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German Pages 259 Year 2008
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Berndt Hamm (Erlangen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Volker Leppin (Jena), Jürgen Miethke (Heidelberg) Heinz Schilling (Berlin)
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Catalogus und Centurien Interdisziplinäre Studien zu Matthias Flacius und den Magdeburger Centurien
Herausgegeben von
Arno Mentzel-Reuters und Martina Hartmann
Mohr Siebeck
Arno Mentzel-Reuters ist Leiter der Bibliothek und des Archivs der Monumenta Germaniae Historica in München. Martina Hartmann ist apl. Professorin der Universität Heidelberg.
ISBN 978-3-16-149609-7 / eISBN 978-3-16-158582-1 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Der vorliegende Band bildet den Abschluß einer mehrjährigen Beschäftigung mit den Magdeburger Centurien und mit Matthias Flacius Illyricus. Eine zunächst in der Universitätsbibliothek Magdeburg und dann im Historicum der Ludwig-Maximilians-Universität München gezeigte Ausstellung über „Die Magdeburger Centurien und die Anfänge der quellenbezogenen Geschichtsforschung“ im Herbst und Winter 2005/2006, die hauptsächlich aus den Beständen der Bibliothek der Monumenta Germaniae Historica (München) bestritten wurde, gehörte dazu, genau wie die vollständige Digitalisierung des Liber de scriptoribus ecclesiasticis des Trithemius und der dreizehn im Druck erschienenen Centurien im Rahmen der „Quellen zur spätmittelalterlichen Geistesgeschichte“ in den Webseiten der Bibliothek der Monumenta Germaniae Historica. Die Münchener Ausstellung wurde eröffnet mit einem kleinen interdisziplinären Symposion, das am 11. Februar 2006 in den Räumen des Münchner Historicum stattfand. Für Unterstützung bei der Durchführung der Münchner Ausstellung wie des Colloquiums möchten wir dem Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, Herrn Prof. Dr. Rudolf Schieffer, sowie Frau Prof. Dr. Claudia Märtl (LMU München) danken. Dank gebührt auch den Teilnehmern des Symposions für ihre Anregungen und Kritik sowie der Universitätsbibliothek München für die Bereitstellung ihrer Exemplare der Magdeburger Centurien für die Digitalisierung. Neben den beiden letzten, von den Herausgebern beigesteuerten Beiträgen wurden jene von Matthias Pohlig und Ronald Diener eigens für diesen Band angefertigt. Die anderen sind teilweise erheblich erweiterte Bearbeitungen der Vorträge des Münchner Symposions. Es ist uns eine besondere Freude, daß der so entstandene Band einen quellenbezogenen Schwerpunkt aufweist. Neben Quellen zu Matthias Flacius selbst (Fuchs) und den entscheidenen Monaten in der Genese der Centurien (Diener) beweisen Flacius und seine Mitstreiter einmal mehr ihre immense Bedeutung für die Erforschung mittelalterlicher Texte: Es konnte eine bislang übersehene Schrift des Erzbischofs Hinkmars von Reims (45– 882) aus den Materialien der Centuriatoren wiedergewonnen (Hartmann II) und eine kirchenkritische Dichtung des 15. Jahrhunderts neu ediert werden
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Vorwort
(Orth). Außerdem wird die Rolle des Johannes Trithemius als Vermittler zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit durch mehrere Beiträge in besonderer Weise verdeutlicht (Pohlig, Hellgardt, Mentzel-Reuters I). Wir hoffen, daß der vorliegende Band zu weiteren interdisziplinären Forschungen über Matthias Flacius Illyricus und die Magdeburger Centurien anregt. Zitierweise und Abkürzungssystem richten sich nach den Grundsätzen des „Deutschen Archivs für Erforschung des Mittelalters“, die um einige spezielle Kurztitel zu Flacius und den Centurien erweitert wurden. Wir danken den Professores Berndt Hamm, Johannes Helmrath, Jürgen Miethke und Heinz Schilling für die Aufnahme des Bandes in ihre neugestaltete und dennoch bewährte Reihe und dem Verlag Mohr Siebeck, insbesondere Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Frau Bettina Gade, für die großzügige und zuverlässige verlegerische Unterstützung. München, im Juli 2008
Arno Mentzel-Reuters Martina Hartmann
Inhalt
Vorwort ................................................................................................... V Abgekürzt zitierte Literatur .................................................................... IX MARTINA HARTMANN Matthias Flacius Illyricus, die Magdeburger Centuriatoren und die Anfänge der quellenbezogenen Geschichtsforschung .......................... 1 MATTHIAS POHLIG War Flacius Humanist? ........................................................................... 19 FRANZ FUCHS Flacius Illyricus und Regensburg ............................................................ 53 ERNST HELLGARDT Die Rezeption Otfrids von Weißenburg von Johannes Trithemius bis zur neunten Centurie (1494–1565) .................................................... 65 NORBERT KÖSSINGER Sammeln, Edieren und Interpretieren: Matthias Flacius und das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg. Flacius und die Heidelberger Otfridhandschrift (Cod. pal. lat. 52) .................................................................................... 77 PETER ORTH Flacius und die Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata (1557) ………...................……..… 95
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Inhalt
RONALD ERNST DIENER Zur Methodik der Magdeburger Centurien ............................................ 129 ARNO MENTZEL-REUTERS Quellenarbeit in den Magdeburger Centurien ...................................... . 175 MARTINA HARTMANN Collectio contra haereticos et de privilegiis multarum sedium. Ein bislang übersehenes Werk Hinkmars von Reims in der Centuriatoren-Handschrift ÖB Basel O II 29 ........................................ 211 ARNO MENTZEL-REUTERS Ministri mysterii iniquitatis. Die apokryphen Clemensbriefe in den Magdeburger Centurien ........................................................................ 233 Register ................................................................................................. 243
Abgekürzt zitierte Literatur ADB – Allgemeine Deutsche Biographie CC – Corpus Christianorum CC Cont. Med. – Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis CSEL – Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum DA – Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters DIENER, Centuries – The Magdeburg centuries, a bibliothecal and historiographical analysis, a thesis presented by Ronald E. DIENER (1978) FLACIUS, Catalogus1 – Catalogus testium veritatis qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae, opus varia rerum, hoc praesertim tempore scitu dignissimarum, cognitione refertum …, cum Praefatione Matth. Flacii Illyrici, Basileae: Oporinus 1556 FLACIUS, Catalogus2 – Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem Pontifici Romano, eiusque erroribus reclamarunt, iam denuo longe quam antea, & emendatior & auctior editus ..., cum Praefatione Mathiae Flacii Illyrici, qua Operis huius & ratio & usus exponitur, Basileae: Oporinus 1562 FmSt – Frühmittelalterliche Studien HAIN – Repertorium bibliographicum, in quo libri omnes ab arte typographica inventa usque ad annum 1500 typis expressi ordine alphabetico vel simpliciter enumerantur vel adcuratius recensentur opera Ludovici HAIN, vol. 1–2 (1826–1838) HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik – Martina HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 19, 2000) HJb – Historisches Jahrbuch Lex MA – Lexikon des Mittelalters MC – Ecclesiastica historia, integram ecclesiae Christi ideam quantum ad locum, propagationem, persecutionem, tranquillit., doctrin., haereses, ceremonias, gubunationem, schismata, synodos, personas, miracula, martyria, religiones extra ecclesiam, (…) congesta per aliquot studiosos et pios viros in urbe, 13 Bde, Basileae: Oporinus 1564– 1574 Digital: http://www.mgh-bibliothek.de/digilib/centuriae.htm
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Abgekürzt zitierte Literatur
MGH – Monumenta Germaniae Historica Conc. – Concilia Epp. – Epistolae Fontes iur. Germ. ant. – Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim editi Ldl – Libelli de lite SS – Scriptores in Folio SS rer. Germ. N. S. – Scriptores rerum Germanicarum. Nova Series MIGNE PL – J.-P. MIGNE, Patrologia latina MIGNE PG – J.-P. MIGNE, Patrologia graeca NA – Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde NDB – Neue Deutsche Biographie OLSON, Flacius – Oliver K. OLSON, Matthias Flacius and the Survival of Luther’s Reform (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 20, 2002) PREGER, Flacius – Wilhelm PREGER, Matthias Flacius und seine Zeit, 2 Bde (1859/61) RGG – Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 1–8 (4 1998–2005) Rep. font. – Repertorium fontium historiae medii aevi 1–11 (1962–2006) TRE – Theologische Realenzyklopädie, 1–36 (1976–2004) T RITHEMIUS, De scriptoribus ecclesiasticis – Johannes T RITHEMIUS, Liber de scriptoribus ecclesiasticis, Basileae : Amerbach 1494. Digital: http://www.mgh-bibliothek.de/digilib/trithemius.htm VD 16 – Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke, 1–25 (1983– 2000) VL – Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 1–5 (11933–1950) bzw. 1–12 (2 1977–2006) WdF – Wege der Forschung ZfdA – Zeitschrift für deutsches Altertum ZHF – Zeitschrift für historische Forschung ZKG – Zeitschrift für Kirchengeschichte
Martina Hartmann
Matthias Flacius Illyricus, die Magdeburger Centuriatoren und die Anfänge der quellenbezogenen Geschichtsforschung „Oft findet man einen Edelstein in einem Misthaufen, wo man ihn nicht vermutet hätte“1. Dies schrieb am 15. Dezember 1554 der aus Kroatien stammende Humanist und treue Anhänger Martin Luthers, der Theologe Matthias Flacius Illyricus 2, an seinen Freund und Förderer Caspar von Nidbruck3. Wer waren die beiden Männer und was war mit diesem für Matthias Flacius typischen, drastischen Satz gemeint? Zur Erklärung müssen wir etwas weiter ausholen: Matthias Vlačič wurde 1520 in Istrien geboren, das damals zur Republik Venedig gehörte. Er studierte zunächst in Venedig, dann in Basel, Tübingen und zuletzt in Wittenberg bei Martin Luther und Philipp Melanchthon4. Schon bald latinisierte er seinen Namen nach Humanistenart in Matthias Flacius Illyricus, wobei Illyricus für sein Geburtsland Istrien stand. Für seine Hinwendung zum Protestantismus hatte ein Minoritenprovinzial und Vetter von Flacius’ 1
Der Briefwechsel zwischen dem spiritus rector der Magdeburger Centurien und dem kaiserlichen Rat wurde ediert von Victor BIBL, Der Briefwechsel zwischen Flacius und Nidbruck I–IV, Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 17 (1896) S. 1–24, 18 (1897) S. 201–238, 19 (1898) S. 96–110 und 20 (1899) S. 83–116, das Zitat findet sich in Bd. 19 (1898) S. 100. 2 Vgl. zu Flacius immer noch das biographische Standardwerk von PREGER, Flacius sowie jetzt OLSON, Flacius, der jedoch nur die Zeit bis 1557 behandelt, sowie DERS., Matthias Flacius Illyricus, in: TRE 11 (1983) S. 206–214 und DERS., Matthias Flacius Illyricus, in: Jill RAIT /Robert M. KINGDON, Shapers of Religious Traditions in Germany, Switzerland and Poland 1560–1600 (1981) S. 1–18; außerdem Peter F. BARTON, Matthias Flacius Illyricus, in: Gestalten der Kirchengeschichte 6: Die Reformationszeit 1, hg. von Martin Greschat (1981) S. 277–293 und aus mediävistischer, nicht theologischer oder frühneuzeitlicher Perspektive HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik. 3 Vgl. zu Nidbruck Robert HOLTZMANN, Kaspar von Nidbruck, in: ADB 52 (1906) S. 621–629 sowie Otto KLEMEN, Kaspar von Niedbruck als Büchersammler, Zentralblatt für Bibliothekswesen 59 (1942) S. 168, Hermann MENHARDT , Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek 1 (1960) S. 6ff. und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 57ff. 4 Vgl. dazu bes. PREGER, Flacius S. 13ff. und OLSON, Flacius S. 25ff.
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Mutter namens Baldus Lupetinus gesorgt, der dem Luthertum zuneigte. Dieser Verwandte wurde später wegen lutherischer Predigten vom Rat der Stadt Venedig verhaftet und nach 14jähriger Kerkerhaft schließlich zum Tode verurteilt und 1556 in der Lagune von Venedig ertränkt5. Dieser familiäre Hintergrund dürfte den Fanatismus, mit dem Flacius zeitlebens die „reine“ lutherische Lehre verteidigte und sich auch im eigenen Lager viele Feinde machte durch sein kompromissloses Auftreten, zumindest teilweise erklären. Nach seinem Studium erhielt Matthias Flacius 1544 eine Hebräischprofessur an der Universität Wittenberg6 und heiratete ein Jahr später eine Pfarrerstochter, wobei Martin Luther an der Hochzeit seines Schülers teilnahm7. Nach Luthers Tod am 18. Februar 1546 sah Flacius sich selbst als einen maßgeblichen Bewahrer von dessen Lehre und betonte seine enge Beziehung zu dem Reformator, was vermutlich aber mehr seinem Wunschdenken als der Realität entsprach8. So geriet er ziemlich bald in Gegensatz zu dem „anderen“ großen geistigen „Erben“ Luthers, nämlich dem „Praeceptor Germaniae“, Philipp Melanchthon9, der sich in Glaubensangelegenheiten als viel kompromissbereiter und nachgiebiger erweisen sollte. Der 1525 geborene Caspar von Nidbruck dagegen war im Jahr 1554 kaiserlicher Rat in Wien und sollte für Maximilian II. nicht nur diplomatische Missionen im Reich ausführen, sondern während seiner Reisen auch kostbare Bücher für die Hofbibliothek in Wien zusammentragen10. Heimlich sympathisierte Nidbruck mit der Sache der Protestanten, war aber angesichts seines Amtes ängstlich bemüht, dies nicht ruchbar werden zu lassen11. Kurz nach Luthers Tod hatte Nidbruck für kurze Zeit in Wittenberg studiert und Flacius’ Vorlesung über aristotelische Politik gehört, so daß die persönliche Bekanntschaft aus dieser Zeit herrührt. Schon Martin Luther und Philipp Melanchthon waren im Verlauf der Kirchenspaltung zu dem Schluss gekommen, daß den Protestanten zu ihrem Selbstverständnis und Selbstvertrauen nicht zuletzt eine Geschichte ihrer eigenen Kirche fehlen würde. Damit meinten sie aber keineswegs 5
Vgl. zu ihm OLSON, Flacius S. 226–229 u. öfter. Vgl. dazu OLSON, Flacius S. 52ff. 7 Vgl. dazu PREGER, Flacius 1 S. 24. 8 Vgl. dazu Christina Beatrice Melanie FRANK, Untersuchungen zum Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus (Diss. Phil. Tübingen 1990) S. 14ff. 9 Vgl. zu Melanchthon Heinz SCHEIBLE, Philipp Melanchthon, in: Gestalten der Kirchengeschichte 6: Die Reformationszeit 2, hg. von Martin GRESCHAT (2. Aufl. 1994) S. 75–102 und Heinz SCHEIBLE, Melanchthon. Eine Biographie (1997) mit weiterer Lit. sowie Peter F. BARTON, Um Luthers Erbe. Studien und Texte zur Spätreformation (1972). 10 Siehe oben Anm. 3 sowie Franz UNTERKIRCHER, Codex Epistolaris Carolinus. Österreichische Nationalbibliothek 449 (Codices selecti 3, 1962) Einleitung. 11 Vgl. dazu OLSON, Flacius S. 67. 6
Anfänge der quellenbezogenen Geschichtsforschung
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eine Kirchengeschichte seit dem Thesenanschlag Luthers 1517, sondern von Beginn der christlichen Kirche an, also seit Christi Geburt. Eine solche Geschichte der protestantischen Kirche sollte in den Augen der führenden Kirchenmänner nämlich zeigen, wie nach einer glanzvollen Zeit des frühen Christentums die Welt sich unter dem Einfluss des Papsttums mehr und mehr verfinstert habe, bis durch das Auftreten Luthers und die Bildung der neuen Kirche wieder das Licht der erneuerten christlichen Religion in die Welt gekommen sei12. Die Idee und den Plan einer solchen Kirchengeschichte verfolgte vor allem Matthias Flacius, und er arbeitete ein Konzept aus, was an Forschung nötig sei, um ein solch umfangreiches Werk über immerhin 15 ½ Jahrhunderte zu schreiben. Seine theoretische Abhandlung schickte er dann an verschiedene Förderer der protestantischen Sache 13 wie den finanzkräftigen Kurfürsten Ottheinrich von der Pfalz in Heidelberg14 und nicht zuletzt auch an Caspar von Nidbruck. Dieser versprach, in den Bibliotheken des deutschen Reiches, die er auf seinen diplomatischen Reisen besuchte, nach alten Handschriften zu forschen mit Texten, die der Sache des Protestantismus dienlich sein könnten, also beispielsweise Schriften, die Kritik am mittelalterlichen Klerus oder dem Papst enthielten. Den Anhängern der neuen Kirche öffneten die alten Klöster und Dombibliotheken nämlich nicht mehr gern ihre Türen15, und so hatte der im Auftrag des katholischen Habsburgers auftretende Nidbruck es da viel leichter16. Um aber seine Verbindungen zu Flacius und anderen Protestanten zu verheimlichen, unterschrieb er seine Briefe an sie immer mit Pseudonym wie etwa Titus Hoppius, Petrus Pan oder einfach φιλος (= Freund); als Ortsangabe stand oft Utopia unter seinen Schreiben, denn Nidbruck wollte vermeiden, daß, falls 12
Vgl. dazu J.W. SCHULTE, Beiträge zur Entstehungsgeschichte der Magdeburger Centurien (19. Bericht der Philomathie in Neisse 1874/77) (1877), Ernst SCHAUMKELL, Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Magdeburger Centurien (Schulprogramm Ludwigslust 1898), Joachim MASSNER, Kirchliche Überlieferung und Autorität im Flaciuskreis (1964) und Heinz SCHEIBLE, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode (1966) sowie DIENER, Centuries. 13 Vgl. dazu HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 47ff. 14 Vgl. zu Ottheinrich Karl SCHOTTENLOHER, Ottheinrich und das Buch (1928), Renate KLAUSER, Der Freund und Sammler von Büchern, in: Ottheinrich. Gedenkschrift zur vierhundertsten Wiederkehr seiner Kursfürstenzeit in der Pfalz (1556–1559), hg. von Georg POENSGEN (1956) S. 118–140 sowie Pfalzgraf Ottheinrich. Politik, Kunst und Wissenschaft im 16. Jahrhundert, hg. von der Stadt Neuburg an der Donau (2002). 15 Vgl. dazu Karl SCHOTTENLOHER, Handschriftenschätze zu Regensburg im Dienste der Zenturiatoren (1554–1562), Zentralblatt für Bibliothekswesen 34 (1917) S. 65–82 und UNTERKIRCHER, Codex Carolinus (wie Anm. 10) S. VIII. 16 Vgl. zu den von Nidbruck für die Centuriatoren besorgten Handschriften HARTMANN , Humanismus und Kirchenkritik S. 59ff.
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der Brief in falsche Hände geriete, man erraten konnte, wer seine Korrespondenten waren und wo er wertvolle Texte aufgespürt hatte17. Aber auch Matthias Flacius reiste Zeit seines Lebens immer wieder durch das Reich und besuchte die Bibliotheken, die ihn als Gelehrten einließen: insgesamt drei Mal war er beispielsweise in der damals berühmten Bibliothek des alten Benediktinerklosters Fulda, nämlich 1556, 1561 und 1573. Im Jahr 1561 schrieb er nach seinem Aufenthalt in Fulda an seinen alten Regensburger Freund, den protestantischen Stadtsuperintendenten Nikolaus Gallus (1516–1570)18: „Neulich habe ich mit ungeheurer Mühe und mit der gebotenen Bescheidenheit den Mönchen in Fulda einige noch nicht edierte Codices abgerungen, die der Geschichte nützen werden“19. Dieser Satz macht Verschiedenes deutlich: Die humanistischen Gelehrten des 16. Jahrhunderts wie Flacius, Nidbruck und andere versuchten, den Mönchen der Klöster oder den Dombibliotheken alte Handschriften, die sie interessierten, „abzuschwatzen“, d.h. abzubitten oder abzukaufen oder auch, wenn diese sich nicht darauf einließen, abzuschreiben, um den Text zu besitzen. Mit der im Brief an Gallus erwähnten „Geschichte“ ist natürlich die geplante Kirchengeschichte gemeint, also das, was man später dann als Magdeburger Centurien bezeichnete, und mit seiner Formulierung „noch nicht herausgegebene Handschriften“ machte Flacius deutlich, daß er in der Regel wusste, welche Texte aus dem Mittelalter bereits in Büchern gedruckt worden und damit einem größeren Kreis zugänglich waren und welche nicht. Dies ist eine bewunderungswürdige Leistung vor allem von Matthias Flacius, aber auch von einigen anderen Centuriatoren gewesen, die man sich bewußt machen muss 20. Flacius und seine Anhänger hatten durch emsige Lektüre der gedruckten Bücher und Studium von mittelalterlichen Handschriften einen erstaunlichen Überblick über die aus dem Mittelalter überlieferte Literatur gewonnen: Ohne die zahlreichen Überblicksdarstellungen, die einem heutigen Studenten oder Hochschullehrer das 17
Vgl. dazu BIBL, Briefwechsel (wie Anm. 1) I S. 5. Vgl. zu Nikolaus Hahn Hartmut VOIT , Nikolaus Gallus. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte der nachlutherischen Zeit (1977), Gerhard SIMON, Nikolaus Gallus, in: TRE 12 (1984) S. 21–23. 19 Vgl. dazu Martina HARTMANN, „Mit ungeheurer Mühe habe ich den Mönchen in Fulda einige Codices abgerungen“. Matthias Flacius Illyricus sucht Quellen für die erste protestantische Kirchengeschichte, Fuldaer Geschichtsblätter. Zeitschrift des Fuldaer Geschichtsvereins 79 (2003) S. 5–45. 20 Vgl. dazu Marcella RODDEWIG, Flacius, Vergerius, Foxe, Wolfius, Mornay und der erste deutsche Übersetzungsversuch aus dem Paradiso von 1573, Deutsches DanteJahrbuch 44/45 (1967) S. 100–146, Thomas HAYE, Der Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus – eine Einführung in die Literatur des Mittelalters?, Archiv für Reformationsgeschichte 83 (1992) S. 31–48, bes. S. 47 und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 209ff. 18
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Mittelalter und seine Quellen erschließen, zur Verfügung zu haben, besuchten Flacius und Nidbruck die Bibliotheken auf der Suche nach noch unbekannten Texten, die hier seit Jahrhunderten lagen und in Vergessenheit geraten waren, um sie ans Licht zu heben. Dabei interessierten sie nur Texte, die etwas über die Kirche, ihre Geschichte, Lehre und Liturgie oder auch ihre Missstände aussagten. Insofern war diese Forschung von einem starken persönlichen, aber auch einseitigen Interesse gelenkt. Daß man überhaupt nach ungedruckten Quellen suchte, um die Geschichte der Kirche darzustellen, war neuartig und somit stehen Matthias Flacius und die Magdeburger Centurien am Beginn der quellenbezogenen, wissenschaftlichen Erforschung der mittelalterlichen Geschichte. Hierin liegt die wesentliche Bedeutung der Magdeburger Centurien als wissenschaftliches Großunternehmen der frühen Neuzeit 21. Flacius selbst hat seine Tätigkeit sehr treffend mit der Sammeltätigkeit der Bienen verglichen, die ausschwärmen, um den Honig aus den Blüten zu saugen, so wie er „ausschwärmte“, um in den Bibliotheken wertvolle Texte zu finden, aus denen dann „Honig“ für die Magdeburger Centurien gesaugt werden konnte22. Dies ist ihm ja auch tatsächlich gelungen, denn er hat eine außerordentlich wertvolle Bibliothek mittelalterlicher Codices zusammengetragen, die fast geschlossen nach Wolfenbüttel gelangt ist 23. Man kann auch sagen, wie Bernhard Bischoff unterstrichen hat, daß damit manche Codices durch Flacius vor dem Untergang bewahrt worden sind 24, denn aus der eben erwähnten Bibliothek des Klosters Fulda beispielsweise haben nur wenige die Zeit überdauert, darunter aber diejenigen, die der Illyricus bei seinen drei Aufenthalten dort erworben und seiner Bibliothek einverleibt hat 25. Oft war es auch der einzige Textzeuge einer Schrift, den Flacius mit sicherem Instinkt aufspürte, und so würden wir ohne seine Sammeltätigkeit heute manche mittelalterliche Quellen gar nicht mehr besitzen. Seine Gegner im eigenen, d.h. protestantischen Lager, die Anhänger Melanchthons, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, haben dagegen 21
Vgl. zur Bedeutung dieses Großunternehmens Eckehard STÖVE, Kirchengeschichtsschreibung, in: TRE 18 (1989) S. 535–560, bes. S. 541f. 22 Vgl. dazu OLSON, Flacius S. 263. 23 Vgl. die Zusammenstellung der zu Flacius’ Bibliothek gehörigen Handschriften bei HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 221–253. Eine Übersicht über die in seiner Bibliothek vorhandenen gedruckten Bücher, die in die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel gelangt sind, fehlt bislang. 24 Bernhard BISCHOFF, Über mittelalterliche Handschriften in Wolfenbüttel (ursprünglich, Wolfenbütteler Beiträge 2 (1973) S. 96–109), hier zitiert nach DERS., Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte 3 (1981) S. 298–309, das Zitat S. 299. 25 Vgl. HARTMANN, Mit ungeheurer Mühe (wie Anm. 19) S. 19ff.
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das Gerücht in die Welt gesetzt, Flacius habe Handschriften verstümmelt, indem er mit dem Messer Seiten heraustrennte und für seine eigene Bibliothek mitnahm. Dies ist zwar vor einigen Jahren mit guten Argumenten widerlegt worden als „Rufmordkampagne“ seiner Gegner26, aber über Jahrhunderte geisterte in der Literatur das Bild vom finsteren Kroaten, der unter seinem Rock ein langes Messer verbirgt, mit dem er sich in Bibliotheken schleicht und Handschriften verunstaltet – der culter Flacianus, das Messer des Flacius, war sprichwörtlich. So kann man noch heute ein Altarbild aus der Johanneskirche in Dessau bewundern, auf dem Lucas Cranach das letzte Abendmahl dargestellt und ins 16. Jahrhundert transferiert hat: Martin Luther und Philipp Melanchthon sitzen nämlich mit an der Tafel, wobei Melanchthon direkt neben Christus sitzt, Luther durch Bugenhagen von Christus getrennt sitzt; der Judas aber, der sich von der anderen Seit über den Tisch beugt, trägt unverkennbar die Gesichtszüge von Matthias Flacius und hält ein Messer hinter seinem Rücken, so daß die Parteinahme des Malers zugunsten der Philippisten und gegen die Flacianer deutlich wird27. Obwohl Flacius’ wertvolle Bibliothek später, nämlich 1597 von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig und Lüneburg für Wolfenbüttel gekauft wurde, findet sich groteskerweise gerade dort in der Bibliotheksordnung von 1572 eine Warnung vor diebischen Bibliotheksbenutzern, die mit den Worten beginnt: „damit uns nicht geschehe, in unser Bibliotheca und an unsern buchern, wie an etzlichen Ortten Illyricus gethan haben soll …“28. Die Rufmordkampagne hat also reichsweit gewirkt, wobei man sagen muß, daß ähnliche Vorwürfe später auch gegen andere Gelehrte wie Melchior Goldast und Marquard Freher erhoben wurden29. Doch zurück zur Bedeutung der Magdeburger Centurien: Das wissenschaftliche Großprojekt, eine neuartige Geschichte der Kirche zu schreiben, die die Dekadenz des Papsttums zeigen und die Notwendigkeit der Reformation erweisen sollte, rief die Gegenseite auf den Plan: die katholischen Gelehrten, allen voran der römische Kardinal Caesar Baronius (1538–1607), der fast einmal Papst geworden wäre und als Leiter des Vatikanischen Archivs über große Handschriftenbestände aus dem Mittelalter
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Vgl. dazu Oliver K. OLSON, „Der Bücherdieb Flacius“ – Geschichte eines Rufmordes, Wolfenbütteler Beiträge 4 (1981) S. 111–145. 27 Auf dieses Gemälde machte aufmerksam OLSON, Flacius S. 190ff. mit Abbildung S. 190. 28 Vgl. dazu OLSON, Bücherdieb Flacius (wie Anm. 26) S. 113ff. 29 Vgl. dazu Gundula CASPARY, Späthumanismus und Reichspatriotismus. Melchior Goldast und seine Editionen zur Reichsverfassungsgeschichte (2006) S. 33f.
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wachte30, antwortete auf die Magdeburger Centurien mit seinen Annales ecclesiastici, also den kirchlichen Jahrbüchern, doch dazu später. Der große religiöse Eifer, mit dem in beiden konfessionellen Lagern diese neuartige Form der kirchengeschichtlichen Forschung betrieben wurde, führte zwangsläufig dazu, daß man das Mittelalter nicht aus sich heraus zu verstehen suchte, als eine Zeit also, in der es eine einzige Kirche gab und eine Kirchenspaltung noch undenkbar war, sondern man suchte in den Quellen nur nach Belegen für den eigenen Standpunkt: die Protestanten für den Verfall der Kirche und den schädlichen Einfluss des Papsttums, denn daran schieden sich ja vor allem die Geister, die Katholiken aber für die göttliche Stiftung und den göttlichen Auftrag des Papsttums sowie das gute Funktionieren der mittelalterlichen Kirche unter Lenkung des Papstes. So zweifelten die Protestanten zum Beispiel an, daß der Apostel Petrus überhaupt jemals in Rom gewesen sei, um damit den Anspruch des Papstes als Nachfolger Petri mit historischen Argumenten zurückzuweisen31, und die Katholiken widersprachen dem energisch. Sie versuchten unter anderem die Echtheit gefälschter Briefe der frühen Päpste, der sog. Pseudoisidorischen Dekretalen aus dem 9. Jahrhundert, zu beweisen, obwohl diese teilweise schon im Mittelalter als Fälschung erkannt worden waren32. Auch die Konstantinische Schenkung, eine Fälschung des 10. Jahrhunderts, nach der Kaiser Konstantin der Große dem Papst Silvester die Herrschaft über Rom übertragen habe, war bereits vor der Reformation von humanistischen Gelehrten entlarvt worden, nun aber beharrten die Katholiken auf ihrer Echtheit33. Vor dem Hintergrund eines solch religiösen Eifers ist auch der am Beginn meines Vortrags zitierte Satz des Illyricus an Nidbruck vom Edelstein im Misthaufen zu verstehen34: Flacius hatte nämlich in einer Bibliothek eine alte Handschrift mit Volksrechten des frühen Mittelalters aufgespürt und durchgelesen. Er stieß dabei, wie er an Nidbruck schrieb, auf eine Be30
Vgl. zu ihm Hubert JEDIN, Kardinal Caesar Baronius. Die Anfänge der katholischen Kirchengeschichtsschreibung im 16. Jahrhundert (1978). 31 Vgl. Karl HEUSSI, Die römische Petrustradition in kritischer Sicht (1955) und dazu Horst FUHRMANN, Die Päpste. Von Petrus zu Benedikt XVI. (ursprünglich 1998; 2. bearb. Auflage 2005) S. 268. 32 Vgl. dazu Horst FUHRMANN, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit (Schriften der MGH 24, 1–3, 1972–74) hier Bd. 1 S. 5ff. 33 Vgl. dazu Lorenzo Valla, De falso credita et ementita Constantini Donatione (ed. Wolfram SETZ, MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 10, 1976) sowie Wolfram SETZ, Lorenzo Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung. De falso credita et ementita Constantini donatione. Zur Interpretation und Wirkungsgeschichte (1975) und Horst FUHRMANN, Zu Lorenzo Vallas Schrift über die Konstantinische Schenkung, Studi Medievali 11, 2 (1970) S. 913–919. 34 Vgl. Anm. 1.
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stimmung im Volksrecht der Baiern, die mit den Worten beginnt: „Wenn jemand einen Bischof, der vom König oder vom Volk gewählt wurde, tötet, dann soll er folgende Strafe erleiden …“ (darauf folgt das Strafmaß)35. Für die heutige Mittelalterforschung ist an diesem Satz zum einen interessant, daß die Tötung eines Bischofs im frühen Mittelalter offenbar vorkam, denn wenn dies so gut wie nie geschehen wäre, hätte man eine solche Bestimmung nicht ins Volksrecht aufnehmen müssen, und zum anderen ist das Strafmaß interessant, denn daraus kann man ablesen, wie weit die Christianisierung im Volk verwurzelt war, so daß man solche heidnischen Übergriffe nicht mehr dulden wollte. Von solchen Einsichten ins Mittelalter war Flacius aber noch weit entfernt, denn ihn elektrisierte an diesem ganzen Rechtssatz nur der Nebensatz, in dem stand, daß ein Bischof vom König oder Volk gewählt wurde, denn das hieß für ihn, daß das Recht, einen Bischof zu erheben, ursprünglich beim König und beim Volk gelegen habe und eben nicht beim Papst. So meinte der Illyricus einen wichtigen Beleg für die protestantische Kirchengeschichte gefunden zu haben und bezeichnete dies als „Edelstein im Misthaufen“, denn ein Volksrecht als Quelle ließ für ihn nicht vermuten, daß man darin etwas vermeintlich gegen den Papst Gerichtetes finden konnte. Man sieht an diesem Beispiel sehr schön, wie Flacius und die Centuriatoren arbeiteten und welch weiter Weg noch zurückzulegen war bis zur modernen historischen Forschung, die sine ira et studio sein soll und nicht Probleme und Sichtweisen der eigenen Zeit in die Quellen hineinprojizieren darf. Aber wir müssen die Realisierung des großen kirchengeschichtlichen Projekts der Magdeburger Centurien weiter verfolgen. Zunächst reisten also Flacius, Nidbruck und andere durch das deutsche Reich und erbettelten, kauften oder kopierten Handschriften. Sie korrespondierten mit Gelehrten in Frankreich und England, so dem Erzbischof von Canterbury Matthew Parker, und baten um ungedruckte und gedruckte mittelalterliche Texte, die in diesen Ländern entstanden waren36. Sie schickten einen Mitarbeiter, Marcus Wagner, bis nach Irland und Schottland, um dort in den Klöstern Handschriften zu kaufen37. Die Codices, die man nur ausleihen konnte, etwa von Nidbruck, der sie für die Wiener Hofbibliothek gekauft hatte und nur für eine Zeit zur Verfügung stellen konnte, wurden in Bücherfässer verpackt und auf der Donau nach Regensburg 35
BIBL, Briefwechsel (wie Anm. 1) III S. 100f. Vgl. dazu Norman L. JONES, Matthew Parker, John Bale, and the Magdeburg Centuriatores, Sixteenth Century Journal 12, 3 (1981) S. 35–49 und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 68ff. 37 Vgl. dazu Heinrich SCHNEIDER, Die Bibliotheksreisen des Marcus Wagner, Zentralblatt für Bibliothekswesen 50 (1933) S. 678–682 und dazu HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 64f. 36
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verschifft. Dort wurden sie im Haus des schon erwähnten Stadtsuperintendenten Nikolaus Gallus durchgesehen und von Lohnschreibern abgeschrieben, um dann wieder nach Wien zurückgeschickt zu werden38. Flacius selbst hielt sich 1554 mehrere Monate in Köln auf, um die zahlreichen Bibliotheken der Kölner Kirchen und Klöster zu durchforsten und Brauchbares von Lohnschreibern kopieren zu lassen39. Das ganze Material, das auf diese Weise zusammenkam, wurde schließlich nach Magdeburg geschickt, wo sich das eigentliche Gremium der sog. Magdeburger Centurien gebildet hatte40, das nun das Werk, zu dem Flacius, Nidbruck und andere die Vorarbeiten gemacht hatten, schrieb, wobei sie immer wieder Stellen aus den zusammengetragenen mittelalterlichen Quellen als Belege für den protestantischen Standpunkt zitieren sollten. Gegliedert war das große Werk nach Jahrhunderten – eine völlige Neuerung, die dann auch dem Kind den Namen gab, denn Centurien kommt von centum = hundert und meint diese Einteilung nach Jahrhunderten der Kirchengeschichte41. So behandelte jede Centurie ein Jahrhundert der Kirchengeschichte, was auch den Vorteil hatte, daß man immer wieder überschaubare Teile zum Druck bringen konnte, um damit die Geldgeber vom Voranschreiten der ersten protestantischen Kirchengeschichte zu überzeugen. Sehr anspruchsvoll war nun der Aufbau innerhalb der einzelnen Centurien, denn es war nicht etwa eine jahrweise voranschreitende Erzählung der Kirchengeschichte, sondern man teilte den Band in 16 Kapitel ein und war bestrebt, für die einzelnen Jahrhunderte etwas die Ausdehnung und Verfolgung der Kirche darzustellen sowie die Entwicklung der Kirchlehre und Liturgie, man wollte Märtyrer und Ketzer behandeln, die Haltung gegenüber Heidentum, Judentum und Islam usw. 42 Dies war ein höchst anspruchsvolles Programm im Gegensatz zu der Idee, die Caspar von Nidbruck für eine protestantische Kirchengeschichte gehabt hatte, er stellte sich nämlich eine Art chronique scandaleuse des Papsttums vor, in der chronologisch alle „Schandtaten“ aufgezählt werden sollten43. Das war Matthias Flacius viel zu wenig und auch zu wenig anspruchsvoll. Flacius ließ dann sein Konzept 38
Vgl. dazu SCHOTTENLOHER, Handschriftenschätze (wie Anm. 15) passim und Hermann HEIMPEL, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel 1–3 (1982), hier 2 S. 965ff. 39 Vgl. dazu HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 262. 40 Vgl. dazu SCHEIBLE, Entstehung (wie Anm. 12) S. 28ff. 41 Vgl. dazu SCHEIBLE, Enstehung (wie Anm. 12) S. 31ff. und 46ff. 42 Vgl. den Aufbau bei SCHEIBLE, Entstehung (wie Anm. 12) S. 9f. 43 Vgl. dazu Martina HARTMANN, Die Magdeburger Centurien und ihre Bedeutung, in: Eckhard W. PETERS, Die Magdeburger Centurien (2007) S. 41.
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für die Centurien durch Gutachten verschiedener Gelehrter beurteilen. Unter den Gutachtern waren der Schweizer Reformator Johannes Calvin (1509–1564), der Wiener Graezist Georg Tanner (1515/20–1580/81), der Marburger Theologe Andreas Hyperius (1511–1564) und der Heidelberger Rechtshistoriker François Baudoin (1520–1573)44. Man sieht an dieser Auswahl, daß man „Sachverständige“ aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen konsultierte, die sich insgesamt gesehen zustimmend zu dem Konzept äußerten. Was die Centuriatoren mit Johannes Wigand 45 an der Spitze dann verfaßten, war ein Werk, das nicht auf konfessionelle Polemik setzte, sondern den Zustand der Kirche in den einzelnen Jahrhunderten mit Hilfe der zeitgenössischen Quellen beschreiben wollte. Geschrieben wurde natürlich in der damals „internationalen“ Wissenschaftssprache Latein. Daß diese anspruchsvolle Form der Darstellung für die Zeitgenossen und auch spätere Generationen „schwere Kost“ war, lässt sich schon daran ablesen, daß die bereits erwähnten Annales ecclesiastici des Kardinals Baronius, die in herkömmlicher Form Jahr für Jahr voranschreitend die Geschichte der Kirche behandelten, das wesentlich erfolgreichere Werk war, das mehrfach nachgedruckt und von späteren weitergeführt wurde, obwohl es wissenschaftlich gesehen weniger fundiert war46. Die Wahl des Ortes Magdeburg als Zentrum der Arbeit, das dann später auch dem Werk den Titel gab, kam dabei nicht zufällig zustande: als Flacius und seine Anhänger sich bereits drei Jahre nach Luthers Tod, der am 18. Februar 1846 erfolgt war, so sehr zerstritten hatten, daß sie nicht mehr in einer Stadt, eben Wittenberg, leben konnten, bot sich die Stadt Magdeburg aus verschiedenen Gründen an: dort wie auch in Jena empfand man Melanchthons nachgiebige Haltung gegenüber den Katholiken als Verrat an der protestantischen Sache und fürchtete, die Autorität des Papstes solle wieder durchgesetzt werden. In Magdeburg lebte auch Flacius’ Schwiegervater, der Pastor Stephan Tucher († 1550), der Luthers letzte Rede gedruckt herausgab, in der der Reformator prophezeit hatte, die Theologen würden seine Lehre nach seinem Tod verraten; dagegen kämpften Tucher wie auch Flacius. Darüberhinaus leistete man in Magdeburg großen Widerstand gegen das sog. Interim von 1547/48, also die einstweilige Regelung der Religionsfrage (von lateinisch interim = einstweilen, inzwischen), die aber einseitig die katholische Lehre betonte und nur wenige Zugeständnis44
Vgl. dazu SCHEIBLE, Entstehung (wie Anm. 12) S. 46ff. und Michael E RBE, François Baudoin (1520–1573). Biographie eines Humanisten (1978) S. 262ff. und HARTMANN , Bedeutung S. 43. 45 Vgl. zu Wigand Ronald E. DIENER, Johann Wigand, in: RAIT /KINGDON, Shapers of Religious Traditions (wie Anm. 2) S. 19–38, HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 65ff. und DIES., Bedeutung (wie Anm. 43) S. 47–49. 46 Vgl. dazu HARTMANN, Bedeutung (wie Anm. 43) S. 53ff.
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se an die Protestanten machte. Dies bedeutete nämlich unter anderem, daß es verboten war, etwas zu drucken, das gegen das Interim verstieß, und das traf auf die meisten Schriften der Flacianer zu, wie die Gegner Melanchthons bald genannt wurden47. Der protestantische Theologe Caspar Aquila (eigentlich Caspar Adler) schrieb damals an Herzog Albrecht von Preußen: „Hier in diesen undankbaren deutschen Landen darf man nichts drucken, was wider das Interim lautet, ausgenommen die hochlöbliche, alte, christliche, kaiserliche Stadt Magdeburg – das ist Gottes Kanzlei.“ Die Philippisten bezeichneten später dann spöttisch Magdeburg als „Unseres Herrgotts Kanzlei“, nachdem dort die Streitschriften der Flacianer gegen die Wittenberger Philippisten gedruckt und in Umlauf gebracht wurden48. So gab es mehrere Gründe, warum Magdeburg ausgewählt wurde, Arbeitsort des Gremiums der Centuriatoren zu werden, denn die Stadt bot auch mehreren Mitgliedern eine Anstellung und der Rat der Stadt finanzierte die Beschaffung von Büchern für die Arbeit. Am Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man diese in der Ratsbibliothek für die Centuriatoren angeschafften Bände wohl noch am Einband und den Randglossen erkennen; im 2. Weltkrieg ist die Bibliothek aber dann untergegangen, vielleicht nach Moskau geschafft worden49. Hätte man diese Bücher noch, könnte man leichter die Quellen, d.h. die Handbibliothek der Centuriatoren rekonstruieren. Daß die Bände der Kirchengeschichte dann schließlich nicht in Magdeburg gedruckt wurden, sondern beim Baseler Drucker-Verleger Johannes Oporinus (1507–1568)50 hing wohl zum einen damit zusammen, daß dieses mit seinen zahlreichen Zitaten aus mittelalterlichen Quellen anspruchsvolle Werk die Fähigkeiten und die Kapazitäten der Magdeburger Drucker überstieg; zum anderen hatte Oporinus auch den Catalogus testium veritatis des Flacius gedruckt51, so daß es hier schon eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gab. Der über 800 Stücke umfassende Briefwechsel von Johannes Oporinus mit den Gelehrten seiner Zeit hat sich in seiner Heimatstadt Basel erhalten52 und gibt uns einen lebendigen Einblick in die Zusammenarbeit zwi47
Vgl. zur Bedeutung von Magdeburg für die Flacianer bes. OLSON, Flacius S. 147ff. Vgl. dazu PREGER, Flacius 1 S. 75 und OLSON, Flacius S. 146. 49 Vgl. dazu Arthur von VINCENTI, Geschichte der Stadtbibliothek zu Magdeburg von 1525 bis 1925 (1925). 50 Vgl. zu ihm Martin STEINMANN, Johannes Oporinus. Ein Basler Buchdrucker um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 105, 1967) und zu seinen Kontakten zu Flacius und den Centuriatoren HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 75ff. 51 Vgl. dazu HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 141ff. 52 Vgl. dazu Martin STEINMANN, Aus dem Briefwechsel des Basler Buchdruckers Johannes Oporinus, Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 69 (1969) 48
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schen dem Autorenkollektiv in Magdeburg und dem Drucker-Verleger in Basel: 1558 wurden aus Magdeburg die ersten drei Centurien, die man in einem Band vereinigen wollte, nach Basel geschickt. Außerdem traf man eine Abmachung über das Honorar: Oporinus sollte von dem gedruckten Werk 100 Exemplare nach Magdeburg liefern und außerdem 100 Taler zahlen; von jedem folgenden Centurienband sollte er dann nur 50 Stücke nach Magdeburg schicken und 50 Taler als Honorar vergüten53. Die „Freiexemplare“ waren dazu bestimmt, Geldgeber und Förderer von der Berechtigung der weiteren Finanzierung zu überzeugen. Die Centuriatoren hatten eigentlich auf mehr Geld von Oporinus gehofft, denn 250 Taler war das durchschnittliche und notwendige Jahresgehalt eines einzigen Mitarbeiters, aber sie mußten und wollten sich mit dieser Summe zufrieden geben, damit nicht, wie sie brieflich versicherten, Oporinus selbst durch einen zu großzügigen Vertrag in Not gerate54. Auf den ersten Blick ist der Sachverhalt umso erstaunlicher, weil der erste Centurienband sich als großer Erfolg erwies und schon nach einem Jahr nachgedruckt werden musste, aber gut ein Jahrhundert nach Erfindung des Buchdrucks waren die Buchpreise so gedrückt worden, daß die Verleger und Drucker alle Mühe hatten, sich nicht durch Bücher, die sich schlecht verkauften, zu ruinieren. Auch die Setzer und Druckergehilfen verdienten meist nur einen Hungerlohn. Hinzu kam, daß viele Drucker-Verleger wie auch Oporinus ihrem Gewerbe wissenschaftlich sehr gut gewachsen waren, aber nicht unbedingt der kaufmännischen Seite des Geschäfts. Durch Oporinus’ Briefwechsel bekommen wir einen ganz guten Einblick in den Verlauf der Arbeiten, der nicht zuletzt durch die wechselnde und schrumpfende Besetzung des Autorenkollektivs sowie den Ortswechsel der Hauptbeteiligten immer wieder ins Stocken geriet55. So zog sich die Drucklegung der insgesamt 13 von geplanten 16 Centurien bis zum Jahr 1574 hin, auch wenn man ursprünglich gehofft hatte, dies schneller zu bewältigen. Oporinus erlebte das Erscheinen der letzten gedruckten Centurie nicht mehr, denn er verkaufte seine Druckerei Ende 1567 und starb am 23. Oktober 1568, so daß die letzten beiden Bände, Centurie 12 und 13, von seinem Nachfolger 1569 und 1574 gedruckt wurden. Oporinus selbst war hochverschuldet, als er sich aus dem
S. 103–203 und Carlos GILLY, Die Manuskripte in der Bibliothek des Johannes Oporinus. Verzeichnis der Manuskripte und Druckvorlagen aus dem Nachlass Oporins anhand des von Theodor Zwinger und Basilius Amerbach erstellten Inventariums (Hommage à François Secret, Schriften der Universitätsbibliothek Basel 3, 2001). 53 Vgl. dazu HARTMANN, Bedeutung (wie Anm. 43) S. 46. 54 Vgl. dazu STEINMANN, Johannes Oporinus (wie Anm. 50) S. 49f. 55 Vgl. STEINMANN, Briefwechsel Johannes Oporinus (wie Anm. 52) Nr. 246, S. 182ff. sowie Nr. 481, S. 156ff., Nr. 484, S. 159ff., Nr. 625, S. 182 und Nr. 638, S. 172 und DERS., Johannes Oporinus S. 69ff.
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Geschäft zurückzog56, seine „Karriere“ entsprach somit genau der eben geschilderten Misere der Druckerzunft im 16. Jahrhundert. Doch zurück zu den Anfängen der Arbeit an den Centurien: Am 16. Februar 1556 unterzeichneten fünf Männer ein Schreiben, in dem die Arbeitsweise an den Centurien genau geregelt wurde57: der damals 34jährige Matthias Flacius, der 31jährige Stadtsuperintendent Johannes Wigand, der Magdeburger Arzt Martin Copus, der 30jährige Schulrektor Gottschalk Praetorius und der 26jährige Diakon Matthaeus Judex erklärten sich bereit, die Kirchengeschichte nach dem von Flacius ausgearbeiteten Konzept zu schreiben und, wie dies genau vor sich gehen sollte, wurde minutiös festgelegt: es gab einen Geschichtsschreiber, den scriptor, der der eigentliche Autor des Werkes war; daneben gab es Exzeptoren oder Kollektoren, also diejenigen, die die Materialsammlung anhand der im Reich zusammengetragenen mittelalterlichen Quellen machten, und es gab Inspektoren, die die Materialsammlung und die Konzeption der einzelnen Kapitel überprüfen sollten. An jedem Samstagvormittag sollten alle zusammenkommen und Rechenschaft über das Wochenpensum ablegen. Außerdem sollten sich alle Centuriatoren drei Schreibhefte zulegen und immer zur Hand haben: in das erste Heft sollte hineingeschrieben werden, was noch weiterer Bearbeitung bedürfe oder noch nicht klar genug sei, in das zweite Heft, was an Stoff für spätere Centurie schon aufgetaucht sei, und in das dritte Heft sollten Verbesserungsvorschläge notiert werden, die sich aus der aktuellen Arbeit ergeben könnten. Leider hat sich kein solches Heft erhalten, aber die gerade beschriebene Arbeitsweise zeugt von dem großen Eifer des Autorenkollektivs. Johannes Wigand war dabei der eigentliche Steuermann, während Martin Copus und der später hinzutretende Magdeburger Patrizier Ebeling Aleman fürs Finanzielle zuständig waren – eine nicht zu vernachlässigende Aufgabe. Der Illyricus selbst hatte von vorneherein deutlich gemacht, daß er nicht zu den Autoren der Kirchengeschichte gehören wollte: er hatte das Konzept entwickelt und bei den Vorbereitungen geholfen, vor allem durch Beschaffung von Handschriften und Büchern, schreiben aber wollte er nicht. Bereits 1557 verließ er dann ja auch Magdeburg wieder, um in Jena eine Professur für Neues Testament anzutreten58. Flacius’ Interessen galten 56
Vgl. STEINMANN, Johannes Oporinus (wie Anm. 50) S. 112ff. Vgl. zu Folgenden SCHEIBLE, Entstehung (wie Anm. 12) S. 41ff. und siehe auch in diesem Band den Beitrag von Ronald E. DIENER, Zur Methodik der Madeburger Centurien. 58 Vgl. zu Flacius’ weiterem Schicksal und seinem wissenschaftlichen Werk PREGER, Flacius 2 S. 478ff. sowie HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 14f. und 116ff. sowie Martina STRATMANN, Matthias Flacius Illyricus – ein protestantischer Theologe und Humanist im Regensburger Asyl (1520–1575), in: Berühmte Regensburger. Lebens57
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eben nicht ausschließlich der Kirchengeschichte, er gab im Laufe seines Lebens mehrere mittelalterliche Werk gedruckt heraus und übersetzte sie auch, er verfaßte ein zweibändiges Bibelwörterbuch, die sog. Clavis scripturae sanctae, sowie einen umfangreichen Bibelkommentar zum Neuen Testament; damit wurde er zum Begründer der modernen Hermeneutik, der wissenschaftlichen Methode zur Auslegung und Erklärung von Texten. Er verfaßte eine Kinderbibel mit Katechismus in fünf Sprachen und träumte von der Errichtung einer protestantischen Hochschule in Regensburg mit einer Tochteruniversität in Klagenfurt, um den slawischsprachigen Südosten zu unterweisen. Aber auch Johannes Wigand war ein vielseitiger Autor: nicht nur zu verschiedenen theologischen Fragen bezog er immer wieder Stellung, er schrieb auch ein großes pflanzenkundliches Werk, womit er zu „Preußens erstem Botaniker“ wurde, und befaßte sich intensiv mit Ornithologie, so daß er in einer ornithologischen Fachzeitschrift von 1930 als „vergessener vogelkundlicher Schriftsteller des 16. Jahrhunderts“ bezeichnet wurde, ohne daß der Autor des Artikels etwas von den theologischen Werken Wigands ahnte59. Ronald Diener kam zu der Auffassung, daß Wigand nach dem Tod des Illyricus 1575 nicht mehr den großen Elan gehabt habe, das Projekt zu Ende zu führen; zu diesem Zeitpunkt hatte er sich auch schon längst mit Flacius in Fragen der Erbsündenlehre zerstritten und lehnte persönliche Treffen zur Aussprache kategorisch ab60. Gesehen hat der Illyricus seine Mitstreiter an der Kirchengeschichte seit seinem Weggang aus Jena 1561 wohl nicht mehr, als Mitunterzeichner der Bände wurde er aber noch bis zur 12., im Jahr 1569 erschienenen Centurie geführt61. Es muss aber nochmals betont werden, daß Matthias Flacius über Jahrhunderte als Autor der Centurien angesehen wurde, obwohl dies völlig unzutreffend ist. Wenn man einen Autor benennen will, dann gebührt dieser Ruhm Johannes Wigand, der immer im Schatten des kroatischen Gelehrten stand. Wigand hat nämlich nicht nur zuerst in Magdeburg und dann in Wismar mit wechselnden Helfern die einzelnen Bände verfaßt bis zum Erscheinen der 13. Centurie im Jahr 1574, er hat auch seine eigene Bibliothek selbstlos in den Dienst der Sache gestellt, nachdem er Magdeburg mit den vom Rat der Stadt zur Verfügung gestellten Büchern verlassen musste, nach Wismar ging und dann in den letzten Jahren als Bischof von Samland und Pomesanien in seiner Residenz in Ostpreußen von allen wissenschaftbilder aus zwei Jahrtausenden, hg. von K. DIETZ und Gerhard H. WALDHERR (1997) S. 142–147. 59 Vgl. dazu DIENER, Magdeburg Centuries (wie Anm. 45) sowie DERS., Johann Wigand (wie Anm. 45) passim und HARTMANN, Bedeutung (wie Anm. 43) S. 47ff. 60 Vgl. DIENER, Magdeburg Centuries S. 213–217. 61 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 65f.
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lichen Bibliotheken weit weg war, wie er in Briefen beklagte. Auch dort noch sammelte er Material für die weiteren Centurien 14 bis 16 und schrieb weiter, wie wir aus seinem ebenfalls in die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel gelangten Nachlaß ablesen können62. Es gibt einen interessanten Briefwechsel mit Matthias Flacius, worin Wigand sich beklagt, daß Flacius den Centuriatoren kaum noch Bücher zur Verfügung stelle oder sie gleich wieder zurückfordere bzw. sich über Beschädigungen derselben beklage; er selbst, Wigand, frage nicht danach, ob seine eigenen Bücher durch den Gebrauch für die Arbeit an den Centurien zerlesen würden und damit an Wert verlören, sondern er stelle sie gerne zum höheren Ruhm der protestantischen Sache zur Verfügung 63. In der Tat war es eine ziemliche Unverfrorenheit von Matthias Flacius, die Bücher, die er auf seinen Bibliotheksreisen gesammelt hatte, als seine eigene Bibliothek zu betrachten, denn die Reisen und Handschriftenkäufe waren finanziert worden von den finanzkräftigen Sponsoren der Kirchengeschichte, ein zeitlebens armer Schlucker wie Flacius, zudem gesegnet mit einer großen Kinderschar 64 und wegen seines religiösen Fanatismus und seiner Unbeugsamkeit immer wieder aus seinen Ämtern vertrieben, hätte die Reisen und Bücherkäufe gar nicht bezahlen können. Doch dies vergaß er anscheinend schnell, nahm „seine“ Bibliothek immer mit bei seinen zahlreichen Umzügen und trennte sich bald räumlich und geistig von „seinem“ Projekt, der protestantischen Kirchengeschichte. Wieso wurde er dann später immer als ihr Autor angesehen und nicht Johannes Wigand? Höchstwahrscheinlich ist dies damit zu erklären, daß Flacius wieder zur Feder griff, sich dann erneut völlig mit dem Werk identifizierte und sein „Kind“ verteidigte, als nach Erscheinen der ersten Centurienbände die massive katholische Kritik einsetzte65. Da der Illyricus außerdem nicht nur bei den Anhängern Melanchthons, sondern auch bei anderen Protestanten verhaßt war, vielleicht unter anderem wegen seiner Herkunft, war er eine umso beliebtere Zielscheibe der Kritik. Es gibt nämlich Indizien dafür, daß einige katholische Gelehrte, die die Centurien angriffen, ganz genau wußten, daß Matthias Flacius nicht der Autor war, ihn aber trotzdem gerne zur Zielscheibe ihrer giftigen Polemik machten. Erst im 20. Jahrhundert wurde dann von verschiedenen Theolo-
62
Vgl. die Zusammenstellung der Handschriften in Wolfenbüttel aus Wigands Nachlaß bei HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 67 mit Anm. 104–107. 63 Die diesbezüglichen Briefe sind ediert von DIENER, Magdeburg Centuries, Documents I 11 und I 13, S. 423 und 427; vgl. dazu auch HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 66f. 64 Vgl. dazu bes. den Beitrag von Franz FUCHS in diesem Band. 65 Vgl. dazu HARTMANN, Bedeutung (wie Anm. 43) S. 50f.
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gen der wissenschaftliche Nachweis geführt, daß der Kroate nicht der Autor der Centurien war66, sondern Wigand. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der mittelalterlichen Geschichte und insbesondere der Kirchengeschichte markiert das Magdeburger Unternehmen nicht nur den Anfangspunkt, es ist als wissenschaftliche Leistung über Jahrhunderte nicht mehr überboten worden, denn es haben zwar verschiedene Gelehrte Anstrengungen unternommen, eine Neuausgabe herauszubringen, deren Notwendigkeit immer wieder betont wurde, gelungen ist es aber nie mehr67. Erstmals nahm man die mittelalterlichen Texte, die Quellen, als Grundlage der wissenschaftlichen Abhandlung und dies war wegweisend: nachdem die katholische Polemik Einzelner abgeebbt war68, begann auch die katholische Seite die Quellen zum Mittelalter aufzuarbeiten; Baronius war hier der erste, der nun eine Geschichte der Kirche aus katholischer Sicht schrieb, ohne sich in Polemik gegenüber dem protestantischen Werk zu ergehen. Danach begann man systematisch, die aus dem Mittelalter überkommenen Quellen zu sammeln, der Jesuit Johannes Bollandus (1596–1665) im 17. Jahrhundert sammelte und publizierte die Heiligenviten des Mittelalters, die er finden konnte, der französische Benediktiner der Kongregation von Saint-Maur in Paris, Jean Mabillon (1632–1707), sammelte, untersuchte und publizierte die mittelalterlichen Königsurkunden Frankreichs, und im 18. Jahrhundert trug der Mailänder Erzbischof Giovanni Dominico Mansi (1692–1769) die Texte der mittelalterlichen Konzilien zusammen und druckte sie in über 20 stattlichen Bänden. So verdanken wir den Centuriatoren wie auch dann den späteren katholischen Gelehrten eine Sicherung unseres Bestandes an mittelalterlichen Quellen, denn sie druckten in ihren Bänden manche Texte, deren Handschriften später verloren gingen, etwa im 30jährigen Krieg oder in der französischen Revolution. Die wissenschaftliche Methode der Quellenkritik, also der Überprüfung von Quellen auf ihre Echtheit, ist von Flacius, Wigand und seinen Mitstreitern wesentlich entwickelt worden. Ihr Fälschungsverdacht gegen manche Quelle resultierte zwar aus konfessionell bedingtem Misstrauen, hat aber der sog. historischen Methode den Weg gewiesen. Als Matthias Flacius Illyricus 1575 starb und Johannes Wigand Wismar verlassen hatte, endete dieses ehrgeizige Projekt, bevor es seinen ange66
Der Nachweis wurde geführt von Otto Ritschl (1908), Heinz Scheible (1962) und Ronald Diener (1978), die These ist aber bis heute nicht überall rezipiert worden; vgl. dazu HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 18f. 67 Vgl. zu den verschiedenen erfolglosen Bemühungen DIENER, Magdeburg Centuries S. 317–345 und HARTMANN, Bedeutung (wie Anm. 43) S. 55f. 68 Vgl. dazu zusammenfassend HARTMANN, Bedeutung (wie Anm. 43) S. 53ff.
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strebten Abschluss erreicht hatte, mit dem Erscheinen der Centurie für das 13. Jahrhundert. Besonders beklagt worden ist von protestantischer Seite im 20. Jahrhundert, daß die Centurie zum 16. Jahrhundert nicht publiziert wurde, denn die Sichtweise eines Fast-Zeitgenossen auf die Reformation wäre natürlich besonders reizvoll69. Vermutlich war genau das aber auch für Wigand besonders schwierig, und nach dem Tod von Flacius scheint ihm, der 1573 aus Sachsen ausgewiesen worden war und nun als Bischof in Ostpreußen lebte, die Kraft gefehlt zu haben, das Werk zu vollenden. Es liegen aber in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel Materialsammlungen für die Centurien 14 und 15 sowie ein Entwurf für die 16. Centurie in Manuskripten von Wigands Hand aus seinem Nachlaß vor70, die noch nicht wissenschaftlich ausgewertet sind und derzeit auch kaum wissenschaftlich ausgewertet werden können, da die Herzog August Bibliothek sich weigert, Mikrofilme der besagten Handschriften zu liefern mit dem Hinweis, sie seien aus konservatorischen Gründen nicht verfilmbar. Es gäbe also hier durchaus noch Einiges zu erforschen, jedoch kann dies eigentlich nur gelingen, wenn Theologen, Mediävisten und Frühneuzeitler sowie Altgermanisten und Mittellateiner in interdisziplinärer Zusammenarbeit ihre Kenntnisse einbringen und sich mit dem vielschichtigen und vielseitigen Thema „Matthias Flacius und die Magdeburger Centuriatoren“ auseinandersetzen – so wie die Tagung, aus der der vorliegende Band erwachsen ist, dies in Angriff genommen hat.
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Heinz Scheible hat in der Druckfassung seiner Dissertation (SCHEIBLE, Entstehung [wie Anm. 12] S. 60 Anm. 108) eine Edition der „selbständigen Stücke der 16. Zenturie“ angekündigt, aber nie publiziert. Auf S. 60 Anm. 107 weist er darauf hin, daß in der Handschrift Wolfenbüttel, HAB 11.5 Aug. 2°, Bl. 325–328 ein Fragebogen enthalten ist, den Wigand an bedeutende Zeitgenossen verschicken wollte, um so die „Geschichte“ der Reformation besser darstellen zu können, außerdem hatte er verschiedene Leute um Berichte über den Verlauf der Reformation in einzelnen Städten gebeten. 70 Es handelt sich um die Codices Wolfenbüttel, HAB 11.6 Aug. 2° (14. Centurie), 11.11. Aug. fol. (Vorarbeiten zur 15. Centurie) und 6.5. Aug. 2° sowie 11.20. Aug. fol. (16. Centurie) von Wigands Hand: vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 67 mit Anm. 106 und im vorliegenden Band Arno MENTZEL-REUTERS, Quellenarbeit in den Magdeburger Centurien S. 192ff.
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War Flacius Humanist? Matthias Flacius zählt zu den markantesten Theologen der Reformationszeit. Er betätigte sich unter anderem als Theoretiker der Exegese, aber auch – in enger Verknüpfung zu seiner Theologie – als Publizist und religiöser Polemiker1. Doch auch außerhalb des engeren theologischen und religiösen Bereiches trat Flacius hervor, nämlich als einer der bedeutendsten Gelehrten des 16. Jahrhunderts: als Historiker im weitesten Sinne des Wortes, als Philologe und Editor. In einigen älteren, aber auch jüngeren Veröffentlichungen der Flaciusforschung – solchen, die sich vor allem mit seinen philologischen und editorischen Leistungen befassen –, wird nun zudem Flacius manchmal als ‚Humanist‘ bezeichnet, oder er wird zumindest in die Nähe des Humanismus gerückt. Martina Hartmann überschreibt ihre große Untersuchung über Flacius als Handschriftenforscher und Editor mit „Humanismus und Kirchenkritik“2. Sie zeigt anhand einer überwältigenden Fülle von Material, daß „im 16. Jahrhundert niemand so viel über das Mittelalter gelesen hatte, wußte und an eigenen Quellenforschungen betrieben hat“3 wie Flacius. Dies führt sie zu dem Urteil, er sei ein „echte(r) Humanist“ gewesen4. Ein echter oder ein unechter – ein „bedeutender“ Humanist war er auch nach der Formulierung Erwin Wedels allemal5. Während eine Reihe anderer Autoren den Humanismusbegriff für Flacius weder in affirmativer Weise in Anschlag bringt noch auch seine Nichtanwendung explizit begründet, bezeichnet James Kittelson, der den ‚Humanismus‘ lutherischer Theologen des konfessionellen Zeitalters untersucht hat, Flacius gerade im Hinblick auf das Humanismusproblem als „the real1
Vgl. Thomas KAUFMANN, Matthias Flacius Illyricus. Lutherischer Theologe und Magdeburger Publizist, in: Mitteldeutsche Lebensbilder. Menschen im Zeitalter der Reformation, hg. von Werner FREITAG (2004) S. 177–199. – Zusätzlich zu den Reihenabkürzungen benutze ich folgende Abkürzung: WA = Weimarer Ausgabe der Werke Luthers, Hauptreihe 1–65 (1883–1991). – Ich danke Johannes Helmrath und Jan-Friedrich Mißfelder herzlich für kritische Lektüre und hilfreiche Hinweise. 2 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik. 3 Ebd., S. 22. 4 Ebd., S. 140. 5 Vgl. Erwin WEDEL, Matthias Flacius Illyricus. Ein bedeutender kroatischer Humanist, in: Matthias Flacius Illyricus 1575–1975 (1975) S. 23–36.
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ly disturbing instance“ – und bezweifelt generell, ob man lutherische Theologen und Gelehrte der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Humanisten „in any meaningful sense of the term“ bezeichnen könne 6. Diesem Zweifel möchte ich im folgenden nachgehen. Der Begriff des Humanismus und des Humanisten leidet – dies ist bei einem so abstrakten Begriff vielleicht kein Wunder – an einer relativen Unschärfe. Klärungsversuche der historischen Wissenschaften aus den letzten 50 Jahren haben zwar einiges zu seiner Präzisierung beigetragen, aber dennoch ist es außerhalb der engeren Humanismusforschung nach wie vor relativ gängig, den Humanismus mit „der Gelehrsamkeit dieser Epoche insgesamt zu identifizieren“7, während innerhalb der Humanismusforschung zwar verschiedene, durchaus trennscharfe Definitionen diskutiert werden, sich aber keine Einigkeit abzeichnet – weder über die Bedeutung des Begriffs noch über die zeitliche Erstreckung des Phänomens, das er bezeichnet. „Kein anderer Terminus, der wissenschaftliche wie literarische Werke, ihre Autoren, ja eine ganze Epoche kennzeichnet, stößt auf eine derartig breite Akzeptanz, ohne daß über seinen genauen Inhalt Konsens bestünde“8. Die allgemeine Reflexion über den Begriff des Humanismus und seiner Anwendbarkeit auf Matthias Flacius kann präzisiert werden, wenn man sich Flacius’ historiographischem Werk zuwendet und dieses in Beziehung zur Humanismus-Problematik setzt. Die eigentümliche Zweiteilung der Flaciusforschung in einen mediävistisch-philologischen und einen eher geistes- und kirchengeschichtlichen Strang läßt sich nämlich auch anhand der Studien nachvollziehen, die etwa seinem bedeutendsten historiographischen Werk, dem Catalogus testium veritatis 9 gewidmet sind. Während 6
James M. KITTELSON, Humanism in the Theological Faculties of Lutheran Universities during the Late Reformation, in: The Harvest of Humanism in Central Europe: Essays in Honor of Lewis W. Spitz, hg. von Manfred P. FLEISCHER (1992) S. 139–157, hier S. 143. 7 Paul Oskar KRISTELLER, Die humanistische Bewegung, in: DERS., Humanismus und Renaissance 1, hg. von Eckhard KESSLER (Humanistische Bibliothek 1,21, 1974), 7–29, hier S. 18. 8 Ulrich ANDERMANN, Albert Krantz. Wissenschaft und Historiographie um 1500 (1999) S. 284. 9 Die Magdeburger Centurien laufen insofern sozusagen außer Konkurrenz, als er hier vor allem als Theoretiker und Organisator wirkte, während seine Hauptmitstreiter, Matthaeus Judex und Johannes Wigand, als die eigentlichen Verfasser des Werks anzusehen sind, denen exzerpierende Hilfskräfte zur Seite standen. Zu Wigand vgl. Ronald E. DIENER, Johann Wigand (1523–1587), in: Shapers of Religious Traditions in Germany, Switzerland, and Poland, 1560–1600, hg. von Jill RAITT (1981) S. 19–38. Vgl. zur Teamstruktur: DIENER, Centuries S. 59–67. Zur Exemplarität dieses Gelehrten-Teamworks vgl. Paul LEHMANN, Geisteswissenschaftliche Gemeinschafts- und Kollektivunternehmungen in der geschichtlichen Entwicklung, in: DERS., Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte
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Mediävisten, Philologen und Handschriftenforscher den Catalogus testium veritatis vor allem auf seinen Umgang mit Manuskripten untersuchen und ihn als Überlieferungsscharnier für mittelalterliche Quellen ansehen10, interessieren sich geistes- und theologiegeschichtliche Arbeiten eher für die Konzeption des Werks 11. Beide Perspektiven sind berechtigt, und keine läßt sich auf die andere reduzieren; dennoch stehen sie relativ unverbunden nebeneinander12. Ausgehend von dieser Konstellation – der Unklarheit des Humanismusbegriffs und seiner Anwendbarkeit auf Flacius sowie der diesem Problem entsprechenden Dichotomie der Forschung zum Catalogus testium veritatis – möchte ich der Frage nachgehen, ob und in welcher Weise der Begriff des Humanismus und des Humanisten auf Flacius paßt. Dies klingt erst Abhandlungen und Aufsätze 4 (1961) S. 353–385; Anthony GRAFTON, Where was Salomon’s House? Ecclesiastical History and the Intellectual Origins of Bacons New Atlantis, in: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus, hg. von Herbert JAUMANN (2001) S. 21–38. 10 Vgl. etwa: Thomas HAYE, Der Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus – eine Einführung in die Literatur des Mittelalters?, Archiv für Reformationsgeschichte 83 (1992) S. 31–49; HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik, S. 141–197 und 211–219; Martina HARTMANN, „Mit ungeheurer Mühe habe ich den Mönchen in Fulda einige Codices abgerungen“ – Matthias Flacius Illyricus sucht Quellen für die erste protestantische Kirchengeschichte, Fuldaer Geschichtsblätter 79 (2003) S. 5–45; OLSON, Flacius S. 233–255. Rezeptionsgeschichtlich orientiert sind auch Studien zu einzelnen der ‚Zeugen‘: Vgl. Karl-Hermann KANDLER, Nikolaus von Kues als testis veritatis. Beitrag eines evangelisch-lutherischen Theologen zur Wirkungsgeschichte von De pace fidei, Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 17 (1986) S. 223– 234; Ferdinand BARTH, Dante Alighieri – Ein „Zeuge der Wahrheit“, in: Reformation und Katholizismus. Beiträge zu Geschichte, Leben und Verhältnis der Konfessionen. Festschrift Gottfried Maron, hg. von Jörg HAUSTEIN und Harry OELKE (2003) S. 20–48; zur Dante-Rezeption siehe auch: Marcella RODDEWIG, Flacius, Vergerius, Foxe, Wolfius, Mornay und der erste deutsche Übersetzungsversuch aus dem Paradiso vom Jahr 1573, Deutsches Dante-Jahrbuch 44 / 45 (1967) S. 100–149. 11 Der beste neuere Beitrag ist: Heinz SCHEIBLE, Der Catalogus testium veritatis. Flacius als Schüler Melanchthons, Ebernburg-Hefte 30 (1996) S. 91–105; als Einführung nützlich: Wilhelm SCHMIDT -BIGGEMANN, Flacius Illyricus’ „Catalogus testium veritatis“ als kontroverstheologische Polemik, in: Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren, hg. von Günter FRANK und Friedrich NIEWÖHNER (2004) S. 263– 291. Siehe auch: Matthias POHLIG, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617 (2007) S. 301–322. 12 Der einzige Autor, der durch seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Flacius in der Lage wäre, diese Dichotomie zu überbrücken, Oliver K. Olson, tendiert in seiner Biographie zur maßlosen Heroisierung seines Protagonisten. Daneben zeichnet er Flacius’ gelehrte Tätigkeit in dankenswert positivistischer Weise nach, die jedoch nicht dazu angetan ist, dessen geistige Kontur klarer zu beleuchten. Vgl. OLSON, Flacius, und meine Rezension ZHF 31 (2004) S. 465–467.
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einmal nach einer pedantischen Frage voller „grenzpolizeilicher Befangenheit“13, wie Warburg in ähnlichem Kontext schreibt, einer Frage zudem, die eine Entweder-Oder-Entscheidung mit einem hoch abstrakten Begriff verknüpft – und daher von vornherein dazu verurteilt sein könnte, entweder eindeutige, aber verkürzte Antworten oder aber ein differenzierendes Ausweichmanöver nahezulegen. Dennoch meine ich, daß die Untersuchung dieser Frage sowohl einen Beitrag zur Klärung von Flacius’ geistiger Physiognomie als auch eine Skizze unterschiedlicher, oft nicht scharf unterschiedener Konnotationen des Humanismusbegriffs wird liefern können. Gerade angesichts einer Flaciusforschung, die sich zuweilen in verdienstvoller Datenerhebung erschöpft, kann vielleicht ein etwas generalisierender Zugang, wie ich ihn hier wage, und eine letztlich dezisionistische Definitionsbemühung von Interesse sein. Ich vertrete dabei die These, daß der Humanismusbegriff nicht geeignet ist, um die Charakteristika von Flacius’ geistigem Profil herauszuarbeiten. Ganz im Gegenteil scheint mir der Humanismusbegriff viele Differenzen zwischen Flacius und anderen Gelehrten eher zu verdunkeln. Auch der ohnehin unscharfe Humanismusbegriff profitiert nicht davon, wenn ihm eine Gestalt wie Flacius subsumiert wird. Flacius ist so weit entfernt vom ‚hohen‘ Humanismus der Jahre um 1500 wie vom ‚späten‘ Humanismus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, daß es auch dem Verständnis des Humanismus eher abträglich wäre, wenn Flacius unter seine Exponenten gezählt würde. Ich verfahre in fünf Schritten: Zuerst stelle ich einige Überlegungen zum Begriff des Humanismus an (I.) Zweitens gehe ich der Frage nach, in welcher Weise er sich zu Reformation und Konfessionalisierung verhält (II.). Dann vertiefe ich diese Überlegungen im Hinblick auf die humanistische Historiographie (III.). Anschließend spiele ich anhand verschiedener Indizien, unter anderem unter Beiziehung des Catalogus testium veritatis, die Humanismusfrage für Flacius durch (IV.), worauf einige Schlußbemerkungen folgen (V.).
I. Die deutsche Humanismusforschung, nach 1933 durch das erzwungene Exil bedeutender Gelehrter im Wesentlichen unterbrochen, ist in den letzten Jahren wieder in Bewegung gekommen und hat Anschluß an die internationale Forschung gewonnen. Neben vielen Einzelstudien ist eine Reihe von Sammelwerken entstanden, die sich neben anderem auch der Frage 13
Aby M. W ARBURG, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoia zu Ferrara, in: DERS., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von Dieter WUTTKE, 3. Aufl. (1992) S. 173–198, hier S. 185.
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gewidmet haben, wie Humanismus zu definieren sei14. Dabei ist mehreres deutlich geworden: zuerst, daß als Ausgangspunkt der Diskussion nicht ein weiter, epochenunspezifischer, auf ‚Menschlichkeit‘ oder ähnliches gerichteter Humanismusbegriff genommen werden kann, der die Antike ebenso zu umgreifen vermag wie das 20. Jahrhundert. Zweitens aber scheint, selbst bei einer zeitlichen Beschränkung auf das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit, also den sogenannten ‚Renaissance-Humanismus‘, eine Reflexion darauf vonnöten, ob der Begriff so spezifisch gebraucht wird, daß er in der Lage ist, Phänomene und Gestalten auszugrenzen. Humanismus, so könnte nämlich eine Ausgangsbeobachtung lauten, erscheint in Teilen der Forschung als positiv konnotierter Komparativ von Gelehrsamkeit. Wenn jemand ein Humanist war, dann, so wird suggeriert, muß er nicht nur ein besonders akkurater und wichtiger Gelehrter gewesen sein, sondern zudem einer, dessen Forschungen sich durch eine relativ deutliche Entwicklung in Richtung Moderne auszeichnen. Dies ist aber offenbar ein Begriff, der die moderne Forschung wenig weiterbringt und der zudem das zeitgenössische Verständnis verfehlt. Eine von diesem ausgehende, in der Forschung epochemachende Begriffsbestimmung stammt von Paul Oskar Kristeller, der den Humanisten von seiner Beschäftigung mit den ‚studia humanitatis‘ her bestimmt, also dem Kanon der seit dem 15. Jahrhundert feststehenden gelehrten Disziplinen, die zum Teil außerhalb der universitären artes-Ausbildung und vor allem der Theologie standen: Grammatik, Rhetorik, Geschichte, Poesie und Moralphilosophie. Der ‚Humanist‘ war entsprechend der Schüler oder Lehrer dieser Fächer15. Als Kernkompetenz der Humanisten erscheint ihre Fähigkeit, sich – nach einer Formulierung Jakob Wimpfelings – als poetae oratores historici zu betätigen16. Der Humanismus wird im Gefolge Kristellers nicht als weltanschauliche Bewegung mit klaren inhaltlichen Zielsetzungen bestimmt, sondern als auf spezifische Ziele beschränkte Erziehungsbewegung. Diese Bewegung habe keine gemeinsame Philosophie besessen, son14
Ich nenne nur: Humanisten am Oberrhein. Neue Gelehrte im Dienst alter Herren, hg. von Sven LEMBKE und Markus MÜLLER (2004) sowie die drei zusammengehörigen Bände: Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, hg. von Notker HAMMERSTEIN und Gerrit WALTHER (2000); Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. von Johannes HELMRATH , Ulrich MUHLACK und Gerrit WALTHER (2002); Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hg. von Thomas MAISSEN und Gerrit WALTHER (2006). Eine konzise Zusammenfassung der älteren Definitionstraditionen findet sich bei: Rüdiger LANDFESTER, Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14.–16. Jahrhunderts (1972) S. 17–31. 15 Vgl. KRISTELLER, Humanistische Bewegung (wie Anm. 7) S. 16f. 16 Zitiert nach: Caspar HIRSCHI, Das humanistische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien, HJb 122 (2002) S. 355–396, hier S. 389.
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dern sich primär in literarischer Weise betätigt. Kristellers Bezugspunkte vor allem stilistischer Art sind die Antike, die antiken Autoren und ihre Latinität; die Frage, ob darüber hinaus dem Humanismus auch eine auf die eine oder andere Weise ‚antikisierende‘ Geisteshaltung eigen ist, liegt außerhalb des philologischen Fokus von Kristellers Definition. George Logan hat in Auseinandersetzung mit Kristeller das Problem als eines von ‚Substanz‘ und ‚Form‘ beschrieben: Kristeller neige dazu, den Humanismus allein formal zu bestimmen. Wenn ihm auch insofern zuzustimmen sei, als der Humanismus keine kohärente Weltsicht oder gar Philosophie besessen habe, so befriedige dennoch auch Kristellers Definition nicht: „It has proved difficult to formulate a definition of Renaissance humanism that on the one hand embraces all those people and only those people whom we want to describe as Renaissance humanists and that on the other hand facilitates an understanding of the cultural significance of this tradition“17. Logan stellt gegen Kristeller die These auf, daß es neben den formalen Fertigkeiten der studia humanitatis mindestens zwei substanzielle Charakteristika des Humanismus gebe, die allgemein geteilt würden, nämlich erstens die Ausbildung einer antikisierenden Rhetorik und zweitens eine Durchdringung der Überlieferung mit einem neuen historischen Sinn18. Unabhängig davon, ob man Logan hierin folgt, weist er doch auf ein Problem hin, das die Humanismusforschung weiterhin beschäftigt: die Frage nach den inhaltlichen Charakteristika des Humanismus. Wenn auch Kristeller mit seiner relativ engen und technischen Definition des Humanismus weiterreichenden Spekulationen vielfach das Wasser abgegraben hat, ist doch deutlich zu beobachten, daß die neuere Forschung ihre Bestimmung des Humanismus gegenüber Kristeller in unterschiedlicher Weise wieder ausgeweitet hat. So ist – cum grano salis – betont worden, daß der Humanismus einige normative Grundannahmen besitzt, die zwar keine kohärente Weltanschauung bilden, sich aber auch nicht auf technische Fertigkeiten reduzieren lassen19. Wenn auch im Humanismus verschiedene Philosophien konvergierten bzw. dieser hinreichend offen war, um verschiedene Weltanschauungen zu tragen, findet sich doch ein Minimalkonsens auch inhaltlicher, auf Werte und Ziele abstellender Merkmale. So sei Humanismus etwa zu bestimmen als Versuch der Wie17
George M. LOGAN, Substance and form in Renaissance humanism, Journal of Medieval and Renaissance Studies 7 (1977) S. 1–34, hier S. 3. 18 Ebd., S. 2. 19 So würde ich, noch genereller, mit Thomas Maissen einen Dissens gegenüber Gerrit Walthers Auffassung formulieren, der Humanismus erschöpfe sich in seinen Funktionen und Funktionalisierungen. Vgl. dazu Gerrit WALTHER, Funktionen des Humanismus. Fragen und Thesen, in: Funktionen des Humanismus (wie Anm. 14) S. 9–17; Thomas MAISSEN, Schlußwort. Überlegungen zu Funktionen und Inhalt des Humanismus, in: ebd., S. 396–402.
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derbelebung der Antike und ihrer Bildung, und zwar der ganzen Antike, nicht nur eines Teils 20. Der Höchstwert, der der Bildung als normativer Referenz zugewiesen wird, habe die Vorstellung zur Konsequenz, daß die studia humanitatis, vor allem die lateinische Sprache, dazu verhelfen, ein besserer Mensch zu werden21. Damit gewinnt die Beschäftigung mit antiker Bildung eine eminente Gegenwartsfunktion für die Bestimmung des eigenen Standortes und die Lösung politischer, sozialer und religiöser Probleme. Diese existentielle Dimension spricht – so man sie denn als konstitutives Merkmal des Humanismus anzuerkennen bereit ist – gegen eine Auffassung, nach der eine funktionalisierte Aneigung humanistischer Methoden oder Fertigkeiten hinreichen könnte, um als Humanist zu gelten. Der Humanismus (der natürlich seinerseits einer historischen Entwicklung unterliegt) als eigenständige kulturelle Bewegung mit einer relativ einheitlichen Selbstsicht scheint unter diesem Gesichtspunkt ungefähr von Petrarca bis Erasmus zu reichen22. Diese eigenständige Bewegung orientierte sich, so darf man vielleicht definieren, an einer „zur gesellschaftlichen Norm erhobenen Konversationskultur von hohem sprachästhetischem Anspruchsniveau und mit fest institutionalisierten Regeln der didaktischen Anleitung und der sprachlichen und geistigen Kommunikation“23. Damit wird der Humanismus gegenüber Kristeller wieder zu einer relativ einheitlichen kulturellen Bewegung, oder doch zu einem ‚kulturellen Kontext‘ oder ‚diskursiven Feld‘ mit eigenen Gesetzen, wie Kenneth Gouwens formuliert24. Als eine Instanz mit Höchstrelevanz kann im Kanon humanistischen Denkens neben den studia humanitatis selbst und der Antike allenfalls noch die Nation gelten25. Dies gilt auch und gerade für den deutschen Hu-
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Vgl. Paul JOACHIMSEN, Renaissance, Humanismus und Reformation, in: DERS., Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken 1, hg. von Notker HAMMERSTEIN, 2. Aufl. (1983) S. 125–147, hier S. 131. 21 Vgl. Walther LUDWIG, Humanismus und Christentum im 16. Jahrhundert (1997) S. 12–15. 22 Vgl. Ulrich MUHLACK, Die humanistische Historiographie. Umfang, Bedeutung, Probleme, in: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus, hg. von Franz BRENDLE u.a. (2001) S. 3–18, hier S. 6. 23 LANDFESTER, Historia magistra vitae (wie Anm. 14) S. 28. 24 Vgl. Kenneth GOUWENS, Perceiving the Past: Renaissance Humanism after the „Cognitive Turn“, American Historical Review 103 (1998) S. 55–82, hier S. 80: „I would argue that humanism is best conceived not as the narrowly defined studia humanitatis of Kristeller but as the cultural context (or, discursive field) within which exceptionally visible figures such as Petrarch and Raphael operated.“ 25 Vgl. Diffusion des Humanismus (wie Anm. 14); HIRSCHI, Nationskonstrukt (wie Anm. 16).
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manismus, der bei aller inneren Differenzierung und Typenvielfalt 26 doch in der normativen Bezugnahme auf die deutsche Nation weitgehend konvergierte27. Viele deutsche Humanisten wehrten sich gegen den vor allem von italienischen Autoren erhobenen Vorwurf deutscher Unkultur und suchten ihn in der historischen Beschäftigung mit dem deutschen Mittelalter zu widerlegen, ohne dabei die aus Italien übernommenen Standards der studia humanitatis aufzugeben28. Das Mittelalter wurde damit deutlich aufgewertet; das Bewußtsein eines Epochenbruches zwischen Mittelalter und humanistischer Bewegung lag in dieser Variante nicht vor29. Das deutsche Mittelalter ist in dieser legitimatorischen Sicht eindeutig positiv besetzt – eine Verfallsgeschichte, wie sie die italienischen Humanisten zeichneten, ist nicht zu erkennen. Diese humanistische Deutung des deutschen Mittelalters konnte wegen der immer mitgedachten antirömischen Haltung zu einer zeitweiligen Konvergenz humanistischer und protestantischer Interessen führen30. Inwieweit diese Faszination für das Mittelalter aber auch einen lutherischen Historiker wie Flacius infizierte, soll weiter unten diskutiert werden. Ein weiterer Strang der Humanismusforschung hebt nicht auf inhaltliche Gemeinsamkeiten der Humanisten, sondern ein gemeinsames Selbstbild und ein Selbstverständnis als Gruppe, wenn nicht verschworene Gemeinschaft ab, die sich in Briefwechseln, Freundschaftsritualen, gemeinsamen Feinden und antik stilisierten Namen erkannte31. Robert Black etwa weist 26
Vgl. ANDERMANN, Albert Krantz (wie Anm. 8) S. 284. Zu den verschiedenen Formen dieses humanistischen Bezugs auf die deutsche Nation siehe: Jörn GARBER, Vom universalen zum endogenen Nationalismus. Die Idee der Nation im deutschen Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Dichter und ihre Nation, hg. von Helmut Scheuer (1993) S. 16–37. 28 Vgl. Franz Josef WORSTBROCK, Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft, hg. von Walter Müller-Seidel (1974) S. 499–519. 29 Vgl. Herfried MÜNKLER und Hans GRÜNBERGER, Nationale Identität im Diskurs der deutschen Humanisten, in: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, hg. von Helmut BERDING (1994) S. 211–248; Jacques RIDÉ, Les humanistes allemandes et le Moyen Âge, in: L’histoire au temps de la renaissance, hg. von M.T. JONES-DAVIES (1995) S. 131–145. 30 Vgl. z.B. John D’AMICO, Ulrich von Hutten and Beatus Rhenanus as medieval historians and religious propagandists in the early reformation, in: DERS., Roman and German Humanists. Collected Studies (1993) S. 1–33. 31 Vgl. Eckhard BERNSTEIN, From Outsiders to Insiders. Some Reflections on the Development of a Group Identity of the German Humanists between 1450 and 1530, in: In laudem Caroli. Renaissance and Reformation studies for Charles G. Nauert (1998) S. 45– 64; vgl. in diese Richtung auch die Habilitationsschrift von Harald MÜLLER, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 32, 2006). Zum Selbstverständnis der respublica litteraria siehe auch: Herbert 27
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auf den Korpsgeist der Humanisten und ihre sprachliche Selbststilisierung hin, die zur Konsequenz gehabt hätten, daß sich die Humanisten gegenseitig als solche erkannt und anerkannt hätten. Er macht diese zeitgenössische Wahrnehmung sogar zum Ausgangspunkt seines Bestimmungsversuches: By attempting to show his readers that he is affiliating himself, however imperfectly, with the Latin style of the ancients as opposed to the moderns (or medievals in modern parlance), a writer is making an implicit declaration of his affinity with the humanist movement. A humanist is thus someone who acts like other humanists; this is how contemporaries would have identified humanism, and such a definition, stripped of historicist paraphernalia, will work equally well for us32.
Das humanistische Zusammengehörigkeitsgefühl und ihr forciert vorgetragenes Selbstbewußtsein, einen neuen, unumgehbaren Code für Bildung und Elitebewußtsein zu schaffen und zu verkörpern, machte diesen binnen weniger Generationen zu einer geistigen Mode33. Die europäischen Herrscher ihrerseits verstanden, daß sie Humanisten brauchten – als Diplomaten und Politiker genau wie als Agenten einer neuartigen Repräsentationskultur. Damit wurde der Humanismus in höfische und andere Kontexte eingebettet, ihm wuchsen neue Funktionen zu34. Es ergibt sich beim Durchgang durch die Forschung also das Bild dreier, wenn auch nicht klar voneinander getrennter, Definitionsanstrengungen: einmal Kristellers restriktive, formale Definition, die aber vielen Historikern nicht ausreichend erscheint, um den Humanismus als kulturelle Bewegung zu konturieren; dann Versuche einer inhaltlichen Bestimmung von Humanismus über normative Referenzpunkte wie Antike oder Nation; schließlich der eher sozialgeschichtliche Versuch, Humanisten über Formen ihres ‚self-fashioning‘ auszumachen. Alle drei Ansätze sollen weiter unten in Bezug auf Flacius wieder aufgegriffen werden.
JAUMANN, Gibt es eine katholische „Respublica litteraria“? Zum problematischen Konzept der Gelehrtenrepublik in der frühen Neuzeit, Zeitsprünge 2 (1998) S. 361–379. 32 Robert BLACK, Humanism, in: The New Cambridge Medieval History 7: c. 1415– c. 1500, hg. von Christopher Allmand (1998) S. 243–277, hier S. 252. 33 Vgl. ebd., S. 273; C.P.M. BURGER, Ist, wer den rechten Zungenschlag beherrscht, auch schon ein Humanist? Nikolaus Blanckaert (Alexander Candidus) O.Carm. († 1555), in: Northern Humanism in European Context, 1469–1625. From the „Adwert Academy“ to Ubbo Emmius, hg. von F. AKKERMAN u.a. (1999) S. 63–81. 34 Zu dieser sozialgeschichtlichen Sicht vgl. BLACK, Humanism (wie Anm. 32) S. 275f.; Funktionen des Humanismus (wie Anm. 14); Sven LEMBKE / Markus MÜLLER, An Humanisten den Humanismus verstehen. Ein Resümee, in: Humanisten am Oberrhein (wie Anm. 14) S. 303–313.
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II. Das Problem von Begriff und Phänomen des Humanismus verschärft sich noch, wenn man diese in Bezug zur Reformation und konfessionellen Konfrontation zu setzen versucht. Sowohl der ‚humanistische‘ Aufruf zur Kirchenreform als auch die Entwicklung der Textkritik waren Voraussetzungen, auf denen die Reformation aufbauen konnte, so daß man formulieren kann: „Ohne Humanismus keine Reformation“35, ohne damit eine Identität beider Bewegungen zu behaupten. Doch was geschah mit humanistischen Zielen und Techniken im Zeitalter der Konfessionalisierung? Dies wird recht unterschiedlich bewertet: Es findet sich zum einen die Ansicht, die konfessionelle Konfrontation habe den tendenziell kritischen und irenischen Geist des Humanismus so weitgehend verdrängt, daß dieser in Deutschland um 1540 zu existieren aufgehört habe 36. Zum anderen kann man zeigen, daß der durchaus weiterwirkende Humanismus auch des konfessionellen Zeitalters einen überkonfessionellen Zusammenschluß von Gelehrten mit einem hohen Sonderbewußtsein konstitutierte37. Es ist sogar davon gesprochen worden, daß der Humanismus im konfessionellen Zeitalter eine „enge Symbiose“ mit den konfessionellen Kräften eingegangen sei, die bewirkte, „daß beide einander ausbalancierten, relativierten, neutralisierten“38. Was bedeuten diese gegensätzlichen Einschätzungen für die Frage des Humanismus im konfessionellen Zeitalter? 35
Bernd MOELLER, Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, ZKG 70 (1959) S. 47–61, hier S. 59. Zum Verhältnis von Humanismus und Reformation vgl. vor allem Erika RUMMEL, The Confessionalization of Humanism in Reformation Germany (2000) sowie: Ralph KEEN, Humanism and Reformation in Controversy, Thomas Morus Jahrbuch (1995) S. 84–91; Franco BUZZI, L’umanesimo a Wittenberg, in: Rapporti e scambi tra umanesimo italiano ed umanesimo europeo, hg. von Luisa ROTONDI SECCHI T ARUGI (2001) S. 23–37. 36 Vgl. Ronald G. WITT, The Humanist Movement, in: Handbook of European History 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation 1, hg. von Thomas A. BRADY, Jr., Heiko A. OBERMAN und James D. T RACY (1995) S. 93–119, hier S. 119; Pierre GRAPPIN, L’humanisme en Allemagne après la réforme luthérienne, in: L’humanisme allemand (1480–1540). Ouvrage publié avec le concours du CNRS. XVIIIe Colloque International de Tours (1979) S. 593–605, hier S. 593. 37 Vgl. Erich T RUNZ, Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, in: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, hg. von Richard ALEWYN, 4. Aufl. (1970) S. 147–181. Zum Weiterwirken einzelner Elemente des ‚humanistischen Programms‘ siehe auch: Euan CAMERON, The Late Renaissance and the Unfolding Reformation in Europe, in: Humanism and Reform: The Church in Europe, England, and Scotland, 1400–1643. Essays in Honour in James K. Cameron, hg. von James KIRK (1991) S. 15–36, hier S. 17. 38 Gerrit WALTHER, Humanismus und Konfession, in: Späthumanismus (wie Anm. 14) S. 113–127, hier S. 127; vgl. zum Problem auch: Matthias ASCHE, Humanistische Distanz gegenüber dem „Konfessionalisierungsparadigma“. Kritische Bemerkungen aus der
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Der Humanismus veränderte sich im 16. Jahrhundert. So haben – mit oder ohne Bezug auf die Reformation – vor allem amerikanische Forscher (Bouwsma, Nauert, Grafton/Jardine) darauf hingewiesen, daß die ursprünglich weltanschaulich einigermaßen indifferente humanistische Bewegung sich an der Wende zum 16. Jahrhundert zunehmend transformierte. So ist eine Breitenwirkung des humanistischen Modells von Rhetorik und Sprache zu beobachten, die zwar einerseits in den pädagogischen Tendenzen bereits des früheren Humanismus angelegt war, andererseits diesen doch als Elitencode desavouierte, indem er in den Bildungsanstalten in breiter Weise rezipiert, gelehrt und gelernt wurde39. Die ursprünglich keiner fixierten Weltanschauung folgende, auf dem Primat der Rhetorik aufbauende humanistische Bewegung wandte sich insgesamt wieder stärker Inhalten, aber auch Autoritäten zu und konnte so leichter in die Verschulungsbemühungen der Konfessionskirchen eingebunden werden40. Damit ergab sich eine Veralltäglichung des Humanismus, die zwar nicht sein Ende bedeutete, aber doch seine Transformation und seine Integration in ein neues intellektuelles und soziales Koordinatensystem41. Auch außerhalb des engeren institutionellen Bildungskontextes der Lateinschulen und Universitäten etablierte sich der Humanismus als Mode und Elitencode42. Die gesellschaftsgeschichtlich relevanteste Konsequenz des Aufeinandertreffens von Humanismus und Konfessionalisierung im Reich bestand aber in einer Institutionalisierung des Humanismus: Beim Ausbau des niederen und höheren Schulwesens im Zuge der Konfessionalisierung bediente man sich in katholischen wie protestantischen Gebieten in hohem Maße der durch den Humanismus vermittelten Bildungsinhalte und -methoden. Das Phänomen des konfessionellen Schulhumanismus ist allerdings im Reich sehr viel ausgeprägter zu beobachten als z.B. in Frankreich, wo Humanismus und Universität weitgehend antagonistisch zueinander blieben43. Der Preis für dieses Weiterwirken humanistischer Standards war, mindestens Sicht der deutschen Bildungs- und Universitätsgeschichte, Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 7 (2001) S. 261–282. 39 Vgl. Anthony GRAFTON / Lisa JARDINE, From Humanism to the Humanities. Education and the Liberal Arts in Fifteenth- and Sixteenth-Century Europe (1986) S. 162. 40 Vgl. William J. BOUWSMA, Changing Assumptions in Later Renaissance Culture, in: DERS., A Usable Past. Essays in European Cultural History (1990) S. 74–96. 41 Vgl. Charles G. NAUERT jr., Humanism and the end of the Renaissance, in: DERS., Humanism and the Culture of Renaissance Europe, 3. Aufl. (1998) S. 192–215. 42 Vgl. Walter RÜEGG, Der Humanismus und seine gesellschaftliche Bedeutung, in: Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, hg. von Rainer Christoph SCHWINGES (1999) S. 163–180. 43 Vgl. Leif GRANE, Studia humanitatis und Theologie an den Universitäten Wittenberg und Kopenhagen im 16. Jahrhundert: komparative Überlegungen, in: Der Humanismus und die oberen Fakultäten, hg. von Gundolf KEIL, Bernd MOELLER und Winfried T RUSEN (1987) S. 65–114, hier S. 112.
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im Reich, deren Instrumentalisierung für die Ausbildungszwecke der Konfessionskirchen und der Territorialstaaten44. Diese konnte aber nur deshalb stattfinden, weil die Konfessionskirchen im Humanismus entweder eine nicht zu ignorierende Herausforderung oder zumindest Mode sahen. Doch hatte diese Verbindung in den allermeisten Fällen ihren Preis: Zwar besaß die Begegnung von Humanismus und Reformation zu Beginn einiges von einem „produktiven Mißverständnis“45, welches darin bestand, daß die Reformatoren die romkritischen, nationalen und philologischen Ansätze des Humanismus für ihre Zwecke einsetzten (so im Falle Luthers) oder sich genuin humanistische Interessen z.B. hinsichtlich der klassischen Bildung, aber auch der Kirchenreform mit der lutherischen Bewegung verbanden (so etwa im Falle Melanchthons). Doch schon um 1520 ist eine Bewußtwerdung der Grenzen der Übereinstimmung von Reformation und Humanismus zu erkennen46: Erasmus und die Erfurter Humanisten kritisierten den Bildungsverfall in Gebieten, die die Reformation eingeführt hatten. Ab den 1520er Jahren setzten dann Bildungsanstrengungen auf Seiten der Reformatoren ein, für die hier abgekürzt Luthers Ratsherrenschrift stehen kann, die deutlich die Verbindung zwischen (vor allem sprachlicher) Bildung und Reformation der Kirche und damit auch die Hochschätzung humanistischer Programme im Denken Luthers zeigt 47. In ihr ist aber auch eine Instrumentalisierung angelegt, die Erasmus als Verkürzung humanistischer Ansätze erschien. Diejenigen, die sich um 1520 als Humanisten verstanden, sahen sich zunehmend gezwungen, entweder Partei im Konfessionsstreit zu ergreifen oder mit Rückzug, Zweideutigkeiten oder aussichtslosen Differenzierungsversuchen zu reagieren. Und ein zweiter Punkt trat hinzu: War die Reformation zu Beginn, gerade auch aus dem humanistischen Lager, sehr stark als nationale Bewegung rezipiert und begrüßt worden48, so wurde das nationale Paradigma im Zeitalter der Kon44
Vgl. Anton SCHINDLING, Institutionen gelehrter Bildung im Zeitalter des Späthumanismus. Bildungsexpansion, Laienbildung, Konfessionalisierung und Antike-Rezeption nach der Reformation, in: Nicodemus Frischlin (1547–1590). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters, hg. von Sabine HOLTZ und Dieter MERTENS (1999) S. 81–104. 45 MOELLER, Humanisten (wie Anm. 35) S. 54. Zur Kritik an dieser These vgl. RUMMEL, Confessionalization of humanism (wie Anm. 35), Kap. 1. 46 Dieser Abschnitt folgt: RUMMEL, Confessionalization of humanism (wie Anm. 35), Kap. 4. 47 Vgl. pointiert: Alfred SCHINDLER, Schriftprinzip und Altertumskunde bei Reformatoren und Täufern. Zum Rückgriff auf Kirchenväter und heidnische Klassiker, Theologische Zeitschrift 49 (1993) S. 229–247. 48 Vgl. Dieter MERTENS, Nation als Teilhabeverheißung: Reformation und Bauernkrieg, in: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von Dieter LANGEWIESCHE und Georg SCHMIDT (2000) S. 115–134; Georg SCHMIDT , Luther und die frühe Reformation – ein nationales Ereignis?, in: Die frühe
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fessionalisierung zunehmend beiseitegedrängt und hatte sich – ebenso wie der Humanismus überhaupt – in einer neuen intellektuellen Umwelt zu behaupten49. Ulrich Muhlack stellt daher die These auf, daß der Humanismus sich nach 1540 entscheidend transformierte; er wurde, pointiert gesagt, von einer ‚Weltanschauung‘ zu einer ‚Technik‘, die ihm gerade in der Instrumentalisierung durch die Konfessionsstaaten größte Breitenwirkung sicherte50. Konfessionalisierungsneutrale, tendenziell irenische, auf Bildung, Dialog und ‚via media‘ angelegte Haltungen innerhalb der humanistischen Bewegung wurden damit zunehmend marginalisiert51. Die Reformation und Reformation in Deutschland als Umbruch, hg. von Bernd MOELLER (1998) S. 54–75; Wolfgang HARDTWIG, Ulrich von Hutten. Zum Verhältnis von Individuum, Stand und Nation in der Reformationszeit, in: DERS., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland, 1500–1914. Ausgewählte Aufsätze (1994) S. 15–33; Heinz T HOMAS, Die deutsche Nation und Martin Luther, HJb 105 (1985) S. 426–454. 49 Zum vieldiskutierten Problem eines frühneuzeitlichen „Nationalismus“ vgl. nur Reinhard STAUBER, Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu „Nation“ und „Nationalismus“ in der Frühen Neuzeit, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996) S. 139–165; zum Verhältnis von Nation und Konfessionalisierung siehe: Heinz SCHILLING, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 1, hg. von Bernhard GIESEN, 2. Aufl. (1991) S. 192– 252. 50 Vgl. Ulrich MUHLACK, Der Tacitismus – ein späthumanistisches Phänomen?, in: Späthumanismus (wie Anm. 14) S. 160–182, hier vor allem S. 176–179. Axel E. Walter kritisiert Muhlacks Position: die Breitenwirkung des Humanismus im konfessionellen Zeitalter sei gerade kein Indiz für sein Ende, sondern für sein Weiterwirken: „Es erscheint geradezu widersinnig, einen Humanismus, der hier seine immer eingeforderte öffentliche Wirkung so weitgehend wie nie zuvor erreichen und seine intellektuellen Potenzen in ganzer Fülle einbringen konnte, nicht mehr als ‚echten‘, sondern als funktional auf eine pädagogische Propädeutik zurückverwiesenen Humanismus, einen Humanismus zumal, der sich im Stadium der formelhaften Erstarrung und des Verfalls befände, verstehen zu wollen.“: Axel E. WALTER, Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims (2004) S. 20. Gegen Walters Position wäre immerhin einzuwenden, daß Ausnahmegestalten wie Lingelsheim sicher nicht die einzigen Repräsentanten des Späthumanismus sind, der insgesamt doch auch durch eine „Abdrängung der studia humanitatis ins Mediokre“ gekennzeichnet werden kann. Vgl. so: Erich MEUTHEN, Charakter und Tendenzen des deutschen Humanismus, in: Säkulare Aspekte der Reformationszeit, hg. von Heinz Angermeier (1983) S. 217–266, hier S. 226. 51 Vgl. zum Problem einer humanistischen Theologie jenseits der konfessionellen Theologien: Walter SPARN, Humanistische Theologie als Phänomen der Epochenschwelle zur frühen Neuzeit, Pirckheimer-Jahrbuch (1993) S. 207–211; Erasmianism: Idea and Reality, hg. von M.E.H.N. MOUT , H. SMOLINKSY und J. T RAPMAN (1997). Die Entwicklungslinien vom vorreformatorischen christlichen Humanismus zu undogmatischen oder überkonfessionellen Positionen späthumanistischer Gelehrter betont: MEUTHEN, Charakter (wie Anm. 50) S. 227.
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die ihr folgende Konfessionalisierung veränderte in vielerlei Hinsicht die intellektuellen Rahmenbedingungen, in denen Humanisten agierten. Selbst dort, wo sie einigermaßen unbehelligt blieben, mußten sie sich doch in aller Regel in irgendeiner klaren Weise zum Konfessionalisierungsprozeß positionieren52. In den meisten Fällen ergab sich damit die Notwendigkeit einer Entscheidung zwischen einer „humanistischen Bildung“53, die als notwendig angesehen und damit toleriert wurde, und einer tiefergehenden humanistischen Affinität: The required decision led to a parting of ‚incidental‘ and professional humanists, that is, of writers who had benefited from a humanist education and favored the New Learning but who had a professional interest in the religious question, and humanists proper, that is, teachers of language and literature, editors, translators, and antiquaries, whose first commitment was to research54.
Folgt man Erika Rummel in dieser Einschätzung, wird man Flacius kaum als „humanist proper“ bezeichnen wollen. Generell ist zu bemerken, daß das Luthertum des 16. Jahrhunderts sich schwer mit einem Humanismus tat, der über die von Melanchthon angeregte Verschulung humanistischer Inhalte zu konfessionellen Endzwecken hinausreichte. Gerade der gnesiolutherische Rigorismus des Kreises um Flacius stand hier gegen die Philippisten als den Erben des erasmisch-humanistischen Erbes 55. Wenn sich auch in Einzelfällen kein Bewußtsein einer Diskrepanz zwischen Humanismus und lutherisch-orthodoxer Religiosität einstellte 56, überwog doch gerade im sächsischen Kontext, in den Flacius gehört, die Einbindung und damit Unterordnung des Humanismus unter konfessionell-pädagogische
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Vgl. zum Zusammenhang: Matthias POHLIG, Gelehrter Frömmigkeitsstil und das Problem der Konfessionswahl: Christoph Besolds Konversion zum Katholizismus, in: Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Ute LOTZ-HEUMANN, Jan-Friedrich MISSFELDER und Matthias POHLIG (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 205, 2007), S. 323–352. 53 Für diesen Begriff optiert (als Alternative zu einem zunehmend unscharfen Humanismusbegriff): Harald MÜLLER, Nutzen und Nachteil humanistischer Bildung im Kloster, in: Funktionen des Humanismus (wie Anm. 14) S. 191–213, hier S. 214. 54 RUMMEL, Confessionalization of humanism (wie Anm. 35) S. 90. 55 Vgl. Wilhelm KÜHLMANN, Zum literarischen Profil des Kryptocalvinismus in Kursachsen. Der „Poet“ Johannes Major (1533–1600), Dresdener Hefte 29 (1992), S. 43– 50. Eine gewisse Relativierung hierzu bei: Robert KOLB, Philipp’s Foes, but Followers Nonetheless. Late Humanism among the Gnesio-Lutherans, in: The Harvest of Humanism in Central Europe: Essays in Honor of Lewis W. Spitz, hg. von Manfred P. FLEISCHER (1992) S. 159–176. 56 Vgl. Jörg BAUR, Nikodemus Frischlin und die schwäbische Orthodoxie, in: Nicodemus Frischlin (wie Anm. 44), S. 365–396, vor allem S. 371; Walther LUDWIG, Christliche Dichtung des 16. Jahrhunderts – Die Poemata sacra des Georg Fabricius, Nachrichten Göttingen 4 (2001) S. 276–350, hier S. 346.
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Ziele 57. Die kulturelle Welt eines selbstbewußten und souveränen Humanismus, der sich im Bewußtsein seines eigenen Werts eine pragmatische oder prinzipielle Distanz gegenüber den Konfessionsstreitigkeiten erlauben konnte58, blieb der orthodoxen Religiosität lutherischer Theologen als Selbstwert einigermaßen fremd. In einem solchen Umfeld wirken etwa lutherische Versuche, Luther – oder eben auch Flacius – mittels einer antikisierenden Terminologie zu „Heroen“ der humanistischen Gelehrsamkeit hochzuschreiben, merkwürdig deplaziert59. Dennoch ist festzuhalten, daß man – das neue intellektuelle Koordinatensystem des konfessionellen Zeitalters vorausgesetzt – von einem genuinen ‚Späthumanismus‘ sprechen kann: Die Erschütterung durch Reformation und Konfessionalisierung, die Autoren wie Beatus Rhenanus so tief erfaßt hatte, führte nicht nur zu einer Instrumentalisierung humanistischer Techniken, sondern auch zu einer Neuformierung der humanistischen Bewegung60. Sie politisierte sich unter dem Eindruck des Neostoizismus und versuchte sich als Orientierungshilfe im Europa der Bürgerkriege zu profilieren. In diesem Sinne versteht Axel Walter den Späthumanismus „als lebendige und ebenso lebensgestaltende wie lebensbewältigende intellektuelle und literarische Bewegung“ und formuliert sogar die These: Der in der Geschichtswissenschaft etablierte Epochenbegriff des konfessionellen Zeitalters und der Späthumanismus als kulturgeschichtliche Kategorie, mit der vor allem, aber eben nicht nur das gelehrt-literarische, das intellektuelle Feld zu erfassen ist, konkurrie57
Manfred RUDERSDORF / Thomas T ÖPFER, Fürstenhof, Universität und Territorialstaat. Der Wittenberger Humanismus, seine Wirkungsräume und Funktionsfelder im Zeichen der Reformation, in: Funktionen des Humanismus (wie Anm. 14) S. 214–261. 58 Vgl. WALTHER, Humanismus und Konfession (wie Anm. 38); vgl. jüngst auch: Gerrit WALTHER, Humanismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit 5, hg. von Friedrich JAEGER (2007) Sp. 665–692, v.a. Sp. 675. 59 Vgl. z.B. Christian Amos BÜRGERUS, De uirtute heroica Lutheri, Matthiae Flacii et Jacobi Andreae dissertatio historica (1583). Nach meinem Eindruck tun sich lutherische Theologen insgesamt schwer mit der Selbstzuordnung zur „respublica litteraria“. Vgl. zum Konzept: Françoise WAQUET , Qu’est-ce que la République de lettres? Essai de sémantique historique, Bibliothèque de l’Ecole des chartes 147 (1989) S. 473–502. 60 Vgl. zum Problem des Späthumanismus zusammenfassend auch: Markus FRIEDRICH, Zwischen „Späthumanismus“ und „Standeskultur“. Neuere Forschungen zur intellektuellen und sozialen Situation von Gelehrten um 1600, in: Wege in die Frühe Neuzeit. Werkstattberichte, hg. von Arndt BRENDECKE und Wolfgang BURGDORF (2001) S. 61–91; Dieter MERTENS, Julius Wilhelm Zincgref und das Problem des Späthumanismus, ZGORh 150 (2002) S. 185–207; Werner KAEGI, Humanistische Kontinuität im konfessionellen Zeitalter. Ein Vortrag (1954); Manfred P. FLEISCHER, Komm in den totgesagten Park und schau: Der deutsche Humanismus nach 1550, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 42 (1990) S. 136–154; Späthumanismus und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert, hg. von Christoph STROHM, Joseph S. FREEDMAN und Herman J. SELDERHUIS (2006).
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ren also nicht gegeneinander, schließen sich gegenseitig terminologisch nicht aus, sondern markieren das epochale Kräftefeld für die Jahrzehnte vor und nach 160061.
Es ergibt sich somit ein komplexes Bild: Konzipiert man den Humanismus als eine einheitliche Bewegung, die eine Reihe gemeinsamer inhaltlicher Ziele (normative Ausrichtung an der Antike, ein gemeinsames Selbstverständnis als Gruppe, die Überzeugung von der moralisierenden Wirkung der studia humanitatis) besaß, so muß man konstatieren, daß er sich nach der Reformation abschwächte, aber auch neu ausrichtete. Die Unterordnung humanistischer Techniken unter konfessionelle Ziele führte dazu, daß die humanistische Weltanschauung, das, was den Humanismus eigenständig gemacht hatte, weitgehend in die Defensive geriet. Er transformierte sich zu einer funktionalen Technik der Philologie und Sprachbeherrschung, oder er formierte sich als ‚dritte Kraft‘ zwischen den Konfessionen neu. Versteht man den Humanismus dagegen nicht als einheitliche Bewegung, sondern vager als einen Minimalkonsens, der auf einer emphatischen Zuwendung zu den studia humanitatis und ihnen korrespondierenden Werten von Dialog und Ausgleich beruhte, so wird man feststellen können, daß er sich der konfessionellen Formierung partiell widersetzte oder entzog62. Konzipiert man ihn schließlich als Mode und relativ oberflächlichen Elitencode, so ergibt sich ein noch anderes Bild: Dann wird man behaupten können, daß er sich als Verständigungs- und Selbstverständigungscode der Eliten so weitgehend durchgesetzt hatte, daß an den am stärksten auf soziale Distinktion setzenden Instanzen der Gesellschaft, den Höfen, schon um 1600 das Interesse für die Naturwissenschaften langsam dem Humanismus den Rang abzulaufen begann63 und sich ein neuer Typ des Fachwissenschaftlers herausbildete, der im Idealfall naturwissenschaftliche Interessen und humanistische Bildung miteinander verband64. Der Erfolg des Humanismus, seine Durchsetzung von Italien nach Europa, seine Rezeption in den Bildungsinstitutionen und damit seine Transformation von einem elitären Code zu einem sehr weitverbreiteten Bil61
WALTER, Späthumanismus (wie Anm. 50) S. 38 und 29f. Vgl. Anton SCHINDLING, Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, hg. von Anton SCHINDLING und Walter ZIEGLER , Bd. 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register (1997) S. 9–44. 63 Vgl. Gerrit WALTHER, Fürsten, Höfe und Naturwissenschaften in der Frühen Neuzeit. Versuch einer Systematik, in: Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik 1, hg. von Barbara MAHLMANN-BAUER (2004) S. 143–159. 64 Vgl. als Beispiel: Anthony GRAFTON, Humanism and Science in Rudolphine Prague: Kepler in Context, in: Literary Culture in the Holy Roman Empire, 1555–1720, hg. von James A. PARENTE, jr., Richard Erich SCHADE UND George C. SCHOOLFIELD (1991) S. 19–45. 62
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dungsstandard: Dieser Erfolg ist in jüngerer Zeit als „Diffusion“ beschrieben worden – nicht ohne die hintersinnige Bemerkung, daß Diffusion durchaus auch das Diffundieren, das Unscharfwerden und die Aushöhlung dieses Phänomens mit sich brachte65. Diese Entwicklung des Humanismus im Zuge seines beispiellosen sozial- und bildungsgeschichtlichen Erfolges, die sich in der Unschärfe des entsprechenden Begriffs niederschlägt, macht die Frage nach Flacius als Humanist gerade erst interessant. Denn ohne diese Unschärfe, so scheint es, wäre die Frage sehr schnell und sehr eindeutig negativ zu beantworten. Daß sie dennoch negativ zu beantworten sein wird, wenn auch aus komplexeren Gründen heraus, wird im Folgenden deutlich werden. Dazu muß die Warnung Euan Camerons im Blick behalten werden: „Humanism was not so universal that one cannot easily find ‚non-humanist‘ or ‚anti-humanist‘ elements in later sixteenth-century culture“66.
III. Was ist humanistische Geschichtsschreibung? Ulrich Muhlack benennt als Kriterien für die humanistische Historiographie ihre Tendenz zur Profangeschichte, ihre Wiederentdeckung der historiographischen Darstellung als literarische Leistung, Ansätze zur historiographischen Dynamisierung und Individualisierung, gleichzeitig aber einen Rekurs auf die Vorstellung der Historie als exemplarischer magistra vitae67. Er weist überdies auf die Bedeutung der historisch-kritischen, also primär philologischen Methode hin, die zuerst dazu diente, die Antike, der man sich zu nähern wünschte, ein philologisch angemessenes Gesicht zu verleihen; daß die humanistische Philologie auf lange Sicht gerade die normative Verbindlichkeit der Antike eher auflöste als bekräftigte, zählt zu den Ambivalenzen ihrer Durchsetzung 68. Paul Joachimsen stellt einen umfangreichen Kriterienkatalog dessen auf, was die Geschichtsschreibung „unter dem Einfluß des Humanismus“ ausmache: eine weitgehende Autonomisierung von partikularen, etwa institutionell oder geographisch gebundenen Historien, die Bezugnahme auf moralische Loci communes statt auf geschichtstheologische Schemata und ein gesteigertes Interesse an einem individuellen Stil, aber auch an histori65
Vgl. Johannes HELMRATH, Diffusion des Humanismus. Zur Einführung, in: Diffusion des Humanismus (wie Anm. 14) S. 9–29, hier S. 19. 66 CAMERON, Late Renaissance (wie Anm. 37) S. 35. 67 Vgl. MUHLACK, Humanistische Historiographie (wie Anm. 22). 68 Vgl. Ulrich MUHLACK, Beatus Rhenanus (1485–1547). Vom Humanismus zur Philologie, in: Humanismus im deutschen Südwesten: biographische Profile (²2000) S. 195– 220, hier S. 216f.
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schen Einzelpersönlichkeiten. Daneben stünden eine kritische Quellenabwägung statt des Versuchs der Harmonisierung, überhaupt philologische Quellenkritik sowie eine neue, säkular verstandene Auffassung geschichtlicher Wahrheit 69. Die humanistische Geschichtsschreibung, so ist oft betont worden, ist sicher nicht der einzige, aber ein wichtiger Ausgangspunkt der modernen Geschichtsauffassung 70. Die historiographische Praxis ging dabei der Theorie oft voraus: Denn die explizite Reflexion etwa auf quellenkritische Grundsätze traten ganz hinter ethische Postulate, etwa der Verpflichtung auf Wahrheit und Aufrichtigkeit, zurück71. Insgesamt blieb Methodenreflexion selbst in der Theorie der humanistischen Historiographie eher die Ausnahme 72. Der bis heute wichtigste Überblick über die deutsche Historiographiegeschichte der letzten fünfhundert Jahre, die Darstellung Eduard Fueters, sieht die Geschichtsschreibung der Reformation demgegenüber als Rückschritt; spätere Forscher sind ihm hierin gefolgt 73. Wenn Humanismus sich in philologischen Fertigkeiten, Quellenkritik und Edition erschöpft, dann ist er der reformatorischen Geschichtsschreibung sicher nicht fremder als ihrem katholischen Widerpart – wenn auch etwa quellenkritische Ansätze in aller Regel dann und nur dann zum Tragen kommen, wenn sie mit der eigenen konfessionellen Wertung übereinstimmen. Auch in jüngerer Zeit gibt es aber Versuche, die zentrale Rolle der Reformation für die Herausbildung einer kritischen, modernen Geschichtsauffassung herauszuarbei69
Vgl. Paul JOACHIMSEN, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus (1910). 70 Die Literatur ist umfangreich und kontrovers; hier seien nur genannt: Ulrich MUHLACK, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus (1991); Horst DREITZEL, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, ZHF 8 (1981) S. 257–284. Die klassische Gegenposition zum Konnex Humanismus und Verwissenschaftlichung vertritt Eduard FUETER, Geschichte der neueren Historiographie (1911) S. 182. 71 Die Geschichtsschreibung blieb dennoch weiterhin ein beliebtes Instrument nationaler und dynastischer Mythenbildung, die gerade im Humanismus einen Aufschwung nahm. Vgl. zusammenfassend: Notker HAMMERSTEIN, Geschichte als Arsenal: Geschichtsschreibung im Umfeld deutscher Humanisten, in: Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung in der Renaissance, hg. von August BUCK u.a. (1989) S. 19–32; Ulrich ANDERMANN, Historiographie und Interesse. Rezeptionsverhalten, Quellenkritik und Patriotismus im Zeitalter des Humanismus, Das Mittelalter 5 (2000) S. 87–104. 72 Vgl. LANDFESTER, Historia magistra vitae (wie Anm. 14) S. 104–108; vgl. zum Problem auch: Werner GOEZ, Die Anfänge der historischen Methoden-Reflexion in der italienischen Renaissance und ihre Aufnahme in der Geschichtsschreibung des deutschen Humanismus, AKG 56 (1974) S. 25–48. 73 Vgl. FUETER, Geschichte der neueren Historiographie (wie Anm. 70) S. 186; Franz STAAB, Quellenkritik im deutschen Humanismus am Beispiel des Beatus Rhenanus und des Wilhelm Eisengrein, in: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Kurt ANDERMANN (1988) S. 155–164, hier S. 164.
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ten. Donald Kelley z.B. stellt die These auf, daß die Geschichtsschreibung im Gefolge von Humanismus und Reformation einen „process of being promoted from an art to a science“74 durchlief. Der kritische Impetus der Reformation gegenüber kirchlichen Traditionen habe im konfessionellen Zeitalter auf allen Seiten eine Aufwertung historischen Forschens hervorgebracht. Die Kritik der Tradition wird hier als generelles geistiges Movens eingeführt, das einer Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung den Weg bereitet habe. In diesem Zusammenhang sei die protestantische Geschichtsschreibung jedenfalls partiell zum Fortsetzer der humanistischen Tradition geworden – insofern sie quellenkritische Grundsätze auf die Überlieferung der Kirchengeschichte angewendet habe 75. Diese humanistischen Methoden werden aber, und dies ist von Bedeutung, letztinstanzlich dem konfessionellen – d.h. in der Regel dem apologetischen oder polemischen – Interesse untergeordnet. Deutlich wird diese Zwiespältigkeit im Hinblick auf die Magdeburger Centurien: Das Selbstverständnis der Centuriatoren als Kritiker der früheren Geschichtsschreibung und vor allem der kirchengeschichtlichen Entwicklung selber hat einerseits zu der Vorstellung geführt, die Centurien stünden am Anfang einer kritischen Geschichtsschreibung76. Auf der anderen Seite ist auch der älteren Forschung, und zwar evangelischer wie katholischer Provenienz, nicht entgangen, daß die Überlieferungskritik der Centuriatoren hochgradig selektiv ist. Legenden und Fabeln werden dann und nur dann kritisiert, wenn sie konfessionell unliebsam sind, nicht aber aus prinzipiellen Erwägungen heraus77. Tatsächlich ist es zumindest fraglich, inwieweit die Centuriatoren eine explizierte Methodik oder konsequente quellenkritische Grundsätze besaßen78. Damit hat man für die Centurien und genereller für die konfessionelle Geschichtsschreibung zuspitzen können, sie sei „kein legitimes Kind des Humanismus, sondern im Grunde der Vermählung des Mittelalters mit der neuen Zeit, dem Zeitalter der Glaubenskriege entsprossen, vom Humanismus stammten nur einzelne seiner Elemente, vor allem die gelehr74
Donald R. KELLEY, Johann Sleidan and the Origins of History as a Profession, Journal of Modern History 52 (1980) S. 573–598, hier S. 579. 75 Vgl. Donald R. KELLEY, Humanism and History, in: Renaissance Humanism. Foundations, Forms, and Legacy 3, hg. von Albert RABIL, Jr. (1988) S. 236–270, hier 255; siehe auch: John M. HEADLEY, The Reformation as Crisis in the Understanding of Tradition, Archiv für Reformationsgeschichte 78 (1987) S. 5–23. 76 Vgl. jüngst: OLSON, Flacius, S. 257. 77 Vgl. FUETER, Geschichte der neueren Historiographie (wie Anm. 70) S. 251; Johannes JANSSEN, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters 5 (1886) S. 317. 78 Vgl. Arno DUCH, Eine verlorene Handschrift der Schriften Bernos von Reichenau in den Magedeburger Centurien, ZKG 53 (1934) S. 417–435, hier S. 420, Anm. 7; Wilhelm PREGER, Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit 2 (1861) S. 448. Vgl. aber auch den Beitrag von Ronald DIENER in diesem Band.
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te Form“79. Von „humanistischen Attrapen“ der konfessionellen Historiographie spricht auch Fueter80. Die Technisierung und Philologisierung der humanistischen Studien, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu beobachten ist 81, ist sicher doppelt erklärbar: einmal als Instrumentalisierung humanistischer Techniken für ein jenseits humanistischer Wertsetzungen liegendes, religiöses Ziel; dann aber auch als Versuch der Immunisierung der studia humanitatis auf dem Rückzug aus vermintem Gelände – wie dies schon zu Beginn der Reformation etwa für Beatus Rhenanus zuzutreffen scheint, der sich nach 1517 verstärkt der Philologie und der säkularen Historiographie zuwandte82. Dies gilt sicher für Flacius weniger als für andere Gelehrte. Für ihn ist eher charakteristisch, daß er humanistische, textkritische Techniken in den Dienst konfessioneller Ziele stellt. Auf der Ebene der philologischen, technischen, editorischen Fertigkeiten stellt dies kein Problem dar: „Mit dem Wandel von Funktion und Stellenwert der Kirchengeschichtsschreibung geht auch ein Wandel des Wahrheitskriteriums, dem das geschichtliche Material unterworfen wird, einher. In der Reformationszeit und der folgenden Epoche konfessioneller Polemik dominierte der Schematismus rechtgläubig / häretisch. Humanistische Bildung und philologische Fertigkeiten haben ihren binären Schematismus echt / gefälscht, wenn sie im kirchlichen Raum auftraten, in Übereinstimmung mit den theologischen Kriterien bringen können“83. Zum Problem wird diese Verbindung von Humanismus und konfessioneller Theologie erst dann, wenn Humanismus mehr umfassen soll als philologische Fertigkeiten, nämlich auch inhaltlich bestimmbare Geistes- und Werthaltungen. In diesem Fall wird man gerade für den Bereich der Geschichtsschreibung festhalten müssen: „In this area the over whelming verdict must be that the humanist and Reformed values mixed very ill indeed“84.
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Andreas KRAUS, Grundzüge barocker Geschichtsschreibung, HJb 88 (1968) S. 54– 77, hier S. 57. 80 FUETER, Geschichte der neueren Historiographie (wie Anm. 70) S. 280. Die Schreibung stammt von Fueter. 81 Vgl. FRIEDRICH, Späthumanismus (wie Anm. 60) S. 73. 82 Vgl. MUHLACK, Beatus Rhenanus (wie Anm. 68) S. 216; RUMMEL, Confessionalization of Humanism (wie Anm. 35) S. 95f. 83 Eckehard STÖVE, Kirchengeschichtsschreibung, in: TRE 18 (1989) S. 535–560, hier S. 551. 84 CAMERON, Late Renaissance (wie Anm. 37) S. 31.
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IV. Die Frage, inwieweit Flacius selbst als Humanist zu bezeichnen sei, hat in der Forschung durchaus unterschiedliche Antworten gefunden. Peter Barton etwa weist darauf hin, daß seine Studienjahre eine humanistische Akzentuierung aufweisen; er verortet Flacius im Umkreis der „jungen Humanisten“, die den Wittenberger Verschulungsbemühungen Melanchthons kritisch gegenüberstanden, und legt dar, daß Flacius „zeitlebens humanistischer Philologie verpflichtet“ geblieben sei85. Pontien Polman verweist generell darauf, daß die Aufgabe, der Flacius und die Centuriatoren sich stellten – nämlich der Nachweis des Alters der lutherischen Glaubensauffassung – die Anwendung humanistischer Prinzipien geradezu forderte86. Und doch, so derselbe Autor, hätten die humanistischen Studien in Basel 1539/40 kaum eine Nachwirkung gehabt: Flacius sei zwar aus Leidenschaft Historiker geworden, habe sich aber relativ weit von den Standards der studia humanitatis entfernt87. Es finde sich, so wird weiter geurteilt, bei Flacius „ein neues Verantwortungsgefühl gegenüber den Quellen“88. Anders als viele andere lutherische Historiographen, anders auch als Melanchthon, hätten die Centuriatoren nicht einfach die spätmittelalterliche Chronistik ausgeschrieben und fortgeführt, sondern ihre Arbeit mit eigenem Studium der Quellen verfertigt. Schließlich hätten sie die humanistische Methode der loci communes in die Kirchengeschichtsschreibung eingeführt89. Der große Bibliophile Flacius sei, so Kurt Hannemann, derjenige unter den Editoren und Philologen des konfessionellen Zeitalters, den man am ehesten dem Pionier der humanistischen Textkritik, Beatus Rhenanus, vergleichen könne – er werde mit seiner Verbindung von Christentum und Bildung geradezu zum „Hieronymus
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Peter F. BARTON, Matthias Flacius Illyricus, in: Gestalten der Kirchengeschichte 6, hg. von Martin GRESCHAT (1984) S. 271–291, hier S. 278f. 86 Vgl. Pontien POLMAN, L’élément historique dans la controverse religieuse du XVIe siècle (1932) S. 541. 87 Vgl. Pontien POLMAN, Flacius Illyricus, historien de l’église, RHE 27 (1931) S. 27– 73, hier S. 28. 88 Max T RATZ, Matthias Flacius Illyricus, Lutherische Kirche in der Welt. Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes 22 (1975) S. 9–42, hier S. 27. 89 KOLB, Philipp’s Foes (wie Anm. 55) S. 163f. Die Durchsetzung der humanistischen loci-Methode auch in der lutherischen Theologie wird von Kittelson dahingehend gedeutet, Humanismus „triumphed certainly as the form and in some respects as the content“ der lutherischen Universitätsausbildung. Aber auch er weist darauf hin, daß der Triumph humanistischer Techniken einherging mit einer weitgehenden Ablehnung humanistischer Werte. Vgl. KITTELSON, Humanism (wie Anm. 6) S. 148 und 153.
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des Reformationsjahrhunderts“90. Thomas Haye erkennt im Catalogus testium veritatis neben anderen Interessen, auch neben einem Einsatz textkritischer Methoden im Hinblick auf eine kontroverstheologische Zielsetzung, eben doch auch „Ansätze zu einem originär philologischen Interesse“91. Lewis Spitz erwähnt den Catalogus testium veritatis in seinem Überblick zum deutschen Humanismus ebenfalls; er bezeichnet das Werk nicht explizit als humanistisch, suggeriert aber schon durch seine Erwähnung eine Traditionslinie 92. Offenbar liegt hier also ein Problem vor. Neben den Catalogus trat in der Magdeburger Zeit eine Anzahl von Neueditionen mittelalterlicher Schriften; Flacius wendete nach dem Eindruck Thomas Kaufmanns eine „zitative und kompilatorische, gleichwohl philologisch präzise Form der Textwiedergabe“ an93. Doch reicht diese unzweifelhafte philologische Kompetenz, auch der Enthusiasmus, mit der Flacius unbekannte mittelalterliche Schriften auffand und edierte, schon hin, um seine Qualifizierung als Humanist zu rechtfertigen – selbst wenn man zugesteht, daß seine Instrumentalisierung der Philologie für kontroverstheologische Zwecke zuweilen einem – ich zitiere nochmals Haye – „originär philologischen Interesse“ die Bahn ebnete? Dabei wäre die nicht unbrisante Frage noch ganz außer Acht gelassen, ob im 16. Jahrhundert nicht auch ‚nicht-humanistische‘ Philologie existierte94. Dies einmal zurückgestellt, ist doch sehr deutlich, daß die philologische (humanistische?) Gelehrsamkeit im Catalogus testium veritatis nur dem einen Zweck dient, die Wahrheit der evangelischen Glaubensauffassung zu beweisen; insofern kann man in ihr in gewisser Weise, bei aller Aufnahme humanistischer Methoden, eine konfessionelle Entartung humanistischer Ansätze erkennen95: Flacius fait sortir l’histoire du cadre des Artes historiae humanistes, pour la faire entrer dans le cadre théologique, mais aussi juridique, de la structure syllogique: la philologie huma90
Kurt HANNEMANN, Der Humanist Georg Fabricius in Meissen, das Luthermonotessaron in Wittenberg und Leipzig und der Heliandpraefatiokodex aus Naumburg a.d. Saale, Annali. Filologia Germanica 17 (1974) S. 7–109, vor allem S. 73–77, Zitat S. 77. 91 HAYE, Catalogus testium veritatis (wie Anm. 10) S. 42. 92 Vgl. Lewis SPITZ, The Course of German Humanism, in: Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of its European Transformations. Dedicated to Paul Oskar Kristeller on the Occasion of His 70th Birthday, hg. von Heiko A. Oberman und Thomas Brady (1975) S. 371–436, hier S. 420. 93 Thomas KAUFMANN, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2) (2003) S. 352 sowie 340–367. 94 Diese Frage wird von Paul Richard Blum (zu?) eindeutig beantwortet: „Ohne den Renaissance-Humanismus gäbe es keine der Diskussion werte Philologie“, so Paul Richard BLUM, Was ist Renaissance-Humanismus? Zur Konstruktion eines kulturellen Modells, in: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Probleme frühneuzeitlicher ‚Philologie‘, hg. von Ralph HÄFNER (2001) S. 227–246, hier 227. 95 Vgl. so: KELLEY, Humanism and History (wie Anm. 75) S. 255.
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niste intervient ici pour l’établissement du texte et de la discussion de son authenticité; mais une fois établi, ce texte, devenu testimonium veritatis et publié en l’état, a pour fonction d’étayer un raisonnement“96.
Martina Hartmann folgt dieser Einschätzung insofern, als sie aufzeigt, daß Flacius zwar nicht in seinen Motiven, doch aber in seinem philologischen Ethos humanistische Impulse aufnimmt: Er sei nicht seiner Zielsetzung nach, wohl aber in seinem „wissenschaftlichen Bemühen ... genuin humanistisch“97. Diese Aussage setzt die oben zitierte Muhlacksche Trennung zwischen Humanismus als Weltanschauung und Humanismus als Technik voraus; Muhlacks Pointe ist aber gerade die, daß er den nur noch technischen, philologischen Humanismus nicht mehr als Humanismus stricto sensu gelten lassen möchte, weil ihm damit der Charakter einer eigenständigen geistigen Bewegung abhanden gekommen sei. Die Frage ist, ob man ihm darin folgen möchte, ob also die Rezeption nur eines – wenn auch wesentlichen – Elements der studia humanitatis durch einen Streittheologen des 16. Jahrhunderts hinreicht, um diesen als Humanisten zu qualifizieren, oder ob nicht mindestens einige der aufgeführten humanistischen Züge zusammenkommen müssen. Ist also die Frage, ob Flacius Humanist war, angesichts der mehr als verwirrenden Forschungslage, angesichts auch der Vielzahl unterschiedlicher Zugänge zu Begriff und Phänomen des Humanismus überhaupt eine sinnvolle Frage? Ergibt nicht der Durchgang durch die Forschung zu Humanismus und humanistischer Geschichtsschreibung eher eine Lizenz, den Begriff des Humanismus relativ weit und offen zu gebrauchen – und ihm damit auch eine Gelehrtengestalt wie Flacius umstandslos zu subsumieren? Oder – und dies wäre die Option, für die ich plädieren möchte – müßten nicht wenigstens mehrere Elemente gefunden werden? Reduziert man nämlich den Humanismus auf eines der vielen disparaten Elemente, so ergibt sich eine unbefriedigende Situation, die man so illustrieren könnte: Wenn Flacius zum Beispiel in der Frage eines exemplarisch-profanhistorischen Geschichtsinteresses gegen Melanchthons Position eine klare Abwehr dieses genuin ‚humanistischen‘ Zugangs artikuliert, steht diesem Negativbefund ein, verglichen mit Melanchthon, stark aufgewerteter Umgang mit handschriftlichen und gedruckten Originalquellen gegenüber – ebenfalls ein ‚humanistisches‘ Interesse. Damit ist Flacius sowohl mehr als auch weniger ‚humanistisch‘ als Melanchthon. Mit einer solchen Einschätzung ist offenbar aber nichts gewonnen; die Kategorie erscheint sowohl unhandhabbar, wenn sie nur aus einem Element, als auch, 96
Marc FUMAROLI, Aux origines de la connaissance historique de Moyen Âge: Humanisme, réforme et gallicanisme au XVIe siècle, XVIIe siècle 155 (1977) S. 5–29, hier S. 8. 97 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik, S. 209.
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wenn sie aus einer unüberschaubaren Vielzahl von Elementen besteht. Pragmatisch lösen läßt sich das Problem nur durch den Rekurs auf ein Bündel von Merkmalen, von denen nicht alle, aber einige zutreffen müssen, damit die Rede vom Humanisten Flacius Sinn ergeben kann98. Man kann sich der Frage nach Flacius’ Humanismus also nähern, indem man die oben zusammengetragenen, durchaus nicht widerspruchsfrei zu integrierenden Charakteristika des Humanismus Revue passieren läßt und ihre Anwendbarkeit auf Flacius untersucht. Als gelernter Hebraist und Gräzist, ja, als Hebräischprofessor ist er sicher ein Lehrer der studia humanitatis in Kristellers Sinne. Obwohl er ab 1557 die Professur für Neues Testament in Jena bekleidete, erwarb Flacius nie einen akademischen Grad in der Theologie 99 – und blieb, formal gesehen, also Philologe. Nur verhält es sich eindeutig so, daß er die alten Sprachen primär für die Exegese der Heiligen Schrift nutzte und sich für die Antike – das kann man wohl so umfassend behaupten – nicht interessierte. Die Antike spielte als normative Referenz überhaupt keine Rolle; es wäre Flacius nicht in den Sinn gekommen, neben der Autorität der Bibel noch eine andere Autorität anzuerkennen. Die Verbesserung des Menschen durch die lateinische Sprache und die studia humanitatis – dies konnte für einen Vertreter einer radikalen Erbsündenlehre wie Flacius kaum mehr als eine ephemere Verbesserung und letztlich eine quantité négligéable sein. Schon seine pessimistische Anthropologie trennt Flacius also deutlich zumindest von denjenigen Humanisten wie Erasmus, die eine Perfektibilität qua Bildung propagierten. Mit den antiken Autoren verhält es sich ähnlich: Als stilistische Vorbilder verschmäht Flacius sie sogar explizit und hält es eher mit der patristischen Auffassung, daß die stilistische Schmucklosigkeit der Bibel dem Ornat der antiken Autoren weit vorzuziehen sei. So heißt es im Widmungsbrief des ersten Bandes der Centurien, daß die von den Humanisten so hochgeschätzten Historiographen der heidnischen Antike zwar stilistisch und literarisch anspruchsvoll und daher für viele Gelehrte attraktiv seien; gegen die Autonomisierung des ästhetischen Moments stellt Flacius aber, wie die Apologetik der Alten Kirche, die sincera simplicitas spiritus sancti100. 98
Eine weitere Lösungsmöglichkeit wäre der Hinweis, daß der Humanismus sehr verschiedene Formen der Geschichtsschreibung – etwa rhetorische, moralhistorische und philologisch-textkritische – hervorbrachte, deren Spannung zueinander erst im Laufe der Zeit hervortrat. Vgl. in diese Richtung: LOGAN, Substance and form (wie Anm. 17) S. 13f. Auch in dieser Hinsicht nähme Flacius allerdings eine Extremposition ein. 99 Vgl. KITTELSON, Humanism (wie Anm. 6) S. 143. 100 Widmungsbrief der ersten Centurie, ediert in: Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, Flacius und die Magdeburger Zenturien, hg. von Heinz SCHEIBLE (1966) S. 55–59, hier S. 57.
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Auch die Nation, ein weiterer Höchstwert gerade der Historiographie des Humanismus, wird von Flacius vernachlässigt. Wenn die nationale Agenda und nationalistische Stilisierung auch im weiteren Verlauf des Reformationsjahrhunderts durchaus eine Rolle spielten, so nahm doch die Nation im Propagandaarsenal spätestens der zweiten Reformatorengeneration keine zentrale Rolle mehr ein; ganz zu schweigen von einer höchstinstanzlichen normativen Bezugnahme auf die Nation, wie sie die Humanisten um 1500 so eindeutig vorgetragen hatten. A fortiori gilt dies für den Ausländer Flacius: Jemand, der von seinen Gegnern als Türckischer Flacianischer Guckelhahn von Albon101 diffamiert wurde, konnte keine ‚humanistische‘ Hochschätzung der Nation entwickeln. Flacius’ Heimat war das Luthertum. Dies ergibt gerade ein Vergleich des Catalogus testium veritatis mit einer anderen Biographensammlung der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: einem Werk aus der Feder eines Basler Freundes von Flacius, dem „Teutschen Heldenbuch“ des Arztes Heinrich Pantaleon, das angesichts des in Konfessionsquerelen zerrissenen Deutschland noch einmal den Versuch machte, mit der Bezugnahme auf die allen Kontrahenten gemeinsame Nation zu einer Einigung zu kommen102 – eine Tendenz, die für Flacius schwer vorstellbar erscheint. Die partielle Hochschätzung des Mittelalters, die Flacius aufgrund theologischer Überlegungen entwickelte, hat wenig gemein mit der nationalen Aufwertung des deutschen Mittelalters durch den Humanismus, in dessen Tradition Pantaleon steht. Wie verhält es sich nun mit Flacius’ Selbstwahrnehmung als Humanist? Denn oben war angedeutet worden, daß ein Minimalkonsens der humanistischen Bewegung eben in ihrem Selbstverständnis als Bewegung, als Gemeinschaft mit eigenen Regeln und Zielen bestand – unabhängig davon, ob dieses Selbstverständnis der Realität standhalten konnte. Ein Indiz für die humanistische Gruppenzugehörigkeit – antikisierende Selbstbezeichnungen – läßt sich für Flacius immerhin konstatieren: Er änderte während seiner Tübinger Studienzeit, wohl im Jahr 1540, seinen Geburtsnamen ‚Vlâcić‘ zu ‚Flacius‘ und bezog sich dabei offenkundig auf humanistische Vorbilder in seinem Umkreis 103. Man darf diese Namensänderung nicht 101
Wolfgang BÜTTNER, Epitome Historiarum Christlicher ausgelesener Historien vnd Geschichten / Aus alten vnd bewehrten Scribenten. Vnd die sich auch zu unsern zeiten zugetragen. Ordentlicher vnd kurtzer Auszug… (1576) S. 118v. 102 Zu Pantaleon vgl. Ursula LIEBERTZ-GRÜN, Nationalkultur und Gelehrtenstand um 1570. Heinrich Pantaleons Teutscher Nation Heldenbuch, Euphorion 80 (1986) S. 115– 148; POHLIG, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung (wie Anm. 11) S. 259–268; Alexander SCHMIDT, Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648) (2007) S. 146–156; zu Flacius Basler Freundschaft mit dem hinsichtlich seiner ausgleichenden und irenischen Züge so anders erscheinenden Pantaleon siehe OLSON, Flacius, S. 35f. 103 Vgl. OLSON, Flacius, S. 37.
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unterschätzen, und doch: Flacius’ latinisierter Name ist wohl tatsächlich kaum mehr als eine humanistische „Attrappe“ (Fueter), die zeigt, wie weit humanistische Mode in die universitäre Gelehrsamkeit der Reformationszeit hineinreichte104. Auch ein humanistischer Briefwechsel diente als Signum der Zugehörigkeit zur Gelehrtenrepublik. Flacius’ Briefwechsel, der im ganzen noch zu erforschen bleibt, ist für die Frage seines humanistischen Selbstverständnisses recht aufschlußreich: Wenn zu Flacius’ Korrespondenten auch westeuropäische Humanisten wie Georg Cassander, Cornelius Wouters oder François Baudouin gehörten, so zeigen sich doch schnell Grenzen des gegenseitigen Verständnisses. Gregory Lyon hat dargelegt, daß in den Briefen zum Centurienplan, die Flacius und Baudouin wechselten, zwei letztlich unvermittelbare Wissenschaftskulturen aufeinanderprallten: Auf der einen Seite stand der juristisch und philologisch geschulte, irenisch orientierte westeuropäische Humanismus eines Baudouin, dem an Geschichtsschreibung im durchaus auch ästhetischen Sinne gelegen war. Ihm gegenüber stand die aus innerdeutsch-lutherischen Positionen begründete, an der Bereitstellung theologiepolitischen Materials interessierte Geschichtsauffassung des Flacius. Baudouin, der sich später mit Flacius ärgstem innerlutherischem Gegner, mit Melanchthon anfreundete, sah in der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte einen gelehrten Weg der Kompromißfindung zwischen den verfeindeten Konfessionen105. Diese Haltung, die auch bei späteren humanistisch orientierten Theologen wie Georg Calixt anzutreffen ist 106, wurde aber von Flacius dezidiert abgelehnt. Letztlich konnte diese Diskrepanz nicht zu einer Mitarbeit Baudouins führen. Flacius stand also im Briefwechsel mit Humanisten, dürfte aber von diesen – gemäß dem Definitionsversuch Robert Blacks – kaum als einer der ihren wahrgenommen worde sein und sich auch nur sehr begrenzt selbst so verstanden haben. Ertragreicher könnte es sein, danach zu fragen, ob Flacius die von Axel Walter als typisch späthumanistisch charakterisierte überkonfessionelle gelehrte Zusammenarbeit betrieb107. Auch hier muß man differenzieren: Seine Handschriftenjagd führte ihn zwar immer wieder auch in Klöster des konfessionellen Gegners 108 – aber was die offene, diskursiv ausgetragene 104
Vgl. zur humanistischen Namenslatinisierung: BERNSTEIN, Outsiders (wie Anm. 31) S. 53. 105 Vgl. Gregory B. LYON, Baudouin, Flacius, and the Plan for the Magdeburg Centuries, Journal of the History of Ideas 64 (2003) S. 253–272. Drei Briefe Baudouins an Flacius sind ediert bei: Michael E RBE, François Bauduin (1520–1573). Biographie eines Humanisten (1978) S. 262–276. 106 Vgl. Christoph BÖTTIGHEIMER, Zwischen Polemik und Irenik. Die Theologie der einen Kirche bei Georg Calixt (1996). 107 Vgl. WALTER, Späthumanismus (wie Anm. 50) S. 26. 108 Vgl. HARTMANN, Matthias Flacius Illyricus sucht Quellen (wie Anm. 10).
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oder dialogisch ausgehaltene überkonfessionelle Gelehrsamkeit von Flacius angeht, muß man dennoch wohl skeptisch sein, auch wenn die Legende vom perfiden Bücherdieb längst widerlegt ist 109. Dies zeigt auch die Zusammenstellung seiner Briefpartner, die Hartmann erarbeitet hat: Darunter findet sich kein einziger orthodoxer Katholik 110. Von überkonfessionell betriebener Gelehrsamkeit kann also nicht die Rede sein. Die inhaltliche Haltung der Centuriatoren und damit auch ihr methodischer Ansatzpunkt sind kaum als humanistisch zu bezeichnen, weil Quellenkritik und kritische Reflexion auf die Wahrheit der Überlieferung rein instrumentell gebraucht werden. Im Briefwechsel mit Flacius forderte der kaiserliche Rat Caspar von Nidbruck, der das Centurienunternehmen finanziell und logistisch unterstützte, zwar quellenkritische Sorgfalt, um eine fides in historiographo zu erzeugen, aber methodische Konsequenzen von einiger Stringenz ergeben sich daraus nicht111. Flacius, so hat Diener dargelegt, kannte die geschichtstheoretischen Diskussionen seiner Zeit nur oberflächlich; sein Horizont war ganz von seiner Wittenberger Agenda und seiner persönlichen Bibliomanie bestimmt 112. Nachdem also auch das im Briefwechsel aufscheinende Selbstverständnis des Flacius kaum als humanistisch zu bezeichnen ist, führt dieser letzte Punkt schon weiter: nämlich zur Frage, wozu Geschichtsschreibung eigentlich dient. Die Humanisten hatten, neben ihrer historiographischen Propagierung von nationalen und Bildungswerten, vor allem einen Rekurs auf die ciceronianische Lehre von der historia magistra vitae eingeleitet und verstanden Geschichtsschreibung auch als Illustration überzeitlicher Moralvorstellungen – was zu der überzogenen Auffassung geführt hat, angesichts der Orientierung der humanistischen Historiographie an ewig gültigen moralischen Exempla und ihrem partiellen Desinteresse für historische Prozessualität sei die Geschichte für die Bildung des Renaissancehumanismus letztlich nicht besonders wichtig gewesen113. Dies trifft sicher so nicht zu: Und dennoch ist zu konstatieren, daß die Humanisten ein relatives Desinteresse für die tradierten geschichtstheologischen Schemata, auch für prophetische oder apokalyptische Perspektiven zeigten. Diese wurden aber nach der Reformation im großen Maßstab reanimiert – was zu dem Problem führte, eine letztlich statische, an überzeitlichen Exempla orien109
Vgl. Oliver K. OLSON, „Der Bücherdieb Flacius“ – Geschichte eines Rufmords, Wolfenbütteler Beiträge 4 (1981) S. 111–145. 110 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik, S. 53–79. 111 Nidbruck an Flacius, 15. Januar 1557, Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 19 (1898) S. 111. 112 Vgl. DIENER, Magdeburg Centuries S. 88. 113 Vgl. Felix GILBERT, Das Geschichtsinteresse der Renaissance, in: DERS., Guicciardini, Machiavelli und die Geschichtsschreibung der italienischen Renaissance (1991) S. 15–32, hier S. 17f.
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tierte Sicht der Geschichte mit einem dynamischen Konzept von Geschichtstheologie und Apokalypse zu verbinden114. Zu Flacius’ Geschichtstheologie ist gleich noch weiteres zu sagen; hier genügt vorerst der Hinweis darauf, daß Flacius sich explizit mit der auf moralische Exemplarität abzielenden antiken oder humanistischen Historiographie schwer tat: Er artikulierte nicht nur eine Distanz zu humanistischen oder reformatorischen Universalhistorikern wie Sleidan115, sondern formulierte im Widmungsbrief des ersten Centurienbandes auch eine Funktionsbestimmung der Geschichte, die unhumanistischer kaum sein kann: Gott wolle ausdrücklich, daß Geschichte geschrieben werde; wo erkenne der Mensch die Wohltaten und die Gnade Gottes, wenn nicht in der Geschichte? Auch die Hauptartikel des Glaubens ließen sich nur durch die und in der Geschichte erkennen, denn der erste und der kommende zweite Advent Christi seien historische, weil in einem zeitlichen Kontinuum und in einer Matrix prophetischer Vorhersagen verortetbare Ereignisse: Absque historia nec articulus de Messia potuisset retineri116. Diese Historie ist aber primär: die Bibel. Gegen sie wird, in Abwehr humanistischer Geschichtssicht und mit latenter Kritik an der Melanchthonschule, die historia ethnica gestellt: Die antike (und auch die humanistische) Geschichtsschreibung lehre exemplarisch Moral, beziehe sich damit aber nur auf die zweite Tafel des Dekalogs. Die Bibel dagegen lehre sowohl sittliche Werte als auch die in der ersten Tafel des Dekalogs zusammengefaßte christliche Lehre 117. Die Geschichte der Lehrentwicklung wird geradezu als historia Christi bezeichnet, wenn auch die Gewißheitsdefizienz der nachbiblischen historia ecclesiae im Vergleich mit der biblischen historia sacra betont wird118. Der Orientierung der Geschichtsschreibung an überzeitlichen moralischen Exempla wird also mindestens eine zweite, wichtigere Funktion der Geschichte an die Seite gestellt: nämlich eine Unterweisung in der christlichen Lehre 119. Melanchthon und seine Anhänger geraten in die Kritik, weil sie nach der Auffassung von Flacius und seinen Mitstreitern eine theologisch unterprofilierte Affinität zur humanistisch-moralischen Geschichts114
Vgl. zu diesem Problem: Wilhelm SCHMIDT-BIGGEMANN, Philosophia perennis: historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit (1998) S. 642. 115 Vgl. Heinz SCHEIBLE, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode (1966) S. 37. 116 Widmungsbrief der ersten Centurie, ed. SCHEIBLE (wie Anm. 100) S. 55. 117 Widmungsbrief der ersten Centurie, ed. SCHEIBLE (wie Anm. 100) S. 56. 118 Widmungsbrief der ersten Centurie, ed. SCHEIBLE (wie Anm. 100), S. 57f. 119 In der Vorrede zum Gesamtwerk der Centurien wird dementsprechend auch Euseb kritisert, der die Dogmatik fast vollständig ausspare und so tue, als ob ein Christ in etwa dasselbe sei wie ein moralisch recht handelnder Mensch. Vgl. Vorrede zum Gesamtwerk, ediert in: SCHEIBLE, Anfänge (wie Anm. 100) S. 59–75, hier S. 59f.
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schreibung besitzen. Ob dies zutrifft, sei hier dahingestellt; wichtig ist, daß der moralhistorische Bezug auf die zweite Tafel des Dekalogs, die nach Auffassung der Magdeburger die Humanismusrezeption Melanchthons lenkt, vom zentralen theologischen Gehalt der ersten Dekalogtafel ablenke. Flacius stellt also polemisch eine programmatisch theologische Sicht der Geschichte gegen die mit Moralexempla (und Antikenbezügen) arbeitende Geschichtsschreibung Melanchthons. Ins Zentrum seines Glaubens gehörte für Flacius in besonders eindrücklicher Ausprägung auch seine endzeitliche Haltung. Der Apokalyptiker Flacius sah sich wie seine Magdeburger Mitstreiter dem Weltende nah, dessen Vorbereitung durch die Reformation eingeläutet worden war. „Die Entbergung des römischen Antichristen in der Reformation Luthers bildet den Dreh- und Angelpunkt des Wirklichkeits- und Geschichtsverständnisses der Magdeburger“120. In diese apokalyptische Sicht auf die Geschichte und Reformation ordnet Flacius selbst den Humanismus ein; dieser ist ihm also auch in dieser Hinsicht nicht Selbstzweck, sondern gehört in ein historisches Kontinuum, das zur Reformation hinleitet. Luther hatte, mindestens in der Ratsherrenschrift, im Humanismus primär die Vorbereitung der Reformation am Werke gesehen: Niemant hat gewust, warumb Gott die sprachen erfür lies komen, bis das man nu allererst sihet, das es vmb des Evangelio willen geschehen ist, wilchs er hernach hat wöllen offinbarn vnd da durch des Endchrists regiment auf decken vnd zu stören121.
Flacius setzt den Akzent etwas anders: Ihm erscheint der Humanismus nicht als instrumentelle Vorbereitung auf die Errungenschaften der Reformation, sondern nur noch als ein Zeichen unter anderen, die das Weltende ankündigen. Im Widmungsbrief seines Buches De sectis, dissensionibus, contradictionibus et confusionibus doctrinae, religionis, scriptorum & doctorum Pontificorum von 1565 listet er fünf Zeittendenzen auf, die er als Vorzeichen des Weltendes liest: Die Offenbarung des päpstlichen Antichristen durch Luther, die Aufrichtung der wahren, evangelischen Religion, die Verfolgung dieser Wahrheit durch ihre Gegner, die offenkundige Vergeblichkeit von Gottes Ruf zu Buße und Umkehr sowie – schließlich – die humanistische Gelehrsamkeit der Gegenwart122. Die Erneuerung der Sprachen und Wissenschaften – ista omnium literarum, linguarum & scientiarum, artiumque liberalium ac illiberalium renouatio – habe dazu 120
KAUFMANN, Ende der Reformation (wie Anm. 93) S. 468 (Kursivierung im Origi-
nal). 121
WA 15, 37. Vgl. Matthias Flacius Illyricus, De sectis, dissensionibus, contradictionibus et confusionibvs doctrinae, religionis, scriptorum & doctorum Pontificorum Liber… (1565) S. 4–6. Hinweis auf diese Stelle bei: Günter MOLDAENKE, Schriftverständnis und Schriftdeutung im Zeitalter der Reformation 1: Matthias Flacius Illyricus (1936) S. 336f. 122
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geführt, daß Bildung sehr viel weiter verbreitet sei und auf einem viel höheren Niveau stattfinde als noch vor fünfzig oder sechzig Jahren123. Damit verweist Flacius eindrücklich auf den Breitenerfolg der institutionalisierten humanistischen Bildung im Zuge der konfessionellen Schul- und Universitätsgründungen. Seine Erklärung für diesen Erfolg ist aber, daß sich generell vor einem großen Zusammenbruch noch einmal ein Aufschwung ereigne: Solent enim res multe (ut in arboribus, animalibus & hominibus non raro experientia ipsa deprehendimus) ante ultimum interitum quasi reuiuiscere, & reflorescere: iuxta illud, Ante ruinam exaltatio124.
Damit wird der Humanismus in der Sicht der Reformatoren nicht nur auf eine instrumentelle Vorbereiterfunktion reduziert, sondern gleichzeitig in ein heilsgeschichtliches Kontinuum eingeordnet, innerhalb dessen er die Rolle eines Vorzeichens für das nahende Ende spielt 125. Diese eschatologische Zukunftsvision war aber den ganz in der Gegenwart, ihren Bildungsbemühungen und deren optimistischem Gestus der Verbesserung des menschlichen Lebens aufgehenden Humanisten in aller Regel herzlich fremd oder einfach gleichgültig126. Auch wenn man sich dem Catalogus testium veritatis zuwendet, bestätigt sich das Bild einer Transmission humanistischer Methoden in einen gänzlich anderen Kontext. Flacius spricht in einem programmatischen Text von seinem catalogus scriptorum contra Papam127 und stellt sich damit in die Reihe bio-bibliographischer Schriftstellerkataloge, die seit Hieronymus unter dem Titel De viris illustribus oder De scriptoribus ecclesiasticis das mittelalterliche Pendant der modernen Literaturgeschichte darstellten. Als unmittelbares Vorbild diente Flacius der erste gedruckte Schriftstellerkata123
FLACIUS, De sectis (wie Anm. 122) S. 6. FLACIUS, De sectis (wie Anm. 122), S. 6. 125 Vgl. zum komplexen Problem der Einschätzung des Humanismus durch die Reformatoren auch einige Bemerkungen in: POHLIG, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung (wie Anm. 11) S. 125–131. Zur lutherischen Apokalyptik vgl. vor allem: Robin Bruce BARNES, Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation (1988); Volker LEPPIN, Antichrist und jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618 (1999); Thomas KAUFMANN, Apokalyptik und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: DERS., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts (2006) S. 29–66. 126 Vgl. Ulrich MUHLACK, Zukunftsvorstellungen bei humanistischen Geschichtsschreibern des 15. und 16. Jahrhunders, in: Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, hg. von Klaus BERGDOLT und Walther LUDWIG (2005) S. 64–88, v.a. S. 73. Vgl. zum Problem aber auch: ANDERMANN, Albert Krantz (wie Anm. 8) S. 220. 127 Matthias FLACIUS Illyricus, Consultatio de conscribenda accurata historia ecclesiae (1554), in: Karl SCHOTTENLOHER, Pfalzgraf Ottheinrich und das Buch. Ein Beitrag zur Geschichte der evangelischen Publizistik (1927) S. 147–157, hier S. 152. 124
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log, das 1494 erschienene Werk De scriptoribus ecclesiasticis des Sponheimer Benediktinerabtes Johannes Trithemius 128. Im 16. Jahrhundert entwickelte sich die Gattung in zwei unterschiedliche Richtungen: Einerseits kam es – wie in Conrad Gesners Bibliotheca universalis, sive catalogus omnium scriptorum (1545) – zu polyhistorischen, durch kein Kriterium mehr integrierten Universalbibliographien129. Flacius geht anders vor: Er übernimmt die Gattung, perspektiviert sie aber auf einen konfessionell zugespitzten Deutungshorizont. Damit wird die humanistische Literaturgeschichte, die Bildung (durchaus auch religiöse Bildung wie bei Trithemius) bekannt machen will, zu einem kontroverstheologischen Genre, das religiöse Wahrheit propagieren möchte. Flacius betont zwar mit humanistischem Gestus, er habe im Catalogus abunde exemplorum ... ex authenticis authoribus130 versammelt, will damit aber eine konfessionell zugespitzte Wahrheit beweisen: nämlich die Kontinuität der lutherischen Lehre auch über die Jahrhunderte des kirchlichen Verfalls hinweg. Eine Durchsicht des Catalogus testium veritatis ergibt einen Befund, der in dieselbe Richtung weist: Flacius weist auch hier den Humanisten keine Sonderrolle zu, die einen Eigenwert begründen würde. Auch hier werden Humanismus und Humanisten in ein heilsgeschichtliches Kontinuum einund den Zielsetzungen der lutherischen Reformation untergeordnet. In den Catalogus sind überhaupt nur wenige Humanisten aufgenommen; von den rund vierhundert Einträgen der Erstausgabe befassen sich nur etwa zwanzig mit humanistischen Autoren131. Dies hat primär damit zu tun, daß Flacius vor allem mittelalterliche Zeugen der Wahrheit auflistet, die die Kontinuität der evangelischen Lehre auch über die lange Zwischenzeit zwischen Urkirche und Reformation gewährleisten. Daß ein theologischer Hauptgegner Luthers – Erasmus von Rotterdam – nicht aufgenommen ist, kann in diesem Zusammenhang nicht verwundern132. Daneben sieht Flacius es aber als eine Funktion seines Catalogus, unbekannte Autoren bekannt zu machen, weshalb sein Augenmerk eben Zeugen 128
Vgl. Paul LEHMANN, Literaturgeschichte im Mittelalter, in: DERS., Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze (1941) S. 82–113; Richard Hunter ROUSE und Mary Ames ROUSE, Bibliography before Print: The Medieval De Viris Illustribus, in: The Role of the Book in Medieval Culture 1, hg. von Peter GANZ (1986) S. 133–153. 129 Vgl. Jan-Dirk MÜLLER, Das Gedächtnis der Universalbibliothek: die neuen Medien und der Buchdruck, in: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, hg. von Hartmut BÖHME und Klaus R. SCHERPE (1996) S. 78–95. 130 Praefatio des Catalogus testium veritatis, ed. SCHEIBLE, Anfänge (wie Anm. 100) S. 50–54, hier S. 53. 131 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik, S. 181f. 132 Vgl. zum protestantischen Erasmusbild: Bruce MANSFIELD, Phoenix of his age. Interpretations of Erasmus c 1550–1750 (1979) S. 65–114.
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gilt, deren Schriften – handschriftlich oder in rarem Druck erhalten – weniger Prominenz genießen als diejenigen humanistischer Autoren aus dem 15. und 16. Jahrhundert, deren Schriften leichter greifbar sind 133. Die wenigen aufgenommenen Humanisten aber, dies ist wichtig zu betonen, sind in aller Regel aus für den Humanismus unspezifischen Gründen in den Catalogus aufgenommen worden: Auch sie dienen ausschließlich als Belege für eine Opposition gegenüber der römischen Kirche, die mehr oder minder subkutan kontinuierlich dem Papst widersprochen hat. Damit trifft die Einschätzung Charles Bénés, der Catalogus zeige, daß „les plus grands humanistes ... ont joué un rôle de premier“ für die reformatorischen Bestrebungen, gerade nicht zu134. Vor allem spielen sie keine Rolle als Humanisten – sondern nur als Kritiker des Allmachtsanspruchs der römischen Kirche. Der Urvater des Humanismus, Petrarca, erscheint bei Flacius insofern konsequent auf seine rom- und papstkritischen Äußerungen reduziert 135. Der Humanist und spätere Papst Enea Silvio Piccolomini wird solange positiv rezipiert, wie er sich im konziliaristischen Sinne äußert136. Seine außerreligiösen gelehrten Aktivitäten spielen gar keine Rolle, und seine Wahl zum Papst und seine spätere Politik sind für Flacius Anlaß zu der Behauptung, er habe den Geist des Antichristen empfangen, als er zum Papst gewählt worden sei, und dann die Appellation an ein Konzil verboten. Dies ist Anlaß, nicht nur die Amtsverfehlungen von Pius II. aufzuzeigen, sondern auch seine persönliche Moral anzuprangern. Flacius unterscheidet aber sehr wohl zwischen den frühen Texten Piccolominis und seiner späteren Wandlung: illum hominem … prorsus inmutatum esse137. Ähnlich verkürzt werden andere Humanisten in den Zeugenkatalog aufgenommen: Der päpstliche Historiograph Platina habe in seiner großen Papstgeschichte nolens volens die Bosheit der Päpste bloßgestellt 138. Johannes Trithemius wird für seine Papstkritik und seine Auffassung von der menschlichen Rechtfertigung, die der Luthers ähnele, aufgenommen139. Machiavelli habe gezeigt, daß ex ambitione et crudelitate pontificum ple133
Vgl. HAYE, Catalogus (wie Anm. 10). Charles BÉNÉ, Guillaume Budé et Erasme dans le Catalogus testium veritatis de Flacius Illyricus, in: La satire humaniste, hg. von Rudolf DE SMET (1994) S. 239–253, hier S. 253. 135 Vgl. FLACIUS, Catalogus1, S. 871f. 136 Vgl. FLACIUS, Catalogus1, S. 955–958. 137 FLACIUS, Catalogus1, S. 957. 138 Vgl. FLACIUS, Catalogus1, S. 971–973. 139 Vgl. FLACIUS, Catalogus1, S. 988. Siehe zu Trithemius als umstrittenem Humanisten auch: Harald MÜLLER, Graecus et fabulator. Johannes Trithemius als Leitfigur und Zerrbild des spätmittelalterlichen „Klosterhumanisten“, in: Inquirens subtilia diversa. Festschrift Dietrich Lohrmann, hg. von Horst KRANZ und Ludwig FALKENSTEIN (2002) S. 201–223. 134
War Flacius Humanist?
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raque mala ac bella Christianis prouenisse140. Pico della Mirandola sei durch Kritik am Papst und die Forderung einer Reformation der Kirche hervorgetreten141, Guillaume Budé habe sich zur Unmoral der Mönche geäußert142, Celtis schließlich die Messe und die Vorstellung des Fegefeuers abgelehnt 143. Nur Lorenzo Valla wird mit einem genuin humanistischen Coup zitiert, nämlich der berühmten Entlarvung der Konstantinischen Schenkung als Fälschung – eine textkritische Großtat, die aber vor allem den Vorteil besaß, der reformatorischen Sache in die Hände zu spielen144. Hatte sich Luther en passant einmal selbst als Kombination aus Valla und Wyclif bezeichnet 145, so trifft diese Charakterisierung gewissermaßen auch für Flacius zu: Humanistische Fertigkeiten werden mit außerhumanistischen Zielen verbunden und diesen letztlich untergeordnet. Geschichte dient hier als Trost für die bedrängten Christen, weil sie den Nachweis zu führen hilft, daß die eigene Glaubensauffassung nicht neu, nicht erst seit Luther bekannt ist, sondern in kontinuierlicher Weitergabe seit Christi Zeiten vertreten und tradiert worden ist146 – eine Vorstellung, die im Luthertum so breiten Anklang fand, daß im Umkreis des Reformationsjubiläums rundheraus behauptet werden konnte: Sic ergo statuimus, Lutheranam Ecclesiam in Papatu semper fuisse. Quia doctrina Lutheri, qualis nunc in nostris sonat Ecclesiis, semper ab Apostolorum tempore audita fuit147.
Dies zu zeigen, ist das eigentliche Ziel auch des Flacius. Alle Gelehrsamkeit bleibt diesem Ziel untergeordnet.
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FLACIUS, Catalogus1, S. 993. Vgl. FLACIUS, Catalogus1, S. 995f. 142 Vgl. FLACIUS, Catalogus1, S. 1025–1027. Siehe dazu auch: BÉNÉ, Guillaume Budé (wie Anm. 134). 143 Vgl. FLACIUS, Catalogus1, S. 1027f. 144 Vgl. FLACIUS, Catalogus1, S. 959f. Siehe zu Valla auch den instruktiven Aufsatz: Andreas KABLITZ, Lorenzo Vallas Konzept der Geschichte und der Fall der Konstantinischen Schenkung. Zur ‚Modernität‘ von „De falso credita et ementita Constantini donatione“, in: Historicization – Historisierung, hg. von Glenn W. MOST (2001) S. 45–67. Zur Valla-Rezeption bei altgläubigen und reformatorischen Humanisten vgl. Giovanni ANTONAZZI , Lorenzo Valla e la polemica sulla donazione di Constantino (1985) S. 146f. 145 Vgl. WA 18, 640. 146 Vgl. SCHEIBLE, Catalogus testium veritatis (wie Anm. 11). 147 Vgl. Friedrich BALDUIN, Disputatio solennis De vera Christi Ecclesia ante tempora D. Lutheri, durante Papatu (1617), These XXV. Zur lutherischen Rezeption des Catalogus vgl. POHLIG, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung (wie Anm. 11) S. 322–335. 141
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V. Martina Hartmanns wichtige Studie über Flacius trägt den Titel „Humanismus und Kirchenkritik“. Die Überprüfung verschiedener Elemente von Flacius’ Biographie und gelehrtem Profil ergibt aber, daß der Begriff des Humanismus auf ihn nicht paßt. Natürlich: Seine philologischen und editorischen Fertigkeiten speisen sich aus dem Methodenarsenal des Humanismus und sind ohne dessen Enthusiasmus für Textkritik und Handschriftenkunde nicht denkbar. Auch ist die Kirchenkritik ein wichtiges Motiv für Flacius, wenn er Zeugen in seinen Katalog einordnet. Aber beide, Humanismus wie Kirchenkritik, sind dabei als abhängige Variablen zu verstehen. Dienen die humanistischen Techniken der konfessionellen Wahrheit, so der Aufweis der Kirchenkritik durch vorreformatorische Zeugen der konfessionellen Identitätsstiftung. Wenn man so will, kann man in Flacius einen Extremfall der Gelehrsamkeit des 16. Jahrhunderts erkennen, nämlich eine fast vollständige Zweckentfremdung einer im größten Maßstab gehandhabten humanistischen Philologie für dem Humanismus gänzlich fremde Wert- und Geisteshaltungen. Damit ist der Humanismus soweit diffundiert, daß er als solcher nicht mehr zu erkennen ist.
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Flacius Illyricus und Regensburg Matthias Flacius Illyricus scheint in besonderem Maß über die Fähigkeit zu verfügen, auf Zeitgenossen und Nachwelt polarisierend zu wirken. Der in Albona (Istrien) als Sohn eines kroatischen Gutsbesitzers und einer italienischen Mutter geborene Gelehrte, der seine akademische Karriere 1544 als Hebräist in Wittenberg begann, gilt als einer der streitbarsten Kontroverstheologen seiner Zeit 1. Nach dem Urteil des bekannten Reformationshistorikers Karl Schottenloher war er „der unermüdlichste, rücksichtsloseste, unversöhnlichste Gegner im damaligen Kampfe der verschiedensten kirchlichen Bewegungen, der überall die Stätten seines Wirkens mit dem Zank seines schrankenlosen Bekenntniseifers erfüllte und mit dem Rücksichtslosen seines Wesens den leidenschaftlichsten Haß seiner Gegner nach sich zog“2. Ganz ähnlich schon das Urteil von Zeitgenossen. So hat ihn der wegen seiner Verdienste um die Konkordienformel bekannte Tübinger Theologe Jakob Andreae (†1590) zwar als den ergesten lötzkopf, der die Kirchen und Regiment mit seiner schwermerey irrig mache, tituliert 3, andererseits aber mit großer Hochachtung von seinen gelehrten 1
Vgl. zusammenfassend Oliver K. OLSON, Matthias Flacius Illyricus, in: Theologische Realenzyklopädie 11 (1983) S. 206–214, und DERS., Flacius (Vlacich) Matthias, in: RGG 2 (4 2000) Sp. 151f. sowie die Lebensskizze von Martina STRATMANN, Matthias Flacius Illyricus – ein protestantischer Theologe und Humanist im Regensburger Kirchenasyl, in: Berühmte Regensburger. Lebensbilder aus zwei Jahrtausenden, hg. von Karlheinz DIETZ und Gerhard H. WALDHERR (1997) S. 142–147; eine umfassende Darstellung, die allerdings mit Flacius’ Wirken in Jena (1557–1561) endet, bietet OLSON, Flacius. 2 Karl SCHOTTENLOHER, Das Regensburger Buchgewerbe im 15. und 16. Jahrhundert. Mit Akten und Druckverzeichnis (Veröffentlichungen der Gutenberg-Gesellschaft 14–19, 1920) S. 38. 3 Andreaes Urteil über Flacius ist abgedruckt bei Eduard BÖHL, Beiträge zur Geschichte der Reformation in Österreich (1902) S. 450–452, hier S. 451; das dieser Ausgabe zu Grunde liegende Sendtschreiben M. Caspar Melisandri an einen guetten freundt, was Doctor Jacob Andreä vom Herrn Ilirico halte, wird heute im Stadtarchiv Regensburg unter der Signatur „Eccl. I, 26, 81 (S. 16224–16225)“ aufbewahrt. Zu Jakob Andreae (1528–1590) vgl. Martin BRECHT, Andreae Jakob, in: TRE 2 (1979) S. 672–680, ferner Siegfried HERMLE, Andreae, Jacob, in: RGG 1 (4 1998) Sp. 470.
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Schriften gesprochen. Als ihm der älteste gleichnamige Sohn des Illyricus in Tübingen vorgestellt wurde, soll er den jungen Mann mit folgenden Worten begrüßt haben: Tu refers nomen tui parentis, fac igitur, ut etiam illius eximiam eruditionem et pietatem tu quoque aliquando referas. … Tuus parens vir est eruditus pietate et zelo insignis et suis laboribus … de ecclesia optime meritus.
Gleich zweimal habe er dann diese Worte wiederholt 4. Dieser in wörtlicher Rede überlieferte Ausspruch Andreaes über den streitbaren Theologen und Kirchenhistoriker ist einem Augenzeugenbericht entnommen, der heute im reichen Bestand ‚Ecclesiastica‘ des Regensburger Stadtarchivs aufbewahrt wird, ein Archiv5, das überhaupt die meisten Briefe und Schriftstücke zur Biographie des Flacius überliefert 6. Nach einem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angelegten Findbuch stehen genau 743 Aktennummern mit Flacius Illyricus in Beziehung 7, darunter an die 300 autographe Briefe und Zettel an seinen Freund und Kampfgefährten im gnesiolutheranischen Lager, Nikolaus Gallus, der von 1553 bis 1570 als Superintendent der evangelischen Gemeinde der Reichstadt vorstand und Regensburg zu einer Hochburg des reinen Luthertums mit Ausstrahlung weit nach Österreich ausbaute8. Es finden sich hier aber auch viele Briefe des Flacius an andere geistliche und weltliche Personen, darunter drei Briefe an Kaiser Maximilian II. in Form von Konzepten, ferner Ratsprotokolle und Bestimmungen über seine persönlichen Verhältnisse, über ein Dutzend Gutachten, die Flacius meist schon vor seiner Regensburger Zeit im Auftrag des Rates der Reichsstadt erstellte9, nicht zuletzt auch über 40 an Flacius gerichtete 4
BÖHL, Beiträge (wie Anm. 3) S. 451. Vgl. dazu den Überblick bei Jürgen SYDOW, Das Stadtarchiv Regensburg, in: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern 4 (1958) S. 57–61, ferner die allgemein zugängliche kurze Bestandsübersicht des Archivs unter der Internet-Adresse . Zur Rettung des Bestandes ‚Ecclesiastica‘, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf „dem Rathausboden aufgelöst und zersteut dem Verderben ausgesetzt war“, vgl. PREGER, Flacius S. V. 6 Vgl. die Übersicht bei Mijo MIRKOVIĆ, Matija Vlačić Ilirik, Zagreb 1960, S. 402– 407, dazu die deutsche Zusammenfassung S. 559; ferner HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 54f. 7 Für die Bestände ‚Ecclesiastica I–III‘ liegen im Stadtarchiv Regensburg Repertorien mit Einzelblattverzeichnung vor, die in Kürze auch durch eine Datenbank im Format von Microsoft Access zugänglich gemacht werden sollen; dem Leiter dieses Archivs, Herrn Dr. Heinrich Wanderwitz, sei auch an dieser Stelle für seine Hilfe gedankt. 8 Zu Gallus (1516–1570) vgl. zusammensfassend Gerhard SIMON, Nikolaus Gallus, in: Theologische Realenzyklopädie 12 (1984) S. 21–23; Peter SCHMID, Nikolaus Gallus, in: Berühmte Regensburger (wie Anm. 1) S. 132–141, sowie zuletzt Heinz SCHEIBLE, Gallus, Nikolaus, in: RGG 2 (42000) Sp. 462 jeweils mit Literatur. 9 Um nur zwei Beispiele anzuführen: am 20. April 1561 verfaßte Flacius für den Regensburger Rat ein „Gutachten über die Gewalt der Schlüssel“ (Eccl. I, 17, 33, S. 10520– 5
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Schreiben. Das im Stadtarchiv Regensburg erhaltene Material, das noch durch den Nachlaß des Nikolaus Gallus in der Bayerischen Staatsbibliothek ergänzt wird, war schon von Wilhelm Preger für seine in den Jahren 1859 bis 1861 erschienene, aber immer noch unentbehrliche zweibändige Flacius-Biographie herangezogen worden10, bietet aber nach wie vor viele unausgewertete Detailinformationen zur Biographie des Illyricus. Schon lange bevor der umtriebige und in halb Europa herumgetriebene Flacius Illyricus in Regensburg für fast fünf Jahre Zuflucht fand, hat die Donaustadt in der Vorbereitungsphase der Centurien eine wichtige Rolle gespielt. Hier, genauer gesagt im Hause des Nikolaus Gallus bei der Neupfarrkirche, wurde im August 1554 gewissermaßen eine logistische Außenstation für die Arbeit an der großen Kirchengeschichte eingerichtet, wo die von Caspar Nidbruck, einem der wichtigsten Förderer des Projektes, aus Wien geschickten Handschriften und Drucke für die Centurien exzerpiert bzw. kopiert werden sollten11. Der aus lothringischem Adel stammende Nidbruck hatte bei Melanchthon und Flacius in Wittenberg studiert, war danach in Bologna zum Doktor beider Rechte promoviert worden und ungefähr 25-jährig zu einem der wichtigsten Räte des römischen Königs und späteren Kaisers Maximilian II. avanciert; er hat den Kontakt zu seinen Wittenberger Lehrern nie abgebrochen und scheute keine Mühen, das große Geschichtswerk zu unterstützen12. Durch seine Vermittlung konnten neben Nidbrucks eigenen Büchern auch verschiedene Handschriften aus österreichischen Klöstern und sogar die Codices der Wiener Hofbibliothek von den Centuriatoren ausgewertet werden, mit Wissen und Einverständnis Maximilians II., wie aus einem von Gallus kopierten, am 22. Oktober 1559 10527). Schon am 28. Oktober 1560 wandte sich der Regensburger Rat an Flacius in Jena mit der Bitte um ein Gutachten in einem Ehebruchsprozeß (Eccl. I, 3, 86, S. 1700–1701). Die Stellungnahme des Illyricus in dieser Angelegenheit datiert vom 10. November 1560 (Eccl. I, 4, 88, S. 1703–1710). 10 PREGER, Flacius S. IVf. 11 Vgl. dazu Karl SCHOTTENLOHER, Handschriftenschätze zu Regensburg im Dienste der Zenturiatoren (1554–1562) I. Kaspar Nidbruck und seine Bücherablage in Regensburg, Zentralblatt für Bibliothekswesen 34 (1917) S. 65–71; HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 59. 12 Vgl. zu Nidbrucks Biographie den materialreichen Artikel von Robert HOLTZMANN, Kaspar von Niedbruck, in: ADB 52 (1906) S. 621–629, HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 57–61 und OLSON, Matthias Flacius (wie Anm. 1) S. 259 Anm. 27 jeweils mit weiterer Literatur. Zu seinem Studiengang ferner die Belege bei Gustav C. KNOD, Deutsche Studenten in Bologna (1289–1562). Biographischer Index zu den Acta nationis Germanicae universitatis Bononiensis, Berlin 1889, S. 375, sowie bei Heinz SCHEIBLE, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 183, 1966), S. 14; Nidbruck hatte 1546 in Wittenberg bei Flacius die Vorlesung über die Politik des Aristoteles gehört.
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in Wien ausgestellten Schreiben des Königs an die Magdeburger hervorgeht, mit dem er sich für die Zusendung des ersten Centurienbandes bedankte: und nachdem euch bewußt, das weiland der ersam gelerte unser getrewer lieber Caspar von Nidbrug, unser rat, euch von Regensburg aus ein anzal bucher aus unser bibliotecn laut eines inventari mit unser gnedigsten bewilligung lehenweise zustehen lassen, so ist unser gnedigs gesinnen, da ir derselben nicht mehr bedurftig, ir wollet sie uns mit dem ehisten widerum behendigen und ervolgen lassen13.
Aus dem von Viktor Bibl gedruckten Briefwechsel zwischen Flacius und Nidbruck geht hervor14, daß Nidbruck im August 1554 eine wertvolle Hinkmar-Handschrift bei Gallus in Regensburg deponiert hatte, deren Weiterversendung er aber verbot15. Als im Herbst desselben Jahres zwei Fässer Bücher nach Regensburg gelangten, war der Illyricus vom Inhalt bitter entäuscht; vier Fässer habe er erwartet und bereits zwei Schreiber verpflichtet, und nun werde er von Gallus informiert, daß nur wenig eingetroffen sei16. Überhaupt verlangte er immer wieder von Nidbruck alte Texte, die vor der Jahrtausendwende entstanden sind, jüngeres Material habe er genug; auch müsse die Suche nach neuen Quellen ausgedehnt werden, zunächst nach Transsilvanien und in die Walachei; oft wünsche er auch in Rußland Nachforschungen anzustellen17. Dann im nächsten Brief: „Ich sehe, was wir hier in Deutschland finden, ist meist jüngern Datums, wenns hochkommt 400 Jahre alt“; deshalb soll man die Suche ausdehnen in weiter entlegenere Regionen, besonders nach Rom und wenn möglich auch nach Asien18. Erst nachdem der Regensburger Rat im März 1555 eine Garantie für die Sicherheit und Rückgabe der verschickten Codices über13
Geduckt bei SCHOTTENLOHER, Handschriftenschätze (wie Anm. 11) S. 70. Victor BIBL, Der Briefwechsel zwischen Flacius und Nidbruck, Jb. der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 17 (1896) S. 1–24, 18 (1897) S. 201–238, 19 (1898) S. 96–110, 20 (1899) S. 83–116. 15 BIBL, Briefwechsel (wie Anm. 14) 18, S. 218: Opus Heincmari episcopi Remorum tempore Ludovici, filii Caroli Magni de dissidio episcopi Belovacensis et suo reliqui Gallo nostro, sed non licet avehere, extrahere quae ad rem facient, integrum quidem; vgl. dazu HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 152f. 16 BIBL, Briefwechsel (wie Anm. 14) 18, S. 221: Gallus significavit, pauca quaedam te sibi dedisse nobis transmittenda, quod mihi ingenti dolore affecit …. Conduxi duos scribas meis sumptibus, per quos volebam hac hieme in ordinem redigere ex diversis codicibus tuis ac meis scripta eodem pertinentia …. Nunc video me operam et impensa ludere. 17 BIBL, Briefwechsel (wie Anm. 14) 18, S. 225f.: Optavi saepe et in Moschovia inquisitionem fieri posse; cum enim graecam religionem habeant, verisimile est, eos et libros aliquos adhuc habere. 18 BIBL, Briefwechsel (wie Anm. 14) S. 227: Video quae nos in hac Germania reperimus, plerunque recentiora esse ad summum 400 annorum; quare videndum omnino, ut etiam in exteris regionibus, praesertim Romae et, si possibile esset, in Asia. 14
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nahm, konnte deren Versendung an die Magdeburger geregelt werden, die dafür dem Regensburger Magistrat Leihscheine auszustellen hatten19. So könnten vielleicht so berühmte Handschriften wie der Codex Carolinus und die Wiener Handschrift der Bonifatius-Briefe über Ausleihe mit Hilfe der Bürgschaft des Regensburger Rats in die Hände des Flacius gelangt sein20, der in der zweiten Hälfte der 1550er Jahre nach dem Diktum eines seiner wichtigsten Mitarbeiter, Johann Wigand (auch mit ihm sollte er sich später heillos entzweien), als „Schiffseigner und Steuermann zugleich“ das Centurienwerk leitete21. In Regensburg wurde von einem Mitarbeiter des Flacius die Hannoversche Briefsammlung mit wichtigen Texten zum Investiturstreit kopiert, die nach dem Verlust der Vorlage heute zum großen Teil nur noch in dieser Abschrift erhalten sind. Am Rande sei auch vermerkt, daß Nidbruck im September 1556, als er in Begleitung König Maximilians II. zum Reichstag nach Regensburg kam22, auch eine Handschrift mit Briefen des Petrus Damiani im Gepäck hatte, und somit an den Ort brachte, wo über 400 Jahre später Kurt Reindel die Monumenta-Edition erstellte23. Den Regensburg-Aufenthalt hat der gelehrte Rat auch dazu verwendet, um die Klosterbibliotheken der Stadt zu erkunden und für das Centurienwerk einschlägige Handschriften aufzuspüren; sein eigenhändiges Verzeichnis der in Regensburger Bibliotheken ermittelten Handschriften ist in einer Wiener Handschrift erhalten geblieben und wurde vor wenigen Jahren von Martina Hartmann ausgewertet24. Nidbrucks Aufzeichnungen überliefern übrigens neben anderen Nachrichten zur Regensburger Bibliotheksgeschichte auch den ältesten Katalog der Büchersammlung des Kollegiatstifts zur Alten Kapelle 25. 19
SCHOTTENLOHER, Handschriftenschätze (wie Anm. 11) S. 67–69; die beiden dort abgedruckten Aktenstücke werden heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München im Bestand „Reichsstadt Regensburg Urkunden 555 März 8“ aufbewahrt. 20 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 324 Register sub voce und zuletzt Achim Thomas HACK, Codex Carolinus. Päpstliche Epistolographie im 8. Jahrhundert (Päpste und Papsttum 35, 2006) S. 87–90. 21 Vgl. PREGER, Flacius S. 424f. 22 Zum Regensburger Reichstag 1556/57 vgl. Dietmar HEIL, Die Reichspolitik Bayerns unter der Regierung Herzog Albrechts V. (1550–1579) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 61, 1998), S. 136– 157 mit reicher Literatur. 23 Vgl. dazu schon den Kurt Reindel gewidmeten Aufsatz von Claudia MÄRTL, Regensburg in den geistigen Auseinandersetzungen des Investiturstreits, DA 42 (1986) S. 145–191, hier S. 182f.; HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 158. 24 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 5580, fol. 28–33, vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 64 und 202. 25 Vgl. dazu Franz FUCHS, Zur Geschichte der Alten Kapelle in Regensburg im hohen und späten Mittelalter, Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 34 (2000) S. 75–82, hier S. 82.
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In den Jahren 1556/57 hielt sich Marcus Wagner26, ein anderer wichtiger Mitarbeiter des Flacius in Regensburg auf, um hier für die Centurien zu arbeiten, er erstellte ein Verzeichnis der von ihm benutzten Codices, das wichtige buchgeschichtliche Aufschlüsse gewährt und schon von Hermann Heimpel für die Erforschung der Handschriften aus dem Besitz des Job Vener herangezogen worden ist 27. Doch nicht mit allen Mitarbeitern konnte der ‚Steuermann des Centurienschiffes‘ so zufrieden sein wie mit diesem Mitstreiter. In einem am 12. Juni 1557 abgefaßten Schreiben an Gallus berichtet Flacius Merkwürdiges über einen anderen Gehilfen, einen Nichtsnutz, der er kurz zuvor entlassen mußte, weil er trotz aller Ermahnungen von seinem liederlichen Lebenswandel nicht abgelassen habe; aber er finde einen Trost in der Beobachtung, daß die Verächter Gottes ihn verlassen würden und nur solche Männer bei ihm blieben, die Gott fürchteten und von ungestümen Eifer erfüllt seien: Svolensis ille sane est magnus nequam. Nobis autem iratus, quia post multas admonitiones de negligentia et potationibus et societatibus brevis temporis tandem est depositus de officio cum ignominia. …. Paulo postquam a nobis est dimissus circiter diebus 20 venit scortum gestans infantem recens natum eique in aedibus Ambrosii confluente magna turba in lata via illum obtrusit. Sed saepe me solatum est, quod contemptores Dei et homines a nobis sese separant, qui eorum amici fiunt. Nobis vero tantum adhaerent, qui vere timent Deum et zelum habent sevitum.28
Nach seiner Vertreibung aus Jena am 10. Dezember 1561 traf Flacius Illyricus im Februar des nächsten Jahres mit seinem Weib und sieben Kindern in der Donaustadt ein, wo er mit Unterbrechungen bis zum Herbst 1566 Schutz und Aufnahme fand 29. Der Regensburger Rat war zuvor durch ein langes Schreiben des kaiserlichen Rates Wolf Haller gewarnt worden, den streitsüchtigen und zänkischen Theologen, der mit allen Lagern der evangelischen Kirche zerfallen sei, aufzunehmen30. Durch Vermittlung seines 26
Vgl. zu ihm HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 64f. mit Literatur. Vgl. Hermann HEIMPEL, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel, 3 Bde. (1982), hier Bd. 2, S. 982–984. 28 Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 21, 29 (S. 11.826–11.829). PREGER, Flacius S. 430 konnte Theoderich Artopoeus von Zwoll als den untauglichen Mitarbeiter am Centurienwerk identifizieren; vgl. dazu auch Oliver K. OLSON, „Der Bücherdieb Flacius“ – Geschichte eines Rufmordes, Wolfenbütteler Beiträge 4 (1981) S. 111–145, hier S. 120. 29 Vgl. zu den Regensburger Jahren des Flacius immer noch grundlegend PREGER, Flacius S. 228–284. 30 Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 17, 14 (S. 10480–10487): Schreiben des kaiserlichen Rates Wolf Haller an den Regensburger Ratskonsulenten Dr. Johann Hiltner vom 13. April 1562; vgl. PREGER, Flacius S. 229. Zu Hiltner (†1567) vgl. zuletzt Hans 27
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Freundes Nikolaus Gallus und des mächtigen Ratskonsulenten Dr. Johann Hiltner, der maßgeblich für die Einführung der Reformation in Regensburg gewirkt hat, wurde dem Flüchtling und seiner Familie der Aufenthalt in der Reichsstadt erlaubt, aber jedes öffentliche Wirken verboten. Der Versuch des Illyricus, eine Akademie aufzumachen und die Studenten, die ihm aus Jena und Nürnberg gefolgt waren, öffentlich zu unterrichten, wurde sofort unterbunden; nur Privatunterricht in der eigenen Wohnung sollte ihm gestattet sein31. Flacius hat den Regensburger Aufenthalt, der ihm viel Widerwärtiges bringen sollte, intensiv für sein wissenschaftliches Werk genutzt: hier entstand sein theologisches Hauptwerk, die Clavis scripturae sacrae 32, und neben seinem Buch De sectis, dissencionibus, contradictionibus33 auch die von Werner Goez als originelle historische Leistung eingestufte Schrift De translatione imperii34, welche auch den Traktat De iure regni et imperii des Lupold von Bebenburg, das Gesetz Licet juris Ludwigs des Bayern und diverse Schriften über das Constitutum Constantini enthält 35. Dieses Buch konnte er Kaiser Maximilian II. auf dem Augsburger Reichstag am Ostersamstag 1566 persönlich mit einer lateinischen Ansprache überreichen. Im Regensburger Stadtarchiv ist eine lange narratio de oblatione libelli de translatione imperii überliefert, in welcher Flacius das in lateinischer Sprache geführte Gespräch mit dem Habsburger nach der Dedizierung des Werkes aufzeichnete36. Doch kurze Zeit später wurde für ihn in Augsburg der Boden zu heiß, er konnte sich gerade noch rechtzeitig nach Regensburg absetzen, um der vom sächsischen Kurfürsten August beim Kaiser durchgesetzten Verhaftung zu entgehen37. Alle diese Werke durften nicht in Regensburg erscheinen, wo der Rat den Illyricus mit einem Druckverbot belegt hatte. Als im März 1564 in Regensburg bekannt wurde, daß Flacius beabsichtige, bei einem Regensburger Drucker ein Trostbüchlein für die verfolgten und geplagten Christen erscheinen zu lassen, reagierte der Rat sofort: SCHWARZ, Johann Hiltner – Der Reformator von Regensburg (1485–1567), in: Berühmte Regensburger (wie Anm. 1) S. 126–131. 31 Zum folgenden vgl. PREGER, Flacius S. 229. 32 VD 16 F 1307 und weitere Auflagen F 1308 und F 1309. 33 VD 16 F 1496. 34 VD 16 F 1363, weitere Auflagen F 1364, F 1502 und F 1503. 35 Vgl. Werner GOEZ, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1958) S. 292–304. 36 Vgl. Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 3, 57 (S. 1618–1620); weiteres Material dazu ebd. I, 21, 146 (S. 12110–12115) und ebd. I, 59, 35 (S. 35209). Vgl. dazu auch PREGER, Flacius S. 281f. 37 Vgl. dazu ausführlich PREGER, Flacius S. 282.
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Pfintztag des 9. tags Martii anno 1564 hat Andreas Wolf, der zeit statchammerer magister Niclasen Dietzel, Sindicum, zu hern Mathis Flacio Illirico geschickt und ime im namen eines ersamen raths anzuzaigen bevolchen, nachdem er für die verfolgten, auch hin und wider geplagten Christen ein trostbüchlein geschriben und dasselbig alhie unndter seinem namen und titul im truckh außgen lassen wellten, welchs aber einem ersamen Rath aus stathafften burglichen ursachen nit für gut angesehen38.
Ein mehrseitiges Protokoll berichtet ausführlich über die mit Flacius in dieser Angelegenheit geführten Verhandlungen. Flacius, der in sich seinen Briefen als verfolgt und notleidend ausgibt, war keineswegs mittellos nach Regensburg gekommen, und er verstand es offensichtlich, äußerst sparsam zu leben39. Im Sommer 1563 war er von Regensburg aus in seine Heimat gereist, um sein väterliches Erbe in Empfang zu nehmen, und das offensichtlich nicht ohne Erfolg. Denn am 20. Dezember 1563 beurkunden Kämmerer und Rat der Stadt Regensburg dem erbaren und wolgelerten herrn Mathia Flacio Illyrico und allen seinen Erben den Erwerb eines ewigen Zinses von 105 Taler jährlich, für den der Gelehrte eine Summe von 2100 Talern beim Rat der Stadt deponiert hatte: Wir Camerer und rath der stat Regenspurg bekhennen offenlich an disem brieve, das wir auf ewig recht und redlich verkauft und zu kauffen geben haben […] herrn Mathia Flacio Illirico und allen seinen erben 105 thaler zu acht schilling Wiener schwartz gelt und ewigs zinses auff der gemelten unser stat Regensburg umb 2100 Thaler ermelter werung kauf- oder hauptgelts, die er uns auch bar zu unnseren sichern handen auf unnser volligs benügen entricht und betzalt hat, wölchen zinß, wie obstet, wir ime, seinen erben oder seinen volmechtigen gewalthaber oder wissenlichen innhaber dieses brieves alle jar auf St. Thomas des heiligen zwelfboten tag [21. Dezember] vierzehen tag vor oder nach ungeverlich an alle verhinderung aus gemainer unser stat Camer alhie in der stat Regenspurg alwegen an thalern, zu acht schilling Wiener gerechet, soverr der vorhanden und zu bekommen sinde, sonsten an guter im reich ganghafter müntz raichen und geben40.
Als dieser Zinskauf, der offensichtlich geheim bleiben sollte, in Regensburg bekannt wurde, löste er gerade bei Teilen der protestantischen Geistlichkeit heftige Erregung aus 41, wobei jedoch zu beachten ist, daß die führenden Reformatoren Regensburgs, Dr. Johann Hiltner und der Superintendent Nikolaus Gallus bzw. deren Frauen, ebenfalls so günstig verzinstes
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Vgl. Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 17, 27 (S. 10508–10515): Ratsprotokoll über Verhandlungen mit Flacius über dessen Absicht, ein Trostbüchlein für die verfolgten und geplagten Christen in Regensburg drucken zu lassen. 39 Vgl. dazu PREGER, Flacius S. 230. 40 Original im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Reichsstadt Regensburg Urkunden 1563 Dezember 20 (Abschrift im Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 17, 46 [S. 10548–10551]). 41 Vgl. PREGER, Flacius S. 230–232.
Flacius Illyricus in Regensburg
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Geld bei der Stadt angelegt hatten42. Der Stellvertreter des Gallus, Wolfgang Waldner43, griff Flacius in ungewöhnlich scharfer Form an, bezichtigte ihn des Wuchers und verlangte Rechtfertigung oder öffentliche Buße. Seine Beschuldigungen haben sich in einer Abschrift des Gallus erhalten mit ausführlichen Randbemerkungen von der Hand des Illyricus. Das Schreiben sei im folgenden vollständig mitgeteilt44: An herrn M. Illy. Weil mich E. E. dermassen in verdacht gefaßt haben, das wohin und an welche ort ein geschrei von ewren angelegten geld kompt, das ir mir die schuld gebt, als hab ich es erregt, schreibt darauf den leuten zu, es sei ein teuflische lügen, was man des wuchers halben von euch sagt45, wollet also mit diesem schein die leut berreden, das sie nit glauben sollen, das ir bei meinen herren 2200 oder 2100 taler auff zins angelegt habt. Dargegen mus ich ewer lügner sein und schuld haben, das ichs ausbreite, derhalben wird ich verursacht auf Labach in Osterreich und Nürnberg, desgleichen hinein in Sachsen und wo es die notdurft erfordert46, warhaftig bericht dieser handel zu thun. Kompt ir aber in offnem druck mit herfür, wie ir euch schon vernemen laßt, wird ich auch dartzu nit schweigen, ir nennt mich gleich mit namen oder nicht47. Ich kan aber leiden, das ir selb die leute berichtet, es sei im druck oder durch brieve, wie und welchermaßen, auch wieviel tausent gulden ir auff zinskauff gewendet, mügt es dann verteidigen, sovil ir könt. Stimmt es darnach mit Gottes wort, werden die Christen wol mit zufrieden sein; wo nit, seid ir schuldig ewer sünd zu erkennen und buß zu thun48. 42
Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Reichsstadt Regensburg Urkunden 1552 Mai 2 (Verkauf eines jährlichen Ewiggeldes an Barbara, Frau des Dr. Johann Hiltner, für 2000 Gulden rheinisch, verzinslich zu 5%); ebd. 1557 Dezember 24 (Verkauf eines jährlichen Ewiggeldes von 30 Gulden rheinisch an Dr. Johann Hiltner); ebd. 1557 November 15 (Verkauf eines jährlichen Ewiggeldes von 35 Gulden rheinisch an Niklas Han, Superintendent und Pfarrherr der Neuen Pfarre in Regensburg); ebd. 1558 September 8 (Schuldverschreibung für Barbara Hiltner über 1000 Gulden rheinisch zu 5%); ebd. 1560 April 24 (Verkauf eines jährlichen Ewiggeldes von 5 Gulden rheinisch an Agnes, Ehefrau des Nikolaus Gallus); ebd. 1560 März 24 (Verkauf eines jährlichen Ewiggeldes von 100 Gulden rheinisch an Dr. Johann Hiltner). Am 20. Dezember 1564 wurde dem Gelehrten dieser Zinskauf gekündigt, vgl. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Reichsstadt Regensburg Literalien 598 fol. 87r: Herrn Illyrico ist daz geld, so er auf der khammer gehabt, auf ein halb jar aufgekhündet, sey meiner herrn gelegheit nit solcher langer zins zinsen. 43 Zu Waldner († nach 1591) vgl. BÖHL, Beiträge (wie Anm. 3) S. 205–220; Robert DOLLINGER, Das Evangelium in Regensburg. Eine evangelische Kirchengeschichte (1959) S. 311–315. 44 Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 17, 31 (S. 10516f.). 45 Dazu die Randglosse des Flacius: Quotiens per literas indicatur mihi rumor de foenore meo, respondeo esse mendacium, ut est. De W. nec bona nec mala scribo, probet contrarium. 46 Dazu Flacius am Rand: Non potest me missum facere. 47 Dazu Flacius am Rand: Nego ore, nego litteris, negabo publice mihi quidquam est cum foenore rei. Quid hoc ad ipsum. 48 Dazu Flacius am Rand: Quo iure me coget, ut publice meos contractus narrem? Narret ipse sua privata, si ei libet, me missum faciat.
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E. E. wissen, das ich des wuchers halben nichts mit euch hab, villeicht andere auch nicht, und ist sophisterei, das ir den wucher fürwerfft, wolt aber dabei nit sagen, das ir soviel geld bei ewren größten elend, und wie ir euch klagt, armut und verfolgung, auf einen zinskauff gewendet49. Zum dritten, so wist ir auch das, das ich mit euch streit, ob der zinskauf an sich selb ein contractus oder wucher sei. Ich rede von ewern geld, das ir mit grossen ergernus und schaden der kirchen und dann der hauptsache selb, darüber ir leidet, angelegt habt. Und ir habt meine ursachen vorhin eingenommen, dabei ichs noch bleiben lasse, deren ich auch keinen schew trage, es kome hin, wo es wölle, weis derselben ursachen wol neher anzuzeigen, wenn es die not erfordert50. Das hab ich E. E. wollen itzt anzeigen, das ich nit schweigen werde, wie ir mir habt wollen abdringen, das ich mich verschreiben oder mit einer zusage verpflichten sol, von ewren angelegten geld zu reden oder in ewer person nit zu melden. Ich mus es zwar schon hören, das wir die Wittenbergischen Adiaphoristen51 und Maioristen52 doctor Geitz und Thaler Theologen geheissen, itz findt es sich aber, das wir selb inn diesem spital kranck liegen. Item das die leut frei sagen, wem solt man trawen, wir dachten, dis sind lebendig heiligen und leiden grosse armut uber der bestendigen warheit, aber itzt findt es sich, worumb es ihnen zu thun. Das sei dismal genug, zur ander zeit wird mehr davon volgen, weil mans ia so haben will. 13 November 1564. W[olfgang] W[aldner]
Zu diesem Streit um die Zulässigkeit der Zinsnahme haben sich mehrere Aktenstücke erhalten53. Wie sehr Flacius durch diesen Angriff aus dem eigenen Lager getroffen wurde, zeigt sein erregtes Verteidigungsschreiben an Gallus, dessen Schluß er sogar die Form eines Gebetes verlieh; wenn diese Zinsnahme unrechtmäßig sei, dann möge man ihm sagen, wie er sonst den Lebensunterhalt für sich und die Seinen bestreiten solle. Niemand soll sagen können, daß er von den Armen geraubten Almosen lebe, sondern Daß er sich vom Schweisse seines Angesichtes ernähre. Dem guten und lebendigen Gott sei es geklagt, daß er, der so viele Mühen und Gefahren um der Religion willen ausgestanden habe, jetzt nicht von unfrommen Verfolgern oder vom unwissenden Volk, sondern von befreundeter Seite angegriffen werde:
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Dazu Flacius am Rand: Quid ergo ad ipsum si nego me exercere foenus. Mihi ab omnibus de foenore scribitur ad id respondeo. 50 Dazu Flacius am Rand: Scandalum est, quod aliqui mentiuntur me dedidisse ad foenus, qui aliquid ex patrimoneo habeo, aliquid, cui servient vivendo comparsi et aliquid mihi ab amicis collatum est, et insuper multum usui accipere debeo. 51 Vgl. zu den Auseinandersetzungen um die Adiaphora während des Interims vgl. zuletzt zusammenfassend Ernst KOCH, Adiaphoristischer Streit, in: RGG 1 (4 1998) Sp. 119. 52 Die Anhänger des Georg Major (1502–1574), vgl. zu ihm zuletzt zusammenfassend Irene DINGEL, Major Georg, in: RGG 5 (42002) Sp. 696. 53 Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 17 und I, 21.
Flacius Illyricus in Regensburg
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Nemo enim diceret me ex eleemosynis pauberibus prereptis vivere, sed omnes confiterentur me ex sudore vultus mei victitare, eaque que corraderem ac conparcerem iure meis liberis relinquere iudicarer. O bone et vivens Deus, tibi queror, quod post tot labores ac pericula religionis causa toleratos et in medio etiam presentium pericolorum ac mortium ac in perpetuis assiduisque curis et laboribus, quos pro domo tua ac communi commodo perfero, talia mihi obiiciuntur, non ab impiis aut persecutoribus, non etiam ab imperito vulgo, sed ab amicis et ecclesiae tuae doctoribus. Tu ordinasti, ut etiam bruta suis parvulis de nido et victu prospiciant, donec succrescant. At mihi nephas est quicquam sortis meis relinquere, unde donec succrescunt sese sustentare utcunque possint54.
Wolfgang Waldner war mit neuen Angriffen gegen Flacius zur Stelle, als dieser sich kurz nach dem Tod seiner ersten Frau, die zu Beginn des Jahres 1564 bei der Geburt ihres zwölften Kindes gestorben war, wieder verheiratete55. Dieser Mensch, so schrieb Flacius an Gallus, sei für ihn eine Geißel und ein Verfolger, der keine Ruhe geben könne 56. Viele kleine, meist undatierte Zettel, die Flacius seinem Freund Nikolaus Gallus zustellen ließ, gewähren Einblick in die Alltagsnöte und den Gesundheitszustand des rastlos tätigen Gelehrten. Erinnert sei nur an die rührende Geschichte von den kranken Kindern und der Todessehnsucht von Flacius ältester Tochter, die Wilhelm Preger in Übersetzung mitgeteilt hat 57. Dank dieser einzigartigen und bislang nur zum Teil ausgewerteten Überlieferungslage dürften die fünf Jahre, die Flacius in der Donaustadt verbrachte, auch die am besten dokumentierte Zeit seines Lebens sein.
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Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 21, 16 (S. 11798–11801). Vgl. PREGER, Flacius S. 233. 56 Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 21, 26 (S. 11818): Audio W[aldner] ante paucos dies atrociter declamitasse de eorum scelere, qui in viduitate existentes cito properant ad secundas nuptias […]. Ille homo mihi datus est in flagellum et persequutorem, et conquiescere non potest. 57 Vgl. PREGER, Flacius S. 234f.; das Originalschreiben befindet sich heute im Stadtarchiv Regensburg, Eccl. I, 21, 48 (S. 11872–11873). 55
Ernst Hellgardt
Die Rezeption Otfrids von Weißenburg von Johannes Trithemius bis zur neunten Centurie (1494–1565) Otfrid, Mönch und Priester des Benediktinerklosters Wießenburg im Speyergau, also im Suffraganbistum Speyer der Erzdiözese Mainz, dichtete um 870 eine umfangreiche Versparaphrase des Evangeliums in althochdeutschen Reimen, ein Werk, das in der frühen deutschen Literatur von herausragender Bedeutung ist. Um jetzt nicht mehr zu sagen: Mit ihm wird Otfrid in der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung als Begründer der deutschen Endreimdichtung geführt1. In meinem Beitrag und in dem hier folgenden von Norbert Kössinger soll auf Stationen der Wiederentdeckung Otfrids und seines Evangelienbuches im 16. Jahrhundert aufmerksam gemacht werden. Das gehört insofern zum Thema einer Besinnung auf die Bedeutung der Magdeburger Centurien, als deren Initiator Matthias Flacius Illyricus auch der erste
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Zu Otfrid von Weißenburg siehe Werner SCHRÖDER, in: VL 7 (2 1989), Sp. 172–193. Ausgabe nach der Heidelberger Handschrift (Sigle P): Paul PIPER, Otfrids Evangelienbuch. Mit Einleitung, erklärenden Anmerkungen und ausführlichem Glossar und einem Abriß der Grammatik. Erster Theil: Einleitung und Text. 2., durch Nachträge erweiterte Ausg. 1882. (2 1887). – Ausgabe nach der Wiener Handschrift (Sigle V): Paul PIPER, Otfrids Evangelienbuch. Mit Einleitung, erklärenden Anmerkungen und ausführlichem Glossar und einem Abriß der Grammatik. Erster Theil: Einleitung und Text (2 1882), Zweiter Theil: Glossar und Abriß der Grammatik (21887). – Ausgabe nach der Wiener Handschrift (Sigle V): Oskar E RDMANN, Otfrids Evangelienbuch (Germanistische Handbibliothek 5, 1882). – Neuausgabe (im Erscheinen): Otfrid von Weißenburg. Evangelienbuch. Hg. von Wolfgang KLEIBER und Ernst HELLGARDT . Bd. I, Teil 1: Edition nach dem Wiener Codex 2687. Hg. und bearb. von W. K. unter Mitarbeit von Rita HEUSER, Teil 1: Text (2004), Teil 2: Einleitung und Apparat. Mit Beiträgen von Wolfgang Haubrichs, Norbert Kössinger, Otto Mazal, Norbert H. Ott und Michael Klaper (2004), Otfrid von Weißenburg. Evangelienbuch. Band II: Edition nach der Heidelberger Handschrift P (Codex pal. lat. 52) und der Handschrift D (Codex Discissus: Bonn, Berlin/Krakau, Wolfenbüttel), hg. und bearbeitet von Wolfgang KLEIBER unter Mitarbeit von Rita HEUSER. Teil 1: Texte (P, D) (2006). Weitere Bände (Bd. II, 2: Einleitung und Apparat zu P und D); Bd. III: exegetische Quellen des Evangelienbuches) in Vorbereitung.
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Otfrid-Editor ist2. Über diese vielleicht nur als vordergründig erscheinende Tatsache hinaus sind die Aktivitäten des Flacius, die letztlich zu seiner Otfrid-Edition führten, in einem sehr viel substantielleren Sinne exemplarisch für die von Martina Hartmann so eindrucksvoll dargestellte humanistisch-mediävistische Forschungsarbeit des Flacius3, wie dieser sie bei Konzeption, Organisation und Durchführung des Centurien-Projekts mit erstaunlicher Energie betrieb. Nachdem Flacius mit der ersten, 1556 erschienenen Auflage seines Catalogus testium veritatis 4 wesentliche methodische und Quellengrundlagen für das Centurien-Werk gelegt hatte, das drei Jahre darauf, nämlich ab dem Jahre 1559 zu erscheinen begann5, kam wiederum drei Jahre später, nämlich 1562 eine zweite, noch viel stattlichere Auflage des Catalogus6 heraus. Die erste Auflage enthält noch keine Nachricht über Otfrid, wohl aber dann die zweite7. Und noch einmal drei Jahre später erschien im Jahre 1565 die Centurie zum neunten Jahrhundert, in der über Otfrid zu berichten war8. Überschaut man die Reihe dieser Veröffentlichungen, so begegnet man Otfrid in der Umgebung des Flacius an drei Hauptstationen: – chronologisch zuerst 1562 in der zweiten Auflage des Catalogus testium veritatis, – dann 1565 in der neunten Centurie – und schließlich in der 1571 zu Basel erschienenen Ausgabe des Evangelienbuches. Nun ist allerdings zu beachten, daß Flacius, auch was Otfrid angeht, nicht voraussetzungslos forschte, sondern zum einen auf der Grundlage dessen, was von gleich oder ähnlich interessierten Zeitgenossen und Vorgängern im Medium des Druckes vorgegeben war, zum andern und vor allem aber gestützt auf das, was die Sichtung der handschriftlichen Überlieferung des Mittelalters hergab. Die Anknüpfung an das modernere Medium des Druckes bedeutet dabei paradoxerweise einen methodisch antiquierten, die an
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Otfridi evangeliorum Liber … Evangelienbuch in altfrenckischen reimen / durch Otfriden von Weißenburg … beschriben. Basilieae : ohne Druckerangabe 1571. Nach freundlicher Auskunft des Experten für Typographie der frühen Druckgeschichte, John Flood, London, ob anhand der Drucktypen der Drucker identifizierbar sei, ist dies vorerst nicht möglich. 3 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 136f. zur Otfrid-Ausgabe von Flacius. 4 FLACIUS, Catalogus1. 5 Die Magdeburger Centurien sind jetzt digitalisiert zu finden unter . 6 FLACIUS, Catalogus2. 7 FLACIUS, Catalogus2 S. 215. 8 MC IX, Sp. 592, Z. 40–59.
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das ältere Medium der Handschrift einen methodisch innovativen Zugriff auf die Gegenstände. Dementsprechend sind die Arbeitsbereiche meines Beitrags und desjenigen von Norbert Kössinger aufgeteilt. Mein Part gilt dem antiquierten Zugriff, der von Norbert Kössinger dem innovativen. Ich werde über die Vorgeschichte, er wird über die eigentliche Geschichte der Ausgabe von Otfrids althochdeutschem Evangelienbuch handeln. In meinem Teil geht es nur um die Flacius vorausliegenden Nachrichten des ausgehenden 15. und des 16. Jahrhunderts zu Otfrid, Kössinger berichtet über Flacius selbst und dessen eigene, innovative Otfrid-Forschungen einschließlich der Edition vom Jahre 1571. Chronologisch überschneiden sich unsere Beiträge an einer Stelle, an der ein merkwürdiger Anachronismus zu beobachten ist. 1562, in der zweiten Auflage des Catalagus ist Flacius bereits in der Lage, auf eine Handschrift des Evangelienbuches zurückzugreifen und aus ihr zu zitieren. Dementsprechend rechnen wir diesen Kenntnis- und Arbeitsstand nicht mehr der Vor-, sondern der eigentlichen Geschichte der flacianischen OtfridForschung zu, von dem also Kössinger handeln wird. Als drei Jahre später, im Jahre 1565, die Bearbeiter der Centurie zum neunten Jahrhundert am einschlägigen Ort über Otfrid berichten, tun sie es noch ganz aus zweiter Hand und auf der Grundlage gedruckten Materials, also offenbar zumindest in diesem Punkt ohne Kontakt mit Flacius als dem Spiritus rector des Centurien-Werks.
Johannes Trithemius Am Anfang der Wiederentdeckung Otfrids stehen die beiden Kataloge deutscher Schriftsteller, die der Sponheimer, später Würzburger, Abt Johannes Trithemius 9 1494 und etwas erweitert 1495 im Druck herausbrachte10. Die Verzeichnisse dienen dem humanistischen Anliegen, die ver9
Zu Trithemius (1462–1516) vgl. Klaus ARNOLD, Johannes Trithemius 1462–1516 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 23, ²1991). 10 Johannes T RITHEMIUS, Liber de scriptoribus ecclesiasticis, zu Otfrid fol. 46r/v. – Kathalogus illustrium virorum germaniam suis ingeniis et lucubrationibus omnifariam exornantium. Ohne Ort, ohne Jahr (ca. 1495, vgl. HAIN 15615, zu Otfrid fol. 7–8. – Der Erstdruck des Liber de scriptoribus ecclesiasticis ist unter der Webadresse in digitalisierter Form greifbar. – Abdruck beider Fassungen des Otfrid-Artikels nach der Ausgabe von Marquard FREHER, Johannes Trithemius, Opera omnia. 1–2 (1601), hier Bd. 1, S. 257–258 und S. 127–128, bei Wolfgang KLEIBER (Hg.), Otfrid von Weißenburg (Wege der Forschung 419, 1978) S. 10–17 (mit Übersetzung). – Die Fassungen beider Auflagen im Paralleldruck bei Ernst
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nachlässigte oder gar verachtete Tradition mittelalterlicher deutscher Autoren von Rang wieder zur verdienten Anerkennung zu bringen. Eher beiläufig nennt Trithemius den Namen Otfrids auch in seinem Chronicon Hirsaugiense, was hier beiseite bleiben möge11. Der in beiden Katalogen fast gleichlautende Artikel zu Otfrid ist nach einem Schema gegliedert, das Trithemius wenig modifiziert auch sonst in den Einträgen seiner Schriftsteller-Verzeichnisse anwendet: 1. Vorstellung des Autors, 2. Würdigung und Liste seiner Schriften, 3. historisch-chronologische Einordnung. Zu 1: genannt werden hier Name, Rang, geographische und gentile Herkunft, gegebenenfalls Ordenszugehörigkeit, Bildungsgang, literarische und wissenschaftliche Bedeutung des Autors. Ich zitiere nach dem jüngeren, etwas ausführlicheren und rhetorisch ambitionierteren Verzeichnis 12: Otfridus, monachus Wissenburgensis coenobii, ordinis Sancti Benedicti, Spirensis dioecesis, Rabani Mauri Abbatis Fuldensis quondam auditor atque discipulus, vir in divinis scripturis eruditissimuset saecularibus litteris egregie doctus, philosophus, rhetor, astronomus, poeta et theologus, nulli suo tmpore secundus, ingenio excellens et disertus eloquio.
Zu 2: Schriften: a) Würdigung im allgemeinen: Scripsit et metro et prosa multa praeclara volumina, quibus nomen suum et ingenium ad posteros transmisit.
und b) Würdigung im besonderen: Hier wird nun in der Tat hervorgehoben, was das Besondere an Otfrids Leistungen ist, nämlich sein poetisch-literarischer Gebrauch der Muttersprache: multa et miranda lingua materna ... composuit metro seu carmine
und Trithemius glaubt, daß Otfrid sich dabei an die Regeln der Grammatik gehalten habe, die dermaleinst Karl der Große in Auftrag gegeben hatte: edoctus ... ex eo volumine, quo Carolus imperator quondam Magnus barbariem theotonicae nostrae linguae ad regulas inchoavit reducere grammaticales. HELLGARDT , … NULLI SUO TEMPORE SECUNDUS. Zur Otfridrezeption bei Johannes Trithemius und im 16. Jahrhundert. In: Sprache, Literatur, Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen, Wolfgang Kleiber zu seinem 60. Geburtstag gewidmet, hg. von Albrecht GREULE und Uwe RUBERG (1989), S. 357–358. 11 Abdruck des Passus aus dem Chronicon Hirsaugiense mit Übersetzung nach der Ausgabe von FREHER (wier Anm. 10) 2, S. 15–16 bei KLEIBER (wie Anm. 10) S. 17. – Zu weiteren Otfrid-Erwähnungen bei T RITHEMIUS siehe HELLGARDT , … NULLI SUO TEMPORE (wie Anm. 10) S. 360–371. 12 Siehe oben Anm. 10.
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Freilich konstatiert Trithemius, daß Otfrids Deutsch trotz aller ihrer grammatikalischen Reguliertheit selbst für deutsche Muttersprachler kaum noch verständlich sei und von der Gegenwartssprache ebensoweit abweiche, wie einst das Etruskische vom Lateinischen: nemo facile nostra aetate legere et intelligere potest, quantumcumque sermonis nostri peritus; quippe cum sermo ille regulatus a nostro plus differat quam ebruscus a latino.
c) Schriften des Autors: Die nun folgende, opulente Liste der einzelnen Schriften Otfrids nennt nicht weniger als elf volumina, lauter Titel freilich, die sich fast allesamt als Bestandteile des Evangelienbuches identifizieren lassen. Trithemius stilisiert hier in einer rhetorischer Übertreibung, die an Fälschung grenzt, einzelne Kapitel des Evangelienbuches zu selbständigen, buchfüllenden Werken Otfrids hoch. Was sonst noch angegeben wird, besteht aus der nicht kontrollierbaren Zuschreibung eines dreibändigen deutschen Psalters an Otfrid, mit dem eine ehemals Weißenburger Handschrift des Notkerschen Psalters gemeint sein kann13, und aus spekulativen Zuschreibungen, wie Trithemius sie mit affektiv humanistischer Attitüde stereotyp bei vielen Autoren seiner Schriftstellerkataloge hat, nach dem Muster: Epigrammata multa in utraque lingua vario genere metri [et] alia quoque multa ... quae priorum neglegentia perdita et ignorantia monachorum abbatumque desidia rasa et lacerata in manus nostras non venerunt.
Zu 3: Formelhaft ist schließlich die abschließende und richtige historischchronologische Einordnung auf die Zeit um 870: Claruit temporibus Ludivici et Lotharii imperatorum anno domini octingentesimo septuagesimo.
Soviel also zur ältesten Nachricht über Otfrid, wie sie für Flacius im Druck erreichbar war und bis heute ist. Noch Karl Lachmann hat sich daran orientiert 14. Trithemius hatte nicht einen einzigen Otfridvers zitiert, wie es ja auch nicht im Sinne der Zielsetzung seiner Schriftsteller-Kataloge gelegen hatte. Die nächsten Spuren des Evangelienbuches, denen man in gedruckten 13
Hierzu Ernst HELLGARDT , Die exegetischen Quellen von Otfrids Evangelienbuch. Beiträge zu ihrer Ermittlung, mit einem Kapitel über die Weißenburger Bibliothek des Mittelalters und der Otfridzeit (Hermaea N.F. 41, 1981) S. 85–86. 14 Karl LACHMANN, Otfrid. In: Johann Samuel E RSCH und Johann Gottfried GRUBER, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (1818–1890) 3. Abt. O–Z, Bd. 7 (1836), S. 278–282; wieder abgedruckt in: K. L., Kleinere Schriften zur deutschen Philologie. Hg. von Karl MÜLLENHOFF (Kleinere Schriften von K. L. 1, 1876; Nachdruck o. J. S. 449–460).
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Schriften begegnet, bringen umgekehrt zwar Textzitate, lassen aber nicht erkennen, daß es solche aus dem Werk Otfrids sind.
Beatus Rhenanus Als Beatus Rhenanus (der Rheinauer, 1485–1547)15 im Jahre 1530 vom Augsburger Reichstag einen Abstecher nach Freising unternahm, fand er in der Bibliothek des heiligen Korbinian zwar nicht die erhofften Dekaden des Livius, wohl aber die Freisinger Otfrid-Handschrift, den heutigen cgm. 14 der Bayerischen Staatsbibliothek München, aus dem er in seinen 1531 erschienenen Rerum Germanicarum libri tres16 etliche Verse zitiert 17. Die Freisinger Handschrift aber bietet den Otfrid-Text anonymisiert, da in ihr alle auf Otfrid verweisenden Bestandteile des Evangelienbuches weggelassen sind 18, und mit Hilfe der Angaben des Trithemius war der Autor des Freisinger Textes nicht identifizierbar. Freilich hatte Beatus schon vor 1530 aus einer heute verschollenen Handschrift ein ominöses, auch bei Conrad Gesner (1516–1565) und anderwärts unter Gelehrten auf nicht mehr nachvollziehbaren Wegen umlaufendes Otfrid-Exzerpt kennengelernt und als solches identifiziert19. Dies gelang ihm jetzt aber nicht noch einmal, und dabei spielt offenbar eine interessegelenkte Fehlwahrnehmung die entscheidende Rolle. Im Falle der Freisinger Handschrift konnte sich 15
Zu Beatus Rhenanus siehe den Sammelband Beatus Rhenanus (1485–1547), lecteur et éditeur des textes anciens. Actes du colloque international tenu à Strasbourg et à Sélestat du 13 au 15 novembre 1998, colloque organisé par François HEIM et James HIRSTEIN, actes éd. par James HIRSTEIN (Studia humanitatis Rhenana, 2000). 16 Beati Rhenani Selestadiensis Rerum Germanicarum Libri Tres. Basilieae: Froben 1531. Zu Otfrid hier Buch 2, S. 106–107. 17 Zum folgenden vgl. HELLGARDT , … NULLI SUO TEMPORE (wie Anm. 10) S. 371– 372. – Die Otfrid-Zitate des Trithemius sind nach der Freisinger Handschrift in diplomatischem Abdruck wiedergegeben bei Johann KELLE (Hg.), Otfrid. Evangelienbuch. Bd. 1: Text und Einleitung (1856, Nachdruck 1963), S. 99–100. – Siehe ferner Otfrid von Weißenburg. Das ‚Evangelienbuch‘ in der Überlieferung der Freisinger Handschrift (Bayerische Staatsbibliothek München, cgm. 14). Edition und Untersuchungen, hg. von Karin PIVERNETZ, 2 Bände (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 671, 2000) S. 38–39 (Aufzählung der von Beatus zitierten Verse 2, S. 39 Anm. 130). 18 Vgl. hierzu PIVERNETZ, Otfrid (wie Anm. 17). 19 Dazu Sigrid VON DER GÖNNA, Beatus Rhenanus und Otfrid von Weißenburg. Zur Otfrid-Überlieferung im 16. Jahrhundert, in: ZfdA 107 (1978) S. 248–257. – Ferner Ernst HELLGARDT , … der alten Teutschen spraach und gottsforcht zuerlernen. Über Voraussetzungen und Ziele der Otfridausgabe des Mattthias Flacius Illyricus (Basel 1571), in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. von Johannes JANOTA, Paul SAPPLER, Frieder SCHANZE, Konrad VOLLMANN, Gisela VOLLMANN-PROFE, Hans-Joachim ZIEGELER. 1 (1992) S. 267–286, hier S. 273–274; siehe auch PIVERNETZ, Otfrid (wie Anm. 17), 1, S. 39–40.
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Beatus zwar an die entstehungsgeschichtlichen Angaben des Schreibers Sigihart auf der letzten Seite des Codex selbst halten, die den Freisinger Bischof Waldo († 906) als seinen Auftraggeber nennen: Waldo episcopus istud euangelium fieri iussit. Ego sigihardus indignus presbiter scripsi20.
Und so datiert Beatus nach dem mit Bischof Waldo gegebenen Anhaltspunkt die Handschrift richtig auf den Beginn des 10. Jahrhunderts. Die Entstehung des Textes selbst aber, der hier bemerkenswerterweise als „Evangelium“ bezeichnet wird, setzt Beatus in die Bekehrungszeit der Franken, d. h. ans Ende des fünften Jahrhunderts. Diese krasse Fehldatierung ist offenbar die Folge seines Wunsches nach einem möglichst alten Beleg für seine These, daß das „Fränkische“ der Franken seit jeher eine germanische Sprache gewesen sei und nicht etwa romanisches „Französisch“, in dem ein trübes Derivat des klassischen Latein erscheint. Veteres Francos ... germanica usos fuisse lingua; quum innumera alia argumenta probant, tum vero manifeste convincit Liber ille insignis Evangeliorum francisce hoc est germanice versus21.
Und das in der Freisinger Handschrift als Einleitungskapitel erscheinende Stück Cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit, aus dem Beatus ausführlich zitiert, scheint ihm die erwünschten Belege für seine These zu bieten. Aus seinem Interesse-Skopus heraus urteilt er aber über die Verständlichkeit dieses vorgeblich so uralten Fränkisch genau umgekehrt, wie Trithemius: Er versichert, für jemanden, der gut Deutsch könne, seien die Worte dieses alten Evangelienbuches recht wohl auch heute noch verständlich, die Unterschiede seien mehr solche der Aussprache und der Schreibung, man spreche und schreibe eben heutzutage paulo aliter: Qui Germanice callet, satis intelligit ista verba, nisi quod hodie paulo aliter scribimus et proferimus ... 22
Johannes Eck Anonym wie bei Beatus bleibt der Autor des Evangelienbuches auch bei den beiden offensichtlich auf ihn gestützten Rezeptionszeugen, die jetzt 20
PIVERNETZ, Otfrid (wie Anm. 17) 1, S. 125r. Vgl. das Facsimile in: Deutsche Schrifttafeln des IX. bis XVI. Jahrhunderts aus Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München., hg. von Erich PETZET und Otto GLAUNING. I. Abt.: Althochdeutsche Schriftdenkmäler des IX. bis XI. Jahrhunderts (1910), hier Taf. VIII. – Zu Bischof Waldo vgl. PIVERNETZ, Otfrid (wie Anm. 17) Bd. II, S. 9–27. 21 Beatus (wie Anm. 16) S. 106. 22 Beatus (wie Anm. 16) Buch 2, S. 107.
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nur im Vorübergehen erwähnt seien. Anderes von ähnlicher Art übergehe ich hier 23. Der bekannte Luther-Opponent Johannes Eck (1486–1543)24 erwähnt in der Vorrede seiner als Korrektiv zur Luther-Bibel 1537 herausgegebenen Vulgata-Übersetzung ein alt Evangelibuoch in fränkischer teutscher Zungen geschriben und dankt dem Freisinger Bischof Philipp (1480–1541) dafür, daß der ihm der selben exemplar ains gelihen, das Bischove Vualdo, sein vorfaren hat schreiben lassen, wie der schreiber, priester Sighart bezeügt25.
Merkwürdig ist das Zeugnis Ecks besonders deswegen, weil hier bereits 25 Jahre vor dem Otfrid-Artikel der zweiten Auflage von Flacius’ Catalogus Otfrids deutsches Evangelienwerk – und zwar von katholischer Seite – sozusagen als testis veritatis einer langen Tradition volkssprachlicher Bibelbearbeitung aufgerufen wird. Dabei legt Eck, der seine Übersetzung laut deren Titel „nach dem Text in den hailigen Kirchen“, d. h. nach der Vulgata anlegt, allerdings Wert darauf, daß diese volkssprachliche Tradition sich immer schon auf die sakrosankten lateinischen Übersetzungen der Vulgata des Hieronymus stützte und nicht wie Luther auf die hebräischen bzw. griechischen Bibeltexte.
Der Genter Triumphbogen von 1549 Und nun ist ein seltsames Druckerzeugnis knapp zu erwähnen26. In den Jahren 1548 bis 1551 unternahm Philipp II. von Spanien aus eine Reise in seine Erblande, die ihn 1549 nach Gent führte. Dort wurde ihm ein Triumphbogen errichtet, auf dem Verse und Sprüche in vielen alten und modernen Sprachen angebracht waren. Die Texte brachte im Jahre 1552 Juan Cristóbal Calvete de Estrella († 1593) in seinem Bericht über diese Reise 23
Einige weitere Angaben zu Otfriderwähnungen und -zitaten im 16. Jahrhundert sind aufgelistet in: Otfrids Evangelienbuch. … 1. Theil: Einleitung und Text. Hg. von Paul PIPER (2 1882) S. 269–271. Vgl. Ernst HELLGARDT , Originalität und Innovation. Konzepte der Reflexion auf Sprache und Literatur der deutschen Vorzeit im 16. Jahrhundert. In: Innovation und Originalität, hg. von Walter HAUG und Burghart WACHINGER (Fortuna Vitrea 9, 1993) S. 162–174, hier S. 163–164 mit Anm. 3. 24 Zu E CK siehe Erwin ISERLOH, Eck, Johannes, TRE 9 (1982) S. 249–258. Zum folgenden vgl. HELLGARDT , … NULII SUO TEMPORE (wie Anm. 10) S. 372. 25 Alt und new Testament nach dem Text in den hailigen Kirchen gebraucht durch Doctor Johann Ecken, mit fleiß, auf hohteutlich verdolmetscht. Ingolstat 1537, fol. IIr. 26 Zum folgenden vgl. HELLGARDT , … NULII SUO TEMPORE (wie Anm. 10) S. 372– 373.
Die Rezeption Otfrids von Weißenburg
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in Antwerpen zum Druck27. Unter ihnen sind auch einige althochdeutsche Stücke, die ersichtlich das Kompilat eines gelehrten Mannes bilden, dem neuerdings Markus Stock28 auf die Spur gekommen ist: Thie Furist ist Gotes Bilidi: Salige sint mandt ware wanta thie bisizzent erda Selpso thio Romani Zi wafane snelle So sint thie tegan alle. Salige sint thie thar sint miltherze wanta Sie folgent miltidum29.
Zeile 1 ist wohl frei erfunden. Die Zeilen 2 und 7–8 zitieren Stellen aus der Bergpredigt nach der damals noch ungedruckten, lateinisch-althochdeutschen Evangelienharmonie des Tatian30. Von diesen Zeilen umschlossen sind nun in Zeile 3–5 die Otfrid-Verse I,1,59b und 64ab, die neben anderen auch Beatus Rhenanus aus der Freisinger Handschrift zitiert hatte31. Daß die Inschrift von Beatus übernommen ist, beweisen ihre Sonderlesarten nach Beatus und der Freisinger Handschrift; nur tegan ist ein Fehler gegenüber thegan bei Beatus. Sieht man auf Calvetes Kommentierung der Inschrift, so zeigt sich, daß sie unter rezeptionsgeschichtlichem Aspekt mehr ist als ein Kuriosum. Dem kaiserlichen Herrscher aus dem Geschlecht der Habsburger, das seine Ahnen 27
El felicísimo viaje del muy alto y muy poderoso príncipe Don Felipe. Por Juan Cristóbal CALVETE DE E STRELLA. Antwerpen 1552. – Nachdruck durch die Sociedad de Bibliófilos Españoles 1930. 28 Ich danke Markus STOCK herzlich für die Mitteilung des Entwurfs seiner Studie. Sie soll demnächst erscheinen in: Topographies of the Early Modern City. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, hg. von Arthur B. Groos, Hans Jochen SCHIEWER, and Markus STOCK; hier unter dem Titel Diachronic Topography. The Entry of Prince Philip of Spain into Gent (1549) and the Old High German Inscriptions. Stock kann hier überzeugend zeigen, daß die althochdeutschen Inschriften des Triumphbogens auf Jan Otho zurückgehen dürften, den Lehrer des für seine „germanistischen“ Interessen bekannten Bonaventura Vulcanius. Zu Otho siehe Paul BERGMANS, Otho (Jean), in: Biographie Nationale 16 (1901), col. 365–370, und Johan DECAVELE, De dageraad van de reformatie in Vlaanderen, 2 vol.s (Verhandelingen van de Koninglijke Academie van Belgie, Klasse der Letteren 37, Nr. 76, 1975); diese Hinweise übernehme ich von Markus Stock. – Erübrigen dürften sich damit frühere Spekulationen der Forschung über den Urheber der althochdeutschen Inschriften auf dem Genter Triumphbogen; zu diesen Spekulationen HELLGARDT , … NULLI SUO TEMPORE (wie Anm. 10) S. 373, Anm. 44 und 45. 29 CALVETE, viaje (wie Anm. 27) fol 105v. 30 Vgl. Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue. Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56, unter Mitarbeit von Elisabeth FELIP-JAUD hg. von Achim MASSER (Studien zum Althochdeutschen 25, 1994), hier S. 135,5 und 12–13. – mandt ware (Z.2) = manduuare, lat. mites. 31 Beatus (wie Anm. 16) S. 106. PIVERNETZ, Otfrid (wie Anm. 17) I, fol. 2r, 8b und 13ab.
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über Karl den Großen und unter Umgehung der Römer auf die Griechen zurückführte, wird hier in der Sprache Karls des Großen gehuldigt und die man „heute noch“ in alten Geschichtsbüchern findet: en lengua Franconica antigua (que es la que usò Carlo Magno, y agora sino es en libros antiguos de historiasno se halla)32.
Die neunte Centurie (1565) Abschließend nähere ich mich wieder Flacius und den Centurien. In deren neunter, die im Jahr 1565 erschien, war natürlich Otfrid zu erwähnen. Man möchte erwarten, daß es im Anschluß an die Recherchen des Flacius geschehen sei. Denn, wie eingangs erwähnt, hatte Flacius schon drei Jahre zuvor, in der zweiten Auflage des Catalogus testium veritatis auf eine ihm schon länger bekannte Otfrid-Handschrift zurückgegriffen und aus ihr – freilich kommentarlos – die lateinische Zuschrift abgedruckt, in der Otfrid bei seinem Metropolitan, Erzbischof Liutbert von Mainz († 889), um Approbation seines Evangelienbuches nachsucht. Nebenbei bemerkt: Ebenso wie dieses Dokument hatte Flacius hier auch das der Liutbert-Zuschrift Otfrids analoge Stück abgedruckt: die an Ludwig den Frommen (nicht an Ludwig den Deutschen33!) gerichtete Præfatio und die zu ihr gehörenden Versus de poeta, die man gewohnt ist auf die altsächsische Evangeliendichtung des ‚Heliand‘ zu beziehen. Auch dieses Werk müßte in der neunten Centurie ebenso wie Otfrids Evangelienbuch eigentlich Erwähnung finden, bleibt aber, wenn ich nichts übersehen habe, gänzlich unberücksichtigt. Doch zurück zu Otfrid. Im Approbationsschreiben an Erzbischof Liutbert stellte er sein Werk und die mit ihm verbundenen Probleme in aller Ausführlichkeit vor, wobei er insbesondere die Schwierigkeiten der Verschriftlichung des Deutschen en detail erörtert34. Nun, auch das wurde bereits erwähnt, im Otfrid-Abschnitt der neunten Centurie arbeiten die 32
CALVETE, viaje (wie Anm. 27) fol 105v. Hierzu jetzt Hans HUMMER, The Identity of Ludouicus piissimus augustus in the Praefatio in librum antiquum lingua saxonica conscriptum, in: Francia 31 (2004) S. 1– 14. – Zum weiteren Zusammenhang siehe auch Hans J. HUMMER: Politics and Power in Early Medieval Europa: Alsace and the Frankish Realm 600–1000 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, 4th ser. 65, 2006). Vgl. auch Ernst HELLGARDT , Die Praefatio in librum Antiquum lingua Saxonica conscriptum, Versus de poeta & interprete huius codicis und die altsächsische Bibelepik. In: Entstehung des Deutschen. Festschrift für Heinrich Tiefenbach, hg. von Albrecht GREULE, Eckhard MEINEKE, Christiane T HIM-MABREY (2004) S. 173–230, hier S. 194–206. 34 Otfrid, Ad Liutbertum, Ausgabe E RDMANN (Anm. 1) S. 5–6 (Zeile 56–90). 33
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Kompilatoren dieses Bandes hier wie hinsichtlich des Heliand ohne Anschluß an die zweite Auflage von Flacius’ Catalogus, wie andersherum auch Flacius selbst hier offenbar nicht in die Centurien eingegriffen hat. Bekanntlich ist jede der Centurien nach dem gleichen systematischen Raster in 16 sog. Loci communes gegliedert. Diese in allen Bänden des Werkes wiederkehrende Systematik hat sich offensichtlich sowohl konzeptionell als auch bei der Arbeitsteilung des Centuriatoren-Teams hervorragend bewährt. Als systematisches Konzept der Magdeburger Ecclesiastica Historia ist diese Einteilung sicherlich mindestens ebenso bedeutend wie ihre viel häufiger herausgestrichene Konzeption nach Jahrhunderten seit Christi Geburt. Das wohl aus der Topik-Lehre der Rhetorik abgeleitete Schema der loci communes wäre sicherlich eine eigene Untersuchung wert. Otfrid findet im Rahmen dieser Systematik in der neunten Centurie seine Erwähnung unter dem zehnten Locus communis (De Episcopis et Doctoribus Ecclesiae). Bei den doctores steht Otfrid hier unter den Mönchen in ehrenvoller Position gleich hinter Einhart, wobei offenbar nicht erkannt wird, daß Einhart, der Seligenstätter Laienabt, kein Mönch war. Was wir an dieser Stelle auf Spalte 592 über Otfrid lesen, ist, wie es die Centuriatoren selbst angeben, allerdings nichts anderes eine Zusammenstellung von Nachrichten, die aus den Schriftstellerkatalogen des Trithemius gewonnen sind, darüber hinaus nur noch aus dessen Chronicon Hirsaugiense 35. Die allzu vollmundigen Stilisierungen des Trithemius, das muß in Würdigung des kritischen Sinnes der Centuriatoren gesagt werden, sind freilich inhaltlich wie sprachlich auf ein realistisches und gedämpftes Maß zurückgenommen. Rückblickend können wir heute freilich sagen, daß es, als die neunte Centurie erschien, viel mehr und Wichtigeres über Otfrid zu sagen gegeben hätte, wenn Flacius und die Centuriatoren hier noch im Kontakt miteinander gearbeitet hätten. Doch darüber, wieviel der Berichterstattung hier entgangen ist, handelt der Beitrag von Norbert Kössinger. 35
Siehe oben Anm. 11. Franz Fuchs steuerte als Diskussionsbeitrag zu meinen Bemerkungen über den Genter Triumphbogen einen interessanten Hinweis bei, den ich hier dankbar festhalten möchte, ohne näher auf ihn eingehen zu können. Die Württembergische Landesbibliothek Stuttgart bewahrt unter der Signatur Cod. Hist. 2° 632 eine wohl nach 1620 entstandene Handschrift auf, welche die Beschreibung eines Triumphbogens enthält, der am 16. Februar 1551 in Nürnberg zum Empfang Karls V. errichtet worden sein soll; zur Handschrift allgemein vgl. Wilhelm VON HEYD, Die historischen Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart. Erster Band. Die Handschriften in Folio (Die Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart 1, 1, 1889–1890), S. 270. Nach allem, was mir bisher dazu bekannt ist, dürfte es sich um ein Äquivalent zu dem Genter Triumphbogen gehandelt haben, das insbesondere auch dessen althochdeutsche Inschriften enthielt und somit seinen Platz im Rahmen der frühen Otfrid-Rezeption hätte. Es wäre zu prüfen, ob der Text der althochdeutschen Inschriften unabhängig von Calvetes Druck und dessen Beschreibung des Genter Triumphbogens ist.
Norbert Kössinger
Sammeln, Edieren und Interpretieren: Matthias Flacius und das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg Flacius und die Heidelberger Otfridhandschrift (Cod. pal. lat. 52) Nach allem, was wir aus den Widmungsschriften, die Otfrid von Weißenburg seinem althochdeutschen Evangelienbuch (abgeschlossen zwischen 863 und 871) beigab, schließen können, steht wohl fest, daß es ursprünglich fünf Handschriften davon gegeben haben muß: die heutige Wiener Handschrift (Wien, ÖNB, Cod. Vind. 2687) als teilautographes ‚Autor-‘ und Weißenburger ‚Hausexemplar‘, sowie vier mit Widmungen versehene Codices, an Ludwig den Deutschen, an Liutbert von Mainz, an Salomo von Konstanz und an die St. Galler ‚Studienfreunde‘ Otfrids, Hartmut und Werinbert. Von diesen Dedikationsexemplaren hat sich, so der letzte Stand der Forschung, keines erhalten1. Zum Bestand der heute bekannten Überlieferung des Evangelienbuches gehört neben der Wiener und der Heidelberger Handschrift sowie der unter Bischof Waldo zwischen 902 und 906 entstandenen Freisinger Abschrift (München, BSB, cgm 14) noch eine in der Mitte des zehnten Jahrhunderts in Fulda entstandene, heute fragmentarisch erhaltene Handschrift, der seit Johann Kelle so genannte Codex discissus 2. Zunächst zu dem zweiten, aus dem neunten Jahrhundert stammenden Überlieferungsträger des Evangelienbuches. Im Codex Palatinus latinus 52 (Heidelberg, UB) findet sich nach der Abschrift von Otfrids Evangelienbuch und nach dem althochdeutschen Georgslied auf Blatt 202v unterhalb eines Spendenverzeichnisses folgender Eintrag: Sunt omnia folia numero centum nonaginta quatuor. Direkt unter dieser Folienzählung steht ein ausgekratzter, schwer lesbarer Vermerk: M. Matthias Illyricus/ S. M ... ... 1
Zum ursprünglichen Bestand der Überlieferung zuletzt Wolfgang HAUBRICHS, Otfrid von Weißenburg. Umrisse eines Lebens, in: Otfrid von Weißenburg. Evangelienbuch, I. Edition nach dem Wiener Codex 2687, hg. und bearb. von Wolfgang KLEIBER (2004) S. 3–11, hier S. 10f. 2 Dazu weiter unten (S. 82). Im Überblick zu den Handschriften des Evangelienbuches: Bernhard BISCHOFF, Paläographische Fragen deutscher Denkmäler der Karolingerzeit, FmSt 5 (1971) S. 104f.
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Magdeb... 15553. Damit sind Hinweise auf Besitzer, Provenienz und Erwerbsjahr der Handschrift im 16. Jahrhundert gegeben. Bei beiden Einträgen, von denen ihr erster Entdecker, Rudolf Schützeichel, sich noch im Unklaren war, ob es sich um absolut zeitgenössische oder um nachträgliche Eintragungen handelt, ist nun davon auszugehen, daß sie von der Hand des Matthias Flacius Illyricus stammen4. Wo Flacius den Codex aufgefunden und vermutlich erworben hat, läßt sich aufgrund der Fragmentarizität des Eintrages nur noch schwer sagen. Bei aller gebotenen Vorsicht würde er auf das Kollegiatsstift St. Marien in Magdeburg passen, wo Flacius sich in der Tat Anfang Juli 1555 aufhielt 5. Die Jahreszahl 1555 indiziert im Falle der Richtigkeit dieser Annahme das Erwerbsjahr der Handschrift 6. Doch was fing Flacius mit der Handschrift an? Die Datierung des Besitzvermerkes im Palatinus macht es wahrscheinlich, daß er sie zunächst seinem Helfer bei der Materialbeschaffung für die Magdeburger Centurien, Marcus Wagner, in Regensburg zur Verfügung stellte. Otfrids Evangelienbuch ist in dem von Wagner 1556/57 angefertig3
Die Handschrift ist als Digitalisat vollständig im Internet abrufbar unter [getestet 12.1.2007]. Zu dem Spendenverzeichnis: Wolfgang HAUBRICHS, Die alemannische Herzogsfamilie des 10. Jahrhunderts als Rezipient von Otfrids Evangelienbuch? Das Spendenverzeichnis im Codex Heidelberg Palatinus lat. 52, in: Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, hg. v. Karl Rudolf SCHNITH und Roland PAULER (Münchener Historische Studien. Abt. Mittelalterliche Geschichte 5, 1993) S. 165–211. 4 Schützeichel las den Namen „Illyricus“ und die „mit Hilfe der Quarzlampe gut sichtbar[e]“ Jahreszahl „1555“. Vgl. Rudolf Schützeichel, Codex pal. lat. 52. Studien zur Heidelberger Otfridhandschrift, zum Kicila-Vers und zum Georgslied, Göttingen 1982 (Abh. Göttingen 3. Folge, 130) S. 31. Ähnlich in: Rudolf SCHÜTZEICHEL, Begegnungen. Matthias Flacius Illyricus und alte Handschriften, in: Philologische Forschungen. Festschrift für Phillippe Marcq, hg. v. Yvon Desportes (Germanische Bibliothek, 3. Reihe: Untersuchungen, 1994) S. 263–282, hier S. 267. Eindeutigkeit verschafft ein Vergleich des Eintrags mit den Tafeln I, II, V, VI und VIII aus verschiedenen Flacius-Handschriften mit dessen autographen Schriftzügen bei HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik, zwischen S. 220 u. 221. Als weiteres Indiz seien die Unterstreichungen in P (Bl. 2r, 3v, 5v) mit der für Flacius typischen blaßroten Tinte angeführt. Zur Tinte vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 224 u. 226. 5 Flacius war darüber hinaus noch zweimal in Magdeburg, im November 1552 und Februar/März 1557. Aus dem Kollegiatstift St. Marien erwarb Flacius die Handschriften Wolfenbüttel, HAB, Helmst. 494 und Helmst. 1043. Nach HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 106. Vgl. Sigrid KRÄMER, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters 2 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Ergänzungsbd. 1, 1989) S. 523. 6 Man könnte den fragmentarischen Eintrag dann so ergänzen: M. Matthias Illyricus/ S[anctae]. M[ariae] [...] Magdeb[urgensis] 1555. Das Erwerbsdatum ist in anderen Handschriften aus dem Besitz von Flacius nicht belegbar. Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 246 zu Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 1334 Helmst. mit dem Vermerk Marcus Wagner 1555.
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ten „Verzeichnis der dort für die Kirchengeschichte zusammengebrachten Handschriften“7 als Bestand geführt8. Denkbar ist, daß Flacius vor der Absendung an die damals in Regensburg ansässigen Centuriatoren oder nach dem Rückerhalt des Codex eine Abschrift des für den Catalogus testium veritatis besonders einschlägigen lateinischen Widmungsschreibens Otfrids an Liutbert nahm, das er jedoch erst in die zweite Auflage des Catalogus (Straßburg 1562) integrierte9. Mit Plänen zur Edition des gesamten Evangelienbuches scheint er sich indes zunächst nicht befaßt zu haben. Zwischen 1557 und 1560 verkaufte er die Handschrift, wie er es vielfach praktizierte, weiter. In diesem Fall an Ulrich Fugger, in dessen Bibliothek sie Achill Primin Gasser im Winter 1560 abschrieb10.
Der Liutbertbrief im Catalogus testium veritatis (Straßburg 1562) Warum Flacius die Widmungsepistel an Liutbert nicht bereits in die erste Auflage des Catalogus (Basel 1556) aufnahm, ist eine offene Frage. Es könnte damit zusammenhängen, daß er ihre argumentative Qualität im Kontext des Catalogus voll erst im Verbund mit der sogenannten Heliandpräfatio und den mit ihr verbundenen Versus ausschöpfte. Von diesen Stücken erhielt er nachweislich erst später Kenntnis 11. Das mit dem Evan7
HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 64, ebda. auch zu Marcus Wagner. Vgl. auch S. 202f. 8 Das Verzeichnis, bei dem es sich nicht um eine Such-, sondern um eine Bestandsliste der von Nidbruck und (!) Flacius nach Regensburg entliehenen Handschriften handelt, ist überliefert in: ÖNB, Wien, Cod. 5580. Dort auf Bl. 32v: Godfridi quatuor Euangelia in unum sermone Germanico ueteri rithmisque redacta. Der Bezug auf Otfrids Evangelienbuch ist trotz der Verschreibung eindeutig. Für die Überlassung von Fotokopien dieser Liste danke ich Martina Hartmann. – Menhardt plädierte dagegen für eine Vermittlung des Wiener Otfrid nach Regensburg durch Caspar von Nidbruck. Vgl. Hermann MENHARDT , Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 1 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13, 1960) S. 11. 9 Daß er die nach Regensburg gesandten Handschriften zurückerstattet bekam, ist belegt. Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 202. 10 Der Verkauf von Handschriften aus dem Besitz des FLACIUS an Ulrich Fugger ist für mindestens sieben weitere Fälle belegbar. Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 63, S. 251f. 11 Vgl. dazu Kurt HANNEMANN, Die Lösung des Rätsels der Heliandpraefatio, in: Forschungen und Fortschritte 15 (1939) S. 327–329 (Mit Nachtrag wieder in: Der Heliand, hg. v. Jürgen E ICHHOFF und Irmengard RAUCH, 1973 [Wege der Forschung 321]). DERS., Der Humanist Georg Fabricius in Meissen, das Luthermonotessaron in Wittenberg und Leipzig und der Heliandpräfationskodex aus Naumburg a. d. Saale, in:
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gelienbuch verbundene Widmungsschreiben Otfrids an Liutbert von Mainz ist jedenfalls das erste in sich geschlossene, längere Textstück Otfrids überhaupt, das im Druck bekannt gemacht wird. Zunächst interessieren hier der Text, wie ihn Flacius 1562 edierte, und die Frage nach seiner Vorlage. Flacius macht über seine Quelle für Ad Liutbertum im Catalogus selbst keine näheren Angaben. Nach den dargestellten Fakten zur Geschichte der Heidelberger Otfridhandschrift ergibt sich folgende Problemkonstellation: Spätestens 1560 ist der Palatinus Teil der Bibliothek Ulrich Fuggers, d. h. Flacius konnte ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ohne weiteres auf diese Handschrift zurückgreifen. Was ist daraus für die Druckvorlage des Liutbertschreibens im Catalogus von 1562 zu schließen? Ernst Dümmler führte einen Lesartenvergleich des Drucks mit dem Palatinus nach dem Text der Edition des Evangelienbuches von Paul Piper 12 durch und kommt dabei zu dem Resultat, daß sowohl der Palatinus (P) als auch der Wiener Otfrid (V) als Vorlagen auszuschließen seien. Er nahm deshalb eine heute verschollene Handschrift des Evangelienbuches an13. Dies ist der letzte Stand der Dinge. Eine Verifizierung mit V oder P scheint demnach nicht möglich. In der letzten Konsequenz müßte man diesen Befund dahingehend auslegen, daß ein bislang nicht beachteter mittelalterlicher Textzeuge für Ad Liutbertum als Vorlage anzunehmen sei, in dieser Gestalt allein durch Flacius erhalten, ähnlich wie im Fall der sogenannten Heliandpräfatio und der zu ihr gehörigen Versus. Dümmler dachte aber offensichtlich nicht daran, daß der Druck des Schreibens von 1562 nicht unmittelbar aus der mittelalterlichen Handschrift geflossen sein könnte, sondern aus einer oder mehreren Zwischenabschriften, die im 16. Jahrhundert den Regelfall der Vermittlung zum Druck bilden, wie Lotte Hellinga und Johannes Janota herausgearbeitet haben14. Die in vielen Fällen anzusetzenden Zwischenabschriften haben
Istituto Universitario Orientale. Annali. Sezione Germanica 17 (1974) S. 7–109, S. 256– 260. – Ernst HELLGARDT , Die Praefatio in librum Antiquum lingua Saxonica conscriptum, die Versus de poeta & interprete huius codicis und die altsächsische Bibelepik. In: Entstehung des Deutschen. Festschrift für Heinrich Tiefenbach, hg. von Albrecht GREULE, Eckhard MEINEKE, Christiane T HIM-MABREY (2004) S. 173–230, hier S. 207. 12 Zweite, durch Nachträge erweiterte Ausgabe 1882. 13 Vgl. Ernst DÜMMLER, Zum ersten Bekanntwerden Otfrids, in: ZfdA 44 (1900) S. 316–318. Dümmler ging in seiner Edition übrigens irrtümlicherweise davon aus, daß Ad Liutbertum bereits in der ersten Auflage des Catalogus enthalten sei. Über die Vorlage von Flacius sagt er dort: ex cod. deperdito. MGH, Epp. Karolini Aevi 4 S. 166. 14 Vgl. Lotte HELLINGA, Manuscripts in the hands of printers, in: Manuscripts in the fifty years after the invention of printing. Some papers read at a colloquium at the Warburg Institute on 12–13 March 1982, hg. v. J. B. T RAPP (1983) S. 3–11. Johannes JANOTA, Von der Handschrift zum Druck, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von
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sich in der Regel nicht erhalten, da sie nach der Drucklegung makuliert wurden15. Genau dies könnte für Ad Liutbertum der Fall gewesen sein. Wie wir wissen, fertigten die Centuriatoren umfangreiche Quellenexzerpte für ihr Projekt an. Auch vom Catalogus hat sich bekanntlich eine handschriftliche Frühfassung Marcus Wagners, die den Arbeitsstand von 1553 repräsentiert, erhalten16. Von wem und wann genau jene anzunehmende(n) Abschrift(en) des Liutbertschreibens angefertigt wurden, läßt sich nicht mehr sagen. Es ist jedoch mehr als wahrscheinlich, daß sie aus dem Palatinus und nicht aus einer verlorenen mittelalterlichen Vorlage stammt bzw. stammen17. Flacius stellt dem Abdruck des Briefes einen einführenden Abschnitt voran, in dem er den testis Otfridus Vvissenburgensis und sein Werk kurz charakterisiert sowie dessen Bedeutung für den Gesamtkontext des Catalogus näher erläutert18. Die grundlegenden Informationen, wie zeitliche Einordnung (circa annum Do. 860) und Werktitel (V. libri titulo Gratia), referiert er nach den Otfridartikeln von Johannes Trithemius 19. Flacius betont wie jener die schwere Verständlichkeit des althochdeutschen Textes, mit dem Unterschied, daß er angibt, diese libri, d. h. eine (mehr oder weniger) vollständige Handschrift des Evangelienbuches, aus eigener Anschauung zu kennen: den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Helmut GIER und Johannes JANOTA (1997) S. 125–139. 15 Eine seltene Ausnahme bildet die Gassersche Abschrift des Evangelienbuches (heute: Wien, Schottenkloster, Cod. 733), von der man sicher nachweisen kann, daß sie die unmittelbare Vorlage für den Druck der Ausgabe von 1571 bildete. Vgl. dazu Ernst HELLGARDT , ... der alten Teutschen spraach und gotstsforcht zuerlernen. Über Voraussetzungen und Ziele der Otfridausgabe des Matthias Flacius Illyricus (Basel 1571), in: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, hg. v. Johannes JANOTA u.a. (1992) S. 267–286, hier S. 271–273. 16 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 58f. Zu Schreibern im Auftrag der Centuriatoren vgl. ebda. S. 204, Anm. 33. 17 Ausführlicher zur Argumentation durch einen Lesartenvergleich von P mit dem Text des Catalogus vgl. das Flacius-Kapitel meiner Dissertation „Otfrids Evangelienbuch in der frühen Neuzeit“ (Frühe Neuzeit, 2008). 18 Otfrid ist in der aus heutiger Sicht nicht immer konsistenten Chronologie des Catalogus eingeordnet zwischen Herzog Salomo von der Bretagne (857–874) und Otto I. (936–973). Alle Zitate aus Flacius, Catalogus2 , S. 158. Der UB München danke ich für die Benutzung des Exemplars 2° H. eccl. 104. 19 Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von Ernst HELLGARDT , besonders S. 67. – Zum vermeintlichen Werktitel „Gratia“ S. 81. Zur Bedeutung der Kataloge des Trithemius für Flacius: Dieter MERTENS, Früher Buchdruck und Historiographie. Zur Rezeption historiographischer Literatur im Bürgertum des deutschen Spätmittelalters beim Übergang vom Schreiben zum Drucken, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. v. Bernd MOELLER, Hans PATZE und Karl STACKMANN (Abh. Göttingen 3. Folge, 137, 1983) S. 83–111, hier S. 110.
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Vidi autem eos libros, et lingua adeò à præsenti uariat, ut à nemine Germano nunc quidem intelligi queat, imo uix pauca uerba possunt percipi.
Die Hinweise darauf, daß Otfrid ein Schüler des Hrabanus Maurus gewesen sei und sein Werk dem Mainzer Erzbischof Liutbert zur Approbation vorgelegt wurde, entnahm er dagegen dem Text der Widmung selbst. Die Verbindung zu Liutbert und ihre Approbation durch ihn ist für Flacius offenbar Indiz für die weite Verbreitung des Evangelienbuches. Denn er schließt daran in enger kausaler Verknüpfung die Aussage an, in beinahe allen Bibliotheken könne man fragmenta seines Werkes finden: Fuit uerò discipulus magni illius Rabani, et uersio eius etiam Luitberto [!] Episcopo Moguntino comprobata est. Nam penè in omnib. bibliothecis eius fragmenta reperiuntur.
Diese Bemerkung ist nicht nur aus dem apologetischen Kontext des Catalogus heraus zu interpretieren, sondern höchst wahrscheinlich als Beleg für die tatsächliche, vermittelte und/oder direkte Kenntnis von Fragmenten des Evangelienbuches zu lesen: Nimmt man sie ernst und unterstellt, daß Flacius tatsächlich mehrere Handschriften des Evangelienbuches gekannt haben könnte, stellt sich die Frage, welche er als fragmenta wahrnehmen konnte? Der Wiener Otfrid scheidet als einzig vollständiger Überlieferungsträger aus. Von der Freisinger Handschrift, in der das Evangelienbuch anonym überliefert und von Beatus Rhenanus nicht identifiziert ist, wußte Flacius aus den Res Germanicae des Beatus, daß sie ein anderes initium hatte als der Palatinus. Dies und die durcheinandergeratene Reihenfolge der Otfridzitate bei Beatus könnten in Flacius’ Augen Indizien für ihre Unvollständigkeit gewesen sein. Aus eigener Anschauung kannte er den Frisingensis jedenfalls nicht 20. Möglicherweise hatte Flacius über Gasser auch von den Blättern einer Otfridhandschrift im Besitz Conrad Gesners erfahren. Denkbar ist zudem, daß er ein specimen aus dem Evangelienbuch in der Vorrede Conrad Gesners zu Josua Maalers Wörterbuch (Zürich 1561) zur Kenntnis genommen hatte und daraus auf ein Bruchstück einer Otfridhandschrift schloß. Belegen lassen sich diese mehr oder weniger losen Vermutungen aber allesamt nicht 21. Was bislang gänzlich unbeachtet blieb, ist die Vorgeschichte der erhaltenen wie verlorenen Fragmente aus dem eingangs genannten Codex Discissus für eine denkbare Otfridkenntnis von Flacius. Hermann Herbst gelang der Nachweis, daß die Handschriften, in deren Einbänden die nach und nach bekannt gewordenen Bruchstücke dieser Otfridhandschrift enthalten waren, aus der Bibliothek des Hildesheimer Sülteklosters herkamen. 20
In seiner Bibliothek ist ein Codex Freisinger Provenienz nachgewiesen (heute Wolfenbüttel, HAB, Helmst. 205 [Otto v. Freising/Burchard von Ursberg]). Flacius selbst war aber nie dort; vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 101. 21 Siehe dazu den voranstehenden Beitrag von HELLGARDT , besonders S. 70.
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Denn dort wurde der Otfrid um das Jahr 1470 zerschnitten, wie die Datierung der Handschriften und Drucke belegt, in denen Herbst über die bis dahin bekannten hinaus neue Fragmente finden konnte22. Matthias Flacius Illyricus hielt sich nachweislich im Juli/August 1555 in verschiedenen Hildesheimer Bibliotheken auf und erwarb aus ihren Beständen mehrere Handschriften. Sicher nachgewiesen ist dies für St. Michael und die Dombibliothek 23. Für das Sültekloster ließ sich das bislang nicht nachweisen. Martina Hartmann bezeichnet in ihrer Zusammenstellung der flacianischen Bibliothek die Provenienz einer Handschrift „aus einem nicht bestimmbaren Hildesheimer Kloster“24. Daß diese Handschrift aus dem Sültekloster stammt, ergibt sich auf dem gleichen argumentativen Weg, den bereits Herbst eingeschlagen hatte: Auf dem Einband der Handschrift finden sich mehrere Stempel eines „Sülte-Schülers“25. Dies legt den Erwerb jener Handschrift aus dem Sültekloster durch Flacius sehr nahe, sagt aber wenig darüber aus, ob er dort darüber hinaus auch fragmenta aus dem Evangelienbuch gesehen haben könnte. Einen positiven Befund wird man in dieser Frage wohl nicht mehr liefern können, aber zusammengenommen mit den anderen aufgeführten Hinweisen, auf fragmenta wird man Flacius auch hier nicht von vornherein eine apologetische Übertreibung unterstellen26. Wie auch immer man diese Frage letztlich beurteilt, entscheidend für den Zusammenhang des Catalogus scheint viel mehr zu sein, daß Flacius die Textüberlieferung auf der Grundlage von Autopsie überhaupt argumentativ in seine Darstellung einbindet. Dies unterscheidet ihn grundsätzlich von der Präsentation der Fakten in den Katalogen von Trithemius
22
Vgl. Hermann HERBST , Neue Wolfenbüttler Fragmente aus dem Codex Discissus von Otfrids Buch der Evangelien, in: Zeitschrift für deutsche Geistesgeschichte 2 (1936) S. 131–152 (wiederabgedruckt in: Otfrid von Weißenburg, hg. v. Wolfgang KLEIBER, 1978 [Wege der Forschung 419] S. 52–73). Vgl. jetzt die Neuedition von D: Otfrid von Weißenburg. Evangelienbuch. Band II: Edition nach der Heidelberger Handschrift P (Codex pal. lat. 52) und der Handschrift D (Codex Discissus: Bonn, Berlin/Krakau, Wolfenbüttel), hg. und bearb. von Wolfgang KLEIBER unter Mitarbeit von Rita HEUSER. Teil 1: Texte (P, D) (2006). 23 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 103. 24 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 103f., hier S. 104 (heute Wolfenbüttel, HAB, Helmst. 1102 [Orosius, Brunellus]). Zu dieser Handschrift: Sigrid KRÄMER, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters Teil 1: Aachen–Kochel, (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Ergänzungsbd. 1, 1989) S. 358. 25 Vgl. die Einbanddatenbank (getestet 16.1.2007). 26 Die Handschriften und Drucke, in denen D-Fragmente gefunden wurden, gehörten nachweislich nicht zur Bibliotheca Flaciana. Zur Argumentation vgl. meine in Anm. 17 genannte Dissertation.
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und nähert ihn der Zugangsweise von Beatus Rhenanus in den Res Germanicae an. Im Zentrum seines Vorspanns steht der Verweis auf die exzeptionelle Leistung Otfrids, den Bibeltext in die Volkssprache übertragen zu haben, obwohl die deutsche Sprache des 9. Jahrhunderts noch nicht dergestalt kultiviert gewesen sei, daß man sie ohne weiteres zur Verschriftlichung insbesondere gelehrter Sachverhalte hätte verwenden können wie das Lateinische: Illud autem ibi obseruandum est ante annos 700 (tot enim sunt àscripto eo libro) non esse habitum nefas, sed potius summam pietatem uulgari lingua, idque rhythmis sacras literas uertere. Cum quidem Germanica lingua tunc multò minus apta esset ad scriptionem, aut aliquam omnino eruditionem & acutiorem rerum tractationem, quàm nunc Dei beneficio sit, cum est excultissima & non adeo multò minus tractabilis, & ad omnia exprimenda idonea, quàm Latina.
Das wichtigste Argument von Flacius für die Aufnahme des Liutbertschreibens in den Catalogus besteht darin, daß es die Legitimität volkssprachiger Bibelübersetzungen aus ihrer jahrhundertealten Tradition heraus erweist. Die Aktualisierung und der Transfer dieses Sachverhaltes auf die reformatorischen und gegenreformatorischen Bibelübersetzungen liegen so nahe, daß sie nicht einmal der Erwähnung bedürfen. Das Interesse an Otfrids Evangelienbuch sei – so Flacius – mithin erst in dem Moment abgerissen, als sich die deutsche Sprache dergestalt veränderte, daß man es nicht mehr verstehen konnte und als opus inutile einschätzte27. Worin Flacius darüber hinaus das spezifisch protestantische Potential in Otfrids Schreiben sieht, führt er nicht aus. Er beläßt es an dieser Stelle bei einem allgemein gehaltenen Verweis darauf, daß der Text vieles enthalte, was den Fehlern und Mißbräuchen der gegenwärtigen Päpste fernstehe28. Die Tatsache, daß Flacius Otfrid entschieden als einen volkssprachigen Autor würdigt, aber gerade das einzige lateinische Textstück aus dem Evangelienbuch als Beispiel anführt, verwundert nicht. Die Gründe hierfür liegen zum einem darin, daß Otfrid sich fast ausschließlich in dem Schreiben an Liutbert und unter Verwendung der Volkssprache in Kapitel I,1 (Cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit) zum Inhalt seines Werkes sowie den sprachlichen und poetologischen Bedingungen seiner Vorgehensweise äußert. Von größerer Bedeutung wird aber sein, daß Flacius die 27
Verùm cum postea paulatim lingua Germanica mutata est, cœpit negligi, tanque non intellectum & ideo inutile opus. Er belegt es mit einem terminus technicus für zur Makulierung bestimmte Bücher. Ein weiteres Argument für die Kenntnis der D-Fragmente des Evangelienbuches? Vgl. Gerhardt POWITZ, Libri inutiles in mittelalterlichen Bibliotheken. Bemerkungen über Alienatio, Palimpsestierung und Makulierung, in: Scriptorium 50 (1996) S. 288–304. 28 Haud dubiè autem in ipso textu multa dicit, alienissima à præsentib. Paparum errorib. & abusibus.
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intendierten Rezipienten des Catalogus mit einem lateinischen Text adäquater ansprechen konnte als in der „lingua uernacula“ des 9. Jahrhunderts. Erst Flacius macht somit das opus inutile wieder zu einem Text, mit dem eine Auseinandersetzung lohnend sein könnte. In dieser ersten Etappe seiner Beschäftigung mit dem Evangelienbuch setzt Flacius – so kann man zusammenfassend festhalten – ausschließlich auf das Argument der Legitimität volkssprachiger Bibelübersetzungen. Das Spektrum der Argumente und die Zugangsweise zum Evangelienbuch überhaupt verschieben und erweitern sich erheblich im Zusammenhang der Ausgabe des gesamten Textes in der Basler Ausgabe von 1571. Zunächst kehre ich noch einmal kurz zur Heidelberger Handschrift in der Bibliothek Ulrich Fuggers zurück.
Achill Pirmin Gasser und Conrad Gesner Dort fertigte der Lindauer Arzt und Glaubensgenosse von Flacius, Achill Pirmin Gasser, im Winter 1560 eine Abschrift des Codex an, den er mit Hilfe seines Zürcher Freundes Conrad Gesner zum Druck bringen wollte. Diese Kopie des Heidelberger Otfrid ist in der Bibliothek des Wiener Schottenklosters bis heute erhalten. Aus den Briefen Gesners an Gasser geht zunächst ungebremste Euphorie für Otfrid hervor. Gesner schreibt im Februar 1563: Ottfridum tuum accepi, mirabilem sane scriptorem, (...). Doch noch im gleichen Brief meint Gesner skeptisch zu einer Veröffentlichung: Valde quidem timeo, ne parum vendibilis futurus typographis videatur liber, quod talis sit lingua, quam nemo fere sit intellecturus29. Ihr Unternehmen scheitert denn auch noch im gleichen Jahr aus finanziellen Gründen. Im August desselben Jahres schickt Gesner die Abschrift an Gasser zurück, ohne einen Drucker gefunden zu haben30.
Die Ausgabe des Evangelienbuches (Basel 1571) Die Vorgeschichte der Edition des Evangelienbuches durch Flacius selbst ist nur noch auf der Basis von Hypothesen rekonstruierbar. Es ist möglich, daß Gasser sich zunächst alleine weiter um die Drucklegung bemühte. Jedenfalls muß er sich in den Jahren zwischen 1563 und 1570 mit der Bitte 29
Die Zitate aus dem Briefwechsel nach: Karl Heinz BURMEISTER, Achilles Pirmin Gasser 1505–1577. Arzt und Naturforscher, Historiker und Humanist, Bd. III: Briefwechsel (1975) S. 214. 30 Ausführlicher dazu: HELLGARDT , ... der alten Teutschen spraach (wie Anm. 15) S. 273–277.
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um Hilfe an Flacius gewandt haben. Ob Flacius, dem man zurecht ein „bewundernswertes Talent zur Sponsorengewinnung“31 zuschreibt, die Veröffentlichung unmittelbar oder erst nach längeren Bemühungen gelang, hängt davon ab, ob man annimmt, daß er die Initiative eher zu einem frühen Zeitpunkt, direkt nach dem Scheitern von Gassers und Gesners Versuchen, ergriff oder ob er das eher später tat, nämlich um 1570. Auch über biographische Zusammenhänge kommt man hier zu keinen weiteren Erkenntnissen. Flacius lebte bekanntlich von 1567 bis 1573 in Straßburg. Dort schloß er im Sommer 1571 die Vorreden zur Otfridausgabe ab. Durch einen bislang unbeachtet gebliebenen Brief von Flacius an den Basler Juristen Basilius Amerbach, auf den zuerst Mirkovic aufmerksam machte, erhalten wir nun immerhin einen begrenzten Einblick 32. Der Brief dokumentiert die Bemühungen von Flacius um die Edition unmittelbar vor ihrem Erscheinen Ende 1571. Der Brief ist datiert auf den 20. April [1571]33. Flacius bittet Amerbach darin offenbar zum wiederholten Male (oraui sępius) um Mithilfe bei der Drucklegung eines nicht genauer bezeichneten uetus germanicus liber34. Amerbach möge bei einem Grynäus, dem Flacius die Abnahme von 200 Exemplaren versprochen habe, seine authoritas et solicitatio spielen lassen und sich auf diese Weise für den Druck einsetzen. Die Veröffentlichung des Evangelienbuches komme auch Amerbachs gelehrten Interessen entgegen: pro tuo maiorumque tuorum studio & amore tum patrię tum & rei literarię omnisque uirtutis. Flacius legt Amerbach gegenüber auch seine eigenen Motive dar. Er wolle nicht seinen eigenen Ruhm damit befördern, sondern Zeugnis ablegen vom hohen Alter und Ruhm der Deutschen. Vor allem stelle das Evangelienbuch einen Beleg für Kenntnis und Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften in der Volkssprache dar: omnis lingua laudare debeat Deum.
31
HELLGARDT , ... der alten Teutschen spraach (wie Anm. 15) S. 280. Vgl. Rochus von Liliencron, Amerbach, Basilius, ADB 1 (1875) S. 397. Eine Edition der gesamten Korrespondenz von Flacius ist ein Desiderat der Forschung. Sie könnte im besten Fall von einer interdisziplinär ausgerichteten Forschergruppe projektiert und durchgeführt werden. Martina Hartmann hat in ihrer Arbeit die grundlegenden Voraussetzungen dafür geschaffen. Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 53–79. 33 Der Brief ist überliefert in Basel, UB, Fr. Gr. 9, Bl. 144rv. Er ist ediert in meiner Anm. 17 genannten Dissertation. Die Datierung auf das Jahr 1571 ergibt sich aus der Notierung des Empfangsdatums, wohl durch Amerbach selbst. Bl. 114v: Clariss. Uiro D.D. Basilio Ammerbachio suo Domino & amico colendo. Basileæ. Darunter nicht von der Hand des Flacius: 31. April. 1571. Hartmann meint irrtümlicherweise, daß er „wohl an den Kirchenvorsteher Simon Sulzer in Basel“ gerichtet sei. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 77 mit Anm. 166. 34 Daß es sich dabei um ein anderes volkssprachiges Werk als das Evangelienbuch handelt, ist äußerst unwahrscheinlich. Den Zusammenhang stellte als erste HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 77 her. 32
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Die Ankündigung der Abnahme von 200 Exemplaren setzt im übrigen voraus, daß Flacius zu diesem Zeitpunkt bereits Adolph Hermann Riedesel als Gönner der Ausgabe gewinnen konnte. Ihm widmete Flacius außer der Otfridausgabe noch die zehnte der Magdeburger Centurien (1567) und die Schrift Γνῶθι σεαυτόν (1568)35. Eine weitere Frage bedarf der Klärung: Wer ist der im Brief angesprochene Grynäus, mit dem Flacius persönlich gesprochen haben will und der ihm Hoffnungen auf die Veröffentlichung machte? Der Inhalt des Briefes setzt an dieser Stelle die Verbindung einer Person dieses Namens mit einer Basler Druckerei in dem fraglichen Zeitraum voraus. Der Konnex läßt sich für keinen Basler Grynäus in dem fraglichen Zeitraum herstellen. Eine mögliche Klärung ergibt sich über den bedeutendsten Drucker-Verleger der Werke von Flacius, Johannes Oporinus 36. Er verkaufte 1567 nicht zuletzt unter dem Druck seines Schwagers, Basilius Amerbach, seine Druckerei an ein Konsortium, das aus Balthasar Hahn und den Brüder Polykarp und Hieronymus Gemusaeus bestand 37. Flacius ließ bis zu seinem Lebensende bei ihnen drucken, u.a. auch die Centurien38. Man könnte allenfalls darüber spekulieren, ob es sich bei dem Namen Grynäus um eine Verschreibung für Gemusaeus handelt, und daß Flacius mit dem Schreiben an den Schwager des 1568 verstorbenen Oporinus den Versuch unternahm, indirekt Einfluß auf die Erben des Oporinus auszuüben39. Unter dem Vorbehalt, daß diese Annahme richtig ist, besäßen wir in dem Brief ein Zeugnis für den Druck des Evangelienbuches durch die Nachfolger von Johannes Oporinus und die mutmaßliche Höhe seiner Auflage.
Zur Ausgabe40 Flacius beschränkte sich nicht darauf, die Ausgabe in der Form, wie er sie von Gasser übernommen hatte, zu veröffentlichen. Er läßt den althoch35
HELLGARDT , ... der alten Teutschen spraach (wie Anm. 15) S. 279–281. Vgl. Martin STEINMANN, Johannes Oporinus. Ein Basler Buchdrucker um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 105, 1967). 37 Vgl. STEINMANN, Oporinus (wie Anm. 36) S. 112–114. Vgl. auch Christoph RESKE, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef BENZING (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51, 2007), S. 78–80, 86. 38 Beleg dafür ist u.a. die über den Tod von Oporinus hinaus weitergeführte Drucklegung der Magdeburger Centurien. Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 78. 39 Der handschriftliche Befund Grynäus ist nach dem Mikrofilm eindeutig. Zur Verbindung von Amerbach mit Oporinus vgl. STEINMANN, Oporinus (wie Anm. 36) S. 186– 192. 36
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deutschen Text auf der Grundlage der Abschrift drucken, stellt ihm jedoch eine ganze Reihe verständniserleichternder Beigaben voran: ein bereits von Gasser in seiner Abschrift konzipiertes und erarbeitetes althochdeutschfrühneuhochdeutsches Wörterbuch, ein Sprachgutachten, das eine sprachhistorische Einordnung Otfrids versucht, frühneuhochdeutsche Übersetzungen der Widmungen an Ludwig und Salomo, Text und Übersetzung der Fuldaer Beichte, sowie als ‚Forschungsbericht‘ angelegte Exzerpte aus Trithemius und Beatus Rhenanus, auf die bereits Ernst Hellgardt in seinem Beitrag eingegangen ist. Dazu kommen zwei umfangreiche lateinische und deutsche Vorreden41. In der lateinischen zählt Flacius elf causae auf, warum er das Evangelienbuch veröffentlichen wollte. Ich benenne sie verdeutscht in schlagwortartiger Form: 1. Nutzen vor Gott; 2. Altertumswert; 3. Tradition der Bibel in der Volkssprache; 4. Achtung vor der Sprache der Ahnen; 5. Edle Art der Deutschen; 6. Sprachverständnis aus Etymologien und Sprachgeschichte; 7. Heiliger Ursprung des Deutschen; 8. Beleg für einen reineren Zustand der Religion zu Zeiten Otfrids; 9. Christus triumphiert immer; 10. Nachahmung der Vorfahren in guten Dingen; 11. Tradition der volkssprachigen Bibelbearbeitungen. Ulrich Seelbach vertritt zurecht die These, daß diese Gründe „ein bemerkenswert ausgewogenes Bündel“ für die Herausgabe des Evangelienbuches darstellen, das sich nicht auf die „Doppelformel von Protestantismus und Patriotismus“ reduzieren lasse. Er konstatiert auch für die Bemühungen von Gasser und Gesner und deren Kontakte zur anderen Konfession (am Beispiel Cassanders) die Unabhängigkeit ihres Interesses an alten volkssprachigen Schriftzeugnissen von der konfessionellen Zugehörigkeit. Sicher sollte man die elf Gründe von Flacius nicht reduktionistisch auf seine „protestantische Grundhaltung“42 hin interpretieren, sondern jeden als ein40
Ihr vollständiger Titel lautet: OTFRIDI/ EVANGELIORUM/ LIBER:/ ueterum Germanorum grammaticæ, poeseos, theologiæ, præclarum monimentum./ Euangelien Buch/ in altfrenkischen reimen/ durch Otfriden von Weißenburg/ Münch zu S. Gallen/ vor sibenhundert jaren beschriben:/ Jetzt aber mit gunst deß gestrengen ehrenuesten heren Adolphen Herman Riedesel/ Erbmarschalck zu Hessen/ der alten Teutschen spraach und gottsforcht zuerlernen/ in truck verfertiget. BASILEÆ. M. D. LXXI. 41 Eine Edition mit Übersetzung der lateinischen Vorrede findet sich in meiner Dissertation (Anm. 17). 42 Vgl. Ulrich SEELBACH, Mittelalterliche Literatur in der frühen Neuzeit, in: Das Berliner Modell der mittleren deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna
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zelnen ernstnehmen und interpretieren43. Dennoch bildet der Protestantismus als Matrix den großen Rahmen, innerhalb dessen Flacius ein ausgefeiltes methodisches Instrumentarium bedient, das den Text historisch, philologisch und interpretatorisch erschließt. Ich stelle dies abschließend an zwei Beispielen dar, dem Wörterbuch zur Ausgabe und der Einordnung des Evangelienbuches in die flacianische Hermeneutik.
Das Wörterbuch Das von Flacius mit Erklerung der alten Teutschen worten (Bl. δ1r–δ7r [S. *49–*61])44 überschriebene Wörterbuch kann mit Recht als „erstes ahd. Wörterbuch“45 bezeichnet werden. Es umfaßt etwa 330 Einträge, 13 Seiten im Druck, in nicht immer konsequenter alphabetischer Reihenfolge. Die Wortarten sind ziemlich ungleichmäßig verteilt. Substantive überwiegen Verben und Adjektive bei weitem. Demonstrativpronomina sind in verschiedenen Casus zu einer Gruppe zusammengestellt, genauso wie Personalpronomina. Gelegentlich sind auch kleine althochdeutsche Syntagmen wie bi noti oder bi thiu aufgenommen. Züge einer „ahd. Formenlehre“46 erkennt man an der Tatsache, daß zu einer ganzen Reihe von Wörtern flektierte Formen aufgenommen und einzeln verbucht sind, z.B. der Infinitiv queman, die Präteritalformen quam und quamun oder zu quedan die Formen quad, quid und quit. Was den Wortbestand angeht, ist anzumerken, daß die Auswahl nicht nur schwer verständliche Wörter enthält, sondern auch solche, die im 16. Jahrhundert (ebenso wie heute) ohne Zweifel verstanden werden konnten, wie beispielsweise die Einträge ahd. arabeiton (arbeiten), daga (Tage) oder inti (und) belegen. Es stellt sich die Frage nach dem Zustandekommen dieser auf den ersten Blick willkürlich erscheinenden Auswahl. In den Vorreden nennt Flacius als Hilfsmittel für den Leser über das Wörterbuch und die Übersetzungen in die Gegenwartssprache hinaus noch ein für die Handschriften des Evangelienbuches konstitutives Textelement, das eine plausible Erklärung für die Lemmaauswahl des Dictionarius bietet, 29.09.–1.10.1997, hg. v. Christiane CAEMMERER u.a (Chloe. Beihefte zum Daphnis 33, 2000) S. 89–115, hier S. 92–100, die Zitate S. 99, S. 95. 43 Seelbach schwächt seines eigenes Konzept dadurch etwas, daß auch er die causae nicht einzeln bespricht, sondern nach thematischen Gesichtspunkten sortiert, zusammenzieht oder einzelne ganz weg läßt. 44 Ich beziehe mich hier und im folgenden immer auf die Lagenzählung des Druckes und in [ ] auf die von HELLGARDT , ... der alten Teutschen spraach (wie Anm. 15) S. 267 eingeführte Paginierung. 45 HELLGARDT , ... der alten Teutschen spraach (wie Anm. 15) S. 268. 46 HELLGARDT , ... der alten Teutschen spraach (wie Anm. 15) S. 269.
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jedoch angesichts der bisherigen Editionssituation des Evangelienbuches leicht übersehen werden konnte. Dieses Textelement bietet aber eine Erklärung für die Wortauswahl des Dictionarius. Ich meine das, worauf Flacius hinweist als er den Latinum Euangeliorum textum ad singula loca annotatum (Bl. β1v, [S. *18]) erwähnt 47. Damit bezieht er sich auf die lateinischen Marginalglossen, die dem althochdeutschen Text der Otfridhandschriften beigegeben und auch in der flacianischen Edition wie der Gasserschen Abschrift wiedergegeben sind, jedoch nicht in den meisten neueren Editionen. Ich greife einige Beispiele heraus: Der erste Wörterbucheintrag, ahd. akus, nhd. Axt, ist bei der ersten Erwähnung im Otfridtext mit securis (I, 23, 63; Lc. 3, 9) glossiert. Ebenso das Substantiv ahd. annuzzi, nhd. Antlitz, mit faciem (IV, 19, 71, Mt. 26, 67). Ahd. dagamüß, nhd. Mahlzeit, läßt sich mit cibum und spezifizierend mit panem et pisces (II, 14, 96; Ih. 4, 32; V, 13, 33; Ih. 21, 9) zweimal belegen, ahd. horngibruader, nhd. Aussätziger, mit leprosos (V, 16, 37; Mt. 10, 8), quena mit uxor (I, 4, 50; Lc. 1, 18), zuhti, nhd. Nahrung, mit panem (II, 21, 33; Mt. 6, 11), ahd. ruagstab, nhd. Anklage, mit accusationem (IV, 20, 10; Ih. 18, 29), und so fort. Gasser bzw. Flacius konnten den Otfridschen Marginalglossen auch Belege für unterschiedliche Tempusformen entnehmen und daraus Althochdeutsch lernen: das Präteritum rafsta ist glossiert mit increpabat (III, 13, 11; vgl. Mt. 16, 22), das Präsens rafst mit dem Perfekt increpauit (IV, 31, 6; vgl. Lc. 23, 40), das Gasser bzw. Flacius übersetzt in der Präsensform wiedergeben48. Die Randglossen bieten damit die wichtigste Basis für den Dictionarius der Otfridausgabe. Sie bildeten die einzige konkrete, für damalige Otfridleser auf den ersten Blick sichtbare Hilfestellung. Mit den Marginalien läßt sich die Lemmaauswahl des Wörterbuches zu einem guten Teil begründen und die Tatsache erklären, daß Gasser und Flacius in ihren frühneuhochdeutschen Interpretamenten fast immer richtig lagen. Es verdient übrigens als besondere, in dieser Zeit keineswegs selbstverständliche Leistung noch einmal hervorgehoben zu werden, daß die Zielsprache des Glossars ausschließlich Deutsch ist.
Interpretieren In der Clavis scripturae sacrae, seinem 1567 in Basel gedruckten hermeneutischen Hauptwerk, spricht Flacius im ersten Abschnitt über die Ursa-
47
Die Parallele in der deutschen Vorrede lautet: den lateinischen Text der Evangelisten, der hin vnd wieder in disem Buch vertolmetscht worden ist (Bl. β 4r, [S. *23]). 48 Überprüfbar sind die aufgeführten Stellen durch die in den Anm. 1 und 22 genannte Neuausgabe im Vergleich mit dem Dictionarius der Ausgabe (wie Anm. 41).
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chen der Schwierigkeit der Heiligen Schrift. Eine Ursache, die dem Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift im Weg stehe, sei die folgende: Vetustus sermo recentioribus obscurus est. Romani linteos libros, & annales Pontificum, vix intelligebant, teste Horatio; cum adhuc eadem lingua esset. Sic Germani nunc non intelligunt ea, quæ tempore Caroli Magni scripta sunt: cum quidem eadem sint vocabula. ut videre est in Otfridi Evangeliorum versione. Tota omnino illa vetustissima ratio dicendi; adeo etiam vivendi, est recentioribus & obscura, & difficilis49.
Flacius konstatiert hier ein auf Sprache und Lebensart bezogenes hermeneutisches Wissensdefizit, das in einer sprachhistorischen und kulturellen Distanz seiner Gegenwart zu den Zeiten Karls des Großen begründet ist. Um diese zu überbrücken, gibt es aber nach der flacianischen Clavis eine Reihe von remedia, regulæ und præcepta. Dies verweist uns wieder auf die Beigaben zur Otfridausgabe, wie das Wörterbuch eine ist, mit deren Hilfe sich die Sprach- und Verständnisbarrieren überwinden lassen, und es erinnert an die sprachgeschichtlich-etymologischen Ausführungen der Vorrede. Ein Text bleibt, so kann man die Position von Flacius zusammenfassen, nur so lange völlig dunkel und rätselhaft wie man auf philologische Hilfsmittel verzichtet. Pointiert könnte man sagen, daß diese Zugangsweise die Geburtstunde der Anwendung hermeneutischer Verfahrensweisen auf volkssprachige Texte des Mittelalters markiert50. Dieses Konzept ist aber nicht nur auf die Frage nach der Sprache, ihrer Geschichte und ihrer konkreten Ausprägung im Evangelienbuch bezogen, sondern auch auf das Werkganze. In der deutschen Vorrede benennt Flacius die waare endtliche meinung oder hauptsumma des Evangelienbuchs, wie Otfrid es verstanden habe 51. Dazu zitiert und übersetzt er folgende Stelle: Thaz ich in himilriche/ Thir Druthin jamerliche/ Joh iamer freuue in rihti/ In dineru gesichti/ 49
Text nach: Matthias Flacius Illyricus, De ratione cognoscendi sacras litteras. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift. Lateinisch-deutsche Parallelausgabe übers., eingel. und mit Anm. versehen von Lutz GELDSETZER (Instrumenta philosophica. Series hermeneutica 3, 1968) S. 6–9. 50 Vgl. dazu jetzt: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, hg. von Jörg SCHÖNERT und Friedrich VOLLHARDT (Historia Hermeneutica. Series Studia 1, 2005), Reimund SDZUJ, Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit (1997) S. 29–38 und Andreas GARDT , Geschichte der Sprachwissenschaft (1999) S. 88–93. 51 Der entsprechende Terminus der lateinischen Vorrede für hauptsumma ist scopus: Quin etiam ipse Author scopum hunc omnium Euangelistarum titulumque & fidem suam pientissimis uersibus, asserentibus gratuitam iustificationem contingentem sine nostris meritis, exposuit (Bl. α 6v, [S. *12]).
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Norbert Kössinger Mit Engilen dinen/ Thaz n’ist bi uuercken minen/ Suntar rehto in uuaru/ Bi thineru ginadu. Das ist auff gut Teutsch: Das ich im himelreiche/ Dir Gott immerliche/ Ja jmmer frewe in grichte/ In deinem angesichte/ Mit den Engeln dein/ Das nicht ist bei den wercken mein. Sonder recht fürware/ Bei deiner gnade/ etc. (Bl. β 7rv, [S. *29f.])
Dieses Stück aus Otfrids Invocatio scriptoris (I, 2, 43–46) ist nicht nur ein Beleg dafür, daß Flacius den althochdeutschen Text des Evangelienbuches lesen, verstehen und übersetzen konnte, sondern auch dafür, daß er einen umfassenden, textgestützten Interpretationsansatz daraus entwickeln konnte. Dafür beruft er sich nicht allgemein auf ein theologisches Konzept, sondern stellt Otfrid dezidiert in Zusammenhang mit der lutherischen Theologie des sola gratia52. Bereits Otfrid stehe mithin dafür, daz wir one vnser wercke/ lauter vmb sonst/ durch Christum selig werden [Bl. β 7r, S. *29] Diese Interpretation stützt Flacius außerdem mit dem angeblichen Titel des Evangelienbuches ab. Es sei Gratia Dei, die gnad Gottes genant worden: darmit der Scribent anzeigen w=llen/ Christus sei nicht ein gesetzgeber/ auch sein Euangelion nicht ein gesetz/ wie die verfFrer hernach fFrgeben/ sonder ein erwerber vnd verkündiger der heilsamen genaden Gottes. [Bl. β 6v, S. *28]
Die Parallelstelle der lateinischen Vorrede lautet: Ipsum profectò solum nomen gratiæ, hiscè libris pro titulo impositum, satis liquidò testatur, Christicolas adhuc tum temporis sacrosancta Euangelia, quæ in hoc Opere uersu conuertuntur, pro lætis quibusdam nuncijs gratiæ ac fauoris Dei per Christum parti habuisse, non pro seuera legum ac mandatorum exactione, minarumque, irę ac pœnarum Dei denunciatione: ut postea plerique perperam de Euangelio, tanquam noua exactioreque quadam lege senserunt & disseruerunt, Christumque pro mero legislatore, & austeriore Moyse, quàm ille prior fuerit, habuerunt. (Bl. α 6v, [S. *12]).
Daß diese Titelgebung letzten Endes auf ein Mißverständnis des Incipit in dem Otfridartikel von Johannes Trithemius zurückgeht und daß auf dieser Grundlage der Gratia-Skopus nicht in der Weise auf das Evangelienbuch anwendbar ist, wie Flacius das meinte, braucht hier nicht weiter zu interessieren. Das entscheidende Moment scheint mir darin zu liegen, daß Flacius überhaupt einen umfassenden Vorschlag zur Interpretation des Evange52
Vgl. dazu bei Flacius: OLSON, Flacius S. 45–49.
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lienbuches unterbreitet und damit – erstmals für einen volkssprachigen Text – einen Prozeß historischen Verstehens in Gang gebracht hat, der bis heute zwar modifiziert, aber nicht abgeschlossen ist 53. Mit Flacius stehen wir – so resümiere ich – nicht nur „am Anfang einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der lateinischen Literatur“54 des Mittelalters, sondern auch mit derjenigen in der Volkssprache. Dabei sind für Flacius‘ methodischen Zugang zu Otfrids Evangelienbuch wesentliche Elemente konstitutiv, die Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Buch über „Die Macht der Philologie“ als „philologische Kerntätigkeiten“55 beschrieben hat, wie Sammeln, Edieren, Kommentieren und Historisieren. Das Einsetzen dieser Reflexionsformen im Umgang mit volkssprachigen Texten am Ende des 15. Jahrhunderts markiert nicht nur den „Anfang deutscher Mittelalter-Wissenschaft“, 56 sondern auch den Beginn der Geschichte der Deutschen Philologie. Die Auseinandersetzung mit Otfrids Evangelienbuch seit seiner Wiederentdeckung durch Trithemius ist – in diese Zusammenhänge eingeordnet – einerseits Teil einer spezifischen Form von Mittelalterrezeption, die mit dem Fragen deutscher Humanisten nach der eigenen Vergangenheit und ihrem geschichtlichen Selbstverständnis virulent wird 57. Zum anderen ist sie Teil einer Geschichte der Philologie, die sich erstmals nicht auf Texte der klassischen Antike, sondern auf mittelalterlich-volkssprachige Texte bezieht. Insofern ist sie konstitutiver Bestandteil einer Geschichte der Deutschen Philologie, für deren frühe Geschichte Flacius eine bedeutende Rolle spielt.
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Ob der flacianische Interpretationsansatz richtig oder falsch ist, hat für die hier dargestellten Zusammenhänge keine Bedeutung. Daß geisteswissenschaftliches Arbeiten zu jeder Zeit hermeneutischen Fehlschlüssen unterliegen kann, braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden. 54 Thomas HAYE, Der Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus – eine Einführung in die Literatur des Mittelalters?, Archiv für Reformationsgeschichte 83 (1992) S. 31–47, hier S. 47. 55 Vgl. Hans Ulrich GUMBRECHT , Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte (2003) hier S. 15. 56 Franz Joseph WORSTBROCK, Humanismus. B. Deutsches Reich, in: Lex MA 5 (1991) Sp. 193–197, hier Sp. 195. 57 Vgl. dazu Franz Josef WORSTBROCK, Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, hg. v. Walter MÜLLER-SEIDEL (1974) S. 499–519, hier S. 518.
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Flacius und die Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata (1557) Nachdem Flacius 1548 mit den Carmina vetusta1 erstmals poetische Texte zum Druck befördert hatte, denen er als erweiterte Neuauflage 1552 die Pia quaedam vetustissimaque poemata2 folgen ließ, erschien, basierend auf diesem Grundstock, 1557 in der Basler Offizin des Ludwig Lucius die Anthologie Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata. Ihr umständlicher Untertitel – ante nostram aetatem conscripta, ex quibus multa historica quoque utiliter ac summa cum voluptate cognosci possunt – umschrieb behelfsmäßig den nicht zeitgenössischen Gegenstand und versprach ganz horazisch und topisch, utile und dulce zu mischen und hier vor allem multa historica zu bieten, die Gedichte also als historische Quellen nutzbar zu machen. Mit dem thematischen Zuschnitt seiner Sammlung De corrupto ecclesiae statu knüpfte Flacius – explizit durch die Wahl des Titels – an eigene Publikationen und eine ältere Tradition an, die er im übrigen als Vorratslager ausbeutete: Bereits Karl Strecker stieß bei seinen Vorarbeiten zur Ausgabe der moralisch-satirischen Dichtungen Walters von Châtillon auf einen 1519 und in zweiter Auflage wenig später erschienenen Druck einer Nicolaus von Clémanges zugeschriebenen Schrift gleichen Titels, der in einer Appendix drei Gedichte vereinigte, die Flacius sämtlich auszog3. Wichtiger jedoch dürfte ein zweites Buch sein, auf das jüngst Roger Hillas wieder hinwies 4: Die Rhithmi vetustissimi de corrupto ecclesiae statu ab 1
Carmina vetusta ante trecentos annos scripta, quae deplorant inscitiam Euangelij, & taxant abusus ceremoniarum, ac quae ostendunt doctrinam huius temporis non esse novam. Fulsit enim semper & fulgebit in aliquibus vera Ecclesiae doctrina (Wittenberg: Rhau 1548). 2 Pia quaedam vetustissimaque poemata partim Antichristum, eiusque spirituales filiolos insectantia, partim etiam Christum, eiusque beneficium mira spiritus alacritate celebrantia, cum praefatione Matth. F. Illyrici (Magdeburg: Lottherus 1552). 3 Vgl. Karl STRECKER, Quellen des Flacius Illyricus, ZfdA 66 (1929) S. 65–67 und unten Appendix I Nr. 47f. und 53. 4 Elias of Thriplow, Serium senectutis, edited and translated by Roger HILLAS (Medieval & Renaissance texts & studies 116, 1995) S. 15–19, hier 18, zuvor Paul Gerhard SCHMIDT , Elias of Thriplow – A Thirteenth-Century Anglo-Latin Poet, in: Papers of the Liverpool Latin Seminar. Third Volume 1981, ed. Francis CAIRNS (ARCA. Classical and Medieval Texts, Papers and Monographs 7, 1981) S. 363–370, hier 369.
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Anglo quodam … ante annos ducentos … conscripti, eine Anthologie, die John Bale (1495–1563) 1546 vorlegte. Im auf den 1. Mai 1556 zu Magdeburg datierten Vorwort, gerichtet an Johann Albrecht I., Herzog von Mecklenburg-Schwerin (1547–1576, Ioanni Alberto duci Megapolensi), stellt Flacius dem überkommenen Reliquienkult (conquirere ac conservare vel ossa vel vestes vel qualescumque reliquias, exuvias aut res) die Suche nach wahrhaftigen Reliquien, den Zeugnissen kritischer, redlicher Geister gegenüber (veras spiritualesque piorum reliquias germanasque eorum notas conquirere, conservare et imitari), die vitia, abusus, errores anprangerten. Die Sammlung ist als poetisches Pendant zu den zuvor veröffentlichten Antilogia 5 mit Prosatexten und letztlich wohl als flankierende Quellensammlung zum Catalogus testium veritatis konzipiert, der Exzerpte einiger der in den Varia poemata dann vollständig edierten Stücke bot. Vierfacher fructus mag aus der Lektüre gezogen werden: historische Erkenntnis (varia historica de illis temporibus cognosci), Bewahrung der reinen Lehre (studium retinendae purioris religionis), eine evangelische Tradition der Standhaften (3. Reg. 19, 18), moralische Erbauung (ad moderandos mores).
Die Disposition der Sammlung Flacius verteilte sein Material auf vier sehr unterschiedlich dimensionierte Abteilungen: Die erste und umfangreichste trägt bezeichnenderweise keinen Titel und ließe sich am besten als urban-unterhaltsame satirische Kritik an Welt und Kirche charakterisieren. Hier wie in den folgenden drei Teilen präsentiert er eine formal heterogene Mischung von Liedern, Streit- und Tiergedichten, Planctus, Epigrammen und historischen Liedern. Das Auftaktstück ist Walters von Châtillon bekannte Bitte an einen Papst Tanto viro locuturi studeamus esse puri (Appendix I Nr. 1), ihm eine auskömmliche Pfründe zuzuweisen. So steht immerhin ein Papst der Sammlung voran, der hier auch noch iudex equitatis, / propagator veritatis, / lenis aura seculi (Strophe 4, 1–3) sein darf. Innerhalb dieses ersten Abschnittes dominieren drei Werke bzw. Werkgruppen, deren Vorlagen sich mit einiger Sicherheit ermitteln lassen, so eine Sammlung von 148 Stücken aus dem berühmten Liedrepertoire der Schule von Notre Dame in Paris (13. Jahrhundert). Es ist in einer ganzen Reihe mittelalterlicher Handschriften tradiert, und Flacius war Besitzer zweier verwandter, der in der musikwissenschaftlichen Forschung als W1 und W2 bezeichneten Manuskripte Helmstedt 628 und 1099. Helmstedt 628 aus St. Andrews ist die bekanntere; sie gehört zu den sieben 5
Antilogia Papae, hoc est de corrupto ecclesiae statu, et totius cleri Papistici perversitate (Basel: Oporinus 1555).
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Codices, die Flacius’ Schüler Marcus Wagner (1528–1597) von einer Schottlandreise 1553 mitbrachte6. Allerdings liegt sicherlich Helmstedt 1099 diesem Passus der Varia poemata zugrunde. Flacius ließ deren Gedichtfolge neu arrangieren und rückte Carm. Bur. 34 Deduc, Sion, uberrimas velut torrentem lacrimas (Appendix I Nr. 4) an die Spitze, eine mit Motiven der Lamentationes und Psalmen armierte Klage über den Machtmißbrauch geistlicher Oberhirten, die er bereits in seiner ersten Sammlung, den Carmina vetusta von 1548, publiziert hatte. Der zweite bedeutendere Nucleus sind unter dem Namen Walter Map laufende rhythmische Gedichte, der mit Abstand am häufigsten in den Varia poemata genannte Autorenname. Mittellateinische Philologen lassen zwar inzwischen so gut wie keines mehr als authentisch gelten, ein Privileg, das allein seinen Nugae curialium vom Ende des 12. Jahrhunderts geblieben ist7. Flacius’ Zuschreibungen spiegeln jedoch recht genau den seinerzeit aktuellen Kenntnisstand wider: eine Edition, Summarium und Catalogus John Bales, der einen erheblichen Anteil an der Konstituierung eines Gedichtcorpus Walter Maps hatte, das bis ins 19. Jahrhundert mit den Editionen Thomas Wrights8 weiter anwuchs, ehe die Kritik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sie in die Anonymität verwies oder Dichterpersönlichkeiten wie Walter von Châtillon deutlicher profilierte9. Sein Name fällt in den Varia poemata nicht, wohl auch weil Flacius selbst keinen Zugang zu den wichtigen französischen und englischen handschriftlichen Gedichtsammlungen hatte und Walters Name vor allem mit der Alexandreis verbunden war. Das dritte Hauptstück ist die Erstausgabe der umfangreichsten lateinischen Dichtung des Typus De contemptu mundi, Bernhards von Morlas vor 1150 entstandenes Werk mit etwa 3000 anspruchsvoll als tripertiti dactylici gereimten Hexametern, die endzeitliche Stimmung gleich zum Auftakt erzeugen und etwa ein Viertel der Varia poemata füllen10. Hoskier ließ in 6
Appendix I Nr. 3–5; HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 64f. und 110f. Flacius beschreibt bereits im Catalogus testium veritatis1 (S. 648–650) beide Sammlungen nach Repertoire, metrischen und inhaltlichen Gesichtspunkten. Benutzt wurde das Digitalisat des Corpus Automatum Multiplex Electorum Neolatinitatis Auctorum. CAMENA (Webadresse: ). 7 Walter Map, De nugis curialium – Courtiers’ Trifles, edited and translated by M.R. JAMES, revised by C.N.L. BROOKE and R.A.B. MYNORS (Oxford medieval texts, 1983). 8 The Latin Poems Commonly Attributed to Walter Mapes, collected and edited by Thomas WRIGHT (Camden Old Series 16, 1841), vgl. Appendix I Nr. 17–22 und 29. 9 Arthur G. RIGG, Golias and other Pseudonyms, Studi medievali 3a serie 18 (1977) S. 65–109, hier 103–107, der jedoch die Rhithmi vetustissimi Bales nicht berücksichtigt, und P.G. WALSH, „Golias“ and Goliardic Poetry, Medium Aevum (Oxford) 52 (1983) S. 1–9. Bale und Flacius differenzieren nicht konsequent zwischen Golias und Walter Map. 10 Appendix I Nr. 30. Im Catalogus testium veritatis1 (S. 658–661) kündigt Flacius die vollständige Ausgabe der tres quasi satyras Bernhards an und druckt einen Auszug ab.
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seiner Edition von 1929 die Frage nach Flacius’ Vorlage offen, ohne Kenntnis des Wolfenbütteler Textzeugen 37.34 Aug. fol., der sich sicherlich in Flacius’ Besitz befand11. Deutlich schärfer und weniger urban sind die Ingredienzien des zweiten wie die beiden letzten erheblich kürzeren Abschnittes quae in Papam sint scripta. Er wird eingerahmt von Spottversen, meist höhnischen Epitaphien auf Päpste des 15. und frühen 16. Jahrhunderts bis zu Leo X., die in ähnlicher Konstellation in Bales Basler Catalogus für die Invektive nutzbar gemacht werden (Appendix I Nr. 37f., 41f., 45). Sie umschließen unter anderem drei Exzerpte, die in generalisierter Form die Käuflichkeit der Kurie und das Versagen des Papstes thematisieren; Flacius läßt Provenienz und Datierung vielleicht nicht ohne Absicht unbestimmt: Es sind rhetorische Musterbeispiele – nicht historische Dokumente – aus Galfreds von Vinsauf Poetria nova (Appendix I Nr. 43f.) und der nicht minder rhetorisch ambitionierten Elegia des Heinrich von Settimello (Appendix I Nr. 39); über jene verfügte Flacius handschriftlich in der eben erwähnten Augusteischen Handschrift. Wie die anderen ist der dritte Teil De sceleribus Romae im wesentlichen mit Dichtungen des 12. Jahrhunderts bestückt. Hier geht es um Reliquiengeschäfte, Simonie und überhaupt den Geldverschleiß im päpstlichen Rom. Die potentiellen Vorlagen sind verhältnismäßig gut dokumentiert. Auch in diesen Teil hat Flacius zwei Exzerpte eingestellt, aus dem möglicherweise in das 15. Jahrhundert gehörenden, handschriftlich und im Frühdruck im deutschen Sprachraum verbreiteten anonymen, an Schüler gerichteten Lehrgedicht Salutaris Poeta (Appendix I Nr. 49), auf das Flacius wiederum in 37.34 Aug. fol. zurückgreifen konnte, und aus Hildeberts von Lavardin berühmtem Romgedicht (Appendix I Nr. 50). Allerdings konnte Hildebert, ein großer Name, nur in dieser Form nutzbar gemacht werden: Das korrespondierende 38. Gedicht feiert gerade das päpstliche Rom12. Bunt gemischt ist die vierte Gruppe Contra monachos, ein Potpourri von Karikaturen, die Zu Flacius’ pessimistischem Weltbild Thomas HAYE, Der Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus – eine Einführung in die Literatur des Mittelalters, Archiv für Reformationsgeschichte 83 (1992) S. 31–48, hier 36. 11 Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, beschrieben von Otto VON HEINEMANN, zweite Abtheilung: Die Augusteischen Handschriften 3 (1898) S. 155–158. 12 Kurt SMOLAK, Beobachtungen zu den Rom-Elegien Hildeberts von Lavardin, in: Latin Culture in the Eleventh Century. Proceedings of the Third International Conference on Medieval Latin Studies, Cambridge, September 9–12, 1998, edited by Michael W. HERREN, C.J. MCDONOUGH, and Ross G. ARTHUR, Bd. 2 (Publications of The Journal of Medieval Latin 5, 2, 2002) S. 371–384, hier 379–384. Wahrscheinlich kannte Flacius indes nur dieses Distichon, das er bereits als Exzerpt im Speculum historiale (25, 108) des Vincenz von Beauvais vorfinden konnte, dazu unten Anm. 20.
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nur in einem Fall, dem umfangreichen rhythmischen Gedicht über die Ermordung Heinrichs VII. (Appendix I Nr. 57), historisch genauer verortet ist. Sieht man von den von Ludwig Traube in das späte 9. Jahrhundert gesetzten Versus Romae (Appendix I Nr. 51) – Flacius ließ diesen Punkt außer acht13 –, den wenigen im 14. und 15. Jahrhundert entstandenen Rhythmen und den Spottversen auf Renaissancepäpste ab, bestimmen Texte des 12. und frühen 13. Jahrhunderts die Anthologie. Dieser Sachverhalt illustriert schlaglichtartig die überragende Bedeutung jener Zeit für den mittelalterlichen poetischen Literaturbetrieb: Eine ganze Reihe von Werken ist neben den antiken Klassikern kanonisch geworden. Aus diesem auch zu Flacius’ Zeit noch präsenten, zumindest nicht ganz verdrängten Fundus hat er eine durchaus repräsentative Auswahl getroffen, neben die freilich Rara und Rarissima treten.
Flacius’ Arbeitsweise: Die Werkstatt des Editors Flacius hat sein Material nur rudimentär aufbereitet und setzt stillschweigend die Konsultation des Catalogus testium veritatis voraus: Angaben über Autoren (Walter Map, Hildebert, Bernhard von Morlas), die chronologische Einordnung oder die Provenienz der Vorlagen sind eher die Ausnahme oder bleiben diffus. Das entspricht in vielen Fällen ohne Zweifel dem erreichbaren Kenntnisstand, auch wenn im Catalogus durchaus methodische Ansätze zur philologischen Kritik zu registrieren sind. Die Unbestimmtheit mag aber auch Flacius’ Intention geschuldet sein, das Wehen evangelischen Geistes, thematisch, nicht chronologisch gebündelt spürbar werden zu lassen. Vorteilhafter fällt das Urteil über die editorisch-philologischen Qualitäten des Illyricus aus: Ohne jeden humanistischen Dünkel bewältigt er die Bauformen rhythmischer Dichtungen, die in den Handschriften oft nicht zu erkennen sind, und beschreibt Reimtypen. Er gibt Rechenschaft darüber ab, daß er ein Gedicht (Carm. Bur. 42, Appendix I Nr. 21 und 46) geteilt habe, um es den entsprechenden thematischen Blöcken zuordnen zu können. Auch der Umgang mit der überlieferten Textgestalt scheint behutsam zu sein: Im dritten Gedicht des Petrus Pictor könnte Flacius an wenigen, problematischen Stellen seine Basler Vorlage begradigt und stillschweigend den Dichter Naso in den Text konjiziert haben (Appendix I Nr. 31)14. Daß in den Varia poemata statt des unanstößigen Domnus notorisch das 13
Einleitend zum Abdruck im Catalogus testium veritatis1 (S. 902f.) vermutet Flacius eine Entstehung vor 200 oder gar 300 Jahren. 14 Petrus Pictor carm. 3, 32 Naso poeta statt narro poeta der Basler Handschrift und Varro poeta der meisten übrigen Textzeugen.
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prosodisch unmögliche Dominus am Hexameteranfang steht, ist wohl eher einem anonymen Amanuensis zuzurechnen, wie die formelhafte Angabe, ein frühestens 1515 entstandenes Gedicht, das sich kritisch mit der Türkenkriegspolitik Papst Leos X. auseinandersetzt (Appendix I Nr. 24), einem vetustissimus codex entnommen zu haben – paläographische Kompetenz scheint indes auch des Flacius’ Sache nicht gewesen zu sein. Flacius’ Editionswerkstatt schöpft augenscheinlich aus einem dreifachen Fundus: eigene Drucke und Handschriften des Illyricus, wie Nicolaus’ von Clémanges De corrupto ecclesiae statu (1519)15, die Augusteische und die Helmstedter Codices 1099 und 1102. Bei 37.34 Aug. fol. handelt es sich um einen spätmittelalterlichen Miscellanband poetischen und rhetorischen Inhalts, der exemplarisch präsentiert, was an – regional ponderierter – Basislektüre im ausgehenden Mittelalter etabliert war: die Poetik Galfreds von Vinsauf (um 1200), Contemptus mundi-Schriften der gehobenen Art wie Bernhard von Morlas, Tierepik, satirische Sittengemälde wie der Palpanista Bernhards von der Geist oder der Occultus des Nicolaus von Bibra 16. Natürlich fehlen in diesen Corpora nicht individuelle Einsprengsel, und gerade sie scheint Flacius besonders beachtet zu haben. Sieht man von den beiden Musikhandschriften W1 und W2 ab, scheint Flacius der Zugang zu kleinteiligen Gedicht- und Liedersammlungen versperrt gewesen zu sein. Diese Lücke dürfte John Bale gefüllt haben, der bereits 1546 seine Rhithmi vetustissimi herausgegeben hatte, denen Flacius die Apocalypsis Goliae und weitere mit Walter Map oder Golias etikettierte Gedichte verdanken mag17. Flacius stand mit Bale seit 1553/1554 in Verbindung, beide waren zur Zeit der Drucklegung der Varia poemata in Basel, als bei Oporinus der Druck des scharf antipäpstlichen Catalogus Bales begann. Die Relation von Geber und Nehmer ist jedoch schwer zu bestimmen: Viele der Spottepigramme auf Renaissancepäpste und ältere Stücke sind beiden gemeinsam, mal ist Flacius umfangreicher, mal Bale 18. Vielleicht griffen beide auf gemeinsames Material zurück, dessen Herkunft noch genauer bestimmt werden müßte. Der dritte ist ein ad hoc genutzter Vorrat: Basler Handschriften. Flacius bezeichnet zwei näher, und eine konnten Jakob Werner und van Acker identifizieren (Appendix I Nr. 13, 31 und 55). Flacius ist mit seinen editorischen Bemühungen um mittellateinische Texte also durchaus kein Solitär: Viele der populären, für die Schule relevanten Texte fanden rasch den Weg in das gedruckte Buch, Walters Alexan15
FLACIUS, Catalogus testium veritatis1 S. 937f. Zu Bernhard von der Geist siehe unten Appendix II, zu Nicolaus von Bibra HART MANN , Humanismus und Kirchenkritik S. 171–173 und 246f. 17 FLACIUS, Catalogus testium veritatis² S. 703f. dürfte mit Edidit Balaeus quosdam rhythmos contra Papam, episcopos, praelatos ac clericos, scriptos diese Ausgabe bezeichnen. 18 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 70. 16
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dreis natürlich, aber auch regional verbreitete wie der Salutaris Poeta und der Palpanista Bernhards von der Geist. Conrad Celtis fahndete ambitioniert nach Größen, oder besser: rarae aves der mittellateinischen Dichtung, Hrotsvit von Gandersheim (1501) und dem Ligurinus 19. Der konfessionell gelenkte Blick des Illyricus war gleichwohl weiter: Aus einem breit ausgeleuchteten Spektrum lateinischer Dichtungen kompilierte er philologisch aufgeschlossen eine repräsentative Auswahl von Texten, eine Dokumentation satirischer Dichtung des Hochmittelalters, die auch spätmittelalterliche Werke einschließt. Die Varia poemata sind unverändert die Referenzausgabe für eine ganze Reihe von ihnen geblieben. Bereits der Catalogus testium veritatis ließ die Konturen der Varia poemata erkennen, und eine Reihe von Stücken werden dort zumindest in Auszügen inseriert. Flacius formuliert im Catalogus die Auswahlkriterien präziser und ausführlicher als in deren Ergebnis, der Anthologie. So würdigt er im Abschnitt über Hildebert von Lavardin (S. 506f. Hildebertus episc. Cenomanensis) das allein zitierte Distichon carm. min. 36, 37f. Urbs foelix, si vel dominis urbs illa careret / Vel dominis esset turpe carere fide einer kommentierenden Paraphrase, die ihm eine vehemente antipäpstliche Spitze verlieh und im Kontext des Catalogus Hildebert zum Opfer von Verfolgungen machte20. Seine Wertschätzung für Hildebert rührt zugleich von den literarischstilistischen Fertigkeiten her, die Flacius bewogen, ihm auch rhythmische Dichtungen des Notre Dame-Corpus zuzuschreiben (tales Rhythmicos, et tamen bene Latinos versus, vgl. auch Appendix I Nr. 4). Ergiebiger waren indes die Briefe Hildeberts, die er in einer noch nicht identifizierten Handschrift benutzte; aus ihr gab er paraphrasierende Exzerpte und Regesten zu vier Briefen (ep. 69, 66, 77, 59), deren letzter als kurienkritisches Dokument präsentiert wird. Möglicherweise folgte Flacius nur der Briefseries seiner Vorlage, wobei die (im Catalogus freilich übergangene) Nennung Papst
19
Carmen CARDELLE DE HARTMANN, Die Roswitha-Edition des Humanisten Conrad Celtis, in: Schrift – Text – Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag, hg. von Christiane HENKES, Walter HETTCHE, Gabriele RADECKE und Elke SENNE (Beihefte zu editio 19, 2003) S. 137–147 und Gunther der Dichter, Ligurinus, hg. von Erwin ASSMANN (MGH SS rer. Germ. 63, 1987) S. 2–32. 20 Flacius nennt als Quellen Forestis Supplementum chronicarum und das Speculum historiale des Vincenz von Beauvais, zu dessen Hildebert-Exzerpten Peter ORTH, Hildeberts Prosimetrum De querimonia und die Gedichte eines Anonymus. Untersuchungen und kritische Editionen (Wiener Studien Beiheft 26. Arbeiten zur mittel- und neulateinischen Philologie 6, 2000) S. 34f.
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Calixts II. einen willkommenen Anknüpfungspunkt zum nächsten Abschnitt eben über diesen Papst gegeben haben mag 21. Die Magdeburger Centuriatoren teilten nicht nur hier Flacius’ Gespür und Vorliebe für poetische Texte nicht. Zwar war der Catalogus-Artikel der Ausgangspunkt für den ersten Hildebert-Passus; sie ließen jedoch das Poetische zurücktreten und nahmen weitere Briefe, teils vollständig auf (ep. 19, 39, 2, 24). Sie zogen dabei offenkundig eine andere handschriftliche Tradition als Flacius heran, der sie ein Spurium, die zur Römerinvektive umgestaltete ep. V 7, 1–5 des Apollinaris Sidonius, entnahmen und als prominentestes Zeugnis an die Spitze ihrer Zusätze stellten22. Dieses Spurium steht am Ende von Sammlungen des Typs A der Briefe Hildeberts; von den mir bekannten 10 Überlieferungen scheint keine in Reichweite der Centuriatoren gewesen zu sein. Flacius gelang als Kompilator ein Meilenstein, der Ausgangspunkt größerer, Literaturgeschichte und Anthologie verknüpfender Sammlungen wie Polycarp Leysers monumentaler Historia poetarum et poematum medii aevi (1721) wurde und noch für die Repertorienarbeiter des 19. und 20. Jahrhunderts, Hauréau, Wattenbach23 und Walther, zur Grundausstattung gehörte. Dem modernen, literaturwissenschaftlich geprägten Leser drängt sich neben der beruhigenden Einsicht, daß auch die konfessionelle Brille ein weites Blickfeld eröffnen kann, die Sorge auf, wie man bei abertausend Versen contemptus mundi Gleichmut bewahren und an den historischen Aussagewert eines topisch-rhetorischen Motivschatzes glauben kann.
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Eine Briefsammlung des Typs O, vgl. Peter VON MOOS, Hildebert von Lavardin 1056–1133. Humanitas an der Schwelle des höfischen Zeitalters (Pariser Historische Studien 3, 1965) S. 327f. 22 Peter ORTH, Eine ungedruckte Papsturkunde für die Benediktinerabtei Montiéramey. Zugleich ein Beitrag zum Briefstil des Nikolaus von Clairvaux, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 109 (1998) S. 69–89, hier 86– 88. 23 Wilhelm WATTENBACH, Die Anfänge lateinischer profaner Rythmen des Mittelalters, ZfdA 15 (1872) S. 469–506.
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Appendix I
Der Aufbau der Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata im Überblick Die fortlaufend numerierten Einträge der Übersicht geben die Seitenzahl des Druckes, gegebenenfalls das Incipit und seine Nummer bei Walther; es schließen sich Hinweise auf Flacius’ Rubriken, handschriftliche oder gedruckte Vorlagen und kurze Kommentare an. In den Anmerkungen werden neuere Editionen gebucht.
Teil I (S. 1–378) 1
(S. 9–15) Tanto viro locuturi (Walther 19018) – ex vetusto codice / Querela Gualteri Mapes – Walter von Châtillon, Moralisch-satirische Gedichte l24
2
(S. 15–28) Heu, soror Astraea (Walther 7810, 14752, 11788, 18333, 17457, 13016, 12709) – Dialogismi Veritatis, Adulatoris, Iusticiae – vgl. Appendix II
3
(S. 29–88) – Sammlung von 148 Stücken aus dem Notre DameRepertoire – HAB Wolfenbüttel, Helmst. 1099 (Schwesterhandschrift zu Helmst. 628)25
4
(S. 29f.) Deduc, Sion, uberrimas (Walther 4211) – Cantilena a pio quodam ante CCC annos composita, in Antichristum et spirituales eius filios, ut Hildeberto Cenomanensi episcopo … autore scripta videatur – HAB Wolfenbüttel, Helmst. 1099, fol. 93r–96v – Carm. Bur. 3426
5
(S. 30) Dic, Christi veritas (Walther 4349) – HAB Helmst. 1099, fol. 33r–34v – Carm. Bur. 131, 127 24
Moralisch-satirische Gedichte Walters von Chatillon aus deutschen, englischen, französischen und italienischen Handschriften, hg. von Karl STRECKER (1929) S. VIII und 1– 15, mit einigen singulären Varianten, von denen Strophe 5, 3 loquatur und Strophe 20, 3 patibulo (Influenzfehler von 20, 6) die Silbenzahl des Verses überschreiten. 25 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 70 Anm. 123 und S. 244 mit weiterführender Literatur. 26 Carmina Burana. Mit Benutzung der Vorarbeiten Wilhelm Meyers kritisch hg. von Alfons HILKA und Otto SCHUMANN, Bd. 1, 1 (1930) S. XI und 56f. 27 Carmina Burana. Mit Benutzung der Vorarbeiten Wilhelm Meyers kritisch hg. von Alfons HILKA † und Otto SCHUMANN, Bd. 1, 2 (1941) S. 216f.
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(S. 88f.) Gaude, mater nostra Roma (Walther 7053) – Cantilena Abbatis Urspergensis – Drucke von 1515 (Peutinger) und 1537 (Hedio); HAB Helmst. 20528 – Burchard von Ursberg, Chronicon29
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(S. 89) Dedit fragilibus corporis ferculum (Walther 4209) – Ex quodam hymno, quem adhuc canunt papistae in ecclesia de communione sub utraque specie
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(S. 90–101) Mundus falso dictus mundus (Walther 11459; Bloomfield 315330) – Cleri fletus … deploratio perditae maliciae Clericorum … olim ante annos 100 vel amplius – zahlreiche Handschriften
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(S. 101–112) Collationis gratia / Pertractaturus aliqua (Walther 3022; Bloomfield 854) – Planctus Bernhardi Vvuesterrodis – Bernhard von Westerrode, Planctus31
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(S. 113–115) Satis vobis notum est et res manifesta (Walther 17296) – In epicureismum et simoniam praelatorum spiritualium et corruptelas tyrannidemque nummi
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(S. 115) Clamabat decalogus (nicht abgesetzt vom vorausgehenden Stück; Walther 2817) – Walter von Châtillon, Moralisch-satirische Gedichte 5, 1832
12
(S. 115–118) Missus sum in vineam (nicht abgesetzt vom vorausgehenden Stück; Walther 11120 und 18646) – Walter von Châtillon, Moralisch-satirische Gedichte 6, 1 sowie 4, 2 und weitere Strophen33 28
HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 158 Anm. 112 und S. 227. Die Chronik des Propstes Burchard von Ursberg, hg. von Oswald HOLDER-E GGER und Bernhard VON SIMSON (MGH SS rer. Germ. 16, 1916) S. 82; es handelt sich nicht um ein metrisches oder rhythmisches Gedicht, sondern um teilweise rhythmisierte und gereimte Prosa. Flacius charakterisiert diesen Passus im Catalogus testium veritatis1 (S. 650) als Rhythmica cantilena. 30 Morton W. BLOOMFIELD / Bertrand-Georges GUYOT O.P. / Donald R. HOWARD / Thyra B. KABEALO, Incipits of Latin Works on the Virtues and Vices, 1100–1500 A.D. Including a Section of Incipits of Works on the Pater Noster (The Mediaeval Academy of America. Publication 88, 1979). 31 Ausgabe nach der Handschrift Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 675, fol. 272v bei F.W.E. ROTH, Mittheilungen zur Literatur des Mittellateins aus Darmstadter Handschriften, Romanische Forschungen 6 (1891) S. 17–56, hier 19 und 32–37; diese wie die Handschrift Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Patr. 106, fol. 2–4 scheiden als Vorlage des Flacius aus. Im Catalogus testium veritatis1 (S. 674f.) erwägt Flacius die Identifizierung des Autors mit einem bei Trithemius erwähnten Corveyer Mönch, vgl. HAYE, Der Catalogus testium veritatis S. 41f. 32 Hg. von Karl STRECKER (1929) S. 57–61 und 77f. 33 Hg. von Karl STRECKER (1929) S. 57–61 und 82: Vermischung der Strophen und 6, 1 als Auftakt zu 4 auch in einigen Handschriften; alle scheiden jedoch als Vorlage des Flacius aus. 29
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13
(S. 118f.) Imo pectore cogitate fratres – Ex epigrammatibus Pictorii – impressis Basileae anno 151834
14
(S. 119–121) Eximios inter cunctis memorande diebus – Elegia Henrici Bebelii Iustingensis ad Iohannem Nauclerum … in Simoniacos35
15
(S. 121–129) Corruit ecclesia stipulae suffulta columna (Walther 3373) – De novo statu ecclesiae
16
(S. 129) Proh dolor in mundo video miranda quod ipsi (Walther 14807) – Contra Praelatos
17
(S. 130–132) – Vita Gualtheri Mapes, Rhythmorum autoris, ex maiore Catalogo Ioannis Balei, de illustribus Britanniae scriptoribus, Centuria tertia – Bale, Summarium36
18
(S. 133–149) A tauro torrida lampade Cynthii (Walther 91) – Apocalypsis Goliae … circa annum … 120037 – Apokalypse des Golias 38
19
(S. 149–152) Dilatatur impii regnum Pharaonis (Walther 4480) – Sermo Goliae Pontificis ad Praelatos impios – Walter von Châtillon, Moralisch-satirische Gedichte 939
20
(S. 152–159) A legis doctoribus lex evacuatur (Walther 40, ferner 20572, 19171) – Sermo Goliae ad Praelatos / ad Christi sacerdotes /
34
Luigi Bigi Pittorio, um 1454–1520: Pictorii Sacra et satyrica Epigrammata […] (1518, VD 16 B 5456). 35 Gemeint ist das Einleitungsgedicht Heinrich Bebels (1472–1518) zu Nauclerus’ Schrift De simonia: Elegia Heinrici Bebel Iustingensis ad omnium laudatarum artium consultissimum virum ac patronum singularem Joannem Nauclerum (1500; unter der URL: wurde ein Digitalisat der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel benutzt). 36 Illustrium maioris Britanniae scriptorum summarium (1548). HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 70f. und 254. 37 Wie Nr. 19f. und 22 wahrscheinlich enthalten in John Bales Rhithmi vetustissimi (1546). Bibliographisch konnte nur ein Exemplar in der University Library, Cambridge (Signatur: Syn.8.54.182) nachgewiesen werden. 38 Die Apokalypse des Golias, hg. von Karl STRECKER (Texte zur Kulturgeschichte des Mittelalters 5, 1928), hier S. 13 zu Bales Druck 1546 und Flacius: „Die Hs. ist unbekannt, doch erkennt man, dass der Text sehr willkürlich behandelt ist. Ob und wieweit dies schon auf Bale zurückgeht, den Flacius doch wohl benutzt hat, kann ich nicht beurteilen.“ 39 Hg. von Karl STRECKER (1929) S. 105–108, der S. 105 eine übereinstimmende Lesart mit der Notiz des Titels in Bales Index Britanniae scriptorum notiert: Golias Pontifex scripsit Sermonem ad praelatos: … spoliatur, vgl. Index Britanniae scriptorum quos ex variis bibliothecis non parvo labore collegit Ioannes Baleus cum aliis. John Bale’s Index of British and Other Writers, ed. by Reginald Lane POOLE with the help of Mary BATESON (Anecdota Oxoniensia 4: Mediaeval and modern series 1, 9, 1902) S. 96.
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Praedicatio Goliae ad terrorem omnium – Walter Map, carm. 6, 8, 10 (Wright) 21
(S. 159f.) Utor contra vitia (Walther 19917) – De his quae regnant in Romana curia (Schlußbemerkung: Quae eiusdem auctoris hîc in Romam sequebantur, in tertiam huius libri partem reiecta invenies) – Carm. Bur. 42, 1–3 (Fortsetzung Nr. 46)40
22
(S. 160f.) Raptor mei pilei (Walther 16413) – Excommunicatio Goliae pro pileo – Walter Map, carm. 16 (Wright)
23
(S. 161–167) Complange tui Anglia (Walther 3062) – Planctus super episcopis
24
(S. 167–182) Quis maiora meo patitur contagia morbo (Walther 16076) – De rerum sacrarum abusu – ex vetustissimo quodam codice41
25
(S. 199–214) Instabat festiva dies (Walther 9402) – Poenitentiarius lupi, vulpis et asini – HAB Helmst. 110242 – Brunellus 43
26
(S. 214–234) Rogo corde pertractetur (Walther 16827, 20010 und 20578) – Planctus ecclesiae – Analecta Hymnica 46, 370–377 (zahlreiche Textzeugen)
27
(S. 234–236) Crevit in ecclesia monstrum genitore Losinga (Walther 3440) – De symonia vetustum carmen – MGH Ldl 3, 615–61744
28
(S. 236–238) Prisciani regula penitus cassatur (Walther 14734) – Rhythmi, quos post synodum Lateranensem anno D. 1216 nobilis
40
Carmina Burana, Bd. 1, 1, S. 76–81, auch zum Verhältnis der Versionen Bales und des Flacius. 41 Thema sind die Bemühungen Papst Leos X. um die Aufhebung der Pragmatischen Sanktion und für einen Türkenzug (um 1515). 42 Explicit mit Datierung abgedruckt, vgl. FLACIUS, Catalogus testium veritatis1 S. 903f. und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 244. 43 Kleinere lateinische Denkmäler der Thiersage aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert, hg. von Ernst VOIGT (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 25, 1878) S. 24f. zur Vorlage des Flacius und der Qualität seines Abdrucks („bei der grossen Willkür und Ungenauigkeit des Flacianischen Drucks“). Lediglich Catalogus1 S. 932bis – 934bis wertete Flacius das Speculum stultorum des Nigellus von Longchamps aus, von dem er eine handschriftliche Kopie in HAB Helmst. 616 besaß und einen der frühen Drucke kannte, vgl. Nigel de Longchamps, Speculum stultorum, edited, with an Introduction and Notes, by John H. MOZLEY and Robert R. RAYMO (University of California Publications. English Studies 18, 1960) S. 15. 44 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 162. Die Vorlage des Flacius ist nicht bekannt; das Gedicht, das simonistisches Gebaren des Bischofs Herbert Losinga anklagt, stammt sicherlich aus England.
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quidam Anglus in sacerdotalis coniugii favorem composuit – Walter Map, carm. 34 (Wright)45 29
(S. 238–240) Ecce mundus moritur vitio sepultus (Walther 5114) – De mundi miseria rhythmi Gualteri Mapes – von Walter Map carm. 28 (Wright) abweichende Version
30
(S. 240–349) Hora novissima, tempora pessima sunt, vigilemus (Walther 8411) – HAB Wolfenbüttel, 37.34 Aug. fol. 46 – Bernhard von Morlas, De contemptu mundi47
31
(S. 349–354) Cur ultra studeam probus esse probusque videri (Walther 3955) – Ex vetusto exemplari … e bibliotheca Praedicatorum Basiliensium – Basel, Universitätsbibliothek, D IV 4, fol. 51–62 – Petrus Pictor, carm. 348
32
(S. 355–370) Ille ego qui quondam cum Gallus amore periret (Walther 8698) – Laelii Capilupi Cento Vergilianus de vita monachorum – Druck 154549
33
(S. 371–377) Clerus et presbyteri nuper consedere (Walther 2929) – Consultatio sacerdotum quorundam super mandato praesulis facto, ut et concubinas habitas abigant … ex vetusto exemplari et manu scripto – Walter Map, carm. 35 (Wright)
34
(S. 377f.) Sunt caput inter rasum humerisque cucullus adhaerens (Walther 18809 und 19240) – Claudius Rosseletus / Idem de pontifice coelesti Christo et terreno Clemente VII. († 1394)50
45
FLACIUS, Catalogus testium veritatis S. 307–309 ordnet das Gedicht zusammen mit Walther 12520 (in den Varia poemata S. 392) chronologisch bei Calixt II. ein. 46 HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 171–173 und 246f. 47 De contemptu mundi. A Bitter Satirical Poem of 3000 Lines upon the Morals of the XIIth Century by Bernard of Morval Monk of Cluny (fl. 1150), ed. Hermann C. HOSKIER (1929) S. XXXIIIf. 48 Petri Pictoris carmina, ed. Lieven VAN ACKER (CC Cont. Med. 25, 1972) S. CXII, CXXVI (zur Vorlage des Flacius) und 49–54. 49 Laelius Capilupus (Lelio Capilupi, 1497–1560), Cento Vergilianus, de vita Monachorum, quos vulgo Fratres appellant (1545 und öfter), vgl. G. Hugo T UCKER, Mantua’s „Second Virgil“: Du Bellay, Montaigne and the Curious Fortune of Lelio Capilupi’s Centones ex Virgilio (Romae, 1555), in: Ut Granum Sinapis. Essays on Neo-Latin Literature in Honour of Jozef IJsewijn, ed. Gilbert T OURNOY and Dirk SACRÉ (Supplementa Humanistica Lovaniensia 12, 1997) S. 264–291. 50 Claudius Rosselettus (Claude Rousselet, † 1534), Epigrammata (1537).
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Teil II: quae in Papam sint scripta (S. 378–405) 35
(S. 378–386) Amari luctus mersitor (Walther 892) – Cantio de papa Romanaque ecclesia per Boemum quendam ante annos circiter 100
36
(S. 386) Frigida membra Pii retinet lapis iste loquacis (Walther 6911; Bertalot 188551) – In Pium II. pontificem maximum epigramma ex vetusto quodam codice – Bale, Catalogus 1, 602
37
(S. 386–388) (Walther 12141, 13560, 18354 und weitere wie Bertalot 6006) – Bale, Catalogus 1, 603f. – Epigramme gegen Papst Sixtus IV. († 1484)
38
(S. 388–392) (Walther 15883 und weitere) – Spottverse gegen Innocenz VIII. (†1492), Alexander VI. († 1503)
39
(S. 392f.) Ipsa caput mundi venalis curia papae (Walther 9563) – ex veteri quodam miscellaneorum libello – Auszug aus Heinrich von Settimello, Elegia 3, 199–21052
40
(S. 393) Balthasar in primis vocitabar et inde Iohannes (Walther 2060; Bertalot 432) – Bale, Catalogus 1, 546 – Epitaphium für Baldassare Cossa (Johannes XXIII., † 1419)
41
(S. 394) Petrus ego quondam Benedictus et inde vocabar (Walther 14049) – Epitaphium Petri de Luna Benedicti 13 († 1423)
42
(S. 395f.) Scandala nova cape, quia facti sunt duo papae (Walther 17313) – ex vetustissimo quodam codice – lateinisch-deutsches makkaronisches Gedicht zum Ausbruch des Schismas von 1378
43
(S. 398f.) Est papae leges sacras dictare, minorum (Walther 5797) – In papam, quod simoniam non puniat – HAB 37.34 Aug. fol. – Galfred von Vinsauf, Poetria nova 1280–132453
44
(S. 399f.) Quisnam tam cerebri vacuus, tam pectoris expers (Walther 16121) – Expolitio per exsuscitationem et respicit ad sententiam supra positam, Prudentia papae – HAB 37.34 Aug. fol. – Galfred von Vinsauf, Poetria nova 1325–1348 51
Ludwig BERTALOT, Initia humanistica latina. Initienverzeichnis lateinischer Prosa und Poesie aus der Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts. Bd. 1: Poesie. Im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts in Rom bearbeitet von Ursula JAITNER-HAHNER (1985). 52 Enrico da Settimello, Elegia, a cura di Giovanni CREMASCHI (Orbis Christianus. Collana di testi medioevali e umanistici 1, 1949) S. 74. 53 Edmond FARAL, Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen age (1924 / ND Bibliothèque de l’Ecole des hautes études. Sciences historiques et philologiques 238, 1982) S. 236–238.
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(S. 400–405) Clementem eripuit nobis clementia fati (Walther 2897, 7174, 3792 und 14251 [= Bertalot 4388], 16414) – Spottverse auf Clemens VII., Iulius II. († 1513), Paul II. († 1471), Leo X. († 1521)
Teil III: De sceleribus Romae (S. 406–454) 46
(S. 406–408) Roma caput mundi est (Walther 16834) – Carm. Bur. 42, 4ff. (Fortsetzung zu Nr. 21)
47
(S. 408–415) Propter Syon non tacebo (Walther 14838) – Quod Romana avaritia sit Scylla, Syrtis et Charybdis pecuniae gentium – Nicolaus von Clémanges, De corrupto ecclesiae statu (Rom 1519 bzw. eine zweite Auflage) 54 – Carm. Bur. 41 (Walter von Châtillon, Moralisch-satirische Gedichte 2)
48
(S. 415f.) Ecclesiastica Roma negotia cum moderetur (Walther 5224) – Dactylici leonini in Romam, quod donis omnia iustificet, item quod sit insatiabilis – Nicolaus von Clémanges, De corrupto ecclesiae statu – MGH Ldl 3, 701f.
49
(S. 416f.) Mater Ierusalem quasi filia sit Babylonis (aus Walther 1798) – Ex vetere quodam poemate, cuius initium est „Aurea lux oritur“ – HAB Wolfenbüttel, 37.34 Aug. fol. – Salutaris Poeta 123– 13455
50
(S. 417f.) Urbs foelix, vel si dominis urbs illa careret (aus Walther 13668) – Hildeberti episcopi Cenomanensis in Romam disticon (und weitere Einzelverse bzw. -distichen) – Hildeb. carm. min. 36, 37f.
51
(S. 418) Nobilibus quondam fueras constructa patronis (Walther 11829) – Incerto auctore ex veteri codice – unbekannte Handschrift der verkürzten „Regensburger“ Fassung – MGH Poetae 3, 554–556
52
(S. 418–454) Nuper apostolica Ganfredus sede relicta (Walther 12484) – Ganfredus de statu curiae Romanae et eius ironica recommendatione – Heinrich von Würzburg56 54
Nachgewiesen durch STRECKER, Quellen des Flacius Illyricus, dazu HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 254; Carmina Burana, Bd. 1, 1, S. 68–70. 55 Josef BUJNOCH, Die Spruchdichtung Salutaris poeta, Mittellateinisches Jb. 5 (1968) S. 199–241, hier 207f. zu der Wolfenbütteler Handschrift; S. 235f. wird Flacius’ Exzerpt registriert. 56 Hermann GRAUERT , Magister Heinrich der Poet in Würzburg und die römische Kurie. Vorgelegt am 4. Juni 1910 und am 10. Juni 1911 (Abh. München 27, 1/2, 1912) S. 3f. zu Flacius. GRAUERT verzeichnet (S. 5–19) vier Textzeugen, die das Gedicht wie Flacius ohne den Prolog tradieren: Clm 466 (Exzerpte), Clm 14129 (Zuschreibung an Galfred
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Teil IV: Contra monachos (S. 455–491) 53
(S. 455–461) Quae monachi quaerunt patrio mea iure fuerunt (Walther 15005) – Querela cuiusdam sacerdotis … de monachis, qui sacerdotium illius cęnobio suo volebant unire – Nicolaus von Clémanges, De corrupto ecclesiae statu – Serlo von Bayeux, Invectio in monachos57
54
(S. 461–469) Si vis esse coenobita (Walther 18079) – Vita monastica – Analecta Hymnica 33, 208–210 (zahlreiche Textzeugen)
55
(S. 469f.) Scire cupis, quid sit monachus, tam nobile vulgus (Walther 17333) – Metra de monachis carnalibus – reperta Basileae Anno 1554. 14 Iulii in Lib. tergo signato I. L VI Cum Titulo Iesuida Hieron. Patavini58
56
(S. 470) Quod metuis frater, olim ratione timebas – Ut tibi credatur, geris hanc per colla cucullam (Walther 15842 und 19889) – Ex antiquo quodam codice, in quo varia animalia depicta. In fine lupus cucullam monachi indutus, dicit ad vulpeculam alliciens … Vulpecula ad lupum – zwei Distichen, vielleicht aus einer illustrierten Fabelsammlung 59
von Vinsauf), Erfurt, Amplon. 4° 21 (Explicit ähnelt dem Flacianischen: O frater Aprilis expedit antifrasis. Explicit Ganfredus.), Wien 3529 (im 15. Jh. bei den Kölner Fraterherren; 1575 schon in der Wiener Hofbibliothek; Explicit ähnlich dem Flacianischen: O frater Aprilis hic finit antifrasis. Et sic est finis talis materie.). Die Erwähnung in Bales Catalogus führt er (S. 35f.) auf Flacius’ Ausgabe zurück. 57 Zur Verfasserfrage Serlon de Wilton, Poèmes latins. Texte critique avec une introduction et des tables, publié par Jan ÖBERG (Studia Latina Stockholmiensia 14, 1965) S. 1f. 58 Paul LEHMANN, Die Parodie im Mittelalter. Mit 24 ausgewählten parodistischen Texten (21963) S. 74f. und 194f. konnte in seiner Edition die Basler Vorlage nicht identifizieren. Die kurze, 1428–1447 entstandene Dichtung Iesuida des Hieronymus de Vallibus († 1458) wurde noch im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts häufig gedruckt. In Basel sind mehrere Exemplare nachweisbar, darunter mit Basel, Universitätsbibliothek, FO V 13:4 (Basler Druck von 1505, VD 16 H 3593), ein mit sieben Drucken und fünf Handschriften zusammengebundenes der dortigen Kartause (vgl. Opera poetica Basiliensia, URL: ), wie es Flacius vorgelegen haben mag. 59 Ernst VOIGT (Kleinere lateinische Denkmäler der Thiersage S. 147 und 149f.) spricht von einem „Thierbilderbuch“, kann jedoch die Vorlage des Flacius nicht identifizieren. Die Handschrift HAB Helmst. 185 (hier fol. 94v), in der zu den beiden Distichen noch ein kurzes Exzerpt aus dem Ysengrimus kommt (Ysengrimus, hg. und erklärt von Ernst VOIGT [1884] S. XV), die gleichfalls die Nr. 39 (Heinrich von Settimello) und 49 (Salutaris Poeta) enthält und Flacius’ Beschreibung ex veteri quodam miscellaneorum libello (Nr. 39) durchaus entspricht, scheidet als Vorlage aus, vgl. Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, beschrieben von Otto VON HEINEMANN, erste Abthei-
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57
(S. 470–485) In anno quo millesimum (Walther 8824) – De morte imperatoris Henrici VII. quem frater Paulinus ordinis praedicatorum intoxicavit … ex vetustissimo libro carmina, seu rhythmi quidam60
58
(S. 485) O monachi vestri stomachi sunt amphora Bacchi (Walther 12789) – In monachos distichon
59
(S. 485f.) Cordula nodosa, pes nudus, kappa dolosa (Walther 3330) – Aliud in Franciscanos
60
(S. 486–488) Improba distorto monachorum calle pererrans (Walther 8811 und 9668) – Fratris Ioannis Fernandi antiquum epigramma – Walther ohne weitere Belege
61
(S. 488f.) Abbas noster tritus est cyphos evacuare (Walther 143) – Regula beati Libertini ordinis nostri – Walther ohne weitere Belege
62
(S. 489–491) Sacrilegis monachis emptoribus ecclesiarum (Walther 17011) – In monachos carmen satyricum, ex veteri quodam codice acriter taxans eorum impietatem – MGH Ldl 3, 700f. (viele Handschriften)
63
(S. 491) In vestimentis non est contritio mentis (Walther 9152) – Alia quaedam ex veteri miscellaneorum libro in monasticum habitum et fucatam religionem61
lung: Die Helmstedter Handschriften 1 (1884–1913) S. 167–170. Sie gehörte im frühen 16. Jahrhundert dem Augustiner-Chorherrenstift Georgenberg in Goslar, Sigrid KRÄMER, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband 1,1, 1989) S. 300. Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel überließ mir zuvorkommend ein unpubliziertes ausführlicheres und bibliographisch aktualisiertes Katalogisat. 60 Flacius’ Vorlage ist nicht zu eruieren, alle Drucke rekurrieren auf die Varia poemata, vgl. Maria Elisabeth FRANKE, Kaiser Heinrich VII. im Spiegel der Historiographie. Eine faktenkritische und quellenkundliche Untersuchung ausgewählter Geschichtsschreiber der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 9, 1992) S. 22. Zu weiteren poetischen Reaktionen auf Heinrichs Tod Norbert FICKERMANN, Das Admonter Fragment eines Planctus Heinrici VII., NA 50 (1935) S. 587–599 und Kurt-Ulrich JÄSCHKE, Imperator Heinricus. Ein spätmittelalterlicher Text über Kaiser Heinrich VII. in kritischer Beleuchtung (Beiheft zu Hémecht, 1988) S. 18– 24. 61 André WILMART , Le florilège de Saint-Gatien. Contribution à l’étude des poèmes d’Hildebert et de Marbode. Première partie, Rev. Ben. 48 (1936) S. 3–40, hier 34 Nr. 235.
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Peter Orth
Appendix II
Die Bernhard von der Geist zugeschriebenen Dialogismi Zu den anonymen Stücken im ersten Teil der Varia poemata gehören die Dialogismi Veritatis, Adulatoris, Iusticiae 62. Formal ist die Dichtung zweigeteilt: Auf einen ersten Teil in 88, meist leoninisch gereimten Hexametern folgen Vers 89–337 rhythmische Stabatstrophen mit der monologischen querela der Iustitia 63: Jeweils zwei dreizeilige Strophen des Typs 2 × 8p + 7pp werden durch das Reimschema a a b c c b verbunden; davon weichen lediglich die erste (Vers 89–91) und letzte Strophe (Vers 335–337) ab, die indes beide zusammen gleichsam als Klammer dem Schema folgen, und die Verse 146–148. In seiner Münsteraner Dissertation von 1905 benannte Johannes Richter Bernhard von der Geist als Verfasser der Dialogismi64. Bernhard, der bis 1246 als bischöflicher notarius in Münster gewirkt hatte und ein Kanonikat am Stift St. Mauritz innehatte, galt bis dahin allein als Autor der hexametrischen Dichtung Palpanista65. Richter identifizierte 22 Verse des Palpanista im hexametrischen ersten Teil der Dialogismi und schloß rasch auf die Identität ihrer Verfasser, deren Lebensumstände ihm ähnlich zu sein schienen; den nicht durchgängigen Gebrauch des leoninischen Reims wertete er als Indiz dafür, daß den Dialogismi „noch die letzte bessernde Hand“ fehle. Richter unterliefen jedoch gleich zwei Irrtümer: Zum einen übersah er schlicht den größeren rhythmischen Teil der Dichtung, die er mit Vers 88 enden ließ und in der er zudem vor Vers 72 eine Lücke vermutete. Obwohl schon Hans Walther jene offenkundige Fehleinschätzung korrigiert hatte66, beschränkte sich Karl Langosch in den einschlägigen Artikeln in beiden Auflagen des Verfasserlexikons auf ein unkritisches Referat 62
FLACIUS, Varia poemata S. 15–28, vgl. Appendix I Nr. 2. Stabatstrophen auch im bei Flacius vorausgehenden Gedicht Walters von Châtillon. 64 Johannes RICHTER, Prolegomena zu einer Ausgabe des Palpanista Bernhards von der Geist (1905) S. 45–49, ihm folgend Aloys BÖMER, Das literarische Leben in Münster bis zur endgültigen Rezeption des Humanismus, in: Aus dem geistigen Leben und Schaffen in Westfalen. Festschrift zur Eröffnung des Neubaus der Königlichen Universitätsbibliothek in Münster (Westfalen) am 3. November 1906, hg. von Beamten der Bibliothek (1906) S. 57–136, hier 68–73. 65 Benutzt wurde die Ausgabe Palponista Bernardi Geystensis, sive De Vita privata & Aulica Libri Duo Versibus Leoninis scripti Ex Bibliotheca viri summi D. Thomae Reinesii, nunc primùm edidit Christianus Daumius (1660). 66 Hans WALTHER, Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters. Mit einem Vorwort, Nachträgen und Registern von Paul Gerhard SCHMIDT (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5,2, 1920/1984) S. 109f. In seinem Initienverzeichnis sind den Dialogismi insgesamt sieben Nummern zugeordnet. 63
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Richters67. Weniger eindeutig fällt das Urteil über Richters zweiten Irrtum aus: Zwar registrierte er die Übereinstimmungen von Palpanista und Dialogismi, übersah jedoch, daß daneben Verssequenzen aus dem Anticlaudian des Alanus von Lille 68 und der Alexandreis Walters von Châtillon inseriert waren69, die gerade jene nicht leoninisch gereimten Anteile ausmachten. Mithin könnte in ihrem ersten Teil eine Art Cento vorliegen, in dem freilich die Palpanista-Einlagen (Vers 34–45, 48, 66f., 69f., 77–82)70 im Vergleich zu den Anticlaudian- und Alexandreis-Exzerpten deutlich überwiegen; die beachtliche handschriftliche Verbreitung und Exzerpierung des Palpanista macht bloße Zitate immerhin möglich71. Auf Bernhard von der Geist scheint auch Vers 72 die Erwähnung eines stultus et ingratus Mauricius inveteratus zu deuten, nur daß schwerlich der Patron seines Stiftes, vielmehr ein (nicht näher bekannter) Mauritius bezeichnet wird, dessen Redlichkeit und Studieneifer ihm keinen materiellen Vorteil, kein Kanonikat eintrug. Das erinnert natürlich an die Biographie Bernhards, erscheint aber in einem anderen Licht mit Blick auf die Verse 257–280: Hier klagt die Iustitia über Mißstände in der Prager Kirche (Vers 259 Pragensem eclesiam), in der auswärtige Geistliche anfälliger für simonistische Umtriebe seien als einheimische (Vers 267 qui hic sunt nati). Auch wenn zwischen der Person des Autors und der Sprecherin des Vortrages differenziert werden müßte, widerspricht die Affinität zu Prag den sonstigen Nachrichten über Bernhard von der Geist, der sein Münsteraner Umfeld anscheinend nicht verließ. Man wird mit Flacius den Text vorsichtiger in der Anonymität belassen wollen. Flacius gibt keine Auskunft über seine handschriftliche Vorlage. Erst Walther machte auf ein Handschriftenfragment der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe aus dem 15. Jahrhundert aufmerksam (K = Hs. K 354), das die Dialogismi ohne Titel, für den zwei Leerzeilen vorgesehen waren, aber mit den gliedernden, hier meist in den Textfluß eingepaßten Überschriften tradiert72. Den Dialogismi (fol. 1v–4rb) gehen von anderer 67
Johannes Ritter, Artikel „Palpanista“, in: VL 3 (1 1943) Sp. 704–711, hier 706f. und „Bernhard von der Geist“, in: VL2 1 (1978) Sp. 762–766, hier 762f. Darauf beruht der kurze Eintrag in Lex.MA 1, Sp. 1998f. (Peter Christian JACOBSEN). 68 In Vers 6, 8–14 und 16–18. Zitiert nach Alain de Lille, Anticlaudianus. Texte critique avec une introduction et des tables, par Robert BOSSUAT (Textes philosophiques du moyen âge 1, 1955). 69 Vers 50–53. Zitiert nach Galteri de Castellione Alexandreis, ed. Marvin L. COLKER (Thesaurus mundi 17, 1978). 70 Zusammengestellt bei RICHTER, Prolegomena S. 47–49. 71 Dazu RICHTER, Prolegomena (wie Anm. 64) S. 12–36, Nachträge bei L ANGOSCH, Artikel „Bernhard von der Geist“, in: VL2 1 (1978) Sp. 763. 72 WALTHER, Das Streitgedicht S. 110. Kurze Beschreibung in: Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe 4: Die Karlsruher Handschriften, Bd. 1: Nr. 1– 1299, von Wilhelm BRAMBACH (1896 / ND 1970) S. 41. Der Badischen Landesbibliothek,
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Hand eine zu Beginn mechanisch defekte Abhandlung über die acht Seligkeiten (Inc.: Redempcio captivorum, vesticio nudorum, Collectio peregrinorum; Expl.: habitus autem beatitudinum disponunt ad perfectum utriusque) sowie ein kurzer Text De latria et dulia (Inc.: Latria est reverentia et servitus deo exhibitus; Expl.: unde non ymagines in quantum res facte sed illa quorum sunt ymagines adoramus) voraus; fol. 4rb schließt sich von der Hand der Dialogismi der unvollständige Libellus de conflictu vitiorum atque virtutum des Ambrosius Autpertus an, hier unter dem Titel Incipit liber beati gregorii pape de conflictu viciorum et virtutum (Inc.: O quam durus o quam amarus superbie congressus que angelos de celo proiecit)73. K ist sicherlich nicht Flacius’ Vorlage gewesen, da sie je einen anderen Vers auslassen, Flacius Vers 193, K Vers 303; beide bieten indes 25 dire statt des vom Reim verlangten dure und 80 fehlerhaftes infrenitus statt infrunitus. Neben einer normalisierten Orthographie könnte es sich bei metrisch-prosodischen Begradigungen wie 4 vilet (viluit K), 12 infamia (invidia K) und 81 mox censibus et (et redditibus K) um Flacius’ editorische Eingriffe handeln; auch die ausschließlich hier auftretenden Verschleifungen – Vers 46, 52 (zur Vermeidung einer Längung in der Semiseptenaria; tanta est allerdings auch in der Vorlage, der Alexandreis), 65 (atque statt prosodisch gewöhnlichem āc) und 68 – könnten ihm zuzurechnen sein. Daher wird in der nachstehenden Edition der Text sowohl nach K als auch nach Flacius konstituiert, K wird bei der Gestaltung der Orthographie und in Zweifelsfällen der Vorzug gegeben.
die umgehend und unentgeltlich Kopien der genannten Folia zur Verfügung stellte, bin ich zu großem Dank verpflichtet. 73 Cap. 1, Ambrosii Autperti opera, cura et studio Roberti WEBER (CC Cont. Med. 27B, 1979) S. 910, 36. Auf die hier fehlende Einleitung des cap. 1 verweist von anderer Hand die Marginalie prohemium invenies quasi in penultimo folio, das in K nicht erhalten ist.
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Kritische Edition der Dialogismi
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„Heu, soror Astrea, celesti de Galylea Huc cur venisti, cum celo tuta fuisti ? Infectus morbis viciorum iam perit orbis. Omnis enim virtus viluit sterilis quasi mirtus. Iam nos nullus amat, nos contra quisque reclamat. Est noster finis : Pedibus calcamur Herinis. Sunt facte fortes animarum denique mortes : Tartarei proceres, rectores noctis, alumpni Nequicie, fabri scelerum culpeque magistri, Dampna, doli, fraudes, periuria, furta, rapine, Impetus, ira, furor, odium, discordia, pugne, Luxuries, livor, fastus, invidia, nuge. Is scelerum turbo, viciorum turba, malorum Conventus, numerosa lues et publica pestis, Iam fortis factus nostros exterminat actus. Heu, pudeat nostra terris decreta silere, Quod nostri languescit amor, quod fama tepescens Torpet et a toto viles describimur orbe. Hiis est subiectus populus, plebs, nobile pectus, Presul, prelatus, rex, dux et papa beatus.
fol. 1v
1 in K ohne Überschrift nach zwei Leerzeilen, Dialogismi Veritatis, Adulatoris, Iusticiæ. Primò alloquitur Veritas Iusticiam, ostendens nullum ei locum superesse in terris, posteaquam tam Ecclesiasticus quàm civilis ordo omni scelerum genere perturbetur, qui4 viluit : vilet FLACIUS metrisch korrekt bus potiss. causam det Adulatio FLACIUS 12 livor : korr. aus livos K invidia : infamia FLACIUS metrisch korrekt 19 nobile : FLACIUS, nobłie K 1f. vgl. OV. met. 1, 50 . 3 perit orbis : BERN. MORL. octo vit. 991 . 4 die Messung 6 Pevĭluit auch ALCUIN. carm. 66, 2, 2 und 109, 15, 1 (MGH Poetae 1, 286 und 338) . Herinis : s. ALAN. Anticlaud. 1, 264 Vincimur et dibus calcamur : OV. am. 3, 11, 5 . victas pedibus summittit Herinis und 8, 170 . 8-14 Diese Partie ohne leoninischen Reim (dial. 11 f. jedoch ventrini) stammt aus ALAN. Anticlaud. 8, 162-169 (ed. BOSSUAT, ohne Vers 166) Tartarei proceres, rectores noctis, alumpni / Nequicie, fabri scelerum culpeque magistri, / Dampna, doli, fraudes, penuria, furta, rapine, / Impetus, ira, furor, odium, discordia, pugne, / Morbus, tristicies, lascivia, luxus, egestas, / Luxuries, fastus, livor, formido, senectus. / Is scelerum turbo, viciorum turba, malorum / Conventus, numerosa lues et publica pestis . 12 die prosodische Lizenz invīdia sonst nicht belegt . 16-18 ALAN. Anticlaud. 1, 258-260 (ed. BOSSUAT, Rede der Natura) Heu ! pudeat nostra terris decreta silere, / Quod nostri languescit amor, quod fama tepescens / Torpet et a toto viles proscribimur orbe . 20 vgl. dial. 62 und 186 .
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Iam nos non noscunt nec nostra iuvamina poscunt. Heu, pudeat nostri, clauserunt hostia nostri. Dicere nil veri presumimus atque fateri. Hii dictant iura, faciunt aliis ea dura, Plus tamen a iure vergunt quam tu, Nero dure : Sub specie veri soliti sunt falsa tueri. Istis qui fatur verum, pedibus maculatur, Istis qui loquitur verum, mox fuste feritur. Istis nemo loqui presumit vera, sed o qui Hiis scit adulari magis et ficte famulari, Hinc magis est gratus, quam si sit morigeratus. Regnat adulator aput hos et falsus amator. Dulciter hiis fando, sed dulcius infatuando Ungit, titillat, cor et aures palpo cavillat. Quidquid agit, laudat simulator, eum sibi fraudat, Non sibi se nosse mittit nec noscere posse. Stulta fit insana mens per preconia vana Et fastidit herum, qui vult nimis edere verum. Si quid agit temere, sibi tunc bene fingit habere, Dicit dixisse bene nec melius potuisse, Tam bene, tam vere, quod debet quisque stupere, Quamvis sit falsum, sit ineptum, sit male salsum. Si non palparit, si non maledicta probarit, Si quid honestatis sibi consulit aut probitatis, Mox expellit eum vel dicit eum Phariseum. Decipit omne genus, est falso nectare plenus,
fol. 2r
22 pudeat : davor dux getilgt K 23 presumimus : præsumunt FLACIUS 25 dure : 32 aput : penes FLACIUS metrisch korrekt 33 Dulciter : Dulcius dire K FLACIUS FLACIUS 34 titillat : cantillat FLACIUS cavillat : titillat FLACIUS gegen das Metrum 42 salsum : korr. aus -sa K 45 Phariseum : ph’iseum K 46 est falso : falsoque est FLACIUS 22 Heu pudeat nostri : s. zu dial. 16 . 28 vgl. dial. 176 f . fuste feritur : BERNH. GEIST. palp. 1, 124 (ed. DAUMIUS) pœnarum fuste feritur und GAUT. WYMB. scel. 117 32 adulator … amator : GAUT. (ed. RIGG) Qui vult vera loqui, flagris et fuste fugatur . 34- 42 BERNH. WYMB. scel. 138 (ed. RIGG) Dulcis adulator mense regalis amator . GEIST. palp. 1, 33- 41 (ed. DAUMIUS) Lingo, titillo, cor et aures palpo cavillo. / Quicquid agit, laudo, simulator eum sibi fraudo. / Non sino se nosse, non se sino noscere posse. / Stulta fit insana mens per præconia vana; / Et fastidit herum, qui vult nimis edere verum. / Si quid agit temere vel agat, mihi fingo placere, / Dico dixisse bene, nec melius potuisse, / Tam bene, tam vere, quod debeo iure stupere; / Quamvis sit falsum, sit ineptum, sit male salsum . 43- 45 BERNH. GEIST. palp. 1, 48-50 (ed. DAUMIUS) Si non palparo, si non mala facta probaro, / Si quod honestatis est consulo vel probitatis, / Mox a consilio peregrinus et advena fio .
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Pro lucro modico laudes profundit iniquo, Sicut avis modulans, sic stultum fallit adulans. Est hodie summus regum processus in aula Pestis adulandi bibulis studiosa potentum Auribus instillans anime letale venenum. Huic aule vicio tanta concessa potestas, Ut rerum dominis humanas subtrahat aures.“
ADULATOR A VERITATE CONFUSUS RESPONDET VERITATI 55
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Econtra modulans veritati dicit adulans : „O vos, germane, que fertis nomen inane, Quid tantum furitis ? Nichil estis, iam bene scitis. Hoc bene iam nostis : vobis est publicus hostis Omnis mercator, santrokerus, fenerator. Hii per vos iurant, per vos sua lucra maturant Ac hiis consimiles, qui vos reddunt modo viles. Plus valet in sompnis mea vis, me deligit omnis Presul, prelatus, rex, dux et papa beatus. Cuilibet a tergo iam stas, sis tucior ergo ! Desine vera loqui ! Scis, verum dicit homo qui, Se facit exosum magnis magis ac onerosum. Parce tuis verbis, ne connumereris acerbis ! Parens virtuti nescit bene regibus uti.
48 aves FLACIUS modulans : -du- übergeschrieben K 50 bibulis : bibilis K, 52 vicio : korr. aus vicino (?) K tanta : tanta est GALTER. Alex. und Biblis FLACIUS Tit. nicht als Überschrift abgesetzt K confusus respondet veritati : confuFLACIUS sus à Veritate respondet FLACIUS 57 hostis : am Zeilenende hochgestellt K 60 modo : 61 sompnis : somnis FLACIUS, vielleicht summis gemeint deligit : mihi FLACIUS 63 Cuilibet : Cuius et FLACIUS 65 ac : atque FLACIUS d’ligit K, diligit FLACIUS 66 connumereris : convincaris FLACIUS 47 Romul. rhythm. 2, 25, 28 (ed. HERVIEUX, Les fabulistes latins 2, 748) Pro modico modulucro cupiunt mendacia fari . 48 BERNH. GEIST. palp. 1, 203 (ed. DAUMIUS) . lans … adulans : wie dial. 54 . 50-53 GALTER. Alex. 10, 50-54 Sedes et summus hodie processus in aula / Pestis adulandi, bibulis studiosa potentum / Auribus instillans animae letale venenum. / Huic aulae vicio tanta est concessa potestas, / Ut rerum dominis humanas subtrahat aures . 54 modulans … adulans : wie dial. 48 . die Messung vĕritas auch SEDUL. SCOT. carm. II 56, 1 (MGH Poetae 3, 213) vĕritatis; Carm. var. II 10, 1, 2 (MGH Poetae 4, 1081) Spes, vita, vĕritasque via, lux aurea mundi . 55 germane : veritas und iustitia . nomen inane : SCHUMANN, Hexameter-Lexikon 3, 536 (LUCAN., GAL57 publicus hostis : SCHUMANN, Hexameter-Lexikon 4, 400 (GALTER. Alex. 10, TER.) . 107) . 58 die prosodische Lizenz fĕnerator singulär . 59 maturant : zur prosodischen Lizenz măturant vgl. Carm. de resurr. 3 mătŭravi und 397 mătŭrescant . 62 s. dial. 20 und 186 . 66f. BERNH. GEIST. palp. 1, 130 f. (ed. DAUMIUS) Parens virtuti nefas (Text des Drucks fehlerhaft) modo regibus uti. / Parce tuis verbis, ne connumereris acerbis .
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Si vis adulari, poteris cito magna vocari. Incipe palpare dominos et disce fricare, Incipe fuscare sua crimina, disce probare ! Sic poteris vere dominis regique placere.
DICIT ADULATOR
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Stultus et ingratus Mauricius inveteratus Quam se neglexit, qui tanto tempore rexit ! Nil tamen est fretus, est nescio quomodo letus. Si mihi servisset, aplaudere iam bene scisset, Hunc iam ditassem sibi canoniamque creassem, Si tunc, cum legeret artes loyceque studeret, Es〈se〉t girovagus, auro flueret quasi Tagus, Sciret scurrare nunc et sine fine rogare. Nunc infrunitus et garulus et parasitus Clericus erigitur et redditibus redimitur : Plus palponista placet altercante sophista.
RESPONDET VERITAS ADULATORI
85
Non est sincerum pro truphis linquere verum Nec hominis recti vero de tramite flecti. Est tua doctrina, video, mihi magna ruina.
ADULATOR CUM MAGNA COMMINATIONE REPELLIT VERITATEM DICENS
Numquam compare, numquam mihi vera loquare ! Ni cito discedas, faciam de te cito predas.
fol. 2va
68 magna : ad alta FLACIUS Tit. am Zeilenende hochgestellt K, Pergit Adulator FLACIUS 72 Stultus : S- vergrößert K 75 iam : si FLACIUS 76 canonicumque FLACIUS 77 Si tunc : Quamvis FLACIUS loyceque : logicæque FLACIUS 78 Es〈se〉t … auro : Est erro vagus: auro sed FLACIUS 79 Sciret … nunc : Si sciret scurrare FLACIUS 80 infrenitus K FLACIUS 81 Vers am Rande markiert K et redditibus : mox censibus Tit. fortlaufend im Textverband, jedoch in größerer Schrift K 84 Nec : et FLACIUS Tit. von K nicht als Überschrift abgesetzt 87 cito1 : iam FLACIUS Non FLACIUS discedas : d’scedas K cito2 : cico FLACIUS 69f. BERNH. GEIST. palp. 1, 132 (ed. DAUMIUS) und 132a Incipe palpare dominos, et disce fricare, / Incipe fuscare, sua crimina disce probare (der handschriftlich überlieferte 76 canoniamque : die Messung cā- ist verbreitet . Vers 132a fehlt bei DAUMIUS) . 77- 82 BERNH. GEIST. palp. 1, 133-138 (ed. DAUMIUS) Si tu cum legeres artes, Logicæque studeres, / Esses gyrovagus, flueres auro quasi Tagus (mit irregulärer Messung Tāgus). / Scires scurrari nunc et sine fronte iocari. / Nunc infrunitus et garrulus et parasitus / Clericus erigitur, et redditibus redimitur. / Plus palponista placet altercante Sophista .
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Te pede calcabunt furie vel forte necabunt. IUSTITIE CONTRA AVAROS ET RAPTORES QUERELA
90
Pro lucro avari paras Sacerdotis iam tres aras Quavis in eclesia Et, cum defuncto servitur, Ad tres aras simul itur Ferendo lybamina.
95
100
Si quis nequit hoc explere, Non permititur iacere Infra templi limina. Non est hoc virtutis opus, Sed cordis avari tropus Et falsa devotio. Qui primum hoc adinvenit, Corvus eius rodat cenith In Stigis palatio.
105
Est adhuc genus malignum Hominum, quod non est dignum, Ut dicantur homines. Hii sunt pauperum mambrones, Militelli et barones, Inferni voragines.
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Illis sumus ita care, Quod non volunt ibi stare, Cum nostri fit mencio. Fides istis est ignota, Sed rapina non remota Nec vi iugulacio.
Tit. fehlt K 91 Quavis : Quam vis K 92 Et : Ut K 96 permititur : so K 102 Corvus : Corpus K, am Rand Verweiszeichen / Markierung cenith : zenith FLACIUS 111f. am Rand in von anderer Hand notiert K 114 Vers am Rand markiert K 115 vi iugulacio : ui iuris sublatio FLACIUS mit einer überzähligen Silbe 88 pede calcabunt : die verbreitete poetische Iunktur auch dial. 6 und 129 f . 91 eclesia : Eine vom Reimschema geforderte Strophe vor oder nach der ersten, deren 7pp-Zeile mit eclesia reimt, fehlt. Vielleicht korrespondiert die ebenfalls isolierte letzte Strophe mit ydolatria . 98 hoc virtutis opus : VERG. Aen. 10, 468 f. sed famam extendere factis, / Hoc virtutis opus .
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120
Hic non credit esse deum, Qui punire posset eum, Nec vult ei cedere. Tante sunt inpietatis, Nullus posset loqui satis De ipsorum scelere.
fol. 2vb
CONTRA ADULATORES
Nil plus, numme, de te dicam, Sed invadam inimicam, Que est adulacio. 125
130
Quam mea soror atrivit, Sed confusa ab hac ivit, Ut ego conicio. Nam recessit vulnerata, Pedum accessu fedata Et fugata misere, Que sub scampno se abscondit, Hec verba mihi respondit, Cum hanc cepi querere :
135
„Quid sic taces hic sub scampno ?“ Dixit : „Non sum sine dampno, Ne fiat deterius. En, sic meum opus ago,
116 Hic : zuvor Lücke von drei Buchstaben am Zeilenanfang K 118 credere FLACITit. in eigener Zeile in größerer Schrift K 127 conicio : 9nicio K 131 scampno : -a- unsicher K
US
125 soror : sc. veritas . 128-130 vgl. dial. 86- 88 . 137-145 Es handelt sich um eine Variante jener Erzählung der Gesta Romanorum (cap. 143 in : Die Gesta Romanorum. Nach der Innsbrucker Handschrift vom Jahre 1342 und vier Münchener Handschriften hg. von Wilhelm DICK [Erlanger Beiträge zur Englischen Philologie 7, 1890] S. 83- 85), in der ein magister Virgilius auf Weisung des Titus arte magica quandam statuam in medio civitatis romane errichtet, die Gesetzesbrecher überführt. Ein Handwerker namens Focus droht ihr caput tuum frangam, sollte sie ihn verraten. Ihren Betreibern tut sie daraufhin in einer Inschrift kund: Tempora mutantur; homines deteriorantur; qui voluerit veritatem dicere, caput fractum habebit. Das entsprechende cap. 57 der Gesta Romanorum-Ausgabe Hermann OESTERLEYS (1872, S. 359) gibt als Deutung : Modo, si predicator peccata potentum predicet, statim minas et murmuraciones habebit. Unde Ysaias: Loquimini verba placencia! (Isai. 30, 10). Dort wird freilich die statua nicht zerstört. Vgl. Jacques BERLIOZ, Virgile dans la littérature des exempla (XIIIe – XVe siècle), in: Lectures médiévales de Virgile. Actes du colloque organisé par l’École française de Rome (Rome, 25-28 octobre 1982) (Collection de l’École française de Rome 80, 1985) S. 65-
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Ut Rome fecit ymago, Quam sculpsit Vergilius, 140
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Que manifestare suevit Fures, sed cesa quievit Et os clausit digito. Numquam ultra dixit verum De perdicione rerum Palam nec in abdito. Sic est mihi iam conclusum A palpista os obtusum Hic sub scampno iaceo.“
fol. 3ra
HIC IUSTICIA INVEHITUR CONTRA OMNES VERITATI ET IUSTICIE ADVERSANTES ET EAS PENITUS CONCULCANTES 150
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Ego mater equitatis Pro te sum turbata satis, Soror mea veritas, Cum a Deo sim creata Tecum et in mundum data, Ut per nostras semitas Evitando mundi pestem Ad patrem nostrum celestem Dirigantur populi. Sed, heu, nil iam sumus facte, Ambe in risum redacte Sicut duo cuculi. Post me nullus curat ire Nec a te verum audire
139 Vergilius : Ver- oder Vir- in K gekürzt 143 verum : u’m K, verbum FLACIUS 147 vor os tilgt os cl (?) K Tit. nur durch Paragraphenzeichen markiert K 160 vor duo Platz für drei Buchstaben freigelassen K 162 verum : u’m K, verbum FLACIUS 120, hier 96f. Motivisch verwandt sind die mit Vergil verknüpften Erzählungen von der Salvatio Romae und „Virgils Zauberbild“, s. auch VL2 10 (1999) Sp. 277 f. und 381-384. Zum Erzählstoff Motif-Index of Folk-Literature. A Classification of Narrative Elements in Folktales, Ballads, Myths, Fables, Mediaeval Romances, Exempla, Fabliaux, JestBooks and Local Legends, revised and enlarged edition by Stith THOMPSON, vol. 4 (1957) S. 290f. (K428: „Magic statue betrays a thief by indirection“) . 147 palpista : statt palpanista . 151 Soror : wie dial. 125 . 160 cuculi : s. dial. 256 und zur Bedeutung MLW 2, 2065, 35- 40, das neben unseren Stellen noch AMARC. serm. 4, 17 anführt .
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Hominum perversitas. 165
Si quid quisquam recte patrat, Quod raro fit, huic oblatrat Iuste vie cecitas. Que eramus inmortales, Vulgo sumus iam equales Facte, proch, instabiles.
170
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Facte sumus ut melota Et velut fortune rota Mute et fallibiles. Nec tu audes loqui verum Nec mihi fas et sincerum Ius dictare miseris, Quia, si verum loquaris, Palmis, fuste bacularis, Nisi falso cesseris.
180
185
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Nichil sunt virtutes cuncte, En, iacent quasi defuncte, Nullibi est caritas. Pietas iam terga vertit Et fides sub scampno stertit, Superbit humilitas. Nullus fervet caritate, Rex, presul nec tu, prelate : Si 〈qui〉 sunt, tunc pauculi.
fol. 3rb
Omnes post nummum declinant, Toto nisu huc festinant, Ut sint pleni loculi. Ob hoc ego cum legistis, Advocatis et iuristis, Quos cecant munuscula, Indefesse litem gero,
173 verum : u’m K 174 et : fehlt K 176 si verum : viell. in verum si zu ändern 181 Nullibi : Nullibili K 182 Pietas : Metus et FLACIUS 183 scampso K, scamno FLACIUS 187 tunc : tunc at FLACIUS 188 numum FLACIUS 193 fehlt bei FLACIUS , der die Lücke anzeigt numuscula K 176f. s. dial. 28 . 186 ähnlich dial. 20 und 62 . summus rex est hoc tempore Nummus .
188 Carm. Bur. 11, 1 (48) In terra
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123
Cur pervertunt iura, quero, Nummo dantes oscula. Quivis michi sic redicit : „Sed quem nummus iam non vicit Vel quis spernit munera ?“
200
205
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Tante est virtutis munus, Quod rex, dux, comes, tribunus Ob hoc agunt perpera. Nummi virtus sic explevit, Quod virtutes abolevit Et promovit vicia. Sit quis vilis et nummosus, Reputatur virtuosus. O quanta demencia ! Et si nondum ara nummo Fabricata sit in summo, Tamen plus diis colitur; Si nondum canonizatus Nummus sit nec sit beatus, Sibi genu flectitur.
215
220
Quanta, numme, operaris, Quod plus quam Deus amaris A clero et laycis ! Iam te sine nullus sapit, Per te homo, quod vult, capit, Quod vis, totum perficis. Olym papa, cardinalis Nichil habebat venalis, Gratis dabat omnia.
fol. 3va
197 sic mihi FLACIUS 198 mummus K 199 munera : am Rand wiederholt K 202 perperam FLACIUS 203 excrevit FLACIUS 206 Sic FLACIUS 212 canonisatus FLACI213 nec sit : neque FLACIUS 214 Sibi : Ipsi FLACIUS 216 amaris : am Rand wieUS 219 capit : am Rand wiederholt K 221 Olym : -lderholt K 217 et : et a FLACIUS übergeschrieben K cardinalis : korr. aus -les K 222 Nichil habebat : Nil habebat rei FLACIUS mit einer überzähligen Silbe 195 pervertunt iura : vgl. GAUT. WYMB. scel. 30 (ed. RIGG) Fraus, inpostura, pervertunt omnia iura . 206f. Carm. Bur. 11, 47 Quem genus infamat, Nummus : „Probus est homo!“ clamat . 214 dial. 281 f . 223 Gratis dabat omnia : s. dial. 229 und Carm. Bur. 41, 11, 4- 6 .
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Prebendas et presulatus Dabat pro Deo rogatus, Non curabat xenia. Iam mos iste est perversus, Novus peior est emersus : Nil gratis dat curia.
230
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Nisi pro te roget nummus, Si sis philosophus summus, Papa dicit : „Va via !“ Si intercedet florenus Vel de auro saccus plenus, Dicit : „Fiat subito !“ Postquam mos increvit talis, Quod papa sic est venalis Nichil dans ex merito,
240
Omnes currunt catervatim, Aurum pape dant certatim : Vide hanc incuriam !
CONTRA SACERDOTES AVARICIAM FACIENTES
Sit Tersites sive Davus Male natus seu ignavus, Si offert pecuniam, 245
250
Mox est certus de prebenda, Cum hic non sit sine menda : Vide, fiunt qualia ! Quot iam papa tales sevit, Si tot iste, qui nunc crevit, Mittet de Ytalia,
232 Va via : FLACIUS setzt ein Verweiszeichen und erläutert am Rand id est, Apage 233 intercedet : viell. in -at zu korrigieren 237 Vers am Rand markiert K 240 dant certatim : korr. aus certatim dant K 241 Vide : korr. aus Vede K iniuriam FLACIUS Tit. in eigener Zeile, jedoch nicht hervorgehoben K 242 danus K 243 sive FLACIUS 230-235 Carm. Bur. 42, 5 und Carm. Bur. 44 (Evangelium secundum marcas argenti) . 231 philosophus : GALTER. Moral.-sat. Gedichte (ed. STRECKER) 1, 11, 2 f. sapiensque conculcatur / si manus ere vacet; vgl. GAUT. WYMB. scel. 9 (ed. RIGG) Nunc sunt divicie pars maxima philosophie . 234 Carm. Bur. 41, 25, 4 intrat saccus ere plenus . 242 Tersites … Davus : IOH. GARL. epithal. 9, 261 f. Res amor est censens Tersitem Tydea, Davum / Aiacem .
Flacius und die Varia doctorum virorum poemata
125
Feremus querelas Iovi Sicut terra, quando novi Creabantur Febuli, 255
Cum ob istos nil valemus Et si plures expectemus, Erimus ut [duo] cuculi.
fol. 3vb
Sic hoc scelus inscestavit Multos summos et fedavit Pragensem eclesiam, 260
265
Ad quam iam tot sunt promoti alieni et ignoti, Quod patimur nausyam. Unde sunt vel cuius nati Vel qua stirpe generati, Nemo novit dicere. Hoc scimus, quod sunt parati Plus quam hii, qui hic sunt nati, Statim grossos rapere.
270
Non querit, quis sit patronus Nec quod servitutis honus Hec habet eclesia. Raro tamen hanc accedit Et, si venit, mox recedit, Non vult pati tedia.
275
280
Numquam ad chorum veniret, Nisi nummos ibi sciret Et ni esset porcio. Sic ad missam cum venitur Et tibi, Christe, servitur, Grossus est occasio.
CONTRA NUMMUM
Sed quem pudet incurvare Tibi genu, numme care,
257 inscestavit : so K, zur Schreibweise STOTZ, HLSMA 3, VII § 154.1 mos K Tit. am Rand markiert K 251-253 vgl. OV. met. 2, 272-303 . 256 cuculi : s. zu dial. 160 . von Prag . 281f. incurvare … genu : dial. 214 .
276 mum-
259 Pragensem :
Peter Orth
126
Cum sis tam mirabilis ? 285
De indigno facis dignum, Demis de cruce malignum, Nulli es odibilis. Multis tamen es amarus, Quamvis cunctis sis tam carus, Quorum perdis animas,
290
295
Qui propter tui amorem Et mundi vanum honorem Penas ferunt plurimas.
fol. 4ra
Tu horendos habes mores, Santrokos, usuratores Miro modo decipis. Hii pro te se dant Plutoni Et proponunt racioni, Sic cum istis desipis.
CONTRA SANTROKONES ET USURARIOS 300
O tu miser santrokere, Quam multos cogis egere, Male quos evisceras ! Illa tamen manent tecum, – Quis hoc esse dicat equum ? – Que sepe vendideras.
CONTRA IUDICES ET EORUM CATULOS 305
310
O iudex et tu iurate, Quantum ego premor a te Et a tuis famulis ! Tu obiurgas innocentem Et prosternis inpotentem, Heu, cum tuis catulis. Tu iustorum es opressor, Quod seris, promtus fers messor Et clerum persequeris.
293 horendos : so K 294 Santrossos FLACIUS 297 proponunt : præ- FLACIUS Tit. in eigener Zeile, jedoch nicht hervorgehoben K Santrossones FLACIUS 299 Santrossere FLACIUS 303 fehlt K Tit. in eigener Zeile, jedoch nicht hervorgehoben K 305 iudix K 311 opressor : so K 312 fers : fehlt K 313 Et : Tu FLACIUS
Flacius und die Varia doctorum virorum poemata
315
127
A quo tua fluit salus, Cur sibi es ita malus ? Ni cito cessaveris, Pena tua te sequetur, Deus eum ulciscetur Te prosternens fulmine.
320
325
Et post hoc mittet ad orcos, Ut Plutonis pascas porcos Pro malo regimine. Tu es, numme, falsi causa, Per te iurant sine pausa Falsi false homines. Per te clerus infamatur, Quod sit avarus, clamatur. Gezyte et Symones
330
fol. 4rb
Nullum sacramentum gratis Dant, ni sibi fiat satis Per te, numme misere. O sacerdos, qui sic vendis Sacramentum, non attendis, Quam hoc facis temere.
335
Induxisti novum scelus, Quod non est virtutis zelus, Sed plus ydolatria.
315 sibi : ei FLACIUS 317 Pena : korr. aus -e K vor te getilgt s K 320 Et post : Præter FLACIUS 324 pausa : causa FLACIUS 325 false : falso FLACIUS 328 Geizyte (i übergeschrieben) K 330 ni sibi : nisi K 331 numme : korr. aus m- K 319 fulmine : s. dial. 251 Iovi . 328 Gezyte … Symones : Simonisten, vgl. Carm. Bur. 8, 2, 5- 8 nach Giezi (4. Reg. 5, 20-27) und dem Simon magus der Apostelgeschichte (Act. 8) .
Ronald Ernst Diener
Zur Methodik der Magdeburger Centurien* Matthias Flacius hielt sich während der anstrengenden Monate des Jahres 1556 vom Februar bis über den Sommer hinaus in Magdeburg auf. Es waren die Monate, in denen die methodischen Grundlagen des Projektes einer neuen Kirchengeschichte entwickelt wurden. Ein besonderes Leitungsgremium für dieses Projekt war schon früher eingerichtet worden, das sogenannte Collegium. Es gab bereits ausgehandelte Bürgschaften und Zusagen an Förderer und hilfsbereite Bibliotheken, daß entliehene Bücher und Handschriften auch wieder zurückgegeben würden. Die Zuständigkeit des Collegiums wurde auf finanzielle Vereinbarungen und die Buchhaltung ausgedehnt, ja, auf die generelle Oberaufsicht über das Projekt. Die genaue Prüfung der Beratungen läßt nicht erkennen, daß Flacius dabei eine führende Rolle zukam, vielmehr deutet alles daraufhin, daß die Hauptverantwortlichkeit für das Projekt ganz entschieden auf den Superintendenten des Magedeburger Rats, also Johannes Wigand, und auf Matthias Judex überging, einen Diakon in der von Wigand geleiteten Pfarre St. Ulrich. Als Flacius 1557 Magdeburg verließ, um an die Universität Jena zu gehen, blieb das Projekt unter Wigands Kontrolle: Die Magdeburger Centurien wurden, wie Wigand sagte, „in meinem Haus“ geschrieben. Damit die Arbeit an der Kirchengeschichte voranschreiten konnte, mußte das Collegium eine Vereinbarung über den Inhalt und die Umsetzung einer Methodik treffen. Andernfalls hätte sich das Projekt hauptsächlich im Sammeln von Material und im Kopieren von Quellen erschöpft, ohne daß jemals ein Ergebnis publiziert worden wäre.
*
Dieser Beitrag wurde eigens für den vorliegenden Band erstellt. Es handelt sich um die vom Autor genehmigte, gekürzte und durch wenige Umstellungen bzw. Übernahmen aus anderen Teilen des Werkes sowie Literaturnachträge erstellte Neufassung des Kapitels „4. Methodology“ aus der ungedruckten theologischen Dissertation Ronald E. Dieners, die 1978 unter dem Titel „The Magdeburg centuries. A bibliothecal and historiographical analysis“ von der Harvard Divinity School in Cambridge (Mass.) approbiert wurde. Übersetzung und Bearbeitung besorgte Arno Mentzel-Reuters.
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Ronald Ernst Diener
Zur gleichen Zeit als die methodische Konzeption formuliert wurde, erreichten die Auseinandersetzungen zwischen den Adiaphoristen und den Gnesio-Lutheranern ihren Höhepunkt. Die methodischen Probleme wurden im Februar und März des Jahres 1556 in Angriff genommen. Die glücklich verlaufenden Verhandlungen zwischen den sich widersetzenden Magdeburgern und den ihnen verbundenen Gegnern des Interims begannen zur gleichen Zeit und zogen sich bis in den Sommer 1556 hin, so daß sie sich im Januar 1557 in geschlossener Front gegen die theologische Fakultät von Wittenberg stellen konnten, insbesondere gegen Philipp Melanchthon und seinen Schüler Georg Major (1502–1574)1. Diese beiden voneinander getrennten Beratungen und Verhandlungen machen das Frühjahr 1556 zu einem Angelpunkt sowohl für die Entwicklung der Magdeburger Centurien wie für den Adiaphorismusstreit. Die Vorbereitungen für eine Methodik und die endgültige Lösung der Hauptstreitpunkte können von ihren Anfängen (vor November 1552) bis zum Frühjahr 1556 nachgewiesen werden. Während das Exzerpieren historischer Texte wesentlich früher begann, während Sammelbände bereits eifrig mit Zitaten gefüllt wurden, mied Flacius die Frage der wirklich arbeitsfähigen Organisation der „ewigen Kirchengeschichte“. Er brachte stattdessen seinen Catalogus testium veritatis 2 heraus, ein bewundernswertes Buch voller Zitate. So war es das Collegium, das in einer Reihe von Sitzungen während der Monate Februar und April 1556 die Probleme lösen mußte. In drei zentralen Dokumenten ist das Vorgehen des Collegiums festgehalten. Diese drei Dokumente sind (1) die Scheda, (2) die Consultatio und (3) der Methodus. Diese drei Dokumente und mehr noch die verschiedenen Vorstufen und Begleitpapiere des die Genese abschließenden Methodus sind als Arbeitspapiere des Collegiums zu verstehen, Vorschläge an das Collegium (vor allem von Flacius), von seinen Mitgliedern zu begutachtende Entwürfe oder Ergebnisse von Diskussionen, Beratungen oder Einzelvoten. Sie blieben die Arbeitspapiere ihrer Autoren und wurden mit Randbemerkungen versehen, verbessert, kopiert und wieder kopiert. Mit jedem dieser Dokumente wurde ein Versuch gemacht, eine konkrete historische Situation zu bewältigen, zu der Datierungen, Orte und Teilnehmer gehören, und so müssen diese Dokumente beschrieben werden im Hinblick auf ihren Inhalt und ihre Wirkung. Sie liegen in verschiedenen Variationen zusammen mit
1
Zu ihm vgl. Georg Major (1502–1574). Ein Theologe der Wittenberger Reformation, hg. v. Irene DINGEL und Günther WARTENBERG (Leucorea. Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 7, 2005). 2 Erstauflage FLACIUS, Catalogus1 (Basel 1556), erweiterte zweite Auflage von 1562: FLACIUS, Catalogus2 .
Zur Methodik der Magdeburger Centurien
131
Begleitdokumenten vor. Diese lassen sich in drei Teile gliedern3. Die erste bildet der früheste Entwurf, der im folgenden mit dem Kurztitel Scheda belegt wird, die zweite besteht aus einem Traktat des Gottschalk Praetorius mit dem Titel De utilitate ecclesiae historiae4. Die dritte und umfangreichste schließlich, der dieser Beitrag hauptsächlich gewidmet ist, wird von einer Folge von Dokumenten gebildet, die sich alle mit der Frage der Methodik beschäftigen; nämlich den Entwürfen, die zu dem das gedruckte Werk einleitenden Methodus führten und der Kritik, die nach der Abfassung dieses Konzeptes verhandelt wurde. Sämtliche Texte sind in der heutigen Sammelhandschrift Cod. 11.20 Aug. 2° der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel überliefert. Dies ist zum Teil auf die Tätigkeit des Buchbinders zurückzuführen. Der zeitlich älteste Entwurf, das Iudicium de methodo von Flacius, wurde dabei von den anderen Dokumenten abgetrennt 5. Nicht dieser Text, sondern die Consultatio (vgl. dazu weiter unten S. 135 ff.) bildete für die Centuriatoren den Ausgangspunkt. Das Ziel war ein vollständiger Katalog der Loci communes. Der vorliegende Beitrag will diese Folge von Entwürfen vorstellen und in ihrer Stellung zueinander durchleuchten. Zusätzlich muß die methodische Konzeption der Magdeburger Centurien im Gegensatz zu der gleichzeitigen Umgestaltung der Historia Carionis durch Philipp Melanchthon gesehen werden.
Die Scheda Das erste Konzept für eine monumentale protestantische Kirchengeschichte stammte von Flacius. Es wurde bereits mehrfach gedruckt6. Seine Hauptthemen blieben im Grundsatz auch später unverändert. Es handelte sich um drei Punkte. Zum ersten der fortschreitende Verfall der Kirche, zweitens, im Gegenzug, die dagegen arbeitende Erneuerung der Kirche, und drittens als dialektische Synthese der beiden die Siebentausend, die dem Antichristen und seinen Zielen stets widersagt und sich Christus und der wahren Frömmigkeit zugewandt haben. Diese Themen treten in ihrer Eigenständigkeit schärfer hervor, wenn man sie mit Melchanthons Historiographie 3
Zum Ganzen vgl. die Heidelberger Diss. von Heinz SCHEIBLE, Der Plan der Magdeburger Zenturien und ihre ungedruckte Reformationsgeschichte (1960) S. 39–80. 4 Als Autograph überliefert in HAB Wolfenbüttel 11.20 Aug. 2°,128r–136r und in einer Abschrift (ebd. fol. 71r–76r). Praetorius ging von einer Anordnung secundum seriem temporum aus. Vgl. DIENER, Centuries S. 530, zur allgemeinen Bedeutung SCHEIBLE, Plan (wie Anm. 3) S. 48. 5 Er findet sich fol. 120r–126v, die anderen Dokumente durchgängig auf fol. 12v–38v. 6 Zuletzt: DIENER, Centuries S. 529, Nachweis und Kritik früherer Drucke ebd. S. 527.
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vergleicht, wie er sie in den beiden antithetischen Vorworten zur Historia Carionis formulierte (1558, 1560)7. Melanchthons Vorrede von 1558 verweist auf eine Geschichte des Glaubens (die Gläubigen werden errettet, die beständig zu Gott emporgeschrien haben), eine Geschichte voller frommer Vorbilder des christlichen Lebens, der Auflösung historischer Kontroversen im Konsens, der Ausdehnung der Macht des Papsttums auf weltliche Herrschaft, eine Geschichte des Islam, den Melanchthon als Erben des Arianismus ansah, und schließlich eine Geschichte der Auseinandersetzungen des östlichen Patriarchats mit dem westlichen Papsttum. Die Vorrede von 1560 hingegen entwirft eine Geschichte, die nach-augusteische und christliche Autoren abwertete, eine Geschichte, die aufdeckte, daß die Epoche des Mittelalters an sich keine positiven Aspekte hatte und die aus der Sicht der ersten und reineren Kirche zu studieren war. Der ursprüngliche Plan des Flacius sah vor, die historischen Quellen in sechs Kategorien zu gliedern und anzuordnen: 1) die allerältesten (vorgregorianischen) Kirchenordnungen (Liturgie); 2) die Verfolgungen und Gerichtsverfahren gegen die Gläubigen; 3) die Schriften der Gläubigen gegen den Antichrist; 4) die Schriften der Papisten gegen die Rechtgläubingen; 5) die Chroniken und Annalen, die als Quellen den religiösen Unfrieden bezeugen; 6) schließlich die Auswertung mündlicher Überlieferung. Der erste Punkt, die alten Kirchenordnungen, war äußerst faszinierend – nicht etwa weil es eine historiographische Neuigkeit gewesen wäre und auch nicht etwa infolge einer Ideologie der lex orandi lex credendi, sondern weil mit dieser Eröffnung der gesamte Plan fest im Kampf gegen das Interim verankert wurde. Auch hier sind die zeitlichen Koinzidenzien wichtig. 1550/51 befaßte Flacius sich mit den Thesen von Michael Helding, damals Titularbischof von Sidon in Palästina, Mainzer Weihbischof und Prediger auf dem Reichstag von Augsburg von 1548. Dieser spätere Bischof von Merseburg hatte 1549 fünfzehn Predigten über die Heilige Messe veröffentlicht 8. Hel-
7
Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia, ed. G. BRETSCHNEIDER et H.E. BINDSEIL (Corpus Reformatorum 9, 1855) S. 531–538 bzw. 1075–1077. Die historiographisch relevanten Ausführungen auf S. 535–537 und 1075–1077, in der ersten postumen Ausgabe des Chronicon Carionis (Wittenberg 1564) sind diese Stücke hintereinander als Epistola dedicatoria (fol. A2r–B4r) sowie als Einleitung zum ersten Buch (Bl. B4v, S. 1– 6) gedruckt. 8 Michael HELDING, Von der hailigisten Messe. Fuenffzehen Predige, zu Augspurg aff dem Reichstag/im Jar M. D. XLVIII. gepredigt.... Ingolstadt: Alexander Weissenhorn 1549. Angehängt wurden weitere Predigten, die nicht auf dem Reichstag gehalten wurden. Zur Person vgl. Erich FEIFEL, Der Mainzer Weihbischof Michael Helding (1506– 1561). Zwischen Reformation und katholischer Reform (Institut für Europäische Ge-
Zur Methodik der Magdeburger Centurien
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ding war einer der Autoren des Interims, das Kaiser Karl V. auf dem Augsburger Reichstag veröffentlicht hat. Höchstwahrscheinlich konnten die Zuhörer von Heldings Predigten sie leicht in den breiteren Kontext der Auseinandersetzungen um die Messe unter den besonderen Bedingungen des Interims einordnen. Flacius antwortete mit unverhülltem Zorn in zwei Traktaten auf Helding 9. Diese fundamentale Auseinandersetzung markierte einen wesentlichen Konfliktpunkt zwischen den Gnesio-Lutheranern und den kaiserlichen Interimisten. Zusätzlich wurde Flacius’ Empörung gesteigert, da die Interimisten – sowohl durch ihre katholischen wie ihre evangelischen Vertreter – die historischen Gegebenheiten verfälschten, ohne dem einfachen Mann Gelegenheit zur Überprüfung der ihm vorgesetzten Darstellungen zu geben10. Die Christen in Augsburg und anderen süddeutschen Städten hatten keine Möglichkeit, den Sanktionen des Interims zu entkommen: Ein reicher Mann wie Ulrich Fugger (1526–1584), Sohn des Reichsgrafen Raymund Fugger, konnte einfach von Augsburg nach Heidelberg umsiedeln. Wie aber sollte sich ein Lutheraner verhalten, der wenig begütert war? Die Gegner des Interims im deutschen Süden litten schwer unter der Macht der Interimisten, entweder unter physischer Gewalt oder durch das ihnen aufgezwungene Exil, während die Theologen in Wittenberg verkündeten, daß die Unterschiede in der liturgischen Praxis unerheblich seien, sozusagen Ansichtssache, die durch die kirchlichen Autoritäten gelöst werden könnten: eine Angelegenheit, die weder durch Gottes Wort ausdrücklich befohschichte Mainz. Vorträge 33, 1966), ferner NDB 8 (1969) Sp. 466f.; Friedrich-Wilhelm BAUTZ in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 2 (1990) Sp. 696–698. 9 Zwey Capitel Polydori Vergilij von Namen und Stiffern der Mess [Magdeburg: Christian Roedinger, 1550]. Die entscheidende Passage am Ende des ersten Abschnittes lautet: die vnerfarnender Historien leichtlich betriegen/ das sie meinen/ alle Papistische grewel haben von Christus zeiten her geweret/ vnd sind von ihm vnd seinen Aposteln eingesatzt (Zwey Capitel, S. A2r). Die fällige Korrektur der Kirchengeschichte wurde elf Jahre später in der sechsten Centurie vollzogen; die Angelegenheit war so bedeutsam, daß sie das Einführungskapitel zur gesamten Centurie ausfüllte (MC VI Sp.16, 24–31). Der zweite Traktat erschien in zwei Druckausgaben. Die hier zugrundegelegte ist Vermahnung Matt. Flacij Illyrici zur Gedult vnd Glauben zu Gott .... [Magdeburg: Christian Roedinger 1551]. 10 FLACIUS, Vermahnung (wie Anm. 9) fol. *3r. Heinz SCHEIBLE, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 183, 1966) S. 15 führt die Traktate gegen Helding als Beispiele von Flacius’ Interesse am historischen Texten an, zeigt jedoch keine genauere Kenntnis der Auseinandersetzungen um die Einsetzung der Messe im Zusammenhang mit dem Interim. Auch PREGER, Flacius 1 (1859), S. 127–130 (zu Helding), und 2 (1861), S. 413–415 (zur Historiographie der Centurien) stellt keinen Zusammenhang her. OLSON, Flacius S. 75–77 berichtet ausführlich über Helding; einen Zusammenhang zur Scheda, Olson ebd. S. 259 behandelt, stellt jedoch auch er nicht her.
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len noch von ihm verdammt war. Damit waren die Vertreter des Interims adiaphora (Unterschiedslose). Daraus ergab sich das Schimpfwort Adiaphoristen, das Flacius für diese Haltung verwendete. Flacius suchte in der ‚Vermahnung‘ nachzuweisen, daß Helding kein Verständnis für Theologie oder Geschichte habe: Biblische und historische Texte wurden von Helding wie loci communes im mittelalterlichen Sinne, nämlich als Markierungen oder Schlagworte verwendet, um die herum beliebige Interpretationen gebaut werden konnten ohne Rücksicht auf den Kontext oder die Logik oder gar den christlichen Glauben und die Menschlichkeit 11. Deshalb kam der vorgregorianischen Liturgie ein führender Platz im Konzept des Flacius zu, das er für die Quellen der historischen Forschung entwarf. Der Adiaphorismusstreit, insbesondere die Frage nach Riten und Zeremonien, war ganz eng verbunden mit der Historiographie des Flacius. Dieser Streit setzte sich nach dem Tod des Flacius bis zur Konkordienformel von 1577–1579 fort12, ja darüber hinaus im Indifferentismus des 17. Jahrhunderts. Seine Vorläufer bewegten sich parallel zur Entwicklung der methodischen Anlage der Magdeburger Centurien. Die Verfolgung der Gläubigen und „oral history“ als Quellenform waren Themen, die Flacius’ persönlicher Lebenserfahrung entsprachen. Er lernte Martin Luther und die deutsche Reformation durch Baldo de Lupetino (ca. 1492–1556)13 kennen. Baldo war ein Vetter von Flacius’ Mutter und Franziskanerprovinzial. Zwischen 1543 und 1555 wurde er wegen seines Glaubens dreimal inhaftiert und schließlich zum Tode verurteilt. Am 17. September 1556 wurde er in Venedig ertränkt. Jahrelang hatte Flacius Appellationen zugunsten seines Onkels an den venetianischen Senat organisiert – vergeblich. 11
Heldings Entgegnung in der Einleitung zu seiner Brevis instructio.... (Mainz: Ivo Schoeffer 1550), fol. A5r–A6r verwendete als Hauptargument die „Tatsache“, daß Flacius ein renitenter Ausländer sei, der von Heimat und Vaterland wegen unaussprechlicher Verbrechen vertrieben worden sei. Vgl. Oliver OLSEN, The ‚Missa Illyrica‘ and the Liturgical Thought of Flacius Illyricus (Diss. Hamburg 1966) über die liturgiologischen Auseinandersetzungen der fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts, die demnach nicht bloß aus historischem oder antiquarischem Interesse geführt wurden, sondern, zumindest für einige unglückliche Seelen, als eine Frage von Leben oder Tod. 12 Vgl. Irene DINGEL, Flacius als Schüler Luthers und Melanchthons, in: Vestigia Pietatis. Studien zur Geschichte der Frömmigkeit in Thüringen und Sachsen (Fs. Ernst KOCH), hg. v. Gerhard GRAF, Hans-Peter HASSE u.a. (Herbergen der Christenheit, Sonderbd. 5, 2000), S. 77–93; dies., The Preface of the Book of Concord as a Reflection of Sixteenth-Century Confessional Development, in: Lutheran Quarterly 15 (2001), S. 373– 395. 13 Zu ihm vgl. Frederic C. CHURCH, The Italian Reformers 1534–1564 (1932), S. 148– 149; Theodor E LZE, Geschichte der Protestantischen Bewegungen und der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Venedig (1883) S. 19–22; OLSON, Flacius S. 32 und 225– 229.
Zur Methodik der Magdeburger Centurien
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Flacius fühlte sich außerdem den slawischen Protestanten eng verbunden, insbesondere jenen in Böhmen. Die päpstlichen Verbrechen gegen die Utraquisten standen Flacius als schreckliche Warnung vor Augen: Kompromisse und Verhandlungen schienen nach dieser historischen Erfahrung nutzlos, ja grundfalsch. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Historiographie, die in der Scheda entwickelt wurde, nicht aus philosophischer Überlegung entwuchs – nirgends findet sich ein Hinweis, daß Flacius die zeitgenössische philosophische Debatte über Historiographie auch nur zur Kenntnis nahm. Vielmehr wuchs der Entwurf aus der Verbindung seiner eigenen persönlichen Erfahrungen und seiner aufkeimenden Bibliophilie.
Die Consultatio Ende Februar oder Anfang März 1555 teilte Flacius Caspar von Nidbruck mit, daß der überarbeitete Plan für sein historiographisches Projekt, die Consultatio ad scribenda accurata et erudita historia ecclesiae, in qua potissimum doctrinae ac religionis forma, quo tempore ac loco qualis fuerit, diligenter exponetur14 niedergeschrieben sei und für die Gewinnung von Geldgebern verwendet werden könne 15. Die schwierigen Beziehungen zwischen Flacius und Nidbruck wurden allerdings dadurch strapaziert, daß der Illyricus es verabsäumte, sich mit Nidbruck zuvor darüber abzusprechen und nicht einmal – was doch der einfachsten Höflichkeit entsprochen hätte – ihm eine Abschrift zuzusenden. Dies geschah nicht einmal, als Flacius sich an einen Hof wandte, an dem Nidbruck höchstes Ansehen genoß: den Hof Ottheinrichs von der Pfalz (1502–1559)16. Da der von Schottenloher veranstaltete Druck der Consultatio allgemein zugänglich ist, kann von einem neuerlichen Abdruck abgesehen werden. Flacius stellte mit Nachdruck heraus, daß Kirchengeschichte nicht in Schwarzweißmalerei verfallen dürfe, sie sei perpetua varia ac multiplex 14
Intitulatio nach HAB Wolfenbüttel, 10.20 Aug. 2°, fol. 4r. Der Text der Consultatio nach einer Kopie aus der Heidelberger Palatina (jetzt Biblioteca Apostolica Vaticana Cod. pal. lat. 1567, fol. 37r–45v) gedruckt bei Karl SCHOTTENLOHER, Ottheinrich und das Buch (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 50/51, 1927) S. 147–157. Zu Varianten zwischen beiden Abschriften vgl. DIENER, Centuries S. 532f. 15 Text bei Victor BIBL, Die Briefwechsel zwischen Flacius und Nidbruck. Aus den Handschriften 9737b, i und k der k. und k. Hofbibliothek in Wien, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 17 (1896) S. 1–24, hier Nr. 8, S. 21–24. Das Originalschreiben ist undatiert. 16 Zur Person Klaus REICHOLD, Der Himmelsstürmer. Ottheinrich von Pfalz-Neuburg (1502–1559) (2004); Pfalzgraf Ottheinrich. Politik, Kunst und Wissenschaft im 16. Jahrhundert, hrsg. von der Stadt Neuburg an der Donau (2002).
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lucta veritatis cum errore, lucis cum tenebris in omnibus doctrinae partibus17. Gerade weil die Gnesio-Lutheraner im Kampf gegen Veränderungen an der Evangelischen Kirchenordnung ihr Interesse von den Riten und Zeremonien zum Dogma hin verlagerten (z.B. in Auseinandersetzung mit den Glaubensformeln eines Georg Major, Andreas Osiander oder Caspar Schwenckfeld 18), konnte sich innerhalb von drei Jahren auch die Zielsetzung für eine Kirchengeschichte von einem allumfassenden Interesse an Liturgie auf ein neues Gebiet verschieben: die Dogmatik. Das heißt, daß sich der Interessensschwerpunkt von der Entwicklung der Kirchenordnung zu einem Corpus doctrinae verlagerte und der Schwerpunkt in der Kirchengeschichtsschreibung entsprechend mitwanderte19. Im Hinblick auf den Nutzen (utilitates) der Kirchengeschichte stellte Flacius vier Punkte heraus: (1) daß die evangelische Lehre und nicht die korrumpierte papistische die ursprüngliche sei20; (2) daß die Argumentationen der Kirchenväter für die neue Auseinandersetzung (z.B. mit den Schwarmgeistern und Wiedertäufern) zugänglich sein sollten; (3) daß die Lehrer und Lenker der Gemeinden Grundkenntnisse über die alte Kirche haben müßten; (4) daß die Kirchengeschichte selbst ein Kompendium, ja ein Schatz (thesaurus), des Denkens und der Worte der Väter sein könne 21. Seine Darlegungen sind in erfrischender Weise frei von dem üblichen Moralisieren und den didaktischen Belehrungen über die Fähigkeit der Ge17
SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 14) S. 149. Vgl. SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 14) S. 156: agam contra novos seductores: Adiaphoristas, Osiandristas, Schwenckfeldios et alios, quoniam nemo resistere vult, me id facere est necesse. 19 Die beiden modernen Analysen von Otto RITSCHL, Dogmengeschichte des Protestantismus (1908–1927), 2,1, S. 325–327, und Hans Emil WEBER, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus (1937–1951) 2., passim, werden der zentralen Frage nach den Eigenheiten der Wandlung des Interesses während des Interim- bzw. Adiaphoristenstreites nicht gerecht. Letztlich hängen sowohl Ritschl wie Weber an psychologischen Argumenten. Ritschl betont in seinen Schlußfolgerungen über Flacius’ Empörung und Eifersucht gegen seine früheren Kollegen in Wittenberg die emotionale Seite. Webers Abhandlung ist philosophischer ausgerichtet, wird aber gleichermaßen psychologisierend, da sie Flacius’ scharfen Subjektivismus als Ursprung des „Problems“ ausmacht. Flacius’ eigene Ansicht jedoch war, daß die Philippisten der Kirche übel mitspielten, indem sie religiöse Grundsätze in den Verhandlungen am sächsischen Hof verrieten, jedoch öffentlich bestritten, irgendwelche Zugeständnisse gemacht zu haben. Seine Streitsucht, so sagte er, entstamme dem Zwang zur Selbstverteidigung; vgl. Conrad SCHLUESSELBURG, Catalogus haereticorum, 12. in quo Anabaptistarum impiorum errores blasphemi repetuntur (1599) S. 810f. 20 Das Argument wurde in der Scheda umgekehrt verwendet. Hier hatte Flacius bestritten, daß die papistischen Ansprüche korrekt waren; nunmehr vertrat er, daß „unsere“ Ansprüche gerecht, die der Papisten falsch seien. Die Consultatio argumentiert damit aus rhetorischer Sicht wirksamer. 21 Vgl. SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 14) S. 151f. 18
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schichte, Weisheit zu vermitteln oder gute Sitten durch Exempla zu vermitteln, wie sie in Melanchthons Historiographie vorherrschen. Die Gliederungsvorschläge – also die Vorläufer der späteren neun Loci communes der Centurien – wurden im Prinzip aus jenen der Scheda entwickelt. In der vergleichenden Gegenüberstellung des Wortlautes beider Entwürfe kann man sofort erkennen, daß die Planungen in den drei dazwischen liegenden Jahren an Reife und Verfeinerung gewonnen hatten. Die folgende Übersicht nennt die vier Punkte der Scheda recte und ihre Zählung ohne Klammern; die Zusätze und Varianten der Consultatio sind kursiv bzw. geklammert: (1.) omnes theologici scriptores, praesertim vetustiores, tum impressi hactenus, tum non impressi conquirendi essent. (2.) omnes historici rerum post Christum actarum gestarumque sive editi sive non editi. 1. (3.) ut aliquid magis in specie indicem, omnes vetustiores Agendae [agendae vetustissimae] praesertim autem, quae ante Gregorium magnum in usu fuerunt [fuissent]. 2. (4.) inquisitiones et processus contra pios homines ante haec tempora facta [facti]. 3. (5.) scripta a piis hominibus contra antichristum aut eius abominationes composita, quorum multa passim adhuc in vetustis [veteris] bibliothecis. 4. (6.) libri scripti a papistis contra recte sentientes. Nam et ex illis aliquid sumi posset, quod ad historiam afferet [faceret]. (7.) inspiciendae essent chronicae seu annales singulorum locorum, in quibus etiam certaminum religionis mentio saepe fit. (8.) conquirenda essent ante omnia Valdensium scripta22. Denique: explorandum e senibus esset, an meminerint se audisse alicubi olim aliquem recte sentientem aut docentem vel in tota religione vel in aliquibus eius partibus fuisse.
Die Notwendigkeit finanzieller Zuwendungen für seine Mitstreiter, der Entwurf des Werkes, die Aufteilung der Arbeit, der erreichte Stand der Vorbereitungen – nahezu zwei Drittel der Consultatio sind mit Gedanken, ja ganzen Sätzen ausgefüllt, die bereits früher in der Korrespondenz des Flacius mit Nidbruck auftauchen. Unsere Geduld wird allerdings arg strapaziert, wenn Flacius auf die bereits erzielten Erfolge des Projektes zu sprechen kommt. Wie Karl Schottenloher bereits bemerkte23, warten noch unbekannte Versionen der Consultatio auf ihre Entdeckung. Die deutsche Fassung, auf die er dabei anspielte, war nur eine von vielen. In das Widmungsschreiben der Erstausgabe seines Catalogus testium veritatis mit der Datierung auf März 1556 im Kolophon, bettete Flacius eine weitere Version seines Plans 22
Diese wegen ihrer verdrehten Grammatik wörtlich kaum übersetzbare Phrase findet sich auch im Brief des Flacius an Nidbruck vom 10.11.1552, vgl. BIBL, Briefwechsel (wie Anm. 15) Nr. 1, S. 7: Habeo praeterea quaedam historica iam olim a papistis de Waldensibus scripta, quae simul coniuncta edam. Die Scheda hat die Formulierung: omnia ea quoquo modo vestigia aliqua illorum 7000 piorum monstrare possent, praesertim autem quaecunque antiquiora de Waldensibus habere possunt. 23 SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 14) S. 151.
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für eine Kirchengeschichte ein. Der Abschnitt steht ohne eigene Überschrift und ohne typographische Abtrennung mitten in der Widmung, ist aber grammatikalisch und logisch von der Umgebung geschieden24. Diese Version der Consultatio argumentiert mit Notwendigkeit und Nützlichkeit des Unternehmens und ist weit mehr in den rhetorischen Konventionen der Zeit gehalten; die Latinität ist geschmeidiger und eleganter als das handschriftliche Original.
Der Methodus Der endgültige Plan für die Anlage der Magdeburger Centurien, für den hier die Sigle Methodus II verwendet wird, wurde unter dem Titel Methodus historici operis im unpaginierten Einleitungsteil des ersten (Halb-)Bandes der Magdeburger Centurien gleich nach der Epistola dedicatoria und der Praefatio abgedruckt25. Der Plan machte nach der Consultatio allerdings noch mehrere Zwischenstufen durch. Sie werden im folgenden genauer beschrieben; ihre Intitulationen sind unter der obigen Kapitelüberschrift genannt. Einige dieser Stücke galten als in sich geschlossene Werke; andere waren eher als Skizzen gedacht, die zur Diskussion standen. Die verschiedenen Dokumente sind in ihrer kaum auflösbaren Entstehungsgeschichte für uns verwirrend, weil viele von ihnen nur Entwürfe oder temporäre Arbeitspapiere aus einem Diskussionsprozeß sind. Unser Ziel ist es, so gut wie möglich zu verstehen, wie die drei Dokumente zustande kamen, die wir im folgenden Methodus I, Methodus II und Methodus II(2) nennen werden. Um uns auf den ersten dieser drei Methodi vorzubereiten, muß jedoch zunächst ein weiteres Konzept behandelt werden.
Iudicium de methodo Der erste, auf März 1555 datierte, Entwurf in einer Reihe von Arbeitspapieren war Illyr[ici] Iudicium de methodo26, das diesen Titel in der heutigen Handschrift HAB Wolfenbüttel Cod. 11.20 Aug. fol. von der Hand des Johannes Wigand erhielt – wahrscheinlich nachträglich, um es von einem 24
FLACIUS, Catalogus1 hat eine dreiteilige Widmung: allgemeine Einführung in den Catalogus auf fol. a3v–a4v, Einführung in die Kommentierung auf fol. a4v–a5r und Einführung in das Projekt einer Kirchengeschichte auf fol. a5r–a8r. Die Übergänge sind durch bloße Phrasen gestaltet. 25 MC 1,1 fol. β3r–γ3r, also insgesamt 28 Spalten. 26 Text vollständig bei DIENER, Centuries S. 534–539.
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ähnlichen Papier vom Februar 1556 zu unterscheiden27. Das Iudicium war jedenfalls an Caspar von Nidbruck gerichtet28. Es handelt sich allerdings nicht um einen Plan, sondern um den Entwurf eines solchen. Das ständige Problem, das Nidbruck mit den vagen Vorschlägen des Flacius hatte, wurde durch dieses Papier sicher nicht gelöst. Der Text war im Konditional und im Konjunktiv abgefaßt; Flacius versäumte es, sich auf konkrete Maßnahmen festzulegen. Für die konkrete Planung war das Dokument ein Fehlschlag, aber es war nicht vollkommen unnütz. Die Unterscheidungen zwischen „allgemein“ und „spezifisch“ waren hinreichend genau, wenn auch unvollständig, und wurden während der gesamten Arbeit an den Centurien beibehalten. Einige wegweisende thematische Unterteilungen treten an zwei Stellen auf, einmal fol. 129r (Zeile 9–15): 1. 2. 3. 4.
de pontificibus, episcopis, verisque doctoribus de seductoribus de conciliis de viris eximiae pietatis laude excellentibus (quos sanctos vocamus) eorumque miraculis, etc.
und auf fol. 124r (Zeile 11–16): Ad partes formae Ecclesiae descendendum quarum doctrina ceremonia politia seu regimen Ecclesiae & praesertim doctorum....
Ohne zusätzliche Bennungen und Aufzählungen glitt Flacius’ Darlegung jedoch oft in hochgestimmte und bombastische Zusammenhanglosigkeiten ab. Doch unvermittelt, in der linken Randspalte neben der elften Zeile von fol. 124r, notierte Johannes Wigand: Hic facile est opus in capita distinguere. Und er zählt die drei Punkte von fol. 124r, Z. 11–16 interlinear als „1, 2, 3“. Möglicherweise war das der erste oder früheste Versuch, zu einer konkreten Abfolge der Kapitel zu gelangen.
Methodus I Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß das Iudicium de methodo vollständig aus der Feder des Flacius geflossen ist, nicht einmal, daß es hauptsächlich von ihm stammte, aber immerhin schreibt Wigands Intitulatio es ihm 27
Viele von Flacius’ frühen Arbeiten haben keinen Titel (z.B. die „scheda“). Die Titel wurden mehrheitlich von Archivaren, Buchbindern oder Handschriftenbearbeitern zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt. 28 Zur Rolle, die das Iudicium in der Korrespondenz zwischen Flacius und Nidbruck spielt, ausführlich DIENER, Centuries S. 94f. und BIBL, Briefwechsel (wie Anm. 15) S. 95–101.
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zu. Anders bei dem folgenden Konzept. Der Titel Methodus historiae ecclesiasticae oder Methodus I29 sagt nichts über die Autorschaft aus. Beide Titel sind in der Handschrift von Wigand eingetragen. Das Werk ist von der Hand des Matthaeus Judex auf Februar 1556 datiert. Nach anderen Arbeitspapieren des Collegiums aus dieser Zeit zu urteilen, ist ein Mehrverfasserwerk oder eine korporative Autorschaft nicht unwahrscheinlich. Es ist nur die saubere Abschrift von HAB WolfenbüttelCod. 11.20 Aug. 2° erhalten, so daß aus der Überlieferung keine weiteren Schlüsse auf die Autorschaft gezogen werden können. Methodus I enthält viele Begriffsdefinitionen: tomus, liber, caput, generaliora, specialiora, etc. Als generelle Orientierung des Werkes wurde eine Einteilung in vier oder fünf physische Volumina getroffen: 1. Von den Anfängen zu Konstantin dem Großen oder dem Konzil von Nicäa; 2. bis Karl dem Großen; 3. bis etwa Heinrich IV.; 4. bis Wycliff oder Hus; 5. bis zur Gegenwart. Innerhalb jedes Bandes sollten einzelne libri entweder nach Jahrhunderten oder nach einer anderen passenden zeitlichen Vorgabe entstehen30. Jedes dieser Bücher sollte zwei Arten von Kapiteln haben: die voranstehenden sollten allgemeine Dinge behandeln, die die gesamte Kirche oder den Zustand der gesamten Kirche betrafen; da die späteren spezielle Dinge, die einzelne Lehrer, Häretiker, Konzile, Disputationen usw. betrafen. Nach einer Einleitung sollte das Buch in seinem ersten Teil folgende Kapitel enthalten (die Nummerierung der im ersten Centurienband gedruckten Fassung ist in eckigen Klammern beigefügt): De locis ac propagatione Ecclesiae [II] De pace externa ac persecutione Ecclesiae [III] De doctrinae forma [IV] De erroribus ac haeresibus [V] De ceremoniis [VI] De schismatibus ac certaminibus leuioribus [VIII] De reliqua politia ac regimine Ecclesiae [VII]
Die hinteren Teile waren genauer unterteilt: 1. De conciliis [IX] 2. De episcopo celebriorum locorum [X]: Romae, Antiochiae, Alexandrinae, Heirosolymae, &c. De insignioribus doctoribus, attributis singulis personis (si ita materiae copia postulet) singulis capitibus. 3. De seductoribus seu haereticis per singula itidem capita [XI]. De singulis si multum sit 4. De martyribus seu celebrioribus sanctis qui doctores non fuerunt [XII] 5. De miraculis [XIII] 29
Text vollständig bei DIENER, Centuries S. 541–544. 12r,17f. wird von Libri gesprochen, qui vel singulas annorum centurias vel alia spacia certa ratione ac causa sumpta complectentur, vgl. DIENER, Centuries S. 541. 30
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6. De rebus Judaicis [XIV] De religionibus extra Ecclesiam, vt de Ethnica, Mahometica, &c. [XV]
In der endgültigen Fassung (also Methodus II) fiel die Einteilung zwischen früheren und späteren Kapiteln fort, aber die Unterscheidung zwischen allgemeinen und speziellen Themen wurde stets beibehalten. Auf diese Weise war der Methodus I ein klares und tragfähiges Gerüst für jedes Jahrhundert. Er wurde für eine Sitzung des Collegiums vorbereitet, die am 16. Februar 1556 stattfand.
Admonitio rectoris Methodus I war nicht das einzige Dokument, das für die Februarsitzung vorbereitet wurde. Gottschalk Praetorius konzipierte einen Vorschlag, der einen ganz entgegengesetzten Zugang zum Projekt nahm. Sein Papier wurde von Wigands Hand auf den 12. Februar 1556 datiert. Das könnte der Tag seiner Niederschrift sein, aber wahrscheinlicher ist es der Tag einer Beratung über seinen Inhalt. In jedem Fall ist das Papier trotz seiner Kürze so bedeutsam, daß es im Anhang vollständig wiedergegeben ist (vgl. Materialien A). Zwei sehr wichtige Beobachtungen müssen zu diesem Konzept des Praetorius gemacht werden; eine weitere, dritte Betrachtung sollte der Reaktion des gesamten Collegiums gelten. Erstens enthalten die Argumente des „Rectors“ eine Definition von Narratio, die aus der rhetorischen Tradition von Cicero und Quintilian bzw. Agricola und Melanchthon abgeleitet ist. Im Hinblick auf die Vorschläge des Praetorius muß allerdings eine Einschränkung gemacht werden. Er war in dieser Disziplin zweifelsfrei von Melanchthon ausgebildet worden und erklärte sich selbst nach 1558 zum Philippisten, aber 1556 verwendete er seine Begriffe recht unpräzise. Er wird sich auf klassische Modelle bezogen und auf ihre Begriffe angespielt haben, aber mit gewissen Verzerrungen, wie ein Kind ungewohnte große Worte verwendet oder ein Studienanfänger die neuen Fachausdrücke falsch einsetzt. Es ist charakteristisch für erst unlängst aufgetretene Probleme, daß sie mit einer kreativeren Terminologie angegangen werden als klassische Probleme, was aber bei den Mitstreitern zu erheblicher Verwirrung führen kann. Traditionell wurde die narratio in drei Elemente geteilt: fabula, argumentum, historia – in unterschiedlicher Folge und mit unterschiedlichen Definitionen (vgl etwa Cicero, de inventione 1, 19, 27 oder Quintilian, Institutio oratoria 2, 4, 1 bzw. die umfassnede Behandlung im vierten Buch dieser Schrift). Die Admonitio des Praetorius folgt einigen der Ratschläge und Tendenzen der Rede des Antonius bei Cicero, De oratore 2, 15, 62, wo er
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über Geschichte spricht. Dies gilt aber nicht für die abschließenden Einteilungen und Darlegungen. Der direkte Kanal zur Tradition des Cicero und Quintilian war für Praetorius natürlich die Rhetorik des Melanchthon31. Wahrscheinlich resultiert das Insistieren des Praetorius auf einer chronologischen Anordnung des Stoffes aus Melanchthons Kapitel über die dispositio32. Es ist von besonderer Ironie, daß alle Centuriatoren, mit Ausnahme von Flacius, durch Melanchthon in der Rhetorik unterwiesen worden waren und dementsprechend nicht nur mit dem Kapitel de dispositione, sondern auch mit dem Kapitel de locis communis33 vertraut waren. Zum Zweiten war Praetorius ein entschiedener Gegner der Verwendung von loci communes in der Anlage der Kirchengeschichte. So würde das, was Flacius im Sinne eines bloßen Zitats einen Locus descriptus genannt hatte, genau auf den Vorschlag des Praetorius passen, aber nicht auf den präziseren Begriff eines Locus communis. Praetorius war in der Frage der Behandlung der generaliora zu Kompromissen bereit. Zur Frage der specialiora sind seine Darlegungen nicht ausführlich genug, um erkennen zu lassen, ob es auch hier Konfliktstoff gab. Sein Rat schlägt einen Weg vor, der letztlich völlig konträr zu dem Weg des Methodus I verläuft. Wenn Praetorius der Scriptor des Projektes sein sollte, mußte er einen vollständigen Seitenwechsel vollziehen. Zum Dritten und im Hinblick auf die Reaktion des Collegiums, entwickelte sich gerade im Februar 1556 eine spannende Situation. Durch das Collegiumsmitglied Martinus Copus (Martin Köppe), einem Magdeburger Arzt, ermutigt, bemühten sich Wigand und Judex um eine Vereinbarung mit Nidbruck, um mit der Abfassung der Kirchengeschichte zu beginnen. Falls Flacius sich entweder neutral verhielt oder hinter dem Methodus I stand, war die Position des Praetorius gescheitert noch bevor die Diskussion begann. Das erlaubt einzig den Schluß, daß Praetorius entweder wußte oder zumindest hoffte, daß er auf Flacius zählen konnte, während Wigand und Judex die Haltung des Methodus I einnahmen und Köppe ein unsiche31
Elementa rhetorica in: Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia, ed. G. BRETSCHNEIDER et H.E. BINDSEIL (Corpus Reformatorum 13, 1846) Sp. 413–506; Neudruck nach dieser Ausgabe (und mit Angabe ihrer Spaltenzählung): Philipp MELANCHTHON, Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik, mit den Briefen Senecas, Plinius’ d. J. und den „Gegensätzlichen Briefen“ Giovanni Picos della Mirandola und Franz Burchards. Hrsg., übers. und kommentiert von Volkhard WELS (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 7, 2001). 32 Corpus reformatorum 13 (wie Anm. 31) Sp. 455–458: hier Sp. 456 bzw. WELS, Elementa (wie Anm. 31) S. 156: in disponenda narratione rerum seriem plaerumque sequimur, perinde, atque fit in historijs. Das Corpus reformatorum folgt der für diese Frage besten Textfassung – jener des Drucks von 1552. 33 Corpus reformatorum 13 (wie Anm. 31) Sp. 451–454.
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rer Kandidat blieb. Die Annahme, daß es eine knappe Abstimmung gab, wird durch die Tatsache gestützt, daß die gegensätzlichen Positionen noch lange nach den schicksalhaften Sitzungen, auf denen sie behandelt wurden, fortbestanden. Noch Wochen später formulierte das Collegium Causae (Gründe), warum der Aufbau in Loci communes angelegt werden müsse. Praetorius müßte völlig verrückt gewesen sein, wenn er in eine Diskussion gegangen wäre, bei der er mit drei Gegenstimmen und einer Enthaltung hätte rechnen müssen. Gegenüber Nidbruck waren feste Zusagen gemacht worden, die von den Magdeburger und Regensburger Stadträten ratifiziert und garantiert worden waren34. Sie beinhalteten, daß man die Sache durchging und zur Erstellung einer Kirchengeschichte schreiten konnte. Vertreter dieser Verpflichtungen waren Köppe und Alemann in Magdeburg. Als das Collegium gezwungen war, die Differenzen beizulegen und in die reale Arbeit einzusteigen und es keine Möglichkeit mehr gab, die Anlage nach Loci communes abzuwenden, schied Praetorius aus. Zu genau diesem Zeitpunkt gab es auch Flacius auf, eine aktive Rolle in den Magdeburger Centurien zu spielen und drohte mit einem Weggang nach Heidelberg oder Jena. Organisation, Verantwortung und Komposition der Kirchengeschichte fielen jenen zu, die am Ort verblieben. Im Frühjahr 1558 bestand das Collegium aus diesen vier Personen: Alemann, Köppe, Wigand und Judex. Als Praetorius ging, ließ Wigand den Regensburger Freund Gallus wissen, daß er die Mitstreiter sehr verärgert habe 35.
Methodus II Bei der Drucklegung wurde unter der Bezeichnung Methodus historiae eine Konzeptbeschreibung aufgenommen, die eine ausführliche Liste von loci communes für jedes der im Methodus I skizzierten Kapitel enthielt. Diese hier als Methodus II bezeichnete Beschreibung markierte den Beginn einer neuen Konzeption. Endlich war es möglich, eine Kirchengeschichte niederzuschreiben, nachdem die Rahmenbedingen im Detail festgelegt waren. Auf der Sitzung vom 16. Februar 1556 wurde offiziell festgelegt, daß Methodus II der Arbeitsentwurf für die Kirchengeschichte sein würde. In HAB Wolfenbüttel 11.20 Aug. 2 hielt Wigand auf fol. 26r fest, daß der Methodus am 16.2.1556 um 12 Uhr von Flacius, Köppe, Wigand selbst, Judex und Praetorius akzeptiert worden sei und daß Köppe um 14 Uhr den Scriptor Basilius Faber davon in Kenntnis gesetzt habe.
34 35
Vgl. OLSON, Flacius S. 267f. Stadtarchiv Regensburg, Eccles. I,1823v(33).
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In dieser Abschrift des Methodus II wurden auf der Grundlage praktischer Alltagserfahrung im Edieren und Aufsetzen von Texten noch einige größere Revisionen gemacht – alle von der Hand Wigands oder der von Judex. Diese Modifizierungen wurden über einen langen Zeitraum hin eingetragen: die Handschrift, die Strichführung und die Tinte sind unregelmäßig und verschieden, was beweist, daß die Änderungen an der Reinschrift des Originals nicht auf einmal von Anfang zum Ende geschrieben wurden, sondern zu unterschiedlichen Zeiten. Als schließlich die Veränderungen an Methodus II zu umfangreich wurden und die Reinschrift kaum mehr lesbar schien (ein Blatt ist völlig mit Tinte bedeckt, die wahrscheinlich von einem umgestoßenen Fäßchen herrührt), wurde es in die neue Reinschrift Methodus II(2) übertragen, der sich in Cod. 11.20 Aug. 2°, fol. 79r–119v erhalten hat (die letzten Blätter sind leer). Mehr als ein Jahr lang wurden nun in diese Abschrift Änderungen eingetragen. Der Titel z.B. änderte sich von METHODI RESOLVTIO, SEU SINGVLORUM CAPITVM METAE GENERALES zu METHODVS HISTO RICI OPERIS AC SINGVLORVM CAPITVM METAE GENERALES Die Kapitelüberschriften wurden teilweise neu arrangiert; einzelne loci communes wurden gänzlich überarbeitet und neu formuliert. Alle Änderungen wurden ausschließlich von Wigand und Judex vermerkt; und wieder ist das Dokument ganz sicher nicht auf einmal oder vom Anfang zum Ende niedergeschrieben worden. Methodus II(2) wurde mitsamt aller detaillierten Zusätze noch einmal in eine Reinschrift überführt, bei der die Unterscheidung zwischen allgemeinen und speziellen Loci communes fallengelassen wurde. Diese Reinschrift hat sich nicht erhalten. Sie muß die Vorlage für den Satz des Drucks der ersten Centurie, fol. β3r–[γ]6r gewesen sein bis hin zu den wenigen geänderten Worten im Titel und schier unlesbaren Anmerkungen und interlinearen Einfügungen. So kann man den Prozeß der Problemlösung Tag für Tag über alle Stufen vom ersten Entwurf bis hin zur endgültigen Reinschrift und der Druckfassung verfolgen. Im Vergleich zwischen Cod. 11.20 Aug. 2 und der Druckfassung von Methodus II lassen sich vier Beobachtungen machen. Erstens: Die Personen, die die Methodik entwarfen, kannten die Kirchengeschichte, die sie schreiben wollten, noch nicht im Detail. In den
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späten fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts waren sie durch besondere Umstände dazu gezwungen worden, die Alleinverantwortung für das Projekt zu übernehmen und Experten auf dem Feld der theologischen Dogmatik zu werden. Das ergab sich aus dem zeitgleichen Nebeneinander der Abfassung der Kirchengeschichte und dem Adiaphoristenstreit. Hierdurch wurden sie die Vorläufer der später als Fachdiziplin ausgebauten „Dogmengeschichte“. Sie machten keinen Versuch, das Material durch ein Schema auszugleichen, was zur Folge hatte, daß einige Themen überproportional behandelt und überbetont wurden, wenn reichlich Material vorhanden war, oder aber umgekehrt verkürzt wurde, wenn nicht genügend Material zur Verfügung stand. Die sechzehn Kapitel waren in keiner Weise ausgeglichen, weder dem Umfang noch dem Umriß nach. Kapitel Vier (de doctrina), eigentlich nur einer von sechzehn Teilbereichen, umfaßte 30, 1% des veröffentlichten Werkes, in den ersten drei Centurien sogar 45, 2%. Gleichzeitig aber sorgten sich die Autoren sehr um die Form ihres Werkes. Die Zahl der Kapitel wurde ganz zu Beginn der Entwicklung in der Liste der Loci communes von fünfzehn auf sechzehn geändert. Später wurde der Inhalt einzelner Kapitel reguliert, verändert, verschoben oder neu organisiert; aber die Zahl sechzehn blieb. Es war kein Zufall, daß nach Cicero die rhetorische conquestio, der auf Überzeugung der Zuhörer angelegte zusammenfassende Schlußabschnitt einer erfolgreichen Rede, der auf die Geneigtheit (misericordia) der Zuhörer abzielt, ebenfalls sechzehn Loci communes hat36. Die Centuriatoren beriefen sich mittels einer historischen Form der Berufung auf einen historischen Fall. Zweitens: Die Struktur der Methodik und die Übereinstimmung im Gebrauch waren tatsächlich das Werk des Collegiums: Um das Vorhaben zustande zu bringen, beriet die Gemeinschaft darüber und kam zu einer gemeinschaftlichen Lösung auf der Grundlage alternativer Vorschläge. Wenn das Iudicium de methodo von Flacius beabsichtigte, gewisse Fragen aufzuwerfen und zu klären (das Werk beginnt mit dem Satz quaestio ac deliberatio sit), dann war der Methodus die Antwort auf diese Fragen. Die Lösung hatte allerdings noch keinen endgültigen Status bis sie vom Collegium gebilligt worden war. Drittens: Wo das Collegium handelte, gab es einen unmißverständlichen Sinn für offizielle Autorisierung: Ein Teil der Verantwortung wurde auf eine einzelne Person übertragen, in diesem Fall Basilius Faber. Die Person, 36
Vgl. Cicero, De inventione I, 55, 106–107: Conquestio est oratio auditorum misericordiam captans. In hac primum animum auditoris mitem et misericordem conficere oportet, quo facilius conquestione commoveri possit. Id locis communibus efficere oportebit, per quos fortunae vis in omnes et hominum infirmitas ostenditur; qua oratione habita graviter et sententiose maxime demittitur animus hominum et ad misericordiam conparatur, cum in alieno malo suam infirmitatem considerabit. … Es folgt die Beschreibung von sechzehn Loci communes.
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die das autorisierende Dokument förmlich übergab, war der Schatzmeister der Gruppe, Dr. Köppe. Viertens: Eine alternative Interpretation, nach der Methodus II das Protokoll der Sitzung vom 16. Februar 1556 darstellt, muß zurückgewiesen werden. Es ist aus zwei Gründen unmöglich. Einmal sind Strichführung und Tinte klare Indizien dafür, daß das Dokument über einen längeren Zeitraum hin aufgeschrieben wurde, wobei die Hände von Judex und Wigand auftauchen und sich gegenseitig korrigieren. Zweitens, und was bedeutsamer ist: Der 16. Februar 1556 fiel auf einen Sonntag. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß eine ausgedehnte Sitzung an einem Sonntagmorgen stattfinden konnte, wo alle Mitglieder des Collegiums ihre Sitzplätze in St. Ulrich einnehmen mußten. Der Superintendend Wigand und sein Kollege mußten wahrscheinlich sogar predigen. Auch am Nachmittag konnten sie sich nicht treffen, wo Wigand und Judex andere Pflichten in ihrer Pfarre hatten, zu dieser Jahreszeit etwa den Konfirmandenunterricht. Der Beschluß fiel mittags. Sie trafen sich wieder um 15 Uhr, um der formelle Präsentation des Beschlusses durch Köppe an Faber beizuwohnen. Es gab also ganz einfach nicht genug Zeit für eine sonntägliche Arbeitssitzung. Das Treffen am 16. Februar diente wahrscheinlich nur der Abstimmung über das weitere Vorgehen und damit dem als Abschluß früherer ausführlicher Debatten über den Methodus I und die Admonitio rectoris. Wenn man über die Art der Sitzung spekulieren wollte, so sollte man annehmen, daß es ein angenehmes sonntägliches Mittagessen an Wigands Tisch im Pfarrhaus zu St. Ulrich war oder im Haus von Flacius oder Köppe. Zwei weitere Dokumente wurden dem Collegium am 16. Februar 1556 zur Zustimmung vorgelegt, was die Vermutung untermauert, daß es sich um den Abschluß einer längeren Reihe von Beratungen und Diskussionen handelte. Das erste wurde Articuli genannt, das zweite Regulae. Diese beiden Richtlinien gewähren dem modernen Forscher einen tiefen Einblick in die alltägliche Organisation und die Verfahrensweisen des Projektes. Beide Dokumente stützen auch die Schlußfolgerung, daß das Collegium bemüht war, eher Korrekturen an Strategien und Prozeduren anzubringen, die nicht funktionierten, als ganz von vorn zu beginnen.
Spätere Arbeitspapiere Articuli proponendi scriptori et collectori historiae37 Diese Artikel, dreizehn an der Zahl, waren lateinisch abgefaßt. Ein vierzehnter Artikel wurde später auf Deutsch hinzugefügt, vielleicht während 37
Vollständiger Text: Materialien C.
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der Sitzung. Die Verantwortung wurde klar zwischen dem Scriptor und dem Collector aufgeteilt. Eine Zusammenfassung der Artikel als solcher folgt ohne Kommentar, jedoch mit Beobachtungen, die später hinzugefügt wurden. Keine der hier gegebenen Vorschriften für die Aufzeichnung ist in neuerer Zeit behandelt worden. Doch ohne Zweifel waren die Probleme, Experimente und Zusammenstellungen (experimenta seu compendia, Art. 11) die wichtigsten Quellen für die stufenweise Verbesserung und Fortententwicklung des Methodus II. Die Aufgaben, bei denen Praetorius unterschied zwischen inventio, dispositio und elocutio sind geradewegs aus der Rhetorik des Cicero gewonnen. Die Begriffe wurden außerhalb des siebten Artikels später von den Centuriatoren selten verwendet; die gebräuchlicheren Formen findet sich im dritten Artikel: collectio, distributio, scriptio. Distribution ist ein Bestimmungsfaktor der Disposition: dispositio est rerum inventarum in ordinem distributio38 Collectio und scriptio sind wohl eher unrhetorische Begriffe, beschrieben aber die Funktionen des Collectors und des Scriptors. Sylva wurde ganz entschieden unrhetorisch verwendet: in der klassischen Definition des Quintilian39 handelt es sich um einen pejorativen Ausdruck für einen groben Entwurf, der aus der Hitze einer Inspiration entsprungen ist, die sich nicht zu etwas Sinnvollem entwickelt und daher mangelbehaft ist (vitium). Zwei weitere Begriffe verlangen eine genaue Kommentierung: Experimente und Zusammenstellungen. Wenn man auch die Voraussetzungen für die experimenta seu compendia des 11. Artikels in der rhetorischen Tradition erkennen kann, treten sie hier doch in einem sehr eigentümlichen Kontext auf. Die Vorkehrung für die Aufzeichnung einer solchen Information lag wohl eher in der Nähe des praktischen Beobachters, also des Alchemisten (Dr. Köppe) und des Naturkundlers (Wigand) als des Rhetorikers (Praetorius). Die samstägliche Zusammenkunft (Art. 9) wurde zu einem bedeutenden Punkt, an dem die Arbeit der vorangehenden Woche im Detail ausgewertet und überwacht werden konnte. Einige nachfolgende Dokumente sind auf einen Samstag datiert. Die Zusammenkunft sollte von den Inspektoren geleitet werden. Später (im Jahr 1558) wurden ihre Anzahl und ihre Namen festgelegt: Wigand und Judex. 1556 legte man nicht mehr fest als die Funktionsbezeichnung, aber es war sicher nicht daran gedacht, das gesamte Collegium als Inspektoren zu benennen. 38
Cicero, De inventione lib. I cap. 9. Vgl. Quintilian, Institutio oratoria lib. 10, cap. 3, XVII: Diversum est huic eorum vitium qui primo decurrere per materiam stilo quam velocissimo volunt, et sequentes calorem atque impetum ex tempore scribunt: hanc silvam vocant. Repetunt deinde et componunt quae effuderant: sed verba emendantur et numeri, manet in rebus temere congestis quae fuit levitas. 39
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Der abschließende, vierzehnte Artikel stellt eine Regel eigener Art dar. Es war die vorrangige Angelegenheit des Collegiums, die in ihrem klaren, einfachen deutschen Text noch schärfer herausgestellt wurde. Während das Collegium einen bestimmten Teil der Verantwortung und Autorität auf den Scriptor und den Collector übertrug, gab es keinerlei Zweifel an der Einbindung des Collegiums. Es behielt sich ein Mitspracherecht selbst in den kleinsten Details vor (alles gentzlich biss auff das geringste). Letztendlich waren alle Vorkehrungen und Unterscheidungen und Bestimmungen im Augenblick ihrer Niederschrift von hoher Bedeutung, aber natürlich können wir nicht entscheiden, ob alle Instruktionen tatsächlich angewandt wurden, und falls sie es wurden für wie lange. Es gibt sogar einen Unterschied zwischen den ersten beiden Dokumenten des 16. Februars 1556: Die Articuli sprechen von einem oder dem Collector, die Regulae, über die gleich zu handeln ist, von Collectoren. Wenn dies auch nicht unbedingt ein Widerspruch sein muß, so muß man doch festhalten, daß die Articuli von zwei Funktionsträgern sprechen, nämlich einem Scriptor und einem Collector. Es könnte so gewesen sein, daß jeweils ein Scriptor und ein Collector als Team arbeiteten (z.B. Faber als Scriptor für die Centurien I–III, Veltbeck für die Centurie V, jeweils mit einem Collector zur Seite). Vielleicht haben die Articuli die Bezeichnung auch kollektiv gemeint. In jedem Fall sieht man, daß die erhaltenen Dokumente das Ergebnis redaktioneller Entwicklung waren, die zu gewissen Inkonsistenzen führten. Falls Flacius diese Planungen geleitet haben sollte, so stünden die Articuli völlig einzigartig zwischen dem umfangreichen Material, das ich für meine Forschungen durchgesehen habe. Ganz im Gegenteil waren die Aufteilung der Verantwortung und die Formulierung der Ansprüche genau jener modus operandi, den Johannes Wigand später verfolgte, gleich ob er sich in Magdeburg, in Jena, Wismar oder in Pomesanien aufhielt.
De collectione ex historicis et patribus regulae generales40 Das nachfolgende Regelwerk bestand zunächst aus dreizehn Punkten, wurde aber erheblich erweitert. Am Ende umschloß das Werk mindestens drei, vielleicht auch vierzehn, zusätzliche Paragraphen. Wieder ist das überlieferte Dokument das Ergebnis weitgreifender editorischer Fortentwicklung 41. Wahrscheinlich endeten einfachere Versionen an einer früheren 40
Vgl. Materialien C. Die Reinschrift des erhaltenen Dokumentes ist Bestandteil der offiziellen Arbeitspapiere. Falls die persönlichen Ausfertigungen für Basilius Faber oder Pankraz Veltbeck entdeckt würden, könnte man vielleicht entscheiden, ob dies nur eine von verschiedenen Versionen der Regulae ist oder nicht. 41
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Stelle als die überlieferte Fassung42. Der moderne Beobachter erhält einmal mehr einen tiefen Einblick in die Werkstatt der Historiographen. Die Regulae gliedern sich in neun allgemeine Anweisungen (1–9), denen zwei größere Komplexe folgen. Der erste beschreibt die Techniken der Sammlung aus historiographischen Schriften (10–12) und der zweite das Exzerpieren der Kirchenväter (13). Dies sind die Kernpunkte dieser Anweisungen: (1) Entsprechend der Consultatio und des Methodus sind Collectores erforderlich, deren Arbeit nach einem Bild aus der Einleitung der Nikomachischen Ethik beschrieben wird 43, das bei den Lehrern der Rhetorik in ständigem Gebrauch war und in nahezu allen Handbüchern zu finden ist; das Zitat war außerdem in Sprichwörtersammlungen enthalten. (2) Ihnen ist auferlegt, daß sie Methodus II mit großer Präzision, am besten auswendig, beherrschen, damit sie ohne Zögern entscheiden können, ob eine einzelne Passage exzerpiert und verbreitet werden soll. (3) Die sechzehn Kapitel (loci communes) müssen bei der Arbeit als Bezugspunkte beständig gegenwärtig sein. (4) Der Kontext, nicht bloß die einzelnen Worte, soll ausschlaggebend für die Zuweisung zu einem der Kapitel sein. (5) Falls der Collector dieselbe Passage mehrfach abschreiben muß, um sie in mehreren Kapiteln unterzubringen, darf er nicht verärgert sein. (6) Einige auf frühere Jahrhunderte bezogene Zitate müssen später noch einmal wiederholt werden, da sie auch Quellen für die Zeit ihrer Niederschrift sein können. In gleicher Weise kann ein einzelnes Zitat, das für ein späteres Buch aufgezeichnet wird, in einem früheren Band unter einer anderen Rubrik verwendet werden. (7) Eigennamen sollen in der Form angesetzt werden, in der sie zitiert sind. (8) Autoren sollen genau unter Angabe von Werktitel und Kapitel im Text (nicht als Randglosse) zitiert werden; wo ein Autor mit einem anderen übereinstimmt, soll das Zitat in einem eindeutigen Text gesetzt werden, der nichts vermischt. (9) Die Collectoren müssen lesbar schreiben, da ihre Sammlung (sylva) mehrfach von mehreren Personen gelesen werden muß. (10) Hier wird umständlich das genaue Vorgehen beim Exzerpieren historiographischer Texte beschrieben. Es soll in einer Abfolge von Herrschern arrangiert werden, worauf die Exzerpte verschiedener Autoren zusammengetragen und auf die Loci communes aufgeteilt werden. (11) Daraufhin können Konjekturen für die einzelnen Kapitel notiert werden, wie 42
Die drei denkbaren früheren Endstellen wären: fol. 31v hinter resolutio monet et docet, 31r hinter accurate annotentur und 30v hinter pluries inspici. 43 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1094a: Et quemadmodum sagittatores signum habentes magis utique adipiscemur quod oportet. Zitiert nach: Robertus Grosseteste reuisor translationis Aristotelis, in: Aristoteles Latinus, XXVI.1–3, fasc. tertius, ed. R.A. GAUTHIER (1972) S. 141–201; 271–305, hier S. 142.
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Jäger (venatores) müssen sich die Collectoren bewähren. (12) Aus den historiographischen Texten sollen auch Zitate gezogen werden, die das christliche Dogma betreffen. (13) Nun folgt eine lange Anweisung über die Kirchenväter. Sie sollen gleichermaßen für historische wie dogmatische Loci communes exzerpiert werden, die historischen aber in knapper Form. Es ist nicht erforderlich, lange Passagen wortwörtlich zu kopieren, aber ihre Aussage muß genau festgehalten werden. Zur Sicherung dieses Anliegens folgen genaue Hinweise. Abschließend heißt für den Fall, daß ein Collector einmal nicht versteht, was der Autor sagen will, er Rat einholen soll oder aber seine Schwierigkeiten aufzeichnen soll, so daß ein anderer das Material durchsehen kann; auf keinen Fall sollte der Scriptor zu einem irrigen Schluß verleitet werden. Im Hinblick auf Klarheit und Stil, auf Logik und Latinität sind die Regulae von allen Instruktionen am wenigsten gelungen. Sie beinhalten ermüdende und zumeist spitzfindige Inkonsistenzen. Die achte Regel präsentiert sogar einen falschen Querverweis auf die vierte Regel (richtig wäre die fünfte). Alles, was lang und breit ausgeführt wird, ist ganz offenkundig inkonsequent, während die zentralen Probleme kurz und rasch abgehandelt werden. Die Regulae handeln von der Technik des Exzerpierens: Man soll Papier zusammentragen, falten und in Spalten teilen, sie mit Kolumnentitel versehen, Schwierigkeiten notieren usw. Diese Vorkehrungen klingen wie die Folge eines Fehlstarts, wie die Korrektur einer Reihe von kleineren Korrekturen für technische Probleme, die seit längerer Zeit aufgetreten sind. Die offenkundige Schlußfolgerung, die man hier ziehen kann, ist, daß die Regulae Praktiken korrigieren sollten, die durch Flacius und Wagner eingeführt worden waren, als sie Material für den Catalogus testium veritatis zusammentrugen. Einige kleinere Sylvae im Regensburger Stadtarchiv im Bestand Ecclesiastica I, 3 von der Hand des Flacius zeigen den Bedarf für eine Korrektur des Sammeltechnik ganz deutlich: Flacius benutzte für seine Notizen Schnipsel und Papierstreifen unterschiedlichsten Zuschnitts. Neben einer Standardisierung des Papierformats ist auch ein Bedürfnis nach klaren und kontextbezogenen Quellenangaben und Querverweisen zu erkennen, und zwar – anders als bei Flacius – im Text, nicht in den Randglossen. Alle Teilnehmer des Projektes um 1556 schrieben ein besseres Latein als das der Regulae. Der heutige Zustand des Dokuments könnte darauf zurückgeführt werden, daß der Schreiber der Vorlage eine ‚Krakelschrift‘ hatte (wie z.B. Judex) oder ein schlechtes Papier verwendete, das zu Fehlstrichen und Korrekturen führte, die nicht immer verständlich waren.
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Causae quare necesse sit fieri accuratam dispositionem historicam singulorum capitum Wigand datierte zwei miteinander verbundene Schriftstücke auf den 14. März 1556, also vier Wochen nach dem ersten Treffen im Februar, über das uns ein Bericht vorliegt. Es handelt sich um die Causae und die Regulae generales in dispositione historica observanda44. Die Causae listen die Gründe auf, die zu einer genauen Auflistung der historischen Disposition der einzelnen Kapitel führte. Es handelt sich um neun ausführliche Punkte, von denen der letzte zu einem Kurzgutachten ausgeweitet wurde: Es wird geregelt, daß (1) ein klarer Entwurf des gesamten Werkes vorhanden sein und eine genaue Vorstellung über die geplante Wirkung entwickelt werden müssen; sodann müsse (2) der Scriptor das Material in seinem Kopf wie ein Koch zubereiten und garen lassen; ferner sollen (3) zusammenhängende Dinge auch zusammen referiert werden; es wird gefordert (4) daß die Dinge einfach, korrekt, akribisch und genau berichtet werden; (5) daß jeder collega im Projekt angemessen zu beteiligen ist; (6) daß Einzelkorrekturen nicht den Gesamtplan infrage stellen können; (7) daß sichergestellt sein muß, daß neues Material ohne Probleme in das Gesamtkonzept einzuordnen ist; (8) daß die erprobten rhetorischen Distinctiones der inventio, dispositio und eloquentia erfolgreich eingesetzt werden sollen; und schließlich (9) daß Intellekt und Gedächtnis Voraussetzung für die Sammeltätigkeit sind und nach den Regeln der Rhetorik eingesetzt werden müssen. Die zeitgleichen Regulae generales umfassen dreizehn Anweisungen. (1) Es wird eine klare und präzise Setzung der Subjekte und Prädikate verlangt, (2) die allgemeinen Themen sollen zuerst, die spezielleren in angemessener Folge später behandelt werden; (3) soweit als möglich soll die chronologische Abfolge gewahrt bleiben. (4) Ferner sollen nicht einfach die vorgefundenen Berichte rezitiert werden, sondern kritisch betrachtet und auch andere Spuren der Wahrheit berücksichtigt werden (aliaque veritatis vestigia sunt sagaciter consectanda). (5) Falls Umstände oder Ereignisse nicht bekannt sind, sollen sie notiert werden, so daß weitere Hinweise gesucht oder aus anderen Quellen hingefügt werden können. (6) Die Kapitel mit den Analysen müssen so zuverlässig wie möglich erarbeitet werden. (7) Die Materialien müssen zurechtgeschnitten und sorgfältig auf die Loci communes verteilt werden. (8) Zusammengehörende Zitate, die in einem Locus communis knapp, in einem anderen ausführlicher angeführt werden, müssen durch Querverweise verbunden werden. (9) In der Darstellung (distributio) sollen Autoren, die die gleichen Dinge unterschiedlich 44
6).
Vollständiger Textabdruck bei DIENER, Centuries S. 554–556 (= Documents IV. 3.
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berichten, nebeneinander mit Angabe von Buch und Kapitel angeführt werden. (10) Ebendort kann der Scriptor Fragen oder Kürzungsvorschläge vormerken, über die das Collegium entscheidet. (11) Hindernisse (nodi) sollen auch notiert werden, um Lösungen zu suchen. (12) Wo chronologische Kalkulationen sich widersprechen, sollen sie in der Reihenfolge der Autoren aufgelistet werden. (13) Als Schlußweisheit: Die Erzählung darf nicht in der Art der Heiden, sondern muß in christlicher Weise geschehen, sie soll die Leitung, die Bewahrung und die Befreiung der Kirche behandeln; die Erzählung soll schmückende Epiphonema verwenden. Die Mönche im Banne des Papsttums haben quasi heidnische, eitle und traurige Berichte hinterlassen. Im Lichte des neu gewonnenen Evangeliums und in der Blüte aller Künste ist eine leuchtende und lebhaftere Erzählung möglich. Die beiden Anweisungen unterscheiden sich sehr. Das erste Dokument hatte ursprünglich acht Punkte, die direkt, einfach und klar waren. Die Zusammenfassung (9) sprach von der gewonnenen Alltagserfahrung. Das zweite Dokument jedoch verwendet mehrere Fachausdrücke in zweifelhafter, wenn nicht gar falscher Weise. Der merkwürdigste Ausdruck ist das Wort epiphonema. Das Wort (und das Konzept) sind sowohl dunkel wie unangemessen. Nach der griechischen Tradition45 handelt es sich um Humor als rhetorisches Mittel. Nach der lateinischen Tradition wird epiphonema als extreme Beleidigung und in diesem Sinne als höchste Zustimmung definiert46. Der Verfasser der Regulae wollte wohl sagen, daß die Centuriatoren den Scriptor anweisen, griffig zu erzählen und einprägsame Schlußformeln zu verwenden, die in der rhetorischen Tradition gewöhnlich clausulae heißen. Der pedantische Stil der neunten Regel machte es unmöglich, die beiden Punkte klar und verständlich zu formulieren, obschon der intendierte Sinn auf der Hand lag. Beide Dokumente haben erweiterte Schlußparagraphen oder Zusammenfassungen. Und die Sitzung vom 14. März 1556, so darf man annehmen, diente dem Dialog und dem Austausch zwischen den Inspektoren und den Exzerpierenden. Die Abschlußbemerkung unter beiden Dokumenten, die dem Scriptor rät, seine Texte nicht ohne vorhergehende Absprache mit dem Collegium abzufassen, weist auf eine solche Beratung hin. 45
Vgl. Hermogenes, De inventione 4,9. Quintilian, Institutio oratoria lib. 8, cap. 5, Xf: De hoc in argumentis satis dictum est. Non semper autem ad probationem adhibetur, sed aliquando ad ornatum: „quorum igitur inpunitas, Caesar, tuae clementiae laus est, eorum te ipsorum ad crudelitatem acuet oratio“? non quia sit ratio dissimilis, sed quia iam per alia ut id iniustum appareret effectum erat; et addita in clausula est epiphonematis modo non tam probatio quam extrema quasi insultatio. Est enim epiphonema rei narratae vel probatae summa adclamatio: „tantae molis erat Romanam condere gentem!“; „facere enim probus adulescens periculose quam perpeti turpiter maluit“. 46
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Aber mehr noch. Es bleibt der starke Verdacht, daß die beiden Direktiven versuchen, mit existentiellen Problemen zurecht zu kommen. Der wiederholte Gebrauch rhetorischer Terminologie, auch ihr gelegentlicher Fehlgebrauch, zusammen mit dem alten Gespenst einer rein chronologischen Darstellung (Regula 3) lassen ahnen, daß die Hand des Praetorius aus diesen Zeilen herauswinkte. Während die erste Direktive besagt, daß die Exzerptoren ihre Arbeit den Inspektoren zeigen sollen, verlangen die Regulae generales die Zustimmung des Collegiums. Während die Sitzung tragfähige Kompromisse gefunden haben wird, zeigen die Aufzeichnungen der Causae und der Regulae generales die alten Gegensätze, die auch in der einen Monat älteren Admonitio rectoris des Praetorius vom Februar 1556 aufscheinen. Und hinter allen Absichten und Bestimmungen scheint auch ihre Kehrseite auf: Die Schlußbestimmung beweist, daß einen Monat nach der Abfassung von Methodus II keinerlei Fortschritt erzielt worden war.
Admonitiones quaedam de collectione Die Lage hatte sich auch zwei Wochen später nicht verändert, als am 28. März 1556 sieben „Ermahnungen“ niedergeschrieben wurden (vgl. Materialien E). Hier tauchte plötzlich ein neuer Titel auf: Die erste Admonitio verlangt, daß der scriptoricus architectus die gesammelten Materialien in die Hand nehmen und durcharbeiten solle. Es ist nicht zu ersehen, ob es eine neue Arbeitsteilung oder eine geänderte Zuweisung von Zuständigkeiten vorlag. Deutlich wird jedenfalls, daß nach sechs Wochen noch immer nichts vorlag: keine abschließenden Konzepte, nicht einmal ein Entwurf. Während die Verantwortlichen immer noch glaubten, daß die Arbeitsteilung zwischen scriptor und collector sinnvoll sei, gerieten sie sich in die Haare – sie waren schlichtweg nicht imstande, ihre Zuständigkeiten ohne Streit auszuüben. Ebensowenig konnten sie die einfachsten Bedürfnisse hinsichtlich des Materials oder der Kommentierung des Materials regeln. Der „Architekt“ war kein Historiker, denn er mußte durch die Admonitio 2 zur Lektüre der einschlägigen Quellen angewiesen werden: Quare oportet scriptorem Ecclesiasticas historias Eusebii & Nicephori aliquos breviores ac meliores patres, concilia & quosdam de praecipuis chronicis perlegere, alia vero collectores Atque huius rei gratia, habet scriptor proprium Eusebium.
Diese Anweisung zeigt, wie amateurhaft die Centuriatoren am Anfang vorgingen: Sie entdeckten die Geschichte überhaupt erst für sich und lernten, ihre eigene Vergangenheit niederzuschreiben.
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De dispositione quarti capitis quaedam declarationes Das nächste Dokument nannte sich „verschiedene Deklarationen“ und wurde von Wigand auf den 19. April 1556 datiert, einen Sonntag. Der Nachsatz unter dem Titel, der ebenfalls von Wigands Hand stammt, hilft, die Situation zu verstehen: Differentium inter hos locos doctrinales quales Scriptor die Sabbati exhibuit & dispostionem ipsam. Am vorangehenden Samstag hatte der Scriptor seine Enwürfe für das vierte Kapitel vorgelegt. Die Deklarationen sind als Antwort konzipiert. Dem Stil und der Qualität der Gedankenführung nach zu urteilen, stammen sie von Wigand oder wenigstens hauptsächlich von ihm. Falls sich das Collegium am 18. April 1556 vormittags versammelt hatte, so dürfte diese Stellungnahme nach der Sitzung niedergeschrieben worden sein, entweder später am gleichen Tag; vielleicht wurden sie auch erst am Sonntag abgeschlossen. Der Versuch, die Materialien im vierten Kapitel (de doctrina) zu verteilen, war gescheitert. Das gesamte Werk war in dieses eine Kapitel aufgegangen. Zitate standen ohne Beziehungen nebeneinander. Das Material war selbstverständlich reichlich vorhanden, aber die Darstellungstechnik and das Arrangement waren zu plump. Die Aufteilung des Kapitels Vier mußte die Gesamtheit der Kirchengeschichte berücksichtigen, aber nicht in sich aufsaugen. Die Malerei wird zum Vergleich herangezogen. Die sylva locorum werden den Farben verglichen, die distributio wäre wie die Linien der Umrißzeichnung. Das Ausfüllen mit den Farben ist dann die Anwendung des „Waldes“ zur Aufteilung der Kapitel, bis das lebendige das Bild einer venustissima Helena vollendet ist. Dann kamen konkrete Vorschläge, die Schritt für Schritt mit dem Plan des Gesamtwerkes in der Hand zu entwickeln seien: Exordium (Einleitung) – praepositiones (Vorgedanken) – rationes (Themen) – gnomae (Aphorismen) und figurae (Stilmittel). Zuletzt werden das Verzeichnis der Lehrer und die Orte und ihre Bedeutung hinzugefügt. Durch weitere Beispiele und mit einigen klare und einfachen Metaphern erklärt der Verfasser das Anliegen des Collegiums. Insgesamt läuft der Ratschlag auf Folgendes hinaus: der Stoff der Loci comunes mußte zuerst bewältigt werden, dann war ein Plan aufzuzeichnen, dann das Material nach allgemeinen und speziellen Betreffen zu ordnen. Der immer wiederkehrende kritische Punkt bei der Behandlung der langen Liste von Loci communes war, daß das engste anwendbare Schlagwort (gleich, ob aus den generalia oder den specialia) verwendet werden mußte, um die die gesammelten Exzerpte anzuordnen. Dieses Prinzip ist für die moderne Katalogisierung und Verschlagwortung selbstverständlich, aber für Anfänger ist es das schwerste aller Prinzipien.
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Unter Verzicht auf Einsatz einer technisch-rhetorischen Terminologie und Begrifflichkeit wurde dem Scriptor in freundlichen Worten Hilfestellung geboten. Sie wurde mit konkreten Beispielen und – von Zeit zu Zeit – einfachen Metaphern garniert. Da das Material nicht von einem Exzerpt oder Zitat zum nächsten zusammenhängend ist, könnte man versucht sein zu vermuten, daß dieser frühe Entwurf des vierten Kapitels, um dessen Verbesserung sich das Collegium bemühte, ein alternatives Konzept verfolgte. Das erste, was einem hier einfallen könnte, ist eine irttümlicherweise eingeschlagene chronologische Anlage. Hier kehrt das Anliegen von Praetorius’ Entwurf wieder. Das heißt, die Vorschläge, Stellungnahmen und Anweisungen der Declarationes zielten haarscharf auf Änderungen jener Techniken und Empfehlungen, die Praetorius am 12. Februar 1556 vorgelegt hatte. Falls die Version des vierten Kapitels, die am 19. April 1556 vorlag, unbefriedigend war, dann ist der terminus a quo zumindest für diesen Teil, wenn nicht für die gesamte erste Centurie, nach diesem Datum anzusetzen. Überhaupt gibt es keinen Grund zur Annahme, daß die Korrekturen und neuen Entwürfe sofort wirksam wurden. Falls das Problem nicht uneingeschränkt bis zur Mitte des Juni 1556 gelöst war, mußte Nidbruck selbst damit befaßt werden. Sein eigenhändiges Consilium meum extemporate in scribenda historia Ecclesiastica47 handelte wahrscheinlich über die methodologischen Konzepte wie sie Mitte 1556 vorlagen. Es ist schwer zu sagen, ob Nidbruck versuchte, eine Mittelposition einzunehmen oder eher Praetorius zuneigte. Jedenfalls griff er beide Seiten auf und sprach sich dafür aus, die Loci communes secundum annorum seriem anzuordnen. Eine chronologische Folge für Loci communes? Der Kernpunkt der Declamationes war es, eine solche Anlage als Widerspruch in sich zu entlarven. Falls Nidbruck vermitteln wollte, konnte er so nur Verwirrung stiften. Sollte aber genau das sein Wunsch gewesen sein, so blieb er auch erfolglos. Da es keine Aufzeichnungen oder Protokolle der Sitzung gab, und weil wir nicht nachweisen können, daß Nidbrucks Consilium zu dieser Zeit verfaßt wurde, sollte hier nicht weiter spekuliert werden.
Ad modum colligendi regulae iudicandi & explorandi, an libri, qui ribuuntur saepe autoribus vere eorum sint Die Centuriatoren wußten, daß die Verfasserzuschreibungen vieler antiker und mittelalterlicher Werke falsch waren. Sie erhielten zwar Hilfe in dieser
47
Vgl. DIENER, Centuries S. 567 (Documents IV, 3.11).
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Frage durch François Baudouin (1520–1537)48. Aber diese Hilfe kam später. Der Satz von fünf Regeln, der hier zu behandeln ist, ist von Wigands Hand überliefert. Er soll die Arbeit der Kollektoren erleichtern. Es wurden Kriterien erarbeitet, um ad-hoc-Entscheidungen während der Sammeltätigkeit zu treffen. Die erste Regel verwendet das Kriterium des Stils (stylus); die zweite jenes des Themas (res), die dritte der Bezüge auf historische Begleitumstände (circumstantiae), die vierte des Zeugnisses anderer vertrauenswürdiger Autoren oder Schrifttumsverzeichnissen, die fünfte schließlich von Fehlern im Text, die die Verfasserschaft entweder belegen oder widerlegen können. Die Centuriatoren mögen durch manche falsche Verfasserzuschreibung getäuscht worden sein, aber sie nahmen das Problem durchaus ernst. Ihre Regeln waren wirklich gut, sowohl nach damaligen wie heutigen Maßstäben. Die Tatsache, daß diese Historiker durch Pseudonyme und Fälschungen getäuscht wurden, beweist nur, daß solche Werke zahlreich waren und recht verwirrend. Bevor ein moderner Betrachter sich zu verächtlichen Urteilen über die Leichtgläubigkeit der Centuriatoren hinreißen läßt, sollte er bedenken, daß die Centuriatoren sich zum ersten Mal in der Neuzeit mit Werken befaßten, die sich später als Fälschungen herausstellten – und zwar genau deshalb, weil sie durch ihre Präsenz in den Magdeburger Centurien in den Bereich, ja den Kanon, moderner Geschichtsforschung gebracht wurden.
48
Zur Person vgl. Roderich von STINTZING, Franciscus Balduinus, in: ADB 2 (1875), S. 16f., speziell Gregory B. LYON, Baudouin, Flacius, and the Plan for the Magdeburg Centuries, Journal of the History of Ideas 64, 2 (2003) S. 253–272. – Baudouin gab eine Expertise an die Centuriatoren ab, wie auch Andreas Hyperius, Johannes Calvin, Georg Tanner und viele andere. Eine gute Einführung gibt SCHEIBLE, Entstehung (wie Anm. 10) S. 46–49. Leider können die Ansätze anderer Gelehrter nicht wirklich ausgewertet werden, bis der gesamte Komplex der Handschriften ÖNB Wien, Cod. Vind. 9737i, 9737k und 10364 genauestens beschrieben und analysiert ist. Die Initiative zu diesen Expertisen ging von Nidbruck aus, der sie benötigte, um seinen Patronen (d.h. Maximilian II. und vielleicht auch Ulrich Fugger und Ottheinrich) deutlich zu machen, daß das Projekt einer Kirchengeschichte von echtem und dauernhaften Wert war und um zu beweisen, daß er alles Menschenmögliche getan hatte, um daraus die beste aller denkbaren Kirchengeschichten zu machen. Der Abdruck der Regulae Balduini bei DIENER, Centuries S. 563– 566 (Documents IV. 3,10) sollte nur als Beispiel dienen. Es können aus den Handschriftenbeständen sowohl in Wolfenbüttel wie in Wien weit mehr Informationen gewonnen werden, die jedoch weit über den Rahmen dieser Untersuchung hinausgehen.
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Beschluß Scheibles Kommentare zu diesen Dokumenten vermuten häufig eine Verfasserschaft und/oder eine Beteiligung von Flacius49. Vom Methodus angefangen bis zu den endgültigen Regeln zur Bestimmung der Authentizität einer Quelle ist der einzige handschriftliche Befund, daß wir Reinschriften mit Anmerkungen von Wigand und Judex haben. Die antithetische Position von Praetorius kann rasch identifiziert werden, ebenso wie ihre mehrfache Zurückweisung. Es ist jedoch unmöglich, eine weitergehende Identifikation der Verfasser der einzelnen Dokumente vorzunehmen. Außerdem muß beachtet werden, daß Flacius in große Schwierigkeiten geriet, wenn er versuchte, Loci communes zu verwenden, insbesondere solche in einer syllogistischen Argumentation. Die übelsten Probleme wurden durch seine tollpatschige Durchführung einer syllogistischen Disputation gegen Victorinus Strigel in Weimar verursacht, womit er sich gar die Verurteilung als Häretiker einhandelte. Wo er Hilfe benötigte – etwa 1558 – wurde er von Wigand betreut50. Und als Wigand zum Doktor der Theologie promobiert wurde, geschah dies genau wegen seiner Leistungen auf dem Gebiet der Methodologie51.
49 50 51
Vgl. SCHEIBLE, Plan (wie Anm. 3) S. 69–80. Vgl. DIENER, Centuries S. 427–429 (Documents I, 13). Vgl. DIENER, Centuries Kap. 9 Fußnote 12.
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Materialien HAB Wolfenbüttel, Cod. 11.20 Aug. 2°, fol. 27r-38r52
A. fol. 27r/v [27r] ADMONITIO RECTORIS 1. Narrationes aut sunt chronicae, aut cosmographicae, aut personales. 2. In chronicis requiritur conveniens distributio rerum & temporum. 3. In cosmographicis praestanda sunt distributio nationum, & in qualibet natione ordo rerum & temporum. 4. In personalibus rhetoricus ordo servatur, qui constat partium aetatis distributione, & aeternus etiam secundum seriem temporis procedit. 5. Generaliter igitur in omnibus narrationibus praestandum est, ut unaquaelibet secundum temporis sui rationem instituatur. 6. Artificium dispositionis non Dialectice, nec Rhetorice, sed historice, hoc est, secundum cursum historiarum institui debet. 7. Narrationes historicae non debent esse coacervationes locorum communium, nec capita centonium53 esse debent. 8. Distributio secundum locos communes haec habet incommoda – 1 caret exemplo sacrarum vel ecclesiasticarum narrationum – 2 caret exemplo historicorum Ethnicorum – 3 turbatur ordo rerum gestarum – 4 Sequuntur distractiones, inversiones, anticipationes & confusiones temporum & annorum – 5 Contradictio tituli. [27v] 9. Ego scriberem cum ordine temporum. Generalia in fine subiungerem, quasi coronidem constantem & accomodatione. Vel si in principio deberet fieri, uterer iis quasi prooemio vel argumento sequentium.
52
Textwiedergabe nach DIENER, Centuries S. 545 (= Documents IV, 3.3). Die Schreibweisen für i/j und u/v sind hier jedoch, anders als dort, normalisiert, ebenso wurde auf eine Wiedergabe des Zeilenfalls der Handschrift verzichtet. 53 Wohl verschrieben für centurionum, vgl. DIENER, Centuries S. 99; dort übersetzt als „chapters of patchwork“.
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B. fol. 28r–29v54 [28r]55 Articuli proponendi scriptori et collectori historiae: 1. Ut aliquid huius iam maiori studio aut conatu fiat agaturque, id non aliqua singulari curiositate, aut importunitate fieri statuat. Sed urgente officio, conscientia, et multorum minime mollibus admonitionibus. Quo tamen ipsi maiori conatu aut studio, nihil penitus cogitent contra eum suscipere, aut ei imponere, nisi quod in conventione contineatur, vicissimque ab eo petant, ut conditiones conductionis diligentissime servet. 2. Ut quantum omnino per valitudinem potest, huic rei vacet, et quam minime ocii feriarumque sumat, iuxta conventionem, cogitans, se in hac re Deo, non hominibus, idque in re praegrandi, et multis difficultatibus laborante servire. 3. Ut methodon eiusque resolutionem diligentissime cognitam perspectamque habeat, et in scribendo sese ad eam, modis omnibus accomodet. 4. Ut sicut diversissime sunt res: invenire, disponere et eloqui. Sic et ipse aliam operam collectioni, aliam dispositioni, aliam denique elocutioni tribuat, in qua re, Rectoris exemplum cum utiliter monere potest. 5. Ut authores, eorumque libri ac capita, diligenter notentur in collectione, distributione, ac scriptione. [28v] 6. Ut sylva uniuscuiusque libri, quamprimum fuerit collecta, statim alterum quoque exemplar describatur, et exhibeatur inspectoribus. 7. Ut dispositionum exemplar per scribam desccriptam, tradat inspectoribus priusque manum adhibeat scriptioni, vel non multo post. 8. Ut scriptor, absoluto uno capite, vel ad summum duobus curet hoc describi, et inspectoribus tradi. 9. Ut uterque, et scriptor et collector, singulis hebdomadis suas operas inspectoribus die sabbathi 56ante meridiem ostendant57, oportet n. iisque tantas pecunias conferunt, aliisque petentibus exactam rationem aliquando ocii operarumque reddere. Quare hebdomadatim labores in certo libro diligenter ac ordine annotentur58. 10. Ut uterque sua dubia annotet, et inspectores crebro consulat, quo in illi cogitare, et, si necesse sit, etiam absentes perconctari queant. 54
Erstabdruck DIENER, Centuries S. 547f. Zusatz von Wigands Hand: 16. Febru. 1556. 56 Gestrichen von der Hand des Flacius: exhibeant 57 ante meridiem ostendant eingefügt von Flacius’ Hand. An gleicher Stelle interlinear von Wigand: praestabit haec res & illud commodi, ut inspectores semper totique negocii statu scientes melius tum de agendis tum de differendis aut etiam omittendis cogitare & in medium consulere possint. 58 oportet … annotentur von der Schreiberhand (Marcus Wagner?) nachgetragen. 55
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11. Ut scriptor tres libros vacuae chartae in promptu habeat, in quorum uno annotet omnia parum liquido explorata ac peracta, et quomodo ulteriori deliberatione indigentia, praesertim vero, quae nondum, satis absoluta iam in scriptionem relata sunt. In secundo consignet omnia ea, quae ipsi incidunt, ad libros vel praecedentes vel consequentes pertinentia. In tertio signet omnia experimenta seu compendia, tum ad faciliorem inquisitionem, tum ad scriptionem facientia, quae experientia et usus quotidianus eum docent. Simile quod et collector faciat. [29r] 12. Sylvae collectae in fine catalogi addatur autorum omnium, ex quibus collectum est ad quemlibet librum. 13. Ut inspectoribus omnino demonstrent. Fraterna enim collectio, et, ut ita dicamus, collaboratio, ubi sola ratio ac veritas regnet, instituitur. 14. Das ihr solche vnsere sorge, fleis, vnd furnemen, in keinem Wege also verstehen oder vernemen solt, als wolten wir euch vber das, so man einmahl eins worden ist, beschweren, oder was aufflegen, sondern das wir dabey auffs gnawest stehen vnd bleiben wollen, vnd euch alles gentzlich biss auff das geringste halten, was wir euch verheissen haben, verstehen und begeren auch dergleichen von euch widderumb. Gott weis vnser hertz, das wir euch vnd diese gantze sache von hertzen meinen.
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C. fol. 29v–32v59 [29v] 16. Februarii Anno 155660 DE COLLECTIONE EX HISTORICIS ET PATRIBVS REGVLAE GENERALES I. Primo collectores institutum seu scopum operis ideamque eius exactissime cognitam habeant, quod ex consultatione & methodo consequi possunt. Fine enim cogito, teste Aristotele, semper rectius conuertuntur eo media, veluti sagittarii scopo conspecto, tela eo dirigere possunt, alioqui in incertum ac temere sagittant. II. Deinde resolutionem methodi perfectissime perspiciant & pernoscant, atque adeo memoriter, si fieri potest, perceptam teneant. Quo sine omni dubitatione in promptu eis sit, quid ex tantis rerum aceruis & varietatibus colligere debeant, nihilque vtile temere praetereant. III. Quare capita, in methodi resolutione notata, sibi proponant & mente teneant, quid ad quodlibet referendum sit. Index capitum 1 De loco & propagatione 2 De tranquillitate & persecuutione 3 De doctrina & doctoribus piis. Huc omnium doctorum nomina, quorum mentio fit, notentur, & alia vt habet resolutio 4 capitis. [fol. 30r] 4 De haeresibus & erroribus, indeque 5 De ceremoniis & ritibus. 6 De schismatibus leuioribus 7 de politia seu gubernatione Ecclesiae, rerumque & personarum Ecclesiasticarum 8 De conciliis 9 De paenis persecutorum & premiis nutriciorum 10 De Episcopis & doctoribus specialia, vt in resolutione notata sunt. 11 Da haereticis specialia 12 De martytribus, qui non fuerunt Doctores, sea alioquin illustres, vt in resolutione. 13 de miraculis, superstitosa, & vana, vno aut altero verbo annotentur 14 de rebus Iudaicis
59 60
Erstabdruck DIENER, Centuries S. 549–553. Von Wigands Hand.
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15 de aliis religionibus extra Ecclesiam vt ethnica & Mahometica, Romani partitiones, translatiationes, dominationes pontificis Romani &c. defectiones, vastationes, &c IIII. In hisce capitibus & circumstantiae omnes diligenter obseruentur, & collectio ad eas quoque accomodetur, vt est in resolutione methodi annotatum. V. Non pigeat collectorem ea, quae ad plures locos spectant, ab eodem sigillatim breuiter notare, vt cum mentio sit alicuius Doctoris, plerumque locus vbi docuerit, vnde oriundus, quos Haereticos refutauerit & similes circumstantiae convertuntur, ibi quaslibet ad suum locum reponi necesse est & prorsus nihil intermittendum est, quod quoquomodo ad hoc institutum pertinere videtur. VI. In collectione & hoc obseruandum & annotandum est, quod ad priores libros, utpote historiam Christi vel Apostolorum pertinere videbitur, & detur ei rei peculiaris liber. Item quae ad sequentes libros faciunt, quae in idem volumen sub diuersis tamen titulis referantur. VII. Autores, libri, Episcopi aut ministri haereticorum aut aliorum nomina, quae citantur, assignentur. VIII. Autores vnde est collectum & eorum libri & capita non confuse adscribantur, sed distincte, & in textu non in margini nec sciri possit, quid quo pertineat. Item qui consentiunt aliis, eis debet addi idem sentit. Qui vero addunt, vel in personis vel historiis vel dogmatis describendis, itidem clare & non perplexe addatur. IX. Collectores ita scribant, vt legi possit. Nam cum sylua materia scriptionis sit, neccesse erit eam a pluribus legi et pluries inspici.
Modus colligendi ex historiciis. X. Porro quia in historicis per Imperatores colligitur, ideo haec videtur ratio commodissima praescribi posse. Plura autem ipse vsus suppeditabit. Singula folia in duas columnas 61 frangantur, & in vnam aut plures titulus capitis & postea Imperatoris notetur, & quidquid sub isto Imperatore occurit, quod ad illud caput pertinet, adscribatur, habita ratione autorum, qui idem dicat, qui plenius narrat qui tantum vnam atque alteram circumstantiam temporis aut loci & adiiciat, & qui variet in circumstantiis, & ab aliis diuersum dicat, exemplo gratia. Si volo colligere ad tertium librum ex historicis sic ago. Accipio aliquot arcus papyri, his inscribo caput, De loco & propagatione, idem facio in aliis capitibus, vt de persecutione; De doctrina, de haeresibus &c. postea frango arcus in columnas, vni inscribo De loco & propagatione sub Traiano, alteri de loco et propagatione sub Hadriano, 61
Gestrichen: dividantur.
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tertiae de loco et propagatione sub Antonino Pio, & sic deinceps. Si plures habeo imperatores colligendos, Deinde percurro Eusebium, Nicephorum aut alium quemlibet autorem & ex [31r] eo annoto, quidquid occurit, quod ad caput de loco & propagatione pertinet sub suo Imperatore, percurro vno autore sumo alium, video an eadem cum priori, aut diuersa aut plura aut clariora dicat. Haec omnia diligenter vna cum loco & pagina adiicio, idem facio per reliqua capita, persecutione & sequentibus. Si qua historia occurrit, quae loci meminit, vbi Ecclesia tum fuit, adiicio huic capiti. Si etiam de persecutione habet aliquid, tum ad secundum caput similiter, quod eius capitis est, referro diligenti habita ratione, ne quid praetermittatur, quod ad id caput pertinet, iuxta resolutionem methodi. XI. Annotanda etiam interdum sunt illa, quaequalemcumque coniecturam de rebus cuiusque capitis praebent. Nam interdum res maximae paucis & obscure indicantur, seu perstringuntur tantum, vt ex antecedentibus posteriora vel econtra satis certo diuinari possunt. Sagaces ergo nos inuestigatores solertesque coniectores, vti sunt venatores, in quaerendis feris, esse oportet. XII. Dogmatica etiam ex ipsis historiis accurate annotentur.
De modo colligendi ex patribus. XIII. De modo colligendi ex patribus. Patres historica breuiter interdum attingunt. Quare ea diligenter & attente annotanda & obseruanda sunt. In patribus vero praecipue duplices locos fieri oportet Historicos & Dogmaticos. Historicorum capita sunt eadem, quae in resolutione methodi habentur. Porro quia ea interdum leuiter attinguntur, accurata observatio fieri debet, ne quid negligetur. Sunt etiam cuiuslibet patris specialia, quae in [31v] capite de doctoribus in resolutione notantur, diligenter obseruanda, vt cum Originem lego, inter alia historia obseruo, quis Origenes fuerit, vbi & quomodo docuerit, quem articulum illustrarit &c. quae argumenta Haeresiorum refutarit, quorum doctorum meminerit, quos libros scripserit, qua phrasi vsus &c. quales ipse vel priuatas vel cum aliis communes opiniones habuerit. Dogmatici loci sunt loci Theologici, quorum catalogus extat in resolutione cap. 4. ac debeant dogmata omnia diligenter & quodammodo curiose annotari. In collectione igitur ex patribus aliquot arcus accipiantur, iisque genus inscribatur. Loci historici ex origine aut aliorum columnis singulis, prout videtur capiosa materia occursura, distribuantur capita, vt de loco &
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propagatione, de persecutione, de doctrina. Huc tantum historica communia referuntur, vt si aliquando dicatur Doctrinam puram aut impuram eo tempore fuisse & similia. Nam infra in dogmatica loca dogmata alias habent sua receptacula. Item de haeresibus. Huc etiam generalia historica referantur. Specialia enim ipsius seductoris ad caput de singulis haereticis pertinent. De ceremoniis & ritibus Ecclesiae, de schismatibus, de politia & gubernatione Ecclesiae, de conciliis, de paenis persecutorum, De Episcopis & doctoribus specialia, de haereticis, de martyribus, de miraculis, de rebus Iudaicis, de religionibus Ethnicis & Turcicis. De mutationibus politicis. Quae vero materiae in haec capita singula referenda, id Resolutio monet & docet. Deinde ad locos dogmaticos similiter aliquot arcus accipiantur, iisque genus inscribatur. Loci dogmatici & postea singulis aut pluribus columnis capita inscribantur vt sunt de Deo, de Trinitate, de personis singulis De Creatione, de angelis bonis & angelis malis, De homine ante, de homine post lapsum, de libero arbitrio, de praedeterminatione, de peccato, de lege, de Euangelio, de discrimine legis & Euangelii, de iustificatione, de sola fide iustificante, De iusticia coram Deo gratuita, De operibus quae opera & in quem finem, de poenitentia, de Baptismo, de clauibus, De coena domini, de libertate Christiana, de oratione, de inuocatione sanctorum, de statuis, de cultibus & peregrinationibus &c. De Ecclesia, de primatu in Ecclesia, De votis & consiliis & ordinibus, de traditionibus humanis, de coniugio, de magistratu, de gladio magistratus defendente Christianos, De regno Christi, de Antichristo, de extremo iudicio, de resurrectione mortuorum, de inferno de loco animarum post mortem, de purgatorio, de indulgentiis, de Magia, de Astrologia, de martyrio dogmatica. In haec capita omnia, quae passim occurunt, referantur & maxime ostendatur, quid de istis capitibus vel bene vel62 erronee, perspicue vel obscure vel etiam periculose, inepte etiam vel absurde dixerint & senserint. Ex autoribus non semper integra, prolixa praesertim loca, de verbo ad verbum describi necesse forte erit. Nihilominus summa & praecipua capita vera cum circumstantiis accurate, debent annotari, inprimis autem doctrinae controuersiae eo tempore sedulo obseruentur. Ex collectione ex patribus non tantum dicendum est, quod bene vel male de Deo, de peccato & alliis locis senserint, sed & integrae sententiae sunt assignandae breuiter, vt sciri possit, quid docuerint de illis locis. Quod si autem tractatio minus esset prolixa [32v] & inprimis elegans folium notaretur, ac lector eo remitteretur. Superius regula quarta dictum est non debere pigere collectorem, vnam rem ad plura capita pertinentem in pluribus annotare. Id eo compendio fieri poterit, vt si res vno loco prolixius sit 62
Gestrichen: male.
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annotanda, in alio tanto breuius annotetur, lectorque pleniorem annotationem in alio capite inspicere iubeatur. Vtile fuerit collectores sylvam singulis diebus aut circiter percurrere, vt sciant, quid collegerint, maiorique iudicio alia illis prioribus similia, diuersa vel aduersa obseruare & adiicere possint. Sicubi sententiam autorum adsequi non possunt, propter obscuritatem, aut mendam, vel alios consulant, vel etiam si aliter fieri non potest, rem cum sua dubitatione annotent, vt alius vel alias diligentius iudicare possit, nec temere scriptorem falsa affirmatione tamque putri fundamento decipiant.
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D. fol. 33r–34r63 [33r] CAUSAE QUARE NEcesse sit fieri accuratam dispositionem historicam singulorum capitum 1 Ut fiat delineatio, non minus obscura, totius scriptionis, ac forma quaedam seu idaea conspectui pateat. 2 Ut scriptor ipsam materiam in suo ingenio quasi percoquat & maturet. 3 Ut meliori ordine singula membra collocentur, quod in tam multis rebus, nisi talis distributio sit facta, non potest observari. 4 Ut facilius, rectius, nervosius ac significantius omnia exponantur. 5 Ut collegae in hac communi opere accuratius omnia perspicere, considerare & de rebus necessariis monere in tempore & adiuvare possint. 6 Ut non sit necesse totius res retexi unam materiam 7 si qua occurunt adiicienda, ex sequentibus aut praecedentibus libris, ut sine magna difficultate addi possint. 8 Cogitandum omnino est, diversa esse officia invenire, disponere & eloqui, ut Rhetores non frustra tradunt, & cuilibet parti suam curam & diligentiam esse necessario tribuendam, si modo aliquid vel mediocriter elaboratum sibique constans aut consonans debeat confici. 9 Summa, & intellectus & memoria dispositionem flagitant. Nam cum collectio non summo iudicio quod ibi adhiberi non potest, res comportet, ad haec variorum autorum diversa, & nominum etiam pugnantia testimonia annotet, necesse est, ut aliquando tandem illa omnia diligentissime iudicentur excu=[33v]tiantur & examinenter. Hoc vero alias, nisi in distributione, fieri haud quaquam potest. Nam in scriptione intellectus in verborum & sententiarum delectu & collocatione est occupatus, ut aliis vacare minime recte possit. Tum ita memoria, cum tam multas varias minutasque res per tam multas chartas dispersas, anti si habeat, & adhoc in cura verborum sententiarumque versetur, necessario multa obliviscitur & praetervolat. Experientia id nos quotidiana docet, cum etiam in una re, eaque crassa aut conspicua exponenda versamur. Multa enim subinde praeclara in mentem aliud agenti veniunt, quae nisi protinus annotes, mox non facile reditura avolant. REGVLAE GENERA= les in dispositione historica obseruanda, 1. Distributio debet omnino plene fieri, ita vt & subiecta & praedicata clare ac perspicue ponantur, id est, tum res de qua agere volumus, tum id quod de ea vel affirmare vel negare vel dubitare, tum denique ipsa, vt vocant, copula, id est, vt simul pronunciemus &c. vt sic tandem membra singula, 63
Erstabdruck DIENER, Centuries S. 544–556.
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quae in scriptionem referri debent, non obscure delineentur, & ideam scriptionis utcumque exprimant. 2. Generalia si qua sunt, priori loco ponantur specialia vero debito ordine subiiciantur. 3. Item quantum fieri potest observetur ordo temporis, ne ea, quae prius facta sunt, posterius collocentur. 4. Non solum praesentes scriptorum narrationes recitandae sunt, set etiam ratiocinandum, a priori & posteriore, aliaque veritatis vestigia sunt sagaciter consectanda. 5. Circumstantiae & res, quae deesse videntur, debent annotari ut materia cogitandi, inquirendi & observandi praebeatur. 6. Analyseos capita accurata observentur, quantum omnino possibile est. 7. Materiae diligenter & cum iudicio secandae sunt, ut suo quoquo loco referantur. 8. Item propter affinitatem, quaedam in uno loco brevius, in altero prolixius recitanda erunt, indicata per cifras symphonia, vt in Bibliis. 9. In distributione solicite & curiose, singuli autores idem dicentes, aut diversum, item libri, capita debent annotari. 10. Item ea quoque in distributionem assignabuntur, quae putarit scriptor referenda, & additis quibusdam ratiunculis, quare? idque propter iudicium & collationem sententiarum quam saepe fieri & necessarium & utile est, ac potest in margine nota poeni, ut videant collegae, haec esse ociosa & amputanda. 11. Item nodi sequi occurrunt sunt annotandi, vt de iis tempestive conferri possit, ne in vacuum laboretur. 12. Temporum supputationes inter se discrepantes, secundum autores etiam indicentur. 13. Cum historiam Ecclesiasticam scripturi simus, opera danda est, ut non prorsus ethnice, sed Ecclesiastice etiam tractemus, nempe ut interdum de utilitate partium historiae, de consilio Dei in gubernatione, conseruatione & liberatione Ecclesiae lectorem admoneamus ac Epiphonematis historicam narrationem ornemus. Monachi qui sub papatu historias scripserunt, habent fere prorsus ethnicas, inanes ac melancolias narrationes. At nos in tanta Euangelii luce, omniumque artium flore, faculas (!) quasdam seu viva citatem (!) narrationi, quantum poterimus, addemus. 64 Iudicamus necessarium & utile fore, ne scriptor tractationem alicuius capitis suscipiat, priusquam eius dispositio a collegis fuerit perspecta & approbata.
64
Möglicherweise späterer Zusatz.
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E. fol. 34v–35r65 [34v] ADMONITIONES QVAEDAM DE COLLECTIONE Necesse est omnino & extra omnem controversiam Architectum habere materiam scribendam, quam maxime & diligentissime cognitam ac perspectam, suisque propriis manibus, ut ita dicamus subactam, agitatam aut mollitarem, ut videlicet sicuti architectus, dum coedit materiam vel eam praeparat, iam ideam non tantum generalem alicuius domus, verum singularum etiam partium, ac si iam coram astaret tota centiguatio, in mente habet. [35r] Ita & scriptoricus architectus, ut sic loquamur, non tantum quandam generalem ideam totius operis in mente circumferat, sed cuiusque libri, eiusque capitum formam quandam sibi in mente fingat, & antequam scribat, praecogitet. Item sicuti architectus non subito, nec una tantum cogitatione omnia assequitur, iam de ista mox de alia idea cogitat, donec collatione omnium tandem pulcherrimam concipiat, & postea velut pariat combinandis & construendis materiis. Ita scriptor de rerum optima collocatione & quasi formatione singularum partium, diligenter cogitet ac recogitet, priusquam ad scriptionem se accingat. Quare omnino videtur consultissimum esse, aut etiam plane necessarium, ut ipsemet Architectus quam maxime plenos hisce rebus autores cognoscat, indeque suo instituto convenientia colligat, collectoribus vero tradat aridiores, seu magis vacuos, ac unde pauciora aut etiam incertiora, maiorique labore colligenda restant66. 2 Quare oporteret scriptorem Ecclesiasticas historias Eusebii & Nicephori aliquos breviores ac meliores patres, concilia & quosdam de praecipuis chronicis perlegere, alia vero collectores. Atque huius rei gratia, habet scriptor proprium Eusebium. 3 Dubitatio quoque est quae scripta sint prius posteriusue colligenda. Ac iudicamus omnino quod vetustiora, pleniora & magis authentica praecedere, alia subsequi debeant. Causa est, quia ex illis tanquam fundamentum aut corpus [35v] materiae colligitur, ex aliis vero vel consensus vel diversitas, &. veluti concordantiae aut accidentia quaedam vel circumstantiae solummodo accedunt. 4 Quapropter si quidem recte res progredi debent, necesse est, ut in postremum initio uniuscuiusque libri Architectus cum inspectoribus constituat, primum qui autores sint ad illum librum potissimum per voluendi. Deinde quis, quos, postremo quo ordine, ut omnia certa ac ordinata quadam ratione peragantur. Si qua etiam in prioribus collectionibus non 65 66
Erstabdruck DIENER, Centuries S. 557–558 (= Documents IV, 3.7). 28 Martii 1556. Interlineare Einfügung von Wigand.
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recte collecta fuerunt, de modo meliori semper diligenter & amanter conferendum & conveniendum est. 5 Est praeterea etiam valde necessarium, vt quoniam inspectores quoque adiuvare commune opus, quantum omnino per suas vocationes licet, volunt, singulis sabathis in colloquio omnes huius operis adiutores sibi invicem exponant, quid ea hebdomada singuli perfecerint, & quid sequenti, deo volente & iuvante perficere cogitent, quae res & necessaria est & multiplicem fructum afferet, nec ulla causa est, quare quis hac in parte tergiversari vel velit vel possit. 6 Permagnum quoque est discrimen inter eum qui colligit & inter eum qui sibimet studet & consulit. Nam qui sibi studet, illa omnia vult intelligere, pleraque etiam ediscere, si non ad verbum, saltem, ut ita dicamus, ad sensum. Quare non prius ad alia progreditur, quam priora perspexit, & quasi memoria comprehendit. Eoque saepe unum locum terque quaterque relegit & trutinat. At qui colligit, ille celeriter oculos vol=[36r]vendo, id modo primum quaerit an ibi agatur de re ad suum institutum, aut, ut ita dicam, mellificationem pertinente. Si non tum mox eum locum praeterit, quantumvis pulchri in eo flores existant. Quod si est materia sui instituti, dat operam, ut eam mediocriter intelligat, & mox annotet, non id magnopere laborans, ut eam penitus suae memoriae infigat, & mox ad aliud festinat. 7 Utile etiam videtur esse, ut 67in colligendo primum integer liber aut caput percurratur, & paucis punctis loca annotanda consignentur, postea demum omnia ordine describantur. Duae huius rei sunt causae, altera quod tarn crebra mutatio operarum moram & turbationem quandam cogitationum affert, altera quod perspectis materiis totius libelli, meliori consilio seu harmonia postea omnia annotari, & excerpi possunt. Verum haec ipsa res facile etiam oculariter brevi exemplo demonstrari potest.
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Gestrichen: pr.
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F. fol. 36v–38r68 19 Aprilis 1556 DE DISPOSITIONE 4ti capitis quaedam declarationes69 1. Differentiam inter hos locos doctrinales quales scriptor die Sabbati exhibuit, & dispositionem ipsam. Hi loci doctrinales sunt adhuc tantum rudis quaedam sylva, quae continet nudas concordantias dogmatum ex autoribus collectas, ad hos fines, primum ut liquido cerni possit in quo puncto doctores Ecclesiae conveniant, uti & qui varient ad discordent. Deinde ut illustrissima testimonia exturba concordantium meliori iudicio ac ordine seligi, & in distributionem scriptionemque transferri possint. At distributio ipsa continet integram & copiosam & ordinatam delineationem totius scriptionis, hoc est omnium membrorum rerum ac sententiarum, quae postea in hoc capite coniungi & vnici & quasi vestri convenienti oratione debent. Quare inter hos locos & distributionem ipsam fere tantum interest, quantum inter colores pictoris & eiusdem delineationem primam, quando videlicet lineis & umbris quibusdam designat, quid, quibus partibus, qua proportione velit pingere. Colores sunt haec sylva locorum. At delineatio pictoris cum coloribus, est applicatio huius sylvae ad distributionem capitis, ubi iuxta Analysin quodlibet in suum locum responditur, & quantitas ac qualitas designatur istius corporis, quod, contexi debet. Ipsa picturae perfectio, nempe qua delineatio prius facta mox vivis coloribus illuminatur, ac prodit tandem venustissima Helena, in hac materia est, accurata & polita tractatio huius capitis iuxta omnia membra. [37r] 2. Quid igitur ex quomodo faciendum. Iuxta praescriptam Analysin, totum caput doctrinae, quid, quo ordine, quomodo velit tractare scriptor, clare & expresse annotet. Primum quid velit pro exordio ponere. Deinde qualem propositionem velit constituere, & quas rationes ubique, quas gnomas, quas figuras adhibere, ubi velit esse contractior, ubi vela dare ventis, & paulo liberius aliquam materiam tractare. Posthaec catalogum Doctorum iuxta orbis terrae patres, & maxima insignes & celebres recitet. Addat causam, quare id faciat tantum breviter. His absolutis ad expositionem doctrinae accedat. Primum autem generalia praemittat, ut testimonia autorum & coniecturas alias, tum temporis doctrinam Ecclesiae aliquanto puriorem fuisse 68 69
Erstabdruck DIENER, Centuries S. 559–561 (= Documents IV, 3.8). 19 … declarationes] Von Wigands Hand.
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quam postea, licet quaedam nebulae inciperent sese paulatim ac sensim attollere. Testimonia ex sylva huc 70scribantur & addatur, haec volo in scriptionem referre, haec non, & hoc aut illo modo de eis statuere ac pronunciare. Coniecturae & collectiones ex antecedentibus. Ut quod adhuc quidam Apostoli in vivis &c haec expresse huc scribantur, ut vel hae coniecturae possint iudicari sufficientes, vel aliae vel plures quaerantur. Deinde specialis quoque tractatio, iuxta articulos instituatur, ubi haec observentur. 1. Bono ordine articuli digerantur & tractentur. 2. Summa cuiusque articuli recitetur perspicue & ita, vt nonnihil alludere videamus ad phrasin Doctorum eius temporis. [37v] Huic summae testimonium unum aut alterum, maxime illustrem & doctrinis plenum, ex Doctoribus eius saeculi adscribatur. Cum autem in his concordantiis cognatum cuiusque articuli, testimonia quaedam sint annotata, ne laborem iterare & denuo describere cogatur, signet tantum rubrica ea testimonia, quae volet suo iudicio citare, & hic in dispositlone tantum dicat. Utar autem in hoc articulo testimoniis, quae in sylva concordantiarum rubrica notavi &c . Item si qui doctores variant ab hac communi forma doctrinae in eodem articulo, expresse hic indicetur, & locus ac verba citentur. Et sub finem cuiuslibet articuli citentur autores, libri, capita, ubi iste articulus fusius explicatur. Causa est, ut consensus probetur, & lector remittatur ad locos pleniores. Hoc pacto procedantur per singulos articulos. Interdum unus articulus plura habet membra seu partes quam unam. Id quoque observetur & ordine praelibet tractentur, ut de Deo, quod unus, de trinitate, de Christo, eius divinitate, humanitate, &c. Sic in aliis. De naevis item summa ponatur, testimonia citentur allegentur autores, loco. Ac hoc in loco omnium sententiae, ex quibus naevus colligi potest, videntur assignandae, adiecta annotatione, tantum ponam, hoc omittam, idque hoc consilio &c. His expeditis iudicium de libris canonicis & Apocryphis quantum historiae horum temporum suppeditant, tractare. Recenseatur rationes quare? postea specialis enumeratio. Huc adscribantur quae ex historicis & doctoribus collecta sunt, in sylva. Item qualibus libris [38r] frequentissime & cum autoritate usi sint Doctores huius saeculi. Postremo loco & de versionibus Bibliorum de 70, ex ubi iudicia aliorum etiam recitanda erunt.
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Gestrichen: ad.
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Generalia Hic in dispositione addat, de hac re consentiunt isti seu historici seu doctores, hoc libro, hoc capite, ubiquis addit aliquid, itidem notetur, discordantiae similiter. Dubia ad marginem adsignet.
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G. fol. 38r–38v71 [38r] AD MODVM COLLIGENDI REGVLAE iudicandi & explorandi, an libri, qui tribuuntur saepe autoribus vera eorum sint I. An stylus conueniat cum iis libris, autoris, de quibus non est dubium, quod sint eius?72 Ad stylum autem pertinent verba, phrases, compositio, et tractatio & similia, quae sunt illi autori vulgaria. II. An res conveniant cum iis, de quibus plerumque solet loqui autor, suo quodam certo modo & ratione, an vero res prorsus sint alienae & diuersae, nec alludant ad autoris ingenium & consuetudinem? III. An Circumstantias alias contineant, vtpote temporis etiam, – item an historias commemorent, quae post73 autorum aetatem sint factae, quae arguunt eos libros esse suspectos & suppositicos. IIII. Testimonia, ut censurae aliorum probatorum autorum, qui vel catalogos scripserunt librorum, in quibus illi libri [38v], qui assignantur autori, non inveniuntur, vel aliis attribuuntur vel etiam74 alias suum iudicium de illis tulerunt. V. Videndum an contineant naeuos, qui fuerunt ei75 autori vulgares, aut contrarii. Item an ii naeui etiam isti saeculo fuerint noti, in quo autor vixit.
71
Erstabdruck DIENER, Centuries S. 562 (= Documents IV, 3.9). Niederschrift gänzlich von Wigands Hand. 72 Gestrichen: autoris. 73 Gestrichen: ipsorum. 74 Gestrichen: in libris suis aadducunt in alibi in. 75 Gestrichen: saeculo.
Arno Mentzel-Reuters
Quellenarbeit in den Magdeburger Centurien Handschrift und Druck „Die Centurien sind“, vermerkte Arno Duch im Jahre 1934, „formal gesehen im Wesentlichen nichts anderes als Exzerpte, systematisch geordnetes Quellen-Material“ 1. Wenn dies auch etwas übertrieben ist – große Bereiche enthalten genuine Darstellungen – so gibt es doch einen guten ersten Eindruck von der Arbeitsweise der Centuriatoren und den Auswirkungen auf die narrative Struktur des Großprojektes. Ich möchte im Folgenden den Zusammenhang zwischen dieser Arbeitsweise und der Textpräsentation der gedruckten dreizehn Centurien untersuchen. Dies bietet zum einen die Chance, eines der größten editorischen Unternehmen der Frühen Neuzeit, knappe einhundert Jahre nach Gutenbergs Bibeldruck, in seiner Aufbereitung kennenzulernen und verhilft uns zum anderen zu einer abgesicherten Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, daß sich zwischen den Buchdeckeln der dreizehn Centurien noch weitere, bislang ungehobene, Schätze mittelalterlicher Textüberlieferung aufspüren lassen. Ich möchte zeigen, wie auf dem Weg von der in Handschriften manifestierten Überlieferung mittelalterlicher Texte zu einem umfassenden gedruckten frühneuzeitlichen Kompendium diese Texte verarbeitet wurden, wie sie sich veränderten und mit welchen Folgen für das Verständnis des ursprünglichen Textes die neue Druckfassung erarbeitet wurde. Dabei ist nach dem Einfluß der humanistischen Textkritik, wie sie Erasmus von Rotterdam begründet hatte, ebenso zu fragen wie nach den Auswirkungen des konfessionellen Ansatzes, der den Magdeburger Centurien von Anfang an zugrunde lag. Ausgangspunkt sind also nicht die theoretischen Entwürfe, die der Arbeit der Centuriatoren vorangingen, sondern die Quellen, aus denen sie ihren Text formten. Die Hauptakteure der Magdeburger Centurien waren Matthias Flacius (1520–1575), Johannes Wigand (1523–1587) und Matthias Judex (1528– 1564). Sie wurden alle im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts geboren und gehörten damit einer anderen Humanistengeneration an als Johannes Trithemius (1462–1516), Erasmus von Rotterdam (1469–1536), 1
Arno DUCH, Eine verlorene Handschrift der Schriften Bernos von Reichenau in den Magdeburger Centurien, ZKG 53 (1934) S. 417–435, hier S. 418.
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Johannes Cuspinian (1473–1520) oder auch Philipp Melanchthon (1497– 1560). Sie können bereits auf die enormen editorischen Leistungen dieser Älteren zurückblicken, der Umgang mit gedruckten Büchern ist für sie selbstverständlich. Ebenso sind sie mit den Kämpfen Martin Luthers (1483–1546) und seiner Anhänger gegen Papst und Kaiser von Kindheit an vertraut. Sie müssen sich im Umgang mit der gespaltenen Kirche und mit dem jetzt etablierten Buchdruck neu positionieren und eine neue Definition von Gelehrsamkeit entwickeln. Dies geschah nicht im Bruch mit den früheren Humanisten. Auch Trithemius war sich bewußt, daß mit dem Buchdruck eine neue Form der Textgestaltung und der Textverbreitung entstanden war – gab er doch 1492 seinen Traktat De laude scriptorum manualium zum Druck2. Dieser Widerspruch vollzieht sich im Bewußtsein, daß hier ein Blick zurück gewagt wird. Noch deutlicher wird dies bei Melanchthon. Er beginnt seine Laufbahn als Korrektor bei dem Tübinger Buchdrucker Thomas Anshelm ausgerechnet mit der Weltchronik des Universitätskanzlers Johannes Vergenhans 3. Aus diesen Anfängen erklärt sich, warum sich Melanchthon aus Wittenberg nach Tübingen zurückwandte, um dort den Druck einer unvollständigen und für ihn anonymen, jedoch klar papistischen Chronik des 11. Jahrhunderts zu veranlassen4. 2
Originaldruck Mainz 1492 (HAIN 15617, BSB-Ink T-446); moderne Ausgabe: Johannes Trithemius, De laude scriptorum. Eingeleitet, hg. und übersetzt von Klaus ARNOLD (Mainfränkische Hefte 60, 1973); David J. HOWIE, Benedictine Monks, Manuscript Copying and the Renaissance: Johannes Trithemius’ „De laude scriptorum“. Revue bénédictine 86 (1976) S. 129–154; Michael E MBACH, Skriptographie versus Typographie. Johannes Trithemius’ Schrift „De laude scriptorum“, Gutenberg-Jahrbuch 75 (2000), S. 132–144. Zu Trithemius allgemein vgl. Harald MÜLLER, Graecus et fabulator. Johannes Trithemius als Leitfigur und Zerrbild des spätmittelalterlichen „Klosterhumanisten“, in: Inquirens subtilia diversa. Festschrift Dietrich Lohrmann, hg. von Horst KRANZ und Ludwig FALKENSTEIN (2002) S. 201–223. 3 Johannes VERGENHANS, Memorabilium omnis aetatis et omnium gentium chronici commentarii a Ioanne Nauclero, complevit opus F. Nicolaus BASELLIUS Hirsaugiensis annis XIIII. ad M.D. additis (Tübingen 1516 = VD-16 N 167). Vgl. Hermann MÜLLER, Nicht Melanchthon, sondern Nikolaus Basellius Urheber der Interpolationen in der Chronographie des Nauklerus, Forschungen zur Deutschen Geschichte 23 (1883) S. 595–600; Stefan RHEIN, Buchdruck und Humanismus. Melanchthon als Korrektor in der Druckerei des Thomas Anshelm, in: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland, hg. von Stefan RHEIN (1997) S. 63–74. 4 [Lamperti Hersfeldensis] Historiae Germanorum [mit Schreiben des Philipp Melanchthon an Caspar Churrer] (Tübingen 1525). Im Tübinger – nicht, wie bei Johannes HALLER, Die Überlieferung der Annalen Lamperts von Hersfeld, in: Wirtschaft und Kultur (Fs. Alfons DOPSCH, 1938) S. 410–423, bes. S. 418 und anderen zu lesen, Wittenberger – Augustinerkloster hat Philipp Melanchthon die heute verlorene fragmentarische
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In diese humanistische Tradition5 reihte sich Matthias Flacius ein: mit seinen Bemühungen ein, ungedruckte Texte dem Vergessen zu entreißen folgte er Cuspinian und Melanchthon, mit dem Ansatz, das christliche Schrifttum in einem Katalog als Ganzes zu erschließen, dem Trithemius. Dennoch aber finden wir eine bedeutsame Veränderung im Verständnis des Buchdrucks und damit auch der handschriftlichen Textverbreitung. So zeigt des Flacius eigene Praxis, daß er für sich primär auf die Originalüberlieferung in den Handschriften zugriff und den Buchdruck nutzte, wo er Öffentlichkeit herstellen wollte – insbesondere dann, wenn strittige Glaubensfragen berührt waren. Dabei ist das Verhalten von Flacius bemerkenswert, denn wir sind in einer Zeit, in der sich das Verhältnis zur handschriftlichen Überlieferung insbesondere in reformierten Gebieten änderte. Nach der Reformation waren alte Handschriften zunächst nicht hoch angesehen6. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts änderte sich dies gravierend. Nun überführte man die Reste der zerschlagenen alten kirchlichen Bibliotheken in große Sammlungen – sei es ab 1546 in die Palatina Ottheinrichs von der Pfalz 7 oder 1541–1559 in die Königsberger Schloßbibliothek Herzog Albrechts von Preußen8. Kaum zufällig publizierte in jenen Jahren der Protestant Conrad Gesner (1515–1565) seine Bibliotheca universalis sive catalogus omnium scriptorum locupletissimus (Zürich 1545 bzw. 1548/49), die in alphabetischer Ordnung ca. 3000 Autoren verzeichnete, darunter auch das Schrifttum des lateinischen Mittelalters9.
Handschrift der Annalen entdeckt. Zum Druck Karl STEIFF, Der erste Buchdruck in Tübingen (1881), S. 151f. 5 Weitere Beispiele bei Hermann E HMER, Reformatorische Geschichtsschreibung am Oberrhein. Franciscus Irenicus, Kaspar Hedio, Johannes Sleidanus, in: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von Kurt ANDERMANN (Oberrheinische Studien 7, 1988) S. 227–245 und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 34f. 6 1543 klagte die Tübinger Universität: Dieweil noch kheine Bucher zu Anrichtung der Bibliothek gehörig der Vniu. zugestellt, besonders dieselben wie alte Stuckh zu Stuttgarten uber einem Haufen liegen, pitten Rector und Regenten, das die Bucher, sovil dero der Vniu. zugeordnet, gnedigklich gen Tubingen geschafft vnd gelihen werden. Rudolph v. ROTH, Urkunden zur Geschichte der Tübinger Universität (1877), S. 242f. (Anm.) Zur Situation in Preußen vgl. Arno MENTZEL-REUTERS, Arma Spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 47, 2003) S. 359–376. 7 Vgl. Karl SCHOTTENLOHER, Ottheinrich und das Buch (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 50/51, 1927) S. 3–39; zu Flacius ebda. S. 44–49. 8 Vgl. MENTZEL-REUTERS, Arma spirutualia (wie Anm. 6) S. 361 und 369f. 9 Vgl. Matthias FREUDENBERG in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 15 (1999), Sp. 635–650; HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 41f.
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Flacius stand konsequent in dieser Entwicklung. Das Interesse eines Cuspinian oder eines Melanchthon am Mittelalter beschränkte sich auf die Historiographie. Flacius konnte über den Terminus der testes veritatis auch einen Zugang zu primär religiösen oder theologischen Texten des Mittelalters gewinnen. Sie waren dementsprechend „testimonia veritatis“ und hatten als solche Eigenwert – natürlich nur wenn sie auf den lutherischen Glauben zu verweisen schienen. Handschriften hatten damit eine neue Aktualität gewonnen, die schon aus quantitativen Gründen durch den Buchdruck gar nicht abzulösen war. Dieses Problem wuchs mit jedem neu entdeckten „Wahrheitszeugen“ weiter. Man konnte die Bibel, die Werke Luthers und Melanchthons und die großen Autoren der Antike gedruckt verbreiten; an eine Umsetzung des vielgestaltigen mittelalterlichen Schrifttums war nicht einmal ansatzweise zu denken. Es standen Handschrift und Druck also nicht nur gleichberechtigt nebeneinander, es gab vielmehr einen erheblichen Fundus von Texten und Texttypen, die alleine handschriftlich zugänglich waren und nach aller Voraussicht bleiben würden10. Bei der Drucklegung des Catalogus testium veritatis wußte wohl niemand so genau wie Flacius selbst, was die von ihm selbst zusammengetragene Handschriftensammlung diesem im Vergleich dazu bescheidenen gedruckten Buch voraus hatte. Dabei ging es hier nicht um Pretiosen oder Kostbarkeiten im modernen bibliophilen Sinn, sondern um die Bedeutung der Texte. Die zahlreichen Abschriften von nicht käuflichen Handschriften, die Flacius anfertigen ließ, hatten im Grunde den gleichen Wert wie die Originale, wenn sie nur zuverlässig kopiert waren. Aber für die zu erstellende Kirchengeschichte galten andere Regeln. Flacius „erfand“ das Projekt, er sammelte Material, aber für die Ausführung bedurfte es nicht seines in gewisser Weise unsteten Genies, sondern bienenfleißiger Arbeiter. Das zunehmend schwierigere Verhältnis zwischen Flacius und den Centuriatoren, das im offenen Bruch endete und schließlich selbst den Namen des Flacius aus der Titelei der dreizehnten Centurie verbannte, ist in vieler Hinsicht der Schlüssel zum Verständnis zu vielen Eigentümlichkeiten dieser Kirchengeschichte. Die Spannung läßt sich auch auf der Ebene des Umgangs mit Handschriften und Drucken verfolgen. Es war das Ziel der Kirchengeschichte, die Fülle der Wahrheitszeugnisse möglichst umfassend dem Druck anzuvertrauen. Die Naivität dieser eigentlich unlösbaren Aufgabe darf nicht irritieren – 250 Jahre spä10
Für den Bereich der Historiographie ist dies deutlich ausgearbeitet bei Arno MENTZEL-REUTERS, Stadt und Welt. Danziger Historiographie des 16. Jahrhunderts, in: Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit, hg. von Sabine BECKMANN und Klaus GARBER (Frühe Neuzeit 103, 2005) S. 99–128, hier S. 101– 108.
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ter sollten die Monumenta Germaniae Historica auf ähnliche Weise beginnen11. Doch bestand für die Gruppe von Gnesiolutheranern, die das von Flacius entworfene Projekt umsetzten, nicht die Möglichkeit zur dauerhaften Etatisierung. Sie mußten, wollten sie das Projekt in ihrer eigenen Lebensdauer abschließen, gewaltige Abstriche machen. Sie mußten auch, schon aus Gründen der Arbeitsökonomie, den gedruckten Quellen Vorrang einräumen vor den Handschriften. Die Konsultation von Handschriften mußte, da sie ja in der Regel das Anfertigen einer Kopie bedeutete, auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Aus diesem Zwang erklärt sich der merkwürdige Umgang mit den wertvollsten Quellen, die den Centuriatoren zur Verfügung standen: mit den Handschriften von Texten, die wir Heutigen nur mehr aus dem Referat der Centuriatoren kennen. Oft hätten wenige Worte mehr – sei es als Zitate aus dem Text, sei es als Hinweise über den Fundort der Quelle – der Forschung viel gegeben. Diese Verknappung mußte als Tribut an die Vollendbarkeit des Werkes gezahlt werden. Die Bevorzugung der gedruckten Quellen, für die wir zahlreiche Beispiele beibringen werden, ist nur eine Seite der Arbeit an den Centurien. Denn obschon sie von vorne herein als Druckwerk geplant waren, sind sie in ihrer Struktur dem Medium Handschrift verpflichtet. Es ging jedem Band eine den späteren Drucktext prägende Phase des handschriftlichen Sammelns und Konzipierens voraus – die Centurien vierzehn, fünfzehn und sechszehn gediehen ja sogar nie über dieses (im wahrsten Sinne des Wortes) „Manuskript“-Stadium hinaus 12. Doch die gedruckten Bände, so monumental sie auch daherkommen mögen, sind nicht wirklich durchredigiert – das war aufgrund der zu verarbeitenden Textmassen und bei dem hohen Zeitdruck, mit dem das Werk entstand, nicht möglich. Der Zeitdruck erhöhte sich sogar noch durch den rasanten Absatz, den zumindest die ersten Centurien fanden. Dies erforderten dann einen Neusatz der Bände, in den neben der reinen Fehlerkorrektur wieder neue Funde eingearbeitet wurden13. Der Text blieb also offen und im Fluß. Das ist typisch für hand11
Das Projekt sollte zunächst 20 Folio-Bände umfassen, die innerhalb von 20 Jahren vorliegen sollten, vgl. Arno MENTZEL-REUTERS, Der unendliche Plan. Der Mediävist und sein Handwerkszeug im frühen 21. Jahrhundert, in: Mediaevistik und Neue Medien, hg. von Klaus VON E ICKELS, Ruth WEICHSELBAUMER und Ingrid BENNEWITZ (2003) S. 67– 80, hier S. 67f. 12 Exzerpte für das 15. Jahrhundert finden sich in der Handschrift der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 11.11 Aug. 2° 11.11 Aug. 2°; sie betreffen das 15. Jahrhundert (siehe unten S. 192), eine fast druckfertige Version der 16. Centurie findet sich in HAB Wolfenbüttel 6.5. Aug. fol. 13 Bei der Digitalisierung der zweiten Hälfte der ersten Centurie mußten wir feststellen, daß von den drei Exemplaren, die die UB München besitzt, keines mit dem anderen identisch ist. Der dritte ist ein kompletter Neusatz, aber auch die beiden Varianten des ersten Umbruchs stimmen nicht überein.
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schriftliche Überlieferung. Doch auch in seiner inneren Verfassung ähnelt er stark den Glossen, die ein Gelehrter der Zeit in den Bände seiner Bibliothek anbrachte: kurze thesenhafte Argumente mit einer ebenso kurzen Quellenangabe lassen große Passagen der Centurien wie einen Commentarius perpetuus aus der spätmittelalterlichen Glossatorentradition erscheinen. Aus der Sicht der Autoren war der gedruckte Text nicht selbständig, er war gedacht als zuverlässiges, apologetisches Kompendium. Darum waren und sind die Handschriften, aus denen diese Kompilation herausgelesen wurde, bis heute mehr als nur eine Materialsammlung, ein Haufen Entwürfe und Notizen, die man recht eigentlich nach Erscheinen des Druckwerkes hätte wegwerfen können. Die Büchersammlung, die Matthias Flacius anlegte (und teilweise so eifersüchtig hütete, daß er sie gar seinen Mitstreitern vorenthielt), war gedacht als „bibliotheca“ im Sinne der Zeit: als umfassende Textsammlung, die als solche einen unschätzbaren Wert hatte, weil sie etwas zusammenbrachte, was bislang nirgends auf der Welt so gemeinsam studiert und erforscht werden konnte. So besehen (und das wird ganz sicher die Sichtweise des Flacius gewesen sein) war die gedruckte Kirchengeschichte, waren die Centurien das Werk von geringerem Wert, ein bescheidener Ersatz für all die von Flacius und seinen eifrigen Helfern überall in Europa gesammelten einzigartigen Texte – eine Art „readers digest“ aus der unerschöpflichen Bibliothek christlicher Literatur. Daß die Centurien in ihrer „Textualität“ diesen Charakter ausdrücken, ist notwendige Folge ihrer Bestimmung und nicht etwa redaktionelles Unglück. Auch wenn Wigand und seine Helfer nicht ahnen konnten, welche Katastrophen der mittelalterlichen Überlieferung noch bevorstanden, waren sie in immenser Bedrängnis durch die gewaltige Masse der Quellen und durch die Unstetigkeit des eigenen Lebens.
Ein kollegiales Forschungsprojekt Beidem suchte man durch eine gänzlich neuartige Arbeitsteilung zu begegnen – so gut es eben ging. Um auch nur entfernt eine Chance auf Abschluß des gewaltigen Werkes zu erhalten, war eine immense Selbstdiziplin erforderlich – und zweifelsfrei auch ein unerschütterlicher Glaube an die Sinnhaftigkeit des Unternehmens. Je enger sich der Kreis der Mitarbeiter zusammenzog und die Last der Arbeit auf Wigands Schultern sammelte, desto wichtiger wurde diese Disziplin. Bei der Lektüre der Centurien ist der überall waltende strenge Ernst unverkennbar. Die Regeln, die sie sich für ihr Werk gaben, ließen keinen Raum für Abschweifungen. Mitarbeiter im Range von Kollektoren sollen die vorher festgelegte Literatur exzerpie-
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ren und die Ergebnisse auf die Jahrhunderte aufteilen, der Skriptor oder „Architekt“ daraus Band für Band die Texte formulieren14. Skriptor war zunächst Michael Prätorius, ab 1556 Basilius Faber. Johannes Wigand und Matthias Judex fungierten als „Inspektoren“, deren Kollegium am Samstag vormittags zusammentrat, um in grundsätzlichen Angelegenheiten zu beraten und das Gesamtwerk zu gestalten15. Man schuf einen großen Schematismus (von 16 Kapiteln), der zu behandelnden Gesichtspunkte (utilitates), wählte aus jedem einzelnen Jahrhundert eine Reihe von Repräsentanten aus und verteilte Einzelstellen aus ihnen auf das Schema, das wie eine starre Schablone gleichförmig über jedes Jahrhundert gelegt ist; schon daraus ist zu entnehmen, daß der theologische und nicht der historische Standpunkt ausschlaggebend war16.
„Historia“ wurde also von den Centuriatoren noch mittelalterlich verstanden, fast als eine Art Sammlung von Predigtmaterien. Damit ist das Großwerk eine theologische Enzyklopädie, dem spätscholastischen „Vocabularius“ oder „Lexicon theologicum“ des Mindelheimer Humanisten Johannes Altenstaig (gest. um 1525)17 nicht unähnlich, vor allem aber den geringfügig älteren „Centurien“ des John Bale 18 verpflichtet. Altenstaig, darin an der Summa de abstinentia des Franziskaners Nicolaus de Byard (13. Jh.) orientiert, ordnete die Materien alphabetisch; Bale gliederte sein Alphabet der Übersichtlichkeit halber in Gruppen zu je einhundert Einträgen, im Grunde aber auch alphabetisch. Auch Melanchthons Loci communes oder 14
Vgl. Martina HARTMANN, Anfänge der quellenbezogenen Geschichtsforschung, vorliegender Band S. 13, Ronald E. DIENER, Zur Methodik der Magdeburger Centurien, vorliegender Band S. 147. 15 Vgl. Heinz SCHEIBLE, Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 183, 1966) S. 40–46. 16 DUCH, verlorene Handschrift (wie Anm. 1) S. 418. 17 Zur Person Friedrich ZOEPFL, Johannes Altenstaig. Ein Gelehrtenleben aus der Zeit des Humanismus und der Reformation (1918), Victor STEGEMANN in NDB 1 (1953), 215f; Heiko Augustinus OBERMAN, The Harvest of Medieval Theology. Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism (1963) S. 17–19. Der Vocabularius blieb bis ins frühe 17. Jahrhundert populär: Erstdruck Hagenau und Mindelheim 1517, spätere Drucke Lyon 1579 und 1580, Venedig 1579, 1580 und 1583, Antwerpen 1576 und Köln 1619, letzterer in der Überarbeitung durch Johann Tytz (diese Ausgabe auch im Reprint 1974). Das Werk enthält nur Sach- und keine Personenartikel; unter den Lemmata finden sich jedoch alle wichtigen dogmatischen Begriffe (wie z.B. baptismus, haeresis, miraculum, missa, praedestinatio, tribulatio, veritas). 18 John BALE (Balaeus), Scriptorum illustrium mairoris Brytanniae, quam nunc Angliam et Scotiam vocant, Catalogus a Japheto per 3618 annos usque ad annum hunc Domini 1559.... IX centurias continens (Basel: Oporinus 1557), im Schriftenverzeichnis an Ottheinrich mit der Kennung habemus genannt. Vgl. SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 159.
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Heubtartickel19, deren Anlage für die Centurien als Vorbild galt, sind rein systematisch geordnet. Sie haben ihren Schwerpunkt in der Katechese. Melanchthon wandte daher dieses Prinzip nie auf die Geschichte an, die bei ihm offenbar einen größeren oder vielleicht auch natürlicheren Eigenwert besaß als bei den ihm verfeindeten Gnesiolutheranern. Das humanistisch-antiquarische Interesse verbindet, so seltsam das klingen mag, Melanchthon mit Flacius, und trennt beide von Wigand und Judex, die die Hauptautoren der Centurien wurden. Es hatte sich ja im Entstehungsprozeß der Centurien die systematische, enzyklopädische Sichtweise gegenüber der chronologischen durchgesetzt20.
Auf der Suche nach den Quellen Das Projekt der großen Kirchengeschichte entwickelte sich von Bücherlisten zu Exzerpten und von Exzerpten zu einer auf systematische Kapitel verteilte Darstellung. Im Sommer 1554 richtete Flacius eine alphabetische Liste an Caspar Nidbruck in Wien und Pfalzgraf Ottheinrich in Heidelberg21. Schon damals muß ihm klar gewesen sein, daß die Hauptarbeit an den späteren Centurien konsequentes Exzerpieren von tausenden von Seiten bedeutete. Und zwar nicht primär von Manuskripten mit jenen thesauri absconditi, an deren Entdeckung Flacius sein besonderes, sehr wohl bibliophiles, Interesse hatte, sondern von Büchern, die dem kroatischen Gelehrten inhaltlich nichts Neues bieten konnten. So konnten Carl Erdmann und Norbert Fickermann trotz des verengten Blickwinkels, aus dem sie auf die Centurien sahen, bereits feststellen, daß die Centuriatoren so weit als möglich nicht nach Handschriften (etwa aus der Bibliothek des Flacius), sondern nach Drucken arbeiteten22. Auch die Bücherliste an Ottheinrich und von Nidbruck, verzeichnet Titel, die ganz offenkundig von den Titelblättern der Drucke abgeschrieben sind 23. Diese Titel kamen meist aus Conrad Gesners bibliographischer Sammlung, der sogenannten Bibliotheca universalis 24.
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Vgl. Philipp MELANCHTHON, Opera (Corpus Reformatorum 22, 1855). Vgl. hierzu DIENER, Methodik (wie Anm. 14) S. 142. 21 Abdruck der Liste bei SCHOTTENLOHER (wie Anm. 7) Ottheinrich S. 157–166. 22 Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV., bearb. von Carl E RDMANN und Norbert FICKERMANN (MGH Briefe d. dt. Kaiserzeit 5, 1950) S. 3; weitere Hinweis bei HARTMANN , Humanismus und Kirchenkritik S. 203f. 23 Gedruckt bei bei SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 157–166. Hinweise auf Drucke sind von Schottenloher in den Anmerkungen gegeben. 24 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 40–45. 20
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Die Spuren einer gestuften Arbeitsteilung vom Exzerpt zum Druckmanuskript sind überall und beständig zu entdecken, am meisten aber in den enzyklopädischen Abschnitten de haereticis oder de episcopis et doctoribus, die oft nichts anderes tun, als den Schriftstellerkatalog des Trithemius25 bis in die Typographie hinein zu kopieren. Ganz anders sehen die Abschnitte aus, in denen die Projektleitung ihr Interesse artikulierte. Hierzu ein Beispiel. Unter dem Namen „Gislebertus“ wird in der X. Centurie ein englischer Autor aufgeführt, der ein Werk namens Altercatio Synagogæ et ecclesiæ verfaßt habe: Quem nos, autoritate Thrithemii in Hirsaugiensi Chronico, Giselberto quidem Benedictinæ professionis monacho adscribimus: quem Anselmi, de quo sequenti Seculo Deo dante nobis dicendum erit, apud Anglos fuisse ait discipulum. (MC X, Sp. 639f.)
Trithemius erwähnt in seinem Chronicon Hirsaugiense, daß ein Giselbertus abbas monasterii nostri, der in Anglia verstorben sei, scripsit contra Iudæos pulchram altercationem non ineleganti sermone26. Duch, dem diese Passage auffiel, konnte mit den Mitteln seiner Zeit das Werk nicht identifizieren27. Es handelt sich hierbei um eine judenfeindliche Schrift, die 1537 in Köln gedruckt worden war28. Aus diesem Werk werden längere Zitate präsentiert, insbesondere aus dem Einleitungsbrief des Herausgebers, aus dem Prooemium des Verfassers und aus den Kapiteln 20, 16, 14 und 729. Doch ist die Auswahl kaum als sinnvolle Zusammenfassung des Werkes anzusprechen. Der Dialogcharakter des Textes fällt in der Wiedergabe gänzlich weg, auch die kluge (wenngleich keinesfalls siegreiche) Selbst25
Johannes T RITHEMIUS, De scriptoribus ecclesiasticis; zu diesem Druck vgl. Bayerische Staatsbibliothek, Inkunabelkatalog 5 (2000) Nr. T–459. 26 Erstdruck Basel 1559, hier zitiert nach: Johannis Trithemii … secundæ partis Chronica insignia duo, ex bibliotheca Marquardi FREHERI (Frankfurt 1601) S. 76, Z. 12–15. Im De scriptoribus ecclesiasticis 25) heißt es fol. 53v: dum quædam neccessaria opuscula composuit: De quibus ista feruntur: disputatio contra Iudæos. 27 DUCH, verlorene Handschrift (wie Anm. 1) S. 420f. Seine ohne Kenntnis des Originaltextes gemachten Aussagen sind im Detail naturgemäß problematisch. 28 Altercatio Synagogae et Ecclesiae, in qua bona omnium fere utriusque Instrumenti librorum pars explicatur: opus pervetustum ac insigne, antehac nusquam typis excusum. Interlocutores Gamaliel et Paulus (Köln 1537). Gamaliel und Paulus treten nur im ersten Dialog auf (fol. Ir–XIIIv), sonst ist nur von einem Magister und einem Discipulus die Rede. Ein Vorbesitzer des Exemplars der Universitätsbibliothek München 2° P. Eccl. 67, das hier verglichen wurde, notierte im 17. Jahrhundert die gleiche Autorenvermutung wie die Centuriatoren auf das Titelblatt: vide ap. Trithemium fol. XVIIII d. II. ubi hoc opus tribuitur Giselberto viro docto qui contra Judaeorum incredulitatem scripsit. Eine Beeinflussung durch die Centurien ist unwahrscheinlich, da der Band dem Münchner Theatinerkloster gehörte (vgl. das Exlibris im vorderen Deckel). 29 Vgl. MC XIII Sp. 640, 8–11 mit Altercatio (wie Anm. 28) ii v, 3–4 ; Z. 21–31 mit dem Proemium αii r, 11–17.
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verteidigung der jüdischen Seite wird von den Centuriatoren völlig unterdrückt30. Die angesprochenen Themen Erbsünde, Jungferngeburt, Abendmahl und Zeit des Antichrist entsprechen den Anliegen des reformierten 16. Jahrhunderts; unter den Darlegungen der Altercatio nehmen sie wenig Raum ein. Dort wird eng am biblischen Text argumentiert und diskutiert; die Seiten tragen Kolumnentitel wie ex Genesi argumenta, ex libro Exodo argumenta usw. bis hin zu ex Evangeliis argumenta (=cap. 19–21). Kein Problem stellte für die protestantischen Rezipienten dar, daß sie einen im katholischen Köln gedruckten und dem dortigen designierten Erzbischof gewidmeten Druck der Darstellung zugrunde legten – soweit reichte die Quellenkritik noch nicht. Man sieht hier klar, wie schon beim Exzerpieren der spätere Sinngehalt bestimmt wurde. Für Texte, die wir nur noch aus dem Referat der Centuriatoren und nicht mehr aus direkter Überlierung kennen, müssen wir folglich mit einer erheblichen Verzerrung rechnen. Nur wo ausdrücklich Zitate gegeben werden, haben wir punktuell hohe Zuverlässigkeit: sie sind mit großer Exaktheit abgedruckt. Doch muß offen bleiben, was die zitierte Schrift über das Zitat hinaus enthielt, ja, wie sie überhaupt aussah (vgl. den Dialogcharakter der Altercatio). Noch ärger steht es mit philologischen Folgerungen, die die Centuriatoren vornehmen: Die Autorenzuschreibung an Gislebert war vorschnell und wahrscheinlich falsch31. Daß man sich primär auf die aktuelle Buchproduktion stützte und auf die Auswertung handschriftlicher Originale weitgehend verzichtete, wenn Drucke zur Hand waren, läßt sich auch am Beispiel der Chronik Thietmars von Merseburg zeigen. Nicht sie wurde unter der Sigle „Chronicon Merseburgense“ herangezogen, sondern die Chronica und Antiquitates des alten Keiserlichen Stiffts, der Römischen Burg, Colonia und Stadt Marsburg an der Salah in Obern Sachssen des Ernst Brotuff (ca. 1497–1565)32. Der Erstdruck des Werkes erschien Leipzig 1555, eine Zweitauflage 1557. Brotuff hatte als ehemaliger Schreiber des Merseburger Petersklosters Zugang zu den wichtigsten Quellen, auch zu Thietmars Handexemplar, das er weidlich exzerpiert haben muß. Die Abhängigkeit des Centurientextes von Brotuff wird offenkundig, wenn man in der elften Centurie den Artikel über Thietmar studiert: 30
Vgl. zum Thema Heinz SCHRECKENBERGER, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld, 2. 13.–20. Jahrhundert (³1995). 31 So DUCH (wie Anm. 1) S. 420 unter Verweis auf MIGNE PL 159 (1854) Sp. 1003– 1036, wo eine auch handschriftlich unter dem Namen Gisleberts tradierte Disputatio Judæi cum Christiano abgedruckt ist, die mit dem Druck von 1537 nichts zu tun hat. Die Unterscheidung der einzelnen Texte ist praktisch nie gelungen, auch SCHRECKENBERGER (wie Anm. 30) S. 532 kommt zu keiner sauberen Trennung. 32 Zu ihm vgl. Franz Xaver VON WEGELE, in: ADB 3 (1876) S. 365–366.
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Fertur hic episcopus septem libris Chronicorum, res gestas sub Otthone primo & successoribus, usque ad annum Domini 1021, congessisse, qui in coenobio S. Petri Mersburgensi adhuc latere dicuntur. (MC XI Sp. 603)
Dies klingt zunächst nach exzellenter Quellenkenntnis: weisen doch die Centuriatoren völlig zurecht darauf hin, daß sich Thietmars Handexemplar seinerzeit noch in Merseburg in der Abtei St. Peter befand. Aber sie haben es – anders als Melanchthon33 – nicht eingesehen, und der auf der heutigen Handschrift R 147 der Dresdener Landesbibliothek basierende Erstdruck erschien erst 158034. Der Bericht der Magdeburger Centurien ist vielmehr eine wörtliche Übersetzung dessen, was Brotuff über Thietmar mitteilt: Dieser Bischoff Ditmarus / hat sieben Bücher Chronicorum und Annalium von der zeit Ottonis des ersten / bis auf die zeit Heinrici des andern / in das 1021. Jar nach Christi Geburt geschrieben /& das rechte Original und exemplar / hat das Closter Sanct Petri vor Marsburg / dem Herrn Sigismundo Dechande zu Marsburg geliehen.35
Die – verglichen mit der modernen Ausgabe – falsche Angabe über die Zahl der Bücher der Thietmar-Chronik hängt mit einer Besonderheit des Autographs zusammen. Fol. 176r schließt auf der letzten Zeile an den Schluß des siebten Buches in roter Farbe an Incipit libellus II. Heinrici imperatoris secundi. Der Text des Buches beginnt auf fol. 176v, jedoch in Prosa und nicht, wie alle anderen Bücher, in metrischen Zeilen. Eine Bezeichnung als liber octavus hat der Dresdener Codex nicht36. Insofern kann 33
Vgl. Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, ed. Robert HOLTZMANN (MGH SS rer. Germ. N. S. 9, 1935) S. XXXIII über das Schicksal des Original-Codex:“ Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts befand er sich in der Klosterbibliothek, von wo er um 1539 an Spalatin verliehen wurde und durch ihn auch in die Hände Melanchthons kam, dann aber wieder zurückgegeben worden ist. Etwa zehn Jahre später entlieh der Merseburger Domdechant Sigismund von Lindau die Handschrift, und entweder durch ihn oder spätestens bei der Aufhebung des Klosters (1562) kam der Kodex in die Dombibliothek aus der er 1563 an Fabricius, der dazu einen Befehl des Kurfürsten August erwirkt hatte, verliehen worden ist. Wahrscheinlich bei der Rückgabe des Kodex durch Fabricius wurde er ins kurfürstliche Archiv zu Dresden übernommen.“ 34 Chronici Ditmari episcopi Mersepurgii libri VII, accessere de vita & familia Ditmari, tam paternae quàm maternae stirpis, item de veteribus Mysniae Marchionibus, usque ad Conradum, Timonis F. ex historia Ditmari contextae expositiones, auctore Reinero REINECCIO. (Francofurti ad Moenum: Wechel 1580 = VD-16 D 2094). 35 Ernst BROTUFF, Chronica und Antiquitates des alten Keiserlichen Stiffts, der Römischen Burg, Colonia und Stadt Marsburg an der Salah in Obern Sachssen (2 Leipzig 1557 = VD-16 16 B 8432) fol. 66v. 36 Dies ist bei HOLTZMANN, Thietmar (wie Anm. 33) S. 492 nicht gekennzeichnet. Die dort parallel abgedruckte Korveier Handschrift hingegen sagte ursprünglich am Ende des siebten Buches: Explicit liber octavus, was von späterer Hand durch einen Einschub auf Explicit liber [septimus incipit] octavus verändert wurde, vgl. HOLTZMANN, Thietmar
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die Abgrenzung dieses offensichtlich nachträglich beigegebenen (und schwerlich als vollendet anzusehenen) Buches leicht übersehen werden. Unabhängig davon irrt Brotuff, wenn er angibt, Thietmar berichte bis 1021 – die Chronik schließt mit dem Jahr 1018. Das konnten die Centuriatoren nicht korrigieren, weil ihnen das Original nicht vorlag. Man muß ihnen dennoch zugute halten, daß sie die humanistischen Exzesse nicht übernahmen, mit denen Brotuff die Frühgeschichte Merseburgs ausfabuliert: Er läßt es aus einer von Drusus gegründeten römischen Garnisonsstadt hervorgehen37. Im Falle Magdeburgs waren die Centuriatoren übrigens weniger zimperlich. Gestützt auf die Humanisten Johannes Funccius 38 und Albert Krantz39 erfahren wir in der achten Centurie von der Eroberung Magdeburgs durch Karl den Großen im Jahre 781. Centurie VIII Spalte 24 erfahren wir mehr, wieder nach Albert Krantz: Karl zerstörte jenen Venustempel, der der Stadt ihren gräzisierten Namen Parthenopolis gegeben habe, und errichtete eine Kirche zu Ehren des Hl. Stephan. Das ist Humanistenhistoriographie reinsten Wassers und von einer bemerkenswerten Fabulierfreude. Das innere Ungleichgewicht ist eines der größten Hemmnisse für eine moderne Nutzung des Catalogus testium veritatis und mehr noch der Centurien. Der Autorenkatalog des Trithemius z.B. ist homogen angelegt. Trithemius teilt nach einem klaren Schema für jeden Autor mit, was er weiß. Dahinter stehen natürlich auch seine persönlichen Interessen und S. 493. Der ursprüngliche Befund des im zweiten Weltkrieg stark beschädigten Dresdener Codex kann noch im Faksimile studiert werden: Ludwig SCHMIDT , Die Dresdner Handschrift der Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg, mit Unterstützung der Generaldirektion der Kgl. Sächs. Sammlungen für Kunst und Wissenschaft, der König-Johann-Stiftung und der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae historica in Faksimile (1905). 37 BROTUFF, Chronica (wie Anm. 35) fol. IIIr/v. Damit korrigierte Brotuff die – nach dem Studium der antiken Klassiker kaum vertretbare – Behauptung Thietmars, daß die Stadt Romulea ex gente, que Iulium Cesarem Pompeii generum est huc olim secuta in omnibus potentem et utrisque viribus precluum, incepisse; vgl. HOLTZMANN, Thietmar (wie Anm. 33) S. 5. Diese Passage ist infolge des Blattverlustes zu Beginn der Dresdner Handschrift nur in der Korveier Bearbeitung überliefert. Das könnte darauf hindeuten, daß Brotuff den heutigen Codex Dresdensis noch als intakte Handschrift vorgefunden hat. 38 Johannes FUNCCIUS (Funck), Chronologia, hoc est, omnium temporum et annorum ab initio mundi, usque ad annum a nato Christo 1553 computatio, item commentariorum libri decem, in quibus quid tradatur, proprio titulo indicatur (Basel: Oporinus 1554). 39 Ecclesiastica historia sive metropolis Alberti CRANTZII, nunc primum in lucem edita, in qua author docet, quomodo inde usque a Carolo Magno primum religio Christiana in Saxoniam invecta & propagata ... usque ad haec tempora diligenter describit (Basel: Oporinus 1558 [i.e. 1548]), hier zitiert nach der Ausgabe Köln 1574.
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Vorlieben, aber da er kein anderes Ziel verfolgt, als über die Autoren zu informieren, ist sein Werk ausgeglichen und kann auch heute noch mit einer klaren Erwartungshaltung benutzt werden. Bei den Magdeburger Centurien war dies nicht mehr möglich. Sie mußten sich wegen der Fülle ihres Materials auf ein Wechselspiel von Autorenkatalog und Florilegiensammlung einlassen.
Eingebundene Florilegien Die auch unter den Centuriatoren keineswegs unumstrittene40 Anlage der Centurien nach dem Prinzip der in jedem Band aufs Neue behandelten Loci communes ist gleichermaßen Grundlage und Folge dieser Textbeschaffenheit. Es sind gleichsam die Zettelkästen, in denen Wigand und seine Helfer ihr Wissen und ihre Exzerpte ordneten und aufstellten41. Neben allgemeinen Loci wie I. De Loco et Propagatione Ecclesiae oder II. de persecutione et tranquilitate Ecclesiae stehen solche mit ausgeprägtem bio-bibliographischem Charakter. Allen voran X. De Episcopis et Doctoribus Ecclesiae, und XI. de Haereticis et Seductoribus. Hier werden nach Regionen die Auctores ganz klar unter Nennung der jeweils ausgewerteten Werke aufgelistet; Querverweise in andere Teile der Centurie zeigen, wie diese auf den bio-bibliographischen Florilegien aufbaut. Deren praktische Genese kann man an einem Schriftstück studieren, das bereits zitiert wurde: dem von Flacius niedergeschriebenen sogenannten Catalogus librorum ad scriptionem historiae necessariorum, qui a doctis viris ubique conquirendi essent, der uns in der Handschrift Cod. pal. lat. 1879a, fol. 163r–168r der Biblioteca Vaticana überliefert ist 42. Er wurde wohl schon früher zusammengestellt, aber im Sommer 1554 an Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz und wohl in anderer Ausfertigung an Caspar von Nidbruck verschickt 43. Die dem Verzeichnis beigegebene Intitulatio ist irreführend. Wir haben es nicht mit einer vorläufigen Bibliographie jener Werke zu tun, die zur Abfassung einer Kirchengeschichte nötig sind, sondern mit einer Desideratenliste. Ganz elementare Werke fehlen in dieser Liste, weil sie bereits 40
Vgl. den Beitrag von R. E. DIENER (wie Anm. 14). So schon DUCH (wie Anm. 1) S. 419: „Da die Centuriatoren die Gewohnheit hatten, ihre Exzerpte nicht umstilisieren, sondern den Wortlaut ziemlich getreu beizubehalten, sind uns im Bereiche der Textzeugen wenigstens Trümmer davon überkommen.“ 42 Edition SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 157–166. 43 SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 157 Anm. 24. Zum Verzeichnis (dort als Suchliste von 1552 bezeichnet) vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 47–52. 41
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verfügbar waren. Hier wäre neben der Historia Carionis vor allem die Saxonia et Metropolis des Albert Krantz (1448–1517) zu nennen44, die 1548 bei Oporinus in Basel gedruckt worden war und auf die sich die Centurien immer wieder berufen. Von den übrigen Werken, die wir später bei der Analyse der dreizehnten Centurie ausmachen werden, wird in der Suchliste einzig Aventin genannt (sowie Trithemius indirekt als Quelle des Buchverzeichnisses selbst). Der in Regensburg verstorbene und begrabene Aventin lag Flacius besonders am Herzen; aus Gesners Bibliotheca Universalis hatte er zudem von großangelegten Werken Aventins erfahren45, den libri 10 de historia illustratae Germaniae und einer ecclesiastica historia ab inicio mundi46, die er sicher einsehen wollte. Daß von diesen Projekten Aventins nur wenige Skizzen ausgeführt wurden47, wußte Flacius nicht. Insgesamt hat Flacius seine immensen Kenntnisse eingebracht; z.B. wird immer wieder auf venezianische Handschriftenbestände hingewiesen (in bibliotheca Veneta oder graece Venetiis ad S. Antonium). Der Vermerk extat graece in Vaticana bibliotheca hingegen ist aus Gesners Bibliotheca universalis entnommen48. Der Catalogus librorum neccessariorum ist nur eine Momentaufnahme des Wissensstandes, und zwar zu einem frühen Zeitpunkt der Vorbereitungen zu den Centurien. Er ist dominiert von kanonistischem Interesse, wie gleich der erste Eintrag mit dem Lemma Acta zeigt: Acta 4. oecumenici Concilii, item 6. 7. et 8. contra Focium at alterius postea, quod Focium restituit. Rursus acta eorundem contra Focium et pro ipso. Graece extant in Italia. Acta oecumenici 3. synodi in Epheso sub Theodosio contra Nestorium codex graece manuscriptus. Venitiis ad S. Antonium et Augustae Rheticae, synodales epistolae 12. Synodi Ephesi congregatae, cui Cyrillus praefuit, Musculo interprete. Acta conciulii contra Phocium patriarcham graece in bibliotheca Diegii Hortadij caesarii legati in Italia. Acta 8. concilii Florentiae celebrati, item 5., extat graece in Italia. De Synodo collecta contra Barlaam et Accindini haeresim. Synodus Romana sub Damaso papa. In Joannis Tillii volumini extat concilium Chartaginiense graece descriptum. Acta Concilii Tiburiensis. Acta et decreta Concilii Constantiensis impressa Hagenoae per Heinricum Gran. 44
Manfred GROBECKER, Studien zur Geschichtsschreibung des Albert Krantz (Diss. masch. 1964); Ulrich ANDERMANN, Albert Krantz. Wissenschaft und Historiographie um 1500 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 38, 1999); Harald BOLLBUCK, Geschichts- und Raummodelle bei Albert Krantz (um 1448–1517) und David Chytraeus (1530–1600). Transformationen des historischen Diskurses im 16. Jahrhundert (2006). 45 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 47 (mit Quellenbelegen). 46 Genannt SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 163. 47 Hierzu vgl. Franz Xaver WEGELE in ADB 1 (1875) S. 703. 48 SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 160 mit Anm. 43.
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De actis concilii Basiliensis duo magna columnina Joannis de Segobia Basileae manu scripta in bibliotheca magnae ecclesiae. Acta Wormatiae anno 21. De conventu Augustano Phil. Melanchthonis epistola. De actis colloquii Ratisponensis Martinus Bucerus. Acta comiciorum ab anno 4. usque ad postrema Ratisponensia anno 46. Ansegius Abbas de statutis ecclesiasticis Caroli et Ludovici legibus (?) 49
Dieser längere Auschnitt zeigt die Beliebigkeit der bibliographischen Angaben; Flacius notierte, was er zu dem jeweiligen Lemma wußte – manchmal einen Hinweis auf eine ihm unmittelbar bekannte Handschrift, manchmal ein vages Gerücht (oder eine Vermutung) über solche Handschriften (extat graece in Italia). Das Sammelinteresse gilt der Spätantike (Zeugnisse über Häretiker) und dem Frühmittelalter (Kapitulariensammlung des Ansegis, Synode von Tribur 895), schließlich der neueren Zeit ab dem frühen 15. Jahrhundert (Konzile von Konstanz und Basel, Wormser Reichstag von 1521). Das Kirchenrecht des Hochmittelalters wird nicht nachgefragt, weil es sich hier um die gratianischen und nachgratianischen Sammlungen des Corpus iuris canonici und deren Kommentierung handelt, die nicht nur überall greifbar waren, sondern als Stütze des Papsttums von geringem Interesse für die Gnesiolutheraner. Mit der Synode gegen den bulgarischen Mönch Accindinus (Gregorios Akindynos, ca. 1300–ca. 1349)50 ist ein Thema der ungeschriebenen vierzehnten Centurie berührt, aber nur ein byzantinisches. Auch der byzantinische Theologe und Patriarch von Konstantinopel Photius 51 (um 820–nach 886) wird nachgefragt, aber nicht wegen seiner philosophischen und literarischen Verdienste, sondern, weil er gegen Rom polemisierte und von Papst Nikolaus I. 863 für abgesetzt erklärt, aber 877– 886 wieder in sein Amt eingesetzt wurde. Dabei wäre er mit der von ihm in der sogenannten Βιβλιοθήκη entwickelten Technik des Exzerpierens und Zitierens aus raren und vom Verlust bedrohten Schriften (hier freilich der altgriechischen Literatur) ein gutes Vorbild für Flacius gewesen. 49
SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 158. Akindynos wurde als Ketzer verurteilt 1347 und 1351 postum anathematisiert; zum Ganzen vgl. Juan NADAL CAÑELLAS, La résistance d’Akindynos à Grégoire Palamas. Enquête historique, avec traduction et commentaire de quatre traités édités récemment (2006). 51 Joseph HERGENRÖTHER, Photius, Patriarch von Constantinopel. Sein Leben, seine Schriften und das griechische Schisma, nach handschriftlichen und gedruckten Quellen 1–3 (1867–1869); Francis DVORNIK, The Photian schism (1948); Richard HAUGH, Photius and the Carolingians. The Trinitarian controversy (1975); Thomas HAEGG, Photios als Vermittler antiker Literatur. Untersuchungen zur Technik des Referierens und Exzerpierens in der Bibliotheke (Acta Universitatis Upsaliensis. Stufia Graeca Upsaliensia 8, 1975); Eckhard REICHERT , Photius, Patriarch von Konstantinopel, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 7 (1994) Sp. 557–559. 50
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Möglicherweise waren die Recherchen nach Quellen über Photius nicht sehr erfolgreich. Die Darstellung in der neunten Centurie stützt sich im Abschnitt de synodis (MC IV, Sp. 425) auf den Liber pontificalis 52 und in de doctoribus weitgehend (MC IX, Sp. 489) auf die Chronik des Johannes Zonaras († nach 1161)53, die wahrscheinlich aus dem Compendium historiarum des Hieronymus Wolfius (Basel 1557) zitiert wurde. Der Abschnitt Opera eius fällt ganz mager aus, offenkundig hatten die Autoren keine Vorstellung von der immensen Bedeutung dieses Gelehrten. Ähnlich mager sind die Ergebnisse zu Joachim von Fiore (ca. 1130– 1202). Flacius vermerkt in seiner Wunschliste: Joachimi Abbatis de 15 pontificibus, de futuris temporibus ad Henricum sextum super Apocalypsi. Italice54. In der zwölften Centurie wird über ihn im Umfang von einer Spalte berichtet. Hauptquelle sind die Flores temporum55 des nicht sicher nachzuweisenden Hermannus Minorita oder Hermannus Gigas. Spiritum propheticum eum habuisse quidam affirmant. Sed Trithemius de Scriptoribus ecclesiasticis opinatur fuisse coniecturas ex scripturis sacris petitas. Unus eorum fuit qui papae eiusque sacrificulis contradixit, quod in simoniam sint inversi (MC XII, Sp. 1623)
52
Edition: Liber pontificalis nella recensione de Pietro GUGLIELMO e del cardinale PANDOLFO glossato da Pietro BOHIER, introductione testo, indici a cura di Ulderico PREROVSKY , 3 vol. (Studia Gratiana 21–23, 1978). Das Werk wird von SCHOTTENLOHER , Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 163 als Desiderat genannt: Liber pontificalis, qui saepe in conciliorum tomis citatur. Das klingt nicht nach einer klaren Vorstellung, um was es sich bei dieser Quelle eigentlich handelt. Welche Handschrift des Liber pontificalis als Vorlage diente, ist unklar. Wir kennen keine in Flacius’ Bibliothek und keine Centuriatorenhandschrift mit diesem Inhalt. Möglich wären die Wiener Handschrift Cod. Vind. lat. 632 aus dem 10./11. Jahrhundert oder ebda. Cod. Vind. lat. 388, der noch später anzusetzen ist (11./12. Jahrhundert), denkbar ist allerdings auch Bayerische Staatsbibliothek Clm 14387 (9. Jahrhundert), die aus Regensburg stammt. Zur handschriftlichen Überlieferung allgemein: Liber pontificalis 1, ed. Theodorus MOMMSEN (MGH Gesta Pontificum Romanorum 1, 1898) S. LXIX–CI. 53 MIGNE PG 134, 40–1414, und 135, 9–326; Ioannis Zonarae epitome historiarum I– III, ed. Mauritius PINDER et Theodor BÜTTNER-WOBST , 1841–1844 und 1897; U. Ph. BOISSEVAIN, Zur handschriftlichen Überlieferung des Zonaras, Byzantinische Zeitschrift 4 (1895) S. 250–271; Hermann T INNEFELD, Kategorien der Kaiserkritik in der byzantinischen Historiographie von Prokop bis Niketas Choniates (1970) S. 144–147. 54 SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 163. 55 Flores temporum auctore fratre ordinis Minorum ed. Oswaldus HOLDER-E GGER (MGH SS 24, 1879) S. 228–250. Zur Person Rep. font. 4, Sp. 474f., Peter JOHANEK in: VL 2 (21979/80) Sp. 753–758, Heike Johanna MIERAU, Antje SANDER-BERKE, Birgit STUDT, Studien zur Überlieferung der Flores temporum (Studien und Texte 14, 1996).
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Die angeschlossene Liste der Werke wird ausdrücklich ex Tritemio de Scriptoribus Ecclesiasticis et Chronico Hirsaugiensi (MC XII, Sp. 1624) übernommen, eigene Kenntnisse scheinen nicht erworben zu sein. Glücklicher verlief die Suche auf einem anderen Gebiet – den mittelalterlichen Briefsammlungen. Das war, obschon den Reformatoren insgesamt ein hohes Interesse an der Literaturform des Briefes nachgesagt werden kann56, zunächst nicht abzusehen. Recht hilflos heißt es in der Bücherliste: Epistolae historiales summorum pontificum ad reges Germaniae. Epistolae et fundationes variorum Germaniae cum epioscopatuum tum coenobiorum57.
Hier allerdings sollten die Centuriatoren Erstaunliches leisten58. Bemerkenswert ist die Nennung von aus damaliger wie moderner Sicht eher entlegeneren Texte des Hoch- und Spätmittelalters, etwa Mariani monachi Fuldensis chronicon insigne (Marianus Scotus, 1028–108259) oder Joannes de Columna mare historiarum, eine bis heute wenig beachtete Universalchronik des 14. Jahrhunderts, von der nur belanglose Auszüge publiziert sind 60. Die Quelle für diese Lemmata war einmal mehr der Liber de scriptoribus ecclesiasticis des Johannes Trithemius 61.
56
Horst WENZEL, Luthers Briefe im Medienwechsel von der Manuskriptliteratur zum Buchdruck, in: Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Thomas A. BRADY (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 50, 2001) S. 203–229. 57 SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 161. 58 Würdigungen bei DUCH verlorene Handschrift (wie Anm. 1) S. 424–426, HARTMANN , Humanismus und Kirchenkritik S. 271–288. 59 Edition: MGH SS 5 (1844), S. 481–568. Vgl. Anna-Dorothee VON DEN BRINCKEN, Marianus Scottus, DA 17 (1961) S. 191–238, Dáibhí Ó CRÓINÍN in Lex MA 6 (1993) 285f. 60 Zu Johannes de Columna (Giovanni Colonna) vgl. Stephen L. FORTE, John Colonna, O.P. Life and Writings (1298 c.–1340), Archivum Praedicatorum 20 (1950) S. 369–414; Giulia BARONE in Lex MA 3 (1984–86), Sp. 56. Sehr problematische Teiledition des Mare historiarum durch Oswald HOLDER-E GGER MGH SS 24 (1879) S. 266– 284. 61 Vgl. T RITHEMIUS, De scriptoribus ecclesiasticis fol. 52r (Marianus) bzw. 80r (Johannes de Columna).
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Dokumente aus der Praxis Der in der Forschung praktisch nicht beachtete Foliant Cod. Guelf. 11.11 Aug 2° der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel62 im Format 33, 5 x 20, 5 cm umfaßt 363 Blatt, die zu vier Faszikeln gehören, die im 17. Jahrhundert zusammen gebunden wurden. Der Band läßt uns unmittelbar in die Werkstatt der Centuriatoren blicken. Er soll darum hier erstmals eingehend vorgestellt werden. Bei der Bindung erhielt der Band eine Titelei: XV. Centuria Magdeburgensium. Es handelt sich jedoch nicht um den Textentwurf zur Centurie XV, sondern um Specialia (so etwa 94r), d.h. Exzerpte, die später in diese Centurie einfließen sollten63. Auf fol. 224r findet sich eine Datierung auf 1560 von der Hand des Caspar Lëunculus aus Rostock († 1565)64. Faszikel I (fol. 1r–93v) wertet eine Handschrift der Postilla studentium des Nicolaus Gorran65 aus, Faszikel II (fol. 94r–216v) eine Sammelhandschrift des Johannes Gerson, Faszikel III (217r–313v) beinhaltet nach Ausweis des nach einem vorangestellten Register eingebundenen Titelblatts Collectanea ad 15 centuriam ex Wesselo, et Johanne de Wesalia ex catalogo rerum sciendarum per Leunculum anno 1560 collecta (224r), Faszikel IV (314r– 363v) schließlich exzerpiert die Briefe des Karmelitermönchs Thomas Netter gen. Waldensis 66 (um 1370–1430). Die Exzerpte aus diesen Texten sind bereits aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und nach Schlagworten, besonders solchen aus den Loci communes der Centurien67, gruppiert. Die Faszikel sind mit eigenen Registern versehen und lagen so für die Scriptores der Centurien bereit. 62
Zur Handschrift unsinnig knapp: Otto von HEINEMANN, Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. 2. Abt. Die Augusteischen Handschriften 2 (1895), S. 1 Nr. 2132. 63 Insofern ist die Inhaltsangabe bei von HEINEMANN, Handschriften (wie Anm. 62) falsch. 64 Zu ihm und seiner Arbeit für die Centurien, insbesondere im Jahr 1560, vgl. DIENER , Centuries S. 168f. 65 Zu ihm Klaus REINHARDT im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon 6 (1993), Sp. 884–886. 66 Vgl. Helmut FELD im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon 6 (1993), Sp. 636–638. Das Interesse der Centuriatoren an Thomas Netter wurde sicher durch John Bale angeregt, der sich intensiv mit ihm beschäftigte, vgl. Fasciculi zizaniorum magistri Johannis Wyclif cum tritico, ascribed to Thomas Netter of Walden, ed by Walter Waddington SHIRLEY (Rerum Britannicarum medii aevi Scriptores, 1858) S. LXXII f. 67 Die Rubriken der ersten zwei Faszikel (leere Seiten werden im folgenden nicht berücksichtigt): I. zu Nicolaus Gorran: 1r–5r De Nicolao Gorran, 6r–8r De verbo Dei, 9r De Scriptura Veteris Testamenti, 10r De Deo, 25 De libero arbitrio, 84r Iudicia de libris sacris; II zu Johannes Gerson und Johannes Ruysbroek: 103r Ad libros superiores, 104r De loco ecclesiae, 105r De propagatione ecclesiae, 107r De persecutione; 143r De
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Bemerkenswert sind die Folien 217–222, die zumindest teilweise zum Faszikel III gehören, diesem aber nachträglich vorangestellt wurden. Dies muß geschehen sein, ehe sie dann zusammen mit dem Faszikel in den Sammelband eingingen, aber auch nicht allzu rasch, denn 224r, mit dem der eigentliche Faszikel beginnt 68, zeigt Schmutzspuren und Wasserschäden, die typisch sind für Deckblätter von ungebunden aufbewahrten Faszikeln. 217r hat einen zweispaltigen Index, mit Einträgen wie De peccato fol. 27 De poenitentia fol. 28 et 30 De baptismo fol. 28 (HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 11.11 Aug 2° fol. 217rb)
Diese Schlagworte beziehen sich direkt auf den Faszikel III und seine ursprüngliche Foliierung. Sie geben auch Hinweise, die in den Überschriften nicht erwähnt sind 69. Anders ist es mit den Folien 218–222. Sie bilden unter der Rubrik PERSONÆ ein pauschales Quellenverzeichnis nach Regionen – wobei es sich mit Ausnahme Siziliens, das auf 218v genannt ist, um deutsche Territorien oder Städte handelt. Zu Sachsen etwa werden genannt Lutherus –
Philippus – Pomeranus – Jonas – Cruciger […] (HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 11.11 Aug 2° fol. 218r)
Die Markierungen sind nicht zwingend zu deuten. Der durchkreuzte Kreis mag bedeuten, daß der genannte Autor verfügbar war, vielleicht auch, daß er bereits ausgewertet wurde. Der auf die Namensnennung folgende Strich läßt ähnliche Interpretationen zu. Mit Wessel Gansfort und Johann von Wesel, deren Werke im Faszikel III ausgewertet sind, haben diese Notizen nichts zu tun. Sie sind wegen des kurzen Registers zu Faszikel III mit vorgebunden worden. Sie gehören aber zu den allgemeinen Skizzen und Hilfsmitteln der sogenannten Operarii (d.h. der Exzerptoren), ebenso wie der in der Titelei des Faszikels von Caspar Lëunculus genannte Catalogus rerum sciendarum, über dessen AnAstrologia; 147r De magia; 149r De astrologia et magia; 168r Johannes Ruisbrorch[!], u.a. de sacrificio missae, de missa, 172ra De moribus Christianorum; 173r De politia seu gubernatione ecclesiae (mit Unterrubiken wie de primatu), 199r De schismatibus, 207r De conciliis, 121r De doctoribus, 122r De miraculis. 68 Fol. 223 ist ein leeres Trennblatt, das möglicherweise erst beim Binden eingefügt wurde. 69 Rubriken dieses Faszikels: 225r Locus et persecutio, 225v De verbo Dei, 228r De spiritu sancto, 226r De baptismo, 271va De Adiaphoris, 274r De indulgentiis, 302r De coniugio, 302va De traditionibus.
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lage und Umfang wir nur spekulieren können. Er muß aber Lëunculus im Jahr 1560 nach Erfurt begleitet haben, wo sich nach dem Zeugnis des Flacius die Autographen Johanns von Wesel befanden, die er jedoch nicht konsultiert hatte: Audi Erphordiae eius scripta adhuc inveniri posse. Ego tantum eius libellus contra indulgentias habeo (Flacius, Catalogus1 S. 978)
Johanns De indulgentiis 70 wird 274r–301v exzerpiert, aber eben noch weitere ungedruckte Werke, die Flacius nicht besaß. Darüber hinaus wurden die 1521/22 in Zwolle erschienenen Drucke mit Werken des Wessel Gansfort ausgewertet. Nicht immer ist eine klare Scheidung der beiden Autoren vorgenommen, so daß die Verifizierung für den Scriptor, wäre er je zur XV. Centurie vorangeschritten, recht mühsam geworden wäre71. Der vierte Faszikel von HAB Wolfenbüttel“ Cod. Guelf. 11.11 Aug 2° trägt den Titel SPECIALE 1415 (fol. 314r); daß es sich um eine Auswertung der Briefe des Thomas Waldensis handelt, wird nur aus dem Kontext klar72. Bemerkenswert ist, daß die Quellenangaben zu den Exzerpten zwar von gleicher Hand, aber dennoch eindeutig nachträglich eingefügt wurden. Offenbar mußte der Kompilator des Faszikels erst wieder auf die Quelle zurückgreifen73. Die Ordnung der Exzerpte erfolgt nach systematischen Schlagworten: Auf Notizen, die am ehesten zu de doctoribus zu rechnen sind, folgen dogmatische Stücke und schließlich de sacramentis. Hier einige bemerkenswerte Punkte, die Hinweise darauf geben, wie eine Einbettung der Exzerpte in die ausformulierte XV. Centurie ausgesehen hätte: Zu Wycliff wird naturgemäß passim gehandelt, 340r–343v über den Deutschordens-Hochmeister Michael Küchmeister (HM 1414–1422) und den Litauischen Großfürsten Witold (Thomas war Gutachter des Konstanzer Konzils in dieser Streitfrage), 344r de Johanne Boxhole, 346ra Robertus 70
Edition in: Reformtheologen des 15. Jahrhunderts. Johann Pupper von Goch, Johann Ruchrath von Wesel, Wessel Gansfort, hg. von Gustav Adolf BENRATH (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 7, 1968) S. 39–60. Demnach nur in drei Handschriften überliefert, von denen anscheinend keine das Exemplar des Flacius war. 71 Vgl. Franz Josef WORSTBROCK, Gansfort, Wessel in VL 11 (2 2004) Sp. 487–500. Die Werke Wessel Gansforts wurden demnach nicht handschriftlich verbreitet (WORSTBROCK Sp. 490); die Autographen jedoch bereits im frühen 16. Jahrhundert vernichtet. Als recht zuverlässiges Orientierungsmittel können die Seitenangaben nach den Zwollener Drucken gelten, z.B. 271va Wesselus de potestate eccles. Fol. 35 unter der Rubrik de Adiaphoris. De potestate ecclesiastica ist ein Traktat aus Gansforts sogenannter Farrago (WORSTBROCK Sp. 494). 72 327ra–333va sind als Speciale Henrici Reg. 5 Angliae betitelt. 73 Die Anordnung der Exzerpte ist nach Ausweis der Folienangaben nicht die der Vorlage. Dies wird insbesondere deutlich 358r wo Thomas Waldensis in epistola ad fratres zitiert wird mit dem Quellenvermerk fol. 192 fac. 1 col. 2 et 191 fac. 2.
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Magistratus Carmelitanus Herfordensis … anno 1416, 346v Petrus Lombardus, 347r de sacra scriptura, 349r de Christo, 350v de Deo, 351r de spiritu sancto, 353r de poenitentia, 354r de fide, 355r de ministerio verbi (vgl. Act. 6,4), 357r de sacramentis, 358r de orationibus, 358r de loco ecclesiae, 359r de coniugio, 361r de inferno et purgatorio, 362r de Hoeresibus[!]. 363v bringt den abschließenden Index specialia. Es wäre verfehlt, wollte man aus diesen Vorarbeiten den Text der XV. Centurie erschließen. So bleibt es fraglich, ob dem Streit zwischen dem Deutschen Orden und dem Litauischen Großfürsten in einer protestantischen Kirchengeschichte ein Platz eingeräumt worden wäre; allenfalls hätte man mit einer Erwähnung zu rechnen, die zur Charakterisierung der vielseitigen Tätigkeiten des Thomas Netter dienen könnte. Dabei sind die Urteile über Wycliff, Johann von Wesel und Wessel Gansfort noch leicht voraussagbar: Sie wären als Kirchenkritiker dargestellt worden, während ihre philosophischen Ansichten – die sogenannte Via moderna – kaum Platz gefunden hätte. Von diesem Standpunkt aus wird auch die Rolle einschätzbar, die dem Johannes Gerson zugefallen wäre, der im Universalienstreit den Gegenpol zu Johann von Wesel und Gabriel Biel darstellt, mithin die Via antiqua, der auch Luther zuneigte. Allerdings zeigen die Exzerpte letztlich wenig Interesse an dieser großen Streitfrage des 15. Jahrhunderts.
Bio-Bibliographie Die eingeschlagene Arbeitstechnik begünstigte eine Konzentration auf Personenkapitel, die wiederum in ein Lebensbild und einen Katalog der verfaßten Werke zu teilen waren. Damit konnten Bücherlisten und Exzerpte rasch in einen darstellenden Text umgesetzt werden. Natürlich geschah so etwas im Rahmen der Centurien nicht zum ersten Mal; ganz im Gegenteil hat die memorierende Selbstvergewisserung der Gelehrsamkeit eine lange Geschichte. Werfen wir einen kurzen Blick darauf. Nach allgemeiner Vorstellung beginnt die Bio-Bibliographie mit dem hellenistischen Gelehrten und Dichter Kallimachos, der bald nach 290 v. Chr. in Alexandria an der legendenumwobenen Bibliothek seine Πίνακες („Verzeichnisse“) verfaßte, in denen er zu einer Auswahl griechischer Autoren jeweils eine Kurzbiographie und ein Werkverzeichnis aufführte. Sie füllten seinerzeit 120 Buchrollen, erhalten sind heute nur mehr kurze Fragmente74. Nun kam es 74
Maßgeblich immer noch Rudolf BLUM, Kallimachos und die Literaturverzeichnung bei den Griechen. Untersuchungen zur Geschichte der Biobibliographie. Buchhändler-Vereinigung (1977) (Separatdruck aus: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18). Vgl. ferner Richard Hunter ROUSE und Mary Ames ROUSE, Bibliography before Print:
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zu diesem Werk natürlich nicht ohne Vorstufen, insbesondere die Doxologien in den aristotelischen Lehrschriften sollten hier genannt werden. In jedem Fall steht Kallimachos doch recht alleine da; größeres bibliographisches Material – jedoch ohne biographische Angaben – liefert eigentlich nur der ältere Plinius in seinen Indices auctorum, die er jedem Buch der Naturalis Historia voranstellte. Aus ihnen formten mittelalterliche Schreiber eine Gesamtübersicht, die als erstes Buch noch vor der Kosmologie das Gesamtwerk einleitete. Die Technik, die Plinius anwandte: Nennung des Autors, eines Werktitels und der Anzahl der libri, aus denen das Werk bestand, blieb prägend 75. In der christlichen Spätantike waren bio-bibliographische Werke beliebt. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts verfaßten Hieronymus und Gennadius je eine Schrift mit dem Titel De viris inlustribus 76, ähnlich auch Isidor von Sevilla 77. Der Schrifttypus machte Schule 78: im Frühmittelalter finden wir ihn etwa bei Notker Balbulus (40–912)79. Aus dem Hochmittelalter zu
The Medieval De Viris Illustribus, in: The Role of the Book in Medieval Culture 1, hg. von Peter GANZ (1986) S. 133–153. 75 Friedrich ALY, Zur Quellenkritik des älteren Plinius, Jahrbuch des Pädagogiums zum Kloster U. L. Fr. in Magdeburg (1885); Alfred KLOTZ, Die Arbeitsweise des älteren Plinius und die Indices auctorum, Hermes 42 (1907) S. 323–329; Viktor BURR, Buch und Bibliothek bei Plinius dem Jüngeren, in: Aus der Welt des Buches. Festschrift Georg Leyh (Beiheft zum Zentralblatt für Bibliothekswesen 75, 1950) S. 94–100. 76 Eusebius, Hieronymus, Liber de viris inlustribus. Gennadius: Liber de viris inlustribus. Der sogenannte Sophronius, hrsg. von Oscar von Gebhardt (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 14,1, 1896); Stanislaus VON SYCHOWSKI, Hieronymus als Litterarhistoriker. Eine quellenkritische Untersuchung der Schrift des H. Hieronymus „De viris illustribus“ (Kirchengeschichtliche Studien 2,2, 1894); Bruno CZAPLA, Gennadius als Litterarhistoriker. Eine quellenkritische Untersuchung der Schrift des Gennadius von Marseille „De viris illustribus“ (Kirchengeschichtliche Studien 4,1, 1898). 77 Franz SCHÜTTE, Studien über den Schriftstellerkatalog de viris illustribus des hl. Isidor von Sevilla (Kirchengeschichtliche Abhandlungen 1,2, 1902); Carmen CODOÑER MERINO, El „De viris illustribus“ de Isidoro de Sevilla. Estudio y edición critica (Theses et studia philologica Salmanticensia 12, 1964); MIGNE PL 83 (1862) Sp. 1081–1106. 78 Paul LEHMANN, Erforschung des Mittelalters 1 (1941) S. 82–113; Ferruccio BERTINI, Continuatori medievali del De viris illustribus di Gerolamo (sec. I –II), in: Biografia e agiografia nella letteratura cristiana antica e medievale, a cura di Aldo CERESA-GASTALDO (1988) S. 127–138; Richard H. ROUSE, Bibliography before print. The medieval De Viris illustribus, in: The Role of the book in medieval culture, ed. by Peter GANZ, 1 (1986) S. 133–153. 79 Erwin RAUNER, Notkers des Stammlers Notatio de illustribus uiris, Teil 1: Kritische Edition, Mittellateinisches Jahrbuch 21 (1987) S. 34–69.
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nennen wären Petrus Diaconus (ca. 1100–ca. 1153)80, Sigebertus von Gembloux (c. 1035–1112)81, Honorius Augustodunensis 82 und Wolfger von Prüfening († nach 1173)83 sowie der „doctor solemnis“ genannte Henricus Gandavensis (gest. 1295), der De scriptoribus ecclesiasticis behandelte84. In der Renaissance kamen solche Werke verstärkt auf, etwa von Bartolomeo Facio (ca. 1400–1457)85 und, wie könnte es anders sein, auch Enea Silvio Piccolomini (1405–1464)86. Das Werk aber, auf das wir hier unweigerlich zusteuern, ist der 1494 bei Amerbach in Basel gedruckte Liber de scriptoribus ecclesiasticis des Trithemius (1462–1516) mit 1013 verzeichneten Autoren87. Sigebert hatte lediglich 172 88. Etwas später (1508–1513) verfaßt der Abt von Maria Laach, Johannes Butzbach genannt „Piemontanus“ (1477–1516), ein Auctarium de scriptoribus ecclesiasticis 89 mit über 1100 Biographien. Gegen Ende des Jahrhunderts druckte Suffridus Petri (1527–1597) die Werke von Hieronymus, Gennadius, Isidor, Honorius und Sigebert mit weiteren Ergänzungen als Textzyklus unter dem Titel De il80
Pietro Diacono, De viris illustribus Casinensibus, introd., trad. e note di Giseppe SPERDUTI (1995). 81 Marie SCHULZ, Zur Arbeitsweise Sigeberts von Gembloux im Liber de scriptoribus ecclesiasticis, NA 35 (1910) S. 563–571; Max MANITIUS, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters 3: Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (1931), S. 332–350; Robert WITTE, Catalogus Sigeberti Gemblacensis monachi de viris illustribus. Kritische Ausgabe (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 1, 1974); Tino LICHT, Untersuchungen zum biographischen Werk Sigeberts von Gembloux (2005). Das Werk stand auf der an Ottheinrich gerichteten Suchliste der Centuriatoren, vgl. SCHOTTENLOHER, Ottheinrich (wie Anm. 7) S. 165. 82 De luminaribus ecclesie, in: MIGNE PL 172 (1854) Sp. 197–234. 83 In der älteren Literatur als Anonymus Mellicensis geführt, vgl. Catalogus virorum illustrium. Der sog. Anonymus Mellicensis De scriptoribus ecclesiasticis, ed. Emil ETT LINGER , Diss. phil. Straßburg (1896); Francis Roy SWIETEK: Wolfger of Prüfening’s De Scriptoribus ecclesiasticis. A critical ed. and historical evaluation, Phil. Diss. Univ. of Illinois Urbana-Champaign 1978 (1982). 84 Barthélemy HAURÉAU, Mémoire sur le Liber de viris illustribus attribué à Henri de Gand (Mémoires de l’Académie des inscriptions et belles-lettres 30, 2, 1883). 85 Mariarosa CORTESI, Il codice Vaticano Lat. 13650 e il De Viris Illustribus di Bartolomeo Facio, Italia medioevale e umanistica 31 (1988) S. 409–418. 86 Enee Silvii Piccolominei postea Pii pp. II. de viris illustribus, ed. Adrianus VAN HECK (Studi e testi 341, 1991). 87 Vgl. T RITHEMIUS, De scriptoribus ecclesiasticis. Die Zahlenangabe beruht auf einer Auszählung im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Erstdrucks. 88 WITTE (wie Anm. 81) S. 10. 89 Ottokar Theodor BONMANN, Das Auctarium (bibliographicum) des Johannes Butzbach († 1516/17) und seine Bedeutung für die franziskanische Literaturgeschichte, insbesondere die Provincia Coloniensis OFM, Franziskanische Studien 27 (1940) 160–173. – Karl RÜHL, Das Auctarium de scriptoribus ecclesiasticis des Johannes Butzbach (1937).
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lustribus ecclesiae scriptoribus (Köln 1580)90. Dieser Druck konnte zwar für die Centurien noch nicht benutzt werden, aber die gemeinsame Überlieferung der Texte findet sich bereits in Handschriften des 13. Jahrhunderts91. Eine solche Handschrift forderte Flacius schon in der Frühphase seiner Sammeltätigkeit aus Wien an. Sie ist leider nicht identifiziert, vielleicht auch verloren. Wir können jedoch durch die Centurien hindurch verfolgen, wie ihre Autoreneinträge exakt exzerpiert und in das neue chronologische Schema eingeordnet werden. Doppelungen aus den einzelnen Autorenkatalogen werden kumuliert, jedoch stets die Quellen vermerkt. So können die Magdeburger Centurien, was meines Wissens noch nicht herausgestellt wurde, als Summa mittelalterlicher Autorenkataloge dienen. Doch das ist nur eine Seite. Bedeutsamer wird es, wenn eigene Forschungen der Centuriatoren hinzutreten.
Die Darstellung des Ambrosius in der IV. Centurie Die Vita des Ambrosius in der vierten Centurie ist mit 24 Spalten eine der umfangreichsten personenbezogenen Einzeldarstellungen in den Centurien überhaupt (MC IV, Sp. 1147–1170). Davon sind vier Spalten dem Lebenslauf gewidmet, Hauptquelle ist hier die Kirchengeschichte des Sozomenus (genannt Sp. 1150). Es folgt eine fünfspaltige Auflistung der Werke (MC IV, Sp. 1150–1155), anschließend eine nach Stichworten geordnete Doxologie in 15 Spalten (MC IV, Sp. 1155–1170). Dieser Teil zeugt zum einen von der intensiven Lektüre, die Wigand und seine Helfer dem Kirchenvater widmeten; zum anderen ist er gerade darum aus historisch-kritischer Sicht manipulativ, etwa wenn unter dem lutherisch verstandenen Lemma de iustificatione coram Deo per fidem solam ein Ambrosius-Zitat quia non operibus, inquit, iustificamur, sed fide92 auftritt, das in einen ganz anderen Zusammenhang gehört. Diese selektive Wahrnehmung ist Teil des argumentativen Armariums der Predigt auch der vorreformatorischen oder der kontroverstheologischen Kirche. Man muß jedoch hervorheben, daß die Zitate sowohl im Wortlaut wie in der Angabe der Fundstelle korrekt sind. 90
Suffridus PETRI, De illustribus ecclesiae scriptoribus, authores praecipui veteres. 1. D. Hieronymus Stridonensis presb. 2. Gennadius Massiliensis. 3. Isidorus Hispalensis Episc. 4. Honorius Augustodunensis presb. 5. Sigebertus Gemblacensis monachus. 6. Henricus de Gandovo Archidiaconus Tornacensis partim antea excusi, partim nunc demum in lucem editi ... Opera Suffridi Petri (1580). Zu seinen handschriftlichen Quellen vgl. die Epistola dedicatoria, zitiert bei WITTE (wie Anm. 81) S. 11. 91 Vgl. die Handschriftenbeschreibungen bei WITTE (wie Anm. 81) S. 25–35. 92 De Iacob et uita beata, vgl. CSEL 32,2, ed. C. SCHENKL, (1897) S. 3–70, zum Werk vgl. Clavis Patrum Latinorum³ (1995) Nr. 130.
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Das ist durchaus nicht wenig und muß betont werden als Befund für Zitate anderer Auctoritates – die wir auch heute nicht so leicht überprüfen können wie die der Kirchenväter. Für die quellenkritische Zuverlässigkeit bürgt die Werkausgabe des Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536)93, die die Centuriatoren nicht nur heranziehen, sondern ausführlich beschreiben. Sie setzen ihre Einteilung in fünf Bände gegen die Behauptung des Cuspinian ab, der die scripta ... Ambrosii in tres partes hodie distincta (MC IV, Sp. 1152) deklarierte: Sed extant hodie Ambrosii monumenta digesta in quinque Tomos (MC IV, Sp. 1152). Band für Band listet die Centurie die Werke auf, wobei nicht vergessen wird, die Echtheitsdiskussion wiederzugeben, die Erasmus bei jedem Werk führte. Dies betrifft insbesondere die im fünften Band gedruckten Kommentare zu den Paulusbriefen94. Der von Erasmus für den Anonymus des 4. Jahrhunderts geprägte, und heute noch gebräuchliche, Name „Ambrosiaster“ fällt allerdings nicht. Erst nach Behandlung des Inhaltes der Erasmus-Ausgabe kommen die Centuriatoren auf die Werkliste des Trithemius zu sprechen, aber nur im Hinblick auf Werke, die Erasmus nicht abgedruckt hat, etwa die bei Trithemius zu findende Erwähnung von libros undecim in Psalmos, quos tamen negat sibi visos (MC IV, Sp. 1155)95. Das Beispiel der Ambrosius-Vita zeigt sehr schön, wie die Centuriatoren vorgehen. Im Umgang mit den Quellen werden die von Erasmus entwickelten textkritischen Methoden verfolgt: Unter Angabe der Fundstelle wird primär das Gefundene dokumentiert, Kritik kommt meist nur indirekt zum Ausdruck (tamen negat sibi visos). Wo theologische Fragen, insbesondere die Kernpunkte der Gnesiolutheraner, zur Debatte stehen, wird in eigener Zuständigkeit geurteilt. Hier sind die Formulierungen weitaus schärfer und ohne Falldiskussion. Als primäre Quelle der gesamten Darstellung ist die von Erasmus veranstaltete Druckausgabe anzusehen.
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Omnia quotquot extant divi Ambrosii episcopi Mediolanensis opera cum per Des. Erasmum Roterodamum, tum per alios eruditos viros, accurata diversorum codicum collatione nunc denuo emendata, in quinque digesta ordines (Basel 1538 = VD-16 A 2181). 94 Zum Vorgang Joachim STÜBEN, Erasmus von Rotterdam und der Ambrosiaster. Zur Identifikationsgeschichte einer wichtigen Quelle Augustins, Wissenschaft und Weisheit 60, 1 (1997) S. 3–22. 95 Hier freilich irren die Centuriatoren: Trithemius nennt die elf Bücher über die Psalmen ohne solche Vorbehalte. Erst in der Folgezeile bekennt er: Alia quoque nonulla edidit: quæ ad noticiam meam non venerunt. Vgl. T RITHEMIUS, De scriptoribus ecclesiasticis fol. 15v.
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Hinkmar von Reims in der VIII. Centurie Eine ganz andere Quellenlage ergibt sich für die Darstellung des Erzbischofs Hinkmar von Reims (ca. 806–882) in der neunten Centurie (MC IX, Sp. 355–360, 523f). Er erscheint als Schismatiker; später hören wir noch von ihm unter de episcopis et doctoribus unter der Rubrik sub Carolo Calvo. Als Schismatiker – was ja im flacianischen Sinne ein Ehrentitel ist – wird er eingestuft, weil er seinem Neffen Hinkmar von Laon die Appellation an den Papst (Hadrian II.) untersagte. Aus lutherischer Sicht (das wird nirgends gesagt, aber es dürfte wohl für seine Eingruppierung ausschlaggebend gewesen sein) vertrat er damit so etwas wie eine Landeskirche gegen den Primat der römischen Kirche 96. Es werden stark gekürzte Quellenbelege beigefügt: ein Brief Hinkmars, den Flacius bereits im vollen Wortlaut abgedruckt hatte97, und zwei Schreiben Karls des Kahlen an Hadrian II98. Dazwischen findet sich in Kurzform das Schreiben Hadrians von 871 ad Episcopos Synodi Duziacensis99 sowie ein (wohl wie die vorigen von Hinkmar von Reims verfaßtes) Schreiben Karls des Kahlen an den Klerus von Ravenna 100. Wenn diese Stücke uns heute auch nicht unbekannt sind, so sollte die Zusammenstellung stutzig machen. Woher nahmen die Centuriatoren ihre Textkenntnisse? Für Hinkmars Werkverzeichnis wird der Liber de scriptoribus ecclesiasticis des Trithemius ausgeschrieben (diesmal unter Verzicht auf die Tabellenform des Trithemius, die sonst im allgemeinen übernommen wird): Scripsit ad ecclesiam Ravennatem nomine Caroli Calvi lib 1. Et vitam Remigii lib. 2. Ad Valonem episcopum Metensem lib. 1. Epistolarum lib. 1. Scripsit etiam versus ad Hincmarum Laudunensem. Item contra eundem lib. 1. Trithemius. Et libellum contra liberum arbitrium, quem manuscriptum vidimus. (MC IX, Sp. 523)
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Die Bewertung Hinkmars durch beide Konfessionen ist positiv. Auch T ORRES, Adversus Magdeburgenses libri V (Köln 1573) S. 97f. u.ö. zitiert Igmarus Remensis gegen die Novatores; in Wahrheit handelt es sich bei diesem Text allerdings um Bernold von Konstanz, vgl. Bernold von Konstanz, De excommunicatis vitandis, de reconciliatione lapsorum et de fontibus iuris ecclesiastici (Libellus X), hg. von Doris STÖCKLY unter Mitwirkung von Detlev JASPER (MGH Fontes iur. Germ. ant. 15, 2000), S. 62f., zur Rezeption durch Torres ausführlich ebda. S. 63, bes. Anm. 227. 97 FLACIUS, Catalogus2 S. 112–120. 98 Epp. Caroli Calvi VII–VIII, vgl. MIGNE PL 124 (1879) Sp. 876–886. 99 JL 2945 bzw. MIGNE PL 122 (1865) Sp. 1312–1315. 100 Nach den Zitaten MC IX, Sp. 199, 305 bzw. 349 gedruckt bei Martina STRATMANN , Karls des Kahlen Auseinandersetzung mit dem Klerus von Ravenna (875). Ein Briefwechsel, ZKG 105 (1994), S. 329–343, hier S. 342f.
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Bei Trithemius ist die Reihenfolge identisch und die Abhängigkeit wäre auch ohne Quellenvermerk schon durch die Wortwahl offensichtlich: Sub persona Caroli magni imperatoris scripsit valde instructe: Ad ecclesiam Ravennnatensem: li. i Vitam sancti Remigii episcopi: li. ii Ad Vualonem episcopum Metensem: li. i Epistolarum multarum: li. i De caeteris nihil vidi101.
Wahrscheinlich eine Folge der Arbeitsteilung zwischen Collector und Scriptor war es, daß auch die Werke gegen Hinkmar von Laon angeführt werden, die Trithemius gar nicht erwähnt. Der Scriptor schloß sie irrtümlich in die vom Collector gelieferte Liste ein. Das abschließende de caeteris nihil vidi des Trithemius wird durch die Hinweise auf eigene Funde der Centuriatoren ersetzt. Trithemius verwendet diese Formel auch sonst102; sie bedeutet sinngemäß „weitere Angaben habe ich nicht gefunden“. Wenn diese Formel also auch nicht als Autopsievermerk interpretiert werden kann, so bleibt doch fraglich, ob Trithemius seinerseits lediglich die Angaben Sigeberts von Gembloux ausschreibt 103. Daß er Sigeberts Katalog kannte, kann kaum bezweifelt werden, aber er übernimmt kaum etwas von Sigeberts weitschweifigen Erläuterungen zur Vita S. Remigii104; wirklich signifikant ist nur die (im übrigen gründlich mißratene) Übernahme des Satzes Rescripsit ad ecclesiam Ravennatem sub persona magni Karoli imperatoris105. Indem er den Satz zerlegt, vermittelt Trithemius den Eindruck, Hinkmar habe sämtliche Werke unter Kaiser Karls Namen geschrieben. Das wird bei der Übernahme in die IX. Centurie wieder korrigiert, ebenso der Name des Kaisers. Dennoch sollte gefragt werden, was der Büchersammler und Bibliotheksforscher Trithemius an Hinkmar-Handschriften gesehen hat. Denn die Korrespondenz Hinkmars mit Erzbischof Wala von Metz († 882)106, die Trithemius (und nach ihm die Centuriatoren), erwähnen, kennen wir nur 101
T RITHEMIUS, De scriptoribus ecclesiasticis fol. 43r. Zum Beispiel fol. 80r zu Martin von Troppau. 103 So Martina HARTMANN, Zur Wirkungsgeschichte Hinkmars von Reims, Francia 22, 1 (1996) S. 1–43, hier S. 2 Anm. 4. 104 Sie sind Hinkmars Prolog entnommen, vgl. SCHULZ, Arbeitsweise (wie Anm. 81) S. 564f. 105 Vgl. WITTE, Sigebert (wie Anm. 81) S. 100. Zu dieser mißverständlichen (und von Trithemius ganz offenkundig auch mißverstandenen) Angabe vgl. HARTMANN, Wirkungsgeschichte (wie Anm. 103) S. 16 Anm. 96. 106 Zur Person vgl. Thomas BAUER in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 13 (1998) Sp. 165–169. 102
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aus dem Regest des Chronisten Flodoard von Reims 107. Hat Trithemius seinen Hinweis aus Flodoards Bericht oder aus einer Handschrift gezogen? Könnte dies die gleiche Handschrift gewesen sein, aus der Flacius den Text für seinen Druck des Briefes an die Ravennater nahm? Daß zumindest die Centuriatoren über Hinkmar mehr wußten, als sie explizit mitteilen, sieht man daran, daß das Schismatiker-Kapitel sub Carolo Calvo eingeleitet wird mit einem – durch den Hinweis auf Biblianders Chronographie 108 verstärkten – Abschnitt über Ratramnus von Corbie († 868). Dieser wird hier nach dem Erstdruck von De corpore et sanguine Christi von 1532 Betramnus genannt 109. Diese Schrift kann damit als ausgewertete Quelle identifiziert werden. Ein Bezug zu Hinkmar wird nicht hergestellt; umgekehrt auch nicht einige hundert Seiten später unter de episcopis et doctoribus ecclesiae. Aber nach der Auflistung von Hinkmars Werken fügen die Centuriatoren ja hinzu, es gebe ferner ein libellum contra liberum arbitrium, quem manuscriptum vidimus – das ist Hinkmars Schrift De praedestinatione, die gegen Ratramnus gerichtet war110. Und wo haben sie dieses libellum gesehen? Heute ist kein Codex mehr erhalten111. Johannes Cordesius (1570–1642) druckte 1615 die erste Ausgabe von Hinkmars Werken, aber er kannte das Werk nicht und ließ es dementsprechend aus. Die Vorlagen hatte ihm Jacques Auguste de Thou (1533–1617) vermittelt, der sie aus der Sammlung Pierre Pithou (1539–1596) erworben hatte. Den Brief Hinkmars an die Ravennaten und andere Stücke druckte Cordesius ohne Quellenvermerk nach dem Catalogus testium veritatis des Flacius 112. Erst 1645 konnte der Beichtvater Ludwigs XIII., Jacques Sir107
Flodoard von Reims, historia Remensis ecclesiae, ed. Martina STRATMANN (MGH SS 36, 1998) III, 23 (S. 316f.), hier insbesondere S. 316 Anm. 109: „Der Brief Walas ist ebensowenig wie der Hinkmars erhalten“, sowie ebda. Anm. 111 mit Hinweis auf die Erwähnung in den Gesta Trevirorum, vgl. MGH SS 8, S. 165. 108 Theodorus BIBLIANDER, Temporum a condito mundo usque ad ultimam ipsius aetatem supputatio (Basel 1558) S. 175. 109 Bertrami Presbyteri De Corpore Et Sanguine Domini Liber ad Carolum Magnum Imperatorem (Köln 1532); Ed.: Ratramnus Corbeiensis, De corpore et sanguine domini, texte original et notice bibliographique, edition renouvelée par Jan Nicolaas BAKHUIZEN VAN DEN BRINK (Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van wetenschappen, Afd. Letterkunde N.R. 87, 1974). 110 Zum Vorgang Heinrich SCHRÖRS, Hinkmar Erzbischof vom Reims. Sein Leben und seine Schriften (1884) S. 88–126, Text ed. MIGNE PL 125 (1879) Sp. 63–474. 111 Eine partielle Überlieferung findet sich in der Handschrift Bibliothèque Royale Brüssel 5413-22, da Hinkmar einzelne Abschnitte aus älteren Gelegenheitswerken montierte, vgl. Hubert SILVESTRE, Notices et extraits des manuscrits 5413-22, 10098-105 et 10127-144 de la Bibliotheque Royale de Bruxelles, Sacris erudiri 5 (1953) S. 174–192, hier S. 175f. 112 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 214.
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mond (1559–1651), einen durch fragwürdige Emendationen „verbesserten“ Text nach einem Codex der Reimser Kirche in den Druck113 geben. Die Handschrift dürfte in der französischen Revolution vernichtet worden sein, alle weiteren Editionen basieren jedenfalls auf Sirmond 114. Diese Überlieferungssituation ist für so ein zentrales Werk besonders schmerzlich115 – und entsprechend auch, daß die neunte Centurie nicht mehr Worte darüber verliert. Bemerkenswert ist auch, daß zu den Synoden von Tusey (860)116 und Douzy (871)117, zu denen doch Quellenmaterial verwertet wurde und worüber Flacius im Catalogus sehr wohl berichtete118, unter de synodis im Abschnitt sub Carolo Calvo kein Wort verloren wird. Hier erscheint lediglich – und diesmal ohne Rückbezug auf andere Hinkmar-Passagen – ein Bericht über die Synode von Attigny von 870 119, der mit einem merkwürdigen Quellenvermerk schließt: Acta synodi a Hincmaro conscripta (MC IX, Sp. 444). Nun gibt es in dem Bericht, wie Wilfried Hartmann herausstellte, 113
Hincmari archiepiscopi Remensis opera cura et studio Iacobi SIRMONDI (Paris 1645), 1, S. aiir: repræsentamus ex Codice sancti Remigii Remensis, vel Hincmari potius, a quo librum Monasterio illi datum docet inscriptio. 114 So auch Gilbert MAUGUIN, Veterum auctorum qui IX. saeculo de praedestinatione et gratia, scripserunt opera et fragmenta plurima …cum eiusdem chronica et historica synopsi (Paris 1650). Sirmonds fünf Jahre zuvor erschienene Hinkmar-Ausgabe wird MAUGUIN, Veterum auctorum opera, Praefatio fol. 4r genannt und immer wieder zitiert (ebenso wie aus Hinkmars Briefen, aus den Annales Bertiniani und Flodoard), vgl. vor allem ebd. 1, 2, S. 237–240 mit Hinkmars Epistola ad Egilonem Archiepiscopum Senonensem anno 866 (= MIGNE PL 126 [1852] Sp. 68–71) und 2., S. 1–41, insgesamt zur Kontroverse zwischen Ratramnus und Hinkmar, wobei Hinkmar nunmehr ein Wahrheitszeuge der katholischen Kirche ist (Praef. fol. 3r: Hic fuit controversiarum illarum IX. sæculo status, quæ postremo ratione hæreseon Lutheri & Calvini, iterum in publicum prodiere). 115 Die Nachkollation von Sirmonds Abdruck von De cavendis vitiis mit seiner Vorlage Bibliotheque Municipale Saint-Mihiel Cod. 27, ergab, daß Sirmond „in einschneidender Weise in den Text ein[griff]“, vgl. Hinkmar von Reims, De cavendis vitiis et virtutibus exercendis, hg. von Doris NACHTMANN (MGH Qellen zur Geistesgeschiche des Mittelalters 16, 1998) S. 81. Über Sirmond und seinen Umgang mit Handschriften äußert sich in anderem Zusammenhang auch MAUGUIN (wie Anm. 114) fol. 5v seiner Praefatio sehr ungnädig: Opusculum vero S. Prudentij ad Hincmarum & Pardulum, in Bibliotheca Metensi S. Arnulphi iam dudum inimica manu subreptum frustra requisivimus: Extat tamen eius exemplar apud R. P. Sirmondum, a quo praefationem hic exhibitam, donec R. Pater integrum edat, vix impetravimus. 116 MGH Conc. 4 S. 12–42. 117 MGH Conc. 4 S. 410–572. 118 Flacius, Catalogus2 S. 98–109 mit Schreiben der Synode von Douzy, vgl. Wilfried HARTMANN in MGH Conc. 4 S. 414f. 119 MGH Conc. 4 S. 380–395, zu den Centurien S. 383 (Wilfried HARTMANN).
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„keine wörtlichen Anklänge … an die Formulierungen der Narratio“120, so daß man nicht mit Schrörs121 schließen könne, daß den Centuriatoren eine Handschrift der Narratio vorlag, in der Hinkmar als Verfasser bezeichnet wurde. Aber es gibt keinen Anlaß, an den sonst stets präzisen Quellenangaben der Centurien zu zweifeln – und so bleibt die Frage offen, wer aus was für einem Handschriftenbestand solche – zweifellos lückenhaften – Informationen über westfränkische Synoden, die damit zusammenhängenden Briefe Hadrians und Karls und schließlich vor allem über die Existenz von Hinkmars De praedestinatione zusammentrug. Die heute im Vatikan aufbewahrte Handschrift mit Hinkmars 55-Kapitel-Werk, die einmal Flacius gehörte und die für die Centuriatoren kopiert wurde122, gibt diese Informationen nicht. Allerdings finden sich in der immensen schriftlichen Hinterlassenschaft von Flacius und den Centuriatoren häufiger Hinweise auf Hinkmar-Texte, die keiner heute erhaltenen Handschriften zugewiesen werden können. Sechs Briefe zur Bischofswahl sind nur durch Flacius überliefert, weitere Briefe aus dem Streit um Bischof Hinkmar von Laon, die sonst nur in dem spätkarolingischen Codex BN Paris lat. 1594 überliefert sind, können nicht aus diesem Parisinus stammen, da er sich zu Lebzeiten des Flacius für ihn unzugänglich in Reims befand123.
Details der Quellenarbeit: Die XIII. Centurie Die dreizehnte Centurie ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Zum einen ist sie der einzige Band, in dem Flacius nicht als Unterzeichner des Vorwortes auftritt – es sind vielmehr Johannes Wigand, Andreas Corvinus und Thomas Holzhuter. Gleichzeitig ist es die letzte publizierte Centurie. Mit 1378 gezählten Spalten (zuzüglich etwa 50 Seiten Register) ist sie auch recht umfangreich. Sie schließt mit einem Quellenhinweis auf den Continuator historiæ sacri belli, also dem anonymen Fortsetzer der Kreuzzugschronik des Wilhelm von Tyrus124. Ronald Diener vermutete, daß der 120
MGH Conc. 4 S. 383. SCHRÖRS, Hinkmar (wie Anm. 110) S. 334 Anm. 115. 122 Die Abschrift ist erhalten: Niedersächsische Landesbibliothek Hannover I 245, vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 222. 123 Vgl. HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 152: „Man wird deshalb von einem heute verlorenen Codex als Textgrundlage ausgehen dürfen“, nämlich für den Abdruck in FLACIUS, Catalogus2 S. 98–109. 124 Crusader Syria in the thirteenth century. The Rothelin continuation of the History of William of Tyre with part of the Eracles or Acre text, transl. by Janet SHIRLEY (Crusade texts in translation 4, 1999). 121
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Text alleine von Corvinus und Holzhuter abgefaßt wurde: „there is no evidence that Wigand was involved in the composition of Century XIII.“125 In den Personenartikeln der Centurie waren bedeutende Persönlichkeiten zu notieren. Hierzu gehören etwa Albertus Magnus 126, Berthold von Regensburg127; Bonaventura und Innozenz III. und viele weitere128. Auch der von Trithemius nicht berücksichtigte Dominikaner Johannes de Friburgo wird kurz und mit korrektem Hinweis auf sein Confessionale bedacht129, eine inhaltliche Stellungnahme findet nicht statt. Acht Spalten – ungewöhnlich viel Raum! – werden Eadmund von Abdington (1180–1240) eingeräumt (hier Eadmundus Richius genannt). Als Erzbischof von Canterbury suchte er kirchliche Reformen – insbesondere eine strengere Regulierung des Klerus – durchzusetzen, geriet jedoch deswegen mit Heinrich III. in Konflikt. Sein Reformwerk wurde durch Appellationen des englischen Klerus an den Papst stark behindert, ein eigene Mission nach Rom war erfolglos. Eadmund mußte schließlich in das Zisterzienserkloster Pontigny bei Auxerre fliehen, wo er auch begraben wurde. 1246 erfolgte seine Heiligsprechung durch Innozenz IV. Aber aus der Darstellung der Centurien geht dieser Konflikt nicht hervor130. Der Grund hierfür dürfte in mangelnder Distanz zu der Quelle zu suchen sein, die die Centuriatoren ausgewertet haben – oder, wenn man so will, in mangelhafter Überarbeitung dessen, was man exzerpiert hatte. Die Quelle war das Speculum historiale des Dominikaners Vinzenz von Beauvais. Vinzenz hatte keinen Anlaß, den Konflikt Eadmunds mit dem Papsttum herauszustellen; diesen kritischen Punkt hätten die Centuriatoren selbst einführen müssen. Das unterblieb jedoch – und mehr noch: Eadmunds Vita wird in den protestantischen Centurien bei Wahrung der Kapitelfolge des Vinzenz bis hin zu den Miracula eius, den Visiones eius, ja der Miracula bzw. Ap125
DIENER, Centuries S. 286. MC XIII, Sp. 1071–1076. 127 MC XIII, Sp. 1210f. 128 Franz von Assisi MC XIII, Sp. 1151–1174; Dominicus ebda. Sp. 1177–1184, Thomas von Aquin Sp. 1193–1198; Hochmeister Konrad von Thüringen Sp. 1239 (angeblich in Marienburg beigesetzt, recte: Marburg, als Quelle genannt wird: Chronicon Prutenicum); Maria de Oegnies Sp. 1244–1248 nach Vincentius Bellovacensis. 129 MC XIII, Sp. 1031. 130 Nicht von Vinzenz, sondern aus Polydorus Vergilius entnommen ist der Hinweis auf den Widerstand Eadmunds gegen die Hochzeit Eleanores von England, der Schwester des Königs, mit Simon von Montfort, quod ea perpetua castitatem post mariti obitum vovisset. Ea res Henricum regem offendit, ut minus propitium ipsum experitetur. Qua propter Romam iter faciens, pontificis auxilium imploravit, quamvis frustra (MC XIII, Sp. 1120). Das Zusammenspiel von Heinrich, Simon und dem Papst bleibt völlig außen vor, der größere Zusammenhang mit Eadmunds Reformbestrebungen wird nicht erwähnt. 126
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paritiones post mortem vorgestellt 131, die zu seiner Heiligsprechung führten, während die Reformschrift Speculum ecclesiae nur ihrem Titel nach erwähnt wird132. Über seine aszetischen Übungen einschließlich einer mystischen Heirat mit der Gottesmutter werden wir unterrichtet133, ohne daß eine ablehnende Haltung der Redaktoren auch nur angedeutet würde. Dabei ist der Text zwar in der Abfolge der Gedanken sehr eng an seine Vorlage angelegt 134, aber keineswegs wörtlich übernommen. Hier ein Beispiel. Bei der Lektüre Eadmunds spielt eine Marienfigur eine besondere Rolle. Vizenz sagt hierüber: Libris coram se positis in superiori parte contra faciem habebat eburneam et vetustissimam beate virginis ymaginem in circuitu throni sui redemptionis nostre misteria sculptura mirabili continentem. De codice procedebat lectio, ad yconiam referebatur oratio. De utroque influebat ipsius studentis anime contemplationis extasis et dulcedo135.
Die Fassung der Centuriatoren ist entschärft, aber frei von Bekundungen des Abscheus oder vom Vorwurf der Idololatrie, die andernorts bei geringeren Anlässen auftreten: Eregione, ubi sedebat studiis vacans, imaginem B. Mariæ virginis ex ebore sculptam habebat, ad quam per intervalla dirigebat orationem, nunc legens aliquid, nunc preculas demurmurans. (MC XIII, Sp. 1119)
131
MC XIII, Sp. 1116–1124; zur Person Cliffond Hugh LAWRENCE, St. Edmund of Abingdon. A study in hagiography and history (1960); Friedrich Wilhelm BAUTZ, Eadmund von Abdington, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 1 (1990), S. 1437–1438. Die Miracula und Apparitiones post mortem ebda. Sp. 1120–1124 – also die Hälfte des umfangreichen Artikels! 132 MC XIII, Sp. 1117. Das Speculum ecclesiae wurde erstmals London 1521 gedruckt; eine englische Übersetzung erschien 1527; auch in: Magna Bibliotheca Veterum Patrum, et Antiquorum Scriptorum Ecclesiasticorum, primo quidem a M(argarinus) DE LA BIGNE collecta, 5. (Paris 1609 u.ö.). 133 Vgl. MC XIII, Sp. 1117–1120, die mystische Hochzeit Sp. 1170, bei Vinzenz von Beauvais weit ausführlicher Speculum historiale lib. XXXI cp. 70 mit der Rubrik qualiter in adolescentia castitati studuit et ymaginem beate virginis anulo desponsavit. Vgl. Bibliotheca mundi, seu Speculi maioris Vincentii Burgundi præsulis Bellovacensis … Tomus quartus qui Speculum historiale inscribitur (Douai 1624, Nachdr. 1965) S. 1309. 134 Das läßt sich bereits an der kontinuierlich aufsteigenden Folge der peinlich genau verzeichneten Kapitelnummern des Speculum historiale verfolgen, die dem Referat über Eadmund beigegeben sind. Die Quellenangaben der Centuriatoren stimmen sowohl in den Buchnummern wie den Kapitelnummern mit der (heute mangels einer kritischen Edition maßgeblichen) Ausgabe Douai 1624 überein (wie Anm. 133). 135 Vinzenz von Beauvais, Speculum historiale (wie Anm. 133) lib. XXXI cp. 78, S. 1311.
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Die Eadmund gewährte Toleranz bleibt erstaunlich; ohne weiteres könnte man die von Gnesiolutheranern verfaßte Heiligenvita in ein katholisches Kompendium einstellen. Unter den Quellennennungen der dreizehnten Centurie sind selbstverständlich auch weniger bekannte Namen, aber die Masse der Nennungen betrifft die historiographischen Standarddrucke des 16. Jahrhunderts: die Chroniken von Platina 136, Trithemius, Albert Krantz, Johannes Vergenhans 137, Aventin, Jacques de Meyer de Bailleul (1491–1552)138, Flavius Blondus (1392–1463)139, Caspar Bruschius (1518–1549)140, Johannes Cuspinian, Caspar Hedio 141, Martin Cromer (1512–1589)142, Robert Gaguin (1433–1501)143; und auch mittelalterliche Autoren wie Jacobus de Voragine mit dem Chronicon genuense 144, Martin von Troppau (als Martinus Cappellanus zitiert) und immer wieder Vinzenz von Beauvais und die pauschal unter dem Namen Burchards von Ursperg geführte Chronik Ekkehards von Aura mit ihen Fortsetzungen waren längst gedruckt und werden nach die136
Bartolomeo Sacchi (1421–1481) wurde nach seinem Geburtsort Piadena ‚Platina‘ genannt. Platina wurde zweimal eingekerkert, u.a. wegen Häresie. Unter Sixtus IV. wirkte er als Bibliothekar an der Vaticana. Platinas Geschichte der römischen Päpste erschien zuerst 1479 und war die erste Papstgeschichte überhaupt. 1546 übersetzte Caspar Hedio die Historia ins Deutsche und fügte ihr die erste deutsche Übersetzung der Grabrede Melanchthons auf Luther als Anhang bei. 137 Vgl. Anm. 3. 138 Compendium Chronicorum Flandriae per Iacobum MEYERUM Balliolanum. Opus nunc recens aeditum (Nürnberg 1538), reicht bis zum Jahr 1278, dient regelmäßig als Quelle zur flandrischen Geschichte, vgl. etwa MC X Sp. 641. 139 Flavius Blondus, Historiarum ab inclinatione Romanorum Libri XXXI (Basel : Froben 1531). Dieses auch „Decades“ genannte Werk stellt die erste systematische Gesamtdarstellung der europäischen Geschichte vom Ende des antiken römischen Reiches bis zum 15. Jahrhundert (472–1440) dar. 140 Caspar BRUSCHIUS, Magnus opus de omnibus Germaniae episcopatibus (Nürnberg 1549); DERS., Centuria prima monasteriorum. Monasteriorum Germaniae Chronologia praecipuorum ac maxime illustrium (Ingolstadt 1551). Vgl. Adalbert HORAWITZ, Caspar Bruschius. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus und der Reformation (1874); NDB 2 (1955) Sp. 690; Walther LUDWIG, Caspar Bruschius als Historiograph deutscher Kloester und seine Rezeption. Paul Gerhard Schmidt zum 25. März 2002 gewidmet (2002). 141 Zu Hedios Fortsetzung der Chronik Ekkehards von Aura vgl. Anm. 145. 142 Martini CROMERI de origine et rebus gestis Polonorum libri XXX (Basel : Oporinus 1555); Cromer war Krakauer Domherr, ab 1579 Bischof des Ermlandes. 143 Compendium Roberti GAGUINI super francorum gestis (Paris 1511, Erstdruck 1495). Gaguin war Diplomat und Professor für Kirchenrecht. Zu ihm vgl. Sylvie CHARRIER , Recherches sur l’œuvre latine en prose de Robert Gaguin (1433–1501) (1996). 144 Iacopo da Varagine, Cronaca della città di Genova dalle origini al 1297. Testo latino in appendice, introd., trad. e note crit. di Stefania BERTINI GIUDETTI (Collana Dimensione Europa, 1995).
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sen Drucken zitiert145. Natürlich gibt es auch gelegentlich den Manuscriptus codex de episcopis Coloniensibus, bei dem man Mühe hat, die Quelle namhaft zu machen. Aber vor allzu viel Hoffnungen muß gewarnt werden. Das mysteriöse Chronicon Merseburgense z.B., das man rasch als ungedruckte, wohl verlorene mittelalterliche Quelle interpretieren könnte, entpuppte sich als gedruckte Chronik von Ernst Brotuff.
Resumée Die vorstehenden Untersuchungen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, lassen klar hervortreten, daß – sich die Centuriatoren primär auf gedruckte Quellen stützten, darunter vor allem solche, die wie das eigene Werk, bei Johannes Oporinus in Basel verlegt wurden, ferner möglichst weit gespannte humanistische Kompendien, insbesondere den Liber de scriptoribus ecclesiasticis des Johannes Trithemius und die Metropolis des Albert Krantz; – nur punktuell tiefschürfende Quellenforschungen betrieben wurden, und zwar hauptsächlich im Bereich der Briefliteratur; – die Quellenangaben und die Zitierweise auch nach heutigen Maßstäben der Centuriatoren von größter Zuverlässigkeit und Objektivität sind; – die Auswahl von erwähnten Texten und von zitierten Textstellen vom konfessionellen Anliegen der Autoren, nicht aber von einer historischen Objektivität im modernen Sinne geprägt sind. Es gab neben den systematisch ausgewerteten Drucken auch andere, viel weniger greifbare Quellen. Die meisten dürften handschriftlicher Natur gewesen sein. Das System des Exzerpierens und Neugruppierens nach den Loci communes verhindert, daß wir uns einen Überblick verschaffen können. Und so bleibt die Frage, ob nicht doch noch irgendwo zwischen den schweren Holzdeckeln unerkannte thesauri absconditi schlummern. Aber wie sie finden? Hätten doch die Centuriatoren wenigstens wie Plinius – oder etliche zeitgenössische Historiographen – ihren Bänden eine 145
Erstdruck erschien Augsburg 1515 bei Johannes Miller (VD-16 B 9800). Die Centuriatoren benutzten aber wohl die Straßburger Ausgabe von 1540, der Kaspar Hedio (1494–1552) eine eigenständige übersichtliche Darstellung der Geschichte von 1230– 1537/38 hinzugefügt hatte. Diese Chronik-Ausgabe gehört zum historiographischen Vermächtnis von Melanchthon, dessen Widmungsbrief an den Pfalzgrafen Philipp (1503– 1548) – wohl der jüngere Bruder des späteren Kurfürsten Ottheinrich von der Pfalz (1502–1559) – dem Werk vorausgeht. Dem Werk Hedios steht wiederum ein Dankesbrief des Druckers Crato Mylius an Melanchthon voran, vgl. E HMER, Reformatorische Geschichtsschreibung (wie Anm. 5) S. 233–238.
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Liste der ausgewerteten Auctoritates vorangestellt! Doch die Hast, mit der die Bände entstanden, erlaubte dies nicht. Und war die Hast nicht berechtigt? Ging nicht nach endlosen Streitigkeiten mit den Wittenbergern um Melanchthon und schließlich gar untereinander den Centuriatoren die Luft aus? Das Fragmentarische in der Darstellungstechnik der Centurien sollten wir nicht als Nachteil empfinden. Es ist Ausfluß der Unmittelbarkeit, wo nicht der verwendeten Quellen, dann wenigstens der schedulae der Kollektoren, die dem Original immer noch näher sind als rhetorisch durchgeformte Darstellungen. Die Suche nach den testes veritatis führte Flacius und mit ihm und durch ihn Wigand und Judex zu den testimonia veritatis.
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Collectio contra haereticos et de privilegiis multarum sedium Ein bislang übersehenes Werk Hinkmars von Reims in der Centuriatoren-Handschrift ÖB Basel O II 29* Die frühneuzeitliche Handschrift der Basler Öffentlichen Bibliothek O II 29 hat in den letzten Jahrzehnten wiederholt Beachtung gefunden, weil sie für mehrere Editionen von Schriften des Erzbischofs Hinkmar von Reims (845–882)1 herangezogen wurde: 1980 edierten Thomas Gross und Rudolf Schieffer den für die Verfassungsgeschichte der Karolingerzeit wichtigen Traktat De ordine palatii von 8822 – hierfür ist die Basler Handschrift sogar Codex unicus –, 1998 gab Doris Nachtmann die weit verbreitete Schrift De cavendis vitiis heraus (entstanden um 875)3 und berücksichtigte dabei auch den Schweizer Codex, und 2004 legte Gerhard Schmitz eine Edition
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Auf die Möglichkeit, daß es sich bei dieser Handschrift um eine CenturiatorenHandschrift handeln dürfte und daß die darin enthaltene Collectio domini Hincmari eine bislang nicht erkannte weitere Schrift des Erzbischofs sein könnte, wies mich Arno MENTZEL-REUTERS, hin, dem ich dafür danken möchte! Außerdem danke ich für wertvolle Hinweise Rudolf SCHIEFFER und Wilfried Hartmann, meinem Mann. 1 Vgl. zu Hinkmar Heinrich SCHÖRS, Hinkmar. Erzbischof von Reims. Sein Leben und seine Schriften (1884), Jean DEVISSE, Hincmar, archevêque de Reims 845–882, 1–3 (Travaux d’histoire éthico-politique 29, 1975/76) und Rudolf SCHIEFFER, Hinkmar von Reims, TRE 15 (1985) S. 355–360. 2 Hinkmar von Reims, De ordine palatii (edd. Thomas GROSS/Rudolf SCHIEFFER, MGH Fontes iuris 3, 1980). Diese Hinkmarschrift (SCHRÖRS [wie Anm. 1] Reg. Nr. 571) bildet den 1. Faszikel des Basler Codex und trägt den Titel: Admonitio Hincmari Remorum archiepiscopi ad episcopos et ad regem Karlomannum per capitula; vgl. die Edition S. 32. 3 Hinkmar von Reims, De cavendis vitiis et virtutibus exercendis (ed. Doris NACHTMANN , MGH Quellen zur Geistesgeschichte 16, 1998). Diese Hinkmarschrift (SCHRÖRS [wie Anm. 1] Reg. Nr. 251) bildet den 9. und letzten Faszikel der Handschrift und hat den Titel: Incipit Epistola Hencmari Remensis episcopi ad Karolum Magnum Imperatorem; in der Edition von Nachtmann sind keinerlei Titel angegeben.
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des in drei Handschriften überlieferten kleinen Werkes De presbyteris criminosis 4 aus den Jahren 876/77 vor. Neben diesen drei Hinkmarwerken enthält der in einzelnen Faszikeln zusammengebundene Codex noch sechs 5 weitere Briefe oder Briefgutachten des Reimser Erzbischofs aus den Jahren 875 bis 882, von denen keine weitere Handschrift existiert 6: einen Brief an Ludwig den Stammler7, einen an Karl III.8, ein von Hinkmar im Namen Karls des Kahlen verfaßtes Schreiben an Papst Johannes VIII.9 sowie die Schriften De iure metropolitanorum10 und De fide Carolo regi servanda 11. Neben der Überlieferung dieser 4
Hinkmar von Reims, De presbyteris criminosis. Ein Memorandum Erzbischof Hinkmars von Reims über straffällige Kleriker (ed. Gerhard SCHMITZ, MGH Studien und Texte 34, 2004). Diese Hinkmarschrift (SCHRÖRS [wie Anm. 1] Reg. Nr. 407) bildet den 6. Faszikel der Handschrift und trägt den Titel: De presbyteris criminosis, quid sit agendum, de quibus approbatio non est, unde interrogatum fuit Eugenio et Leoni quarto tempore Karoli imperatoris per capitula 14; vgl. SCHMITZ S. 2 mit Anm. 5 und S. 65. 5 An bekannten Hinkmarwerken sind es noch fünf (siehe im Folgenden), aber als sechstes ist hier die bislang noch nicht Hinkmar zugeschriebene Collectio gemeint. 6 Vgl. die Handschriftenbeschreibung in der Einleitung zu De ordine palatii von GROSS/SCHIEFFER (wie Anm. 2) S. 13f., wo allerdings die einzelnen Titel der anderen Hinkmarwerke nicht genannt sind; sie werden in den folgenden Anmerkungen aufgeführt, da sie für die Diskussion des Verhältnisses der Basler Handschrift zum Busaeus-Druck (siehe Anm. 12) von Interesse sind. 7 Hinkmar von Reims, Ad Ludowicum Balbum (SCHRÖRS [wie Anm. 1] Reg. Nr. 417; MIGNE PL 125 Sp. 983–990); der Brief trägt in der Handschrift den Titel: Epistola Hincmari Remorum Archiepiscopi ad Hludevicum filium Karoli regis de diversis rebus. 8 Hinkmar von Reims, Ad Carolum III (SCHRÖRS [wie Anm. 1] Reg. Nr. 495; MIGNE PL 125 Sp. 989–994); der Brief trägt in der Handschrift den Titel: Admonitio Hincmari Remorum archi- episcopi ad Carolum Imperatorem, filium Hludowici regis de Baioaria. 9 Karl der Kahle an Papst Johannes VIII. (SCHRÖRS [wie Anm. 1] Reg. Nr. 420; MIGNE PL 126 Sp. 230–240); der Brief trägt in der Handschrift den Titel: Epistola Caroli imperatoris ad papam Iohannem, qualiter de presbyteris ex criminibus diffamatis iudicaretur prius in Galliis et post in Transalpinis regionibus propter seditiones et bella frequentia progenitorum nostrorum temporibus sacrarum legum ac regularum notitiam et observationem plenam caperent per capitula IX. 10 Hinkmar von Reims, De iure metropolitanorum (SCHRÖRS [wie Anm. 1] Reg. Nr. 387; MIGNE PL 126 Sp. 189–210); der Brief ist in der Handschrift auf Faszikel 5 und 7 zu finden und trägt die Titel: Responsio domini Hincmari de capitulis, quae ad episcopos regni Francorum transmisit papa Iohannis et de privilegiis sedium per capitula VII sowie in Faszikel 7: De synodis tenendis per auctoritatem Apostolorum, Imperatorum et Regum. Der gebräuchliche Titel De iure metropolitanorum stammt vom Herausgeber der Hinkmar-Schriften Jacques Sirmond. 11 Hinkmar von Reims, De fide Carolo regi servanda (SCHRÖRS [wie Anm. 1] Reg. Nr. 358; MIGNE PL 125 Sp. 961–984); der Brief ist in Faszikel 8 der Basler Handschrift zu finden und trägt dort den Titel: Commonitio et exhortatio Hincmari ad episcopos ac totius Regni primores, ut fidem intemeratam seniori suo Karolo servare deberent, quando Romam perrexit. Der gebräuchliche Titel De fide Carolo regi servanda stammt ebenfalls vom Herausgeber der Hinkmar-Schriften Jacques Sirmond.
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Schriften durch die Basler Handschrift ist lediglich eine heute verlorene Handschrift der Speyrer Dombibliothek bezeugt, nach der Johannes Busaeus die Stücke 1602 gedruckt hat12. Entdeckt hat die wichtige Basler Hinkmar-Handschrift 1930 Karl Christ, der den Fund dem damaligen Herausgeber der Briefe des Reimser Erzbischofs, Ernst Perels, mitteilte. Perels analysierte den Codex und faßte seine Beobachtungen 1939 in einem Aufsatz zusammen13, der für die weitere Beschäftigung mit der Handschrift maßgeblich wurde. Nicht beachtet wurde dagegen die wertvolle Rezension des PerelsAufsatzes durch Carl Erdmann von 1941. Darin formulierte dieser vorsichtig: „Daß die Baseler Handschrift in ihrem Typus und auch im Wasserzeichen mit einigen Zenturiatoren-Handschriften übereinstimmt“ … ist „deshalb auffallend, weil Busaeus nach der begründeten Vermutung von A. Duch14 Centuriatoren-Handschriften benutzt hat“15. Diese Feststellung Erdmanns verdient umso mehr Beachtung als er der Editor der sog. Hannoverschen Briefsammlung des 11. Jahrhunderts ist 16, einer großen Centuriatorenhandschrift, die im Zuge der Vorbereitung der ersten protestantischen Kirchengeschichte, den sog. Magdeburger Centurien, entstanden ist und den Codex unicus verschiedener wichtiger Briefsammlungen darstellt, d.h. Erdmann kannte sich im Unterschied zu Perels mit diesen Gelehrtenhandschriften des 16. Jahrhunderts aus. Da man inzwischen eine Reihe von Handschriften kennt, die für die Magdeburger Mitstreiter des Matthias Flacius Illyricus angefertigt wurden17, kann nun Erdmanns These auf einem gesicherteren Fundament bestätigt werden. Schon Ernst Perels war aufgefallen, daß – bis auf den Faszikel mit De cavendis vitiis, dessen Schrift 12
Hincmari Rhemensis archiepiscopi … Epistolae, cum coniecturis notisque brevibus Joannis Busaei Noviomagi (Moguntiae 1602); vgl. zur Ausgabe des Busaeus auch GROSS/SCHIEFFER, De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 15ff., SCHMITZ, De presbyteris criminosis (wie Anm. 4) S. 43ff. und Rudolf SCHIEFFER, Eine übersehene Schrift Hinkmars von Reims über Priestertum und Königtum, DA 37 (1981) S. 511–528, hier S. 511ff. 13 Ernst PERELS, Die Baseler Hinkmar-Handschrift, Zeitschrift für schweizerische Geschichte 19 (1939) S. 38–53. 14 Arno DUCH, Eine verlorene Handschrift der Schriften Bernos von Reichenau in den Magdeburger Centurien, Zeitschrift für Kirchengeschichte 53 (1934) S. 417–435: Duch plädiert auf S. 430 dafür, daß Busaeus seine Vorlage des Pseudo-Liutprand von Heinrich Petreus erhalten habe, dem Erben der flacianischen Bibliothek, denn er nennt keinen Namen, sondern spricht nur von einem „vir quidam eruditus“, der ihm den Codex vermittelt habe. 15 Carl E RDMANN, DA 4 (1941) S. 534f. 16 Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV. (edd. Carl ERDMANN/Norbert FICKERMANN , MGH Briefe der Kaiserzeit 5, 1950) S. 1–187 (Die Hannoversche Briefsammlung); vgl. dazu auch HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 206ff. 17 Vgl. dazu HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 206ff.
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einige Jahrzehnte früher zu datieren ist und aus einem anderen Überlieferungszusammenhang stammt 18, – der gesamte Codex von zwei Schreibern kopiert worden war, die unter „Aufsicht“ einer dritten Person standen; außerdem war ihm eine „Gelehrtenhand“ aufgefallen, die Randbemerkungen gemacht hat 19, ganz so wie wir dies inzwischen aus anderen Centuriatorenhandschriften kennen. Daß die Magdeburger an den Schriften Hinkmars von Reims besonders interessiert waren, weil sie meinten, er habe sich päpstlichen Primatsbestrebungen energischer widersetzt als andere Zeitgenossen, wissen wir aus verschiedenen Quellen: Im Briefwechsel zwischen dem kaiserlichen Rat Caspar von Nidbruck (1525–1557) und Matthias Flacius (1520–1555) ist wiederholt von Hinkmarschriften die Rede, die zum Kopieren ausgeliehen wurden20; Flacius selbst war der „editor princeps“ einiger Hinkmarbriefe in seinem erstmals 1556 erschienenen Catalogus testium veritatis 21 und er besaß zeitweise den Codex Palatinus 296 des Opusculum LV capitulorum, den er in der Dombibliothek Hildesheim aufgespürt und erworben hatte, um ihn später an den Heidelberger Sammler Ulrich Fugger zu verkaufen; über Fugger gelangte die wichtige Handschrift dann in den Vatikan22; der Papiercodex Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek I 245 ist eine für die Centuriatoren angefertigte, allerdings schlechte Abschrift des 55Kapitel-Werkes 23, das dann in den Magdeburger Centurien ausführlich zitiert wurde24. Besonders aufschlussreich aber ist die Tatsache, daß die Vorlage für den Faszikel mit De cavendis vitiis in der Basler Handschrift nach den Ergebnissen von Doris Nachtmann der Münchner Codex clm 14427 war, der im 16. Jahrhundert noch der Bibliothek von Sankt Emmeram in Regensburg
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Siehe dazu zwei Absätze weiter unten. PERELS, Baseler Hinkmar-Handschrift (wie Anm. 13) S. 42ff. 20 Der Briefwechsel wurde ediert von Victor BIBL, Der Briefwechsel zwischen Flacius und Nidbruck, Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 17 (1896) S. 1–24, 18 (1897) S. 201–238, 19 (1898) S. 96–110 und 20 (1899) S. 83–116; zum Interesse der Gelehrten an Schriften Hinkmars vgl. Martina STRATMANN, Zur Wirkungsgeschichte Hinkmars von Reims, Francia 22/1 (1995) S. 1–43, hier S. 19ff. und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 152ff. und öfter. 21 FLACIUS, Catalogus testium veritatis1 S. 238, 240, 242f., 247 und 257; vgl. dazu STRATMANN, Wirkungsgeschichte (wie Anm. 20) S. 21 und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 152f. 22 Vgl. Die Streitschriften Hinkmars von Reims und Hinkmars von Laon 869–871 (ed. Rudolf SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, 2003) S. 17ff. sowie STRATMANN, Wirkungsgeschichte S. 20 (wie Anm. 20) und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 149f. 23 Vgl. SCHIEFFER, Streitschriften Hinkmars (wie Anm. 22) S. 112f. und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 206f. 24 Vgl. dazu SCHIEFFER, Streitschriften Hinkmars (wie Anm. 22) S. 119f. 19
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gehörte25. Caspar von Nidbruck war bei einem Besuch in dieser Abtei auf den Hinkmar-Traktat aufmerksam geworden, denn er hat ihn in seine Auflistung der für die protestantische Kirchengeschichte wichtigen Texte, die in den einzelnen Regensburger Bibliotheken zu finden waren, aufgenommen26. Auch Matthias Flacius selbst weilte mehrfach in Regensburg, wo ja zahlreiche Handschriften für die Centuriatoren im Haus des Stadtsuperintendenten Nikolaus Gallus abgeschrieben wurden27. Diese längeren Ausführungen zu den „Beziehungen“ zwischen Hinkmar von Reims und den Magdeburger Centuriatoren mußten hier vorausgeschickt werden, um dem zweiten wichtigen Hinweis von Carl Erdmann in seiner Besprechung des Perels-Aufsatzes im „Deutschen Archiv für Erforschung des Mittelalters“ Gewicht zu verleihen: Perels hatte nämlich die im 7. Faszikel der Basler Handschrift enthaltene, als Collectio domini Hincmari ex sententiis patrum contra haereticos, qui sibi Catharus id est mundos nomen imposuerunt et de privilegiis multarum sedium inskribierte Schrift für eine wertlose Sammlung kanonistischer Zitate gehalten28, die aus Hinkmar-Schriften exzerpiert worden seien, wohingegen Erdmann „angesichts der vertrauenerweckenden Überlieferung“ … „optimistischer“ urteilte29. In der Tat enthält der Faszikel 7 der Basler Handschrift wohl ein bislang zu Unrecht abgewertetes und in seiner Autorschaft nicht korrekt erkanntes Werk des Reimser Erzbischofs, wie im Folgenden erwiesen werden soll. Inhaltlich weist der Text im zweiten Teil Ähnlichkeiten mit der im Codex vorausgehenden Schrift De iure metropolitanorum auf30 und fügt in dichter Folge Belegstellen aus Kirchenvätern, Konzilien und Papstdekretalen an31 – so wie wir dies aus den in den letzten Jahrzehnten erforschten und edierten großen Rechtsgutachten Hinkmars, De divortio Lotharii re25
NACHTMANN, De cavendis vitiis (wie Anm. 3) S. 67f. Vgl. STRATMANN, Wirkungsgeschichte (wie Anm. 20) S. 13ff. 27 Vgl. Karl SCHOTTENLOHER, Handschriftenschätze zu Regensburg im Dienste der Zenturiatoren (1554–1562), Zentralblatt für Bibliothekswesen 34 (1917) S. 65–82 und HARTMANN, Humanismus und Kirchenkritik S. 109 und 202. 28 PERELS, Baseler Hinkmar-Handschrift (wie Anm. 13) S. 41f., so übernommen von GROSS/SCHIEFFER, De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 15. 29 E RDMANN, DA 4 (1941) S. 535. 30 Vgl. die Handschriftenbeschreibung bei GROSS/SCHIEFFER, De ordine palatii (wie Anm. 2 ) S. 13f.: die Abschrift von De iure metropolitanorum (SCHRÖRS Reg. Nr. 387) ist in der Basler Handschrift auf 2 Faszikel verteilt: Faszikel 5 enthält den Text von c. 1– 27 (MIGNE PL 126 Sp. 189–204) und Faszikel 7 den Text von c. 28–35 (MIGNE PL 126 Sp. 204–210). Auf dem gleichen Blatt (fol. 5v) folgte dann der Text der Collectio unmittelbar im Anschluss. Siehe zu De iure metropolitanorum und der vom Editor Sirmond stammenden Einteilung in 35 Kapitel, die so nicht in der Basler Handschrift und dem Busaeus-Druck zu finden ist, unten S. 218. 31 Vgl. die Hinweise im Apparat der Edition unten S. 222–231. 26
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gis 32 und dem Opusculum LV capitulorum33, kennen; hierbei werden dieselben Zitate von Hinkmar immer wieder als Belege angeführt und wiederholt auch in „Zitatketten“ aneinander gereiht, die in gleichem Umfang und gleicher Reihenfolge dann in mehreren Schriften auftauchen. Als Ernst Perels sich um die Ausgabe der Hinkmar-Briefe bemühte, war diese Arbeitsweise des Erzbischofs noch nicht so klar erkannt, wobei natürlich auch die neuen Medien wie die Migne-CD-Rom einen solchen Nachweis leichter möglich machen. Neben diesen charakteristischen Zitaten sind es aber auch einige Stellen im originären Hinkmartext, die deutlich machen, daß wir es hier nicht mit der Arbeit eines späteren Kompilators zu tun haben: Die Formulierung quia cognata sunt haeresis et scisma findet sich wortwörtlich in De ordine palatii wieder34, die Bezeichnung mystica für die Synode von Nicaea kommt in vielen Hinkmarschriften vor35 und die Sätze De quibus terminis Antiochenum concilium in magna Chalcedonensi synodo collaudatum capitulo XIII dicit und Et sanctus papa Gelasius in decretis ad omnes episcopos de institutis ecclesiasticis finden sich ebenfalls wörtlich in De iure metropolitanorum36, letzterer außerdem im Opusculum37. Das heißt, daß die Art und Weise, wie hier bestimmte Zitate in charakteristischer Auswahl aneinandergehängt und auch durch Überleitungen verbunden werden, Formulierungen Hinkmars sind und nur auf den Autor selbst zurückgehen können, d.h. wohl kaum von einem späteren Kompilator so perfekt nachgeahmt worden sind. Für die Datierung gibt der Inhalt der Collectio contra haereticos – vielleicht auch mehr eine Materialsammlung als eine „Schrift“ – wenig Anhaltspunkte: Augustinus’ Werk De baptismo besaß Hinkmar nach 869 in Gestalt der Handschrift Laon, Bibl. Mun. 60338 und inhaltlich weist das neuentdeckte kleine Werk die meisten Übereinstimmungen mit De iure metropolitanorum von Ende Juni 876 auf. Wenn man außerdem berücksichtigt, daß alle anderen Stücke in der Basler Handschrift zwischen 875 32
Vgl. Hinkmar von Reims, De divortio Lotharii regis et Theutbergae reginae (ed. Letha BÖHRINGER, MGH Conc. 4 Suppl. 1, 1992) S. 74ff. und Letha BÖHRINGER, Der eherechtliche Traktat im Paris. Lat. 12445, einer Arbeitshandschrift Hinkmars von Reims, DA 46 (1990) S. 18–47. 33 Vgl. SCHIEFFER, Streitschriften Hinkmars (wie Anm. 22) S. 102ff. 34 Siehe unten S. 225 mit Anm. 25 und vgl. De ordine palatii c. 3 (ed. GROSS/SCHIEFFER [wie Anm. 2] S. 46, 133). 35 Siehe die Nachweise unten S. 226 mit Anm. 31. 36 Siehe unten S. 227 mit Anm. 39 und vgl. De iure metropolitanorum c. 9 (MIGNE PL 126 Sp. 193D). 37 Siehe unten S. 229 mit Anm. 49 und vgl. Opusculum c. 10 (ed. SCHIEFFER, Conc. 4 Suppl. 2 S. 178, 30f.). 38 Siehe unten S. 223 mit Anm. 12.
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und 882 entstanden sind, wird man nicht fehlgehen, auch die Collectio contra haereticos diesem Zeitraum zuzuweisen. Wenn somit die Zuweisung dieses Textes an Hinkmar selbst und nicht an einen späteren Kompilator ziemlich sicher erscheint, ist es dennoch nicht unverständlich, wie Perels zu seiner Einschätzung kam: Im Unterschied zu den meisten anderen Briefen bzw. Briefgutachten in der Basler Handschrift, die sowohl einen Titel als auch eine Adresse haben39, bietet die von Perels verworfene Collectio nur einen langen Titel40, es fehlen aber Angaben über den Anlass für diese Schrift oder ein irgendwie persönlich adressierter Schluss. Damit hat aber andererseits die Collectio contra haereticos et de privilegiis multarum sedium Ähnlichkeit mit dem kleinen Werk De presbyteris criminosis, das genauso unvermittelt beginnt und endet41. Die Vorlage der Basler Handschrift hat man wohl völlig zu Recht im Reimser Skriptorium des 10. Jahrhunderts vermutet42, da man im dortigen Archiv Konzepte und Kopien der Schriften des berühmten Erzbischofs aufbewahrte. Wir wissen dies, weil der Reimser Archivar Flodoard im mittleren 10. Jahrhundert diese dort verwahrten Schriften in kurzen Regesten zusammenfaßte und so das Œuvre Hinkmars im dritten Buch seiner Reimser Kirchengeschichte würdigte43; außerdem griff das Konzil von Trosly (909) unter Erzbischof Heriveus auf Hinkmars im Reimser Archiv verwahrte Schriften zurück44. Für eine Herkunft der Vorlage des Basler Codex aus Reims spricht auch die Tatsache, daß die Abschrift von De iure metropolitanorum unterbrochen, d.h. auf zwei Faszikel verteilt ist, weil man offensichtlich die Blätter mit dem Text von De ordine palatii in das Exemplar von De iure eingelegt hat – ein Verfahren im Reimser Archiv, das Thomas Gross auch für eine andere Hinkmar-Schrift nachweisen konnte45. Die Abschrift der Collectio folgt auf derselben Seite unmittelbar auf das Ende von De iure – was ebenfalls für eine Autorschaft Hinkmars
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Siehe dazu oben S. 211 Anm. 2, 4, 7–11. Dieser lautet: Collectio Domini Hincmari ex sententiis patrum contra haereticos, qui sibi Catharus, id est mundos, nomen imposuerunt et de privilegiis multarum sedium. 41 Vgl. Hinkmar, De presbyteris criminosis (wie Anm. 4) S. 65 und 109. 42 Vgl. GROSS/SCHIEFFER, Einleitung zu De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 12 u. 15 mit Anm. 22. 43 Vgl. Flodoard von Reims, Historia Remensis ecclesiae (ed. Martina STRATMANN, MGH SS 36, 1998, S. 17ff. [Einleitung] sowie S. 190–363 [Text des 3. Buches über den Pontifikat Hinkmars]). 44 Vgl. Gerhard SCHMITZ, Das Konzil von Trosly (909). Überlieferung und Quellen, DA 33 (1977) S. 341–434, hier S. 415ff. 45 Vgl. Thomas GROSS, Das unbekannte Fragment eines Briefes Hinkmars von Reims aus dem Jahr 859, DA 32 (1976) S. 187–192 sowie die folgende Anmerkung. 40
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spricht, indem die beiden thematisch eng zusammenhängenden Werke nacheinander kopiert wurden46. Bemerkenswert ist auch, daß von den in der Basler Handschrift enthaltenen neun Hinkmarschriften – die Collectio contra haereticos nun mitgerechnet – insgesamt sechs auch von Flodoard genannt werden, wobei im Fall von De ordine palatii47, De iure metropolitanorum48 und De fide Carolo regi servanda 49 das Regest in der Kirchengeschichte wörtliche Übereinstimmungen mit den im Codex gebotenen Titeln aufweist, während dies bei den Briefen Ad Ludowicum Balbum50, Ad Carolum III.51 und De cavendis vitiis 52 nicht der Fall ist. Der Titel der Collectio contra haereticos in der Basler Handschrift ist ähnlich umständlich formuliert wie der für Schrörs Reg. Nr. 420 und für De iure metropolitanorum53. Warum diese drei Schriften bei Flodoard nicht verzeichnet sind, ist gut zu erklären: Schrörs Reg. Nr. 420, der 4. Faszikel der Basler Handschrift, ist ein von Hinkmar im Namen Karls des Kahlen verfaßtes Schreiben an Papst Johannes VIII., war also für Flodoard nicht unbedingt als Hinkmarwerk erkennbar, und De presbyteris criminosis (Schrörs Reg. Nr. 407) sowie die Collectio contra haereticos haben keine Empfängerzuweisung oder andere Hinweise, die erklären würden, an wen sich die Schrift richtete, und 46
Vgl. GROSS/SCHIEFFER, Einleitung zu De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 13f.: Faszikel 5 (fol. 1r–13r) enthält De iure metropolitanorum cc. 1–27 (MIGNE PL 126 Sp. 189– 204), es folgt Faszikel 6 (fol. 1r–15r) De presbyteris criminosis (wie Anm. 4) S. 65–109, dann Faszikel 7 (fol.1r–5v) De iure metropolitanorum cc. 28–35 (MIGNE PL 126 Sp. 204–210), fol. 5v–10v Collectio domini Hincmari und fol. 10v Anfang des folgenden Faszikels De fide Carolo regi servanda durchstrichen und dann auf Faszikel 8 nochmals begonnen. 47 Flodoard, Historia III c. 19: Item ad regem Karlomannum adolescentem et ad episcopos admonitionem disponendo regali ministerio per capitula (ed. STRATMANN S. 262, 5; vgl. auch S. 262 Anm. 24). Die fett gesetzten Worte bezeichnen Übereinstimmung mit dem Titel in der Baseler Handschrift. 48 Flodoard, Historia III c. 21: Respondit (sc. Hincmarus) etiam ad capitula quedam regni Francorum episcopis a Iohanne papa transmissa de privilegiis sedium per capitula VII, quoniam ... (ed. STRATMANN S. 273, 19f.; vgl. auch ebda. Anm. 53). Die fett gesetzten Worte bezeichnen Übereinstimmung mit dem Titel in der Basler Handschrift. 49 Flodoard, Historia III c. 24: Episcopis quoque totius regni primoribus commonens et exortans eos intemeratam fidem regi suo Karolo conservare, quando idem rex Romam perrexit (ed. STRATMANN S. 320, 6f.; vgl. auch ebda. Anm. 139). 50 Ad Ludowicum Balbum wird erwähnt in Historia III c. 19 (ed. STRATMANN S. 260, 6–8; vgl. ebda. Anm. 4). 51 Ad Carolum III wird erwähnt in Historia III c. 20 (ed. STRATMANN S. 268, 4–8; vgl. ebda. Anm. 43). 52 De cavendis vitiis wird erwähnt in Historia III c. 18 (ed. STRATMANN S. 253, 16– 19; vgl. ebda. Anm. 5). 53 Siehe oben Anm. 9 und 10.
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da Flodoard sein drittes Buch nach den Empfängern von Hinkmarbriefen aufgebaut hat, waren diese Werke für ihn uninteressant. Jedenfalls stützt die wörtliche Übereinstimmung zwischen den Titeln der Schriften und Flodoards Regesten die Vermutung, daß die Vorlage der Basler Handschrift aus dem Reimser Archiv stammte, und man versah dort vielleicht die Hinkmarschriften mit so ausführlichen Titeln, um sie im Bedarfsfall schneller finden zu können. Zu diskutieren ist nun noch die Beziehung, die zwischen der Basler Handschrift und der Vorlage des Hinkmar-Druckes von Johannes Busaeus (1602) besteht, der als seine Quelle eine später vernichtete Handschrift der Speyrer Dombibliothek nannte54. Daß die verlorene Speyrer und die Basler Handschrift eng verwandt gewesen sein müssen, haben sowohl Perels als auch Gross und Schieffer bekräftigt55, allerdings sind Perels’ Argumente dafür, daß die Basler Handschrift nicht die direkte Vorlage des Busaeus gewesen sein könne, keineswegs stichhaltig, ganz im Gegenteil, seine Behauptung, De presbyteris sei von Busaeus nur unvollständig herausgegeben worden, d.h. in der verlorenen Speyrer Handschrift im Unterschied zur Basler fragmentarisch enthalten gewesen, worauf sich Gross und Schieffer dann stützten, ist falsch56. Daß Busaeus mit zahlreichen Emendationen in den Text eingegriffen hat, sagt er selbst in der Einleitung57, und dies wurde auch durch die Editionen von Gross und Schieffer und Schmitz bestätigt. Eine weitere Übereinstimmung zwischen der Basler Handschrift und dem Busaeus-Druck ist die Tatsache, daß die im Codex genannten Titel 54
Vgl. BUSAEUS, Hincmari Rhemensis Praefatio S. 2: „… Epistolae ex ms. Membranaceo cod. Bibliothecae nob. et cathedralis Ecclesiae Spirensis descriptae ...“; vgl. auch GROSS/SCHIEFFER, Einleitung zu De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 15f. zum Druck des Busaeus sowie SCHIEFFER, Schrift Hinkmars (wie Anm. 12) S. 511ff. 55 PERELS, Basler Hinkmar-Handschrift (wie Anm. 13) S. 46: „Präzise Angaben über die verlorene Vorlage der Baseler Hs. sind naturgemäß schwierig … Im übrigen macht die Parallelüberlieferung des verschollenen codex Spirensis, der Vorlage des Busaeus, dann aber auch die Gleichartigkeit der Orthographie wie der Kürzungen in den Abschriften eine einheitliche Vorlage für sie kaum nur wahrscheinlich, sondern beinahe zur Gewissheit“; vgl. aber S. 47: „Ebenso ausgeschlossen … ist, … daß in ihr (der Basler Handschrift) etwa eine als Druckmanuskript für Busaeus hergestellte Abschrift aus dem Spirensis vorliegt. Beweisargumente erübrigen sich hier“; GROSS/SCHIEFFER, Einleitung zu De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 17f. übernahmen Perels’ Argumentation. 56 Vgl. SCHMITZ, Einleitung zu Hinkmar, De presbyteris criminosis (wie Anm. 4) S. 44 Anm. 137 gegen GROSS/SCHIEFFER, Einleitung zu De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 17. 57 Vgl. BUSAEUS, Hincmari Rhemensis epistolae (wie Anm. 12), Praefatio S. 2: „…quia librarii incuria crebro erant depravata, ita ubique descripsimus, uti nunc in emendatissimis inveniuntur codicibus, et non, ut in exemplari Hincmariano erant; vgl. dazu PERELS, Baseler Hinkmar-Handschrift (wie Anm. 13) S. 48f. und SCHMITZ, Einleitung zu Hinkmar, De presbyteris criminosis (wie Anm. 4) S. 44f.
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sich auch bei Busaeus finden, dort freilich in die Anmerkungen verbannt 58; außerdem werden einige ja auch durch Flodoards Regesten gedeckt. Wenn man bedenkt, daß die ganz anders gearteten, griffigen Kurztitel De fide Carolo regi servanda (Schrörs Reg. Nr. 358), De iure metropolitanorum (Schrörs Reg. Nr. 387) oder Ad episcopos (Schrörs Reg. Nr. 572) alle vom späteren Herausgeber der Hinkmarschriften Jacques Sirmond (1559–1651) stammen, zeigt sich, daß Flodoard, die Vorlage der Baseler Handschrift und die verlorene Speyerer Handschrift sie nicht unabhängig voneinander „erfunden“ haben können. Außerdem ist die Überlieferung der in der Basler Handschrift enthaltenen Hinkmartexte – mit Ausnahme von De cavendis vitiis und De presbyteris criminosis – ausgesprochen dünn, da darüber hinaus nur die verlorene Speyrer Handschrift bekannt ist, die Busaeus als seine Vorlage nennt 59. Nach dem eben Gesagten könnte also zwischen der verlorenen Speyrer und der Baseler Handschrift durchaus auch eine direkte Abhängigkeit bestanden haben, denn Perels blieb für seine Auffassung stringente Beweise schuldig bzw. irrte sich. Busaeus macht in seiner Einleitung einige Angaben zu seiner Vorlage, die nochmals analysiert werden müssen: Er gab unter anderem an, er habe alles in etwas veränderter Reihenfolge aus der Speyrer Handschrift gedruckt bis auf zwei oder drei Fragmente, die fast dasselbe enthielten wie schon in den anderen Briefen60; schon Perels bezog diese Angabe auf die Collectio contra haereticos, die ja tatsächlich große inhaltliche Überschneidungen mit De iure metropolitanorum aufweist 61. Was die Veränderung der Reihenfolge anbelangt, so muss hier noch ein weiterer, vermutlich früherer Benutzer der verlorenen Speyrer Handschrift genannt und seine Angaben zu denen des Busaeus in Beziehung gesetzt werden, denn sie bestätigen ihn: Kardinal Caesar Baronius (1538–1607), der Autor der gegen die Magdeburger Centurien gerichteten Annales ecclesiastici, zitiert in seinem 9. Band aus Hinkmarbriefen, die er ebenfalls aus dem Codex der Speyrer Dombibliothek gedruckt hat; es handelt sich um kurze Stücke aus De fide Carolo regi servanda, Ad Ludowicum Balbum und De ordine palatii, wobei Baronius angibt, die Speyrer Handschrift
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Vgl. zu dem Problem auch SCHMITZ, Einleitung zu Hinkmar, De presbyteris criminosis (wie Anm. 4) S. 1f. 59 Dieses Argument bieten auch GROSS/SCHIEFFER, Einleitung zu De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 17. 60 BUSAEUS, Hincmari Rhemensis Epistolae (wie Anm. 12), Praefatio S. 3: „omnia quae in Spirensi MS. Codice erant, ordine parum admodum mutato, descripsimus, exceptis binis ternisve fragmentis, vel potius epistolarum assumentis, in quibus iisdem fere verbis et sententiis exponi deprehendi, quae iam in aliis epistolis exposita erant.“ 61 PERELS, Baseler Hinkmar-Handschrift (wie Anm. 13) S. 47f.
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enthalte neun Hinkmarbriefe und die von ihm zitierten Stücke seien die Nummern 1, 3 und 5 des Codex62. Vergleicht man diese Angaben mit denen des Busaeus, er habe Umstellungen vorgenommen, so kann sich dies eigentlich nur auf den zweiten Teil des Spirensis beziehen. Vermutlich war Busaeus durch die Zitate des Baronius überhaupt auf die Hinkmarschriften und den Speyrer Codex aufmerksam geworden. Er hat seine Edition dann dem Speyrer Bischof Eberhard von Dienheim gewidmet, weil der ihm den Hinkmar-Codex nach Mainz ausgeliehen hatte, was der Editor gar nicht zu hoffen gewagt hatte, wie er in der Einleitung schreibt. Jedenfalls ist es nicht auszuschließen, daß der kaiserliche Rat Caspar von Nidbruck, der eifrigste Handschriftenbeschaffer der Magdeburger Centuriatoren, der im August 1554 die Speyrer Dombibliothek besucht hat und dort 20 Handschriften aus dem Nachlass des gelehrten Rates Job Vener erworben hat 63, auch eine Kopie der Speyrer Hinkmar-Handschrift anfertigen ließ, nämlich die Basler Handschrift, denn die Argumentation von Perels gegen eine direkte Abhängigkeit ist, wie oben dargelegt, nicht haltbar. Unklar bleibt allerdings der Weg, auf dem die Basler Handschrift an den Basler Sammler und Juristen Remigius Faesch (1595–1667) kam, über den sie dann schließlich in die Öffentliche Bibliothek gelangte64. Allerdings ist daran zu erinnern, daß in Basel, der Drucker-Verleger von Matthias Flacius Illyricus und von den Magdeburger Centuriatoren, Johannes Oporinus, gewirkt hatte.
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Caesar BARONIUS, Annales ecclesiastici ad a. 875: „Quod quodam anno Hincmarus Rhemensis episcopus ... epistolam scripsit ... quae extat in codice Bibliothecae Cathedralis Spirensis Ecclesiae. Est numero quinta inter novem Hincmari descriptas ibi epistolas“ (folgt Zitat aus SCHRÖRS Reg. Nr. 358; BUSAEUS, Epistola V), ebda. ad a. 877 Nr. 18f.: „In Spirensi autem codice, quo novem Hincmari continentur epistolae selectae, qua prima ordine ponitur, eiusdem est argumenti scripta“ (folgt Zitat aus SCHRÖRS Reg. Nr. 417; BUSAEUS, Epistola I). „Tunc ab eodem illa scripta esse videtur longissima epistola, in eodem codice tertia ordine posita, cuius est initium“ (folgt Zitat aus SCHRÖRS Reg. Nr. 571; BUSAEUS, Epistola III). Vgl. auch STRATMANN, Wirkungsgeschichte (wie Anm. 20) S. 23. 63 Vgl. dazu Hermann HEIMPEL, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel 1–3 (1982), hier 2 S. 967ff. 64 Vgl. dazu GROSS/SCHIEFFER, De ordine palatii (wie Anm. 2) S. 13.
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Edition Basel, Öffentliche Bibliothek O II 29, fol. 5v–10r Collectio Domini Hincmari ex sententiis patrum contra haereticos, qui sibi Catharus1 id est mundos nomen imposuerunt et de privilegiis multarum sedium2 Scriptum est in libro sexto Historiae Ecclesiasticae 3, quam sanctus papa Gelasius inter recipiendos libros adscribit 4, hac a Dionysii5 epistola ad Novatum6 scismaticum, a quo Novatiani vocati sunt, qui sibib Catharos Canones Nyceni diffinierunt 7, quam lectorc ibi facile invenire potest. Dyonysius d Novato fratri dicit 8: Si invitus, ut ais, in hoc venisti, ostendes in eo, si desinas volens. Oportuerat quidem etiam pati omnia pro eo, ne scinderetur ecclesia dei et erat non inferior gloria sustinere martyrium pro eo, ne scinderetur ecclesia, quam est illa, ne idolis immoletur, imo secundum meam sententiam maius hoc puto esse martyrium. Ibi namque unusquisque pro sua tantum anima in hoc vero pro omni ecclesia martyrium sustinet. a
so B. so B. c korr. B. d korr. B. b
1
Konzil von Nicaea c. 8 (ed. Cuthbert Hamilton T URNER, Ecclesiae Occidentalis Monumenta Iuris Antiquissima 1, 1899, S. 262, 1f.). 2 Siehe zum Titel der Schrift oben S. 217. 3 Eusebius, Historia ecclesiastica VI c. 44, ed. Theodor MOMMSEN, Eusebius Werke Bd. 2,2 (Die griechischen Schriftsteller der ersten 3 Jahrhunderte, 1908, S. 627, 8–19). 4 Die Verbindung zwischen Rufinus, Kirchengeschichte (siehe die folgende Anm.) und Ps.-Gelasius, De recipiendis libris c. 4, 5 (ed. Ernst von DOBSCHÜTZ, Das Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis, 1912, S. 44, 232 – 45, 238) findet sich auch in Hinkmars Opusculum c. 21: … hystoriae ecclesiasticae liber Rufini, qui in catalogo apostolicae sedis inter recipiendos libros describitur, … (ed. SCHIEFFER MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 226, 19ff.). Vgl. auch DEVISSE, Hincmar (wie S. 211 Anm. 2) 3 S. 1492: Hinkmar besaß die Historia ecclesiastica des Eusebius in der Übersetzung des Rufinus in Gestalt der Handschrift Reims, Bibl. mun. 1351. 5 Dionysius I., Bischof von Alexandrien (247/48–264/65), der zugunsten der unter Decius abgefallenen Christen (lapsi) mahnte; vgl. Friedrich Wilhelm BAUTZ, Dionysius I. von Alexandrien, in: Bio-Bibliographisches Kirchenlexikon 1 (1990) Sp. 1318–1320. 6 Novatian war Presbyter in Rom, der zwar Wortführer der römischen Klerus war, in der Sedisvakanz von 250 aber nicht zum Bischof gewählt wurde und sich später zum Gegenbischof weihen ließ, weil er um die Reinheit der Kirche fürchtete durch die Rekonziliationspraxis des Cornelius gegenüber den lapsi; vgl. Hermann Josef VOGT , Novatian, Novatianer, in: Lex MA 6 (1993) Sp. 1301. 7 Siehe Anm. 1. 8 Siehe Anm. 3.
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Sed nunc etiam sive tu suadere sive etiam agere potes fratres redire ad concordiam, maius tibi erit emendationis meritum, quam fuerat culpa commissi, quia illud iam non imputabitur, hoc etiam laude dignum ducitur. Si vero illi in credulitate permanserint salvans salva animam tuam. Vale pati desiderans (fol. 6r) quam tibi imprecor. Cume sanctus Cyprianus 9 cum collegis suis synodali conventu decrevit, ut baptizati ad haereticos venientes ad Catholicam Ecclesiam baptizarentur10, et Stephanus papa11 hoc contradiceret, nemo tamen se ab alterius communione segregaret, ne scisma in sanctam Ecclesiam introducerent, sanctus Cyprianus in synodo generali hanc sententiam, quam beatus Augustinus saepissime multis laudibus affari protulit dicens 12: Nos, quantum in nobis est, propter haereticos cum collegis et coepiscopis nostris non contendimus, cum quibus divinam concordiam et dominicam pacem tenemus. Et paulo post13: Servatur, inquit, a nobis patienter et leniter charitas animi, honor collegii, vinculum fidei, concordia sacerdotii. Haec autem dixit sequiturus Apostolum dicentem14: Pacem sequimini cum omnibus et sanctimoniam, sine qua nemo videbit dominum. Estote solliciti15, servate unitatem spiritus sancti in vinculo pacis. Et idem16: Si fieri potest, quod ex vobis est, cum omnibus hominibus pacem habentes. Et sanctus Augustinus in libro secundo de Baptismo exaggerans maximum peccatum scisma dicit 17f: Non afferamus stateras dolosas, ubi appendamus, quod volumus et quomodo volumus pro arbitrio noe f
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Am Rand: De definitione Cypriani de rebaptizandis B. Am Rand: Non afferamus stateras dolosas B.
Cyprian von Karthago (Bischof 248/49–258) verfaßte in der Auseinandersetzung um die unter Decius Abgefallenen und angesichts des novatianischen Schismas De ecclesiae unitate (vgl. Anm. 12); vgl. zu Cyprian Manfred GERWING, in: Lex MA 3 (1986) Sp. 403f. 10 Siehe Anm. 5. 11 Stephan I., Bischof von Rom (254–257), Gegner der Aufnahme von lapsi. 12 Augustinus, De baptismo IV c. 8, 11 (ed. Carolus F. URBA/Josephus ZYCHA, CSEL 51, 1913, S. 235, 25–236, 2), der Cyprian von Karthago, Brief 73, 26 (ed. Guillemus HARTEL, CSEL 3, 2, 1871, S. 798, 12–14) zitiert. Vgl. auch DEVISSE, Hincmar (wie S. 211 Anm. 2) 3 S. 1482: Zitate aus dem Werk begegnen bei Hinkmar nach 869 und nahe steht ihm die Handschrift Laon, Bibl. mun. 603. 13 Augustinus, De baptismo IV c. 8, 11 (ed. URBA/ZYCHA, CSEL 51, S. 236, 5–7), der Cyprian zitiert (ed. S. 798, 17f.). Diese Stelle wird auch zitiert von Hinkmar, Opusculum c. 47 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 334, 4f.). 14 Hebr. 12, 14. 15 Eph. 4, 3. 16 Rom. 12, 18. 17 Augustinus, De baptismo II, c. 6, 9 (ed. URBA/ZYCHA, CSEL 51, S. 184, 6–18); das Zitat wird von Hinkmar auch zitiert im Opusculum c. 47 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2 S. 332, 32–333, 6) und (in gleichem Umfang) im Libellus expostulationis c. 30 (ed. Wilfried HARTMANN, MGH Conc. 4, 1998, S. 472, 18–25).
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stro dicentes: Hoc grave, hoc leve est, sed afferamus divinam stateram de scripturis sanctis tanquam de thesauris dominicis et in illa, quid sit gravius, appendamus, imo non appendamus, sed a domino appensa recognoscamus. Tempore illo, quo dominus priora delicta recentibus poenarum exemplis cavendag monstravit et idolum fabricatum atque ado (fol. 6v) ratum et propheticus liber ira regis contemptoris incensus et scisma temptatum est, idolatria gladio punita est, exustio libri bellica caede et peregrina captivitate scisma hiatu terrae sepultis auctoribus vivis et caeteris coelesti igne consumptis. Quis iam dubitaverit hoc esse sceleratius commissum, quod est gravius vindicatum. Si18 traditores sanctorum librorum ad incendendum, non incendendos tradidissent, sed eos ipsi suis manibus incendissent, minoris fuissent ubique sceleris quam si scisma committerent, quia illud mitius, illud gravius vindicatum est, non humano arbitrio sed divino iudicio. Et item sanctus Augustinus in epistola ad Bonifacium19h: Cogunt, inquit, multas invenire medicinas, multorum experimenta morborumi. Verum in huiusmodi causis, ubi per graves dissensionum scissurasj, non huius autem illius hominis est periculum, sed populorum strages iacent, detrahendum est aliquid severitati, ut maioribus malis sanandis caritas syncera subveniat. Et sanctus Gregorius in libro Moral. XVIII20: Conflationis ignis, qui extra catholicam toleratur ecclesiam, quam nullius omnino virtutis sit Paulus Apostolus insinuat dicens: Si21 tradidero corpus meum, ut ardeat, charitatem autem non habeam, nihil mihi prodest. Alii quidem prava de deo sentiunt alii recta de auctore tenent, sed unitatem cum fratribus non tenent. Illi errore fidei, isti vero scismatis perpetratione divisi sunt. Unde et in ipsa prima parte decalogi utrarumque partium culpae reprimuntur, cum divina voce dicitur: Diliges22 dominum deum (fol. 7r) tuum ex toto corde tuo et ex tota anima tua et ex tota virtute tua atque mox subditur: Diliges23 proximum tuum sicut te ipsum qui enim de deo perg h i j
korr. B. Am Rand: Et item sanctus Augustinus B. korr. aus laborum B. korr. B.
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Augustinus, De baptismo II c. 9 (ed. URBA/ZYCHA, CSEL 51, S. 184, 20–25). Augustinus, Brief 185 (ed. Alois GOLDBACHER, CSEL 57, S. 40); das Zitat findet sich auch im Opusculum c. 20 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 216, 22–26) und mehrfach in anderen Schriften; vgl. dazu HARTMANN, MGH Conc. 4 S. 101 Anm. 26. 20 Gregor der Große, Moralia 18, 26 (ed. Marc ADRIAEN, CC 143A, 1979, S. 912, 54– 78); von Hinkmar auch zitiert im Opusculum c. 48 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 343, 29–344, 9). 21 1. Cor. 13, 1. 22 Deut. 6, 5. 23 Marc. 12, 31. 19
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versa sentit, liquet profecto quia dominum non diligit, qui vero de deo recta sentiens a sancta ecclesiae unitate divisus est, constat quia proximum non amat, quem habere socium recusat. Quisquis ergo ab hac unitate matris ecclesiae sive per heresin, de deo perversa sentiendo sive errore scismatis proximum non diligendo dividitur, charitatis huius gratia privatur, de qua hoc quod premisimus Paulus dicit: Si24 tradidero corpus meum, ut ardeat, charitatem autem non habeam, nihil mihi prodest, ac si aperta voce diceret extra locum suum conflationis ignis mihi adhibitus tormento me cruciat, mundatione non purgat, hunc omnes sanctae pacis amatores summo studio locum quaerunt. Hunc quaerentes inveniunt, hunc invenientes tenent. Quia25 cognata sunt haeresis et scisma, sollempnes 26k orationes catholicae ecclesiae monstrantur, quibus prol haereticisl et scismaticis simul oramus. Unde sanctus Caelestinus dicit 27: Legem igitur credendi lex statuat supplicandi, et sanctus papa Hilarus ad Leontium, Veranum et Victorium episcopos scribens 28, inter cetera dicit ad locum, quia non minus in sanctarum traditionum sanctiones delinquitm, quamn in iniuriam ipsius domini prosilitur. Et Zosimus papa ad universos episcopos29: Cum adversus, inquit, statuta patrum venitur, non tantum illorum providentiae atque sententiae, qui in aevum victura sanxerunt sed et ipsi quodammodo fidei (fol. 7v) et catholicae disciplinae irrogatur iniuria. Et sanctus Symmachus papa ad
k
Am Rand: De ostationibus (!) solemnis in parasceve B. propheticis B, pro haereticis Hinkmar. m delinquit B, delinquitur Vorlage und Hinkmar. n quia B, quam Vorlage und Hinkmar. l
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1. Cor. 13, 1. So wörtlich auch in De ordine palatii c. 7 (ed. GROSS/SCHIEFFER S. 46, Z. 130). Diese Formulierung begegnet auch in der Exkommunikationssentenz gegen Odoaker von Beauvais (MIGNE PL 126 Sp. 250A); vgl. auch GROSS/SCHIEFFER, De ordine palatii (wie S. 211 Anm. 2) S. 46 Anm. 68: Gemeint ist das Karfreitagsgebet pro haereticis et schismaticis. 27 Coelestin I., Brief 21, hierzu vgl. Regesta pontificum Romanorum ab condita ecclesia ad annum post Christum natum 1198, bearb. von Philipp JAFFÉ, 2. Aufl. bearb. von Ferdinand KALTENBRUNNER, 2 Bde (1885–1888), Nr. JK 381 bzw. MIGNE PL 50 Sp. 535A); aus der Dekretale zitiert Hinkmar auch im Opusculum c. 16 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 197, 1ff.) und im Libellus expostulationis c. 28 (ed. HARTMANN , MGH Conc. 4, S. 467, 35–37). 28 Hilarus, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 562, Edition bei Andreas T HIEL, Epistolae Romanorum pontificum genuinae, 1868, S. 162); von Hinkmar sehr oft zitiert, vgl. BÖHRINGER, Eherechtlicher Traktat (wie S. 216 Anm. 32) S. 26: das Schreiben ist enthalten in Hinkmars Rechtshandschrift SBPK Berlin, Phillipps 1741 fol. 192v–193r. 29 Zosimus, Brief 4, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 331, ed. Wilhelm GUNDLACH, MGH Epp. 3, 1892, S. 7, 22–24. 25
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Eonium Arelatensem episcopum dicit 30: Dum ad trinitatis instar, cuius una est atque individua potestas, unum sit per diversos antistites sacerdotium, quemadmodum priora statuta a sequentibus convenit violari. Huc accedit, quod hac, si conveniat, sententiarum varietas ad ipsam sacrosanctam catholicam religionem credimus pertinere, cuius omnis potestas infringitur, nisi universa, quae a domini sacerdotibus semel statuuntur, perpetua sint. Quaeo sint autem, de quibus scribit, statuta, pauca de multis numerose maxima pondere hic adnotata, sequuntur, ait vero mystica 31 Nycaena synodus32: Antiqua consuetudo servetur per Aegytum, Lybiam, Pentapolin ita, ut Alexandrinus Episcopus horum omnium habeat potestatem, quia et urbis Romae Episcopo parilis mos est. Similiter autem et apud Antiochiam caeterasque provincias suis privilegia serventur ecclesiis, que sancti et magni Nycaeni concilii decreta, beatus Innocentius ad Alexandrum Antiochenum episcopum ita explanat dicens 33: Revolvens itaque auctoritatem Nycenae synodi, quae unam omnium per orbem terrarum mentem explicat sacerdotum, quae censuit de Antiochena ecclesia cunctis fidelibus, ne dixerim sacerdotibus, necessarium esse custodire, qua super diocoesin suam praedictam ecclesiam, non super aliquam aliam provinciam recognoscimus constitutam. Et Bonifacius papa ad Hilarium34: Convenit, inquit, nos paternarum sanctionum diligentes esse custodes: Nulli etenim videtur incognita synodi (fol. 8r) constitutio Nycenae, quae ita praecipit, ut eadem pape verba ponamus. Per unamquamque provinciam ius metropolitanos singulos habere debere nec cuiquam duas esse subiectas. Quod illi, quia aliter credendum non est, servandam sancto spiritu suggerente sibimet censuerunt.
o
Am Rand: Nota: sunt statuta de multis, pauca hic adnontantur, ut nullus in alterius provincia usurpet aliquid, quod patrum possit regulis obviare, quod hic satis habemus autem collectum B. 30
Symmachus, Brief 3, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 754, ed. GUNDLACH, MGH Epp. 3, S. 35, 4–8; bis antistites sacerdotum auch zitiert in der Rotula prolixa Hinkmars von Reims (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 406, 25–27). 31 Hinkmar bezeichnet wiederholt die Synode von Nicaea als mystica; vgl. Opusculum c. 5 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 159, 5), c. 6 (ebda. S. 166, 24) und öfter. 32 Nicaea c. 6 (T URNER Monumenta [wie Anm. 1] 1 S. 260, 3–8); auch von Hinkmar zitiert im Opusculum 5 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 159, 8–10) und im Libellus expostulationis c. 21 (ed. HARTMANN, MGH Conc. 4, S. 451, 22f.). 33 Innozenz I., Brief 24, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 310, ed. MIGNE PL 20 Sp. 547B–548A; im gleichen Umfang zitiert im Opusculum c. 17 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 203, 1–5) und nochmals genauso in c. 26 (ebda. S. 256, 8–12). 34 Bonifatius I., Brief 12, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 362, ed. MIGNE PL 20 Sp. 773A; von Nulli – expectet auch zitiert im Opusculum c. 26 (S. 256, 13–19), auch mit der Unterbrechung und Fortführung des Zitats.
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Et post aliquanta35: Quod idcirco dicimus, ut advertat charitas tua adeo nos canonum praecepta servare, ut ita constitutio quoque nostra diffiniat, quatenus metropolitani sui unaquaeque provincia in omnibus rebus ordinationem semper expectet. Et sanctus Caelestinus36: Primum, inquit, ut iuxta decreta canonum unaquaeque provincia suo metropolitano contenta sit, ut decessoris nostri data ad Narbonensem episcopum continent constituta, nec usurpationi locus alicui sacerdoti in alterius concedatur iniuria. Sit concessis sibi contentus unusquisque limitibus, alter in alterius provincia nihil praesumat. Et item idem37: Nulli sacerdoti suos liceat canones ignorare nec quicquam facere, quod patrum possit regulis obviare. Quae enim a nobis res digna servabitur, si decretalium norma constitutorum pro aliquorum libitu licentia populis permissa frangatur. Et Hilarus papa38: Nolumus namque, fratres charissimi, ecclesiarum privilegia, quae semper sunt servanda, confundi me in alterius provincia sacerdotis alterum ius habere permittimus. Et paulo post39: Communis omnium sollicitudo procuret, ne quisquam frater in alterius prorumpturus iniuriam transcendat terminos a venerandis patribus constitutos. (fol. 8v) De40 quibus terminis Antiochenum concilium in magna Chalcedonensi synodo collaudatum capitulo XIII dicit 41: Nullus episcopus ex alia provincia audeat ad aliam transgredi et ad promotionem ministerii aliquos in ecclesiis ordinare, licet consensum videantur praebere nonnulli, nisi literis tam Metropolitani, quam caeterorum, qui cum consilio p episcoporum rogatus adveniat et sic ad actionem ordinationis accedat. Si vero nullo vocante inordinato more p
consilio B, eo sunt Vorlage und Hinkmar.
35
Ebda. Sp. 774. Zitat mit dem gleichen Übergang auch im Opusculum c. 26 (siehe die vorige Anm.). 36 Coelestin I., Brief 4, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 369, ed. MIGNE PL 50 Sp. 434A/B; auch zitiert im Opusculum c. 5 (S. 159, 12–14). 37 Coelestin I., Brief 5, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 371, ed. MIGNE PL 50 Sp. 436A; von Hinkmar häufig zitiert, vgl. GROSS/SCHIEFFER, De ordine S. 46 Anm. 66. 38 Hilarus, Brief 12, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 562, ed. T HIEL, Epistolae (wie Anm. 28) S. 154. Der ganze Passus von Nolumus namque – sancto concilio findet sich auch in De iure metropolitanorum c. 9 (MIGNE PL 126 Sp. 193C– 194A). 39 Hilarus, Brief 11, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 559, ed. T HIEL, Epistolae (wie Anm. 28) S. 151f. 40 Genau dieselbe Formulierung als Überleitung zwischen beiden Zitaten findet sich in De iure metropolitanorum c. 9 (MIGNE PL 126 Sp. 193D). 41 Konzil von Antiochia c. 13 in der Version der Dionysiana (ed. T URNER, Monumenta [wie Anm. 1] 2, S. 273, 1–275, 18); auch zitiert im Opusculum c. 2 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 150, 7–14).
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deproperet, super aliquibus ordinationibus et ecclesiasticis negociis ad eum non pertinentibus, componendis, irrita quidem, quae ab eo geruntur, existant. Ipse vero incompositi motus sui et inrationabilis audatiae subeat ultionem ex hoc iam damnatus a sancto concilio. Et item cap. XXII42: Episcopus alienam civitatem, quae non est illi subiecta, non adeat nec ad possessionem accedat, quae ad eum non pertinet, super ordinatione cuiusquam nec constituat presbyteros ac diaconos alteri subiectos episcopo nisi forte cum consilio et voluntate regionis episcopi. Si quis autem tale aliquid facere temptaverit, irrita sit eius ordinatio et ipse coherceatur a synodo, nam si ordinare non potuerit, nullatenus iudicabit. Et sanctus Gregorius q vigilantissime servare decrevit, ut nullus metropolitanus in alterius metropolitani provincia inconsulto eo quoddam iuris praesumat scribens ad Augustinum Anglorum episcopum43: In lege, inquit, scriptum est: Per alienam messem (fol. 9r) transiens falcem mittere non debes, sed manu spicas conterere et manducare falcem enim iudicii mittere non potes in ea segete, quae alteri videtur esse commissa, sed per effectum boni operis frumenta dominica vitiorum, suorum paleis expolia et inr ecclesier corpus moriendos et persuadendo quasi mandendo converte. Et de excommunicatis et excommunicandis seu absolvendis per singulas provincias singulis Metropolitanis commissas sacri Nyceni canones cap. V et Antiocheni cap. VI atque XXmo et magnum concilium Chalcedonense cap. XVIIII, quae sunt nota, decernunt. Et de excommunicatis et excommunicandis sanctum Nycaenum concilium dicit cap. V44: De his, qui communione privantur,seu ex clero seu ex laico ordine, ab episcopis per unamquamque provinciam sententia regularis obtineat, ut hi, qui abiciuntur, ab aliis recipiantur. Requiratur autem,ne pussillanimitate aut contentione et alio quolibet episcopi vitio videatur a congregatione seclusus. Ut ergo hoc decentius inquiratur, bene placuit annis singulis per unamquamque provinciam bis in anno concilia celebrari, ut communiter omnibus simul episcopis congregatis provinciae discutiantur, huiusmodi quaestiones et reliquia. Et hinc Antiocheni canoq
am Rand: sanctus Gregorius B. inediae B, in ecclesie Vorlage und Hinkmar. s moriendo B, monendo Vorlage und Hinkmar. r
42
Konzil von Antiochia c. 22 (ed. T URNER, Monumenta [wie Anm. 1] 2, S. 297, 1–9). Gregor der Große, Responsiones ad Augustinum c. 7 (JAFFÉ–E WALD, Regesta Pontificum Romanorum Nr. JE 1843; Registrum XI 56a; ed. Paul E WALD/Ludo Moritz HARTMANN, MGH Epp. 2, 1899, S. 337, 12–17). In gleichem Umfang auch zitiert im Opusculum c. 3 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 153, 28–32). 44 Konzil von Nicaea c. 5 (325) nach der Collectio Dionysiana (T URNER, Monumenta [wie Anm. 1] 1 S. 259, 1–260, 22). Dieses Zitat in Verbindung mit dem folgenden Antiochia-Zitat findet sich auch im Opusculum c. 29 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 269, 17–270, 3). 43
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nes 45: Si quis a proprio episcopo communione privatus est, non ante suscipiatur ab aliis, quam suo reconcilietur episcopo aut certe ad synodum, quae congregatur occurrens per se satisfaciat et persuadens concilio sententiam suscipiat alteram. Haec autem diffinitio maneat circa laicos et presbyteros et diaconos omnesque, qui sub regula esse monstrantur. Item cap. XX46: Propter (fol. 9v) utilitates ecclesiasticas et absolutiones earum rerum, quae sub dubitationem controversiamque recipiunt, optimae placuit, ut per singulas quasque provincias bis in anno episcoporum concilia celebrentur. Et paulo post47: In ipsis autem conciliis adsint presbyteri et diaconi et omnes, qui se laesos existimant, et synodi experiantur examen et reliqua. Et magnum Chalcedonense concilium cap. XVIIII48: Decrevit, inquit, sancta synodus secundum canones patrum, bis in anno episcopos in idipsum in unaquamque provintia convenire, quo metropolitanus antistes probaverit et corrigere singula, si quae fortassis emerserint. Et magnus Leo papa in decretis suis 49: Hoc itaque admonitio nostra denunciat : Quod si quis fratrum contra haec constituta venire temptaverit et prohibita fuerit ausus admittere, a suo se noverit officio submovendum nec communionis nostra futurum esse consortem, qui socius esse noluit disciplinae. Ne quid vero sit, quod praetermisimus a nobis forte credatur. Omnia decretalia constituta, tam beatae recordationis Innocentii quam omnium decessorum nostrorum, quae de ecclesiasticis ordinibus et canonum promulgata sunt disciplinis ita a vestra dilectione custodiri debere mandamus, ut si quis in illa commisserit, veniam sibi deinceps noverit denegari. 50Et sanctus papa Gelasius in decretis ad omnes episcopos de institutis ecclesiasticis 51: Cum, inquit, nobis contra salutarium reverentiam regularum cupiamus temere nil licere et cum sedes apostolica super his omnibus favente domino, qua paternis canonibus sunt praefixa, (fol. 10r) pio devotoque studeat tenere proposito, satis indignum est quemquam et pontificum et ordinum subse45
Konzil von Antiochia c. 6 nach der Collectio Dionysiana (T URNER, Monumenta [wie Anm. 1] 2 S. 253, 1–11). 46 Konzil von Antiochia c. 20 (ed. T URNER, Monumenta [wie Anm. 1] 2 S. 293, 1– 11). 47 Ebda. 48 Konzil von Chalcedon c. 19 nach der Collectio Dionysiana (ACO II 2, 2, S. 59, 2– 4); auch zitiert im Opusculum c. 6 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 166, 3–6) und wiederholt im Libellus expostulationis c. 22 (ed. HARTMANN, MGH Conc. 4 S. 454). 49 Leo I., Brief 4, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 402, ed. MIGNE PL 54 Sp. 614A/B; WURM, Decretales selectae S. 92, 3ff. Diese Stelle ist oft von Hinkmar zitiert worden. 50 Das Folgende findet sich genauso formuliert in De iure metropolitanorum c. 10 (MIGNE PL 126 Sp. 194A/B) und sehr ähnlich im Opusculum c. 10 (ed. SCHIEFFER, MGH Conc. 4 Suppl. 2, S. 178, 30f.), wo das gleiche Zitat im gleichen Umfang wie hier folgt. 51 Gelasius I., Brief 14, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 636, ed. T HIEL, E PISTULAE (wie Anm. 28) S. 367.
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quentium hanc observantiam refutare quam beati Petri sedem et sequi videat et docere satisque conveniens sit, ut totum corpus ecclesiae in hac sibimet observatione concordet quam illic vigere conspiciat, ubi dominus totius ecclesiae posuit principatum et in interpretatione legis 52 Valentinianit, Theodosiiu et Archadii leges nescire nulli liceat aut quam sunt statuta contemnere. Et sanctus Celestinus papa de sacris canonibus dicit 53: Nulli, inquiens, sacerdoti suos liceat canones ignorare nec quicquam facere, quod patrum possit regulis obviare. Quae enim a nobis res digna servabitur, sed decretalium normam constitutorum pro aliquorum libitu licentia populis permissa frangatur. Et lege antiqua 54 Gratiani, Valentiniani et Theodosii augustorum decreta, quam sanctus Gregorius facit esse canonicam constitutum est, ne55quemquam litigatorum sententia non a suo iudice dicta constringat. Et sanctus Caelestinus 56: Non, inquit, est agentium causa solorum, universalis ecclesia quacumque novitate pulsatur. Sanctus Leo papa in epistola ad Anastasium Thessalonicensem episcopum, cui vices suas commiserat, ita de metropolitano veteris Epyri, in quam contra regulas sententiam iuculaverat, dicit 57: Si quod, inquiens, grave intolerandumque t
Am Rand: Nota: sunt statuta de multis, pauca hic adnontantur, ut nullus in alterius provincia usurpet aliquid, quod patrum possit regulis obviare, quod hic satis habemus autem collectum B. u consilio B, eo sunt Vorlage und Hinkmar. 52
Interpretatio zu Codex Theodosianus I 1, 2 (ed. Theodor MOMMSEN/Paul M. MEYTheodosiani libri XVI cum Constitutionibus Sirmondianis 1, 1905, S. 27); von Hinkmar mehrfach zitiert, so in De ordine palatii (ed. GROSS/SCHIEFFER Z. 140 S. 46), vgl. ebda. S. 47 Anm. 72 zu den weiteren Stellen aus De presbyteris criminosis c. 25 (ed. SCHMITZ S. 96, 3-10) und dem Brief Karls des Kahlen an Papst Johannes VIII., die alle in der Basler Handschrift enthalten sind. Es wird jeweils auch das Coelestin-Zitat (Migne PL 126 Sp. 242B) geboten, das hier folgt (siehe Anm. 37). Insofern liegt hier wiederum eine der von Hinkmar häufiger verwendeten Zitatketten vor. 53 Coelestin I., Brief 5, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 371, ed. MIGNE PL 50 Sp. 436 A; von Hinkmar sehr oft in seinen Schriften zitiert. 54 Codex Justinianus VII, 48, 4 (ed. Paul KRÜGER, Corpus Iuris Civilis 2, 1959, S. 317), vermittelt durch Gregor I., Registrum XIII 50 (ed. E WALD/HARTMANN, MGH Epp. 1, 2, 1891, S. 416, 28). 55 Gregor I., Registrum XIII 50 (ed. E WALD/HARTMANN, MGH Epp. 1, S. 416, 30). Auch in dieser Formulierung zitiert in SCHRÖRS (wie Anm. 1) Reg. Nr. 213 (MIGNE PL 125 Sp. 1060 C und nochmals 1069A). 56 Coelestin I., Brief 21, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 381, ed. MIGNE PL 50 Sp. 269D–270A. 57 Leo I., Brief 14, vgl. JAFFÉ/KALTENBRUNNER (wie Anm. 27) Nr. JK 411, ed. MIGNE PL 54 Sp. 672A. ER ,
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committeret, quin metropolitanus, nostra erat expectanda censura, ut nihil prius ipse decernens quam, quod nobis placeret, cognosceras. Vices nostras ita tuae credimus charitati, ut in partes sis vocatus sollicitudinis non in plenitudinem potestatis.
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Ministri mysterii iniquitatis Die apokryphen Clemensbriefe in den Magdeburger Centurien Zu den oft hervorgehobenen Leistungen der Centuriatoren, und zwar nur der Centuriatoren (nicht aber des Flacius 1), gehört die erste quellenkritisch fundierte Entlarvung der sogenannten Pseudoisidorischen Dekretalen2 als Fälschung. Insgesamt ist es bemerkenswert, daß der Sturz Pseudoisidors durch die dem Gesamtcorpus vorangestellten apokryphen Clemensbriefe ausgelöst wurde, die über den Gehalt der eigentlichen Rechtssammlung wenig aussagen. Ihre Entlarvung als Fälschung betrifft einzig den Konnex der Sammlung mit der christlichen Frühzeit, hat also einen ganz anderen Charakter als das Constitutum Constantini, das ja unmittelbar den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papsttums begründen helfen sollte. Dennoch stehen die Clemensbriefe im Mittelpunkt der Betrachtungen der Centuriatoren, wohingegen der für das spätere Kirchenrecht weit bedeutendere Teil mit den gefälschten Dekretalen kaum Erwähnung findet. Der Umsturz vollzieht sich bei erheblichen wörtlichen Überschneidungen einmal MC II, Sp. 143–152 und wieder MC III, Sp. 177–185. Die Sammlung wird von den Centuriatoren als Epistolae decretalium seu Pon-
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Vgl. Martina HARTMANN, Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kritik an den pseudoisidorischen Dekretalen. Nikolaus von Kues und Heinrich Kalteisen als „Wahrheitszeugen“ bei Matthias Flacius Illyricus und den Magdeburger Centuriatoren, in: Fortschritt durch Fälschungen?, hg. von Wilfried HARTMANN und Gerhard SCHMITZ (MGH Studien und Texte 31, 2002) S. 191–210, insbesondere S. 194, 202–204 und 210. 2 Auf die immense Literatur zu diesem Thema kann hier nicht eingegangen werden. Ed.: Paul HINSCHIUS, Decretales Pseudoisidorianae et Capitula Angilramni (1863); vgl. aber auch MIGNE PL 130 (1880), der die Vorlage der Centuriatoren nachdruckt (s. Anm. 3). Die ältere Forschungsliteratur bei Emil SECKEL, Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 16 (31905), S. 265–307. In der neueren Forschung grundlegend: Horst FUHRMANN, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen (MGH Schriften 24, 1–3, 1972); DERS., Stand, Aufgaben und Perspektiven der Pseudoisidorforschung, in: Fortschritt durch Fälschungen (wie Anm. 1) S. 227–262; Wilfried HART4 MANN , Pseudoisidorische Dekretalen, in: RGG 6 ( 2003), S. 1790.
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tificum zitiert, und zwar nach der ersten Druckausgabe des Pariser Theologen Jacques Merlin († 1541)3. Sinn dieser Ausgabe war es, die Sammlung Pseudoisidors als Quelle zur Konziliengeschichte greifbar zu machen4. Daß dabei eine Reihe von (gefälschten) Papstbriefen mitgedruckt wurde, weil sie nun einmal in der handschriftlichen Überlieferung zur Sammlung gehörten, schien nicht weiter zu stören – zeigt aber den besonderen Respekt, den Merlin vor seiner Vorlage hatte. Diese Briefe, insbesondere die dem (je nach Autor) zweiten bzw. dritten oder vierten Nachfolger Petri mit Namen Clemens 5 zugeschrieben wurden, weckten bereits das Mißtrauen gebildeter Theologen des 15. und 16. Jahrhunderts6. Keineswegs banal ist, daß zu diesen Kritikern am ersten Clemensbrief auch der Franziskaner Petrus Comestor († 1178) zählt. Im 97. Kapitel der Paraphrase zur Apostelgeschichte heißt es: Sed cum Beda dicat mortuum Jacobum septimo anno Neronis, palam est non esse authenticum, quod legitur in epistola Clementis, qui, juxta tenorem illius epistolae, dicit sibi esse mandatum a Petro, cui successit in apostolatu, ut post ejus mortem, Jacobo episcopo epistolas destinaret, ut ab eo instrueretur. Sed cum Jacobus episcopus mortuus sit septimo anno Neronis, et Petrus vixerit usque ad decimum quartum, constat hoc nihil esse7.
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MC II Sp. 143: In tomis Conciliorum, singulis Romanis episcopis, qui in hanc Centuriam cadunt, ut sunt Clemens, Anacletus … Eleutherius, Victor, suæ attribuuntur epistolæ. Das entspricht der Titelei und der Anlage des seinerzeit einzigen vollständigen Drucks: Jacobus MERLINUS, Tomus primus IV conciliorum generalium, XLVII conciliorum provincialium authenticorum, decretorum LXIX pontificum etc. (Paris 1523, erschienen 1524), zu weiteren Drucken vgl. HARTMANN, Kritik (wie Anm. 1) S. 194f. Bemerkenswert ist, daß Flacius für den Catalogus die Konzilienausgabe von Petrus Crabbe (Köln 1538 und 1551) benutzte, in der Pseudoisidor mitgedruckt war. Zu Handschriften und Drucken des Pseudoisidor allgemein vgl. Schafer WILLIAMS, Codices PseudoIsidoriani, a palaeographico-historical study (Monumenta iuris canonici. Ser. C Subsidia 3, 1971). Zur Frage der handschriftlichen Vorlage Merlins („Codex der spätesten Hss.Klasse C“) vgl. FUHRMANN, Einfluß und Verbreitung (wie Anm. 2) 1, S. 130f. und 172f. und FUHRMANN, Pseudoisidorforschung (wie Anm. 2) S. 232 Anm. 14. 4 FUHRMANN, Pseudoisidorforschung (wie Anm. 2) S. 232. 5 Eine auf Epiphanius beruhende Vita Clementis findet sich MC Ib, Sp. 638–641; hier ist von den falschen Briefen nicht die Rede, aber ausführlich vom Konflikt mit den Ebionäern, denen T ORRES, Adversus Magdeburgenses libri V (wie Anm. 11) S. 154 die corruptio Clementis libri zuschreibt; ebd. S. 202 zu der heiklen Frage der Papstreihe. 6 HARTMANN, Kritik (wie Anm.1) S. 195–201; FUHRMANN, Pseudoisidorforschung (wie Anm. 1) S. 233 Anm. 18 bringt schöne Beispiele auch von katholischer Seite, vgl. ferner Horst FUHRMANN, Kritischer Sinn und unkritische Haltung. Vorgratianische Einwände zu Pseudo-Clemens-Briefen, in: Aus Kirche und Reich (Festschrift Friedrich KEMPF), hg. von Hubert MORDEK (1983), S. 81–95. 7 Vgl. MIGNE PL 198 Sp. 1708B–C. – Zur Person: S. R. DALY, Peter Comestor: Master of Histories, Speculum 32 (1957) S. 62–73; James H. MOREY, Peter Comestor, bibli-
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Comestor war ein Schulautor, de praktisch allen Gebildeten zur Verfügung stand und dessen Zeugnis insofern schwerer wiegt als die nicht publizierten Notizen von Nikolaus von Kues oder Heinrich Kalteisen. Die Empörung der Gnesiolutheraner muß also relativiert werden – unter Gelehrten kann dies alles keine Sensation gewesen sein; beruft sich doch Flacius selbst auf das Urteil des Nikolaus von Kues in De concordantia catholica 8. Wenn die Briefe des Clemens schon im Früh- und Hochmittelalter argwöhnisch betrachtet worden waren, um wieviel mehr verdächtig mußten sie sein, nachdem Erasmus mit seinen neuen Ausgaben der Kirchenväter auch neue Maßstäbe hinsichtlich der Echtheitsprüfung in tradierten Textcopora gesetzt hatte. Dabei wurde die hier entwickelte Technik von katholischer Seite zur Herstellung besserer Textfassungen verwendet, die dann zum Druck kamen; auf protestantischer Seite kam sie zum Einsatz, um die Gültigkeit der Texte selbst zu erschüttern. „Halten wir“, schreibt Fuhrmann zusammenfassend, „das Bild fest, das und katholische Verteidiger einer von Fälschungen durchsetzten Tradition und ihre konfessionellen Gegner weiterhin bieten: Die Kritik folgte dem Glauben. Vom Ende her wird vielleicht manches leichter verständlich. Uns mag die Vorstellung schwerfallen, daß es eine Zeit gegeben haben soll, in der formale Echtheitskritik wenig galt, doch gerade an einer Nahtstelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, zu Beginn der Glaubensspaltung, wird sichtbar, daß man erst dann das Formalindiz einer Fälschung hoch zu schätzen begann, als man sich innerlich der mittelalterlich-katholischen Welt entzogen hatte“9. Allerdings waren sich Wigand und Judex nicht bewußt, daß sie mit den Angriffen auf die „Epistolae decretalium seu Pontificum“ eine generelle Einfallspforte in das Decretum Gratiani10 gefunden hatten, denn eine Rezeptionsgeschichte Pseudoisidors gab es noch nicht. Die Kampfbegriffe der katholischen Gegenseite verraten, wo die Centuriatoren stattdessen trafen. Man möchte Auctoritas und Traditio verteidigen; es geht nicht – oder jedenfalls nicht vorangig – um die Echtheit jeder einzelnen Zeile. Das muß man sich vergegenwärtigen, wenn man sich mit dem adversus Magdeburgenses Centuriatores pro epistolis decretalibus pontificum apostolicorum gewandten Werk des Jesuiten Francisco de Torres (1504– cal paraphrase, and the medieval popular Bible, Speculum 68 (1993), S. 6–35; Mark J. CLARK, Peter Comestor and Peter Lombard: brothers in deed, Traditio 60 (2005) S. 85– 142; – DERS., How to edit the Historia scholastica of P.C.?, Revue Benédictine 116 (2006) S. 83–91. 8 Einzelheiten bei HARTMANN, Kritik (wie Anm. 1) S. 200f. 9 FUHRMANN, Einfluß und Verbreitung (wie Anm. 2) 1, S. 133. 10 Es darf aber nicht übersehen werden, daß MC III, Sp. 182 die Kritik an falschen Autorzuschreibungen ausdrücklich auch auf Gratian ausgedehnt wird.
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1584) beschäftigt11. Torres war 1561–1563 päpstlicher Theologe beim Konzil zu Trient. 1567 trat er in den Jesuitenorden ein. Er gehörte zu den sogenannten Correctores Romani, wirkte also mit an der Vorbereitung des Corpus Iuris Canonici, das von Gregor XIII. 1582 erstmals publiziert wurde. Er trat ferner als Herausgeber der Apostolischen Konstitutionen12 und als Übersetzer griechisch-byzantinischer Texte hervor. In einer postumen Auseinandersetzung mit Albert Pigge, gen. Pighius (1490–1542)13, bewies er seine quellenkritischen Fähigkeiten14. Pigge hatte behauptet, die Griechen hätten die Akten des sechsten ökumenischen Konzils (= 3. Konzil von Konstantinopel, 680) mit der Verurteilung des Papstes Honorius I. (625–638) als monotheletischem Häretiker gefälscht 15. Wenn auch die Rolle, die die Honoriusfrage in der Infabilitätsdebatte des Ersten Vatikanum spielen sollte, für Torres nicht vorhersehbar war, so zeigt doch sein Eintreten für die Echtheit der Konzilsakten sein unabhängiges und klares Urteilsvermögen. Wohl aus ähnlichen Motiven machte er sich an seine Entgegnung auf die Kritik der Centuriatoren an den ‚apostolischen Dekretalen und Briefen‘. 11
Francisci Turriani Societatis Iesu aduersus Magdeburgenses Centuriatores pro Canonibus Apostolorum, & Epistolis Decretalibus Pontificum Apostolicorum Libri Quinque (Köln 1573). − Zum Verfasser: Carlos SOMMERVOGEL, Bibliothèque de la Compagnie de Jesus Bd. 8 (2 1898) S. 113–126; Otto KRESTEN, Zu griechischen Handschriften des Francisco Torres SJ, Römische Historische Mitteilungen 12 (1970) S. 179–196; FUHRMANN, Einfluß und Verbreitung (wie Anm. 2) 1, S. 9f. und 137; Georg KREUZER in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 12 (1997) Sp. 342f. 12 Constitutiones Sanctorum Apostolorum doctrina Catholica a Clemente Romano Episcopo et cive scripta libris octo, Francisci Turriani prolegomena & explanationes ... in easdem constitutione (Venetiis 1563), schon auf dem Titelblatt mit dem bedeutsamen Vermerk Haec nunc primum impressa sunt. 13 Zur Person: Remigius BÄUMER, Das Kirchenverständnis Albert Pigges. Ein Beitrag zur Ekklesiologie der vortridentinischen Kontroverstheologie, in: Volk Gottes. Zum Kirchenverständnis der katholischen, evangelischen und anglikanischen Theologie (FS Josef Höfer), hg. von Remigius BÄUMER (1967) S. 306–322; Walter T ROXLER in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 7 (1994) Sp. 610–612. 14 Francisci Torrensis De Summi Pontificis supra Concilia auctoritate ad Reuerendiß. Dominum Ioannem Salviatum Episcopum Cardinalem, Libri tres Eiusdem de Residentia pastorum iure diuino scripto sancita ad eundem liber. Eiusdem de actis veris Sextae Synodi, deque canonibus, qui eiusdem Sextae Synodi falso esse feruntur, & de Septima Synodo atque multiplici Octava ad eundem liber (Florentii 1551). 15 Zu diesem Komplex vgl. Georg KREUZER, Die Honoriusfrage im Mittelalter und in der Neuzeit (Päpste und Papsttum 8, 1975), zu Pigge ausführlich S. 137–145. – Das 3. Konzil von Konstantinopel wird MC VII, Sp. 414–455 behandelt; die Verurteilung des Honorius findet sich ebd. Sp. 448, sein inkriminierter Brief an Sergius ebd. Sp. 440f, eine Zusammenfassung des Briefes ebd. Sp. 224.
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Diese erschien erstmals Florenz 1572, dann Paris 1573; sie wird hier nach der dritten (und ersten deutschen) Ausgabe Köln 1573 zitiert. Torres nennt seine Absichten ganz klar, wenn er angesichts der Angriffe der Magdeburgenses ausruft: Si quis vero quærat, unde isti surrexerunt? Ex quo concessu, aut grege? Ex eorum sciat, qui ab ortu suæ disciplinæ omnes apostolicas traditiones, si possent, velut morte afficere, id est, omni authoritate & reverentia spoliare, & oblivione delere decreverunt 16.
Im übrigen ist sich Torres über die dogmatische Voreingenommenheit seiner Gegner mehr als im Klaren17 – läßt es aber, wie die Gegner auch, an Selbsteinsicht mangeln. Der Umstand, daß nach Torres eigentlich niemand mehr versuchte, die Echtheit Pseudoisidors zu verteidigen, verstellt den Blick darauf, daß die Argumentation der Centuriatoren eigentlich schwach war und im übrigen keineswegs den Fälschungskomplex als Ganzes ins Visier nahm, sondern sich vor allem auf die Pseudo-Klementinen stützte. Doch wies die pauschalisierte Ablehnung nun einmal in die richtige Richtung: Pseudoisidor ist unumstößlich eine Fälschung – und so war das blitzgescheite und mit Gelehrsamkeit überladene Werk von Torres umsonst geschrieben. Verfolgen wir die Argumentation der Centuriatoren im Detail. Sie wird in der zweiten Centurie vorgetragen und in der dritten mit anderen Textbeispielen wiederholt. Spätere Referenzen auf unechte Papstbriefe, wie etwa in der fünften Centurie18, sind unsystematische Nachträge aus den Notizen der Exzerptoren. Quia vero de multis magnis rebus ex iis testimonia proferuntur, non imprudenter faciunt ii qui non prius fidem testibus adhibent, quam ad normam veritatis & fidei singula examinarint. (MC II, Sp. 143)
Mit diesem apodiktischen Satz, der gleichermaßen Modernität und Alterität der Centurien und ihrer konfessionsgebundenen Methodik illustriert, wird der Angriff eröffnet. Dann folgt, im Stile und im Geiste des Erasmus, eine harte Mängelliste, die primär aus dem ersten Clemensbrief gewonnen
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TORRES, Adversus Magdeburgenses libri V (wie Anm. 11) fol. A*4v. Dies ist naturgemäß eines seiner Lieblingsthemen, vgl. T ORRES, Adversus Magdeburgenses libri V (wie Anm. 11) S. 152–158, 393, 613, 626–631. 18 MC V, Sp. 1236 im Hinblick auf Zosimus und das sechste Konzil von Karthago, vgl. MIGNE PL 130 (1886) Sp. 353–365. Konzilstext und Briefe entstammen der Collectio canonum Hispana (und gehören damit prinzipiell zum echten Traditionsgut Pseudoisidors). Hierzu Emil SECKEL, Pseudoisidor, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 16 (3 1905) S. 265–307, hier S. 273. Vgl. auch T ORRES, Adversus Magdeburgenses libri V (wie Anm. 11) S. 273–281, der hier zwar nicht im Detail aber im Grundsätzlichen im Recht ist. 17
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wird19: Man müsse bei diesen Briefen erkennen, nullo modo ab iis hoc seculo scribi potuisse, weil sie in Stil und Sprachformen nicht dem Latein des ersten und zweiten Jahrhunderts entsprechen (sondern von erheblich schlechterer Sprachqualität sind) 20, weil ihre Einleitungsformeln (initia & occasiones) und ihre Argumentationen sich ständig wiederholen (Hæ materiæ iisdem rationibus subinde repetuntur et inculcantur). Bestimmte Phrasen – insbesondere Titel – gehören niemals dem ersten oder zweiten Jahrhundert an, quales sunt Episcopus episcoporum, primates episcoporum, patriarcha archiepiscopi metropolitani: ut habentur in Clementis epistola 1. Item, Coepiscopi principes maiores, minores, pontifex propheta pro Christo, sacrificare, episcopum regulariter ordinatus: in Clementis epistola 3. (MC II, Sp. 143f.)
Vor allem die ausgefeilten Papsttitel werden in den Vordergrund gerückt21, wie überhaupt die zahlreichen Anspielungen auf eine ausgefaltete kirchliche Hierarchie als Anachronismus enttarnt werden22. Sie sind auch in anderen Centurien Gegenstand der kontroverstheologischen Polemik, etwa in der siebten Centurie zum Titel servus servorum Dei: Quem titulum quidem Romani pontifices superiori seculo usurpare cœperunt, quod etiam alii hoc seculo imitati sunt. Nam Laurentius, Mellitus & Iustus, Britonum episcopi, sese appellant Servos servorum Dei, in epistola ad Scotos: apud Bedam libro secundo, capite 19
Zum Verständnis der Kritik reicht die Widergabe der Briefanrede: CLEMENS JACOBO domino episcopo episcoporum, regenti Hebraeorum sanctam Ecclesiam Hierosolymis, sed et omnes Ecclesias, quae ubique Dei providentia fundatae sunt, cum Patribus, et diaconibus et caeteris omnibus Patribus, pax tibi sit semper. Ep. Clem. I. cap. I, hier wegen der größeren Nähe zu den Centuriatoren nach MIGNE PL 130 (1880) Sp. 19B–C; entspricht mit Abweichungen HINSCHIUS (wie Anm. 2) S. 30, 1–5 (dort z.B. richtiger cum presbiteris et diaconibus). Zu der Absurdität, daß der nach Ausweis von Act. Apost. 12, 2 längst hingerichtete Herrenbruders Jacobus Empfänger eines Briefes über das Martyrium Petri sein solle, vgl. HARTMANN, Kritik (wie Anm. 2) S. 195–197. T ORRES, Adversus Magdeburgenses libri V (wie Anm. 11) S. 210–212 erklärt dies mittels einer transfiguratio personæ – Petrus habe Clemens beauftragt, durch die Anrede des Jacobus als episcopus episcoporum alle Bischöfe anzusprechen. 20 T ORRES, Adversus Magdeburgenses libri V (wie Anm. 11) S. 1 kann dem listig entgegensetzen, daß es sich doch zwangsläufig um Übersetzungen aus dem Griechischen handeln muß. Er hat insofern Recht, als man die Grenzen zwischen den gänzlich gefälschten Clemens-Briefen und ihrem Vorbild beachten muß, den auf das 3. Jahrhundert zurückgehenden Ps.-Clementinischen Recognitionen, die als wichtige Quelle zum frühen Christentum anerkannt sind. Vgl. hierzu F. Stanley JONES, Pseudoklementinen, in: RGG 6 (4 2003), S. 1790. 21 Dementsprechend werden sie T ORRES, Adversus Magdeburgenses libri V (wie Anm. 11) S. 217f. wieder verteidigt. 22 Nam Petrus in suis epistolis, quarum postremam paulo ante mortem scripsit, nullam istorum graduum mentionem facit. (MC II, Sp. 146).
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quarto historiæ Ecclesiasticæ. Vitalianus papa in epistola ad Paulum, etiam sese servum servorum nominat. (MC VII, Sp. 223f.)
Andere Angriffspunkte bilden Hinweise auf Sakramente und die Abendmahlsfeier. Falsche Bibelzitate und schriftwidrige Aussagen23 werden ganz zu recht als violentius vero & crassius herausgestellt, die Widersprüchlichkeit der Briefe untereinander wird attestiert. Zeitliche Widersprüche werden, nicht zum ersten Mal, herausgestellt. Dann folgt ein weitaus schlagkräftigeres historiographisches Argument: Nihil de persequutionibus, nihil de periculis Ecclesiæ, & quassationibus, quas tamen frequentes fuisse certo constat, meminerunt: nihil item de doctrina, de officio Episcopali & cura gregis dicunt. Quid enim magis eo persecutionis tempore scribere convenisset, quam cohartari pios ad constantiam in confessione, & tolerantiam in cruce […] In aliorum huius seculi autorum scriptis hæ sunt vulgares materiæ (MC II, Sp. 145,14–28).
Anklänge an die loci communes, nach welchen die Centuriatoren ihr Material ordnen wollten, ist kein Zufall. Man sieht gleichsam das Achselzucken der Excerptores, die Wigand und Judex zur Hand gehen sollten: Nihil de persequutionibus, nihil de periculis Ecclesie. Es muß den Gnesiolutheranern, die mehr als manche früheren Denker wußten, was eine persecutio ecclesiae bedeutet, sofort aufstoßen, daß diese Papstbriefe aus der Zeit der Christenverfolgung nichts, aber auch gar nichts an Quellenmaterial für die Kirchengeschichte hergaben. Den Höhepunkt der Anklage gegen die Papstbriefe Pseudoisidors bilden sieben Hauptartikel corruptelæ sanæ doctrinæ (MC II, Sp. 149f.), die hier unter Auslassung aller Belege und Textverweise in Originalzitaten, aber nicht im vollen Wortlaut, zusammengefaßt seien: 1. discrimen veteris et novi testamenti tollitur 2. doctrina de libero arbitrio corrupte proponitur 3. doctrina de poenitentia viciatur: immiscetur enim satisfactio. 4. de iustificatione non recte docent. 5. non gratis, propter Christum, absque operibus, sola fide nobis salutem contingere docet 6. sana etiam doctrina de libertate Christiana multis modis depravatur 7. plane superstitiosum est … quod cum fiat sine Dei mandato, idololatricum et superstitiosum esse manifestum est.
Das Gesamturteil kann, nachdem die lutherischen Pflöcke derart fest eingerammt sind, nur vernichtend ausfallen: Die Briefe sind Ausgeburten der
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Vor allem solche über den den Hl. Petrus: Nam in Clement. 1. epist. Multa de Petro a veritate aliena dicuntur (MC II, Sp. 145) betrifft: Petrus, qui fuit primitiae electionis domini apostolorum primus, cui et primo deus pater filium revelavit, Ep. Clem. I. cap. XII, ed. HINSCHIUS (wie Anm. 2) S. 30, 8f. entspricht MIGNE PL 130 (1888) Sp. 19C, wo irrig darin ein Zitat von Matth. 16,17 gesehen wird, der dergleichen nicht hergibt.
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Diener des (papistischen) Antichristen, entstanden zur Blütezeit des Antichristen und keinesfalls zu Zeiten der Urchristen: Ex his pius lector facile intellegere potest, has literas haud ab aliis quam a ministris mysterii iniquitatis, nec alio tempore quam eo cum mysterium iniquitatis fuit in summo constitutum gradu, scribi potuisse. (MC II, Sp. 150)
Es handelt sich beim mysterium iniquitatis um eine Anspielung auf die Beschreibung der signa adventus Domini des Apostel Paulus, die seit je auf den Antichristen bezogen wurden. Biblische Grundlage ist 2. Thess. 2,7–8: Nam mysterium iam operatur iniquitatis; tantum qui tenet nunc, donec de medio fiat. Et tunc revelabitur ille iniquus, quem Dominus Iesus interficiet spiritu oris sui et destruet illustratione adventus sui24.
In der dritten Centurie wird dieser Vorwurf wiederholt; ebenfalls wiederholt werden (diesmal mit einer Zählung) acht Insignia dieses Zusammenhangs 25, hier wegen der höheren Übersichtlichkeit nach der dritten Centurie: Tum hæ epistolæ, tum eorum decreta, insignia mysterii iniquitiatis manifeste produnt, qualia sunt: I. II. III. IV. V. VI. 24
Prohibitio coniugii […] Prohibitio ciborum […] Distinctio laicorum et clericorum propter sanctitatem […] De non arguendis aut damnandis episcopis et sacerdotibus. […] De primatu Romane ecclesie […] De traditionum humanarum necessaria obligatione & superstitione […]
Im Griechischen heißt es µυγστήριον ἤδη ἐνεργεĩται τηɶς ἀνοµίας, zitiert nach Novum testamentum Graece et Latine, textum Graecum post Eberhardum NESTLÉ ed. K. ALAND [et al.], textus Latinus Novae Vulgatae ... Editioni debetur (26 1979). Das ist sehr nebulös; aber als Anspielung auf den Antichristen geläufig. Vgl. etwa die in den Centurien ausgewertete Altercatio Synagogae et Ecclesiae, in qua bona omnium fere utriusque Instrumenti librorum pars explicatur: opus pervetustum ac insigne, antehac nusquam typis excusum. Interlocutores Gamaliel et Paulus (Köln 1537) fol. LXXXVv: Tandem exiit ignis de Ramno, id est iniquitas de Antichristo, & consumpsit confidentes in vano. Luthers Bibelübersetzung wird deutlicher: Denn es reget sich schon bereits die Bosheit heimlich, ohne daß, der es jetzt aufhält, muß hinweggetan werden. Und alsdann wird der Boshaftige offenbaret werden, welchen der Herr umbringen wird mit dem Geist seines Mundes und wird sein ein Ende machen durch die Erscheinung seiner Zukunft. Zitiert nach: Martin LUTHER, Das Neue Testament, hg. von Hans Gert ROLOFF, 1. Text in der Fassung des Bibeldrucks von 1545 (Reclams Universalbibliothek 3741, 1989). Exakt kann man diese Übersetzung allerdings nicht nennen. Die Einheitsübersetzung (1980 u.ö.) spricht korrekter von der „geheimen Macht der Gesetzwidrigkeit“. 25 Vgl. MC II, Sp. 141 fast wortgleich: MC III, Sp. 182f.
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Idololatria & cultus deorum alienorum […] Contaminatio sacramentorum […]
Damit ist der apologetische Zirkelschluß perfekt: Die Papstbriefe müssen gefälscht sein, da sie nicht der wahren (d.h. lutherischen) Dogmatik entsprechen, und diese Dogmatik ist die wahre, weil jene der Papisten auf Fälschungen beruht. Wäre nicht der an Erasmus geschulte Einleitungsteil, so könnte man die Angriffe der Centuriatoren gegen die pseudoisidorischen Fälschungen getrost ad acta legen. Von einer minutiösen philologischen Kritik der Fälschung, wie sie 1628 durch den protestantischen Prediger David Blondel (1590–1655) vorgelegt wurde26, ist man noch weit entfernt. Der Angriff in der zweiten Centurie wird, vom rhetorischen Aufbau her nicht unbedingt überzeugend, noch um Hinweise auf eigene Quellenfunde ergänzt. Es wird darauf verwiesen, daß Eusebius qui Bibliothecam instructissimam habuit (MC II, Sp. 151) faktisch nichts über die frühen römischen Bischöfe mitteilt, ähnlich wissen Damasus und Hieronymus von den Papstbriefen nichts. Ganz zum Schluß wird über 24 Zeilen ein ungedruckter Traktat des Inquisitors Heinrich Kalteisen zitiert, dem die Autoren damit einen ungewöhnlich hohen Stellenwert einräumen, ohne jedoch anzugeben, woher sie den Text nehmen27. Erst vor wenigen Jahren konnte Martina Hartmann die Vorlage im Nachlaß des Heinrich Kalteisen28 (1390– 1465) im Landeshauptarchiv Koblenz Hs. 701/230 ausmachen. Ein eigentümliches und nach wie vor gültiges ‚Mysterium der Ungleichheit‘ hat aber auch die moderne säkulare Forschung nicht aufklären können. Wie soll man sich erklären, daß die mit dem Namen Pseudoisidor umrissene Fälscherwerkstatt einerseits ein erfolgreiches juristisches Kompetenzzentrum mit erstaunlichen philologischen Qualitäten bilden konnte, wo hunderte von Pergamentseiten füllende, komplizierte und sehr spezielle Texte kombiniert, umgeformt und in sich schlüssig in eine neue Richtung umgegossen wurden, wo andererseits aber anscheinend niemand in der Lage war, fundamentale Bildungslücken ausgerechnet im Bereich der Bi26
David BLONDEL, Pseudoisidorus et Turrianus vapulentes, seu editio et censura nova Epistolarum omnium, quas piissimis urbis Romæ præsulibus … Isidorus cognomento Mercator supposit (Genf 1628). Zu ihm FUHRMANN, Kritischer Sinn (wie Anm. 6) S. 83. 27 Vgl. HARTMANN, Kritik (wie Anm. 1) S. 206–209. Ohne Kenntnis dieses Beitrages wurde die Handschrift beschrieben von Eef OVERGAAUW, Die nichtarchivischen Handschriften der Signaturengruppe Best. 701 Nr. 191–992 (Mittelalterliche Handschriften im Landeshauptarchiv Koblenz 2, 2002), S. 185–192. 28 Zur Person: Thomas KAEPPELI, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi 2 (1975) Sp. 199–208; Bernhard D. HAAGE in VL 4 (21982/83) Sp. 966–980; Thomas PRÜGL, Die Ekklesiologie Heinrich Kalteisens OP in der Auseinandersetzung mit dem Basler Konziliarismus (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Neue Folge 40, 1995).
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bel aufzudecken und auszumerzen, die man andernorts einem Novizen übel angekreidet hätte. Da klingt es fast wie Satire, wenn ausgerechnet der erste Clemensbrief betont: Qui cathecizant, id est, qui verbo instruunt incipientes, primo oportet quod ipsi instructi sint, de anima enim agitur hominum. Et oportet eum qui docet et instruit animas rudes, esse talem ut pro ingenio discentium semetipsum possit aptare et verbi ordinem pro audientis capacitate dirigere29.
Das wird umso unverständlicher, je größer und gebildeter man den Personenkreis ansetzt, der an diesem Jahrhundertprojekt beteiligt war30. Solche Mängel erklären zwar gut, warum die Rechtssammlung nur zögerlich aufgenommen wurde. Erst als sie in die Reihe der normativen Texte aufgestiegen war, konnte sie die Geduld in Anspruch nehmen, die für jeden Gläubigen selbstverständlich ist. Man sieht es an der Toleranz, mit der die Widersprüche etwa in der Schöpfungsgeschichte der Genesis über Jahrtausende erläutert, diskutiert und eben ertragen wurden. Außerdem führt Kritik an den Clemensbriefen nicht automatisch dazu, daß die ganze Sammlung wertlos wird, die unselige Adressierung an Jacobus streng genommen nicht einmal dazu, daß die im ersten Clemensbrief enthaltene Lehre unsinnig wird. Erasmus hatte vielmehr gezeigt, wie man ein Textcorpus durch Kritik bereinigen kann. Im Falle des Ambrosius sind ihm die Centuriatoren darin auch gefolgt. Im Falle der Papstbriefe aber legte die konfessionelle Interessenslage ein anderes Vorgehen nahe. Sie ließen sich als anschauliches Beispiel für die Verruchtheit der Papisten nutzen – umso besser, wenn diese Verruchtheit sich mit solchen Eseleien paarte wie dem angeblichen Brief Clemens’ I. an den längst verstorbenen Herrenbruder Jacobus.
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Ep. Clem. I. cap. XII, Ed. HINSCHIUS (wie Anm. 2) S. 34,20–23 entspricht MIGNE PL 130 (1880), Sp. 24B–C. 30 FUHRMANN, Kritischer Sinn (wie Anm. 6) S. 90f. kann zeigen, daß sogar Kopisten der Pseudoisidor-Handschriften Unbehagen an den Clemens-Briefen bekundeten. Ihre Aufnahme in das Fälschungs-Corpus versteht er als schiere Panne; vgl. ebd. S. 88: „Ein böser Mißgriff unterlief den Fälschern“.
Register Das nachstehende Register verzeichnet Namen von Orten und Personen sowie Sachbetreffe. Adiaphoristen 10, 62, 130–134, 193 Agricola 141 Akindynos, Gregorios 189 Alanus von Lille 113 Albertus Magnus 205 Albona 53 Albrecht I., Hz. von Preußen 11, 177 Aleman, Ebeling von 13 Altenstaig, Johannes 181 Altercatio Synagogæ et ecclesiæ 183f., 240 Althochdeutsch 65, 67, 73, 75, 77, 81, 88–90, 92 Ambrosius Autpertus 114 Ambrosius von Mailand 198–199, 242 Amerbach, Johannes 86f., 197 Andreae, Jakob 33, 53f. Ansegis von Fontanelle 189 Anshelm, Thomas 176 Antichrist 47, 50, 131, 132, 240 Apokalyptik 48 Aquila, Caspar 11 Arianismus 132 Artopoeus, Theoderich 58 Augsburg 59, 133 Augustinus, Aurelius 216, 223f., 251 Aventin, Johannes 188, 207 Baldo de Lupetino 2, 134 Bale, John 8, 96–98, 100, 105, 108, 181, 192 Bamberg, SB – Msc. Patr. 106 104 Baronius, Caesar 6f., 10, 16, 220f. Basel 1, 11, 39, 66, 197, 207f., 221
Basel, UB – D IV 4 107 – Fr. Gr. 9 86 – O II 29 211–215, 217, 220, 222–231 Baudouin, François 44, 156 Beatus Rhenanus 26, 33, 35–39, 70, 73, 82, 84, 88 Bernhard von der Geist 100, 112–127 Bernhard von Morlas 97–100, 102, 107 Bernhard von Westerrode 104 Bernold von Konstanz 200 Berthold von Regensburg 205 Bibel 42, 46, 88, 175, 178, 242 – Luther-Bibel 72 – Paulusbriefe 199, 240 – Übersetzung von J. Eck 72 – Vulgata 72 Bibliander, Theodor 202 Biel, Gabriel 181, 195 Bischofswahl 8, 204 Blondel, David 241 Bollandus, Johannes 16 Bonaventura 205 Bonifatius – Briefe 57 Boxhole, John 194 Briefliteratur 208 Brotuff, Ernst 184–186, 208 Brunellus 83, 106 Bruschius, Caspar 207 Buchdruck 49, 176–178, 191 Bücherfässer 8 Buchpreise 12 Budé, Guillaume 50f. Bugenhagen, Johannes 6
244 Burchard von Ursberg 82, 104 Busaeus, Johannes 212–215, 219–221 Butzbach, Johannes 197 Calixt II., Papst 102 Calixt, Georg 44 Calvete de Estrella, Juan Cristóbal 72f. Calvin, Johannes 10, 156 Canterbury 8, 205 Caspar Lëunculus 192f. Cassander, Georg 44, 88 Celtis, Conrad 51, 101 Chronicon Carionis 131f., 188 Cicero, Marcus Tullius 141f., 145, 147 Claudius Rosseletus 107 Clemens I., Papst 235, 237 – Briefe 233–242 – Vita Clementis 234 Clemens VII., Papst 109 Codex Carolinus 3, 57 Codex Justinianus 230 Codex Theodosianus 230 Coelestin I., Papst 225, 230 Collectio Dionysiana 227-229 Cordesius, Johannes 202 Corpus iuris Canonici 236 Correctores Romani 236 Corvinus, Andreas 204 Crabbe, Petrus 234 Cranach, Lucas 6 Cromer, Martin 207 Cuspinian, Johannes 176–178, 199, 207 Cyprian, Bf. von Karthago 223 Darmstadt, UuLB – Hs. 675 104 Decretum Gratiani 235 Dessau 6 Deutscher Orden 195 Dionysius I., Bf. von Alexandrien 222 Dresden, SLB – Ms. R 147 185 Drucker 11f., 59, 66, 85, 87, 221 Eadmund von Abdington 205f. Eberhard von Dienheim 221 Ebionäer 234 Eck, Johannes 72 Einhart 75 England 8, 28, 205 Epiphanius 234 Erasmus von Rotterdam 25, 30, 42, 49, 175, 199, 235, 238, 241f.
Register Erfurt 30, 194 Erfurt, Bibl. Amploniana – 4° 21 110 Eusebius von Caesarea 222, 241 Evangelienbuch 82, 86 Fabelsammlung 110 Faber, Basilius 143, 148 Facio, Bartolomeo 197 Faesch, Remigius 221 Flacius Illyricus, Matthias 16, 59, 74, 113 – angebl. Autor der Centurien 14f., 17, 139, 143, 157, 204 – Arbeitsweise 5, 8, 13, 15, 39f., 44, 58, 75, 83–85, 87, 93, 99–102, 114, 139, 142, 150 – Bedeutung 4f., 20 – Bezug zum Humanismus 21, 27, 32– 35, 39, 41, 177f. – Bezug zur Antike 42 – Bibliothek 6, 15, 98, 178, 180, 204, 213 – Biographie 1, 4, 54, 129, 135, 142, 146, 182 – Briefe 1, 15, 44f., 56, 58, 60–63, 86, 135, 137, 214 – Carmina vetusta 95 – Catalogus testium veritatis 11, 20–22, 40, 43, 48f., 66f., 72–75, 79, 101, 130, 137, 150, 178, 186, 194, 202, 214 – Clavis scripturae sanctae 14, 59, 90 – culter Flacianus 6 – De sectis 47 – De translatione imperii 59 – Erbsünde 14 – Gegner 61, 63, 132–134 – Glauben 47, 51, 135 – Handschriftenfunde 3f., 7, 78–80, 95, 98, 100–102, 113, 189, 198, 200, 202 – Iudicium de methodo 145 – Lehrtätigkeit 2, 42 – Mittelalterbild 26 – Name 1, 43 – Otfrid-Edition 65f., 74, 81–91 – Philologie 38, 99 – Plan einer Kirchengeschichte 3, 9, 129–143, 148, 150, 175, 178, 182, 187, 209
Register – Quellen V, 60, 69, 82–85, 92, 134, 188, 190, 194, 235 – Quellenkritik 16 – Regensburg 53–63 – Reisen 4, 8, 9, 55, 58, 60, 83, 215 – Selbstverständnis 43, 45 – Textkritik 41 – Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata 95–127 Flavius Blondus 207 Flodoard von Reims 202f., 217f., 220 Florenz 237 Frankreich 8, 29 Fraterherren 110 Freising 70 Frühneuhochdeutsch 88– 90 Fugger, Ulrich 79, 85, 133, 156, 214 Fulda 4, 5, 21, 77 Funccius, Johannes 186 Gaguin, Robert 207 Galfred von Vinsauf 98, 100, 108 Gallus, Nikolaus 4, 9, 54–63, 143, 215 Gasser, Achill Pirmin 79, 82, 85–90 Gelasius I., Papst 229 Gemusaeus, Hieronymus 87 Gemusaeus, Polykarp 87 Gennadius von Marseille 196f. Gent 72, 73 Gerson, Johannes 192, 195 Gesner, Conrad 70, 85, 88, 177, 188 Gislebertus, angebl. Autor 183 Glossatoren 180 Gnesiolutheraner 10, 47, 189, 199, 235 Golias 97, 100, 105 Gorran, Nicolaus 192 Gregor I., Papst 224, 228, 230 Gregor XIII., Papst 236 Hadrian II., Papst 200 Hahn, Nikolaus 4, 87 Haller, Wolf 58 Hannover, Niedersächsische LB – I 245 214 Hannoversche Briefsammlung 57, 213 Häretiker, Ketzer 9, 38, 140, 157, 189, 236 Hedio, Kaspar 104, 177, 207f. Heidelberg 3, 33, 133, 143, 182 Heidelberg, UB – Cod. pal. lat. 52 77–82, 90
245
Heidentum 9 Heinrich III., dt. König 205 Heinrich IV., dt. König 140 Heinrich VII., Kaiser 99, 111 Heinrich Julius von Braunschweig und Lüneburg 6 Heinrich von Settimello 98, 108, 110 Heinrich von Würzburg 109 Helding, Michael 132, 134 Heliand 74f., 79 Henricus Gandavensis 197 Heriveus, Ebf. von Reims 217 Hermannus Minorita 190 Hermogenes 152 Hexameter 97, 112 Hieronymus de Vallibus 110 Hieronymus Stridonensis 39, 48, 196f., 241 Hieronymus Wolfius 190 Hilarus, Papst 225 Hildebert von Lavardin 98, 101f. Hildesheim 214 – Dombibliothek 83 – St. Michael 83 – Sültekloster 83 Hiltner, Johannes 58–61 Hinkmar von Laon 200–204 Hinkmar von Reims 200–204, 211f., 220, 251 – 55-Kapitel-Werk 204, 214, 216 – Ad Ludowicum Balbum 220 – Briefe 202, 212, 218 – Collectio contra haereticos 211–221 – De baptismo 216 – De cavendis vitiis 203, 211–214, 218, 220 – De divortio Lotharii regis 216 – De fide Carolo regi servanda 218, 220 – De iure metropolitanorum 215–218 – De ordine palatii 211f., 216–218, 220 – De praedestinatione 202, 204 – De presbyteris criminosis 212, 217– 220, 230 – Überlieferung 56, 201, 215, 221 Historiographie 20, 23, 35–38, 44, 131, 134, 135, 137, 178 – konfessionelle H. 38 – Nationalgedanke 43 Holzhuter, Thomas 204
246 Honorius Augustodunensis 197f. Honorius I., Papst 236 Hoppius, Titus 3 Hrabanus Maurus 82 Hrotsvit von Gandersheim 101 Humanismus – 15. Jh. 67, 69, 175, 208 – 16. Jh. 1, 4, 7, 19–52, 175–177, 181f. – Definition 19–52 – Deutschland 26–30, 93, 99 – Europa 34, 44 – Historiographie 35–38, 41, 45f., 186 – höfische Kontexte 27 – nach 1540 31 – Nationskonstrukt 23, 25, 27, 30, 43 – Textkritik 175 – u. Reformation 28 Hus, Johannes 140 Hyperius, Andreas 10, 156 Innozenz III., Papst 205 Innozenz IV., Papst 205 Interim 133, 136 Investiturstreit 57 Irland 8 Isidor von Sevilla 196 Islam 9, 132 Jacobus d. J., Apostel 235, 238, 242 Jacobus de Voragine 207 Jena 10, 13, 14, 42, 53, 55, 58, 129, 143, 148 Joachim von Fiore 190 Johann Albrecht I., Herzog von Mecklenburg-Schwerin 96 Johann von Wesel 193–195 – De indulgentiis 194 – Überlieferung 194 Johannes de Friburgo 205 Johannes VIII., Papst 212, 218, 230 Johannes XXIII., Papst 108 Johannes Zonaras 190 Judentum 9, 184 Judex, Matthias 13, 20, 129, 140–147, 150, 157, 175, 181, 182, 209, 235, 239 Julius II., Papst 109 Kallimachos 195 Kalteisen, Heinrich 235, 241 Karl der Große, Kaiser 68 Karl der Kahle, Kaiser 200, 212, 218, 230
Register Karl III., Kaiser 212 Karl V., Kaiser 133 Karlsruhe, BLB – K 354 113, 114 Kelle, Johann 70, 77 Kirchenordnungen 132, 136 Kirchenreform 28, 30 Koblenz, LandesHA – Hs. 701/230 241 Köln 9 Konfessionalisierung 22, 28–34 Königsberg 177 Konkordienformel 134 Konstantinische Schenkung 7, 51, 59, 233 Konstantinopel 189 Konziliarismus 50 Konzilien u. Synoden – Antiochia (341) 227 – Attigny (870) 203 – Basel (1431–1449) 189 – Chalcedon (451) 229 – Douzy (871) 203 – Konstantinopel (680) 236 – Konstanz (1414–1418) 189, 194 – Nicäa (325) 140, 216, 222, 226, 228 – Trient (1545-1563) 236 – Trosly (909) 217 – Tusey (860) 203 Köppe, Martin 13, 142–147 Krantz, Albert 186, 188, 207f. Küchmeister, Michael 194 Laon, Bibl. Mun. – Ms. 603 216 Lateinschulen 29 Leges Baiuvariorum 8 Leipzig 40, 79, 184 Leo I., Papst 229f. Leo X., Papst 100, 109 Leyser, Polycarp 102 Liber pontificalis 190 Ligurinus 101 Litauen 195 Liturgie 5, 9, 132, 134, 136 Liutbert von Mainz 74, 77, 79–84 Livius, Titus 70 Loci communes 35, 75, 131, 137, 143– 145, 149–151, 154–157, 187, 192, 208 Lohnschreiber 9
Register Lucius, Ludwig 95 Ludwig der Fromme, Kaiser 74 Ludwig der Stammler, westfrk. König 212 Ludwig IV., Kaiser (L. d. Bayer) 59 Lupold von Bebenburg 59 Luther, Martin 1–3, 6, 10, 19, 30, 33, 47, 49, 50f., 72, 134, 176, 178, 195, 207 Maaler, Josua 82 Mabillon, Jean 16 Machiavelli, Niccolo 50 Magdeburg 8–15, 129, 133, 143, 148 – St. Marien 78 – St. Ulrich 129, 146 Magdeburger Centurien, Centuriatoren 3f., 11, 20, 74, 87, 156, 175, 183, 187, 200–208, 211, 233 – Arbeitsweise 8, 13, 139, 148, 175, 187, 192 – Aufbau des Werkes 9, 75, 131, 137, 145, 187, 239 – Bedeutung 5f., 16f., 37, 65, 180, 186, 191, 198, 208, 233, 238 – Drucklegung 12, 188 – Exzeptoren 13 – Finanzierung 12 – Freiexemplare 12 – Kollektoren 13, 156, 180, 209 – Kritik 15, 220, 237 – Leitung 9, 175, 182 – Loci communes 145 – Methode 39, 42, 45, 66, 129–173, 181, 186, 209, 234, 237–242 – Quellen 15, 17, 55, 58, 78, 81, 102, 155f., 175, 179, 182, 184, 185, 198– 199, 204f., 208, 213f. – Scriptor 142f., 147f., 150–155, 194, 201 – u. Flacius 14, 67, 75, 143, 178 – Vorgeschichte 4, 5, 55, 138, 188, 213–215, 221 – Zielsetzung 10, 37, 39, 102, 180, 206, 235 Major, Georg 62, 130, 136 Mansi, Dominico 16 Map, Walter 97, 99f., 106f. Marianus Scotus 191 Martin von Troppau 201, 207 Märtyrer 9
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Maximilian II., Kaiser 2, 54f., 57, 59, 156 Melanchthon, Philipp 1, 2, 5f., 10f., 15, 21, 30, 32, 39, 41, 44–47, 55, 130– 132, 137, 141, 142, 176–178, 181f., 185, 207–209 Merseburg 132 – St. Peter 185 Meyer de Bailleul, Jacques 207 München 57, 60, 61 München, BSB – cgm 14 70, 77 – clm 14387 190 – clm 14427 214 München, UB 179 – 2° H. eccl. 104 81 – 2° P. Eccl. 67 183 Mylius, Crato 208 Netter, Thomas 192, 194f. Nicolaus de Byard 181 Nicolaus von Bibra 100 Nicolaus von Clémanges 95, 100, 109f. Nidbruck, Caspar von 1–5, 7–9, 45, 55f., 79, 135–143, 155, 156, 182, 187, 214f., 221 Nikolaus I., Papst 189 Nikolaus von Kues 21, 235 Notker Balbulus 196 Notre-Dame-Repertoire 96, 101, 103 Novatian 222f. Oporinus, Johannes 11, 87, 100, 188, 208, 221 Osiander, Andreas 136 Otfrid von Weißenburg 65–75, 77–79, 83 – Edition 1571 85–90 Ottheinrich von der Pfalz 3, 48, 135– 137, 156, 181f., 187, 190f., 197, 208 Otto von Freising 82 Palpanista 112f. Pan, Petrus 3 Pantaleon, Heinrich 43 Papsttum 3, 6–9, 47, 109, 132, 152, 189, 205, 233 Paris 206f., 234 – Mauristen 16 Paris, BN – Lat. 1594 204 – Lat. 12445 216 Parker, Matthew 8
248 Paul II., Papst 109 Paulus, Apostel 240 Petrarca, Francesco 25, 50 Petri, Suffridus 197 Petrus Comestor 234 Petrus Damiani 57 Petrus Diaconus 197 Petrus Lombardus 195 Petrus Pictor 99 Petrus, Apostel 7, 235, 238 Peutinger, Conrad 104 Philipp II., span. König 72 Philippisten 6, 11, 32, 136, 141 Photius 189, 190 Pigge, Albert 236 Pithou, Pierre 202 Pius II., Papst 50, 197 Platina, Bartholomeo 50, 207 Plinius Secundus (d. Ä.), Gaius 196, 209 Plinius Secundus (d. J.), Gaius 142 Pomesanien 14, 148 Pontigny, Zisterzienser 205 Praetorius, Gottschalk 13, 131, 141– 143, 147, 153, 155, 157 Prag 113 Pseudoisidor 7, 233, 237, 241 Quintilianus, Marcus Fabius 141, 142, 147 Ratramnus von Corbie 202, 203 Ravenna 200 Reformation 17, 31, 33 – Apokalyptik 45, 47 – Begründung 6 – Bildungsgeschichte 34, 38, 44 – Buchwesen 177 – Deutschland 30, 134 – Historiographie 36 – u. Humanismus 22, 28, 29, 30 – Regensburg 59 – Zielsetzungen 49 Regensburg 3, 8, 14, 54–61, 78f., 188, 190, 214 – Kollegiatstifts zur Alten Kapelle 57 – Sankt Emmeram 214 Regensburg, StA – Eccl. I, 3, 57 59 – Eccl. I, 4, 88 55 – Eccl. I, 17 62 – Eccl. I, 17, 14 58
Register – Eccl. I, 17, 27 60 – Eccl. I, 17, 31 61 – Eccl. I, 17, 33 54 – Eccl. I, 17, 46 60 – Eccl. I, 18, 23v 143 – Eccl. I, 21 62 – Eccl. I, 21, 16 63 – Eccl. I, 21, 26 63 – Eccl. I, 21, 29 58 – Eccl. I, 21, 48 63 – Eccl. I, 26, 81 53 Reichstage – 1521 (Worms) 189 – 1530 (Augsburg) 70 – 1548 (Augsburg) 132 – 1556 (Regensburg) 57 – 1556/57 (Regensburg) 57 – 1566 (Augsburg) 59 Remigius, Bf. von Reims 200f. Rhetorik 23f., 29, 75, 142, 147, 149, 151 Riedesel, Adolph Hermann 87f. Robert, Bf. von Hereford 194 Rom 7, 56, 98f., 189, 205 Rostock 192 Rußland 56 Ruysbroek, Johannes 192 Sachsen 17, 61, 193 Salomo III., Bf. von Konstanz 77, 88 Salomo, Herzog der Bretagne 81 Salutaris Poeta 98 Samland 14 Satire 98 Schottland 8 Schwenckfeld, Caspar 136 Serlo von Bayeux 110 Sidonius Apollinaris, Gaius Sollius Modestus 102 Sigebert von Gembloux 197, 201 Silvester I., Papst 7 Simonie 98 Sirmond, Jacques 203, 220 Sixtus IV., Papst 108 Sleidanus, Johannes 46 Sozomenus 198 Speyer, Dombibliothek 213, 219–221 Spottepigramme 100 St. Gallen 88 St. Gallen, StiB – Cod. 56 73
Register Stabatstrophen 112 Stock, Markus 73 Straßburg 79, 86, 221 Stuttgart, WLB – Cod. Hist. 2° 632 75 Tanner, Georg 10, 156 Tatian 73 Textkritik 28, 39, 52, 175 Thietmar von Merseburg 184, 185 Thou, Jacques Auguste de 202 Tierepik 100 Torres, Francisco de 200, 236–238 Traube, Ludwig 99 Tribur 189 Trithemius, Johannes 49, 50, 67, 70f., 75, 81, 83, 88, 92f., 175–177, 183, 186, 188, 190, 191, 197, 199, 200– 208 Tübingen 1, 43, 53, 54, 176f. Tucher, Stephan 10 Universalienstreit 195 Universität 29, 48 Utraquisten 135 Valla, Lorenzo 51 Vatikan, BAV – Cod. pal. lat. 1879a 187 Veltbeck, Pankraz 148 Venedig 1, 2, 134 Vener, Job 58, 221 Vergenhans, Johannes (gen. Naukler) 176, 207 Vinzenz von Beauvais 205–207 Wagner, Marcus 8, 58, 78, 97, 150, 159 Wala von Metz 200f. Waldner, Wolfgang 61, 63 Waldo von Freising 71, 77 Walter von Châtillon 95–97, 103–105, 109, 112f. Wessel Gansfort 193–195 Wien 2, 9, 182 Wien, ÖNB 2, 8, 55, 198
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– Cod. 388 190 – Cod. 632 190 – Cod. 2687 77 – Cod. 5580 57, 79 – Cod. 9737i 156 – Cod. 9737k 156 – Cod. 10364 156 Wien, Schottenkloster 85 – Cod. 733 81 Wigand, Johannes 10, 13–17, 20, 57, 129, 138f., 140–148, 151, 154, 157f., 168, 175, 180–182, 187, 198, 204, 209, 235, 239 Wilhelm von Tyrus 204 Wimpfeling, Jakob 23 Wismar 14, 16, 148 Witold, Großfürst von Litauen 194 Wittenberg 1, 2, 10, 28f., 40, 53, 55, 79, 130–133, 136, 176 Wolfenbüttel, HAB 5, 6, 15, 17, 156 – Cod. 6.5 Aug. 2° 17 – Cod. 10.20 Aug. 2° 135 – Cod. 11.11 Aug 2° 192–194 – Cod. 11.11 Aug. 2° 179 – Cod. 11.20 Aug. 2° 17, 131, 138, 140, 143, 144, 158–173 – Cod. 11.5 Aug. 2° 17 – Cod. 11.6 Aug. 2° 17 – Cod. 37.34 Aug. 2° 98, 100, 107–109 – Cod. Guelf. 205 Helmst. 82, 104 – Cod. Guelf. 494 Helmst. 78 – Cod. Guelf. 628 Helmst. 96, 103 – Cod. Guelf. 1043 Helmst. 78 – Cod. Guelf. 1099 Helmst. 96, 100, 103 – Cod. Guelf. 1102 Helmst. 83, 100, 106 – Cod. Guelf. 1334 Helmst. 78 Wolfger von Prüfening 197 Wouters, Cornelius 44 Wycliff, John 140, 194f.