gelöscht wie heißes Eisen durch Wasser, es entsteht Schmutzton, der aber auch seinen besonderen Ton hat. Aus Zinnober mit Schwarz entsteht Braun, in dem das Rot noch wie kaum hörbares gewaltsames Brodeln wirkt. Krapplackrot läßt sich sehr vertiefen, wodurch seine Glut wächst, wie auf der Lauer liegend zu einem wilden Sprung, es klingt wie leidenschaftliche mittlere und tiefe Cellotöne. Aufgehellt wird es jugendlich, freudig, klingt wie klare singende Töne der Geige oder kleine

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»Über das Geistige in der Kunst« (ÜG)

Glöckchen. Das Orange, mit der Ausstrahlung des Gelb und der gesammelten Kraft des Rot, wirkt wie Gesundheit und Sonnenkraft, wie starke Altstimme oder Largo singende Geige. Im Violett ist kaltes Rot durch Blau vom Menschen zurückgezogen, es wirkt erloschen, klingt wie Englischhorn, Schalmei, Holzinstrumente. All diese Bezeichnungen sind nur Hinweise für Schwingungen, die mit Worten nicht zu beschreiben sind« (ÜG 83 ff.).

Auf der anderen Seite rufen musikalische Töne und Klänge die Assoziationen von bestimmten Farben hervor. Dazu wieder einige Beispiele: »Sie ›hören‹ die Farbe und Sie ›sehen‹ den Ton. Es werden bald 30 Jahre sein, daß ich ein kleines Buch veröffentlicht habe, welches diese Frage ebenfalls behandelt (Über das Geistige in der Kunst, München 1912). Das Gelb zum Beispiel hat die spezielle Fähigkeit zu ›Steigen‹, immer höher, bis es für Ohr und Geist unerträgliche Höhen erreicht: der Ton einer Trompete, immer höher gespielt, immer ›zugespitzter‹ tut Ohr und Geist weh. Das Blau hingegen, mit seiner entgegengesetzten Kraft des ›Niedersteigens‹ in unendliche Tiefen assoziiert den Ton der Flöte (wenn das Blau hell ist), denjenigen des Cello (wenn es dunkler wird, ›herabsteigt‹) schließlich jenen großartigen tiefen Ton des Kontra-Basses und endlich: ›sehen‹ Sie in den tiefsten Orgeltönen die Tiefen des Blau. Das gut ausgewogene Grün entspricht den mittleren und breiten Tönen der Geige. Richtig aufgesetzt, kann Rot (Zinnober) den Eindruck starker Trommelschläge vermitteln, und so weiter. Die Vibrationen der Luft (der Ton) und des Lichts (die Farbe) bilden sicher die Grundlage dieser physischen Verwandtschaft« (E 208–209).

Die vielfältigen Synästhesien von Farben und Musik legen es nahe, dass Kandinsky die Malerei insgesamt in die Nähe der Musik rückt: »Die konkrete Malerei stellt eine Art Parallele dar zur sinfonischen Musik, indem sie einen rein künstlerischen ›Inhalt‹ liefert. Für diesen Inhalt sind allein die rein malerischen Mittel verantwortlich. Aus dieser ausschließlichen Verantwortung resultiert die Notwendigkeit einer vollkommenen Exaktheit der Komposition und ihres Gleichgewichts (Valeurs, Gewichte der ›Formen‹ und ›Flecken‹ und so weiter) sowie der ›entschleierten‹ Teile der Komposition bis zum letzten Punkt. Es resultiert daraus auch die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Phantasie für den der gewohnten ›Vorwände‹ beraubten Maler, um sich frei zu entwickeln und ständig neue ›Entdeckungen‹ zu liefern« (E 225).

Doch letztlich haben die Töne der Musik einen »absoluten Klang« (PLF 74). Gewissen Tendenzen einer »Musikalisierung der Malerei« gegenüber, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgezeichnet hatten, blieb Klee ablehnend oder skeptisch. Gerade weil er Musiker war, 397 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

verwendete er Begriffe wie Rhythmus, Polyphonie, Harmonie, Klang, Dynamik, Variation, Kontrapunkt, Fuge nie vage, sondern er wusste, wovon er sprach. Dies ist zum Beispiel in seinen Unterlagen zu den Bauhaus-Kursen deutlich ersichtlich. Wassily Kandinsky spricht von »innerer Notwendigkeit«, also von etwas, das echt ist und so und nicht anders sein kann. Die Familie Klee war mit dem Ehepaar Kandinsky seit der Bauhauszeit befreundet und die beiden Künstler achteten sich gegenseitig sehr. So kann Klee in einem Text zu Kandinsky sagen: »Mir steht Kandinsky nahe, und ich habe seine Schriften über Kunst mit großem Interesse gelesen. Die folgende Aussage deckt sich auch mit meinen eigenen Ideen: ›Musik und Malerei – zwei verschiedene Künste, und doch haben sie eine gemeinsame Wurzel‹, eine Wurzel, von der Kandinsky sagt, sie beinhalte einen ›ursprünglichen‹ Klang« (ÜG 30 ff., 51).

Kandinskys »Wurzel« könnte auch Klees »letztes Geheimnis« bedeuten, das er wie folgt beschreibt: »Die Freimachung der Elemente, ihre Gruppierung zu zusammengesetzten Unterabteilungen, die Zergliederung und der Wiederaufbau zum Ganzen auf mehreren Seiten zugleich, die bildnerische Polyphonie, die Herstellung der Ruhe durch Bewegungsausgleich, all dies sind hohe Formfragen, ausschlaggebend für die formale Weisheit, aber noch nicht Kunst. Im obersten Kreis steht hinter der Vieldeutigkeit ein letztes Geheimnis, und das Licht des Intellekts erlischt kläglich« (SK 79).

Im Blauen Reiter hat Kandinsky die Einbeziehung der Musik in das Werk zur neuen Kunst besonders angeregt und einige Beiträge dazu in das Buch aufgenommen. Kandinsky hat sich selbst in Theater- und Musikinszenierungen eingebracht. Eine der bekanntesten Inszenierungen und Bühnenbildgestaltungen fand in Dessau 1928 statt und galt Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung«. Bei diesem Stück ist die Ausstattung des Stücks und das Programm von besonderem Interesse. Die Hauptmittel der Ausstattung waren nach Kandinsky: 1. Die Formen selbst, 2. die Farbe auf den Formen, wozu 3. die Beleuchtungsfarbe als vertiefte Malerei sich gesellte, 4. das selbständige Spiel des farbigen Lichts und 5. der mit der Musik verbundene Aufbau jedes Bildes und nötigenfalls der Abbau desselben. Ein Beispiel dazu aus Bild 4: »Das alte Schloß«. Die Bühne ist offen, aber ganz dunkel (der in der Tiefe angebrachte schwarze Plüschvorhang bildet eine »unmaterielle« Tiefe). Bei dem ersten Espressivo werden nur drei lange vertikale Streifen in der Tiefe sichtbar. 398 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

»Über das Geistige in der Kunst« (ÜG)

Sie »verschwinden. Bei weiterem Espressivo kommt von rechts der große rote Prospekt hinein (doppelte Farbe). Danach ebenso von links der grüne Prospekt. Mussorgskys Musik sei, stellt Kandinsky fest, keine Programmmusik; sie spiegle nicht die gemalten Bilder wider, sondern die Erlebnisse Mussorgskys, die weit über den »Inhalt« des Gemalten stiegen und eine rein musikalische Form fanden. So sei die Verwendung von Formen legitim, die ihm beim Hören der Musik vorschwebten. Die Weise der Zuordnung entsprach mithin, auch wenn ein historischer Bezugswert vorgegeben war, den bereits in früheren Schriften aufgestellten Maximen. 204

8.3.4 Farbe und Form Die elementaren Formen sind nicht nur geometrisch, sondern je nach Verwendung und Komposition verändern sie sich und entwickeln ein eigenes Leben. (ÜG 53–54) Auch die Form, wenn sie auch ganz abstrakt ist und einer geometrischen gleicht, hat ihren inneren Klang, ist ein geistiges Wesen mit Eigenschaften, die mit dieser Form identisch sind. Jede Form verändert sich so wie ein »Wölkchen« in verschiedenem Licht. Unter den Bedingungen der Bildkomposition klingt die gleiche Form immer wieder anders. Das unmerklichste Verrücken ihrer Teile verändert sie wesentlich. Ein Dreieck ist ein derartiges Wesen mit dem ihm allein eigenen geistigen Duft. In Verbindung mit anderen Formen differenziert sich dieser Duft, bekommt Nuancen, bleibt aber im Grunde von gleicher Art, wie der Duft der Rose, der niemals mit dem des Veilchens verwechselt werden kann. Ebenso Kreis, Quadrat und alle anderen möglichen Formen. Bewegungen bzw. Veränderungen lassen sich auch im Verhältnis von Farben und Form feststellen. Es lässt sich bemerken, dass manche Farbe durch manche Form in ihrem Wert unterstrichen wird und durch andere abgestumpft. Jedenfalls spitze Farben klingen in ihren Eigenschaften stärker in spitzer Form (z. B. Gelb im Dreieck). Die zur Vertiefung geneigten Farben werden in dieser Wirkung durch runde Formen erhöht (z. B. Blau im Kreis). Natürlich ist klar, daß andere Farben in der gleichen Form nicht als etwas »Unharmonisches« angesehen werden müssen, sondern als eine neue Möglichkeit. Da die Zahl der Farben und Formen unendlich ist, so sind auch die Kombina204

S. Riedl, Peter Anselm (1983), Wassily Kandinsky, Hamburg, 101 f.

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Kandinsky

tionen unendlich und ebenso die Wirkungen. Dieses Material ist unerschöpflich (ÜG 54). »Und die Farbe, die selbst ein Material zu einem Kontrapunkt bietet, die selbst unendliche Möglichkeiten in sich birgt, wird in Vereinigung mit der Zeichnung zum großen malerischen Kontrapunkt führen, auf welchem auch die Malerei zur Komposition gelangen wird und sich als wirklich reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt, und immer derselbe unfehlbare Führer bringt sie auf diese schwindelnde Höhe: das Prinzip der inneren Notwendigkeit!« (ÜG 65) »Hier kommt die Gegenwirkung der Form und Farbe zutage. Ein Dreieck mit Gelb ausgefüllt, ein Kreis mit Blau, ein Quadrat mit Grün, wieder ein Dreieck mit Grün, ein Kreis mit Gelb, ein Quadrat mit Blau usw. Dies sind alle ganz verschiedene und ganz verschieden wirkende Wesen. Dabei lässt sich leicht bemerken, daß manche Farbe durch manche Form in ihrem Wert unterstrichen wird und durch andere abgestumpft« (ÜG 53 f.).

Das »ästhetische Bildsehen« baut auf diesem Zusammenwirken von Form und Farbe. Kandinsky: »Die Schönheit der Farbe und der Form ist (trotz der Behauptung der reinen Ästheten und der Naturalisten, die hauptsächlich auf ›Schönheit‹ zielen) kein genügendes Ziel der Kunst«, und er sieht die Gefahr heraufziehen, daß die Beschränkung auf eine Kombination von reiner Farbe und unabhängiger Form in einer geometrischen Ornamentik endet, die den Mustern von Krawatten und Tapeten gleichen würde. Es öffnen sich »Fallen des Dekorativen«, wenn eine formale »Arabeskenästhetik« zurückkehrt (Sinne 49). Farbschemata In Über das Geistige in der Kunst (ÜG) stellt Kandinsky schließlich Farbschemata zusammen und untersucht sie auf die »Bewegungsweisen«, die mit den unterschiedlichen Farbtypen verbunden sind, so: Farbtabellen (ÜG 72 ff.), Farbtypen (ÜG 77 ff.), Farben des Farbkreises (ÜG 87). Ähnliche weitere Farbschemata, aber dort für den Zusammenhang von »Farben« und »Formen«, finden sich in Punkt und Linie zu Fläche (PLF): Farben und elementare bildnerische Formen und Flächen, Farben Formen: Linien (Horizontale, Vertikale, Diagonale) (PLF 80), Farben Flächen (Drei, Quadrat, Kreis) (PLF 80).

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Über die Formlehre (ÜF)

8.4 Über die Formlehre (ÜF) Am Ende von Über das Geistige in der Kunst (ÜG) blickt Kandinsky auf den wesentlichen Inhalt der Schrift zurück, unterstreicht noch einmal, dass das Augenmerk vor allem auf das Thema der »Farbe« gefallen war. Er bemerkte zugleich, dass er die Schrift mit dem Hinweis auf die beiden wesentlichen Momente des bildnerischen Gestaltens begonnen hatte, nämlich 1. Farbe und 2. Form. Die Frage nach der Form war kurz behandelt worden, bedarf aber einer besonderen eigenen Betrachtung. Dies kündigt nun der Künstler, am Ende von ÜG, für eine nächste Schrift an. Es ist der Beitrag Über die Formlehre im Blauen Reiter. Das Ende von ÜG weist so auf den Anfang von ÜF hin. Zugleich weitet Kandinsky den Ort der Schrift zu einer umfassenden Aussage über den zeitlichen Stand der Kunst seiner Zeit aus: »Der Weg liegt zwischen zwei Gebieten (die heute zwei Gefahren sind): rechts liegt das vollständig abstrakte, ganz emanzipierte Anwenden der Farbe in ›geometrischer‹ Form (Ornamentik), links das mehr reale, zu stark von äußeren Formen gelähmte Gebrauchen der Farbe in ›körperlicher‹ Form (Phantastik). Und zur selben Zeit schon (und, womöglich nur heute) ist die Möglichkeit vorhanden, bis zur rechts liegenden Grenze zu schreiten und […] sie zu überschreiten, und ebenso bis zur linksliegenden und darüber hinaus. Hinter diesen Grenzen (hier verlasse ich meinen Weg des Schematisierens) liegt rechts: die ›reine Abstraktion‹ (d. h. größere Abstraktion als die der geometrischen Form) und links ›reine Realistik‹ (d. h. höhere Phantastik – Phantastik in härtester Materie). Und zwischen denselben – grenzenlose Freiheit, Tiefe, Breite, Reichtum der Möglichkeiten und hinter ihnen liegende Gebiete der reinen: Abstraktion und Realistik – alles ist heute, durch den heutigen Moment, dem Künstler zu Diensten gestellt. Heute ist der Tag einer Freiheit, die nur zur Zeit einer keimenden großen Epoche denkbar ist […]. Von dem Werk Henri Rousseaus ausgehend, beweise ich hier, daß die kommende Realistik in unserer Periode nicht nur gleichwertig mit der Abstraktion ist, sondern ihr identisch ist (ÜG 110–111 Anm. 1)«.

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Kandinsky

8.4.1 Große Abstraktion Das große Thema Kandinskys der »Großen Realistik« und der »Großen Abstraktion« hatte seinen Grund in der Reaktion auf die wunderbare Kunsterfahrung (Rb 21). 205 Es stellte sich die Frage, »Was soll den Gegenstand ersetzen? [… ein] Trost: nie konnte ich es über mich bringen, eine Form zu gebrauchen, die auf logischem Wege – nicht rein gefühlsmäßig in mir entstand. […] Alle Formen kamen ›von selbst‹ […]. [Ich] sah ein von einem inneren Glühen durchtränktes Bild. Ich stutzte erst, dann ging ich schnell auf dieses rätselhafte Bild zu, auf dem ich nichts als Formen und Farben sah und das inhaltlich unverständlich war. […] Ich wußte jetzt genau, daß der Gegenstand meinen Bildern schadet. [… Über die] Fähigkeit, die malerischen Formen rein, abstrakt zu erleben, immer tiefer in diese unermeßlichen Tiefen sich zu vertiefen, kam ich zu den malerischen Formen, mit denen ich heute arbeite« (Rb 21).

Kandinskys Thema der »Großen Realistik« und »Großen Abstraktion« bedarf zweier Erläuterungen: Einmal des Unterschiedes von »abstrakt« und »gegenständlich«, zum anderen des Verständnisses dafür, dass Kandinsky von »konkreter Kunst« spricht, wo man von »abstrakter Kunst« sprechen würde. Bild-Dinge: gegenständlich – abstrakt »Ich habe nicht ein einziges Wort über den ›Gegenstand‹ gesagt? Die Erklärung ist sehr einfach: ich habe von den wesentlichen malerischen Mitteln gesprochen, das heißt von den unumgänglichen. [… Das ist] ›abstrakt‹ oder ›ungegenständlich‹ bezeichnete Malerei, die ich vorziehe ›konkret‹ zu nennen« (E 210).

Was ist abstrakt? Kandinsky spricht von den »wesentlichen malerischen Mitteln«, die er »konkret« nennt, während sie gemeinhin »abstrakt« oder »ungegenständlich« genannt werden. Mit den wesentlich malerischen Mitteln sind Farben und Formen gemeint. Sie sind für Kandinsky zunächst abstrakte künstlerische Mittel. (PLF 19) Wie kann Kandinsky formulieren, sie seien die Mittel der »konkreten Kunst«? Zuerst ist das Verständnis des Gegenständlichen und des Abstrakten bei Kandinsky zu klären. 205

S. (Abstrakt 24 ff.), (Eikon 130–131), (Eikon 181–182).

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Über die Formlehre (ÜF)

Bei dem wunderbaren Bildereignis der Nacht fährt Kandinsky fort: »Unbewußt war aber auch der Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes diskreditiert« (Rb 15). »Da stehen wir vor der Frage: müssen wir denn nicht auf das Gegenständliche überhaupt verzichten, es aus unserer Vorratskammer in alle Winde zerstreuen und das rein Abstrakte ganz bloßlegen?« (ÜG 61). Diese Erfahrung wurde für Kandinsky allgemein: »alles zeigte mir sein Gesicht, sein innerstes Wesen, die geheime Seele, die öfter schweigt als spricht. So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte Punkt (Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir seine Seele. Das war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu ›begreifen‹, die heute im Gegensatz zur ›Gegenständlichen‹ die ›Abstrakte‹ genannt wird« (Rb 13).

Um zu verstehen, warum für Kandinsky das Abstrakte das Konkrete ist, ist sein Begriff des »Dinges«, mit dem er das Bild-»Ding« meint, zu erklären. Bei der wundersamen Erfahrung, verschwand zwar der Gegenstand aus dem Bild, aber es blieb, was Kandinsky von nun an »Bild-Ding« nannte: »Ist denn dadurch der Gegenstand, das Ding aus dem Bilde vertrieben? Nein. Die Linie ist, wie wir oben gesehen haben, ein Ding, welches ebenso einen praktisch-zweckmäßigen Sinn hat, wie ein Stuhl, ein Brunnen, ein Messer, ein Buch und so weiter. Und dieses Ding wird in dem letzten Beispiel als ein reines malerisches Mittel gebraucht ohne die anderen Seiten, die es sonst besitzen kann, also in seinem reinen inneren Klang. Wenn also im Bild eine Linie von dem Ziel, ein Ding zu bezeichnen, befreit wird und selbst als ein Ding fungiert, wird ihr innerer Klang durch keine Nebenrollen abgeschwächt und bekommt ihre volle innere Kraft. Van Gogh hat mit besonderer Kraft die Linie als solche gebraucht, ohne damit das Gegenständliche irgendwie markieren zu wollen«. (E 32) (ÜF 32)

Kandinsky geht es um den »inneren Klang« der »Dinge«, von Farben und Formen. Wie die Farben gleich der Musik einen »inneren Klang« haben, so die wesentlichen künstlerischen Formen ebenso. Die Farben haben Eigenqualität. Die Matrix der Farbe ist keine mathematische (Abstrakt 17), sondern eine malerische (E 137). Kandinsky bezeichnet alle malerischen Elemente als »Dinge« bzw. »Bild-Dinge«, wenn sie nicht als Gegenstände betrachtet werden, sondern in der Kunst »als Dinge fungieren« (Abstrakt 22). 403 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

Kandinsky nennt alles, was in seinem Sinn Dinge sind, »Wesen«: »Ein Dreieck mit Gelb ausgefüllt, ein Kreis mit Blau, ein Quadrat mit Grün, wieder ein Dreieck mit Grün, ein Kreis mit Gelb, ein Quadrat mit Blau usw. Dies sind alle ganz verschiedene und ganz verschieden wirkende Wesen« (ÜG 53). Für Kandinsky hat jedes Ding, das er Wesen nennt, diesen inneren Klang: »Der Künstler, der sein ganzes Leben in vielem dem Kinde gleicht, kann oft leichter als ein anderer zu dem inneren Klang der Dinge gelangen« (E 40). »Jeder beliebige Gegenstand (und sei es auch nur ein Zigarrenstummel) hat einen inneren Klang, der von seiner äußeren Bedeutung unabhängig ist. Dieser innere Klang gewinnt an Stärke, wenn die ihn unterdrückende äußere Bedeutung, des Gegenstandes im praktischen Leben, entfernt wird. Dem Kind ist das Praktisch-Zweckmäßige eines Gegenstandes noch fremd, da es jedes Ding mit ungewohnten Augen anschaut und noch die ungetrübte Fähigkeit besitzt, das Ding als solches aufzunehmen« (ÜF 37). »Dieses Erleben der ›geheimen Seele‹ der sämtlichen Dinge, die wir mit unbewaffnetem Auge, im Mikroskop, oder durch das Fernrohr sehen, nenne ich den ›inneren Blick‹. Dieser Blick geht durch die harte Hülle, durch die äußre ›Form‹ zum Inneren der Dinge hindurch und läßt uns das innere ›Pulsieren‹ der Dinge mit unsren sämtlichen Sinnen aufnehmen. […] Die Linie ist ein Ding, welches ebenso einen praktisch -zweckmäßigen Sinn hat, wie ein Stuhl, ein Brunnen, ein Messer, ein Buch und so weiter. Und dieses Ding wird beim Künstler zum Keim seiner Werke. Unbewußt. So erzittert die ›tote‹ Materie. Und noch mehr: die inneren ›Stimmen‹ der einzelnen Dinge klingen nicht isoliert, sondern alle zusammen – die ›Sphärenmusik‹ als ein reines malerisches Mittel gebraucht – also in seinem reinen inneren Klang. Wenn also im Bild eine Linie von dem Ziel, ein Ding zu bezeichnen, befreit wird und selbst als ein Ding fungiert, wird ihr innerer Klang durch keine Nebenrolle abgeschwächt und bekommt ihre volle innere Kraft« (E 183).

Ein Bild wird nicht von dem dargestellten Gegenstand bestimmt, wohl wird der Gegenstand zum sichtbaren Ausdruck des Bildes gehören. »Der, zu dem die Form ›spricht‹, wird nicht unbedingt nach ›Gegenständen‹ suchen. Ich will gern anerkennen, daß der ›Gegenstand‹ für manchen Künstler eine Ausdrucksnotwendigkeit ist, wobei aber der Gegenstand nur eine Zugabe der Malerei bleibt. Der Folgenschluß ist also der, daß man den Gegenstand nicht für etwas Unumgängliches in der Malerei zu halten braucht. Er kann ebenso leicht störend wirken, wie es zum Beispiel für mich in meiner Malerei der Fall ist« (E 198).

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Über die Formlehre (ÜF)

Abstrakt oder gegenstandslos Es ist auf den Unterschied zwischen Ungegenständlichkeit und Abstraktion hinzuweisen. Die Abstraktion ist eine Weise der Darstellung bzw. Formgebung, die sich in erster Linie durch Vereinfachung auszeichnet. Sie hat nichts mit Gegenständlichkeit oder Ungegenständlichkeit zu tun, denn auch ein Gegenstand kann auf abstrakte Weise und sogar in unterschiedlichen Graden an Abstraktion dargestellt werden. Das tut beispielsweise Georges Braques (s. Femme à la guitare), wenn er vom Gegenstand ausgeht und dessen Form zerlegt und mithilfe einfacher, geometrischer Formen wiedergibt. Ungegenständlichkeit dagegen geht nicht von einem Gegenstand aus, beschränkt sich stattdessen auf Formen, Linien oder Farben. Robert Delaunays Kreisformen und Simultanscheiben zählen ebenso dazu, wie Werke etwa unter dem Namen des ›Abstrakten Expressionismus‹. Diese Bezeichnung ist strenggenommen unrichtig, denn diese Form des Expressionismus ist nicht (nur) abstrakt, sondern (vor allem) ungegenständlich; richtiger wäre also der Name ›Ungegenständlicher Expressionismus‹« (Ikonik 316). Nach Kandinsky wird den »naturalistischen« Werken ein Teil der bereits existierenden Welt entliehen (Mensch, Tier, Blume, Guitarre, Pfeife) und unter das Joch des künstlerischen Ausdrucks gebracht. Dabei handelt es sich um die zeichnerische und malerische »Verarbeitung« des »Gegenstandes«. Die abstrakte Kunst verzichtet auf Gegenstände und ihre Verarbeitung. Sie schafft sich die Ausdrucksformen selbst. »Wie dies geschieht, ist eine komplizierte Frage. Ich könnte nur eins sagen: meiner Überzeugung nach soll dieser schöpferische Weg ein synthetischer sein. Das heißt, Gefühl (›Intuition‹) und Kopf (›Berechnung‹) arbeiten unter gegenseitiger ›Kontrolle‹« (E 214). »So stellt die abstrakte Kunst neben die ›reale‹ Welt eine neue, die äußerlich nichts mit der ›Realität‹ zu tun hat. Zum Ausdruck wird bei jedem neuen echten Werk eine neue, noch nie dagewesene Welt gebracht. Also ist jedes echte Werk eine Neuentdeckung – neben die bereits bekannten Welten wird eine neue, bis dahin unbekannte Welt gestellt. Darum sagt jedes echte Werk »Da bin ich!« Innerlich unterliegt es allerdings den allgemeinen Gesetzen der ›kosmischen Welt‹. So wird neben die ›Naturwelt‹ eine neue ›Kunstwelt‹ gestellt – eine ebenso reale Welt, eine konkrete. Deshalb ziehe ich persönlich vor, die sogenannte ›abstrakte‹ Kunst konkrete Kunst zu nennen« (E 213, 215).

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Kandinsky

›Konkrete‹ Kunst 206 Das abstrakte Bild Kandinskys übersteigt die Unterscheidung zwischen Ungegenständlichkeit und Gegenständlichkeit, da es vor dieser liegt. Es veranschaulicht im Zeigen von Etwas zugleich immer auch die Bedingungen mit, unter denen das Zeigen erfolgt. Zeichen und Bezeichnetes sind unterscheidbar, schließen sich aber nicht a priori aus. Auch bei den figurativen Werken Kandinskys handelt es sich bereits um keine wirklichen Darstellungen mehr. Sie geben nicht wieder, was scheinbar ist, sondern wie etwas sich zeigt, sich darstellt. Während bei Kandinsky bis 1907 die Motivebene noch primär gewesen war, wurde 1910 die Bildebene vorrangig. Das Figurative schloss sich zu keiner Darstellung mehr zusammen, und 1913 verzichtete der Maler ganz darauf. (Abstrakt 18) Erstmals erklärt hier Kandinsky, weshalb er nun seine Kunst »konkret« nennt, nachdem van Doesburg und in dessen Gefolge Arp und Bill, den Begriff »konkrete Kunst« (1930/1936) eingeführt und theoretisch unterbaut hatten. Es ist bekannt, dass van Doesburg 1921/22 längere Zeit in Weimar weilte und auch auf das Bauhhaus einen großen Einfluss auszuüben begann. (E 207) (GS3 201 f. 239 ff.) Nach van Doesbeurg »ist nichts konkreter und realer als eine Linie, eine Farbe eine Fläche« dagegen ist z. B. ein Baum in der Wirklichkeit der Malerei »bei weitem abstrakter, illusionistischer, spekulativer als eine Fläche oder als eine Linie«. Nach der Unterscheidung von Doesburg ist die konkrete Malerei die gegenstandslose und die abstrakte Malerei die gegenständliche. Der »innere Blick« und die »geheime Seele« machen das künstlerische Sehen aus. Wie kommt es dabei zur »konkreten Kunst«? Es ist das Werk des »schaffenden Geistes«, schreibt Kandinsky (ÜF 15). Oben haben wir den Gehalt der »Großen Abstraktion« mit dem Prozess der »eidetischen Reduktion« identifiziert. Die »Große Abstraktion« arbeitet das Wesen der Dinge heraus; ihr Ziel ist das »Wesentliche« oder »Geistige« oder das »Wesen« der Dinge. Farbe und Form Um den Sinn der großen These Kandinskys zu verstehen, ist nicht nur auf das Objekt, den Gegenstand, einzugehen, sondern auch auf die bildnerischen Mittel von »Form« und »Farbe«. Denn die bildneri206

S. Konkrete Kunst (E 207–211); (Abstrakt 27).

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Über die Formlehre (ÜF)

schen Mittel regeln das Verhältnis zum Gegenstand des Bildes und zum Bild-Ding. Die »Form« dient der Darstellung des (realen) Gegenstandes, sie gibt die Grenzen des Gegenstandes wieder. Sie gibt das »Außen« wieder, kann aber auch das »Innen« gestalten. Die »Farbe« tut es nicht. Die Farbe ist auf das »Innen« beschränkt. Will sie zum Ausdruck kommen, ist sie auf die Form angewiesen, der ihr nach Außen zum Ausdruck verhilft. Die phänomenologische Unterscheidung von »Innen« (Aktmodus) und »Außen« (Gegenstandsmodus) ist im Begriff der »Form« verankert. »Die Form im engeren Sinne ist jedenfalls nichts weiter, wie die Abgrenzung einer Fläche von der anderen. Dies ist ihre Bezeichnung im Äußeren. Da aber alles Äußere auch unbedingt Inneres in sich birgt (stärker oder schwächer zum Vorschein kommend), so hat auch jede Form inneren Inhalt. Die Form ist also die Äußerung des inneren Inhaltes. Dies ist ihre Bezeichnung im Inneren« (ÜG 54). Die »Form« ist der Anker, der Innen und Außen zusammenhält. Wenn nach dem »Innen« gefragt wird, dann ist das zunächst die »Farbe«, die subjektiv wahrgenommen wird, während das »Außen« durch die formalen Elemente wie Linie, Flächen dem Ausdruck dient. Form und Farbe sind aber keine völlig unterschiedlichen Entitäten, wie die Kunst zeigt, denn die Farbe gibt auch Formen vor, wie die nicht gegenständliche Kunst zeigt. Welche Bedeutung hat dann die Farbe im Zusammen mit der Form für das Bild: »Die Farbe, die selbst ein Material zu einem Kontrapunkt bietet, die selbst unendliche Möglichkeiten in sich birgt, wird in Vereinigung mit der Zeichnung zum großen malerischen Kontrapunkt führen, auf welchem auch die Malerei zur Komposition gelangen wird und sich als wirklich reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt, und immer derselbe unfehlbare Führer bringt sie auf diese schwindelnde Höhe: das Prinzip der inneren Notwendigkeit« (ÜG 65).

8.4.2 Große Realistik In ÜF 25 ff. formuliert Kandinsky seine zentrale These von der Gleichheit der »Großen Abstraktion« und der »Großen Realistik«. Er sieht dafür die Zeit in der Kunst gekommen: »Die gegenwärtige Kunst verkörpert das zur Offenbarung gereifte Geistige. […] Die Verkörperungsformen lassen sich zwischen zwei Pole ordnen: 1. die gro407 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

ße Abstraktion, 2. die große Realistik. Diese zwei Pole öffnen zwei Wege, die schließlich zu einem Ziel führen. […] Diese beiden Elemente waren in der Kunst immer vorhanden, das erste drückte sich im zweiten aus. Es scheint, daß heute die beiden Elemente ihre Existenz getrennt voneinander zu führen beabsichtigen. Dem angenehmen Ergänzen des Abstrakten durch das Gegenständliche und umgekehrt hat die Kunst scheinbar ein Ende bereitet« (ÜF 25). »Reinkünstlerisches« – »Gegenständliches« Kandinskys These geht von dem Gegensatz des »Gegenständlichen« und »Reinkünstlerischen« aus. Beide Kunstformen können in etwa mit den Unterscheidungen von Imdahl wiedergegeben werden (s. oben). Das »Gegenständliche« entspräche dem »wiedererinnernden Sehen« (Imdahl): ikonographisches, ikonologisches Wissen und Erkennen in Literatur etc. Das »Reinkünstlerische« entspräche dem »sehenden Sehen« (Imdahl): Sehen der Formen und Farben, der abstrakten bzw. »konkreten Kunst«. (s. Abstrakt 27) »Zwischen diesen zwei Polen liegen viele Kombinationen der verschiedenen Zusammenklänge des Abstrakten mit dem Realen. Diese beiden Elemente waren in der Kunst immer vorhanden, wobei sie als das ›Reinkünstlerische‹ und das ›Gegenständliche‹ zu bezeichnen waren. Das erste drückte sich im zweiten aus, wobei das zweite dem ersten diente. Es war ein verschiedenartiges Balancieren, welches scheinbar im absoluten Gleichgewicht den Höhepunkt des Idealen zu erreichen suchte« (ÜF 25).

Kandinsky hatte am Ende von ÜG und am Anfang von ÜF von den 2 Wegen und den 2 Gefahren der Kunst gesprochen: »Der Weg liegt zwischen zwei Gebieten (die heute zwei Gefahren sind): rechts liegt das vollständig abstrakte, ganz emanzipierte Anwenden der Farbe in ›geometrischer‹ Form (Ornamentik), links das mehr reale, zu stark von äußeren Formen gelähmte Gebrauchen der Farbe in ›körperlicher‹ Form (Phantastik)« (ÜG 110–111).

Der erste Weg ist der der Abstraktion mit der Gefahr zur »Ornamentik«, weil die geometrische (ideal abstrakte) Form den Bildinhalt ausmacht. Die Abstraktion muss wieder den Weg zum Ausdruck im realen Gegenständlichem finden, um der Gefahr zu entgehen, und wird so zur »Großen Realistik«. Der zweite Weg geht von der äußeren Form aus, wodurch diese möglicherweise künstlerisch überhöht und zur »Phantastik« wird. Dieser Weg muss wieder zum inneren Bildsinn der Farben finden und wird zur »Großen Abstraktion«. Und 408 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Über die Formlehre (ÜF)

Kandinsky führt dann die Folgen dieser Einstellungen für die Einstellungen der Kunst in der Zeit aus: »Einerseits wird dem Abstrakten die divertierende Stütze im Gegenständlichen genommen und der Beschauer fühlt sich in der Luft schweben. Man sagt: die Kunst verliert den Boden. Andererseits wird dem Gegenständlichen die divertierende Idealisierung im Abstrakten (das ›künstlerische‹ Element) genommen und der Beschauer fühlt sich an den Boden genagelt. Man sagt: die Kunst verliert das Ideal. Diese Vorwürfe wachsen aus dem mangelhaft entwickelten Gefühl. Die Gewohnheit, der Form die Hauptaufmerksamkeit zu schenken und die daraus fließende Art des Beschauers, das heißt das Hängen an der gewohnten Form des Gleichgewichtes, sind die verblendenden Kräfte, die dem freien Gefühl keine freie Bahn lassen« (ÜF 25).

Oben haben wir die »Große Realistik« mit dem Prozess der »phänomenologischen Reduktion« identifiziert. Die phänomenologische Reduktion schränkt alle gewohnten Vormeinungen und Vorentscheidungen ein. Sie versucht »zu den Sachen selbst« vorzudringen. Das entspricht bei Kandinsky der phänomenologischen Epochè des »Praktisch-Zweckmäßigen«.

8.4.3 Große Abstraktion und Große Realistik sind identisch In ÜF 26 ff. führt Kandinsky seine These aus. Zuerst der Weg zur »Großen Realistik«: »Die erwähnte, erst keimende große Realistik ist ein Streben, aus dem Bild das äußerliche Künstlerische zu vertreiben und den Inhalt des Werkes durch einfache (unkünstlerische) Wiedergabe des einfachen harten Gegenstandes zu verkörpern. […] Gerade durch dieses Reduzieren des ›Künstlerischen‹ auf das Minimum klingt die Seele des Gegenstandes am stärksten, da die äußere wohlschmeckende Schönheit nicht mehr ablenken kann. – Dieses gewohnte Schöne gibt dem faulen körperlichen Auge die gewohnten Genüsse. Die Wirkung des Werkes bleibt im Sinnlichen stecken. So bildet oft dieses Schöne eine Kraft, die nicht zum Geist, sondern vom Geist wegführt. Wir kommen immer weiter auf dem Wege, die ganze Welt, so wie sie ist, also in keiner verschönenden Interpretation hören zu können. Ein solches Sehen erfordert zugleich ein willentliches Absehen vom ›PraktischZweckmässigen‹. Das Sichtbare wird gleichsam ins Leere gestellt, um neu erfahren zu werden. Hinter dem funktionalen Schleier tritt der Gegenstand dabei als Ding hervor: »Das zum Minimum gebrachte ›Künstlerische‹ muß hier als das am stärksten wirkende Abstrakte erkannt werden« (ÜF 26 f.).

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Kandinsky

Ein Bild ist deshalb letztlich immer eine Abstraktion und nie Abbild im vollen Sinn. (Abstrakt 24)

Der zweite Weg führt zur »Großen Abstraktion«: »Ebenso wie in der Realistik durch das Streichen des Abstrakten der innere Klang verstärkt wird, so wird auch in der Abstraktion der innere Klang durch das Streichen des Realen verstärkt. Dort war es die gewohnte äußere wohlschmeckende Schönheit, die den Dämpfer bildete. Hier ist es der gewohnte äußere unterstützende Gegenstand. […] Das zum Minimum gebrachte Gegenständliche muß in der Abstraktion als das am stärksten wirkende Reale erkannt werden. Wenn im Bild eine Linie von dem Ziel, ein Ding zu bezeichnen, befreit wird und selbst als ein Ding fungiert, wird ihr innerer Klang durch keine Nebenrollen abgeschwächt und bekommt seine volle innere Kraft« (ÜF 28).

»So sehen wir schließlich: wenn in der großen Realistik das Reale auffallend groß erscheint und das Abstrakte auffallend klein und in der großen Abstraktion dieses Verhältnis umgekehrt zu sein scheint, so sind im letzten Grunde (= Ziele) diese zwei Pole einander gleich. Zwischen diesen zwei Antipoden kann das Zeichen des Gleichnisses gestellt werden: Realistik = Abstraktion Abstraktion = Realistik Die größte Verschiedenheit im Äußeren wird zur größten Gleichheit im Inneren« (ÜF 29). Die entscheidenden Momente der großen These Kandinskys können so zusammengesehen werden. Es sind die Begriffe von »Form«, »Gegenstand« und »innerem Klang«. Die große These hat für die Kunst Kandinskys deshalb Folgen. Zur »Form« – »Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhaltes. Deshalb sollte man sich aus der Form keine Gottheit machen. Und man sollte nicht länger um die Form kämpfen, als sie zum Ausdrucksmittel des inneren Klanges dienen kann. Deshalb sollte man nicht in einer Form das Heil suchen« (ÜF 17). »Die Gewohnheit, der Form die Hauptaufmerksamkeit zu schenken und die daraus fließende Art des Beschauers, das heißt das Hängen an der gewohnten Form des Gleichgewichtes, sind die verblendenden Kräfte, die dem freien Gefühl keine freie Bahn lassen« (ÜF 25). »[N]icht die Form (Materie) im allgemeinen ist das wichtigste, sondern der Inhalt (Geist)« (ÜF 19).

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Über die Formlehre (ÜF)

Zum »Gegenstand« – das »Gegenständliche« ist das »PraktischZweckmäßige«, worin der innere Klang des Bild-Dings gesucht wird: »Ist denn dadurch der Gegenstand, das Ding aus dem Bilde vertrieben? Nein. Die Linie ist, wie wir oben gesehen haben, ein Ding, welches ebenso einen praktisch-zweckmäßigen Sinn hat, wie ein Stuhl, ein Brunnen, ein Messer, ein Buch und so weiter. Und dieses Ding wird in dem letzten Beispiel als ein reines malerisches Mittel gebraucht ohne die anderen Seiten, die es sonst besitzen kann – also in seinem reinen inneren Klang« (ÜF 31). So kann kurz und klar gesagt werden: »Stuhl lebt, Linie lebt […] das ist doch schliesslich, im letzten Grunde gleichbedeutend« (Abstrakt 22). »Die Bild-Dinge sind figurativ unterbestimmt, haben keine wirkliche Bedeutung, doch erinnern sie an Erfahrungen von Räumlichem und Körperlichem, an Bewegungen, Gewichte, Farben etc« (Abstrakt 25).

Zum »inneren Klang« – »Und hier sind diese abstrahierten oder abstrakten Formen (Linien, Flächen, Flecken und so weiter) nicht selbst als solche wichtig, sondern nur ihr innerer Klang, ihr Leben. So wie in der Realistik nicht der Gegenstand selbst, oder seine äußere Hülse, sondern sein innerer Klang, Leben wichtig sind« (ÜF 27). »Man muß sich so zu einem Werk stellen, daß auf die Seele die Form wirkt. Und durch die Form der Inhalt (Geist, innerer Klang). Sonst erhebt man das Relative zum Absoluten« (ÜF 19). »Wie in der Realistik durch das Streichen des Abstrakten der innere Klang verstärkt wird, so wird auch in der Abstraktion dieser Klang durch das Streichen des Realen verstärkt« (ÜF 26). Der innere Klang ist das »Prinzip der inneren Notwendigkeit« (ÜF 20).

An einigen Beispielen will uns Kandinsky die Dialektik seiner These der Identität von Abstraktion und Realistik nahebringen (ÜF 29): »Wir sehen immer mehr, als eigentlich vorhanden ist, wir sehen uns sehen« (Theater 248). Diese Einsicht dürfte zutreffen, sie entspricht in etwa dem Wort Husserls zum phänomenologischen Sehen: »wer mehr sieht hat recht« (Husserl). (Selbst 70)

Auch die weitere Bemerkungen Kandinskys sind bedenkenswert: »So wie wir gesehen haben, daß in der Kunst Vermehrung leicht zur Verminderung wird, so sehen wir jetzt den entgegengesetzten Fall, das heißt wie eine Verminderung zu einer Vermehrung wird. Das unterdrückte Objekt vermindert nicht die Ausdrucksmittel, sondern es multipliziert sie ins Unendliche« (E 225).

Oder: 411 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

»Die abstrakte Malerei verläßt die ›Haut‹ der Natur, aber nicht ihre Gesetze. Erlauben Sie mir das ›große Wort‹, die kosmischen Gesetze. Die Kunst kann nur dann groß sein, wenn sie in direkter Verbindung mit kosmischen Gesetzen steht und sich ihnen unterordnet. Diese Gesetze fühlt man unbewußt, wenn man sich nicht äußerlich der Natur nähert, sondern – innerlich – man muß die Natur nicht nur sehen, sondern erleben können« (E 203).

Schließlich kann man sehen, dass Kandinsky sein eigenes Schaffen entsprechend seiner These von der »Großen Abstraktion« (dem Äußeren) zur »Großen Realistik« (dem Inneren) als Weg zur »Komposition«, das ist der Einheit von »Großer Abstraktion« und »Großer Realistik«, verstanden hat. Aufgrund dieser Einsicht teilte er sein Werk entsprechend ein: »1. Impressionen – direkter Eindruck von der ›äußeren Natur‹, welcher in einer zeichnerisch-malerischen Form zum Ausdruck kommt. Diese Bilder nenne ich ›Impressionen‹ ; 2. Improvisationen – hauptsächlich unbewußte, meist plötzlich entstandene Ausdrücke des Charakters, also Eindrücke der ›inneren Natur‹. Diese Art nenne ich ›Improvisationen‹ ; 3. Kompositionen – auf ähnliche Art (aber besonders langsam) sich in mir bildende Ausdrücke, welche lange, beinahe pedantisch nach den ersten Entwürfen von mir geprüft und ausgearbeitet werden. Diese Art Bilder nenne ich ›Komposition‹. Hier spielt die Vernunft, das Bewußt-Beabsichtigte und Zweckmäßige die wichtigste Rolle. Nur wird dabei nicht der Berechnung, sondern stets dem Gefühl recht gegeben« (ÜG 124).

8.5 Von Punkt und Linie zu Fläche (PLF) Wichtigster theoretischer Ertrag der Bauhaus-Zeit ist die 1926 als neunter Band der Schriftenreihe »Bauhaus-Bücher« publizierte Abhandlung Punkt und Linie zu Fläche (PLF). Im Vorwort versichert Kandinsky, dass es sich um eine organische Fortsetzung seines Buches Über das Geistige in der Kunst handle und dass wesentliche Vorarbeiten bereits während des Schweiz-Aufenthalts zu Anfang des Ersten Weltkriegs geleistet worden sei. Der Hinweis auf den frühen Zeitpunkt für den Beginn der Systematisierungsbemühungen steht im Einklang mit den zitierten Auskünften über die Umbesinnung in Richtung des Kühl-Ruhigen. Punkt und Linie zu Fläche versteht sich als Wegweiser für eine analytische Methode mit Berücksichtigung der synthetischen Werte. 412 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Von Punkt und Linie zu Fläche

Sucht man das Oeuvre der Weimarer und Dessauer Zeit knapp zu charakterisieren, so hat man zunächst die wichtige Rolle des Geometrischen zu bedenken. Die für die späten Münchener Jahre kennzeichnende Ausdrucksunmittelbarkeit scheint durch eine Rationalität abgelöst, wie sie sich zuvor in den russischen Jahren ankündigte. Der bewegte, drängende Gestus der früheren Zeit tritt hinter ruhigeren Gebärden zurück. Aber so wenig sich in den theoretischen Schriften der Bauhaus-Zeit eine grundsätzliche Umbesinnung Kandinskys erkennen lässt, so wenig sind die Werke als eine prinzipielle Absage an die eigene Vergangenheit zu verstehen. Kandinsky will die »Kunstelemente« der Malerei behandeln, davon aber nur zwei »graphische« »Grundelemente«, nämlich das Urelement »Punkt« (PLF 21–56) und das Grundelement »Linie« (PLF 57–128) und im 3. Teil die »Grundfläche« (PLF 129–168). Kandinsky hatte schon früher über weitere »Grundelemente« veröffentlicht: ein kleiner Beitrag 1923 zu Grundelemente der Form der flächigen Elemente Dreieck, Quadrat und Kreis und drei räumliche Elemente Pyramide, Kubus und Kugel (E 61–62) und 1928 zwei Hauptaufgaben einer wissenschaftlichen Theorie der Malerei Analyse der primären Elemente der Malerei (E 99–109). Wesentliche Bemerkungen zur Komposition eines Bildes findet sich im 3. Teil von PLF (Geo 81 f.). Das Ziel seiner Bemühungen über die Kunstelemente der Malerei war: »Die Gründung einer Grammatik, welche die Regeln der Konstruktion enthält«. Die systematische Analyse habe sich allererst der Grundelemente anzunehmen, und da wieder zunächst dem »Urelement der Malerei« (PLF 31), dem »Punkt«, Beachtung zu schenken. Nur auf diesem Wege einer mikroskopischen Analyse würde die Kunstwissenschaft zur umfassenden Synthese führen. In den Kapiteln Punkt, Linie und Grundfläche entwickelt Kandinsky einen Teilaufriss dessen, was er in Über das Geistige in der Kunst von der Zukunft als »Grammatik«, als »Generalbaß« (ÜG 51) (ÜF 27) im Sinne Goethes, eingefordert hatte. Anfragen an PLF betreffen den Charakter des Bauhausbuches, das 1926 veröffentlicht wurde, also nach Kandinskys längerem Aufenthalt in Russland und seiner vieljährigen Arbeit im Bauhaus: Hat sich die objektiv-konstruktive Werkphase durchgesetzt? Aber Haldeman kann zeigen, dass die »geometrischen Elemente« schon seit 1912 bei Kandinsky anzutreffen waren. (Theater 243)

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Kandinsky

Die graphischen Grundelemente waren für Kandinsky aber mehr als graphische Schemata, sie waren wahrhafte »Bildelemente«: »alles zeigte mir sein Gesicht, sein innerstes Wesen, die geheime Seele, die öfter schweigt als spricht. So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte Punkt (Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir seine Seele. Das war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu ›begreifen‹, die heute im Gegensatz zur ›Gegenständlichen‹ die ›Abstrakte‹ genannt wird« (Rb 13). 207

Ein solches starkes Bekenntnis zu seinem eigenen Kunstverständnis lässt die Frage aufkommen, ob und wie sein Kollege Paul Klee zu diesem Programm steht. Das zu erfragen bietet sich die gute Gelegenheit, die beiden Formlehren von Klee und Kandinsky zu vergleichen, da sie einen weithin gleichen Inhalt vortragen. Methode von PLF In Punkt Linie zu Fläche (PLF) ist für Kandinsky nicht wie bei Klee der Begriff der »Bewegung«, sondern der »Spannung« der Grundbegriff. Der Begriff »Spannung« bezeichnet den Übergang von der »Statik« zur »Dynamik«. Die inneren Momente der Spannung sind: Kraft, Bewegung und Richtung. Der Begriff »Spannung« und seine Momente sind bei Kandinsky die für Gestaltung verantwortliche Faktoren. Kandinsky beschreibt in PLF die Formen von Punkt, Linie und Fläche entsprechend dieser Momente. Mit der Linie kommt die Bewegung auf. Diese entsteht aus der verschiedenen Wirkung innerer und äußerer Kräfte, die eine bestimmte Richtung einnehmen. Kandinsky teilt so etwa die Linien in zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen ein. Diese hängen einmal davon ab, welche Kräfte bzw. welche Spannung auf den Linien liegt und in welcher Richtung sie sich entfalten, denn Linie besagt nach ihm Bewegung von einem Punkt aus. Die Grundstruktur der Grundmomente von Spannung mit Kraft, Bewegung und Richtung bildet die Grundlage von PLF. Darüber hinaus sind für die Methode die beiden entscheidenden Themen von »Form« und »Farbe« von ÜG zu nennen. »Der rein malerischen Komposition stehen zwei Mittel zur Verfügung: 1. Farbe. 2. Form« (ÜG 51).

207

s. (Boehm 132 f., 155).

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Der »Farbe« und ihrer Komposition ist Über das Geistige in der Kunst (ÜG) gewidmet. Auf die »Form« ist Kandinsky dort nur kursorisch eingegangen. Aber bei dem Schwergewicht der Farben für die Malerei bleiben für die Form doch Fragen übrig: »Da stehen wir vor der Frage: müssen wir denn nicht auf das Gegenständliche überhaupt verzichten« (ÜG 61). Denn das Gegenständliche kommt durch die »Formen« ins Bild. Deshalb hat Punkt Linie zu Fläche (PLF) jetzt die »Form« ausdrücklich zum Gegenstand. ÜG hatte allerdings wichtige methodische Hinweise zur Behandlung von »Formen« bereits gegeben. So die grundsätzliche Frage: »1. ändert sich der ideale Klang [einer Form] durch Zusammenstellung mit anderen Formen, 2. ändert er sich auch in derselben Umgebung (soweit das Festhalten derselben möglich ist), wenn diese Form in ihrer Richtung verschoben wird)« (ÜG 62 f.).

Die Fragen betreffen das Verhalten von unterschiedlichen Formen (elementaren, bildnerischen) zueinander. Und schließlich, was geschieht bei der Verschiebung derselben Form in einer bestimmten Richtung, d. h. bei Bewegungen von Formen. Kandinsky definierte in ÜG sein Formprinzip schon komplex als »reinen zeichnerischen ›Kontrapunkt‹«. Die Formen sind zu untersuchen auf: »die Biegsamkeit der einzelnen Form, ihre sozusagen innerlich-organische Veränderung, ihre Richtung im Bilde (Bewegung), das Überwiegen des Körperlichen oder des Abstrakten in dieser einzelnen Form einerseits und andererseits die Zusammenstellung der Formen, die die großen Formen der Formengruppenbilden, die Zusammenstellung der einzelnen Formen mit den Formengruppen, welche die große Form des ganzen Bildes schaffen, weiter die Prinzipien des Mit- oder Widerklangs aller erwähnten Teile/, d. h. das Zusammentreffen einzelner Formen, das Hemmen einer Form durch die andere/, ebenso das Schieben, das Mit- und Zerreißen der einzelnen Formen, die gleiche Behandlung der Formengruppen, des Kombinierens des Verschleierten mit dem Bloßgelegten, des Kombinierens des Rhythmischen und Arhythmischen auf derselben Fläche, des Kombinierens der abstrakten Formen als rein geometrischer (einfacher, komplizierter) und geometrisch unbezeichenbarer, des Kombinierens der Abgrenzungen der Formen voneinander (stärkerer, schwächerer) usw. usw. – dies alles sind die Elemente, die die Mög415 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

lichkeit eines rein zeichnerischen ›Kontrapunktes‹ bilden und die zu diesem Kontrapunkt führen werden« (ÜG 64 f.). – Mit anderen Worten ist sich Kandinsky der ungeheuren Möglichkeiten und Kompliziertheit der Behandlung der Formen schon in ÜG bewusst. Er kann auch jetzt nicht alle Teilaspekte behandeln. Er bringt die ganze Vielfalt auf den Begriff des »zeichnerischen Kontrapunktes«, d. h. wo Formen behandelt werden, seien sie einzeln oder in Gruppen oder in Verbindung sind ihre Kontraste und Differenzen zu beachten. Die großen Kontraste sind bei Klee wie Kandinsky: Hell-Dunkel (Licht, Spannung), Kalt-Warm (Empfindung), Farben (Leben). D. h. aber auch, über »Formen« ist nicht ohne Blick auf »Farben« zu handeln. Deshalb kommen auch in PLF die in ÜG wichtigen Themen der Farben zur Sprache. Im Blick auf die physische Wirkung von Farben hatte Kandinsky dort besonders zwei Wirkungen der Farben hervorgehoben, nämlich ihr Hell-Dunkel und das Gefühl von Wärme-Kälte. Es sind diese zwei großen Abteilungen in der Palette der Farben, die nach Kandinsky auch in PLF zu berücksichtigen sind: 1. Wärme und Kälte des farbigen Tones und 2. Helligkeit oder Dunkelheit desselben. So entstehen sofort vier Hauptklänge jeder Farbe: entweder ist sie I. warm und dabei 1. hell oder 2. dunkel, oder sie ist II. kalt und 1. hell oder 2. dunkel. (ÜG 72) Die großen Kontraste der Farben und ihre psychischen und symbolischen Äquivalente sind etwa: Blau = kalt, Himmel, übersinnlich, Unendlich, Ruhe (ÜG 77). Gelb = warm, irdisch, aufdringlich, aggressiv (ÜG 76). Den Tonwerten nach sind: Schwarz: dunkel – Weiss: hell (ÜG 80–83); den Farbwerten nach: Rot – Grün oder Orange – Violett. (ÜG 83–87)

8.5.1 Urelement Punkt Leinwand Kandinsky beginnt PLF mit dem Urelement Punkt (PLF 21–56). Dem kann man vorausschicken, was dem Punkt vorausgeht, nämlich die Leinwand. Sie ist die Fläche, die er später eigens unter dem Grundelement »Grundfläche« (PLF 129 ff.) ausführlich behandeln wird. Der Punkt ist das »Urbild des malerischen Ausdrucks«. Jede Konfiguration an jeder Stelle der Grundfläche kann auf den Punkt zurückgeführt werden. Die Grundfläche ist die Nullebene für alles,

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das sich darauf zeigt und wegen seiner Herkunft vom Punkt letztlich an die Unsichtbarkeit, das Nichts, grenzt: »Leinwand ist nicht – die Welt vor der Schöpfung, vor Chaos. Ihre erste Belebung ist ein Punkt – der Augenblick der allerersten Berührung mit dem Stift (Kohle, Blei, Pinsel). Der Punkt ist der Keim der Verkörperung. Embryo der Schöpfung. Er birgt in sich unendliche Möglichkeiten. Die aus ihm werdende erste Linie ist in spe in alle Richtungen möglich […]« (PLF 35 f.). (Theater 244)

Kandinsky beschreibt die Leinwand: »Scheinbar: wirklich leer, schweigend, indifferent. Fast stumpfsinnig. Tatsächlich: voll Spannungen mit tausend leisen Stimmen, erwartungsvoll. Etwas erschrocken, da sie vergewaltigt werden kann. Aber fügsam. Sie tut gern, was man von ihr verlangt, bittet nur um Gnade. Sie kann alles tragen, aber nicht alles vertragen. Wunderbar ist die leere Leinwand – schöner als manche Bilder. Einfachste Elemente. Gerade Linie, gerade schmale Fläche: hart, unentwegt, sich rücksichtslos behauptend, scheinbar ›selbstverständlich‹ – wie das bereits erlebte Schicksal. So und nicht anders. Gebogene, ›freie‹ : vibrierend, ausweichend, nachgebend, ›elastisch‹, scheinbar ›unbestimmt‹ – wie das uns erwartende Schicksal. Es könnte anders werden, wird aber nicht. Hartes und Weiches. Die Kombination von beiden – unendliche Möglichkeiten. Jede Linie sagt ›ich bin da!‹ Sie behauptet sich, zeigt ihr sprechendes Gesicht – ›horcht! Horcht auf mein Geheimnis!‹ Wunderbar ist eine Linie« (E 168).

Die Leinwand ist so etwas wie ein Organismus, ein Organismus, der lebt. Sie erinnert an das Körperschema von Merleau-Ponty. Sie bewegt und regt sich, wenn der Künstler sich ihr nähert. Sie beginnt mit dem Künstler zu sprechen, wenn er sie berührt. Der Punkt auf der Leinwand ist nach Kandinsky das Urelement, Befruchtung der leeren Fläche. Die Horizontale ist kalte tragende Basis, schweigend und ›schwarz‹. Die Vertikale ist aktiv, warm, ›weiß‹. Die freien Geraden sind beweglich, ›blau‹ und ›gelb‹. Die Fläche selbst ist unten schwer, oben leicht, links wie ›Ferne‹, rechts wie ›Haus‹. Jeder Klang von Farben und Formen differenziert sich entsprechend seiner Lage auf der Fläche. (PLF 130–146). Der Punkt bedarf der Verortung und Kontextualisierung auf der Leinwand. Kandinsky kartographiert die Leinwand geradezu nach Raum und Zeit. Die Leinwand besteht aus einer Fläche von Raumund Zeitstellen. Sie ist vielleicht mit einem heutigen Touchscreen zu vergleichen. Ort und Bedeutung jedes Punktes werden auf der Leinwand markiert. 417 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

Geometrischer Punkt Für Kandinsky ist das Urelement zunächst ein geometrischer Punkt: »Der geometrische Punkt ist ein unsichtbares Wesen. Es muss als ein unmaterielles Wesen definiert werden. Materiell gedacht gleicht der Punkt einer Null. In dieser Null sind aber verschiedene Eigenschaften verborgen, die ›menschlich‹ sind« (PLF 21). Kandinsky folgt in dem Bauhausbuch Punkt und Linie zu Fläche (PLF) ebenfalls den Elementa Euklids, wiederholt fast exakt den Titel von Albertis Fragment De punctis et lineis apud pictores in De Pictura von 1435 und befindet sich in Übereinstimmungen mit Dürers Underweysung der Messung. Kandinskys Ansatz ist »geometrisch«. Bätschmann stellt diesem geometrischen Ansatz den anderen von Klee als »genealogischen« und »anthropologischen« entgegen. Der Unterschied ist beachtlich. Bei Klee heißt es: »Beim Punkt fing’s an. Und dann wurde der Punkt in Bewegung gesetzt, und daraus entsteht die Linie« (BF 95). Das ist nach Klee bereits das Wesentliche zum Punkt; denn alles was dann kommt, ist Bewegung aus ihm. Bätschmann nennt den Ansatz Kandinskys »metaphysisch«, d. h. er verbindet mit dem Punkt eine ganze Metaphysik. Der Punkt ist »Wesen«, d. h. er wird substantiiert und damit zu einem Hauptthema der Metaphysik. Kandinsky hat dreißig Seiten thesenhaft gedrängter Sätze über die bildnerische Bedeutung des Punktes geschrieben und sich noch für das Andeutungshafte seiner Ausführungen entschuldigte. Der Unterschied resultiert offensichtlich aus der unterschiedlichen philosophischen Auffassung. Bei Klee ist der Punkt Anfang der »Bewegung«, bei Kandinsky substantivisches »Wesen«. 208 Das macht auf ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis von Klee und Kandinsky aufmerksam. Kandinsky folgt offensichtlich dem aristotelischen Zeitverständnis, das auch bei Alberti führend ist. Die entscheidende Differenz besteht darin, dass Kandinsky den Vorgang von Zeit nicht wie Klee u. a. dynamisch durch die Bewegung, sondern Aristoteles und Alberti folgend durch das Prinzip der Addition und Sukzession erklärt: »Wenn die Punkte sich in einer Reihe ununterbrochen aneinanderfügen, bringen sie eine Linie (Zeitverlauf – KK) hervor«, liest man im ersten Buch des Traktats De Pictura. 209

208 209

S. (Geo 69–72, 78–82); (Wege 74). Leon Battista Albertis, De Pictura, 143, 7.

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Von Punkt und Linie zu Fläche

Für Klee hingegen ist die Ursache für die Entstehung einer Linie »der Punkt, der sich verschiebt«. Nach Klee trägt der Punkt das schöpferische Potenzial (zur Linie und damit zum Zeitverlauf) bereits in sich. Auf der ersten Seite des Pädagogischen Skizzenbuchs wird der Punkt als »Agens« und somit als handelnde Kraft und tätiges Prinzip definiert (PS 1 fig.1). (Linie 24) Während Kandinsky die Zeit nach Aristoteles offensichtlich statisch versteht, lässt Klee die Zeit dynamisch aus der Bewegung hervorgehen. Lebendes Wesen Kandinsky führt die Eigenschaften des Punktes ein mit seiner Funktion in der Sprache: »So ist der geometrische Punkt in unserer Vorstellung die höchste und höchst einzelne Verbindung von Schweigen und Sprechen […]. Sprache […]. In der fließenden Rede ist der Punkt das Symbol der Unterbrechung, des Nichtseins (negatives Element), und zur selben Zeit ist er eine Brücke von einem Sein zum anderen (positives Element)« (PLF 21).

Der Punkt kann seiner »äußeren« oder seiner »inneren« Bedeutung nach betrachtet werden. Seiner äußeren Bedeutung nach ist er ein Nichts, seiner inneren nach eine mögliche »Brücke von einem Sein zum anderen« (PLF 21). Der Punkt ist elementare Form, d. h. die Form wirkt vor allem nach außen, das Innen wird weithin verdeckt. Kandinsky schreibt zum Tod des Punktes und gleichzeitig über die Entstehung des lebenden Wesens folgendes: eine Kraft von außerhalb »reißt ihn [den Punkt] heraus [aus der Fläche] und schiebt ihn auf der Fläche nach irgendeiner Richtung.« »Kurz – der tote Punkt wird zum lebenden Wesen« (PLF 23). Und es entstehe dadurch ein »neues Wesen« mit einem »neuen, selbständigen Leben« und unterliege »eigenen Gesetzen«. Dieses neue Wesen mit eigenen Gesetzen sei die Linie (PLF 56). Dadurch ergibt sich, dass auch die geometrische Linie ein »unsichtbares Wesen« ist, da sie nur die »Spur des sich bewegenden Punktes« darstelle und daher lediglich aus einer Bewegung entstehe. Diese vernichte die »Ruhe des Punktes« und es folge ein Übergang vom »Statischen in das Dynamische.« Die Linie stelle damit den größten Gegensatz zum Punkt dar. Sie gelte als »sekundäres Element«, wobei man unter einem Element äußerlich jede zeichnerische oder malerische Form verstehe, innerlich die in der Form lebende innere Spannung. Die entstehenden Linien seien verschieden, wür419 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

den jedoch alle von zwei Faktoren abhängen: von der Zahl der »von außen kommenden Kräften« und deren Kombinationen. (PLF 57) Nach Kandinsky kann der Punkt erst als »selbständiges Wesen« zu einem Element der Malerei werden, wenn er begriffen wird als das »Resultat des ersten Zusammenstoßes des Werkzeuges mit der materiellen Fläche«, »der tote Punkt wird zum lebenden Wesen« (PLF 23) oder als eine Energie, welche »die Grundfläche befruchtet«. (PLF 25) Ausgehend von der Funktion des Punktes im Sprachzusammenhang untersucht Kandinsky die Wirkungseigenschaften des Punktes als eines selbständigen Wesens: die Erscheinungsweisen des Punktes sind der »äußere Begriff« des Punktes, die Größe, Grenze und seine äußere Form (PLF 26 ff.). Dann der »innere Begriff« des Punktes (PLF 30 ff.). Er gibt das Wesentliche des Punktes her: die Spannungen und Kräfte in ihm. »Der Punkt ist die malerisch knappste Form. Er ist in sich gekehrt, […] ist eine kleine Welt«. Es ist das »Urelement der Malerei«. Für die Malerei ist aber nicht so sehr die äußere Form wichtig, sondern die innere, und zwar die im Punkt wirkenden »lebenden Kräfte = Spannungen«. Kandinsky verbindet mit der »innerlich knappsten Form« des Punktes eine erste und grundlegende Beschreibung der »Komposition«: »Der Inhalt eines Werkes findet seinen Ausdruck in der Komposition, d. h. in der innerlich organisierten Summe der in diesem Falle notwendigen Spannungen« (PLF 31). Diese Beschreibung des Punktes aus den inneren Spannungen hat Folgen für das Zeitverständnis. Von einem Punkt kann man kaum sagen, dass der eine Bewegung abbildet. Deshalb ist es schwierig, von Zeit zu sprechen, was Kandinsky auch erkennt: »Zeit ist im Punkt fast vollkommen ausgeschlossen«. Und weiter: »Die Frage der Zeit in der Malerei steht für sich und ist sehr kompliziert.« Kandinsky verweist auf die Kontroverse der zwei Kunstgebiete hin: »Die Mauer teilte bisher zwei Kunstgebiete voneinander – das der Malerei und das der Musik. Die scheinbar klare und berechtigte Teilung: Malerei – Raum (Fläche) Musik – Zeit ist plötzlich zweifelhaft geworden« (PLF 33– 34). Die Antwort Klees dürfte sein: Diese Schwierigkeiten hängen mit dem metaphysisch substantivischen Wesen des lebenden Punktes zusammen. Der Punkt hat bei Klee einen völlig anderen Charakter: Es ist der Punkt, der sich bewegt oder bewegt wird. Seine weiteren Eigenschaften ergeben sich dann aus den verschiedenen Bewegungsformen, nicht umgekehrt. 420 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Von Punkt und Linie zu Fläche

Komposition Punkt Quadrat Ein Punkt im Zentrum einer Grundfläche wie dem Quadrat stelle einen Einklang und als solcher, quantitativ gesehen, bereits eine Komposition dar. Qualitativ verlange eine Komposition allerdings mindestens einen Zweiklang. Der Zweiklang von Punkt und Fläche wird zu einem Einklang, wie es die Komposition nach Kandinsky vorgibt: »Die Komposition ist die innerlich-zweckmäßige Unterordnung 1. der Einzelelemente und 2. der Konstruktion unter das konkrete malerische Ziel« (PLF 36). Das Ziel ist der absolute Klang. Er kommt aber nicht durch die Fläche, sondern durch den Punkt auf der Fläche zum Erklingen. Der Punkt hat eine innere Kraft. Wird die Richtung des Punktes verändert, hat das für das Ganze Wirkung. Der Punkt bewegt sich und mit ihm das ganze Bild. Sobald der Punkt aus dem Zentrum verschoben wird, ändert sich auch der Klang. Ist nicht nur ein einzelner Punkt im Spiel, entstehen neue Formationen. Quantitative Vermehrung ergebe ein entsprechend kompliziertes Resultat. Es lasse sich leicht vorstellen, welcher Sturm von Klängen bei immer weiterer Häufung von Punkten auf der Fläche sich entwickelt. Kandinsky führt in diesem Zusammenhang Analogien von Technik und Künsten an, einerseits natürliche Erscheinungen wie Sternhaufen oder Mikrostrukturen von Organismen, andererseits im Bereich der praktischen Künste Ähnlichkeiten in Architektur, Tanz und Musik. (PLF 38 ff.) »Alles ›Tote‹ erzitterte. Nicht nur die bedichteten Sterne, Mond, Wälder, Blumen, sondern auch ein auf der Straße aus der Pfütze blickender weißer Hosenknopf […]. Alles hat eine geheime Seele, die öfter schweigt als spricht […], alles zeigte mir sein Gesicht, sein innerstes Wesen, die geheime Seele, die öfter schweigt als spricht. So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte Punkt (Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir seine Seele. Das war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu ›begreifen‹, die heute im Gegensatz zur ›Gegenständlichen‹ die ›Abstrakte‹ genannt wird« (Rb 13).

Punkt und Kreis 210 Vor allem die Form des Punktes als Kreis spielt bei Kandinsky eine überragende Rolle. So nur ein Eindruck seiner lebendigen Beschreibungen: 210

Zu den verschiedenen Formen des Punktes (PLF 28 ff., 57, 70).

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Kandinsky

»Ein kleiner Punkt. Viele kleine Pünktchen, die hier noch etwas, etwas kleiner sind und dort etwas, etwas größer. Alle haben sie sich hineingebohrt, bleiben aber beweglich – viele kleine Spannungen, die im Chor ständig wiederholen ›horcht! horcht!‹ Kleine Mitteilungen, die sich im Chor verstärken – zum großen ›ja‹. Schwarzer Kreis – entfernter Donner, eine Welt für sich, die sich scheinbar um nichts kümmert, ein Sich-Insich-Hinein-ziehen, ein Abschluß auf der Stelle. Ein langsam kühlgesagtes ›Ich bin da‹. Roter Kreis – sitzt fest, behauptet seine Stelle, ist in sich vertieft. Aber gleichzeitig wandert er, da er alle übrigen Stellen für sich haben möchte – so strahlt er über alle Hindernisse bis in die weiteste Ecke. Blitz und Donner zusammen. Leidenschaftliches »Ich bin da!« Wunderbar ist der Kreis. Das Wunderbarste ist aber: all diese Stimmen mit noch vielen, vielen anderen zu einer einzigen zu summieren, das ganze Gemälde ist zu einem einzigen ›Ich bin da‹ geworden. Beschränkung, ›Geiz‹, toller Reichtum, ›Verschwendung‹, Donnerknall, Mückengesumm. Alles, was dazwischen liegt. Jahrtausende wären eine knappe Zeitspanne, um bis an den Boden, an die letzte Grenze der Möglichkeit zu kommen. Der Boden ist überhaupt nicht da«. (E 168) (PLF 56, 70) (s. Abb. 23)

Für etliche Arbeiten der mittleren Bauhaus-Zeit ist der Kreis mehr als ein Element unter anderen; er ist Bilddominante, wie in Einige Kreise von 1926 oder Schwere Kreise von 1927 – schlechthin konstitutive Form. Die Kreisbilder Kandinskys lassen nie die Nüchternheit des Planimetrischen spüren; sie geben sich vielmehr als schichtenreiche Fügungen, von denen eine eigenartige Stimmung ausgeht. Die Nennung von Realem kann nur eine ganz unzulängliche sein, denn an Gestirne erinnern die Kreise und Kreisscheiben nur insoweit, als sie durch unterschiedliche Größe in ein oft dunkles Umfeld auf kosmische Konstellationen verweisen. Zunächst sind sie farbige Figuren in einer bestimmten Anordnung und als solche Auslöser von Empfindungen des räumlich Unergründlichen und chromatisch Sublimen, die der Künstler mit romantisch umschreibt.

8.5.2 Linie »Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden – und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht.

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Von Punkt und Linie zu Fläche

Die Linie ist der größte Gegensatz zum malerischen Urelement – zum Punkt. Sehr genau genommen kann sie als ein sekundäres Element bezeichnet werden« (PLF 57).

Die geometrische Linie ist ein »unsichtbares Wesen«, da sie nur die »Spur des sich bewegenden Punktes« darstelle und daher lediglich aus einer Bewegung entstehe. Diese vernichte die »Ruhe des Punktes« und es folge ein Übergang vom »Statischen in das Dynamische.« Die Linie stelle damit den größten Gegensatz zum Punkt dar. Sie gelte als »sekundäres Element«, wobei man unter einem Element äußerlich jede zeichnerische oder malerische Form verstehe, innerlich die in der Form lebende innere Spannung. Die entstehenden Linien seien verschieden, würden jedoch alle von zwei Faktoren abhängen: von der Zahl der »von außen kommenden Kräfte[]« und deren Kombinationen (PLF 57). Die Beschreibung der Linie erscheint etwas ungenau. Denn die Linie ist wie der Punkt ein »unsichtbares Wesen«. Metaphysisch können aber zwei unterschiedliche Wesen nicht gleichzeitig gleichwertige substantivische Wesen, d. i. Grundelemente, sein, zumal die Linie Erzeugnis des Punktes ist. Sie muss als »sekundäres Element« bezeichnet werden. Gut erkennt Kandinsky für einen Moment, dass die Linie »aus der Bewegung entstanden ist«. In der »Bewegung« liegt der Fehler offensichtlich verborgen. Bei Klee liegt die alternative Anschauung vor: »Mit dem Punkt beginnt die Bewegung«. Bewegung ist nach Klee dynamisch gefasst, nicht statisch bzw. substantivisch. Bezeichnend sieht Kandinsky deshalb an dieser Stelle den Übergang vom Statischen zum Dynamischen im »Sprung aus dem Statischen ins Dynamische«. Bei Kandinsky »werden auch die anderen Bewegungsarten substantiviert« (Abstrakt 26). Formen der Linien Mit der Linie sind eigentlich erst die Grundbegriffe der »Spannung« für Kandinsky gegeben. Denn mit ihr geschieht der Übergang von der »Statik« zur »Dynamik«. Es tauchen so mit der Linie die Momente der Spannung auf: Der Begriff Spannung beinhaltet bei Kandinsky die für Gestaltung verantwortliche Faktoren Kraft, Bewegung und Richtung. Kandinsky beschreibt die Formen der Linien entsprechend dieser Momente. Mit der Linie kommt die Bewegung der Momente

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Kandinsky

auf. Diese entsteht aus der verschiedenen Wirkung von inneren und äußeren Kräften und nimmt eine bestimmte Richtung ein. Kandinsky teilt die Linien in zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen ein. Diese hängen einmal davon ab, welche Spannung auf den Linien liegt und in welcher Richtung sie sich entfalten. I. Linien, auf die eine Kraft wirkt und die einer gerichteten Spannung unterliegen, nennt er Geraden. Sie unterscheiden sich je nach Richtung. II. Linien, auf die mehrere Kräfte wirken, nennt er Gebogene. Sie unterliegen unterschiedlich gerichteten Spannungen. (PLF 57) I. Die Gerade stelle die knappste Form der Bewegungsmöglichkeit dar, deren Ausdruck entscheidend von der Richtung abhängt (PLF 58). Der Richtung nach gebe es drei typische Arten: Horizontale Vertikale Diagonale (PLF 59 f.). Die drei Typen der Geraden werden dann nach Temperatur (PLF 61), nach Farbe und Spannungen (PLF 63 f. bzw. 67 f.) charakterisiert. So sei die Horizontale die knappste Form der unendlichen kalten Bewegungsmöglichkeit, die Vertikale sinngemäß jene der unendlichen warmen und die Diagonale jene der unendlich kaltwarmen Bewegungsmöglichkeit. Kandinsky differenziert weiter nach Anordnung der Geraden und stellt, ältere Gedanken fortführend, Beziehungen zu Farben her (Horizontale – Schwarz, Vertikale – Weiß, Diagonale – Rot etc.). Er ordnet der Geraden das Lyrische zu, analysiert eckige sowie Winkellinien und schlägt wiederum Farbkorrespondenzen vor. Schließen sich die Linien, kommt es zur Flächenbildung (PLF 61 ff.) mit den Formen wie Kreis, Quadrat u. a. die später unter Grundfläche behandelt werden; dann Eckige, Winkel (PLF 71) und Farben (PLF 76 f.). Den Flächen werden verschiedene Farben zugeordnet: Blau – Kreis, Rot – Quadrat, Gelb – Dreieck (PLF 79). II. Linien, auf die mehrere Kräfte wirken, nennt er Gebogene; Gebogene (PLF 85 ff.) mit den Formen wie Wellen (PLF 92 ff.) und III. Kombinierte (PLF 99). Sie unterliegen unterschiedlich gerichteten Spannungen. Sukzessive werden die gebogenen Linien und Linienkomplexe nach ihren Wirkungen untersucht. Die Beispiele reichen von der Wiederholung einer Geraden mit Abwechslung der Gewichte bis zu Gegensätzlichem, Wiederholung einer Gebogenen und Auseinanderlaufen Gebogener. Im Winkel steckt etwas unüberlegend Jugend424 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Von Punkt und Linie zu Fläche

liches, im Bogen eine reife, mit Recht selbstbewußte Energie, die komplizierte Gebogene oder Wellenartige. III. Die Kombinierte (PLF 99) und Komposition (PLF 100) und Komposition Zeit (PLF 106) Schließlich kommt Kandinsky auf die Rolle der Linie in Musik, Tanz, Plastik, Architektur, Dichtung, Technik und Natur zu sprechen (PLF 107 ff.). Auffällig ist bei den Ableitungen der Linienformen, dass Kandinsky innerhalb des geometrischen und physikalischen Bereichs bleibt (Formen bzw. Kräfte der Linien). Bei Klee dagegen erfolgt die Beschreibung und Ableitung der Linien wie aller elementaren Formen aus der lebendigen oder gelebten Bewegung heraus (z. B. Spaziergang mit allen psychischen und kommunikativen Begleiterscheinungen).

8.5.3 Fläche (Grundfläche) Der 3. Teil von PLF ist der »Grundfläche« gewidmet. »Unter der Grundfläche wird die materielle Fläche verstanden, die berufen ist, den Inhalt des Werkes aufzunehmen. Sie wird hier mit GF bezeichnet. Die schematische GF ist von 2 horizontalen und 2 vertikalen Linien begrenzt und dadurch im Bereich ihrer Umgebung als selbständiges Wesen umrissen. Nachdem die Charakteristik der Horizontalen und der Vertikalen schon vorgegeben wurde, wird der Grundklang der GF von selbst klar: zwei Elemente der kalten Ruhe und zwei Elemente der warmen Ruhe sind zwei Doppelklänge der Ruhe, die den ruhigen = objektiven Klang der GF bestimmen. Die GF wird dann entsprechend den Werten der Grundelemente wie Statik und Dynamik, von Temperatur und Klängen charakterisiert (PLF 129–130). Die Grundfläche ist ein »lebendes Wesen«, also nicht mehr nur ein »unsichtbares Wesen« wie Punkt und Linie, sondern ein »lebendes Wesen«. Natürlich wäre an dieser Stelle wichtig zu erkennen, warum Kandinsky die neue Form der Fläche nicht nur metaphysisch als »Wesen« bezeichnet, sondern als »lebendes Wesen«. Kandinsky fährt aber mit der bisher begonnenen Methode der Beschreibung fort: 425 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

GF ist ein »lebendes Wesen«. Es erinnert an ein ›Haus‹. Aber im weiteren Verlauf beschreibt er das »lebende Wesen« in den bisherigen Dimensionen und räumlichen Kategorien. Nach oben hin weist die GF eine geringere Dichte auf und »erweckt die Vorstellung eines größeren Lockerseins« (Himmel); entsprechend empfinden wir erdwärts Hemmung und zunehmende Verdichtung. Für die horizontalen Richtungen gilt Ähnliches: Links soll es leichter werden (Ferne), rechts hingegen dichter (Haus). Kandinsky scheint sich Kräfte vorzustellen, die an sichtbaren Formen angreifen und auf diese Weise Spannungen im Bildgefüge erzeugen. Als Beispiel dienen ihm die beiden Diagonalen im Rechteck. Eine davon nennt Kandinsky »harmonisch«, sie verläuft sozusagen durch neutrales Gebiet. Die andere ist den ungleichen Kräften links oben und rechts unten ausgesetzt (PLF 130–146). Quadrat (PLF 130 ff.) Als Paradigma für die Grundfläche GF wählt Kandinsky das Quadrat. Wie oben allgemein bei der »Leinwand« kartographiert er das Quadrat im Ganzen und im Einzelnen nach Raum- und Zeitstellen: Oben Freiheit (PLF 131), unten Schwere (PLF 132). GF ist ein »lebendes Wesen«. Für den Künstler ist die Grundfläche nicht einfach Quadrat oder Rechteck, sondern »ein lebendes Wesen«, »das atmet« – ja dessen »leichtsinnige Mißhandlung […] etwas vom Mord an sich haben«. In PLF ist die leere Grundfläche als eine Art Spiegelung beschrieben, welche die Wahrnehmung gleichsam reflektiert (PLF 136). Die Orientierung erfolgt über die Raumlage des Körpers, die vom Schweresinn (Druck des Eigengewichts) und vor allem vom visuellen Bezugsystem bestimmt wird. Diese Faktoren spielen bei der Wahrnehmung der Grundfläche unbewusst mit. (Abstrakt 22) Die Stichworte Oben und unten, rechts und links, Feme und Ruhe lassen auf leibliche und körperliche Bewegungen schließen: links Leichtigkeit (PLF 135) meint »Bewegung in die Ferne« »ins Freie gehen« (PLF 137); rechts Schwere (PLF 137) meint »Bewegung nach Hause« (PLF 138). Diese Beschreibungen erinnern wie die Leinwand an das sogenannte »Leib- bzw. Körperschema«. Bereits Husserl verbindet das Sehen mit dem Sich-Bewegen, der Kinästhese:

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Von Punkt und Linie zu Fläche

»Ein Sehen, das nicht bloß eine Welt widerspiegelt, sondern sie mithervorbringt, ist selbst ein Tun, ein selbstempfundenes Sichbewegen, das Husserl Kinästhese nennt« (Schwellen 68–69). »Augenbewegung und Blickführung, Tastversuche und Erkundungsgänge mitsamt dem vielfältigen Register der Leiblichkeit kommen bei jedem Sehakt ins Spiel. Das ›nicht mehr bloß durch die Augen, sondern durch den ganzen handelnden Menschen vollzogene Sehen‹, das Fiedler beim Künstler findet, beginnt schon im Bereich des gewöhnlichen Sehens. […] Ein Sehen, das sich von den Dingen anregen und einnehmen läßt, wird mehr inszeniert als produziert (vgl. Hua IV, 98, 259). Eben deshalb hebt das Sichtbarmachen des Malers an mit einem Sichtbarwerden. Das Sichtbare ›konstituiert sich‹, sagt Husserl häufig« (SF 207).

Verschiedenste Möglichkeiten der Nutzung der quadratischen Fläche werden durch Bezüge auf andere Künste verdeutlicht: verbal und durch Illustrationen etwa: Schweigende Lyrik der vier elementaren Linien – erstarrter Ausdruck; als Dramatisierung derselben Elemente – kompliziert pulsierender Ausdruck (PLF 137, 70). Die »Spannungen« der Symbole von Himmel, Ferne, Haus, Erde (PLF 138) haben »literarische« Entsprechungen. Leben Kandinsky gibt am Schluss als Ziel der Theorie an: »1. das Lebende zu finden, 2. seine Pulsierung vernehmbar zu machen, und 3. das Gesetzmäßige im Lebenden festzustellen«. So kommt er zu dem Ergebnis, Schlussfolgerungen aus diesem Material zu ziehen, ist die Aufgabe der Philosophie, und ist eine im höchsten Sinne synthetische Arbeit« (PLF 167–168).

Interessant ist, dass er an dieser Stelle, wo es zum Schluss um das »Leben« geht, in einer Anmerkung darauf zu sprechen kommt, wie schwer es ist, wenn es um Leben und Lebendiges geht, das rechte »Zeitmaß« zu finden. Er hält es für illusorisch, das Zeitmaß dafür »messbar« zu machen. Dies scheint seine Antwort auf das Phänomen des Lebendigen zu sein, wenigstens nach PLF. Ansonsten spart er nicht mit philosophischen Hinweisen. PLF ist durchsetzt mit spekulativen Glossen. Die selbständig lebenden Gesetze der beiden großen Reiche – der Kunst und der Natur – würden schließlich zum Verständnis des Gesamtgesetzes der Weltkomposition führen, heißt es an einer Stelle.

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Kandinsky

8.6 Komposition Kandinsky hat in Über das Geistige in der Kunst sein Gesamtwerk in drei Sparten eingeteilt. Es sind die drei Gesichtspunkte, die seine Kunst leiten sollten: »1. Impressionen – direkter Eindruck von der ›äußeren Natur‹, welcher in einer zeichnerisch-malerischen Form zum Ausdruck kommt. Diese Bilder nenne ich ›Impressionen‹ ; 2. Improvisationen – hauptsächlich unbewußte, meist plötzlich entstandene Ausdrücke des Charakters, also Eindrücke der ›inneren Natur‹. Diese Art nenne ich ›Improvisationen‹ ; 3. Kompositionen – auf ähnliche Art (aber besonders langsam) sich in mir bildende Ausdrücke, welche lange, beinahe pedantisch nach den ersten Entwürfen von mir geprüft und ausgearbeitet werden. Diese Art Bilder nenne ich ›Komposition‹. Hier spielt die Vernunft, das Bewußt-Beabsichtigte und Zweckmäßige die wichtigste Rolle. Nur wird dabei nicht der Berechnung, sondern stets dem Gefühl recht gegeben« (ÜG 124).

Die anspruchsvolle Bezeichnung »Komposition« verlieh Kandinsky im Laufe seines Lebens lediglich zehn seiner Werke, von denen sieben vor 1914, eine während seiner Jahre am Bauhaus und zwei in seiner späten Pariser Periode nach 1933 entstanden sind.

8.6.1 Komposition VI Über die Entstehung und Ausführung der Komposition VI hat sich Kandinsky in den Rückblicken ausführlich geäußert, so dass wir einen Einblick in den nicht einfach nachzuvollziehende Vorgang des Motivs und der Entstehung einer Komposition haben. (Rb 37–40) (→ Abb. 18 Sintflut (Hinterglas), S. 475) Kandinsky beschreibt den Anlass der Komposition folgendermaßen: »Dieses Bild habe ich anderthalb Jahre in mir getragen, und oft mußte ich denken, daß ich es nicht fertigbringe. Der Ausgangspunkt war die Sintflut. Der Ausgangspunkt war ein Glasbild, das ich mehr zu meinem Vergnügen gemacht habe. Hier sind verschiedene gegenständliche Formen gegeben, die teilweise lustig sind (es machte mir Spaß, die ernsten Formen mit lustigen äußeren Ausdrücken zu vermengen): Akte, Arche, Tiere, Palmen, Blitze, Regen usw. …

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Komposition

Mein Glasbild war damals in Ausstellungen. Als es aber zurückkam, und ich es wieder gesehen hatte, bekam ich sofort den inneren Schock, welchen ich nach der Herstellung des Glasbildes erlebt hatte. Ich war aber schon mißtrauisch und glaubte nicht, daß ich jetzt das große Bild machen können würde. Trotzdem guckte ich von Zeit zu Zeit auf das Glasbild, das bei mir im Atelier hing. Jedesmal erschütterten mich wieder erst die Farben, dann das Kompositionelle daran und die zeichnerische Form ohne Bezug auf den Gegenstand. Dieses Glasbild war von mir getrennt. Es war mir merkwürdig, daß ich es gemalt habe. Und es wirkte auf mich so, wie manche objektiven Gegenstände oder Begriffe, welche die Kraft haben, durch eine Seelen- Vibration in mir rein malerische Vorstellungen zu wecken, und welche mich schließlich zur Herstellung eines Bildes bringen« (Rb 37).

Die Improvisation Sintflut ist eine der vielen vorbereitenden Arbeiten zu Kandinskys großer Komposition VI (Eremitage, St. Petersburg), der das Thema der Sintflut zugrunde liegt. Kandinsky hat sich über die Entstehung dieser Komposition in den Rückblicken (Rb) geäußert. Ausgangspunkt war das heute verschollene Hinterglasbild mit Motiven des biblischen Strafgerichts. Es dauerte jedoch noch über eineinhalb Jahre, bis Kandinsky sich, wie er schrieb, vom konkreten Bild der Sintflut lösen konnte zugunsten einer unabhängigen Formvorstellung, in der nicht der »äußere Klang« des Gegenstands, sondern sein »innerer Klang« vorherrschen sollte. Die Improvisation Sintflut ist ein aufgewühlter Strudel von Farben, mit zum Teil kompakten, mehrfachen Übermalungen, mit zum Teil flach verwischten Partien, die in der Mitte von weißen Strahlen durchkreuzt sind. Der Eindruck eines dramatischen Geschehens, durchaus der einer großen Naturkatastrophe wie Flut und Untergang, drängt sich auf, ohne dass dafür ein gegenständlicher Anhaltspunkt auszumachen wäre. Von dem figürlichen Personal des oben erwähnten Hinterglasbildes ist keine Spur zu finden. Dagegen heben sich zwei Zentren heraus, die Kandinsky auch im Hinblick auf die Endfassung der Komposition VI anspricht: »1. links das zarte, rosige, etwas verschwommene Zentrum mit schwachen unsicheren Linien in der Mitte, 2. rechts (etwas höher als das linke) das grobe, rot-blaue, etwas missklingend, mit scharfen, etwas bösen, starken, sehr präzisen Linien«. Vergleicht man jedoch die Improvisation Sintflut mit der großen Komposition VI, so scheint es sich wiederum um einen ganz anderen Bildentwurf zu handeln. Die Farben sind dort viel dünnflüssiger ausgebreitet, kaltes Blau und Grün ziehen sich wellenförmig über das 429 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Kandinsky

Bild, vor deren Grund graphische Chiffren das Drama auf einer weiten Ebene aufführen. Links schwebt dort ein Boot mit ausgelegten Rudern, darüber ein Posaunenengel, zur Mitte hin der herumgewirbelte Leib eines Fisches. Die scharfen Diagonalen in der Bildmitte sind nun schwarz und können eindeutiger als ›Regenstreifen‹ oder auch Posaunenklänge verstanden werden. Diese Elemente machen die Beziehung der Komposition VI zum Thema der Sintflut deutlich und verbinden das Gemälde mit den apokalyptischen Motiven des Weltgerichts. Doch der Künstler weist es ausdrücklich zurück, diese Komposition »zur Darstellung eines Vorgangs zu stempeln«. Dabei ist bemerkenswert, dass das für ihn wichtigste Element der Endfassung, ein drittes, verschwommenes Zentrum in der Mitte, in der vorliegenden Improvisation Sintflut noch völlig fehlt. Kandinskys Schlusssatz zur Erläuterung seiner Komposition VI lautet: »Ein großer, objektiv wirkender Untergang ist ebenso ein vollständig und im Klang abgetrennt lebendes Loblied, wie ein Hymnus der neuen Entstehung, die dem Untergang folgt« (Rb 40). Kandinsky fährt sodann mit der Beschreibung der Entstehung des Werkes fort: »Als das Glasbild fertig wurde, entstand in mir der Wunsch, dieses Thema für eine Komposition zu bearbeiten, und es war mir damals ziemlich klar, wie ich es machen soll. Sehr bald verschwand aber dieses Gefühl, und ich verlor mich in körperlichen Formen, die ich nur um die Vorstellung des Bildes zu klären und zu heben gemalt hatte. Statt Klarheit gewann ich Unklarheit. Auf einigen Skizzen löste ich die körperlichen Formen auf, auf anderen versuchte ich, den Eindruck rein abstrakt zu erreichen. Es ging aber doch nicht. Und das kam nur daher, weil ich dem Ausdruck der Sintflut selbst unterlag, statt dem Ausdrucke des Wortes ›Sintflut‹ zu gehorchen. Nicht der innere Klang, sondern der äußere Eindruck beherrschte mich. Endlich kam der Tag, und eine mir bekannte ruhige innere Spannung machte mich vollkommen sicher. Ich machte sofort beinahe ohne Korrekturen den definitiven letzten Entwurf, der mich im Ganzen sehr befriedigte. Jetzt wußte ich, daß ich bei normalen Zuständen das Bild malen werde. Kaum hatte ich die bestellte Leinwand, so ging ich schon an die Zeichnung. Es ging schnell, und beinahe alles wurde sofort gut. In zwei bis drei Tagen war das Bild im Allgemeinen da. Der große Kampf, die große Bezwingung der Leinwand war geschehen« (Rb 37–38). (→ Abb. 19 Vorzeichnung Komposition VI, S. 475)

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Komposition

»Dann kam also das unendlich feine, angenehme und doch sehr anstrengende Abwiegen der einzelnen Teile gegeneinander. Wie quälte ich mich früher, wenn ich irgendeinen Teil unrichtig fand und ihn zu bessern suchte! Die Erfahrungen der Jahre haben mich gelehrt, daß der Fehler manchmal gar nicht da liegt, wo man ihn sucht. Oft ist es so, daß man die linke untere Ecke dadurch verbessert, daß man an der oberen rechten etwas ändert. Wenn die linke Waagschale zu tief geht, so muß man auf die rechte etwas mehr Gewicht legen – dann geht die linke von selbst hinauf. Das anstrengende Suchen nach dieser rechten Schale im Bilde, das Finden des genauen noch fehlenden Gewichtes, das Erzittern der linken Schale durch die Berührung der rechten, die minimalsten Änderungen in Zeichnung und Farbe an einer Stelle, die das ganze Bild vibrieren lassen, dieses unendlich Lebendige, unermeßlich Empfindliche in einem richtig gemalten Bild ist der dritte schöne und quälende Moment in der Malerei« (Rb 38).

Die Vorzeichnung zeigt deutlich die Bewegungen, die der Künstler vollführt, um das »Bild« zu schaffen. Es zeichnet sich ab ein Punkt, der aber aus dem Zentrum gerückt ist. Von ihm gehen verschiedene Bewegungen ab nach links und nach rechts; zu einem linken Zentrum im Bild, kehren teilweise zurück nach rechts, wo ein weiteres Zentrum sichtbar wird. Andere Bewegungen kommen von rechts, umkreisen den Punkt; gerade Pfeile wie Speere geben die direkte Richtung an. Die Bewegungsrichtungen sind formaler Art. Sie müssen durch die Zeichnung und vor allem durch Farben in ein gemaltes Bild umgesetzt werden. Es ist Absicht des Künstlers, dass nicht nur er diese Bewegungen ausführt, um daraus ein Bild entstehen zu lassen, sondern auch der Betrachter sollte die Bewegungswege finden und so die Komposition lesen. Vergleicht man die Improvisation (→ Abb. 19, S. 475) mit der vollendeten Komposition VI (→ Abb. 20, S. 476), so scheint man vor einem neuen Bildwerk zu stehen. Kandinsky beschreibt die Komposition jetzt so: »In diesem Bilde sieht man zwei Zentren: 1. links das zarte, rosige, etwas verschwommene Zentrum mit schwachen unsicheren Linien in der Mitte, 2. rechts (etwas höher als das linke) das grobe, rotblaue, etwas mißklingend, mit scharfen, etwas bösen, starken, sehr präzisen Linien. Zwischen diesen zwei Zentren das dritte (dem linken näher liegend), welches erst später als Zentrum erkannt werden kann und doch im letzten Grunde das Hauptzentrum ist. Hier schäumt die rosa und weiße Farbe so, daß sie weder auf der Fläche der Leinwand zu liegen scheint, noch auf irgendeiner idealen Fläche. Sie ist vielmehr in der Luft schwebend und sieht wie von Dampf umgeben aus. Solche Abwesenheit der Fläche und die Unbe-

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stimmtheit der Entfernung kann man z. B. im russischen Dampfbad beobachten. Der in dem Dampf stehende Mensch ist weder nahe, noch weit; er ist irgendwo. Dieses ›Irgendwo‹ des Hauptzentrums bestimmt den inneren Klang des ganzen Bildes. Ich habe so viel an dieser Stelle gearbeitet, bis ich das erst undeutlich Gewünschte und später immer klarer in meinem Innern Verlangte gestaltet hatte. Um die zu dramatisch klingende Handlung der Linien zu mildern, d. h. um das zu aufdringlich sprechende dramatische Element zu vertuschen (ihm einen Maulkorb anzulegen), ließ ich auf dem Bild eine ganze Fuge von verschieden gefärbten Rosaflecken sich abspielen. Sie kleiden die große Unruhe in große Ruhe und objektivieren den ganzen Vorgang. Diesen feierlich ruhigen Charakter unterbrechen andererseits verschiedene blaue Flecken, die innerlich warm wirken. Das warme Wirken der an sich kalten Farbe steigert also das dramatische Element in einer wieder objektiven und vornehmen Art. Die ganz tiefen braunen Formen (besonders links oben) bringen eine abgestumpfte und sehr abstrakt klingende Note, die an das Element des Hoffnungslosen erinnert. Grün und Gelb beleben den Seelenzustand und geben ihm die fehlende Aktivität. So sind alle und auch die sich widersprechenden Elemente in volles inneres Gleichgewicht gebracht, so daß kein Element Oberhand bekommt, das Entstehungsmotiv des Bildes (Sintflut) aufgelöst und in ein inneres rein malerisches, selbständiges und objektives Wesen verwandelt wird« (Rb 39–40).

8.6.2 Komposition VII Die große Komposition VII bedeutet einen Höhepunkt in Kandinskys Schaffen vor dem Ersten Weltkrieg. 211 In ihr kulminieren seine Bestrebungen, durch die ›Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in materiellen und abstrakten Dingen‹ in der Kunst neue bildnerische Dimensionen zu wecken. (→ Abb. 21, S. 476) Komposition VII ist ein Schlüsselwerk. Es wurde zu Recht als Höhepunkt von Kandinskys Oeuvre vor dem 1. Weltkrieg bezeichnet. Anders als bei den Vorgängerinnen ist darin kein konkretes Thema verarbeitet. Das Bild ist formal wohl sein komplexestes überhaupt. Es ist schwierig, dieses sprachlich auch nur annähernd zu erfassen. Komposition 7 gilt in der Forschung daher als konsequenteste Umsetzung seiner Harmonievorstellung von Gegensätzen und Widersprüchen. Rationale Konzeption, Imagination und Intuition wirken in diesem höchst komplexen Werk zusammen. 211

(Abstrakt 179–232).

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Man kann das Werk durchaus als Höhepunkt und Abschluss der vorausgegangenen Entwicklung verstehen. Doch vertritt Haldeman die These, dass es darüber hinaus spätere Werke antizipierte und somit einen Brennpunkt im Oeuvre insgesamt darstellte. Die These stützt sich vor allem auf die markante, schwarz-grüne Zentrumskonfiguration, die sich aus einem Punkt, aus Geraden und Flächen zusammensetzt. Die Idee primärer geometrischer Bildelemente, die Kandinsky von den Rückblicken (Rb) bis zu Punkt und Linie zu Fläche (PLF) weiterentwickelte, ist hier exemplarisch umgesetzt. Das Werk vor und nach 1914 trennt, so Haldemann, kein Bruch. (Abstrakt 179–182) Zu keinem anderen Werk fertigte Kandinsky annähernd so viele Vorarbeiten an wie zu Komposition 7. Welche Überlegungen und Dispositionen der Komposition VII zugrunde liegen, dokumentieren die zahlreichen Vorarbeiten für die 2 � 3 m große Endfassung des Werks (Tretjakow Galerie, Moskau). Mit mindestens 21 Zeichnungen und Aquarellen sowie sechs größeren Ölstudien bereitete Kandinsky diese endgültige Fassung vor, die er schließlich in vier Tagen, vom 25. bis 28. November 1913, auf die große Leinwand übertrug. Die viertägige Ausführung des Gemäldes hielt Gabriele Münter fotografisch fest. Das sogenannte erste abstrakte Aquarell (→ Abb. 22, S. 477) Das sogenannte erste abstrakte Aquarell, das die Jahreszahl 1910 trägt, gehört dem Werkkomplex von Komposition 7 an. Kandinsky hat es in Paris nachträglich wohl falsch datiert, es handelt sich um eine Paraphrase zu Komposition 7. Hinter diesem Bild steht wohl der Weg, wie Kandinsky zur abstrakten Malerei kam. Vor allem jenes wunderbare Ereignis, als er in der Dämmerung in seinem Atelier ein Bild sah. Es lag auf der Seite und Kandinsky erkannte nur Formen und Farben, die ihn begeisterten. Er kam zu dem Schluss, dass das Gegenständliche seiner Malerei eigentlich nur schade (s. oben). Es war das »Bild«, wie Kandinsky das Kunstwerk immer wieder nannte, das ihn in Bann zog, nicht nur bei diesem Ereignis, sondern auch vor dem »Heuhaufen«, wo er ausrief: »Zum ersten Mal sah ich ein Bild«. Und folglich: »Unbewußt war aber auch der Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes diskreditiert« (Rb 15). Oder auch das Bild von Moskau »Auch in diesem Bild habe ich eigentlich nach einer gewissen Stunde gejagt« (Rb 11–12). »Sie lehrten mich, im Bilde mich zu bewegen, im Bilde zu leben, […] den Beschauer im Bilde ›spazieren‹ zu lassen« (Rb 20). Es ist die Emphase des Bildes, die Kandinsky Grohmann gegenüber äußert: »Sie denken europäisch, 433 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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ich russisch, d. h. sie denken logisch, wir denken auch logisch, aber zugleich in Bildern«. 212 Die Zentrumskonfiguration Die Zentrumskonfiguration ist Ursprung und Endpunkt der Komposition. 213 Sie besteht aus mehreren Teilen. Zuinnerst ist ein schwarzer Punkt, den ungleich Ringe in Blau, Oliv, Schwarz und Grün umrahmen. Von Blau bis Grün werden diese immer ungleichförmiger. Die schwarze Figur spitzt sich im oberen Bereich zu, und an ihrer rechten Seite bildet sich ein kranzähnlicher Saum. Der exzentrisch obere Teil sorgt für eine diagonal nach rechts gerichtete Aufwärtsbewegung, während der konzentrische unten eher nach innen weist. Eine Klammer in perspektivischer Verkürzung ist als zweites Element in der Geradendiagonalen nach links oben orientiert. Zwei leicht auseinander strebende Geraden durchkreuzen die Zentrumsform aus entgegengesetzter Richtung. Die obere durchdringt die Klammer, beide sind den Ringen jedoch klar vorgelagert. An ihren linken Enden befinden sich zwei wulstähnliche Flecken. Die mehrteilige Konfiguration kann von keinem Gegenstandmotiv abgeleitet werden. Kandinsky entwickelt sie aus den autonomen geometrischen Grundelementen Punkt und Linie zu Fläche (PLF). Bei genauerem Hinsehen gewahrt man, dass sich die Elemente »transitorisch« verhalten (Zeit 13, 23). Sie stoßen an den beiden punktförmigen Geschwulsten zwei Geraden hervor. Der Mittelpunkt wird von Kreisen umschlossen; dem schwarzen Ring entwachsen rechts weitere Geschwulste, von denen sich unten einige bereits abgelöst haben. Vergleicht man die Ringe um den schwarzen Punkt, so ist eine Entwicklung zu beobachten von der einfachen, blauen Kreisform – die in diesem Bild erstmals klar auftritt – zu individuelleren Mischformen aus Bogen und Winkeln. Darüber scheint eine ähnliche Konfiguration eben erst im Begriff zu sein, sich von der weißen Matrix zu lösen, während die Hauptform bereits feste Gestalt gewonnen hat und frei im Raum schwebt. Tatsächlich erwähnt Kandinsky die euklidische Geometrieauffassung in den Rückblicken: »So wurde für mich jeder ruhende und jeder bewegte Punkt (= Linie) ebenso lebendig und offenbarte mir seine Seele. Das war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und 212 213

Grohmann, Kandinsky, a. a. O., 158. (Abstrakt 179–232); (Theater 242–255).

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das Dasein der Kunst zu begreifen, die heute im Gegensatz zum Gegenständlichen die Abstrakte genannte wird«.

Kandinsky führt die abstrakte Malerei buchstäblich auf einen Ursprungspunkt zurück. Komposition 7 macht dies unmittelbar anschaulich und thematisiert es. Die Verbindung von Kreis und Gerade sind für Kandinsky grundlegend, sie vertreten das Gerichtete, linear Bewegte, Momenthafte und das zyklisch Wiederkehrende und Dauerhafte (PLF). Zeitlebens sollte Kandinsky diesen Gegensatz artikulieren. Der Ursprungspunkt (→ Abb. 23, S. 477). Er hat Kandinsky zeitlebens bewegt. Dem Punkt in all seinen Möglichkeiten und Formen hat er 30 Seiten von PLF gewidmet. In einer kleinen Studie zu konzentrischen Kreisen untersucht Kandinsky, wie vielfältig sich ein Punkt, der zum Kreis wird, sich entwickelt, etwa wie unterschiedliche Farben, Mischungen und Abstufungen zusammen wirken und wie das menschliche Auge sie wahrnimmt. Für Kandinsky gab jede Farbe unterschiedliche Gefühle wieder, was er auch sehr poetisch beschrieb. Über die Farbe Blau meinte er, dass, je tiefer das Blau wird, desto mehr rufe es den Menschen in das Unendliche. Das Blau wecke in dem Menschen die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem, denn Blau sei die Farbe des Himmels. In zwei Briefen an Will Grohmann äußert sich Kandinsky über seine Vorstellungen von der Natur des Kreises: »Er ist eine Verbindung mit dem Kosmischen. Ich verwende ihn aber in erster Linie ›formal‹. Warum mich der Kreis fesselt? Er ist 1. die bescheidenste Form, aber rücksichtslos behauptend, 2. präzis, aber unerschöpflich variabel, 3. stabil und unstabil gleichzeitig, 4. leise und laut gleichzeitig, 5. eine Spannung, die zahllose Spannungen in sich trägt. Der Kreis ist eine Synthese der größten Gegensätze. Er verbindet das Konzentrische mit dem Exzentrischen in einer Gestalt und im Gleichgewicht. Der Kreis, den ich die letzte Zeit so viel verwende, kann manchmal nicht anders als ein romantischer bezeichnet werden. Und die kommende Romantik ist tatsächlich tief, schön (es soll das ›veraltete‹ Wort ›schön‹ gebraucht werden), inhaltsvoll, beglückend – sie ist ein Stück Eis, in dem eine Flamme brennt«. Bei anderer Gelegenheit bemerkt er: »Ich liebe den Kreis heute, wie ich früher z. B. das Pferd geliebt habe – vielleicht mehr, da ich im Kreis mehr innere Möglichkeiten finde. Malerisch habe ich in meinen Bildern sehr viel ›Neues‹ vom Kreis erzählt, theoretisch aber, trotz allen meinen Bemühungen, kann ich von ihm noch sehr wenig sagen«. 214 Das hier präsentierte Bild ist eine der vorbereitenden Ölstudien zur Komposition VII (→ Abb. 24, S. 478) 214

Brief an Grohmann 1927, in: Grohmann, Kandinsky, a. a. O., 188.

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Das hier präsentierte Bild ist eine der vorbereitenden Ölstudien zur Komposition 7. Ähnlich wie die Improvisation Sintflut aus dem Umkreis der Komposition VI (Eremitage, St. Petersburg) mutet die Studie zunächst wie ein strudelndes Chaos von Farben und Formen ohne verständliche Strukturen an. Deshalb mag der Hinweis überraschen, dass hier ebenfalls eschatologische Motive zugrunde liegen und das Bild wie eine unterirdische Strömung beherrschen. Verunklärung, Desintegration und Mischung von Gegensätzen werden hier in einem kaum überbietbaren Maß gesteigert. In kosmischer Entrücktheit schweben Farben unterschiedlicher Konsistenz und Tiefe voreinander, bilden Anhäufungen oder werden von bunten und schwarzen Linienbündeln überlagert. Die innere Widersprüchlichkeit der Elemente und sein kompliziertes Vorgehen bei der Erstellung eines solchen Bildes versuchte Kandinsky in seinem »Kölner Vortrag« von 1914 zu erläutern: »Ich kürzte das Ausdrucksvolle durch Ausdruckslosigkeit ab. Ein an und für sich im Ausdruck nicht sehr klares Element unterstrich ich durch die äußere Lage, in die ich es stellte. Den Farben nahm ich ihre Deutlichkeit im Klang, ich dämpfte auf der Oberfläche und ließ ihre Reinheit und ihre wahre Natur wie durch ein Mattglas herausleuchten. So ist die Improvisation 22 und die Komposition 5 gemalt, größtenteils auch die sechste. Die letzte bekam drei Zentrums und eine große Kompliziertheit der Komposition«.

In den vielen Entwürfen zu Komposition VII war das in der Mitte liegende Zentrum, ein konzentrischer, von zwei Linien durchkreuzter Farbkreis, von Beginn an festgelegt; in einer Reihe von ihnen sind figürliche Reste apokalyptischer Motive erkennbar. Auffallend in dem Entwurf 2 ist die matte Leere am unteren Bildrand. In der Moskauer Endfassung ist die Dynamik eines trichterförmigen Sogs, in den die Farbgebilde über ihm gezogen werden, noch stärker ausgeprägt. Dazu erscheint jedoch in der unteren linken Ecke deutlich erkennbar ein Ruderboot, ein eindeutiger Hinweis auf die wohl auch eschatologischen Zusammenhänge der Komposition VII. Komposition VII Von kaum einem Werk des Künstlers sieht der Betrachter sich so herausgefordert wie von Komposition 7 (→ Abb. 21, S. 476). Haldemann wirft einen ersten Blick auf die Komposition, wie sie sich zuerst darbietet: Die Hauptkonfiguration treibt wie eine Insel in einem »kochenden Chaos« von Farbe und Form. Sie ist der einzige Haltepunkt 436 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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des Blicks auf der wandgroßen Fläche rivalisierender Reize. Alles drängt sich gleichzeitig vor, das eine übertönt das andere, nichts bleibt unberührt. Die unüberschaubare Teilchenschwemme strömt zugleich in alle Richtungen, alles stößt, reißt, drückt, zieht – ein kaum überbietbarer horror vacui. Im Durcheinander sind keine »rettenden« Leitbahnen des Blicks oder unsichtbare Bildachsen mehr aufzuspüren, wie noch in der Komposition 6. Keine übergreifenden Bewegungsverläufe sorgen sichtbar für die Integration des Konträren und kein stabilisierendes Kompositionsschema lässt sich ausfindig machen, obgleich Kandinsky bei der Vorbereitung mit all diesen Möglichkeiten experimentierte. Der irritierenden Hyperaktivität muss der überwältigte Betrachter entgegenwirken. Sein Blick ist wie verstellt, hat gegen den Widerstand des Bildes anzugehen und sich dem »Impulsgewitter« auszusetzen. Man muss aushalten können und sehen wollen! Doch weshalb sollte man den nach kurzer Zeit ermüdeten Augen nicht Erholung gönnen und sich abwenden? Es ist anfänglich die vage Empfindung eines Zusammenhangs, die den Betrachter wie in Komposition 6 anzieht, ohne dass er sich deren Ursache bereits bewusst wäre. Hat sich das Auge an die optische Fülle gewöhnt, vermag es allmählich zu differenzieren und kann verschiedene Zonen unterscheiden. Man beginnt das Gemälde von der Zentrumskonfiguration aus Stück für Stück zu erschließen und spinnt ein fragiles optisches Netz, dessen Maschen zunehmend enger werden. Obwohl mit Ausnahme des Zentrums kaum ein Teil isolierbar ist, gelingt es, Elemente vergleichend zu charakterisieren. Erst in der Differenz zum anderen erweist sich die Eigenart des jeweils Fokussierten. Wichtiger als das Einzelne ist sein Beziehungsnetz, wie Kandinsky ein Jahr zuvor bereits festgestellt hatte. Teil und Umgebung fundieren sich wechselseitig, wobei die Kombinationsmöglichkeiten aufgrund der Überfülle ins Unermessliche steigen. Der schwarze Punkt der Zentrumskonfiguration spielt dabei eine wichtige Rolle. Er ist gleichsam der Antipode des Werkganzen, da er sich deutlich sichtbar als einzelnes, unteilbares und klares Element präsentiert und so im Widerspruch zur Umgebung steht: »Der Punkt ist eine kleine Welt – von allen Seiten mehr oder weniger gleichmäßig abgetrennt und fast aus der Umgebung herausgerissen«. Er ist die ›innerlich knappste Form‹, ›konzentrisch‹, bewegungslos. Also auch hier wie in Komposition 6 die »doppelte Bewegung gleichzeitig: 437 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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1. vom Komplizierten zum Einfachen, 2. umgekehrt allerdings in komprimierter Form«. Die Figur-Grund–Unterscheidung und die Gruppierung, zwei von der modernen Wahrnehmungspsychologie beschriebene Vorgänge, spielen hierbei eine wichtige Rolle. Oft sind sie an denselben Elementen wirksam. Kandinsky legte mehrdeutige Reize an, die zu verschiedenen Wahrnehmungsalternativen passen, wie beispielsweise der schwarze Punkt. Als Loch in der Leinwand und als schwebendes Ding verursacht dieser eine räumliche Inversion. Bei der FigurGrund–Unterscheidung nimmt man die Flächen innerhalb bestimmter Konturen als abgegrenzte Objekte vor einem gemeinsamen Hintergrund wahr, was eine Raumwirkung erzeugt. Die Grenzlinien werden einem bestimmten Flächenteil zugeschlagen, der dann als Figur erscheint. Dunkle Flächen tendieren generell zu Figur, helle zu Grund. Andere Faktoren der Figurbildung sind: geschlossene Grenzlinie, Symmetrie und senkrecht-waagrechte Orientierung. (Abstrakt 191–193) Überblickt man das gesamte Material, so fallen allgemein zwei Dinge auf. 1. operiert Kandinsky schon früh mit einem klar artikulierten geometrischen Bildzentrum. Es unterscheidet die Endfassung deutlich von früheren Werken. 2. erfolgt die Erarbeitung des Gemäldes in wechselseitiger Akzentuierung von Teil und Ganzem. Immer wieder griff Kandinsky Teile heraus, um sie speziell weiterzuentwickeln, bemühte sich dann aber wieder um die Gesamtanlage. Bilder im Bild und Bild wurden so aufeinander abgestimmt, wie es der Autor bereits früher als Kompositionsprinzip postuliert hatte (Abstrakt 184): »So ist die Komposition nichts weiter als eine exakt-gesetzmäßige Organisierung der in Form von Spannungen in den Elementen eingeschlossenen lebendigen Kräfte« (PLF 100). Auf gleiche Weise beginnt hier die Arbeit des Betrachters. Bereits die ersten Studien zu Komposition 7 weisen Punkte auf, aus denen Linien wie Haare herauswachsen. Überblickt man daraufhin die finale Komposition, so entdeckt man Punkte aller Art, die wie Saatkörner aufgehen. Der dunkle Punkt der Zentrumskonfiguration ist markant, im Grund aber nur einer von unzähligen. So wird der Betrachter vom Zentrumspunkt beginnen und seine Ausstrahlung verfolgen. Aber er wird auch auf eine Reihe von weiteren Punkten und ihren Strahlen stoßen. Er wird, wie Kandinsky in der Komposition VI gezeigt hat, die Wege und Bewegungen finden müssen, unterschiedliche Zentren und Bereiche identifizieren, die der Künstler 438 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Zeit und Bewegung

gegangen ist, und so auf seine Weise die Komposition selbst neu zu vollenden. Waldenfels blickt einmal auf das komplexe Geschehen der verschiedenen Elemente, die den Sinn eines Kunstwerkes konstituieren, vor denen der Künstler steht, um den Sinn durch sein Schaffen aufzuzeigen, und vor denen der Betrachter steht, um die Spuren, die der Künstler gelegt hat, zu sehen und zu folgen. Waldenfels verwendet dabei die Begrifflichkeit der »Ikonischen Differenz«. Er geht von einer Anfangsfigur (oder bei Kandinsky einem Anfangs- oder Urpunkt) aus. Damit beginnt die Arbeit. Es scheint, als wollte Waldenfels die Arbeit Kandinskys an der Komposition VII nachvollziehen: »Die minimale Differenz, ohne die wir gar nichts und gar nicht sehen würden, besteht aus einer Figur vor einem Hintergrund. Die weitere Ausdifferenzierung führt zu Farb- und Tonskalen, zu Tastfeldern, Farbniveaus, Vorund Nachbildern und ähnlichen Organisationsweisen. Diese Wahrnehmungssyntax (PW 58) enthält bereits wichtige Elemente einer pikturalen Syntax, nämlich Farbflecken, die sich ausbreiten; Linien, die ihren Weg suchen; Farbkontraste, die ein Flimmern erzeugen; Gestalten, die sich überdecken oder durchschimmern; Bewegungen, die das Sehfeld in Unruhe versetzen; perspektivische Ansichten, die einander ergänzen oder verdrängen; Lichteffekte und Schattenspiele; Flächigkeit, räumliche Tiefe, voluminöse Dichte und ähnliches. Wie es Vorgestalten der Geometrie gibt, so etwa die Rundung des Rades oder das Kugelige des Balles, so können wir ähnlich auch von Vorgestalten der Malerei sprechen. Die ›Ding-Sprache‹ (langagechose] oder ›Vor-Sprache‹ (free langage), die Merleau-Ponty in der sprechenden Sprache am Werk sieht (SU 167 f.), fände ihre Entsprechung in einer bestimmten Art von Ding-Bildern oder Vor-Bildern, die dem sehenden Sehen im Sinne von Max Imdahl innewohnen. Selbst Husserl nähert sich einer solch elementaren Sinnlichkeit, wenn er in seinen Analysen zur passiven Synthesis hinter die gegebene Ordnung zurückgeht und erklärt: ›Ein Urphänomen ist die Unordnung in Form eines Haufens von Flecken in einem sonst einförmigen visuellen Feld‹ (Hua XI, 134)« (Sinne 138).

8.7 Zeit und Bewegung Haldemann spricht von dem Temporalitätscharakter der Bildkonzeption Kandinskys. Er nennt das Zeitverständnis Kandinskys »Bildzeit«. Er versteht darunter keine »dargestellte Zeit, sondern die Zeitlichkeit des Mediums: Bildzeit«; eine grundsätzlich wichtige Unterscheidung (Abstrakt 51–53). 439 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

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Aber in diesem Verständnis von Bild-Zeit tut sich bei Kandinsky ein Bruch mit dem Aristotelischen Begriff der Zeit auf, genauer mit dem Begriffspaar von »Zeit« und »Bewegung«. Haldemann gibt den Zusammenhang von Zeit und Bewegung knapp mit dem Gedanken Kandinskys wieder: »Zeit ist selbst keine Bewegung, sondern die Möglichkeit zur Bewegung. Kreative Zeit kann ohne Bewegung existieren (Shensin)« (Abstrakt 52). Damit ist das Aristotelische Begriffspaar von »Zeit« und »Bewegung« aufgelöst. Es bleibt die Frage, welches Zeitverständnis bei Kandinsky vorherrscht. Man wird mit Haldemann sagen, ein »transitorisches«, welches ohne Bewegung auskommt (Abstrakt 190). 215 Wobei man gestehen muss, dass dieses Verständnis letztlich auch auf Aristoteles zurückgeht, der selbst das Begriffspaar zu Gunsten eines einseitigen Zeitverständnisses aufgelöst hat. Dieser Bruch in der Temporalitätsstruktur Kandinskys wird immer wieder spürbar. Kandinskys Aussagen in verschiedensten Zusammenhängen zur Zeit ergeben ein unklares Bild. Zum einen bemerkt er als Betrachter der Bilder Rembrandts: »ich empfinde, daß seine Bilder lange dauern« (Rb 35). Und auch als Künstler spricht er von der »Temporalitätsstruktur des Bildes«, die er nach Haldemann vielleicht als erster entdeckt habe. Grund dafür sei die ›kontrastive‹ Darstellung, d. h. das Herausarbeiten von Kontrasten bei den Herleitungen der bildnerischen Elemente und Mittel, wodurch sich Vorgänge der Bewegung ergäben (Abstrakt 51). Der Hintergrund dafür dürfte der zentrale Begriff Kandinskys der »Spannung« sei. Denn Bewegung entsteht danach zwischen Spannungs- bzw. Kontrastpolen. Zeit und Bewegung bei Aristoteles Der unterschiedliche Gebrauch von »Spannung« und »Bewegung« macht auf ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis von Klee und Kandinsky aufmerksam. Kandinsky folgt offensichtlich dem aristotelischen Zeitverständnis, das auch bei Alberti führend ist. Die entscheidende Differenz besteht darin, dass Alberti den Vorgang von Zeit nicht wie Klee u. a. dynamisch durch die Bewegung, sondern Aristoteles und Alberti folgend durch das Prinzip der Addition und Sukzession erklärt: »Wenn die Punkte sich in einer Reihe ununter-

215

Zum transitorischen Zeitverständnis s. (Zeit 13, 21).

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brochen aneinanderfügen, bringen sie eine Linie hervor«, liest man im ersten Buch seines Traktats De Pictura. 216 Kennzeichen der aristotelischen Zeit, die für die Zeitperspektive seit Alberti maßgeblich wurde, ist die Sukzession der Zeitpunkte oder Zeitintervalle. Kennzeichen der phänomenologischen Zeit ist die »durée (Dauer)« (Bergson). Transitorische Zeit Es entspricht aber auch nicht dem wirklichen Verständnis von Kandinsky, ihn nur dem aristotelischen Zeitverständnis zuzuordnen. Es begegnen immer wieder Aussagen, die mit der aristotelischen Zeit nicht vereinbar sind. Man wird wie Haldemann vom »transitorischen« Charakter der Zeit bei Kandinsky sprechen können (Abstrakt 190). Was ist transitorisch an der Zeit? Es ist ein Zwischending zwischen aristotelischer Zeit der Sukzession von kleinsten Zeitmomenten und dem Strömen der Zeit. Es wäre an Husserl zu denken. Vielleicht war es auch das Zögern Husserls, von der aristotelischen Zeit ganz Abstand zu nehmen, da er doch von Augustinus der inneren Zeitwahrnehmung der Gegenwart und Dauer angetan war. Vielleicht sah er keine andere Möglichkeit, als aristotelische Zeit und augustinische zu vereinbaren, indem er zwar für Gegenwart und Dauer der Zeit eintrat, dabei aber dem aristotelischen Zeitmaß nicht völlig entkam, sondern Gegenwart und Dauer der Zeit noch in aristotelischen Kategorien aussprechen musste. Das Ergebnis wäre das sogenannte »transitorische« Zeitverständnis: die Zeitmomente sind keine substantiellen Einzelmomente, sondern die Zeitmomente sind Jetzt-Momente, die nach vorn und zurück offen sind, oder wie Husserl formuliert, das Jetzt ist kein statischer Augenblick, sondern ein Moment im Wahrnehmungsfluss von »Retention« und »Protention«, also, um es populärer zu beschreiben, das Zeiterlebnis ist immer ein gegenwärtiges Jetzt, das »nach hinten« (Retention) und »nach vorn« (Protention) schaut. Eindrücklich auch die Formulierung des Psychologen und Philosophen William James, die auch Bergson wie Husserl gerne gebrauchten 217, um die Zeitwahrnehmung anschaulich zu beschreiben:

216 217

Leon Battista Albertis, De Pictura von 143, 7. Zur durée Bergsons bei Husserl (Hua X, 19, 24, 30 ff.).

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»Die praktische erkannte Gegenwart ist keine Messerscheide, sondern ein Sattelrücken mit einer gewissen ihm eigenen Breite, auf den wir uns gesetzt finden und von dem aus wir nach zwei Seiten in die Zeit hineinblicken. Die Einheit des Aufbaus unserer Zeitwahrnehmung ist eine Dauer, die einen Bug und ein Heck – gewissermaßen ein rückwärts- und ein vorwärtsblickendes Ende – hat«. 218

In diesem Sinne mag man auch die Aussagen Kandinskys zur Zeit verstehen. Kandinsky gibt »Bewegung« mit »Spannung« wieder. Es ist zu erwarten, dass dieses Verständnis auch die Kunsttheorie Kandinskys und sein Zeitverständnis prägt. Spannung ist nach ihm »verdichtete Zeit«. Spannung ist Widerstand und Kontrast, damit kommt es zu einem Wechsel von Sukzession und Simultaneität. Die Sukzession wird führend, die Simultaneität wird zwar noch erwähnt, aber nicht mehr prägend (Abstrakt 51–52). In diesem Sinn ist etwa die Entstehung der Linie aus dem Punkt zu lesen: »Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes […]. Sie ist aus der Bewegung entstanden – und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht. Die Linie ist der größte Gegensatz zum malerischen Urelement – zum Punkt […]« (PLF 57).

Punkt und Linie sind getrennte metaphysische Entitäten, Wesen oder Substanzen. Die Linie ergibt sich aus der Vernichtung des Punktes. Bei Kandinsky werden wie bei der Bewegung vom Punkt zur Linie auch andere Bewegungsarten ›substantiviert‹ (Abstrakt 26). Kandinsky fügt dem hinzu, dass auf diese Weise »der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht wird«. Grundlage ist eine klare Reihenfolge oder Sukzession; sie geht vom eigenständigen Punkt zur eigenständigen Linie über. Für Klee hingegen ist die Ursache für die Entstehung einer Linie »der Punkt, der sich verschiebt«. Für Klee gibt es diesen Sprung vom Statischen ins Dynamische nicht. ›Bewegung und damit Dynamik ist Norm‹. Nach Klee trägt der Punkt das schöpferische Potenzial (zur Linie und damit zum Zeitverlauf) bereits in sich. Auf der ersten Seite des Pädagogischen Skizzenbuchs wird der Punkt als »Agens« und

218 James, William (1886), »Wahrnehmung der Zeit«, in: Zimmerli, Walter Ch.; Sandbothe, Mike (Hrg), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, 1993, 31 f.

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somit als handelnde Kraft und tätiges Prinzip definiert (PS 1 fig.1). (Linie 24) Während Kandinsky die Zeit nach Aristoteles hier offensichtlich statisch versteht, lässt Klee die Zeit sofort dynamisch aus der Bewegung hervorgehen. Kandinskys Zeitverständnis enthält weiterhin Spannungen. Einmal entspricht sein Ansatz offensichtlich dem aristotelischen Verständnis, doch muss er sich dem dynamischen Verständnis öffnen. Dazu einige Beispiele. Kandinsky schildert immer wieder das latente Veränderungspotential einzelner Teile des Bewegungsverlaufs, er spricht von der »Übergängigkeit« 219. Übergängigkeit impliziert einen zeitlichen Verlauf. So ist eine einfache Gerade nicht nur eine Konfiguration, sondern ebenso die »Spur des sich bewegenden Punktes«; ein Winkel oder eine Kurve ist auch eine Schwelle zwischen Gerade und Fläche; ein Quadrat ist ein Spannungsfeld zwischen Begrenzungslinien mit unterschiedlichen Widerstandskräften; ein Kreis ist Linie und Fläche mit zugleich ex- und konzentrischer Spannung; eine Gebogene Resultat der Einwirkung verschieden gerichteter und ungleich starker Kräfte auf eine Gerade; eine helle Fläche ebenso ein ›illusorischer Raum‹ ; eine Form auch ein schwebendes Ding mit bestimmten Bewegungseigenschaften und einem Gewicht etc. PLF enthält eine Fülle entsprechender Beobachtungen. (Abstrakt 52–53) Ebenso besitzen Farben räumliche Eigenschaften, neigen aber zu Nähe oder Tiefe oder können als Mischtöne am »Übergang« von einer Komponente zur anderen gesehen werden. Dieses Potential an Übergängigkeit im Bereich des Mehrdeutigen gibt den Elementen Zeitlichkeit. Den Zusammenhang erörterte Kandinsky selbst nicht. Ganz offensichtlich wird die innere Zeitlichkeit bei den Vorarbeiten und Improvisationen der Kompositionen VI und VII (s. oben). Kandinsky beschreibt selbst sehr genau, was die Zeit für ihn bedeutete, um die richtigen Schritte bis zur Vollendung des Werkes zu tun. In den Skizzen notiert Kandinsky selbst sorgfältig die Bewegungsdiagramme, um die Punktzentren zu verbinden und besondere Bereiche zu umschreiben. Diese Bewegungsdiagramme sind Zeitdiagramme, die Auskunft über die Zeiten festhalten, wann eine Bewegung einsetzt und wann sie ans Ziel kommt. Zeit ist der innere Motor der Bewegung und der Auslöser sich aufbauender Spannungen.

219

(Abstrakt 52–53); (E 41, 61); (ÜG 78).

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Kandinsky

Das Wörtchen »zu« im Titel der Schrift PLF Punkt und Linie zu Fläche weist auf die Bedeutung dieser Verhältniskategorie hin, die als Kontrast für die dynamische Qualität der Elemente sorgt. Kandinsky zeigt zudem, dass Raum und Zeit keine unabhängigen Kategorien sind. Betrachtet man dieselbe Konfiguration als Teil der Grundfläche oder als Bestandteil eines virtuellen Raumes, so ändert sich ihre Zeitstruktur: je tiefer der Raum, desto länger die Zeitdauer? Raum erfordert Zeit oder umgekehrt: Zeit gibt Raum frei (PLF 167Anm.). Ein Bild ist demnach kein bloß Vorhandenes, sondern ebenso ein sich Veränderndes. Seine Einheit ist in der Verschränkung von Simultaneität und Sukzession temporal bestimmt. Kandinsky steigerte schließlich die implizite Zeitlichkeit der Werke und ersetzte die konventionelle »Objektästhetik« durch eine »Prozessästhetik«. Auf diese Weise kommen Musik und Tanz, die Zeitkünste, in seine Kunst. (Abstrakt 52–53) Kandinsky fügt seinen theoretischen Referaten in PLF immer wieder Nebenbemerkungen über das implizite Zeitverständnis an. Es fällt besonders die Passage über die Modalitäten unterschiedlicher Zeiten bei der Behandlung der »Linie« auf. Die »Linie« ist ja das Paradigma für das jeweilige Zeitverständnis schlechthin, ob die Linie dynamisch vielfältig aus dem Punkt als agens hervorgeht oder monolinear aus Zeitpunkten sukzessiv aneinander gereiht wird. Die Ausführungen Kandinskys dazu sind interessant. Das Ergebnis bleibt aber offen. In der Linie sind auch nach Kandinsky die Möglichkeiten der Zeitverwendung sehr mannigfaltig. Das Element der Zeit ist bei der Linie besser erkennbar, als das im Punkt der Fall ist, denn die Länge (auch der Linie) prägt den Zeitbegriff. Kandinsky unterscheidet bei den Linien etwa die ›Geraden‹ und die ›Gebogenen‹. Das Folgen einer ›Geraden‹ ist vom Folgen einer ›Gebogenen‹ zeitlich verschieden, wenn die Längen auch dieselben sind; je bewegter die Gebogene ist, desto mehr dehnt sie sich zeitlich aus. Oder die Verwendung der Zeit in der ›Horizontalen‹ und in der ›Vertikalen‹ ist auch bei gleichen Längen innerlich anders gefärbt. Es handelt sich vielleicht in Wirklichkeit um verschiedene Längen, was jedenfalls psychologisch erklärbar wäre. Also darf das Zeitelement in der rein linearen Komposition nicht übersehen werden und muss in der Kompositionslehre einer genauen Überprüfung unterzogen werden (PLF 106). Vor allem macht die Betrachtung der »Lebens«-Zeit auf ein differenziertes Verständnis von Zeit aufmerksam. »Leben« ist nicht nur 444 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Zeit und Bewegung

nach dem aristotelisch physikalischen Maß der Zeit zu messen, sondern als »Dauer«. Andernfalls zerfällt die Einheit des Lebens. Kandinsky behandelt deshalb die Frage nach dem Begriff der Zeit für das Leben (PLF 150 f.). 220 Das Ergebnis seiner Darstellung ist und damit endet PLF: »1. Leben finden 2. Seine Pulsierung vernehmbar machen, und 3. Das Gesetzmäßige im Lebenden festzustellen. (Aber letztlich ist Zeit nicht zu bestimmen)« (PLF 167 Anm.). Zeit in Musik und Malerei Kandinsky gibt »Bewegung« mit »Spannung« wieder. Es ist zu erwarten, dass dieses Verständnis auch die Kunsttheorie Kandinskys prägt. Spannung ist Widerstand und Kontrast, damit kommt es zu einem Wechsel von Sukzession und Simultaneität, wie wir es für das Verständnis von Kunst und Musik bei Klee und Boulez gesehen haben. Sukzession, das Nacheinander, wird demnach führend werden, während die Simultaneität kaum bzw. am Ende auftritt. Haldemann spricht von »Objektästhetik« im Gegensatz zur »Prozessästhetik« (Abstrakt 53) (PLF 58 31). Dass dies für Kandinsky jedoch nicht ganz zutrifft, wie es sich bei dem Verhältnis von Statik und Dynamik (s. oben) gezeigt hat, macht auf einen gewissen Bruch in Kandinskys Kunsttheorie aufmerksam. Wir können diese Vermutung in einer Betrachtung der theoretischen Äußerungen Kandinskys im Vergleich mit denen Klees verfolgen. Wir haben den Einfluss Klees auf die Musik Boulez eigens behandelt und dabei auf das Zeitverständnis beider aufmerksam gemacht, das Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede aufwies, gerade was die Zuordnung von Sukzession und Simultaneität betraf. Auch Kandinsky äußert sich zum Verhältnis von Kunst und Musik. Musik ist bei Kandinsky ein eigenes Thema. Dazu nur seine allgemeine Charakteristik zum Verhältnis von Kunst und Musik. Kandinsky schreibt: »Nebenbei möchte ich sehr unterstreichen, daß der ›organische Unterschied‹ von Zeit und Fläche im Allgemeinen übertrieben wird. Der Komponist nimmt den Zuhörer bei der Hand, läßt ihn in sein musikalisches Werk eindringen, führt ihn Schritt für Schritt und verläßt ihn, wenn ›das Stück‹ zu Ende ist. Die Führung ist vollkommen. Sie ist unvollkommen in der Malerei. Aber! […] Der Maler kann sich ihrer ebenfalls bedienen. Er kann, wenn er will, den Beschauer zwingen, ›hier‹ anzufangen, einen ge220

Zeit (PLF 32–34), (PLF 106–107).

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Kandinsky

nauen Weg in seinem Bild zu verfolgen und es ›dort‹ zu verlassen. Das sind außerordentlich komplizierte Fragen, noch sehr wenig bekannt und vor allem wenig abgeschlossen. Ich wollte nur sagen, daß die Verwandtschaft zwischen der Malerei und der Musik offensichtlich ist […]« (E 208).

Die Ausführungen erinnern an Klees Einlassungen (s. oben BG II.21) und bleiben ohne Auflösung. In diesem Zusammenhang sind Kandinskys Überlegungen zur Rolle des Zeitfaktors für die optische Wahrnehmung und zusammenfassend für seine Bildkonzeption ähnlich unaufgelöst. Die Einsicht, daß das Registrieren von Form an zeitliche Abläufe gebunden ist, erweitert das ästhetische Verständnis erheblich. Zeit bezieht sich nicht auf eine im Bild thematisierte Handlung, sondern auf die Bildstruktur selbst: »Die scheinbar klare und berechtigte Teilung: Malerei – Raum (Fläche), Musik – Zeit ist bei näherer (wenn auch bis jetzt flüchtiger) Untersuchung plötzlich zweifelhaft geworden«, konstatiert Kandinsky in PLF, und fügt in einer Fußnote hinzu: »Bei meinem definitiven Übergang zu abstrakter Kunst ist mir das Zeitelement in der Malerei unbestreitbar klar geworden, und ich habe es seitdem praktisch verwendet« (PLF 34).

Allerdings bricht Kandinskys prägendes Verständnis der aristotelischen Zeit immer wieder durch. Hier nur an einem folgereichen Beispiel »In der Malerei gilt die zeichnerische Form der Ruhe. Auch die Farbe kann Ruhe oder Spannung sein. Kriterium ist unser Gefühl […]. Eine Farbe selbst, ihre Anordnung als auch ihre Kolorierung können in der Malerei Bewegung erzeugen. Eine solche gleichzeitige Einwirkung verschiedener Formen gibt es in der Musik nicht«. Dies besagt im Grunde, dass ein Element vieldeutig sein kann, je nach Form, Farbe und Beeinflussung durch andere zugleich Ruhe und Bewegung auszudrücken vermag. Shenshin präzisierte Kandinskys Gedanken: »Zeit ist selbst keine Bewegung, sondern die Möglichkeit zur Bewegung. Kreative Zeit kann ohne Bewegung existieren«. (Abstrakt 52) Die Farbe oder das Bild kann »Ruhe« oder »Spannung« bewirken. Statik und Dynamik stehen nebeneinander. Es ist das aristotelische Paradigma. In Klees Konzept ist diese Unterscheidung nicht möglich. Der umfassende Begriff der »Bewegung« enthält die Momente von Ruhe bzw. Spannung. (Abstrakt 51). Wir haben bei Klee festgestellt, dass Simultaneität und Sukzession der Zeitlichkeit gemeinsame Kennzeichnen von Musik und Ma446 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Zeit und Bewegung

lerei sind, aber auch Unterschiede enthalten. 1908/09 bezeichnete Kandinsky die Simultaneität als wesentlichen Unterschied zwischen Malerei und Musik, um jedoch 1911 ergänzend festzustellen: »Im gewissen Sinne kann die Musik die Ausdehnung in der Zeit vermeiden und die Malerei – diese Ausdehnung anwenden. Wie gesagt haben alle Behauptungen einen nur relativen Wert« (ÜG 38 Anm. 1). 221 Eine zwar erstaunliche und historisch bedeutsame Einsicht. Die klassische Trennung in Raum- und Zeitkünste, die sich einseitig an der Faktizität der Medien orientiert und die Wahrnehmung ausgeklammert hatte, erwies sich als überholt. Aber die Unbestimmtheit der Zeit für Kunst und Musik ist deutlich. Die Gemeinsamkeit und den Unterschied zwischen Kandinsky und Klee kann man in etwa so zusammenfassen. Damit ist aber auch das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung zum Verhältnis von »Zeit« und »Bewegung« zu formulieren: Mit der Neufassung der »Bewegung« ist auch eine Neufassung der »Zeit« verbunden. 222 Man kann wie vom »Bild-Raum« von der »Bild-Zeit« (Zeit 6) sprechen. Und wie man von dem »Bild-Sinn« spricht, so kann man auch von einem »Zeit-Sinn« sprechen (Eikon 108–109); (OZ 138, 138). 223 »Bild-Sinn« meint das Bildereignis, meint das Sinngeschehen in statu nascendi des Bildes (PW 18). »Zeit-Sinn« meint den zeitlichen Charakter des Bildereignisses, meint die zeitliche Wahrnehmung des Entstehens des Bildes, die Wahrnehmung des status nascendi. Es sei erinnert an das Zwillingspaar »Zeit« und »Bewegung« bei Aristoteles. Aristoteles geht von dem ›aristotelischen‹ Zeitverständnis aus, um die Bewegung zu messen. Nimmt man aber die Dualität von »Bewegung« und »Zeit« ernst, wie wir es uns vorgenommen haben, dann kann man auch von der »Bewegung« ausgehen, um die »Zeit« zu messen. »Bewegung« bringt »Bild-Raum« und »Bild-Zeit« hervor; sie zeigt den »BildSinn« auf, der aus der räumlichen Darstellung und dem »Zeit-Sinn« hervorgeht.

(Abstrakt 51 Anm. 225). (Eikon 149 ff., 273–286). 223 Vgl. Zeit 1–24; Eikon 279; Abstrakt 51; Dietmann, Lorenz (1987), »Bildrhythmik und Zeitgestaltung in der Malerei«, in: Paflik, Hannelore (Hrsg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim, 89–124. 221 222

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Kandinsky

Insgesamt kann man sagen, dass unterschiedliche Verständnisse von »Zeit« und »Bewegung« nicht nur grundsätzlich Wissenschaft und Philosophie, sondern auch Kunst beeinflussen.

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Anhang

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Abkürzungen

Abstrakt

AG AR AS I-V

Badt BF

BG

Bild Boehm Böhme Boulez

DG 1–2

Halemann, Matthias (2001), Kandinskys Abstraktion. Die Entstehung und Transformation seines Bildkonzeptes, München [Abstrakt]. Merleau-Ponty, Maurice (2003), Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg [AG]. Waldenfels, Bernhard (1994), Antwortregister, Frankfurt [AR]. Hemmerle, Klaus, Ausgewählte Schriften, 5 Bde., hrg. v. Reinhard Feiter in Zusammenarbeit mit Michael Albus, Reinhard Göllner, Heinz-Jürgen Görtz, Hanspeter Heinz, Klaus Kienzler, Richard Lorenz, Wolfgang Schneider, Bernd Trocholepczy, Anton E. van Hooff. Freiburg 1995–1996 [AS I–V]. Badt, Kurt (1956), Die Kunst Cézannes, München [Badt]. Klee, Paul (1921–1922), »Beiträge zur bildnerischen Formlehre, Vorlesungsmanuskripte, 1921–1922«, in: Zentrum Paul Klee (ZPK) [BF]. Klee, Paul (1922–1930), »Bildnerische Gestaltungslehre, Vorlesungsmanuskripte«, 1922–1930, in: Zentrum Paul Klee (ZPK) [BG]. Boehm, Gottfried (Hrg.) (1994), Was ist ein Bild? München [Bild] Boehm, Gottfried (2007), Wie Bilder Sinn erzeugen – Die Macht des Zeigens, Berlin [Boehm]. Böhme, Gernot (2001), Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München [Böhme]. Boulez, Pierre (1989), Le pays fertile. Paul Klee. Texte préparé et présenté par Paule Thévenin, Paris [Boulez]. Waldenfels, Bernhard (1995), Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt [DG].

451 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Abkürzungen

DLF

Drei

E Eikon

EV

GA Geo

Giotto GN GS

Deutschlandfunk Kultur, »Bilder, die uns anschauen. Pauls Cézanne und die Emphase des Sehens«, mit Beiträgen von Gottfried Boehm und Robert Kudielka, in: Sendung vom 11. 10. 2006 [https://www.deutschlandfunkkultur.de/bilderdie-uns-anschau en.984.de. html?dram:article_id=153340] (Leider war es mir nicht möglich, weder von der Rundfunkanstalt noch von den Autoren Manuskripte zu bekommen, deshalb der Link). [DLF] Keller Tschirren, Marianne (2012), Dreieck, Kreis und Kugel. Farbenordnungen im Unterricht von Paul Klee am Bauhaus, Diss. Universität Bern, Bern [Drei]. Kandinsky, Wassily (1955), Essays über Kunst und Künstler, hrg. von Max Bill, Stuttgart [E]. Boehm, Gottfried (2017), Die Sichtbarkeit der Zeit. Studien zum Bild in der Moderne (Eikones), hrsg. v. Ralph Ubl, Paderborn [Eikon]. Klee, Paul (1928), »exakte versuche im Bereich der Kunst«, in: Spiller1, a. a. O., 69–71 [EV]. Heidegger, Martin, Gesamtausgabe, Frankfurt 1975 ff. Bätschmann, Oskar (2002), »Geometrie oder Bewegung. Die Grundlegung der Malerei durch Paul Klee und Wassily Kandinsky«, in: Jahreshefte der Kunstakademie Düsseldorf. Sonderband 5.1, Düsseldorf, 69–112 [Geo]. Imdahl, Max (1980), Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München [Giotto]. Waldenfels, Bernhard (1998), Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt [GN]. Imdahl, Max (1996), Gesammelte Schrifte, Bd. 1–3, hrg. und eingeleitet von Gottfried Boehm, Bamberg [GS].

Handeln

Feiter, Reinhard (2002), Antwortendes Handeln. Praktische Theologie als kontextuelle Theologie, Düsseldorf [Handeln].

Ikonik

Imdahl, Max (1994), »Ikonik. Bilder und ihre Anschauung«, in: Boehm, Gottfried (Hrg.): Was ist ein Bild? München, 300– 324 [Ikonik].

Jena

Klee, Paul (1924), Vortrag gehalten aus Anlass einer Bilderausstellung im Kunstverein zu Jena am 26. Januar 1924, in: Spiller1, a. a. O., 81–95 [Jena].

452 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Abkürzungen

JS

Levinas, Emmanuel (1992), Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Aus d. Franz. v. Thomas Wiemer, Freiburg [JS].

KSA

Nietzsche, Friedrich (1972), Werke in drei Bänden, hrg. v. Karl Schlechta, München [KSA]. Klee, Paul (1987), Kunst-Lehre. Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen Formlehre, hrg. von Günther Regel, Leipzig 1987 [KL]. Dittmann, Lorenz (2005), Die Kunst Cézannes. Farbe-Rhythmus-Symbolik, Köln [Kunst].

KL

Kunst

Linie

Logos

Lüthy

Marx Mont

Ordo

OZ

Plato PLF

PS

Bonnefoit, Régine (2009), Die Linientheorien von Paul Klee, Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 76, Petersberg [Linie]. Boehm, Gottfried (2001–2002), »Der stumme Logos. Elemente einer Bildwissenschaft«. In: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Institute for Advanced Study, Berlin, 188–208 [Logos]. Lüthy, Michael (2006), »Subjektivität und Medialität bei Cézanne – mit Vorbemerkungen zu Dürer, Kersting und Manet«, in: ders. (Hrg.), Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Zürich [Lüthy]. Marx, Bernhard (2007), Balancieren im Zwischen. Zwischenreiche bei Paul Klee, Würzburg [Marx]. Boehm, Gottfried (1988), Paul Cézanne: Montagne SainteVictoire, Frankfurt a. M. [Mont]. Waldenfels, Bernhard (1994), »Ordnungen des Sichtbaren Zum Gedenken an Max Imdahl«, in: Boehm, Gottfried (Hrg.): Was ist ein Bild. München [Ordo], s. auch Schwellen 102–124 [Ordo]. Waldenfels, Bernhard (2009), Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt [OZ]. Waldenfels, Bernhard (2017), Platon: Zwischen Logos und Pathos, Berlin [Plato]. Kandinsky, Wassily (1926), Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente. Bauhausbücher 9, München [PLF]. Klee, Paul (1925), Pädagogisches Skizzenbuch, Bauhausbücher, Band 2, München [PS].

453 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Abkürzungen

PW

Merleau-Ponty, Maurice (1966), Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. und mit einem Vorw. versehen von Rudolf Boehm. Berlin [PW].

Rb

Kandinsky, Wassily (1913), »Rückblicke«, in: Kandinsky 1901–1913. Der Sturm. Berlin [Rb].

Schmidt

Schmidt, Stefan W. (2011), »… eine kleine Reise in das Land der besseren Erkenntnis«. Paul Klee und der Begriff des »bildnerischen Denkens«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 56 (2011), 1–22 (Internet) bzw. 275–296 [Schmidt]. Eggelhöfer, Fabienne (2012), Paul Klees Lehre vom Schöpferischen, Bern [Schöpfer]. Waldenfels, Bernhard (1999), Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt [Schwellen]. Waldenfels, Bernhard (2000), Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Hrsg. von R. Giuliani, Frankfurt [Selbst]. Waldenfels, Bernhard (1990), Der Stachel des Fremden, Frankfurt [SF]. Klee, Paul (1916), »Schöpferische Konfession«, in: Spiller1, 76–80 [SK]. Waldenfels, Bernhard (2010), Sinne und Künste im Wechselspiel: Modi ästhetischer Erfahrung [Sinne]. Klee, Paul (1956), Jürg Spiller (Hrg.), Paul Klee. Das bildnerische Denken. Form- und Gestaltungslehre, Bd. 1, Basel/ Stuttgart 1956 [Spiller1]. Klee, Paul (1970), Jürg Spiller (Hrg.), Paul Klee. Unendliche Naturgeschichte. Prinzipielle Ordnung der bildnerischen Mittel verbunden mit Naturstudium und konstruktive Kompositionswege. Form- und Gestaltungslehre, Bd. 2, Basel/ Stuttgart 1970 [Spiller2]. Rombach, Heinrich (1987), Strukturanthropologie. »Der menschliche Mensch«, Freiburg [StA]. Rombach, Heinrich (21988), Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg [StO]. Merleau-Ponty, Maurice (1986), Das Sichtbare und das Unsichtbare, München [SU].

Schöpfer Schwellen Selbst

SF SK Sinne Spiller1

Spiller2

StA StO SU

Tb Theater

Klee, Paul (1957), Tagebücher 1898–1918 [Tb]. Haldemann, Matthias (2009), »Theater des Bildes. Kandinskys Abstraktion der Abstraktion«, in: Kandinsky. Absolut

454 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Abkürzungen

Abstrakt. Ausstellung im Lenbachhaus 2008, München [Theater]. ÜF

ÜG

Wege Wissen

WN

Zeit

Zweifel

Kandinsky, Wassily (1912), »Über die Formfrage«, in: ders. Essays, a. a. O., und in: Kandinsky, Wassily; Marc, Franz (Hrg.), Der Blaue Reiter (1912), München, 132–186 [ÜF]. Kandinsky, Wassily (1912), Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei, München [ÜG]. Haftmann, Werner (1950), Paul Klee. Wege bildnerischen Denkens, München [Wege]. Waldenfels, Bernhard (2012), Phänomenologie und Wissenschaft. Vortrag zur Ehrenpromotion am 8. 02. 2012, Freiburg [Wissen]. Klee, Paul (), »Wege des Naturstudiums«, in: Spiller1, a. a. O., 63–67 [WN]. Boehm, Gottfried (1987), »Bild und Zeit«, in: Paflik, Hannelore (Hrsg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim, 1–25 [Zeit]. Merleau-Ponty (1945), Der Zweifel Cézannes, in: AG 3–28.

455 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Literatur

Alberti, Leon Battista (1435), Opera inedita et pauca separatem impressa, hrg. von Hieronymo Mancini, Florenz 1890. Alberti, Leon Battista, De Statua, De Pictura, elementa Picturae – Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von O. Bätschmann und Ch. Schäublin, Darmstadt 2000. Badt, Kurt (1956), Die Kunst Cézannes, München [Badt]. Bätschmann, Oskar (2002), »Geometrie oder Bewegung. Die Grundlegung der Malerei durch Paul Klee und Wassily Kandinsky«, in: Jahreshefte der Kunstakademie Düsseldorf. Sonderband 5.1, Düsseldorf, 69–112. [Geo]. Bätschmann, Oskar (2000), »Grammatik der Bewegung. Paul Klees Lehre am Bauhaus«, in: Bausenhart, Guido; Böhnke, Michael; Lorenz, Dominik (Hrg.) (2013), Theologie und Phänomenologie im Gespräch. Impulse von Bernhard Welte und Klaus Hemmerle, Freiburg. Becks-Malorny, Ulrike (1995), Paul Cézanne, Wegbereiter der Moderne, Köln. Boehm, Gottfried (Hrg.) (1985), Modernität und Tradition: Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München. Boehm, Gottfried (1987), »Bild und Zeit«, in: Paflik, Hannelore (Hrsg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim, 1–25 [Zeit]. Boehm, Gottfried (1988), Paul Cézanne: Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt a. M. [Mont]. Boehm, Gottfried (Hrg.) (1994), Was ist ein Bild? München [Bild]. Boehm, Gottfried (2001–2002), »Der stumme Logos. Elemente einer Bildwissenschaft«. In: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Institute for Advanced Study, Berlin, 188–208 [Logos]. Boehm, Gottfried (2007), Wie Bilder Sinn erzeugen – Die Macht des Zeigens, Berlin [Boehm].

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Literatur

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Abbildungsverzeichnis

Copyright: Bilder von Cézanne, Klee, Kandinsky sind in zeno.org und in commens.wikimedia.org »gemeinfrei« Abb. 1, S. 465, Paul Klee: Der L=Platz im Bau, 1923. Düsseldorf, Kunstsammlung NRW Abb. 2, S. 109, Schema: Fächer der Responsivität, nach Bernhard Waldenfels, in: AR 200; Feiter, Handeln 213 Abb. 3, S. 117, Schema der drei Gleichnisse Sonne, Linie und Höhle (nach Egon Gottwein) Abb. 4, S. 150, Paul Cézanne: »Stillleben mit Früchtekorb« 1886; aus: Loran, Erle (1963) Abb. 5, S. 466, Paul Cézanne: La Montagne Sainte-Victoire, 1904– 1906, Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum Abb. 6, S. 467, Paul Cézanne: Stillleben mit Äpfeln und Orangen, 1895–1900, Musée d’Orsay, Paris Abb. 7, S. 468, Paul Cézanne: Madame mit gestreiftem Rock, 1877, Boston, Museum of Fine Arts Abb. 8, S. 469, Paul Klee: Schema zu »Wege des Naturstudiums« (1923), aus: WN 67 Abb. 9, S. 469, Paul Klee: Erhabene Seite, 1923 Abb. 10, S. 277, Paul Klee: Haus 1925, aus: (PS Abb. 44), s. Boehm 121 Abb. 11, S. 304, Paul Klee: Schemazeichnung eines Hauses, aus: Boehm 123–127 Abb. 12, S. 470, Paul Klee: Kristall-Stufung 1921 Aquarell auf Papier; Kunstmuseum Basel Abb. 13, S. 471, Paul Klee: Das Tor zur Tiefe, 1936, Zentrum Paul Klee, Bern, Abb. 14, S. 472, Paul Klee: Pflanzenwachstum, 1921, Zentrum Paul Klee, Bern Abb. 15, S. 473, Paul Klee: Fuge in Rot, Zentrum Paul Klee, Bern 463 https://doi.org/10.5771/9783495823798 .

Abbildungsverzeichnis

Abb. 16, S. 361, Bach, Übersetzung der beiden Anfangstakte von Bachs dreistimmigem Adagio aus der sechsten Sonate in G-Dur für Violine und Cembalo in Linien, 16. Januar 1922 (BF 52 Anhang) Abb. 17, S. 474, Paul Klee: Haupt- und Nebenwege, 1929, Museum Ludwig Köln Abb. 18, S. 475, Wassily Kandinsky: Sintflut Hinterglas, verschollen, s. Abstrakt 168 Abb. 19, S. 475, Wassily Kandinsky: Komposition VI (Vorzeichnung) (Abstrakt 175 Abb. 23) Abb. 20, S. 476, Wassily Kandinsky: Komposition VI, 1913, Eremitage St. Petersburg Abb. 21, S. 476, Wassily Kandinsky: Komposition VII, Tretjakow Galerie, Moskau Abb. 22, S. 477, Wassily Kandinsky: Erstes Abstraktes, 1910, Centre Pompidou, Paris Abb. 23, S. 477, Wassily Kandinsky: Quadrate mit konzentrischen Kreisen, Lenbachhaus München Abb. 24, S. 478, Wassily Kandinsky: Komposition VII Entwurf 2, Lenbachhaus München

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Abbildungen

Abb. 1: Paul Klee, Der L=Platz im Bau, 1923. Düsseldorf, Kunstsammlung NRW (s. S. 21)

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Abbildungen

Abb. 5: Paul Cézanne: La Montagne Sainte-Victoire, 1906, Kunstmuseum Basel 1 (s. S. 171)

1

(Mont); (Imdahl); (Berg 57 f.).

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Abbildungen

Abb. 6: Paul Cézanne: Stillleben mit Äpfeln und Orangen, 1895–1900, Musée d’Orsay, Paris (s. S. 191)

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Abbildungen

Abb. 7: Madame im gestreiften Rock, 1877, Boston, Museum of Fine Arts (s. S. 195)

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Abbildungen

Abb. 8: Paul Klee, Schema zu »Wege des Naturstudiums« (1923) (s. S. 243)

Abb. 9: Paul Klee: Erhabene Seite, 1923 2 (s. S. 259) Thürmann, Felix (1981), Überlegungen zur Bedeutungskonstitution in der Malerei. Am Beispiel von Paul Klees Bauhauskarte ›Die erhabene Seite‹, in: H. Sturm, A. Eschbach (Hrsg.), Ästhetik und Semiotik, Tübingen, 59–70; (Spiller1 210); (Bauhaus 358–359).

2

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Abbildungen

Abb. 12: »Kristall-Stufung«, 1921, Aquarell auf Papier; Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum (s. S. 320)

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Abbildungen

Abb. 13: Das Tor zur Tiefe, 1936, Zentrum Paul Klee Bern 3 (s. S. 338)

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S. (Schmidt 18); Klee, Konstruktion, a. a. O., 392–393; auch (BF 109).

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Abbildungen

Abb. 14: Paul Klee, Pflanzenwachstum, Ölgemälde 1921 (s. S. 358)

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Abbildungen

Abb. 15: Fuge in Rot, Zentrum Paul Klee, Bern 4 (s. S. 359)

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(Boulez 88–97); (Spiller1 490).

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Abbildungen

Abb. 17: Haupt- und Nebenwege, 1929, Museum Ludwig Köln (s. S. 363)

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Abbildungen

Abb. 18: Komposition VI Sintflut, 1912, Hinterglas, verschollen (s. S. 428)

Abb. 19: Komposition VI (Vorzeichnung) (Abstrakt 175) (s. S. 430)

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Abbildungen

Abb. 20: Wassily Kandinsky: Komposition VI, 1913, Eremitage St. Petersburg (s. S. 431)

Abb. 21: Komposition VII, Tretjakow Galerie, Moskau (s. S. 432, 436)

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Abbildungen

Abb. 22: Erstes Abstraktes Aquarell, 1910? (s. S. 433)

Abb. 23: Quadrate mit konzentrischen Kreisen, Lenbachhaus München (s. S. 435)

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Abbildungen

Abb. 24: Komposition VII Entwurf 2 (s. S. 435)

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