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German Pages 396 [409] Year 1997
Karl-Norbert Ihmig
Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des ›Erlanger Programms‹
Meiner
CASSIR ER-FORSCHUNGEN
CASSIR ER-FORSCHUNGEN
Band 2
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Karl-Norbert Ihmig
Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des ›Erlanger Programms‹
FELIX MEINER VER LAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1345-7 ISBN eBook: 978-3-7873-3578-7
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Inhalt
Vorwort I. Entwicklung des Themas...................................................... 1. Cassirer zwischen philosophischer Tradition und den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts. Einige Grundprobleme .................................................... 2. Cassirer als systematischer Philosoph............................ 3. Systemgedanke und Invariantentheorie ......................... I!. Cassirers Rezeption von Descartes und Leibniz ................. 1. Cassirers Konzeption der Rolle der Philosophieund Wissenschaftsgeschichte........................................... 2. Descartes' System der Erfahrung.................................... a) Die Verbindung von Philosophie und Wissenschaften bei Descartes .. .. ................ .... .. .. .. ....... b) Descartes' System und >mos geometricus< ................ c) Die Anwendung der analytischen Methode auf die Optik................................................................ 3. Die Einheit des Systems bei Leibniz .............................. a) Allgemeine Bemerkungen zu Cassirers Deutung des leibnizschen Systemgedankens ............................ b) Realdefinition und >EinheitEinzelbegriffe< ............................ b) Der Raum als formale Anschauung und die Geometrie...............................................................
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1 19 29 40 40 48 48 54 72 85 85 98 114 124 133 133 158 181 184 189
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Inhalt
c) Bild und Schema .. ................. .......... ........................... .. d) Konstruktion, reale Möglichkeit und Objektivität.. e) Kant und die projektive Geometrie........................... 4. Cassirers Weiterbildung des kantischen Systemgedankens zum System des >kritischen IdealismusErlanger Programm< Felix Kleins als Paradigma eines Systems von Invarianten ...... ............ ........................... 1. Einleitende Bemerkungen ............................................... 2. Cassirers Theorie des Begriffs......................................... 3. Das >Erlanger Programm< Felix Kleins.......................... a) Die Vorgeschichte........................................................ b) Der Inhalt des >Erlanger ProgrammsWiener Kreises>am schärfsten umrissenen in der Gegenwart herrschenden philosophischen Systeme« der Neukantianismus und der Positivismus bzw. der logische Empirismus wären. (Schlick, PBR, S.131.) Diese Einschätzung läßt sich durchaus auch noch auf die 20er Jahre erweitern, in denen beide genannten Schulrichtungen auf die philosophischen - und hier insbesondere auf die wissenschaftsphilosophischen - Debatten im deutschsprachigen Raum großen Einfluß ausübten. Das hatte insbesondere damit zu tun, daß das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften für beide gleichermaßen eine zentrale Rolle spielte. Nachdem ab 1933 viele exponierte Vertreter sowohl des logischen Empirismus als auch des Neukantianismus der politischen Verfolgung ausgesetzt waren und ins Exil gezwungen wurden, verlor die Wirkung dieser beiden Schulen zunehmend an Boden, und einer interessanten und fruchtbaren philosophischen Diskussion war damit ein Ende gesetzt. Zu denjenigen, die Deutschland 1933 verlassen mußten, zählte auch Ernst Cassirer. Nach einer Odyssee über Großbritannien und Schweden landete er schließlich 1941 in den USA. Die USA waren auch der Zufluchtsort vieler Anhänger des logischen Empirismus. Während letztere sich dort mit der Zeit etablieren und ihre Ideen weiterentwickeln konnten, blieb Cassirer eine derartige Wirkungsmöglichkeit versagt. Er starb- knapp 71jährig- am 13.April 1945 in New York auf dem Campus der Columbia Universität an einem Herzversagen. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg wurde Cassirers umfangreiches Werk eher sporadisch rezipiert. 1 Dies hat sich jedoch im Laufe der Zeit geändert. Gerade in den letzten zehn bis fünfzehn Jahrenist ein zunehmendes Interesse an der Philosophie Cassirers zu verzeichnen. Dabei steht vor allem der >Kulturphilosoph< Cassirer im Mittelpunkt, der mit seiner Philosophie der symbolischen Formen Eine Zusammenstellung seiner Schriften, die ca. 120 Titel- Bücher und Aufsätze - umfaßt, findet man beispielsweise in Graeser 1994, S. 214-220. V gl. dazu auch die Bibliographie Eggers/Mayer 1988. Seit einiger Zeit wird auch an der Herausgabe des Cassirerschen Nachlasses, der sich im Besitz der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale Universität befindet, gearbeitet. Das Projekt der Nachlaß-Herausgabe leitenJohn Michael Krois und Oswald Schwemmer. Vgl. dazu Krois/Schwemmer 1995, S. 155. 1
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Vorwort
eine umfassende Synthese von Philosophie, Natur- und Geisteswissenschaften angestrebt hat. >>Stellt man sich unter einem Philosophen einen umfassend gebildeten Denker vor, der die Probleme der Einzeldisziplinen versteht und über die Grenzen der Wissenschaften hinausblickt, so ist Ernst Cassirer einer der letzten. In Logik, Mathematik, Physik, Psychologie, Anthropologie, Sprachwissenschaft, Geschichte, Literatur und Kunst gleichermaßen bewandert, nahm er mannigfache Anregungen der Einzeldisziplinen auf und bereicherte seinerseits viele Wissenschaften« (Graeser 1994, S. 2). Bislang kaum beachtet worden ist dagegen seine Wissenschaftsphilosophie. Sie war jedoch in Verbindung mit seinen philosophie- und wissenschaftshistorischen Studien der Ausgangspunkt aller seiner späteren Ideen. Insbesondere über diese Verbindung ist wenig bekannt; denn Cassirer gilt eher als Philosophiehistoriker und weniger als systematischer Philosoph. Ein näherer Blick auf seine Schriften zeigt indes, daß er gerade auf diese Verbindung größten Wert legte. Cassirer hätte den Satz, daß Wissenschaftsgeschichte ohne Wissenschaftstheorie blind und Wissenschaftstheorie ohne Wissenschaftsgeschichte leer sei, gewiß ohne Einschränkung unterschrieben. Aufgrund dieser innigen Verknüpfung von Wissenschaftsphilosophie und Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, die man bei keinem anderen Philosophen des 20. Jahrhunderts findet, und die ihn auch von seinen Marburger Lehrern Cohen und Natorp unterscheidet, kommt Cassirers Philosophie eine allgemeinere Bedeutung zu, die über das spezielle Interesse des Cassirerforschers hinausreicht. Diese übergreifenden Gesichtspunkte, die eine Beschäftigung gerade mit Cassirers wissenschaftsphilosophisch und erkenntnistheoretisch orientierten Schriften interessant erscheinen lassen, kann man in vier Fragen zusammenfassen. Welche Bedeutung besitzt das kantische Begründungsprogramm objektiver Erkenntnis für die modernen Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften? Was kann man aus der Beschäftigung mit Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte über die Herausbildung der neuzeitlichen Wissenschaften lernen? Worin besteht das Wesen des Fortschritts in den (Natur-)Wissenschaften? Um herauszufinden, wie Cassirer diese Fragen zu beantworten versucht, müssen die Voraussetzungen, von denen er dabei ausgeht, näher untersucht werden. Diese Voraussetzungen- und das ist die grundlegende These dieser Arbeit- konzentrieren sich bei ihm in einer besonderen Ausgestaltung der Idee eines philosophischen Systems, und zwar in der Form eines Systems der Erfahrung bzw. eines Systems der lnva-
Vorwort
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rianten der Erfahrung. Was damit inhaltlich gemeint ist, wird im ersten Kapitel der Arbeit ausführlich entwickelt und braucht an dieser Stelle nicht näher erörtert zu werden. Der Nachweis, daß in der Anwendung des Systemgedankens in dieser spezifischen Form auch der rote Faden der Verbindung zwischen seinen philosophie-und wissenschaftshistorischen Arbeiten und seinen Analysen zur neueren Physik zu sehen ist, machte im Grunde zwei Untersuchungen erforderlich, die sich jeweils auf die Prüfung der genannten These in beiden Bereichen zu beziehen hätten. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich als ein erster Schritt auf Cassirers philosophie- und wissenschaftshistorische Arbeiten und geht der Frage nach, wie Cassirer den Gedanken eines Systems der Erfahrung in seiner Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition entwickelt. Die Verbindung zur Wissenschaftsgeschichte wird durch seine Rezeption des >Erlanger Programms< hergestellt, welchem für seinen Systembegriff eine paradigmatische Bedeutung zukommt. Cassirers Rezeption dieses Programms kann als Beispiel für eine fruchtbare Wechselbeziehung von Philosophie und Einzelwissenschaften gelten. Was die methodische Vorgehensweise in dieser Arbeit betrifft, so ist sie weitgehend von dem Charakter der cassirerschen Schriften abhängig. Seine Schriften sind auf den ersten Blick recht gut lesbar; bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß sie in ihrer Breite und Tiefe äußerst voraussetzungsvoll sind und gelegentlich einen fast hermetischen Eindruck vermitteln. Um einen Zugang zu gewinnen, ist es häufig unerläßlich, sich mit diesen Voraussetzungen vertraut zu machen, die zum größten Teil auf die Auseinandersetzung mit den Autoren zurückzuführen sind, die Cassirer gekannt und rezipiert hat. 2 Darüber hinaus scheint er davon auszugehen, daß der Leser eines seiner Werke bereits mit den Grundgedanken vertraut ist, die er in seinen vorangegangenen Schriften auseinandergesetzt hat. Dieser Umstand hängt mit einer weiteren Eigentümlichkeit des cassirerschen Opus zusammen. Seine Schriften sind weniger als isolierte Einzelwerke zu verstehen, sondern sie verfolgen allesamt eine bestimmte Grundidee, die in ihren unterschiedlichen Aspekten beleuchtet wird. Diese Grundidee läßt sich schlagwortartig mit dem Übergang vom >Sub-
2 Paetzold beschreibt Cassirers Stil ganz zutreffend wie folgt: »Nicht paradoxe Zuspitzungen und aphoristische Kürze sind Qualitäten des Cassirerschen Schreibstils, sondern epische Breite, die sich gleichwohl nie in skurrilen Details verliert, sondern einem einmal gefaßten Ziel sich durch geduldige, langsame Schritte annähert.« Paetzold 1995, S. 20.
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Vorwort
stanzbegriff zum Funktionsbegriff< beschreiben. Dahinter verbirgt sich die Gegenüberstellung zweier Erkenntnisauffassungen, die jeweils einen ganzen Komplex von Problemen und Fragestellungen beinhalten. Diese Charakteristika des cassirerschen Gesamtwerks legen eine problemorientierte Herangehensweise nahe, die zugleich bemüht sein muß, die übergreifenden Zusammenhänge herauszuarbeiten, in die die cassirerschen Überlegungen eingebunden sind. Einzelne Passagen und Zitate aus Cassirers Werken lassen sich dann dadurch erläutern, daß sie in diese Zusammenhänge eingeordnet und zu ihnen in Beziehung gesetzt werden können. Die Texte können dabei durchaus ganz unterschiedlichen Zeiten entstammen; sofern sie demselben Problemzusammenhang angehören, sind sie gleichermaßen geeignet, den cassirerschen Standpunkt einzugrenzen. Bei der Untersuchung von Cassirers historischen Studien ist darüber hinaus zu beachten, daß drei Ebenen auseinandergehalten werden. Die erste Ebene betrifft die Darstellung der Meinungen von Descartes, Leibniz und Kant unabhängig von der cassirerschen Interpretation derselben. Die zweite Ebene hat es dann mit Cassirers Meinung über Descartes, Leibniz und Kant zu tun. Die dritte Ebene schließlich ist die Interpretationsebene des Autors, die natürlich in gewissem Sinne schon in den ersten beiden Ebenen eine Rolle spielt und die insbesondere den Gesichtspunkt bestimmt, unter dem die Ebenen eins und zwei in Beziehung gesetzt werden; denn der Gedanke, Cassirers Interpretation der genannten Philosophen unter der Perspektive der Invariantenbildung zu betrachten, ist eine Rekonstruktion des Autors. Dieser Gedanke besitzt zwar in dem cassirerschen Systembegriff sein Fundament, aber er wurde von Cassirer selbst- zumindest in den früheren Jahren (d. h. 1899-1907) noch nicht explizit in Anschlag gebracht. Der Autor hat sich bemüht, diese Ebenen - so gut es ihm möglich war- zu trennen. Die cassirerschen Schriften, die zugrunde gelegt werden, umfassen den größten Teil der Werke, die philosophie- und wissenschaftshistorischen Inhalts sind - insbesondere was seine Darstellung von Descartes, Leibniz und Kant angeht - sowie seine erkenntnistheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Arbeiten. Da der Hauptteil dieser Schriften in die frühe Schaffensperiode von Cassirer fällt (d. h. bis ca. 1921 ), so führen die genannten Auswahlprinzipien vor allem auf eine nähere Beschäftigung mit Cassirers frühen Schriften. Dazu zählen insbesondere seine Dissertation über Descartes (1899), sein Leibniz-Buch (1902), die ersten drei Bände über die Geschichte des Erkenntnisproblems (1906/1907 /1920), sowie Substanzbegriff und Funktionsbegriff (191 0), Kants Leben und Lehre (1918) und Zur Ein-
Vorwort
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steinschen Relativitätstheorie (1921). Es gibt aber auch noch eine Reihe späterer Werke, die in dem gewählten thematischen Zusammenhang von Bedeutung sind und berücksichtigt werden mußten. Wichtig sind dabei vor allem der dritte Band der Philosophie der symbolischen Formen (1929), Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1937) und der vierte Band der Geschichte des Erkenntnisproblems (1950/postum). Für Cassirers Rezeption des >Erlanger Programms< sind weiterhin noch zwei Aufsätze aus den Jahren 1944/45 von großer Bedeutung, von denen einer erst 1979 aus seinemNachlaß publiziert wurde. Für alle weiteren Aufsätze, Reden und Manuskripte sei auf das Literaturverzeichnis verwiesen. Abschließend ist noch kurz auf die Zitierweise einzugehen. Die zitierten Schriften insgesamt werden in zwei große Gruppen aufgeteilt: in Quellen und Sekundärliteratur. Die Quellen ihrerseits unterteilen sich in 1) die Schriften Cassirers, 2) die Schriften Descartes', 3) die Schriften Leibniz', 4) die Schriften Kants und 5) die übrigen Quellen. Dabei werden Cassirers Schriften (und nur diese) ohne Namensnennung mit der Abkürzung des jeweiligen Werkes zitiert. Die Abkürzungen sind im Literaturverzeichnis alphabetisch geordnet und erklärt. Alle übrigen Quellen werden mit Namensnennung und Abkürzung für das jeweilige Werk bzw. die jeweilige Werkausgabe zitiert. Die übrigen Quellen sind alphabetisch nach den Namen der Autoren geordnet. Werden mehrere Werke eines Autors zitiert, dann sind die Abkürzungen der Werke in alphabetischer Reihenfolge unter dem Namen des betreffenden Autors zu finden. Die Sekundärliteratur wird nach der allgemein üblichen Methode mit Namensnennung, Angabe der Jahreszahl und Angabe der Seitenzahl zitiert. Dabei bezieht sich die Jahreszahl stets auf das Erscheinungsdatum der benutzten Ausgabe. Die Liste der Sekundärliteratur ist alphabetisch nach den Autorennamen sortiert. Sind von einem Autor mehrere Werke zitiert, so sind diese unter dem betreffenden Autor in der Reihenfolge der Jahreszahlen zu finden. Die Angaben der Belegstellen direkter und indirekter Zitate werden in Klammern in den fortlaufenden Text eingefügt. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld als Habilitationsschrift angenommen und für die Drucklegung noch einmal überarbeitet. An dieser Stelle möchte ich dem Felix Meiner Verlag für seine Bereitschaft danken, die Arbeit in der Reihe Cassirer-Forschungen erscheinen zu lassen.
Bielefeld, im Oktober 1997
Karl-Norbert Ihmig
I. Entwicklung des Themas
1. Cassirer zwischen philosophischer Tradition und den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts. Einige Grundprobleme
Über fünfzig Jahre lang, vor allem in der Zeit zwischen 1870 und 1920, hatte die philosophische Schulrichtung des Neukantianismus eine fast beherrschende Stellung an den deutschen Universitäten inne. 1 Die Wurzel des Neukantianismus ist in der um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Forderung nach einer engeren Anhindung der Philosophie an die Einzelwissenschaften zu suchen. Um dieser Forderung nachzukommen, erschien vielen eine Hinwendung zu Kant deshalb besonders vielversprechend, weil die »prinzipielle Spaltung«, die sich zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften mehr und mehr andeutete, zu Kants Zeiten noch nicht bestanden habe, sondern die kantische Philosophie noch eng mit den Grundlagen der damaligen Naturwissenschaften verflochten war. Als ein Vertreter dieser Anschauung ist insbesondere Hermann von Helmholtz zu nennen. 2 Die aus dieser Grundeinstellung hervorgegangenen philosophischen Entwürfe werden unter der Sammelbezeichnung >Neukantianismus< zusammengefaßt, wobei jedoch das Mißverständnis abzuwehren ist, es handele sich dabei um ein homogenes Gedankengebäude, an dem viele Einzelpersonen gearbeitet hätten. Statt dessen haben sich eine Vielfalt von Ideen daraus entwickelt, die z. T. sogar recht heterogener Natur sind. Gewöhnlich unterscheidet man innerhalb des Neukantianismus zwei große Gruppen, nämlich die sog. >Süd westdeutsche Schule< und die sog. >Marburger SchuleSüdwestdeutschen Schule< mehr auf den Geisteswissenschaften liegt, geht es der Marburger Schule primär darum, die theoretische Philosophie Kants mit den Entwicklungen der modernen Mathematik und Vgl. dazu etwa Ollig 1979, 5. 1-5. Vgl. v. Helmholtz, 5dM, 5. 46 f. Der erste, der um ca. 1852 eine Rückkehr zur Methode der Kritik der reinen Vernunft gefordert hatte, war der Kieler Philosophieprofessor Friedrich Harms (1816-1880). Ende der 50er Jahre griffen dann Jürgen Bona Meyer, Rudolf Haym und Hermann v. Helmholtz diese Forderung auf. Vgl. dazu Köhnke 1986, 5. 121-167. 3 Vgl. Ollig 1979, 5.29; 5.53. t
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I. Entwicklung des Themas
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der mathematischen Naturwissenschaft in Einklang zu bringen. Der Begründer der Marburger Schule war Hermann Cohen (1842-1918), der in Berlin bei A. Trendelenburg studiert hatte und 1876 in Marburg alsNachfolgervon F. A. Lange Ordinarius für Philosophie wurde. Seit 1880 weilte auch Paul Natorp (1854-1924) in Marburg, der 1893 einen Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik erhielt. 4 Der dritte und letzte bedeutende Vertreter der Marburger Schule war Ernst Cassirer (1874-1945), der um die Mitte der 90er Jahre als Student nach Marburg gekommen war und bei Cohen und N atorp studiert hat. 0 bwohl sich Cassirer den philosophischen Grundgedanken seiner Lehrer stets verpflichtet fühlte, hat er im Laufe der Zeit eine Version des Marburger Neukantianismus entwickelt, die eine Reihe ganz origineller Ideen enthält und die seine Eigenständigkeit innerhalb der Marburger Schule unterstreicht. Insbesondere hat er in wesentlich stärkerem Maße als Cohen und Natorp auch die neuesten Entwicklungen der modernen Physik, nämlich die Relativitätstheorie(n) und die Quantenphysik, in seine Überlegungen mit einbezogen. Seiner eigenständigen Rolle ist sich Cassirer selbst auch immer bewußt gewesen. Dies zeigt eine Reihe von Indizien, die sich über einen Zeitraum von 33 Jahren erstrecken. Bereits das Erscheinen von Substanzbegriff und Funktionsbegriff im Jahre 1910 hatte zu einer kurzen Kontroverse mit Cohen geführt. Cohen hielt ganze Passagen aus diesem Werk für unvereinbar mit den Lehren der Marburger Schule und schrieb an Cassirer, daß er die Gefahr sehe, daß damit >>unsere Übereinstimmung in den Anschauungen gefährdet werde«. 5 Was nun die Kautinterpretation betrifft, so bemerkt Cassirer mit Bezug auf die Kant-Bücher Cohens: >>Ich bin mir bewußt, durch diese Bücher zuerst in den ganzen Ernst und in die ganze Tiefe der Kautischen Lehre eingeführt worden zu sein. Seitdem bin ich zu den Problemen der Kantischen Philosophie in stets wiederholten eigenen Studien und im Zusammenhang verschiedenartiger sachlicher Aufgaben immer von neuem zurückgekehrt: und meine Auffassung dieser Probleme hat sich von derjenigen Cohens vielfach abweichend gestaltet.« 6 In der Vorrede zu Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik heißt es: >>Als ich meine Schrift >Zur Einsteinsehen Relativitätstheorie< veröffentlichte, fanden sich viele Kritiker, die mir in den Vgl. Ollig 1979, S. 29-44. Zitiert nach Gawronsky 1966, S. 14 f. 6 KLL, Vorrede zur ersten Auflage, S. VII f. Die Vorrede stammt vom 14. 8. 1918. Cohen war bereits am 4. 4. desselben Jahres verstorben. Deshalb ist davon auszugehen, daß Cassirer aus Pietätsgründen einen eher moderaten Ton gewählt hat, um seine Distanz zu Cohens Kaminterpretation zu beschreiben. 4
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Einige Grundprobleme
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Schlußfolgerungen, die ich aus der Entwicklung der neuen Physik gezogen hatte, zwar zustimmten, die aber an diese Zustimmung die Frage knüpften, ob ich, als >Neu-KantianerMarburger Schule< nicht gelockert und meine Dankesschuld gegen sie nicht gemindert, wenn es sich aus den folgenden Untersuchungen ergibt, daß ich in der erkenntniskritischen Deutung der modernen naturwissenschaftlichen Grundbegriffe zu wesentlich anderen Resultaten gekommen bin, als sie in Cohens >Logik der reinen Erkenntnis< (1902) oder in Natorps Werk >Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften< (1910) vorliegen« (Dul, Vorrede, S.132 f.). Nur zwei Jahre später grenzt sich Cassirer explizit von bestimmten Erscheinungsformen des Neukantianismus ab, wobei er aber diesmal weniger seine Lehrer Cohen und Natorp im Blick hat: >>Ich selbst bin oft als >Neu-Kantianer< bezeichnet worden und ich nehme diese Bezeichnung in dem Sinne an, dass meine gesamte Arbeit im Gebiete der theoretischen Philosophie die methodische Grundlegung voraussetzt, die Kant in der >Kritik der reinen Vernunft< gegeben hat. Aber viele der Lehren, die in der philosophischen Literatur der Gegenwart dem Neu-Kantianismus zugeschrieben werden, sind mir nicht nur fremd, sondern meiner eigenen Auffassung diametral - entgegengesetzt« (WiS, S. 114 ). Als ein letztes Indiz sei noch eine Passage aus einem Brief angeführt, den Cassirer am 14.10.1943 an seine Frau geschrieben hatte: >>Meinen wissenschaftlichen Weg mußte ich mir mühsam und einigermaßen einsam suchen. Niemand konnte mir dabei helfen - auch meine früheren Lehrer nicht- denn mein Weg führte mich weit von dem ihren ab« (Zitiert nach T.Cassirer 1981, S.321). Worin sich diese Eigenständigkeit Cassirers inhaltlich ausdrückt, darauf wird im folgenden noch einzugehen sein. Vorab sei jedoch auf einige Schwierigkeiten hingewiesen, mit denen sich die Interpreten von Cassirers Schriften konfrontiert sahen und sehen; denn die Art und Weise, in der Cassirer die Grundlagen der neueren Naturwissenschaften, die letztlich den Nährboden für seine Anschauungen des >kritischen Idealismus< liefern, analysiert, wirft eine Reihe von Problemen auf. Die sechs wichtigsten sollen deshalb zuvor genannt und erläutert werden. 1. Zunächst besteht ein Charakteristikum seiner Arbeiten darin, daß er die Probleme der modernen Wissenschaften stets vor dem Hintergrund der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte erörtert. Trotz der beeindruckenden Gelehrsamkeit Cassirers, die dabei immer wieder zutage tritt, bleibt das Auswahlkriterium der historischen
I. Entwicklung des Themas
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Beispiele dem Leser häufig verschlossen. Es kommt vor, daß Cassirer ein und denselben Autor gleichzeitig zustimmend zitiert und einige Zeilen später kritisiert.! Darüber hinaus lesen sich seine historischen Referate häufig so, als ob es sich um wichtige aktuelle Entdeckungen handelte. »Das Seltsame ist nun aber, daß man solche historischen Referate von Cassirer - ohne sich dessen recht bewußt zu werden liest, als ob sie >systematische< Aussagen wären, d. h., man liest sie nicht als Bericht über einen Denker, der vor mehreren hundert (oder tausend) Jahren gelebt hat, sondern als ob es Aussagen wären über etwas, was hier und jetzt als wahr entdeckt und gültig befunden, >wahrgenommen< wird« (Solmitz 1966, S. 508). Die Beziehung aktueller Problembestände zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte muß gleichwohl als zentraler Punkt von Cassirers Philosophie überhaupt angesehen werden. Seine umfangreichen historischen Untersuchungen haben jedoch häufig den Blick für seine systematischen Anliegen verstellt. Dennoch war für ihn das Wechselverhältnis von historischer und systematischer Analyse immer von größter Wichtigkeit. So schreibt er in der Vorrede zum dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen: »Wie in meinen früheren Arbeiten, so habe ich auch in dieser die systematische Betrachtung nicht von der historischen abzulösen versucht, sondern nach einem engen Zusammenschluß beider gestrebt. Nur in einer solchen ständigen Rückbeziehung aufeinander können beide sich wechselseitig erhellen und wechselseitig fördern« (PsF 111, Vorrede, S. VIII). Worin besteht aber der Gesichtspunkt, der diesen >>engen Zusammenschluß« von historischer und systematischer Betrachtung bei Cassirer ermöglicht? 2. Eine weitere Schwierigkeit erwächst aus dem Versuch, das Wechselverhältnis zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften näher zu bestimmen. Durch die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien im 19. Jahrhundert sowie durch die Entwicklung der Relativitätstheorie und der Quantenphysik waren diejenigen, die sich als Vertreter der Grundprinzipien von Kants Transzendentalphilosophie verstanden, in Zugzwang geraten. Ließen sich beispielsweise Kants Deutungen von Raum und Zeit als reinen Anschauungsformen a priori oder des Kausalitätsprinzips als einer apriorischen Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung angesichts der neuerenwissenschaftlichen Ergebnisse noch aufrechterhalten ?8 Eine Strategie, die von >radikalen Vgl. dazu Solmitz 1966, S. 520. Zum Problem der Vereinbarkeit der speziellen Relativitätstheorie mit Kants Lehre von Raum und Zeit vgl. insbesondere Strohmeyer 1977. 7
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Einige Grundprobleme
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Kantianern< verfolgt wurde, um Kants transzendentale Ästhetik vor einem möglichen Konflikt mit der Relativitätstheorie zu bewahren, beschreibt Hans Reichenbach wie folgt: »Es gibt einen Weg, die Kantische Philosophie vor der Relativitätstheorie zu schützen: wenn man beweist, daß die Aussagen der Relativitätstheorie sich auf ein anderes Objekt beziehen als die Behauptungen der transzendentalen Aesthetik. An der physikalischen Richtigkeit der Theorie zu zweifeln, hat für den Philosophen offenbar wenig Aussicht auf Erfolg; aber die Kantische Lehre von der reinen Anschauung bietet Gelegenheit, die Aussagen der Erkenntnistheorie auf ein isoliertes Gebiet zu beschränken, das unberührbar über aller Erfahrung schwebt« (Reichenbach, GSR, S. 367 f.). Charakteristisch für solche >lmmunisierungsstrategien>Die philosophische Betrachtung einer physikalischen Theorie kann nicht darauf ausgehen, einen eigenen und selbständigen Maßstab für die Beurteilung ihres Inhalts aufzustellen, der den Maßstäben, über welche die Einzelwissenschaft selbst verfügt, gleichberechtigt zur Seite treten könnte. Denn der Inhalt einer physikalischen Theorie untersteht nur einer einzigen Regel, die sich rein aus der Methodik der Physik als solcher ergibt. Neben dieser Norm bleibt für eine andere rein >spekulative< Betrachtungsweise kein Raum« (PPR, S.1337). 9
Vgl. dazu Hentschel1990, 5.212-223.
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I. Entwicklung des Themas
Zum anderen hat er deutlich gemacht, daß es ihm primär darum ging, das »Wesen« und die »Bedeutung der kritischen Methode« im Hinblick auf aktuelle Problemzusammenhänge der Naturwissenschaften herauszuarbeiten: »Denn wie hoch man die Kantische Lehre auch stellen mag: die Sorge um ihre richtige historische Würdigung und Auslegung muss zurücktreten gegenüber dem Bemühen, zu einer Verständigung über das Ziel und über die Wege der philosophischen Forschung der Gegenwart zu gelangen« (KmM, S. 32). Cassirer vertrat, wie übrigens die anderen Marburger Neukantianer Cohen und Natorp auch, die Ansicht, daß man, um die Wirksamkeit der kritischen Philosophie Kants zu erhöhen, unausweichlich >Über Kant hinausgehen< müsse. Diese Prioritätensetzung darf allerdings nicht zu dem Fehlschluß verleiten, Cassirer habe der Kantphilologie und Kantinterpretation überhaupt keine Bedeutung beigemessen. Dagegen spricht schon die rein logische Überlegung, daß man überhaupt nur dann die Forderung aufstellen kann, über eine Position hinauszugehen, wenn man eine gewisse Vorstellung von eben der Position hat, über die hinausgegangen werden soll. Dagegen spricht aber auch das Ausmaß und die Intensität der langjährigen Beschäftigung Cassirers mit Kant, wie sie in seiner Herausgabe der Werke Kants 10 , seiner Kant-Monographie (KLL), seiner Auseinandersetzung mit der friessehen Schule Leonard Nelsons (vgl. KI, FME) sowie seinen scharfsinnigen Kritiken zeitgenössischer Kant-Literatur (NK) zum Ausdruck kommt. Nun könnte man einwenden, daß die Quantität und Intensität seiner Beschäftigung mit Kant noch gar nichts über deren Qualität aussage. Was dieses Problem betrifft, so läßt sich schlicht feststellen, daß eine Auseinandersetzung mit Cassirers Kantinterpretation bislang kaum stattgefunden hat. Die Frage, ob eine solche Auseinandersetzung dem heutigen Stand der Diskussion um Kants Philosophie Impulse liefern könnte, möchte ich im Vorgriff mit Ja beantworten, muß aber an dieser Stelle auf eine Begründung verzichten. Tatsache ist, daß Cassirer seine Thesen über Kant durchgängig mit einschlägigen Zitaten zu begründen versucht, so daß sich seine Interpretation jederzeit an den Kanttexten selbst auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüfen läßt. Darüber hinaus sind diese Stellen nicht nur dem Corpus der >kritischen Periode< entnommen, sondern umfassen ebenso die >vorkritischen< Schriften Kants, seinen Briefwechsel sowie die >Reflexionen< in der Form, in der sie seinerzeit zugänglich waren. 10 Vgl. lmmanuel Kants Werke. Gesamtausgabe in 10 Bänden. In Gemeinschaft mit H. Cohen, A. Buchenau, 0. Buek, A. Görland, B. Kellermann, 0. Schöndörfer, hrsg. von E. Cassirer, Bde. 1-10, Berlin 1912.
Einige Grundprobleme
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Diese Hinweise mögen genügen, um deutlich zu machen, daß Cassirer seine Kantdeutung keineswegs als bloßes Nebenprodukt angesehen hat, sondern vielmehr als Grundlage seiner eigenen philosophischen Position. Und ebensowenig wie die bloße Feststellung des Umfangs seiner Beschäftigung mitKantetwas über deren Fruchtbarkeit auszusagen vermag, läßt sich von der weitgehenden Nichtbeachtung seiner Kantinterpretation auf deren Fragwürdigkeit schließen. Doch nun begegnet man folgender Schwierigkeit. Wenn Cassirer einerseits die Autonomie der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften gegenüber der Philosophie und andererseits die Reformbedürftigkeit von Kants Lehre betont, wird dann nicht Kants Transzendentalphilosophie zu einem bloßen Anhängsel der Einzelwissenschaften, das sich nach deren Bedürfnissen beliebig umgestalten läßt? Auf diese Konsequenz der >Immunisierung< in der anderen Richtung, nämlich der Einzelwissenschaften gegenüber jeglichen transzendentalphilosophischen Einwänden, hat beispielsweise Alfred C. Eisbach in seinem Buch Kant und Einstein hingewiesen (Eisbach 1924). Dort heißt es: >>Die Wissenschaft ist primär und autonom, die Philosophie sekundärund heteronom« (ebd., S.192). Und: >>Es ist ausgeschlossen, daß die Physik mit der Kantischen Philosophie im Streit liegen kann, weil die Übereinstimmung beider eine notwendige Folge der Struktur der kritischen Philosophie ist« (ebd., S.196). Damit ist gemeint, daß die kritische Philosophie, wenn sie ihre Berechtigung ausschließlich der Analyse der Ergebnisse der Einzelwissenschaften verdankte, selbst keinerlei Maßstab zur Beurteilung der letzteren besäße. 11 Cassirer teilte diese Auffassung Eisbachs offensichtlich nicht. Ausschlaggebend ist dabei nicht allein sein allgemeiner Hinweis darauf, daß die wichtigsten prinzipiellen Neuerungen in der Physik der Neuzeit stets >>mit Betrachtungen allgemein erkenntnistheoretischer Natur im engsten Zusammenhang zu stehen pflegten« 12 , wobei er insbesondere an Galilei, Kepler, Newton, v. Helmholtz, Hertz und Einstein denkt. Darüber hinaus postuliert er auch eine methodische Selbständigkeit der Erkenntnistheorie gegenüber den Einzelwissenschaften: >>Aber freilich muß die Erkenntnistheorie, so eng sich ihr eigenes Schicksal hier mit dem Fortgang der exakten Wissenschaften verknüpft erweist, den Aufgaben, die ihr von dieser gestellt werden, mit voller methodischer Selbständigkeit gegenübertreten« (ZER, S. 8). Und wenn Cassirer schließlich die Entwicklung der neueren Physikund hier insbesondere der Relativitätstheorie - als Bestätigung seiner 11 12
Vgl. dazu auch Einstein, RE, 5.1688. ZER, S. 6. Vgl. auch EP IV, S. 89.
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Erkenntnisauffassung des >kritischen Idealismus< betrachtet (ebd., S.21), so setzt dieses Urteil, unabhängig davon, ob man ihm zustimmen mag oder nicht, eine bestimmte Erkenntnisauffassung und -methode als eigenständige Größe voraus. Denn wenn letztere ausschließlich auf der Analyse der Einzelwissenschaften beruhte, so könnte sie nicht nachträglich von diesen eine Bestätigung erwarten, sondern ihre Übereinstimmung stünde von vornherein fest. Daraus ergibt sich die Frage, worin eigentlich die methodische Selbständigkeit der Erkenntnistheorie bzw. der >Erkenntniskritik< nach Cassirers Meinung besteht. 3. Das Postulat der engen Anhindung der Erkenntnistheorie an die empirischen Wissenschaften auf der einen Seite und die vermeintliche Unklarheit über die Eigenständigkeit der Methode seines kritischen Idealismus auf der anderen Seite haben eine Standortbestimmung der cassirerschen Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie nicht unwesentlich erschwert. 13 Dieser Umstand hat Cassirers Philosophie gegen Kritik von ganz unterschiedlicher philosophischer Provenienz anfällig gemacht. Moritz Schlick, der Begründer und einer der bekanntesten Vertreter des >Wiener Kreises>Die meisten darin vorkommenden Behauptungen über die neuen physikalischen Theorien sind vom Standpunkt des Physikers und seiner Verlängerung in den logischen Empirismus hinein durchaus annehmbar« (Frank 1938, S. 71). Und weiter heißt es: >>Einige der Grundauffassungen Cassirers sind in geradezu überraschender Weise mit den Auf-
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I. Entwicklung des Themas
fassungen verwandt oder fast übereinstimmend, die der logische Empirismus von der Wissenschaft hat« (ebd., S. 72). Gelegentlich sieht Frank Cassirers Ausführungen jedoch noch durch einen >>gewissen dunklen Hintergrund« (ebd., S. 77) getrübt, der aus einem >>voreiligen Verlassen der wissenschaftlichen Analyse« und einem damit zusammenhängenden >>Übergang zur Metaphysik« (ebd., S. 76) resultiere. Cassirer habe zwar, so Franks abschließendes Urteil, die »traditionelle idealistische Philosophie>völligen ZersetzungScheinprobleme< geläutert hat. Aber ganz abgesehen davon, daß die unter dem Pathos einer >wissenschaftlichen Weltauffassung< auftretenden Vertreter des >Wiener Kreises< diese Aufgabe ohne jede nähere Beschäftigung mit der von ihnen so gescholtenen >Metaphysik< erfüllen zu können glaubten, bestand auch über das, was man eigentlich unter >Metaphysik< zu verstehen habe, alles andere als Einigkeit. Ernst Mach beispielsweise, der als einer der Urheber der >antimetaphysischen Tatsachenforschung (Neurath, WK, S. 301) in Anspruch genommen wird, bezeichnet solche Begriffe als metaphysisch, deren Geschichte man nicht kenne: >>Metaphysisch pflegen wir diejenigen Begriffe zu nennen, von welchen wir vergessen haben, wie wir dazu gelangt sind>Metaphysik>eigentlichen>ihrem Wesen nach>IntuitionErleben>den Nebenklang des Unstreng-Spekulativen>Sollte sich zeigen, dass die später zu besprechenden Erscheinungen mit der Bewegung der beschleunigt fallenden Körper übereinstimmen, so werden wir annehmen dürfen, dass unsere Definition den Fall der schweren Körper umfasst.« 7 Genau das auf diese Weise von Galilei charakterisierte Wechselverhältnis von mathematischer Definition und Naturerscheinung hat Cassirer im Auge, wenn er von der neuen Art der Beziehung von Rationalität und Empirie spricht, die Galileis neue Methode beinhalte: >>Der Begriff der gleichförmigen Beschleunigung, von dem er ausgeht, ist ihm zunächst nichts anderes als eine >hypothetische VoraussetzungTatsachen< der Natur bezogen und an ihnen gemessen werden darf, sondern zuvor der Zerlegung und Entfaltung in ihre einzelnen mathematischen Eigentümlichkeiten und Folgerungen bedarf. Erst nachdem dieser deduktive Teil der Aufgabe abgeschlossen ist, und nachdem er zu festen, zahlenmäßigen Beziehungen hingeleitet hat, ist für die Vergleichung des reinen Gesetzes mit dem Beobachtungsinhalt der Boden bereitet, ist das Maß gewonnen, mit dem wir jetzt an die Mannigfaltigkeit des Wahrnehmungsstoffes herantreten können« (EP I, S. 385 f.). Aber auch an diesem Punkt ist ein unmittelbarer Vergleich mathematischer Begriffe mit konkreten Einzelphänomenen aufgrund der Komplexität der letzteren nicht möglich. Dazu ist vielmehr erforderlich, daß zuvor eine >>Zerlegung komplexer Erscheinungen in ihre Teilbedingungen« (ebd., S. 381) erfolgt ist: >>Das Vermögen der Analyse, das Vermögen der rein gedanklichen Sonderung der bestimmenden Momente des konkreten Einzelvorgangs, ist es, was für sein [GaliVgl. Galilei, Discorsi, 5.148: >>Gleichförmig oder einförmig beschleunigte Bewegung nenne ich diejenige, die von Anfang an in gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeitszuwächse ertheilt.« 6 So kritisiert sogleich Sagredo, der Gesprächspartner des in Dialogform verfaßten Textes, die Abstraktheit und Willkür, die mit dieser Art von Definitionen verbunden sei. Vgl. Galilei, Discorsi, S.148. 7 Galilei, Discorsi, S. 153. Vgl. dazu auch Engfer 1982, S. 97-100. 5
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leis] Verfahren charakeristisch ist.« (Ebd.) Mit »Analyse« meint Cassirer die von Galilei an gewandte >resolutive Methodemetodo resolutivo< komplementär zu der >metodo compositivo< als einen Teilschritt der naturwissenschaftlichen Methode überhaupt betrachtet. 9 Cassirer interpretiert diese Methode bzw. den Teilschritt der >Resolution< als »zerlegende Analysis, die auf die allgemeinen Beziehungenideellen< Zusammenhang eingeordnet. Als Anwendungsbeispiel nennt Cassirer Galileis Behandlung der Wurfbewegung, bei der alle konkreten Wurfphänomene (Geschoß einer Armbrust; Abschuß einer Kanonenkugel etc.) auf die allgemeinen Bedingungen zwei er Komponenten in horizontaler und vertikaler Richtung zurückgeführt werden, die ihrerseits als >gleichförmig horizontale< und >gleichförmig beschleunigte< Komponente gewisse mathematische Beziehungen beinhalten. 10 Erst die vermittels der analytischen bzw. resolutiven Methode erfolgte Zurückführung konkreter Einzelphänomene auf allgemeine mathematische Begriffe und Beziehungen gestattet einen Vergleich dieser Begriffe und Beziehungen mit den Naturerscheinungen. Gleichzeitig entsprechen diese allgemeinen Beziehungen auch den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine konkrete Erscheinung als Anwendungsfall allgemeiner Gesetzmäßigkeiten überhaupt in Betracht gezogen werden kann. Aber nur als solcher ist sie ein >Faktum< im Sinne der mathematischen Naturwissenschaft. Die mathematischen und naturwissenschaftlichen Begriffe fungieren auf diese Weise als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung bzw. Erfahrungserkenntnis, sofern sie letztlich auch die Voraussetzungen für (wissenschaftliche) Erkenntnis im Sinne einer Zurückführung auf quantitaVgl. dazu EPI, S.398; S.409. Die resolutive Methode ist im 16. Jahrhundert erstmals von Zabarella (1533-1589) in die Naturforschung eingeführt worden in Anlehnung an methodische Betrachtungen des Mediziners Galen einerseits sowie die analytische Methode der antiken Geometer andererseits, und zwar in der Form, in der sie von Pappos benutzt wurde. Vgl. dazu Engfer 1982, S. 78-97. Das hatte zur Folge, daß die >metodo resolutivo< meistens mit der >analytischen Methode< gleichgesetzt wurde, wie dies auch hier bei Cassirer der Fall ist. Beispielsweise übersetzt Strauss an einer Stelle des Dialogo den Ausdruck >metodo resolutivo< mit >analytische Methodeneuen Begriff der ErfahrungTatsacheSystem der Erfahrung< gesprochen werden kann. Die mathematischen Begriffe und Definitionen, welche die Voraussetzung dafür sind, daß die Einzelphänomene in einen übergreifenden Zusammenhang eingeordnet und damit erst zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Erfahrung werden können, stehen ihrerseits nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden ein gesetzmäßiges, systematisches Gefüge. Im vierten Tag der Discorsi geht Galilei beispielsweise von dem allgemeinen Satz aus, daß ein einer gleichförmig horizontalen und zugleich einer gleichförmig beschleunigten Bewegung unterworfener Körper eine Halbparabel beschreibt. (Galilei, Discorsi, S. 218.) Von diesem allgemeinen Satz ausgehend schreitet er dann zu immer spezielleren Bestimmungen fort - wie z. B. zu der Bestimmung der Geschwindigkeiten in einzelnen Punkten der Parabel (ebd., S. 232) oder der Bestimmung der Amplitude in Abhängigkeit von »Sublimität« und» Höhe« der Halbparabel (ebd., S. 241) -,um auf diese Weise die allgemeine Ausgangsbedingung immer weiter zu spezifizieren und den konkreten Erscheinungen immer mehr anzunähern. Diese schrittweise Annäherung, die mit einer immer weiter ins Besondere vordringenden Strukturierung verbunden ist, beruht nicht nur auf einem vereinzelten allgemeinen Satz, der den Erscheinungen zugrunde
11 EP I, S. 394. Cassirer erblickt in dieser Konzeption bereits Ansätze eines >>kritischen Erfahrungsbegriffs«. Vgl. ebd., S. 396: >>Die Erfahrung bildet den Anfang wie das Ziel seiner [Galileis] Forschung: aber wenn sie als Anfang nur einen Inbegriff methodisch gewonnener und gesicherter Einzelbeobachtungen ausmacht, so steht ihm als Ziel jener kritische Erfahrungsbegriff vor Augen, den Kant in dem Satze formuliert hat, daß Erfahrung nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich sei. Diese Notwendigkeit erreichen wir, indem wir die Beobachtungen auf ideelle geometrische Grundschemata beziehen und ihnen deren logische Form aufprägen.« Vgl. dazu auch SuF, S. 217-219.
Zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte
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gelegt wird, sondern auf einem Komplex von Hypothesen, die in gesetzmäßiger Weise zusammenhängen und systematisch verbunden werden können: »Schritt für Schritt entfaltet sich nunmehr der Inbegriff der hypothetischen Setzungen, die uns im stetigen Fortgang zum konkreten Sein der Dinge hinleiten sollen« (EP I, S. 387). Cassirer weist zugleich darauf hin, daß Galilei selbst die entscheidenden Gesichtspunkte seines neuen Erfahrungsbegriffs, obgleich er sie bei seiner konkreten Arbeit ständig vor Augen hatte, >>nirgends zu theoretischer Zusammenfassung und zur abgelösten systematischen Darstellung« (ebd., S. 8) gebracht hat. Dabei seien es vor allem zwei Folgerungen, die das >>System Galileis« (ebd., S. 402) nach sich ziehe. Zum einen beruhe es auf einer >>Durchdringung und Wechselbeziehung von Erfahrung und Vernunft«, welche den traditionellen Gegensatz von Empirismus und Rationalismus als >>unbestimmt und unfruchtbar« erscheinen lasse. Zum anderen sei an die Stelle dieses Gegensatzes ein >>anderes, tieferes Problem« getreten: >>die Frage ist, ob mit den Dingen oder den Beziehungen, ob mit dem Dasein oder mit den Formen der Verknüpfung zu beginnen ist. Gegenüber der substantiellen Weltansicht erhebt sich eine Auffassung, die auf dem Grunde des Funktionsbegriffs erwachsen ist.« (Ebd.) Der Prozeß der weiteren Fortführung methodischer Grundgedanken und Motive Galileis läßt sich nach Cassirer insbesondere anhand der Systeme von Descartes und Leibniz verfolgen; denn: >>Die Cartesische, wie die Leibnizsche Erkenntnislehre bilden nur bestimmte Einzelphasen in jenem allgemeinen Fortschritt von der Substanz zur Funktion« (ebd.). In diesem Zusammenhang ist schon vorab auf eine Mehrdeutigkeit hinzuweisen, die den Ausdrücken >Funktion< und >Funktionsbegriff< bei Cassirer anhaftet. Diese Mehrdeutigkeit besitzt jedoch insofern einen sachlichen Hintergrund als die unterschiedlichen Bedeutungen durchaus aufeinander bezogen werden können. 12 Erstens spricht Cassirer von einem Vorrang des Funktionsbegriff vor dem Dingbegriff, der bei Galilei sichtbar werde in dem Sinne, daß die allgemeinen Beziehungen und Gesetze, auf die die Analyse bzw. Resolutio hinführt, unabhängig vom Dasein der Einzeldinge formuliert werden und demselben, sofern es ein erkanntes Dasein vorstellen soll, logisch vorgeordnet sind. (Ebd., S. 409.) D. h. darin drückt sich aus, daß es primär um erkenntnistheoretische und nicht um ontologische Verhältnisse geht. - Zweitens spricht Cassirer, vor allem in Substanzbegriff und Funktionsbegriff, von >Funktionsbegriffen< im Sinne von Zuordnungsbegriffen, da ihre Aufgabe in der >>Verknüpfung und Zu12
Zu weiteren Einzelheiten vgl. insbesondere Kap. IV, 2. dieser Arbeit.
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II. Cassirers Rezeption von Descartes und Leibniz
ordnung der Elemente des Gegebenen« (SuF, S. 197) bzw. der »gesetzlichen Ordnung der Wahrnehmungen« 13 bestehe. Diese beiden Bedeutungen stehen in enger Beziehung zueinander, wenn man die Analogie zum mathematischen Begriff der Funktion berücksichtigt. Denn die Funktion drückt zum einen ein allgemeines Gesetz aus, vermöge dessen verschiedene Größenwerte einander zugeordnet werden können, ohne daß dieses Gesetz selbst von der >Gegebenheit< irgendwelcher Größen (z. B. Zahlen) abhängig wäre, sondern diesen Größen (logisch) vorgeordnet ist. Zum zweiten schafft dieses Gesetz vermöge der Zuordnungsvorschrift, die es impliziert, eine geordnete Reihe von Einzelwerten, die aufgrund dieser Ordnung zu einer Einheit zusammengeschlossen werden können. - Drittens schließlich ist noch eine weitere Bedeutung zu berücksichtigen, nämlich die, welche mit Cassirers These, daß die Priorität des Funktionsbegriffs eine >funktionale Erkenntnisauffassung< nach sich ziehe, verknüpft ist, wobei hier von >Funktion< in einem ganz allgemeinen Sinne von >Zuordnung< die Rede ist. Dahinter steckt der Gedanke einer verallgemeinerten Auffassung der Galileischen Konzeption, daß jeder einzelne Wahrnehmungsinhalt erst vermöge der Zuordnung zu einem System allgemeiner Hypothesen als (objektiver) Inhalt physikalischer Erfahrung in Betracht gezogen werden kann. Es besteht, so ist zu vermuten, demnach auch ein sachlicher Zusammenhang zwischen der Idee eines Systems der Erfahrung und der sog. >funktionalen Erkenntnisauffassung>konstruktiven Systemen des 17. Jahrhunderts« gerechnet wird.
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verstanden werden kann, gilt doch der Rationalismus als eine Richtung in der Philosophie, die >>die Form und den Inhalt alles Wissens aus der ratio, unabhängig von aller Erfahrung oder unter Vernachlässigung der empirischen Forschung ableiten« möchteY Angesichts dieser Schwierigkeit hat Cassirer folgenden Weg eingeschlagen. Er unterscheidet zunächst zwischen Descartes' Überlegungen zur wissenschaftlichen Methode, die dieser aus seinen umfangreichen einzelwissenschaftlichen Studien 18 abgeleitet hatte, und der cartesischen Metaphysik. Damit verknüpft er die These, daß sich die Grundzüge des cartesischen >Systems der Erkenntnis< bereits herausgebildet hatten, noch ehe die Metaphysik (oder >Prima PhilosophiaEinheit der ErkenntnisEinheit der Methode< abgeleitet werden müsse. (LS, S. 3-5.) Diese Einheit sei jedoch nicht so zu verstehen, daß sie eine gegebene Vielheit wissenschaftlicher Erkenntnisse erst nachträglich zu einer Einheit zusammenfasse, sondern sie sei vielmehr >>die ursprüngliche Grundlage, aus der die Vielheit des Wissens und des Seins sich erst gestaltet« (ebd., S. 3 f.). Aufgrund dieser vorausgesetzten Einheit werde nicht nur alles >>positiv gegebene Wissen« zusammengefaßt, sondern darüber hinaus würden auch die Grenzen allen möglichen Wissens abgesteckt. Cassirer gibt zu, daß Descartes dieses Motiv zwar nirgendwo explizit erläutert hat, er verweist aber darauf, daß es implizit Descartes' Beschäftigung mit den besonderen Wissenschaften zugrunde gelegen habe: >>Die Grundtendenz des Gedankens [der Voraussetzung eines Systems], die im Zusammenhang der Cartesischen Metaphysik häufig verdunkelt ist, erhält daher erst in Descartes' Systematik der Wissenschaften ihre Bestätigung und genaue Bestimmung« (ebd., S. 5). Diese Systematik der Wissenschaften sei in ihrer Grundkonzeption in den Regulae ad directionem ingenii präsent, einer Schrift über methodische Regeln, die ein Fragment geblieben ist und erst 1701 postum veröffentlicht wurde, obgleich die Redaktion 17 Hoffmeister 1955, S. 507. Beispielsweise hat Dijksterhuis ebenfalls auf diesen scheinbaren Widerspruch innerhalb der cartesischen Philosophie aufmerksam gemacht: >>Einerseits nämlich betreibt er die Naturwissenschaft aprioristisch-deduktiv und räumt dem Experiment nur einen geringen Platz ein, während er doch andererseits stets ein lebhaftes Interesse für die empirischeN aturforschung an den Tag gelegt hat.Einheit der Erkenntnis< findet Cassirer gleich in der ersten Regel der Regulae ausgesprochen. Dort heißt es: »Man muß also überzeugt sein, daß alle Wissenschaften so miteinander verknüpft sind, daß es viel leichter ist, sie alle gemeinsam zu erlernen, als eine einzelne von den anderen abzutrennen. Wenn also jemand ernsthaft die Wahrheit aufspüren will, so darf er keine vereinzelte Wissenschaft wählen; sie sind nämlich alle miteinander verbunden und voneinander abhängig«. 21 Diese enge Verbundenheit der Wissenschaften untereinander bringt Descartes später nochmals zum Ausdruck, und zwar in einem Schreiben an Picot, dem Übersetzer der lateinischen Fassung der Principia Philosophiae von 1644 ins Französische. Hier wählt Descartes das Bild vom Baum der Philosophie, dessen Wurzel die Metaphysik, dessen Stamm die Physik (Descartes denkt hier insbesondere an die allgemeinen Naturgesetze sowie an seine im zweiten und dritten Teil der Principia Philosophiae Vgl. Descartes, Regulae, Einleitung (Gäbe), S.XXII. Descartes, Regulae, S. 5; AT X, S. 361. Vgl. dazu LS, S. 3 f.: Cassirer zitiert in diesem Zusammenhang Descartes' Bild von dem Licht der Sonne, das seine Einheit bewahrt in der Verschiedenheit der Gegenstände, die es beleuchtet. Ähnlich sei, so Descartes, auch die Weisheit in allen Wissenschaften dieselbe. 20
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entwickelte Kosmologie) und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften ausmachen, wobei letztere insbesondere auf drei hauptsächliche Zweige, nämlich Medizin, Mechanik und Ethik zurückführbar seien. Und er fährt fort: >>So wie man nun weder von den Wurzeln noch vom Stamm der Bäume die Früchte pflückt, sondern nur von ihren Zweigen, so hängt auch der hauptsächliche Nutzen der Philosophie von denjenigen ihrer Teile ab, die man erst zuallerletzt lernen kann« (Descartes, PP, Vorwort, S. XLII). Aus dieser Äußerung geht hervor, daß die cartesische Metaphysik kein Selbstzweck war, sondern ihr Ziel vor allem in der sicheren Begründung der Erfahrungswissenschaften bestand, um deren Nutzen willen Descartes sein System in erster Linie konzipiert hatte. 22 In diesem Zusammenhang spricht Descartes ausdrücklich von einem >>vollständigen System der Philosophie« (ebd., S. XLIV), das er auszuführen beabsichtige. Dazu sei vor allem nötig, >>alle Experimente zu machen, deren ich bedürfte, um meine Vernunftgründe (ratiocinia) zu stützen und zu rechtfertigen« (ebd.). Cassirers Einschätzung, daß der Inhalt von Descartes' Systembegriff zunächst unabhängig von seiner Metaphysik entwickelt wurde und eine >Einheit der Erkenntnis< voraussetzt, die in der >Systematik der Wissenschaften< ihren Ausdruck findet, wird demnach durch Descartes' eigene Darstellung seines Systems im Bilde des >Baumes der Philosophie< durchaus bestätigt. Denn die Metaphysik übt in diesem Bild keinen Einfluß auf die inhaltliche Gestaltung des Systems aus, ähnlich wie die Wurzeln des Baumes die Gestalt desselben nicht verändern, wohl aber denselben fest mit der Erde verbinden. Die Einheit der Erkenntnis, die Descartes' System zugrunde liegt, gründet sich auf die Einheit der Erkenntnismethode. Das bedeutet, daß das Einheitsprinzip des cartesischen Systems ein erkenntnistheoretisches und kein ontologisches ist. Insbesondere in der sechsten Regel der Regulae - eine Regel, die er übrigens als die nützlichste seiner ganzen Abhandlung bezeichnet - stellt Descartes ausdrücklich fest, daß alle Dinge >>in gewissen Reihen geordnet« werden könnten, >>nicht zwar sofern man sie auf irgendeine Gattung des Seins bezieht, so wie die Philosophen sie in ihre Kategorien eingeteilt haben, sondern sofern die einen aus den anderen erkannt werden können«. 23 Auch diese Eigentümlichkeit von Descartes' Systembegriff hat Cassirer bei seinen Überlegungen in den Vordergrund Vgl. dazu auch Röd 1982,5.26-33. Descartes, Regulae, 5.31; ATX, 5.381. Diese Stelle wird von Cassirer explizit zitiert in EP I, S. 448, Anm. 1. 22 23
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gestellt, und zwar deshalb, weil »in dem, was die >Methode< für die Wissenschaft und ihre Grundsätze geleistet hat, die eigentliche geschichtliche Kraft und die unvergängliche Wirkung der Cartesischen Philosophie« (EP I, S. 444) liege. Wie sieht diese Methode, die die Einheit von Descartes' System konstituieren soll, aus? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage stößt man zunächst auf gewisse Schwierigkeiten, da Cassirer mindestens drei Antworten gibt, bei denen unklar bleibt, welchen Zusammenhang er zwischen ihnen gesehen hat, bzw. ob er sie als äquivalent betrachtet hat. Zunächst geht Cassirer davon aus, daß Descartes diese Methode der Mathematik entlehnt hat, da er in der zweiten Regel der Regulae die sichere Erkenntnisweise von Arithmetik und Geometrie als Vorbild für alle übrigen Wissenschaften betrachtet. Demnach handele es sich dabei um ein Verfahren, das mit »dem antiken Verfahren der >problematischen Analysis«< (LS, S. 5) übereinstimme. Nun verweist Descartes in der Tat auf eine »gewisse Analysis«, deren sich »die alten Geometer« (»veteres Geometras«) bedient hätten und die eine solche Allgemeinheit besessen hätte, daß sie zur »Lösung aller Probleme« brauchbar gewesen wäre. (Descartes, Regulae, S. 25 (Regel 4); AT X, S. 373.) Allerdings sei dies eine Geheimwissenschaft gewesen, die nicht überliefert worden wäre, die aber der Sache nach mit der Methode der neueren Algebra übereinstimmte.24 Zweitens spricht Cassirer von einer >mathematischen Analysismathesis universalis< im Auge hat 25 , die Descartes als eine allgemeine Wissenschaft charakterisiert, die es lediglich mit >Ordnung und Maß< zu tun habe, unangesehen der Besonderheit der Gegenstände, auf die sie angewandt werden könne. 26 Cassirer beschreibt diese Grundwissenschaft wie folgt: >>Eine reine Wissenschaft der >Proportionen< und >Relationen< - unabhängig von aller Besonderheit der Objekte, in denen sie sich darstellen und verkörpern- bildet somit die erste Forderung und den ersten Gegenstand, auf den die Methode sich richtet« (EP I, S. 446 ). Wenn man also Cassirers Interpretation des cartesischen Systemgedankens spezifischer fassen will, muß man näher untersuchen, wie sich die drei von ihm genannten Methoden, auf die sich die Einheit des cartesischen Systems gründen soll, zueinander verhalten. Weisen sie gemeinsame Grundzüge auf, auf die sich Cassirer beziehen kann, wenn er von Descartes' >Einheit der Methode< spricht? b) Descartes' System und >mos geometricus< Das Streben nach notwendigen und gewissen Wahrheiten, die als sicherer Ausgangspunkt sowohl für die praktischen als auch theoretischen Einzelwissenschaften dienen können, hat Descartes' philosophische Bemühungen von Beginn an motiviert. Da ihm in dieser Hinsicht die Mathematik stets als Vorbild vor Augen gestanden hatte und er darauf abzielte, auch die Philosophie in Gestalt einer >more geometrico< verfaßten Theorie zu entwickeln, wird seine Philosophie häufig zu den >konstruktiv-rationalistischen Systemen< des 17. Jahrhunderts gerechnet. Der Aufbau >>more geometrico« hat für die >>Herausbildung philosophischer Systematik und eines wissenschaftlichen Systembegriffs, der grundlegend für die moderne Entwicklung geworden ist« (Arndt 1971, S. 1) eine entscheidende Rolle gespielt. Ein typisches Beispiel dafür wäre etwa Spinozas Ethica ordine geometrico demonstrata von 1677. Dieser Gedanke war keinesfalls neu. Schon in der Scholastik hat es, seit gegen Ende des 12. Jahrhunderts die ersten vollständigen lateinischen Übersetzungen von Euklids Elementen vorlagen, Anwendungsversuche der axiomatischen Methode Euklids, die zunächst in enger Verbindung mit der aristotelischen Wissenschaftslehre rezipiert wurde, auf L5, 5. 8 f.; vgl. EP I, 5. 446. Descartes, Regulae, Appendix zu Regel4, 5. 173; AT X, 5. 3 77 f.; vgl. auch ders., Discours, 5.33; ATVI, 5.20-22. 2s
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ganz unterschiedliche nichtmathematische Gebiete, wie etwa Theologie, Rechtslehre, Ethik oder Physik gegeben.27 Es liegt allerdings eine Schwierigkeit darin, daß im 17. und 18. Jahrhundert eine allgemeine Berufung auf eine scheinbar einheitliche mathematische Methode erfolgt ist, hinter der sich jedoch tiefgreifende Unterschiede verbergen. Zur Klärung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der drei von Cassirer genannten Methoden erscheint es daher unumgänglich, vorab auf einige wichtige Methodenmodelle hinzuweisen, die für diese Zeit, vor allem aber für Descartes selbst, eine wesentliche Rolle gespielt haben dürften. Diese Methodenmodelle sollen hier nur insoweit zur Sprache kommen, als sie zu einem besseren Verständnis der cartesischen Methodenlehre und ihrer Interpretation durch Cassirer beizutragen vermögen. 28
Modell A: Das >klassische< und bekannteste mathematische Methodenmodell geht auf Euklids Elemente zurück. Für die Überlieferung dieses Modells war der Kommentar von Proklos von entscheidender Bedeutung. Dieser Proklos-Kommentar, der sich auf das erste Buch der Elemente bezieht, wurde erstmals 1533 durch die Edition des griechischen Textes von Sirnon Grynaeus in Basel der Allgemeinheit zugänglich gemacht. 1560 folgte dann die erste lateinische Übersetzung desselben durch Franciscus Baroccius. 29 Dies hatte zur Folge, daß die sich daran anschließende EuklidRezeption sehr stark von Proklos' Interpretation des EuklidTextes beeinflußt wurde. Der Grundzug von Proklos' Lesart von Euklid bestand in dem Versuch, die Elemente im Einklang mit den Grundsätzen der aristotelischen Wissenschaftstheorie, wie sie in den Analytica posteriora vorlag, zu interpretieren. Demnach ist jede Wissenschaft als ein Zusammenhang von Aussagen zu verstehen, von denen einige als Prinzipien im Sinne von vorauszusetzenden wahren Sätzen zugrunde liegen, aus denen dann weitere Sätze vermittels syllogistischer Schlußverfahren deduktiv abgeleitet werden können. In dieser Interpretation von Proklos wird der Aufbau der Elemente nicht nur zum Vorbild der Darstellung wissenschaftlicher Theorien überhaupt, sondern auch zum Paradigma der geometrischen Methode schlechthin: Vgl. dazu Schüling 1969, Kap. 3, S. 20-23. Dabei folge ich der Darstellung Engfers in Engfer 1982, Kap. li: Analytischsynthetische Methodenmodelle, § 6- § 11, S. 68-121. 29 Vgl. Schüling 1969, S.35. 27 28
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II. Cassirers Rezeption von Descartes und Leibniz
»die geometrische Methode erscheint dann als Deduktion von Konklusionen aus wahren Prämissen und wird unmittelbar mit dem Beweis der Analytica posteriora identifiziert«. 30 Im XIII. Buch der Elemente findet sich in einem Zusatz zum Euklid-Text eine Erläuterung von Analysis und Synthesis, 31 die auch Proklos in seinem Kommentar aufgreift und wie folgt interpretiert. Gemäß seiner Interpretation geht die Synthesis den Weg von den Prinzipien zu den Folgerungen, während die Analysis umgekehrt von den abgeleiteten Folgerungen zu den Prinzipien zurückführt. 32 Identifiziert man nun Euklids Vorgehensweise mit dem deduktionistischen Ansatz der aristotelischen Wissenschaftsphilosophie und dabei insbesondere die Postulate und Axiome - Proklos führte die Bezeichnung >>axiomata« für die euklidischen >>koinai ennoiai« ein- mit den aristotelischen Beweisprinzipien, aus denen dann in syllogistischer Form Folgerungen abgeleitet werden können, so wird klar, weshalb sich für die geometrische Methode in dieser Sichtweise die Bezeichnung >>synthetisch« eingebürgert hat. Die >synthetische Methodears demonstrandiAnalyse< ein übergreifendes Verfahren versteht, welches seinerseits zwei Teilschritte der Analyse und Synthese beinhaltet, die zusammengenommen wiederum einer Synthese gegenüberzustellen wären, oder aber, ob der erste Teilschritt bereits mit dem Verfahren der Analyse schlechthin identifiziert werden muß. Daranknüpft sich die weitere Frage, ob die Analyse die Ableitung von Konsequenzen aus der als gelöst angenommenen, aber tatsächlich in Frage stehenden Behauptung beinhaltet, oder aber den Rückgang zu den Prinzipien. Auch über die Beantwortung dieser Frage besteht Uneinigkeit. Betrachtet man Pappos' geometrische Praxis, so stößt man auf folgende Standardbeschreibung eines geometrischen Problems. Pappos geht von einer bestimmten geometrischen Figur aus, in der gewisse Beziehungen und Konfigurationen geometrischer Objekte als gegeben angenommen werden (G) und stellt darüber hinaus Beziehungen zwischen einzelnen Elementen fest, die auch für das Gesuchte (S) gleichermaßen gelten. Des weiteren setzt er die Gültigkeit eines Komplexes grundlegender geometrischer Prinzipien (P) voraus und versucht, das Gesuchte (S) aus G und P abzuleiten. (Ebd., S. 83.) Dabei sind nun zwei Teilschritte der Analyse erkennbar, nämlich die Transformation und die Resolution. Bei der Transformation werden unter Zugrundelegung von P und G Folgerungen (U, V, W, ... )aus S abgeleitet. Sofern dabei häufig Hilfskonstruktionen und die Einführung neuer Objekte in die Ableitung eingehen, ist dieser Teilschritt durchaus nichttrivial und besitzt in gewissem Sinne >erfindende KraftUmkehr der Analysis< bezeichnet. (Ebd., S. 85.) Im Anschluß an Platon, Aristoteles und Proklos gibt es noch eine weitere Interpretationslinie, welche die Analyse bei Pappos
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nicht als Ableitung von Konsequenzen aus einer als wahr angenommenen, aber noch zu prüfenden Behauptung versteht, sondern als Rückgang zu bereits als wahr feststehenden Prinzipien. Dabei bildet - im Unterschied zur geometrischen Praxis des Pappos - den Ausgangspunkt ein einzelner, isolierter Satz, dessen Prämissen auf intuitive Weise erkannt werden sollen: »die Analyse erscheint dann als wirkliche Erfindungskunst: sie findet intuitiv die Prämissen, aus denen der Satz ableitbar ist« (ebd., S. 88). Wenn demnach bereits die Analyse den Ausgangssatz auf als wahr zugestandene Prämissen zurückführt, dann kommt der Synthese nur noch eine beweisdarstellende, aber keine beweisfindende Funktion mehr zu. Pappos' Methode schlösse in dieser Interpretation nahtlos an das Methodenmodell A an, wobei der Teilschritt der Analyse ausdrücklich herausgearbeitet und als Pendant zur Synthese verstanden wird. Allerdings erlaubte dann Pappos' Modell eine Differenzierung zwischen »Erfindungs- und Begründungskontext der Wissenschaft« (ebd., S. 88), da dem Teilschritt der Analyse erfindende Kraft, dem Teilschritt der Synthese beweisdarstellende Kraft zugesprochen wird.
Modell C: Neben diesen beiden antiken geometrisch-mathematischen Methodenmodellen spielt ein weiteres Modell eine wichtige Rolle, das sich innerhalb der empirischen Naturwissenschaften entwickelt hat. Es geht von der aristotelischen Unterscheidung der demonstratio quia und demonstratio propter quid aus, identifiziert diese beiden Beweisarten mit den Methoden der analysis und synthesis bei Galen und bezeichnet sie dann als doctrina resolutiva und doctrina compositiva. (Ebd., S. 89.) Obwohl dieses Modell in Ansätzen schon im 13. Jahrhundert (z.B. bei R. Grosseteste) auftauchte, wird es erst im 15. und 16. Jahrhundert ausführlicher entwickelt. Eine Standarddarstellung desselben findet sich unter dem Titel der >>regressus-Methode« bei dem der Paduer Schule zugehörigen Jacobus Zabarella (1533-1589). 33 >>Regressus« umfaßt bei Zabarella die Teilschritte der resolutio und compositio, wobei der erste Teilschritt von Auf die Bedeutung Zabarellas in Hinsicht auf die Entfaltung dieser Methode und die damit verbundene Mittelstellung desselben zwischen aristotelischer und neuzeitlicher Naturwissenschaft hat Cassirer nachdrücklich hingewiesen. V gl. EP I, 5.136-144. 33
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dem »der Natur nach Späteren« (posterior) zu dem >>der Natur nach Früheren« (prior) führt, ein Fortgang, der zum einen vermittels Induktion vom Einzelnen zum Allgemeinen verlaufen kann oder aber zum anderen - dies ist zugleich die wichtigere Möglichkeit- in Richtung von den uns bekannteren Wirkungen zu den Ursachen. (Ebd., S. 91.) Die compositio oder demonstrative Methode verfolgt hingegen das Ziel, die Wirkungen aus den vermittels der resolutio gefundenen Ursachen abzuleiten. Da aber Ausgangs- und Endpunkt des gesamten regressus jedesmal die (uns bekanntere) Wirkung ist, scheint ein Zirkel unausweichlich zu sein. Zabarella versucht dem dadurch zu entgehen, daß er konstatiert, daß die Ursache in der resolutio anders erkannt werde (nämlich in einer >cognitio confusacognitio quod< entspricht) als in der compositio (hier als >cognitio distincta< bzw. >cognitio propter quid>mentalen Examen« der Ursache bestehen soll und ein rationales Element darstellt, das nicht an die Wahrnehmung gebunden ist und zu einer deutlichen Erkenntnis der Ursache führen soll. Sieht man von diesem Zwischenschritt ab, dann ist durchaus eine Parallele dieses naturwissenschaftlichen Erkenntnismodells zur Methode des Pappos in der platonisch-aristotelischen Version erkennbar. Beide Male steht etwas noch zu Klärendes am Anfang der Untersuchung, nämlich bei Pappos eine zu beweisende Behauptung, bei Zabarella die auf eine noch undeutlich erkannte Ursache zurückgeführte Wirkung. Und beide Male wird die analysis ebenso wie die resolutio als Rückgang oder Aufstieg von den Folgen zu den Prämissen verstanden, wobei diesem Schritt erfindende Kraft zukommt, während die synthesis oder compositio aus dem Ableiten von Folgerungen aus bestimmten Voraussetzungen besteht und beweisende Kraft besitzt. Dies hat später dazu geführt, daß beide Methodenmodelle häufig verwechselt oder miteinander identifiziert wurden. Dennoch macht Zabarella auf einen entscheidenden Unterschied zwischen der resolutio und der (mathematischen) analysis aufmerksam. In der Geometrie werde nicht von dem Bekannten (nämlich den uns bekannteren Wirkungen) zum Unbekannten fortgeschritten, sondern vom Unbekannten (der zu beweisenden Behauptung) zu den bereits als bekannt feststehenden Prinzipien. (Ebd., S. 95.) Dieser Unterschied ist darin
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begründet, daß Zabarellas Regressus-Modell nicht wie das Modell der Geometer von einem vorausgesetzten Axiomensystem ausgeht: »Die resolutio hat hier nicht die Aufgabe, bloß einen Weg von dem zu prüfenden Satz zu >schon bekannten< Prinzipien zu finden, sondern die, die noch unbekannten Prinzipien oder Ursachen selbst aus den bekannten Wirkungen zu erfinden« (ebd., S. 96). Zabarellas Version dieses Modells, das bei ihm noch z. T. der qualitativen aristotelischen Naturauffassung verhaftet war, wird später von Galilei aufgegriffen und zu einer Methode weiterentwickelt, welche dem Aspekt der Quantifizierung und Mathematisierung der Natur besser gerecht werden konnte. Auch Galilei geht bei der resolutiven Methode von einer zunächst durch Beobachtungen als richtig nahegelegten Behauptung aus, die dann aber vermittels der resolutio auf entweder bereits bewiesene Sätze oder auf per se bekannte Prinzipien zurückgeführt werden soll.3 4 D. h. Galilei geht offenbar- ebenso wie Papposvon einem Komplex von Prinzipien aus, die als gültig vorausgesetzt werden. Er entwickelt den von Zabarella noch recht dunkel als >mentales Examen< bezeichneten und zwischen resolutio und compositio eingeschalteten Zwischenschritt weiter im Sinne einer Festlegung von Definitionen und Axiomen, aus denen dann, unabhängig von der unmittelbaren Erfahrung, auf dem Wege rein geometrisch-mathematischer Konstruktionen Folgerungen abgeleitet werden können. 35 Allerdings besitzen diese Definitionen und Axiome bei Galilei insofern hypothetischen Charakter, als noch geprüft werden muß, ob die aus ihnen abgeleiteten Folgerungen mit den Beobachtungen übereinstimmen. Tun sie das nicht, so bleibt davon zwar der Weg der Ableitung der Schlußfolgerungen unberührt, aber nicht die Voraussetzungen, von denen sie ausgehen. Der in dieser Form durchgeführte axiomatische Aufbau einer Naturwissenschaft findet einen ersten Höhepunkt in Newtons 1687 erschienenen Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Interessanterweise beschreibt Newton seine Methode im >Vorwort des Autors an den Leser< in enger Anknüpfung an die Ausführungen Zabarellas als Aufstieg von den (Bewegungs-) Vgl. dazu Engfer 1982, S. 98. Vgl. ebenfalls Galilei, Dialogo, S. 54. Vgl. Engfer 1982, S. 99: >>Die Ableitung dieser Eigenschaften geschieht hier allein unter Voraussetzung der gesetzten Definitionen und Axiome und mit Hilfe der mathematischen Konstruktionen und unterliegt nicht der Kontrolle der Erfahrung.gegeben< angenommen wurde, um dann aus dessen Beziehungen zu anderen gegebenen Größen sowie zu vorausgesetzten Prinzipien und Sätzen Folgerungen ableiten zu können, so werden auch bei Vieta vermöge der Ieges zetetike ausgehend von den in der Gleichung festgelegten Beziehungen der unbekannten Größen zu den bekannten Größen durch Umformung der Gleichung Folgerungen abgeleitet. Dieser Prozeß endet dann, wenn die Gleichung eineNormalform erhalten hat, »in der das Gesuchte, die Größe der Unbekannten, sich als Funktion der als bekannt eingeführten Größen ergibt« (ebd., S. 107). Dennoch gibt es zwei grundlegende Unterschiede der Analysis des Vieta zur Analysis der antiken Mathematik. Erstens geht es bei Vieta nicht mehr um eine allgemeine Methode der Zurückführung einer Ausgangsbehauptung auf gesicherte Prinzipien, sondern vielmehr um eine spezielle Technik derUmformungvon Gleichungen, welche eine Bestimmung unbekannter Größen aus ihrem Verhältnis zu bekannten Größen zum Ziel hat. Zweitens erhält die Analysis eine eigenständige Bedeutung und verliert ihre enge Bindung an eine gegenläufige Methode der Synthesis. Dieser isolierte Begriff der Analysis hat sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts, vor allem im Zusammenhang mit der Infinitesimalrechnung, als Bezeichnung für ein gesamtes Gebiet der Mathematik eingebürgert, und Euler übertrug ihn sogar auf empirische Naturwissenschaften, wie etwa die Mechanik.
Die Wahrung des >Homogenitätsgesetzes< wird dabei immer vorausgesetzt. Vgl. dazu Breger 1991,5.24-28. 36
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ModellE: Ein weiteres Methodenmodell geht schließlich auf die Ars generalis ultima (1480) des Raimundus Lullus zurück. Es stellt die Quelle vieler späterer Versuche dar, die Wahrheitsfindung auf die Grundlage der Kombinatorik zu stellen. Neben den Anstößen, die das Werk von Lullus zu dem Projekt einer lingua universalis gegeben hat, spielte in der Wirkungsgeschichte desselben vor allem die Vorstellung eine Rolle, ausgehend von einer gegebenen Menge einfacher Elemente vermittels deren Kombinationen auf rein formalem Wege neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Idee war insbesondere für solche Konzeptionen von Interesse, die von einer atomistischen Begriffstheorie ausgingen, d. h. die komplexe Begriffe als aus einfachen Begriffen nach Art eines Aggregats zusammengesetzt betrachteten. Wenn man dieser Methode eine echte Erkenntniserweiterung zuschreibt, setzt dies jedoch voraus, daß erstens die als einfach zu betrachtenden Begriffe (bzw. >Ideen< oder >Vorstellungenars inveniendi< vorstellt. Die hier skizzierten Modelltypen, die Descartes nachweislich alle gekannt hat, sollen nun helfen, die drei unterschiedlichen Bedeutungen der >Analyseproblematischer Analysis< und der Analysis als komplementärer Schritt einer dazugehörigen gegenläufigen Methode der Synthesis betrachtet werden. Wie ein roter Faden zieht sich durch Descartes' Schriften seine Kritik an der >Schullogik>Höhen der menschlichen Erkenntnis« zu erklimmen. Der Syllogistik versucht Descartes die wahre Logik gegenüberzustellen, die lehren soll, >>seine Vernunft richtig zu leiten, um die noch unbekannten Wahrheiten zu entdecken« (Descartes, PP, Vorwort, S. XLI). Dieser neuen Logik soll demnach eine erfindende Kraft zukommen, d. h. sie soll eine >ars inveniendi< sein. Als eine solche stellt nun Descartes in seiner Antwort auf die zweiten Einwände gegen die M editationen die Beweisart der Analysis einer davon zu unterscheidenden synthetischen Beweisart gegenüber. (Descartes, Meditationen, S. 140; AT VII, S. 211.) Da Descartes die Ansicht vertritt, daß die alten Geometer sich in ihren Schriften ausschließlich der Synthesis bedient hätten, während sie die Analysis als eine Geheimwissenschaft betrachtet und deshalb nicht dem Publikum preisgegeben hätten, er aber ausschließlich- insbesondere in den Meditationen- den Weg der Analysis gegangen sei, deutet dies auf zweierlei hin. Erstens grenzt er seine eigene Methode von dem Methodenmodell A deutlich ab, welches eine (durch Proklos' Interpretation forcierte) Verknüpfung der euklidischen Methode mit der aristotelischen Wissenschaftstheorie beinhaltete; denn er stellt die Analysis als ein Verfahren, welches >>die Art und Weise lehrt, wie die Sache gefunden worden ist« (ebd., S.141; ATVII, S. 212), der Beweisart der Synthesis gegenüber, welche lediglich einewenn auch zwingende - Ableitung von Konsequenzen aus vorausgesetzten Definitionen, Postulaten, Axiomen etc. vorstelle. Diesen Sachverhalt stellt Cassirer mit Bezug auf die einschlägige Stelle bei Descartes heraus: >>Der Syllogismus zwingt, aber er überzeugt nicht; während die Analysis die innere Gliederung des Problems durchsichtig macht und den Ursprung und Gang der Entdeckung weist« (EPI, S. 449). Zweitens stößt man auf die folgende Schwierigkeit. Wenn Descartes davon spricht, daß die Synthesis den >>entgegengesetzten Weg« wie die Analysis gehe (Descartes, Meditationen, S.141; AT VII, S. 211), so könnte dies darauf hindeuten, daß er Analysis und Synthesis als Teilschritte einer Methode versteht im Sinne des Modells B, und zwar in der platonisch-aristotelischen Interpretation desselben. Dann bedeutete Analyse die Zurückführung einer als problematisch ange-
Descartes, Regulae, S. 9 (Regel2); ATX, S. 363: »[ ... ] scholasticorum [... ]probabilium syllogismorum tormenta [... ]«. Vgl. dazu auch ders., Regulae, S.43 (Regel7); ATX, S.389; Regulae, S.67 (RegellO); AT X, S.405f.; Regulae, S.l21 (Regel14); ATX, S.439f.; Discours, S.29; ATII, S.l8f.; PP, Vorwort an Picot, S.XLI f. 37
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sehenen Behauptung auf bereits als wahr anerkannte Prinzipien, während die Synthese die fragliche Behauptung aus diesen Prinzipien abzuleiten hätte. Allerdings läge dann die zu beweisende Behauptung isoliert vor und die Analyse müßte die Prinzipien >intuitiv< erkennen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß Analyse und Synthese bei Descartes häufig mit dem zweiten und dritten Schritt eines Verfahrens identifiziert wurden, das er im Discours als seine allgemeine Methode vorstellt. (Descartes, Discours, S. 31-33; ATVI, S. 20.) Dort sieht der zweite Schritt die Auflösung eines gestellten Problems in seine Teile und der dritte Schritt den Weg von den Teilen wieder zurück zu deren komplexen Zusammensetzungen vor. 38 Demgemäß wurde die zweite Regel meist als >Regel der Analysis< und die dritte Regel als >Regel der Synthesis< bezeichnet. 39 Insbesondere die Logik von Port Royal hat diese Lesart gefördert, indem Descartes' Begriff der Analyse schlicht als Umkehrung des deduktiv-syllogistischen, synthetischen Verfahrens im Sinne des Modells A interpretiert wurde, was zur Folge hatte, daß sich Descartes' analytische Methode nahtlos in die syllogistische Logik einreihen ließ und infolgedessen sein eigener Ansatz, der sich ja gerade von dieser Tradition abgrenzen wollte, kaum noch deutlich abgehoben werden konnte. 40 Ein wichtiges Abgrenzungskriterium ist darin zu sehen, daß Descartes seine analytische Methode nicht als einen mit einer Synthesis gekoppelten Teilschritt einer übergreifenden Methode versteht, sondern vielmehr die Analysis als eigenständiges Gesamtverfahren dem Verfahren der Synthesis gegenüberstellt. Der Unterschied läßt sich dahingehend spezifizieren, daß die Analysis als mit einer Synthesis gekoppelter Teilschritt immer auf bereits bekannte Prämissen oder Prinzipien führt, wie etwa im Modell B. Ihre >erfindende Kraft< besteht einzig darin, den Weg von der zu prüfenden Behauptung zu diesen Prinzipien zu finden. Demgegenüber besteht das Ziel und die erfindende Kraft der Gesamtmethode der cartesischen Analysis gerade darin, diese Prinzipien selbst aufzufinden. In dieser Hinsicht steht sie dem Verfahren der resolutio von Zabarellas Regressus-Methode nahe, die im Modell C vorgestellt wurde. Genau auf dieses Charakteristikum von Descartes' analytischer Methode lenkt auch Cassirer den Blick, wenn er feststellt, daß es bei derselben nicht darauf ankomme, >>von gegebenen Voraussetzungen aus zu unbekannten Folgerungen fortzuschreiten«, sondern vielmehr darauf, >>die ersten Fundamentalbegriffe selbst erst zu 38 39
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Vgl. dazu auch Descartes, Regulae, 5.29-31 (Regel5); ATX, S.379f. V gl. dazu Engfer 1982, S. 129 f. Engfer 1982, S.131 f. Vgl. dazu auch Arndt 1971,5.56-58.
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entdecken und herauszustellen«. (EP I, S.449.) Darüber hinaus betont Cassirer die Eigenständigkeit derselben dadurch, daß er mit Bezug auf Descartes' Methode von einer »ursprünglichen Analysis« spricht, die unabhängig von jeder Form der Synthesis begriffen werden müsse. (Ebd.) Wenn man bei den zuvor genannten Methodenmodellen nach einem Verfahren der Analysis sucht, das einerseits unabhängig von einer Synthesis verstanden werden kann und andererseits selbst einen analytischen und synthetischen Teilschritt enthält, so wird man auf dieModelleB (im Sinne der geometrischen Praxis des Pappos) und D (die >Algebra< bzw. >analytische Kunst< des Vieta) geführt. Interessanterweise behauptet Descartes, daß er seine Methode, d. h. die Analyse, sowohl der >>geometrischen Analyse« (Descartes, Discours, S.35; ATVI, S.22) bzw. der >>Analysis der Alten« (ebd., S.31; ATVI, S.19) als auch der >>Algebra der Neueren« verdanke, woraus hervorgeht, daß es zwischen beiden Verfahren gemeinsame Grundzüge geben muß. An anderer Stelle wird deutlich, daß er mit der >>Analysis der alten Geometer« (Descartes, Regulae, S.25 (Regel 4); ATX, S. 373) die Geheimwissenschaft meint, die die antiken Mathematiker ihren Schriften als allgemeine Lösungsmethode insgeheim zugrunde gelegt haben sollten, die aber auch von der neueren Algebra wieder aufgegriffen worden sei. Ein Zusatz zur vierten Regel der Regulae offenbart darüber hinaus, daß Descartes explizit Pappos und Diophant als diejenigen nennt, welche noch im Besitz dieser >>wahren Mathematik« gewesen seien. (Ebd., S.l71; ATX, S.376.) Damit wird die Beziehung zur logistica speciosa von Vieta bekräftigt, der seine Methode ebenfalls auf eine Geheimwissenschaft der antiken Mathematiker zurückgeführt und dabei insbesondere Diophant im Auge hatte. Um herauszufinden, welche einheitliche Methode bei Descartes zugrunde liegt, auf die sich nach Cassirers Meinung die Einheit des cartesischen Systems stützt, soll in folgenden Schritten vorgegangen werden. Zunächst kommt es darauf an, mögliche gemeinsame Grundzüge der Methodenmodelle B und D festzuhalten. Diese werden anschließend mit der von Descartes geplanten Universalwissenschaft einer >mathesis universalis< verglichen. Zum Schluß ist dann zu prüfen, wie sich im Lichte dieser Untersuchungen die Beschreibung der cartesischen Methode bei Cassirer darstellt. Pappos (Modell B) ging bei seiner Bearbeitung geometrischer Aufgaben von einer zu beweisenden (unbekannten) Beziehung (S) zwischen einzelnen Elementen einer Figur aus, die einerseits von einer Reihe >gegebener< Beziehungen (G) sowie andererseits von einem
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Komplex von vorausgesetzten Prinzipien (P) abhängt. Der Teilschritt der Transformation, der erste Schritt der Analyse, bestand darin, P, G und S als >gegeben< zugrunde zu legen und dann Folgerungen aus S abzuleiten, von denen im zweiten Schritt, der Resolution, gezeigt wird, daß sie auch allein aus P und G ableitbar sind. Im Unterschied dazu ging Vieta (Modell D) nicht von einer geometrischen Figur aus, sondern von einer Gleichung, die gemäß den in der Aufgabe formulierten Bedingungen aufgestellt wurde. Dabei wurden sowohl die unbekannten als auch die bekannten Größen gleichermaßen mit Buchstabensymbolen bezeichnet. Im ersten Schritt (analysis zetetike) wurde dann die Gleichung in eine Normalform gebracht, in der eine unbekannte Größe in Abhängigkeit von den bekannten Größen dargestellt werden konnte. Anschließend erfolgte in einem zweiten Schritt die numerische Auswertung der Gleichung durch Einsetzen konkreter Zahlenwerte für die bekannten Größen (analysis exegetike). - Der beiden Methodenmodellen (B und D) gemeinsame Grundzug besteht in folgendem. Beidemale hat man es mit etwas >Gegebenem< oder >Bekanntem< und etwas >Gesuchtem< oder >Unbekanntem< zu tun. Dabei gibt es gewisse Anfangsbedingungen und Regeln, die sowohl für das Bekannte als auch für das Unbekannte gelten. Um das Unbekannte aus dem Bekannten abzuleiten, wird zwischen beidem formal nicht unterschieden, sondern das Unbekannte wird als bekannt vorausgesetzt. Aufgrund dieser Annahme werden dann die Beziehungen zwischen Bekanntem und Unbekanntem, die sich aus den Anfangsbedingungen der gestellten Aufgabe und den festgelegten Regeln ergeben, dargestellt und so umgeformt, daß das Unbekannte in seiner Abhängigkeit von dem Bekannten erkennbar ist. Während sich die Grundbedingungen der Algebra allein aus den Bedingungen der Aufgabenstellung sowie den Umformungsregeln (leges zetetike) ergeben, kommt bei der geometrischen Analyse zu der Ausgangsfigur bzw. den darin festgeschriebenen Beziehungen und Postulaten (die als allgemeine Konstruktionsprinzipien analog zu den Umformungsregeln angesehen werden können) noch die Voraussetzung gewisser allgemeiner Prinzipien - nämlich (P) - hinzu, die bei Vietas Algebra fehlen. Bei letzterer ist gewissermaßen die >gesuchte< oder >unbekannte< Größe schon implizit allein durch die Gleichung festgelegt. Die Frage ist nun, wie sich diese analytische Methode, die ihrerseits in zwei Teilschritte gegliedert ist, zur descartesschen Idee einer >mathesis universalis< verhält. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß einige Interpreten zwischen Descartes' allgemeinwissenschaftlicher Methode und der >mathesis universalis< eine strikte Trennlinie ziehen,
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ja sogar gewisse Unvereinbarkeiten zwischen beidem konstatieren. 41 Tatsache ist, daß sich Descartes selbst nie näher zur Beziehung beider Methoden geäußert hat. Der Unterschied wird vor allem darin gesehen, daß sich die >mathesis universalis< als Wissenschaft von >>Ordnung und Maß« (Descartes, Regulae, 5.173 (Appendix zu Regel 4); ATX, S. 378) auf ganz spezielle Gegenstände bezieht, während die allgemeine Methode in dieser Hinsicht völlig unspezifisch sei. Allerdings weist Descartes selbst darauf hin, daß die >mathesis universalis>aus den angeborenen Grundtrieben dieser Methode entsprossen« seien. (Ebd., S. 25 (Regel4); ATX, 5.373.) Diese Äußerungen lassen sich auch so verstehen, daß die Einheit der Methode letztlich die Einheit des jeweiligen Gegenstandsgebietes begründet, auf das sie angewandt wird, daß jedoch diese Richtung der Grundlegung klarer und durchsichtiger vonstatten gehen kann, wenn die Gegenstandsbereiche ihrerseits, wie bei Arithmetik und Geometrie, recht einfach sind. Die allgemeine Methode, wie sie bei Descartes in den ersten zwölf Regeln der Regulae bzw. in den vier Regeln des zweiten Teils des Discours dargelegt ist, liegt einerseits den besonderen Anwendungsbereichen durchgängig zugrunde, erfährt jedoch in denselben jeweils eine gewisse Spezifikation. Daß es Descartes gerade auf diesen wechselseitigen Zusammenhang von Gegenstandsbereich und Methode ankam, kann man daraus ersehen, daß der Discours in seiner vollständigen Ausgabe von 1637 drei ganz unterschiedliche Anwendungsgebiete beinhaltete, nämlich Optik, Meteorologie und (analytische) Geometrie, an denen sich die Methode zu bewähren hatte. D. h. Descartes hat seine allgemeine Methode nie völlig losgelöst von bestimmten Anwendungsgebieten betrachtet. Diese Wechselbeziehung beruht darauf, daß Descartes vermöge seiner allgemeinen Regeln eine Ordnung zwischen den einfachen Teilen bzw. Elementen oder Propositionen postuliert, die sich ausschließlich auf unsere Erkenntnis der Dinge und nicht auf das Sein derselben bezieht. 42 Diese Ordnung >>respectu nostri intellectus« (ebd., S. 87 Vgl. Arndt 1971, 5. 50 f., und Engfer 1982, 5. 138 f.; 5. 139, Anm. 1. Vgl. Descartes, Discours, 5.31; ATVI, 5.20; ders., Regulae, 5.29-39 (RegelnS und 6); ATX, 5.379-387. 41
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(Regel12); ATX, S. 419) beinhaltet einerseits den Gedanken einer notwendigen Verknüpfung der Erkenntnisinhalte untereinander, bietet aber gleichzeitig auch ein Mittel, die Grenzen der Erkenntniskraft zu bestimmen (ebd., S. 53 (Regel 8); AT X, S. 398), innerhalb deren die Möglichkeit besteht, vermittels Intuition und Deduktion zu sicherer Erkenntnis zu gelangen. Die allgemeine Methode verfolgt das Ziel, aufgrund solcher allgemeiner Ordnungsbestimmungen und Regeln, die die Grenzen der Erkenntnis abstecken, Unbekanntes auf Bekanntes dergestalt zurückzuführen, daß es aus den Beziehungen zu dem Bekannten im Rahmen dieser Voraussetzungen sicher - und wenn nötig, durch verschiedene Zwischenstufen- abgeleitet werden kann. Dieser Grundzug verbindet die >mathesis universalis< mit den MethodenmodellenBund D. Die Anwendung der analytischen Methode auf besondere Gegenstandsbereiche läßt diesen allgemeinen Grundgedanken noch deutlicher hervortreten. Betrachtet man beispielsweise Descartes' methodische Vorgaben bei der Lösung spezieller Probleme in der Geometrie, so lassen sich diese durchaus als Spezifikationen eines allgemeinen Verfahrens, nämlich der analytischen Methode, erkennen. Dort heißt es: »Soll nun irgendein Problem gelöst werden, so betrachtet man es zuvörderst als bereits vollendet und führt für alle Linien, die für die Konstruktion nötig erscheinen, sowohl für die unbekannten als auch für die anderen, Bezeichnungen ein. Dann hat man, ohne zwischen bekannten und unbekannten Linien irgendeinen Unterschied zu machen, in der Reihenfolge, die die Art der gegenseitigen Abhängigkeit dieser Linien am natürlichsten hervortreten läßt, die Schwierigkeiten der Aufgabe zu durchforschen, bis man ein Mittel gefunden, um eine und dieselbe Größe auf zwei verschiedene Arten darzustellen; dies gibt dann eine Gleichung, weil die den beiden Darstellungsarten entsprechenden Ausdrücke einander gleich sind. Es sind dann so viele solcher Gleichungen aufzufinden, als unbekannte Linien vorhanden sind« (Descartes, Geometrie, S. 4; AT VI, S. 372). Descartes' analytische Methode zielt somit auf das Auffinden allgemeiner Begründungszusammenhänge ab, innerhalb deren sich Unbekanntes auf Bekanntes zurückführen läßt. Diese Analogie zwischen allgemeiner Methode und >mathesis universalis< wird auch von neueren Interpreten hervorgehoben: »Wie das Lösungsverfahren für Gleichungen mit unbekannten Werten, das Descartes' >Geometria< als Specimen eines in allen mathematischen Wissenschaften anwendbaren Lösungsverfahrens beschreibt, die unbekannten Größen ermittelt, indem es ihre Abhängigkeit von den bekannten Größen aufzeigt, führt die Analyse-[ ... ]- von der bekannten, schon als wahr erwiesenen Aussage zurück auf Aussagen, mittels derer das Bestehen not-
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wendiger Verknüpfungen behauptet wird, durch die die so gewonnenen Aussagen mit der analysierten Aussage verbunden sind« (Arndt 1971, s. 58). Wenn man sich ansieht, welche Merkmale Cassirer in seiner Rezeption der analytischen Methode Descartes' hervorhebt, so stellt man fest, daß er nicht nur die gerade herausgearbeiteten, den Modellen B und D sowie der >mathesis universalis< gemeinsamen Grundzüge im Blick hat, sondern darüber hinaus ein >>neues und positives Erkenntnisideal« (LS, S.4) sich daraus entwickeln sieht. Dieses neue Erkenntnisideal, so Cassirer, bestehe in dem Bewußtsein darüber, daß jedes Problem der Erkenntnis nur von gewissen Voraussetzungen aus, die in der >>Gesetzlichkeit des Erkennens«, d. h. also im Denken selbst liegen, exakt beschrieben und zugleich gelöst werden kann. (Ebd.) Die mit diesem Erkenntnisideal verknüpfte Methode bringt Cassirer mit der analytischen Methode Descartes' in Verbindung; denn: >>Die Methode der Analysis wird für ihn [Descartes] zum Ausdruck seiner erkenntniskritischen Grundgedanken« (ebd., S. 6). Was nach Cassirers Meinung für diese Methode bestimmend ist, besteht im wesentlichen in den Punkten, die sich als die Gemeinsamkeiten der Methodenmodelle B, D und der mathesis universalis ergeben hatten: >>Denn die Analysis geht davon aus, das Gesuchte als gegeben zu betrachten; sie entwickelt aus den Bedingungen der Aufgabe die Mittel zu ihrer Lösung.[ ... ] Problem und Lösung, Bekanntes und Unbekanntes treten hier in dasjenige Verhältnis, das prinzipiell für die Möglichkeit der Erkenntnis gefordert ist. Sie gehören einem allgemeinen systematischen Zusammenhang an, von dem aus sich ihre gegenseitige Abhängigkeit in eindeutiger Weise regelt. In der analytischen Methode erscheint das Unbekannte wie ein Bekanntes, sofern es nämlich durch die Voraussetzungen, die in der Aufgabe liegen, bestimmt ist; andrerseits erscheint das Bekannte als unbekannt, weil es, solange seine Beziehung zum Gesuchten nicht ermittelt ist, systematisch nicht vollkommen determiniert ist« (ebd., S. 6). An diese Feststellung knüpft Cassirer eine allgemeine erkenntnistheoretische Folgerung, die über Descartes hinausgeht; denn vermittels der analytischen Methode, so Cassirer, werde das Verhältnis von Gesuchtem und Gegebenem in einer Weise expliziert, die durchaus mit der idealistischen Auffassung der Erkenntnis übereinstimme. Was als gegeben betrachtet werde, hänge vom Gesichtspunkt der Betrachtung ab, und aus diesem Grunde könne es kein Gegebenes oder Gesuchtes in einem absoluten oder unbedingten Sinne für die Erkenntnis geben. >>Ebenso hat das Gesuchte der analytischen Methode nicht den Sinn einer absoluten unabhängigen Wirklichkeit, die irgendwie äusserlich ergriffen werden
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müsste, sondern es gilt von Anfang an als bedingt durch ursprüngliche Voraussetzungen, aus denen es streng methodisch ableitbar ist.« 43 In ähnlicher Weise hat Cassirer an anderer Stelle in einer späteren Schrift die Merkmale der analytischen Methode in ihrer Anwendung auf die Geometrie und Algebra sowie ihre allgemeine Bedeutung für die Philosophie herausgearbeitet. So gehe der Geometer von einer Figur aus, die bestimmten Bedingungen zu genügen hat, welche in einer gestellten Aufgabe formuliert sind. Diese Bedingungen beinhalten beispielsweise die Geltung gewisser Relationen zwischen einzelnen Elementen der Figur. Dabei werde im Zuge der Lösung des Problems versucht, Verknüpfungen zwischen Bekanntem und Unbekanntem herzustellen, >>vermöge deren das >Gesuchte< als eindeutige Funktion bekannter und >gegebener< Elemente erscheint«. 44 Mit der Aufstellung einer Gleichung sei zugleich ein Komplex von Bedingungen gegeben, im Rahmen dessen sich die Auflösung vollziehen könne: >>Der Ansatz der Gleichung ist, mit anderen Worten, logisch bereits das Entscheidende, dem gegenüber die Auswicklung und die Isolierung der Unbekannten nur wie eine technisch-mathematische Schwierigkeit erscheint« (EP I, S. 450). Den Wert und die Bedeutung der analytischen Methode für die Philosophie im allgemeinen bestimmt Cassirer wie folgt: >>Denn eben dies ist der Grundgedanke, auf den die >Methode< sich stützt: daß die Erkenntnis eine selbstgenügsame und in sich abgeschlossene Einheit ist; daß sie somit für die Aufgaben, die sie sich mit Recht stellen darf, die allgemeinen und hinreichenden Voraussetzungen in sich selber trägt« (ebd., S. 450 f.). Auf die Einheit der Methode in diesem näher erläuterten Sinn gründet sich nach Cassirers Meinung auch die Einheit des Systems der Erfahrungserkenntnis bei Descartes. Die Beispiele, die Cassirer in diesem Zusammenhang beibringt, stammen jedoch ausschließlich aus den mathematischen Wissenschaften. In diesen Fällen drückt sich der 43 LS, S. 6. Cassirer bezieht sich auf die 17. Regel der Regulae, die jedoch in einem speziellen Kontext des Reduzierens von Proportionen auf Gleichungen steht, einer Aufgabe, welche die Analyse im Rahmen der mathesis universalis zu bewältigen hatte. Vgl. Engfer 1982, S. 141 f. Cassirers Wiedergabe des Textes beinhaltet eine Verallgemeinerung, die diesen speziellen Kontext außer acht läßt. Er verweist darüber hinaus ganz allgemein auf die Regeln 13 und 14 der Regulae sowie das erste Buch der Geometrie. 44 EP I, S. 450. Cassirer denkt hier an die Regel13 der Regulae, in der es u. a. heißt: >>Obgleich aber andererseits in jedem Problem etwas unbekannt sein muß, denn sonst würde das Problem ja zwecklos gestellt, sollte dasselbe doch durch bestimmte Bedingungen so bezeichnet sein, daß wir in jeder Beziehung festgelegt sind, eine Sache und nicht eine andere aufzuspüren.>Ganze der Methode« besitze, auch für das Urteil über Descartes' Wissenschaftsauffassung bedeutsam sei; denn hätte sie keinen Bezug >>Zu den Tatsachen der Beobachtung«, bliebe sie ein >>spekulatives Luftschloß« (EPI, S.469). Das zentrale methodische Problem sei dabei insbesondere >>das Verhältnis der mathematischen Grundlagen der Physik zu Erfahrung und Beobachtung« (LS, S. 70). Schon im Discours hatte Descartes seine allgemeine Methode auf die Gebiete der Optik, Meteorologie und Geometrie zu übertragen versucht, wobei jedoch nur die Optik und Meteorologie Erfahrungswissenschaften im eigentlichen Sinne waren. Im Zuge dieser Übertragung mußte die analytische Methode modifiziert werden, da Beobachtungen und Experimente in das Methodenkonzept integriert werden mußten. 45 So vertritt Cassirer die Auffassung, daß Descartes' Anwendung der analytischen Methode auf die Physik sich zu einer, wie er es nennt, >>Logik der Erfahrung« gestalte (EP I, S. 470 ), die zugleich Wie stark bei den cartesischen Überlegungen das empirische oder das mathematisch-apriorische Moment hervortritt, variiert von Fall zu Fall. Dies erschwert eine genauere Einschätzung der Bedeutung des Experiments für die cartesische Physik nicht unerheblich. Auch heute noch gehen die Meinungen darüber auseinander. Vgl. etwa Buchdahl1969, S. 82: >>[ ... ], many are inclined to dismiss Descartes' deductive method as indicative of an insufficient understanding of the experimental aspects of science, [... ]«. Vgl. dazu auch Röd 1971, S.29f.; Engfer 1982, S.145f.; Dijksterhuis 1983, S. 464. 45
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den Systembegriff von einer neuen Seite her zu beleuchten vermag; denn: >>Der Systembegriff der Mathematik ist also eben damit Systembegriff der Naturwissenschaft« (LS, S.16). Auf welche Weise wird die analytische Methode im Rahmen ihrer Anwendung auf die Erfahrungswissenschaften modifiziert und in welchem Sinne kann bei Descartes von einem System der Erfahrung gesprochen werden? Um diese Fragen zu beantworten, analysiert Cassirer ein konkretes Problem aus Descartes' Studien zur Optik, nämlich das der Konstruktion der >anaklastischen Linieunvollkommen verstandene Probleme< betrachtet: die Bestimmung der anaklastischen Linie und das cartesische Gesetz der Lichtbrechung. 49 In einem Anhang zur achten Regel der Regulae erläutert Descartes, was man in der >Dioptrik< 50 unter einer anaklastischen Linie versteht. Damit sei die Linie gemeint, die parallel auftreffende Strahlen in der Weise bricht, daß dieselben nach dem Brechungsvorgang alle in einem Punkt zusammenlaufen. 51 Insofern die Bestimmung dieser Linie von dem Verhältnis zwischen Einfallsund Brechungswinkel abhängt, ist dafür die Kenntnis des Gesetzes der Lichtbrechung eine unerläßliche Voraussetzung. Da dieses Gesetz wiederum der Physik angehört, läßt es sich aus einer >isolierten Mathematik>jene Philosophen, die die Erfahrung mißachten und dann glauben, daß die Wahrheit aus ihrem eigenen Gehirne entspringe, wie Minerva aus dem des Jupiter« (ebd., S. 29 (Regel 5); ATX, S. 380), d. h. er will offenbar damit sagen, daß es- in kantischer Terminologie gesprochen- nicht a priori aus reinen Begriffen, also unabhängig von der Erfahrung ableitbar ist. Wie verhält sich aber dazu die zweite Bemerkung, daß es auch nicht aus der Erfahrung zu entnehmen sei? Der Ausdruck >>Erfahrung« (>>experience«, >>experientia«) ist bei Descartes vieldeutig und seine Bedeutung muß aus dem Kontext erschlossen werden, in dem er steht. 52 Unter den Bedeutungen, die sich bei Descartes für diesen Ausdruck finden lassen, sind für den gegenwärtigen Zusammenhang vor allem zwei interessant: >>ErfahVgl. LS, S. 70f.; EP I, S.472-475. Diese Bezeichnung hat Descartes offenbar von Kepler übernommen. Vgl. dazu Descartes, Dioptrik, Einleitung (Leisegang), S. 20. 51 Zum folgenden vgl. Descartes, Regulae, S.175-179 (Apppendix zur Regel8); AT X, S. 393-395. 52 Clarke unterscheidet mindestens sechs verschiedene Hauptbedeutungen von >ErfahrungThe term >experienceObservation«, >>observatio«) im Sinne von Sinneswahrnehmung (>>experience des sens«) verstanden, wobei zwei Arten von Beobachtungen unterschieden werden. Zum einen solche Beobachtungen, >>die sich unseren Sinnen von selbst anbieten« (>>celles qui se presentent d'elles-memes a nos sens«) und zum anderen solche Beobachtungen, die unter sehr speziellen und >>geringfügigen« Bedingungen stattfinden (>>les circonstances dont elles dependent sont quasi toujours si particulieres et si petites, qu'il est tres malaise de les remarquer«), so daß sie sehr schwer zu bemerken seien. (Descartes, Discours, S. 103-1 05; AT VI, S. 63 f.) Offensichtlich denkt Descartes hier an den Unterschied zwischen >gewöhnlicherErfahrung< in Betracht, dann führt die analytische Methode auch auf solche einfachen Elemente, die gedanklicher oder >ideeller< Natur sind. Das Ziel der analytischen Methode bestünde dann darin, die >ideellen< Bedingungen der empirischen Beobachtungen aufzusuchen. In unserem Beispiel aus der Optik geht Descartes so vor, daß er zunächst nach der Bedingung (oder den Bedingungen) sucht, von der (denen) das Verhältnis von Einfalls- und Brechungswinkel abhängt. Bei der Suche nach dieser Bedingung wird er auf die Verschiedenheit der Dichte der Medien geführt. Er konstatiert, daß der Brechungsindex, der aus dem Verhältnis von Einfalls- und Brechungswinkel hervorgeht, variiert, wenn man die Dichte der brechenden Medien variiert. Dazu sind Experimente nötig, vermöge deren der numerische Wert des Brechungsindex für ein spezielles Medium bestimmt werden kann. Entscheidend für dieses Verfahren ist das Absehen von einer Reihe von Nebenumständen, die zwar in gewissen Situationen Einfluß auf die Bestimmung dieses Wertes haben können, die aber gegenüber der grundlegenden Abhängigkeit des Brechungsindex von der Dichte der Medien nur als zufällige und unwesentliche Störfaktoren zu betrachten sind. 56 Um zu erreichen, daß diese Abhängigkeit möglichst ungetrübt festgestellt werden kann, führt Descartes eine Reihe von Idealisierungen ein, die mögliche Störfaktoren ausschalten sollen, wie z. B. die Annahme, daß die Lichtstrahlen sich genau geradlinig ausbreiten oder daß das Medium völlig homogen ist. (Descartes, Dioptrik, S. 72; ATVI, S. 88.) In einem weiteren Schritt wird diese Abhängigkeit des Verhältnisses von Einfalls- und Brechungswinkel von der Dichte der Medien ihrerseits auf die Abhängigkeit von weiteren Bedingungen untersucht. Descartes findet dann heraus, daß dieselbe von der Art abhängt, wie der Lichtstrahl das Medium durchdringtY D. h. er geht von der Betrachtung ganz bestimmter Medien zum Verhalten von Lichtstrahlen in Medien überhaupt über und kommt damit zur Formulierung seines allgemeinen Brechungsgesetzes, das besagt, daß das Verhältnis der Sinuswerte von Einfalls- und Brechungswinkel für alle Medien konstant ist. Dieses allgemeine Brechungsgesetz beruht seiVgl. dazu Röd 1971, S. 80, und Clarke 1982, S. 20. Vgl. dazu Clarke 1982, S. 39: ,, The standard problern here is the presence of interfering factors in the experimental situation which are not taken into account by the theory or hypothesis being tested.« Vgl. dazu auch ebd., S.45f., Anm. 52. 57 Descartes, Regulae, S.117 (Appendix zu Regel 8); ATX, S.394: »[ ... ] hanc mutationem pendere a modo, quo radius penetrat per totum diaphanum, [ ... ].« 55 56
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nerseits auf der Erkenntnis der »Natur des Leuchtens« (>>illuminationis naturam«). (Ebd.) Dabei denkt Descartes offenbar an noch allgemeinere Bedingungen, die seiner Theorie des Lichtes zugrunde liegen, wie z. B. die Annahme, daß das Licht aus der Bewegung eines feinen Lichtstoffs, der aus der subtilen Materie erster Art gebildet wird, besteht. 58 In diesem Zusammenhang spielen Modelle und Analogien eine wichtige Rolle, wie z. B. die Analogisierung des Verhaltens der Teilchen der subtilen Lichtmaterie mit dem Verhalten von Bällen, deren Bewegungen durch unterschiedlich dichte Medien, wie etwa Luft oder Wasser, auf unterschiedliche Weise behindert werden. Und schließlich geht Descartes noch einen Schritt weiter und erklärt, daß man, um zu wissen, wie die Natur des Leuchtens beschaffen sei, vorher wissen müsse, was >>Überhaupt eine Naturkraft« 59 sei. Wenn man die Wendung >>generaliter potentia naturalis« besser mit >>allgemeiner natürlicher Wirkungsweise« übersetzte, da bei Descartes explizit von>> Kraft« (>>vis«) - etwa im Sinne Keplers, der diesen Begriff wohl als erster in Naturerklärungen eingeführt hat- nirgendwo die Rede ist, dann weist diese Bemerkung auf seinen allgemeinen mechanistischen Naturbegriff hin, aufgrund dessen alle natürlichen Wirkungsweisen auf die Grundbegriffe Ausdehnung, Gestalt und Bewegung zurückgeführt werden müssen. Descartes' Naturbegriff und die damit verbundenen Prinzipien stellen die absoluten und einfachen Elemente in der hier entwickelten aufsteigenden Reihe von Bedingungen dar. 60 Hier ist man an der Nahtstelle angelangt, an der die begründende Funktion von Descartes' Metaphysik einsetzt, also an der Stelle, an der der Stamm seines Systems in die Wurzeln übergeht. An diesem Punkt kann die Untersuchung des Beispiels abgebrochen werden. Zum Abschluß geht es um die Folgerungen, die Cassirer aus seiner Interpretation desselben zieht. Dabei stehen drei Fragen im Vordergrund. Erstens: Wie betrachtet Cassirer das Verhältnis von Descartes' analytischer Methode und ihrer Modifikation in der Anwendung auf Erfahrungsinhalte? Zweitens: Worin drückt sich seiner Meinung nach der Systemgedanke aus, der mit dieser Anwendung 58 Vgl. Descartes, Dioptrik, S. 83: »Das Licht ist nichts anderes als eine gewisse Regung oder Bewegung, die von einer sehr feinen Materie aufgenommen wird, die die Poren aller Körper füllen.« ATVI, S.l03. Zu Descartes' Unterscheidungdreier Arten von Materie vgl. ders., PP, S. 84 f. 59 Descartes, Regulae, S.177; ATX, S.395: »quid sit generaliter potentia naturalis«. 60 Vgl. Descartes, Regulae, S.l77; ATX, S.395, wo von der allgemeinen natürlichen Wirkungsweise die Rede ist, »quod ultimum est in tota hac serie maxime absolutum«.
Descartes' System der Erfahrung
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verbunden ist? Drittens: Welche Rolle spielt in seinen Augen der Funktions begriff, d. h. in welchem Sinne kann Descartes' methodisches Vorgehen als Ausdruck einer >funktionalen Erkenntnisauffassungabsoluten Elemente< bzw. die Prinzipien, auf die die resolutio letztlich hinführt, sehr eng mit den »allgemeinen Bedingungen jeder Erkenntnis überhaupt« (EPI, S.461) verknüpft sind, was sich insbesondere in ihrer Abhängigkeit von seinem Naturbegriff ausdrückt (ebd., S.463). Die aufsteigende Reihe der resolutio endet nicht bei speziellen Axiomen und Definitionen, die einer bestimmten physikalischen Theorie angehören, sondern Descartes versucht diese wiederum auf eine Einheit allgemeinster Voraussetzungen der Erkenntnis der Natur zurückzuführen, welche er in den Grundlagen seines mechanistischen Weltbildes entwickelt hat. Auf der Einheit dieses Naturbegriffs, sofern er mit Descartes' Anwendung der analytischen Methode in den Erfahrungswissen61 LS, S. 70. Vgl. dazu auch EP I, S.472: »Unsere Forschung muß darauf gerichtet sein, aus einfachen Komponenten, die wir selber zusammenfügen, aus Bedingungen, die wir erschaffen, deduktiv ein Ergebnis abzuleiten, das den Erscheinungen durchgehend entspricht.«
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schaften einhergeht, beruht nach Cassirers Meinung auch die Einheit des cartesischen Systems der Erfahrung. Der Systemgedanke, auf den sich die zweite o. g. Frage bezieht, kommt seiner Ansicht nach darin zum Ausdruck, daß die Analyse eine aufsteigende Reihe gedanklicher und hypothetischer Voraussetzungen entwickelt, die für ein komplexes physikalisches Phänomen aufgestellt werden, wobei der Fortschritt sich vom Besonderen zum Allgemeinen hin vollzieht bzw. vom Komplexen zum Einfachen. 62 Bemerkenswert daran ist, daß die resolutio >erfindende Kraft< in dem Sinne besitzt, daß sie immer allgemeiner werdende Bedingungen erforscht, daß aber die erkenntnisbegründende Funktion in umgekehrter Richtung verläuft, daß also die allgemeinen Prinzipien gewissermaßen die Bedingungen der (Erkenntnis-)Möglichkeit der besonderen Prinzipien und Grundsätze sind. Somit muß die gesamte Reihe bereits vor der Erkenntnis des komplexen empirischen Phänomens durchlaufen werden. Diese Reihe der Bedingungen hängt vermöge der Einheit der Methode mit ihren Teilschritten der compositio und resolutio- in systematischer Weise zusammen. Der entscheidende Punkt für Cassirer ist der, daß die unmittelbare Beobachtung des Phänomens erst unter Zugrundelegung dieses Gesamtkomplexes gedanklicher oder begrifflicher Teilbedingungen den Wert einer wissenschaftlichen Erfahrungstatsache erhält: >>Wir nehmen nicht wahllos jede Tatsache hin, die die Beobachtung uns darbietet, sondern wir versuchen die Synthesen der Natur in der Synthese einfacher gedanklicher Elemente vorwegzunehmen; wobei allerdings erst die Übereinstimmung mit den Phänomenen uns der Wahrheit einer bestimmten Annahme versichern kann«. 63 >>Der konkrete Vorgang der Physik wird also hier als ein Ineinander allgemeiner, mathematisch darstellbarer Bedingungen aufgefasst; die Methode fordert, dass die Isolierung und gesonderte Behandlung dieser >abstrakten< Bedingungen der Betrachtung der empirischen Wirklichkeit vorangehe. So behalten zwar Experiment und Einzelbeobachtung ihr Recht; aber nicht als gültiger Anfang der
62 Vgl. dazu auch Buchdahl, der die cartesische Ableitung des Gesetzes der Lichtbrechung eingehend analysiert hat. Buchdahl1969, S. 139: »We see that in this example, >resolution< really does involve descending to the actual physical conditions (>the causesDeduktion< in einem sehr weiten Sinn von >Ableitung< auffassen muß, auch eingedenk des Umstands, daß dieser Ausdruck bei Descartes selbst vieldeutig ist. 65 Eine weite Interpretation des Begriffs der Deduktion wird zusätzlich durch die unterschiedliche Natur der einzelnen Stufen des Bedingungskomplexes nahegelegt. Denn es ist durchaus fraglich, ob sich etwa aus dem allgemeinen mechanistischen Naturbegriff die spezielle Theorie des Lichtes in einem streng logischen Sinne deduzieren läßt, oder ob das Verhältnis der Theorie des Lichtes zum allgemeinen mathematischen Brechungsgesetz oder dieses allgemeinen Gesetzes zur speziellen empirischen Bestimmung des Brechungsindex eines besonderen Mediums als Deduktion im syllogistischen oder mathematischen Sinne adäquat beschrieben werden könnte. Festzuhalten bleibt jedoch, daß es sich dabei immer um ein Fortschreiten vom Allgemeinen zum Besonderen handelt, so daß man den Übergang von einer Stufe zur nächsten am besten mit dem Begriff der Spezifikation umschreiben kann, wobei offengelassen werden muß, welches genaue Verfahren bei diesen Spezifikationen jeweils befolgt wird, je nachdem, ob es sich um allgemeine Prinzipien, Modelle, Analogien oder mathematische Gesetze handelt. Obwohl Cassirer in dieser frühen Phase seiner Auseinandersetzung mit Descartes (d. h. 1899-1906) das cartesische System der Erfahrung noch nicht explizit mit einer Invariantentheorie in Verbindung bringt, lassen sich doch zumindest gewisse Anklänge daran feststellen. Denn die aus der Analyse hervorgehende aufsteigende Reihe von Bedingungen offenbart zugleich eine Reihe von Bestimmungen, die in gewissem Sinne relative Invarianten in bezug auf die nächst niedrigere Stufe vorstellen. Beispielsweise sind die allgemeinsten Prinzipien der cartesischen Naturlehre Invarianten relativ zu allen besondere physikalischen Theorien, die innerhalb dieser 64 Descartes, Regulae, S.31 (Regel6); AT X, S.382: »[ ... ] per quandam seriem ab eo deduciDeduktion< die Ableitung von Sätzen aus gegebenen Prämissen nach Art der mathematischen Folgerung.Deduktion< bedeutet aber bei Descartes, [... ],vielfach auch die syllogistische Folgerung.[ ... ] (c) Schließlich bedeutet >Deduktion< bei Descartes ein Verfahren, das als eine (freilich noch primitive) Vorstufe von Kants transzendentaler Deduktion aufgefaßt werden kann.>Wir konnten die allgemeine Tendenz der neuen Wissenschaft kurz in der Formel aussprechen: daß in ihr der Substanzbegriff durch den Funktionsbegriff ersetzt und überwunden wird. Eben dieser Grundgedanke ist es, den Descartes in seiner Logik und Wissenschaftstheorie zum erstenmal in voller Klarheit erfaßt und darstellt, und äußere Hilfe suchen, sondern hier allein in der Zerlegung der Aufgabe in ihre Teilbedingungen die Lösung erwarten dürfen.Abbildtheorie der Erkenntnis< verfallen, die zurück zu ontologischen Fragestellungen führe: >>So sehr sich Descartes auch hier bisweilen dem Gedanken nähert, daß die >Wirklichkeit< der Naturphänomene nichts anderes als ihre wechselseitige notwendige Verknüpfung und ihren objektiv-gesetzlichen Zusammenhang bedeutet: so wird dieser Gedanke doch im Ganzen des Systems nicht festgehalten. Wieder wird jetzt für die Gesamtheit der mathematisch-physikalischen Erfahrung die >Übereinstimmung< mit einem anderen, unerfahrbarem Sein gefordert, das ihr entspricht und zugrunde liegt« (ebd., S. 496).
3. Die Einheit des Systems bei Leibniz a) Allgemeine Bemerkungen zu Cassirers Deutung des leibnizschen Systemgedankens Drei Jahre nach seiner Dissertation über Descartes folgte im Jahre 1902 Cassirers umfangreiches Werk über Leibniz. (LS) Dem Erscheinen dieses Werkes gingen die ebenfalls um die Jahrhundertwende publizierten Untersuchungen von Bertrand Russell (A critical exposition of the philosophy of Leibniz. Cambridge 1900) und Louis Couturat (La logique de Leibniz d'apres des documents inedits. Paris 1901) voraus. Die beiden letzteren Arbeiten richteten ihr Hauptaugenmerk auf die Entwicklung der leibnizschen Logik sowie auf die Frage, inwieweit dieser Logik eine Grundlegungsfunktion für Leibniz' Metaphysik zuzusprechen sei. Daß sich das Interesse beider Autoren gerade an diesen Punkten entzündete, war sicherlich kein Zufall, gelten doch Russell und Couturat als Verfechter der >logizistischen Richtung< innerhalb des Grundlagenstreits der Mathematik, einer Richtung, welche das Schwergewicht auf die Einheit von Mathematik und Logik gelegt und in Verfolgung dieses Ziels die Logik der Relationen weiterentwickelt hatte in der Hoffnung, damit ein sicheres Fundament für das Gebäude der Mathematik liefern zu können. Die Logizisten betrachteten alle mathematischen Sätze als analytische Urteile, so daß sich dieselben ebenso wie die Grundsätze der Logik auf identische Urteile zurückführen lassen müßten. Daraus ergab sich dann der Berührungspunkt mit dem leibnizschen Postulat, alle Vernunftwahr-
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heiten vermittels einer Analyse in endlich vielen Schritten auf identische Sätze zurückzuführen. 67 Diese Interessenslage blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Deutung des leibnizschen Systembegriffs. So heißt es beispielsweise bei Russell gleich zu Anfang: » The philosophy of Leibniz, though never presented to the world as a systematic whole, was nevertheless, as a careful examiniation shows, an unusually complete and coherent system « (Russell1900, S. 1). Aufgrund dieser Voraussetzung sieht Russell seine Aufgabe als Kommentator darin, dieses System so zu rekonstruieren, wie es Leibniz eigentlich selbst konstruiert haben müßte, es aushistorisch-kontingentenGründen aber nicht habe tun können. Bei dieser Rekonstruktion geht es Russell darum, aus Leibniz' Philosophie eine kleine Zahl von Prämissen herauszukristallisieren und dann aus diesen Prämissen alle grundlegenden Sätze des Systems zu deduzieren.68 Somit bringt er in seiner Interpretation des leibnizschen Systembegriffs denselben mit einer bestimmten Methode in Verbindung, die der synthetischen Methode Euklids in der Interpretation des Proklos, wie sie am Methodenmodell A (vgl. II.2. b.) näher erläutert wurde, sehr nahe kommt. Das bedeutet, daß Russell, wenn er den systematischen Aspekt von Leibniz' Philosophie im Auge hat, vornehmlich an ein axiomatisch-deduktiv gegliedertes Gebäude denkt mit Grund- und Folgesätzen, die in einem notwendigen Zusammenhang stehen. Aber er war sich durchaus bewußt, daß dies nicht die Form war, in der Leibniz selbst seine Philosophie explizit dargelegt hat, sondern seine (Russells) eigene Rekonstruktion. Vermutlich sind angesichts der ungeheuren Komplexität- sowohl was die Quellenlage als auch die Fülle der Inhalte angeht, mit denen sich Leibniz im Laufe seines Lebens beschäftigt hat - solche Rekonstruktions-Versuche der Grundlinien und Grundmotive seiner Philosophie (und vor allem seiner Metaphysik) ein gangbarer Weg, sich seinen philosophischen Positionen zu nähern. 69 Neben einer Zahl 67 Vgl. etwa Leibniz, Monadologie, §35, S.41f. Vgl. dazu auch Körner 1968, S.37f. 68 Vgl. Russell 1900, S.3f.: »We shall find that Leibniz's philosophy follows almost entirely from a small number of premisses. The proof that his system does follow, correctly and necessarily, from these premisses, is the evidence of Leibniz's philosophical excellence, and the permanent contribution which he made to philosophy.« 69 Leibniz war bekanntlich vor allem als Jurist und Diplomat tätig und hat zeit seines Lebens nie eine akademische Lehrtätigkeit ausgeübt. Dennoch ist die Mannigfaltigkeit seiner Interessen kaum zu überschauen. Vgl. etwa Mates 1986, S.14f.: >>Despite such duties, andin addition to his studies in philosophy and mathematics, he managed to make significant contributions in the fields of theology, jurispru-
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kleinerer Aufsätze, die vor allem im Journal des sravans erschienen sind, bildete die Theodizee (1710) das einzige umfangreichere Werk, das zu Leibniz' Lebzeiten gedruckt wurde. Alles übrige konnte im Laufe der Zeit aus seinem ungeheuren Nachlaß von z. T. schon fertiggestellten Schriften, unfertigen Entwürfen, Briefen, unzähligen Notizen etc. erst nach und nach erschlossen werden, und diese Arbeit dauert unvermindert an.7° Die kaum zu überblickende Mannigfaltigkeit von Einzelwissenschaften, denen Leibniz' Interesse gegolten und zu denen erz. T. eigene substantielle Beiträge geleistet hat, legen die Vermutung nahe, daß diese Arbeit sein metaphysisches System der Monadologie wesentlich beeinflußt hat. Es ist davon auszugehen, daß aus Leibniz' Beschäftigung mit den besonderen Wissenschaften viele seiner Motive zur Ausgestaltung seiner Metaphysik hervorgegangen sind. So hat er beispielsweise nicht nur die Mathematik selbst durch die Erfindung der Infinitesimalrechnung inhaltlich bereichert, sondern er hat darüber hinaus aufgrund der Beschäftigung mit dieser besonderen Wissenschaft eine Reihe von Prinzipien und Ideen gewonnen, die später in verallgemeinerter Form in seiner Metaphysik wieder auftauchen.7 1 Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß Leibniz viele entscheidende Thesen seiner späteren Metaphysik weniger durch strikte deduktive Argumentationen einzuführen und zu begründen, sondern vielmehr durch eingängige Analogien plausibel zu machen versucht, die zu einem großen Teil der Mathematik, aber auch den empirischen Naturwissenschaften entnommen sind.72 Da es im Begriff von Analogien liegt, daß sie ein Verhältnis von Verhältnissen beinhalten, führt die Anwendung von Analogien gerade dann zu dence, political and economic history, philology, politics, technology, and architecture; he was also knowledgeable in physics, chemistry, astronomy, geology, archaeology, linguistics, and literature, and his correspondence and papers are full of analysis and original ideas in such diverse areas as medicine and public health, numismatics, military science, cryptanalysis, genealogy.>ihrer fertigen Ausbildung«, in den >>starren dogmatischen Einzelsätzen der Monadologie beschlossen und beschränkt glaubt« (ebd., S. XI). Statt dessen gelte es, letztere >>ursprünglich in ihrer Wirksamkeit im Ganzen der wissenschaftlichen Arbeit aufzufassen und festzuhalten«. >>Die letzten abgeschlossenen Fixierungen bilden nur den Niederschlag eines gedanklichen Prozesses, dessen eigentliche Triebkräfte es erst zu entdecken und in ihrem Gegeneinanderwirken aufzufassen gilt« (ebd.). niz am Studium der Einzelwissenschaften genährt ist, hat umgekehrt wiederum für seine sämtlichen wissenschaftlichen Entdeckungen die unmittelbare Anregung gegeben.logisch< naheliegende Übereinstimmung mit den Ansätzen von Russell und Couturat ist nur scheinbar, da Cassirer hier an eine Interpretation von >logisch< denkt, die über die formale Logik hinausgeht und sich eher an der transzendentalen Logik Kants orientiert.
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Auf dieser Grundeinstellung beruht Cassirers Deutung des leibnizschen Systembegriffs. Im letzten Kapitel hatte sich gezeigt, daß Descartes die analytische Methode auf >unvollkommen verstandenevollkommen verstandene< Probleme zu verwandeln und so der mathematischen Behandlung zugänglich zu machen. Die Analyse führte ihn auf einen Komplex von Bedingungen, in die das zu untersuchende Phänomen eingeschlossen wurde. Diese Bedingungen waren recht unterschiedlicher Natur und variierten vor allem hinsichtlich ihrer Allgemeinheit. Die allgemeinste Bedingung lag schließlich im Begriff der Ausdehnung, die Descartes auch als ausgedehnte Substanz bestimmte. Genau an diesem Punkt setzt Leibniz' Kritik an Descartes ein. Er wirft ihm vor, daß er >>die Natur der Substanz im Ganzen nicht erkannte« (Leibniz, PS I, S. 197). Descartes sei, so Leibniz, zur Lösung der schwierigsten Fragen fortgeschritten, ohne >>die darin enthaltenen Begriffe erklärt zu haben« 76 • Und hier setzt auch Cassirers Interpretation an, indem er Leibniz' Hauptinteresse darin sieht, daß für ihn (Leibniz) >>die logischen Prinzipien des Wissens zum ersten Male zum Selbstzweck geworden« (EPII, S.126) seien. D.h. er erblickt in Leibniz' Monadenlehre den höchsten Punkt eines erkenntnistheoretischen und methodischen Grundlegungsversuchs, der die allgemeinsten Prinzipien der Erkenntnis zum Gegenstand hat. Da für Leibniz' Begriff der Monade die Momente der Aktivität, Tätigkeit und Entwicklung wesentlich sind, überträgt Cassirer diesen Entwicklungsgedanken auch auf die Grundbegriffe und Prinzipien der Erkenntnis. Sofern die Entwicklung dieser Prinzipien bei Leibniz >>von einem einheitlichen systematischen Interesse geleitet und beherrscht« (ebd.) sei, liegt nach Cassirers Meinung in der Einheit ihres Zusammenhangs das Charakteristikum des leibnizschen Systemgedankens verborgen. Dabei höben sich zwei hauptsächliche Entwicklungsstufen voneinander ab. Zum einen gelte es, >>das mathematische Motiv der Systembildung« herauszuarbeiten, das zu einem >>System der mathematischen Prinzipien« führe, welches gewissermaßen die oberste Grundlage aller weiteren Prinzipien darstelle. (LS, Vorrede, S. XI.) Das System dieser Prinzipien beruhe vor allem auf den Begriffen der Einheit und Unendlichkeit, deren immer weitere Ausdifferenzierung das entscheidende Motiv für die Entwicklung des mathematischen Begriffssystems insgesamt gewesen sei.77 Die zweite hauptsächliche Entwicklungsstufe 76 Leibniz, PS I, 5.196: »Nam saltu quodam ad gravissimas quaestiones solvendes processerat, notionibus ingredientibus non explicatis.>Begründungsproblem der neuzeitlichen Wissenschaften als ErfahrungswissenschaftenSysteme nouveau< erstmals in einer Abhandlung mit dem Titel >Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l'union qu'il y a entre l'ame et le corpsSystem< und >Hypothese< wird noch dadurch gestützt, daß Leibniz von drei verschiedenen Möglichkeiten, die den wechselseitigen Einfluß von Seele und Körper erklären sollen, als von drei Systemen spricht, die er aber ebenso als verschiedene Hypothesen auffaßt. 83 Dies legt folgende Deutung des Systembegriffs bei Leibniz nahe. Er versteht unter >System< eine bestimmte Grundidee oder einen Grundgedanken, der,
Eine Ausnahme macht hier Arndt. Er untersucht genauer die möglichen Bedeutungen des Systembegriffs bei Leibniz. Vgl. Arndt 1971, S.l18-123. 81 Dieser Ansicht scheint z. B. auch Mates zu sein, wenn er unter dem Titel >The system in outline< die leibnizsche Monadenlehre und die mit ihr verbundenen Voraussetzungen und Grundsätze darstellt. V gl. Mates 1986, S. 36-46. 82 Leibniz, PS I, S. 228. Allerdings ging Leibniz davon aus, daß es doch »quelque chose de plus qu'une Hypothese« sei, vor allem wegen der Erklärungskraft, die diese Hypothese mit sich führe. Vgl. ebd., S.222-224. 83 Leibniz, PS I, S. 258-261; vgl. ebenso ebd., S. 288 f. 80
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wenn er (hypothetisch) vorausgesetzt und in seinen Konsequenzen weiterentwickelt würde, in der Lage wäre, eine plausible Erklärung sowohl für wesentliche philosophische Einzelprobleme (z. B. die Wechselwirkung von Seele und Körper) als auch für deren Zusammenhang (allgemeine Wechselwirkung aller Substanzen) zu liefern. 84 Aber Leibniz verwendet den Ausdruck >System< nicht immer einheitlich, so daß auch noch andere interessante Bedeutungsnuancen sichtbar werden. Dazu ist anzumerken, daß Leibniz von seinem >systeme nouveau< zwar erstmals explizit 1695 spricht, daß er aber gleichzeitig darauf hinweist, daß er dieses System schon vor mehreren Jahren (ebd., S.201) entworfen habe. Vermutlich denkt er dabei an den 1686 verfaßten Discours de metaphysique, der bereits alle wesentlichen Punkte seines Systems beinhaltet. Dort spricht er von >System< im Zusammenhang mit einem >>allgemeinen System der Erscheinungen« (>>le systemegeneraldes phenomenes«) (ebd., S. 92/93), wobei er unter >Erscheinungen< alles das versteht, >>was uns jemals zustoßen kann« (>>taut ce qui nous peut jamais arriver«) (ebd., S. 94/95). >Erscheinungen< werden hier im Sinne einer Reihe von Perzeptionen verstanden, die einer individuellen Substanz eigentümlich sind bzw. deren Natur ausmachen. Entscheidend ist, daß diese Erscheinungen >>eine gewisse Ordnung bewahren« (>>ces phenomenes gardem un certain ordre«), die sich in >>gewissen Gründen oder Gesetzen« (>>certaines raisons ou loix«) manifestiert, die es gestatten, >>daß wir Beobachtungen machen können, die dazu nützen, unser Verhalten zu regeln und die durch den Erfolg zukünftiger Erscheinungen gerechtfertigt werden« (>>que nous pouvons faire des observations utiles pour regler nostre conduite qui sont justifiees par le succes des phenomenes futurs«) (ebd.). Das Systematische im System der Erscheinungen besteht darin, daß man es mit einer gesetzmäßig geordneten Reihe zu tun hat, deren Einzelglieder oder Einzelelemente (die Perzeptionen) einem Inbegriff von Gesetzen unterworfen sind, die den systematischen Zusammenhang dieser Einzelelemente garantieren. Vermittels dieser Gesetze können erfolgreiche Prognosen in bezug auf das zukünftige Eintreten einzelner Erscheinungen gemacht werden. Eine Deutung des Systembegriffs im Sinne eines Inbegriffs von Gesetzen 84 Diesen Aspekt des leibnizschen Systembegriffs hat insbesondere Arndt hervorgehoben. Vgl. Arndt 1971, S.118: »Er bezeichnet bei Leibniz vorwiegend einen Grundgedanken, von dem aus als einem perspektivischen Zentrum sich die Gesamtheit einer Theorie erschließt.[ ... ] So bezieht sich zumeist der Leibnizsche Gebrauch dieses Wortes auf einen einzelnen Gedanken, der aber dadurch ausgezeichnet ist, daß er den Blick öffnet auf den Zusammenhang dessen, was dem System unterworfen ist, .].« [.
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oder Regeln wird auch dadurch nahegelegt, daß Leibniz an anderer Stelle davon spricht, daß es Regeln geben könne, »die der Bildung eines Systems ganz und gar entgegengesetzt« (»contraires a la formation d'un systeme«) 85 seien. Und obwohl der Kontext zeigt, daß es sich hier nicht um Gesetze einer Abfolge von Perzeptionen handelt, sondern um die mechanischen Bewegungs- und Stoßgesetze, die das Verhalten von Körpern (als >phaenomena bene fundataPhänomen< gemeinsam, daß es ein Inbegriff von Regeln und Gesetzen ist, der das Systematische in ihnen konstituiert. Dazu paßt auch, daß Leibniz in den Erläuterungen seines Systems von 1795/96 darauf hinweist, daß gerade sein System es sei, welches >>alle Naturgesetze der Körper« bewahre ungeachtet aller Veränderungen, die als >>Folge der Modifikationen der Seele« stattfinden können. 86 Eine weitere Lesart von >System< findet man in der vermutlich um 1690/91 entstandenen Abhandlung Discours touchant Ia methode de Ia certitude et l'art d'inventer. 87 Hier geht es weder um ein Prinzip zur Konstruktion eines metaphysischen Systems noch um ein System von Erscheinungen, sondern um ein System der Wissenschaften, insbesondere im Hinblick auf die Methode, vermöge deren wir uns über unser gesamtes überliefertes und gegenwärtiges Wissen einen Überblick
Leibniz, PS I, S. 116 f. V gl. auch ders., Specimen d ynamicum, S. 22 (Zeile 298 f.). Speziell in bezug auf die Mechanik spricht Leibniz von »[ ... ] regulae motus quas systematicas appellaram«. 86 Leibniz, PS I, S.236: »et c'est ce qui se fait par mon systeme, qui conserve Ia force et Ia direction, et en un mot toutes !es loix naturelles des corps, non obstant !es changemens qui s'y font en consequence de ceux de l'ame.« (Alle hier angegebenen Zitate orientieren sich an der Schreibweise des Französischen, die zu Leibniz' Zeiten üblich war. Deshalb liegt häufig auch eine andere Art der Setzung der Akzente vor, als dies in der modernen französischen Sprache üblich ist.) Dieses Zitat zeigt auch, daß Leibniz hier ein Erhaltungsgesetz (von bewegender Kraft inklusive Richtung) als Beispiel für ein allgemeines Naturgesetz im Auge hat. Dabei ist zu beachten, daß bei Leibniz die »allgemeinsten Gesetze Gottes«, welche die allgemeine Ordnung des Universums als ganzes garantieren, von den (spezielleren) Naturgesetzen der Körper unterschieden werden müssen, wobei letztere in bezug auf die ersteren lediglich als »subordinierte Maximen« verstanden werden. Vgl. dazu Buchdahl1969, S.461 f. Für die Körper qua •phaenomena bene fundata< gelte: »So everything that is called >natural< is defined by these subordinate maxims (laws of nature) only; nature can be understood by us only through these laws.« 87 Sie ist abgedruckt (nach der 1765 erschienenen Edition von Raspe) in G. W. Leibniz, Opera philosophica, einer Ausgabe leibnizscher Schriften, die 1840 von Erdmann besorgt wurde. Sie findet sich ebenfalls in Auszügen in PS IV, S.206-213. Bedauerlicherweise enthalten diese Auszüge die interessanten Ausführungen von Leibniz zum Begriff des Systems gerade nicht und geben nur den Schluß der Abhandlung wieder. Vgl. dazu Arndt 1971, S.120f. 85
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verschaffen könnten. Voraussetzung dafür ist zunächst, das Wissen einer besonderen Wissenschaft seinerseits in einer systematischen Ordnung zu erfassen. Zu diesem Zweck unterscheidet Leibniz eine rein alphabetische Zusammenstellung einfacher Termini, die in ausschließlich deskriptiver Weise nur anzeigt, wer welchen Gegenstand abgehandelt hat, von einer Darstellung, die mehr ins Detail geht und bemerkenswerte Thesen und Beobachtungen mit Gründen und Gegengründen vorstellt. Nach Leibniz' Auffassung liefern insbesondere die Darstellungen zweiter Art den Stoff zur Anordnung eines >wirklichen Systems< (eines >systeme accompliEinheit< Bekanntlich beruht nach Leibniz unsere Vernunfterkenntnis auf »zwei großen Prinzipien«: dem Prinzip des Widerspruchs und dem Prinzip des zureichenden Grundes. (Leibniz, Monadologie, § 31§ 32, S. 40 f.) Das Prinzip des Widerspruchs, das er mit dem Prinzip der Identität gleichsetzt, ist die Grundlage der gesamten Mathematik: »Die große Grundlage der Mathematik ist das Prinzip des Widerspruchs oder der Identität, d. h. der Satz, daß eine Aussage nicht gleichzeitig wahr und falsch sein kann, daß demnach A = A ist und nicht = non A sein kann. Dieses einzige Prinzip genügt, um die Arithmetik und die Geometrie, also alle mathematischen Prinzipien, abzuleiten« (Leibniz, HS I, S. 124 ). Diese Behauptung legt die Vermutung nahe, daß Leibniz damit ein Programm verfolgt, das auf die Verschmelzung von Mathematik und Logik hinausläuft und somit dem Programm der Logizisten entspricht. Cassirers Interpretationsansatz geht davon aus, daß letzteres aber gerade nicht der Fall ist, weil bei Leibniz der Sache nach ein Verständnis von der Logik und dem Satz des Widerspruchs vorliege, welches von demjenigen der Logizisten, die unter Logik eine rein formale Logik verstehen, abweiche. Gegen das Unternehmen, die inhaltlichen Voraussetzungen der Mathematik auf die Prinzipien einer rein formalen Logik zu gründen, wirkten seiner Ansicht nach bei Leibniz »von Anfang an die widerstreitenden Tendenzen, die sich aus Leibniz' wissenschaftlicher Gesamtarbeit ergeben mussten« (LS, S.108). Cassirer denkt dabei insbesondere an Leibniz' Lehre von der Realdefinition, die seiner Meinung nach einerseits die inhaltliche Eigenständigkeit mathematischer Grundsätze gegenüber der Logik betont und die andererseits die Grundlage für seine Deutung des leibnizschen Systembegriffs liefert. Leibniz' Lehre von der Realdefinition hat im wesentlichen zwei Wurzeln. Die eine Wurzel geht auf seine Kritik am cartesischen (dem >ontologischenRealdefinition< an den hier genannten Stellen noch nicht auf. Sie enthalten aber alle vorbereitende Überlegungen zu der Unterscheidung von Nominal- und Realdefinition. 93 Vgl. Leibniz, PSI, S.41: >>Wann auch immer man nun aber eine adäquate Erkenntnis hat, hat man auch eine apriorische Erkenntnis der Möglichkeit.« Ebd., S. 40: >> Et quidem quandocunque habetur cognitio adaequata, habetur et cognitio possibilitatis a priori«. Vgl. auch GP III, S.449: »de Ia possibilit>Was man als möglich voraussetzt, wird durch die Definition ausgedrückt, aber diese Definition ist nur nominal, wenn sie nicht zugleich die Möglichkeit des Gegenstands zum Ausdruck bringt.>Meiner Meinung nach besteht dieser Unterschied darin, daß die Realdefinition die Möglichkeit des Definierten anzeigt, was die Nominaldefinition nicht tut.« 95 Leibniz, PSI, S.128f. Vgl. dazu auch ebd., S.41, wo es heißt, daß ein Begriff stets möglich sei, wenn kein Widerspruch auftrete. Vgl. ebenso GP I, S. 337: »Car si ces definitions, ou si vous voules, ces choses definies sont impossibles, elles enfermeront contradictionsSed notio circuli ab Euclide proposita, quod sit figura descripta motu rectae in plano circa extremum immotum, definitionem praebet realem, patet enim talem figuramesse possibilem.« Merkwürdig ist nur, daß Leibniz diese Definition auf Euklid zurückführt, obwohl dieser den Bewegungsbegriff bei seiner Kreisdefinition nicht benutzt. Zur Realdefinition des Kreises bei Leibniz vgl. auch GP I, 385: »Mais quand on dit que le cercle est une figure decrite par une droite qui se meut dans un planen sorte qu'une extremite demeure en repos, on connoist Ia cause ou realite du cercle.absurdum implicat«), sieht man wie folgt ein. Angenommen, ein Nagel bewege sich auf der Felge eines Rades, das einen gegebenen Radius besitzt, auf diesem Radius mit der größten Geschwindigkeit. Man vergrößere den Radius und setze den Nagel an die Felge des Rades mit diesem größeren Radius. Dann wird sich der Nagel mit größerer Geschwindigkeit bewegen als vorher (vorausgesetzt die Winkelgeschwindigkeit bleibt konstant), was aber im Widerspruch zur Voraussetzung steht. (Leibniz, PS I, S. 38 f.) >>Auf den ersten Blick könnte es indessen so scheinen, als ob wir eine Idee der schnellsten Bewegung hätten; wir verstehen nämlich durchaus, was wir sagen, und dennoch haben wir keinesfalls eine Idee von unmöglichen Gegenständen« (ebd., S. 39). So hat man nach Leibniz durchaus eine Idee von dem Wesen der Bewegung, der Natur der Geschwindigkeit und dem Begriff des Größten. Dennoch kann man unter dieser Voraussetzung die Frage, ob diese drei Begriffe kompatibel seien, ob sie also in einer Idee der schnellsten Bewegung verknüpft werden könnten, keineswegs beantworten. (Leibniz, GP IV, S. 294.) Die Real- oder Kausaldefinitionen haben die Aufgabe, die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) der aus solchen Verknüpfungen hervorgehenden Gegenstände darzulegen, indem sie den Grund der Verknüpfung einsichtig machen. Der Grund der Verknüpfung wird einsichtig, indem man den definierten Gegenstand gemäß den in der Definition enthaltenen Anweisungen konstruktiv erzeugt. Diese Konstruktion muß im Einklang mit gewissen allgemeinen Konstruktionsprinzipien Vgl. dazu Leibniz, GP I, 5.338: >>Nam numerus maximus idem est cum numero omnium unitatum. Numerus autem omnium unitatem idem est cum numero omniumnumerorum (nam quaelibet unitas addita prioribus novum semper numerum facit). Numerus autem omnium numerorum implicat, quod sie ostendo: Cuilibet numero datur respondens numerus par qui est ipsius duplus. Ergo numerus numerorum omnium non est major numero numerorum parium, id est totum non est majus parte.Logik< nur eine formale Logik versteht, die von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert: »Schon hier jedoch ist zu beachten, dass auch die Widerspruchslosigkeit eines Begriffs keineswegs mehr durch die formale Logik, sondern durch die Grundprinzipien wissenschaftlicher Erfahrung verbürgt gilt.[ ... ] Allgemein gehört also die Entscheidung über die Möglichkeit eines Inhalts für Leibniz einem Zusammenhang von Problemen an, der über die Logik im gewöhnlichen Sinne hinaus die Frage nach den Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis einschließt und voraussetzt« (LS, S. 112 f.). Zweitens sieht Cassirer bei Leibniz eine Verallgemeinerung des Konstruktionsgedankens der Mathematik auf alle (zumindest wissenschaftlichen) Begriffe: »Für Leibniz wird sie [die Konstruktion] wiederum zum bezeichnendsten Ausdruck der Produktivität des Denkens, damit aber zu einer allgemeinen Bedingung der Begriffsbildung: Begriffe sind nur gültig, sofern sich in ihnen ein ursprüngliches Gesetz der Konstruktion von Inhalten darstellt« (ebd., S.113). Damit erhält drittens der Begriff der Konstruktion eine Bedeutung, die nicht mehr notwendig einen Bezug auf Anschauung beinhaltet, sofern es dabei ausschließlich auf eine zugrundeliegende
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gesetzmäßige Verknüpfung (oder Synthesis) ankommt: »Die >Causalität>fundamentale methodische Gesetzlichkeit« ist offenbar nichts anderes als die Einheit der allgemeinen Bedingungen (z. B. Axiome, Postulate etc.) derjenigen Wissenschaft, der der zu definierende Begriff angehört. Der Nachweis seiner Möglichkeit verlangt, daß er diesen Bedingungen genügt. Dadurch wird die Willkür des Definierens eingeschränkt: >>So ist innerhalb von Geometrie und Physik die wissenschaftliche Begriffsbildung bedingt durch die ursprüngliche Gesetzlichkeit der Voraussetzungen; in dieser Bedingtheit wird sie der kombinatorischen Willkür entzogen und auf feste methodische Regeln eingeschränkt« (ebd., S.l21). Welche Beziehungen bestehen nach Cassirers Meinung zwischen diesen Überlegungen zu Leibniz' Begriff der Realdefinition und dessen Systembegriff? Rückblickend kann man feststellen, daß sich bei Leibniz (mindestens) drei Varianten eines Systembegriffs vorfinden. (Vgl. den Schluß von Abschnitt II. 3.a.) Neben dem System als Hypothese der praestabilierten Harmonie entdeckt man den Gedanken eines Systems der Erscheinungen, welches sowohl die Reihe der Perzeptionen einer Einzelsubstanz als auch die Reihe der >phaenomena bene fundataMöglichkeit< mit >Gegenständlichkeit< gleich. Dies läßt sich zum einen dadurch rechtfertigen, daß man Leibniz' Ausdruck >realiteGegenständlichkeit< wiedergeben kann, und zum anderen durch einen Vorgriff auf Kants Begriff der >realen MöglichkeitObjektivität< gleichzusetzen ist. Denn der Sache nach entspricht der Begriff der Möglichkeit, der in Leibniz' Realdefinitionen zum Ausdruck kommt, dem kantischen Begriff der realen Möglichkeit. 107
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nur in einem Entwicklungsprozeß erreichen, bei dem die Erweiterung des Umfangs der Erkenntnisse zugleich von einer Vertiefung und Verallgemeinerung der grundlegenden Erkenntnisprinzipien begleitet wird. In welchem sachlichen Zusammenhang steht der Gedanke eines Systems der Wissenschaften mit der Lehre von der Realdefinition? Kausaldefinitionen (als apriorische Realdefinitionen) schränken die Möglichkeiten der willkürlichen Verknüpfung von Begriffen oder Ideen dadurch ein, daß sie eine >ursprüngliche Gesetzlichkeit von Voraussetzungen< zugrunde legen. Diese Voraussetzungen stehen aber nicht von vornherein fest, sondern entwickeln sich in dem Maße, in dem eine Wissenschaft an Bewußtsein über ihre eigenen Grundlagen und Prinzipien gewinnt. Dieser Prozeß ist offenbar nicht von spezifischen Faktoren einer jeweiligen Einzelwissenschaft abhängig, sondern besitzt gleichermaßen für alle Wissenschaften denselben Charakter. D. h. er läßt sich auch als ein Prozeß von der Entwicklung der Erkenntnis überhaupt verstehen. Sofern Leibniz die apriorische Erkenntnis der Möglichkeit einer Sache als notwendige Bedingung für die adäquate (d. h. klare und deutliche) Erkenntnis derselben betrachtet und die adäquate Erkenntnis auf einer hinreichend weit durchgeführten Analyse beruht (Leibniz, PSI, S.35-37), kommt der Methode der Analyse bei dem Fortschritt in diesem Prozeß eine wichtige Rolle zu: >>Wann auch immer man nun aber eine adäquate Erkenntnis hat, hat man auch eine apriorische Erkenntnis der Möglichkeit; ist nämlich die Analyse bis zum Ende durchgeführt worden, so ist der Begriff stets möglich, wenn kein Widerspruch auftritt« (ebd., S.41 ). Die Analyse hat somit die Aufgabe, die allgemeinen Möglichkeitsbedingungen offenzulegen, die dann die Grundlage für den apriorischen Möglichkeitsnachweis der in Kausaldefinitionen zu definierenden Gegenstände abgeben. Sie kann einerseits bei Nominaldefinitionen ansetzen, die an die Stelle von Realdefinitionen gesetzt werden oder aber bei Realdefinitionen, die hypothetisch zugrunde gelegt werden und den Ausgangspunkt für die Suche nach weiteren, tiefer liegenden Prinzipien bilden. So heißt es bei Leibniz: >>Eine Hypothese begründen bzw. die Art und Weise der Entstehung zu erklären ist nichts anderes, als die Möglichkeit einer Sache dartun, was auch dann von Nutzen ist, wenn das betreffende Ding nicht auf die genannte Weise entstanden ist. [ ... ] wenn man [ ... ] eine Hypothese oder Entstehungsart gefunden hat, so hat man eine Realdefinition, aus der wiederum andere ableitbar sind, aus denen dann, wenn es um die tatsächliche Entstehungsweise des Dinges geht, diejenigen ausgewählt werden, die mit den übrigen Umständen der Sache am meisten über-
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einstimmen« (Leibniz, PS IV, S. 143; Übersetzung leicht modifiziert). Daraus ist ersichtlich, daß Realdefinitionen und insbesondere Kausaldefinitionen sich nicht ad hoc formulieren lassen, sondern das Ergebnis eines analytischen Denkprozesses sind, der zu gewissen fundamentalen Prinzipien führt. 108 Diese Form der Analyse ist nach Cassirers Meinung eine wesentliche Voraussetzung für den Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften: »So wird hier die reine apriorische Ableitung jedweden Inhalts durch die Aufweisung seiner >Erzeugung< oder seiner >Ursache< zwar als allgemeine Aufgabe festgehalten; zugleich aber wird auf eine Reihe notwendiger vermittelnder und vorbereitender Denkschritte hingewiesen, die dieser Operation vorangehen müssen. Es bedarf einer langen und mühevollen Arbeit begrifflicher Analyse, es bedarf der immer erneuten Sichtung und Zerlegung unserer empirischen und reinen Begriffe, ehe wir zu jenen ersten Elementen gelangen, mit denen der synthetische konstruktive Aufbau der Erkenntnis beginnen kann« (EPII, S.130). »Die Einzelwissenschaften zwar können und sollen, von ersten Prinzipien aus, die sie hypothetisch zugrunde legen, ihren Fortgang beginnen, ohne sich davon beirren zu lassen, ob nicht jene Voraussetzungen selbst noch weiterer Zerlegung fähig und bedürftig sind« (ebd., S.131). Wenn der Analyse demnach die Aufgabe zukommt, allgemeine Möglichkeitsbedingungen einer Sache offenzulegen, dann beruht auf der Einheit dieser Bedingungen die Möglichkeit der Gegenstände, deren Begriffe in den Realdefinitionen verknüpft werden. Diese Bedingungen sind jedoch nicht vorgegeben, sondern müssen erst allmählich in den besonderen Wissenschaften entwickelt werden. Dieser Prozeß gestaltet sich so, daß zunächst gewisse Realdefinitionen hypothetisch vorausgesetzt und anschließend auf ihre Konsequenzen hin untersucht werden. Cassirers Deutung des leibnizschen Systembegriffs knüpft an den von Leibniz entwickelten Gedanken der immer weiter fortschreitenden Offenlegung und Umgestaltung der Grundprinzipien der konkreten Wissenschaften an. Er setzt als Interpretationshypothese voraus, daß die dabei auftretenden Grundprinzipien und Grundbegriffe in einem inneren Zusammenhang stehen, da sie alle der Bewältigung der einen Aufgabe dienten, »das Ganze der Erkenntnis aus relativ wenigen einfachen Elementen aufzubauen« (ebd., S.141). Die Bewältigung einer solchen Aufgabe erfordert die Zusammenfassung der 108 So definiert Leibniz •Analyse< wie folgt (PS IV, S.149): »Die Analyse[ ... ] geht einzig zur Lösung eines Einzelproblems von diesem zu den Prinzipien zurück und verfährt dabei so, als ob es nichts von uns oder anderen bereits Entdecktes gäbe.«
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Grundprinzipien der besonderen Wissenschaften in einem System von Prinzipien der Erkenntnis überhaupt. Es ist sicher richtig, daß Leibniz selbst ein solches System nirgendwo in seinen Schriften ausgeführt hat. Wenn man aber das Konzept der Realdefinitionen, welches die Grundprinzipien einer besonderen Wissenschaft voraussetzt, dergestalt ausweitet, daß man sich Möglichkeitsnachweise von Begriffen vorstellt, die auf den Grundprinzipien der Erkenntnis überhaupt beruhen, dann ist der Weg zu Cassirers Interpretation des leibnizschen Systems nicht mehr allzu weit. Seine Interpretation vermag darüber hinaus die engen Beziehungen, die zwischen Leibniz' allgemeinen philosophischen Prinzipien und deren Ursprüngen in den Einzelwissenschaften bestehen, weit besser zu erhellen als die Interpretationen, die sich zu einseitig auf die Abhängigkeit der leibnizschen Metaphysik von der Logik verlegen. Cassirer unterscheidet drei Hauptgruppen von >Prinzipien gegenständlicher Erkenntnis überhauptgegebenen< Einzelinhalts zu analysieren. Von dieser Warte aus, so Cassirer, müsse man >>die Harmonie bewundern, die zwischen Leibniz' allgemeinen philosophischen Interessen und den besonderen Aufgaben besteht, vor welche die Entwicklung der Einzelwissenschaften ihn stellt. Eine Harmonie, die wahrhaft >prästabiliert< heißen kann, da sie nicht auf einem zufälligen Zusammentreffen verschiedenartiger Gedankenreihen beruht, sondern mit Notwendigkeit aus dem einheitlichen methodischen Grundplan der Leibnizschen Forschung hervorgeht« (EPII, S.l53). Wenn man die Einheit als wesentliches Moment des Systembegriffs festhalten muß und den Systembegriff bei Leibniz mit Cassirer als Entfaltung eines Systems von Begriffen auffaßt, die >>als Erzeugnisse des reinen Denkens und als Bedingungen der Realität der Erfahrungsgegenstände« (LS, S. 369) betrachtet werden, dann erhält auch der Einheitsgedanke eine besondere Ausprägung. Denn die Einheit des Begriffssystems als eines allgemeinen Systems von Bedingungen für die Möglichkeit oder Realität eines Erkenntnisinhalts erhellt nicht daraus, daß die Mannigfaltigkeit der Einzelwissenschaften in dem Sinne zu einer Einheit zusammengeschlossen würde, daß man von deren Besonderheiten abstrahierte, sondern daraus, daß in diesen Einzelwissenschaften eine einheitliche Methode des Erkenntnisfortschritts zum Ausdruck kommt. Diese Methode besteht darin, daß in
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jeder Wissenschaft nach den begrifflichen Bedingungen gesucht wird, welche die Möglichkeit ihres Gegenstands verbürgen sollen. Die Einheit des Systems konstituiert sich nicht dadurch, daß das Viele als Eines gedacht wird, sondern vielmehr dadurch, daß das Eine im Vielen gedacht wird. Während sich in der ersten Variante eine kollektive Einheit ausdrückt, ist unter letzterer eine distributive Einheit zu verstehen. Es ist interessant zu sehen, daß Leibniz über diesen Begriff der distributiven Einheit durchaus verfügte. Einen ersten Hinweis darauf findet man in Leibniz' Vorwort zu seiner Herausgabe von De veris principiis philosophandi von Marius Nizolius. Leibniz gab dieses ursprünglich 1553 erschienene Werk im Jahre 1670 erneut heraus und ging in einem dazu verfaßten Vorwort auf Vorzüge und Mängel der Theorie der Allgemeinbegriffe, welche Nizolius darin entwickelt hatte, ausführlich ein. Nizolius hatte behauptet, daß ein Allgemeinbegriff nichts anderes sei als die Zusammenfassung vieler Einzeldinge unter einem gemeinsamen Namen. In diesem Sinne wären Allgerneinbegriffe nichts anderes als »kollektive Ganzheiten«. 110 Nach Leibniz ist es zwar richtig zu sagen, daß, wenn jeder Mensch ein Lebewesen ist, auch gilt, daß alle Menschen Lebewesen seien. Daraus, so Leibniz, folge aber nicht, daß das Allgemeine ein kollektives Ganzes sein müsse. Denn das würde bedeuten, daß, wenn man sagt: »alle Schafe, die hier weiden, sind weiß«, und dies dem Satz entspricht: »die ganze Herde ist weiß«, man unter der Voraussetzung, daß das Allgemeine mit der Summe der Einzelexemplare identisch wäre, folgern könnte, daß die ganze Herde ein Schaf sei. 111 Damit ist offenbar gemeint, daß, wenn man das Allgemeine mit der Anzahl vorhandener Einzelexemplare identifizierte, und nur ein Exemplar vorhanden wäre, das Allgemeine folgerichtig mit diesem Exemplar zusammenfiele. Statt dessen schlägt Leibniz vor, das Allgemeine als ein >totum distributivum>subsidiary principle« (Rescher 1967, S.47) oder als >>lesser one« (Mates 1986, S.152; S.162) rangiert. 119 Einig war und ist man sich im allgemeinen über die enge Anbindung dieses Prinzips an Leibniz' mathematische Forschungen, vor allem im Zusammenhang mit seiner Entwicklung des Infinitesimalkalküls. 120 Allerdings reicht seine Bedeutung über die Mathematik weit hinaus. Es findet bei Leibniz Anwendung in den Gebieten der Physik (Gesetze des elastischen Stoßes), der Biologie (kontinuierliche Veränderung der Arten), der Psychologie (Übergang von bewußten in unbewußte Perzeptionen) sowie der Metaphysik (kontinuierliche Verknüpfung der Zustände einer Monade). 121 Leibniz selbst hat es erstmals in seiner Schrift Principium quoddam generate non in mathematicis tantum sed et physicis utile von 1687 öffentDer Zusammenhang dieser Konzeption mit Leibniz' Studien zur Mathematik und Infinitesimalrechnung ist augenfällig; denn: >>Wie dort in einer mathematischen Funktion das Bildungsgesetz formuliert ist, aus dem sich unendlich viele Einzelwerte errechnen lassen, so soll hier im Begriff der individuellen Substanz das Gesetz gegeben sein, aus dem sich ihre einzelnen Zustände bestimmen lassen«. Engfer 1982, S. 178. Vgl. dazu auch EP II, S. 144; S. 154. Mit dem Begriff des unum per se war auch ein verändertes Verständnis von Begriffsanalyse bei Leibniz verbunden. Während auf der Grundlage des Zahlbegriffs die Auflösung der Begriffe in einfache Elemente mit der Zerfällung eines Ganzen in seine Teile zusammenfiel, sah sich Leibniz später gezwungen, beide Operationen strikt zu unterscheiden. Vgl. dazu GPIII, S.583 (Brief an Bourget vom 5.8.1715): »Plusieurs qui ont philosophe en Mathematique sur le Point et sur l'Unite, se sont embrouilles, faute de distinguer entre Ia Resolutionen Notionset Ia Divisionen Parties. Les parties ne sont pas toujours plus simples que le tout, quoyqu'elles soyent toujours moindres que le tout.notwendiges Requisit« (>>requisitum m!cessaire«) für Theorien und Gesetze der Natur. (Leibniz, PS IV, S.230; S.262.) Das Prinzip, von dem die Rede ist, ist das Prinzip (oder Gesetz) der Kontinuität. 123 Warum erhält dieses Prinzip in Cassirers Leibniz-Deutung ein so großes Gewicht im Vergleich zu anderen Interpretationen? Das liegt in erster Linie daran, daß Cassirer einen Aspekt dieses Prinzips besonders betont, der für seine Gesamtinterpretation des leibnizschen Systems (bzw. des leibnizschen Systembegriffs) von entscheidender Bedeutung ist. Er interpretiert nämlich- wie bereits angedeutet- Leibniz' System als ein System von Begriffen, die als allgemeine Bedingungen von Gegenständlichkeit bzw. Möglichkeit (im leibnizschen Sinne) der Gegenstände überhaupt angesehen werden können. Diese Bedingungen konstituieren insofern eine (distributive) Einheit als ihnen eine einheitliche Methode der Entwicklung zugrunde liegt, die sie miteinander verbindet. In dieser Methode finden sich zwei gegenläufige Entwicklungstendenzen vereinigt, nämlich die extensionale Ausweitung des Stoffes und die Verallgemeinerung und Vertiefung der Prinzipien. Diese zugrundeliegende allgemeine Entwicklungsmethode, die das Prinzip des inneren Zusammenhangs des Begriffssystems enthält, ist bislang noch nicht näher charakterisiert worden. Schon bei oberflächlicher Betrachtung wird erkennbar, daß sie für die cassirersche Interpretation von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Interessanterweise bringt Cassirer diese Methode mit Leibniz' Kontinuitätsprinzip in Verbindung: >>Die Begriffe und Erkenntnisse müssen also, um in ihrem Beisammen verstanden zu werden, in kontinuierlicher Veränderung nach einem bestimmten Gesetz des Uebergangs auseinander hervorgehend gedacht werden. Das System der Begriffe muss den Gedanken der Entwicklung in sich aufnehmen. Das leitende Prinzip dieser Entwicklung ist wiederum der Gedanke der Kontinuität, der somit jetzt eine neue Funktion erhält, indem er die Forderung eines gesetzlichen Zusammenhangs der Erkenntnisprobleme vertritt«. 124
122 Vgl. Leibniz, PSIV, S.230: >>Principium hoc Ordinis Generalis ab infinito habet originem, magnique in ratiocinando usus est, quanquam non satis usurpatum nec pro amplitudine sua cognitum.« 12 3 Vgl. dazu z. B. Otte 1993, sowie ders. 1994, Kap. XIV, S.364-390. 124 LS, S.220. Vgl. dazu auch EPII, S.l58: »So wird auch das Prinzip der Kontinuität, das Leibniz als den letzten Grund seiner Analysis bezeichnet, von ihm über-
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Was mit dieser Forderung gemeint sein könnte, soll im folgenden zunächst anhand einiger Beispiele diskutiert werden. Die ersten beiden Beispiele stammen aus dem Bereich der Geometrie, und zwar aus der Lehre der Kegelschnitte. Leibniz wußte bereits, daß die Kegelschnitte »durch den Schatten oder die Projektion des Kreises entstehen« (»per umbram seu projectionem circuli fieri Conicas«) (Leibniz, PS IV, S. 230) und daß bei dieser Projektion Geraden in Geraden überführt werden. Er betrachtet im ersten Beispiel die Situation, daß eine Gerade einen Kreis in zwei Punkten schneidet, und die Projektion dieses gesamten Gebildes in einen anderen Kegelschnitt (z. B. eine Ellipse oder Hyperbel), der ebenfalls von der projizierten Geraden in zwei Punkten geschnitten wird. Wird nun die den Kreis in zwei Punkten schneidende Gerade dergestalt bewegt, daß die zwei Schnittpunkte immer näher aneinanderrücken bis die Schnittgerade in eine Tangente des Kreises übergeht und diesen somit nur noch in einem Punkt berührt, dann folgt aufgrund des Kontinuitätsprinzips, daß auch die Schnittpunkte der projizierten Geraden mit dem projizierten Kegelschnitt sich kontinuierlich einander annähern und in dem Augenblick zu einem Punkt zusammenfallen, in dem auch die ursprünglichen Schnittpunkte zusammenfallen. Die Schlußfolgerung, die Leibniz daraus zieht, ist die folgende: >>Auf diese Weise läßt sich eines der Haupttheoreme über die Kegelschnitte beweisen, ohne Umschweife und Aufwand von Figuren, auch nicht für jeden Kegelschnitt besonders, sondern ganz allgemein, durch bloße geistige Anschauung«.125 Auch das zweite Beispiel ist der Lehre der Kegelschnitte entnommen. Es lasse sich, so Leibniz, der Begriff der Ellipse demjenigen der Parabel beliebig annähern, so daß der Unterschied kleiner wird als jeder beliebig klein vorgegebene Unterschied. Dies geschieht dadurch, daß die beiden Brennpunkte der Ellipse immer weiter (kontinuierlich) voneinander entfernt werden. Auf diese Weise läßt sich die Parabel als eine Ellipse betrachten, bei der der eine Brennpunkt unendlich weit von dem anderen entfernt liegt, bzw. deren Unterschied von der Ellipse beliebig klein gemacht werden kann. Auch dieses Beispiel beinhaltet eine weiterreichende Konsequenz: >>Man wird somit kraft unseres Prinzips alle geometrischen Theoallals ein Prinzip der Ordnung und der Methode des Denkens eingeführt.Bedeutung des Kontinuitätsprinzips für die Systematik der Begriffe« (LS, S. 230) sowie dem Kontinuitätsprinzip als Prinzip der >>Ordnung und der Methode des Denkens« (EP II, S.l58) spricht. Cassirers Interpretation des leibnizschen Systemgedankens schließt darüber hinaus auch die Merkmale ein, die sich aus Leibniz' Begriff des systemeregle ergeben hatten. (Vgl. Kap. II. 3. a.) Erstens handelt es sich in beiden Fällen um ein rein erkenntnistheoretisches System, welches keine ontologischen Nebenbedeutungen besitzt. Zweitens wird der Entwicklungsgedanke, der eine wesentliche Bestimmung des systeme regle darstellte, in Gestalt der kontinuierlichen Variation der Begriffe präzisiert. Und drittens schließlich taucht beide Male die Idee auf, daß ein enger Zusammenhang zwischen dem Allgemeinen und Besonderen besteht, indem einerseits die Entwicklung von immer allgemeineren Prinzipien angestrebt wird und andererseits die besonderen Begriffe als Korollare oder Sonderfälle aus den allgemeinen Begriffen auf gesetzmäßige Weise hergeleitet werden können. 129
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Vgl. LS, 5.233: >>Die scharfe Ausprägung der Besonderheit der Begriffsindi-
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In diesem Zusammenhang ist noch ein weiterer Aspekt wichtig, der mit Leibniz' Kontinuitätsprinzip verbunden ist und der den im folgenden Unterabschnitt zu diskutierenden Gedanken der Anwendung der ideellen mathematischen Begriffe auf die Realität vorbereitet. Zu Beginn der Ausführungen dieses Unterabschnitts wurde in einem ersten Zugriff das Prinzip der Kontinuität mit dem, was Leibniz >Prinzip der allgemeinen Ordnung< nannte, gleichgesetzt. An einer Stelle scheint es aber so, als ob Leibniz das Prinzip der allgemeinen Ordnung als das grundlegendere Prinzip ansieht, aus dem sich das Kontinuitätsprinzip als Folge ergebe. (Leibniz, PS IV, S. 366 f.) Dieses allgemeinere Prinzip lautet: »Einer Ordnung im Gegebenen entspricht eine Ordnung im Gesuchten.>Allgemein gilt der Satz, daß einer bestimmten Ordnung des Vorausgesetzten auch eine bestimmte Ordnung des Gesuchten entspricht.« 131 Was Leibniz unter dem >>Gegebenen« und unter dem >>Gesuchten« versteht, ist nicht ganz klar. Eine mögliche Interpretation ist z. B. die, daß die >>data« bzw. das »Gegebene« die bekannten und die >>quaesita« bzw. das »Gesuchte« die unbekannten Größen eines mathematischen Problems ausmachen. (Leibniz, HS I, S. 84f., Anm. (Cassirer) 56.) An dieser Stelle ergibt sich ein interessanter Bezug zur analytischen Methode Descartes', die auf das Auffinden allgemeiner Begründungszusammenhänge abzielte, innerhalb deren es möglich ist, Unbekanntes auf Bekanntes bzw. Gesuchtes auf Gegebenes zurückzuführen (vgl. Kap. II. 2. b.). Das Bekannte oder die data bestanden in den Bedingungen der Aufgabe. Es galt, das Gesuchte oder die quaesita in Abhängigkeit von dem Gegebenen zu bestimmen bzw. das Gesuchte als Funktion des Gegebenen darzustellen. Bei Descartes gehörten dabei Gesuchtes und Bekanntes einem (allgemeinen) Bedingungszusammenhang an. Leibniz geht offenbar noch einen Schritt weiter. Denn er setzt eine >Ordnung des Gegebenen< voraus, womit vermutlich ein solcher Bedingungszusammenhang gemeint ist. 132 Aber ihm geht es nicht nur um das Verhältnis von Gegebenem und Gesuchtem innerhalb eines Bedingungszusammenhangs, sondern er setzt die
viduen verlangt von sich selbst aus die Richtung auf immer fortschreitende Verallgemeinerung.« 130 Leibniz, PS IV, S.231; vgl. ebd., S.230: >>Datis nimirum ordinatis etiam quaesita esse ordinata. « 131 Leibniz, PS IV, S. 367; vgl. ebd., S. 366: »[ ... ] et generaliter judicandum est, datis ordinate procedentibus etiam quaesita procedere ordinate.« Vgl. dazu auch ders., Specimen dynamicum, S.48 (Zeile 144-153). 132 Vgl. etwa Leibniz, HS I, S. 63, wo >data< mit •Bedingungen< und •quaesita< mit >Bedingtes< im Sinne der hier vorgeschlagenen Interpretation übersetzt wird.
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Ordnung eines Bedingungszusammenhangs von bekannten Elementen zur Ordnung eines anderen Bedingungszusammenhangs von gesuchten Elementen in ein Verhältnis. Sofern von den Elementen nur vorausgesetzt wird, daß sie einer Ordnung unterliegen, kann man sie auch als Reihen betrachten. Demnach bezieht Leibniz zwei Reihen aufeinander, die beide dieselbe Ordnungsstruktur aufweisen bzw. in ihren Gesetzmäßigkeiten übereinstimmen, ohne daß sie unbedingt in der Art ihrer Elemente übereinstimmen müßten. Überträgt man diese allgemeinen Überlegungen auf das Beispiel des Kreises und seine Projektionen, dann gehört der Kreis insofern einem Bedingungszusammenhang an, als seine Elemente (Radius, Mittelpunkt, Umfang etc.) untereinander gewissen konstant bleibenden Beziehungen, die in einer bestimmten Ordnung stehen, unterworfen sind. Variiert man die Elemente des Kreises vermittels der Abbildung der Projektion, so entstehen neue Elemente (z. B. der Abstandzweier Brennpunkte), die einem neuen Bedingungszusammenhang angehören, der gleichfalls einen Komplex geordneter Beziehungen zwischen den Elementen der projizierten Gebilde festlegt. Entscheidend ist nun, daß vermittels der Projektion diese beiden Ordnungsverhältnisse in gesetzmäßiger Weise aufeinander bezogen werden können. Leibniz drückt dies so aus: »Ich möchte vielmehr sagen, daß auch hier eine Art von Ähnlichkeit stattfindet, die freilich nicht vollständig und sozusagen in terminis besteht, wohl aber eine funktionale Ähnlichkeit im Ordnungsverhältnis: in dem Sinne, in welchem eine Ellipse, ja auch eine Parabel oder Hyperbel in gewisser Beziehung dem Kreise ähnlich sind, dessen ebene Projektionen sie sind, weil zwischen dem projizierten Gebilde und seiner Projektion ein bestimmtes exaktes und natürliches Verhältnis besteht, sofern jeder Punkt des einen Gebildes gemäß einer bestimmten Beziehung einem Punkt des anderen entspricht«. 133 Die Voraussetzung für die eindeutige Beziehung zwischen den data und den quaesita, die auf einer Entsprechung der Ordnungen beruht, ist der kontinuierliche, stetige Übergang der Elemente. Erst vermöge der Kontinuität ist es möglich, eine gesetzmäßige Abhängigkeit zweier Veränderungsreihen zu konstatieren. Bemerkenswert ist daran zweierlei: zum einen wird bei Leibniz der FunktiLeibniz, Neue Abhandlungen, Buch II, Kap. VIII, § 13, 5.109; vgl. ders., GPV, 5.118: »Je dirois plutöt qu'il y a unemanierede ressemblance non pas entiere et pour ainsi dire in terminis, mais expressive ou de rapport d'ordre comme une Ellipse et meme une Parabole ou Hyperbole ressemblent en quelque faFunktional< im modernen Sinne. 134 Zum anderen bereitet Leibniz mit der Verknüpfung von abbildenden Relationen und Kontinuität den eulerschen Funktionsbegriff vor, der die Stetigkeit zu einer wesentlichen Eigenschaft seiner analytischen Ausdrücke erklärt. 135 Vergleicht man Leibniz' Definition der Kontinuität bzw. seines Kontinuitätsprinzips mit modernen mathematischen Formulierungen der Stetigkeitseigenschaft, stellt man eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen beidem fest. So heißt es bei Leibniz an zwei entscheidenden Stellen: »Wenn sich (bei den gegebenen Größen) zwei Fälle stetig einander nähern, so daß schließlich der eine in den anderen übergeht, muß notwendig bei den abgeleiteten bzw. abhängigen (gesuchten) Größen dasselbe geschehen.« 136 »Wenn nämlich zwei Hypothesen oder zwei verschiedene gegebene Bedingungen sich kontinuierlich einander nähern, bis sie schließlich beide zusammenfallen, so müssen notwendig auch die Resultate, die diesen Bedingungen entsprechen, sich kontinuierlich nähern und endlich ineinander übergehen, und umgekehrt.« 137 Grenzt man die Allgemeinheit (und die Vieldeutig-
134 Vgl. dazu Volkert 1986, S.47-79. Vgl. insbesondere ebd., S. 51: »Eine >functio< im alten Sinne (Tangente) ist von anderen >functiones< im alten Sinne (den Koordinaten des Kurvenpunktes) abhängig: das macht gerade eine >functio< im neuen Sinne aus. Die von Leibniz betrachtete Situation ist also abstrakt und damit schwierig zu fassen (wie in 1. geht es auch hier letztlich um ein Funktional (f -• f'), das einer Funktion als >ganzer< eine andere zuordnet).« Vgl. dazu auch Youschkevitch 1976/77, S.54-57. 135 Die Bedeutung der leibnizschen Konzeption im Hinblick auf den Funktionsgedanken wird auch von Cassirer hervorgehoben: »Der Begriff der Funktion, ist in der That bereits in den vorhergehenden Erörterungen überall implicit vorausgesetzt: das begriffliche Verhältnis der >data< und >quaesita< wird mathematisch vollständig durch den Zusammenhang der unabhängigen Veränderlichen und der Funktion repräsentiert.data< mit Hypothesen, was gegen die Ein-
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keit) der hier genannten leibnizschen Beschreibungen dergestalt ein, daß man unter >data< den Definitionsbereich (z. B. eine Teilmenge der reellen Zahlen) und unter >quaesita< den Wertebereich einer Funktion (im modernen Sinne) versteht, ist man von der Definition der modernen Analysis für die Stetigkeit einer Funktion f in einem Punkt a E S (S sei eine Teilmenge der reellen Zahlen) nicht mehr allzuweit entfernt. Diese Definition lautet: »Zu jedem E gibt es ein ö, so daß für alle x mit lx- al < ö gilt: lf(x)- f(a)l < E« (Lang 1977, S.49). Diese Definition beinhaltet, wenn man sie auf die leibnizschen Formulierungen überträgt, folgendes: man findet zu jeder beliebig klein vorgegebenen Zahl eine entsprechend kleine Zahl, so daß, wenn die Differenz der data kleiner als die letztere Zahl wird, die Differenz der quaesita unter den Wert der vorgegebenen Zahl sinkt, sofern man die Absolutbeträge der Differenzen in Betracht zieht. Das Verhältnis der stetigen Annäherung findet gleichermaßen in beiden Bereichen statt, indem sich eine gewisse Ordnungsstruktur von einem Bereich auf den anderen überträgt. Ungeachtet dieser sachlichen Beziehung zu neueren Definitionen, die von Cassirer ebenfalls zur Kenntnis genommen wurde138, hält er darüber hinaus den engen Zusammenhang von Leibniz' Funktionsbegriff mit dem Kontinuitätsprinzip fest: »Erwägt man diesen Zusammenhang, so ergibt sich der merkwürdige Umstand, dass in dem allgemeinen Ausdruck des Gedankens die Stetigkeit unmittelbar in die Definition der Funktion hineingelegt wird. Die Kontinuität wird zur notwendigen Bedingung für die Feststellung eines >geordneten< funktionalen Zusammenhangs überhaupt
Hypothesen< einleuchtender. Denn Descartes gibt jeweils das Verhältnis der Massen, Geschwindigkeiten und Richtungen als Ausgangsbedingungen an und knüpft daran die möglichen Verläufe und Resultate des Stoßvorgangs. Insgesamt unterscheidet er sieben verschiedene Möglichkeiten der Konstellation dieser Ausgangsbedingungen. Das Charakteristikum seiner Darstellung (und zugleich engung des Ausdrucks auf >Größen< spricht (vgl. vorige Anmerkung) und mit dem allgemeineren Ausdruck >Bedingungen< besser wiedergegeben wird. 138 Vgl. LS, S. 239; Leibniz, HS I, S. 85, Anm. (Cassirer) 56. 13 9 LS, S. 239. Vgl. dazu auch Otte 1993, S. 77 f. 140 Vgl. Descartes, Principia, Teiiii, § 46-§ 52, S. 54-56. Zu Leibniz' Kritik vgl. z. B. Leibniz, HSI, S.320-323.
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der entscheidende Nachteil) besteht darin, daß er jeden einzelnen Fall isoliert betrachtet und nicht auf den möglichen Zusammenhang der einzelnen Fälle sieht. Und genau auf diesen Punkt bezieht sich in der Sache die Kritik von Leibniz. Hätte nämlich Descartes diese verschiedenen Fälle unter dem Gesichtspunkt der kontinuierlichen Variation eines einzigen Bedingungs- oder Hypothesenzusammenhangs analysiert, dann, so Leibniz, wäre ihm gewiß aufgefallen, daß sein erstes Gesetz mit dem zweiten (und auch dem dritten) unverträglich ist, weil sich bei kontinuierlicher Variation der Ausgangsbedingungen in den genannten Fällen ein Sprung im Hinblick auf die Resultate ergäbe. 141 Eine solche einheitliche (und systematische) Betrachtungsweise, welche die Bedingungen nicht isoliert, sondern als Teil eines Gesamtzusammenhangs auffaßt, läßt sich z. B. erreichen, wenn man, wie schon diskutiert, einen allgemeinen Bewegungsbegriff voraussetzt, der den Begriff der Ruhe qua unendlich kleine Bewegung als Grenzfall mit einschließt. Den Gesichtspunkt der Einheit der Bedingungen, der für das Verständnis der >data< und >quaesita< bzw. für die Allgemeinheit der Interpretation dieser Ausdrücke von Bedeutung ist, hebt Cassirer als zentralen Punkt der leibnizschen Kritik hervor: »Die verschiedenen Hypothesen, von denen ausgegangen wird, dürfen nicht isoliert und gesondert betrachtet werden; sie müssen von Anfang an nur als gesetzliche Abwandlungen einer gemeinsamen Voraussetzung auftreten. Die Einheit des Problems muss der Mannigfaltigkeit der besonderen Umstände, die es modifizieren, vorausgehend gedacht werden. Wenn etwa in der ersten Regel von gleichen Massen, in der zweiten von ungleichen die Rede ist, so dürfen diese Fälle als verschieden nur in der Art gedacht werden, dass sie andererseits wieder in einem gemeinsamen umfassenden Gesetz sich verändern« (LS, S.235). Daß ein solcher Bedingungszusammenhang (in diesem Fall in einem speziellen Gebiet der Physik) das trifft, was Leibniz unter seinen Begriff des Systems faßt, wird deutlich, wenn man sieht, daß er die Unverträglichkeit gewisser Bedingungen, die in der Mechanik vorausgesetzt werden, mit seinem Erhaltungssatz so auslegt, daß sie zu Regeln führten, die »der Bildung eines Systems ganz und gar entgegengesetzt«142 seien. Diese Äußerung läßt den Schluß zu, daß Leibniz an dieser Stelle unter einem >System< die begriffliche Einheit derarti141 Vgl. auch Leibniz, Specimen dynamicum, S.SO (Zeile 162), wo vom »casusRealitätWirklichkeitNatur< etc. zu bezeichnen pflegt. Nun vertritt Cassirer in diesem Punkt die Auffassung, daß z. B. der enge Zusammenhang des leibnizschen Funktionsgedankens mit dem Kontinuitätsprinzip gerade deshalb besteht, weil der »Funktionsgedanke [... ] als Vorbereitung des Naturbegriffs gedachtGegenständlichkeit< verbürgt werden kann. >>In der gleichen Weise denkt man sich mehr als drei Dimensionen und selbst Potenzen, deren Exponenten keine gewöhnlichen Zahlen sind- das alles, um wirkliche Begriffe aufzustellen, die zur Verkürzung des Rechenverfahrens dienen und in Realitäten ihre Grundlage haben« (ebd., S.255). Die Verwendung idealer Begriffe führt zu einer umfassenden Verallgemeinerung bislang geltender Gesetze. Durch die Verallgemeinerung gelangt man zu vereinfachten Lösungsverfahren auch für Aufgaben, die reale Größen betreffen. Sie beruht im wesentlichen auf der Übertragung der gesetzlichen Struktur und der Beziehungen von den Elementen eines Bereichs auf die eines anderen. Wenn Leibniz im Zusammenhang mit der Naturerkenntnis davon spricht, daß das Reale durch das Ideale beherrscht werde, dann denkt er offensichtlich an die Übertragung der idealen mathematischen Gesetzmäßigkeiten auf reale Naturerscheinungen: >>Wenngleich demnach die mathematischen Betrachtungen ideal sind, so mindert das
que toute Ia continuite est une chose ideale et qu'il n'y a jamais rien dans Ia nature, qui ait des parties parfaitement uniformes, mais en recompense le real ne laisse pas de se gouverner parfaitement par !'ideal et l'abstrait, [ ... ].>Physik mit der Geometrie in andauernder Harmonie sein muß« (ebd., S.261) bedeutet demnach, daß die Strukturen und Relationen, welche die systematische Einheit der Geometrie garantieren, letztlich auch die Einheit des Bereichs der physikalischen Phänomene sichern. Der systematische Zusammenhang der Phänomene gründet sich auf die Gesetze und Grundlagen der Mathematik: >>Ich halte daher, soweit es sich um die Sinnendinge handelt, für das wahre Kriterium [der Wahrheit] den Zusammenhang der Erscheinungen, d. h. die Verknüpfung dessen, was in verschiedenen Orten und Zeiten und in der Erfahrung verschiedener Menschen vor sich geht, die in bezug hierauf füreinander selbst sehr wichtige Erscheinungen sind. Der Zusammenhang der Erscheinungen aber, der die Tatsachenwahrheiten im Hinblick auf die sinnlichen Dinge außer uns verbürgt, wird seinerseits mittels der Vernunftwahrheiten bewährt, wie die Erscheinungen der Optik durch die Geometrie ihre Aufklärung erhalten.«t45 Aufgrund dessen, daß Leibniz als Voraussetzung der Anwendbarkeit mathematischer Begriffe und Gesetze auf Naturphänomene keine Entsprechung oder Ähnlichkeit der Elemente beider Sphären, sondern eine Entsprechung der Verhältnisse bzw. der Verknüpfungsregeln fordert, sieht Cassirer bei Leibniz ein neues Erkenntnisideal sich entwickeln. Dieses neue Erkenntnisideal beruht seiner Meinung nach darauf, daß die mathematischen Ideen nicht Bilder, sondern Symbole der physikalischen Erscheinungen sind. Das Wesen von Symbolen besteht darin, daß sie nicht etwas Vorgegebenes abbilden im Sinne anschaulicher Ähnlichkeit, sondern daß sie Gesetzeszusammenhänge repräsentieren. 146 >>So wenig eine einzelne Wirklichkeit jemals die idealen Gesetze unmittelbar abzubilden vermag, so sehr muß die 144 Leibniz, HSII, S.402f.; vgl. ders., ed. Erdmann, S.190: >>Ainsi quoique !es meditations Mathematiques soient ideales, cela ne diminue rien de leur utilite, parce que !es choses actuelles ne sauroient s' ecarter de leurs regles; et on peut dire en effet, que c'est en cela que consiste Ia realite des phenomenes, qui !es distingue des songes.« 145 Leibniz, Neue Abhandlungen, Buch IV, Kap. Il, § 14, S.437; vgl. auch ebd., S.461 f.: »Und der Grund der Wahrheit der zufälligen und einzelnen Dinge liegt darin, daß es gelingt, die Erscheinungen der Sinne geradeso zu verknüpfen, wie die intelligiblen Wahrheiten es fordern.>Doppelstellung« zu den Tatsachenwahrheiten: >>Sie bedürfen ihrer nicht für die eigene Evidenz und Gewißheit; aber sie besitzen an ihnen dennoch das eigentliche Material für ihre Bestätigung« (EP II, S. 176 ). >>So ist etwa der Satz, daß alle Naturerscheinungen in mathematische Bestimmungen und Regeln auflösbar sind, kein bloßes Ergebnis der Einzelbeobachtung, sondern ein rationales Postulat, das der Erfahrung und dem Experiment zur Richtschnur dient« (Leibniz, HS II, Einleitung (Cassirer), S.108). Die Gesetzmäßigkeiten, die für die Erscheinungswelt Gültigkeit besitzen, müssen für die Phänomene postuliert werden, damit diese überhaupt zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung in den >streng demonstrativen< Wissenschaften werden können. Mit diesem Postulat hängt auch Leibniz' Kritik an der induktiven Methode zusammen und dem Versuch, ausschließlich auf diese das Zustandekommen allgemeiner Begriffe und Gesetze zu gründen. Schon 1670 machte er in seiner Vorrede zur Herausgabe der Veris principiis des Nizolius deutlich, daß, wollte man die Induktion zum alleinigen Ausgangspunkt jeglicher Verallgemeinerungen erheben, dies zur Aufhebung aller streng beweisenden Wissenschaften führte. 149 Diese Haltung hat Leibniz auch in späterer Zeit nicht aufgegeben. Denn:>>[ ... ] so zahlreiche einzelne Erfahrungen man von einer allgemeinen Wahrheit haben mag, so kann man sich doch derselben durch Induktion nicht für immer versichern, wenn man nicht ihre Notwendigkeit durch die Vernunft erkennttatsächlichen Dinge< sich nicht 149 Vgl. Leibniz, GPIV, 5.161: »Sed ea ratione prorsus evertuntur scientiae, et Sceptici vicere.In sich harmonisch wird ein Phänomen sein, wenn es aus einer Reihe von Phänomenen besteht, die sich wechselseitig aus einander oder aus einer gemeinsamen, hinreichend einfachen Hypothese erklären lassen; ferner, wenn es mit anderen, gewohnten Phänomenen, die sich uns häufig dargeboten haben, in Einklang steht, so daß es in sich dieselbe Lage, dieselbe Ordnung und dasselbe Ergebnis aufweist, wie es ähnliche Phänomene gehabt habenWirklichkeit< der Phaenomene besteht jedoch einzig in dem inneren Zusammenhang, den sie in sich selbst darstellen und in der Gesetzlichkeit und Regelmäßigkeit ihrer Aufeinanderfolge« (Leibniz, HSI, S.287, Anm. (Cassirer) 223). »Die Erscheinungswelt ist genau insoweit real, als sie eine systematische Einheit darstellt, die den allgemeinen Vernunftregeln gehorcht« (EPII, S.177). Das System der Phänomene ist zwar wesentlich durch mathematische Bedingungszusammenhänge bestimmt, aber die mathematischen Bedingungen machen nur einen Teil bzw. eine Stufe des Systems der Möglichkeitsbedingungender physischen Natur überhaupt aus. Bekanntlich hat Leibniz Descartes' Materiebegriff vor allem deshalb kritisiert, weil letzterer die Materie ausschließlich mit der Ausdehnung identifizierte, welches ja ein rein geometrischer Begriff ist. In seinem Specimen dynamicum erläutert Leibniz ausführlich, weshalb über diesen geometrischen Begriff hinaus noch der Begriff der Kraft als wesentliche Bestimmung der Materie hinzugedacht werden müsse. Der erste Teil dieser Schrift erschien 1695 in den Acta Eruditorum. Daß Leibniz auch noch acht Jahre nach dem Erscheinen von Newtons Principia die Auffassung vertrat, daß die Dynamik eine neu zu begründende Wissenschaft sei, zeigt seine Unzufriedenheit mit der newtonseben Art der Begründung des Kraftbegriffs. Dieser Umstand sollte auch noch 1715/16 bei seinem Briefwechsel mit dem Newton-Anhänger Clarke eine entscheidende Rolle spielen, da Leibniz Newton dort vorwirft, mit seiner Gravitationskraft als einer »actio in distans« die okkulten Qualitäten der Scholastiker wiederbelebt zu haben. Trotz dieser seiner Ansicht nach bestehenden Ungereimtheiten der newtonseben Konzeption stelle jedoch die cartesische Theorie keine ernstzunehmende Alternative dar:»[ ... ] denn nicht alle Wahrheiten über die körperlichen Dinge können allein aus logischen und geometrischen Axiomen, nämlich denen über groß und klein, Ganzes und Teil, Gestalt und Ort, gefolgert werden, sondern andere, über Ursache und Wirkung, und Aktion und Leiden, müssen hinzukommen, durch die die vernünftigen Erklärungen der Ordnung der Dinge gewahrt werden« (Leibniz, Specimen dynamicum, S.25). Cassirers ausführlichen Erörterungen des leibnizschen Kraftbegriffs, des Massebegriffs und des Erhaltungssatzes kann hier im einzelnen nicht nachgegangen werden. (LS, S.283-351.) Interessant ist insbesondere seine These, daß sich Leibniz' System der dynamischen Begriffe als eine Weiterentwicklung der erkenntniskritischen Grund-
Die Einheit des Systems bei Leibniz
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bedingungen der Naturphänomene begreifen läßt: »Die Kraft wird also unmittelbar den Grundbedingungen der Erkenntnis an die Seite gesetzt« (ebd., S. 329). Daß beide Teilsysteme dennoch eine Einheit ausmachen, liegt nach Cassirers Meinung daran, daß die dynamischen Begriffe in engem Zusammenhang mit den mathematischen Begriffen entwickelt wurden, ja, daß erstere den Versuch einer Antwort darstellten auf Probleme, die sich aus dem Inhalt der letzteren ergeben hatten. Beispielsweise weist Cassirer auf die Verbindung von Leibniz' Begriff der derivativen Kraft zu dessen Überlegungen in der Infinitesimalrechnung hin. So lasse sich insgesamt sagen: »Die Forderung einer strengen Systematik der Grundbegriffe kann nur dann als erfüllt gelten, wenn jedes neu hinzutretende Moment sich nicht nur äusserlich der Gesamtheit der früheren anreiht, sondern in der neuen Beziehung zugleich den Aufgaben dient, die in dem Inhalt der früheren Begriffe vorbereitet sind« (LS, S. 333 ). Dennoch ist Cassirer nicht verborgen geblieben, daß sich Leibniz' erkenntnistheoretische Postulate und Überlegungen nur selten von seiner Metaphysik abtrennen lassen. Denn obgleich Leibniz mit seiner Konzeption des Vernunftbegriffs und des Begriffs des Bewußtseins, welcher sich von einem rein subjektiven Vermögen zu einem Ausdruck >>des Systems der objektiven Grundlagen der Erkenntnis>unlöslicher Korrelation« (ebd., S. 368) wechselseitig bedingen, an der Schwelle zur Transzendentalphilosophie Kants stehe, könne Leibniz die Frage nach >>der Begründung des Einzelnen im System der Erkenntnis« mit rein erkenntnistheoretischen Mitteln nicht mehr beantworten. Denn sowohl die mathematischen als auch die physikalischen Möglichkeitsbedingungender Phänomene sind qua Begriffe, Gesetze, Axiome etc. stets allgemeiner Natur und vermögen als solche die Naturwirklichkeit nicht erschöpfend zu erfassen: >>denn die Wirklichkeit bedeutet die konkrete Bestimmtheit als Individuum. Die Besonderheit des Einzelfalles, die in den wissenschaftlichen Gesetzlichkeiten der Natur ausgelöscht und aufgehoben ist, bildet den entscheidenden Grundzug der Wirklichkeit.« 150 Dieses Spannungsverhältnis zwischen Allgemeinem und Einzelnem führt Leibniz schließlich zum Begriff der
150 LS, 5.385. Vgl. auch EPII, 5.181: »In der Einsicht, daß das Einzelne eine Unendlichkeit begrifflicher Teilbedingungen in sich schließt und somit für unsere Erkenntnis, die sich diese Bedingungen nur im successiven Fortschritt von einem Moment zum anderen zu verdeutlichen vermag, zuletzt unausschöpfbar bleibt, ist der höchste Punkt der rein logischen Analyse erreicht.«
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II. Cassirers Rezeption von Descartes und Leibniz
Monade als einer individuellen Substanz. Da sie individuell ist, schließt sie unendlich viele Teilbedingungen als ihre Zustände und Perzeptionen in sich. Daß diese unendlich vielen Erkenntnisbedingungen vom erkennenden >endlichen Verstand< nicht mehr überschaubar sind, wird im Rahmen der leibnizschen Metaphysik zu einer rein subjektiven Schranke und damit der Gedanke einer höheren Vernunft bzw. eines allmächtigen und allwissenden Wesens etabliert, welches zu einem Wissen über die Totalität dieser Bedingungen fähig ist. »Wir stehen hier vor den Begriffen der intellektuellen Anschauung und des intuitiven Verstandes;- damit aber an einer geschichtlichen Ursprungsstelle für Kants Kritik der Metaphysik« (LS, S. 392).
III. System und Invariantengedanke bei Kam
1. Der Begriff des Systems in Kants Transzendentalphilosophie Der Leitgedanke der vorliegenden Untersuchung wurde im ersten Kapitel als die Frage nach dem cassirerschen Systembegriff in dem speziellen Sinne eines >Systems der Erfahrung< entwickelt. Diese Frage läßt sich jedoch nur unter gewissen Voraussetzungen sinnvollerweise stellen. Eine dieser Voraussetzungen bestand darin, von einem Erfahrungsbegriff auszugehen, der seine alleinige Grundlage nicht mehr in einem (wie auch immer bestimmten) >Gegebenen< besitzt, das als Material zugrunde gelegt würde und dann nur noch einer nachträglichen Verarbeitung unterworfen werden könnte. Statt dessen wird davon ausgegangen, daß >Erfahrung< selbst schon (in einem noch nicht näher bestimmten Sinne) einen Komplex von Ordnungsstrukturen voraussetzt und als ein in sich differenziertes und gegliedertes Ganzes betrachtet werden muß. Genau dies ist auch der Gesichtspunkt, unter dem Cassirer die >Rationalisten< Descartes und Leibniz näher untersucht hatte. Diese Untersuchung sollte zeigen und zugleich näher präzisieren, was damit gemeint sein könnte, die Erfahrung als etwas >in sich Strukturiertes< zu betrachten. Die Methode, die Cassirer bei seinen Analysen angewandt hatte, war durchgehend die, von metaphysischen Annahmen und Grundlagen zunächst abzusehen und die Art und Weise genau zu studieren, in der sowohl Descartes als auch Leibniz in ihren einzelwissenschaftlichen Forschungen- insbesondere was die Mathematik und die physikalischen Erfahrungswissenschaften angeht - de facto verfahren sind. Aufgrund seiner dabei gewonnenen Ergebnisse versuchte Cassirer dann die Bedeutung, die dem Begriff eines Systems der Erfahrung bei Descartes und Leibniz (zumindest implizit) zukommt, zu rekonstruieren. Dabei wurde deutlich, daß der von Cassirer rekonstruierte Sinn des Systembegriffs nicht nur mit den von Descartes und Leibniz explizit angegebenen Bestimmungen ihres jeweiligen Systembegriffs kompatibel ist, sondern daß darüber hinaus die cassirersche Interpretation die enge Verflechtung der metaphysischen Prinzipien beider Denker mit ihren Untersuchungen in den besonderen Wissenschaften in einem neuen Licht erscheinen läßt.
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III. System und Invariantengedanke bei Kant
Die Einheit des cartesischen Systems lag in der Einheit der Methode. Diese Methode war eine Methode der Analyse, die ihren Ursprung zwar in der Mathematik hatte, die Descartes aber gleichwohl auf die Erfahrungswissenschaften ausdehnte, wie das Beispiel des Brechungsgesetzes der Optik gezeigt hat. Allgemein beinhaltete diese Methode ein Ganzes von Voraussetzungen, aufgrund derer ein Problem sich so lösen ließ, daß das Gesuchte als Funktion dieser Voraussetzungen dargestellt werden konnte. Diese Voraussetzungen waren jedoch nicht in sich homogen, sondern falteten sich in unterschiedliche Stufen auseinander, die den Status von allgemeinen Prinzipien, Analogien, Modellen und mathematischen Gesetzmäßigkeiten besaßen. An oberster Stelle standen Descartes' mechanistischer Naturbegriff und sein metaphysischer Substanzendualismus. Diese Stufen sieht Cassirer im leibnizschen System der Erfahrung schon insofern als homogen (d. h. artgleich) an, als er sie als ein System von Grundbegriffen und Grundprinzipien deutet, die Leibniz im Laufe seiner Beschäftigung mit den Einzelwissenschaften herausgearbeitet hat. Leibniz selbst hat zwar die Zusammenfassung dieser Prinzipien in einem System nicht mehr in Angriff genommen, aber die Idee eines solchen Systems gleichwohl projektiert. Seine Ausführungen zur Unterscheidung von Real- und Nominaldefinitionen weisen in eine Richtung, die in ihrer weiteren Verfolgung die Sichtweise plausibel erscheinen läßt, ein derartiges System von Grundprinzipien als allgemeine Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis überhaupt aufzufassen (vgl. Kap. II. 3. b.). Mit dem Kontinuitätsprinzip, welches in Ansätzen auch Prinzipien der Variation und Invarianz mit sich führte, fand sich bei Leibniz darüber hinaus noch ein einheitliches Prinzip der Verknüpfung und Ordnung der verschiedenen Grundprinzipien und Grundbegriffe. Die Beziehung von Descartes und Leibniz zur kritischen Philosophie Kants sieht Cassirer weniger darin, daß die Erstgenannten Kants Transzendentalphilosophie antizipiert hätten, sondern vielmehr darin, daß sich schon bei diesen beiden Philosophen der Gedanke eines Systems der Erfahrung in Ansätzen aufzeigen läßt. Die Trennung erkenntnistheoretischer von ontologisch-metaphysischen Gesichtspunkten, die bei Descartes und Leibniz innerhalb ihrer Analyse der Einzelwissenschaften gelegentlich sichtbar wird, ist in aller begrifflicher Schärfe und mit vollem Bewußtsein erst bei Kant vollzogen worden. Allein in diesem eingeschränkten Sinne ist es möglich, Descartes und Leibniz als Vorläufer Kants zu betrachten. Cassirer selbst hat diese Einschränkung auch stets vor Augen gehabt. Der Fortgang der Untersuchung gestaltet sich in diesem dritten
Der Begriff des Systems in Kants Transzendentalphilosophie
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Kapitel, das sich vollständig der cassirerschen Kant-Rezeption widmet, folgendermaßen: Der erste Abschnitt versucht die zentrale Bedeutung, die der Systembegriff für Kants Transzendentalphilosophie besitzt, zu verdeutlichen, und dies insbesondere vor dem Hintergrund der metaphysikkritischen Stoßrichtung, die bei Kant damit verknüpft war. Der zweite Abschnitt wendet sich dann Cassirers Kantinterpretation zu und arbeitet die sachlichen Zusammenhänge der kantischen Erkenntnistheorie heraus, die für Cassirers Anknüpfung an Kant eine entscheidende Rolle gespielt haben. Dabei steht insbesondere der Begriff eines Systems der Erfahrung, den Kant als erster explizit geprägt hat, im Vordergrund, sowie die Frage, inwieweit sich in Kants erkenntnistheoretischer Konzeption Ansätze zu einer Invariantentheorie finden lassen. Dieser letzten Frage wird im dritten Abschnitt am Beispiel von Kants Theorie der Geometrie im Detail nachgegangen. Der vierte und letzte Abschnitt untersucht schließlich noch, welche Umgestaltungen der Gedanke eines Systems der Erfahrung im Rahmen von Cassirers kritischem Idealismus erfahren hat, so daß einerseits der Bezug zu den kantischen Grundgedanken sichtbar bleibt, daß aber andererseits deutlich wird, daß das cassirersche System in vielen Punkten eine Weiterentwicklung derselben beinhaltet, die zugleich die Originalität und Eigenständigkeit dieses Systems begründet. Der Systembegriff ist mit Kants Transzendentalphilosophie überhaupt untrennbar verbunden. Die Wurzel derselben liegt in Kants Kritik an der dogmatischen Metaphysik der leibniz-wolffschen Schule. 1 Wenngleich die Fragen, die diese Metaphysik aufwirft, nach Kants Auffassung keineswegs erkünstelt sind, sondern »durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben« (Kant, KrV, Vorrede, A VII) wurden, so geriet die Metaphysik dennoch immer mehr zum Kampfplatz endloser Streitigkeiten (ebd., Vorrede, A VIII). Weil die Vernunft diese Fragen einerseits nur schwer zurückweisen kann, andererseits aber auch keine sicheren Mittel zu deren Beantwortung besitzt, mußte am Ende jedes diesbezüglichen Versuchs die »natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft« (ebd., B 354) stehen. D. h. die Vernunft verwickelt sich dabei in kaum zu vermeidende Widersprüche. Nach Kant gibt es nur einen Weg, diesen Widersprüchen zu entgehen. Bevor sich die Vernunft an die Beantwortung von Fragen heranwagt, die sie nicht auf sicherer Grundlage zu entscheiden vermag, ist es dringend geboten, Umfang und Grenzen des VernunftverSo bezeichnet Kant Wolff als den ••größten unter allen dogmatischen Philosophen«. Vgl. Kant, KrV, Vorrede, BXXXVI. 1
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III. System und Invariantengedanke bei Kant
mögens selbst genauer zu bestimmen. Das Verfahren der traditionellen Metaphysik ist in Kants Augen deshalb zum Scheitern verurteilt gewesen, weil die Priorität dieser Aufgabenstellung bislang verkannt wurde. Denn bisher habe die Metaphysik versucht, die »unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft« wie »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« dogmatisch aufzulösen, »d. i. ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft« selbst. (Ebd., Einleitung, B 7.) >>Dogmatismus ist also das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens.« (Ebd., Vorrede, B XXXV.) Damit stellt sich die Frage nach dem Maßstab, den Kant zugrunde legen konnte, um eine solche vorhergehende Prüfung des Vernunftvermögens durchzuführen. Bei der Suche nach tauglichen Kriterien wandte er sich den Disziplinen zu, die er schon seit seiner Studienzeit mit Interesse verfolgt hatte, nämlich der Mathematik und den mathematischen Naturwissenschaften. So waren Kants >vorkritische< Schriften bis etwa 1758 nahezu allesamt von Themen beherrscht, die aus zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Diskussionen resultierten. 2 Die 60er Jahre standen dann unter dem Leitgedanken, die Lehrsätze der leibniz-wolffschen Metaphysik mit den Prinzipien der newtonsehen Naturlehre, mit denen Kant schon verhältnismäßig früh durch die Anregungen seines Lehrers Martin Knutzen bekannt gemacht wurde, in Einklang zu bringen. 3 Dabei wurde Kant auf einen Ver2 In diesem Zusammenhang verdienen insbesondere seine Schrift über die Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte von 1746 sowie die 1755 erschienene Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels Erwähnung. In der erstgenannten Schrift versuchte Kant in dem Streit zwischen Leibniz und Descartes über das wahre Kraftmaß zu vermitteln. Während Descartes die Kraft nach dem Produkt aus Masse und Geschwindigkeit abschätzte, schlug Leibniz das Produkt von Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit als Kraftmaß vor. Die zweite Schrift befaßte sich mit der Entstehung des Weltsystems, die Kant unter Zugrundelegung newtonscher Prinzipien, und hier insbesondere des Prinzips der allgemeinen Gravitation, erklären wollte. Da der französische Mathematiker und Physiker Laplace 1796 in seiner Exposition du systeme du monde einen ähnlichen Versuch unternahm, wird in bezug auf die von Kant in dieser Schrift entwickelten Theorie häufig von der >Kant-Laplaceschen Hypothese< gesprochen. 3 In welcher Form Kant seine Positionen der vorkritischen Phase anhand der Auseinandersetzung mit Problemen der zeitgenössischen Naturwissenschaften entwickelte, hat in neuerer Zeit Friedman dargelegt (Friedman 1992a, S.1-52). So vertritt Friedman die Auffassung (ebd., S.4): »Much of Kant's philosophical development can be understood, I think, as a continuous attempt- an attempt faced with a succession of more and more fundamental problems - to construct just such an apparently paradoxical reconciliation of N ewtonian and Leibnizean-Wolffian ideas, and to construct thereby a genuine metaphysical foundation for Newtonian natural philosophy.«
Der Begriff des Systems in Kants Transzendentalphilosophie
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gleich der Methoden von Mathematik, Naturwissenschaften und Metaphysik geführt, deren Verhältnis er zu dieser Zeit noch weitgehend anders bestimmte als auf dem Standpunkt seiner kritischen Philosophie. In der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral von 1764 stellt Kant die Methode der Metaphysik noch an die Seite der Methode der Naturwissenschaften: >>Die ächte Methode der Metaphysik ist mit derjenigen im Grunde einerlei, die Newton in die Naturwissenschaft einführte, und die daselbst von so nutzbaren Folgen war.« (Kant, AAII, S.286.) Von beidem grenzt er die Methode der Mathematik ab, deren Definitionen nicht auf bereits >>gegebene« Begriffe gehen, die es nur noch zu zergliedern gelte, sondern deren Erklärungen allesamt >>durch die Synthesin>sicheren Gang einer Wissenschaft« (Kant, KrV, Vorrede B XI; B XIV) eingeschlagen hätte, sei die Metaphysik aus einem bloßen >>Herumtappen«, welches sich zudem noch in >>bloßen Begriffen« bewege, nicht herausgekommen. (Ebd., B XV.) In dieser Situation stellte sich für Kant die Frage, ob es nicht hilfreich sein könnte, die Verfahrensweisen von Mathematik und Naturwissenschaften daraufhin zu beleuchten, welche in ihnen enthaltenen Elemente und Vorgehensweisen den Erfolg, den sie bislang für sich verbuchen konnten, garantierten, und aus diesen Einsichten Schlußfolgerungen in bezug auf das Verfahren der Metaphysik zu ziehen: >>Ich sollte meinen, die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch eine auf einmal zustande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind, wäre[n] merkwürdig genug, um dem wesentlichen Stücke der U mänderung der Denkart, die ihnen so vorteilhaft geworden ist, nachzusinnen, und ihnen, soviel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmen« (ebd., BXVf.). Was ist mit dieser Revolution in Gestalt einer >Umänderung der Denkart>den gleichseitigen Triangel demonstrierte«; denn diesem sei damit ein Licht
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III. System und Invariantengedanke bei Kant
aufgegangen, sofern er erkannt habe, >>daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern [diese] durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, [ ... ]«. 4 Kant will damit sagen, daß der betreffende Mathematiker erkannt hat, daß seine Beweisgründe, die auf den allgemeinen Eigenschaften einer geometrischen Figur beruhen, weder aus der Betrachtung einer einzelnen Figur noch aus der Analyse des bloßen Begriffs derselben haben hervorgehen können, sondern vielmehr darauf zurückzuführen sind, daß er in der Konstruktion das darstellt, was er zuvor a priori in den Begriff (oder die Begriffe) der Figur selbst hineingedacht hat. D.h. die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Beweise in der Mathematik geht darauf zurück, daß der Mathematiker der betreffenden Sache nichts anderes beilegt >>als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat« (ebd., B XII). Analog verfahren auch die Naturforscher (Kant nennt explizit Galilei und Torricelli), die sich der Natur keineswegs in der Haltung eines Schülers nähern, >>der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will«, sondern vielmehr in der Haltung eines >>bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt« (ebd., B XIII). Damit ist gemeint, daß auch die Physiker die Beweisgründe ihrer Sätze und Theoreme weder vereinzelten Tatsachen noch bloßen Begriffen entnehmen, sondern daß sie ihre Experimente vielmehr planmäßig anstellen, indem sie von gewissen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten ausgehen, die sie vorab, also vor aller besonderen Erfahrung zugrunde legen und auf diese Weise mit den Prinzipien in der einen und dem Experiment in der anderen Hand an die Natur herangehen. Daraus geht hervor, daß die Erkenntnisse, die durch dieses Verfahren gewonnen werden, von diesen Prinzipien und Gesetzen entscheidend abhängen und >>die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt«. 5 Wenn man nach dem Gemeinsamen in beiden Verfahrensweisen fragt, also nach dem, was die >Revolution der Denkart< in beiden Disziplinen auszeichnet, wird man zu der Einsicht geführt, daß beide Kant, KrV, Vorrede, B XI f. An dieser Stelle möchte ich mich der Lesart von Erdmann (die auch derjenigen Hartensteins nahekommt) anschließen, die das »[diese]« noch ergänzend in den Text einfügt. 5 Kant, Kr V, Vorrede, B XIII. Der Sache nach ist darin im Prinzip schon der Gedanke enthalten, der später in Anknüpfung an die Überlegungen Pierre Duhems unter dem Stichwort der >Theoriegeladenheit der Beobachtungen< in die wissenschaftstheoretischen Debatten Einzug hielt. 4
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Wissenschaften allgemeine Prinzipien voraussetzen (die Mathematik: Konstruktionsprinzipien, die Naturwissenschaften: allgemeine Gesetze), die nicht von den Gegenständen dieser Disziplinen >abgelernt< werden können, sondern die aus dem Vernunftvermögen selbst stammen. Erst unter dieser Voraussetzung wird nach Kant verständlich, warum in diesen Disziplinen allgemeingültige und notwendige Theoreme bewiesen werden können, was für den sicheren Gang einer Wissenschaft unentbehrlich ist. Mit der >Revolution der Denkart< ist demnach eine Veränderung der Betrachtungsweise des Verhältnisses von Erkenntnisart und Erkenntnisgegenstand gemeint, die Kant auch als vorbildlich für die Metaphysik ansieht: >>Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch _unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll« (ebd., B XVI). Weil Kant diese veränderte Sichtweise, die er auf das Verfahren der Metaphysik übertragen möchte, mit dem Gedanken des Copernicus vergleicht, der, als er bei der Erklärung der Himmelsbewegungen auf Schwierigkeiten stieß, wenn er die Erde als ruhend und die Sterne als sich bewegend annahm, dazu übergegangen war, nicht die Erde, sondern vielmehr die Sterne als ruhend zu betrachten, wird seine Idee gelegentlich auch als >Copernicanische Wendung< oder >Copernicanische Drehung< bezeichnet. 6 Wenn die Metaphysik den sicheren Gang einer Wissenschaft anstrebt, dann ist ihr gleichfalls zu empfehlen, ihr bisheriges Verfahren dergestalt umzuändern, >>daß wir nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen« (ebd., BXXII). Das Geschäft dieser Revolution, so Kant, habe Dieser Gedanke, daß der Verstand sich im Besitz von Vorstellungen befindet, der weder dadurch erklärt werden kann, daß man annimmt, die Vorstellungen selbst seien Ursache der Gegenstände, noch dadurch, daß der Gegenstand die Ursache der Vorstellungen sei, findet sich erstmals in dem Brief an Marcus Herz vom 21. 2. 1772. Kant zog daraus folgenden Schluß: »Die reine Verstandesbegriffe müssen also nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahirt seyn, noch die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quellen haben, aber doch weder in so ferne sie vom obiect gewirkt werden, noch das obiect selbst hervorbringen.« Kant, AAX, S.130. 6
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III. System und Invariantengedanke bei Kant
eine Disziplin zum Gegenstand, die er als >>Kritik der reinen spekulativen Vernunft« bezeichnet. Sie sei ein» Traktat von der Methode« und nicht ein >>System der Wissenschaft selbst«.l An dieser Stelle wird zum ersten Mal eine Beziehung des kantischen Unternehmens einer Reform der Metaphysik zum Systembegriff sichtbar. Da diese Beziehung sich jedoch in einer rein negativen Bestimmung ausdrückt, vermag sie die volle Bedeutung des Zusammenhangs von Transzendentalphilosophie und Systembegriff bei Kant noch nicht offenzulegen. Ein erster weiterführender Hinweis ergibt sich aus folgender Definition: >>Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendentalphilosophie heißen« (ebd., Einleitung, B25). Zunächst ist zu beachten, daß Kant diejenige Disziplin, welche eine Prüfung des Umfangs und der Grenzen des Vernunftvermögens selbst zum Gegenstand hat, als eine solche bezeichnet, die es nicht mit den Gegenständen selbst, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen zu tun habe und mit derselben auch nur insofern, als diese a priori möglich sein soll. Als solche hat sie rein erkenntnistheoretischen Charakter und der »stolze Name einer Ontologie, [ ... ] muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen« (ebd., B 303). Diese Disziplin, so Kant, würde Transzendentalphilosophie heißen und ein System von Begriffen enthalten. Eine Interpretationsschwierigkeit bietet jedoch Kants Redeweise von »solchen« Begriffen, da im vorangegangenen Satz von Begriffen gar keine Rede war. Diese Schwierigkeit löst sich auf, wenn man die Formulierung dieses Satzes in der ersten Auflage heranzieht. Dort heißt es nämlich: >>Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unsernBegriffen apriorivon Gegenständen überhaupt beschäftigt« (ebd., A 11 f. ). Kant hat demnach in der zweiten Auflage die ursprüngliche Formulierung von» Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt« durch >>Erkenntnisart von Gegenständen, insofern dieseapriorimöglich sein soll« ersetzt. Dann besitzt das »solchen« keinen unmittelbaren Bezugspunkt mehr. Während die erste Formulierung ausschließlich ein System von Begriffen ins Auge faßt, läßt die zweite Version, die allgemein von apriori möglicher »Erkenntnisart« spricht, noch weitere Systemelemente zu. BeispielsKant, KrV, Vorrede, B XXII. Kant spricht hier von >>spekulativer Vernunfttheoretischer Vernunft>System der reinen Vernunft« (ebd., B 25; B 109; B 869). Der Begriff der Vernunft hat bei Kant aber unterschiedliche Bedeutungen, die sich im wesentlichen in eine weitere und eine engere Bedeutung unterteilen lassen. >Vernunft< in der engeren Bedeutung wird als das Vermögen der Schlüsse, d. i. der mittelbaren Urteile, bestimmt: >>Vernunft, als Vermögen einer gewissen logischen Form der Erkenntnis betrachtet, ist das Vermögen zu schließen, d. i. mittelbar (durch die Subsumtion der Bedingung eines möglichen Urteils unter die Bedingung eines gegebenen) zu urteilen« (ebd., B 386; vgl. ebd., B 355 f.). Als solches ist sie ein Vermögen, >>das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten« (ebd., B 674). Dem steht eine Bedeutung von >Vernunft< in einem weiteren Sinne gegenüber, in dem sie als >>oberstes Erkenntnisvermögen« (ebd., B 730; B 863), >>oberste Erkenntniskraft« (ebd., B 355) oder als das>> Vermögen der Prinzipien «8 bezeichnet wird. >>Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande, und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.« 9 Als ein solches allgemeines >Vermögen der Prinzipien< umfaßt die Vernunft alle nichtsinnlichen Erkenntnisvermögen. In dieser Bedeutung sind auch Verstand und Urteilskraft mit eingeschlossen. Wenn Kant sein Unternehmen als Überprüfung der Reichweite des Vernunftvermögens bestimmt, so kann man davon ausgehen, daß er dann von >Vernunft< im weiteren Sinne spricht, so daß bei dieser Überprüfung das Vermögen des Verstandes, welches genuin ein>> Vermögen der Begriffe« (ebd., A 126) vorstellt, und das Vermögen der Urteilskraft einbezogen sind. Inwieweit auch noch die reine Anschauung und das Vermögen der Einbildungskraft hinzuzudenken sind, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden und muß hier offen bleiben. 8 Kant, KrV, B356. Vgl. auch ebd., B24: »Denn ist Vernunft das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt.« 9 Kam, Kr V, B 355. Eine entsprechende Formulierung lautet (ebd., B 730): >>So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen.«
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111. System und Invariantengedanke bei Kant
Die nun folgende nähere Erläuterung der Rolle des Systembegriffs in Kants Transzendentalphilosophie kreist um zwei zentrale Punkte. Der erste Punkt ergibt sich aus der Frage nach dem Verhältnis von der >Kritik der reinen VernunftSystem der reinen Vernunft< und dem >System der Transzendentalphilosophie< überhaupt. Der zweite Punkt betrifft sowohl den engen Zusammenhang des Systembegriffs mit dem Vernunftvermögen selbst als auch seine (des Systembegriffs) Begründungsfunktion für die Metaphysik als Wissenschaft. Dieser zuletzt genannte Aspekt führt Kant dann auf den Gedanken eines Systems der Erfahrung, der für Cassirers kritischen Systembegriff von entscheidender Bedeutung ist. Zunächst grenzt Kant das Vorhaben einer >Kritik der reinen Vernunft< von der Errichtung eines >Systems der reinen Vernunft< ausdrücklich ab. Er geht dabei von dem Begriff der Vernunft im weiteren Sinne aus, wobei er die Vernunft als das Vermögen charakterisiert, »welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt«. 1 Faßt man den Gedanken eines Inbegriffs der Prinzipien, nach denen alle reinen Erkenntnisse apriori erworben werden können, so erhält man ein Organon der reinen Vernunft. Ein >Organon< ist für Kant ein >Werkzeug< zur Hervorbringung wirklicher Erkenntnisse und enthält somit deren hinreichende Bedingungen. Im Unterschied dazu enthält ein Kanon lediglich Kriterien der Beurteilung von Erkenntnissen, indem gewisse notwendige Bedingungen derselben als »Probierstein(e)« zugrunde gelegt werden. (Kant, KrV, B 84 f.) Dann gilt: »Die ausführliche Anwendung eines solchen Organon würde ein System der reinen Vernunft verschaffen« (ebd., B25). Für die >Kritik der reinen Vernunft< gilt jedoch, daß sie kein solches Organon liefert, sondern sie ist nach Kant eine »Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen«. Sie umfaßt somit nicht das System selbst, sondern ist vielmehr als »die Propädeutik zum System der reinen Vernunft« anzusehen. (Ebd.) Als solche ist sie ein Kanon, da ihr Nutzen »in Ansehung der Spekulation wirklich nur negativ« ist, d. h. sie dient nicht der
°
° Kant, KrV, B24. Kant definiert gleich im dritten Absatz des ersten Abschnitts
1
der Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft >Erkenntnis a priori< als eine solche, die eine »von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntnis« (ebd., B2) sei. Als Kriterien für eine derartige Erkenntnis benennt Kant »Notwendigkeit und strenge AllgemeinheitSystem der reinen VernunftSystem der Transzendentalphilosophie