Captives: Alternative Finanzierung versicherungsfähiger Risiken 3658379111, 9783658379117

Dieses Buch gibt einen Überblick über Captives als Instrument der Finanzierung von versicherungsfähigen Risiken in Unter

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German Pages 342 [328] Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Über die Herausgeber
Teil I: Risikofinanzierung und Versicherung im Kontext eines Unternehmens
1: Management und Finanzierung versicherungsfähiger Risiken in einem Unternehmen
1.1 Versicherungsfähige Risiken
1.1.1 Industrielle/kommerzielle Risiken
1.1.2 Mitarbeiterbezogene Risiken
1.2 Organisation und Instrumente
1.2.1 Einbettung in das betriebliche Risikomanagement
1.2.2 Organisation des Managements versicherungsfähiger Risiken
1.2.3 Instrumente des Managements versicherungsfähiger Risiken
1.3 Zielfaktoren und Anspruchsgruppen
1.3.1 Zielfaktoren
1.3.2 Anspruchsgruppen
Literatur
2: Funktionen der Versicherung
2.1 Einleitung
2.2 Volkswirtschaftliche Perspektive
2.2.1 Nachfrageseite
2.2.2 Angebotsseite
2.2.3 Globale wirtschaftliche Resilienz
2.2.4 Investitionstätigkeiten der Versicherungsunternehmen
2.3 Allgemeine betriebswirtschaftliche Perspektive
2.3.1 Risiko als Chancenmanagement
2.3.2 Risikomanagement in Industrieunternehmen
2.4 Versichererperspektive und Grenzen der Versicherbarkeit
2.4.1 Juristische Perspektive
2.4.2 Versicherungsmathematische Perspektive
2.4.3 Versicherungsunternehmen aus Investorenperspektive
2.4.4 Abgrenzung zum Kapitalmarkt
2.4.5 Dilemma: Ex ante Preisstellung unter Berücksichtigung des Änderungsrisikos
2.4.6 Zyklen im Versicherungsmarkt und die damit verbundenen Herausforderungen
2.5 Zwischenfazit
2.6 Alternativen zu klassischem Risikotransfer
2.6.1 Eigentragung im Überblick
2.6.2 Kosten einer Eigentragungslösung
2.6.3 Eigentragung unter Berücksichtigung der internationalen Buchführungsregel
2.6.4 Eigentragung unter Einsatz einer Unternehmens-Captive
2.6.5 Captives und Rückversicherung
2.6.6 Eigentragungsfähigkeit und Optimierungsprobleme
2.7 Fazit
Literatur
3: Industrieversicherung
3.1 Einleitung
3.2 Industrieversicherung und Industrieversicherer
3.2.1 Was ist Industrie, was Industrieversicherung?
3.2.2 Industrieversicherung in Deutschland: Versicherer
3.2.3 Industrieversicherung in Deutschland: Intermediäre
3.2.4 Industrieversicherung in Deutschland: Kunden
3.2.5 Märkte und Preise
3.3 Rolle und Funktion von Industrieversicherung
3.3.1 Relevanz der Industrieversicherung für die Wirtschaft
3.3.2 Versicherung im Risikomanagement von Industrieunternehmen
3.3.2.1 Risikomanagementprozess
3.3.2.2 Risikoakzeptanz – wie viel eigenes Risiko kann ein Unternehmen tragen?
3.3.2.3 Risikoprävention und Risikovermeidung
3.3.2.4 Risikotransfer
3.4 Risikosteuerung von Industrieversicherern
3.4.1 Beschaffung von Risikoinformationen
3.4.2 Risikobewertung
3.4.3 Risikoteilung/Risikotransfer
3.4.3.1 Offene Mitversicherung
3.4.3.2 Rückversicherung
3.5 Risikolandschaft von Industriekunden im Wandel – Implikationen für die Industrieversicherung
3.5.1 Globalisierung und internationale Versicherungsprogramme
3.5.2 Digitalisierung und Vernetzung
3.5.3 Cyberrisiken und -versicherung
3.6 Fazit
Literatur
Teil II: Gründung und Einsatz einer Captive-(Rück-)Versicherung
4: Konzept und Entstehung
4.1 Definition
4.2 Entstehungszeitpunkt und -hintergrund
4.3 Aktuelle Situation – Anzahl und Domizilüberblick
4.4 Deutsche Captive-Landschaft
4.4.1 Einzeldarstellungen
4.4.1.1 Siemens und die RISICOM Rückversicherung Aktiengesellschaft
4.4.1.2 BASF und die Lucura Versicherung AG
4.4.1.3 Bayer und die Pallas Versicherung Aktiengesellschaft
4.4.1.4 Lufthansa und die Delvag Versicherungs-AG
4.4.1.5 METRO und die METRO Re Aktiengesellschaft
4.4.1.6 Boehringer Ingelheim und die Incura AG
4.4.1.7 Freudenberg Gruppe und die Freudenberg Rückversicherung Aktiengesellschaft
4.4.1.8 B. Braun Melsungen und die REVIUM Rückversicherung Aktiengesellschaft
4.4.1.9 Diehl Gruppe und die Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-Aktiengesellschaft
4.5 Zusammenfassende Darstellung
4.5.1 Umsatz- und Prämienvergleich
4.5.2 Selbstbehaltsquoten
4.5.3 Netto-Betriebskostenquote
4.5.4 SCR-Bedeckungsquote
4.6 Fazit und Ausblick
Literatur
Geschäfts- & Solvenzberichte der betrachteten Einzelunternehmen
BASF und die Lucura
Bayer und die Pallas
Boehringer Ingelheim und die Incura
B. Braun und die REVIUM
Diehl und die Diehl Assekuranz
Freudenberg und die Freudenberg
Lufthansa und die Delvag
METRO und die METRO Re
Siemens und die RISICOM
5: Gründe für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle
5.1 Risikosituation und -appetit des Unternehmens
5.1.1 Risikosituation
5.1.2 Risikotoleranz
5.2 Verfassung des Industrieversicherungsmarktes
5.3 Fragestellungen im Zusammenhang mit der Gründung und dem Betrieb einer Captive
5.3.1 Auswirkungen auf GuV und Mittelfluss bei der Muttergesellschaft und deren Tochtergesellschaften
5.3.2 Abklärung der Machbarkeit
5.3.3 Evaluation des geeigneten Instruments
5.3.4 Evaluation des geeigneten Standorts
5.3.5 Betrieb der Captive
5.4 Zeichnungspolitik einer Captive: Eigene Risiken vs. Drittrisiken
5.5 Steuerungslogik einer Captive: Cost Center vs. Profit Center
5.6 Lebenszyklen einer Captive
5.6.1 Gründung
5.6.2 Aufnahme der (Rück-)Versicherungsbetriebs
5.6.3 Überprüfung und Anpassung der Geschäfts- und Risikostrategie
5.6.4 Abwicklung und Schließung/Verkauf
5.7 Ausblick
6: Der Weg zur Captive – die Machbarkeitsstudie
6.1 Einführung
6.2 Typische Ausgangssituation, Zielsetzung und zweistufiges Optimierungskalkül
6.2.1 Typische Ausgangssituation und Zielsetzung
6.2.2 Zweistufiges Optimierungskalkül
6.2.2.1 Entscheidungsebene 1: Ist eine Veränderung der Risikoeigentragungsstruktur finanziell sinnvoll?
6.2.2.2 Entscheidungsebene 2: Welches „Risikofinanzierungsmodell“ bzw. welche „Finanzierungshülle“ ist am passendsten, um eine erhöhte Risikoeigentragung auszufinanzieren?
6.3 Inhalte einer Machbarkeitsstudie
6.3.1 Schritt 1: Risikoanalyse und Optimierung der Selbstbehalte
6.3.2 Schritt 2: Vorauswahl relevanter Risikofinanzierungsvehikel und Domizile
6.3.2.1 Corporate Governance und Compliance
6.3.2.2 Zeichnungsflexibilität
6.3.2.3 Steuer und ökonomische Substanz
6.3.2.4 Operative Einfachheit und Verwaltungsaufwand
6.3.3 Schritt 3: Geschäftsplanung und Szenarioanalysen
6.3.4 Schritt 4: Zusammenführung der Scoring-Ergebnisse in einer Balanced Scorecard und Implementierungsplan
6.4 Durchführung und Dauer
6.4.1 Durchführung der Risikoanalyse und Optimierung der Selbstbehalte
6.4.2 Benchmarking von Risikofinanzierungsvehikeln und -domizilen
6.4.3 Geschäftspläne, Szenarioanalysen und Bewertung des wirtschaftlichen Mehrwerts für bevorzugte Optionen
6.4.4 Zusammenfassung mit Balanced-Scorecard-Ansatz, Empfehlung und Umsetzungsplan
7: Risikomanagement
7.1 Einleitung
7.2 Risikomanagementprozesse und Organisation
7.2.1 Verschiedene Blickwinkel auf das Risikomanagement
7.2.2 Risikostrategie und Risikomanagementprozesse
7.2.3 Governance-System einer Captive
7.3 Umgang mit versicherungstechnischen Risiken
7.3.1 Welche versicherungstechnischen Risiken sind für eine Captive geeignet
7.3.2 Unterschiedliche Arten der Prämienkalkulation
7.3.3 Versicherungstechnisches Risiko Nicht-Leben nach Solvency II
7.4 Umgang mit Kapitalanlagen und das Marktrisiko
7.4.1 Typische Kapitalanlagen einer Captive
7.4.2 Marktrisiko nach Solvency II
7.5 Versicherungsaufsicht und Kapitalanforderungen
7.5.1 Versicherungsaufsicht nach Solvency II
7.5.1.1 Drei-Säulen-Modell
7.5.1.2 Sinn und Unsinn von Solvency II für eine Captive
7.5.2 Kapitalanforderungen nach Solvency II
7.5.2.1 Verfügbare Eigenmittel
7.5.2.2 Solvenzkapitalanforderungen
7.5.2.3 Mindestkapitalanforderungen
7.5.3 Ein Blick auf andere Aufsichtsregime
7.6 Personal und Ausgliederung
7.6.1 Outsourcing vs. Insourcing
7.6.2 Outsourcing nach Solvency II
7.6.3 Vergütungspolitik
7.6.4 „Fit and Proper“-Anforderungen
7.7 Schlussbetrachtung
Literatur
8: Bewertung versicherungstechnischer Risiken bei Captive-Gesellschaften
8.1 Einleitung
8.2 Risikobegriff
8.3 Simulationsmodelle
8.4 Risiko & Preis
8.5 Bewertung versicherungstechnischer Strukturen
Teil III: Ausprägungsformen und Domizile
9: Captives und ihre Ausprägungsformen
9.1 Wesentliche Ausprägungsformen
9.2 Erstversicherung vs. Rückversicherung
9.3 Eigene Tochtergesellschaft vs. Nutzung einer bestehenden Infrastruktur
9.4 Single Parent Captive vs. Multi Parent Captive
9.5 Eigenrisikotragung (Pure Captive) vs. Drittgeschäft (Broad oder Open Market Captive)
9.6 Standortwahl
9.7 Fazit
Literatur
10: Erst- und Rückversicherungs-Captives
10.1 Einleitung
10.2 Captive-Gesellschaftsformen
10.2.1 Aktiengesellschaft
10.2.2 Nutzung von Erst- und Rückversicherungs-Captive
10.3 Vor- und Nachteile
10.3.1 Nutzung
10.3.1.1 Erstversicherung
10.3.1.2 Rückversicherung
10.3.2 Regulatorik
10.3.3 Lizenzierung
10.3.3.1 Erstversicherungs-Captive
10.3.3.2 Rückversicherungs-Captives
10.3.4 Abwicklung
10.3.5 Fronting
10.4 Organisation
Literatur
11: Rent-a-Captive, Protected Cell Company, Virtual Captive
11.1 Einleitung
11.2 Rent-a-Captive
11.3 Protected Cell Company
11.4 Virtual Captive
11.5 Motivation PCC (RaC)/Virtual Captive vs. Eigentragung auf der Bilanz
11.6 Zusammenfassung
Literatur
12: Domizile
12.1 Einleitung
12.2 Bedeutung der unterschiedlichen geografischen Gruppen
12.2.1 Onshore-Domizile
12.2.2 Offshore-Domizile
12.3 Kriterien für die Wahl eines Domizils
12.4 Europäische Onshore-Domizile
12.5 Deutschland als Captive-Domizil
12.6 Offshore-Domizile
12.7 US-Domizile
12.8 Zusammenfassung
Literatur
Teil IV: Sonderthemen: Aufsichtsrecht, Steuerrecht, Bilanzrecht
13: Aufsichtsrechtliche und gesellschaftsrechtliche Aspekte einer Captive
13.1 Einführung
13.2 Aufsichtsrechtliche Grundlagen
13.2.1 Captive als Versicherungsunternehmen i. S. d. Aufsichtsrechts
13.2.2 Im Besonderen: Unterscheidung zwischen Erstversicherungs- und Rückversicherungs-Captives
13.2.3 Besondere Erleichterungen für firmeneigene (Erst- und Rückversicherungs-)Captives unter Solvency II und im deutschen Aufsichtsrecht
13.2.3.1 Solvenzkapitalanforderungen, versicherungstechnische Rückstellungen
13.2.3.2 Erleichterungen über durch das Proportionalitätsprinzip eröffnete Spielräume
13.2.4 Aufsichtsregime für Captive-Versicherungsunternehmen nach dem VAG
13.2.4.1 Geschäftszweck, sonstige Satzungs- und Zulassungsfragen
13.2.4.2 Interne Unternehmensorganisation
13.2.4.3 POG
13.2.4.4 Outsourcing
13.2.4.5 Laufende Aufsicht
13.2.4.6 Captives mit Sitz innerhalb der EU/des EWR
13.2.4.7 Captives mit Sitz in Drittstaaten außerhalb der EU/des EWR
13.3 Gesellschaftsrechtliche Aspekte und Besonderheiten bei Captives in Deutschland
13.3.1 Aus Sicht der Konzern- und Trägerunternehmen: Risikomanagement
13.3.2 Rechtsformzwang für Captives nach dem VAG
13.3.3 Kapitalisierung/Beteiligungskontrolle
13.3.4 Vorstand/Aufsichtsrat
13.3.5 Konzernrechtliche Aspekte
13.3.6 Umwandlung, Sitzverlegung, Liquidation
13.4 Schlussbemerkung
Literatur
14: Steuerliche Fragestellungen bei Captives
14.1 Einleitung
14.2 Ertragsteuerliche Fragestellungen
14.2.1 Steuerrechtliche Anerkennung einer Captive
14.2.2 Besteuerung der Captive
14.2.2.1 Deutsche Captive
14.2.2.2 Ausländische Captive
14.2.2.3 Fazit
14.2.3 Besteuerung der Versicherungsnehmer-Gesellschaften der Captive
14.2.3.1 Ausgewählte Rechtsprechung zum Betriebsausgabenabzug bei Captives
14.2.3.2 Problembereich Einkünfteberichtigung nach § 1 AStG – Anerkennung der konzerninternen Leistungsverrechnung/Höhe der Versicherungsprämie
14.2.3.3 Fazit
14.2.4 Besteuerung der Anteilseigner der Captive
14.2.4.1 Laufende Dividendenzahlungen der Captive
14.2.4.2 Teilwertabschreibung auf Captive-Beteiligung
14.2.4.3 Ertragsteuerliche Organschaft
14.2.4.4 Mitteilungspflicht von grenzüberschreitenden Steuergestaltungen
14.2.4.5 Fazit
14.2.5 Problembereich Hinzurechnungsbesteuerung nach § 7 ff. AStG
14.2.5.1 Gesetzliche Grundlagen der §§ 7 ff. AStG
14.2.5.2 Aktive versus passive Einkünfte
14.2.5.3 Niedrigbesteuerung
14.2.5.4 Wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit/Gegenbeweis für EU- und EWR-Gesellschaften
14.2.5.5 Freigrenzen
14.2.5.6 Ermittlung des Hinzurechnungsbetrags
14.2.5.7 Rechtsfolgen
14.2.5.8 Fazit
14.3 Operative Steuern
14.3.1 Versicherungsteuer
14.3.1.1 Captives im Inland
14.3.1.2 Captives in der EU/im EWR
14.3.1.3 Captives in sogenannten Drittländern
14.3.2 Umsatzsteuer
14.3.3 Lohnsteuer/Entsendung
14.4 Schlussbemerkung
Literatur
15: Rechnungslegung von Captives
15.1 Einleitung
15.2 Rechnungslegung nach HGB
15.2.1 Allgemeines
15.2.2 Kapitalanlagen
15.2.3 Forderungen
15.2.4 Eigenkapital
15.2.5 Versicherungstechnische Rückstellungen
15.2.5.1 Beitragsüberträge
15.2.5.2 Deckungsrückstellung
15.2.5.3 Rückstellung für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle
15.2.5.4 Rückstellungen für Beitragsnachverrechnungen
15.2.5.5 Schwankungsrückstellungen
15.2.6 Verbindlichkeiten
15.2.7 Spartenrechnung
15.2.8 Abgegebene Rückversicherung/Pooling
15.2.9 Outsourcing/Kostenverteilung
15.2.10 Abhängigkeitsbericht
15.2.11 Berichterstattung/Veröffentlichung
15.3 Konzernabschluss/Rechnungslegung nach IFRS
15.4 Solvency II/Solvabilitätsübersicht
Literatur
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Captives: Alternative Finanzierung versicherungsfähiger Risiken
 3658379111, 9783658379117

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Holger Kraus Torsten Rohlfs   Hrsg.

Captives Alternative Finanzierung versicherungsfähiger Risiken

Captives

Holger Kraus  •  Torsten Rohlfs Hrsg.

Captives Alternative Finanzierung versicherungsfähiger Risiken

Hrsg. Holger Kraus Siemens AG München, Deutschland

Torsten Rohlfs Institut für Versicherungswesen Technische Hochschule Köln Köln, Deutschland

ISBN 978-3-658-37911-7    ISBN 978-3-658-37912-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Guido Notthoff Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Captive-Versicherung oder -Rückversicherung ist ein Instrument, welches im Rahmen des Managements und der Finanzierung versicherungsfähiger Risken in einem Unternehmen eingesetzt wird. Die Beurteilung der Risikotragung und ihre Gestaltung sind jedoch sehr anspruchsvoll und hängen von verschiedenen wirtschaftlichen und auch unternehmenspolitischen Faktoren ab. Ziel dieses Projekts ist es, ein tiefes und praxisorientiertes Verständnis für die Fragen rund um die Beurteilung, Gründung und den Betrieb einer (Rückversicherungs-)Captive zu vermitteln. Hierzu haben sich Experten aus der Praxis den verschiedenen Fragestellungen genähert. Zum besseren Verständnis wurden die verschiedenen Beiträge in vier Abschnitte eingeteilt. Im ersten Abschnitt werden Fragen behandelt, die sich mit der Risikofinanzierung und dem Industrieversicherungsgeschäft im Kontext eines Unternehmens beschäftigen. Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Gründung und dem Einsatz einer Captive. Hier werden in einzelnen Beiträgen Risikomanagement, Machbarkeitsstudie und Geschäftsmodelle thematisiert. Im dritten Abschnitt werden die unterschiedlichen Ausprägungsformen und auch die Frage nach der Domizilwahl diskutiert. Im letzten Abschnitt werden Sonderthemen besprochen, die sich aus dem Aufsichtsrecht, dem Steuerrecht und der Bilanzierung ergeben. Die in den Beiträgen verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich immer gleichermaßen auf Personen aller Geschlechtsidentitäten. Auf gegenderte Bezeichnungen wird von den Autoren zum Teil zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet. Wir wünschen allen Lesern eine interessante Lektüre mit vielen Anregungen für den praktischen Alltag. München, Deutschland Köln, Deutschland

Holger Kraus Torsten Rohlfs

V

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Risikofinanzierung und Versicherung im Kontext eines Unternehmens 1 Management  und Finanzierung versicherungsfähiger Risiken in einem Unternehmen��������������������������������������������������������������������������������������������   3 Holger Kraus und Torsten Rohlfs 2 Funktionen der Versicherung ����������������������������������������������������������������������������  21 Rob Makelaar und Peter Reichard 3 Industrieversicherung ����������������������������������������������������������������������������������������  53 Christopher Lohmann und Edgar Puls Teil II  Gründung und Einsatz einer Captive-(Rück-)Versicherung 4 Konzept und Entstehung ������������������������������������������������������������������������������������  97 Jonas Warnke und Christian Böhm 5 Gründe  für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle������������������������ 121 Holger Kraus und Marc Paasch 6 Der  Weg zur Captive – die Machbarkeitsstudie���������������������������������������������� 135 Benjamin Jacob 7 Risikomanagement ���������������������������������������������������������������������������������������������� 147 Jelto Borgmann und Dirk Schilling 8 Bewertung  versicherungstechnischer Risiken bei Captive-Gesellschaften �������������������������������������������������������������������������������������� 179 Reiner Hoffmann Teil III  Ausprägungsformen und Domizile 9 Captives und ihre Ausprägungsformen ������������������������������������������������������������ 203 Holger Kraus und Torsten Rohlfs

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

10 Erst- und Rückversicherungs-Captives ������������������������������������������������������������ 217 Julian Herold und Dirk Schilling 11 Rent-a-Captive,  Protected Cell Company, Virtual Captive���������������������������� 233 Olaf Keller und Holger Sommerfeld 12 Domizile �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 247 Olaf Keller und Holger Sommerfeld Teil IV  Sonderthemen: Aufsichtsrecht, Steuerrecht, Bilanzrecht 13 Aufsichtsrechtliche und gesellschaftsrechtliche Aspekte einer Captive ���������������������������������������������������������������������������������������� 263 Gunne W. Bähr und Gerald Schumann 14 Steuerliche  Fragestellungen bei Captives �������������������������������������������������������� 289 Florian Schnabel und Stefan Sigulla 15 Rechnungslegung von Captives ������������������������������������������������������������������������ 317 Michael Stöffler

Über die Herausgeber

Holger Kraus  studierte Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Risikomanagement und Versicherung an der Universität St. Gallen (HSG). Nach Abschluss des Studiums war er mehrere Jahre für Aon in der Beratung von Großunternehmen zu alternativen Risikofinanzierungslösungen und Captives tätig. Seit 2009 war er im Bereich Versicherungen der Siemens AG mit Schwerpunkt Risikofinanzierung und Strategie tätig. Seit 2023 verantwortet er den Bereich Versicherungen der Siemens AG. Gleichzeitig ist er Vorsitzender des Vorstands der RISICOM Rückversicherung AG, des konzerneigenen Rückversicherers der Siemens AG. Darüber hinaus leitet er den Captive-Ausschuss des Verbands der ver­ sicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW).

Prof. Dr. Torsten  Rohlfs  lehrt am Institut für Versicherungswesen der Technischen Hochschule Köln. Seine Fachgebiete sind insbesondere das Rechnungswesen und Risikomanagement von Versicherungsunternehmen. Er ist Wirtschaftsprüfer und war vor seiner Tätigkeit an der TH Köln Senior Manager bei der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Bereich Prüfung und Beratung von Versicherungsunternehmen. Prof. Dr. Torsten Rohlfs ist Mitglied im Rating-Komitee der ASSEKURATA Assekuranz Rating-Agentur GmbH und im wissenschaftlichen Beirat des Gesamtverbands der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW). Darüber hinaus ist er Mitglied der Prüfungskommission für Wirtschaftsprüfer.

IX

Teil I Risikofinanzierung und Versicherung im Kontext eines Unternehmens

1

Management und Finanzierung versicherungsfähiger Risiken in einem Unternehmen Holger Kraus und Torsten Rohlfs

Inhaltsverzeichnis 1.1  Versicherungsfähige Risiken  1.1.1  Industrielle/kommerzielle Risiken  1.1.2  Mitarbeiterbezogene Risiken  1.2  Organisation und Instrumente  1.2.1  Einbettung in das betriebliche Risikomanagement  1.2.2  Organisation des Managements versicherungsfähiger Risiken  1.2.3  Instrumente des Managements versicherungsfähiger Risiken  1.3  Zielfaktoren und Anspruchsgruppen  1.3.1  Zielfaktoren  1.3.2  Anspruchsgruppen  Literatur 

   4    5    6    7    7    8  11  14  15  18  19

Zusammenfassung

Eine Captive-Versicherung oder -Rückversicherung ist ein Instrument, welches im Rahmen des Managements und der Finanzierung versicherungsfähiger Risken in einem Unternehmen eingesetzt werden kann. Der vorliegende Beitrag bietet einen Überblick über in diesem Zusammenhang relevante Themenkomplexe, um eine Einordnung von H. Kraus (*) Siemens AG, München, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Rohlfs Institut für Versicherungswesen, Technische Hochschule Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_1

3

4

H. Kraus und T. Rohlfs

Captives in diesem Kontext zu ermöglichen. Im Vordergrund stehen dabei die ­versicherungsfähigen Risiken selbst, die organisatorische Ausgestaltung des Risikomanagements, die Rahmenbedingungen und Zielsetzungen sowie Instrumente.

1.1 Versicherungsfähige Risiken Grundsätzlich versicherungsfähige Risiken sind all die Risiken eines Unternehmens, für welche ein Angebot einer Risikoübernahme gegen Prämie durch ein privatwirtschaftliches und/oder staatliches Versicherungsunternehmen besteht. Für gewisse Risiken besteht nicht nur die Möglichkeit, sondern die gesetzliche Verpflichtung, diese zu versichern (zum Beispiel Kfz-Haftpflicht). Darüber hinaus kann die Versicherung von Kunden und/oder Geschäftspartnern (zum Beispiel Banken) im Zusammenhang mit einem Liefervertrag oder einer Finanzierung gefordert werden. Zudem gibt es Risiken, für deren Absicherung sowohl Versicherungs- als auch Bankprodukte zur Verfügung stehen (zum Beispiel Surety Bonds/Bankbürgschaften für Performancerisiken oder Kreditversicherung/Credit Default Swaps für Zahlungsausfallrisiken). Risiken, welche versichert werden können, aber nicht müssen, können zudem unversichert bleiben oder die Risikotragung kann im gesetzlich zulässigen Rahmen vertraglich zwischen den Geschäftspartnern geregelt werden. Die konkrete Versicherungsfähigkeit bzw. -pflicht wird durch die Art und/oder Belegenheit des Risikos oder des Versicherungsnehmers sowie die Geschäftspolitik der Versicherer determiniert. Bestimmungen bezüglich gesetzlicher Versicherungspflicht, aufsichtsrechtlicher Definition von Versicherung und Beaufsichtigung sowie steuerlicher Einordnung von Versicherung finden sich auf supranationaler Ebene (zum Beispiel EU), nationaler Ebene oder auch auf bundesstaatlicher Ebene (zum Beispiel USA). So hob die BaFin beispielsweise erst 1998 das Verbot von Lösegeldversicherungen auf und erlaubt erst seit 2017 die Bündelung von Lösegeldversicherung und Cyberversicherung (vgl. Lösegeldversicherung 2017). Insbesondere für international agierende Unternehmen sind direkte Versicherungsverbote zum Beispiel auf Grundlage von Sanktionen der EU oder USA relevant. Diese Verbote haben zur Folge, dass beispielsweise Transporte von Waren in von Sanktionen betroffene Länder oder Projekte in diesen Ländern nicht im Rahmen von internationalen Versicherungsprogrammen versichert werden dürfen. Relevant für die Versicherungsfähigkeit ist darüber hinaus die jeweilige Geschäftspolitik der Versicherer zum Zeitpunkt des Ausschreibungs- und Platzierungsprozesses. Diese Geschäftspolitik unterliegt zyklischen Schwankungen hinsichtlich des Preises, Deckungsumfangs (sowohl hinsichtlich der Deckungsinhalte als auch der zur Verfügung gestellten Limits) und der Zielbranchen. Das bedeutet, dass es zum Beispiel zu einem bestimmten Zeitpunkt für ein holzverarbeitendes Unternehmen schwierig oder unmöglich sein kann, den gewünschten Sach- und Betriebsunterbrechungsversicherungsschutz

1  Management und Finanzierung versicherungsfähiger Risiken in einem Unternehmen

5

e­ inzukaufen, da einzelne oder mehrere Versicherer die Zeichnung von Risiken in dieser Branche vollständig ablehnen oder die von ihnen zur Verfügung gestellten Deckungsstrecken reduzieren und/oder substanzielle Selbstbehalte fordern. Zu diesen zyklischen Bewegungen kommen nachhaltige Veränderungen der Geschäftspolitik von Versicherern, welche von unterschiedlichen Anspruchsgruppen (Stakeholdern) der Versicherungsunternehmen initiiert sein können. Aktuell ist hierbei insbesondere der zunehmende Fokus auf Nachhaltigkeit (sogenannte ESG-Faktoren) zu nennen, das bedeutet die Berücksichtigung von Kriterien aus den Bereich Umwelt (Environmental), Soziales (Social) und verantwortungsvolle Unternehmensführung (Governance). Konkret kann sich das für den Versicherungsnehmer dahin gehend auswirken, dass Versicherer die Zurverfügungstellung von Versicherungsschutz von der Höhe der CO2-Emission des Unternehmens abhängig machen oder gewissen Branchen aufgrund ihres ESG-Ratings das Angebot von Versicherungsschutz verwehren. Die Kategorisierung der versicherungsfähigen Risiken eines Unternehmens kann anhand verschiedener Kriterien erfolgen. Hier wird die Unterscheidung in industrielle/kommerzielle Risiken und mitarbeiterbezogene Risiken getroffen.

1.1.1 Industrielle/kommerzielle Risiken Zu den industriellen/kommerziellen Risiken sind die unmittelbar aus der Tätigkeit eines Unternehmens resultierenden Risiken zu zählen. Diese lassen sich wiederum in Eigenschadenrisiken, das heißt Risiken, deren Eintritt zu einer (unmittelbaren) Schädigung materieller oder immaterieller Vermögensgegenstände des Unternehmens führt, und Drittschadenrisiken, das heißt Risiken, deren Eintritt zu einer Schädigung materieller oder immaterieller Vermögengegenstände Dritter führt, gliedern. Hinsichtlich der Anzahl der Versicherungssparten überwiegen die Eigenschadenrisiken, die Drittschadenrisiken betreffen im Wesentlichen die Sparte Unternehmenshaftpflicht mit ihren verschiedenen Ausprägungsformen (zum Beispiel Produkthaftpflicht, Vermögensschadenhaftpflicht, Planungshaftpflicht, Arbeitgeberhaftpflicht (EPLI), Prospekthaftpflicht, Kfz-Haftpflicht, Haftpflicht bei Verletzung von Patentrechten (Intellectual Property Liability) etc.). Cyberversicherungen können sowohl Eigen- als auch Drittschadenrisiken abdecken. Wesentliche Versicherungen im Bereich der Eigenschadenrisiken sind: • • • • • • •

Sach- und Betriebsunterbrechung, Terrorismus, Montage, Transport, Elektronik, Cyber, D&O,

6

• • • • • • •

H. Kraus und T. Rohlfs

Kredit/Garantien, Politische Risiken, Reputation, Vertrauensschaden, Rechtsschutz (Verkehrsrechtsschutz, Strafrechtsschutz), Lösegeldversicherung (Kidnap & Ransom), Key-Man-Versicherung.

Mit Ausnahme von (teilweise mit Teilnahmeverpflichtung ausgestatteten) Pool-Lösungen für spezifische Naturgefahren oder Haftpflichtrisiken bestehen für alle genannten Sparten privatwirtschaftliche Versicherungsangebote. In den Sparten Terrorismus und Exportkredit/Politische Risiken sind darüber hinaus staatliche oder multilaterale Organisationen wesentliche Anbieter von Versicherungskapazität.

1.1.2 Mitarbeiterbezogene Risiken Mitarbeiterbezogene Risiken sind zum einen Risiken, die sich für Mitarbeiter aus ihrer Tätigkeit für das Unternehmen ergeben, und zum anderen Risiken, die Unternehmen im Rahmen von Vergütungs- und Altersversorgungszusagen für ihre Mitarbeiter übernehmen oder für welche sie zugunsten ihrer Mitarbeiter Versicherungsschutz einkaufen. Zu den Mitarbeiterrisiken mit unmittelbarem Tätigkeitsbezug zählen zum Beispiel: • • • •

Dienstreiseunfall, Arbeitsunfall, Krankenversicherung für Auslandsdienstreisen und bei Delegation, Reisegepäck.

Zu den mitarbeiterbezogenen Risiken im Rahmen von Vergütungszusagen zählen: • • • •

kurz- und langfristige Berufsunfähigkeit, Unfall, Leben, Kranken.

Diese letztgenannten Risiken können, müssen aber nicht über Versicherungslösungen abgedeckt werden. Die Risikobeiträge können vollständig oder anteilig durch das Unternehmen getragen werden. Daher werden sie auch als „Employee Benefits“ bezeichnet. Im Bereich der betrieblichen Altersversorgung ist die Übertragung von Pensionsverpflichtungen an Versicherer mittels Gruppenrentenversicherungsverträgen ebenso möglich wie die Versicherung von Langlebigkeitsrisiken. Ebenfalls in diese Kategorie fallen ­Direktversicherungslösungen.

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1.2 Organisation und Instrumente Das Management versicherungsfähiger Risiken erfordert eine geeignete Aufbau- und Ablauforganisation im Unternehmen sowie den Einsatz der für das Risikoprofil und die Finanzkraft des Unternehmens passenden Instrumente. Sowohl die Organisation als auch die zum Einsatz kommenden Instrumente sind von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Unter anderem gilt es, folgende Fragen zu beatworten (vgl. Abb. 1.1): • Wie sind bei Definition des Versicherungsumfangs Prämienbudget und Versicherungsbedarf zu gewichten? • Wie sind im Rahmen der Risikofinanzierung Eigentragung und Transfer zu gewichten? Soll das Management der versicherungsfähigen Risiken eher mit eigenen Ressourcen oder mit Rückgriff auf externe Dienstleister erfolgen? • Sollen Organisation, Entscheidungen und Versicherungsdesign eher zentral oder eher dezentral ausgerichtet sein?

1.2.1 Einbettung in das betriebliche Risikomanagement Neben den versicherungsfähigen Risiken ergibt sich aus der Unternehmenstätigkeit eine Vielzahl weiterer Risiken, welche nicht über Versicherungs- und/oder Finanzprodukte ­abgesichert werden können. Jedes Unternehmen ist folglich mit der Frage konfrontiert, wie es das Management seiner betrieblichen Risiken insgesamt organisiert. Versicherungsumfang Versicherungsbedarf

Prämienbudget

Finanzierung Organisation/Personal Make

Buy

Organisation Entscheidungsfindung Deckungsdesign/-konzept Versicherungseinkauf zentral Abb. 1.1  Schieberegler. (Quelle: eigene Darstellung)

dezentral

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Die allgemeinen gesetzlichen Sorgfaltspflichten eines ordentlichen Geschäftsführers gebieten es, im Unternehmen angemessene Governance, Risk & Compliance Managementsysteme zu unterhalten. Art und Umfang der einzurichtenden Maßnahmen hängen von der individuellen Risikosituation des jeweiligen Unternehmens ab und stehen im Organisationsermessen von Vorstand bzw. Geschäftsführung. Gesetzliche Regelungen zur Ausgestaltung der Risikomanagementsysteme bestehen für die überwiegende Anzahl der Unternehmen nicht (vgl. Rödl & Partner 2018). Die Ausnahme bilden regulierte Unternehmen der Finanzwirtschaft wie zum Beispiel Banken, Versicherer und Leasingunternehmen. Für sie bestehen dezidierte Anforderungen an die Geschäftsorganisation, die zum Beispiel für Versicherer im Gesetz über die Beaufsichtigung von Versicherungsunternehmen (VAG) in Abschn.  3 ausgeführt sind und in § 26 bzgl. Risikomanagement spezifiziert werden. Darüber hinaus sind diese Unternehmen gesetzlich verpflichtet, ihre Gesamtrisikoposition unter Anwendung eines vorgegebenen Standardmodells oder alternativ eines vom Regulator genehmigten internen Modells zu quantifizieren, dieser den Wert ihrer Eigenmittel gegenüberzustellen und eine Mindestüberdeckung der Risikoposition nachzuweisen. Nicht dieser Regulierung unterworfene Unternehmen verfügen heute in der Regel nicht über vergleichbare Modelle zur Quantifizierung ihrer Gesamtrisikoposition. Vor diesem Hintergrund bestehen in vielen Unternehmen Risikomanagementsysteme (zum Beispiel Enterprise Risk Management (ERM)), welche insbesondere auf die Risikofrüherkennung abzielen. Das Identifizieren, Messen und Managen der Risiken erfolgen durch unterschiedliche Unternehmenseinheiten, welchen spezifische Risikokategorien zugeordnet sind. In der Regel besteht eine Verbindung zwischen dem Management der versicherungsfähigen Risiken und dem Enterprise Risk Management, indem Risiken mit einem hohen Bruttorisikowert (hoher kombinierter Wert aus Schadeneintrittswahrscheinlichkeit und Schadenausmaß) in das ERM-Register gemeldet werden und gleichzeitig der Effekt einer bestehenden Versicherungslösung aufgezeigt wird. Der strategische Rahmen für den konkreten Umgang mit versicherungsfähigen Risiken wird vielfach in der entsprechenden Berichtslinie abgestimmt.

1.2.2 Organisation des Managements versicherungsfähiger Risiken Mit Bezug auf das Management versicherungsfähiger Risiken ist zunächst zu entscheiden, wo im Unternehmen die Verantwortung liegen soll. Hierbei sind unterschiedliche Ausprägungen zu beobachten. In der Regel liegt die Verantwortung im Bereich Finanzen/Treasury und dort in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße und Komplexität der Risiken entweder bei einem Versicherungsverantwortlichen (mit oder ohne Team) oder direkt beim Bereichsleiter Finanzen oder Treasury oder sogar direkt beim Finanzgeschäftsführer. In einigen Unternehmen ist die Versicherungsverantwortung auch in der Rechtsabteilung angesiedelt.

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Ebenfalls zu beobachten ist die Aufteilung der Verantwortlichkeit zwischen verschiedenen Organisationseinheiten. In diesen Fällen liegt die Verantwortung für die industriellen/kommerziellen Risiken häufig im Finanzbereich und die Verantwortung für die mitarbeiterbezogenen Risiken/Versicherungen vollständig oder teilweise im Bereich Personal und/oder Pensions (Letzterer ist in der Regel ebenfalls Teil der Finanz­ organisation). Organisatorisch kann die Versicherungsfunktion als Person, Abteilung oder eigene Gesellschaft (in der Regel eine Versicherungsvermittlungs-GmbH) aufgestellt sein. Neben der Klärung der organisatorischen Verantwortlichkeit ist zu definieren, wie der unternehmensinterne Entscheidungsprozess zum Umgang mit versicherungsfähigen Risiken ausgestaltet werden soll. In diesem Zusammenhang sind folgende Fragen zu klären: • Wie gestalten sich die Entscheidungsprozesse bezüglich –– Versicherungsbudget, –– Versicherungsumfang und Selbstbehalte? • Welche Leistungen im Zusammenhang mit dem Management versicherungsfähiger Risiken sollen mit eigenem Personal erbracht werden und welche sollen zugekauft werden? • Soll das Versicherungsteam zentral oder dezentral aufgestellt sein? Die letztendliche Entscheidungshoheit über das Versicherungsbudget liegt in der Regel beim Finanzvorstand oder Finanzgeschäftsführer eines Unternehmens, wobei der Prozess der Entscheidungsfindung unternehmensindivduell sehr unterschiedlich ausfallen kann. So kann die Entscheidung in der konkreten Platzierungssituation erfolgen oder ein Budget­ rahmen vorgegeben werden, innerhalb dessen der Verantwortliche für das Versicherungsrisikomanagement entscheiden kann. In der Regel wird der Versicherungsbedarf ausgehend von der Risikosituation des Unternehmens bestimmt. Die Deckungen in den einzelnen Sparten werden dementsprechend konzipiert und zur Bepreisung an geeignete Versicherer übermittelt. Entsprechen sich die Preisvorstellungen von Versicherungsnehmer und Versicherer nicht, ist seitens des Versicherungsnehmers zu entscheiden, wie die Faktoren Prämienaufwand und Umfang des Deckungsschutzes zu gewichten sind. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass eine Reduzierung des Deckungsumfangs zum Beispiel durch Erhöhung von Selbstbehalten oder Herausnahme von Deckungskomponenten zu einer Prämienreduzierung führen kann, dies jedoch nicht unbedingt die Risikokosten des Versicherungsnehmers senkt, da nicht versicherte Schäden direkt als Aufwand bei den betroffenen Geschäftseinheiten anfallen. Im Bereich der industriellen/kommerziellen Risiken sind aus diesem Grund fixe Prämienbudgets eher die Ausnahme (zum Beispiel, wenn sich ein Unternehmen in einer schwierigen finanziellen Situation befindet). Im Bereich der Employee Benefits hingegen ist es durchaus gängig, ein Budget zu definieren und die Deckungen so auszugestalten, dass die Budgetvorgaben erfüllt werden.

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Der Grad des Einbezugs der Finanzverantwortlichen der operativen Geschäftsbereiche eines Unternehmens ist ebenfalls unterschiedlich ausgeprägt. So regeln einzelne Unternehmen Versicherungsumfang, Selbstbehalte und Allokation der Prämien zentral, andere dagegen beziehen die Geschäftsverantwortlichen in die Entscheidung ein oder überlassen die Entscheidung für bestimmte Versicherungsarten vollständig den betreffenden Geschäftseinheiten. Sofern globale Versicherungsprogramme bestehen, werden diese meist zentral konzipiert, das heißt, Deckungsumfang und -höhe werden mit Blick auf die Risikosituation des Gesamtunternehmens bestimmt. Auch die Entscheidung über die Eigentragung auf Gesamtunternehmensebene erfolgt zentral, während bei der Festlegung der operativen Selbstbehalte für die einzelnen Unternehmenseinheiten diese teilweise auch miteinbezogen werden. Sofern Risiken über lokale Versicherungslösungen abgesichert werden, erfolgt die Entscheidung zu Deckungsumfang und -höhe in der Regel lokal in Abstimmung zwischen dem lokalen Geschäfts- oder Finanzverantwortlichen und dem lokalen Vertreter der Versicherungsfunktion des Unternehmens (sofern die Versicherungsfunktion lokal vertreten ist) oder dem von der zentralen Versicherungsfunktion für das jeweilige Land beauftragten Versicherungsberater bzw. -makler. Ein starker Fokus auf lokales Deckungsdesign ist insbesondere im Bereich der Employee-­Benefit-Deckungen zu beobachten, da hier in der Regel lokale Budgetverantwortung besteht und es gleichzeitig notwendig ist, die lokalen Sozialversicherungsregelungen zu kennen sowie zu wissen, wie sich vergleichbare, um Arbeitskräfte ­konkurrierender Arbeitgeber im Bereich firmenfinanzierter Mitarbeiterversicherungen positionieren. Neben der Definition der Entscheidungsprozesse mit Bezug auf Versicherungen ist die Wertschöpfungstiefe des Versicherungsbereichs innerhalb eines Unternehmens und damit sein Umfang und seine geografische Aufstellung festzulegen. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu beantworten, welche Kapazität und Expertise unternehmensintern vorgehalten werden sollen und welche Leistungen extern zugekauft werden sollen. Das Ergebnis kann von einer Konzentration auf eine Strategie-/Steuerungsfunktion (maximales Outsourcing) bis zu einer umfassenden, auch international vertretenen Versicherungsabteilung mit Spezialressourcen wie Brandschutzingenieuren (maximales Insourcing) reichen. Für die Entscheidung sind unterschiedliche Faktoren zu berücksichtigen, darunter • Komplexität der Risikosituation, • grundsätzliche Position des Unternehmens zu Fachressourcen außerhalb des Kerngeschäfts, • Kosten, • Verfügbarkeit von geeigneten Mitarbeitern, • Verfügbarkeit der notwendigen Expertise bei Externen, • Vertraulichkeitsgrad im Rahmen der Tätigkeit anfallender oder bearbeiteter Informationen,

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• Gewichtung eigener Expertise, • Gewichtung der Unabhängigkeit von externen Partnern (auch mit Blick auf teilweise oligopolistische Tendenzen im Bereich der Versicherungsmakler/-berater und Indus­ trieversicherer).

1.2.3 Instrumente des Managements versicherungsfähiger Risiken Für das Management der versicherungsfähigen Risiken eines Unternehmens stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, welche im Folgenden nach Arbeitsfeldern gegliedert sind. Design, Implementierung und Administration von Versicherungslösungen Bei Design, Implementierung und Administration von Versicherungslösungen sind in der Regel unternehmensinterne und unternehmensexterne Ressourcen involviert. Insbesondere in Deutschland verfügt eine Reihe von Unternehmen über einen firmenverbundenen Versicherungsmakler, welcher die oben genannten Leistungen für seine Muttergesellschaft und deren Tochtergesellschaften erbringt. Unternehmensexterne Ressourcen werden insbesondere für die lokale Betreuung von Tochtergesellschaften an ausländischen Standorten, an denen keine unternehmenseigenen Versicherungsressourcen vorgehalten werden, für die Fachberatung zu einzelnen Versicherungssparten oder Spezialthemen sowie die Platzierung bzw. Platzierungsunterstützung beauftragt. Einen nicht unwesentlichen Bestandteil der Administration von Versicherungsverträgen stellt insbesondere bei Unternehmen, welche regelmäßig Unternehmensteile verselbstständigen (zum Beispiel in Form von Börsengängen), verkaufen (an andere Unternehmen oder Investoren) oder kaufen, die Berücksichtigung dieser Transkationen in den Versicherungsprogrammen dar. Konkret geht es dabei um die Bewertung der finanziellen Auswirkungen der Transaktionen auf die Versicherungsprämien, den Ein- bzw. Ausschluss der betreffenden Unternehmensteile in bzw. aus den Versicherungsprogrammen sowie ggf. das Design und die Implementierung von eigenständigen Versicherungsprogrammen. Für die Auslandsbetreuung stehen lokale, regional oder global vertretene Makler bzw. Versicherungsberater zur Verfügung. Seitens der Versicherungsabteilung bzw. des firmenverbundenen Vermittlers ist zu prüfen, welcher Betreuungsansatz im Ausland das gewünschte Maß von Servicequalität und Kosteneffizienz bietet. Die Mandatierung eines oder mehrerer global tätiger Häuser reduziert in der Regel den unternehmensinternen Koordinationsaufwand, limitiert allerdings aufgrund der starken Konsolidierung aufseiten der Anbieter die Wahlmöglichkeiten und gegebenenfalls die Verhandlungsmacht. Umgekehrt führt die Mandatierung lokaler oder regionaler Häuser zu einem erhöhten Aufwand für Koordination und Datensammlung sowie -konsolidierung. Die Fachberatung zu einzelnen Versicherungssparten umfasst insbesondere die Unterstützung bei der Ermittlung sinnvoller Limits, Benchmarking von Limits und Prämien sowie die Optimierung der Versicherungsbedingungen.

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Die Rolle des Maklers bei der Platzierung zeigt unterschiedliche Ausprägungsformen. Bei lokalen Deckungen im Ausland erfolgt die Platzierung in der Regel über den Makler. Zentral gesteuerte Platzierungen können entweder durch die Versicherungsabteilung oder den firmenverbundenen Vermittler oder in Zusammenarbeit mit oder vollständig durch einen externen Makler erfolgen. Ein oder mehrere externe Makler werden oftmals dann hinzugezogen, wenn spezielle Versicherungsmärkte angesprochen werden, welche von Versicherungsabteilung oder firmenverbundenem Makler nicht direkt adressiert werden können. Auch die Ansprache von Rückversicherern bzgl. fakultativer Kapazität kann über Mak­ ler erfolgen. Risikomanagementberatung Die Risikomanagementberatung kann ebenfalls durch interne oder externe Ressourcen oder eine Kombination von beiden erbracht werden. Im Vordergrund steht hierbei meist die technische Risikoberatung, zum Beispiel hinsichtlich Business Continuity, Brandschutz, Transportsicherheit und aktuell mit zunehmender Bedeutung der Bereich Cybersecurity. Für die Steuerung der Beratungsleistungen sowie für unternehmensspezifischen, komplexen und/oder häufig auftretenden Beratungsbedarf kommen vielfach unternehmenseigene Ressourcen zum Einsatz, für Benchmarking, Standardthemen sowie für Beratungsleistungen für lokale Unternehmenseinheiten im Ausland wird häufig auf externe Anbieter abgestellt. Ebenfalls der Risikomanagementberatung zuzurechnen ist das Feld der Beratung zu Versicherungsbedingungen (Insurance Clauses) in Kauf- oder Verkaufsverträgen des Unternehmens, das heißt Vertragsverhältnissen, welche den Ein- oder Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen regeln. Risikofinanzierung und Risikotransfer Für die Finanzierung der versicherungsfähigen Risiken stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, die sich grundsätzlich in Risikoeigentragung und Risikotransfer untergliedern. Die Risikoeigentragung kann zum einen über Selbstbehalte erfolgen. Dies hat folgende Auswirkungen: Bei Schäden entsteht direkt auf der entsprechenden Kostenstelle der vom Schaden betroffenen Unternehmenseinheit ein Aufwand bis zur Höhe des vereinbarten Selbstbehalts (der Aufwand kann darunter liegen, wenn die Schadenhöhe nicht die Höhe des vereinbarten Selbstbehalts erreicht). Bei Schäden bis zur Höhe des vereinbarten Selbstbehalts erfolgt in der Regel keine Schadenbearbeitung durch den Versicherer, das bedeutet, dass zum Beispiel im Falle eines Haftpflichtanspruchs die Verteidigung durch die in Anspruch genommene Unternehmenseinheit organisiert werden muss. Finanziell vorteilhaft an der Risikoeigentragung mittels Selbstbehalt ist der Umstand, dass die Risikofinanzierung außerhalb einer Versicherungsstruktur erfolgt, dass also insbesondere

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keine Versicherungssteuer und keine Kosten, die der Versicherer in Rechnung stellt, ­entstehen. Der Aufwand für Schäden im Rahmen des Selbstbehalts ist folglich auf die Schadensumme sowie die unmittelbar zu seiner Abwicklung anfallenden Kosten beschränkt. Soll die Risikoeigentragung auf Gesamtunternehmensebene, das heißt über mehrere Rechtspersonen und/oder Länder hinweg organisiert werden, muss dies aus aufsichts- und steuerrechtlichen Gründen in der Regel über eine Versicherungsstruktur dargestellt werden. Dies wiederum erfordert, dass das versicherungsnehmende Unternehmen über eine eigene Versicherungs- oder Rückversicherungsgesellschaft (Captive) verfügt oder sich eine entsprechende Infrastruktur mietet (zum Beispiel Protected Cell). In die Captive oder Protected Cell fließt dann derjenige Risiko- und Prämienanteil, welcher der vom versicherungsnehmenden Unternehmen gewählten Eigentragung entspricht (zum Beispiel Risikoübernahme durch die Captive in der Sparte Sach: 5 Mio. € je Schaden, maximal 15 Mio. € je Jahr, Prämie: 7,5 Mio. €). Die Risikoeigentragung über ein spezifisches Konstrukt wie eine Captive oder Protected Cell kann strategisch sinnvoll sein und zur Optimierung der Kosten für versicherungsfähige Risiken beitragen, bringt jedoch auch eine Reihe von zusätzlichen Handlungsfeldern mit sich, für die wiederum unternehmenseigene oder externe Ressourcen erforderlich sind. Der Risikotransfer erfolgt entweder über eigenständige lokale Versicherungsverträge oder über globale Versicherungsprogramme mit Erstversicherungsgesellschaften. Die industriellen/kommerziellen Hauptrisiken werden überwiegend mittels globaler Programme versichert. Dies ist im Regelfall die effizienteste Struktur und vereinfacht darüber hinaus den Einsatz einer Captive oder Protected Cell, da die Risiken und Prämien meist zunächst vom Programmversicherer gepoolt und zediert werden und somit eine effiziente Abwicklung der Risikoeigentragung gewährleistet wird. Alternativ oder ergänzend ist auch die direkte Verhandlung mit Rückversicherern über fakultative Rückversicherungskapazität denkbar und parallel dazu mit Erstversicherern zum Fronting dieser Kapazität. Controlling & Analytics Controlling und Analytics gewinnen im Zusammenhang mit der Strukturierung, Steuerung und Verwaltung von Versicherungen zunehmend an Bedeutung. Das Controlling betrifft zum Beispiel Prämienaufwände, Prämienzahlungsstände, Schadenquoten oder Schadentrends und ermöglicht die frühzeitige Identifikation von positiven oder negativen Entwicklungen, die wiederum Anstoß für Risikominderungsmaßnahmen sein können. Dies ist insbesondere in Sparten von Bedeutung, wo die Prämie in hohem Maße von der Schadenquote bestimmt ist, wie bei der Transport- oder Krankenversicherung (Employee Benefits). Dort kann die Reduzierung des Schadenaufkommens durch gezielte Maßnahmen einen maßgeblichen Beitrag zur Stabilisierung oder Senkung des Versicherungsaufwands leisten.

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Unter Analytics sind insbesondere Methoden und Verfahren zu verstehen, welche eine Abschätzung der zukünftigen Risiko- und Schadenentwicklung erlauben. So kann beispielsweise mittels statistischer Verfahren wie der Monte Carlo Simulation modelliert werden, wie sich die Schadenerwartung eines Unternehmens in einer Sparte oder über mehrere Sparten hinweg gestaltet. Dies kann zum einen für die Entscheidung über die Höhe des zu beschaffenden Versicherungsschutzes herangezogen werden, zum anderen können daraus Ableitungen für sinnvolle Programmstrukturoptionen und Eigentragungsvarianten getroffen werden. Mittels dieser Verfahren können darüber hinaus technische Zielpreise für Versicherungsdeckungen und die im Rahmen einer vereinbarten Eigentragung zu erwartenden Schadenaufwendungen abgeschätzt werden. Letztendlich bedeutet das, auf Versicherungsnehmerseite die gleichen Vorgehensweisen und Methoden anzuwenden, wie dies ein Versicherer im Rahmen des Underwritings tut. Datenerhebung und -management sowie Digitalisierung Voraussetzung für ein wirksames Controlling und aussagekräftige Analytics ist eine solide Datenbasis. Um diese zu gewährleisten, ist eine effiziente Erhebung und Haltung relevanter Daten notwendig. Idealerweise wird ein Data Lake geschaffen, der die Basis für Auswertungen und statistische Modellierungen bildet. Zunehmend gewinnen in diesem Zusammenhang Schnittstellen, vereinheitlichte Datenformate und Infrastrukturen bzw. Tools zur Datenhaltung und -auswertung an Bedeutung. Dies trifft auch auf die Automatisierung von Workflows im Rahmen der Verwaltung von Versicherungsprogrammen und den Austausch von Daten und Dokumenten zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer zu. Insgesamt ist zu beobachten, dass sich die Rollen der in den Versicherungsprozess involvierten Parteien ändern oder vielfältiger gestalten. Einzelne der oben genannten Bereiche können zum Beispiel von verschiedenen Spielern bedient werden. So können Analytics-­Leistungen von Maklern, Aktuariaten, aber auch von Versicherern erbracht werden. Die Rolle des Versicherers kann sich vom Anbieter von Versicherungskapazität inkl. der Führung internationaler Versicherungsprogramme zum Anbieter von Infrastruktur wandeln. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn im Bereich Employee Benefits die Risiken weit überwiegend oder vollständig durch eine Captive getragen werden und sich die Rolle des Versicherers im Wesentlichen darauf beschränkt, die Policen auszustellen, Prämien zu erheben und an die Captive zu zedieren sowie Schäden zu regulieren und sich die entsprechende Zahlung von der Captive ersetzen zu lassen.

1.3 Zielfaktoren und Anspruchsgruppen Die Zielfaktoren des Managements und der Finanzierung versicherungsfähiger Risiken in Unternehmen sind in ihrer Grundausrichtung vielfach ähnlich, jedoch sind sie abhängig von Risikoprofil, Gesellschaftsform, Finanzkraft, finanziellen Steuerungsparametern und

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nicht zuletzt auch von der persönlichen Risikogeneigtheit des Letztentscheiders in diesen Fragestellungen. Im Folgenden werden zu beobachtende Zielfaktoren dargestellt. Diese Zielfaktoren werden wiederum durch die für ein Unternehmen oder in einem Unternehmen relevanten Anspruchsgruppen (Stakeholder) geprägt.

1.3.1 Zielfaktoren Als relevante Zielfaktoren können folgende Aspekte herausgegriffen werden: • • • • • •

Sicherheitsniveau Total Cost of Insurable Risk Volatilität/Budgetsicherheit Marktvergleich Risikotragfähigkeit Prämienbudget

Sicherheitsniveau Ein möglicher Zielfaktor ist die Erreichung eines definierten Sicherheitsniveaus. Dies bedeutet, dass zum Beispiel Versicherungsschutz bis zu einer gewissen Wiederkehrperiode eines Schadenereignisses eingekauft wird. Als Anhaltspunkt dafür, wie die Wiederkehrperiode insbesondere von Großschadenereignissen durch den Versicherer bewertet wird, kann die sogenannte „Rate on Line“ dienen. Diese ist definiert als der Prämienbetrag zum Beispiel in Euro dividiert durch die Deckungsstrecke. Beträgt die Prämie für die Deckungsstrecke 100 Mio. € excess 400 Mio. € zum Beispiel 500.000, so kalkuliert der Versicherer (vereinfacht und ohne Berücksichtigung von Kosten) mit einer Schadeneintrittswahrscheinlichkeit für diesen Layer von 0,5 % (= 500.000 €/100.000.000 €). Das bedeutet, dass er einmal in 200 Jahren mit dem Eintritt eines derartigen Schadens rechnet. Umgekehrt lässt sich (wiederum vereinfacht und unter der Annahme, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit für über 500  Mio.  € hinausgehende Schäden niedriger als 0,5  % ist) für den  Versicherungsnehmer ableiten, dass er bei Einkauf eines Limits von insgesamt 500 Mio. € nur alle 200 Jahre mit einem das eingekaufte Limit überschreitenden Schaden rechnen muss. Sein Konfidenzniveau beträgt folglich 99,5 %. Beträgt die „Rate on Line“ 1 ‰, so rechnet der Versicherer damit, dass ein Schaden in der entsprechenden Höhe nur einmal in 1000 Jahren eintreten wird. Auch wenn bei der Bestimmung des eingekauften Limits derzeit (auch aufgrund vorherrschender Usancen in einigen Versicherungssparten) nur selten das Sicherheitsniveau ausschlaggebend ist, so bietet es doch einen Ansatz zur Kalibrierung der Absicherungsstrategie im Bereich versicherbarer Risiken mit anderen Finanzrisiken im Unternehmen (wie Zinsrisiken, Wechselkursrisiken), bei welchen die Absicherung auf Grundlage von definierten Sicherheitsniveaus erfolgt.

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Total Cost of Insurable Risk Ein weiterer Zielfaktor kann die Total Cost of Insurable Risk sein, das heißt der Gesamtaufwand für versicherungsfähige Risiken im Gegensatz zum weiter gefassten Begriff der Gesamtrisikokosten (Total Cost of Risk). Diese setzen sich aus den in Abb. 1.2 dargestellten Komponenten zusammen. Dieser Zielfaktor bietet den Vorteil, dass er eine ganzheitliche Betrachtung ermöglicht und damit eine einseitige Fokussierung zum Beispiel auf Prämien vermeidet. Eine beispielhafte Darstellung einer solchen Berechnung findet sich im Beitrag zur Machbarkeitsstudie. Volatilität/Budgetsicherheit Ein weiterer Faktor in der Strukturierung der Finanzierung versicherungsfähiger Risiken ist der Grad der Akzeptanz von Ergebnisvolatilität aufgrund der Realisierung versicherungsfähiger Risiken. So kann die Risikoeigentragung für eine bestimmte Deckungsstrecke und über ein oder mehrere Jahre hinweg ökonomisch sinnvoll sein, da der Erwartungswert (Schadenhöhe multipliziert mit der Schadeneintrittswahrscheinlichkeit) des Aufwands für die selbst getragenen Schäden deutlich niedriger als die vom Versicherer für diese Deckungsstrecke Zusammensetzung der Total Cost of Insurable Risk Aufwandskomponenten • Fronting • Schadenregulierung • Makler (Netzwerk etc.)

• Risk Engineering • Aktuarielle Dienstleistungen

• Fachberatung, • Lokale Abwicklung der Auslandskoordination und Versicherungsthemen Platzierung durch Inhousebroker

Hebel Externer Verwaltungsaufwand Interner Verwaltungsaufwand

• Servicelevel • Prozesseffizienz

Versicherungssteuer

• Höhe der Versicherungsprämie

Aufwand Risikotransfer/ Versicherungsprämie

• Schadenaufwand operativer SB • Schadenaufwand Captive • Effektive Kapitalkosten Captive • Verwaltungsaufwand Captive (intern, extern) • (Bewertung Cash Out Reduzierung und Counterparty Risk)

Aufwand Risikoeigentragung

Abb. 1.2  Total Cost of Insurable Risk. (Quelle: eigene Darstellung)

• Deckungsumfang • Limits • Höhe des Eigenbehalts • Risikoqualität/Schadenprävention • Qualität der Risikoinformationen • Verhandlungsstrategie • Deckungsumfang • Höhe des Eigenbehalts • Risikoqualität/Schadenprävention • Eigenkapitalkosten bzw. Kosten zur Finanzierung der Volatilität

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geforderte Prämie ist. Möglicherweise führt die Eigentragung jedoch zu einer hohen ­Volatilität, da es sowohl schadenfreie als auch stark schadenbelastete Quartale/Jahre gibt, die gegenüber einem budgetierbaren Prämienaufwand negativ bewertet werden. Es ist folglich zu entscheiden, wie die Volatilität bzw. ihre Glättung zu bewerten sind. Diese Bewertung kann auf unterschiedlichen Ebenen des Unternehmens unterschiedlich ausfallen. Abb. 1.3 veranschaulicht die verschiedenen Risikokategorien und die im Rahmen einer definierten Risikotoleranz zu erwartende Volatilität des selbst zu tragenden Schadenaufwands. Marktvergleich Ein weiterer Zielfaktor im Rahmen des Managements versicherungsfähiger Risiken bildet insbesondere mit Blick auf Deckungsumfang und Deckungsstrecken der Marktvergleich. Gerade bei börsennotierten Unternehmen ist diese Perspektive nicht zu vernachlässigen. Selbst wenn es die Risikotragfähigkeit eines Unternehmens erlaubt, versicherungsfähige Risiken in substanziellem Umfang selbst zu tragen oder gar vollständig unversichert zu lassen und dies im Erwartungswert günstiger als der Einkauf einer Versicherung ist, kann es sich im Schadenfall für die Geschäftsführung oder den Vorstand als herausfordernd ­erweisen, gegenüber Aktionären oder Eigentümern zu begründen, warum man diese Entscheidung getroffen hat, wenn sich Mitbewerber für Versicherung entschieden haben. Risikotragfähigkeit Weniger Zielfaktor als Restriktion ist bei der Ausgestaltung der Finanzierungsstruktur für versicherungsfähige Risiken die Risikotragfähigkeit des Unternehmens bzw. der einzelnen operativen Einheit. Diese ist unternehmensindividuell zu bestimmen, Anhaltspunkte können Prozentsätze von Cashflow, Gewinn und Eigenkapital sein, die man bereit ist, für versicherungsfähige Risiken „at risk“ zu stellen.

Nicht versichertes Restrisiko

Großrisiken/-schäden

Risikotoleranz

Mittlere Risiken/Schäden

Kleine Risiken/Schäden

Abb. 1.3  Risikokategorien und Volatilität. (Quelle: eigene Darstellung)

Jahre

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Prämienbudget Ebenfalls eher als Restriktion ist ein vorgegebenes Prämienbudget zu bewerten. In diesem Fall ist es Aufgabe der Versicherungsfunktion, mit dem definierten Budget den sinnvollsten Versicherungsschutz für das Unternehmen zu realisieren.

1.3.2 Anspruchsgruppen Für die letztendliche Ausgestaltung des Managements und der Finanzierung versicherungsfähiger Risiken sind die teilweise durchaus konkurrierenden Interessen verschiedener Anspruchsgruppen zu berücksichtigen. Einige davon, die besonders bedeutsam sind, sind im Folgenden beschrieben. Eigentümer Die Eigentümerstruktur eines Unternehmens kann viele Ausprägungsformen ausweisen und von Einzelpersonen bis zu institutionellen Investoren reichen. So kann ein Einzelunternehmer, dessen Vermögen vollständig oder überwiegend im Unternehmen steckt, eine andere Interessenlage mit Blick auf Versicherungen haben und zudem die Versicherungsstrategie unmittelbar beeinflussen. Handelt es sich um eine Aktiengesellschaft in Streubesitz, ist die unmittelbare Einflussnahme nicht gegeben und die Verantwortung an den Vorstand delegiert, eine im Interesse der Eigentümer liegende Versicherungsstrategie umzusetzen. CFO des Unternehmens Im Unternehmen ist es in der Regel der Finanzvorstand oder Finanzgeschäftsführer, welcher über die Versicherungsstrategie entscheidet. Berücksichtigen wird er dabei sowohl das Risikoprofil, die Finanzstärke und die Struktur (Tochtergesellschaften und geografische Verteilung) des Unternehmens als auch die gegenüber den Eigentümern/Aktionären kommunizierten Finanzziele. CFOs der einzelnen operativen Geschäfte/Tochtergesellschaften Die CFOs der einzelnen operativen Geschäfte und/oder Geschäftsführer der Tochtergesellschaften haben ihren eigenen Blick auf das Thema Versicherungen. Sie sind daran interessiert, dass die Deckung und insbesondere Selbstbehalte zur Finanzkraft des von ihnen verantworteten Unternehmensteils passen und darüber hinaus, dass sie ihren Sorgfaltspflichten als Geschäftsführer nachkommen und sich an dieser Stelle nicht angreifbar machen. Mitarbeiter Auch die Mitarbeiter bilden eine wesentliche Anspruchsgruppe, da sie angemessen gegen die mit ihrer Arbeitstätigkeit verbundenen Risiken abgesichert werden müssen und die Attraktivität eines Unternehmens als Arbeitgeber nicht zuletzt durch sein Angebot von firmenfinanzierten Versicherungsleistungen für die Mitarbeiter beeinflusst wird.

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Kunden Auch die Kunden sind eine wesentliche Anspruchsgruppe. So kann es aufgrund der Anforderung von Kunden, Versicherungszertifikate zur Verfügung zu stellen, notwendig sein, Versicherungsschutz einzukaufen, auch wenn dies die Risikotragfähigeit und Eigentragungsaffinität eines Unternehmens nicht erfordern würde. Gesetzgeber Nicht zuletzt ist zu beachten, dass für eine Reihe von Risiken eine gesetzliche Versicherungspflicht besteht und die Absicherung von Risiken über verschiedene Rechtspersonen hinweg in der Regel der Versicherungsaufsicht unterliegt. Zudem sind die Anforderungen an Versicherungsumfang und Versicherungsgeber in internationalen Versicherungsprogrammen von den jeweiligen lokalen Gegebenheiten abhängig.

Literatur Lösegeldversicherung 2017, Lösegeldversicherung: BaFin erlaubt Bündelung mit Versicherung gegen Cyberrisiken, https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Meldung/2017/meldung_ 170915_loesegeldversicherung.html, 15.09.2017, zugegriffen am 12.07.2022. Rödl & Partner 2018, Gesetzliche Anforderungen an ein modernes Risikomanagement: Was müssen mittelständische Familienunternehmen beachten?, 10.01.2018, https://www.roedl.de/themen/ risikomanagement-­im-­mittelstand/risikomanagement-­gesetzliche-­anforderungen, zugegriffen am 12.07.2022.

Holger Kraus  studierte Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Risikomanagement und Versicherung an der Universität St. Gallen (HSG). Nach Abschluss des Studiums war er mehrere Jahre für Aon in der Beratung von Großunternehmen zu alternativen Risikofinanzierungslösungen und Captives tätig. Seit 2009 war er im Bereich Versicherungen der Siemens AG mit Schwerpunkt Risikofinanzierung und Strategie tätig. Seit 2023 verantwortet er den Bereich Versicherungen der Siemens AG. Gleichzeitig ist er Vorsitzender des Vorstands der RISICOM Rückversicherung AG, des konzerneigenen Rückversicherers der Siemens AG. Darüber hinaus leitet er den Captive-Ausschuss des Verbands der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW). Prof. Dr. Torsten Rohlfs  lehrt am Institut für Versicherungswesen der Technischen Hochschule Köln. Seine Fachgebiete sind insbesondere das Rechnungswesen und Risikomanagement von Versicherungsunternehmen. Er ist Wirtschaftsprüfer und war vor seiner Tätigkeit an der TH Köln Senior Manager bei der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Bereich Prüfung und Beratung von Versicherungsunternehmen. Prof. Dr. Torsten Rohlfs ist Mitglied im Rating-Komitee der ASSEKURATA Assekuranz Rating-Agentur GmbH und im wissenschaftlichen Beirat des Gesamtverbands der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW). Darüber hinaus ist er Mitglied der Prüfungskommission für Wirtschaftsprüfer.

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Funktionen der Versicherung Rob Makelaar und Peter Reichard

Inhaltsverzeichnis 2.1  E  inleitung  2.2  V  olkswirtschaftliche Perspektive  2.2.1  Nachfrageseite  2.2.2  Angebotsseite  2.2.3  Globale wirtschaftliche Resilienz  2.2.4  Investitionstätigkeiten der Versicherungsunternehmen  2.3  Allgemeine betriebswirtschaftliche Perspektive  2.3.1  Risiko als Chancenmanagement  2.3.2  Risikomanagement in Industrieunternehmen  2.4  Versichererperspektive und Grenzen der Versicherbarkeit  2.4.1  Juristische Perspektive  2.4.2  Versicherungsmathematische Perspektive  2.4.3  Versicherungsunternehmen aus Investorenperspektive  2.4.4  Abgrenzung zum Kapitalmarkt  2.4.5  Dilemma: Ex ante Preisstellung unter Berücksichtigung des Änderungsrisikos  2.4.6  Zyklen im Versicherungsmarkt und die damit verbundenen Herausforderungen  2.5  Zwischenfazit  2.6  Alternativen zu klassischem Risikotransfer  2.6.1  Eigentragung im Überblick  2.6.2  Kosten einer Eigentragungslösung  2.6.3  Eigentragung unter Berücksichtigung der internationalen Buchführungsregel  2.6.4  Eigentragung unter Einsatz einer Unternehmens-Captive 

 22  23  23  24  25  25  26  26  28  30  30  31  32  34  36  38  39  40  40  42  42  43

R. Makelaar · P. Reichard (*) Allianz Risk Transfer AG, Wallisellen, Switzerland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_2

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R. Makelaar und P. Reichard

2.6.5  C  aptives und Rückversicherung  2.6.6  Eigentragungsfähigkeit und Optimierungsprobleme  2.7  Fazit  Literatur 

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Zusammenfassung

Preisgünstige, traditionelle Versicherungsprodukte sind äußerst (kapital-)effizient, haben aber ihre Grenzen. Die Basis der (Rück-)Versicherung, das Gesetz der großen Zahlen, setzt den Aufbau hinreichend großer, homogener Risikokollektive voraus, was eine hohe Standardisierung der Risiken durch Risikoselektion und Risikoausschlüsse erfordert. Nur so kann eine zuverlässige Kalkulationsgrundlage für die Errechnung der Grundschadenlast eines Kollektivs geschaffen werden. Dies hat für die Absicherung von individuellen Risiken zur Konsequenz, dass es nur beschränkt zu einer Annäherung an individuelle, spezifische bzw. einmalige Kundenbefürfnisse kommen kann. Durch die Globalisierung werden die in großen Industrieunternehmen vorhandenen Risiken und Gefahren immer komplexer und individueller. In diesen Unternehmen übersteigen mittlerweile operationelle Risiken die klassisch versicherbaren Risiken und es besteht zunehmend der Wunsch, auch nicht klassische Risiken abzusichern. Hinzu kommt, dass es heute für viele Großunternehmen betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, die Eigentragung von versicherbaren Risiken auf Konzernebene zu erhöhen. Der Einsatz einer Captive bietet hier eine Erweiterung der Instrumente zur unternehmensinternen Risikobehandlung und ermöglicht individuelle Lösungsansätze, die traditionelle Risikotransferangebote abrunden, unternehmerische Freiräume schaffen und einen sukzessiven Ausbau der Risikotragfähigkeit durch das Unternehmen erlauben.

2.1 Einleitung Damit die (Rück-)Versicherungsindustrie ihre volkswirtschaftliche Rolle wahrnehmen kann, muss sie die unternehmerischen Rahmenbedingungen und insbesondere die Grenzen der Versicherbarkeit im Auge behalten. Durch die Globalisierung sind die Risikoportfolios vieler Unternehmen so stark gewachsen und haben sich Lieferketten so stark internationalisiert, dass die (Rück-)Versicherungsindustrie immer öfter an ihre Grenzen stößt und dadurch Gefahr läuft, für international ausgerichtete Unternehmen an Relevanz zu verlieren. Unverändert besteht aufseiten der Wirtschaft aber Bedarf, im Rahmen eines aktiven Risikomanagements solche Risiken, die nicht zum Kerngeschäft gehören, zu vermeiden, in ihren Auswirkungen auf das Unternehmen zu begrenzen oder zumindest geeignete finanzielle Vorsorge zu treffen. Dabei setzen die internationalen Bilanzierungsvorschriften allerdings enge Grenzen, was die Möglichkeiten zur bilanziellen Vorsorge erheblich einschränkt. Hier bietet der Einsatz einer Captive eine Alternative, um die Eigentragung von Risiken aus betriebswirtschaftlicher Sicht effizient gestalten zu können.

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Die Herausforderung einer modernen Risikomanagementstrategie ist es, Instrumente der Eigentragung so mit effizienten Risikotransfertechniken zu verbinden, dass es dem eigenen Unternehmen auf langfristige Sicht und über die Zyklen des Versicherungsmarktes hinweg möglich ist, seine strategischen Risikoziele nachhaltig zu erreichen. Dabei ist es wichtig, die wesentlichen externen und internen Entwicklungen im Auge zu behalten und periodisch eine Lagebeurteilung vorzunehmen, auf deren Basis Entscheidungen zur Anpassung der Risikomanagementstrategie getroffen werden können. Der Transfer von Risiken an den Versicherungsmarkt wird auch in Zukunft den Eckpfeiler einer erfolgreichen Risikomanagementstrategie bilden, daher ist es hilfreich, die Grundlagen zu verstehen, auf denen die (Rück-)Versicherungsindustrie beruht, um so zukünftige Entwicklungen und Dynamiken in diesem Bereich richtig einschätzen und frühzeitig Weichen stellen zu können. Zunächst werden wir in diesem Beitrag daher einen Schritt „zurück zum Wesentlichen“ machen und uns mit der (Rück-)Versicherungsindustrie und den Grenzen der Versicherbarkeit auseinandersetzen. Die Autoren wollen dabei keine abschließende Lagebeurteilung zur weiteren Entwicklung des (Rück-)Versicherungsmarktes, sondern vielmehr auf Grundlage ihrer Erfahrung und Beobachtungen verschiedene Perspektiven aufzeigen und den Leser dazu ermuntern, sich selbst ein Bild der zukünftigen Entwicklungen zu machen.

2.2 Volkswirtschaftliche Perspektive Die (Rück-)Versicherungsindustrie ist weltweit ein bedeutsamer Wirtschaftszweig. Das gesamte Versicherungsgeschäft der Erstversicherungsunternehmen in Deutschland betrug 2020 243,9 Mrd. € (gebuchte Brutto-Beiträge). Davon entfielen 234,6 Mrd. € auf direktes Geschäft und weitere 9,3 Mrd. € auf in Rückdeckung genommenes Geschäft. Die Rückversicherer in Deutschland erwirtschafteten zudem Bruttobeiträge von 73,5 Mrd. € (vgl. BaFin Statistik Gesamtentwicklung VA 2020, Tabelle „geb. BB“). Das lässt erahnen, dass in diesem Bereich erhebliche Wertschöpfung erfolgt. Die Frage ist deshalb, worin diese Wertschöpfung genau besteht. Aus volkswirtschaftlicher Sicht stabilisiert Versicherung die Wirtschaft, indem Schwankungen von Angebot und Nachfrage, die durch bestimmte, externe Ereignisse ausgelöst werden, abgemildert werden. Die Versicherung macht das Zusammenspiel von Nachfrage und Angebot, die Grundlage unserer Marktwirtschaft, widerstandsfähig und hält sie im Gleichgewicht. Um das genauer zu beschreiben, wollen wir uns beide Seiten des Marktmechanismus (Angebot und Nachfrage) anschauen.

2.2.1 Nachfrageseite Die Erstversicherung befasst sich mit der stets drohenden Gefahr, dass die dem Einzelnen zur Verfügung stehenden Sachgüter und wirtschaftlichen Interessen sowie die körperliche Integrität schwer beeinträchtigt bzw. zerstört werden können. Das führt ohne Versicherung

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unmittelbar zu einem Verlust von Wohlstand und Kaufkraft, aber vor allem auch zu einer Verschiebung von Konsumprioritäten. Wenn zum Beispiel die private Mobilität einen hohen Stellenwert hat und das private Auto zerstört wird, wird wohl in erster Linie Geld für ein neues Auto aufgewendet und zum Beispiel die geplante Ferienreise oder der Kauf eines neuen Sofas oder Fernsehers erst einmal zurückgestellt. Insbesondere bei Naturkatastrophen könnten somit die in einem gewissen Wirtschaftszweig tätigen lokalen bzw. regionalen Unternehmen durch den Dominoeffekt in Mitleidenschaft gezogen werden, was einen Abbau von Arbeitsplätzen und Strukturveränderungen nach sich ziehen würde, die letztlich zu einem weiteren Verlust von Kaufkraft und Wohlstand in der Region führen können. Die Versicherung erlaubt es diesen, beispielsweise von schweren Sachschäden oder sogar dem Verlust der Erwerbsfähigkeit, betroffenen Konsumenten, einen gewissen Lebensstandard und ihr Konsumverhalten weiter aufrechtzuerhalten. In unserem Beispiel können sie sich mit dem Versicherungserlös einen Ersatz für das zerstörte Auto besorgen und trotzdem die Ferienreise beim Reisebüro bzw. das Sofa beim Möbelhändler bzw. den Fernseher im Elektronikgeschäft einkaufen. Die Nachfrageseite der Wirtschaft wird somit stabilisiert und gegen diese Dominoeffekte geschützt.

2.2.2 Angebotsseite Sind Produzenten, die die Angebotsseite treiben, von schwerwiegenden Ereignissen betroffen, die zur Schädigung oder Zerstörung von Produktionsgütern führen, könnte dies zu einem Rückgang der Güterproduktion bzw. schlimmstenfalls zu einer Mängellage und zu einem möglichen Verlust von Arbeitsplätzen führen. Dies könnte sich auch auf die vor- und nachgelagerten Produktionsstufen auswirken und somit zu einem Schneeballeffekt führen, der zu einem weiteren Rückgang auf der Angebotsseite und somit zu Preissteigerungen führt. Die durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Störungen der weltweiten Handelsbeziehungen und der dadurch ausgelöste Preisdruck sind hier ein sehr gutes Beispiel, aber natürlich kann auch eine regionale Naturkatastrophe, wie die Überschwemmungen in Thailand im Jahr 2011, zu nachhaltigen Beeinträchtigungen globaler Lieferketten führen. Die Versicherung erlaubt es Produzenten, die geschädigten bzw. zerstörten Produktionsgüter rasch wiederherzustellen bzw. aufzubauen, ohne dabei auf eigene Kapitalrücklagen und Liquidität zurückgreifen zu müssen, die dann unter Umständen nicht mehr für Investitionen und zur Weiterentwicklung des Kerngeschäfts zur Verfügung stehen würden. Durch die Globalisierung und fortschreitende Vernetzung sind die Wechselwirkungen und mögliche Folgeeffekte („Schneeballeffekt“) regionaler Ereignisse über die Zeit beträchtlich gestiegen. Es ist daher umso wichtiger, die negativen Folgen solcher begrenzten Ereignisse frühzeitig einzudämmen und abzufangen und somit das volkswirtschaftliche Schadenpotenzial zu minimieren. Die stabilisierende Rolle der (Rück-)Versicherung hat somit eindeutig an Wichtigkeit zugenommen. Umso wichtiger ist es, dass sich die (Rück-) Versicherungsindustrie ihrer volkswirtschaftlichen Rolle bewusst ist, um sie auch in der Zukunft wahrnehmen zu können.

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2.2.3 Globale wirtschaftliche Resilienz In diesem Zusammenhang wird auch von ökonomischer Stabilität bzw. wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit oder Resilienz gesprochen. Die Swiss Re definiert Resilienz als die „Fähigkeit einer Volkswirtschaft oder Gesellschaft den durch Schockereignisse verursachten Einkommens- und Vermögensverlust zu minimieren“ (Swiss Re Sigma 5/2019, S. 3). Naturkatastrophen stellen, bezogen auf die verursachten Schäden, die größte Bedrohung für die globale Resilienz dar, Terrorismus und Cyberrisiken sind weitere bedeutsame Gefahren. Das Swiss Re Institute („SRI“) hat dazu in Zusammenarbeit mit der London School of Economics („LSE“) einen makroökonomischen Resilienzindex entwickelt, der finanzund geldpolitische Handlungsspielräume ebenso berücksichtigt wie auch unter anderem die Rahmenbedingungen für den Bankensektor, die Struktur des Arbeitsmarktes und die Entwicklung der Finanzmärkte. Über die Ergebnisse berichtet die Swiss Re regelmäßig in ihren Sigma Publikationen. Diese Studie kommt zu dem interessanten Schluss, dass die Weltwirtschaft 2019 weniger gut gegen konjunkturelle Erschütterungen gewappnet sei als noch vor zehn Jahren (vgl. Swiss Re Sigma 5/2019). Ein Faktor, der Einfluss auf die Resilienz einer Volkswirtschaft (und vor allem ihrer Teilnehmer) hat, ist der Grad der Versicherungsdurchdringung bzw. der Unterversicherung („Insurance Protection Gap“), vor allem gegen Naturkatastrophen, Todesfall und im Bereich der Gesundheitsversicherung. Gemäß der Studie Sigma 5/2019 betrug die globale Unterdeckung im Jahr 2019 1200 Mrd. US-Dollar, was eine 18-prozentige Verschlechterung gegenüber dem Vorjahr bedeutet. 2020 ist die Unterdeckung auf 1400  Mrd. US-­ Dollar angewachsen (vgl. Swiss Re Closing the protection gap). Bei der Absicherung gegen Naturkatastrophen liegt die Unterdeckung seit Jahren global bei ca. 75 % und auch in den entwickelten Märkten bei mehr als 60 %, das heißt, der weit überwiegende Teil der Produktionsgüter und Sachwerte ist nicht gegen Naturkatastrophen versichert. Diese Zahlen zeigen, dass die Versicherungswirtschaft durchaus in der Lage ist, zusätzliche Deckungskapazitäten bereitzustellen, um mit der rasanten globalen Wirtschaftsentwicklung Schritt zu halten und so den Durchdringungsgrad konstant zu halten. Gelänge es allerdings, die Versicherungsdurchdringung weiter zu erhöhen, ließe sich die Resilienz der Weltwirtschaft stärken, was vor allem im Hinblick auf die Folgen des Klimawandels wünschenswert erscheint.

2.2.4 Investitionstätigkeiten der Versicherungsunternehmen Letztlich ist noch zu erwähnen, dass die Versicherungsindustrie zur Kapitalbildung beiträgt. Durch die zeitliche Verzögerung von Prämieneinnahmen und Schadenszahlungen wird von den Versicherungsunternehmen Kapital akkumuliert, das in den Kapitalmärkten investiert wird. Diese Investitionstätigkeit fördert wiederum Wirtschaftswachstum. Per 31. Dezember 2020 betrug die Summe der Kapitalanlagen der in Deutschland beaufsichtigten Versicherungsunternehmen 1959  Mrd.  € (vgl. BaFin 2020 Erstversicherungsstatistik, Tab. 40). Diese Effekte sind zwar aus volkswirtschaftlicher Sicht bedeutsam, treten aber

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hinter die Hauptfunktion von Versicherung zurück. Angemerkt sei hier, dass Versicherungsunternehmen somit in einer Nebenfunktion Aktivitäten ausüben, die bei Banken zu den Hauptfunktionen gehören.

2.3 Allgemeine betriebswirtschaftliche Perspektive Ein Risiko ist die Eventualität des Eintritts eines ungewissen Ereignisses, das negative Auswirkungen (mögliche Schäden bzw. Verluste) oder positive Auswirkungen (Vorteile bzw. Gewinn) mit sich bringen kann. Im ersten Fall spricht man gemeinhin von einer Gefahr, sonst von einer Chance. Unter quantitativen Gesichtspunkten betrachtet, stellt ein Risiko eine Kombination aus Eintrittswahrscheinlichkeit (in Englisch: „Frequency“ oder „Probability“) und erwartetem Ausmaß einer Eventualität (in Englisch: „Severity“) dar. Der Teilnehmer an einer Lotterie sieht in erster Linie nicht die Gefahr, seinen Einsatz zu verlieren, sondern die Chance, einen viel größeren Gewinn einzufahren, obwohl die Wahrscheinlichkeit, den Einsatz zu verlieren, um ein Vielfaches höher ist als die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich in den Genuss eines großen Gewinnes zu kommen, und er weiß, dass die Wette wahrscheinlichkeitsgewichtet zu seinem Nachteil ist. Das hat damit zu tun, dass der Verlust des Einsatzes in der Regel keinen Einfluss auf sein gewöhnliches Verhalten hat und schon gar nicht existenzbedrohend ist. Wenn das nämlich der Fall wäre und er durch den Verlust sein Verhalten bzw. seine Lebensweise grundlegend anpassen müsste, würde er den Verlust des Einsatzes durchaus als Gefahr betrachten. Die Frage ist deshalb immer, inwiefern ein Risiko das gewöhnliche Verhalten einer Einzelperson, einer Gruppe von Personen (Familien zum Beispiel) oder von Unternehmen beeinflussen kann. Selbstverständlich ist es häufig der Fall, dass ein bestimmtes Ereignis nicht unbedingt nur nachteilig ist, sondern auch Vorteile oder zumindest weitere Chancen mit sich bringen kann. Was dabei als Nachteil oder Vorteil aufgefasst wird, hängt stark von der Unternehmensstrategie und ganz allgemein von Wertvorstellungen ab. Auch wenn der Eintritt eines solchen Ereignisses ungewiss ist, bemühen sich Unternehmen doch, Prognosen in Bezug auf die für sie wichtigsten Risiken zu treffen und in ihren Planungen im Rahmen einer Risikomanagementstrategie zu berücksichtigen.

2.3.1 Risiko als Chancenmanagement Unternehmen werden gegründet, um Chancen wahrzunehmen und Gewinne zu erzielen. Dazu werden sie mit Risiko-/Eigenkapital ausgestattet, das die Basis für weitere Finanzmittel, vor allem in Form von Fremdkapital, darstellt. Ergeben sich – infolge unternehmerischer Rückschläge – Verluste, so zehren diese zunächst das Eigenkapital auf, was bis zu einem Totalverlust führen kann und dann häufig die Insolvenz des Unternehmens nach sich zieht. Aus Sicht des Eigenkapitalgebers ist daher, in Anbetracht des möglichen Totalverlustes seines Kapitals, die (nachhaltig) erwirtschaftete Eigenkapitalrendite, die die In-

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vestoren für den möglichen Verlust ihres Risikokapitals entschädigt, eine wichtige Messgröße für den Erfolg eines Unternehmens. Je größer das Risiko von unternehmerischen Misserfolgen und finanziellen Verlusten, desto höher ist auch die Gefahr, das bereitgestellte Eigenkapital zu verlieren. Folglich erwarten Investoren von einem als riskant eingeschätzten Unternehmen, beispielsweise einem kleinen Gold-Explorationsunternehmen, eine höhere Eigenkapitalrendite als von großen Unternehmen mit einem stabilen, etablierten Geschäftsmodell, wie etwa einem multinationalen Nahrungsmittelkonzern. Die Gefahr des Totalverlustes des Kapitals ist also ein zentraler Faktor in den Überlegungen eines Investors. Um dies anschaulicher darzustellen, wollen wir uns das lebensnahe Beispiel eines professionellen Black-Jack-Spielers ansehen. Ein geübter und geschickter Spieler kann durch das Zählen der bereits ausgespielten Karten und der fortlaufenden Berechnung von Wahrscheinlichkeiten die Chancen eines Gewinnes so zu seinen Gunsten beeinflussen, dass das Spiel aus seiner Sicht einen positiven Erwartungswert erhält. Unser Spieler kann Black Jack daher scheinbar als profitables Geschäft betreiben (sofern die Spielbank ihn gewähren lässt). Diese Betrachtungsweise setzt allerdings implizit voraus, dass die Chancen eines jeden Spiels unabhängig vom Verlauf der vorangegangenen Spiele sind. Hätte unser Spieler unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung, dann wäre das tatsächlich so. Tatsächlich verändert sich der Kapitalstock unseres Spielers aber in Abhängigkeit seines Spielerfolges und am Ende einer langen Pechsträhne steht möglicherweise der finanzielle Ruin (zumindest für diesen Abend). Ohne weiteres Kapital ist es dem Spieler nicht länger möglich, den „stochastisch“ zu erwartenden Erfolg in zukünftigen Spielen für sich zu nutzen und seine vorangegangenen Verluste auszugleichen, sein Spiel ist zu Ende (vgl. Taleb 2017). Mathematisch zeigt sich hier der Unterschied zwischen einer unabhängig vom Zeitverlauf ermittelten Wahrscheinlichkeit („Ensemble Probability“), die Aussagen in Bezug auf eine Vielzahl voneinander unabhängiger Spiele trifft, und einer Berechnung des Zeitpunktes, zu dem das Eintreten eines bestimmter Zustandes (hier: Totalverlust des Kapitals) zu erwarten ist („Stoppzeit“ oder auch „Markov Zeit“ (vgl. Stoppzeit 2019)), falls es eine Abhängigkeit im Zeitverlauf gibt.1 Aus Sicht eines Unternehmens ist es daher nicht nur wichtig, ein Geschäftsmodell zu entwickeln, bei dem die einzelnen Transaktionen, in ihrer Gesamtheit, profitabel sind (die Fähigkeit unseres Spielers, die Chancen jedes Spielgangs „zu seinen Gunsten zu nutzen“). Mindestens ebenso wichtig ist es, den Zeitpunkt eines zu erwartenden Totalverlustes (und des damit einhergehenden Verlustes der Möglichkeit, weitere Chancen wahrzunehmen) möglichst weit in die Zukunft zu verlagern. Aus praktischer Sicht steht heute, zumindest bei größeren, börsennotierten Unternehmen, allerdings nicht mehr so sehr der Totalverlust des Eigenkapitals (und damit die Insolvenz) im Vordergrund, sondern vielmehr die Gefahr einer feindlichen Übernahme oder der Zerschlagung des Unternehmens. Hier reicht oft schon eine materielle und nachhaltige Schwächung der Finanzkraft aus, um das Vertrauen

 Dem System fehlt dann eine entscheidende Voraussetzung, die sogenannte Ergodizität (siehe hierzu Ergodizität 2021 u. Peters 2021). 1

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der Kapitalmärkte zu verlieren, was dann häufig den Verlust der unternehmerischen Selbstständigkeit zur Folge hat. Aufbauend auf einer möglichst umfassenden und zutreffenden Prognose von Risiken (Chancen und Gefahren), stehen Unternehmen dabei zwei wesentliche Hebel zur Verfügung: • (zusätzliches) Risikokapital und • Maßnahmen zur Veränderung des Risikoprofils des eigenen Unternehmens, soweit dabei die Gefahren im Fokus stehen, handelt es sich dabei um „Risikomanagement“ im engeren Sinne.

2.3.2 Risikomanagement in Industrieunternehmen Zunächst wollen wir uns den Risikomanagementprozess genauer ansehen. Dieser Prozess besteht aus den folgenden Schritten: 1 . Risikoidentifikation: Erfassung von Risiken und deren Ursachen 2. Risikobewertung: Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkung (Schadenhöhe) 3. Risikobehandlung: Maßnahmen und Mechanismen zur Risikobeeinflussung 4. Risikocontrolling: Überwachung der Risiken Zur Risikobehandlung von Gefahren stehen dabei konzeptionell folgende Instrumente zur Verfügung: A. Vermeidung/Begrenzung: •  Einschränkung der Geschäftstätigkeit oder der betrieblichen Aktivitäten (Rückzug aus Segmenten oder Märkten mit hohem Gefahrpotenzial) •  Steuerung der Risikoübernahme operativer Einheiten durch feste Rahmenbedingungen (zum Beispiel durch Kontrollen und Risikolimit-Systeme) •  Vertragliche Vereinbarungen (wie Haftungsausschlüsse oder Garantieversprechen von Zulieferern) B. Eigentragung: •  Budgetierung (periodengleiche Berücksichtigung der bilanziellen Auswirkungen von Gefahren und Berücksichtigung dieser erwarteten Verluste in der Planung) •  Vorsorge (Kapitalrücklagen zum Ausgleich zukünftiger Verluste mit der Folge der Einschränkung finanzieller Mittel in anderen Bereichen) •  Unbeabsichtigte Eigentragung (von nicht erkannten oder unterschätzten Gefahren) C. Transfer: •  Kapitalmarktprodukte (Forwards, Swaps, Derivate, Verbriefung) •  Traditionelle Erstversicherungsprodukte

Das zeigt, dass die Möglichkeiten der Risikobehandlung recht vielfältig sind. Da deren Kosten und Effektivität aber variieren, existiert generell ein Optimierungspotenzial. Durch besseres Risikomanagement können Wettbewerbsvorteile und so Unternehmenswert ge-

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schaffen werden. Risikomanagement steht in engem Bezug zum Kapitalmanagement eines Unternehmens. Um die Zukunft eines Unternehmens langfristig zu sichern, müssen das Risikoprofil des Unternehmens und das vorhandene Risikokapital in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, denn diese beiden Faktoren bestimmen die ­Risikotragungsfähigkeit eines Unternehmens, das heißt die Fähigkeit, adversen Entwicklungen zu widerstehen, ohne das Überleben des Unternehmens zu gefährden. Risiken binden daher Ressourcen und Risikotragung verursacht Kapitalkosten, weil Risikokapital in Anspruch genommen wird. Wie bereits erwähnt, sind dabei die Kapitalkosten (das heißt die erwartete Rendite auf das eingesetzte Risikokapital) umso höher, je riskanter das Geschäftsmodell des Unternehmens ist. Bei börsennotierten Unternehmen zeigt sich das oft am Aktienkurs: Je stärker der Kurs der Aktie (zum Beispiel bei positiven oder negativen Unternehmensnachrichten) schwankt („Volatilität“), umso riskanter wird ein Investment in diese Aktie wahrgenommen. Die Volatilität des Aktienkurses ist daher oft ein wichtiger Faktor für die Bewertung des Unternehmens und kann zu einer tendenziell höheren Bewertung führen, falls außerordentliche Chancen des Unternehmens im Vordergrund stehen (zum Beispiel bei Technologieunternehmen), oder sich negativ auswirken, falls Volatilität überwiegend mit Gefahren für den wirtschaftlichen Erfolg verbunden wird (zum Beispiel bei stark konjunkturabhängigen Unternehmen). Auch wenn manche Spekulanten bewusst ihr Vermögen in hoch riskante Unternehmen (oder Kryptowährungen) investieren, suchen die meisten Anleger doch immer noch Unternehmen, die ein nachhaltiges, profitables Wachstum zeigen und deren Geschäftsleitung verlässlich die Ergebnisse abliefert, die im Vorjahr in Aussicht gestellt wurden.2 Wenn es gelingt, „negative Risiken“ (Gefahren) durch ein erfolgreiches Risikomanagement zu reduzieren oder zu limitieren, dann setzt das Risikokapital frei und schafft so Spielräume, um „positive Risiken“, also unternehmerische Chancen, zu nutzen und zu wachsen. Hier zeigt sich auch die volkswirtschaftliche Rolle von Versicherung, die es Unternehmen erlaubt, solche Gefahren an die Versicherer (und mittelbar an das Kollektiv der Versicherten) abzugeben, um so Kapital in das unternehmerische Kerngeschäft zu lenken. Zumindest konzeptionell stellt sich die Frage, ob man ein Unternehmen mithilfe des Instruments Versicherung nicht so umfänglich gegen negative Ereignisse absichern kann, dass es nicht mehr zu einem Verlust des Eigenkapitals kommen kann. In diesem Zusammenhang wird auch gern von einer „Bilanzschutz“-Deckung gesprochen, die bilanzielle Verluste unabhängig von deren Ursachen auffängt. Und tatsächlich lassen sich, allerdings nur in Einzelfällen, solche Deckungen im Markt finden, zum Beispiel in der Form eines Jahresüberschadens(rückversicherungs)vertrags, der das Ergebnis einer Captive gegen Verluste absichert. Solche Strukturen sind allerdings selten und, jenseits von Einzelfällen, auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive nicht sinnvoll, weil die Versicherungsgesell Nach dem „klassischen“ Kapitalmarktbewertungsmodell CAPM (Capital Asset Pricing Model), das von William Sharpe in den 1960er-Jahren entwickelt wurde, wirkt sich die hohe Volatilität einer Aktie (relativ zum Aktienmarkt, das sogenannte Beta) negativ auf den Unternehmenswert aus. Siehe auch unten Abschn. 2.6.2. 2

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schaften damit letztlich den Kapitalgebern sämtliche Risiken abnehmen würden und sich die Rolle der Kapitalgeber auf die Bereitstellung der für die Betriebsaktivitäten ­notwendigen liquiden Mittel beschränken würde. Von den Versicherern müssten dann, im Gegenzug für die Übernahme des vollen Unternehmensrisikos, Versicherungsprämien eingefordert werden, die eine dem Risiko angemessene Rendite versprechen. Damit würden Versicherungsgesellschaften die Investitionsrolle der Kapitalanbieter einnehmen. Damit sind wir bei einem zentralen Thema angelangt: Wo liegen die Grenzen der Versicherbarkeit von Gefahren? Wir werden dies im nächsten Abschnitt genauer betrachten.

2.4 Versichererperspektive und Grenzen der Versicherbarkeit Traditionell liegt der Tätigkeitsschwerpunkt des Risikomanagers auf der Identifikation relevanter Gefahren und der kosteneffizienten Organisation des Transfers dieser Risiken an die Versicherungsmärkte oder, bei ganz traditioneller Betrachtung, dem „Einkauf von Versicherung“. Die Rolle des unternehmensinternen Risikomanagements hat sich allerdings in den letzten Jahren stark gewandelt und erweitert. Neben der Eindeckung der klassischen Sachgefahren und Haftpflichtrisiken geraten immer mehr neue Gefahren ins Blickfeld, die näher am eigentlichen unternehmerischen Risiko moderner Großbetriebe liegen, wie der Betriebsunterbruch ohne vorangehenden Sachschaden oder Störungen in internationalen Lieferketten, aber auch vergeblich getätigte Aufwendungen für Forschung und Entwicklung oder Risiken im Rahmen von Unternehmens(ver)käufen. Ein zentrales Problem bei der Absicherung derartiger Gefahren ist die Frage nach der Versicherbarkeit bzw. nach den Grenzen der Versicherbarkeit. Wann ist ein Risiko in der Form einer Gefahr überhaupt versicher- und somit transferierbar? Wo liegt die Grenze der Versicherbarkeit? Die Fragestellung wollen wir uns nun aus versicherungswirtschaftlicher Perspektive ansehen, wobei wir bei der Beantwortung der Frage zwischen der juristischen und der versicherungsmathematischen Perspektive unterscheiden müssen.

2.4.1 Juristische Perspektive Aus juristischer Perspektive ist ein Risiko im Rahmen einer Sach- oder Vermögensschadendeckung versicherbar, wenn: (i) das Risiko dem Zufallsprinzip unterliegt (Ungewissheit über den Eintritt und/oder die Höhe eines Schadens) und (ii) es negative finanzielle Auswirkungen für den Geschädigten verursacht (die ein sogenanntes „versicherbares Interesse“ begründen). Aus rechtlicher Sicht sind daher grundsätzlich viele Risiken versicherbar, auch klassische unternehmerische Risiken. Dennoch hat wohl jeder Praktiker schon die Erfahrung gemacht, dass für ganze Kategorien von Risiken vom Markt kein Versicherungsschutz angeboten wird. Wieso verzichtet die Versicherungsindustrie also auf Geschäft und Wachstumspotenzial, obwohl dies rechtlich durchaus möglich wäre? Die Antwort auf diese Frage erschließt sich, wenn man sich die versicherungstechnischen Grundlagen vergegenwärtigt, auf denen das Geschäftsmodell von Versicherung beruht.

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2.4.2 Versicherungsmathematische Perspektive Aus versicherungsmathematischer Perspektive ist ein Risiko grundsätzlich versicherbar, wenn die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines negativen Ereignisses sowie das finanzielle Ausmaß eines möglichen Schadens mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung (mathematisch) bestimmbar sind. Versicherung basiert auf dem von Jakob Bernoulli erstmals formulierten Gesetz der großen Zahl. Als Gesetz der großen Zahl werden bestimmte Grenzwertsätze der Stochastik bezeichnet. In ihrer einfachsten Form besagen diese Sätze, dass sich die relative Häufigkeit eines Zufallsergebnisses in der Regel um die theoretische Wahrscheinlichkeit eines Zufallsergebnisses stabilisiert, wenn das zugrunde liegende Zufallsexperiment immer wieder unter denselben Voraussetzungen durchgeführt wird. Der Wurf einer Münze veranschaulicht das am besten. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Münze beim Werfen Kopf zeigt, beträgt 50 %. Je häufiger die Münze geworfen wird, desto unwahrscheinlicher wird es, dass der Anteil der Würfe, bei denen Kopf erscheint (also die  relative  Häufigkeit des Ereignisses „Kopf“) vom theoretisch zu erwartenden Wahrscheinlichkeitswert von 50 % abweicht. Die Abweichung vom Erwartungswert sinkt mit zunehmender Zahl von Beobachtungen, wenn man die Gesamtzahl der Würfe betrachtet. Aber natürlich steigt mit der Zahl der Würfe auch die absolute Zahl von Ereignissen, die vom Erwartungswert abweichen, bei einer hohen Zahl von Beobachtungen kann es also durchaus zu ausgeprägten „Glücks- oder Pechsträhnen“ kommen. Beobachtet man den Spielverlauf in einem Casino über einen ganzen Abend hinweg, wird das recht anschaulich. Wichtig ist es dabei zu betonen, dass sich aus dem Gesetz der großen Zahlen nicht ableiten lässt, dass ein Ereignis, welches bislang unterdurchschnittlich häufig eintrat, seinen „Rückstand“ irgendwann ausgleichen und folglich in Zukunft häufiger eintreten müsste. Es ist ein bei Glücksspielern häufig verbreiteter Irrtum, dass eine „säumige“ Zahl gleichsam aufholen müsse, um wieder der statistischen Gleichverteilung zu entsprechen. Es gibt kein derartiges Gesetz des Ausgleichs. Die häufig verwendete Formulierung, dass sich die relative Häufigkeit dem Erwartungswert „immer mehr annähert“, ist dabei irreführend, da es auch bei einer großen Anzahl von Wiederholungen, soweit man auf einzelne Beobachtung abstellt, zu Ausreißern kommen kann. Die Annäherung ist also nicht monoton, „Pechsträhnen“ sind inhärent. Will man diese Grundsätze nun auf das Modell der „Versicherung“ übertragen, so muss man für das „Zufallsexperiment“ den Wurf einer Münze durch das Risiko (genauer: die Gefahr), das sich aus einer einzelnen in Deckung genommenen Police ergibt, ersetzen. Auch ist die Eintrittswahrscheinlichkeit eines solchen Risikos um Größenordnungen geringer als beim Wurf einer Münze, entsprechend groß muss daher die Anzahl der Beobachtungen (das heißt die Anzahl der Einzelpolicen im Portfolio) sein, um sichergehen zu können, dass die tatsächlichen Ergebnisse des Zufallsexperiments „Versicherung“ nur um einen bestimmen (stochastisch ermittelten) Maximalwert vom theoretisch zu erwartenden Mittelwert abweichen werden. Eine Grundvoraussetzung ist dabei allerdings, dass das Zufallsexperiment wiederholbar ist, nur dann gilt das Gesetz der großen Zahl. Anders als beim Wurf einer Münze ist diese Wiederholbarkeit im Falle eines Portfolios von Versicherungspolicen nicht selbst-

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verständlich, es wird eine Vielzahl unterschiedlicher Objekte bzw. Personen (und deren Handlungen) versichert. Damit das zugrunde liegende Zufallsexperiment dennoch gelingt, müssen die Policen so homogen wie möglich gestaltet werden. Das erreicht man über: (i) eine Standardisierung der Versicherungsbedingungen; (ii) Ausschlüsse; (iii) eine möglichst genaue Erfassung des Risikoprofils des Einzelrisikos; und (iv) durch die strategische Auswahl der zu versichernden Objekte und Personen als Teil des Underwriting-Prozesses (Risikoakzeptpolitik). Je größer nun die Zahl der in einem Portfolio versicherten Personen, Güter und Sachwerte ist, die von der gleichen Gefahr bedroht sind, desto geringer ist der Einfluss des Zufalls auf das Gesamtportfolio. Das Gesetz der großen Zahl sagt zwar nichts darüber aus, welcher der Versicherten konkret von einem Schaden getroffen wird, wohl aber darüber, wie sich ein Unglücksfall auf die Gesamtheit der Risikogemeinschaft auswirken wird. Es ist allerdings zu betonen, dass derartige Aussagen über die zu erwartenden Auswirkungen auf die Gesamtheit des Risikoportfolios nicht mit absoluter Sicherheit (deterministisch) getroffen werden können, sondern nur mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung (stochastisch). Es kann also durchaus zu Abweichungen vom Erwartungswert kommen, auch wenn das Zufallsexperiment „Versicherung“ technisch fehlerfrei umgesetzt wurde. Negative Abweichungen vom stochastischen Erwartungswert bedeuten in der Versicherung, dass die Summe der tatsächlichen Schadenzahlungen eines Portfolios über dem ex ante ermittelten Erwartungswert liegen, der für die Ermittlung der notwendigen Prämieneinnahmen zugrunde gelegt wurde. Damit der Versicherer seinen vertraglichen Verpflichtungen auch in diesem Fall noch nachkommen kann, muss er, neben den aus dem Portfolio generierten Prämieneinnahmen (und aus den Prämien erwirtschafteten Kapitalerträgen), noch anderweitiges Kapital vorhalten. Bei einer Versicherungs-Aktiengesellschaft muss die Differenz aus dem Eigenkapital (das von den Aktionären bereitgestellt wurde) beglichen werden.

2.4.3 Versicherungsunternehmen aus Investorenperspektive Die Aktionäre einer Versicherungs-Aktiengesellschaft stellen also Eigenkapital zur Verfügung, um die verbleibende Volatilität eines Portfolios von Versicherungsrisiken, das unter Anwendung des Gesetzes der großen Zahl zusammengestellt wurde, aufzufangen. Der Aktionär einer Versicherungs-Aktiengesellschaft geht also, ähnlich wie ein Spielbankbetreiber, eine kalkulierte und auf dem Gesetz der großen Zahl basierende Wette ein, bei der er das (Rest-)Risiko eines stochastisch zwar unwahrscheinlichen, aber dennoch möglichen Ausgangs der Wette (das „Tail Risk“) übernimmt. Ein Investor, der sich an dieser Art von Geschäft beteiligen möchte, kann sich eine solche Wette nicht selbst einrichten. Dafür sind finanzstarke Unternehmungen erforderlich, die in einem streng regulierten Marktumfeld diese Form von „Wette“ in großem Umfang eingehen können. Die Möglichkeit einer Versicherungs-­ Aktiengesellschaft, sich an den Kapitalmärkten hierfür ausreichend Eigenkapital zu beschaf-

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fen, hängt daher unmittelbar davon ab, wie attraktiv das Geschäft mit solchen „Wetten“ aus Sicht der Investoren ist. Nur wenn diese „Wetten“ im Vergleich zu alternativen Anlagemöglichkeiten in den Kapitalmärkten eine höhere risikogewichtete Rendite versprechen, werden Anleger der Versicherungs-Aktiengesellschaft Kapital zur Verfügung stellen. Mittlerweile bieten auch sogenannte „Insurance Linked Securities“3-Fonds Investoren die Möglichkeit, Kapital in solche „Wetten“ zu investieren. Allerdings sind diese Fonds bisher mit wenigen Ausnahmen vor allem auf dem Rückversicherungsmarkt tätig4 und konzentrieren sich auf wenige, mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung gut zu erfassende Risikokategorien, vor allem im Bereich der Naturkatastrophen. In diesem Fall beschränkt sich die Aufgabe von (Rück-)Versicherungsunternehmen auf die Bereitstellung von Dienstleistungen, wie das Ausstellen von (Rück-)Versicherungspolicen und die Abwicklung von Schäden. Das eigentliche Risikokapital wird von den Fondsinvestoren bereitgestellt. Der Risikoappetit dieser Fonds (und der Kapitalmarktinvestoren) beschränkt sich jedoch auf bestimmte Bereiche des Versicherungsmarktes, für die aussagekräftige Statistiken und aktuarielle Modelle (oft von spezialisierten Drittanbietern, wie zum Beispiel Risk Management Solutions und AIR Worldwide) verfügbar sind. Nur auf dieser Basis können die Investoren eine realistische Einschätzung ihres Risikos vornehmen. Im Übrigen erwarten Investoren, dass ihr investiertes Kapital möglichst schnell nach Ablauf der Versicherungsperiode wieder frei wird, damit sie es reinvestieren können. Versicherungsrisiken, bei denen noch lange nach Ablauf der eigentlichen Versicherungsperiode Schäden (nach-)gemeldet werden können, sind in dieser Hinsicht wenig attraktiv. Daher interessieren sich ILS-Fonds vor allem für Naturkatastrophenrisiken und stellen hier auch in erheblichem Umfang Kapazitäten bereit, ist der „ILS-Markt“ dagegen nicht bereit, Risiken zu übernehmen, bei denen konventionelle Marktteilnehmer, die über ein viel größeres Spezialwissen verfügen, Zurückhaltung an den Tag legen. Cyberrisiken sind hier ein gutes Beispiel. Obwohl im konventionellen Versicherungsmarkt seit Jahren Cyberrisiken versichert werden, wurden diese bisher noch nicht im ILS-Markt platziert. Wir meinen, dass sich aus dem „Auftrag“ des Aktionärs an einer Versicherungs-­ Aktiengesellschaft, zumindest auf längere Sicht, eine weitere Grenze der Versicherbarkeit ergibt. Das folgende Beispiel dürfte das veranschaulichen. Nehmen wir einen deutschen Bundesligaverein, der seinen Spielern vertraglich einen Millionenbonus in Aussicht stellt, falls die Spieler für den Verein die Meisterschaft gewinnen. Der Bundesligaverein möchte sich nun gegen die Gefahr versichern, dass er eine solche Bonuszahlung leisten muss, und ist durchaus bereit, dafür eine angemessene Prämie zu bezahlen. Aus juristischer Sicht ist dieses Risiko wohl versicherbar; es gibt ein versicherbares Interesse (eine negative finan-

 Insurance Linked Securities („ILS“) sind Katastrophenrisiken, die in Form einer Unternehmensanleihe verbrieft werden. Die vollständige Rückzahlung der Anleihe erfolgt nur dann, wenn der gedeckte Katastrophenschaden nicht eingetreten ist. Die Ausfallwahrscheinlichkeit der Anleihe hängt daher direkt mit der Eintrittswahrscheinlichkeit der (rück)versicherten Naturereignisse zusammen. 4  Beachtungswerte Ausnahmen sind die folgenden Verbriefungen („Cat Bonds“); Oriental Land (mit Tokyo Disneyland als Sponsor), Pylon Capital (mit Electricité de France als Sponsor), Avalon Re (mit Oil Casualty Insurance Ltd. als Sponsor) und Operational Re (mit Credit Suisse als Sponsor). 3

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zielle Auswirkung auf die Finanzen des Vereins) und der Eintritt des Ereignisses ist ungewiss. Sollte eine Versicherungsgesellschaft in der Überzeugung, dass sie eine angemessene Prämie erhält, dieses Risiko versichern? Zumindest das finanzielle Ausmaß eines möglichen Schadens steht bereits fest und es ist zudem eine Vielzahl von Spielstatistiken verfügbar, die die Grundlage bilden könnten, um die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ereignisses ableiten zu können. Somit wäre das Risiko aus versicherungsmathematischer Perspektive wohl versicherbar. Sollte eine Versicherungsgesellschaft das Risiko also übernehmen? Wir meinen „Nein“, weil dies nicht dem (impliziten) Auftrag entspricht, den die Versicherungs-Aktiengesellschaft von ihren Aktionären erhalten hat, nämlich in großem Stil Wetten einzurichten, die auf dem Gesetz der großen Zahl basieren und bei denen jede einzelne Police einen Teil des oben dargestellten Zufallsexperiments „Versicherung“ bildet, als Teil eines homogenen Portfolios, das den gleichen Gefahren ausgesetzt ist. Die Wette auf einen bestimmten Ausgang der Spielsaison der Bundesliga dagegen kann ein Kapitalanleger selbst einrichten, indem er einen Wettvertrag mit einem Wettbüro eingeht. Dazu braucht er keine Versicherungsgesellschaft. Aus dem Geschäftsmodell der (Rück-)Versicherungsunternehmen, nämlich im Auftrag des Aktionärs in großem Umfang auf dem Gesetz der großen Zahlen basierende, kalkulierte „Wetten“ abzuschließen, die ein Aktionär halt selbst nicht abschließen kann, ergeben sich implizit Grenzen der Versicherbarkeit: Kommt in gewissen Bereichen bzw. in gewissen Risikokategorien das Gesetz der großen Zahlen mangels Homogenität des Versicherungsbestands nicht zum Tragen, dann lassen sich die Ergebnisse nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit prognostizieren. Dann wird die Wette zu einer nicht kalkulierbaren, blinden Wette, was nicht im Interesse des Aktionärs ist. Durch die Globalisierung werden die in großen Industrieunternehmen vorhandenen Risiken und Gefahren und ihre Auswirkungen auf die Prozesse und Abläufe im Unternehmen immer komplexer und individueller. Die sich daraus ergebende abnehmende Homogenität der Risikobestände der (Rück-)Versicherer stellt diese vor Herausforderungen. Die Versicherbarkeit von beispielsweise Forschungsausgaben oder von bestimmten Risiken, die sich aus Unternehmenskäufen ergeben, scheitert daher oft daran, dass der Versicherer diese Risiken wegen ihrer Einmaligkeit und Besonderheiten nicht in sein Portfolio integrieren kann. Solche Risiken stehen wegen ihrer Individualität im Widerspruch zur Standardisierung, die es nun mal braucht, um das Gesetz der großen Zahlen im Sinne des Aktionärs eines (Rück)Versicherungsunternehmens spielen zu lassen. Allerdings ist es durchaus so, dass (Rück-)Versicherungsunternehmen ungeachtet dieser Schwierigkeiten bereit sind, sich neuen Herausforderungen zu stellen und innovative Lösungen zu suchen, um auch für neuartige Risiken und Gefahren Versicherungsschutz anzubieten. Mehr dazu in Abschn. 2.4.5.

2.4.4 Abgrenzung zum Kapitalmarkt Eine weitere wirtschaftliche Grenze der Versicherbarkeit ergibt sich aus Effizienzgründen. Für bestimmte Gruppen von Risiken bietet der Kapitalmarkt extrem effiziente und liquide Risikotransferinstrumente an. Hier sind Versicherungslösungen in Bezug auf Kosten und

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Komplexität nicht wettbewerbsfähig. Bei der Auflistung der Basisinstrumente zur Risikobehandlung finden sich daher auch Kapitalmarktprodukte, wie zum Beispiel Forwards, Swaps, Derivate und Verbriefung. Wie bereits erwähnt, verursacht Risikotragung Kapitalkosten. Bei Risikotransferlösungen fallen zudem Administrations-, Friktions- und sonstige Kosten an. Wenn es in der Summe bei einem Wechsel der Trägerschaft des Risikos (das heißt beim Risikotransfer) zu einer Kapitaleinsparung und somit zu geringeren Kapitalkosten kommt und diese Einsparungen höher sind als die damit verbundenen Kosten, ist ein solcher Transfer, sowohl aus betriebs- als auch aus volkswirtschaftlicher Sicht, sinnvoll. Wenn der Transfer des Risikos direkt an den Kapitalmarkt erfolgen kann, ohne Zwischenschaltung einer Versicherung, dann sollten diese Risiken aufgrund der höheren Effizienz und geringeren Friktionskosten der Kapitalmärkte auch dort untergebracht werden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Versicherungen nicht nur auf der Passivseite der Bilanz Risiken eingehen, sondern auch auf der Aktivseite, und zwar durch die oben bereits erwähnte Kapitalsammelfunktion und die sich daraus ergebende Anlageund Investitionstätigkeit. Diese Kapitalsammelfunktion ist allerdings nur als sekundäre und nicht als Hauptaufgabe von Versicherungen zu betrachten. Aus Sicht der Aktionäre stellt die Anlage- und Investitionstätigkeit der Versicherungs-Aktiengesellschaft aber weitgehend einen „blinden Fleck“ dar, der allerdings durch strenge regulatorische Vorgaben und Höchstgrenzen in Bezug auf die Kapitalanlageformen der Versicherer etwas abgemildert wird. Manche Versicherer betätigen sich aber auch auf der Passivseite, das heißt in ihrem eigentlichen Versicherungsgeschäft, im Kapitalmarkt. Vor der Finanzkrise 2008 hatten viele Versicherer und Rückversicherer bereitwillig Kapitalmarktrisiken von anderen Kapitalmarktteilnehmer übernommen, insbesondere in Form von Kreditderivaten („Credit Default Swaps“ oder CDSs) und Garantien für hoch strukturierte Schuldverbriefungen, die nunmehr berühmt-berüchtigten „Collateral Debt Obligations“ oder CDOs.5 Die Übernahme solcher Finanzrisiken auf dem konventionellen (Rück-)Versicherungsweg ist aus juristischer Sicht durchaus möglich und auch aus versicherungsmathematischer Perspektive umsetzbar, aber unserer Meinung nach weder aus Sicht der Aktionäre noch volkswirtschaftlich sinnvoll. Diese Einschränkung gilt allerdings nicht für das klassische Kredit- und Kautionsgeschäft. Hier bietet der (Rück-)Versicherungsmarkt durchaus effiziente Lösungen, vor allem für kleinere und mittelgroße Unternehmen, die im Kapitalmarkt nicht verfügbar sind.

 CDOs sind mit Schadenexzedentenverträgen (Excess-of-Loss) im Rückversicherungsmarkt zu vergleichen. Risiken werden zuerst in einem Bestand gebündelt und in Tranchen an andere Risikoträger transferiert, wobei die einzelnen Tranchen in einer abgestimmten Kaskade befriedigt werden. Nachrangige Tranchen sind daher mit einem höheren Ausfallrisiko verbunden, vorrangige Tranchen sind demgegenüber relativ sicherer. Bei CDOs2 (oder CDOs Squared) werden diese Tranchen nochmals gebündelt und ebenfalls wieder in Tranchen an andere Risikoträger transferiert. Diese sind mit XL-­ on-­XL im Rückversicherungsmarkt zu vergleichen, die Gegenstand der berühmt-berüchtigten „Lloyd’s Spirale“ am Ende des 20. Jahrhunderts waren, die fast zum Untergang von Lloyd’s of London führten, ähnlich wie die CDOs und CDOs2 fast das ganze Finanzsystem ins Wanken brachten. 5

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2.4.5 Dilemma: Ex ante Preisstellung unter Berücksichtigung des Änderungsrisikos Obwohl die Versicherungsindustrie immer wieder in der Kritik steht, bei der Übernahme von neuartigen Risiken („Emerging Risks“) nicht innovativ genug zu sein, muss diese Kritik entschieden zurückgewiesen werden. Die Versicherungsindustrie ist sehr wohl bemüht, solche Risiken versicherbar zu machen und in ihre Bestände aufzunehmen. Letztendlich hat sie ja ein großes Interesse daran, weil sich durch eine stärkere Diversifikation über alle Bestände eines Versicherers hinweg die Volatilität (die Schwankung eines Ergebnisses um den Mittelwert) des Gesamtbestands verringern und dadurch der Kapitaleinsatz optimieren lässt. Das setzt aber immer voraus, dass sich für ein neues Risiko ein ausreichend homogenes Portfolio bilden lässt, für das eine zu erwartende Schadenlast mit ausreichend hoher Bestimmtheit („Konfidenz“) ermittelt werden kann. Hier zeigt sich ein grundlegendes Dilemma, das dem Geschäftsmodell Versicherung inhärent ist: Der Versicherer „verkauft“ heute das Versprechen, für die zukünftigen negativen finanziellen Folgen eines von einer bestimmten Gefahr ausgelösten, unvorhersehbaren Ereignisses aufzukommen. Der Preis richtet sich dabei nach der versicherungsmathematisch kalkulierten, zu erwartenden Schadenlast. Die Preisstellung erfolgt also ex ante, während die wirklichen Schadenkosten (die in der Regel rund dreimal höher als die Verwaltungskosten sind), die dem Versicherer durch sein Versprechen entstehen, erst ex post bekannt werden. Der Versicherer trägt also das sogenannte Änderungsrisiko (zumindest in weiten Teilen, weil in gewissem Umfang Anpassungen der prospektiven Prämien bei Änderung des objektiven Risikos möglich sind). Ungeachtet dieser Schwierigkeiten hat die Versicherungswirtschaft im Laufe der Zeit Deckungen für eine beständig größer werdende Palette von Gefahren entwickelt. An dieser Stelle erinnern wir an Cuthbert Eden Heath (23.03.1859–08.03.1939). Er gilt als Urvater des „modernen“ Lloyd’s of London. Lloyd’s of London war seit der Gründung des Marktes im Jahr 1686 bis etwa 1885 ein reiner „Marine“-Versicherungsmarkt. C. E. Heath hat als Erster ein sogenanntes „Non-Marine“-Syndikat in Lloyd’s of London etabliert und für damalige Zeiten neuartige Deckungen angeboten (unter anderem: durch vorangehenden Sachschaden ausgelösten Betriebsunterbruch, Banker’s Blanket Bond, Jewelers Block, Arbeitgeberhaftpflicht usw.). Wir wollen allerdings nicht unerwähnt lassen, dass die von C. E. Heath eingeführten Innovationen und Geschäftsfelderweiterungen von vielen als Ursache der katastrophalen Verluste gesehen werden, die am Ende des 20. J­ ahrhunderts beinahe zum Untergang von Lloyd’s of London mit seinem System der unbeschränkt persönlich haftenden Mitglieder (den sogenannten „Members“) geführt hat. Viele der Mitglieder, die lediglich als Risikokapitalgeber bereitstanden und am eigentlichen Versicherungsgeschäft nicht aktiv beteiligt waren, sind dabei in den finanziellen Ruin getrieben worden. Es war nämlich C. E Heath, der für Lloyd’s den US-amerikanischen Markt erschlossen hat, der nach dem großen Erdbeben in San Francisco in 1906 immer mehr an Bedeutung gewann. Im Zuge von in US-Gerichten vorangetriebenen Massenklagen im Zusammenhang mit durch Asbest ausgelösten Körperschäden kam es dann von Ende der 1960er-Jahre an zu

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einer bis dahin nicht gekannten Ausweitung der Haftung, die auch zu Schäden unter Haftpflichtpolicen führte, die teils Jahre und Jahrzehnte zurücklagen. Als die Policen aber ausgestellt wurden, war das Ausmaß solcher durch Asbest ausgelösten Körperschäden noch gar nicht erkannt worden und somit auch nicht Bestandteil der zu erwartenden Schadenlast der damaligen Haftpflichtpolicen. Analysten schätzen die Gesamtkosten der in den Vereinigten Staaten von Amerika anfallenden Asbestschäden auf über 200 Mrd. US-Dollar (vgl. Asbestos 2021). Hier hat sich das Änderungsrisiko (wobei sich die Änderung durch die geänderte Rechtsprechung in den USA ergab) am stärksten ausgewirkt. Das Vorsichtsprinzip ist daher in der Versicherungsindustrie ein Grundpfeiler für langfristigen Erfolg (und das wirtschaftliche Überleben). In diesem Sinne müssen bei der Erweiterung der Risiko- bzw. Gefahrenpalette der Grundsatz der Versicherbarkeit (aus betriebswirtschaftlicher Sicht) und das Gesetz der großen Zahl immer im Auge behalten werden. Eine stabile Kalkulationsbasis, das heißt relevante, aussagekräftige Statistiken, sind nötig, um die zu erwartende Schadenlast mit ausreichender Konfidenz versicherungsmathematisch berechnen zu können. Eine weitere Herausforderung stellen der schnelle technologische und gesellschaftliche Wandel dar. Erfahrungswerte und Schadenstatistiken der Vergangenheit haben heute oft nur noch begrenzte Aussagekraft, die in die Zukunft gerichtet noch weiter abnehmen wird. Cyberrisiken sind hierfür ein gutes Beispiel. Das Änderungsrisiko ist hier durch die rasante technische Entwicklung in der Informationstechnik sehr hoch. Insbesondere die von Cyberkriminellen angewandten Methoden und Techniken entwickeln sich unerbittlich schnell. Die sogenannte „Kaseya Cyber Attacke“6 Anfang Juli 2021 und die Cyberangriffe auf den deutschen Krankenkassen-Dienstleister Bitmarck in 2023 sind gute Beispiele dieser besorgniserrenden Entwicklung. Es werden nämlich immer größere Einheiten attackiert. Die Anzahl Cyberschäden und die Gesamtkosten der Cyberkriminalität sind in den letzten Jahren dann auch stetig gestiegen. Es ist dadurch enorm schwierig, genaue Prognosen zur Schadenlast zu ermitteln. Werden in diesem Bereich Trends und Entwicklungen nicht rechtzeitig erkannt und korrekt bewertet, kann es leicht zu Fehleinschätzungen des für die nächste Versicherungsperiode zu erwartenden Gesamtschadens des versicherten Kollektivs (der Grundschadenlast) kommen. Werden dadurch zu niedrige Prämien berechnet, sind die vereinnahmten kollektiven Prämien für die Risikodeckung (das heißt die Risikoprämie) unzureichend und der Versicherer generiert versicherungstechnische Verluste, die durch das Eigenkapital aufgefangen werden müssen. Wenn ein Versicherer das Änderungsrisiko regelmäßig unterschätzt, das heißt nur unzureichend bei seiner Prämienkalkulation berücksichtigt, wird er über kurz oder lang aus dem Markt ausscheiden. Dabei kann  Am 2. Juli 2021 ist es einer Gruppe von Hackern namens Revil Group gelungen, die Aktivitäten von über 1000 Firmen auf fünf verschiedenen Kontinenten zum Stillstand zu bringen. Die Cyberattacke wurde auf Kaseya Ltd. in Miami, USA, verübt. Kaseya entwickelt und stellt IT-­Outsourcing-­ Firmen (Managed Service Providers) Software bereit. Damit erledigen solche Firmen Backoffice-­ Arbeiten für Unternehmen, die selbst nicht über die dazu erforderlichen Ressourcen verfügen. Es war unter anderem die schwedische Supermarktkette Coöp betroffen, die eine Woche lang 800 Läden schließen musste. Für die Dekodierung verlangte Revil Group 70.000.000 US-Dollar (vgl. Kaseya VSA ransomware attack 2023). 6

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selbstverständlich das Marktumfeld auch nicht außer Betracht bleiben. Auch wenn ein Versicherer auf Grundlage seiner eigenen, internen Kalkulation eine angemessene technische Prämie ermittelt hat, ist es in einem intensiven Wettbewerbsumfeld oft unmöglich, diese im Markt auch durchzusetzen. Dies führt zu einem Prämiendruck nach unten, bei dem der günstigste Anbieter die Zielmarke setzt. Daher reicht es oft schon aus, dass nur eines der größeren Versicherungsunternehmen im Markt mit seiner Kalkulation falschliegt, um das Prämienniveau insgesamt unter die Profitabilitätsschwelle zu drücken. Andere Versicherungszweige und Märkte verfügen bereits über jahrzehntelange Daten, die zum besseren Verständnis von Risiken und zur Entscheidungsfindung verwendet werden können. Die Frage ist somit, ob die versicherungsmathematischen Modelle für Cyberrisiken genügend aussagekräftig sind bzw. wegen der rasanten technischen Entwicklungen überhaupt sein können. Wir haben bereits beobachten können, dass noch vor wenigen Jahren einzelne Industrieversicherer bereit waren, für Cyberrisiken 100 Mio. € Kapazität pro Police bereitzustellen. Mittlerweile haben sich diese Kapazitäten signifikant reduziert. Auch stellt sich die Frage, ob in Anbetracht der Grenzen der Versicherbarkeit und der  volkswirtschaftlichen Rolle der (Rück-)Versicherungsindustrie Cyberrisiken nicht „unternehmerische“ Risiken im eigentlichen Sinne sind. Cloudanwendungen führen dazu, dass diese Risiken zunehmend zu einem systemischen Kumulrisiko werden. Wie in ­Abschn. 2.4.3 bereits erwähnt, sollten Versicherungsunternehmen systemische Risiken aus Investorensicht vermeiden. Wenn im Schadenfall die Versicherungsleistung der bekannte „Tropfen auf dem heißen Stein wäre“ und trotz Versicherungsleistung das Fortbestehen eines Unternehmens unzureichend gewährleistet ist (was bei Datenverlust oder Datendiebstahl durchaus der Fall sein könnte), würde die (Rück-)Versicherungsindustrie ihrer volkswirtschaftlichen Aufgabe nicht gerecht werden. Somit stellt sich die Frage, ob es generell nicht sinnvoller wäre, wenn Unternehmen sich bei der Bewältigung dieser Risiken viel mehr der in Abschn. 2.3.2. erwähnten Handlungsoptionen Risikovermeidung und Limitierung in Kombination mit Eigentragung (mit oder ohne Captive) bedienen sollten, anstatt sich auf Versicherung und Risikotransfer zu verlassen.

2.4.6 Zyklen im Versicherungsmarkt und die damit verbundenen Herausforderungen Nachhaltige Verluste im versicherungstechnischen Geschäft führen dazu, dass die ­Aktionäre der Versicherungs-Aktiengesellschaften ihr Vertrauen in die Profitabilität und Attraktivität des Geschäfts verlieren und irgendwann nicht länger bereit sind, zusätzliches Risikokapital zur Verfügung zu stellen. Das kann zur Folge haben, dass die Versicherungswirtschaft ihre Aktivitäten zumindest zeitweilig zurückfahren muss, bis es gelingt, das Marktumfeld wieder zu stabilisieren, und die Profitabilität des Geschäfts zurückkehrt. Aus Rücksicht auf ihre Kapitalgeber, die ja unabdingbar dafür sind, dass Versicherer überhaupt ihr Geschäft und damit auch ihre volkswirtschaftliche Aufgabe wahrnehmen können, müssen Versicherungsunternehmen ihre Risikopolitik fortlaufend in allen relevanten Berei-

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chen überdenken und anpassen. Das kann dazu führen, dass sie höhere Selbstbehalte verlangen, die Prämien erhöhen, den Umfang der Versicherungsdeckung (möglicherweise in Kombination mit der Einführung von zusätzlichen Ausschlüssen) verringern oder sich sogar gänzlich aus bestimmten Marktsegmenten zurückziehen. Häufig handelt es sich bei derartigen Anpassungen um eine Entwicklung, die den Gesamtmarkt betrifft, oft infolge eines jahrelangen intensiven Preiswettbewerbs der Versicherer, durch den die Profitabilität der gesamten Versicherungsindustrie ausgehöhlt wurde. Diese mitunter recht ausgeprägten Profitabilitätszyklen im Versicherungsmarkt sind aber für alle Marktteilnehmer auf lange Sicht nachteilig. Sie schränken die Planbarkeit aufseiten der Versicherungsnehmer ein, beeinträchtigen die Verfügbarkeit von Deckung und können zu Marktverwerfungen und einer Konsolidierung auf der Versichererseite führen. Sie beeinträchtigen so die volkswirtschaftliche Funktion von Versicherung, was letztlich auch die Entwicklung der Gesamtwirtschaft dämpfen kann, wie dies zum Beispiel in den USA im Zuge der sogenannten „Liability-Krise“ in den 1980er-Jahren (und auch noch in späteren Jahren) sehr deutlich geworden ist. Industrieunternehmen, die bereits über robuste Mechanismen zur Eigentragung von Risiken verfügen, können auf solche Entwicklungen des Versicherungsmarktes deutlich besser reagieren. Eine zentrale Rolle nehmen dabei sogenannte Captives ein, spezielle (Rück-)Versicherungsgesellschaften, die von Industrieunternehmen gegründet und unterhalten werden mit dem Ziel, die Eigentragung von Versicherungsrisiken zu gestalten.

2.5 Zwischenfazit Jegliches wirtschaftliche Handeln unterliegt Unsicherheit („Ohne Risiko keine Chance“). Risiken binden aber Ressourcen, Risikotragung benötigt Kapital und verursacht Kapitalkosten. Die Identifizierung und das effektive Management von Risiken sind daher eine zentrale Herausforderung, um langfristig den Erfolg und das wirtschaftliche Überleben des Unternehmens zu sichern. Wenn allerdings Risiken vermieden oder limitiert werden müssen, indem die Geschäftstätigkeit bzw. die betrieblichen Aktivitäten eingeschränkt werden, dann verhindert das Wirtschaftswachstum und ist volkswirtschaftlich unerwünscht. Daher ist der Transfer von Risiken an die Versicherungswirtschaft nicht nur aus Sicht des einzelnen Unternehmens, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll und erwünscht. In der Versicherungswirtschaft findet der Risikoausgleich im Kollektiv (nach dem Solidaritätsprinzip) statt. Das Kollektiv (Bestand von vielen gleichartigen Risiken) muss dabei ausreichend groß und homogen sein, damit sich eine relativ sichere Kalkulationsgrundlage auf der Basis des Gesetzes der großen Zahl ergibt. Damit die Risiken weitgehend gleichartig sind und der Bestand homogen ist, müssen die Versicherungsbedingungen hochgradig standardisiert sein, was die Anwendung von Risikoausschlüssen erfordert. Daher können konventionelle Versicherungsprodukte individuelle Risiken nur beschränkt absichern. Da große Industrieunternehmen sehr individuelle, unternehmensspezifische Risiken aufweisen, ist die Anpassung der Deckung an individuelle Kundenbedürfnisse

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schwierig. Versicherungs-Aktiengesellschaften sind gewinnorientierte Unternehmen und müssen auf das von den Aktionären bereitgestellte Kapital langfristig angemessene Renditen verdienen können. In Abhängigkeit von Zyklen im Versicherungsmarkt führt das immer wieder zu einer Verknappung von Deckungskapazitäten, Verschärfung von Bedingungen, Ausschlüssen und allgemeinen Preiserhöhungen, um verloren gegangene Profitabilität wiederherzustellen. Nur finanziell gesunde Versicherer können verlässliche Deckung bieten und somit ihrer volkswirtschaftlichen Rolle gerecht werden. Für Industrieunternehmen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, sich mit Alternativen auseinanderzusetzen, wenn klassischer Risikotransfer über den Versicherungsmarkt nicht möglich oder nicht sinnvoll ist.

2.6 Alternativen zu klassischem Risikotransfer Regelmäßig muss sich die Geschäftsleitung eines Unternehmens mit der Frage auseinandersetzen, wie mit Gefahren umgegangen werden kann und soll, die im Rahmen eines systematischen Risikomanagements erkannt wurden, die das Unternehmen aber nicht an den Versicherungsmarkt transferieren kann oder will. Dabei stehen grundsätzlich die in Abschn. 2.3.2 erwähnten Handlungsoptionen Risikovermeidung, Limitierung und Eigentragung offen. So kann sich das Unternehmen aus bestimmten Märkten oder Produktbereichen zurückziehen, weil etwa das Haftungsrisiko als zu hoch eingeschätzt wird. Als abgeschwächte Form der Risikovermeidung kann das Unternehmen auch bestimmte Gefahren gezielt limitieren, etwa durch vertragliche Haftungsbegrenzungen oder Einschränkungen der vertraglichen Gewährleistung. Beide Varianten begrenzen natürlich unternehmerische Chancen und schwächen die Position im Wettbewerb.

2.6.1 Eigentragung im Überblick Alternativ kann sich das Unternehmen auch entscheiden, bestimmte Gefahren bewusst als Teil des unternehmerischen Handelns zu akzeptieren und die Unternehmensplanung und -steuerung im Rahmen einer aktiven Eigentragungsstrategie einzubinden.7 Letztlich werden dadurch die Kapitalgeber des Unternehmens mit diesen Gefahren belastet, ähnlich wie dies auch im Kernbereich der unternehmerischen Tätigkeit, etwa der Erschließung neuer Märkte, der Fall ist. Zentrale Herausforderung einer Eigentragungsstrategie ist es, Transparenz hinsichtlich der (auf lange Sicht) zu erwartenden Kosten für das Unternehmen wie auch im Hinblick auf kurzfristige Extremszenarien zu schaffen und dies mit der Risikotragungsfähigkeit des Unternehmens abzustimmen. Als Beispiel kann hier die Eigentragung eines Großunternehmens bei der Kaskoversicherung der unternehmenseigenen Fahrzeugflotte dienen. Ist die Flotte ausreichend groß und geografisch weit verteilt  Selbstverständlich gibt es weitere Gefahren, die nicht identifiziert wurden und daher nicht in den Risikosteuerungsprozess eingebunden sind. 7

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sind die zu erwartenden Schäden (erwartete Schadenlast) gut abzuschätzen und werden sich in einer relativ engen Bandbreite (geringe Volatilität) bewegen. Hier kann es für das Unternehmen durchaus sinnvoll sein, auf einen Risikotransfer an den Versicherungsmarkt in Gänze zu verzichten oder nur Kumulschadenereignisse abzusichern, oftmals wird die Entscheidung auf eine recht einfache Kosten-Nutzen-Analyse hinauslaufen. Wirtschaftlich von besonderem Interesse sind dabei Gefahren, die grundsätzlich vom Unternehmen selbst getragen werden können und bei Betrachtung (nur) der zu erwartenden Schadenlast auch getragen werden sollten. Hat das eigene Unternehmen beispielsweise ein ausgezeichnetes operatives Risikomanagement und historisch eine niedrige Schadenlast, ist aber Teil einer Industrie, die in der Vergangenheit hohe Schäden für die Versicherungsindustrie verursacht hat, kann es durchaus sein, dass die Versicherungsprämien für eine Risikotransferlösung unverhältnismäßig hoch werden. Hier kann es ökonomisch durchaus sinnvoll sein, die Eigentragung von Risiken zu erhöhen und nur Großschadenereignisse traditionell, das heißt auf Risikotransferbasis, zu versichern. Eine deutlich größere Herausforderung stellen Gefahren dar, die eine relativ geringe Eintrittswahrscheinlichkeit aufweisen (und damit eine niedrige erwartete Schadenlast), die bei ihrer Verwirklichung aber hohe bis existenzbedrohende Kosten mit sich bringen können, wie zum Beispiel der Großbrand in einer wichtigen Produktionsstätte. Bei diesen Gefahren, die aus Sicht des einzelnen Unternehmens ein binäres Risiko von möglicherweise existenzbedrohendem Ausmaß darstellen, zeigt sich die Stärke der traditionellen Risiko­ transferlösungen: Durch die Bündelung solcher Gefahren in ein industrie- und länderübergreifendes Portfolio von ähnlichen Risiken lässt sich die Schwankungsbreite auf Portfolioebene deutlich reduzieren. Nicht zuletzt spielen hier auch die großen, internationalen Rückversicherer eine wichtige Rolle, die für eine weitere Streuung von Großschadenereignissen über die Portfolios verschiedener Industrieversicherer hinweg sorgen können. Noch ein weiterer Aspekt soll hier kurz angesprochen werden: In manchen Geschäftszweigen und für bestimmte Handlungen, wie dem Führen von Kraftfahrzeugen, ist der Abschluss von Versicherung (zumeist Haftpflichtdeckung) gesetzlich vorgeschrieben oder wird von den Geschäftspartnern vertraglich verlangt. In diesen Bereichen hat das Instrument „Versicherung“ auch eine wichtige gesellschaftliche Rolle, weil so sichergestellt werden kann, dass Geschädigte ihre Ansprüche gegenüber einem solventen Anspruchsgegner, nämlich der Versicherung, geltend machen können. Auch wenn dies zunächst vermuten lässt, dass in diesen Bereichen eine Eigentragung nicht möglich sein könnte, hat die Versicherungsindustrie auch hier Lösungen entwickelt. Ein Versicherer stellt die geforderte Deckung bereit, fertigt Versicherungspolicen aus und reguliert Schäden wie bei einer regulären Versicherung. Im Innenverhältnis zu seinem Kunden, dem Versicherungsnehmer, hat der Versicherer allerdings vertragliche Vereinbarungen getroffen, mit denen er die Risiken vollständig an den Versicherungsnehmer abwälzt. Der Geschädigte hat also unverändert einen solventen und regulierten Versicherer als Ansprechpartner. Der Versicherer trägt allerdings das Risiko, dass er eventuell im Innenverhältnis zu seinem Kunden die vertraglich vereinbarte Freistellung nicht durchsetzen kann, etwa wegen Vermögensverfalls des Kunden, und letztlich auf den regulierten Schäden sitzen bleibt.

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2.6.2 Kosten einer Eigentragungslösung Grundsätzlich verursacht jede Form von Risiko, das im Unternehmen verbleibt, Kapitalkosten. Die Kapitalgeber, vor allem die Aktionäre, erwarten für die von ihnen eingegangenen Risiken eine angemessene Kapitalrendite. Bei börsennotierten Unternehmen zeigt sich das im Aktienkurs bzw. im Marktwert des Unternehmens. Unternehmen mit höherem (angenommenen) Risiko und riskanteren Geschäftsmodellen müssen entsprechend höhere Gewinnerwartungen erfüllen, um Aktienkapital anzuziehen und zu halten. Weist der Aktienkurs einer Aktiengesellschaft im Vergleich zu einem relevanten Aktienindex, wie dem DAX, hohe Schwankungen auf (dem sogenannten Aktien-Beta), so wird die Aktie nach dem sogenannten CAPM, dem von William Sharpe und anderen schon in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts entwickelten Capital Asset Pricing Model, als riskanter und damit weniger attraktiv für Anleger eingestuft. Natürlich sind die doch stark vereinfachenden Annahmen des CAPM aus heutiger Sicht für die praktische Anwendung nicht unumstritten und wurden daher durch eine Vielzahl von weiteren Modellen ergänzt. Im Grundsatz und für die Zwecke dieses Beitrags völlig ausreichend kann aber festgehalten werden, dass eine Erhöhung des im Unternehmen gehaltenen Risikos zu höheren Kapitalkosten führt, weil das Eigenkapital der Aktionäre entsprechend stärker exponiert ist. Bei börsennotierten Unternehmen ist daher zu erwarten, dass eine derartige, erhöhte Risikoexposition zu stärker schwankenden Aktienkursen führt, was sich negativ auf den Marktwert des Unternehmens auswirkt. Eine Eigentragungslösung, die sehr beträchtliche Risiken im Unternehmen behält, kann vor allem kurzfristig zu ganz erheblichen Schwankungen der U ­ nternehmensergebnisse führen. So kann es innerhalb eines Geschäftsjahres zu einer Anhäufung von Schadenereignissen kommen, die jeweils unterhalb der Schwelle bleiben, für die eine Risikotransferdeckung eingekauft wurde, die in Summe aber das Unternehmen massiv belasten und möglicherweise sogar den Fortbestand gefährden können, wenn die Risikotragungsfähigkeit des Unternehmens falsch eingeschätzt wurde. Die Risikotragungsfähigkeit eines Unternehmens wird ganz erheblich durch die Ertragskraft und die Eigenkapitalausstattung des Unternehmens bestimmt. Daher lassen sich die zusätzlichen Kapitalanforderungen, die eine Erhöhung der Eigentragung mit sich bringen, zumindest theoretisch bestimmen: Unter der Annahme, dass ein Unternehmen vor Beginn der Maßnahme eine optimierte Kapitalstruktur aufgewiesen hat, lässt sich aus den durch die Erhöhung der Eigentragung notwendig gewordenen zusätzlichen Anforderungen an die Risikotragungsfähigkeit ableiten, wie viel zusätzliches Kapital notwendig ist, um auch nach Erhöhung der Eigentragung das gleiche Niveau an Resilienz zu erhalten.

2.6.3 Eigentragung unter Berücksichtigung der internationalen Buchführungsregel Unternehmen, die sich dazu entscheiden, finanzielle Vorsorge zu treffen, um sich gegen zukünftige Risiken abzusichern, möchten üblicherweise nicht nur entsprechend Kapital

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zurücklegen (zum Beispiel in Form von Eigenkapital), sondern diese Vorsorge auch bereits in der Gewinn-und-Verlust-Rechnung der laufenden Periode berücksichtigen, indem sie entsprechende Rückstellungen in ihrer Bilanz ausweisen. Dahinter steht die Überlegung, dass die Eigentragung und die entsprechende finanzielle Vorsorge langfristige unternehmerische Entscheidungen sind, die Teil des gewöhnlichen Geschäftsverlaufes sein sollten und daher, wie Versicherungsprämien und andere allgemeine Betriebskosten, in der laufenden Erfolgsrechnung berücksichtigt werden sollten. Kommt es dann zu einem Großschadenereignis, so können diese Rückstellungen aufgelöst werden, um die negativen Auswirkungen auf die Ertragsrechnung der aktuellen Rechnungsperiode zu reduzieren. Rückstellungen ermöglichen es daher dem Unternehmen, die laufenden Kosten, die sich aus der Eigentragungsstrategie ergeben, fortlaufend, transparent und periodengerecht aufzuzeigen und im Gegenzug (zufallsbedingte) starke Schwankungen in der Periode, in die der eigentliche Schaden fällt, zu vermeiden. Der International Accounting Standard 37 („IAS 37“) legt allerdings Kriterien für die Bildung von Rückstellungen und deren Bemessung im Zusammenhang mit Eventualforderungen und Eventualverbindlichkeiten fest mit dem Ziel, die Transparenz der Geschäftsberichte zu erhöhen. Generell sind keine Pauschalrückstellungen erlaubt. Ein Unternehmen darf nur dann eine Rückstellung bilden, wenn aufgrund eines vergangenen Ereignisses (i) eine gegenwärtige (Eventual-)Verpflichtung entstanden ist, (ii) das Quantum der Auszahlung zuverlässig geschätzt werden kann und (iii) eine Auszahlung sehr wahrscheinlich ist. Die Bildung von Rückstellungen ist nur einzelfallbezogen und begrenzt möglich. Das heißt, dass keine Pauschalrückstellungen für eventuelle, zukünftige Ereignisse gebildet werden dürfen. Die einzige Vorsorge ist über den Gewinnvortrag. Die Geschehnisse mit COVID-19 und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen sollten Regierungen und ihre Aufsichtsbehörden zu einem Umdenken bewegen. Vielleicht sollte die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, dass für Ereignisse bzw. Risiken, die eine systemische Auswirkung haben könnten und deshalb in der Regel in der (Rück-)Versicherungswirtschaft als nicht versicherbar gelten, doch vorsorglich Rückstellungen gebildet werden können. Damit würde man die Kraft zur Eigentragung von kleineren Unternehmen und somit der Volkswirtschaft insgesamt erhöhen. Wenn es nicht versicherbare Risiken bzw. Ereignisse gibt, die ein systemisches Risiko darstellen, muss oft der Staat mittels Subventionen oder anderweitiger Unterstützung einspringen, um einen Abschwung der Wirtschaft zu verhindern. Die Mittel dazu müssen dann aus Steuereinnahmen finanziert werden.

2.6.4 Eigentragung unter Einsatz einer Unternehmens-Captive Die Gründung einer Captive ermöglicht eine effiziente Eigentragung und stellt damit eine Alternative zum Einkauf konventioneller Versicherungsdeckungen dar. Indem das Indus­ trieunternehmen selbst, über eine Captive-Tochter, ins (Rück-)Versicherungsgeschäft einsteigt (wenn auch begrenzt auf die konzerneigenen Risiken), eröffnen sich neue Möglichkeiten des Kapitalmanagements.

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Es lässt sich aber auch festhalten, dass eine erhöhte Eigentragung die Risikotragfähigkeit des Unternehmens belastet bzw. höhere Kapitalanforderungen nach sich zieht. Beides verursacht höhere Kapitalkosten. Weiter setzt eine substanzielle Eigentragung im Unternehmen voraus, dass ein professionelles Risikomanagement besteht, um Gefahren richtig analysieren und behandeln zu können. Nur so lassen sich existenzgefährdende Gefahren für das Unternehmen vermeiden. Durch eine Captive kann in hohem Maße für Transparenz in Bezug auf die Risikotragfähigkeit und ein professionelles Risikomanagement gesorgt werden. Dies hilft, die Unsicherheiten, die sich für Aktionäre und Kapitalgeber aus einer hohen Eigentragung ergeben, zu vermindern. Zudem ermöglicht eine Captive durch eine flexible Rückversicherungsstrategie eine zeitnahe Steuerung der Höhe der (Netto-)Eigentragung und der Kapitalanforderungen. Wird eine höhere Eigentragung mithilfe einer Captive-Struktur und eines professionellen Risikomanagements umgesetzt, lassen sich aus mittel- bis langfristiger Perspektive wirtschaftliche Vorteile erzielen, wenn die zu erwartenden Schäden, über einen längeren Zeitraum gemittelt, unter den zu erwartenden Prämien und sonstigen Administrationskosten liegen und die Kapitalkosten abgedeckt werden. Genau hier zeigen sich die Vorteile einer Captive, die wesentliche Teile der Eigentragung im Konzernverbund übernimmt. Die Captive verfügt, wie jede Versicherungsgesellschaft, über einen Eigenkapital- und Vermögensstock, der in einem angemessenen Verhältnis zu den in der Captive gehaltenen Risiken (aus der Eigentragung des Unternehmensverbundes) steht. Die Angemessenheit wird nach objektiven Kriterien bestimmt und durch die Aufsichtsbehörden und externe Wirtschaftsprüfer überwacht. Zudem ist sichergestellt, dass eine Captive über angemessene Instrumente und Daten verfügt, um Entwicklungen im eigenen Portfolio frühzeitig zu erkennen und zu steuern. Innerhalb der Europäischen Union unterliegen Captives sogar grundsätzlich den gleichen Anforderungen wie Versicherer, die nur Drittgeschäft zeichnen. Aus Sicht der Aktionäre und anderer Kapitalgeber schafft eine Captive daher Transparenz in Bezug auf die (zusätzlichen) Kapitalmittel, die ein Unternehmen vorhält, um die zusätzlichen Risiken, die sich aus einer hohen Eigentragung ergeben, aufzufangen. Auch gegenüber der eigenen Geschäftsleitung ermöglicht eine Captive Transparenz, sowohl im Hinblick auf die nötigen Kapitalmittel und die Kapitalkosten als auch in Bezug auf die Profitabilität der in der Captive gehaltenen Risiken. Wie jedes andere Versicherungsunternehmen hat eine Captive Schadenrückstellungen zu bilden, Reserven vorzuhalten und einen jährlichen Geschäftsbericht abzugeben. Die Steuerung von Selbstbehalten mithilfe einer Captive bringt auch operative Vorteile: Zunächst erhöht sich die Transparenz in Bezug auf einzelne Unternehmensbereiche, da die Qualität des operativen Risikomanagements der einzelnen Geschäftsbereiche wie auch die Schadenlast in viel höherem Detaillierungsgrad ermittelt und zu Steuerungszwecken verwendet werden können, wie zum Beispiel der internen Kosten- und Prämienallokation. Häufig verlangen Versicherer, gerade in der „harten Phase“ eines Marktzyklus, wenn die Prämien hoch und die Deckungskapazitäten knapp sind, eine deutliche Eigenbeteiligung der Versicherungsnehmer. Erfolgt dies über traditionelle Selbstbehalte in der (Original-) Police, die jeweils von den operativen Unternehmenseinheiten als Versicherte zu tragen

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sind, kann dies kleinere Einheiten in einem Konzern finanziell überfordern. Dies wird vermieden, wenn die Eigentragung stattdessen über eine Beteiligung der Captive am Originalversicherungsprogramm umgesetzt wird. Der Versicherer stellt dann weiterhin lokale (und bei Bedarf globale) Deckung mit relativ niedrigen Selbstbehalten bereit, die die operativen Unternehmensteile umfangreich schützen. So lässt sich im Originalversicherungsprogramm Stabilität der Selbstbehalte erreichen. Das ist in der Praxis von großer Wichtigkeit, da die operativen Einheiten eines Unternehmens sich nur schwer jedes Jahr auf neue Selbstbehalte einstellen können. Die wirtschaftlich gewünschte Eigentragung erfolgt dann auf Konzernebene, indem die Captive die Risiken übernimmt, die in die Eigentragung fallen sollen. Das geschieht häufig in der Form, dass die Captive entsprechende Teile des Originalversicherungsprogramms in die Rückversicherung nimmt, also als Rückversicherer des Originalversicherers agiert. Mithilfe einer solchen Rückversicherungsstruktur lässt sich dann der Eigenbehalt jährlich steuern, ohne dass dies Einfluss auf die Selbstbehalte des Originalversicherungsprogramms hat. Nicht zuletzt kann ein breit und international aufgestellter Konzern mithilfe einer Captive von Diversifizierungseffekten im eigenen Risikoportfolio profitieren. Wenn ein Industrieunternehmen die Eigentragung über verschiedene Versicherungssparten (zum Beispiel Sach- und Vermögensschäden, Haftpflicht, Cyber) ausdehnt und die Risiken geografisch und in Bezug auf die Geschäftstätigkeit breit gestreut sind, dann weist dieses Portfolio unternehmenseigener Risiken bereits eine gute Durchmischung auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer signifikanten Kumulation von Schäden in mehreren Sparten und in einer Vielzahl von Betriebseinheiten gleichzeitig kommt, ist (stochastisch betrachtet) relativ gering. Die theoretischen Grundlagen hierzu hat Harry M. Markowitz bereits in den 1950er-Jahren mit seiner „Modernen Portfoliotheorie“ aufgezeigt: Die Volatilität (das heißt die Schwankung des Ergebnisses um den Mittelwert) eines diversifizierten Portfolios aus wenig, nicht oder sogar negativ korrelierten Risiken ist niedriger als die Volatilität der Summe der Einzelrisiken.

2.6.5 Captives und Rückversicherung In der jährlichen oder quartalsweisen Finanzberichterstattung kann allerdings ein Großschadenereignis, das (mit oder ohne Captive) in die Eigentragung fällt, das Unternehmen und damit auch den Börsenkurs erheblich belasten: Der geplante (und vielleicht auch bereits an den Kapitalmarkt kommunizierte) Unternehmensgewinn wird nicht erreicht, die Liquiditätsplanung muss umgestellt und Projekte verschoben werden, um kurzfristig Mittel frei zu machen. Es entstehen Opportunitätskosten. Hier zeigt sich ein weiterer, nicht zu unterschätzender Vorteil einer Captive: Sie ermöglicht den direkten Zugang zum Rückversicherungsmarkt. Allerdings ist es wenig sinnvoll, wenn eine Captive über eine Beteiligung am Originalversicherungsprogramm zunächst Risiken in ihre Bücher nimmt, nur um sie dann wieder in praktisch unveränderter Form (auf vollumfänglinger Risikotransferbasis) auf dem

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Rückversicherungsweg an den Rückversicherungsmarkt abzugeben. In der Vergangenheit war dies durchaus gelegentlich zu beobachten, weil aufgrund unterschiedlicher Preisniveaus im Erst- und Rückversicherungsmarkt Arbitragemöglichkeiten bestanden. Die Captive konnte sich zu höheren Prämien am Originalrisiko beteiligen und dieses Risiko dann günstiger an Rückversicherer abgeben und die Preisdifferenz als risikolos verdiente Marge buchen. Derartige Arbitragemöglichkeiten sind heute weitgehend verschwunden, Erstund Rückversicherungsmärkte sind transparenter und effizienter geworden. Viel bedeutsamer ist hingegen die Möglichkeit, Rückversicherung gezielt für Kumulrisiken und Katastrophenszenarien einzukaufen, also für den (relativ) unwahrscheinlichen Fall, dass in kurzer Zeit sehr große oder eine Vielzahl von kleineren Schäden im Eigenbehalt anfallen, die die Kapitalrücklagen der Captive überfordern. Durch den Einkauf von Rückversicherungsdeckung für solche außergewöhnlichen Szenarien (man spricht dann von Exzedenten-Rückversicherung) kann die Risikotragungsfähigkeit der Captive erhöht werden bzw. können die Anforderungen an das in der Captive vorzuhaltende Eigenkapital abgesenkt werden. Die Rückversicherungsdeckung übernimmt insoweit die Funktion des Eigenkapitals der Captive. Durch eine dynamische Rückversicherungsstrategie kann die Captive ihre Zeichnungspolitik, das heißt die Höhe und Struktur der Eigentragung, sowie ihre Kapitalausstattung flexibel an ein sich verändertes Marktumfeld anpassen. Anstatt die kurzfristigen negativen Auswirkungen einer hohen Eigentragung in der Captive mittels einer risikotransfer-motivierten, klassischen Rückversicherungslösung zu reduzieren, besteht aber auch die Möglichkeit, dies durch einen mehrjährigen, strukturierten Rückversicherungsvertrag zu erreichen. Damit lassen sich die Kosten einer traditionellen Rückversicherungslösung erheblich reduzieren. Ein solcher Vertrag wirkt zunächst wie eine „traditionelle“ Rückversicherung: Die Schäden, die in den Rückversicherungsvertrag fallen, werden an den Rückversicherer abgegeben, das heißt, die Captive bucht Erstattungen aus dem Rückversicherungsvertrag. Die Gewinn-und-Verlust-Rechnung und auch das Kapital der Captive werden entsprechend entlastet. Durch die Mehrjährigkeit des Rückversicherungsvertrags, und unter der Annahme, dass sich ein derartiger Kumul- oder Großschaden in den nächsten Jahren nicht wiederholt, kann der Rückversicherer der Captive über die Zeit seinen Verlust zum größten Teil oder auch vollständig zurückverdienen. Typischerweise kommt es bei diesen Verträgen nach einem Schadenfall zu einer automatischen, das heißt bereits bei Vertragsbeginn festgelegten Erhöhung der Prämie. Selbstverständlich sind bei derartigen Verträgen strikte regulatorische Vorschriften einzuhalten, die einem Missbrauch vorbeugen sollen. In Deutschland sind derartige Verträge unter dem Stichwort „Finanzrückversicherung“ in der Finanzrückversicherungsverordnung (FinRVV) geregelt und werden von der Finanzaufsicht überwacht. Nicht jedes Industrieunternehmen hat oder möchte eine eigene Captive. Daher haben sich in einigen Industriezweigen Unternehmen zusammengefunden, um von der Industrie getragene Versicherungsgesellschaften zu gründen, oft als Versicherung auf Gegenseitigkeit (zum Beispiel in Deutschland in Form eines Vereins, des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit, VVaG). Durch die Versicherung auf Gegenseitigkeit kommt es zu einer Aggregation von Risiken, wobei das Gesetz der großen Zahl zum Tragen kommt.

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­ rsprünglich war die Versicherung auf Gegenseitigkeit als Einrichtung der „kollektiven U Eigentragung“ gedacht: Sollte im Fall unerwartet hoher Schäden das Kapital der Versicherung auf Gegenseitigkeit nicht ausreichen, so hatten die Versicherten (die gleichzeitig Mitglieder sind) Nachschüsse zu leisten, um so kollektiv das Kapital zu stärken. Im Ausland gibt es auch heute noch Versicherung auf Gegenseitigkeit, die auf dieser Basis funktioniert, beispielsweise die „P&I Clubs“ (wobei P&I für Protection and Indemnity steht), die Schiffseignern Haftpflichtdeckung ausstellen und bei Bedarf von den Mitgliedern Nachprämien erheben können. Auch in Deutschland sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, dass ein VVaG von seinen Mitgliedern Nachschüsse und Umlagen erheben kann, sofern die Satzung dies so vorsieht (§ 179 VAG). In der Praxis wird heutzutage von der Möglichkeit einer Nachschusspflicht allerdings kaum noch Gebrauch gemacht, die Versicherten eines VVaG stehen in dieser Hinsicht denen einer Versicherungs-Aktiengesellschaft gleich. Häufig entstehen von der Industrie getragene Versicherungsgesellschaften, wenn infolge einer Krise des Versicherungsmarktes Deckungskapazitäten nicht in ausreichendem Umfang verfügbar sind oder ein ganzer Industriezweig die Gesamtrisikolage (inklusive Änderungsrisiko) deutlich günstiger einschätzt als die Versicherungswirtschaft. So haben einige große Ölkonzerne im Jahr 1972 die OIL Insurance Ltd. („OCIL“) in Bermuda gegründet. Auslöser waren ein sehr schwieriges Marktumfeld und fehlende Deckungskapazitäten in der Sachversicherung infolge von zwei Großschäden, die sich in diesem Indus­ triezweig Ende der 1960er-Jahre ereignet hatten. Heute hat die Gesellschaft über 60 Mitglieder, die aus der Energiewirtschaft stammen, und versichert Sachwerte von mehr als 3 Mrd. US-Dollar.

2.6.6 Eigentragungsfähigkeit und Optimierungsprobleme Ausgangspunkt jeder Eigentragungsstrategie von Risiken sollte die Fähigkeit des eigenen Unternehmens sein, auch im Falle eines „Worst Case“ die im Eigenbehalt verbleibenden Schäden finanziell auffangen zu können, ohne den eigenen Fortbestand oder zumindest auf längere Sicht den unternehmerischen Erfolg zu gefährden. Man spricht hier von der Eigentragungsfähigkeit. Wir möchten in diesem Zusammenhang noch einmal auf unsere Ausführungen in Abschn. 2.3.1 zur „Stoppzeit“ hinweisen, die den Zeitpunkt beschreibt, zu dem stochastisch mit dem Untergang des Unternehmens aufgrund finanzieller Pro­ bleme zu rechnen ist. Für viele große, finanzstarke Unternehmen steht die Eigentragungsfähigkeit allerdings außer Zweifel, solange man Eigentragung im in der Praxis üblichen Umfang betrachtet (wir werden auf diesen Aspekt gleich noch näher eingehen). Betrachtet man die sechs größten Unternehmen im Deutschen Leitindex DAX, ergibt sich das in Tab. 2.1 dargestellte Bild (vgl. Finanzen 2020). Wenn man beispielsweise Volkswagen herausgreift und bedenkt, dass Volkswagen 2014 ein Ergebnis nach Steuern von 10,8 Mrd. € aufwies, 2015 einen Verlust von knapp unter 1,6 Mrd. €, 2016 bereits wieder einen Gewinn von knapp 5,14 Mrd. € und für 2017

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Tab. 2.1  Kennziffern der sechs größten DAX-Unternehmen. (Quelle: Finanzen 2020) Marktkapitalisierung SAP SE € 160 Mrd. Linde plc € 110 Mrd. Siemens AG € 95 Mrd. Volkswagen AG € 77 Mrd. Deutsche Telekom AG € 72 Mrd. Allianz SE € 75 Mrd.

Umsatz 2019 € 27,6 Mrd. € 25,2 Mrd. € 86,8 Mrd. € 252,6 Mrd. € 80,5 Mrd. € 109,4 Mrd.

Durchschnittliches Ergebnis nach Steuer 2015–2019 € 3,63 Mrd. $ 2,19 Mrd. € 5,55 Mrd. € 8,02 Mrd. € 3,08 Mrd. € 7,14 Mrd.

Höchstes Ergebnis 2015–2019 € 4,08 Mrd. $ 4,38 Mrd. € 6,05 Mrd. € 13,35 Mrd. € 3,87 Mrd. € 7,9 Mrd.

der Gewinn mit 11,35 Mrd. € sogar höher lag als 2014, kann man erahnen, wie groß die Eigentragungsfähigkeit eines solchen Unternehmens ist. Ein Großteil der Schwankungen im Unternehmensergebnis wurde durch die sogenannte „Diesel-Gate-Affäre“ verursacht. Diese Affäre hat Volkswagen nach eigenen Angaben bereits 28 Mrd. € gekostet. Allein die Anwaltskosten hätten sich auf einen hohen dreistelligen Millionenbetrag summiert (vgl. FAZ 2019). Für diese Unternehmen stellt sich die Frage der Eigentragung von (grundsätzlich versicherbaren) Risiken bzw. der Alternative, eines Transfers dieser Risiken an den ­Versicherungsmarkt, vielmehr in Form eines Optimierungsproblems: Wie lassen sich Eigentragung und Risikotransfer so kombinieren, dass die Gesamtkosten für das eigene Unternehmen minimiert werden? Unternehmen müssen für ihre Aktionäre risikogerechte Erträge erwirtschaften, um langfristig wachsen und eigenständig bleiben zu können. Neben regelmäßigen Dividendenzahlungen ist der Zuwachs des Unternehmenswerts, der sich bei börsennotierten Unternehmen im Aktienkurs widerspiegelt, eine entscheidende Erfolgskennzahl. Der Aktienkurs wird aber zu einem erheblichen Teil durch Erwartungen der Anleger getrieben. Ganz ausgeprägt war dies während der Zeit der sogenannten „Dot.Com-Blase“, auch als Internet-­Blase bekannt, in den späten 1990er-Jahren, einer Zeit wilder Spekulationen auf zukünftige Kursteigerungen von Aktien, die mit dem Thema Internet und neue Technologien in Verbindung gebracht wurden und nahezu unbegrenztes Wachstum und (zukünftige) Profite versprachen. Zwischen 1995 und 2000 wuchs der Nasdaq Composite Aktienmarktindex um satte 400 %. Auch in der Gegenwart gibt es Unternehmen, deren Aktien in ungeahnte Höhen geschossen sind. Die Erwartungen der Anleger werden stark durch das Management des Unternehmens beeinflusst, zum einen durch regelmäßige Gewinnprognosen, aber auch durch die Vermittlung von Finanzanalysten, die auf Basis von Hintergrundgesprächen mit dem Management und eigener Analysen Prognosen über die zukünftige Kursentwicklung abgeben. Das verlässliche Erreichen der selbst gesteckten und kommunizierten Umsatz- und Ertragsziele, von angekündigten Investitions- und Wachstumsplänen sowie der Analystenerwartungen sind für eine positive Entwicklung des Aktienkurses von zentraler Bedeutung. Dadurch stehen alle Unternehmensbereiche unter Druck, stabile Erträge zu erwirtschaften

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und quartalsweise ihre Planzahlen zu erfüllen. Die Akzeptanz von Planunterschreitungen durch „zufällige“ Ereignisse hat sowohl beim Management als auch bei den Anlegern im Laufe der Zeit stark abgenommen. Die Eigentragung von Risiken durch ein Unternehmen erhöht die Gefahr, dass es zu solchen unvorhergesehenen Planunterschreitungen kommt. Das gilt unabhängig davon, ob die Eigentragung auf Ebene der operativen Gesellschaften (in Form von Selbstbehalten) oder zentral durch eine Captive erfolgt (deren Ergebnisse üblicherweise in den konsolidierten Konzernjahresabschluss eingehen). Bei der Festlegung einer angemessenen Eigentragungsstrategie sollten daher nicht nur die unmittelbaren finanziellen Auswirkungen bestimmter Großschadenszenarien betrachtet werden, sondern auch mittelbare Auswirkungen auf das weitere Unternehmen, zum Beispiel im Hinblick auf anderweitig geplante Investitionen (die möglicherweise verschoben werden müssen), und auf die allgemeine Wahrnehmung des Unternehmens aus Sicht der eigenen Aktionäre und der Kapitalmärkte. Diese mittelbaren Auswirkungen können den direkten finanziellen Schaden eines Großschadenereignisses deutlich verstärken und sogar übertreffen. Wir wollen uns bei unseren Überlegungen zu einer optimierten Eigentragungsstrategie aber nicht auf die Perspektive des Unternehmens bzw. seiner Aktionäre beschränken. Es stellt sich auch die Frage, in welchem Umfang Eigentragung durch Versicherungsnehmer aus Sicht der Versicherungswirtschaft bzw. der Volkswirtschaft sinnvoll ist. Insbesondere in Bezug auf diese großen Konzerne stellt sich die Frage, ob die (Rück-) Versicherungswirtschaft ihrer volkswirtschaftlichen Aufgabe überhaupt noch gerecht werden kann. Durch die Globalisierung der Weltwirtschaft sind viele Unternehmen deutlich stärker gewachsen als die (Rück-)Versicherungsindustrie. Wie aus Tab. 2.1 zu entnehmen ist, gibt es im DAX vier Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung, die über die Marktkapitalisierung des größten im DAX vertretenen Versicherungsunternehmens (der Allianz) liegt. Es gab 2023 weltweit 149 börsennotierte Unternehmen mit einer höheren Marktkapitalisierung als die der Allianz, das größte US-Unternehmen hat dabei sogar eine 18-mal höhere Marktkapitalisierung. In diesem Zusammenhang ist eine weitere globale Entwicklung zu berücksichtigen: Durch die digitale Transformation unserer Gesellschaft bewegen wir uns weg von überwiegend produktionsgetriebenen Unternehmen, hin zu Unternehmen, deren Geschäftsmodell in der Bereitstellung und dem Betrieb von digitalen Handelsund Kommunikationsplattformen besteht. Diese Unternehmen haben aber vergleichsweise wenig Sachanlagevermögen, das es gegen eine Zerstörung infolge von Feuer und Naturgefahren zu schützen gilt. Sie haben in zunehmendem Ausmaß immaterielle Vermögensgegenstände in den Bilanzen. Als Beispiel seien hier Kennzahlen (Umsatz und Bilanz-­ Vermögenswerte) der fünf größten US-Unternehmen (nach Marktkapitalisierung) im Jahr 2021 genannt: Amazon (Umsatz 470  Mrd. US-Dollar, Assets 420  Mrd. US-Dollar), Microsoft (Umsatz 168  Mrd. US-Dollar, Assets 334  Mrd. US-Dollar), Facebook/Meta (Umsatz 118  Mrd. US-Dollar, Assets 166  Mrd. US-Dollar), Apple (Umsatz 366  Mrd. US-Dollar, Assets 351 Mrd. US-Dollar) und Alphabet (Umsatz 258 Mrd. US-Dollar, Assets 360 Mrd. US-Dollar) (jeweils Tradingview.com/Financials). Auch wenn die Versicherungsindustrie weiterhin in der Lage ist, ausreichend Deckungskapazitäten für diese Un-

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ternehmen bereitzustellen, drängt sich die Frage auf, inwieweit das Instrument Versicherung für solche Unternehmen überhaupt noch relevant ist bzw. sein sollte. Eigentragung über eine Captive dürfte hier die bessere Lösung sein. Blickt man auf den Rückversicherungsmarkt, ergeben sich interessante Parallelen. Die Rückversicherung wird vereinfacht auch als Versicherung von und für Versicherungsgesellschaften dargestellt. Die wichtigsten Kunden der Rückversicherer sind die großen, weltweit tätigen Versicherungsunternehmen. Diese Versicherungsunternehmungen haben alle klein und regional angefangen und sind, vor allem im Zuge der Globalisierung, gewachsen und haben ihr Geschäft internationalisiert. Wenn eine Versicherungsgesellschaft nur regional tätig ist, ist ihr Versicherungsbestand stark und einseitig regionalen Ereignissen ausgesetzt, wie zum Beispiel Naturkatastrophen. Dadurch ergeben sich für regional tätige Gesellschaften systemische Risiken, die die Gesellschaft im Rahmen ihrer regionalen Tätigkeit selbst nicht diversifizieren kann. Ohne ausreichenden Rückversicherungsschutz wäre die Gesellschaft aus versicherungswirtschaftlicher Perspektive grundsätzlich nicht in der Lage, solche Risiken zu übernehmen. Ein nur regional ausgerichteter Bestand an Einzelrisiken ist im Hinblick auf bestimmte regionale Großereignisse, wie beispielsweise Hochwasser und Überschwemmungen, nicht ausreichend diversifiziert, zu viele Einzelrisiken können durch ein solches, regionales Ereignis beeinträchtigt werden. Das Grundprinzip der Versicherung, die Risikostreuung nach dem Gesetz der großen Zahl, greift in diesen Fällen nicht mehr. Dennoch sind auch regional tätige Versicherungsgesellschaften in der Lage, Versicherungsschutz gegen derartige Naturgefahren zu gewähren. Dazu brauchen sie aber die Unterstützung einer Rückversicherungsgesellschaft, die ihrerseits überregional (und in vielen Fällen sogar global) tätig ist und in deren ungleich größerem Bestand das Gesetz der großen Zahl, auf überregionaler bzw. globaler Ebene, wieder zum Tragen kommt. Viele global aufgestellte Versicherungsgesellschaften verfügen, ähnlich wie global tätige Industrieunternehmen, in ihren eigenen Beständen bereits über eine gewisse Diversifizierung der Bestände. Sie können ihre Landes- und Regionalgesellschaften im Rahmen einer unternehmenseigenen Rückversicherungsgesellschaft, zumindest in gewissem Umfang, gegen solche Gefahren absichern und sind daher zunehmend weniger auf externen Rückversicherungsschutz angewiesen.

2.7 Fazit Der Trend zur Globalisierung ist in vielen Wirtschaftsbranchen auszumachen. Dabei muss festgestellt werden, dass heute viele globale, finanzstarke Unternehmen durchaus in der Lage wären, die Eigentragung deutlich auszuweiten, auch weil ihre Risikoportfolios aufgrund ihrer globalen Tätigkeit bereits eine gewisse interne Diversifikation aufweisen. Ein Transfer dieser Risiken ist nur dann sinnvoll, wenn die Versicherungsindustrie in der Lage ist, Deckung zu Kosten anzubieten, die aus betriebswirtschaftlicher Perspektive unter den mit diesen Risiken verbundenen Eigenkapitalkosten eines Industrieunternehmens liegen. Dabei ist zu beachten, dass Unternehmen unterschiedlich hohe Eigenkapitalkosten und

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Profitabilitätsanforderungen haben. Beispielsweise sind bei den großen, wachstumsstarken Technologiekonzernen hohe Profitmargen und Wachstumserwartungen bereits in den Kursen eingepreist. Ein Anleger, der heute Aktien eines solchen Unternehmens kauft, zahlt dafür einen Aufpreis in Form eines hohen Aktienkurses. Entsprechend hoch sind die Rendite- und Profitabilitätserwartungen. Setzt ein solch hoch bewertetes Technologieunternehmen nun sein Kapital ein, um Sachgefahren (wie Feuer oder Sturm) in die Eigendeckung zu nehmen, statt in die Entwicklung neuer Algorithmen, Batterietechnologien oder Mobiltelefone zu investieren, wird die Gesamtprofitabilität des Unternehmens vermutlich absinken und Unternehmenswert vernichtet werden. Das gilt vor allem dann, wenn Versicherungsschutz in einem „weichen Markt“ zu sehr niedrigen Prämien eingekauft werden kann und die Profitmargen der Versicherer sehr dünn oder sogar negativ sind. Nicht zuletzt durch den Einfluss und die Auswirkungen von „Solvency II“ sind in letzter Zeit aber deutliche Preissteigerungen und Kapazitätsreduktionen im Versicherungsmarkt festzustellen, wie sie kennzeichnend für einen „harten Markt“ sind. Es ist zu beobachten, dass gerade finanzstarke Industrieunternehmen in einer solchen Situation einen opportunistischen Ansatz fahren und ihre Eigentragungsstrategie an das veränderte Marktumfeld anpassen. Es ist daher zu erwarten, dass die Eigentragung deutlich an Bedeutung gewinnen wird. Ob sich der Trend zur höheren Eigentragung wieder umkehren wird, wenn das Prämienniveau in Zukunft wieder zurückkehrt und der Markt in die nächste „weiche“ Phase tritt, kann bezweifelt werden. Beim Kauf von konventionellem Versicherungsschutz fallen neben den eigentlichen Kosten für den Risikotransfer noch weitere Kosten an, wie beispielsweise die Verwaltungskosten des Versicherers, die in die Prämie mit eingehen und vom Käufer zu tragen sind. Auch weist nicht jedes Unternehmen die Profitabilität eines Technologiekonzerns auf, sodass eine „Investition“ in die Eigentragung von Versicherungsrisiken auch unter Kapitalkostengesichtspunkten sinnvoll sein kann. Sind die mit einer höheren Eigentragung verbundenen Anpassungen in den Unternehmen erst einmal erfolgt und die nötigen Strukturen, die eine signifikante Eigentragung ermöglichen (wie zum Beispiel eine Captive), erst einmal geschaffen worden, werden viele Industrieunternehmen erst wieder von der Eigentragung Abstand nehmen, wenn das Prämienniveau so tief gefallen ist, dass die Versicherer besser beraten wären, auf weiteres Geschäft zu diesen Prämiensätzen zu verzichten.

Literatur Asbestos 2021, https://en.wikipedia.org/wiki/Asbestos_and_the_law, Wikipedia, Zugriff am 10.06.2021 BaFin 2020, Statistik der BaFin – Erstversicherungsunternehmen 2020 Tabellenteil, https://www. bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistik/Erstversicherer/dl_st_20_erstvu_gesamttabelle_ va.xlsx?__blob=publicationFile&v=2, Zugriff am 27.06.2022. BaFin 2020, Statistik der BaFin  – Erstversicherungsunternehmen 2020  – Ergänzende statistische Daten, https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistik/Erstversicherer/I_gesamtentwicklung_va.xlsx?__blob=publicationFile&v=2, Zugriff am 27.06.2022.

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Rob Makelaar  ist Niederländer. Er studierte Jura mit Schwerpunkten Privat- und Internationales Recht an der Freien Universität von Amsterdam. Direkt daran anschließend hat er 1988 seine Karriere in der (Rück-)Versicherungsindustrie angefangen und zwar in der Luftfahrtabteilung der Swiss Re. 1998 ist er in die New Markets Division der Swiss Re gewechselt, um sich auf Finanz(Rück) versicherungsgeschäft („Financial Solutions“) zu spezialisieren. Seit 2000 arbeitet er bei der Allianz Risk Transfer AG, eine ursprünglich auf alternativen Risikotransfer spezialisierte Tochtergesellschaft der Allianz Global Corporate & Specialty AG. Als Vorstandsmitglied der Allianz Risk Transfer AG zeichnet er verantwortlich für das strukturierte, alternative Risikotransfergeschäft inklusive besichertem Rückversicherung- und Katastrophenanleihengeschäft. Dr. Peter Reichard  ist gebürtiger Bayer. Er hat an der Universität in München Jura studiert und promoviert. Er arbeitet seit 2007 ebenfalls bei der Allianz Risk Transfer AG. Bevor er zu der Allianz Risk Transfer AG kam, war er bereits zehn Jahre in verschiedenen Bereichen der Allianz Gruppe tätig, unter anderem in den Bereichen Alternative Investments, Group Legal, Group Strategic Development sowie beim Fireman’s Fund in den USA.  Er leitet das Team, das für alle juristischen Angelegenheiten im Zusammenhang mit alternativem Risikotransfer zuständig ist.

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Industrieversicherung Christopher Lohmann und Edgar Puls

Inhaltsverzeichnis 3.1  E  inleitung  3.2  I ndustrieversicherung und Industrieversicherer  3.2.1  Was ist Industrie, was Industrieversicherung?  3.2.2  Industrieversicherung in Deutschland: Versicherer  3.2.3  Industrieversicherung in Deutschland: Intermediäre  3.2.4  Industrieversicherung in Deutschland: Kunden  3.2.5  Märkte und Preise  3.3  Rolle und Funktion von Industrieversicherung  3.3.1  Relevanz der Industrieversicherung für die Wirtschaft  3.3.2  Versicherung im Risikomanagement von Industrieunternehmen  3.4  Risikosteuerung von Industrieversicherern  3.4.1  Beschaffung von Risikoinformationen  3.4.2  Risikobewertung  3.4.3  Risikoteilung/Risikotransfer 

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Mit freundlicher Genehmigung von Pauline Gewand und Stefan Sowietzki baut der Beitrag auf einem früheren Beitrag zum Thema Industrieversicherer im Marktumfeld der Industrieversicherung auf. C. Lohmann (*) HDI Deutschland, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Puls HDI Global SE, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_3

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C. Lohmann und E. Puls

3.5  R  isikolandschaft von Industriekunden im Wandel – Implikationen für die Industrieversicherung  3.5.1  Globalisierung und internationale Versicherungsprogramme  3.5.2  Digitalisierung und Vernetzung  3.5.3  Cyberrisiken und -versicherung  3.6  Fazit  Literatur 

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Zusammenfassung

Unternehmen und ihre Risiken befinden sich in ständigem Wandel. Industrieversicherung und eine breit angelegte Zusammenarbeit mit Industrieversicherern sind für Unternehmen Teil ihres Risikomanagements und von essenzieller Bedeutung. Zusätzlich zur sich verändernden Umwelt, etwa der Zunahme von Naturkatastrophen infolge des Klimawandels, verändern sich die Risiken der Unternehmen selbst. Neben der zunehmenden Verletzlichkeit gegenüber Datenverlusten oder Cyberattacken führen etwa der seit Jahrzehnten stattfindende Abbau von Redundanzen in der Produktion, die Erhöhung der Wertkonzentration sowie der Wertschöpfungsdichte und auch die weltweite Abhängigkeit von Lieferketten zu einem deutlich gestiegenen Schadenpotenzial. Konsequentes Monitoring und Managen dieser Risiken ist ebenso wichtig wie der Transfer von Risiken im Rahmen von Versicherungslösungen. Das sich verändernde Umfeld führt zu einem deutlichen Anstieg der Großschadenhöhen. Dies fordert Versicherer bei der Entwicklung innovativer Versicherungslösungen und der risikoadäquaten Kalkulation von Prämien und zieht höhere Anforderungen an das Risikomanagement aufseiten der Versicherungsnehmer nach sich. Die Logik „Meine Schadenquote der letzten fünf oder zehn Jahre liegt doch nur bei zehn Prozent, da muss die Prämie doch sinken“ ist nicht mehr anwendbar. Im Zusammenschluss können und sollten gemeinsame Datennutzung sowie der Austausch von Risikoinformationen Beschleuniger der Indus­ trieversicherungsbranche werden. Gleichzeitig fordern die Veränderungen neue und innovative Risikomanagement- und Versicherungsansätze zur Erhaltung der Sicherheit für die deutsche Industrie, um Globalisierung, Vernetzung und die Risiken des Internets aktiv und erfolgreich zu managen.

3.1 Einleitung Die Versicherung industrieller Risiken ist ein wichtiger Teil des ganzheitlichen Risikomanagements von Unternehmen. Mit dem Abschluss von Versicherungen transferieren Unternehmen Risiken von der eigenen Bilanz auf die Bilanz eines Dritten, dem Versicherer. Dieser Transfer ermöglicht, dass sich Unternehmen auf die erfolgreiche Bewältigung unternehmerischer Herausforderungen fokussieren können, er glättet Erträge und schafft Planungssicherheit. Damit trägt die Versicherung industrieller Risiken wesentlich zur Ent-

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wicklung neuer Geschäftsmodelle und letztlich zu Innovation bei. Oft wird die Frage gestellt, ob Versicherer denn wirklich innovativ sind. Es ist vermutlich weniger zielführend, wenn sich ein Versicherer „ins stille Kämmerlein“ setzt und Deckungskonzepte für Probleme entwickelt, die ein Kunde möglicherweise haben könnte. Vielmehr hat sich der kontinuierliche Risikodialog mit Kunden aller Branchen bewährt. Hier kommen neue Produkte und Technologien zur Sprache, deren Risiken und möglicherweise zusätzlicher Versicherungsbedarf geklärt werden können. Meist erfolgt dies durch Technologieexperten aus den jeweiligen Häusern um mögliche betriebswirtschaftliche Risiken abzuschätzen. Darauf aufbauend können gemeinsam mit dem einzelnen Kunden oder den Branchenverbänden Lösungen entwickelt werden. Beispielhaft zu nennen sind in den vergangenen Jahrzehnten die Windenergie für die Unterstützung der Energiewende, Wafer- und Halbleitertechnologien, automatisierte Prozessteuerungen bis hin zur Versicherung von Data-­ Driven-­Technologies wie IoT, Big Data, Cloudlösungen etc. Die Cyberversicherung ist nur ein sich hieraus ergebendes Produkt (vgl. Adchayan 2021). Bleibt noch die Frage, wie ein Versicherer Risiken beurteilt und schlussendlich Kapazität und Preis bestimmt. Im Gegensatz zu beispielsweise aktuell in Deutschland rund 59 Mio. zugelassenen und damit zumindest haftpflichtversicherten Kraftfahrzeugen (vgl. KBA 2021), ist die Anzahl „gleicher“ Risiken in der Industrieversicherung überschaubar. Aufgrund dieser Individualität und darüber hinaus der Komplexität der versicherten Unternehmen und ihrer Risiken sind auch deren Versicherungen in hohem Maße individuell. Das Angebot an speziellen, individualisierten Produkten und Dienstleistungen ist charakteristisch für das Produkt Industrieversicherung – Industrieversicherer sollten ihrem Anspruch gerecht werden, Unternehmen in allen Dimensionen ihrer Tätigkeit zur Seite zu stehen. Die (zunehmende) Relevanz von Industrieversicherung für Unternehmen und in der Folge für die Gesamtwirtschaft wird beispielhaft durch einige vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) veröffentlichte Schadenzahlen der Industrieversicherung deutlich. Obwohl Industrieversicherer das Ziel verfolgen, gemeinsam mit ihren Kunden Schäden zu vermeiden (Prävention), wachsen die von Industrieversicherern für deutsche Risiken getätigten Schadenzahlungen stetig. Wurden im Jahr 2010 Schäden in Höhe von 1,96  Mrd.  € reguliert, belaufen sich die Schadenzahlungen der deutschen Industrieversicherer in der industriellen Sachversicherung im Jahr 2018 insgesamt auf knapp 3,1 Mrd. € (vgl. GDV 2021). In den Jahren 2013 bis 2019 führte dies zu einer kombinierten Schaden-Kosten-Quote der Versicherer rein für das direkte inländische Geschäft von rund 114 %; das heißt, für jeden Euro Beitragseinnahme haben die Industrieversicherer in diesen sieben Jahren 1,14 € für Schäden und Kosten ausgegeben. Die Industrieversicherung war in diesen Jahren unprofitabel, und diese Zahlen spiegeln nur das in Deutschland belegene Geschäft wider, also zum Beispiel nicht im Rahmen von internationalen Programmen im Ausland versicherte Schäden. So sind u.a. die extremen Naturgefahrenschäden, hervorgerufen durch die US-Hurrikans 2017, nicht in den Zahlen enthalten. Die Steigerung der Schadenzahlungen spiegelt den bereits angesprochenen Trend zu größeren Schäden einer global immer stärker vernetzten, spezialisierten, hoch verdichte-

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ten und stark wachsenden Wirtschaftswelt wider. Die zehn größten Schäden der industriellen, gewerblichen und landwirtschaftlichen Sachversicherung seit 1962 beinhalten sechs Schäden, die nach dem Jahr 2010 eingetreten sind. Die geleisteten Schadenzahlungen dieser sechs Schäden lagen zwischen 312–437 Mio. € (vgl. GDV o.D.). Neben den Trends in den durch vom Menschen oder durch Technik verursachten Schäden, wie Brände, Haftpflichtschäden, Betriebsunterbrechungsschäden, spielen Naturkatastrophen eine immer größere Rolle. Das Trio der Hurrikans „Harvey“, „Irma“ und „Maria“ hat die Hurrikan-Saison 2017 zur bisher teuersten aller Zeiten gemacht. Die Gesamtschäden beliefen sich auf etwa 215 Mrd. US-Dollar. Schätzungen zufolge dürften die versicherten Schäden in der Größenordnung von 100 Mrd. US-Dollar liegen (vgl. Faust und Bove 2017). So wird der versicherte Marktschaden des Wintersturms „Uri“, der Anfang 2021 im Süden der USA für Schneechaos, eine Kältewelle und damit erhebliche Schäden sorgte, auf 15 bis 20 Mrd. € geschätzt – der im Herbst 2021 wütende Hurrikan „Ida“ sogar auf bis zu 36 Mrd. € (vgl. Munich Re 2022; Swiss Re 2021). Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die Branche der Industrieversicherung sowie deren Besonderheiten. Der Beitrag ist in vier Teile untergliedert. Im ersten Teil wird in die Thematik eingeführt. Nach einer Definition und Abgrenzung der Industrieversicherung sowie einem Überblick über Markt und Kunden wird die Rolle von Industrieversicherern im Risikomanagement der Unternehmenskunden thematisiert. Insbesondere wird hierbei auf die Relevanz der Industrieversicherung für die Wirtschaft eingegangen sowie Versicherung als Teil des Risikomanagements im Industrieunternehmen herausgearbeitet. Gleichermaßen relevant ist der dritte Teil, die Risikosteuerung der Industrieversicherer selbst. Mit aktuellen Veränderungen in der Industrie ändern sich deren Risiken. Die sich hieraus ergebenden zukünftigen Anforderungen für die Industrieversicherer sind immens. Drei dieser Entwicklungen werden im letzten Teil dieses Beitrags dargestellt. Eingegangen wird dabei auf die Megatrends Globalisierung und Digitalisierung sowie die Cyberversicherung als eine moderne Antwort darauf.

3.2 Industrieversicherung und Industrieversicherer Versicherungsunternehmen differenzieren bei der Entwicklung von Angeboten in der Regel nach zwei Zielgruppen: Privatpersonen und Unternehmen. Während (vereinfacht) die Versicherung von Privatkunden auf den Risikoausgleich in großen Kollektiven sowie auf die Erzielung von Skaleneffekten fokussiert ist, etwa durch standardisierte (wenn auch zunehmend modulare) Produktangebote und automatisierte Verarbeitungsprozesse, ist die Versicherung von insbesondere großen Unternehmen durch individuelle, maßgeschneiderte Risikoabsicherungsprodukte und komplexe Prozessabläufe charakterisiert. Diese Unterscheidung gilt umso stärker, je größer die versicherten Unternehmen sind: Während die Versicherung von kleinen Gewerberisiken zunehmend den Logiken des Marktes für Privatkunden (Retailmarkt) folgt, ist die Versicherung großer industrieller und spezieller Risiken noch heute in großen Teilen „Manufaktur“.

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Das Underwriting in der Industrieversicherung, also die risikotechnische Bewertung „zeichnet man ein Risiko“ und zu welchem Preis zeichnet man das Risiko, ist nur begrenzt durch einen „Tarif“ abdeckbar. Die Underwriter müssen das einzelne Risiko verstehen und insbesondere Trends antizipieren, um Entwicklungen in den Industrien zu berücksichtigen. Das Grundprinzip der Versicherung, Risiken über das Kollektiv und/oder Zeit zu strecken, ist begrenzt anwendbar. Es besteht immer weniger Bereitschaft, „für die Risiken anderer“ zu bezahlen, sondern auch in der Industrieversicherung wird das Risiko immer mehr individuell bewertet. Einleuchtend erscheint beispielsweise, dass kein Unternehmen für das zunehmende Risiko der Zerstörung durch Hurrikans in den Südstaaten der USA zahlen möchte, das dort keinen Standort hat. Zwischen den in der Risikozone der Hurri­ kans liegenden Risiken wird die Prämie für die erhöhte Exposition aber aufgeteilt. Andererseits benötigt ein mittelständisches Unternehmen, welches beispielsweise 100.000 € Prämie für eine Feuerversicherung bezahlt, für die „Rückzahlung“ eines 150 Mio. € Schadens ohne Inflation, Kosten und jedwede kleinere Schäden 1500 Jahre. Ein Ausgleich über das Kollektiv muss also insbesondere bei kleineren und mittleren Unternehmen erfolgen. Die individuelle Risikoexponierung wird hier über die Prämienhöhe berücksichtigt. Bei Großunternehmen und Konzernen kann die Versicherung eine Bilanz-glättende Funktion einnehmen und somit einen Risikoausgleich über die Zeit darstellen. Der Zeitfaktor liegt hier nicht im Bereich von 1000 Jahren, sondern eher von Jahren/Jahrzehnten. Annähern ließe sich eine Definition von „Industrieversicherung“ also über das Risikokollektiv und sein Schadenverhalten. Die Schadenfrequenz ist geringer als im Privatkundengeschäft, das Schadenausmaß dafür in der Regel erheblich größer. Industrieversicherer müssen also, anders als Versicherer im Privatkundensegment, finanziell in der Lage sein, potenziell hohe Einzel-Schadenaufwendungen decken und bilanziell verarbeiten zu können. Demzufolge ist das versicherungstechnische Ergebnis in der Regel volatiler. Zudem werden Industrierisiken oft nicht nur von einzelnen Versicherungen, sondern von Kollektiven (Beteiligung, Rückversicherung) getragen und geteilt. Die Organisation solcher Kollektive oder von Instrumenten alternativen Risikotransfers setzt wiederum spezifische Kompetenzen voraus und kann damit als Abgrenzungskriterium herangezogen werden. Die mit der Digitalisierung einhergehenden Möglichkeiten der Automatisierung oder der Nutzung von Daten verschieben diese Grenze laufend. Trotzdem gilt weiter, dass sich mit den Geschäftsmodellen auch die Organisationsstrukturen der Risikoträger von Industrierisiken (Expertenorganisation) von denen des Privatkundensegments (Prozessorganisation) unterscheiden.

3.2.1 Was ist Industrie, was Industrieversicherung? Bei der Absicherung betrieblicher Risiken von Unternehmen wird in der Regel zwischen Gewerbe- und Industrieversicherung unterschieden. Letztere bezieht sich grundsätzlich auf die Absicherung von größeren, oft global operierenden Industrieunternehmen und deren Risiken. Eine klare, einheitliche Definition von Industrieunternehmen und damit von

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Industrieversicherung existiert dabei nicht; sie scheint vor dem Hintergrund der Komplexität, Spezifika und Unterschiedlichkeit der Risiken und ihrer Versicherung auch kaum möglich. Damit muss der Gegenstand dessen, was in diesem Beitrag analysiert werden soll, vage bleiben. Was versteht man unter Industrieversicherung? Erster Ansatzpunkt ist der Blick in die gesetzlichen Grundlagen. Denn jenseits der von Versicherungsunternehmen selbst festgelegten Kriterien werden Großrisiken auch gesetzlich definiert, konkret im §  210 Abs.  2 Nr.  3 VVG.  Unternehmen gelten demnach als „Großrisiken“, wenn mindestens zwei der nachstehenden Kriterien erfüllt sind: • Bilanzsumme größer als 6,2 Mio. €; • Nettoumsatzerlöse größer als 12,8 Mio. €; • Durchschnittliche Arbeitnehmeranzahl von mindestens 250 pro Wirtschaftsjahr. Die hier herangezogenen Schwellenwerte scheinen allerdings für ein Verständnis von „Industrie“ bzw. „Industrieversicherung“ niedrig und dürften angesichts moderner technischer Möglichkeiten, Risiken automatisiert zu analysieren und zu versichern, in vielen Häusern eher als Gewerbe-, allenfalls als Firmen-, kaum aber als Industrierisiken verstanden werden. Hintergrund dieser Abgrenzung ist eher die Vertragsfreiheit. Unternehmen, die oberhalb der Grenzen liegen, traut man zu, sich selber um die Inhalte des Deckungsumfangs der Versicherungen zu kümmern, also weniger tarifnahe „Standard-Produkte“ zu verwenden. „Industrieversicherer“ wären nach diesem Verständnis also Risikoträger, die Risiken der so definierten Unternehmensgruppe mit Großrisiken gegen die Zahlung einer Versicherungsprämie übernehmen. Da sich Unternehmen gleicher Größe aber in ihren Risikoprofilen signifikant unterscheiden können, sind derlei Kriterien allenfalls als grobe Hilfsgrößen oder Proxy zu verstehen, Risiken nach ihrer Komplexität und den notwendigen Geschäftsmodellen zu differenzieren. Im Gewerbebereich lassen sich noch eher Betriebsarten zu Kunden gleichartiger Risiken zusammenfassen, also zum Beispiel Friseure, Bäckereien, Reisebüros, kleine Ladenlokale. Hier reicht der erforderliche Versicherungsschutz von der Absicherung gegen Einbruch, Brand und einem potenziellen Haftpflichtschaden und ist im Deckungskonzept wie dem Preis vergleichbarer. Individuelle Schutzmaßnahmen wie beispielsweise besondere Maßnahmen des Einbruchschutzes können anhand tarifähnlicher Merkmale berücksichtigt werden. Im Industrieversicherungsbereich ist das nicht möglich, eine Segmentierung nach Betriebsarten ist nicht zielführend, da es entweder zu wenig gleichartige Risiken gibt bzw. sich selbst Risiken gleicher Betriebsart aufgrund ihrer Spezifika zu stark unterscheiden. Ein Chemiebetrieb zur Herstellung von Flüssigseifen ist nicht mit einer Raffinerie vergleichbar. Zielführender scheint, an den Spezifika des zu transferierenden Risikos sowie der nachgefragten Versicherungslösung und -dienstleistung anzusetzen. Dahinter steht die Überlegung, dass aufgrund der für Industrierisiken kennzeichnenden Individualität der Risiken

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Eigenschadenversicherung

• Industrielle Sach-Vers. • Technische Vers. • Gruppenunfallvers.

Drittschadenversicherung

• KraftfahrtFlottenvers. • Transportvers. • Luftfahrtvers. • Multi-Risk-Vers.

• Industrielle Haftpflichtvers. • Professional Lines

Abb. 3.1  Versicherungszweige/-sparten der Industrie. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Lohmann et al. 2020, S. 331)

seitens der Industrieversicherer besondere Expertise erforderlich ist. In den Fachbereichen von Industrieversicherern wird daher ein hoher Spezialisierungsgrad benötigt, und es sind in der Regel zusätzliche Funktionen wie Underwriting oder Risk Management eingebunden, bevor ein Risikotransfer überhaupt möglich wird. In der Industrieversicherung teilt man die Risiken daher nach „Sparten“ oder international „lines of business“ ein. Industrieversicherung wird dabei vereinfacht oft in die Bereiche der Eigenschadenversicherungen, der Drittschadenversicherungen sowie jene Deckungskonzepte gegliedert, die sowohl Eigenschaden- als auch Drittschadenkomponenten aufweisen. Den drei Bereichen sind die großen Industrieversicherungssparten gemäß Abb. 3.1 zuzuordnen. Ihnen gehören wiederum diverse unterschiedliche einzelne Versicherungslösungen an. Die klassische Drittschadenversicherung ist die industrielle Haftpflichtversicherung, die einen Kunden gegen den Anspruch eines Dritten schützen soll. Bringt beispielsweise ein Unternehmen ein Produkt in Verkehr, durch das ein Dritter geschädigt wird, so haftet das Unternehmen schuldensunabhängig für den Schaden. Die industrielle Haftpflichtversicherung kann aber auch Umwelthaftpflicht, Pharmahaftpflicht, Umweltschadenhaftpflicht oder auch Vermögensschadenhaftpflicht umfassen. Die Art der Versicherung eignet sich hier sicherlich besser zur Spezialisierung bzw. Kategorisierung als die Betriebsart des Versicherungsnehmers. Im Bereich der Eigenschadenversicherung kann man zum Beispiel zwischen der industriellen Feuerversicherung, Transportversicherung oder der technischen Versicherung unterscheiden. In der Feuerversicherung werden die Risiken eines Brandes und einer Explosion beim Versicherungsnehmer selbst abgesichert. Hier bedarf es also der Einschätzung, wie ­wahrscheinlich der Eintritt eines Ereignisses ist und wie hoch dann ein „normales“ und ein „worst case“-Szenario ausfallen. Neben den reinen Sachwerten wie Gebäude, technische Betriebseinrichtungen und Vorräte ist meist auch der Schaden durch die Betriebsunterbre-

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chung mitversichert. Hierzu zählt im Allgemeinen neben dem Ersatz der weiterhin laufenden Kosten wie Finanzierungen, Löhne und Gehälter auch der entgangene Gewinn. Die Praxis zeigt, dass der Wiederaufbau nach größeren Brand- und Explosionsschäden oftmals mehrere Monate bis zu Jahren dauert, insbesondere wenn individuell angefertigte oder modifizierte Produktionsanlagen oder Maschinen zum Einsatz kommen. In der Transportversicherung beschäftigen sich Spezialisten mit allen Risiken, die an „bewegten Sachwerten“ einen Schaden verursachen können. Dies gilt nicht nur für das Transportgut eines verunfallten LKWs oder eines havarierten Frachters, sondern beispielsweise auch für Feuchtigkeitsschäden an Maschinen aufgrund von Taupunktunterschreitungen oder dem Verderb von Lebensmitteln aufgrund nicht sachgerechten Transportes. In der technischen Versicherung werden neben dem klassischen „Maschinenbruch“ beispielsweise auch Projektrisiken bei Brückenbauten, Tunnelbohrungen etc. versichert. Ergänzend wird gerne der Grad der Internationalität in der Ausrichtung von Unternehmenskunden als Kriterium zur Differenzierung von Unternehmensversicherungen herangezogen: Global agierende Unternehmen fragen Versicherungsschutz rund um den Globus und daraus folgend die Administration von internationalen Versicherungsprogrammen nach, die neben einer Masterpolice im Heimatland lokale Policen und Deckungskonzepte in vielen Ländern ganz unterschiedlicher Jurisdiktion erforderlich macht. Internationalität von Versicherungsprogrammen gilt aufgrund der daraus folgenden Komplexität daher oft als kennzeichnend für Industrieversicherung. Wie auch immer die Zielgruppe abgegrenzt wird, eines dürfen wir hier vereinfachend annehmen: Die Nachfrager von Industrieversicherungsprodukten gehören der klassischen Fertigungsindustrie ebenso wie Handels- und Dienstleistungsunternehmen an (vgl. Brühwiler 1994, S.  9  f.). In diesem Beitrag verstehen wir alle diese Unternehmen als „Indus­trieunternehmen“.

3.2.2 Industrieversicherung in Deutschland: Versicherer Der Anteil der Industrieversicherer am Gesamtversicherungsmarkt ist, gemessen an Umsatz und Prämie, verhältnismäßig klein. Er kann nur in Ansätzen beziffert werden, da die Abgrenzung der Segmente des Versicherungsgeschäfts mit Unternehmenskunden, wie erläutert, schwer zu bestimmen ist und Industrieversicherer unterschiedliche Grenzen setzen. Industrieversicherung ist, wie skizziert, ein globales Geschäft, da die zu versichernden Unternehmen in der Regel Risiken in vielen Ländern absichern müssen und hohe Kapazitäten benötigen. Aufgrund der Bedeutung Deutschlands als Industrie- und Dienstleistungsstandort ist die Versicherung von Industrierisiken in Deutschland volumenstark und insofern attraktiv für Versicherer aus aller Welt. Stark vereinfacht lässt sich der Markt unterteilen in global tätige Versicherungsunternehmen, deren Muttergesellschaft in Deutschland sitzt, global tätige ausländische Versicherungsgruppen, die in Deutschland eine Niederlassung oder Tochtergesellschaft unterhalten (oft auch Spezialversicherer), sowie kleinere deutsche Versicherer, die als Teil globaler Netzwerke Versicherungsschutz anbieten.

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Zur skizzierten ersten Gruppe gehört die Allianz Global Corporate & Specialty SE (AGCS), der international tätige Industrieversicherer der Allianz Gruppe. Wie die Muttergesellschaft Allianz SE hat die AGCS ihren Sitz in München. Sie selbst agiert weltweit in aktuell rd. 70, durch das Netzwerk der Allianz Gruppe sogar in mehr als 200 Ländern (vgl. Allianz 2023). Auch im deutschen Talanx-Konzern existiert mit der HDI Global SE eine eigene Versicherungsgesellschaft für das Industriegeschäft. Die Gesellschaft ist mit 39 löschen:eigenen Niederlassungen bzw. Gesellschaften sowie mittels Netzwerkpartnern in mehr als 170 Ländern weltweit vertreten. Der Hauptsitz der HDI Global SE ist Hannover (vgl. HDI Global 2023; HDI Global 2023a). Zur Gruppe der in Deutschland tätigen Industrieversicherer aus aller Welt zählt die AXA XL, eine Tochtergesellschaft des französischen Versicherungskonzerns AXA SA (vgl. AXA 2023). Sie ist innerhalb des AXA Konzerns für die weltweite Zeichnung von Industrierisiken verantwortlich, somit auch in Deutschland. Die zugehörige deutsche Gesellschaft der AXA XL Germany hat ihren Sitz in Köln und ist Teil des internationalen Netzwerks von AXA XL und AXA Gruppe (vgl. AXA XL 2023). Weitere wichtige (und ähnliche) Beispiele für die Gruppe der ausländischen, in Deutschland operierenden Industrieversicherer sind die Zurich Insurance Company Ltd, eine Tochter der Zurich Gruppe in der  Schweiz, die deutschen Tochtergesellschaften und Niederlassungen der American ­Insurance Group (AIG), von Berkshire Hathaway, der Chubb (alle mit Muttergesellschaften in den USA), die Mitsui Sumitomo (Japan), sowie die FM Global, ein insbesondere in der industriellen Sachversicherung sehr bedeutender amerikanischer Versiche­rungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG). Auch die Swiss Re Corporate Solutions, ein Teilbereich der weltweit führenden Rückversicherungsgruppe Swiss Re, zeichnet Indus­trierisiken direkt. Nicht zu vergessen ist Lloyd’s, eine Repräsentanz der weltberühmten Versicherungsplattform für Industrie- und Spezialrisiken in London. Zur dritten Gruppe der vor allem lokalen Versicherungsunternehmen, die (auch) Indus­ trierisiken versichern, gehören zum Beispiel die R+V Allgemeine, die Gothaer Allgemeine Versicherung oder die Württembergische Versicherung (vgl. Gothaer Konzern 2018, S. 8). Dieser Gruppe von Versicherungsunternehmen ist gemein, dass sie vorwiegend in Deutschland im Privat- und Gewerbesegment tätig sind. Teilweise bieten sie aber auch Industrieversicherungslösungen an und versichern über Mitgliedschaften in globalen Netzwerken lokaler Versicherer oder durch eigene Kooperationen aber auch Risiken außerhalb Deutschlands und der EU (vgl. GDV 2019). Schon diese kurze, bei Weitem nicht vollständige schematische Auflistung verdeutlicht die Breite des Angebots, auf das deutsche Versicherungsnehmer zurückgreifen können. Es ist klar, dass die jeweiligen Anbieter unterschiedliche Strategien verfolgen und unterschiedliche Zielkunden erreichen wollen. Sehr große Industrierisiken etwa, die Versicherungsschutz mit hohen Kapazitäten und in vielen Ländern benötigen, werden Versicherungskonsortien suchen, die in der Regel von den großen, globalen Gruppen geführt werden. Kleinere, lokale Versicherer beteiligen sich an solchen Konsortien, führen sie aber nur selten. Mittelständische Kunden wiederum schätzen Versicherungspartner mit Entscheidungskompetenzen in Deutschland und einer Kultur der Versicherungsunternehmen, die der eigenen sehr nahekommt; in der Folge

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führen die in der dritten Gruppe aufgeführten Versicherer vereinzelt auch internationale Programme, fast ausschließlich aber von mittelständischen Kunden, die von Deutschland aus in begrenztem Maße ins Ausland expandieren. Wie bereits ausgeführt wurde, kann die Abgrenzung in Gewerbe- und Industriekunden nicht pauschal für die ganze Branche beschrieben oder dargestellt werden, da die verschiedenen Versicherer ganz unterschiedliche Segmentierungen nach ganz unterschiedlichen Kriterien vornehmen. Die nachstehende Darstellung zeigt, wie die großen deutschen Industrieversicherer Marktsegmente konkret definieren und welche Zuständigkeiten der einzelnen Gesellschaften sich entsprechend der Segmentierung ergeben. Abb. 3.2 stellt dar, wie die größten Indus­ trieversicherer in Deutschland ihr Geschäft mit Unternehmerkunden in verschiedenen Konzern-Tochterunternehmen betreuen, um den Anforderungen unterschiedlicher Kunden und Geschäftsmodelle gerecht zu werden – und um ihr Versicherungsportfolio zu steuern. AXA und HDI bemessen die Zuständigkeit der verschiedenen Versicherungsgesellschaften im Konzern weitgehend an der Umsatzgröße des Versicherungsnehmers. HDI beispielsweise trennt überwiegend bei einem Kundenumsatz von 20 Mio. € zwischen gewerblichem und industriellem Geschäft. Spezialrisiken wie D&O oder Luftfahrt werden umsatzunabhängig aus dem Industrieversicherungszweig HDI Global heraus versichert. Gleiches gilt für Kunden mit internationalen Programmen, die nicht im Rahmen der europäischen Dienstleistungsfreiheit gezeichnet werden können. Im Allianz Konzern spielt

Segment Umsatz Konzern / Corporates

(großer) Mielstand 100 Mio. € bis 1 Mrd. €

AGCS

AXA XL

HDI Global

„Allianz Commercial“

ab 1 Mrd. €

AXA Vers.

KMU 5 bis 100 Mio. € Allianz P&C

HDI Vers.

Abb. 3.2  Segmentierung des deutschen Industrieversicherungsmarktes. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Lohmann et al. 2020, S. 325)

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ebenfalls die Internationalität des Kunden eine große Rolle. Grundsätzlich zeichnet AGCS für Unternehmen ab einer Umsatzsumme von 500 Mio. € Geschäft. Sollte der Versicherungsnehmer jedoch über mindestens vier Auslandsstandorte verfügen, die eigener Versicherungslösungen bedürfen, so gilt die Zuständigkeit der AGCS für solche Unternehmen bereits ab einem Umsatz von 250 Mio. €. Seit 2023 tritt die Allianz unter „Allianz Commercial“ mit einem global koordinierten, einheitlichen Underwriting-Ansatz für Kunden oberhalb von 10 Mio. € Versicherungssumme auf. Mit dem neuen Ansatz reagiert die Allianz auf die zunehmende Globalisierung von Risiken und stellt den lokalen Zugang zu harmonisierten Versicherungsprodukten sicher (vgl. Allianz 2023). Die Frage der Komplexität der Risiken und ­damit der konkreten Anforderungen der Zielgruppe spielt hier also eine dezidiertere Rolle als bei den skizzierten reinen Proxy-Modellen. Die Zurich Versicherung geht noch weiter. Sie berücksichtigt bei der Zuordnung der Segmente und deren Zuständigkeit vornehmlich die Internationalität des Versicherungsnehmers; Umsatzgrößen werden nicht mehr betrachtet (vgl. Zurich 2022, S. 12). Internationales Geschäft wird ausschließlich von der Zurich Commercial Insurance gezeichnet und hier wiederum je nach Bedarf an Lokal-Policen in „Large Commercial Geschäft“ und „Mid Market Geschäft“ unterschieden. Das nationale Geschäft fällt in die Zuständigkeit der Zurich Retail Insurance. Ausschlaggebend ist neben der Internationalität der Kunden auch die Komplexität des geforderten Versicherungsschutzes. So erfolgt die Zuordnung in Haftpflicht beispielsweise nach Betriebsarten und Produkten (vgl. Zurich 2023).

3.2.3 Industrieversicherung in Deutschland: Intermediäre Versicherungsprodukte sind für Kunden komplex und stellen qua Definition ein in die Zukunft gerichtetes Leistungsversprechen dar; im Moment des Vertragsschlusses ist die Leistung noch nicht greifbar. Daher gilt es für Versicherer, Vertrauensverhältnisse zu ihren Kunden aufzubauen, um die Sicherheit, die das Produkt verspricht, glaubhaft zu ­kommunizieren. Durch die Besonderheit des Versicherungsprodukts spielen jedoch auch der Vertrieb und die Betreuung durch unterschiedliche Vermittler eine große Rolle. Grundsätzlich zu unterscheiden sind dabei Vermittler, die (ausschließlich) für einen (einige wenige) Versicherer tätig sind, also „im Lager“ des Versicherers stehen, unabhängige Vermittler, den Mak­lern sowie firmenverbundene Vermittler (FVV) meist bei großen Unternehmen anzufinden, die eigenes Versicherungs-Know-how im Unternehmen aufbauen. Die Makler stehen gemäß § 59 Abs. 3 VVG im Lager der Versicherungsnehmer und sind somit Teil des Kundenumfelds, das es für den Industrieversicherer zu beachten und zu managen gilt. Versicherung gehört nicht zum Kerngeschäft der Versicherungsnehmer. Aus diesem Grund wird das Know-how für die Strukturierung des passenden Versicherungsumfangs bei einem Versicherer(konsortium) das sowohl den Anforderungen des Versicherungsnehmers entspricht (zum Beispiel Aufbau eines internationalen Versicherungsprogramms, technisches Know-how zur Risikobegleitung und Schadenprävention) als auch im Scha-

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denfall ausreichende Solvenz und Schadenbearbeitungsexpertise mitbringt, meist extern vergeben. Wie bereits ausgeführt bilden die firmenverbundenen Vermittler eine Ausnahme, die nicht nur die Risikosituation des eigenen Unternehmens optimal bewerten können, sondern auch über hohe Expertise in den Sparten der Industrieversicherung verfügen. Diese im Gesamtverband der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW) organisierten Vermittler gehören den Industriekunden selbst und sind bis auf Ausnahmen ausschließlich mit der Platzierung von Risiken für das eigene Unternehmen beauftragt. Interessanterweise ist diese Form von Vermittlung und Einbindung außerhalb Deutschlands kaum bekannt. Risikomanagement und damit auch das Vehikel der Versicherung gehört zu den Pflichten von Unternehmensleitern, einen geordneten Geschäftsbetrieb zu organisieren. Schon aus dieser Organisationspflicht heraus ergibt sich die Notwendigkeit, beim Einkauf von Dienstleistungen wie dem Risikotransfer nicht nur den „richtigen“ Versicherungsschutz einzukaufen, sondern auch das beste Angebot auf dem Markt zu identifizieren und anzunehmen. Die Vergütung der Intermediäre ist unterschiedlich. Die für ein Unternehmen tätigen angestellten Vermittler oder Handelsvertreter nach § 84 HGB werden meist über Provisionen vom Versicherungsunternehmen vergütet. Gleiches gilt für Makler, die meist auf Provisionsbasis als Prozentwert der Prämie vergütet werden. In den letzten Jahren hat Prämien-unabhängige Vergütung als Honorar auch bei den unabhängigen Vermittlern stark zugenommen. Die firmenverbundenen Vermittler erhalten meist einen prozentualen Anteil der Prämie vom Versicherer als Vermittlungsprovision. Weitere Spieler in diesem Umfeld sind auf Industrieversicherung spezialisierte Versicherungsberater, die, vom Unternehmen beauftragt, beim Deckungsumfang beraten und einen unabhängigen Marktvergleich bezüglich der Versicherungsbedingungen und des Preises erstellen. Diese werden mit einem Beratungshonorar vergütet, sind aber nicht an der Vermittlung der Versicherungsverträge beteiligt. In jedem Fall ist Industrieversicherungs-spezifisches Know-how erforderlich, um in diesem komplexen Metier den richtigen Deckungsumfang bei professionellen Industrieversicherern einzukaufen. Bei den unabhängigen Vermittlern sind Tochtergesellschaften global tätiger Maklerkonzerne wie AON, Marsh und Willis zu unterscheiden von in der Regel inhabergeführten mittelständischen Häusern, wie Funk, Leue & Nill, Südvers oder Zusammenschlüssen von zahlreichen meist inhabergeführten Vermittlern wie Martens & Prahl. Eines der größten deutschen Maklerhäuser, die Ecclesia mit Sitz in Detmold, befindet sich im Eigentum u. a. der evangelischen Kirche. Letztere sind lange im deutschen Markt tätig und haben über Jahre erfolgreichen Wachstums eine Größe und Expertise erreicht, die sie auf Augenhöhe mit globalen Maklerhäusern operieren lassen (vgl. Fromme 2022). Der Markt für Intermediäre in Deutschland durchläuft eine Phase deutlicher Konsolidierung. Zu weiten Teilen finanziert durch Private-­Equity-Kapital, übernehmen etablierte wie neu entstehende Maklerhäuser und -gruppen die Rolle des Konsolidierers. Zu nennen sind hier etwa die GGW Gruppe, MRH Trowe oder Howden. Die Attraktivität des deutschen Marktes für Intermediäre lässt auf entsprechend attraktive Margen und Potenziale dieses Marktes schließen.

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Auch in Bezug auf den passenden Vermittler hat der Industriekunde in einem gut entwickelten Markt also die „Qual der Wahl“ und wird abwägen müssen zwischen Qualität des internationalen Netzwerks, Expertise in der Beurteilung und Platzierung von Risiken, der individuellen Betreuung – und natürlich den Kosten der Vermittlung.

3.2.4 Industrieversicherung in Deutschland: Kunden Wie beschrieben, haben Unternehmen unterschiedliche Bedürfnisse und Anforderungen an ihren Versicherungsschutz. Dieser Anspruch bezieht sich auch auf den Versicherer und den für sie tätigen Intermediär. Die benötigte Absicherung von Haftstrecken ist beispielsweise unterschiedlich hoch, es sind oder es sind keine Versicherungslösungen über internationale Programme für Auslandsaktivitäten erforderlich. Folgt man der Segmentierung in Abb. 3.2, dann lassen sich Unternehmen vereinfacht in die folgenden drei Bereiche unterteilen: Kleine und mittlere Unternehmen, Mittelstand sowie multinationale Konzerne. Anhand dieser Aufteilung können die unterschiedlichen Bedarfe verschieden großer Unternehmen noch einmal schematisch verdeutlichet werden. Kleine und mittlere Unternehmen, welche gängig auch als „KMU“ betitelt werden, beschreiben Unternehmen, die einen Umsatz zwischen fünf und einigen zehn Millionen Euro im Jahr erwirtschaften. Durch die überschaubare Größe sind die Anforderungen an den Versicherungsschutz in der Regel durch klassische, oft standardisierte Produkte abdeckbar. Bei dem Versicherungsschutz von kleinen und mittleren Unternehmen gelten außergewöhnliche Besonderheiten eher als Ausnahme. Anstelle von stark individualisierten Deckungskonzepten stehen bei der Wahl des Versicherers und auch des Vermittlers oft der lokale Bezug und eine persönliche Betreuung im Vordergrund. Selten ergeben sich in diesem Kundensegment Anforderungen an komplexe internationale Versicherungslösungen. Wenn überhaupt Standorte oder Risiken außerhalb von Deutschland mitversichert werden müssen, dann ist das meist innerhalb des EWR-Raums der Fall und damit im Rahmen der europäischen Dienstleistungsfreiheit (Freedom of Services) darzustellen. Das Marktsegment des Mittelstands umfasst Unternehmen, welche einen Umsatz von 50 Mio. € bis zu rund einer Milliarde Euro p. a. erwirtschaften. Mit steigender Unternehmensgröße steigt auch die Komplexität der Risiken. In der Regel agieren Unternehmen in solchen Größenordnungen auch international. So steht im mittleren Marktsegment die Kompetenz, die komplexen Risiken richtig abbilden und versichern zu können, im Vordergrund. Wie schon zuvor dargestellt, sind dies nicht nur Kriterien, welche der Versicherer erfüllen muss. Die Betreuung dieser Kunden erfolgt in aller Regel durch Industrieversicherungsmakler, spezialisierte Versicherungsberater oder an Versicherer gebundene Vertriebler, die sich ausschließlich oder überwiegend mit Industrieversicherung beschäftigen. In jedem Fall sollten die Kunden umfassend auf Basis einer qualifizierten und insbesondere individuellen Risikoanalyse zu bestehenden Risiken beraten werden und darauf ­aufbauend Versicherungslösungen erarbeitet werden. Die Betreuung endet in diesem ­Kundensegment nicht mit dem Abschluss einer Police, sondern erfolgt unterjährig konti-

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nuierlich, um gemeinsam mit dem Kunden auf eine sich ändernde Risikosituation reagieren zu können. Diese Änderung kann intern aus dem Unternehmen heraus getrieben sein, zum Beispiel durch neue/abgeänderte Produkte, Erschließung neuer Märkte, Zu-/Verkäufe oder bauliche oder betriebliche Veränderungen. Gleichzeitig kann sich das Risikoumfeld verändern, zum Beispiel durch geänderte Gesetzgebung oder Haftungsbedingungen. Die größten Unternehmen am Markt werden in dem letzten Segment, multinationale Konzerne, erfasst. Diese haben meist einen Umsatz von mehreren Mrd. €. Die Individualität und Internationalität der Risiken sind hier noch einmal deutlich ausgeprägter als im zuvor beschriebenen Mittelstand, zusätzlich sind auch die meist erforderlichen oder gewünschten Deckungssummen bzw. Versicherungssummen deutlich höher als im Mittelstand. Solche Risiken werden vor allem von weltweit agierenden Versicherungskonzernen gezeichnet. Sie bringen das internationale Netzwerk, die erforderlichen Kapazitäten sowie die Expertise für die speziell zusammengestellten Versicherungslösungen mit. Wie bereits erwähnt, verfügen Konzerne meist über eigene Versicherungsexpertise im Haus. Hier laufen aufgrund der Unternehmenszugehörigkeit die Kompetenz der Kenntnis über die eigenen Risiken und die Möglichkeiten der eigenen Risikotragung zusammen mit der Kenntnis über den Industrieversicherungsmarkt. Teilweise bedienen sich die FVV auch Maklern, zum Beispiel um die entsprechende internationale Infrastruktur für die Betreuung abzudecken. In einigen wenigen Fällen ermöglichen die Global Brokers auch Zugang zu Spezialmärkten wie Lloyd’s of London, um ggf. unzureichende Kapazitäten auf dem deutschen Versicherungsmarkt zu ergänzen (vgl. Banks 2004, S.  57; vgl. Cummins et  al. 2006, S. 360 ff.; vgl. Zurich Gruppe Deutschland o. J.). Die Öffnung von Spezialmärkten erfordert Know-How, ist aufgrund abweichender Jurisdiktion und einer vom deutschen Markt teilweise abweichenden Schaden-Handhabungsphilosophie nicht ganz risikofrei. Zusätzlich ist dieser Weg meist mit höheren Kosten verbunden.

3.2.5 Märkte und Preise Das sehr breite Angebot am deutschen Markt für Industrieversicherungsrisiken ist Ausdruck eines gesunden, intensiven Wettbewerbs, der über lange Jahre zu ständigem Preisdruck und stetig sinkenden Preisen führte. Solide Kapitalanlageergebnisse und hohe Verfügbarkeit von Kapital waren wichtige Treiber dieser Spirale „nach unten“. Sie führte dazu, dass in einzelnen Sparten Schadenzahlungen und Kosten regelmäßig die Prämien­ einnahmen überstiegen. Mit der Niedrigzinsphase und dem damit einhergehenden Verfall der Kapitalanlageergebnisse änderte sich diese Situation. Ohne substanzielle Erträge aus der Kapitalanlage gewinnt die eigentliche Versicherungstechnik an Bedeutung, Beiträge und Schadenzahlungen müssen wieder im richtigen Verhältnis stehen. Die Konkurrenzsituation am Markt, die Suche nach Skalenerträgen, aber auch das Ziel, ein möglichst ganzheitliches Angebot über alle Segmente, Produkte und Regionen präsentieren zu können, führten zuletzt zu einer Konsolidierung des Marktes für Industrierisiken,

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also zu Übernahmen durch große Versicherungsunternehmen. In jüngerer Vergangenheit sind einige prominente, große Übernahmen im Markt der Industrieversicherer als Konsequenz der Wettbewerbsintensität hervorgegangen. So wurde 2015 Chubb von der ACE übernommen und damit zum größten Sachversicherer weltweit; kurz darauf übernahm die XL Group die Catlin. 2018 wurde die XL Group wiederum von der AXA aufgekauft. Ebenfalls 2018 hat sich der Zyklus in der Industrieversicherung gedreht, angefangen mit der über viele Jahre defizitären Sachversicherung (Feuer und Betriebsunterbrechung), gefolgt von der D&O-Versicherung (vgl. Fromme 2021). Diese „Marktverhärtung“ ist die Reaktion auf zahlreiche negative Schadentrends, die den meisten Industrieversicherern in den vergangenen Jahren hohe Verluste eingebracht haben. Viele Marktteilnehmer (Kunden, Versicherer, Vermittler) erleben diese Hartmarktphase zum ersten Mal; sie stellt alle vor besondere Herausforderungen. Die Jahre 2020 bis 2022 mit Schadentreibern wie COVID oder der Ukrainekrise sowie einer im Jahr 2022 hohen (Schaden)Inflation sprechen nicht für einen sich abschwächenden Markt (vgl. Fromme 2021). Das Phänomen der Hartmarktphase erklärt sich vor dem Hintergrund der Funktionsweise von Finanzmärkten. Denn wie in den meisten Märkten durchläuft auch der Versicherungsmarkt immer wieder unterschiedliche Marktzyklen, die für eine unbestimmte Zeit anhalten können. Während eines „normalen“ Marktzyklus befinden sich Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht. Durch diesen Ausgleich ergibt sich eine angemessene Prämie für adäquaten Versicherungsschutz. In der Praxis kommt dieses Szenario sehr selten und wenn dann nur für einen kurzen Zeitraum vor. Sehr viel öfter befindet sich der Industrieversicherungsmarkt in einem Ungleichgewicht und wir reden von einem harten oder weichen Markt. Diese Marktphasen werden in der Theorie hauptsächlich durch Kapazität und Kapitalerträge beeinflusst. Bei einem hohen Zinsniveau tendieren die Versicherer dazu, die Prämien zu senken und mehr Geschäft zu zeichnen. Die hohen Kapitalerträge helfen, ein mögliches schlechtes versicherungstechnisches Ergebnis ausgleichen zu können. Zu Zeiten von einem niedrigen Zinsniveau erhöhen Versicherer die Prämien und zeichnen im Gegenzug weniger Risiken, da die Versicherer nur limitierte Möglichkeiten haben, Verluste bzw. Schäden durch Kapitalerträge auszugleichen (vgl. Banks 2004, S. 37). Ein sogenannter weicher Markt äußert sich durch eine große Marktkapazität, die zu geringen, nachgebenden (weichen) Prämien führt. Ein solcher Markt entwickelt sich unter anderem, wenn Versicherer ihr Underwriting offensiv gestalten, um mehr Geschäft zu generieren; umgangssprachlich wird dieses Verhalten auch „cash-flow-underwriting“ genannt. Dies ist der Fall, wenn ein Ausgleich eines negativen versicherungstechnischen Ergebnisses durch Kapitalerträge möglich ist (vgl. Banks 2004, S. 37). Wenn Versicherer ihre Zeichnungskapazität reduzieren und die Prämien teurer (härter) werden, befindet sich der Markt in einer harten Marktphase. Versicherer zeichnen Geschäft zunehmend vorsichtiger und zielen nicht darauf ab, „um jeden Preis“ Marktanteile zu generieren (vgl. Banks 2004, S. 37). Die Hintergründe hierfür sind vielschichtig. Eine zurückhaltende Zeichnungspolitik kann beispielsweise auf unrentables Geschäft in der Vergangenheit zurückzuführen sein. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass sich bei sogenanntem Long-Tail-Geschäft, wie der Haftpflichtversicherung, viele Schäden erst

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nach längerer Zeit, in Form von Spätschäden, realisieren. Die langfristigen Folgen einer unwirtschaftlichen Zeichnungspolitik werden dementsprechend erst sehr viel später sichtbar  – und korrigiert. Was genau bedeutet „zurückhaltende Zeichnungspolitik“? Im Wesentlichen heißt das, dass die Selektion im Underwriting wieder stark auf risikobasierende Faktoren zurückgeführt wird, also die Underwriting-Ratio wieder im Vordergrund steht und dass Kapazitäten sehr viel vorsichtiger auf einzelne Kunden allokiert werden. Die Folge sind oftmals nicht vollständig abgedeckte Programme bei Kunden, einzelne Kunden bekommen also trotz mehrerer Versicherer keinen 100-prozentigen Deckungsschutz. Dies ist insbesondere bei den aus Sicht der einzelnen Versicherungssparten „kritischen“ Risiken zu erwarten oder auch bei Kunden, die einen sehr hohen Kapazitätsbedarf haben. Welche Folgen hat das ganz konkret für einen Kunden: Füllt beispielsweise ein Kunde in der Feuerversicherung aufgrund einer aus Sicht eines Feuerversicherers exponierten Risikos (zum Beispiel viele brennbare Stoffe und hohe flächendeckende Dichte von Brandlasten in Verbindung mit einer Betriebsarten-immanent hohen Anzahl von Brandursachen ohne ausreichende Schutzeinrichtungen) die Kapazität mit vier Versicherern, die jeweils 20 % zeichnen, so besteht eine Deckungslücke von 20 %. Im Schadenfall trägt der Kunde somit 20 % des Schadens selbst. Weitere stärker Underwriting-Ratio-getriebene Effekte sind natürlich Preis für die jeweilige Deckung und die Deckungsinhalte (Wording) selber. Oftmals werden im harten Markt Deckungsbausteine aus dem Wording herausgenommen und dennoch Preise für die bestehenden Deckungen angehoben. Ist dieses Verhalten von „Marktzyklen“ rational erklärbar? Nein! Wenn die oben genannte Logik durchgängige Ratio hätte, müssten bei ansteigenden Zinsen die Prämienraten sinken und bei abfallendem Zinsniveau steigen, bei gleichzeitigem Ausgleich der jährlichen Kostenanpassung und zumindest der Schadeninflation. Hier besteht also keine 1:1-Korrelation. Rational erschließt sich das eher nicht, was auch bei Kunden oftmals auf Unverständnis stößt, insbesondere wenn Prämienraten um mehrere (teilweise zweistellige) Prozentsätze angehoben werden. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Hierfür gibt es vermutlich keine wissenschaftlich basierte Erklärung, nachfolgend ein paar Gedanken, die die Zyklen zumindest anteilig erklären könnten: 1. Kein eindeutiger Break-even-Point im Pricing Weder auf eine einzelne Police noch auf ein Industrieversicherungs-Kollektiv kann aufgrund der Individualität der einzelnen Kunden bzw. aufgrund der Kleinheit des Kollektivs ein Break-even-Point für den Preis festgelegt werden. Bei einem produzierenden Unternehmen kann man aus den Personal-, Material-, Finanzierungs- und Energiekosten meist einen sehr genauen Stück-bezogenen Mindestpreis ermitteln, oberhalb dessen man Gewinne und natürlich unterhalb dessen man Verluste macht. Im Gegensatz zur Privatversicherung, zum Beispiel Kfz oder Wohngebäude, sind meist die Kollektive gleicher Risiken schlichtweg zu klein. Wenn bei der Wohngebäudeversicherung Blitzschlag, Leitungswasserleckagen und elektrische Defekte wesentliche Ursachen für Schäden sind, so lässt sich das einfacher bewerten und ein einzelner Preis für ein

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einzelnes Risiko (zum Beispiel Haus in Gebiet mit hoher Gewitterwahrscheinlichkeit und 40 Jahre alten Wasserleitungen) genauer bestimmen als für ein einzelnes Industrie­ unternehmen, deren Betriebsart es oftmals nur wenige 10- oder 100-mal in Deutschland oder weltweit gibt. 2. Einschätzung von Trends Die Erkennung von Trends im Generellen und die Abschätzung der Auswirkungen auf Schadenanzahl und -höhen sind natürlich eine wesentliche Kompetenz von Versicherungsunternehmen. Hierfür gibt es Statistiker, Ingenieure, Aktuare und viele andere Spezialisten, die das zu ihrer Hauptaufgabe gemacht haben. Der bereits beschriebene Trend zu mehr Extremwetterereignissen ist der Sache nach einfach nachzuvollziehen, die Übersetzung ins Pricing ebenfalls. Bei steigender Anzahl schwerer Hurrikans im Golf von Mexiko steigt das Risiko des einzelnen Unternehmens, einen Schadenfall zu erlangen, und damit die Kosten für den Risikotransfer auf den Versicherer. Ähnliches gilt zum Beispiel für Starkregenereignisse in Deutschland. Schwieriger wird es bei Industrie-immanenten Veränderungen: Was ist mit zunehmender Spezialisierung von Produkten? Produkte, die aus einem ganz spezifischen Kunststoff gefertigt sind, für die es nur einen Hersteller gibt, oder einem Spezialstahl, der nur von wenigen Stahlproduzenten hergestellt wird. Was ist mit der Zunahme von Wertdichte in Lägern und Produktionen oder der Zunahme von Wertschöpfungsdichte aufgrund reduzierter Redundanzen? Was ist mit der Abhängigkeit von Zulieferprodukten weltweit aufgrund der Globalisierung und der u. a. damit verbundenen (weltweiten) Vulnerabilität von Lieferketten? Nicht erst eine Blockade des Suezkanals für wenige Tage im Jahr 2021 und die damit an der Durchfahrt gehinderten rd. 400 Schiffe zeigten, dass ein Problem in der Lieferkette weltweit Produktionsflüsse gefährden können. Folgen reduzierter Bevorratung und Just-in-time- bzw. Just-in-sequence-Produktion? Was ist mit der Abschätzung von Trends in der Rechtsprechung oder dem Klageverhalten von (Anteils)Eignern? Beispielhaft genannt Social Inflation, besonders ausgeprägt seit einigen Jahren in den USA. Komplex, aber möglich! Die Prognose muss nicht Jahr für Jahr genau stimmen – auch das macht die Volatilität der Industrieversicherung aus. Im Mittel über die Jahre müssen die Trends allerdings richtig antizipiert und quantifiziert werden. 3 . Abhängigkeit von Großschäden Weiterer vermutlich stark beeinflussender Effekt ist die inflationsbereinigte Zunahme der Schadenhöhen bzw. die Verdichtung von Großschadenereignissen in den vergangenen Jahren (nochmals zur Erinnerung: Sechs der größten zehn inflationsbereinigten Sachschäden in Deutschland der vergangenen rd. 60 Jahre traten in den vergangenen zehn Jahren auf). Die Betrachtung der Schäden der vergangenen zehn oder 20 Jahre eines einzelnen Unternehmens ist definitiv kein Preisindikator. Ist die Schadenquote „null“, kann der Preis zu niedrig sein oder natürlich auch andersherum. Erleidet ein Unternehmen einen Großschaden, braucht es oftmals Hunderte Jahre, um die Schadenleistung des Versicherers zu-

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rückzuzahlen. Insbesondere im mittleren Kundensegment zählt also noch der Ausgleich des Schadens über das Kollektiv, mit individuell nach Risiko deutlich variierender Prämie. 4 . Qualität des Einzel-Underwritings; Prinzip Hoffnung vs. rational datengetriebene Entscheidungen Wesentliche Herausforderung für einen Industrieversicherer ist es, trotz der bisher beschriebenen Komplexität im Einzel-Pricings, eine Underwriting-Kultur zu schaffen, die auf rationaler Zahlenbasis basiert. Aktuarische, statistische Daten sowohl aus der Schadenhistorie als auch aus der Extrapolation von zukünftigen Trends und natürlich Erfahrung im Underwriting sind genauso wichtig wie die Risikobewertung von Risikoexperten. Wo steht die Industrieversicherung aktuell (2022)? Der Markt der industriellen Sachversicherung sowie der Markt für D&O-Versicherungen ist bereits seit mehreren Jahren von großen Schäden und Verlusten seitens der Industrieversicherer geprägt. So lag die kombinierte Schaden-Kosten-Quote im deutschen Markt seit 2010 nur zwei Jahre unter 100 %, im für die Versicherer schlechtesten Jahr dieser Periode bei 124 %. Für 100 € Prämieneinnahmen haben die Versicherer also 124  € für Schäden und Kosten aufgewandt. Die ­vergangenen schadenträchtigen Jahre haben zu einer deutlichen Verhärtung des Marktes geführt. Die aktuelle Hartmarktphase ist besonders interessant, weil das Makrophänomen der Verhärtung auf das Mikroverhalten der Spieler zurückgeführt werden kann. Jetzt macht sich Risikoqualität bezahlt. Unternehmen, die in den vergangenen Jahren hohen Wert auf den Schutz ihrer Risiken gelegt haben, werden die Trends weniger stark spüren. Ohne Zweifel handelt es sich um eine Korrektur zur technischen Stärkung der Indus­ trieversicherer, die auch langfristig den Versicherungskunden zugutekommt. Auch aus Kundensicht ist eine verlässliche und solvente Industrieversicherungswirtschaft von Interesse (vgl. Hagen 2019; AssCompact 2021). Durch die komplexeren Produkte und Prozesse in der Industrie ergeben sich darüber hinaus neue Risiken. Versicherungsunternehmen antworten darauf mit eigenen Innovationen. In den letzten Jahren entstanden so Produkte der Versicherung gegen Cyberrisiken oder zur Absicherung von parametrischen Risiken. Leistungsfähige, innovative Industrieversicherer aber brauchen angemessene Erträge für ihre Investitionen.

3.3 Rolle und Funktion von Industrieversicherung Unternehmen werden zunehmend internationaler, digitaler und komplexer. Aus den vielschichtigen Unternehmungen gehen immer mehr und größere Risiken hervor, der Investitionsbedarf nimmt zu. Demgegenüber sinkt mit steigendem Risiko die Investitionsbereitschaft von Unternehmen. Unternehmen müssen ständig abwägen, ob sich eine Investition mit Wachstumspotenzial lohnt, ob die Risiken also in einem angemessenen Verhältnis stehen. Der Industrieversicherung kommt bei dieser Abwägung eine wichtige Rolle zu.

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3.3.1 Relevanz der Industrieversicherung für die Wirtschaft Die Versicherungsbranche gehört zu den großen Wirtschaftszweigen der deutschen Finanzbranche und ist für die deutsche Wirtschaft von besonderer Bedeutung. Deutsche Versicherer verwalten einen beachtlichen Anteil des Kapitals und übernehmen eine Kapitalakkumulationsfunktion. Durch die Investition des gesammelten Kapitals kommen die Versicherungsunternehmen ihrer volkswirtschaftlichen Finanzierungsaufgabe nach. Die Anlage von Prämieneinnahmen und Rückstellungen auf dem Geld- bzw. Kapitalmarkt nimmt großen Einfluss auf dessen Struktur sowie die Kapitalversorgung einzelner Wirtschaftsbereiche. Auch der Bereich der Industrieversicherung hat so einen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands (vgl. Eisen und Zweifel 2013, S. 17). Industrieversicherer nehmen aber noch auf andere Weise Einfluss auf die deutsche Wirtschaft. Mithilfe der Industrieversicherung werden Wirtschaftsprozesse durch Leistungen im Schadenfall sowie Betreuung der Risiken stabilisiert. Sichern sich Unternehmen gegen Risiken und Unwägbarkeiten ab, stellen sich Chancen und Risiken einer Investition anders (positiver) dar als ohne Versicherung. Kapital, das vor Versicherung für die interne Absicherung von Risiken zurückgestellt wurde, wird freigesetzt und kann für Investitionen genutzt werden. Oft ist Versicherung eine Grundbedingung dafür, dass Unternehmen Risiken überhaupt eingehen, so Chancen nutzen und am Markt bestehen und wachsen können. Dementsprechend bildet Industrieversicherung regelmäßig eine Grundlage für die Entwicklung neuer Technologien (vgl. BDI 2019; vgl. Eisen und Zweifel 2013, S. 16; vgl. Mikosch 2005, S. 18). Es werden Einzelprojekte abgesichert, die ohne Versicherungsschutz möglicherweise gar nicht umsetzbar wären. Zusätzlich zur Verfügung gestellte Services wie Risikomanagement tragen dazu bei, Unternehmen hinsichtlich ihrer Risiken umfassend zu beraten und zu begleiten. Für kleine und mittlere Unternehmen sorgen Industrieversicherer mit ihren Deckungskonzepten und Versicherungslösungen oft für regelrechten Existenzschutz. Für sie können große Schäden (wie eine abgebrannte Produktionsstätte) mit den daraus folgenden Ertrags­ ausfällen den wirtschaftlichen Ruin bedeuten. Die Existenz großer Industriekonzerne ist aufgrund ihrer Größe sowie ihrer breiten Aufstellung durch einzelne Schäden selten gefährdet. Durch den Transfer von Risiken erfahren solche Unternehmen jedoch Bilanzschutz. Existenzbedrohend sind für solche Unternehmen Flächenrisiken wie Naturgefahren, die ad hoc mehrere Produktionsstandorte erfassen können, oder auch der Ausfall von einzelnen Zulieferern, die einen großen Wertschöpfungsbeitrag für das Unternehmen leisten. Auch überdurchschnittliche Schadenersatzforderungen Dritter können Unternehmen jeder Größe in ihrer Substanz nachhaltig schwächen. Durch Absicherung existenzbedrohender Schäden erhöht sich die Kreditwürdigkeit der Unternehmen. Insgesamt wird durch Versicherung der Schutz von bestehendem Vermögen sichergestellt. Dies führt zu einer besseren Planungssicherheit und bildet ebenso oft die Grundlage dafür, risikobehaftete Geschäfte mit hohen Ertragsaussichten zu tätigen. Marktgerechter Haftpflichtversicherungsschutz etwa ist ein fortlaufend nachgefragter Bestandteil bei Verhandlungen mit Lieferanten, Abnehmern und weiteren Vertragspartnern. Es

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besteht eine Erhöhung der Wagnisbereitschaft, so eröffnen sich neue Handlungsspielräume und die Wettbewerbsfähigkeit kann gewährleistet werden (vgl. Eisen und Zweifel 2013, S. 16; vgl. BDI 2019).

3.3.2 Versicherung im Risikomanagement von Industrieunternehmen Unternehmen sind gesetzlich verpflichtet, Risiken zu überwachen. Durch ein wachsendes Spektrum möglicher Risiken für Unternehmen gewinnt ein adäquates Risikomanagement an Bedeutung. Hierbei müssen Unternehmen professionell vorgehen und Risiken zunächst systematisch erfassen und anschließend analytisch bewerten. Es gilt, die analysierten Risiken richtig zu managen. Risiken können akzeptiert und somit selbst von dem Unternehmen getragen werden. Möglicherweise können Risiken auch durch Prävention verringert oder vermieden werden. Die verbleibenden Risiken werden im Optimalfall gezielt transferiert. Das Vorgehen im Risikomanagement wird für Unternehmen, vor dem Hintergrund der steigenden Komplexität der Risiken sowie deren starker Vernetzung, immer aufwendiger und die Unterstützung diesbezüglich seitens der Industrieversicherer und Versicherungsmakler immer wichtiger. Die Versicherer übernehmen hierbei diverse Aufgaben, auch neben dem Risikotransfer. Insgesamt erfahren intelligente Konzepte, internationale Marktkenntnisse und die Bewertung von Versicherungsbedarf zunehmende Relevanz und Berücksichtigung im Risikomanagementprozess, um bestmöglich Risikomanagement und Risikoabsicherung für Unternehmen sicherzustellen (vgl. Willis Towers Watson 2018, S. 4 u. 26; vgl. Banks 2004, S. 7 ff.; vgl. Eisen und Zweifel 2013, S. 47 u. 109).

3.3.2.1 Risikomanagementprozess Die internationale Norm ISO 31000 beschäftigt sich mit „Grundlagen des Risikomanagements“ und gilt als Risikostandard für diverse Unternehmen (CGE Risk Management Solutions 2018). In der ISO 31000 werden Leitlinien für die Risikobehandlung von Risiken, denen Organisationen ausgesetzt sind, festgelegt. Ebenso wird der Risikomanagementprozess definiert (vgl. Abb. 3.3; vgl. DIN Deutsches Institut für Normung e. V. 2019). Der Risikomanagementprozess beginnt damit, dass Unternehmen den Umfang und die Parameter des Geschäfts bestimmen, welche ein Risikomanagement erfordern. Hierbei wird der Plan für das Vorgehen des Risikomanagements erstellt. Im Nachgang erfolgt dann die Risikoeinschätzung in mehreren Schritten. Ziel des ersten Schrittes, der Risikoidentifikation, ist es, eine Liste mit allen Aktivitäten und Prozessen zu erstellen, die Risiken mit sich bringen können. Bei diesen Risiken kann es sich um Personenrisiken oder um Risiken für Kapital, Umwelt oder aber Reputation des Unternehmens handeln. Mittels einer Risikomatrix erfolgt eine Einteilung in Risiken mit hohen und geringen Wahrscheinlichkeiten. Die identifizierten relevanten Risiken werden im Anschluss analysiert. Hierbei werden Relationen zwischen der Bedrohung, den Konsequenzen und den zugehörigen Sicher-

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Kontext herstellen Risikobeurteilung Risikoidentifizierung Kommunikation und Beratung

Risikoanalyse

Überwachung und kritische Analyse

Risikobewertung

Risikoumgang Abb. 3.3  Risikomanagementprozess gemäß ISO 31000. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an DIN ISO 310000)

heitsbarrieren hergestellt und aufgezeigt. Es folgt die Risikoevaluation, in der die sich ergebenen Risikoszenarien bewertet werden. Diese Bewertung erfolgt in der Regel wieder anhand einer Matrix, die Risiken werden hinsichtlich ihrer Wahrscheinlichkeit und ihres Schweregrades zugeordnet. Damit ist die Risikoeinschätzung abgeschlossen. Die Risikoeinschätzung muss fortlaufend überwacht und kritisch hinterfragt werden. Das Risikomanagement des Unternehmens wird hierbei oft durch externe Beratung unterstützt. Risk Consultants und Versicherer spielen dabei eine bedeutende Rolle (vgl. CGE Risk Management Solutions 2018). Nachdem die Risiken eingeschätzt worden sind, gilt es, den Umgang zu bestimmen. Risiken können akzeptiert, vermieden bzw. gemindert oder aber transferiert werden.

3.3.2.2 Risikoakzeptanz – wie viel eigenes Risiko kann ein Unternehmen tragen? Die Akzeptanz von Risiken gehört zur ureigenen Eigenschaft von Unternehmern und Unternehmen. Große Teile des unternehmerischen Risikos sind nicht versicherbar. Doch auch bei versicherbaren Risiken treffen einige Unternehmen die Entscheidung, das Risiko zu akzeptieren und selbst zu tragen. Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe. Bei einem umfänglichen Risikomanagement kann aber davon ausgegangen werden, dass solche Entscheidungen bewusst getroffen werden. Die Risiken bzw. Gefahrensituationen werden für die Unternehmen, nach umfänglichen sachlichen Prüfungen und einer Gesamtabwägung, als zumutbar, annehmbar und vertretbar eingestuft und somit für akzeptabel befunden (vgl. Brühwiler 1994, S. 70). Auch wenn Unternehmen sich bewusst dazu entscheiden, gewisse Risiken zu akzeptieren und selber zu tragen, ist es nicht unüblich, dass Industrieversicherer an dem Prozess beteiligt und in den Risikomanagementprozess involviert sind. Durch selbst getragene

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Risiken können, ebenso wie bei transferierten Risiken, Schäden für das jeweilige Unternehmen entstehen. Grundsätzlich können Selbstbehalte vereinbart werden, weil 1. das versicherte Unternehmen bis zur vereinbarten Höhe des Selbstbehalts eine Volatilität des eigenen Ergebnisses/der Bilanz tragen kann und möchte, 2. der Versicherer im „unteren Schadenbereich“ eine Beteiligung des Unternehmens an den Schäden für sinnvoll empfindet, um eine zusätzliche verstärkte Sensibilisierung in der Schadenprävention zu erreichen, 3. der Versicherer das Risiko einer Vielzahl von „kleineren Schäden“ nicht tragen möchte, 4. die Anzahl der Schäden in einem kleinen bis mittleren Schadenbereich einen Risiko­ transfer auf den Versicherer nicht sinnvoll macht. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn vorhersehbar jährlich Dutzende bis Hunderte Kleinschäden anfallen, zum ­Beispiel Haftpflichtschäden bei Handelsketten oder kleine Transportschäden bei in Vielzahl produzierten Gütern. In einem versicherten Schadenfall wird die Schadenabwicklung vom Versicherungsunternehmen übernommen. Diese Möglichkeit besteht auch bei nicht versicherten Schäden. Es ist hierbei durchaus möglich, dass insbesondere bei vorgenanntem Beispiel einer hohen Anzahl jährlicher Klein- und Mittelschäden der Industrieversicherer mit seiner Schadenexpertise und der (weltweiten) Schadenorganisation als Dienstleister für den Kunden tätig wird. Eine weitere besondere Möglichkeit, Risiken selbst zu tragen, stellt eine besondere Form der Selbstversicherung dar: Captives. Diese spezielle Form der Risikotragung wird in den nachfolgenden Abschnitten im Detail dargestellt.

3.3.2.3 Risikoprävention und Risikovermeidung Ein Großteil der Risiken von Unternehmen lässt sich mittels Risikoprävention verringern. Schadenverhütungsmaßnahmen dienen zur Risikoprävention und haben positive Auswirkungen auf die Versicherbarkeit der Risiken und die Versicherungsprämie, aber auch auf finanzielle und strategische Unternehmensziele (vgl. Mikosch 2005, S. 57). Unter Schadenverhütungsmaßnahmen fallen sämtliche Maßnahmen, durch die die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts gemindert oder das Schadenausmaß gesenkt wird. Man unterscheidet in technische und organisatorische Schadenverhütungsmaßnahmen. Technische Schadenverhütungsmaßnahmen umfassen technische Anlagen, wie Sprinkler- oder Alarmanlagen, aber auch Vorgehensweisen wie Produktdokumentations- und Ausgangskontrollen sowie bauliche und räumliche Trennungen. Organisatorisch sind hingegen Maßnahmen, die Prozesse und das Verhalten im Schadenfall durch zum Beispiel Notfall- oder Rückrufpläne vorschreiben. Auch vorbeugende Maßnahmen gehören hierzu, so beispielsweise Fahrsicherheitstrainings oder Produktbeobachtungen (vgl. Mikosch 2005, S. 57). Risikoprävention ist meist Voraussetzung von Industrieversicherern für die Darstellung von Versicherungsschutz. So sind beispielsweise Brandschutzvorkehrungen in der indus­ triellen Sachversicherung notwendig. Vor diesem Hintergrund sind Industrieversicherer in

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Schadenverhütungsmaßnahmen sehr präsent. Die Versicherungsunternehmen bieten selbst Servicedienstleistungen an und beschäftigen Risk Consultants. Der Auftrag lässt sich grob in zwei Aufträge unterteilen: 1. Mit den Unternehmen die Schadenerfahrung der Versicherer zu Schadenprävention im eigenen Unternehmen teilen. 2. Eine Risikoübernahme durch das Versicherungsunternehmen zu beurteilen, ob und wenn ja mit welchen Kapazitäten und unter welchen Voraussetzungen ein Unternehmen versichert wird. Üblich ist der Einsatz von Risk Consultants in der Feuerversicherung, der Haftpflichtversicherung, der Transportversicherung, der technischen Versicherung, gelegentlich auch in anderen Sparten. In der industriellen Feuerversicherung werden Absolventinnen und Absolventen unterschiedlichster Fachrichtungen, wie Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Wirtschaftsingenieure, Chemiker, Verfahrenstechnik ausgebildet, Risiken zu erkennen, zu beurteilen und Präventionsmaßnahmen vorzuschlagen. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen Verfahrens-­immanenten Risiken, beispielsweise in der chemischen Industrie die Beurteilung des individuellen Produktionsverfahren inkl. prozessimmanenter Schutzmaßnahmen, und allgemeinen Risiken, zum Beispiel die allgemeine Quantität von Brandlasten, das Vorhandensein von Zündquellen und das Verhalten der Bausubstanz im Brandfall. Es wird somit das allgemeine Feuer-/Explosionsrisiko eingeschätzt. Meist gehört an dieser Stelle noch die Abschätzung des versicherungstechnischen Höchstschadens, des Probable Maximum Loss (PML), und oder sonstiger für das Underwriting wichtiger Kennziffern, wie der Normal Loss Expectancy (NLE), Maximum Possible Loss (MPL) etc. Neben der Abschätzung der Höhe und der Risikobeurteilung des reinen Sachschadens hat in den vergangenen Jahrzehnten die Beurteilung und die Ermittlung der Höhe des Betriebsunterbrechungsschadens eine mindestens genauso große Bedeutung eingenommen. Aufgabe ist es einerseits, Engpässe im Produktionsablauf zu identifizieren, bei denen ein vermeintlich kleiner Sachschaden zu einer erheblichen Betriebsunterbrechung führen kann. Dazu gehört natürlich ebenfalls die Abschätzung eines PML für die Betriebsunterbrechungsszenarien, die dann mit den reinen Sachschaden-PML kumuliert werden. Die PML-Schätzung ist auch die Grundlage für vom Versicherer zu Verfügung gestellte Kapazität und oftmals auch relevant für die Rückversicherungszuordnung. In der Sachversicherung haben darüber hinaus in den vergangenen Jahren die Beurteilung und die nachfolgende Minderung von Naturgefahrenrisiken an Bedeutung gewonnen. So beurteilen Versicherer nicht nur das Risiko beispielsweise eines Überschwemmungsereignisses oder eines Erdbebens, sondern empfehlen den Kunden Minderungsmaßnahmen und unterstützen bei der Prävention. Im Haftpflichtbereich sind ebenfalls Spezialisten aus unterschiedlichen Professionen tätig. Beispielsweise zur Beurteilung von Rückrufrisiken steigen die Risk Consultants in Prozesse der Qualitätssicherung ein und erfassen Chargen-Zahlen von exponierten Bauteilgruppen. So ist es natürlich wesentlich, ob je Charge 1000 oder 100.000 gleiche Teile

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ausgeliefert und verbaut werden. Beispiele sind Kfz-Rückruf-Deckungen, bei denen neben der Qualitätssicherung im Produktionsprozess auch noch die Kosten für einen möglichen Aus- und Wiedereinbau abgeschätzt werden müssen. Sehr spezialisiert sind beispielsweise Risikobeurteilungen für Pharma-Haftpflicht-Deckungen. Hier sind meist Pharmakologen tätig, die auf oftmals jahrzehntelang aufgebaute Wirkstoffdatenbanken zurückgreifen, um das Risiko bestehender und neu entwickelter Präparate zu beurteilen. In der Transportversicherung spielen Ladungssicherungen genauso sehr eine Rolle wie die Verpackung und die Klimatisierung des Transportguts, um zum Beispiel ein Verrutschen der Ladung auf einem Schiff bei Seegang oder die Taupunktunterschreitung beim Transport und damit die Rostbildung an beispielsweise Maschinen zu vermeiden. Einige Versicherer beschäftigen hierfür zum Beispiel Kapitäne. Die Risikobeurteilung in der technischen Versicherung ist ebenso weitläufig und erfordert Spezialisten, beispielsweise Ingenieure zur Beurteilung von Maschinenrisiken, Geologen bei Tunnelprojekten genauso wie Bauingenieure. Neu hinzugekommen ist in den vergangenen Jahren das Risk Consulting bei Cyberrisiken. Hier steht meist die Risikobeurteilung für die grundsätzliche Zeichnung eines Kunden im Mittelpunkt. Um sowohl den Versicherungsnehmern hohen Mehrwert aus der Schadenprävention bieten zu können als auch dem Versicherer selber, ist eine enge Verzahnung zwischen Risk Consulting, Underwriting und Schadenregulierung essenziell. Die Expertise der Industrieversicherer im Bereich Risikoprävention schafft für Unternehmen für die Ermittlung individueller Versicherungsprämien und als E ­ ingangsparameter für die durch den Versicherer gestellte Kapazität einen Mehrwert. Insbesondere die Schadenerfahrung und die daraus abgeleiteten Schutz- bzw. Schadenminderungsmaßnahmen werden an die Kunden weitergegeben und mindern somit die Schadeneintrittswahrscheinlichkeit bei einem Kunden bzw. die Auswirkungen eines Schadens. Für den Versicherungsnehmer ist die Entschädigung im Schadenfall oftmals existenziell, und eine gute Industrieversicherung sichert im Extremfall den Fortbestand eines Unternehmens. Selbst bei optimalem Versicherungsschutz entstehen Begleiterscheinungen aus dem Schaden, welche durch Versicherung nicht abzudecken sind. Hierzu gehören zum Beispiel verlorene Marktanteile, welche durch eine Betriebsunterbrechung des versicherten Unternehmens von Konkurrenten übernommen worden sind, oder genereller Reputationsverlust. Es lässt sich festhalten, dass die Unterstützung bei der Risikoprävention und der Risikovermeidung durch die Versicherer in der Breite einen großen Mehrwert für die Unternehmen darstellt (vgl. Mikosch 2005, S. 57).

3.3.2.4 Risikotransfer Versicherung ist eines der bedeutendsten Instrumente für das Risikomanagement von Unternehmen. Der Transfer und die Absicherung von Risiken erfolgen generell durch Versicherung und Derivate. Mittels des Transfers von unsystematischen Risiken können Unternehmen finanzielle Stabilität sicherstellen. Der Transfer von Risiken wird als

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Verlustfinanzierungstechnik bezeichnet, bei der eine Partei ein Risiko an eine andere Partei verlagert. Hierfür zahlt die risikoverlagernde Partei einen bestimmten Betrag, wie zum Beispiel eine Versicherungsprämie, für die Übernahme des unbestimmten Risikos, an die andere Vertragspartei (vgl. Banks 2004, S. 33 f. und 216). Durch den Transfer von Risiken werden diese für den Versicherungsnehmer reduziert und quantifizierbar. Die Kosten können kalkuliert werden, und für mögliche Schäden müssen keine bilanziellen Rückstellungen in teilweise signifikanter Höhe gebildet werden. Üblicherweise kombiniert ein Versicherer eine Vielzahl unterschiedlicher Risiken in einer Art und Weise, dass einzelne Szenarien sich regelmäßig realisieren, mit einer geringen Wiederkehrperiode auch eine Kombination von mehreren Szenarien eintreten können. Die Versicherungsprämie ist somit üblicherweise geringer als die Kosten für Kapital für die ohne Versicherung regelmäßig zu bildenden Rückstellungen. Für Unternehmen gilt es abzuwägen, welche Risiken transferiert werden sollen und in welchem Umfang der Versicherungsschutz zu gestalten ist. Hierbei müssen die verschiedenen Sparten berücksichtigt werden, ebenso wie die unterschiedlichen möglichen Deckungsbausteine. Zu berücksichtigen sind des Weiteren unterschiedliche Deckungs- bzw. Versicherungssummen, Maximierungen und Selbstbehalte. Die Eintrittswahrscheinlichkeit sowie das Ausmaß des Extremereignisses müssen mit der Prämie ins Verhältnis gesetzt werden (vgl. Banks 2004, S. 33 f.).

3.4 Risikosteuerung von Industrieversicherern Das Geschäftsmodell von Versicherungsunternehmen ist die Übernahme und das Management von Risiken. Ein bedeutender Bestandteil der Geschäftssteuerung ist auch aufseiten der Versicherer die Abwägung von Chancen und Risiken, die ebenso wichtig ist wie ein entwickeltes Risikobewusstsein. Hierzu gehören eine ausgeprägte Risikomanagementkultur und die Berechnung von Risikokapital genauso wie deren Einbindung in wichtige Entscheidungs- und Managementprozesse. Insgesamt gilt für Versicherungsunternehmen, ebenso wie für andere Unternehmen, dass Risiken angemessen identifiziert, analysiert und bewertet werden müssen (vgl. AGCS 2018, S. 16 f.). Darum geht es in diesem Abschnitt. Die Relevanz eines adäquaten Risikomanagements folgt aus den dafür relevanten gesetzlichen Vorschriften. Gemäß §  89 VAG müssen Versicherungsunternehmen eine aufsichtsrechtlich definierte Risikoreserve zur Sicherstellung der dauernden Erfüllbarkeit ihrer Verträge halten. So soll gewährleistet werden, dass auch im Fall von verlustreichem Versicherungsgeschäft die Versicherungsunternehmen ihren Leistungsversprechen vollständig nachkommen. Die Solvabilitätsvorschriften für die Eigenmittelausstattung von Versicherungsunternehmen sind im EU-einheitlichen System Solvency II geregelt. Ein adäquates Risikomanagement von Versicherern wird durch Vorschriften zur Solvenzkapitalanforderung, zum aufsichtsrechtlichen Überprüfungsprozess sowie zu Publizitätsanforderungen sichergestellt (vgl. Heep-Altiner et al. 2018, S. 1 ff.).

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Eine große Rolle spielt in Versicherungsunternehmen die Steuerung des versicherungstechnischen Risikos, das sich primär aus Prämien- und Reserverisiko zusammensetzt. Das Prämienrisiko beschreibt jenes Risiko, bei dem zukünftige Schadenzahlungen nicht von den eingenommenen Prämien gedeckt werden können. Dieses Risiko wird vor allem durch Zeichnungsrichtlinien gesteuert, die durch Risikoselektion sowie Risikoübernahmebeschränkungen wie Haftungs- und Versicherungssummen realisiert werden. Die Weitergabe von Risiken mittels Rückversicherung ist ebenfalls ein entscheidender Bestandteil zur Reduzierung des Prämienrisikos von Versicherern. Das Reserverisiko bezieht sich hingegen auf bereits eingetretene Schäden und deren Abwicklung. Es beschreibt ein Szenario, bei dem Schadenzahlungen aus bereits eingetretenen Schäden die hierfür gebildeten ­Rückstellungen überschreiten (vgl. AGCS 2018, S. 18). Dies ist insbesondere im Bereich der Long-Tail-Risiken (also Risiken, die erst lange nach der eigentlichen Zeichnung und der Prämienzahlung zu einem Schaden führen können) problematisch. Klassische Spätschadenrisiken beinhalten Haftpflichtdeckungen. Bringt ein Hersteller ein Teil in Verkehr, welches erst Jahre nach der Herstellung bzw. der Inverkehrbringung aufgrund eines zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens bestehenden Produktions- oder Konstruktionsfehlers zu einem Sach- oder Personenschaden führt, kommt es dann zu einem Spätschaden. Die Prämie dafür wurde bereits Jahre zuvor gezahlt. Ein anderes Beispiel kann die Managerhaftpflichtversicherung (D&O) sein, bei der ein Organisations- oder Überwachungsverschulden erst Jahre später zu einem Schaden führen kann. Der Versicherer kalkuliert also Prämien inklusive des (Schaden-)Inflationsrisikos und einer sich möglicherweise veränderten Anspruch- oder Rechtsprechung und bildet Rückstellungen der Prämie für spätere Schäden. Ändern sich die Parameter signifikant an der Prognose des Versicherers vorbei, so kann es zu Nachreservierungen, also bilanziellen Verlusten des Versicherers kommen. So haben sich in den jüngsten Jahren in den USA die Schäden im Bereich Commercial Auto oder Personal Umbrella verändert. Bei Letztgenannter liegt die Schadeninflation aufgrund sich verändernder Rechtsprechung zum Beispiel in Kalifornien in den Jahren 2013 bis 2018 bei 28 % p. a. (vgl. Liberty Mutual). In Europa sind ähnliche Trends zu beobachten, zum Beispiel beim Klageverhalten in der Managerhaftpflichtversicherung, welche zu kombinierten Schaden-Kosten-Quoten von weit über 100 % geführt haben (vgl. Volz 2020). Da die Individualität und Komplexität der Risiken in der Industrieversicherung enorm hoch sind, sind die Anforderungen der Risikoprüfung und Bewertung von möglichen zu übernehmenden Risiken für die Industrieversicherer ebenfalls sehr umfangreich. Die nicht mögliche Standardisierung vieler Merkmale wird bei der Beschaffung von Risikoinformationen deutlich, ebenso bei der Risikobewertung und möglichen Risikoteilung durch Mitoder Rückversicherung.

3.4.1 Beschaffung von Risikoinformationen Risikoinformationen sind ein elementares Instrument der Risikozeichnungspolitik bei der Versicherung von Unternehmensrisiken. Um Risiken zeichnen und vor allem auch um die Prämien bestimmen zu können, benötigen Versicherer Risikoinformationen (vgl. Cum-

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mins et al. 2006, S. 386). Schon durch die Branchenzugehörigkeit lässt sich auf Art, Qualität und Grad des Risikos schließen. Plakativ ist dies für die industrielle Sachversicherung, bei der zum Beispiel die Brennbarkeit der Produkte entscheidend ist, wie auch die Substanz oder der Risikoschutz der Gebäude (vgl. Eisen und Zweifel 2013, S. 197). Die Risikoinformationsbeschaffung bedeutet Kosten. Durch die hohe Komplexität der Industrierisiken ist die Beschaffung von Risikoinformationen in der Industrieversicherung umfangreicher als in der Privat- oder Kleinkundenversicherung. Nicht selten werden dort spezialisierte Ingenieure eingesetzt, um Risiken, beispielsweise anhand einer Analyse von  Produktionsprozessen, zu identifizieren und zu bewerten. Die Ausprägungen der ­Industrierisiken sind zu komplex, als dass die zugehörigen Prozesse standardisiert werden können. Kosten und Nutzen der Information müssen von Industrieversicherern abgewogen werden (vgl. Eisen und Zweifel 2013, S. 198). Hilfreich sind bei der Beschaffung von Risikoinformationen die gesetzlich vorgeschriebenen vor- und vertraglichen Anzeigepflichten, welchen die Versicherungsnehmer nachkommen müssen (vgl. Mikosch 2005, S. 29). Versicherer generieren viele der benötigten klassischen Risikoinformationen über Risikofragebögen. Diese werden in regelmäßigen Abständen an die Versicherungsnehmer geschickt, um Aktualität der Informationen sicherzustellen. Die Fragebögen sind in der Industrieversicherung in der Regel sehr viel detaillierter und umfangreicher als in anderen Teilen der Sachversicherung; dies rührt wieder aus der Komplexität der Risiken, aber auch der infrage stehenden Versicherungssummen. Oft werden solche Fragebögen für bestimmte Risiken individualisiert. Generell erfolgt ein regelmäßiger Austausch über die Risikosituation zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherer. Da die Fragen und deren umfängliche Beantwortung das Risiko nicht komplett abbilden können, führen Industrieversicherer auch Risikobesichtigungen vor Ort durch. Große industrielle Sachrisiken werden nicht ohne eine Brandschutzbesichtigung gezeichnet. Auch in der industriellen Haftpflichtversicherung sind Besichtigungen von Produktions­ standorten nicht unüblich. Der durch neue Technologien mögliche Einsatz von Drohnen oder Robotern sowie künstliche Intelligenz zur Auswertung der Aufnahmen sind hierbei hilfreich. Gleiches wird auch zur Auswertung von Schadenfällen verwendet. Generell bieten moderne Technologien auch im Bereich der Risikobewertung einen großen Mehrwert. So können unter anderem Risikodaten aus dem Datenaustausch zwischen Kunden und anderen Partnern des Kunden, wie zum Beispiel Unternehmensberater, einfach und unkompliziert generiert werden. In vielen Fällen spielt auch der (Industrie-)Makler bei der Informationsbeschaffung eine bedeutende Rolle. Die Zusammenarbeit zwischen Maklern und Versicherungsnehmern besteht oft über einen längeren Zeitraum, weswegen der Makler über viele Risikoinformationen verfügt und den Kunden gut einschätzen kann. Im Falle eines Wechsels des Versicherers helfen die Risikoinformationen sowie die Schadenhistorie dem Versicherer bei der Bewertung der Risiken und dem Makler bei der Platzierung des Risikos (vgl. Cummins et al. 2006, S. 386). Risikoinformationen sind für einen funktionierenden Versicherungsmarkt unerlässlich. Auch wenn der Markt nicht vollkommen ist, gilt es, so viele Risikoinformationen wie möglich in die Bewertung des Risikos einfließen zu lassen (vgl. Cummins et al. 2006, S. 386).

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3.4.2 Risikobewertung Die Bewertung von Industrierisiken erfolgt auf Grundlage der beschafften Risikoinformationen. Sie ist essenziell für das Risikomanagement von Versicherern. Anhand der ­Bewertung erfolgt nicht nur die risikotechnische Einschätzung des Risikos (Schadeneintrittswahrscheinlichkeit und Schadenausmaß), auf deren Grundlage eine Risikoprämie bestimmt wird. Durch die Bewertung der einzelnen Risiken ist auch eine Risikoselektion möglich. Entscheidend sind hierbei neben der Risikodiversifizierung auch die zur Verfügung stehende Kapazität sowie die Berücksichtigung von Kumulereignissen, also Schadenereignissen, die auf mehrere versicherte Risiken wirken. Insgesamt ist die Risikobewertung für die Steuerung des versicherungstechnischen Ergebnisses von großer Bedeutung. Wie in vorherigen Abschnitten ist die Komplexität der Industrierisiken auch in Bezug auf die Risikobewertung wieder besonders herauszustellen. Sie macht die detaillierte Prüfung der Risikoinformationen und eine anschließende individuelle Bewertung erforderlich. Entsprechende Underwriting-Expertise stellen Industrieversicherer in Fachabteilungen der jeweiligen Versicherungssparten dar. In der Theorie ergibt sich der Preis für Versicherungsschutz aus der Höhe der erwarteten Schäden des Kollektivs, aus den zugehörigen administrativen und operativen Kosten und einer Rendite für zur Verfügung gestelltes Risikokapital. Bei individuellen und homogenen Risiken ist die Bestimmung der Prämie für den Versicherer unkompliziert. Risiken mit den gleichen Charakteristiken können gruppiert werden, in dem Fall wird für alle Versicherungsverträge die gleiche Prämie erhoben. Heterogene Risiken, welche nicht so einfach klassifiziert werden können, erfordern eine komplexere Bepreisung durch die Industrieversicherer. Anders als in der Privatversicherung ist dies für Industrieversicherer kein Einzelfall. Die Preisfindung erfolgt nach objektiven Ansätzen, durch am Risiko orientierte Rabatte und Zuschläge ergibt sich jedoch ein subjektiver Spielraum für Underwriter bei der Bestimmung von Prämien. Dies wird durch die Komplexität und Individualität der Risiken abermals verstärkt. Zusätzlich zum Ausgleich im Kollektiv erfolgt dann noch der Risikoausgleich in der Zeit, positive Jahre gleichen kostenintensivere Versicherungsperioden aus (vgl. Banks 2004, S. 35 ff.). Bei der Bewertung von Risiken spielen auch Kumulgefahren eine große Rolle. Diese umfassen das Risiko, dass sich mehrere versicherungstechnische Einheiten zufällig als nicht unabhängig voneinander herausstellen und so durch ein Ereignis viele Risiken ausgelöst werden. Hieraus ergibt sich, dass angefragte Risiken nicht nur individuell betrachtet werden müssen, sondern auch im Zusammenhang mit Risiken, die sich bereits im Bestand des Versicherers befinden, geprüft und analysiert werden müssen (vgl. Farny 2011, S. 85). Hier können Aufschläge erforderlich sein, um dem Risiko und der möglichen erweiterten Absicherung durch Rückversicherung Rechnung zu tragen. Gleiches gilt auch im Hinblick auf die einem Versicherer zur Verfügung stehende Zeichnungskapazität. Diese stellt das Leistungsvermögen des Versicherungsunternehmens dar, welches für die Übernahme von Risiken besteht. Neben dem Gesamtbestand der Risiken besteht auch auf einzelne Risiken oder Risiken einer Art eine bestimmte Zeichnungs-

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kapazität. Diese ergibt sich in erster Linie aus dem verfügbaren Sicherheitskapital des Unternehmens und aus Möglichkeiten von Rückversicherung. Das zur Verfügung stehende Sicherheitskapital steht auch in Verbindung mit der Rechtsform des Versicherungsunternehmens und dem hieraus resultierenden Zugang zum Eigenkapital. Essenziell ist bei der Berücksichtigung der Zeichnungskapazität aber ebenso die benötigte Streuung der Risiken im Kollektiv. So müssen Versicherungsunternehmen bei der Bewertung von Risiken auch immer prüfen, ob vor dem Hintergrund der vorgenannten Punkte Zeichnungskapazitäten für die Übernahme des jeweiligen Risikos vorhanden sind (vgl. Farny 2011, S. 631). Insgesamt ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass die festgesetzten Prämien am Ende genau dem entstandenen Schadenaufwand und Kosten entsprechen. Schlussendlich ist es immer der versicherungstechnische Risikoausgleich über Zeit und Kollektiv.

3.4.3 Risikoteilung/Risikotransfer Besonders mit Blick auf den bei der Risikobewertung zu berücksichtigenden Aspekt der Kapazität sind einige Risiken von einzelnen Versicherungsunternehmen nicht allein tragbar. Für den Fall, dass die Versicherungssumme oder Deckungssumme eines zu versichernden Unternehmens die Zeichnungsmöglichkeiten eines einzelnen Versicherers überschreiten, besteht die Möglichkeit der Risikoteilung. Diese kann erfolgen, indem nur ein bestimmter Anteil des versicherten Interesses übernommen wird und die übrigen Anteile von anderen Versicherungsunternehmen getragen werden. In solch einem Fall spricht man von einer offenen Mitversicherung. Eine andere, ebenfalls sehr gängige Methode, nicht das gesamte versicherte Risiko zu tragen, ist der Einkauf von Rückversicherungsschutz. Anders als bei der offenen Mitversicherung, trägt der Erstversicherer gegenüber dem Kunden jedoch das gesamte Risiko. Dieses Risiko transferiert der Versicherer aber wiederum zu Teilen an einen Rückversicherer und übernimmt auf die Art und Weise nur einen Anteil des tatsächlichen Risikos.

3.4.3.1 Offene Mitversicherung Die offene Mitversicherung umfasst eine anteilige Beteiligung von unterschiedlichen Versicherern an der Versicherung eines versicherten Interesses. Alle Beteiligungen gelten hierbei für denselben Zeitraum und dieselbe versicherte Gefahr (vgl. Schaloske 2013, S. 301). Die offene Mitversicherung findet insbesondere bei der Versicherung sehr großer oder neuer Risiken Anwendung. Die für solche Risiken erforderliche Kapazität ist für Versicherer oft durch die aufsichtsrechtliche Risikotragfähigkeit oder die festgelegte Zeichnungspolitik des Unternehmens nicht allein darstellbar. Vermehrt tritt diese Form der Risikoteilung demzufolge in der industriellen Versicherung auf. Betroffene Sparten sind insbesondere die industrielle Sachversicherung, ebenso wie die industrielle Haftpflicht-

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versicherung, die Technische Versicherung, die Transportversicherung und die Versicherung der sogenannten Professional Risks, die D&O- sowie die Vermögensschaden-­ Haftpflichtversicherung inkl. der Cyberversicherung. Durch die Risikoteilung des Gesamtrisikos zwischen unterschiedlichen Versicherern erfolgt ein Risikoausgleich des versicherungstechnischen Gesamtrisikos (vgl. Schaloske 2013, S. 40). Die Gruppe der an einem versicherten Interesse (mittels offener Mitversicherung) beteiligten Versicherer wird als Konsortium bezeichnet. Dieses wird in aller Regel durch den Makler des Versicherungsnehmers zusammengestellt. Die Versicherer erstellen Angebote für bestimmte Prozentanteile des Risikos, diese werden verglichen und so kombiniert und ggf. angepasst, dass insgesamt 100 % des versicherten Interesses durch das gebildete Konsortium gedeckt sind. Aus dem Konsortium wird ein führender Versicherer bestimmt. Die Aufgaben sowie eine optionale Vergütung durch eine Führungsprovision von den anderen beteiligten Versicherern werden im Versicherungsvertrag in einer Führungsklausel festgehalten. Der führende Versicherer übernimmt im Regelfall sämtliche Aufgaben, wie die Policierung und Risikobesichtigungen, die auch im Falle einer Alleinzeichnung vom Versicherer durchgeführt werden, während die anderen beteiligten Versicherer als Kapazitätsgeber fungieren. Im Schadenfall ist es dann auch die Aufgabe des führenden Versicherers, den Schaden mit dem Kunden abzuwickeln und entsprechend mit die Regulierungszahlungen der anderen einzufordern. Eine weitere Alternative der für den Versicherungsnehmer erkennbaren Risikoteilung ist die Exzedenten-Versicherung. Die Aufteilung der Deckungssumme erfolgt nicht, wie bei der offenen Mitversicherung, prozentual, sondern in verschiedene Deckungsstrecken mit jeweils separaten Verträgen. Wenn die Deckungsstrecke des ersten Vertrags durch Schadenzahlungen aufgebraucht ist, besteht über den hieran anknüpfenden Vertrag eines anderen Versicherers Deckungsschutz. Für Versicherungsunternehmen, die an andere Verträge anschließende Layer zeichnen, stellen die vorangehenden Verträge eine Art Selbstbeteiligung dar. Es ist dabei nicht unüblich, dass Exzedenten-Versicherungsverträge in „following form“ geschlossen werden, sodass die Bedingungen des ersten Vertrags für den oder die folgenden Verträge übernommen werden.

3.4.3.2 Rückversicherung Rückversicherung ist ein gängiges Risikomanagementtool für Versicherungsunternehmen. Mittels Rückversicherung ist es den Versicherern möglich, ihre Brutto-­Zeichnungskapazität zu erhöhen. Im Kontext von Erst- und Rückversicherung gilt „brutto“ als Zustand vor der Weitergabe der Risiken an einen Rückversicherer, „netto“ bezeichnet den Zustand nach Rückversicherung. Durch das Schützen von Kapital und gebildeten Reserven wird sichergestellt, dass die Versicherer immer zahlungsfähig sind, ein sogenanntes „Capital Event“ wird verhindert. Des Weiteren können Versicherer ihre Ergebnisse stabilisieren. Der benötigte Risikoausgleich in der Zeit, welcher insbesondere für Industrieversicherer von großer Bedeutung ist, kann durch den Einkauf von Rückversicherung unterstützt werden. Darüber hinaus sind der Schutz der Solvabilität des Erstversicherers sowie das hiermit verbun-

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dene bessere Rating ein weiterer Grund für den Einkauf von Rückversicherung (vgl. Banks 2004, S. 53; vgl. Eisen und Zweifel 2013, S. 207). Man unterscheidet fakultative und obligatorische Rückversicherung. Während bei der obligatorischen Rückversicherung ein gesamtes Portfolio rückversichert wird und demzufolge jedes in dem Portfolio enthaltene Einzelrisiko gleichermaßen rückversichert ist, wird in der fakultativen Rückversicherung der Versicherungsschutz je Einzelrisiko separat verhandelt und abgeschlossen. In der Regel wird fakultative Rückversicherung für Risiken gekauft, die sich von dem üblichen Portfolio unterscheiden und somit nicht von dem bestehenden obligatorischen Rückversicherungsvertrag, zwischen dem Erstversicherer und dem Rückversicherer, erfasst sind. Aufgrund der hohen Individualität der Risiken von Industrieversicherungsnehmern findet die fakultative Rückversicherung im Industrieversicherungsmarkt sehr viel mehr Anwendung als im Privatversicherungsmarkt (vgl. Pfeiffer 2000, S. 20 ff.). Neben der Unterscheidung in fakultative und obligatorische Rückversicherung erfolgt eine weitere Differenzierung von Rückversicherung in proportional und nichtproportional. Bei der proportionalen Rückversicherung erfolgt eine prozentuale Aufteilung des Risikos, diese Aufteilung findet bei der Prämie und dem Schaden Anwendung. Ausprägungen der proportionalen Rückversicherung sind die Quote, bei der ein fester Prozentsatz für alle Risiken vereinbart wird, und der Summenexzedent, hier gilt für alle Risiken ein fester Selbstbehalt, aus dem sich die prozentuale Aufteilung ergibt. Zur nichtproportionalen Rückversicherung zählen die Schadenexzedenten pro Risiko und pro Ereignis sowie der Jahresüberschadenexzedent. Bei dieser Rückversicherungsart erfolgt eine Aufteilung des Schadens und nicht des Risikos. Festgelegte Prioritäten, welche der Erstversicherer trägt, und Haftstrecken werden als absolute Werte festgelegt, ohne eine Relation zum Einzelrisiko zu berücksichtigen. Die Priorität und Haftstrecke können sich auf ein Risiko beziehen (Schadenexzedent pro Risiko), auf ein Ereignis (Schadenexzedent pro Ereignis) oder auf ein Jahr (Jahresüberschadenexzedent). Beide vorgenannten Ausprägungen von Rückversicherung werden im Gesamtversicherungsmarkt, ebenso wie im Industrieversicherungsmarkt, von Rückversicherern angeboten und von Erstversicherern, zum Zweck des Risikotransfers, gekauft (vgl. Pfeiffer 2000, S. 42 ff.).

3.5 Risikolandschaft von Industriekunden im Wandel – Implikationen für die Industrieversicherung Veränderungen in der Industrie und bei Unternehmen bedeuten auch für Industrieversicherer Veränderung – primär in Gestalt der damit verbundenen Risiken. Dabei können Megatrends wie Klimawandel, Globalisierung oder digitale Vernetzung Treiber sein. Oft stellen diese Veränderungen Risikoträger vor Herausforderungen, manche bieten aber auch neue Chancen. Drei aktuelle Trends und ihre Implikationen sollen zum Abschluss dieses Beitrags verdeutlichen, dass Industrieversicherung ebenso herausfordernd wie hochaktuell ist.

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3.5.1 Globalisierung und internationale Versicherungsprogramme Die zunehmende Vernetzung von Unternehmen und ihrer Produktions-, Liefer- und Absatzketten über nationale Grenzen hinaus führen seit Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen in der Versicherung von Industrierisiken, etwa in der Sach-, Transport- oder Haftpflichtversicherung. Multinationale Unternehmen sind mit Niederlassungen und Tochterunternehmen weltweit vertreten, sie produzieren und vertreiben ihre Produkte rund um den Globus und bilden Lieferketten über Länder und Kontinente hinweg. Die Internationalität der Geschäftsmodelle verändert die Risikosituation der Unternehmen und stellt hohe Anforderungen an den Versicherungsschutz. Das gilt für große, internationale Konzerne, aber auch für die Vielzahl der Mittelständler, die auf der Basis starker Wettbewerbspositionen international expandieren. Die Bandbreite der Expansion ist weit: Von Vertriebs- und Lagerstandorten zur Distribution der Produkte geht es bis hin zu voll in eine internationale Liefer- und Wertschöpfungskette integrierten Produktionsstandorten, um lokale Märkte optimal zu bedienen oder die Personal- und Energiekostennachteile in Deutschland auszugleichen. Darüber hinaus ändern sich mit der Globalisierung Supply-Chain-Risiken, weil Unternehmen sich so Unterschiede in den Faktorkosten zunutze machen oder neue lokale Märkte erobern. Fundamentale Veränderungen in den Wertschöpfungsketten sind die Folge. Denn korrespondierend zu den Potenzialen erhöhen sich auch die Ausfall- und Unterbrechungsrisiken für die Unternehmen; mit den enormen Chancen werden auch die Risiken globaler. Unterbrechungen in der Lieferkette können zu Verlusten mit potenzieller Existenzbedrohung führen. Solche Verluste erleiden zeitgleich mehrere Unternehmen, wenn durch ein Schadenereignis nicht nur einzelne Unternehmen, sondern ganze Branchen betroffen sind. Für Versicherer erhöhen sich die Risiken, in der einzelnen Kette und im Kumulszenario. Insbesondere Naturgefahren stellen diesbezüglich eine besonders große Gefahr dar. Sie können ganze Regionen treffen, wodurch das Risiko besteht, dass verschiedene Unternehmen gleichzeitig die geforderten Zwischen- bzw. Teilprodukte nicht liefern können (vgl. Bruch und Münch 2018, S. 68). Die Brisanz der Betriebsunterbrechung durch Ausfälle in der Wertschöpfungskette wird am Beispiel „Meridian“ deutlich. Durch die Lahmlegung eines Produktionsstandorts des amerikanischen Automobilzulieferers „Meridian Magnesium Products“ infolge einer Explosion im Mai 2018 waren verschiedene Automobilhersteller mit Lieferengpässen konfrontiert. Das Unternehmen stellt für die Automobilhersteller Cockpit-Querträger her. Durch den Schaden konnte Meridian die geforderten Bestellmengen nicht liefern. Dies hatte eine starke Einschränkung der Produktion bei den Automobilherstellern zur Folge (vgl. Hubik 2018). Es gibt aber auch zahlreiche nicht versicherte Ereignisse, die die Abhängigkeit innerhalb der Lieferketten aufzeigen, wie beispielsweise der Mangel an Chips seit 2020. Um die internationale Risikobelegenheit bestmöglich abzusichern, sind entsprechend internationale Versicherungsprogramme nötig. Durch sie ist es Industrieversicherern möglich, im besten Sinne globalen Versicherungsschutz zu bieten und Risiken weltweit zu steuern. Versicherungsprogramme verbinden individuelle, weltweit gültige Deckungskonzepte mit der Notwendigkeit lokaler Versicherungspolicen und einer Betreuung vor Ort. Was

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heißt das und wo sind die Vorteile: Ein Unternehmen, egal welcher Größe, kann zentral den Versicherungsbedarf definieren und damit auch die Deckungsbestandteile. Einfaches Beispiel: Möchte ein Unternehmen 250.000 € im Falle eines Sachschadens selbst tragen, so wird dies ein lokaler Standort mit einem geringen Umsatzvolumen und einer geringen Sachsumme eher nicht selbst tragen wollen. Versichert ein Standort den Selbstbehalt selber lokal zahlt das Unternehmen damit eine oftmals signifikant höhere Versicherungsprämie, obwohl für das Gesamtunternehmen ein niedrigerer Selbstbehalt nicht sinnvoll ist. Ein weiteres Thema sind oftmals auftretende Deckungslücken zwischen den Standorten, insbesondere bei unternehmensinternen Abhängigkeiten aufgrund von internen Produktionsabhängigkeiten. Was genau unterscheidet ein internationales Versicherungsprogramm von einem Konglomerat von lokalen Versicherungspolicen? Kernprodukt eines internationalen Versicherungsprogramms ist  – unabhängig von der Sparte  – der sogenannte Mastervertrag oder die ­Masterpolice. Durch das Installieren dieser Masterpolice wird ein einheitlicher Versicherungsschutz für sämtliche Auslandseinheiten und zugehörige Unternehmen zentral dargestellt; um lokalen Besonderheiten und vor allem gesetzlichen Vorschriften nachzukommen und Schadenfälle unkompliziert vor Ort abwickeln zu können, werden in den einzelnen Ländern Lokal-Policen mit einem den lokalen Risiken angemessenen Deckungsumfang platziert. An diese knüpft die Masterpolice im Hinblick auf mögliche Differenzen an. Man unterscheidet Differenzen in der Deckungssumme, sogenannte „Differences in Limits“ (DIL), und Differenzen im Deckungsumfang, sogenannte „Differences in Conditions“ (DIC). Bei DIL werden möglicherweise geringere lokale Deckungssummen – wenn erforderlich – über höhere Summen im Master gedeckt (vgl. Ganzer 2012, S. 24). Die lokale Deckung im Sachbereich ist meist an den Versicherungssummen, das heißt am Sachschaden und an der Betriebsunterbrechung, bemessen. Differenzen sind hier eher selten, wenn, eher im Betriebsunterbrechungsbereich, insbesondere wenn interne Lieferbeziehungen bestehen und der Schaden deutlich größer werden kann als der rein lokale Schaden. In der Haftpflichtdeckung eines internationalen Programms werden oftmals lokale geringere Deckungssummen vereinbart, basierend auf lokalen Regelungen oder Marktgepflogenheiten. Die Differenz zum Unternehmensbedarf in Gänze wird dann über die DIL gedeckt. Durch die DIC werden Ungleichheiten zwischen unterschiedlichen Versicherungsstandards in den Ländern ausgeglichen. Wird zum Beispiel ein Risiko im Master eingeschlossen, welches in den lokalen Policen unüblich ist, so tritt bei einem lokalen Schaden die Masterdeckung ein. In Europa gibt es die Besonderheit der Dienstleistungsfreiheit, „Freedom of Services“ (FOS), welche auch für Versicherungspolicen gilt. FOS bietet die Möglichkeit, Unternehmensdienstleistungen grenzüberschreitend innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums zu erbringen und damit auch Versicherungsverträge in einem anderen Land abzuschließen, als sich das Risiko befindet. Gilt Dienstleistungsfreiheit im Sinne des FOS müssen keine Lokalpolicen installiert werden. Aber Achtung, auch hier sind Besonderheiten zu beachten. So muss zum Beispiel die Steuer in dem Land abgeführt werden, in dem die Leistung erbracht wird, und es gibt bestimmte lokale Pflicht- oder Pooldeckungen, die bedient wer-

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den müssen. Beispielhaft sind hier die GAREAT als Terror-Pool in Frankreich, TRIP in Belgien oder das CONSORCIO in Spanien für Terror, Political Violence und Naturkatastrophen zu nennen. Auf den ersten Blick hört sich natürlich die FOS-Police verlockend einfach an. Bei einer geringen Anzahl zu versichernder Länder und überschaubaren Risiken innerhalb der EU ist dies auch oftmals eine gern genutzte Lösung. Man sollte hierbei jedoch auch das Wording im Auge behalten, denn in einem internationalen Versicherungsprogramm wird als lokale Police meist der lokale Standard verwendet, der sogenannte „Good Local Standard“. Dieser berücksichtigt lokale Gesetzmäßigkeiten und Haftungssituationen wie zum Beispiel bestehende Pflichtversicherungen. Außerhalb der EU muss ein Versicherer für die Bereitstellung des Deckungsschutzes meist eine Zulassung der lokalen Aufsichtsbehörde besitzen. Man spricht dann von „zugelassen“, „admitted“. Ist in einem Land das Anbieten von Versicherungsschutz ohne Zulassung nicht möglich, spricht man von „non-admitted, not allowed“-Ländern. Hier braucht der Versicherer eine Zulassung. In „non-admitted, allowed“-Ländern, darf ein Versicherer auch ohne lokale Zulassung Versicherungsschutz anbieten.Zu den „non-admitted“-, „not allowed“-Ländern zählen beispielsweise Brasilien, Mexico, China, aber auch die Türkei und die Schweiz. Darüber hinaus sind oftmals länderspezifische Besonderheiten zu beachten. So muss zum Beispiel in Brasilien ein staatlicher Rückversicherer bedient werden, die IRB (Instituto de Resseguros do Brasil). Zusammengefasst hören sich all diese Themen vielleicht kompliziert und schwer zu durchschauen an. Eine wesentliche Ursache für diese Vielfalt ist natürlich der Schutz der Versicherungsnehmer lokal durch die Aufsichtsbehörden, der Schutz der lokalen Finanzmärkte (natürlich inklusive des Interesses, starke lokale Finanzdienstleister zu haben und die Versicherungsteuer im Land zu halten, Letzteres gilt auch für EU-Länder). Im Endeffekt ist es das Interesse des Kunden, einen weltweit passenden Versicherungsschutz zu haben, keine überraschenden Deckungslücken im Schadenfall zu erkennen und, zunehmend wichtig für Unternehmensleitungen, compliant zu sein. Was sind also zusammenfassend die Vorteile eines internationalen Versicherungsprogramms? 1 . Zentrale Steuerung des Versicherungsprogramms; 2. Weitestgehende Vereinheitlichung des Versicherungsschutzes weltweit; 3. Anpassung der (lokalen) Deckungen an den Versicherungsbedarf des Unternehmens, ohne Über- oder Unterversicherung aus Sicht der Unternehmenszentrale zu riskieren; 4. Vermeidung von Lücken an Schnittstellen zwischen Länderdeckungen; 5. Übersicht über die weltweiten Deckungen; 6. Sicherstellung der Compliance.

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Was muss ein Versicherer leisten, um Kunden ein adäquates internationales Versicherungsprogramm aufzubauen? 1. Ein weltweites Netzwerk aus eigenen Standorten oder Netzwerkpartnern, um in allen Ländern des Kunden lokale Policen anbieten zu können; 2. Zulassungen in „non-admitted, not allowed“-Ländern; 3. Know-How über lokale Pflichtdeckungen, „Good Local Standard“-Bedingungen; 4. Administration, um lokale Policen auszustellen und zum Beispiel die Versicherungsteuer abzuführen; 5. Eine lokale Schadenorganisation zur Regulierung von Schäden; 6. Lokale Spezialisten, um (meist gemeinsam mit lokalen Maklern) die Standorte der Kunden vor Ort zu beraten; 7. Lokale Services, wie zum Beispiel Risk Engineering. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in dem Maße, in dem die deutsche Wirtschaft expandiert, nicht nur die Bedeutung internationaler Programme zunimmt; auch die Mächtigkeit des Schutzes selbst nimmt signifikant zu. Deutlich wird auch, wie hoch der fachliche Anspruch an das Produkt Industrieversicherung durch Globalisierung wird. Denn es gilt, internationale Netzwerke aufzubauen und fachliche Expertise rund um den Globus zur Verfügung zu stellen. Der Versicherungsmarkt selbst erfährt einen Globalisierungsprozess. Die großen und führenden Versicherungsunternehmen sind mittlerweile in fast allen Ländern lokal vertreten. Es ist interessant, dass die Expansion gerade deutscher Versicherungsunternehmen wie der Allianz oder des HDI untrennbar verbunden ist mit einer global handelnden deutschen Industrie. Wer in der Lage ist, die hohen Eingangshürden zu nehmen, dem stehen mit der Industrieversicherung hochinteressante Märkte und Chancen offen.

3.5.2 Digitalisierung und Vernetzung Wir leben im Zeitalter der vierten industriellen Revolution (Industrie 4.0). Digitalisierung und Sensorik ermöglichen die Vernetzung sämtlicher Unternehmens- und Lebensbereiche. Der digitale Wandel wird immer schneller und ist noch weit davon entfernt, sein Maximum erreicht zu haben. In den letzten Jahren sind Umbrüche in der Gesellschaft, für Unternehmen wie jeden Einzelnen zu spüren, weitere werden folgen. So stehen Durchbrüche und die hieraus resultierende Verbreitung in den Bereichen der autonomen Mobilität, der künstlichen Intelligenz und dem Internet der Dinge kurz vor der Umsetzung. Die sich durch die Digitalisierung ergebenden Umweltveränderungen erfordern ständige Veränderung. Unternehmen müssen sich in einer volatilen, unsicheren, komplexen, uneindeutigen Welt behaupten (vgl. Kollmann und Schmidt 2016, S. 162 ff.). Mit den Veränderungen für die Industrie gehen große Änderungen der Risiken einher, welche durch Industrieversicherer abgesichert werden. Die Industrie 4.0 erfordert demzufolge auch eine „Versicherung 4.0“, da die alten Standardprodukte der Versicherungsbranche nicht mehr ausreichen, um

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Unternehmen in Zeiten des digitalen Wandels adäquaten Versicherungsschutz zu bieten. Traditionelle Verfahren für die Kalkulation der Risiken sind nur mehr eingeschränkt auf neue Risiken anwendbar, Muster wollen und müssen erst erkannt werden. Neue Ansätze zur Risikobewertung bei den Industrieversicherern müssen entwickelt und implementiert werden (vgl. BDI 2019). Hinzu kommt, dass immaterielle Vermögenswerte, vordergründig Daten, aber auch Netzwerke, Plattformen oder Markenwerte mit der Virtualisierung unserer Welt an Bedeutung und Wert für Unternehmen gewinnen. So ergibt sich eine veränderte Vermögensstruktur, die auch bei traditionellen Industrieunternehmen zu beobachten ist. Im Vergleich mit den haptischen Fertigungsprodukten werden zunehmend große Gewinnanteile durch digitale Produkte und Dienstleistungen erwirtschaftet. Für Risikomanager, Intermediäre wie Versicherer nehmen die schwer messbaren, immateriellen Vermögenswerte der Unternehmen rasant an Bedeutung zu (vgl. Bruch und Münch 2018, S. 64 f.). Neuartige Risiken erfordern für die Industrieversicherer andere Ansätze im Underwriting. Basierte dieses bisher auf den Schadenerfahrungen vergangener Jahre, auf Erfahrungswerten und der Einschätzung von Experten, können Big-Data-Analysen, zukunftsfokussierte Modellierungen und mittels künstlicher Intelligenz lernende Algorithmen die Zukunft des Underwritings radikal verändern. Es wird datengetrieben, parametrische Lösungen breiten sich aus. Noch gilt, dass das klassische Underwriting durch moderne Techniken unterstützt wird; Technik hilft, neue Risiken und bekannte Risiken neu einschätzen und tarifieren zu können, sie unterstützt bei der Portfoliosteuerung und kann ein Faktor sein, mittels dessen sich Industrieversicherer differenzieren und abheben (vgl. Bruch und Münch 2018, S. 69 f.). Offen ist, ob und wie lange das so bleibt, wie lange es also braucht, bis die Technik ganz übernimmt. Studien gehen davon aus, dass 40 bis 50 % aller administrativen Tätigkeiten im Underwriting durch eine Automatisierung bzw. künstliche Intelligenz ersetzt werden könnten; auch und gerade in der Industrieversicherung. Damit können sich Underwriter auf ihre Kerntätigkeit des Underwritings fokussieren.

3.5.3 Cyberrisiken und -versicherung Mit der Digitalisierung von Prozessen gewinnt die IT-Struktur der Unternehmen, Daten und digitale Infrastrukturen immer mehr an Bedeutung. Durch die zentrale Rolle, die die IT im weitesten Sinne einnimmt, stellt sie auch ein besonders großes Gefahrenpotenzial und Angriffsziel im Falle eines Ausfalls dar, eine rasch wachsende Man-­made-­Gefahr, gezielt oder durch Fehler getrieben. In diesem Umfeld exponentiell steigender Risiken und Schadenszenarien stellt die Cyberversicherung mehr als nur („mal wieder“) ein neues Versicherungsprodukt dar; sie hat das Potenzial, über das Produkt Risikotransfer hinaus einen neuen Versicherungszweig zu begründen und den Einstieg in die Ökosystem-Ökonomie zu forcieren. Ursprünglich aus den USA kommend, wird dieses Produkt seit 2011 in Deutschland angeboten. Nachdem

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der Bedarf für solche Versicherungslösungen anfangs nicht wahrgenommen wurde, ist spätestens mit der weltweiten Verbreitung von Verschlüsselungstrojanern wie „WannaCry“ die Nachfrage nach Cyberversicherungen deutlich angestiegen. Als Konsequenz entwickelten diverse Versicherer am Markt Produkte der Cyberversicherung, sodass aktuell ein breites Angebot zur Verfügung steht. Der Markt wächst (vgl. Adchayan 2021; vgl. Fromme 2021). Die klassische Cyberdeckung besteht aus den drei Deckungskomponenten Haftpflicht, Eigenschaden und Betriebsunterbrechung und stellt somit eine Multiriskdeckung dar. Im Haftpflichtbaustein wird grundsätzlich die Haftungsfrage geklärt, berechtige Ansprüche sind vom Versicherungsschutz umfasst, während unberechtigte Ansprüche durch den Versicherer gegenüber dem Anspruchsteller abgewiesen werden. Während der Eigenschadenbereich Kosten umfasst, die durch die Beauftragung von zum Beispiel forensischen Untersuchungen anfallen können, deckt die Komponente der Betriebsunterbrechung sämtliche Kosten, die entstehen, wenn ein Unternehmen aufgrund einer Cyberattacke nicht mehr produktionsfähig ist. Neben allen Chancen stellt die Cyberversicherung Versicherer (wieder) vor Herausforderungen: • Die Prämienkalkulation des Produktes Cyber ist schwierig (vgl. Fromme 2021). Es kann weder das potenzielle Schadenausmaß wirklich kalkuliert noch eine Schadenfrequenz präzise prognostiziert werden – zu klein sind noch Anzahl der bekannten Schäden und Daten hierüber. Gearbeitet wird mit Szenarien und jedem irgendwie verfügbaren Datum. Das für die Cyberversicherer damit entstehende Risiko ist nicht zu vernachlässigen. • Aus Schadenerfahrungen resultiert die Erkenntnis, dass die durch die Cyberversicherung abgedeckten Schäden auch durch herkömmlichen Versicherungsschutz gedeckt sein können, dass für den Versicherer und seine Haftpflicht-, Sach- oder Spezialdeckungen ein „silent Cyber“-Risiko besteht. Im Schadenfall läuft der Versicherer Gefahr, für dasselbe Ereignis zweimal zu zahlen. Es beschreibt die Möglichkeit, dass ein Cyberangriff die Deckung einer Versicherung auslöst, obwohl dort ursprünglich dieses Risiko nicht berücksichtigt und somit auch nicht eingepreist wurde. Versicherungsunternehmen haben vor diesem Hintergrund damit begonnen, etwaige Cyberausschlüsse aufzunehmen oder einen Prämienzuschlag für dieses Risiko zu verlangen (vgl. Willis Towers Watson 2018; vgl. Funk Gruppe 2019). • Nicht zuletzt entstehen aufgrund der spezifischen Struktur des Risikos für den Markt neue Kumulrisiken und -szenarien. Ungerichtete wie gezielt lancierte Schadsoftware etwa könnten Schadenereignisse rund um den Globus nach sich ziehen und damit viele Policen triggern. Grundsätzlich lässt sich das Potenzial für den Markt für Cyberdeckungen nicht abschließend einschätzen – weder umsatz- noch ertragsseitig. Noch erzielen Versicherungsunternehmen dort gute Ergebnisse, sowohl beim Wachstum als auch in der Combined Ratio. Dennoch sind sie sich des Risikos bewusst, dass jederzeit ein Großschaden das Portfolio treffen kann – im Produkt Cyber wie auch „silent“ in anderen Sparten.

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Dennoch steht Cyber abschließend einmal mehr für unsere These, dass auf dem hochinteressanten, aber auch anspruchsvollen Markt für Industrieversicherung immer wieder neue, spannende Chancen entstehen, wenn Versicherer gewillt sind, in Expertise und Know-How zu investieren – und Risiken einzugehen.

3.6 Fazit Die Industrieversicherung spielt für die Industrie eine wichtige Rolle. Durch die hohe Komplexität ihrer verschiedenen Risiken, die Unternehmensgröße und eine zunehmende Globalisierung sind Unternehmen oft nicht mehr in der Lage oder willens, ihre Risiken vollständig selbst zu tragen. Sie benötigen daher die Sicherung ihrer Investitionen durch Industrieversicherer. Durch den Industrieversicherer findet allerdings nicht nur ein reiner Risikotransfer statt, auch in der Risikobewertung und Risikoprävention unterstützen die Versicherer ihre Kunden mit Expertise zu den einzelnen Risiken. Allerdings unterliegt auch die Industrieversicherung einem starken Wandel. Globale Trends wie der Klimawandel, Globalisierung oder digitale Vernetzung sind hier als Treiber für den Wandel zu nennen. Es zeigen sich neue Schadenbilder und Kumulszenarien, mit denen die Industrieversicherung und ihre Kunden umgehen müssen. Hierfür braucht es andere Ansätze im Underwriting. Das Underwriting der Zukunft wird durch moderne Techniken und eine Vielzahl von Daten unterstützt, um neue und bekannte Risiken besser einschätzen und tarifieren zu können. Eine datenbasierte Portfoliosteuerung und ein technisches Underwriting werden wichtige Faktoren sein, um sich auf dem Industrieversicherungsmarkt zu differenzieren und abzuheben.

Literatur Adchayan, K. (2021), Harter Cybermarkt erreicht den Mittelstand, https://versicherungsmonitor. de/2021/05/28/harter-­cybermarkt-­erreicht-­den-­mittelstand/, Zugegriffen: 12.02.2022. Allianz (2023) Medienmitteilung: Allianz agiert bei großen Unternehmen künftig mit einheitlichem Auftritt, https://www.allianz.com/content/dam/onemarketing/azcom/Allianz_com/press/document/ALLIANZ_SE_MEDIENMITTEILUNG_ALLIANZ-AGIERT-BEI-GROSSEN-UNTERNEHMEN-MIT-EINHEITLICHEM-AUFTRITT.pdf. Zugegriffen: 29.07.2023. Allianz (2023) Structure & History, https://commercial.allianz.com/about-us/structure-history.html. Zugegriffen: 29.07.2023. Allianz Global Corporate & Specialty (Hrsg.) (2018) Geschäftsbericht 2017, München. AssCompact 2021, Reputation der Versicherer bei Wirtschaftsunternehmen auf Tiefstand, https:// www.asscompact.de/nachrichten/reputation-­der-­versicherer-­bei-­wirtschaftsunternehmen-­auf-­ tiefstand?page=komp, Zugegriffen: 13.02.2022. AXA (2023) Gesellschaften der AXA – Überblick unserer Gesellschaften, https://www.axa.de/wirueber-uns/gesellschaften. Zugegriffen: 29.07.2023. AXA SA (2018) Risk Engineering. https://axaxl.de/produkte-­und-­dienstleistungen/risk-­engineering. Zugegriffen: 31.07.2019.

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3 Industrieversicherung

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Dr. Christopher Lohmann  fand den Einstieg in die Versicherungsbranche als Vorstandsassistent bei der Allianz AG. Nach Stationen im Vertrieb, in Betrieb und Schaden sowie im Controlling übernahm Lohmann 2013 als CEO die Geschäftsführung der Allianz Global Corporate & Specialty SE in Zentral- und Osteuropa. In der AGCS bündelt die Allianz ihr Geschäft mit Industriekunden sowie Spezialgeschäfte wie Luft- und Seefahrt. 2017 trat Lohmann in den Gothaer Konzern ein. Als CEO der Gothaer Allgemeine AG verantwortete er die Kompositversicherung des Konzerns im In- und Ausland. 2000 wechselte Lohmann in den Vorstand der Talanx AG, wo er als CEO für den Geschäftsbereich Privat- und Firmenversicherung Deutschland sowie als CIO für die IT in der Erstversicherung verantwortlich zeichnete. 2023 legte Lohmann seine Ämter nieder und gründete The Mulberry Ventures. Als Unternehmer, Investor und Aufsichtsrat treibt er in Kooperation mit diversen VC- und Geschäftspartnern den Aufbau junger Unternehmen und innovativer Geschäftsmodelle in den Bereichen Versicherung und Nearshoring voran. Nach seinem „Studium Generale“ der Sicherheitstechnik an der Bergischen Universität Wuppertal begann Dr. Edgar Puls 2001 bei der HDI Sicherheitstechnik GmbH als Sachverständiger in der Niederlassung Essen. 2005 stieg er zum Abteilungsleiter bei der HDI-Gerling Sicherheitstechnik GmbH in Hannover auf und wurde 2010 Vertriebsleiter Industrie in der Zentrale der HDI-Gerling Industrie Versicherung. Im Jahr 2013 wurde er Vorstandsvorsitzender der HDI-Gerling Verzekeringen N.V. in den Niederlanden. Im Jahr 2014 wurde er in den Vorstand der HDI Global SE berufen und ist seit Mai 2019 Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft und im Vorstand der Talanx AG verantwortlich für den Geschäftsbereich I­ ndustrieversicherung.

Teil II Gründung und Einsatz einer Captive-(Rück-) Versicherung

4

Konzept und Entstehung Jonas Warnke und Christian Böhm

Inhaltsverzeichnis 4.1  4.2  4.3  4.4 

Definition  Entstehungszeitpunkt und -hintergrund  Aktuelle Situation – Anzahl und Domizilüberblick  Deutsche Captive-Landschaft  4.4.1  Einzeldarstellungen  4.5  Zusammenfassende Darstellung  4.5.1  Umsatz- und Prämienvergleich  4.5.2  Selbstbehaltsquoten  4.5.3  Netto-Betriebskostenquote  4.5.4  SCR-Bedeckungsquote  4.6  Fazit und Ausblick  Literatur 

   98    99  100  102  103  112  112  113  114  115  116  117

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden allgemeine Hintergrundinformationen zu Captive Insurance Companies gegeben. Neben einer Definition und der Abgrenzung zu anderen Formen der Selbstversicherung wird auch der geschichtliche Hintergrund betrachtet. Daraufhin folgt eine Analyse des Captive-Marktes, erst auf globaler Ebene und nachfolgend auf J. Warnke TH Köln, Institut für Versicherungswesen, Köln, Deutschland C. Böhm (*) Freudenberg Rückversicherung AG, Weinheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_4

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den deutschen Markt begrenzt. Dabei werden nicht nur die neun in Deutschland ansässigen Eigenversicherer betrachtet, sondern auch ihre Mutterkonzerne. Zum Abschluss werden dann noch wichtige Kennzahlen wie die Prämien oder Solvenzquoten der einzelnen Versicherungsunternehmen miteinander verglichen.

4.1 Definition Der Begriff „Captive“ bedeutet übersetzt „gefangen“ oder „gefesselt“ und steht in der Versicherungsbranche für all diejenigen Versicherungsgesellschaften, die von Unternehmen gegründet und betrieben werden, deren Kerngeschäft sich außerhalb der Versicherungsindustrie befindet. Diese Bezeichnung weist darauf hin, dass eine Captive in der Regel ausschließlich oder überwiegend für die Optimierung der Finanzierung von versicherungsfähigen Risiken, welche in engem Zusammenhang mit der originären Geschäftstätigkeit des Mutterunternehmens stehen, eingesetzt wird. Captives bilden damit vielfach einen integralen Bestandteil der Risikofinanzierungs- und Versicherungsstrategie von Unternehmen. Da es sich bei Captives um Versicherungsgesellschaften mit entsprechenden Lizenzen handelt, ist ihre Geschäftstätigkeit nicht auf die Zeichnung der Risiken des Mutterunternehmens beschränkt, sondern auch zugänglich für Drittrisiken (vgl. Fläming 2007, S. 54). Bei welchen Captives dies auch der Fall ist, wird im späteren Verlauf dieses Beitrags erläutert. Anders als der Einkauf von herkömmlichem Versicherungsschutz fällt die Absicherung mithilfe von Captives in die Kategorie des alternativen Risikotransfers. Neben zahlreichen weiteren Formen alternativen Risikotransfers ist die Gründung und der Betrieb einer Captive als Methode externer Selbstversicherung eindeutig von der internen Selbstversicherung und der Nichtversicherung zu unterscheiden. Grundlage sowohl der externen als auch der internen Selbstversicherung sind risikoorientierte Überlegungen, anhand derer das Unternehmen zu dem Schluss kommt, dass eine Selbstabsicherung der eigenen Risiken möglich ist und auf die Inanspruchnahme des herkömmlichen Versicherungsmarktes komplett oder in Teilen verzichtet werden kann. Dazu wird bei beiden Formen die finanzielle Ausstattung anhand versicherungsmathematischer Berechnungen ermittelt und bei der externen Selbstversicherung an die Captive im Gegenzug für einen Rechtsanspruch bei Eintreten eines vorher definierten Ereignisses (Versicherungsfall) bezahlt. Es entsteht somit eine vertragliche Grundlage – der Versicherungsvertrag zwischen Versicherungsnehmer und Captive bei Erstversicherungs-Captives bzw. der Rückversicherungsvertrag zwischen Erstversicherer und Rückversicherer bei Rückversicherungs-Captives. Aufgrund dessen sind Captives als Versicherungsunternehmen zu sehen und müssen die aufsichtsrechtlichen Vorgaben insbesondere des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) erfüllen. Die interne Selbstversicherung beruht wie bereits beschrieben auch auf risikoorientierten Überlegungen und dem Verständnis des Risikoausgleichs im Kollektiv. Der für ­herkömmlichen Versicherungsschutz errechnete Betrag wird jedoch nicht an eine Captive gezahlt, sondern verbleibt im Unternehmen und wird im Wege einer Umlage auf die teil-

4  Konzept und Entstehung

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nehmenden Konzerngesellschaften verteilt (sogenanntes Pooling). Für die Verwaltung des Pools und die Bearbeitung von eingetretenen Schadenfällen wird eine eigene Einheit eingerichtet. Um zu vermeiden, dass diese Eigentragung rechtlich als Versicherung gewertet wird – mit der Folge der Versicherungsaufsicht und des Anfallens von Versicherungsteuer auf die Beiträge –, wird ein Rechtsanspruch auf Leistung im Schadenfall nicht vereinbart, aber eine Nachschusspflicht für den Fall, dass die eingezahlten Beiträge nicht ausreichen, die entstehenden Schäden vollständig zu ersetzen. Wird weder extern auf dem Versicherungsmarkt versichert noch intern eine Captive oder eine Pooling-Konstruktion genutzt, spricht man von Nichtversicherung.

4.2 Entstehungszeitpunkt und -hintergrund Das Konzept, eine eigene Versicherungsgesellschaft zur Übernahme der firmeninternen Risiken zu gründen, ist aus heutiger Sicht nichts Neues mehr. Erste Captives auf europä­ ischer Ebene sind bereits in den 1920er-Jahren entstanden. Gründe dafür waren, dass Industrieversicherer entweder fehlten oder nicht genügend Kapazität zur Verfügung stellen wollten beziehungsweise konnten. Auslöser für dieses aufkommende Phänomen der Eigenabsicherung war der Erste Weltkrieg. Beispiele für entstandene Captives waren die Captive von British Petroleum, namens „Tanker“, für „shipping risks“ (UK) oder die Captive von Imperial Chemical Industries (ICI) für Transporte von explosiven Stoffen. In Deutschland entstand der Vorläufer der heutigen Delvag Versicherungs-AG. Die unter dem Namen Aero Lloyd Aktiengesellschaft gegründete Gesellschaft beschäftigte sich hauptsächlich mit Luftfahrt- und Transportversicherungen. Zusätzlich standen Versicherungs- und Versorgungskonzepte für die Mitarbeiter der jungen Lufthansa im Mittelpunkt (vgl. Delvag o. J.). Die Captives in dieser Zeit wurden am Sitzland ihrer jeweiligen Muttergesellschaft („onshore“) gegründet und auch betrieben. Im Laufe der Zeit hat sich dann der Trend entwickelt, Captives, meist aus steuerlichen (aber auch aufsichtsrechtlichen) Gründen, an „Offshore“-Standorten zu gründen und betreiben. Eingeführt, geprägt und bekannt wurde der Begriff „Captive“ allerdings erst in den 1950er-Jahren durch Frederic Reiss. Dieser gründete im Jahr 1958 die Gesellschaft „American Risk Management“. Auf der Suche nach dem idealen „Offshore“-Standort bereiste Reiss einige Länder, bevor er das britische Überseegebiet Bermuda auswählte, um seine Ideen zum Modell Captives umzusetzen. Mithilfe der Behörden der Bermudas entstand so die erste klassische, neuzeitliche „Offshore“ Captive im Jahre 1962 mit dem Namen „International Risk Management Ltd“. Zehn Jahre später gründete er, wieder auf den Bermudas, die erste Captive-Management-Gesellschaft namens „Hopewell International“ (vgl. Insurance Hall of Fame o. J.). Zeitgleich nahm weltweit die Anzahl von Neugründungen immer weiter zu. Bis Ende der 1960er-Jahre gab es bereits 100 gegründete Captives und Ende der 1980er-Jahre bereits über 1000. Bis 2019 gab es weltweit ca. 6150 aktive Captives (vgl. Insurance Information Institute 2020).

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J. Warnke und C. Böhm

In den letzten Jahren ist die Anzahl von Captives leicht rückläufig (2019 ca. 6. 150 und 2018 ca. 6500) (vgl. Thomas 2018). Grund hierfür sind insbesondere Captive-­Konsolidierungen infolge von Unternehmensübernahmen und -fusionen, aber auch die geringe Zahl von Neugründungen aufgrund der bisherigen weichen Marktsituation. Es lässt sich aber feststellen, dass Unternehmen, die bereits über eine Captive verfügen, auch in Zeiten einer weichen Marktlage vielfach an diesen Risikofinanzierungsinstrument festhalten. Im Hinblick auf die derzeitige harte Marktlage und weitere Ausschlüsse zu Infektionskrankheiten oder Cyber- und Blackoutrisiken scheint sich dieser abnehmende Trend wieder umzukehren (vgl. Dowding 2022; vgl. DuChene 2022). Gerade für mittelständische Unternehmen, welche derzeit noch vielfach ausschließlich auf den Versicherungsmarkt angewiesen sind, könnte sich die Gründung einer Captive (in welcher Form auch immer) in Zukunft lohnen.

4.3 Aktuelle Situation – Anzahl und Domizilüberblick In den USA ist nach Anpassen der Regularien im Jahr 1986 – Section 831 (b) wurde dem Internal Revenue Code (IRC) hinzugefügt – (vgl. Wright et al. 2017) die Zahl der Neugründungen von Captives explodiert. Daher ist heutzutage die Mehrzahl der Captives in den USA beheimatet (ca. 50 %). Diese sind vor allem in den Bundesstaaten Vermont (580 Captives im Jahr 2019), Utah (441 Captives im Jahr 2019) und Delaware (421 Captives im Jahr 2019) angesiedelt. Grund für die hohe Anzahl von Captives ist, dass sich kleinere Versicherungsnehmer mit homogenen Risiken (Kollektivbildung) zusammenschließen und einen Risikoträger gründen. Dieses Gebilde der Risikoteilung ist in der Europäischen Union bisher nicht sehr weit verbreitet (vgl. Thomas 2018). Hinter den USA folgen mit 34 % Bermuda und die Karibik, mit 13 % Europa und mit 3 % die Region Asia-Pacific. In Afrika und im Mittleren Osten sind lediglich 1 % der weltweiten Captives beheimatet (vgl. Captive Review 2019). Die wesentlichen Captive-Domizile innerhalb der Europäischen Union sind Luxemburg (198 Captives im Jahr 2019, vgl. Abb. 4.1) und Irland. An dritter Stelle folgt Malta. Vor allem die höhere Flexibilität bei der Bildung von Schwankungsrückstellungen in Lu­ xemburg und der geringere Körperschaftsteuersatz in Irland sowie die größere Vertrautheit der dortigen Aufsichtsbehörden mit Captives, bei gleichzeitiger Einhaltung des Doppelbesteuerungsabkommens und EU-weiter Zugangsberechtigung, haben in der Vergangenheit des Öfteren den Ausschlag für die Gründung von Captives außerhalb von Deutschland gegeben. Beispiele für in Nachbarländern niedergelassene Captives mit deutscher Muttergesellschaft: • Luxemburg: Merck, Henkel, Deutsche Bank, • Malta: BMW, Eon, • Irland: Adidas. (Hierbei handelt es sich um Beispiele und keine abschließende Aufzählung.)

4  Konzept und Entstehung

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Captive Standorte weltweit Bermuda Cayman Islands Vermont Utah Delaware Barbados North Carolina Hawaii Tennessee Luxembourg Guernsey South Carolina Nevada Arizona Nevis Montana District of Columbia Isle of Man Anguilla Singapore 0

100

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300 2020 2019

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2018

Abb. 4.1  Größte Captive-Standorte weltweit für die Jahre 2018 bis 2020. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Rudden 2020 und 2022)

In Abb. 4.1 sind die 20 größten Captive-Standorte der Welt aufgeführt. Die Sortierung ist dabei nach Anzahl aktiv betriebener Captives im Jahre 2020 vorgenommen worden. Zu beachten ist, dass der Standort USA in seine einzelnen Bundesstaaten unterteilt ist. In Deutschland selbst sind neun Captives zum Betreiben von Versicherungsgeschäft zugelassen. Von diesen neun Captives besitzen alle neun eine Rückversicherungs- und drei davon eine Erst- sowie Rückversicherungslizenz. Sie alle unterliegen der Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Über den weltweiten Markt hinweg lässt sich feststellen, dass es sich bei den bereits gegründeten Captives größtenteils um Rückversicherungsgesellschaften handelt.

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J. Warnke und C. Böhm

4.4 Deutsche Captive-Landschaft Im Folgenden wird nun der Blick auf die in Deutschland ansässigen Captives geworfen. Dazu werden sie zuerst nach der Größe des Mutterkonzerns eingeordnet. Eine Differenzierung erfolgt dabei anhand des DAX, MDAX, SDAX und nicht im DAX gelisteter Unternehmen. Unternehmen im DAX mit Captive in Deutschland Siemens AG BASF Gruppe Bayer AG

– RISICOM Rückversicherung AG – Lucura Versicherungs-AG – Pallas Versicherung AG

Unternehmen im MDAX mit Captive in Deutschland Lufthansa Group – Delvag Versicherungs-AG METRO AG – METRO Re AG (die Lufthansa ist seit 2020 und METRO seit 2012 nicht mehr im DAX) Unternehmen im SDAX mit Captive in Deutschland Keine Unternehmen, die nicht im DAX gelistet sind, mit Captive in Deutschland Boehringer Ingelheim Freudenberg Gruppe B. Braun AG Diehl Gruppe

– Incura AG – Freudenberg Rückversicherung AG – REVIUM Rückversicherung AG – Diehl Assekuranz Rückversicherungs- u. Vermittlungs-AG

Wie aufgeführt, sind drei der neun Unternehmen im DAX geführt. Zusätzlich befinden sich im MDAX mit der Lufthansa AG und der METRO AG zwei weitere ehemalige DAX-Unternehmen (vgl. finanzen.net 2022a, b, c). Hauptgrund für die geringe Anzahl von Captives in Deutschland ist, dass viele deutsche Unternehmen, wie beispielsweise die BMW AG, die Henkel AG & Co. KGaA oder die Continental AG ihre Captives bereits in den frühen 1980er- und 1990er-Jahren „offshore“ gegründet haben und weiterhin dort betreiben (vgl. Hets 1995, S. 36). Die vom Volkswagen Konzern gegründete Volkswagen Versicherung AG, als Tochtergesellschaft der Volkswagen Financial Services AG, die wiederum eine Tochtergesellschaft des Volkswagen Konzerns ist, und die ähnlich aufgebaute Mercedes-Benz Versicherung AG, als Tochtergesellschaft der Daimler Insurance Services GmbH, die wiederum eine Tochtergesellschaft der Mercedes-Benz Holding ist, werden in der folgenden Einzeldarstellung nicht mit aufgeführt. Der Grund liegt in der Tatsache, dass beide Gesellschaften nicht die Abdeckung der konzerneigenen Risiken zum Hauptzweck haben, son-

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103

dern vielmehr als Finanzierungstools für Händler und Kunden genutzt werden. So liegt der Schwerpunkt auf Garantie- und Reparaturkostenversicherungen, wobei die Garantieversicherung als Produkt für die Händler und die Reparaturkostenversicherung als Produkt für den Endkunden gedacht ist (vgl. Volkswagen Versicherung AG 2020; vgl. Mercedes-­ Benz Versicherung AG 2020).

4.4.1 Einzeldarstellungen Nach dem allgemeinen Überblick zur Captive-Landschaft in Deutschland werden nun die Konzerne inklusive ihrer gegründeten Versicherungsgesellschaften einzeln betrachtet und analysiert. Dabei sind die Informationen den Berichten zur Solvenz- und Finanzlage (Solvency and Financial Condition Report, SFCR) der Jahre 2019 und 2020 und den allgemeinen Geschäftsberichten der Konzerngesellschaften entnommen worden. Um die Risiko- und Kostensituation der jeweiligen Captive zu beschreiben, werden in einer Momentaufnahme für das Jahr 2020 ausgewählte Kennzahlen dargestellt. Auf Schadendaten wird hier bewusst verzichtet, da die Schadenquoten im Zeitablauf zu volatil sind und daher die Momentaufnahme verfälschen können.

4.4.1.1 Siemens und die RISICOM Rückversicherung Aktiengesellschaft Mit einem Jahresumsatz von 57,1 Mrd. € (58,5 Mrd. € im Jahr 2019) im Jahre 2020 ist die Siemens AG eines der größten Unternehmen, welches gleichzeitig eine eigene Captive in Deutschland besitzt. Mit insgesamt 285.000 Mitarbeitern und zahlreichen verbundenen sowie Tochterunternehmen ist die Siemens AG in 190 Ländern der Welt aktiv. Die Hauptbeschäftigungsfelder sind dabei Technologie und Elektrotechnik (vgl. Siemens AG 2021; vgl. Siemens 2020). Die RISICOM Rückversicherung ist zu 100 % ein Tochterunternehmen der Siemens AG und im Handelsregister München eingetragen. Die Rückversicherungsgesellschaft verfügt über keine eigenen Angestellten. Sämtliche Prozesse und Abläufe werden von der Siemens AG über einen Dienstleistungsvertrag abgewickelt. Hauptsitz der Versicherungsgesellschaft ist Grünwald im Landkreis München. Die RISICOM Rückversicherung ist eine für sowohl die Lebens- als auch die Nichtlebensrückversicherung zugelassene Gesellschaft, die hauptsächlich firmeninterne Risiken der Siemens AG und verbundener Unternehmen zeichnet. Geringfügig werden Risiken von Mitbewerbern der gleichen Branche in Deckung genommen. Dieser Anteil von Fremdrisiken ist jedoch gering, sodass weiterhin eher von einer Pure Captive als von einer Broad Captive gesprochen werden kann. Vor allem die Absicherung von Frequenzschadenrisiken steht im Fokus (vgl. RISICOM Rückversicherung 2020). Definition  Pure und Broad Captive unterscheiden sich anhand der in Deckung genommenen Risiken. Eine Pure Captive beschränkt sich auf firmeninterne Risiken, wohingegen die Broad Captive offen für Fremdrisiken ist.

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Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2020 Wichtigste Geschäftsfelder

Siemens AG 57.139.000.000 € Technologie und Elektrotechnik

RISICOM Rückversicherung AG Verdiente Bruttoprämie Verdiente Nettoprämie Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den ­Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

121.000.000 € 115.600.000 € 95,54 % 2.700.000 € 2,34 % 161 % A+ stable von Standard & Poor’s Feuer- und andere Sachversicherungen, Krankheitskostenversicherung, Lebensrückversicherung, allgemeine Haftpflichtversicherung (vgl. Siemens AG 2021; vgl. RISICOM Rückversicherung Aktiengesellschaft 2020)

4.4.1.2 BASF und die Lucura Versicherung AG Die BASF SE gilt mit einem Umsatz von 59,1 Mrd. € (59,3 Mrd. € im Jahr 2019) für das Geschäftsjahr 2020 als der größte Chemiekonzern der Welt. Mit seinen 110.302 (117.628 im Jahr 2019) Mitarbeitern ist der Konzern in mehr als 80 Ländern tätig. Der Hauptsitz des Unternehmens ist Ludwigshafen am Rhein (vgl. BASF Gruppe 2021). Die Lucura Versicherung AG ist eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der BASF Handels- und Exportgesellschaft mbH (diese ist wiederum eine Tochtergesellschaft der BASF SE). Die Versicherungsgesellschaft verfügt über keine eigenen Mitarbeiter, sondern hat sämtliche Bereiche inklusive der vom Gesetzgeber verlangten Schlüsselfunktionen ausgelagert. Wie die Muttergesellschaft, ist die Captive beim Amtsgericht in Ludwigshafen eingetragen. Sie besitzt eine Lizenz zum Betreiben von Erstversicherungsgeschäft seit 2013 (vorher war sie lediglich als Rückversicherer tätig) und ist neben ihrer Funktion als Risikoträger auch als firmenverbundener Vermittler tätig. Geschäft wird in den Sparten Sach-, allgemeine Haftpflicht-, See-, Luftfahrt- und Transportversicherung geschrieben. Die Sparten Kredit- und Kautionsrisikoversicherung befinden sich seit 2015 jedoch im Run-off. Ihre Rückdeckung kauft die Lucura u. a. bei der OIL Ltd. auf den Bermudas ein. Die OIL Ltd. ist als Mutual von vielen verschiedenen Unternehmen aus dem Bereich „Energy“ gegründet worden und funktioniert ähnlich einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (vgl. Lucura Versicherung AG 2021).

4  Konzept und Entstehung

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Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2020 Wichtigstes Geschäftsfeld

BASF SE 59.149.000.000 € Chemie

Lucura Versicherung AG Verdiente Bruttoprämie Verdiente Nettoprämie Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den ­Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

94.730.000 € 65.330.000 € 68,96 % 4.580.000 € 7,01 % 261 % k. A. Feuer- und andere Sachversicherungen, allgemeine Haftpflichtversicherung, See-, Luftfahrt- und Transportversicherung, Montageversicherung (vgl. BASF Gruppe 2021; vgl. Lucura Versicherungs AG 2021)

4.4.1.3 Bayer und die Pallas Versicherung Aktiengesellschaft Die Bayer AG ist das dritte der drei DAX-30-Unternehmen in Deutschland mit firmeneigener Versicherungsgesellschaft in Deutschland. Sie generierte im Geschäftsjahr 2020 einen Umsatz von 41,4 Mrd. € (43,5 Mrd. € im Jahr 2019). Die Bayer AG hat als in Leverkusen ansässiger Chemie- und Pharmaziekonzern 99.538 Mitarbeiter. Zu dem Konzernverbund gehören 420 Gesellschaften weltweit (vgl. Bayer AG 2021). Eines dieser Tochterunternehmen ist die ebenfalls in Leverkusen ansässige Pallas Versicherung AG, die ausschließlich konzerneigene Risiken der Bayer AG, entweder auf unmittelbarem oder auf mittelbarem Wege im Zuge der Rückversicherung, absichert. Diese hält auch 100 % der Aktienanteile des Unternehmens. Im Jahr 1972 gegründet und zugelassen, betreibt die Pallas Versicherung AG das Erstund Rückversicherungsgeschäft in den Bereichen der allgemeinen Haftpflichtversicherungen, Feuer- und andere Sach- sowie Betriebsunterbrechungsversicherungen. Zudem wird Geschäft in den Bereichen See, Luftfahrt und Transport geschrieben. Die Pallas Versicherung AG übernimmt als Pure Captive lediglich Risiken in Verbindung mit der Bayer AG (vgl. Pallas Versicherung AG 2021).

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J. Warnke und C. Böhm

Interessant zu sehen ist, dass die Pallas Versicherung AG für das Jahr 2020 aufgrund erhaltener Rückversicherungsprovisionen einen negativen Wert für Nettokosten, also einen Ertrag, ausweist. Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2020 Wichtigste Geschäftsfelder

Bayer AG 41.400.000.000 € Chemie und Pharmazie

Pallas Versicherung AG Verdiente Bruttoprämie Verdiente Nettoprämie Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den ­Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

81.000.000 € 9.000.000 € 11,11 % - 4.600.000 € - 51,11 % 254 % k. A. Feuer- und andere Sachversicherungen, allgemeine Haftpflichtversicherung, Transportversicherung (vgl. Bayer AG 2021; vgl. Pallas Versicherung Aktiengesellschaft 2021)

4.4.1.4 Lufthansa und die Delvag Versicherungs-AG Die Lufthansa Gruppe, die seit Anfang 2020 nicht mehr im DAX vertreten ist, verbuchte mit ihren rund 110.065 Mitarbeitern für das Jahr 2020 einen Umsatz von 13,6  Mrd.  € (2019 waren es noch 36,4 Mrd. €). Der Konzern betreibt mehrere Fluglinien (Lufthansa German Airlines, Eurowings, SWISS etc.) und deckt auch Bereiche wie Logistikdienstleistungen oder Management von Luftfrachtcontainern ab (vgl. Lufthansa Group 2021). Neben der Delvag Versicherungs-AG als Risikoträger wurde auch der Versicherungsvermittler Albatros als Tochtergesellschaft der Lufthansa Group gegründet. Dieser ist für die Vermittlung der firmeninternen Risiken und die Bearbeitung von Schadenfällen zuständig. Die Aero Lloyd AG als Vorgänger der Delvag Versicherungs-AG ist bereits in Abschn. 4.2 angesprochen worden und legte bereits früh den Grundstein für die Versicherung der firmeninternen Risiken. Die Delvag Versicherungs-AG zeichnet als zugelassener Erst- und Rückversicherer zusätzlich zu firmeninternem Geschäft auch Risiken konzernfremder Unternehmen (Broad Captive). Die Hauptgeschäftsgebiete sind Sach- und Feuerversicherungen, aber auch Ar-

4  Konzept und Entstehung

107

beitsunfall-, Kraftfahrzeug- und Berufsunfähigkeitsversicherungen. Zudem wird Geschäft in den Bereichen allgemeine Haftpflichtversicherung, Kredit- und Kautionsversicherung, nichtproportionale Sachrückversicherung und nichtproportionale See-, Luftfahrt- und Transportversicherung gezeichnet (vgl. Delvag Versicherungs-AG 2021).

Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2020 Wichtigstes Geschäftsfeld

Deutsche Lufthansa AG 13.600.000.000 € Fluglinien

Delvag Versicherungs-AG Verdiente Bruttoprämie im Jahr 2019 Verdiente Nettoprämie im Jahr 2019 Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den ­Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

76.515.000 € 49.081.000 € 64,15 % 3.961.000 € 8,07 % 250 % A von AM Best See-, Luftfahrt- und Transportversicherungen (vgl. Lufthansa Group 2021; vgl. Delvag Versicherungs-AG 2021)

4.4.1.5 METRO und die METRO Re Aktiengesellschaft Am 5. Juli 2016 wurde die METRO Reinsurance N. V. von Amsterdam nach Deutschland verlegt und gleichzeitig in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die dadurch entstandene METRO Re AG (Tochtergesellschaft der METRO Dienstleistungs-Holding GmbH, welche wiederum eine Tochtergesellschaft der METRO AG ist) ist 2016 von der BaFin als Rückversicherung zugelassen worden. Der Großhandelskonzern METRO hat 97.639 Mitarbeiter (101.654 im Jahr 2019) und erwirtschaftete mit seinen 674 Märkten in 24 Ländern einen Umsatz von 25,6 Mrd. € (27,1 Mrd. € in den Jahren 2018/2019) im Geschäftsjahr 2019/2020 (vgl. METRO AG 2020). Das Geschäft der METRO Re AG beschränkt sich auf die firmeneigenen Risiken plus Risiken der CECONOMY AG, welche früher mit der METRO AG ein gemeinsames Unternehmen bildete. Geschäft zeichnet die Captive beschränkt auf proportionale Nichtle-

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bensrückversicherung. In diesem Segment werden vor allem Sach- und Betriebsunterbrechungspolicen gezeichnet. Die METRO Re AG verfügt über keine eigenen Angestellten und hat sämtliche Funktionen und Aufgaben ausgelagert. Es wird kein Retrogeschäft gezeichnet (vgl. METRO Re AG 2020).

Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2019/2020 Wichtigste Geschäftsfelder

METRO AG 25.632.000.000 € Großhandel

METRO Re AG Verdiente Bruttoprämie im Jahr 2019 Verdiente Nettoprämie im Jahr 2019 Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den ­Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

12.662.000 € 12.662.000 € 100 % 517.000 € 4,08 % 263 % k. A. Feuer- und andere Sachversicherungen (vgl. METRO AG 2020; vgl. METRO Re AG 2020)

4.4.1.6 Boehringer Ingelheim und die Incura AG Der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim gehört zu den 20 größten Pharmaunternehmen der Welt und wies für 2020 einen Umsatz von 19,6 Mrd. € (19,0 Mrd. € im Jahr 2019) aus. Das in Ingelheim ansässige Unternehmen hat 51.944 Mitarbeiter und ist weleit tätig (vgl. Boehringer Ingelheim 2021). 2004 lizenzierte die BaFin die gegründete Captive Incura AG als Rückversicherungsgesellschaft. Deren Aufgabe ist die Absicherung der firmeninternen Risiken. Die Captive zeichnet nur Risiken aus dem Konzernverbund und ist eine Pure Captive. Hauptsächlich wird nichtproportionale Sach- und Haftpflichtversicherung geschrieben. Die bis 2018 gezeichneten See-, Luftfahrt- und Transportversicherungen befinden sich in der Abwicklung. Es wird kein Retrogeschäft gezeichnet (vgl. Incura AG 2021).

4  Konzept und Entstehung

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Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2020 Wichtigste Geschäftsfelder

Boehringer Ingelheim AG 19.556.000.000 € Pharmazie

Incura AG Verdiente Bruttoprämie im Jahr 2019 Verdiente Nettoprämie im Jahr 2019 Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den ­Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

11.598.000 € 11.598.000 € 100 % 2.301.000 € 19,84 % 257,8 % k. A. Feuer- und andere Sachversicherungen, Unfallversicherung (vgl. Boehringer Ingelheim 2021; vgl. Incura AG 2021)

4.4.1.7 Freudenberg Gruppe und die Freudenberg Rückversicherung Aktiengesellschaft Die Freudenberg Gruppe mit Hauptsitz in Weinheim an der Bergstraße in Baden-­ Württemberg ist eine Unternehmensgruppe in Familienbesitz und ist als Zulieferer für verschiedenste Branchen tätig. Darunter befinden sich die Automobilindustrie, der Maschinen- und Anlagenbau, Endverbraucher, die Textil- und die Bauwirtschaft. Im Jahr 2020 wurden 8,8 Mrd. € (9,4 Mrd. € im Jahr 2019) Umsatz erwirtschaftet. Global ist der Konzern in rund 60 Ländern vertreten. Für die Unternehmensgruppe arbeiten 47.777 Mitarbeiter (vgl. Freudenberg Gruppe 2021). Die Freudenberg Rückversicherung AG ist ein zugelassener Rückversicherer und versichert ausschließlich Risiken des Mutterkonzerns und seiner verbundenen Unternehmen. Geschäftsgegenstand ist das aktive Rückversicherungsgeschäft in der Schaden- und Unfallversicherung, gezeichnet insbesondere in den Segmenten Sach-All-Risk (zum Beispiel Feuer einschließlich Feuerbetriebsunterbrechung), Elektronik, Maschinen und Maschinenunterbrechungsversicherungen. Die Freudenberg Rückversicherung AG ist zu 100 % Eigentum der Freudenberg Versicherungsservice GmbH, einem firmenverbundenen Versicherungsvermittler, der wiederum zu 100 % der Freudenberg & Co. Kommanditgesellschaft gehört. Die Freudenberg Rückversicherung AG verfügt über keine eigenen Mitarbeiter, sondern hat sämtliche Aufgaben und Funktionen ausgelagert (vgl. Freudenberg Rückversicherung Aktiengesellschaft 2021).

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Es besteht ein Rückversicherungsvertrag mit einem deutschen Erstversicherer, der die Haftung der Freudenberg Rückversicherung AG auf 6 Mio. € für Sach- und Betriebsunterbrechungsversicherungen pro Schadenfall begrenzt. Das aggregierte Limit liegt bei 10 Mio. € pro Versicherungsjahr. Es wird kein Rückversicherungsschutz eingekauft (keine Retrozession) (vgl. Freudenberg Rückversicherung Aktiengesellschaft 2021). Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2020 Wichtigste Geschäftsfelder

Freudenberg & Co. KG 8.841.000.000 € Zulieferung für diverse Industrien

Freudenberg Rückversicherung AG Verdiente Bruttoprämie im Jahr 2019 Verdiente Nettoprämie im Jahr 2019 Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den ­Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

6.930.000 € 6.930.000 € 100 % 870.000 € 12,53 % 383 % k. A. Feuer-, Betriebsunterbrechungs- und andere Sachversicherungen (vgl. Freudenberg Gruppe 2021; vgl. Freudenberg Rückversicherung Aktiengesellschaft 2021)

4.4.1.8 B. Braun Melsungen und die REVIUM Rückversicherung Aktiengesellschaft Die B. Braun Melsungen AG ist ein Hersteller von Medizintechnik und Pharma-Produkten und Pharma-Dienstleistungen. Der Konzern wies für 2020 einen Umsatz von 7,4 Mrd. € (7,5 Mrd. € im Jahr 2019) aus. Dieser ist mithilfe seiner 64.317 Mitarbeiter weltweit erwirtschaftet worden. Wie der Firmenname bereits verrät, befindet sich der Hauptsitz in Melsungen im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis (vgl. B. Braun 2021). Die firmeneigene Versicherungsgesellschaft REVIUM Rückversicherung AG betreibt seit 2007 das Rückversicherungsgeschäft. Dies beschränkt sich auf die konzerneigenen Risiken und die Zeichnung von Nichtlebensrückversicherung. Vor allem globale Haftpflichtrisiken und Sach- sowie Betriebsunterbrechungsversicherung werden geschrieben. Dem SFCR kann man entnehmen, dass die Deckung im Haftpflichtbereich mit 10 Mio. € und in den Sach- so-

4  Konzept und Entstehung

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wie Betriebsunterbrechungsversicherungen auf 3 Mio. € pro Schadenfall begrenzt ist. Es wird kein Retroversicherungsschutz eingekauft (vgl. REVIUM Rückversicherung AG 2021).

Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2020 Wichtigstes Geschäftsfeld

B. Braun Melsungen 7.426.000.000 € Pharmazie

REVIUM Rückversicherung AG Gebuchte Bruttoprämie im Jahr 2019 Verdiente Nettoprämie im Jahr 2019 Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den ­Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

5.020.000 € 5.020.000 € 100 % 427.915 € 12,53 % 220 % k. A. Feuer-, Betriebsunterbrechungs- und andere Sachversicherungen, Unfallversicherung (vgl. B.  Braun 2021; vgl. REVIUM Rückversicherung AG 2021)

4.4.1.9 Diehl Gruppe und die Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-Aktiengesellschaft Das neunte Unternehmen ist die Diehl Gruppe, die sich auf Luftfahrtausrüstung, Wehrtechnik und Metallarbeiten spezialisiert hat. Mit ihren 16.866 Mitarbeitern erwirtschaftete die Gruppe 3,0 Mrd. € (3,6 Mrd. € im Jahr 2019) Umsatz im Jahr 2020. Hauptsitz der Diehl Gruppe ist Nürnberg (vgl. Diehl Gruppe 2021). Die seit 1998 lizenzierte Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-AG betreibt aktive und passive Rückversicherung im Bereich der Nichtlebensversicherung und vermittelt zusätzlich Versicherungsverträge sowohl für Industrie- als auch Privatkunden. In ihrer Funktion als Risikoträger werden neben den konzerneigenen Risiken auch ausgewählte konzernfremde Industriekunden abgesichert. Das geschriebene Geschäft beschränkt sich dabei für Industriekunden auf die Sach-, See-, Luftfahrt- und Transportversicherung, die allgemeine Haftpflicht- und Einkommensersatzversicherungen, welche meist nur europaweit Deckung bieten. Nur für wenige Policen wird weltweiter Versicherungsschutz geboten (vgl. Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-­AG 2021).

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J. Warnke und C. Böhm

Im Hinblick auf die Risiko- und Kostensituation ergibt sich folgendes Bild

Zusammenfassende Darstellung Muttergesellschaft Umsatz 2019 Wichtigste Geschäftsfelder

Diehl Gruppe 2.979.000.000 € Luftfahrtausrüstung, Wehrtechnik und Metallarbeiten

Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-AG Gebuchte Bruttoprämie im Jahr 2019 Verdiente Nettoprämie im Jahr 2019 Selbstbehaltsquote Netto-Kosten für den Versicherungsbetrieb Netto-Betriebskostenquote Ausgewiesene SCR-Quote Letztes Rating Wichtigste Sparten

2.760.000 € 1.590.000 € 57,75 % 520.000 € 32,87 % 176 % k. A. Feuer- und andere Sachversicherungen, allgemeine Haftpflichtversicherung, See-, Luftfahrt (vgl. Diehl Gruppe 2021; vgl. Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-AG 2021)

4.5 Zusammenfassende Darstellung Nachdem nun die einzelnen Captives inklusiver ihrer Muttergesellschaften vorgestellt wurden, wird zum Abschluss des Abschnitts ein Gesamtüberblick über den deutschen Markt gegeben, in dem die einzelnen Marktteilnehmer miteinander verglichen werden. Insgesamt gibt es auf dem deutschen Markt neun Captive Insurance Companies mit deutscher Muttergesellschaft. Mehr als die Hälfte der Muttergesellschaften ist in den verschiedenen deutschen Aktienindices vertreten. Von diesen neun Captives besitzen drei eine Erstversicherungs-, alle neun eine Rückversicherungs- und drei eine Erst- sowie Rückversicherungslizenz. Die am häufigsten versicherten bzw. rückversicherten Sparten sind dabei Feuer- und andere Sachversicherungen. Zum Vergleich der einzelnen Gesellschaften wird auf die vorher genannten Geschäftsund Solvenzberichte zurückgegriffen.

4.5.1 Umsatz- und Prämienvergleich Man kann den Einzeldarstellungen entnehmen, dass es sowohl beim Umsatz der Muttergesellschaften als auch den gebuchten Bruttoprämien der firmeneigenen Versicherungsge-

4  Konzept und Entstehung

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Umsatz der Konzerne im Vergleich zu den Bruttoprämien der Captive 140 120 100 80 60 40 20 0

Umsatz Konzerne in Mrd. Euro

verdiente Bruttoprämie der Captive in Mio. Euro

Abb. 4.2  Umsatz der Konzerne im Vergleich zu den verdienten Bruttoprämien der jeweiligen Captive für das Jahr 2020

sellschaften große Unterschiede gibt. Die größten Marktteilnehmer sind mit knapp 60 Mrd. € BASF und Siemens; kleinster Marktteilnehmer hingegen ist die Diehl Gruppe mit knapp 3 Mio. € Umsatz. In Abb. 4.2 erkennt man, dass der Umsatz als Merkmal ein guter Indikator für die aufzuwendenden Prämien für Versicherungsschutz ist. So sieht man, dass kongruent zum abnehmenden Umsatz auch die gebuchten Bruttoprämien der Captives verlaufen. Einzig bei der Lufthansa Deutschland und der Delvag als firmeneigene Versicherungsgesellschaft ist eine Ausnahme zu erkennen. Dazu ist allerdings zu sagen, dass die Delvag Versicherungs-AG neben internen auch externe Risiken zeichnet. Außer der Delvag zeichnen nur die METRO Re AG, die noch Risiken der CECONOMY AG absichert, und die Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-AG firmenfremdes Geschäft. Dies findet jedoch in einem wesentlich kleineren Rahmen statt, wie man an den verdienten Prämien sehen kann.

4.5.2 Selbstbehaltsquoten Zum weiteren Vergleich der Gesellschaften wird nun der Blick auf die einzelnen Selbstbehaltsquoten gerichtet. Um diese Kennzahlen miteinander vergleichbar zu machen, werden die verdienten Nettoprämien ins Verhältnis zu den verdienten Bruttoprämien gesetzt. Abb. 4.3 zeigt, dass die Quote bei fast allen Captives deutscher Unternehmen im oberen Drittel liegt, soweit überhaupt Rückversicherung bzw. Retroschutz eingekauft wurde. Ausgenommen von dieser Beobachtung ist die Pallas Versicherung AG, die lediglich 11,11 % der verdienten Bruttoprämien selbst hält. Das Verhältnis von verdienten Brutto- zu Nettoprämien wird dann über die Selbstbehaltsquote ausgedrückt. Hier ergibt sich das in Abb. 4.4 dargestellte Bild.

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J. Warnke und C. Böhm

Vergleich der 2020 verdienten Brutto- und Nettoprämien 140 120 100 80 60 40 20 0

verd. Bruttoprämie in Mio. €

verd. Nettoprämie in Mio. €

Abb. 4.3  Vergleich zwischen der verdienten Brutto- und Nettoprämie der einzelnen Captives

Selbstbehaltsquote der Captives in 2020 100.00 % 80.00 % 60.00 % 40.00 % 20.00 % 0.00 %

Abb. 4.4  Vergleich der Selbstbehaltsquoten der einzelnen Captives

4.5.3 Netto-Betriebskostenquote Nach diesem Vergleich zwischen den Bruttoprämien der Captives und dem Gesamtumsatz ihrer Mutterkonzerne und zum anderen der Selbstbehaltsquote werden jetzt die Netto-­ Betriebskostenquoten miteinander verglichen. Diese stellen einen wichtigen Indikator für die Rentabilität und Effizienz des Unternehmens dar.

4  Konzept und Entstehung

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Netto-Betriebskostenquoten 2020 in % 35.00 % 20.00 % 5.00 % -10.00 % -25.00 % -40.00 % -55.00 %

Abb. 4.5  Vergleich der Netto-Betriebskostenquoten der einzelnen Captives im Jahr 2020

Abb. 4.5 kann man entnehmen, dass es große Unterschiede bei den Netto-­Kostenquoten der einzelnen Captive-Versicherungsunternehmen gibt. So weist die Pallas Versicherung für das Geschäftsjahr 2020 einen Ertrag von über 51 % aus. Bei der Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-Aktiengesellschaft liegt die Netto-­Betriebskostenquote hingegen bei 32,87 %.

4.5.4 SCR-Bedeckungsquote Eine weitere wichtige Kennzahl zum Vergleich der Versicherungsgesellschaften ist die Quote der Erfüllung der Solvabilitätskapitalanforderung (Solvency Capital Requirement; SCR) gemäß Solvency II. Die SCR-Bedeckungsquote gibt vor, wie viel Eigenkapital zur Deckung der eingegangenen Risiken zur Verfügung stehen muss. Errechnet wird diese Quote meist mithilfe des verwendeten Solvency-II-Standardmodells. Dazu wird der Value-at-Risk zu einem Konfidenzniveau von 99,5  % für die übernommenen Risiken errechnet und den verfügbaren Eigenmitteln gegenübergestellt. Alternativ kann die Solvabilitätskapitalanforderung auch über ein internes oder partiell internes Modell errechnet werden. Liegt die so berechnete Quote über 100 %, ist das Unternehmen mit genügend Eigenmitteln ausgestattet, um ein statistisch gesehen alle 200 Jahre eintretendes Großschaden­ ereignis zu überstehen, und erfüllt damit die aufsichtsrechtlichen Anforderungen. Bei den untersuchten Captives liegt die Spannweite der SCR-Bedeckungsquoten von 161 % bei der RISICOM Rückversicherung AG bis zu 383 % bei der Freudenberg Rückversicherung AG.  Es ist somit sichergestellt, dass bei allen Captives das Großschaden­ ereignis hinreichend mit Eigenmitteln abgesichert ist. Die einzelnen Quoten der analysierten Captives sind in Abb. 4.6 dargestellt.

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J. Warnke und C. Böhm

SCR-Bedeckungsquoten für das Geschäftsjahr 2020 Diehl REVIUM Freudenberg Incura METRO Delvag Pallas Lucura RISICOM 0%

50 %

100 %

150 %

200 %

250 %

300 %

350 %

400 %

Abb. 4.6  SCR-Bedeckungsquoten der Captives für das Jahr 2020

Vergleicht man die Solvenzquoten mit denen der beiden größten deutschen Industrieversicherer, der Allianz Group mit einer ausgewiesenen Solvency-II-Quote von 241 % für das Jahr 2020 (vgl. Allianz Gruppe 2021) und der HDI Global SE mit einer Quote von 170,5 % (vgl. HDI Global SE 2021), stellt man fest, dass diese auf etwa gleichem Niveau liegen. Einzig die Freudenberg Rückversicherung Aktiengesellschaft ist besonders reichhaltig mit Eigenmitteln ausgestattet. Dabei ist zu beachten, dass Industrieversicherer im Gegensatz zu Captives grundsätzlich gewinnorientiert arbeiten. Andererseits muss man aber auch konstatieren, dass die Kennzahlen durchaus volatil im Zeitablauf sind.

4.6 Fazit und Ausblick Angesichts der Größe und Wirtschaftskraft des Landes gibt es recht wenig Captives mit Sitz in Deutschland. Der Captive-Standort Deutschland scheint nicht der attraktivste Captive-­Standort zu sein. Diverse deutsche Unternehmen betreiben Versicherungsgesellschaften an anderen europäischen Standorten. Favorisiert sind hier Luxemburg, Irland und Malta. Dabei ist die Anzahl der gegründeten firmeneigenen Versicherungsgesellschaften in diesen Staaten verglichen mit Deutschland wesentlich höher. Hierbei zu beachten ist, dass in Ländern wie beispielsweise Luxemburg die Ansiedlung von Captives wie ein „Geschäftsmodell“ angesehen wird. Doch auch der Standort Deutschland hat Vorteile, wie zum Beispiel die Vermeidung des Vorwurfs der Steuerflucht. Insgesamt fällt am Markt auf, dass er sich zu einem Verkäufermarkt gedreht hat. Dieser zeichnet sich vor allem durch reduzierte Kapazitäten, Engpässe bei der Versicherbarkeit einzelner Risiken, damit entstehende Deckungslücken und höhere Prämien aus.

4  Konzept und Entstehung

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Daher ist es nicht verwunderlich, dass alternative Ansätze zur Steuerung der Unternehmensrisiken, wie die Gründung industrieeigener Versicherungsgesellschaften, wieder mehr an Interesse gewinnen. Zudem ist zu erwarten, dass in den bestehenden Captives die Selbstbehalte und die abgesicherten Risiken ansteigen werden. In Machbarkeitsstudien wird es auch um die Frage des passenden Standorts einer Captive gehen. Es bleibt abzuwarten, ob der Standort Deutschland hier mehr Attraktivität zeigen wird, als es derzeit der Fall zu sein scheint.

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Geschäfts- & Solvenzberichte der betrachteten Einzelunternehmen BASF und die Lucura BASF Gruppe (2021): BASF-Bericht 2020: Ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Leistung. Online verfügbar unter: https://www.basf.com/global/documents/de/news-­and-­media/publications/reports/2021/BASF_Bericht_2020.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.022 Lucura Versicherung (2021): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage zum 31.12.2020 der LUCURA Versicherungs AG. Auf Anfrage per Mail erhalten

Bayer und die Pallas Bayer AG (2021): Geschäftsbericht 2020. Online verfügbar unter: https://www.bayer.com/sites/default/files/2021-­02/Bayer-­Geschaeftsbericht-­2020.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 Pallas Versicherung Aktiengesellschaft (2021): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage 2020. Online verfügbar unter: https://www.pallas-­versicherung.de/sites/pallasversicherung_de/files/ SFCR_5499_2020.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022

Boehringer Ingelheim und die Incura Boehringer Ingelheim (2021): Boehringer Ingelheim Unternehmensbericht 2020. Online verfügbar unter: https://unternehmensbericht.boehringer-­ingelheim.de/fileadmin/downloads/de/bi_finanzbericht_2020_de.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 Incura AG (2021): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage 2021, https://www.boehringer-­ingelheim. de/sites/de/files/unternehmensprofil/incura_ag_sfcr_2021.pdf, zuletzt gprüft am 06.02.2022

4  Konzept und Entstehung

119

B. Braun und die REVIUM B.  Braun (2021): Geschäftsbericht 2020. Online verfügbar unter: https://www.bbraun.de/content/ dam/b-­b raun/de/website/unternehmen/organisationzahlenundfakten/gesch%C3%A4ftsbericht-­2020/pdfs/2020_Gesch%C3%A4ftsbericht.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 REVIUM Rückversicherung AG (2021): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage zum 31.12.2020. Auf Anfrage per Mail erhalten

Diehl und die Diehl Assekuranz Diehl Gruppe (2021): Diehl Geschäftsbericht 2020. Online verfügbar unter: https://www.diehl.com/ cms/files/Diehl_Geschaeftsbericht_2020.pdf?download=1, zuletzt geprüft am 06.02.2022 Diehl Assekuranz Rückversicherungs- und Vermittlungs-AG (2021): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage 2020, https://www.diehl.com/cms/files/SFCR_2020.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022

Freudenberg und die Freudenberg Freudenberg Gruppe (2021): Geschäftsbericht 2020. Online verfügbar unter: https://www.freudenberg.com/fileadmin/downloads/deutsch/FreudenbergGruppe_Geschäftsbericht2020.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 Freudenberg Rückversicherung Aktiengesellschaft (2021): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage (SFCR) zum 31.12.2020. Online verfügbar unter: https://www.freudenberg.com/fileadmin/ downloads/deutsch/2020_Bericht-­ueber-­Solvabilitaet-­Finanzlage_SFCR.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 https://www.freudenberg.com/fileadmin/downloads /deutsch/2019_Bericht-­ueber-­ Solvabilitaet-­Finanzlage_SFCR_.pdf

Lufthansa und die Delvag Lufthansa Group (2021): Geschäftsbericht 2020. Online verfügbar unter: https://investor-­relations. lufthansagroup.com/fileadmin/downloads/de/finanzberichte/geschaeftsberichte/LH-­GB-­2020-­d. pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 Delvag Versicherungs-AG (2021): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage (SFCR). Online verfügbar unter: https://www.delvag.de/documents/4566327/4575825/Delvag_SFCR_2020/d5971d7cb2d5-1e00-1e45-3c100020e8e8, zuletzt geprüft am 06.02.2022

METRO und die METRO Re METRO AG (2020): Geschäftsbericht 2019/20. Online verfügbar unter: https://berichte.metroag.de/ geschaeftsbericht/2019-­2020/serviceseiten/downloads/files/entire-­metro-­ar20.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 METRO Re AG (2020): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage zum 30.09.2020. Auf Anfrage per Mail erhalten

120

J. Warnke und C. Böhm

Siemens und die RISICOM Siemens AG (2021): Geschäftsbericht 2020. Online verfügbar unter: https://assets.new.siemens. com/siemens/assets/api/uuid:786b2ce1-­f20b-­4f53-­a128-­881370ba8155/siemens-­gb2020.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 Siemens (2020): Geschäftsbericht 2019. Online verfügbar unter: https://assets.new.siemens.com/ siemens/assets/api/uuid:bb722ca2-­ba5e-­4886-­a59c-­a31f5cb10508/siemens-­gb2019.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.022 RISICOM Rückversicherung Aktiengesellschaft (2020): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage (SFCR) zum 30.09.2020. Online verfügbar unter: https://assets.new.siemens.com/siemens/ assets/api/uuid:0f30e30d-­b424-­473b-­99c5-­4e756b0e9fcd/sfcr-­6946-­2020.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022 RISICOM Rückversicherung Aktiengesellschaft (2019): Bericht über die Solvabilität und Finanzlage (SFCR) zum 30.09.2019. Online verfügbar unter: https://assets.new.siemens.com/siemens/ assets/api/uuid:a2d00994-­511a-­4fa3-­9104-­48be4012e94d/sfcr-­6946-­2019.pdf, zuletzt geprüft am 06.02.2022

Jonas Warnke  beendete im Jahr 2017 seine Ausbildung zum Kaufmann für Versicherungen und Finanzen bei der Provinzial Versicherung Münster. Anschließend studierte er Versicherungswesen mit den Schwerpunkten Risikomanagement, Rückversicherung und Organisation und Informationsverarbeitung des Versicherungsbetriebs am Institut für Versicherungswesen der Technischen Hochschule Köln. Derzeit befindet er sich im Masterstudium Risk and Insurance der Technischen Hochschule Köln. Nebenbei arbeitet er als Werkstudent bei der Scor Rückversicherung. Christian Böhm,  Volljurist, begann seine berufliche Laufbahn 1989 bei Komposit, dem firmenverbundenen Versicherungsvermittler der ABB AG in Mannheim. Er leitete ab 1993 die Abteilung Recht und Liegenschaften der Stadtwerke Erfurt Strom und Fernwärme GmbH, wechselte aber 1998 zurück zur Industrieversicherung in die Versicherungsabteilung der BASF AG in Ludwigshafen. Von 2005 bis 2012 war er Geschäftsführer der Schott-Zeiss Assekuranzkontor GmbH in Mainz, dem firmenverbundenen Versicherungsvermittler der SCHOTT AG und der Carl Zeiss AG.  Seit Ende 2012 ist er Leiter der Corporate Function Insurance der Freudenberg-Gruppe in ­Weinheim/Berg­ straße und Geschäftsführer des Inhouse Brokers Freudenberg Versicherungsservice GmbH sowie Vorstandsvorsitzender der Captive Freudenberg Rückversicherung AG.

5

Gründe für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle Holger Kraus und Marc Paasch

Inhaltsverzeichnis 5.1  R  isikosituation und -appetit des Unternehmens  5.1.1  Risikosituation  5.1.2  Risikotoleranz  5.2  Verfassung des Industrieversicherungsmarktes  5.3  Fragestellungen im Zusammenhang mit der Gründung und dem Betrieb einer Captive  5.3.1  Auswirkungen auf GuV und Mittelfluss bei der Muttergesellschaft und deren Tochtergesellschaften  5.3.2  Abklärung der Machbarkeit  5.3.3  Evaluation des geeigneten Instruments  5.3.4  Evaluation des geeigneten Standorts  5.3.5  Betrieb der Captive  5.4  Zeichnungspolitik einer Captive: Eigene Risiken vs. Drittrisiken  5.5  Steuerungslogik einer Captive: Cost Center vs. Profit Center  5.6  Lebenszyklen einer Captive  5.6.1  Gründung  5.6.2  Aufnahme der (Rück-)Versicherungsbetriebs  5.6.3  Überprüfung und Anpassung der Geschäfts- und Risikostrategie  5.6.4  Abwicklung und Schließung/Verkauf  5.7  Ausblick 

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H. Kraus (*) Siemens AG, München, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Paasch Willis Towers Watson, London, Großbritannien E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_5

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H. Kraus und M. Paasch

Zusammenfassung

In Zeiten des Wandels, der Ungewissheit und wirtschaftlicher Herausforderungen müssen Unternehmen zunehmend agil und innovativ sein, wenn es darum geht, alle Aspekte ihrer Geschäftstätigkeit zu managen, darunter auch die mit der Geschäftstätigkeit verbundenen versicherungsfähigen Risiken. Im Folgenden wird ausgeführt, welche Gründe in diesem Zusammenhang für den Einsatz einer unternehmenseigenen Erstoder Rückversicherungsgesellschaft (Captive) sprechen können und welche Geschäftsmodelle zu beobachten sind.

5.1 Risikosituation und -appetit des Unternehmens Soll der Einsatz einer Captive in Betracht gezogen werden, sind in einem ersten Schritt folgende beiden Fragen zu beantworten: 1. Wie gestaltet sich die Risikosituation eines Unternehmens, das heißt, welche versicherungsfähigen Risiken betreffen ein Unternehmen und welche Charakteristika weisen diese auf? 2. Welchen Risikoappetit hat das Unternehmen mit Bezug auf versicherungsfähige Risiken, das heißt, in welchem Umfang kann und will ein Unternehmen Risiken selbst tragen?

5.1.1 Risikosituation Unternehmen gehen im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit Risiken ein, um ihre geschäftlichen Ziele zu erreichen. Die Bereitschaft, Risiken einzugehen, ist somit Voraussetzung für den in verschiedenen Kennzahlen gemessenen wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens. Gleichzeitig soll jedoch die Realisierung unerwünschter Risiken vermieden oder zumindest die wirtschaftlichen Folgen ihrer Realisierung abgemildert werden. Da eine Captive nur für die Finanzierung grundsätzlich versicherungsfähiger Risiken eingesetzt werden kann, konzentriert sich dieser Abschnitt auf dieses Risikofeld. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen Risiken, die versicherungsfähig sind und für die ein Markt für Risikotransfer besteht, und versicherungsfähigen Risiken, für deren Transfer kein Markt besteht. In beiden Bereichen ist der Einsatz einer Captive denkbar, jedoch erfolgt die Bewertung des Einsatzes nach unterschiedlichen Kriterien, die im Abschnitt „Verfassung des Industrieversicherungsmarktes“ näher ausgeführt werden. Abb.  5.1 illustriert dies beispielhaft. Eine mögliche Vorgehensweise bei der Analyse der Risikosituation besteht darin, zunächst ein Inventar der versicherungsfähigen Risiken sowie zugehöriger Kenngrößen für die Bewertung der Risikoexponierung (zum Beispiel Versicherungssummmen, Umsätze, Schadenszenarien) zu erstellen und dies um Schadeninformationen, ggf. bereits einkaufte Limits und entsprechende Prämienvolumina zu ergänzen.

5  Gründe für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle

123

Höhe der Deckung/Limit

Versicherungsmarkt bietet keine Deckung an Exponierung/vom Unternehmen gewünschter Versicherungsschutz Versicherungsmarkt bietet Deckung an

Breite der Deckung

Abb. 5.1  Versicherungsfähige Risiken mit/ohne Markt für Risikotransfer. (Quelle: eigene Darstellung)

Dies ermöglicht eine Einordnung nach Kritikalität der einzelnen Risikofelder (das bedeutet eine Untersuchung, ob das Risiko bei Realisierung unter finanziellen Gesichtspunkten für das Unternehmen relevant ist), Risikoqualität/Schadenerfahrung (realisiert sich dieses Risiko eher häufig oder eher selten) und Charakteristik der Risiken (handelt es sich eher um ein großschadengeneigtes oder eher um ein frequenzschadengeneigtes Risiko). Diese Risikoanalyse bietet eine erste Einschätzung dafür, welche Risiken für eine Captive infrage kommen können. In der Regel werden Captives für mittelfrequente und mittelschwere Risiken eingesetzt, während Frequenzschäden am kosteneffizientesten über Selbstbehalte getragen und Katastrophenrisiken – soweit möglich – an Versicherer transferiert werden.

5.1.2 Risikotoleranz Der Einsatz einer Captive ist im Regelfall nur dann sinnvoll, wenn ein Unternehmen in der Lage (Eigentragungskapazität) und bereit (Risikotoleranz) ist, in substanziellem Umfang Risiken selbst zu tragen. Dabei sind unternehmensspezifische, objektive und subjektive Kriterien zu berücksichtigen, welche letztendlich den Risikoappetit eines Unternehmens bestimmen. Die Ermittlung der Risikotoleranz ist der erste Schritt für ein Unternehmen, das nach einer Optimierung seines Risikomanagements und der darauf aufbauenden Risikofinanzierung strebt. In der Regel existieren in Unternehmen, welche nicht der Finanz- oder Versicherungsindustrie zuzuordnen sind, noch keine umfassenden internen Modelle oder Standardmodelle, analog zu zum Beispiel Solvency II, welche eine quantitative Abbildung der Gesamt­ risikosituation ermöglichen.

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H. Kraus und M. Paasch

Hilfsweise bietet es sich daher an, die Risikotoleranz für einzelne Risikogruppen eines Unternehmens zu bestimmen. Im Zusammenhang mit der Captive-Fragestellung ist dies die Gruppe der versicherungsfähigen Risiken. Die Risikotoleranz eines Unternehmens mit Bezug auf versicherungsfähige Risiken lässt sich bestimmen, indem zum einen die wirtschaftliche Risikotragfähigkeit und zum anderen die unternehmensspezifische Bereitschaft zur Risikotragung ermittelt wird. Die Risikotragfähigkeit eines Unternehmens lässt sich auf der Grundlage der für die Geschäftsführung oder den Vorstand eines Unternehmens relevanten finanziellen Kennzahlen ermitteln. In der Regel wird dabei auf Kennzahlen abgestellt, welche sich auf die Ertrags-, Liquiditäts- und Vermögenslage eines Unternehmens beziehen. Die entsprechenden Ist- bzw. Zielwerte geben eine Indikation für die maximale Eigentragung. So erlaubt zum Beispiel die Größe des operativen Gewinns eines Unternehmens eine Aussage darüber, in welchem Umfang sich ungeplante negative Ereignisse realisieren können, bis ein operativer Verlust eintritt. Die Risikotoleranz eines Unternehmens ergibt sich nun aus der unternehmensindividuell zu bestimmenden Bereitschaft, Abweichungen von definierten Zielgrößen durch die Realisierung ungeplanter negativer Ereignisse zu tolerieren, die sich dann in der Gewinn-­ und-­Verlust-Rechnung, im Mittelfluss und/oder im Eigenkapital niederschlagen. Das bedeutet, die Risikotoleranz bezieht sich auf Schäden, welche oberhalb des erwarteten Schadenaufwands, das heißt insbesondere oberhalb des Frequenzschadenbereichs, eintreten. Die Risikotoleranz definiert die Bereitschaft eines Unternehmens, die aus der über den erwarteten Schadenaufwand hinausgehenden Eigentragung von Schäden resultierende Volatilität im jährlichen Schadenaufwand zu tragen. Abb. 5.2 verdeutlicht dies. Finanzkennzahlen

Wert der Finanzkennzahl

Effekt der Eigentragung bei Eingentragung in Höhe von Option 1:

Option 2:

Option 3:

EUR 30.000.000

EUR 50.000.000

EUR 75.000.000

Gewinn vor Steuern (in EUR)

2.500.000.000

-1,2000 %

-2,0000 %

-3,0000 %

Free Cash Flow (in EUR)

4.000.000.000

-0,5625 %

-0,9375 %

-1,4063 %

Effekt der Risikoeigentragung 0.0000 % -0.5000 % -1.0000 % -1.5000 % -2.0000 % -2.5000 % -3.0000 % -3.5000 %

3,00,00,000

5,00,00,000

Gewinn vor Steuern

Abb. 5.2  Risikotoleranz. (Quelle: eigene Darstellung)

7,50,00,000

Free Cash Flow

5  Gründe für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle

125

Wahrscheinlichkeit

Erwarteter Verlust

Unerwarteter Verlust

Restliches Verlustpotenzial Eigentragung

Risikotoleranz in EUR p.a.

Risikotransfer

Eigentragung

Kumulierte Schadensumme

Absicherungsniveau

Abb. 5.3  Ermittlung der Risikotoleranz. (Quelle: eigene Darstellung)

Die Risikotoleranz ist zum einen abhängig von externen Faktoren, wie zum Beispiel Markterwartungen, Bedingungen für den Erhalt eines bestimmten Ratingniveaus (zum Beispiel BBB+) oder Mindestgrößen für gewisse Finanzkennzahlen, die von Fremdkapi­ talgebern gefordert werden (sogenannte Financial Covenants). Zum anderen existieren neben den versicherungsfähigen Risiken weitere Risikobereiche, sodass im Regelfall nur ein gewisser Teil der Risikotoleranz für den Bereich der versicherungsfähigen Risiken zur Verfügung steht. Sowohl die Gesamttoleranz je Kennzahl als auch die Höhe des Anteils davon, der für versicherungsfähige Risiken eingesetzt wird, werden meist durch den Finanzgeschäftsführer oder Finanzvorstand eines Unternehmens entschieden. Erleichtert wird diese Entscheidung durch eine strukturierte Diskussion zu Kennzahlen und Risikopotenzialen anhand einer Analyse der Effekte verschiedener Eigentragungsniveaus auf Finanzkennzahlen des Unternehmens. Abb. 5.3 zeigt beispielhaft, wie sich verschiedene Eigentragungsoptionen im Realisierungsfall auf die Finanzkennzahlen Gewinn vor Steuern und Free Cash Flow auswirken.

5.2 Verfassung des Industrieversicherungsmarktes Neben Risikosituation und Risikoappetit ist auch die jeweilige Verfassung des Versicherungsmarktes eine wesentliche Komponente in der Entscheidungsfindung zur Risikoeigentragung. Ausschlaggebend ist hierbei zum einen das Preisniveau für den Risikotransfer und zum anderen die Verfügbarkeit von Transferkapazität sowohl betreffend den Deckungsumfang als auch die Deckungsstrecke. Im ersten Fall ergibt sich für ein Unternehmen die Aufgabe einer ökonomischen Optimierung, das bedeutet eine Minimierung des Gesamtaufwands für versicherungsfähige Risiken durch eine optimale Kombination von Risikoeigentragung und -transfer. Ent-

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H. Kraus und M. Paasch

spricht jedoch die Höhe oder der Umfang des von Versicherern angebotenen Risikotransfers nicht dem Deckungsbedarf eines Unternehmens, stellt sich die Frage, wie die vom Versicherungsmarkt erzwungene Risikoeigentragung in der für das Unternehmen bestmöglichen Weise umgesetzt werden kann. Seit einigen Jahren ist eine zunehmende Verhärtung des Versicherungsmarktes zu beobachten, die sowohl zum Teil signifikante Erhöhungen von Prämienraten als auch die Reduzierung von Kapazitäten und den Ausschluss von bisher versicherten ­Deckungsbestandteilen umfasst. Die erzwungene Risikoeigentragung durch Unternehmen nimmt folglich tendenziell zu. Ursachen für diese Entwicklung sind insbesondere folgende Punkte: Schadenentwicklung • In den Jahren 2017 und 2018 traten Schäden aus Naturkatastrophen ein, welche insgesamt mehr als 220 Mrd. US-Dollar ausmachten. Dies ist die bisher höchste Summe in zwei aufeinanderfolgenden Jahren. • Die Versicherer mussten ihre Schadenreserven für Wirbelstürme in den USA, Taifune in Japan und Waldbrände signifikant erhöhen. • Es ist ein anhaltender Anstieg von Schäden aus Sekundärgefahren wie Waldbränden, Tornados oder Hagel zu beobachten. • Erhebliche Zunahme der Kosten für Schadenersatz mit Strafcharakter (Punitive Damages). • Erhebliche Zunahme der durchschnittlichen jährlichen Anzahl von Aktionärssammelklagen. • Zunehmende Kosten für Rechtsstreitigkeiten. • Stark zunehmende Anzahl und Kosten von Cyberschadenfällen. • Schäden aufgrund der COVID-19-Pandemie. Wirtschaftliche Situation der Versicherer Die Zinsen sind historisch niedrig, sodass die Kapitalanlagen der Versicherer nur noch geringe Erträge abwerfen und damit negative versicherungstechnische Ergebnisse nur noch in sehr geringem Umfang ausgleichen können. Gleichzeitig sind die Versicherungsprämien in den vergangenen Jahren aufgrund eines sehr intensiven Wettbewerbs der Versicherer untereinander und zwischen Versichererkapital und alternativem Kapital immer weiter unter die versicherungsmathematisch erforderlichen Raten gefallen. Insbesondere im Industrieversicherungsbereich haben die Versicherer aufgrund dieser Situation in den vergangenen Jahren nur sehr geringe Erträge und vielfach sogar Verluste erwirtschaftet.

5  Gründe für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle

127

Rückversicherungsmarkt und alternatives Kapital Die Rückversicherer sind mit den gleichen Entwicklungen wie die Erstversicherer konfrontiert und erhöhen deshalb ihre Preise und reduzieren ebenfalls Kapazitäten. Alternatives Kapital, zum Beispiel im Bereich Insurance Linked Securities, hat aufgrund der Schadenerfahrung ebenfalls höhere Renditeerwartungen, sodass der Preiswettbewerb zwischen (Rück-)Versicherungskapital und alternativem Kapital nachlässt.

5.3 Fragestellungen im Zusammenhang mit der Gründung und dem Betrieb einer Captive Im Zusammenhang mit der Gründung und dem Betrieb einer Captive sollte ein Unternehmen folgende Themen adressieren.

5.3.1 Auswirkungen auf GuV und Mittelfluss bei der Muttergesellschaft und deren Tochtergesellschaften Zunächst ist es sinnvoll, Klarheit darüber zu schaffen, welche Effekte mit einer eigenen Erst- oder Rückversicherungsgesellschaft oder durch die Nutzung einer funktional analogen Infrastruktur auf vertraglicher Basis erzielt werden können. Aus Sicht der Entscheider stehen hierbei insbesondere Auswirkungen des Einsatzes einer Captive auf den Mittelfluss (Cashflow) sowie die Gewinn-und-Verlust-Rechnung eines Unternehmens, und zwar sowohl auf oberster Ebene des Unternehmens (konsolidiert) als auch auf Ebene der Tochtergesellschaften, im Vordergrund. Mittelfluss Hinsichtlich des Cashflows ist festzustellen, dass der Prämienanteil, welcher letztendlich in der Captive verbleibt, im Falle einer Erstversicherungs-Captive die Unternehmenssphäre zunächst nicht verlässt und im Falle eine Rückversicherungsgesellschaft diese ­zunächst nur für die Zeitspanne zwischen der Prämienzahlung an den frontenden Versicherer und dessen Zession der Prämie an die Captive verlässt. Da die Mittel zweckgebunden sind (für die Erfüllung möglicher versicherungstechnischer Verpflichtungen der ­Captive gegenüber dem Policeninhaber (Erstversicherungs-Captive) oder dem Fronter (Rückversicherungs-­Captive) sind sie – sofern sie von der Captive als liquide Mittel gehalten und nicht längerfristig angelegt werden – bilanziell in der Regel als „restricted cash“ auszuweisen. Es ergibt sich folglich zunächst kein oder nur ein zeitlich befristeter Liquiditätsabfluss (Cash Out) aus Gesamtunternehmenssicht, der effektive Cash Out erfolgt erst dann, wenn versicherte Schäden eintreten und die Schadenzahlungen vollständig oder teilweise durch die Captive zu leisten sind. Bei Risikotransfer an einen externen Versicherer hingegen erfolgt der Cash Out mit Zahlung der Prämie an den Versicherer. Für die Tochtergesellschaften des Unternehmens ist es hinsichtlich ihres Cashflows unerheblich,

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H. Kraus und M. Paasch

ob eine Captive eingesetzt ist, da bei ihnen der Cash Out mit der Zahlung der Prämie an die Erstversicherungs-Captive oder den für eine Rückversicherungs-Captive frontenden Versicherer eintritt. GuV-Wirkung Hinsichtlich der GuV-Wirkung auf Gesamtunternehmensebene ist festzustellen, dass Aufwand im Umfang der von der Captive gezeichneten Beteiligung an einem versicherten Schaden erst dann entsteht, wenn der Schaden effektiv eintritt und die betroffene Einheit eine entsprechende Rückstellung stellt oder Abschreibung vornehmen muss. Die Prämienzahlung an die Erstversicherungs-Captive oder an den frontenden Versicherer einer Rückversicherungs-­Captive (unter Vernachlässigung des Zeitverzugs zwischen Zahlung an den Fronter und Prämieneingang bei der Captive) stellt auf Gesamtunternehmensebene keinen Aufwand dar. Aus Gesamtunternehmenssicht ist folglich die Risikoeigentragung über eine Captive hinsichtlich GuV und Bilanzwirkung im Wesentlichen einer direkten Risikoeigentragung gleichzustellen, sofern Versicherungsnehmer und Prämienzahler die Muttergesellschaft und/oder konsolidierte Tochtergesellschaften sind. Mit einer Captive ergeben sich erfolgswirksame und bilanziell wirksame Effekte erst dann, wenn von der Captive versicherte Schäden eintreten bzw. bezahlt werden und damit im Vergleich zu einer klassischen Risikotransferlösung verzögert. Ohne eine Captive tritt der Ergebniseffekt mit der Prämienzahlung an den Versicherer ein, mit einer Captive wird der Ergebniseffekt auf die Zukunft verschoben (konkret auf den Zeitpunkt des Eintritts eines versicherten Schadenereignisses oder dessen Zahlung). Gleichzeitig besteht bei klassischem Risikotransfer Budgetsicherheit dahin gehend, dass der Aufwand auf den Prämienbetrag fixiert ist, während er bei Einsatz einer Captive abhängig vom effektiv eintretenden Schadenaufwand über oder unter Versicherungsprämie liegen kann, die bei Risikotransfer für die betreffende Versicherungsperiode an den Versicherer zu zahlen ist. Für die Tochtergesellschaften eines Unternehmens wiederum ist es hinsichtlich des Ergebnis- und Bilanzeffekts unerheblich, ob die Risikotragung letztlich durch einen externen Versicherer oder eine Captive erfolgt. Zusammengefasst bedeutet dies, dass mittels einer Captive  – sofern sie konsolidiert wird – keine Ergebnisglättungseffekte vergleichbar einer externen Versicherung auf Gesamtunternehmensebene erzielt werden können. Auf Ebene der Tochtergesellschaften hingegen wirkt eine Eigentragungslösung mittels einer Captive analog dem Transfer an einen externen Versicherer.

5.3.2 Abklärung der Machbarkeit Hier ist es sinnvoll, zweistufig vorzugehen und zunächst die Frage zu beantworten, ob die Wirtschaftlichkeit grundsätzlich gegeben ist und die Aussicht besteht, die im Unternehmen für die Gründungsentscheidung relevanten Stakeholder von der Sinnhaftigkeit einer Captive-Gründung zu überzeugen.

5  Gründe für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle

129

Zur Beantwortung dieser Frage bietet es sich an, in einem ersten Schritt einen groben Geschäftsplan zu erstellen. Ergibt dieser ein grundsätzlich positives Ergebnis, können die relevanten Stakeholder im Unternehmen identifiziert werden und mit ihnen eine Vordiskussion zu ihren Einschätzungen oder auch Vorbehalten gegenüber einem derartigen In­ strument geführt werden. Dies unterstützt die finale Entscheidungsfindung, da gegenüber den Entscheidern aufgezeigt werden kann, dass im Vorfeld alle relevanten Themenbereiche adressiert wurden und für mögliche Vorbehalte bereits Lösungsvorschläge entwickelt wurden. Zeichnet sich im Rahmen der Vorarbeit eine grundsätzliche Machbarkeit ab, empfiehlt es sich in einem zweiten Schritt, eine umfassende Machbarkeitsstudie zu erstellen. Details zu Inhalten und Aufbau einer solchen Studie finden sich in dem Beitrag zur Machbarkeitsstudie (Kap. 6).

5.3.3 Evaluation des geeigneten Instruments Ist die Machbarkeit grundsätzlich gegeben, ist zu entscheiden, welches Instrument sich für das betreffende Unternehmen anbietet. Grundsätzlich lässt sich dabei unterscheiden zwischen der Gründung einer eigenen Versicherungsgesellschaft und der Nutzung einer vorhandenen Infrastruktur auf vertraglicher Basis (zum Beispiel Virtual Captive, Protected Cell etc.). Zudem ist zu prüfen, ob das einzusetzende Instrument als Erst- oder Rückversicherungsgesellschaft aufgesetzt werden soll. Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Ausprägungsformen findet sich in Kap. 8.

5.3.4 Evaluation des geeigneten Standorts Eine weitere Frage, die im Zusammenhang mit der Gründung bzw. dem Einsatz einer Captive zu beantworten ist, betrifft die Wahl des Standorts. Folgende Kriterien werden hierbei in der Regel analysiert: • • • •

Infrastruktur, Reputation, Steuern, Aufsichtsrecht.

Das Kriterium Infrastruktur umfasst sowohl die Breite und Tiefe des Angebots an für das Betreiben einer Captive notwendigen und/oder vom Eigentümer der Captive gewünschten extern zu beziehenden Dienstleistungen wie zum Beispiel Captive Management, Wirtschaftsprüfer, Management von Kapitalanlagen, aktuarielle Dienstleistungen als auch

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technische Infrastruktur sowie die Erreichbarkeit des Captive-Standorts. An klassischen Captive-Standorten finden sich in der Regel dezidierte Captive-Management-Gesellschaften, die ein vollständiges Outsourcing des Captive Managements anbieten, an Standorten bzw. in Ländern, die nur eine sehr geringe Anzahl an Captives aufweisen, sind ggf. keine Full-Service-Outsourcing-Angebote verfügbar und die Leistungen müssen teilweise bei unterschiedlichen Anbietern eingekauft werden. Auch die Frage der Reputation eines Standorts kann für die Standortwahl relevant sein. Im Vordergrund steht hierbei insbesondere die Frage, inwieweit sich aus der Ansiedlung einer Captive an einem bestimmten Standort Reputationsrisiken für die Muttergesellschaft ergeben könnten bzw. in welchem Umfang diese akzeptabel sind. Auch Art und Umfang der Unternehmensbesteuerung können für die Standortwahl eine Rolle spielen, wenngleich zu beobachten ist, dass Fragen der Steueroptimierung im Zusammenhang mit dem Betreiben einer Captive in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren haben. Das Aufsichtsregime und seine praktische Umsetzung ist ebenfalls ein relevanter Faktor der Standortwahl. Damit einhergehen unter anderem Anforderungen an die Kapitalausstattung, die Ausgestaltung der Geschäftsorganisation und Berichtspflichten gegenüber der Aufsichtsbehörde. Diese aufsichtlichen Anforderungen sind je nach lokalem Aufsichtsregime sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Europa ansässige Captives unterliegen – sofern sie nicht definierte Ausnahmetatbestände erfüllen – der Aufsicht gem. Solvency II, wobei in der Ausübung der Aufsicht durch die jeweiligen lokalen Aufsichtsbehörden noch keine vollständige Harmonisierung zu beobachten ist. In den USA obliegt die Versicherungsaufsicht den Bundesstaaten, sodass dort von Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedliche regulatorische Anforderungen bestehen. Darüber hinaus existieren eine Vielzahl von Captive-Standorten mit im Vergleich zu Solvency II oder den in den Regularien in den USA relativ niedrigen regulatorischen Anforderungen. Neben der Frage des regulatorischen Aufwands ist bei der Bewertung – zumindest im Falle einer Rückversicherungs-­ Captive – auch die Akzeptanz durch den Fronter zu berücksichtigen.

5.3.5 Betrieb der Captive Fällt die Wahl des Instruments auf eine eigene Erst- oder Rückversicherungsgesellschaft, ist die Frage zu beantworten, welche mit dem Betreiben eine Versicherungsgesellschaft verbundenen Organfunktionen, ggf. aufsichtsrechtlich geforderten Funktionen und Handlungsfelder mit unternehmenseigenen Ressourcen bedient und welche ggf. bei externen Anbietern eingekauft werden sollen. Folgende wesentliche Funktionen/Handlungsfelder sind dabei zu berücksichtigen: • Organe/Mitarbeitende, • Kapitalausstattung/-management, • Versicherungstechnik: Underwriting/Pricing, Reservierung,

5  Gründe für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle

• • • • • •

131

Kapitalanlage/Liquiditätsmanagement, Rechnungswesen/Rechnungslegung/Konsolidierung, Regulatorik/Berichtswesen, Steuer, Geschäftsorganisation/gesellschaftsrechtliche Anforderungen, Sicherheitenstellung.

5.4 Zeichnungspolitik einer Captive: Eigene Risiken vs. Drittrisiken Captives können grundsätzlich sowohl für die Finanzierung eigener Risiken als auch für die Übernahme von Drittrisiken eingesetzt werden. Auch eine Kombination von beiden Risikoformen ist möglich. Bei der Zeichnung eigener Risiken steht in der Regel die Optimierung der Finanzierung von versicherungsfähigen Risiken als Ziel im Vordergrund. Wenn Captives für die Übernahme von Drittrisiken eingesetzt werden, dient die Captive in der Regel der Gewinnerzielung aus dem Betrieb des Versicherungsgeschäfts. Häufig sind solche Strukturen dann zu finden, wenn ein Unternehmen Versicherung als Zusatzleistung zu seinem Kernprodukt verkauft. Beispielhaft kann hier ein Telekommunikationsunternehmen genannt werden, welches Telefontarife inkl. Mobiltelefonen und zudem Versicherungsschutz für die Telefone anbietet. Einige Unternehmen zeichnen in ihren Captives sowohl eigene Risiken als auch Risiken Dritter, um zu erreichen, dass an die Captive für eigene Risiken gezahlte Prämien steuerlich als Betriebsaufwand anerkannt und damit abzugsfähig sind. Die steuerlichen Regelungen können abhängig vom Sitzland der Captive und/oder ihrer Muttergesellschaft variieren.

5.5 Steuerungslogik einer Captive: Cost Center vs. Profit Center Die Steuerungslogik einer Captive ist ebenfalls durch die Muttergesellschaft zu entscheiden. Grundsätzlich sind zwei Ansätze zu beobachten: • Führung der Captive als Cost Center, • Führung der Captive als Profit Center. Zeichnet eine Captive ausschließlich unternehmenseigene Risiken, wird sie vielfach als Not-for-Profit Center oder Cost Center geführt. Abhängig von der Rechtsform der Captive und ihrem Standort, wird teilweise eine Gewinnerzielungsabsicht vorausgesetzt, dennoch kann auch in diesem Fall zum Beispiel ein nur sehr niedriger Gewinn angestrebt werden,

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H. Kraus und M. Paasch

Hintergrund für diese Steuerungslogik ist, dass alle Prämien, die in die Captive fließen, von ihrer Muttergesellschaft bzw. deren Tochtergesellschaften entrichtet werden. Es handelt sich dabei folglich nicht um Mittel, die die Captive von externen Geschäftspartnern einnimmt. Aus konsolidierter Sicht ist es daher unter Vernachlässigung von Steuereffekten neutral, ob durch den Einsatz einer Captive erzielbare finanzielle Vorteile durch niedrigere Prämien bei den Versicherungsnehmern ankommen oder als Gewinn in der Captive ankommen. Zudem unterliegen Versicherungsprämien der Versicherungsteuer, für die – anders als für die Umsatzsteuer  – keine Möglichkeit des Vorsteuerabzugs besteht, sodass diese einen echten Aufwand für das versicherungsnehmende Unternehmen darstellt. ­Hinsichtlich der Akzeptanz einer Captive auch bei den Tochterunternehmen kann es durchaus von Vorteil sein, etwaige finanzielle Vorteile aus ihrem Einsatz direkt den Versicherungsnehmern zukommen zu lassen.

5.6 Lebenszyklen einer Captive Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die wesentlichen Lebenszyklen einer Captive gegeben.

5.6.1 Gründung Die Gründung einer Captive umfasst die Erfüllung aller Erfordernisse für die Aufnahme des (Rück-)Versicherungsbetriebs durch die Gesellschaft. Dies sind die Gründung einer Erst- bzw. Rückversicherungsgesellschaft, das Aufsetzen der Organisation und -sprozesse zur Gewährleistung eines ordentlichen Geschäftsbetriebs (dies kann zum Beispiel die Beauftragung eines externen Captive Managers beinhalten), die Ausstattung der Gesellschaft mit dem aufsichtsrechtlich geforderten und dem geplanten Geschäftsumfang angemessenen Kapital sowie die Einholung der Bewilligung für den Betrieb des (Rück-)Versicherungsgeschäfts durch die zuständige Aufsichtsbehörde. Bei Nutzung einer Protected Cell entfällt die Gründung einer eigenen Gesellschaft. In diesem Fall ist mit dem Anbieter der Cell eine Einigung über den Cell-Management-Vertrag und ggf. eine Sicherheitenstellung zugunsten der Cell zu erzielen sowie eine Genehmigung der lokalen Aufsicht für den Geschäftsplan der Cell einzuholen.

5.6.2 Aufnahme der (Rück-)Versicherungsbetriebs Das Betreiben von (Rück-)Versicherungsgeschäft bedingt nahezu weltweit eine entsprechende Genehmigung durch die lokale Versicherungsaufsicht. Das Vorliegen der Genehmigung ist entsprechend Voraussetzung für die Aufnahme des (Rück-)Versicherungsbetriebs. Rückversicherungs-Captives können keine direkte Vertragsbeziehung mit dem

5  Gründe für den Einsatz von Captives und Geschäftsmodelle

133

Versicherungsnehmer eingehen. Weitere Voraussetzung für die Aufnahme des Geschäftsbetriebs ist es folglich, dass es zu einer Einigung mit einer Versicherungsgesellschaft über die Zession von Risiken und die entsprechende Prämie an die Captive kommt. Einen wesentlichen Bestandteil der Verhandlung bilden in diesem Zusammenhang die Kosten für die Fronting-Leistung des Versicherers sowie die Bewertung der Bonität der Captive durch den Fronter und damit möglicherweise verbundener Anforderungen hinsichtlich zusätzlicher Sicherheitenstellung.

5.6.3 Überprüfung und Anpassung der Geschäfts- und Risikostrategie Nach Aufnahme des Geschäftsbetriebs erfolgt sowohl anlassbezogen als auch in regelmäßigen Zyklen eine Überprüfung und ggf. Anpassung der Geschäfts- und Risikostrategie einer Captive. Wesentliche Anlässe sind hierbei die Erneuerung von Versicherungsprogrammen und die damit verbundene Überprüfung der Risikoeigentragung, Veränderungen in der Risikolandschaft des Mutterunternehmens, Übernahmen und/oder Veräußerungen von Unternehmen/Unternehmensteilen, ggf. auch von mit dem übernommenen Unternehmen verbundenen Captives.

5.6.4 Abwicklung und Schließung/Verkauf Führt die Überprüfung der Geschäftsstrategie zu dem Ergebnis, dass ein Weiterbetrieb der Captive wirtschaftlich und strategisch nicht sinnvoll erscheint, ist eine Abwicklung und Schließung oder ein Verkauf der Captive angezeigt. Die Abwicklung und Schließung gestaltet sich bei einer eigenständigen Captive aufwendiger und zeitlich langwieriger als bei der Nutzung einer Protected Cell. Voraussetzung ist in beiden Fällen, dass sich keine versicherungstechnischen Verpflichtungen mehr in dem Instrument befinden. Dies kann zum Beispiel erreicht werden, indem noch bestehende Verpflichtungen an den Zedenten zurückübertragen oder an einen dritten Rückversicherer übertragen werden. Im Fall der eigenständigen Captive erfolgt danach die Liquidierung der Gesellschaft, im Fall der Protected Cell wird lediglich der Vertrag mit dem Anbieter der Cell beendet und evtl. noch in der Cell befindliche Vermögensgegenstände an den Nutzer der Cell zurückgeführt.

5.7 Ausblick Die Beweggründe für die Gründung und das Betreiben einer Captive haben sich seit dem erstmaligen Auftreten dieser Risikofinanzierungsform stark verändert, beeinflusst auch durch Veränderungen der Rahmenbedingungen. Standen anfangs, als Captives in vielen Fällen keiner oder minimaler Regulierung unterlagen, oftmals auch steuerliche Optimie-

134

H. Kraus und M. Paasch

rungsüberlegungen weit oben auf der Kriterienliste, hat sich dies in den vergangenen Jahren deutlich in Richtung Fokus auf die optimale Finanzierung versicherungsfähiger Risiken verändert. Aktuell ist dabei noch mal eine Nuancierung zu beobachten. Lag der Fokus in den vergangenen Jahren darauf, durch den Einsatz einer Captive den Gesamtaufwand für die Finanzierung versicherungsfähiger Risiken gegenüber einem Volltransfer an Versicherer zu reduzieren, gewinnen aufgrund der aktuellen Verfassung des Industrieversicherungsmarktes zunehmend strategische Überlegungen an Gewicht, wie die Schaffung einer gewissen Unabhängigkeit vom Versicherungsmarkt. So verfügt man mit einer Captive über eine Realoption, die mit einem Wert versehen ist. Die weitere Entwicklung wird voraussichtlich wesentlich von zwei Faktoren getrieben sein, zum einen von der Entwicklung des Angebots der Industrieversicherer hinsichtlich Deckungsumfang und Preis um zum anderen von der Entwicklung des regulatorischen Umfelds für Versicherer, dem auch Captives unterliegen. Die Entwicklungen auf der regulatorischen Seite haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass der Betrieb einer Captive an vielen Standorten aufwendiger und damit teurer wurde.

Holger Kraus  studierte Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Risikomanagement und Versicherung an der Universität St. Gallen (HSG). Nach Abschluss des Studiums war er mehrere Jahre für Aon in der Beratung von Großunternehmen zu alternativen Risikofinanzierungslösungen und Captives tätig. Seit 2009 war er im Bereich Versicherungen der Siemens AG mit Schwerpunkt Risikofinanzierung und Strategie tätig. Seit 2023 verantwortet er den Bereich Versicherungen der Siemens AG. Gleichzeitig ist er Vorsitzender des Vorstands der RISICOM Rückversicherung AG, des konzern­ eigenen Rückversicherers der Siemens AG. Darüber hinaus leitet er den Captive-Ausschuss des Verbands der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW). Marc Paasch  ist Global Head of Alternative Risk Transfer Solutions und Global Head, Strategic Risk Consulting bei WTW. Nach dem Studium an der Ecole Polytechnique, am Institut d’Etudes Politiques de Paris und an der Ecole Nationale des Ponts et Chaussees war Paasch zunächst Direktor bei Dresdner Corporate Partners, einer Einheit für maßgeschneiderte Lösungen zur Absicherung von Versicherungs- und Kapitalmarktrisiken. Danach wechselte er zu Marsh, wo er Managing Director, Co-Head Marsh Risk Consulting und Head Analytics für Kontinentaleuropa, GUS und die Türkei war. Seit 2015 ist er für WTW tätig.

6

Der Weg zur Captive – die Machbarkeitsstudie Benjamin Jacob

Inhaltsverzeichnis 6.1  E  inführung  6.2  T  ypische Ausgangssituation, Zielsetzung und zweistufiges Optimierungskalkül  6.2.1  Typische Ausgangssituation und Zielsetzung  6.2.2  Zweistufiges Optimierungskalkül  6.3  Inhalte einer Machbarkeitsstudie  6.3.1  Schritt 1: Risikoanalyse und Optimierung der Selbstbehalte  6.3.2  Schritt 2: Vorauswahl relevanter Risikofinanzierungsvehikel und Domizile  6.3.3  Schritt 3: Geschäftsplanung und Szenarioanalysen  6.3.4  Schritt 4: Zusammenführung der Scoring-Ergebnisse in einer Balanced Scorecard und Implementierungsplan  6.4  Durchführung und Dauer  6.4.1  Durchführung der Risikoanalyse und Optimierung der Selbstbehalte  6.4.2  Benchmarking von Risikofinanzierungsvehikeln und -domizilen  6.4.3  Geschäftspläne, Szenarioanalysen und Bewertung des wirtschaftlichen Mehrwerts für bevorzugte Optionen  6.4.4  Zusammenfassung mit Balanced-Scorecard-Ansatz, Empfehlung und Umsetzungsplan 

 136  136  136  137  140  140  142  143  144  144  145  145  145  146

B. Jacob (*) Mülheim an der Ruhr, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_6

135

136

B. Jacob

Zusammenfassung

Bei einer deutlichen Verknappung der Kapazitäten und einer damit einhergehenden Verteuerung des Versicherungsschutzes sind versicherungsnehmende Organisationen gezwungen, ihre Versicherungsentscheidungen zu überprüfen und ggf. anzupassen. Dieser Überprüfungs- und Anpassungsprozess wird oftmals in zwei Schritten durchgeführt: In einem ersten Schritt wird die Risikoeigentragungsstruktur optimiert und in einem zweiten Schritt der optimale Finanzierungsansatz für die erhöhte Risikoeigentragung gewählt. Eine Machbarkeitsstudie greift diesen zweistufigen Prozess auf. Nach einer versicherungsmathematischen Analyse der zu optimierenden Risiken werden zwei bis drei zu bevorzugende Finanzierungsansätze (Risikofinanzierungsvehikel und Domizil-Kombinationen) priorisiert. Im Rahmen von Szenarioanalysen/Stresstests wird die kommerziell vorteilhafteste Kombination identifiziert. Bei der finalen Empfehlung sollten neben diesen quantitativen Aspekten auch qualitative Aspekte Eingang finden; diese unterschiedlichen Bewertungskriterien können mit einem Scoring-Ansatz/einer Balanced Scorecard aggregiert werden.

6.1 Einführung Eine Machbarkeitsstudie zielt darauf ab, einer versicherungsnehmenden Organisation in sich verändernden Versicherungsmärkten (Kapazitäten und Preise) Empfehlungen abzugeben, (i) ob und wie die Risikoeigenbehaltsstruktur zur Optimierung der Risikokosten angepasst werden sollte und (ii) in welcher Form ggf. erhöhte Risikoeigenbehalte optimalerweise ausfinanziert werden sollten. Hierzu hat sich in der Praxis ein interdisziplinäres Team bewährt. Im Rahmen der Optimierung der Risikoeigenbehaltsstruktur arbeiten idealerweise Versicherungsmathematiker (typischerweise extern), Versicherungsmakler (Broking/Placement-Funktion) und Verantwortliche für die Versicherungsfunktion (intern) zusammen. Zur Optimierung der Finanzierungsform empfiehlt es sich, die internen Funktionen Recht, Steuern und Finanzen hinzuzuziehen. Der Prozess für die Machbarkeitsstudie benötigt meistens ca. drei Monate.

6.2 Typische Ausgangssituation, Zielsetzung und zweistufiges Optimierungskalkül 6.2.1 Typische Ausgangssituation und Zielsetzung Startpunkte für eine Machbarkeitsstudie sind typischerweise folgende Ausgangssituationen: • Eine deutliche Verhärtung der Versicherungsmärkte führt dazu, dass erheblich höhere Risikoeinbehalte im Rahmen der Erneuerung von Versicherungsprogrammen eingefordert werden und zusätzlich Prämienerhöhungen angekündigt werden.

6  Der Weg zur Captive – die Machbarkeitsstudie

137

• Versicherungsprogramme werden zum Beispiel im Bereich der Grunddeckung nicht mehr versicherbar. Ursächlich können zum Beispiel Großschäden des einzelnen Unternehmens oder auch eine Veränderung der Zeichnungspolitik bei Versicherern sein. Vor diesem Hintergrund wird dann ein Projekt begonnen, um strategische Optionen und eine mittelfristige Risikofinanzierungsstrategie mit folgenden zwei Zielen zu entwickeln: 1. Einen Prozess zur Optimierung der T(otal) C(ost) o(f) R(isk) für versicherte Geschäftsbereiche einzurichten, indem die Risikotoleranz des Unternehmens genutzt wird, um aktuell versicherte Haftungsabschnitte im Risikoeigenbehalt zu belassen, sofern dies wirtschaftlich sinnvoll ist. 2. Ein Risikofinanzierungsinstrument einzurichten, zum Beispiel Captive, Protected Cell, Virtual Captive usw., welches ermöglicht, die Exponierungen einzelner Geschäftseinheiten innerhalb der Risikotoleranz des Unternehmens zu bündeln, bei denen das Risikofinanzierungsinstrument a. alle Anforderungen aus steuerlicher, buchhalterischer und Governance-Sicht erfüllen sollte, b. minimale Transaktionskosten erzeugen sollte, c. dem Unternehmen ermöglichen sollte, die Risikofinanzierungskosten für das Unternehmen zu stabilisieren, und d. als Plattform für die Risikofinanzierung weiterer, bedeutender (versicherbaren) Risiken dienen sollte und e. an einem Domizil ansässig sein sollte, welches einen einfachen operativen Betrieb und ökonomische Substanz bietet.

6.2.2 Zweistufiges Optimierungskalkül Diesen Zielsetzungen folgend sind grundsätzlich zwei Entscheidungen im Rahmen einer Machbarkeitsstudie zu treffen. In einer ersten Stufe ist das Versicherungsprogramm versicherungsmathematisch zu analysieren und zu bewerten. Das Ergebnis dieser Analyse ist eine finanzielle Optimierung des Risikoeigenbehalts unter Berücksichtigung der Risiko­ tragfähigkeit des Unternehmens. Erscheint eine erhöhte Risikoeigentragung sinnvoll, ist dann in einer zweiten Stufe zu entscheiden, welches „Risikofinanzierungsmodell“ bzw. welche „Finanzierungshülle“ am geeignetsten ist. Abb. 6.1 verdeutlicht diesen zweistufigen Entscheidungsprozess. Diese zugrunde liegende, zweistufige Entscheidungslogik spiegelt sich auch in der Machbarkeitsstudie wider. Auf Basis einer versicherungsmathematischen Analyse (vgl. Unterabschnitt 3 Schritt 1) wird die Form der Risikofinanzierung getestet und optimiert (vgl. Unterabschnitt 3 Schritte 2 bis 4).

138

B. Jacob

Wie groß ist das versicherbare Risiko (z. B. PDBI, Liability, Marine, CAR/EAR, Global Benefit etc.)?

Loss & Volatility Modelling

Versicherungsmathematische Analyse der Risikosituation (Risikoexponierung)

Risk Appetite

Entscheidung 1: Risikotransfer vs. Eigentragung Programme Design & Optimisation

Risikotransfer auf den Versicherungsmarkt

Wie groß ist die Fähigkeit bzw. die Bereitschaft, Risiken selbst zu tragen?

Analyse der Risikotragfähigkeit

Eigentragung Entscheidung 2: Bilanzielle Eigentragung vs. Alternative Lösungen

Bilanzielle Eigentragung

Alternative Risikofinanzierung

Abb. 6.1  Optimierungskalkül. (Quelle: Marketingmaterial von Aon Deutschland GmbH)

6.2.2.1 Entscheidungsebene 1: Ist eine Veränderung der Risikoeigentragungsstruktur finanziell sinnvoll? Die folgende, beispielhafte, vereinfachte Fallstudie zur aktuariell-gestützten Optimierung illustriert konzeptionell, wie eine kostenoptimale und tragfähige Finanzierungslösung ermittelt werden kann (Entscheidung 1; vgl. Abb. 6.2). Typischerweise nimmt die Nettoprämie (Spalte B) mit zunehmenden Selbstbehalten (Spalte A) ab; diese sind durch Marktquotierungen oder entsprechende Abschätzungen zu bestimmen. Die Schadenerwartungswerte im Selbstbehalt steigen mit zunehmenden Selbstbehalten an (Spalte D). Die jeweiligen Werte sind nach versicherungsmathematischen Grundsätzen zu bestimmen. Auf dieser Basis können für die unterschiedlichen SB-Varianten die Kosten des Risikotransfers (Spalte C) und die Kosten des Eigenbehalts (Spalte G) berechnet werden. Die Kosten des Risikotransfers (Spalte C) setzen sich aus der Nettoprämie, der Versicherungsteuer (Annahme hier 19 %) und sonstigen etwaigen Nebenkosten zusammen. Die Kosten des Risikoeigenbehalts (Spalte G) setzen sich aus dem Schadenerwartungswert (Spalte D) und den kalkulatorischen Kapitalkosten zusammen. In dieser vereinfachten Fallstudie wird ein Kapitalkostensatz von 7 % auf das sogenannte „Risk Gap“ (Maximalexponierung abzüglich Schadenerwartungswert) angewendet, um die Kapitalkosten abzuschätzen. Die Gesamtrisikokosten („Total Cost of Risk“) setzen sich hier aus den Kosten des Risikotransfers (Spalte C) und den Kosten des Risikoeigenbehalts (Spalte G) zusammen. Diese Gesamtrisikokosten („Total Cost of Risk“) erreichen bei einem Selbstbehalt von 5 in diesem Beispiel ihr Optimum (grün markiert).

6  Der Weg zur Captive – die Machbarkeitsstudie A

B

C = B x 1,19

D

Kosten SchadenSelbstbehalt Nettoprämie Risikotransfer erwartungsinkl. Vers.-Steuer wert im SB 0,0 1,0 2,5 5,0 7,5 10,0 12,5 15,0 17,5 20,0 22,5 25,0

10,3 9,3 7,9 4,0 2,6 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,5

12,3 11,1 9,4 4,8 3,1 1,2 1,1 1,0 0,8 0,7 0,6 0,6

0,0 1,0 2,5 5,0 7,5 9,0 9,1 9,2 9,3 9,4 9,5 9,5

139

E=A-D

F=Ex7%

G = D+ F

H=C+G

E < 10?

Kapital im Risiko

Kapitalkosten

Kosten Eigenbehalt

Total Cost of Risk

Risikotragfähigkeit max. 10!

0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 1,0 3,4 5,8 8,2 10,6 13,0 15,5

0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,1 0,2 0,4 0,6 0,7 0,9 1,1

0,0 1,0 2,5 5,0 7,5 9,1 9,3 9,6 9,9 10,1 10,4 10,6

12,3 12,1 11,9 9,8 10,6 10,3 10,4 10,6 10,7 10,9 11,0 11,2

OK OK OK OK OK OK OK OK OK NEIN NEIN NEIN

Abb. 6.2  Entscheidungsebene 1. (Quelle: Marketingmaterial von Aon Deutschland GmbH)

Ebenso ist zu überprüfen, ob das Optimum im Einklang mit der Risikotragfähigkeit des Beispielunternehmens steht (in unserem Beispiel „10“)? Hierzu wird die Risikotragfähigkeit des Unternehmens mit dem „Risk Gap“ (Spalte E) als maximaler unerwarteter Verlust abgeglichen. In dem Beispiel wären also Selbstbehalte bis „17,5“ grundsätzlich vertretbar; in der Konsequenz steht damit auch das identifizierte Optimum von „5“ im Einklang mit der Risikotragfähigkeit.

6.2.2.2 Entscheidungsebene 2: Welches „Risikofinanzierungsmodell“ bzw. welche „Finanzierungshülle“ ist am passendsten, um eine erhöhte Risikoeigentragung auszufinanzieren? Im Rahmen der Analyse der Finanzierungsoptionen sind sowohl die (aktuelle) Versicherungsstrategie als auch alternative Formen der Finanzierung von Risiken zu untersuchen. Die alternativen Strategien der Risikofinanzierung unterscheiden sich hinsichtlich der Möglichkeit der Einflussnahme und Kontrolle der eigenen Risikosituation. Eine größere Möglichkeit der Einflussnahme geht dabei in der Regel mit einem höheren operativen Aufwand einher. Abb. 6.3 illustriert diese Aspekte. Bei der Bewertung der unterschiedlichen Optionen sind neben unterschiedlichen anfallenden Transaktionskosten (zum Beispiel Versicherungsteuer, Fronting-Kosten und Verwaltungskosten) sowie steuerlichen Effekten auch qualitative Aspekte zu berücksichtigen. Diese werden im folgenden Abschnitt weiter detailliert. Da oftmals keine der Optionen in allen Aspekten überlegen ist, empfiehlt es sich, die Bewertungskriterien im Rahmen einer gewichteten „Balanced Scorecard“ zusammenzuführen und dann auf dieser Basis zu einer abschließenden Bewertung zu kommen.

140

B. Jacob

Risikotransfer zum (Rück-)Versicherungsmarkt

Einheit 1

Einheit 2

Einheit 3

Selbstbehalt auf Konzernebene Lokale Selbstbehalte Was ist die beste Lösung für einen Pool eigenfinanzierter Risiken?

Traditionelle Strategie der Risikofinanzierung  Einfachheit der Implementierung  Reduzierter operativer Aufwand

Alternative Strategien der Risikofinanzierung

Lokaler Selbstbehalt

Konzern selbstbehalt

Rück versicherungsCaptive

Erst versicherungsCaptive

Lokale Versicherung

Internationales Versicherungs programm

Virtual Captive

Protected Cell Company

 Möglichkeit der Einflussnahme und Kontrolle  Risk Pooling  Regulatorischer Aufwand  Unabhängigkeit vom Versicherungsmarkt

Abb. 6.3  Entscheidungsebene 2. (Quelle: Marketingmaterial von Aon Deutschland GmbH)

6.3 Inhalte einer Machbarkeitsstudie Die Inhalte einer Machbarkeitsstudie gliedern sich typischerweise in vier Schritte (vgl. Abb. 6.4). Schritt 1 adressiert die Fragestellung, ob eine Veränderung der Risikoeigentragungsstruktur finanziell sinnvoll ist (Entscheidungsebene 1). Der Schritt 2 selektiert „Risikofinanzierungsmodelle“ bzw. „Finanzierungshüllen“ vor, die dann weiter im Schritt 3 zu untersuchen sind (Entscheidungsebene 2). Der Schritt 4 identifiziert die bevorzugte Option anhand eines Balanced-Scorecard-Ansatzes und legt die nächsten Schritte dar. Die einzelnen Schritte werden im Folgenden näher beschrieben.

6.3.1 Schritt 1: Risikoanalyse und Optimierung der Selbstbehalte Um das Ziel der TCOR-Optimierung zu erreichen (Entscheidungsebene 1), wird eine versicherungsmathematische Risikomodellierung für Schlüsselrisiken, wie zum Beispiel PD/BI und Haftpflicht, benötigt. Hierfür ist eine Programmoptimierung basierend auf einem Gesamt­ risikokosten-Ansatz gegenüber dem Markt (Quotierungen oder erwartete Preisbewegungen) vorzunehmen. Des Weiteren ist es notwendig, Leitlinien zur Risikotoleranz bzw. vom CFO definierte „Leitplanken“ für Selbstbehalte im Versicherungsbereich zu berücksichtigen. Als Ergebnis erhält man eine optimale Programmstruktur, die • aus Gesamtrisikokosten-Sicht finanziell effizient ist (das heißt Indikation zu Haftungsabschnitten, die im Risikoeigenbehalt verbleiben sollten, einschließlich des

6  Der Weg zur Captive – die Machbarkeitsstudie

141

­ rämienniveaus, erwartete Schadenquoten und erwartete Schadenlasten für höhere P Wiederkehrperioden (Quantile), Prioritäten/„Attachment Points“ für den Risiko­ transfer), • im Einklang mit der Unternehmensfinanzierungsstrategie steht (kritische Schwellenwerte für wichtige KPIs oder Finanzierungsklauseln (Bond Covenants), Anlegererwartungen/EBIT Guidance usw. werden eingehalten), • als Grundlage zur Bestimmung eines optimalen Risikofinanzierungsvehikels gemäß Schritt 2 dient. Eine Illustration dieser Vorgehensweise kann der in Abschn. 6.2.2.1 dargestellten Fallstudie entnommen werden.

1. Aktuarielle Analyse des Versicherungsprogramms  Ergebnis: Aktuariell optimiertes Versicherungsprogramm mit Risikoexponierungen, Prämieneinschätzungen und Schadensätzen.  Methode: Untersuchung und Workshop zur Diskussion der Ergebnisse.  Benötigte Daten: Daten zu den eingetretenen Schäden, den erwarteten Prämienvolumen und Selbstbehalten.

2. Domizil- und Vehikel-Wahl  Ergebnis: Detaillierter Bericht, in dem zwei bis drei zu bevorzugende Risikofinanzierungsvehikel/DomizilKombinationen identifiziert werden.  Methode: Untersuchung und ein Workshop.  Benötigte Daten: Richtlinien für Internal Audit, Compliance und Steuern in Bezug auf Zweck-Gesellschaften.

3. Geschäftsplanung/Szenarioanalysen  Ergebnis: Finanzplan (GuV, Bilanz und Zahlungsströme), Barwert nach Steuern und Eigenkapitalrentabilität für zwei bis drei der zu bevorzugenden Vehikel-/Domizil-Kombinationen unter Berücksichtigung aller Friktionskosten, Kapitalkosten und Steuereffekte.  Methode: Analyse und ein Workshop zur Ergebnisdiskussion.

 Benötigte Daten: Für den Kunden relevante KPIs zur Bewertung von Investitionsprojekten.

4. Balanced Scorecard Implementierungsplan  Ergebnis: Detaillierter Bericht, in dem das optimale Risikofinanzierungsvehikel und Domizil aus den zwei bis drei bevorzugten Optionen aufgrund der definierten KPIs ausgewählt wird (Balanced-Scorecard-Ansatz) und entsprechender Implementierungsplan.  Methode: Bürogestützte Untersuchung und ein Workshop, um die Ergebnisse zu diskutieren.

Abb. 6.4  Machbarkeitsstudie. (Quelle: Marketingmaterial von Aon Deutschland GmbH)

142

B. Jacob

6.3.2 Schritt 2: Vorauswahl relevanter Risikofinanzierungsvehikel und Domizile Zur Vorauswahl und Priorisierung möglicher, optimaler Risikofinanzierungsinstrumente sowie Domizile werden typischerweise die Optionen anhand verschiedener Kriterien verglichen und anhand eines Scoring-Ansatzes bewertet. Oftmals ist hierfür eine einfache dreistufige Logik („1“ entspricht schlecht, „2“ mittelmäßig und „3“ gut) ausreichend und leichter nachvollziehbar als eine komplexere und differenziertere Bewertungsabstufung. Einige Vorab-Überlegungen bezüglich der einzelnen Vergleichskriterien können oftmals den Bewertungsprozess und die Priorisierung erheblich verkürzen. Diese werden beispielhaft dargestellt.

6.3.2.1 Corporate Governance und Compliance Oftmals sind nur formale Instrumente für Versicherungsrisiken von Bedeutung, da sie die einzige Möglichkeit darstellen, einen Risikoausgleich im Kollektiv über Länder und Zeiträume hinweg zu ermöglichen, der mit steuerlichen, buchhalterischen und regulatorischen Anforderungen konform ist. Es sind auch Strukturen bekannt, die darauf abzielen, Risiken auf (i) nicht versicherungsbezogener Basis durch Bilanzfinanzierung oder (ii) auf vertraglicher Basis durch Entschädigungsvereinbarungen zu finanzieren. Sie sehen jedoch häufig keinen robusten, formalen Risikofinanzierungsmechanismus vor. 6.3.2.2 Zeichnungsflexibilität Im Bereich der formellen (Versicherungs-)Risikofinanzierungsvehikel ist es oftmals mit zunehmenden Prämienvolumen und Exponierungen unattraktiver, sich für eine (i) Rent-a-­ Captive, (ii) P (rotierte) C (ell) C (aptive), (iii) I (ncorporated) C (ell) C (aptive) oder eine (iv) Virtual-Captive-Struktur zu entscheiden. Da diese Vehikel Eigentum Dritter sind, entfällt die Notwendigkeit, eine separate juristische Person zu gründen oder diese Gesellschaft zu kapitalisieren. Dies geht jedoch in der Regel mit der Einschränkung der Zeichnungsflexibilität einher sowie entsprechenden Kapitalkostenverrechnungen für die Auslastung des vom Eigentümer zur Verfügung gestellten regulatorischen Kapitals. Dies bedeutet, dass sich insbesondere größere Unternehmen bevorzugt für eine eigene Erstoder Rückversicherungs-Captive entscheiden. 6.3.2.3 Steuer und ökonomische Substanz Zwar gibt es weltweit mehr als 50 mögliche Captive-Domizile, es ist jedoch aus zwei Gründen eher unwahrscheinlich, dass eines der steuerfreien Domizile, wie zum Beispiel Bermuda oder Cayman, für deutsche Unternehmen relevant ist: Erstens würde die Captive für firmeneigene Risiken eines Unternehmens mit Hauptsitz in Deutschland und einem Steuersatz unter 25 % typischerweise der deutschen Außensteuer unterliegen. Ausnahmen ergeben sich bei Sitz der Gesellschaft in der EU, wenn die Captive-Gesellschaft über hinreichende ökonomische Substanz verfügt (EuGH-Urteil zu Cadbury-Schweppes).

6  Der Weg zur Captive – die Machbarkeitsstudie

143

Zweitens besteht bei Domizilen außerhalb der EU keine Möglichkeit, Geschäft auf FOS-Basis zu zeichnen, was die Zeichnungsflexibilität erheblich einschränkt und mit entsprechenden Fronting-Anforderungen einhergeht.

6.3.2.4 Operative Einfachheit und Verwaltungsaufwand Rückversicherungs-Captives sind einfacher zu betreiben, da viele Dienstleistungen wie das Schadenmanagement und die Zahlung von Versicherungsteuer beim Fronter verbleiben. Es können jedoch Sicherheitenanforderungen für den Fronter zusätzliche Kosten generieren. Auch kann die Zeichnungsfähigkeit insbesondere für schwer zu versichernde Risiken eingeschränkt sein.

6.3.3 Schritt 3: Geschäftsplanung und Szenarioanalysen Nachdem die relevanten Optionen eingegrenzt wurden, werden über einen Zeitraum von bspw. zehn Jahren Geschäftspläne für die relevanten Optionen unter einer Reihe von Schadenszenarien entwickelt. Diese Szenarien decken in der Regel Folgendes basierend auf den Ergebnissen der versicherungsmathematischen Modellierung gemäß Schritt 1 ab: • • • •

Erwarteter Fall, 1 in fünf Jahren Stressfall, 1 in 20 Jahren Stressfall und ein Break-Even-Szenario.

Diese quantitative Bewertung ermöglicht es, den Aufbau eines formellen Risikofinanzierungsvehikels wie eines Investitionsprojekts zu bewerten, bei dem Kapital investiert wird, um die unternehmenseigenen Risiken auszufinanzieren, mit der Erwartung, einen positiven N(et) P(resent) V(alue) bzw. Cashflows, Eigenkapitalrenditen usw. zu generieren. Die Berechnungen sollten daher sämtliche Transaktionskosten wie zum Beispiel Versicherungsteuer, Fronting-Kosten, Kosten der Besicherung (Collateral) und Verwaltungskosten berücksichtigen. Darüber hinaus sollten die steuerlichen Aspekte bzw. die steuerliche Abzugsfähigkeit Eingang in die Berechnung finden („Nach-Steuer“-Betrachtung). In Anbetracht des aufsichtsrechtlichen Solvency II-Rahmens der EU ist es erforderlich, die Geschäftspläne insbesondere im Hinblick auf das erforderliche Kapital gemäß des Solvency II-Modells zu erweitern. Für US-Domizile sind entsprechende NAIC-­Richtlinien anzuwenden. Die Kapitalanforderungen dienen dann dazu, die kalkulatorischen Kapitalkosten zu berechnen. Die unterschiedlichen Schadenszenarien ermöglichen abschließend eine Sensitivitätsanalyse der relativen Vorteilhaftigkeit einzelner „Finanzierungshüllen“.

144 „Balanced Scorecard“-Ansatz – Bewertung der Risikofinanzierungsoptionen/„Vehikel“

B. Jacob Konventionelle Versicherung

Captive in X

Captive in Y

NichtVersicherung

Strukturierte Lösung

10 % Corporate Governance/Compliance

3

1

2

2

2

15 % Zeichnungsflexibilität

1

2

2

3

1

10 % Steuer

3

2

2

2

1

10 % Ökonomische Substanz

3

2

2

3

3

15 % Operative Einfachheit/Verwaltungsaufwand

3

1

2

2

2

40 % Kosten

1

1

3

3

2

1,90

1,35

2,40

2,65

1,85

3

5

2

1

4

100 % TOTAL Ranking

Abb. 6.5  Alternativenbewertung. (Quelle: Marketingmaterial von Aon Deutschland GmbH)

6.3.4 Schritt 4: Zusammenführung der Scoring-Ergebnisse in einer Balanced Scorecard und Implementierungsplan Im vierten Schritt werden die unterschiedlichen Optionen für die Ausfinanzierung des Selbstbehalts im Rahmen eines gewichteten Balanced-Scorecard-Ansatzes verglichen. Dieser Ansatz ist erforderlich, um die qualitativen Ergebnisse des Vergleichs aus Schritt 2 und die quantitativen Ergebnisse aus Schritt 3 zusammenzuführen. Abb. 6.5 illustriert beispielhaft, wie die unterschiedlichen Scoring-Ergebnisse anhand einer ordinalen Skala (2 entspricht einer mittleren Bewertung, 3 einer besseren und 1 einer schlechteren Bewertung) in einer Balanced Scorecard zusammengefasst werden können. Schließlich ist ein Umsetzungsplan für das bevorzugte Risikofinanzierungsinstrument und das bevorzugte Domizil zu entwickeln, in dem Folgendes festgelegt wird: • • • • •

Zeitplan, Erforderliche Ressourcen, Gründungskosten, Jährliche Betriebskosten, Erforderliche Unterlagen für die Einreichung bei der Aufsichtsbehörde, das heißt Geschäftspläne, Lebensläufe von Vorstandsmitgliedern usw.

6.4 Durchführung und Dauer Gemäß den oben beschriebenen Inhalten ergeben sich folgende Aufgaben und Ergebnisse, die unten tabellarisch je Projektschritt dargestellt werden. In der Regel kann eine Machbarkeitsstudie innerhalb von acht bis zwölf Wochen durchgeführt werden.

6  Der Weg zur Captive – die Machbarkeitsstudie

145

6.4.1 Durchführung der Risikoanalyse und Optimierung der Selbstbehalte Ziel des Projektschritts Ergebnisse

Notwendige Daten

Dauer

Bewertung des versicherungsmathematischen Risikos und Optimierung der Programmstrukturen Pro untersuchte Sparte: „Burning Cost“, Schadenprognose, Total-Cost-ofRisk-Bewertung, Details zu den im Risikoeigenbehalt gehaltenen Haftungsabschnitten (Prämie, Exponierungen, erwartete Schadenquoten) Einzelschadenstatistiken, Daten zur Exponierung, aktuelle und alternative Programmstrukturen, aktuelle Prämien und Markt-/Desk-Quotes für alternative Strukturen Ca. vier Wochen

6.4.2 Benchmarking von Risikofinanzierungsvehikeln und -domizilen Ziel des Projektschritts Ergebnisse Notwendige Daten Dauer

Identifikation von zwei oder drei bevorzugten Kombinationen aus Risikofinanzierungsvehikeln und Domizil auf der Grundlage vereinbarter „Balanced Scorecard“-Kriterien Qualitative Bewertung der Optionen anhand eines Scoring-Ansatzes und Priorisierung Informationen zu den Domizilen und Vehikel-Alternativen, steuerliche Informationen Ca. zwei Wochen; kann parallel zur Risikoanalyse und Optimierung der Selbstbehalte (Schritt 1) durchgeführt werden

6.4.3 Geschäftspläne, Szenarioanalysen und Bewertung des wirtschaftlichen Mehrwerts für bevorzugte Optionen Ziel des Projektschritts Ergebnisse

Bewertung der relativen Mehrwerte/Economic Value Added der priorisierten Risikofinanzierungsinstrumente und Sensitivitätsanalyse Finanzpläne (Gewinn-und-Verlust-Rechnung, Bilanz und Schätzung der Kapitalisierung), NPV und ROE nach Steuern für zwei/drei bevorzugte Vehikel-/Domizilkombinationen unter Berücksichtigung aller Transaktionskosten, Kapitalkosten und Steuereffekte Notwendige Daten Indikatoren/KPIs, die zur Bewertung des Investitionsprojekts benötigt werden Dauer Ca. vier Wochen; erfolgt im Nachgang zur Risikoanalyse und Optimierung der Selbstbehalte (Schritt 1)

146

B. Jacob

6.4.4 Zusammenfassung mit Balanced-Scorecard-Ansatz, Empfehlung und Umsetzungsplan Ziel des Projektschritts Ergebnisse

Notwendige Daten Dauer

Identifikation der optimalen Lösung und Definition der nächsten Schritte Erstellung der Balanced Scorecard; Entscheidungsvorlage für den Vorstand und Projektplan für die Umsetzung der empfohlenen Option in Bezug auf Zeitplan, Kosten und Ressourcen Projektergebnisse der vorherigen Schritte Ca. 1 Woche

Benjamin Jacob  ist als „Executive Director“ für Aon Global Risk Consulting tätig. Im Rahmen seiner Tätigkeit koordiniert er das deutsche Beratungsgeschäft in den Bereichen „Aktuarielle Dienstleistungen“ und „Risikofinanzierung/Alternativer Risikotransfer“. Seine Verantwortlichkeiten umfassen die Strukturierung und Implementierung von Risikofinanzierungslösungen. Dies beinhaltet sowohl die Analyse von ART- als auch die Ausarbeitung von Captive-Lösungen. Er verfügt über 20 Jahre Beratungs- und Projekterfahrung in diesen Bereichen; davon die letzten 15 Jahre bei Aon schwerpunktmäßig in der Schweiz und Deutschland. Ben Jacob hat an der Universität Köln Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Finanzierung, Bankbetriebslehre und Versicherungswissenschaft studiert. Darüber hinaus ist er ein Chartered Financial Analyst (CFA) und Financial Risk Manager (GARP).

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Risikomanagement Jelto Borgmann und Dirk Schilling

Inhaltsverzeichnis 7.1  E  inleitung  7.2  R  isikomanagementprozesse und Organisation  7.2.1  Verschiedene Blickwinkel auf das Risikomanagement  7.2.2  Risikostrategie und Risikomanagementprozesse  7.2.3  Governance-System einer Captive  7.3  Umgang mit versicherungstechnischen Risiken  7.3.1  Welche versicherungstechnischen Risiken sind für eine Captive geeignet  7.3.2  Unterschiedliche Arten der Prämienkalkulation  7.3.3  Versicherungstechnisches Risiko Nicht-Leben nach Solvency II  7.4  Umgang mit Kapitalanlagen und das Marktrisiko  7.4.1  Typische Kapitalanlagen einer Captive  7.4.2  Marktrisiko nach Solvency II  7.5  Versicherungsaufsicht und Kapitalanforderungen  7.5.1  Versicherungsaufsicht nach Solvency II  7.5.2  Kapitalanforderungen nach Solvency II  7.5.3  Ein Blick auf andere Aufsichtsregime  7.6  Personal und Ausgliederung  7.6.1  Outsourcing vs. Insourcing  7.6.2  Outsourcing nach Solvency II  7.6.3  Vergütungspolitik  7.6.4  „Fit and Proper“-Anforderungen  7.7  Schlussbetrachtung  Literatur 

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J. Borgmann · D. Schilling (*) HDI Global SE, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_7

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Zusammenfassung

Ein effektives Risikomanagement ist für eine Captive von großer Bedeutung, um ein vollständiges Verständnis für die eingegangenen Risiken zu erhalten und diese auf den Risikoappetit des Konzerns abzustimmen. Die zahlreichen aufsichtsrechtlichen Anforderungen sollten dabei idealerweise Hand in Hand mit den selbst auferlegten Maßnahmen greifen. Durch die starke Zunahme der aufsichtsrechtlichen Regulierung für Captives innerhalb der Europäischen Union und der Schweiz in den letzten Jahren, die nun unter anderem zahlreiche Anforderungen an die Finanzausstattung, die Governance-Struktur und das Berichtswesen stellt, ist es umso wichtiger geworden, die daraus resultierenden Maßnahmen so auszugestalten, dass sie einen möglichst großen Nutzen für die tatsächliche Unternehmenssteuerung der Captive bringen. Dabei ist stets zu beachten, dass viele Maßnahmen und Anforderungen anhand von klassischen Versicherern entwickelt wurden und den Besonderheiten des Geschäftsmodells einer Captive deshalb nur unzureichend Rechnung tragen. Es bedarf daher oft einiger Anpassung, um die Ergebnisse für die tatsächliche Steuerung nutzbar zu machen. Dafür ist es notwendig, dass die mit dem Management der Captive betrauten Personen die Ergebnisse kritisch hinterfragen, und ein Verständnis für die Aussagekraft der Ergebnisse entwickeln und sie schlussendlich so anpassen, dass sinnvolle Steuerungsimpulse abgeleitet werden können. Nur so kann es gelingen, ein effizientes Risikomanagement zu gestalten, welches effektiv Risiken erkennt und dessen Ergebnisse auf große Akzeptanz im Management stoßen.

7.1 Einleitung Captives können für Industrieunternehmen ein wichtiges Mittel zur Steuerung von Risiken sein. Diesem Anspruch können Unternehmen gerecht werden, wenn Captives zum bewussten Management von Konzernselbstbehalten, Bepreisung von Risiken, Risikofinanzierung und Risikotransfer eingesetzt werden; sucht ein Unternehmen eher die Möglichkeit nach günstigerer Kapazität, Zyklusarbitrage oder Steuergestaltungsmöglichkeiten, folgen Captives eher opportunistischen Erwägungen. Captives unterliegen denselben Restriktionen wie am Markt agierende Versicherer und können daher natürlich nur beim Management von versicherbaren, das heißt über die Zeit und im Kollektiv diversifizierbaren Risiken genutzt werden. Da Captives in der Regel ausschließlich Risiken aus der jeweiligen Unternehmensgruppe zeichnen, sind sie allerdings weniger stark von Kumulszenarien betroffen als Versicherer und können damit die Versicherbarkeit einiger Risiken vergrößern. Neben der Nutzung der Captive im Rahmen der übergeordneten Risikostrategie eines Unternehmens ist das Risikomanagement innerhalb einer Captive ein wesentlicher Fokus des eigentlichen Betriebs. Wir werden in unserem Beitrag die Perspektive des Risikomanagers eines Industrieunternehmens verlassen und stattdessen den Blickwinkel des Risi-

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komanagers in einem Versicherungsunternehmen einnehmen. Es geht nicht darum, Risiken zu minimieren und abzugeben, sondern um die Aufgabe, Risiken gegen eine Prämienzahlung bewusst für andere zu übernehmen und sicherzustellen, dass alle eingegangenen versicherungstechnischen Verpflichtungen zu jeder Zeit erfüllt werden können. Captives agieren dabei im Rahmen derselben aufsichtsrechtlichen Anforderungen wie Versicherer. Wir werden deshalb analysieren, wie die Ergebnisse genutzt werden können, um ein effektives und effizientes Risikomanagement innerhalb der Captive zu gestalten. Dabei werden wir der Frage nachgehen, wie eine mögliche Geschäftsorganisation einer Captive aussehen kann, und wir werden erläutern, wie Risiken quantifiziert und messbar gemacht werden können: Wie hoch ist das Risiko, dass die Prämie nicht ausreicht, um die anfallenden Schäden zu bezahlen? Wie viel Kapital muss ich zusätzlich vorhalten, wenn ich in Aktien statt in Anleihen investiere? Abschließend werden wir uns mit dem Thema Personal und Ausgliederung beschäftigen. Da Captives oft nur über wenige eigene personelle Ressourcen verfügen, hat das Thema Outsourcing eine hohe Bedeutung. Auch wenn die daraus resultierenden Risiken nicht versicherungsspezifischer Natur sind, gelten hier besondere Anforderungen. Diese werden wir analysieren und Maßnahmen entwickeln, die einen reibungslosen Betrieb der Captive sicherstellen sollen. Da das aufsichtsrechtliche System Solvency II ohnehin die Bestandteile des Risikomanagementsystems für eine Captive vorgibt, folgen wir diesem Aufbau.

7.2 Risikomanagementprozesse und Organisation Im betriebswirtschaftlichen Sprachgebrauch werden Risiken meist als mögliche negative Abweichung bestimmter Größen (zum Beispiel Gewinn, Produktion) vom Zielwert definiert (vgl. Kriele und Wolf 2012, S. 1). So ist es für Unternehmen beispielsweise ein Risiko, dass der Jahresgewinn deutlich hinter der Planung zurückbleibt. Es könnte jetzt vermutet werden, dass die Zielsetzung eines guten Risikomanagements die Vermeidung von Risiken ist. Wer diesen Ansatz weiterverfolgt, wird jedoch schnell zu dem Ergebnis kommen, dass eine strikte Vermeidung von Risiken nicht mit unternehmerischem Denken vereinbar ist, da es auch mit der Vermeidung von Chancen einhergeht. Natürlich ist es ein Risiko, den Absatz zu erhöhen, um einen neuen Markt zu erschließen, aber eben auch eine unternehmerische Chance. Im Folgenden soll es deshalb nicht um die Vermeidung von Risiken an sich gehen, sondern vielmehr um die Optimierung des Chancen-Risiko-Verhältnisses. Wir werden dazu zunächst verschiedene Zielsetzungen von Risikomanagement beleuchten, um im nächsten Schritt diskutieren zu können, wie Risikomanagementprozesse effizient in die Governance der Captive eingebettet werden können. Abschließend werden wir uns mit einer beispielhaften Aufbauorganisation beschäftigen, die den Anforderungen nach Solvency II Rechnung trägt.

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J. Borgmann und D. Schilling

7.2.1 Verschiedene Blickwinkel auf das Risikomanagement Eine Captive verfolgt oft unterschiedliche Zielsetzungen, wobei die Gewichtung dieser Ziele oft durch die Strategie der Muttergesellschaft vorgegeben wird. So kann beispielsweise auf der einen Seite im Fokus stehen, Versicherungskapazitäten für den Konzern sicherzustellen und sich von Marktzyklen zu entkoppeln. Auf der anderen Seite kann auch die konstante Gewinnerzielung der Captive im Vordergrund stehen (Captive als „Profit Center“). Diese Gesamtausrichtung beeinflusst maßgeblich die Ausprägungen der unterschiedlichen Blickwinkel im Risikomanagement. In der Literatur wird oft zwischen „Enterprise Risk Management“ (ERM), „Value Based Management“ (VBM) und „Risk and Capital Management“ (RCM) (vgl. Kriele und Wolf 2012, S. 357) unterschieden, allerdings verschwimmen die Ansätze in der Praxis oft. Beim ERM-Ansatz liegt der Fokus auf einer ganzheitlichen Steuerung des Unternehmens und seiner Risiken. Hier wird also die Frage gestellt, wie die Risikosteuerung in die Entscheidungsprozesse eingebunden ist und ob die Prozesse geeignet sind, um das Gesamtrisiko adäquat zu begrenzen. So sollte der Entscheidungsträger wissen, dass in großem Umfang in Aktien von dem Unternehmen investiert wurde, dessen Haftpflichtrisiko versichert wurde, da hier Abhängigkeiten auftreten können, oder dass mit dem Betrieb einer Captive auch das (bei gutem Risikomanagement geringe) Risiko einhergeht, Kapital nachschießen zu müssen. Der VBM-Ansatz beschäftigt sich mit der Frage, ob das Eingehen des Risikos unternehmerisch sinnvoll ist oder nicht. Kern dieser Entscheidung sollte dabei stets die Abwägung von Risiken und Chancen sein. Es könnte dazu beispielsweise der erwartete Gewinn einem Risikomaß (zum Beispiel Worst-Case-Szenario) gegenübergestellt und definiert werden, dass hierbei das Verhältnis von 1:10 nicht überschritten werden darf. Mit der Frage, wie das vorhandene Risikokapital auf verschiedene Risikokategorien optimal allokiert werden soll, befasst sich der RCM-Ansatz. Für eine Captive kann sich zum Beispiel die Frage stellen, ob sie mit dem vorhandenen Kapital eher Feuer- oder Haftpflichtrisiken zeichnen soll. Dadurch, dass sich der Haftpflichtschaden vermutlich wesentlich langsamer abwickelt als der Feuerschaden, wird das Risikokapital hier länger gebunden. Auf der anderen Seite würde sich das Haftpflichtrisiko vielleicht besser mit dem Transportrisiko diversifizieren und hätte auch ein besseres Risiko-Chancen-Verhältnis. Es wird schnell klar, dass bei einem ganzheitlichen Risikomanagement alle drei Ansätze stets zu beachten sind. Da eine Captive jedoch hauptsächlich Risiken von Konzerngesellschaften übernimmt, ist der VBM-Ansatz hier oft weniger ausgeprägt als bei anderen Versicherungsgesellschaften.

7.2.2 Risikostrategie und Risikomanagementprozesse Der erste Schritt für ein erfolgreiches Risikomanagement ist die Festlegung einer Risikostrategie, die sich aus der Geschäftsstrategie der Captive ableitet. Die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an eine solche Risikostrategie finden sich in Deutschland unter anderem in § 26 Abs. 2 VAG und im BaFin-Rundschreiben 9/2017, 4.2 (2)/(3). Welche Risiken möchte die Captive zeichnen oder in der Kapitalanlage eingehen? In welchem Umfang? Ein erster Schritt ist beispielsweise die Festlegung von akzeptablen

7 Risikomanagement

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und inakzeptablen Risiken. So wäre bei Captives anzuführen, dass sie sich auf die Zeichnung von Versicherungsrisiken von verbundenen Unternehmen beschränken. Außerdem ist es sinnvoll, Zielvorgaben und Schwellenwerte für die Kapitalisierung aufzunehmen. Da viele Captives über kein externes Rating verfügen, bieten sich hier ein Zielkorridor für das Verhältnis zwischen Kapital und Risiko (zum Beispiel anhand der „Solvenzquote“) und ein absoluter Schwellenwert für das Eigenkapital an. Außerdem sollte thematisiert werden, welche Abweichungen vom geplanten Geschäftsergebnis als akzeptabel angesehen werden. Für vorzeichnende Erstversicherer („Fronter“) sind diese Kenngrößen oft wesentlich für ihre Kreditanalyse, weshalb sie trotz der Fokussierung auf Geschäft von verbundenen Unternehmen von großer Bedeutung für die Captive sind. Die Risikostrategie der Captive ist ein wichtiger Input für die Rolle der Captives in der Gesamtrisikostrategie des Unternehmens bzw. kann aus dieser folgen. Eine enge Verzahnung ist hier anzuraten, um die strategische Nutzung der Captive so einfach wie möglich zu gestalten. Um die Risikostrategie später weiter konkretisieren zu können und diese auch für operative Entscheidungen zu nutzen, sollte darüber hinaus eine Zielallokation des vorhandenen Risikokapitals auf die einzelnen Risikoklassen vorgenommen werden. Dabei bietet es sich insbesondere für Captives innerhalb der EU an, auf die von Solvency II vorgegebene Risikoklassifikation zurückzugreifen. Diese enthält beispielsweise das versicherungstechnische Risiko, also das Risiko, dass die Schäden höher ausfallen als erwartet, und das Marktrisiko, welches Schwankungen von Marktpreisen (zum Beispiel für Aktien) beschreibt. Dabei werden diese Risikomodule im Rahmen der Standardformel in weitere Unterklassen (zum Beispiel für versicherungstechnisches Risiko aus Katastrophenschäden) aufgegliedert (vgl. Abb. 7.1). Solvency Capital Required (SCR)

Basic solvency capital requirement (BSCR)

Adjustments

Markt

Zins

Versicherungstechnik Kranken Nach Art Leben

Katastrophe

Ausfall

Nach Art Nichtleben

Operationell

Versicherungstechnik Leben

Versicherungstechnik: Nichtleben

Sterblichkeit

Prämie und Reserve

Aktien

Sterblichkeit

Prämie

Langlebigkeit

Storno

Immobilien

Langlebigkeit

Storno

Invalidität

Katastrophe

Spread

Invalidität

Storno

Wechselk.

Storno

Kosten

Konzentr.

Kosten

Revision

Revision

Immaterielle

Katastrophe

Abb. 7.1  Risikobaum der Solvency-II-Standardformel. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an DAV 2017, Abb. 3.2)

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Darüber hinaus sollten Limits für Konzentrationsrisiken festgelegt werden. Sowohl bei der Zeichnung von Versicherungsrisiken als auch bei der Kapitalanlage (zum Beispiel durch Investments in verbundene Unternehmen) sind solche Konzentrationslimits für Captives durch ihr Geschäftsmodell von besonderer Bedeutung und es empfiehlt sich deshalb, diese übergreifend zu betrachten, da ein Haftpflichtschaden beispielsweise mit einer Wertberichtigung eines Darlehens an ein verbundenes Unternehmen einhergehen könnte. Wurde in der Risikostrategie festgelegt, welche Risiken eingegangen und welches Kapital dafür bereitgestellt werden soll, geht es im nächsten Schritt darum, die Risiken zu identifizieren und zu quantifizieren, um sie dem Kapital gegenüberstellen zu können. Dabei ist es wichtig, dass diese Betrachtung in die operativen Prozesse einfließt, um Überschreitungen der Schwellenwerte zu vermeiden oder zumindest schnell Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Wesentliche Bestandteile des Risikomanagementprozesses sollten dabei sein: 1. Risikoidentifikation: Welche relevanten Risiken liegen vor? Hierfür ist es zunächst einmal wichtig, aus der Risikostrategie abzuleiten, ab wann ein Einzelrisiko für das Unternehmen relevant ist. Wurde im ersten Schritt festgelegt, welche maximalen Schwankungen des Unternehmensergebnisses akzeptabel sind, kann man das Ergebnis dazu nutzen, Schwellenwerte für einzelne Risikoklassen zu definieren. Ist es beispielsweise nicht akzeptabel, dass der Jahresgewinn der Captive mehr als 2.000.000 € unterhalb der Erwartung liegt, so könnte ein Risiko als signifikant identifiziert werden, sofern sich daraus mit hinreichender Wahrscheinlichkeit (zum Beispiel höher 0,5 % bzw. einmal in 200 Jahren) eine wesentliche negative Abweichung (zum Beispiel mehr als 10 % der akzeptierten Gesamtabweichung, also 200.000 €) ergibt. 2. Risikoklassifizierung: Zu welcher Risikoklasse gehören die identifizierten Risiken? Die Risikoklassifizierung kann dabei unternehmensspezifisch festgelegt werden, vielfach wird allerdings auf die Risikoklassifizierung nach Solvency  II zurückgegriffen. Hier werden Risiken in folgende Klassen unterteilt: Strategisches Risiko, Reputationsrisiko, Marktrisiko, Kreditrisiko, Liquiditätsrisiko, Versicherungstechnisches Risiko, Operationelles Risiko und Konzentrationsrisiko. Nicht alle genannten Risikoklassen werden dabei explizit im Rahmen der Standardformel abgebildet (vgl. Abb. 7.1). So findet das Liquiditätsrisiko beispielsweise bei der Berechnung des benötigten Risikokapitals keine Berücksichtigung, sondern ist separat, zum Beispiel im Rahmen des „Own Risk and Solvency Assessments“ (ORSA), zu betrachten. 3. Risikoanalyse und -bewertung: Qualitative Bewertung (Relevanzeinschätzung: unbedeutend – existenzgefährdend) und quantitative Messung (Wahrscheinlichkeit oder Häufigkeit) Hier empfiehlt sich oft die visuelle Darstellung in Form einer Risikomatrix oder einer Risk Heat Map, aber auch eine Darstellung in Form eines Risikobaums oder einer SWOT-Analyse ist denkbar. Insbesondere bei Captives ist es hier essenziell, die Abhän-

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gigkeiten der Einzelrisiken untereinander zu betrachten und somit auch Kumulrisiken risikoübergreifend (zum Beispiel Abhängigkeiten zwischen Kapitalanlage an verbundenen Unternehmen und der Haftpflichtdeckung) richtig zu erfassen, da sich bei Captives häufig stärkere Abhängigkeiten zeigen als bei am Markt agierenden Versicherungsunternehmen. In der Praxis gestaltet es sich oft schwierig, Daten für eine quantitative Messung heranzuziehen, da für eine statistisch valide Einschätzung von Extremszenarien und Abhängigkeiten oft keine ausreichende Historie vorliegt. Deshalb wird hier in vielen Fällen auf externe Datenquellen (zum Beispiel Risikodatenbanken), Daten von Rückversicherern, Simulationsmodelle (zum Beispiel für Naturgefahren) oder Expertenschätzungen zurückgegriffen. 4 . Risikosteuerung: Risikovermeidung, Risikoreduktion, Risikoübertragung Risikovermeidung und Risikoreduktion: Werden die Risiken auf dem Rückversicherungsweg gezeichnet, bietet es sich an, das vom Fronter zedierte Risiko durch eine entsprechende Limitierung pro Schadenfall und pro Jahr gemäß dem in der Risikostrategie festgelegten Risikoappetit zu begrenzen. Außerdem kann es insbesondere in den ersten Jahren nach der Gründung sinnvoll sein, besondere Risiken (zum Beispiel Haftpflicht in den USA, Naturgefahren) vertraglich auszuschließen und sich auf Sparten mit kurzer Abwicklung zu konzentrieren, um zu vermeiden, dass Spätschäden mit neuen Schäden zusammenfallen. Bezüglich der Kapitalanlage bietet sich eine breite Streuung an und es sind wenig-volatile, hoch liquide Anlageklassen zu bevorzugen. Lang laufende, nicht liquide Assets sind nur dann zu empfehlen, wenn der Eintritt und die Fälligkeit von Verbindlichkeiten hinreichend gut prognostiziert werden können. Aufgrund der geringen Anzahl an Verträgen und der fehlenden Diversifikation sind große Schwankungen im Cashflow bei einer Captive jedoch häufig unvermeidbar. Eine Anlage in illiquide Assets (zum Beispiel Infrastrukturinvestments, Immobilien) ist deshalb ­insbesondere bei Captives mit äußerster Vorsicht zu genießen. Ein hohes Investment an verbundene Unternehmen sollte ebenfalls genau geprüft werden, da dies mit einem großen Kumulrisiko in der Kapitalanlage einhergeht und gegebenenfalls auch mit versicherungstechnischen Risiken korreliert. 5. Risikoübertragung: Lässt sich das versicherungstechnische Risiko nicht derart begrenzen, dass es zu dem definierten Risikoappetit passt, so kann das Instrument der Rückversicherung oder des Kapitalmarktes genutzt werden. Für Captives sind dabei insbesondere die Instrumente der nichtproportionalen Rückversicherung interessant. Häufig genutzte Instrumente sind dabei der Einzelschadenexzedent (Excess of Loss), der Kumulschadenexzedent (Cat XL) und der Jahresüberschadenexzedent (Stop Loss; vgl. Abb.  7.2) (vgl. Carter 2013). Insbesondere der Multi-Line Stop Loss, der den Jahresgesamtschaden über mehrere Sparten hinweg begrenzt, hat in den vergangenen Jahren großes Interesse seitens Captives erfahren, da dies ein adäquates Instrument ist, die durch die geringe Diversifizierung hohe Volatilität des Geschäftsergebnisses effektiv zu glätten.

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6. Risikoüberwachung: Im letzten Schritt ist sicherzustellen, dass der definierte Risikoappetit nicht überschritten wird. Dazu kann auf integrierten und supplementäre Risikomanagementprozesse zurückgegriffen werden. Bei einem integrierten Prozess erfolgt die Überwachung direkt im Prozess. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn die Einhaltung von Limit- und Schwellenwerten direkt im Underwriting-Prozess erfolgt und somit, bevor das Risiko gezeichnet wird. Supplementäre Prozesse werden unabhängig oder parallel zu den ­Geschäftsprozessen durchgeführt und können somit nur nachgelagert Steuerimpulse für das operative Geschäft geben. So kann beispielsweise bei der vierteljährlichen Überprüfung auffallen, dass der Schwellenwert für Investments in Aktien überschritten wurde und entsprechend umgeschichtet werden muss. Abhängig davon, inwieweit die möglichst effiziente Nutzung des gebundenen Kapital in der Captive das Ziel ist, kann nun der Risikokontrollprozess um eine Komponente für die wertorientierte Steuerung erweitert werden, die sicherstellt, dass das vorhandene Kapital im ökonomischen Sinne effizient eingesetzt wird. Im Gegensatz zur wertorientierten Steuerung eines normalen Versicherungsunternehmens sind wertorientierte Steuerungsimpulse immer im Kontext der Verbindung zur Mutter zu betrachten. Es stellt sich also weniger die Frage, ob eine möglichst profitable risikoadjustierte Produktion betrieben wird, sondern vielmehr, wie abhängig vom vorhandenen Kapital und Risikoappetit ein optimales Versicherungsprogramm erreicht wird, bei dem möglichst geringe Erträge den Konzernverbund verlassen.

Maximale Haftung pro Jahr in Mil. EUR 50 Stop Loss

40 30

Selbstbehalt

20 10 0

Feuer

Haftpflicht

Abb. 7.2  Funktionsweise eines Stop Loss

Transport

Gesamt

Rückversicherung

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7.2.3 Governance-System einer Captive Ein wirksames Governance-System ist ein wichtiger Bestandteil für ein „solides und vorsichtiges Management“ (Artikel 41, Richtlinie (EU) 2009/138/EG) einer Captive, da es den Grundstein für die Steuerung und die Überwachung von Risiken legt. Die Anforderungen an das Governance-System einer Captive haben durch Solvency II stark zugenommen (vgl. Leitlinie (EIOPA) BoS-14/253, Delegierten Verordnung (EU) 2015/35, §§23  ff. VAG). Auch wenn die Ausgestaltung der Aufbau- und Ablauforganisation den Unternehmen grundsätzlich freigestellt ist, müssen diese transparent und für den Geschäftsbetrieb angemessen sein (vgl. BaFin 2021). Für die Angemessenheit sind insbesondere die Wesensart (zum Beispiel verbundenes Geschäft), die Komplexität (zum Beispiel Spätschadenneigung, Vertragsbedingungen) und der Umfang (zum Beispiel Haftungssummen, Prämienvolumen, Anzahl an Verträgen, Volumen der Kapitalanlage) der eingegangenen Risiken zu prüfen. Neben weiteren aufsichtsrechtlichen Anforderungen, wie die Anforderungen an das Outsourcing, die unternehmenseigene Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung, die Erstellung von Notfallplänen, die Einhaltung des Vier-Augen-Prinzips bei wesentlichen Entscheidungen und die angemessene Trennung der Zuständigkeiten, ist insbesondere die Einrichtung von vier objektiven und unabhängigen Schlüsselfunktionen herauszuheben. Die Schlüsselfunktionen und ihre wesentlichen Aufgaben (ohne die Anforderungen an ein internes Modell) nach Solvency II sind: 1. Unabhängige Risikocontrollingfunktion (vgl. Artikel 269 Delegierten Verordnung (EU) 2015/35) Die Aufgaben der unabhängigen Risikocontrollingfunktion (auch: Risikomanagementfunktion) sind die Unterstützung der Organe bei der Handhabung des Risikomanagementsystems, die Beratung in Fragen des Risikomanagements allgemein (zum Beispiel bei strategischen Fragen: Welche Auswirkungen hätte es auf unsere Solvenzkapitalanforderung (SCR), wenn wir auch Haftpflicht-Geschäft zeichnen?), die Überwachung des Risikomanagements und des Risikoprofils der Captive und eine detaillierte und regelmäßige Berichterstattung über die Risikoexponierung. Diese Risikocontrollingfunktion ergänzt mit ihrem vor allem auf die Risiken fokussierten Blick die strategischen, auf die Optimierung von Chancen und Risiken fokussierten operativen Bereiche. Es ist deshalb wichtig, diese personell und organisatorisch von den operativen Bereichen (Underwriting, Kapitalanlage etc.) zu trennen (Prinzip der Funktionstrennung). 2. Compliance-Funktion (vgl. Artikel 270 Delegierten Verordnung (EU) 2015/35) Die Aufgabe der Compliance-Funktion ist die „Bewertung der Angemessenheit der von der Captive getroffenen Maßnahmen zur Verhinderung einer Non-Compliance“ (Artikel 270 Abs. 2. Delegierten Verordnung (EU) 2015/35)). Dabei sind als Aufgaben insbesondere die Überwachung der rechtlichen Anforderungen an Versicherungsunternehmen, die Beratung des Vorstands, die Identifikation und Beurteilung des Risikos von „Non-Compliance“ bei verschiedenen Geschäftstätig-

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keiten und die Frühwarnaufgabe in Bezug auf sich abzeichnende Änderungen des Rechtsumfelds zu nennen (vgl. GDV 2014, S. 17 f.). 3. Funktion der internen Revision Die Aufgabe der internen Revision ist es, die Funktionsfähigkeit und die Angemessenheit des internen Kontrollsystems und der anderen Bestandteile des Governance-­ Systems zu prüfen. Sie muss klar von anderen operativen Tätigkeiten getrennt sein, um ihre Objektivität sicherzustellen. Die Ergebnisse der Prüfung und daraus resultierende Handlungsempfehlungen werden mindestens einmal jährlich schriftlich an die entsprechenden Organe übermittelt, welche dann über entsprechende Maßnahmen entscheiden. Die Prüfung der Umsetzung dieser Maßnahmen gehört ebenfalls zu den Aufgaben der internen Revision (vgl. Artikel 47, Richtlinie (EU) 2009/138/EG). 4 . Versicherungsmathematische Funktion Als wesentliche Aufgaben der versicherungsmathematischen Funktion sind die Koordination der Berechnung und die Gewährleistung der Angemessenheit der versicherungstechnischen Rückstellungen nach Solvency II anzuführen. Dabei sind insbesondere die Datenqualität zu prüfen und die verwendeten Modelle und Annahmen kritisch zu hinterfragen. Entsprechende Ergebnisse über Verlässlichkeit und Angemessenheit der Rückstellungen sind den jeweiligen Organen vorzulegen. Darüber hinaus muss sie eine Stellungnahme über die generelle Zeichnungspolitik und der Angemessenheit der Rückversicherung abgeben (vgl. Artikel 48, Richtlinie (EU) 2009/138/EG). Die Schlüsselfunktionen sind nach Solvency II in ein Risikomanagementsystem mit drei Verteidigungslinien zu integrieren (vgl. Abb. 7.3). Die erste Linie stellt dabei die operativen Geschäftsbereiche (zum Beispiel Underwriting) dar, die die Verantwortung für die Steuerung der eigenen Profitabilität und des eigenen Risikoprofils tragen. Die zweite Verteidigungslinie setzt den Rahmen für das unternehmensweite Risikoprofil und aggregiert sowie konsolidiert die Risikoübernahme der einzelnen Einheiten. Sie überwacht die Funktionsfähigkeit des Risikomanagements der operativen Bereiche und das Gesamtrisiko. Hier sind die unabhängige Risikocontrollingfunktion, die Compliance-­ Funktion und die versicherungsmathematische Funktion einzuordnen. Auf der letzten Verteidigungslinie stellt die interne Revision sicher, dass das Risikomanagement wirksam und angemessen ist sowie unternehmensweit sinnvoll implementiert und angewandt wird.

7.3 Umgang mit versicherungstechnischen Risiken Das Zeichnen von versicherungstechnischen Risiken ist die Kernaufgabe einer jeden Captive. Deshalb wollen wir uns in diesem Abschnitt der Frage widmen, welche Risiken überhaupt für eine Captive geeignet sind. Wurde ein Risiko als adäquat im Sinne der Zeich-

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Chief Executive Officer

Underwriting

IT

Chief Financial Officer

Head of Investments

Technical Accounting

Chief Risk Officer

Financial Accounting

Tax

Head of Actuarial Function

Internal Audit

Head of Compliance

Actuarial Pricing

Investment Advice

Solvency II Schlüsselfunktionen

Reserving Solvency II

Head of Risk Controlling Function

1. Verteidigungslinie

2. Verteidigungslinie

3. Verteidigungslinie

Abb. 7.3  Beispielhaftes Organigramm einer Captive

nungsstrategie der Captive identifiziert, geht es im nächsten Schritt darum, eine Prämie zu berechnen. Auch wenn dies eine operative Tätigkeit ist, ist die Berechnung einer ­angemessenen Prämie auch aus Gesichtspunkten des Risikomanagements von großer Bedeutung. Auf der einen Seite muss eine Captive ausreichend Prämie generieren, um einen langfristigen Geschäftsbetrieb sicherzustellen. Auf der anderen Seite haben die Angemessenheit der Prämie und ihre entsprechende Dokumentation auch eine hohe steuerliche Relevanz. Bei zu hoher Prämie oder zu geringem Risikotransfer droht der Verlust der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Versicherungsprämie beim Versicherungsnehmer. Wir geben hier einen kurzen Überblick über die am häufigsten verwendeten Methoden und gehen im Anschluss auf die Kapitalanforderungen nach Solvency II ein, die aus den versicherungstechnischen Risiken resultieren.

7.3.1 Welche versicherungstechnischen Risiken sind für eine Captive geeignet In der Versicherungswelt wird oft diskutiert, welche Risiken als versicherbar gelten und  welche nicht. Nicht zuletzt hat die COVID-19-Pandemie dieser Diskussion eine neue Grundlage gegeben. Es lohnt ein Blick auf den eigentlichen Wesenskern von Schadenversicherungen. Die Zielsetzung von Versicherung ist es, einen finanziellen Verlust auszugleichen, der aus einem unerwarteten und nicht beabsichtigten Schaden resultiert

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(vgl. ­Westover, S. 19). Es ist also herauszustellen, dass durch das Eintreten des Versicherungsereignisses kein Vorteil für die ursprünglich geschädigte Person resultieren soll, dass das versicherte Ereignis einer gewissen Zufälligkeit unterliegt, die Eintrittswahrscheinlichkeit „gering“ ist und dass das Ereignis nicht mutwillig von dem Versicherungsnehmer herbeigeführt wird. Im klassischen Versicherungsmarkt führen weitere Restriktionen dazu, dass Risiken als nicht versicherbar gelten. Da ein Versicherungsunternehmen das Ziel verfolgt, Erträge mit seinem Geschäft zu erwirtschaften, wird es nur Risiken zu einer Prämie zeichnen, die aus seiner Sicht auskömmlich ist und bei der eine hinreichende Datenlage vorliegt, um diese Einschätzung zu begründen. Eine Prämie ist dann auskömmlich, wenn diese über dem erwarteten Schaden liegt, Kosten abdeckt und eine Marge erlaubt. Kann der Versicherungsnehmer sein Risiko sehr gut einschätzen und ist er nur bereit, eine derartige Versicherung zu kaufen, sofern sein Risiko sehr hoch ist, so ist die Prämie, die für das Versicherungsunternehmen notwendig wäre, um das Geschäft profitabel zu machen, meist für den Versicherungsnehmer nicht attraktiv. Ein Beispiel für dieses Phänomen ist die Versicherung gegen Hochwasser, die meist nur in stark exponierten Gebieten nachgefragt wird, hier aber wegen der hohen Prämie unattraktiv erscheint. Ein weiterer Grund für eine Nicht-Versicherbarkeit aus Sicht eines klassischen Versicherungsunternehmens ist, dass kein ausreichend großes Kollektiv an vergleichbaren, stochastisch unabhängigen (sich nicht gegenseitig beeinflussenden) Risiken besteht und somit kein Ausgleich über das Gesetz der großen Zahlen erzeugt werden kann. Ist ein Risiko sehr speziell, wie zum Beispiel die Versicherung von bestimmten Körperteilen von Prominenten (vgl. Mühlauer und Hagelüken 2008), oder treten die Risiken im Versicherungskollektiv immer gleichzeitig bei vielen Versicherten ein, wie zum Beispiel Gebäudeschäden bei Krieg oder Betriebsunterbrechung bei einer Pandemie, so gilt es im traditionellen Sinn oft als nichtversicherbar. Der gleichzeitige Eintritt des Schadenereignisses liegt jenseits dessen, was der Versicherer aufbringen könnte, da eine Diversifizierung nicht stattfindet. Da eine Captive eine andere Zielsetzung als der klassische Versicherungsmarkt verfolgt, weicht der Begriff der für eine Captive als versicherbar geltenden Risiken deutlich von der obigen Beschreibung ab. Oft steht für eine Captive die Gewinnerzielung nicht im Vordergrund, sondern ihr Ziel ist es vielmehr, die Risikokosten innerhalb des Konzerns zu stabilisieren bzw. zu reduzieren. Da die begrenzte Anzahl an Versicherungsnehmern meistens ohnehin zu keinem ausreichend großen Kollektiv führt, um das Ergebnis adäquat zu stabilisieren, spielt dies bei der Risikoauswahl ebenfalls eine eher untergeordnete Rolle. Entsprechend eignet sich eine Captive gut, um viele der im klassischen Versicherungsmarkt als nichtversicherbar geltenden Risiken abzusichern, wie zum Beispiel Ausschnittsdeckungen im Naturkatstrophenbereich oder bestimmte Cyberrisiken. Auch wenn Infinitiven gegen Steuervermeidung wie die „Base Erosion and Profit Shifting“ (BEPS)-Initiative der OECD den ökonomischen Sinn einer solchen Transaktion grundsätzlich infrage stellt (vgl. OECD 2020, S. 35), liegen die Vorteile auf der Hand: Sofern eine Captive-Versicherungslösung gewählt wird, anstatt die Risiken bei den lokalen Konzerneinheiten zu belassen, erfolgt eine (wenn auch begrenzte) Diversifikation über die einzelnen Standorte und

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Konzerngesellschaften. Außerdem kann über Bildung von Reserven, die für Versicherungsunternehmen anders funktioniert als für andere Unternehmen, ein Ausgleich über die Zeit erzielt werden. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass die gezeichneten Kapazitäten zur Kapitalisierung passen. Alternative Risikoinstrumente, wie strukturierte Rückversicherung oder sogenannte Insurance Linked Securities (Verbriefung von Versicherungsrisiken am Kapitalmarkt), können genutzt werden, um die Zeichnungskapazität zu erhöhen – allerdings meist nicht für die nichtdiversifizierbaren Risiken. Um trotz der fehlenden Größe des Kollektivs eine gewisse Ergebnisstabilität und Kapitaleffizienz in der Captive zu erreichen, sollte allerdings unbedingt auf eine gewisse Diversifikation der gezeichneten Risiken geachtet werden. Dies kann zum Beispiel erreicht werden, indem wenig korrelierte Risiken (zum Beispiel Feuer und Produkthaftpflicht) gezeichnet werden und die zeitliche Komponente genutzt wird, um adäquate Reserven (zum Beispiel Schwankungsrückstellungen) aufzubauen. Auch Employee-Benefit-­ Versicherungen (Unfall, Leben, …) mit stabilen und gut prognostizierbaren Cashflows können helfen. Trotz der vielfältigen Möglichkeiten einer Captive sei an dieser Stelle auch auf einige Einschränkungen verwiesen. So gibt es durchaus Deckungen, die durch die Konzernzugehörigkeit der Captive rechtlich nicht oder nur mit Einschränkungen gezeichnet werden können oder sollten. Dies gilt insbesondere für „Directors and Officers“ („D&O“), eine Versicherung, die auch dann leistet, wenn das Unternehmen oder dessen Aktionäre seine Vorstände verklagt. Hier kann es bei einer Risikotragung durch eine Captive im Schadenfall zu Interessenkonflikten kommen, die rechtlich im Ergebnis zu einer unzulässigen Freistellung des Vorstands und damit in Deutschland zu einem Verstoß gegen § 93 Abs. 5 S. 3 AktG führen könnte (vgl. Bücker und Franzmann 2021). Inwieweit die Rückübernahme von D&O-Risiken in das eigene Unternehmen zulässig ist, ist aktuell ungeklärt. Um den inhärenten Interessenkonflikt zumindest zu mindern, sollte ein nicht unwesentlicher Teil des Risikos beim Fronter verbleiben und die Captive sollte keinerlei Einfluss auf die Schadenregulierung ausüben können. Neben der generellen Versicherbarkeit stellt auch die Bemessung einer drittüblichen (wie zwischen unabhängigen Parteien übliche) Prämie für Risiken, die im klassischen Versicherungsmarkt nicht versichert werden und über die es keine ausreichenden historischen Daten gibt, eine große Herausforderung dar. Eine steuerrechtliche Prüfung des Sachverhalts ist hier deshalb immer zu empfehlen.

7.3.2 Unterschiedliche Arten der Prämienkalkulation Ein vollumfänglicher Überblick über die unterschiedlichen Arten der Prämienkalkulation würde den Umfang dieses Beitrags sprengen. Deshalb sei an dieser Stelle für den interessierten Leser auf die aufgeführte Referenzliteratur verwiesen (zum Beispiel Parodi 2014 oder Picard und Pinquet 2013).

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Da die adäquate Prämienkalkulation jedoch ein wichtiger Baustein eines guten Risikomanagements ist, möchten wir dem Leser ein paar Grundlagen mit auf den Weg geben. Außerdem kann die Dokumentation, dass eine Prämie nach anerkannten aktuariellen Grundsätzen mit marktüblichen Parametern berechnet wurde, als Argument für die Drittüblichkeit herangezogen werden. Zunächst einmal sei darauf verwiesen, dass die Kalkulation einer Lebensversicherung vollständig anders funktioniert als die in der Schadenversicherung. In der Lebensversicherung werden sogenannte Sterbetafeln genutzt, in der Schadenversicherung häufig historische Schadendaten. Da Captives sich in vielen Fällen auf Schadenversicherungsgeschäft beschränken, konzentriert sich dieser Beitrag auf die Schadenversicherung. Weil die Risiken aus dem eigenen Unternehmen meist sehr spezielle Eigenschaften aufweisen, spielen Tarife im Gegensatz zu frei agierenden Versicherern eine untergeordnete Rolle. Bedeutender für Captives ist die Prämienkalkulation auf individuellen Schadendaten. Wir möchten hier zwei Arten der Prämienberechnung auf individuellen Schadendaten vorstellen: den Burning-Cost- und den Simulationsansatz. Bei beiden Ansätzen ist es zunächst notwendig, die historischen Daten so anzupassen, dass sie die heutigen Gegebenheiten (insbesondere Preisniveau, Unternehmensgröße etc.) widerspiegeln und auch noch nicht erfolgte Zahlungen einbeziehen. Ausgangspunkt ist meistens eine Schadenübersicht, die im ersten Schritt so angepasst wird, dass der Gesamtschaden (inkl. Selbstbehalt und Zahlungen oberhalb des Limits) enthalten ist. Offene Schäden sind dazu mittels geeigneter Verfahren (zum Beispiel Chain-Ladder) abzuwickeln. Im Anschluss werden die Summen inflationiert (zum Beispiel in Feuer mit einem Baukostenindex) und gegebenenfalls um Währungskurseffekte bereinigt. Die Schäden aus Naturgefahren werden abweichend modelliert, weshalb sie aus der Schadenübersicht zu löschen sind. Beim Burning-Cost-Ansatz werden nun im nächsten Schritt die Schäden an das Exposure (einem passenden Maß für die „Risikomenge“) angepasst, indem sie mit einem Faktor multipliziert werden (zum Beispiel bei Feuer über die Entwicklung der Versicherungssummen oder bei Haftpflicht über die Umsätze). Nach diesen Anpassungen entsprechen die Zahlungen den aktuellen Gegebenheiten und den erwarteten zukünftigen Zahlungen. Im nächsten Schritt wird die geplante Vertragsstruktur auf die einzelnen Jahre angewendet, um die Summe aller Versicherungsleistungen pro Jahr zu berechnen. Im letzten Schritt wird der Durchschnitt aus den einzelnen angepassten Jahresschäden gebildet. Das Ergebnis ist die Burning-Cost-Prämie, die den erwarteten Schaden widerspiegelt. Der Simulationsansatz ist etwas komplizierter. Typischerweise wird hier zwischen der Simulation von Groß- und Basisschäden differenziert, weshalb die erste Herausforderung die optimale Wahl der Großschadengrenze ist. Für die Basisschäden, deren Jahressumme typischerweise nicht sehr volatil ist, werden nur die um das Exposure angepassten Jahresschäden betrachtet und anhand der historischen Zeitreihe eine mathematische Verteilung gesucht, die den historischen Charakteristiken gerecht wird. Wurde diese Verteilung festgelegt, wird eine große Anzahl an Szenarien für die Frequenzschadenlast simuliert. Für Großschäden werden die angepassten historischen Da-

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ten genutzt, um Wahrscheinlichkeitsverteilungen für die Schadenanzahl und die Schadenhöhen separat zu schätzen. Die passende Wahrscheinlichkeitsverteilung zu finden, bedarf einiger Erfahrung und auch einer gewissen Kenntnis über das Risiko, denn auch Eintrittswahrscheinlichkeiten für seltene Ereignisse, die nicht in den Daten enthalten sind, werden über die Verteilung abgebildet und sollten mit der Expertenmeinung im Einklang sein. Hier bedarf es je nach Expertise in der Captive ggf. der Hinzuziehung externer Expertise, um breitere Markterfahrung einfließen zu lassen. Die Exposureanpassung kann hier abhängig von dem zugrunde liegenden Risiko sowohl auf die Schadenanzahl als auch auf die Schadenhöhe vorgenommen werden. Meistens wird jedoch einfach der Erwartungswert der Schadenanzahlverteilung mit einem entsprechenden Faktor multipliziert („Mehr Umsatz führt zu mehr Schäden“). Wurden nun die Verteilungen entsprechend geschätzt, wird im nächsten Schritt eine große Anzahl an Szenarien simuliert, indem beide Verteilungen kombiniert werden. Vereinfacht dargestellt, wird zunächst eine Anzahl an Schäden (mit einem an die historischen Daten angepassten Würfel) „gewürfelt“ und dann die entsprechenden Schadenhöhen (aus einer Urne mit allen möglichen Schäden, wobei wahrscheinliche Schäden hier öfter enthalten sind) „gezogen“. Werden diese Szenarien mit den Basisschadenszenarien zusammengeführt, erhält man die Gesamtszenarien, die jeweils aus der Basisschadenlast und einer zufällig generierten Anzahl an Großschäden bestehen. Im nächsten Schritt wird auf diese Szenarien die Vertragsstruktur angewendet. Das Ergebnis ist der versicherte Jahresschaden pro Szenario. Die Durchschnittsbildung über alle berechneten Szenarien führt nun zu dem erwarteten Schaden. Auch wenn sich sowohl der Burning-Cost- als auch der Simulationsansatz theoretisch auch zur Modellierung von Naturkatastrophen eignen, wird in der Praxis hierfür meist eine Simulation auf Basis von Naturgefahrenmodellen genutzt. Dies wird insbesondere damit begründet, dass meist keine historisch ausreichende Datenlage vorliegt und Naturgefahren nicht zuletzt durch den Klimawandel einem starken Trend unterliegen. Es wird sich deshalb von den Vergangenheitsdaten gelöst und es werden verschiedene Szenarien auf Basis eines geophysikalisch-meteorologischen Modells erzeugt. Diese Szenarien werden zusammen mit den bekannten Standortinformationen (zum Beispiel Koordinaten, Versicherungssumme, Konstruktionsweise) analysiert, sodass der Schaden für das Szenario näherungsweise abgeschätzt werden kann. Meist werden dazu sogenannte Schadenfunktionen verwendet, die die Intensität der auf die Bauwerke einwirkenden Gefahr (zum Beispiel Hurrikan, Erdbeben, Überflutung) in ein Verhältnis zwischen Reparaturkosten und Versicherungssumme übersetzen. Wurde der Originalschaden ermittelt, so wird im nächsten Schritt erneut die Vertragsstruktur angewendet, um den versicherten Schaden zu ermitteln. Analog zum Simulationsansatz führt der Durchschnitt über alle Szenarien zu dem erwarteten Schaden. Nachdem die erwartete Schadenlast durch eine Kombination der oben aufgeführten Methoden durchgeführt wurde, sind im letzten Schritt die Kosten zu addieren. Anteilige Kosten für den Betrieb der Captive, die Rückversicherungsprovision (oft auch Fronting-­ Gebühr), aber auch Kapitalkosten sollten berücksichtigt werden.

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Insbesondere die Ergebnisse des Simulationsansatzes und des Naturgefahrenmodells eignen sich gut für die Berechnung des Kapitalbedarfs, da mit wenig Aufwand Wiederkehrperioden erzeugt werden können. Ergibt sich der Kapitalbedarf beispielsweise als Differenz aus dem 200-Jahres-Ereignis und der erwarteten Schadenlast, so ist dieser mit dem Kapitalkostensatz zu multiplizieren, um die Kapitalkosten zu erhalten.

7.3.3 Versicherungstechnisches Risiko Nicht-Leben nach Solvency II Mit dem Abschluss von Versicherungsverträgen geht das Versicherungsunternehmen Verbindlichkeiten ein, die selbst oft noch nach Beendigung des Versicherungszeitraums in ihrer Höhe unklar sind. Genau dieses Risiko aus der Ausübung des Geschäfts soll im nichtlebensversicherungstechnischen Risikomodul abgebildet werden (vgl. Artikel 105, Abs. 2 Richtlinie (EU) 2009/138/EG). Es berücksichtigt sowohl bereits bestehende Verpflichtungen als auch Verpflichtungen, die erst im kommenden Jahr entstehen (zum Beispiel aus Neugeschäft). Das Modul unterteilt sich in das sogenannte Prämien- und Reserverisiko, das Katastrophenrisiko und das Stornorisiko. Das Prämienrisiko ist definiert als das Risiko, dass das um Katastrophenereignisse bereinigte versicherungstechnische Ergebnis aus dem aktuellen Geschäftsjahr von den Erwartungen abweicht. Grund hierfür könnte eine erhöhte Anzahl an Basisschäden sein (vgl. EIPOA 2014, S. 41). Das Reserverisiko ist das Risiko, dass die bereits gestellten Reserven nicht ausreichend sind, um die bereits bekannten Schäden zu bezahlen. Dies kann zum einen aus einer falschen Einschätzung, aber auch aus zufälligen Schwankungen resultieren. Auch das Reserverisiko berücksichtigt in der Standardformel unter Solvency II nur Schadenfälle, die mit regelmäßiger Häufigkeit eintreten (vgl. EIOPA 2014, S.  40), da außergewöhnliche Ereignisse im Submodul für Katastrophenrisiken betrachtet werden. Um das gesamte Prämien- und Reserverisiko zu bestimmen, wird zunächst segmentweise (spartenweise) vorgegangen. Als Schwankungsmaß können dafür sowohl Marktdaten als auch unternehmensspezifische Parameter herangezogen werden. Letztere bedürfen jedoch einer ausreichenden Datenlage und der Genehmigung der Aufsicht. Im nächsten Schritt werden dann mithilfe von Prämienhöhen und Reserveständen pro Segment die Kapitalanforderungen für dieses Submodul berechnet (vgl. Artikel 116 f., Delegierten Verordnung (EU) 2015/35). Das Katastrophenrisiko soll das Risiko von außergewöhnlichen Schadenereignissen beschreiben und setzt sich aus den unterschiedlichen Untermodulen 1. Naturkatastrophenrisiko, 2. Katastrophenrisiko von nichtproportionaler Sachrückversicherung, 3. Risiko von Menschen verursachter Katastrophen, 4. Sonstiges Katastrophenrisiko

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zusammen. Das Untermodul Naturkatastrophenrisiko wird dabei weiter in Sturm-, Erdbeben-, Überschwemmungs-, Hagel- und Bodensenkungsrisiko unterteilt. Das Risiko von Menschen verursachter Katastrophen wird hingegen auf Basis der einzelnen Segmente betrachtet. Für die Sachversicherung wird hier beispielsweise die höchste kumulierte Versicherungssumme aller feuerversicherten Gebäude im Umkreis von 200 Metern als Grundlage der Berechnung genutzt (vgl. Artikel 132, Delegierten Verordnung (EU) 2015/35). Das Stornorisiko soll die Auswirkungen eines stark erhöhten Stornos untersuchen. Dazu ist der Stress aus der Kombination zweier plötzlicher Ereignisse zu untersuchen. Aufgrund der Vertragsgestaltung dürfte dieses Risiko allerdings für Captives meist nur eine untergeordnete Rolle spielen, da die Nachfrage unmittelbar aus der Risikostrategie des Unternehmens folgt. Um nun das Gesamtrisiko für das versicherungstechnische Risiko Nicht-Leben zu berechnen, wird versucht, die Abhängigkeiten der verschiedenen Risiken über einen Korrelationsansatz abzubilden. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Prämien- und Reserverisiko und das Katastrophenrisiko über eine gewisse Korrelation verfügen, alle anderen Risiken untereinander jedoch unkorreliert sind.

7.4 Umgang mit Kapitalanlagen und das Marktrisiko Grundsätzlich gelten für Captives die gleichen Restriktionen bei der Kapitalanlage wie für andere Versicherer. Aufgrund ihrer wesentlich geringeren Größe und schlecht zu prognostizierenden Cashflows tendieren Captives jedoch oft zu einer vergleichsweise konservativen Kapitalanlage. Um Synergieeffekte bei der Kapitalanlage mit der Muttergesellschaft zu nutzen, ist es durchaus üblich, dass die Kapitalanlage von der Treasury-Abteilung der Muttergesellschaft übernommen wird. Hierbei ist zwischen zwei Vorgehensweisen zu differenzieren: Cash Pooling und Outsourcing. Beim echten Cash Pooling findet ein tatsächlicher Transfer der Geldmittel zwischen dem Konto der Captive und dem „Master Account“ statt, welcher entweder von der Muttergesellschaft selbst oder von einer anderen Tochtergesellschaft verwaltet wird. Mit Einzahlung erwirbt die Captive einen Rückzahlungsanspruch, der unterschiedlich ausgestaltet sein kann, und es erfolgt eine kontokorrentähnliche Aufrechnung. Alle am Cash Pooling teilnehmenden Gesellschaften können den „Master Account“ nutzen, um sich liquider Mittel zu bedienen. Überschüssige Mittel werden zentral investiert und Zinsen entsprechend der Drittüblichkeit gutgeschrieben oder belastet. Hierbei sind unbedingt der aktuelle Rechtsrahmen, die Anrechenbarkeit in der Solvenzbilanz, steuerliche Implikationen und Auswirkungen einer Insolvenz im Konzernverbund zu prüfen (vgl. CMS 2017, S. 67 ff.). Übernimmt die Treasury-Abteilung der Muttergesellschaft hingegen nur die Kapitalanlage im Auftrag der Muttergesellschaft, so ist dies im Rahmen eines klassischen Out­ sourcings möglich (siehe auch Abschn.  7.6). Hierbei ist jedoch wichtig, dass die ­Kapitalanlagestrategie einer Captive anderen Anforderungen gerecht werden muss als die eines Industrieunternehmens.

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7.4.1 Typische Kapitalanlagen einer Captive Wie bei anderen Versicherern auch, sind Wertpapiere, Aktien, Immobilien und Einlagen bei Kreditinstituten (zum Beispiel Festgeld) für Captives beliebte Kapitalanlagen. Die sonst bei Versicherern weitverbreiteten Infrastrukturinvestments oder Private Equity werden eher selten genutzt; hier fehlt meist das nötige Investitionsvolumen. Häufig nutzen Captives Darlehen an die Muttergesellschaft oder Investments an verbundene Unternehmen. Diese sind bei frei agierenden Versicherern eher unüblich. Zwar gibt es auch bei klassischen Versicherern Transaktionen im Konzernverbund, allerdings handelt es sich bei der Gegenpartei nicht um den ursprünglichen Versicherungsnehmer. Die Vorteile einer solchen Transaktion liegen auf der Hand: Durch den Rückfluss des Geldes in den Konzern reduzieren sich die Opportunitätskosten, die durch die Kapitalbindung in einer Captive entstehen (vgl. Westover 2006, S. 68). Außerdem lassen sich meist höhere Renditen als bei alternativen kurzfristigen Anlagemöglichkeiten erzielen. Allerdings stehen dem wesentliche Nachteile entgegen und die Regelungen über die Zulässigkeit divergieren stark von Standort zu Standort. Weiterhin sollte immer die steuerliche Komponente ausführlich geprüft werden. Sofern beispielsweise die Drittüblichkeit der Transaktion nicht sichergestellt wird oder die Captive nach der Transaktion nicht mehr über ausreichende liquide Mittel verfügt, so können solche zirkulären Zahlungsflüsse massive Auswirkungen auf die ökonomische Substanz der Versicherungstransaktion und somit auf die steuerliche Abzugsfähigkeit haben und gegebenenfalls sogar als Steuerhinterziehung ausgelegt werden (vgl. Cantley und Luna 2015, S. 3). Des Weiteren sollte die Captive sich aus Risikomanagementgesichtspunkten auch über das Konzentrations- und Ausfallrisiko bewusst sein. Ein Rating im unteren Investmentgradebereich oder darunter ist mit dem hohen Sicherungsbedürfnis in der Versicherungsbranche in Einklang zu bringen und kann zu hohen Kapitalanforderungen führen. Außerdem sehen viele Fronter durch derartige Investments die eigenständige Risikotragfähigkeit einer Captive gefährdet und verlangen höhere Besicherungen, was weitere Kosten mit sich bringt.

7.4.2 Marktrisiko nach Solvency II Der Wert von Vermögenswerten (zum Beispiel Kapitalanlagen), aber auch von Verbindlichkeiten (zum Beispiel versicherungstechnische Rückstellungen) unterliegen Schwankungen, da sie abhängig von den Marktpreisen verschiedener Finanzinstrumente sind. Die Zielsetzung des Moduls Marktrisiko ist es, genau diese Schwankungen und das damit verbundene Risiko adäquat abzubilden und dabei auch der Inkongruenz zwischen Aktivund Passivseite im Hinblick auf deren Laufzeit Rechnung zu tragen (vgl. Artikel 105, Abs. 5 Richtlinie (EU) 2009/138/EG). Das Modul Marktrisiko umfasst nach Solvency II das Zinsrisiko, das Aktienrisiko, das Spreadrisiko, das Fremdwährungsrisiko, das Immobilienrisiko und das Konzentrationsrisiko.

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Um grob zu verstehen, wie die Kapitalanforderungen für eine solche Risikokategorie berechnet werden, betrachten wir beispielhaft das Immobilienrisiko in der Standardformel. Die Idee ist wieder, den Wertverlust der Immobilien in dem 200-Jahres-Worst-­CaseSzenario zu berechnen. Die Standardformel macht es sich hier recht einfach und unterstellt, dass in diesem Szenario Immobilienpreise 25 % ihres Wertes verlieren. Entsprechend berechnet sich das benötigte Basisrisikokapital als die Reduktion der Eigenmittel, sofern Immobilienwerte um 25 % fallen. Da in den meisten Fällen nur die Aktivseite von einem derartigen Schock betroffen sein wird, wird also einfach 25  % mit dem Marktwert des Immobilienbestands multipliziert. Über den stark vereinfachten Ansatz der Standardformel und insbesondere über die Angemessenheit der pauschalen 25 % lässt sich trefflich diskutieren, jedoch wollen wir hier von einer kritischen Würdigung absehen. Die Berechnung der anderen Risikomodule innerhalb des Marktrisikos funktioniert ähnlich. Es kann jedoch zu zusätzlicher Komplexität kommen, sofern das Risiko sowohl auf die Aktiv- als auch auf die Passivseite wirkt oder verschiedene Unterkategorien mit unterschiedlichen Faktoren, wie zum Beispiel bei Aktien, einzeln berechnet, aber dann über den Korrelationsansatz aggregiert werden. Zur Berechnung des Basiskapitals für das Modul Marktrisiko werden nun die für die einzelnen Submodule berechneten Risikokapitalien über einen Korrelationsansatz aggregiert. Sofern alle Submodule sich nicht untereinander diversifizieren würden, ein starker Schock am Kapitalmarkt also immer auch einen starken Schock am Immobilienmarkt bedeuten würde, könnte hier einfach die Summe gebildet werden. Da jedoch davon ausgegangen wird, dass die Risiken sich zwar beeinflussen, aber ein Extrem nicht immer ein anderes Extrem zur Folge hat, erhalten wir hier einen niedrigeren Wert. Die zu verwendenden Korrelationen sind durch die Standardformel vorgegeben.

7.5 Versicherungsaufsicht und Kapitalanforderungen Die Erfüllung aufsichtsrechtlicher Anforderungen ist für Captives essenziell, um den Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten. Deshalb wollen wir in diesem Abschnitt ein grundlegendes Verständnis für die Versicherungsaufsicht innerhalb der Europäischen Union schaffen, den Exkurs über die Kapitalanforderungen einzelner Risikomodule aus den vorherigen Abschnitten in den Gesamtkontext einbetten und zu guter Letzt über den Tellerrand in andere Aufsichtsregime blicken.

7.5.1 Versicherungsaufsicht nach Solvency II Mit den nationalen Umsetzungen der europäischen Rahmenrichtlinie 2009/138/EG trat zum 01.01.2016 mit Solvency II ein EU-weit harmonisiertes Aufsichtsrecht im Bereich Versicherungen in Kraft. Es stellt ein weitreichendes System zur Beurteilung der Gesamtsolvabilität dar und beinhaltet sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte.

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Solvency II

  

Säule I Anforderungen an die Finanzausstattung

Säule 2 Aufsichtsrechtliches Anforderungen

Säule III Berichts- und Transparenzanforderungen

„Berechnen“

„Benutzen“

„Berichten“

Ökonomische Bewertung Solvenzkapitalanforderungen (SCR) Verfügbare Eigenmittel





Quantitatives Risikomanagement

Anforderungen an das Risikomanagement  Interne Prozesse, Systeme und Organisation  ORSA und Use Test  Governance und Funktionstrennung  Management von Risiken, die nicht in Säule I enthalten sind Kontrolle durch Aufsichtsbehörden

Qualitatives Risikomanagement

  

Transparenzvorschriften gegenüber Öffentlichkeit (SFCR) Einheitliche Offenlegung gegenüber Aufsichtsbehörden (RSR) Quantitatives Reporting Templates (QRTs)

Transparenz

Abb. 7.4  Die drei Säulen der Solvency-II-Architektur. (In Anlehnung an Kriele et al., S. 419)

7.5.1.1 Drei-Säulen-Modell Ähnlich wie die Bankenaufsicht, basiert auch Solvency II auf einem Drei-Säulen-Modell (vgl. Abb. 7.4). Diese drei Säulen lassen sich wie folgt beschreiben: 1. Anforderungen an die Finanzausstattung (Säule I): Diese Säule beschäftigt sich mit der Berechnung der zur Verfügung stehenden Eigenmittel und der risikobasierten Solvenzkapitalanforderungen. Sie sind die Grundlage für das quantitative Risikomanagement. 2. Aufsichtsrechtliche Anforderungen (Säule II): Diese Säule beschäftigt sich mit den zu erfüllenden qualitativen Mindestanforderungen bezüglich Geschäfts- und Risikostrategie, Aufbau- und Ablauforganisation, des internen Steuerungs- und Kontrollsystems und dem Management der Anforderungen aus Säule I. Auch finden sich hier die Anforderungen an die Geschäftsleitung und der Schlüsselfunktionen („Fit and Proper“-Anforderungen) und das „Own Risk and Solvency Assessment“ („ORSA“) 3. Berichts- und Transparenzanforderungen (Säule III): Im Rahmen dieser Säule wird die Captive zur Offenlegung von zahlreichen Informationen verpflichtet. Dabei richtet sich die Informationspflicht in den meisten Fällen an die Aufsichtsbehörde, es gibt aber auch Transparenzvorschriften gegenüber der Öffentlichkeit. Die planmäßige Berichterstattung der Captive gegenüber der Aufsicht erfolgt im Wesentlichen über den

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Bericht über das „Own Risk and Solvency Assessment“ („ORSA“), das „Regular Supervisory Reporting“ („RSR“) und die „Quantitative Reporting Templates“ („QRT“). Die Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit erfolgt im Wesentlichen über den „Solvency and Financial Condition Report“ („SFCR“).

7.5.1.2 Sinn und Unsinn von Solvency II für eine Captive Auch wenn eine Captive an nur wenigen verbundenen Risiken auf dem Rückversicherungsweg partizipiert, hat Solvency II für sie genauso Gültigkeit wie für ein großes internationales Versicherungsunternehmen mit mehreren Milliarden Prämienvolumen und hunderttausenden Verträgen. Zwar gilt unter Solvency II der Grundsatz der Proportionalität (vgl. § 296 VAG), dieser beschäftigt sich allerdings nur mit der Frage, in welcher Form die Anforderung abhängig von der Komplexität des Versicherungsunternehmens erfüllt werden muss. Eine Befreiung der regulatorischen Anforderungen als solches ist ohne gesetzliche Ausnahmebestände zu mindestens aus Sicht einiger Aufsichtsbehörden nicht möglich (vgl. BaFin 2019). Die Praxis zeigt, dass die Proportionalität von unterschiedlichen nationalen Aufsichtsbehörden unterschiedlich ausgelegt wird und praktiziert wird (vgl. Lier 2018). Wir wollen hier insbesondere drei Facetten von Solvency II anführen, über deren Mehrwert in Bezug auf Captives häufig diskutiert wird: das Berichtswesen, die Schlüsselfunktionen und die Anwendung der Standardformel zur Berechnung der Kapitalanforderungen. Insbesondere die Anzahl und die Frequenz der Berichterstattung und das Besetzen von Schlüsselfunktionen sind für viele Captives eine große Herausforderung, da sie im Gegensatz zu den großen Versicherern nicht über große Abteilungen von Risikomanagern und Aktuaren verfügen, sondern nur begrenzt eigenes Personal vorhalten. Insbesondere in Bezug auf das meist relativ übersichtliche Prämienvolumen einer Captive ergibt sich deshalb eine überproportionale Kostenbelastung (vgl. Thomas 2018). Darüber hinaus wird von Captives oft angeführt, dass der Mehrwert derartiger Berichte und der geforderten Governance-­Strukturen wegen des oft wenig komplexen Geschäfts (vgl. Krieger 2018) und der geringen Schutzbedürftigkeit der Versicherungsnehmer (vgl. ECIROA 2008, S. 5 ff.) infrage gestellt werden kann. Darüber hinaus werden zur Berechnung der Kapitalanforderungen im Rahmen der Standardformel oft Marktdaten herangezogen. Da jedoch das Portfolio einer Captive sowohl in Bezug auf die Diversifikation als auch in Bezug auf die Spezialität der Risiken stark von dem eines durchschnittlichen Versicherers abweicht, sind die Ergebnisse hier mit großer Vorsicht zu interpretieren und vermitteln oft ein falsches Bild der Sicherheit. Ein Partialmodell oder ein internes Modell, welches die Spezifitäten des Geschäftsmodells besser berücksichtigt, wäre deshalb aus Steuerungssicht sinnvoll, ist aber aufgrund des hohen Aufwands für Captives nicht umsetzbar. Insgesamt ist also festzuhalten, dass die Angemessenheit einiger Maßnahmen von Solvency II im Hinblick auf Captives durchaus fragwürdig scheint. Die unterschiedliche Auslegung der europäischen Grundsätze in den Mitgliedsstaaten und eine stark abweichende Vorgehensweise der nationalen Aufsichtsbehörden heizen diese Diskussion oft weiter an. Mit der am 17.12.2020 von der EIOPA veröffentlichten Meinung zum 2020 Solvency II Review (vgl. EIOPA 2020) wurden bereits einige Vereinfachungen in Bezug auf den SFCR und den

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ORSA-Prozess vorgeschlagen. Es gibt allerdings zahlreiche Einschränkungen, sodass vo­ raussichtlich nur wenige Captives davon profitieren werden. So sollen die Vereinfachungen nicht anwendbar sein, wenn Pflichtversicherungen oder konzernfremde Risiken durch die Captive (rück-)versichert werden. Auch ein Cash Pooling oder Darlehen an eine andere Konzerngesellschaft steht den Vereinfachungen entgehen, wenn diese 20 % der Bilanzsumme übersteigen. Die EIOPA hat damit wichtige Merkmale identifiziert, die bei Captives zu einem erhöhten Risiko führen und die Fronter in ihrer Risikoprüfung seit vielen Jahren kritisch beobachten. Vielen Captives werden diese Einschränkungen jedoch nicht gefallen.

7.5.2 Kapitalanforderungen nach Solvency II Wer sich mit den Kapitalanforderungen nach Solvency II beschäftigt, muss sich im Wesentlichen mit zwei Bestandteilen auseinandersetzen: den verfügbaren Eigenmitteln („Own Funds“) und den risikobasierten Solvenzkapitalanforderungen („Solvency Capital Requirements“). Eine wesentliche Anforderung von Solvency II ist es, dass die Eigenmittel ausreichen, um ein Krisenszenario, welches statistisch alle 200 Jahre eintritt, zu überstehen. Oft wird hierfür die Solvenzkapitalquote („Solvency Ratio“) herangezogen, die als Quotient der Eigenmittel und der risikobasierten Kapitalanforderungen definiert ist. Ist sie größer als 1 bzw. größer als 100 %, so übersteigen die Eigenmittel die Kapitalanforderungen und diese Anforderung ist erfüllt (vgl. Abb. 7.5).

Verfügbare Eigenmittel Aktivseite

Ökonomisches Eigenkapital Nachrangige Verbindlichkeiten Ökonomischer Wert der Kapitalanlagen

Basic Own Fund (BOF)

Basic Own Funds

SCR

MCR

Ergänzende Eigenmittel

Risikomarge

Bester Schätzwert der der vt. Rückstellungen

Sonstige Aktiva

Solvenzkapitalanforderungen

Passivseite

Versicherungstechnische Rückstellungen

Sonstige Passiva

Abb. 7.5  Ökonomische Bilanz nach Solvency II. (In Anlehnung an Gürtler und Henseler 2019, S. 11)

7 Risikomanagement

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7.5.2.1 Verfügbare Eigenmittel Um die ökonomischen Basiseigenmittel („Basic Own Funds“) zu berechnen, ist zunächst eine Marktwertbilanz zu erstellen. Dabei sind insbesondere folgende Grundsätze zu berücksichtigen: 1. Vermögenswerte sind mit dem Betrag zu bewerten, „zu dem sie zwischen sachverständigen, vertragswilligen und voneinander unabhängigen Geschäftspartnern getauscht werden könnten“ (Artikel 75, Abs. 1, Richtlinie (EU) 2009/138/EG). 2. Die versicherungstechnischen Rückstellungen entsprechen dem Wert, „den Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen zahlen müssten, wenn sie ihre Versicherungs- und Rückversicherungsverpflichtungen unverzüglich auf ein anderes Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen übertragen würden“ (Artikel 76, Abs. 2, Richtlinie (EU) 2009/138/EG). Sie setzen sich zusammen aus dem „besten Schätzwert“ und einer Risikomarge. 3. Der „beste Schätzwert“ der versicherungstechnischen Rückstellungen wird brutto berechnet. Die einforderbaren Beiträge aus Rückversicherung sind als Vermögenswert zu bilanzieren und um das Ausfallrisiko (erwarteter Ausfall, nicht gleichzusetzen mit dem Kapitalbedarf für das 200-Jahres-Ereignis) zu adjustieren. Die ökonomischen Basiseigenmittel ergeben sich als Differenz der Vermögenswerte und der Verbindlichkeiten zuzüglich des eigenmittelfähigen Anteils von Nachrangdarlehen. Darüber hinaus können ergänzende Eigenmittel, wie zum Bespiel nichteingezahltes Grundkapital oder bestimmte Garantien, nach Genehmigung der Aufsichtsbehörde bei der Berechnung der verfügbaren Eigenmittel einbezogen werden. Die verfügbaren Eigenmittel ergeben sich somit als die Summe der Basiseigenmittel und der ergänzenden Eigenmittel. Dabei ist jedoch zu beachten, dass ergänzende Eigenmittel abhängig von ihren Eigenschaften nur begrenzt zur Bedeckung der Solvenzkapitalanforderungen herangezogen werden dürfen.

7.5.2.2 Solvenzkapitalanforderungen In den vorangegangenen Abschnitten haben wir uns bereits mit den Berechnungen der Kapitalanforderungen für das versicherungstechnische Risiko Nicht-Leben und das Markt­ risiko beschäftigt. Neben diesen beiden Modulen gibt es noch vier weitere Module, für die zunächst eigenständig Kapitalanforderungen berechnet werden: das Gegenparteiausfallrisiko, das versicherungstechnische Risiko Leben, das operationelle Risiko und das Risiko bezüglich immaterieller Vermögensgegenstände. Das Gegenparteiausfallrisiko beschäftigt sich mit der Frage, wie hoch das Risiko ist, dass Forderungen durch eine potenzielle Insolvenz eines Schuldners ihren Wert verlieren. Dabei werden unter anderem Forderungen gegenüber Versicherungsnehmer, Fronter oder Rückversicherer betrachtet. Den wesentlichen Anteil machen jedoch meist zedierte Reserven an Rückversicherer aus, da diese sich insbesondere bei langsam abwickelndem Geschäft oft über Jahre aufsummieren. Analog zu dem gleichnamigen Modul für Nicht-­ Leben, beschäftigt sich auch das Modul Leben mit dem Risiko, welches sich aus

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Versicherungsverträgen ergibt. Da hier jedoch andere Ursachen zu einer Veränderung der Ergebnissituation führen, werden hier beispielsweise unerwartete Veränderungen in der Sterblichkeit betrachtet. Das operationelle Risiko adressiert die Gefahr, dass Verluste aus unzulänglichen oder fehlerhaften Prozessen resultieren, das Personal oder die genutzten Systeme nicht adäquat sind, sich Rechtsrisiken materialisieren oder Verluste durch andere externe Ereignisse entstehen (vgl. TS.SCR 3. Seite 102). Auch wenn nur wenige immaterielle Vermögensgegenstände in der Solvenzbilanz ansetzbar sind, trägt dieses Modul etwaiger Wertschwankung der angesetzten Werte auf stark vereinfachte Weise Rechnung. Um nun die risikobasierten Kapitalanforderungen zu berechnen, werden die einzelnen berechneten Risikokapitalien über einen Korrelationsansatz, wie wir ihn schon in den Submodulen gesehen haben, aggregiert. Das Ergebnis ist die „Solvency Capital ­Requirement“ (kurz: „SCR“), welche als die schlimmste prognostizierte Abweichung vom erwarteten Geschäftsergebnis innerhalb von 200 Jahren interpretiert werden kann.

7.5.2.3 Mindestkapitalanforderungen Neben den Solvenzkapitalanforderungen stellen die Mindestkapitalanforderungen („Minimum Capital Requirements“) einen weiteren Schwellenwert dar, den die Aufsicht he­ ranzieht, um die Stabilität der Captive zu analysieren. Dabei ist es üblicherweise so, dass die Mindestkapitalanforderungen geringere Anforderungen an die vorhandenen Eigenmittel darstellen. Da es bei der Anrechnung der ergänzenden Eigenmittel zur Bedeckung der Mindestkapitalanforderungen höhere Anforderungen gibt, kann sich dieses Verhältnis auch umkehren (vgl. Abb. 7.6).

7.5.3 Ein Blick auf andere Aufsichtsregime Auch wenn eine Vielzahl von Captives deutschsprachiger Unternehmen unter die Aufsicht von Solvency II fallen, lohnt sich oft der Blick auf andere Standorte und ihren Umgang mit Captives. Vorhandenes Kapital

Basic Own Funds

Benötigtes Kapital, um 200-JahresEreignis zu überstehen

:

SCR

Ergänzende Eigenmittel

Abb. 7.6  Berechnung der Solvenzquote nach Solvency II

=

Solvenzquote („Solvency Ratio”)

7 Risikomanagement

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Die FINMA in der Schweiz verfolgt bei der Beaufsichtigung ihrer Captives einen ähnlichen Ansatz wie die europäischen Aufsichtsbehörden. In Bezug auf Säule I gibt es zwar kleinere Abweichungen, wie beispielsweise bei der Wahl des Risikomaßes, allerdings findet sich auch hier der Grundsatz der marktnahen Bewertung wieder. Die Anforderungen an das aufsichtsrechtliche Überprüfungsverfahren aus Säule II scheinen allerdings weniger strikt und ein Bericht vergleichbar zum SFCR, der sich im Rahmen von Säule III an die Öffentlichkeit richtet, fehlt vollständig. Durchaus interessant für europäische Captives können auch die vorgegebenen Risiko-Konzentrations-Szenarien (zum Beispiel Pandemie) aus diesem Aufsichtsregime sein, die insbesondere auch im Rahmen des ORSA-­ Prozesses genutzt werden können (vgl. BPV 2006, S. 78 ff.). In vielen anderen Aufsichtsregimen unterliegen Captives oft wesentlich geringeren aufsichtsrechtlichen Anforderungen als andere Versicherer. So berechnen sich beispielsweise die Kapitalanforderungen für eine Captive auf Guernsey auf Basis des 10-Jahres-­Ereignisses (90 % Konfidenzniveau) (vgl. GFSC 2015, S. 10) und nicht wie bei Solvency II auf Basis des 200-Jahres-Ereignisses (99,5  % Konfidenzniveau). Auch wenn diese ­Anforderungen für Captives zunächst einmal verlockend klingen, werden insbesondere Fronter bei derartigen Standorten oft vorsichtiger agieren und höhere Besicherungen verlangen. Außerdem sollte vor Gründung einer Captive außerhalb eines Solvency-II-äquivalenten Standorts geprüft werden, inwieweit überhaupt Risiken von einem europäischen Erstversicherer übernommen werden können bzw. welche Anforderungen an den Betrieb von Versicherungsgeschäft in Deutschland aus einem Nicht-Solvency-­ II-Land heraus gestellt werden und welche Auswirkungen dies für den Fronter mit sich bringt (vgl. BaFin 2016).

7.6 Personal und Ausgliederung 7.6.1 Outsourcing vs. Insourcing Aufgrund der geringen Größe stellt sich bei Captives oft die Frage, ob das Vorhalten von entsprechendem Personal ökonomisch sinnvoll ist. Eine Ausgliederung („Outsourcing“) an externe Dienstleister ist oft mit entsprechenden Effizienzvorteilen verbunden, da Skaleneffekte genutzt werden können. Durch die große Spezialisierung der verschiedenen Dienstleister kann oft auf eine höhere fachliche Expertise zurückgegriffen werden, als wenn versucht wird, mit wenigen Mitarbeitern alle Bereiche einer Captive abzudecken. Auf der anderen Seite ergeben sich durch das Outsourcing neue Risiken, welche unter Solvency  II insbesondere im Modul operationelle Risiken anzusiedeln sind. So hat das Management auf externe Dienstleister meistens nicht dieselben Durchgriffs- und Einwirkungsmöglichkeiten wie auf internes Personal. Dies kann unter Umständen zu einer Schlechterfüllung oder Nichtverfügbarkeit der Leistung führen. Auch ist es im Rahmen von Outsourcing meistens unausweichlich, dass bei der Durchführung der Dienstleistung Daten das Unternehmen verlassen und somit potenzielle unsichere Datenschnittstellen entstehen. Hinzu kommt, dass sich in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zu dem

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Dienstleister ergibt. Dies trifft insbesondere zu, wenn es nur wenige vergleichbare Dienstleister am Markt gibt oder die Dienstleistung eine hohe Einarbeitungszeit benötigt. Bei dem Grad und der Art des Outsourcings bei Captives lassen sich starke Unterschiede feststellen, die von der Größe der Captive, aber auch maßgeblich vom Standort und dem dort vorhandenen Angebot an Dienstleistungen beeinflusst werden. Am Standort Deutschland wird es eine Captive beispielsweise schwer haben, einen sogenannten Full-Service-Anbieter für ihr Captive Management zu finden. In Luxemburg oder Irland hingegen werden solche Anbieter sehr häufig genutzt und übernehmen nicht selten fast alle operativen Tätigkeiten der Captive. Sofern kein Full-Service-Anbieter von der ­Captive genutzt wird, so ist die Ausgliederung einzelner Teilbereiche an unterschiedliche Dienstleister üblich. Dabei ist zwischen einer konzerninternen und konzernexternen Ausgliederung zu differenzieren. Verfügt der Konzern zum Beispiel im Bereich der internen Revision oder der Kapitalanlage über ausreichende Expertise, so scheint es naheliegend, diese Services konzernintern einzukaufen. Hier ist aber darauf zu achten, dass den speziellen Anforderungen des Versicherungsgeschäfts Rechnung getragen wird (zum Beispiel Knowhow für die Prüfung von versicherungsbezogenen Prozessen).

7.6.2 Outsourcing nach Solvency II Solvency  II stellt an Ausgliederungen einer Captive besondere Anforderungen. Gemäß Artikel 49 der Richtlinie (EU) 2009/138/EG ist eine Ausgliederung kritischer und wichtiger Funktionen der Aufsicht vorab anzuzeigen und darf nur durchgeführt werden, sofern es (1) zu keiner wesentlichen Beeinträchtigung der Qualität des Governance-Systems kommt, (2) das operationelle Risiko nicht „übermäßig“ gesteigert wird, es (3) zu keiner Beeinträchtigung der Überwachung durch die Aufsichtsbehörden kommt und es (4) zu keinen negativen Folgen für den Versicherungsnehmer führt. Um die Ausgliederung zu überwachen und zu beurteilen, ist ein Ausgliederungsbeauftragter innerhalb der Captive zu benennen. Dieser trägt die Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung der Ausgliederung und muss entsprechend über eine ausreichende fachliche Qualifikation verfügen. Es empfiehlt sich außerdem, ein regelmäßiges Outsourcing Controlling durchzuführen, in dem die Ausgliederung auf die Anforderungen gemäß Artikel 274 Delegierten Verordnung (EU) 2015/35 geprüft wird. Folgende Kriterien könnten dabei herangezogen werden: 1. Leistungsfähigkeit und Qualifikation: Verfügt der Dienstleister über die notwendigen Kapazitäten und Systeme, um die ihm übertragenen Aufgaben durchzuführen? Ist das eingesetzte Personal zuverlässig und ausreichend qualifiziert (siehe auch ­Abschn.  7.6.4)? Verfügt der Dienstleister über ausreichende finanzielle Mittel, um ­einen langfristigen Geschäftsbetrieb sicherzustellen? 2. Datenschutz und Vertraulichkeit: Werden zur Verfügung gestellte Dokumente und Informationen sachgerecht verwaltet und vertraulich behandelt? Werden aktuelle Gesetze zum Datenschutz eingehalten?

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3. Notfallpläne: Verfügt der Dienstleister über umfassende Notfallpläne, die regelmäßig aktualisiert und getestet werden? 4. Potenzielle Interessenkonflikte: Gibt es bei der Durchführung der übertragenen Aufgabe Interessenkonflikte? 5. Aufsichtsrechtliche Kontrolle: Ist die aufsichtsrechtliche Kontrolle durch Nutzung des Dienstleisters eingeschränkt? Kann sichergestellt werden, dass die Aufsichtsbehörde den Dienstleister jederzeit einer Prüfung unterziehen kann? 6. Vertragssicherheit: Liegt ein schriftlicher Vertrag vor, welcher die Rechten und Pflichten ausreichend regelt? Ist der Dienstleister verpflichtet, die Captive über jegliche Veränderungen zu unterrichten, die eine materielle Auswirkung auf seine Tätigkeit haben könnten? Welche Regelungen gibt es bezüglich Sub-Ausgliederungen?

7.6.3 Vergütungspolitik Auch im Hinblick auf die Vergütungspolitik sehen sich Captives einer besonderen Herausforderung gegenübergestellt. Insbesondere bei einem variablen Bestandteil der Vergütung der Geschäftsleiter und Aufsichtsräte ergeben sich oft Herausforderungen, da die Vergütungssysteme der Muttergesellschaften oft nicht den Anforderungen von Artikel 275 Delegierten Verordnung (EU) 2015/35 gerecht werden. Zum einen ist gemäß Artikel 275 Abs. 2(b) Delegierten Verordnung (EU) 2015/35 die Dreidimensionalität der Vergütung zu wahren und zu dokumentieren, nach der sich der variable Anteil auf die Bewertung der Ergebnisse (1) des Einzelnen, (2) des betreffenden Geschäftsbereichs und (3) des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe beziehen muss. Zum anderen muss gemäß Artikel 275 Abs.  2(c) Delegierten Verordnung (EU) 2015/35 die variable Vergütung eine „flexible, aufgeschobene Komponente enthalten“, wobei der Zeitaufschub mindestens drei Jahre betragen muss. Wichtig ist außerdem, dass Angaben zu den Vergütungsleitlinien auch in den SFCR aufzunehmen sind und somit der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden müssen.

7.6.4 „Fit and Proper“-Anforderungen Da die fachliche Qualifikation („Fitness“) und die persönliche Zuverlässigkeit („Properness“) wichtige Voraussetzungen für eine funktionierende Governance-Struktur sind, stellt Solvency II besondere Anforderungen an die Personen, die die Captive tatsächlich leiten, beaufsichtigen oder andere Schlüsselaufgaben innehaben (vgl. Artikel 42 Richtlinie (EU) 2009/138/EG). Dabei geht der Begriff Schlüsselaufgaben über die in Abschn. 7.2.3 beschriebenen Schlüsselfunktionen hinaus, was aber für Captives aufgrund ihrer geringen Personalstärke von nachgeordneter Bedeutung sein dürfte. Gemäß der Leitlinie 11 zum Governance-System der EIOPA (vgl. EIOPA 2013, S. 8) sind insbesondere Qualifikationen, Erfahrungen und Kenntnisse aus den Bereichen (1) Versicherungs- und Finanzmärkte, (2) Geschäftsstrategie und Geschäftsmodell, (3)

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Governance-­System, (4) Finanzanalyse und versicherungsmathematische Analyse und (5) regulatorischer Rahmen und regulatorische Anforderungen sicherzustellen. Außerdem sollte eine Captive im Rahmen einer Richtlinie festhalten, wie eine fortlaufende Einschätzung vorgenommen wird und wann eine Neubeurteilung erforderlich ist. Darüber hinaus sollte auch festgehalten werden, wie die Qualität der weiteren relevanten Mitarbeiter sichergestellt wird. In Bezug auf die persönliche Zuverlässigkeit sollte die Captive sicherstellen, dass keine Straf- oder Ordnungswidrigkeitstatbestände vorliegen, die jeweilige Person über ausreichende Ressourcen verfügt, um die übertragenen Pflichten angemessen erfüllen zu können, und keine Interessenkonflikte vorliegen. Da das versicherte Unternehmen und die Captive oft in einem engen Verhältnis zueinander stehen, sollte insbesondere der letzte Punkt sorgfältig geprüft werden. Sofern es zum Outsourcing von Schlüsselaufgaben kommt, gelten die „Fit and Proper“-Anforderungen gleichermaßen für den Dienstleister. Hier ist insbesondere auf eine adäquate Vertragsgestaltung zu achten, sodass diese Anforderungen jederzeit sichergestellt sind.

7.7 Schlussbetrachtung Wir haben in unserem Beitrag einen umfassenden Überblick über das Risikomanagement innerhalb einer Captive gegeben und die wesentlichen aufsichtsrechtlichen Anforderungen an ebendieses Risikomanagement dargestellt. Auf den ersten Blick können die Anforderungen aus Solvency II geradezu erdrückend für den Betrieb einer kleinen Captive wirken – sie folgen aber bei genauerer Betrachtung eben genau jenen Risiken, die aus dem Betrieb einer Captive entstehen und mit denen sich jeder ordentlich und vorausschauend handelnde Kaufmann ohnehin beschäftigen muss. Das Aufsichtsregime gibt dabei einen gut strukturierten Rahmen vor, aus dem das Vorgehen innerhalb der Captive abgeleitet werden kann. Hangelt man sich von Säule zu Säule, von Anforderung zu Anforderung und unterlegt diese mit Prozessen, die der Eigenart des Captive-Geschäfts entsprechen, entsteht ein umfassendes Instrumentarium zur Steuerung und Bewertung des Risikos innerhalb der Captive. Diese genaue Kenntnis des Risikos, zu der einen die Regulierung geradezu zwingt, erleichtert auch die Integration der Captive in die Gesamtrisikostrategie des Konzerns. Auch die Berichtspflichten relativieren sich bei genauerer Betrachtung. Am Anfang steht zwar ein nicht zu unterschätzender Einmalaufwand; da sich Struktur und Geschäft einer Captive aber von Jahr zu Jahr meist kaum ändern, reichen einfache Anpassungen in den Folgejahren. Steht der Bericht erst einmal, müssen häufig nur Zahlen aktualisiert werden. Über die Sinnhaftigkeit von Schlüsselfunktionen bei Captives mit wenig komplexem Geschäftsmodell und einer hohen Kapitalisierung kann man streiten. Allerdings zeigt der aktuelle Solvency II Review, wie schwer es ist, risikogerechte Vereinfachungen für Captives vorzunehmen.

7 Risikomanagement

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Der von einigen typischen Captive-Standorten in der EU eingeschlagene pragmatische Weg wird sicherlich als Vorbild für die anderen Mitgliedsstaaten dienen, die lokale Captive-­Gründungen fördern wollen. Da länderspezifische Unterschiede oft aber zu einer geringeren Akzeptanz der nationalen Umsetzung des europäischen Rahmenwerks führen, wäre ein einheitlicher Ansatz hier klar zu präferieren. Auch wenn man für die Captive einen eher untypischen Standort gewählt hat, ist Pragmatismus im Rahmen des Zulässigen bei der Gestaltung der Prozesse und Instrumente ein guter Ratgeber. Größe, Umfang und Komplexität der Captive können sich darin widerspiegeln. Das, was für einen großen internationalen Versicherer richtig und wichtig ist, ist für Captives nicht notwendigerweise in gleichem Maß erforderlich. Für den erfolgreichen Betrieb einer Captive ist es daher unerlässlich, mit dem Risikomanagementsystem umgehen zu können und ihnen mit der Frage zu begegnen, was sie tatsächlich erreichen wollen. Wir hoffen, dass dieser Beitrag genau bei Beantwortung dieser Frage eine Hilfestellung ist.

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Jelto Borgmann  begann seine berufliche Karriere als Captive Portfolio Manager bei der HDI Global SE nach dem Abschluss seines Mathematik-Studiums im Jahr 2016. Die berufsbegleitende Qualifizierung zum Aktuar DAV schloss er 2019 erfolgreich ab und verfügt durch seine Entsendung an die HDI Reinsurance SE (Ireland) über umfassende internationale Erfahrung im Rückversicherungsbereich. In der Abteilung Captive Services ist er aktuell für die Strukturierung von internationalen Programmen mit Captive-Beteiligung zuständig und übernimmt vielfältige Aufgaben im Bereich Risikomanagement.

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Dr. Dirk Schilling  ist als Leiter Guidance und Captive Services bei der HDI Global SE tätig. Er verantwortet derzeit die Weiterentwicklung der fachlichen UW- und Claims Governance und Infrastruktur sowie das Qualitätsmanagement für Captive-Verbindungen der Gesellschaft. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und einer Promotion zu verschiedenen Themen der Finanzwirtschaft an der Universität Hamburg begann er seine berufliche Karriere bei der HDI Global SE als ­Vorstandsassistent im Jahr 2011. Nach einer zweijährigen Tätigkeit als Haftpflicht-Underwriter in London war er ab 2016 verantwortlich für die Entwicklung und Steuerung des deutschen Großkundengeschäfts und für den Ausbau der Captive-Services-Abteilung. Im Jahr 2017 folgte die Verantwortung für Governance in der Haftpflichtsparte. Daran schloss sich 2019 die heutige Tätigkeit an. Dr. Dirk Schilling verfügt über umfassende Erfahrungen in der Industrieversicherung, insbesondere über die Anforderungen an komplexe Eigentragungs- und Risikotransferstrukturen sowie über Prozesse und Governance im Underwriting.

8

Bewertung versicherungstechnischer Risiken bei Captive-Gesellschaften Reiner Hoffmann

Inhaltsverzeichnis 8.1  8.2  8.3  8.4  8.5 

Einleitung  Risikobegriff  Simulationsmodelle  Risiko & Preis  Bewertung versicherungstechnischer Strukturen 

 180  182  186  188  193

Zusammenfassung

Für Captives haben sich die Anforderungen an die Bewertung der in Deckung genommenen Risiken in den letzten Jahren erhöht. Prämien sind von Captives risikoadäquat zu ermitteln, die Kapitalausstattung der Gesellschaften muss den generellen aufsichtsrechtlichen Anforderungen für Versicherungsunternehmen entsprechen. Mathematische Modelle haben sich in der Praxis bei der Beurteilung dieser Fragestellungen auch bei Captive-Gesellschaften etabliert. Die Aussagekraft solcher Modelle kann in der Praxis allerdings stark von einzelnen versicherungstechnischen Details beeinflusst werden, weshalb ein tiefgreifender interdisziplinärer Dialog bei der Konzeption und Ausrichtung dieser Modelle sinnvoll ist. Dies betrifft Captive-Gesellschaften umso mehr, als deren Wettbewerbsfähigkeit gegenüber einem breit diversifizierten Versicherungsmarkt vergleichsweise stark von der Fähigkeit einer individuellen Risikobewertung abhängt.

R. Hoffmann (*) AXA XL Insurance Company SE, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_8

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8.1 Einleitung Der Betrieb einer Captive setzt in der Regel voraus, dass die in Deckung genommenen Risiken versicherungstechnisch bewertet werden. Hierzu haben sich in den letzten Jahren mathematische Ansätze durchgesetzt. In diesem Beitrag soll eine pragmatische Einführung in die zugrunde liegenden aktuarischen Konzepte und die daraus resultierenden Folgen für die Versicherungspraxis erfolgen. Ein Hauptanliegen dabei ist, Nichtmathematiker in die Lage zu versetzen, mit Mathematikern in einen konstruktiven Dialog über die verwendeten Risikomodelle einzutreten. Dies ist erforderlich, weil die Bewertung einzelner Risiken innerhalb einer Captive stark von einzelnen versicherungstechnischen Details abhängig sein kann. Im Zuge arbeitsteiliger Prozesse bei der Strukturierung von Modellen, der Analyse und Aufbereitung von Inputdaten und der Interpretation von Modellierungsergebnissen entsteht in der Praxis manchmal die Situation, dass einzelne Aspekte oder leichte Sachverhaltsveränderungen eine völlige Neuausrichtung des gewählten Modellierungsansatzes nach sich ziehen müssten. Zunächst würde eine derartige Korrektur aber voraussetzen, dass die entscheidenden Sachverhaltsveränderungen dem Modellierer überhaupt bekannt sind und von diesem in ihrem Einfluss auf die Modellierungs­ ergebnisse auch abgeschätzt werden können. Nachfolgendes Praxisbeispiel mag dies verdeutlichen. In einem konkreten Fall lag dem Versicherungsmathematiker eines Rückversicherungsunternehmens die gesamte Einzelschadenhistorie des Haftpflichtbereichs eines internationalen Konzerns vor. Aus diesen qualitativ ungewöhnlich guten Daten sollte eine Verteilung der Schadenhöhen abgeleitet werden, um das Bepreisen für Layer-Deckungen zu verbessern. Bei einer solchen Fragestellung wird für den zugrunde liegenden Risikobereich untersucht, mit welcher Wahrscheinlichkeit Einzelschäden gewisse Schadenhöhengrenzen überschreiten, was sowohl die Grundlage für die Prämienermittlung als auch für die Strukturierung von Selbstbehalten und adäquaten Deckungssummen bildet. In der vorliegenden Schadenhistorie befand sich ein einzelner Großschaden, der für die kundenindividuelle Bewertung hoher Einzelschadenrisiken eine herausragende Stellung einnehmen musste. Jetzt handelte es sich allerdings bei diesem vermeintlichen Großschaden um einen Sammelschaden, unter dem zahlreiche Kleinschäden nach einer marktweiten Deckungsumstellung verbucht worden waren. Konkreter Hintergrund dieses Vorgangs war die sogenannte Umweltumstellung in der Mitte der 1990er-Jahre, infolgedessen der langjährige Versicherungspartner des Unternehmens Altlasten fiktiv unter einem einzelnen Schadenfall subsumiert hat. Versicherer und Industrieunternehmen hatten vertraglich eine Sonderbehandlung dieser Einzelschäden vereinbart, was die Zusammenführung vieler Einzelschäden zu einem fiktiven einzelnen „Großschaden“ nach sich gezogen hat. Aus Sicht der aktuarischen Ermittlung einer auf andere Industriekunden übertragbaren Schadenhöhenverteilung war diese einzelne Schadenbuchung außerordentlich einflussreich, eigentlich repräsentierte sie für die Analyse den interessantesten vermeintlichen „Einzelschaden“. Die Zusatzinformation, dass es sich bei der Schadenbuchung um einen Sammelschaden

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handelte, machte die gesamte vorangegangene Analyse obsolet. Für die Modellierung einer Großschadenverteilung waren die vorliegenden Informationen schlichtweg un­ brauchbar. Es gibt vielfältige Beispiele für die beschriebene Verzerrung von Daten in der Praxis, und abhängig von der jeweiligen Fragestellung können einzelne versicherungstechnische Details Modellierungsergebnisse völlig verändern. Dies betrifft etwa • die buchhalterische Teilung von Sach- und korrespondierenden Ertragsausfallschaden, • die separate Ausweisung von lokalem Schadenanteil – unter Umständen in Fremdwährung – und dazugehörendem Masterschaden, • zahlreiche Schadenfälle, die von einem einzigen Ereignis, etwa Erdbeben, Hagel, Flut, Produktfehler, ausgelöst wurden. Bei umfangreichen Versicherungsportefeuilles darf man hoffen, dass sich viele dieser systematischen Fehler wechselseitig eliminieren oder aus Perspektive des Gesamtbestands faktisch unerheblich sind. Captives verfügen aber über vergleichsweise kleine Bestände, insofern schlägt hier die Problematik von Fehlinterpretationen einzelner Sachverhalte viel stärker zu Buche, als dies bei einem international agierenden Industrieversicherer der Fall wäre. Eine sinnvolle Strategie zur Vermeidung systematischer Fehler ist der konsequente interdisziplinäre Dialog, nicht nur im Vorfeld, sondern auch bei der Durchführung einer Risikomodellierung. Hierzu ist es unerlässlich, dass alle Beteiligten das Design, den Aufbau und die Funktionsweise eines Risikomodells zumindest in seinen Grundzügen nachvollziehen können. Hieraus folgt unmittelbar ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit Modellierung: Modelle, die die Untersuchung komplexer Zusammenhänge zum Ziel haben, was die Evaluierung von Versicherungsrisiken im Kontext individueller Absicherungsstrukturen zweifelslos darstellt, sollten sich um Einfachheit bemühen. Dies erleichtert den interdisziplinären Dialog und schafft damit die Voraussetzung, dass Details, die entscheidende Änderungen der Modellierungsergebnisse nach sich ziehen, erkannt und bewertet werden können. Erwin Straub, ein Schweizer Mathematiker und Pionier in den Methoden zur Nicht-­ Leben-­Versicherungsmathematik,1 hat in seinen Veröffentlichungen teilweise sehr anspruchsvolle mathematische Ansätze zu Modellierung von Versicherungsrisiken entwickelt und untersucht. Im Rahmen eines persönlichen Austausches kurz vor seinem Ruhestand gab er dem Verfasser den Rat, bei der aktuarischen Arbeit vornehmlich Modelle zu benutzen, die mit einem Taschenrechner nachvollzogen werden können. Seine  Erwin Straub, Aktuar bei der Schweizer Rück, hat sich zeitlebens in der wissenschaftlichen Ausbildung von Aktuaren engagiert und nahm großen Einfluss auf die Gründung der Schweizerischen Aktuarvereinigung. 1988 veröffentlichte Straub das Standardwerk „Non-Life insurance mathematics“ [Springer Verlag]. 1

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Erfahrung hierbei war, dass sich der interdisziplinäre Input von Schadenregulierern, Underwritern, Juristen und auch Experten der Rechnungslegung in der Modellierungspraxis als wertvoller herausgestellt hatte als die eine oder andere mathematische Feinheit.2 Dies betrifft auch die Diskussion der Modellergebnisse, die ja als Grundlage für konkrete unternehmerische Entscheidungen verwendet werden sollen. Hier kann ein Taschenrechner in der Hand eines Juristen unter Umständen Fragen aufwerfen, die den Aktuar ins Grübeln bringen und den Auftakt zu einer Verbesserung der Qualität der Modellierung bilden. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die versicherungstechnische Modellierung gerade im Zusammenhang mit Captive-Risiken als interdisziplinäres Teamwork zu begreifen ist und der erste Schritt dazu in einer allgemeinverständlichen Darstellung aktuarischer Ansätze besteht. Die nachfolgenden Ausführungen werden in diesem Sinne auf die Verwendung von Symbolen oder Jargon verzichten und dabei den innerhalb der Mathematik bewährten Grundsatz einer unbedingten Präzision zugunsten einer intuitiv nachvollziehbaren Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen aktuarischer Modelle opfern.

8.2 Risikobegriff Der Begriff „Risiko“ wird kontextabhängig, je nach Profession unterschiedlich und in der Praxis teilweise auch inkonsistent verwendet. Manchmal werden mit „Risiko“ lediglich Szenarien, die einen ungewissen Ausgang haben, beschrieben; oft erfolgt durch den Begriff „Risiko“ bereits eine monetäre Bewertung der möglichen Ausgänge. Dazwischen befinden sich vielfältige Ausprägungen. Da sich der vorliegende Beitrag mit der Evaluierung von Risiken beschäftigt, wird der Begriff „Risiko“ im Weiteren ausschließlich quantitativ verstanden, weshalb „Risiko“ und „Höhe des Risikos“ in diesem Beitrag synonym zu verstehen sind. Zudem soll darauf hingewiesen werden, dass dabei immer von einer einzelnen Zahl ausgegangen werden darf. Hierdurch wird gewährleistet, dass der Vergleich zweier Risiken – so unterschiedlich diese in ihrer Ausprägung auch sein mögen – erfolgen kann, allerdings zeigt sich in der Praxis von Risikodialogen auch, dass die Ermittlung einer solchen Maßzahl im Einzelfall nicht nur sehr mühsam ist, sondern oft völlig konträre Ansichten über die Beurteilung einzelner Aspekte des jeweiligen Risikos offenbart. Teilweise findet man – gerade auch in Mathematikbüchern – den Begriff „Risiko“ definiert als Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ereignisses multipliziert mit den finanziellen Auswirkungen des Eintritts. Diese Maßzahl entspricht der durchschnittlichen Erwar-

 Die zugrunde liegende Problematik wurde in der Versicherungsbranche schon früh thematisiert. Etwa durch den Experten für Produkthaftpflicht und langjährigen Vorstand des Haftpflichtverbands der Industrie V.a.G. Joachim Schmidt-Salzer in seiner 1984 veröffentlichten Monografie „IBNR und Spätschadenreservierung in der Allgemeinen Haftpflichtversicherung – Eine kardinale Kommunikationslücke zwischen Statistikern, Bilanzrechtlern und Underwritern?“ [Verlag Versicherungswirtschaft]. 2

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tung, die sich bei einer langfristigen Betrachtung des Risikos einstellt. Wird beispielsweise in einem Zeitraum von zehn Jahren mit dem einmaligen Eintritt eines Schadens von 1.000.000  € gerechnet, entspricht dies einer durchschnittlichen Schadenerwartung von 100.000 € pro Jahr. Hier werden zwei Aspekte klar: Erstens benötigt man im Zusammenhang mit Versicherungsrisiken einen normierten Bezugszeitraum, das heißt, man weist die Höhe eines Risikos für einen bestimmten Zeitraum aus. Zweitens – und das ist weniger offensichtlich – ein über die durchschnittlich zu erwartende Schadenhöhe definiertes Risiko unterscheidet nicht zwischen einem Szenario A von „1.000.000 € Schaden alle zehn Jahre“ oder einem Szenario B von „100.000.000 € Schaden alle 1000 Jahre“. Das Szenario A tritt zwar häufiger auf, ist allerdings in seiner Auswirkung kleiner als Szenario B, welches demgegenüber seltener zu beobachten ist. Beide Szenarien beschreiben ein Risiko von durchschnittlichem Jahresaufwand von 100.000 € und sind demnach hinsichtlich ihres Erwartungswerts „identisch“. Eine herausgehobene Bedeutung des Erwartungswerts von Wahrscheinlichkeitsexperimenten hat selbst im psychologischen Teil der Risikoforschung Spuren hinterlassen. Die Einteilung von risikorelevanten Entscheidungen oder sogar grundlegenden Handlungs-­ Neigungen spiegeln die Begriffe „risikoneutral“, „risikoavers“ und „risikoaffin“ wider. Hierbei würde man die Privilegierung eines Risikos gemäß Szenario A gegenüber Szenario B als „risikoavers“, eine Bevorzugung des Szenarios B als „risikoaffin“ bezeichnen. Die Vorstellung, dass beide Szenarien im Prinzip das gleiche „Risiko“ darstellen, käme in diesem Zusammenhang einer „risikoneutralen“ Sicht gleich. Der Versuch, hieraus grundlegende persönlichkeitsrelevante Aussagen, oder konkreter, Prognosen über persönliche Handlungs-Präferenzen, abzuleiten,3 ist insoweit fraglich, als dass in Experimenten festgestellt werden konnte, dass Verlust-Risiken und Gewinn-Chancen von Probanden inkonsistent beurteilt werden, obgleich jeweils identische Erwartungswerte zugrunde liegen. Diese Erkenntnis führte in den Wirtschaftswissenschaften zur sogenannten „Prospekt-­ Theorie“ oder „Neuen Erwartungstheorie“ der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky,4 für die Daniel Kahneman 2002 der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen wurde. Begriffe wie „Gewinn“, „Verlust“, „Menschenleben retten“, „Menschenleben verlieren“ scheinen einen höheren Einfluss auf die einzelne Risikoentscheidung zu haben als vermeintlich objektives Zahlenmaterial. Die Professorin für Controlling und Risikomanagement an der Fachhochschule Kiel, Ute Vanini, kommt selbst 2019 noch zum Schluss, es fehle „eine zuverlässige und valide Methode zur Messung der Risikoneigung für den Verlustfall“5.

 Etwa in der Publikation: Neural Correlates of Anticipation Risk Reflect Risk Preferences, Journal of Neuroscience, DOI: 10.1523/JNEUROSCI.4235-11.2012. 4  Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk. Daniel Kahneman and Amos Tversky 1979. 5  Vgl. „Messung der Risikoneigung  – Implikationen aus einem Experiment“ im Konferenzband CARF Luzern 2019 Controlling.Accounting.Risiko.Finanzen. 3

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Definitionsgemäß gleichen sich beim beschriebenen Bewertungsansatz „Erwartungswert“ Frequenz und Schadenhöhe wechselseitig proportional aus. Die Information, was im Schadeneintrittsfall die konkreten finanziellen Folgen sind, geht verloren. Hier wird der bereits erwähnte, für die Praxis folgenschwere Aspekt klar: Jede auf Maßzahlen ­basierende Risikoevaluierung setzt eine Kontrahierung vielfältiger Aspekte zu einer einzelnen und damit vergleichbaren Zahl voraus. Der Facettenreichtum eines Szenarios, das ein Risiko beschreibt, reduziert sich auf einen einzelnen Wert, bei dem unter Umständen aus individuellen Perspektiven zentrale Aspekte verloren gehen. Im Hinblick auf die Betrachtung von Risiken kann allerdings genau die Frage, mit welcher konkreten Auswirkung im Schadenfall zu rechnen ist, die entscheidende Risikoinformation darstellen. Für eine Captive, die über 10.000.000 € Kapital verfügt, stellt der Eintritt des Szenarios A, obgleich vergleichsweise wahrscheinlich, kein wirtschaftliches Problem dar. Der Eintritt des Szenarios B würde allerdings unweigerlich in die Insolvenz führen. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der tatsächlichen Schadenhöhe des Szenarios B insoweit irrelevant, als dass auch ein Schadenaufwand von lediglich 50.000.000 € dieselbe wirtschaftliche Konsequenz für die Captive nach sich ziehen würde. Praktisch reduziert sich die Beurteilung des Risikos auf die Beantwortung der Frage, wie wahrscheinlich denn der Eintritt eines derart ruinösen Schadenszenarios für die Captive ist. Liegt die Wiederkehrperiode tatsächlich in einem Bereich von „alle 1000 Jahre“, wäre hierin die entscheidende Information zu finden: Statistisch ist mit dem Auftritt eines ruinösen Schadenereignisses zwar nur „alle 1000 Jahre“ zu rechnen, faktisch kann sich Szenario B allerdings auch im aktuellen Geschäftsjahr ereignen. Unter der Annahme, dass die Captive die unternehmerische Freiheit hätte, ein zwangsläufig ruinöses Risiko abzusichern, also insbesondere hierbei keine aufsichtsrechtlichen oder geschäftspolitischen Regelungen entgegenstünden, würde sich die Entscheidung der Indeckungnahme auf die simple Frage reduzieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit das wirtschaftliche Überleben der Captive gewährleistet werden soll. Tatsächlich ist die Frage, wie hoch das Ruin-Risiko einer Captive sein darf, von praktischer Relevanz. Ende der 1990er-Jahre wurde für eine in Deutschland ansässige Captive eine Studie durchgeführt, die vom Finanzbereich des Mutterunternehmens mit der Frage „Wie hoch ist das finanzielle Maximalrisiko der Captive?“ initiiert worden war. Die Studie untersuchte das von der Captive gezeichnete Geschäft ausführlich und bewertete das hie­ raus resultierende Maximalrisiko als „prinzipiell unbegrenzt“ aufgrund der Tatsache, dass sich die Captive auch prozentual am Kfz-Haftpflichtversicherungsprogramm des Konzerns beteiligt hatte. Hierzu muss man vielleicht in Erinnerung rufen, dass in deutschen Kfz-Haftpflichtversicherungsverträgen in der Vergangenheit teilweise keine Maximaldeckungssumme festgelegt war. Falls man sich also als Captive an einem theoretisch unbegrenzten Risiko prozentual beteiligt, so der Schluss der Studie, wäre es gleichgültig, wie hoch der prozentuale Anteil ist, das Maximalrisiko liege immer bei „unendlich“. Hier wird klar, dass die Betrachtung des Erwartungswerts des Risikos – „unendlich“ – nur insoweit verwertbare Rückschlüsse auf die Risikobeurteilung geben konnte, wie man geschäftspolitisch die Indeckungnahme existenzbedrohender Risiken von vornherein ausgeschlossen

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hätte.6 Allerdings wären damit nicht nur die Geschäftsmöglichkeiten der Captive ­eingeschränkt worden, sondern man hätte die Risikoposition aus der Vergangenheit nicht mehr ändern können. Im Zuge sogenannter Spätschäden kann es auch in der Kfz-­ Haftpflichtversicherung vorkommen, dass Schäden erst Jahre nach ihrem Eintritt bekannt werden. Prinzipiell wäre im Übrigen auch bei einer einzelfallbezogenen Deckungssummenbegrenzung nicht ausgeschlossen gewesen, dass extrem viele Einzelschäden eintreten, die dann in Summe wiederum die wirtschaftliche Tragfähigkeit der Captive übersteigen. Im vorliegenden Fall führte das Ergebnis der Risikostudie bei deren Beauftragenden zur Erkenntnis, dass die Fragestellung unpräzise formuliert war. Man entschied sich da­ raufhin, die Frage „Wie hoch ist das finanzielle Maximalrisiko der Captive?“ in „Wie wahrscheinlich ist ein wirtschaftlicher Ruin der Captive?“ umzuformulieren. Damit auch die Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmter Szenarien berücksichtigt werden konnte, musste man den vormaligen Weg einer schlichten Addition der von der Captive gewährten Deckungssummen verlassen und in eine Einzelschadenmodellierung eintreten. Im Ergebnis kam die zweite Studie zum Schluss, dass lediglich eine geringe Anzahl der simulierten Jahresergebnisse – konkret weniger als 0,1 % oder auch „einmal innerhalb von 1000 Jahren“ – den Ruin der Captive zur Folge hätte. Darüber hinaus, quasi als Abfallprodukt der Studie, konnte im gleichen Zuge die Wahrscheinlichkeit für einen technischen Verlust innerhalb eines Geschäftsjahres ermittelt werden. Dabei war anstelle der Frage „Mit welcher Wahrscheinlichkeit übersteigen die aggregierten Schäden innerhalb eines Geschäftsjahres das Kapital der Captive?“ lediglich die Frage „Mit welcher Wahrscheinlichkeit übersteigen die aggregierten Schäden innerhalb eines Geschäftsjahres das Jahresprämienaufkommen der Captive?“ zu beantworten, was mit dem gleichen Modell zu bewerkstelligen ist. Der entscheidende Aspekt einer derart ausgerichteten Risikoevaluierung bestand nun darin, dass aus Sicht der Auftraggeber das „Risiko“ der Captive, definiert als Ruin- oder auch Verlustwahrscheinlichkeit, in Bezug zu anderen Geschäftsrisiken gesetzt werden konnte. Hieraus leitete sich dann der Schluss ab, dass das Geschäftsrisiko „Betrieb einer Captive“ im Vergleich zu anderen Geschäftsrisiken des Konzerns eher gering und hinsichtlich seiner Ertragschancen akzeptabel war. Insgesamt bleibt bei der Betrachtung des Risikobegriffs festzuhalten, dass es keine allgemeingültige und auch keine für alle Fragestellungen einheitliche Definition von „Risiko“ gibt. Risikobewertungen erfolgen in der Praxis meist kontextabhängig. Sind allerdings die Rahmenbedingungen einmal gesetzt, sollten vergleichbare Risiken auch tatsächlich in Bezug zueinander gesetzt werden, um Handlungsoptionen konsistent zu bewerten. Dies ist nicht trivial, weil im Zuge der unvermeidbaren Kontrahierung sämtlicher Aspekte  Manche Captives schaffen genau dies durch eine Begrenzung der Risikozufuhr respektive durch den Abschluss spezieller Retrozessionen  – also selbst abgeschlossenen Rückversicherungsverträgen. Bei letzterer Strategie bliebe dann noch das Insolvenzrisiko des Rückversicherers als „Worst-­ Case“-Szenario zu berücksichtigen. Aber auch die konsequente und insgesamt absolute Begrenzung in Deckung genommener Risiken hat ihre Anwendungsgrenzen. Somit unterliegen in der Praxis die meisten Captive-Gesellschaften – wie alle anderen Versicherungsgesellschaften auch – einem zumindest theoretischen Ruin-Risiko. 6

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eines Risikos auf eine einmal konzipierte Maßzahl unter Umständen genau die Information über das Risiko verloren geht, die man bei individueller Betrachtung für den ­entscheidenden Aspekt gehalten hätte. Neben diesem prinzipiellen Problem, das in der Praxis häufig die Ursache für inkonsistent anmutende Risikobewertungen ist, stellt darüber hinaus das am weitesten verbreitete Risikomaß – der Erwartungswert, also das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und finanzieller Auswirkung eines Risikos – zudem noch eines der untauglichsten Mittel zum Vergleich von Risiken dar. Entscheidend für die Beurteilung von Risiken ist deren Streuung, also die Bandbreite möglicher Auswirkungen, die das jeweils zugrunde liegende Szenario annehmen kann. In der Praxis kann immer wieder der Vergleich der Erwartungswerte unterschiedlicher Risiken beobachtet werden, beispielsweise die Gegenüberstellung erwarteter Mortalitätsraten von Pandemien und einzelner Technologien, beispielsweise Straßenverkehr. Ein solcher Vergleich ist aus einem Grund völlig widersinnig: Eine Verdoppelung der Mor­ talitätsrate beim Straßenverkehr setzt in gewisser Hinsicht eine Verdoppelung der Mobilitätaktivitäten voraus, was vermutlich sogar wiederum risiko-reduzierende Wirkung hätte. Demgegenüber kann eine Verdoppelung von Todesfällen bei einem Virus, für das kein Medikament existiert, auf kleinsten Sachverhaltsveränderungen basieren. Die Schwankungsbreite und insbesondere die inhärente Dynamik beider Risiken sind prinzipiell unterschiedlich und eine ausschließliche Betrachtung des Erwartungswertes würde diesen für eine Risikobeurteilung entscheidenden Aspekt vollständig ignorieren. Ein Vergleich von Erwartungswerten unterschiedlicher Risiken ist allenfalls dann sinnvoll, wenn diese Risiken sich in ihrer Schwankungsbreite ähneln. Ob ein Risiko zu häufig auftretenden, in ihrer Auswirkung jedoch moderaten finanziellen Auswirkungen führt, ist im Allgemeinen nicht gleichzusetzen mit einem Risiko, welches seltene, aber hohe Verluste nach sich zieht. Auch, wenn für beide Risiken der gleiche Erwartungswert berechnet werden kann.

8.3 Simulationsmodelle Nachdem im vorangegangenen Abschnitt ausgeführt wurde, dass die versicherungstechnische Beurteilung eines Risikos maßgeblich von dessen Streuung abhängt, stellt sich die Frage, auf welche Weise man die in diesem Zusammenhang häufig auch als Volatilität bezeichnete Schwankung eines Risikos ermitteln kann. Im Kontext mit Versicherungsrisiken bietet sich zunächst die Betrachtung der Schadenhistorie an: Wie hoch war der größte Einzelschaden, was war pro Jahr an Gesamtaufwand zu verzeichnen, gab es Trends? Setzen wir zur Veranschaulichung voraus, dass bei einem Industrieunternehmen pro Jahr rund 100 Haftpflichtschäden eintreten und der größte bekannte Schaden bei 1.000.000 € gelegen hat. Den durchschnittlichen Gesamtaufwand setzen wir mit 250.000 € pro Jahr an. Es zeigt sich auf Basis dieser wenigen Informationen, dass in zumindest einem Jahr der Gesamtaufwand deutlich über dem Durchschnittswert von 250.000 € gelegen hat. Dies betrifft das Jahr mit dem Maximalschaden von 1.000.000 €, der für sich al-

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lein genommen bereits das Vierfache des Durchschnittswerts repräsentiert. In Anbetracht der Tatsache, dass im betreffenden Jahr wahrscheinlich noch weitere Schäden eingetreten sind, wird die Abweichung des schlechtesten Jahres vom Durchschnittswert höher ausfallen. Unter der Annahme, dass sich im betreffenden Jahr zufälligerweise mehrere Großschäden ereignet haben könnten, läge die Abweichung zum Durchschnitt potenziell noch höher. Schließlich würde die Perspektive, dass sämtliche Großschäden auch in einem einzigen Jahr hätten eintreten können, eine Worst-Case-Betrachtung hinsichtlich des Gesamtaufwands eines Jahres definieren. All diese Überlegungen haben gemein, dass sie das Schwankungspotenzial des Haftpflichtrisikos eines Jahres beleuchten. Allerdings basieren diese Überlegungen auf mehr oder weniger willkürlich identifizierten Szenarien. Selbst eine Betrachtung der tatsächlichen Schwankung des Gesamtschadenaufwands dürfte insofern als „willkürlich“ interpretierbar sein, als dass diese Schwankung eben auch nur das Resultat eines zufälligen Prozesses ist und eine privilegierende Bewertung der Schadenhistorie als objektive „Faktenlage“ bei näherer Betrachtung für die Bemessung der Risikovolatilität nicht gerechtfertigt ist. Die Idee zur Verbesserung der Volatilitätsmessung liegt nun darin, systematisch sehr viele Varianten des jährlichen Gesamtschadens zu berechnen, indem sowohl die jeweilige Anzahl der Schäden pro Jahr als auch die Einzelschadenhöhen variiert werden. Hierbei setzt zwar die beobachtete Schadenhistorie immer noch die prinzipiellen Rahmenbedingungen,7 aber unter der These, dass jeder Schaden für sich genommen Zufall hinsichtlich Eintrittszeitpunkt und Schadenhöhe in sich birgt, lassen sich durch systematische Variationsrechnungen mannigfaltige Varianten des Gesamtschadens berechnen. Die Ganzheit aller Berechnungen gibt dann Aufschluss über die potenzielle Schwankungsbreite des Risikos „Gesamtschaden pro Jahr“. Zur Durchführung einer Berechnungsvariante „würfelt“8 ein geeignetes Computerprogramm eine Schadenanzahl von beispielsweise 95, um danach 95 einzelne Haftpflichtschäden zu „würfeln“, deren Aufwand jeweils zwischen 0 € und 1.000.000 € liegt. Die 95 Schäden werden aufaddiert und im Ergebnis liegt damit ein möglicher jährlicher Gesamtschaden vor. Bei der nächsten Variationsrechnung könnte dann beispielsweise 115 als Schadenanzahl „gewürfelt“ werden, die daraufhin zufällig erzeugten 115 Einzelschadenhöhen definieren in Summe eine zweite Variante des jährlichen Gesamtschadens. Diese Vorgehensweise wird häufig wiederholt.9 Im Mittel aller Simulationsläufe werden die  Wenn man in einem Beobachtungszeitraum durchschnittlich 100 Schäden pro Jahr beobachtet, werden innerhalb einer Simulation Szenarien, in denen kein Schaden oder auch 10.000 Schäden eintreten, faktisch keine Rolle spielen, obwohl solche Fälle prinzipiell möglich sind. 8  Praktisch verfügen alle Programmiersprachen über Zufallsgeneratoren, die mithilfe mathematischer Verfahren sogenannte Pseudo-Zufallszahlen erzeugen. Die Einschränkung „Pseudo“ wird deshalb verwendet, weil die mit einem Computer erzeugten Zahlen als Ergebnis einer zwangsläufig deterministischen Berechnungsmethode nicht „zufällig“ zustande kommen, aber zumindest zufällig erscheinen. 9  Im Kontext von Versicherungsrisiken sind Größenordnungen von 10.000 bis 100.000 realistisch. 7

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Schadenanzahl etwa 100 und der durchschnittliche Gesamtschadenaufwand etwa 250.000 € betragen. Die meisten Ergebnisse der Simulationsläufe werden auch vergleichsweise nahe bei diesen Werten liegen. Allerdings erzeugen die zufälligen Berechnungen viele unterschiedliche Varianten, auch solche, bei denen extrem hohe Schadenanzahlen mit extrem hohen Einzelschadenaufwänden zusammentreffen. Im Ergebnis erzeugt das beschriebene Vorgehen eine statistisch auswertbare Datengrundlage, die annähernd alle möglichen jährlichen Gesamtschadenaufwände enthält. Aus der Betrachtung der Datenmenge kann insbesondere ermittelt werden, ab welcher Gesamtschadenhöhe denn beispielsweise die schlechtesten 10 % aller Simulationsergebnisse beginnen. Es dürfte einen Unterschied machen, ob 10 % aller Simulationsergebnisse höher als 500.000 €,10 also beim Doppelten des im Mittel erwarteten Gesamtaufwands, oder bei 1.250.000  € liegen, was dem Fünffachen des jährlich zu erwartenden Gesamtaufwands entspräche. Mit anderen Worten: Die anhand der Simulation erzeugte Volatilität im zweiten Fall wäre deutlich höher als jene des ersten Falls. Und speziell für Fragestellungen dieser Art eignen sich Simulationsprogramme außerordentlich gut.

8.4 Risiko & Preis Versicherungen erhalten für die Übernahme von Risiken Prämien und stehen dabei insbesondere im Wettbewerb mit dem Angebot alternativer Anbieter. Dies betrifft natürlich auch Captive-Gesellschaften, insofern ist die Kalkulation der Versicherungsprämie ein wesentlicher Aspekt bei deren betriebswirtschaftlichen Ausrichtung. Manche Bestandteile einer Kalkulation, beispielsweise die Deckungsbeiträge für die Betriebskosten oder die Gewinnmarge, stellen im Vergleich mit anderen Branchen keine besonderen kalkulatorischen Herausforderungen dar. Die mutmaßliche Schadenlast eines in Deckung genommenen Risikos bedarf aber einer besonderen Betrachtung. Einerseits kann diese je nach zugrunde liegenden Szenarien völlig unterschiedlich hoch ausfallen. Andererseits darf man unterstellen, dass der risikoinduzierte Anteil der Prämie einen dominierenden Einfluss auf die Gesamtprämie haben wird. Völlig trivial dürfte zunächst die Annahme sein, dass die Versicherungsprämie zumindest den durchschnittlichen Schadenaufwand des Risikos widerspiegeln sollte. Bei näherer Betrachtung kann aber sogar diese fundamentale Annahme als fragwürdig identifiziert werden. Das vorangegangene Beispiel der Beurteilung des Ruin-Risikos einer Captive, die sich an einem Portfolio unlimitierter Kfz-Haftpflichtversicherungen beteiligt hat, implizierte, dass die maximal denkbare Schadenhöhe quasi „unendlich“ hoch sei. Im gegebenen Kontext folgte hieraus unmittelbar, dass auch der Erwartungswert des zugrunde liegenden Risikoportfolios „unendlich“ hoch sein muss. Insofern hatte sich die Captive in  Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass 90 % der simulierten jährlichen Gesamtschadenlasten unterhalb von 500.000  € liegen oder, mit anderen Worten, die Wahrscheinlichkeit für eine Gesamtschadenlast von weniger als 500.000 € 90 % beträgt. 10

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dem geschilderten Fall nicht nur an einem „unendlich“ hohen Risiko beteiligt, sondern jede hierfür erhobene Prämie lag auch „unendlich“ weit unterhalb der tatsächlichen ­Schadenerwartung. Zugegebenermaßen lässt diese Argumentation ein wenig spitzfindig anmuten, sie hat aber einen ernsten und möglicherweise der Intuition widersprechenden Kern: Ist die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadenszenarios gering genug, dann ist die damit korrespondierende Auswirkung für die Prämienberechnung technisch völlig irrelevant. Derartige Szenarien lassen sich also prinzipiell nicht mit einem Preis versehen. Insofern war die branchenweite Vermeidung unlimitierter Versicherungssummen die einzig risikotheoretisch sinnvolle Konsequenz, und Risiken, deren Eintrittswahrscheinlichkeit innerhalb des individuellen Portfolios vergleichsweise als extrem gering betrachtet werden, sollten von einem Versicherer grundsätzlich vermieden werden. Dieser durch den durchschnittlichen Schadenaufwand definierte Erwartungswert wird in den üblichen Kalkulationsverfahren anhand eines Sicherheitszuschlags nach oben „korrigiert“, womit nicht nur das Zufallsrisiko, sondern auch das Irrtumsrisiko bei der technischen Bestimmung der Prämie berücksichtigt werden soll. Genau genommen korrespondiert dieser Sicherheitszuschlag mit dem Risikokapital eines Versicherers. Liegt die tatsächliche Schadenrealisation eines Geschäftsjahres der Captive unterhalb des Erwartungswerts und einer dadurch festgelegten Risikoprämie, erhöht der positive Saldo das Eigenkapital der Captive. Bei einem Schadenverlauf oberhalb der so festgelegten Risikoprämie muss der sich daraus ergebende Verlust durch Entnahmen aus dem Kapital ausgeglichen werden. Ein Sicherheitszuschlag in der Risikoprämie würde die Wahrscheinlichkeit eines technischen Verlustes insofern nur reduzieren. Das Grundprinzip eines Ergebnisausgleichs über Kapital ist durch Sicherheitszuschläge auf die jeweilige Risikoprämie nicht außer Kraft gesetzt. Dies entspricht im Übrigen einer stark vereinfachten Sicht und lässt zentrale betriebswirtschaftliche Aspekte – beispielsweise versicherungstechnische Pauschalreserven, Ertragsteuern und Dividendenzahlungen – außer Acht. Insbesondere muss einer Captive, wie jedem anderen privatwirtschaftlichen Unternehmen auch, eine Gewinnerzielung unterstellt werden. Tatsächlich könnte sich das Management einer Captive auf den Standpunkt stellen, dass die Prämienkalkulation grundsätzlich lediglich die administrativen Kosten und die erwartete Schadenlast beinhalten sollte und eine etwaige Schwankung grundsätzlich durch das vorhandene Eigenkapital abgedeckt wäre. Die Begründung für dieses Vorgehen könnte darin liegen, dass es sich bei der Captive um eine unternehmensweit organisierte Risikoeigentragung handelt, Gewinne nicht im Vordergrund des Interesses stehen und damit die Erhebung eines möglichst geringen „Selbstkostenpreises“ zweckdienlich wäre. Im Hinblick auf friktionelle Kosten, die mit dem Risikotransfer verbunden sind, also namentlich Versicherungsteuer, ist eine Minimierung der Versicherungsprämie auch bei einer Eigenversicherung grundsätzlich sinnvoll. Eine Prämienberechnung lediglich auf Basis administrativer Kosten und Schadenerwartung hätte aber insbesondere zur Folge, dass volatile Risiken, also solche, die eine vergleichsweise hohe Spannbreite möglicher finanzieller Auswirkungen aufweisen, mit Risiken, die eine geringe Spannbreite möglicher finanzieller Auswirkungen aufweisen,

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risikotechnisch gleichgesetzt werden.11 Faktisch benötigen aber hoch volatile Risiken mehr Kapital als Risiken mit geringer Schwankungsbreite und hieraus folgt direkt, dass die objektiven Kosten der Übernahme von Risiken mit zunehmender Volatilität steigen. Durch eine gleichmäßige Verteilung der Kapitalkosten auf alle versicherten Risiken eta­ bliert sich eine systematische Quersubvention zulasten gering schwankender Risiken. Grundsätzlich setzt die risikoadäquate Bepreisung eines Risikos voraus, dass die individuelle Schwankungsbreite des Risikos im Preis gemessen und berücksichtigt wird. Konkret läge der erwartete Schaden des Szenarios A „1.000.000 € Schaden alle zehn Jahre“ und des Szenarios B von „100.000.000  € Schaden alle 1000 Jahre“ jeweils bei 100.000 €. Der Unterschied in einer Versicherung beider Szenarien bestünde aber darin, dass zur Abdeckung der Realisation von Szenario A 1.000.000  € vorgehalten werden müssten, wohingegen dies im Szenario B 100.000.000 € wären. Obgleich die Realisation von Szenario B sehr viel unwahrscheinlicher als jene von Szenario A ist, muss gegebenenfalls der Maximalschaden ausgeglichen werden und dafür hat dem Risikoträger Kapital zur Verfügung zu stehen. Setzen wir die erforderliche Kapitalrendite12 mit 5 % an, entstehen bei Szenario A vereinfacht ausgedrückt Kapitalkosten von 50.000 € und bei Szenario B Kapitalkosten von 5.000.000 €, obwohl der Erwartungswert beider Szenarien identisch ist. Diese Kosten lassen sich allenfalls insofern als Sicherheitszuschlag interpretieren, als dass das Kapital die finanzielle Leistungsfähigkeit des Risikoträgers „sicherstellen“ muss. Aber diese Kosten sind nicht als bilanzperiodenübergreifende Vorsorge, sondern als konkreter Aufwand zu betrachten, der am Ende eines Geschäftsjahres betriebswirtschaftlich vollständig „verbraucht“ ist. Wir können festhalten, dass die Prämie für Risikotransfer neben dem erwarteten Schaden und einem Deckungsbeitrag für die Administration individuell zuordenbare Kapitalkosten abdecken muss, die unmittelbar mit der Volatilität des betreffenden Risikos zusammenhängen. Bei der Indeckungnahme einzelner Risiken kann hierbei die Kalkulation tatsächlich auf die skizzierte Art erfolgen, indem die Prämie als Summe aus Schadenerwartung, Kosten der Administration und Kapitalrendite festgelegt wird. Tatsächlich existieren in der Praxis Captive-Gesellschaften, die vornehmlich ein einzelnes und seltenes Großschadenrisiko abdecken – man mag hier an Explorations- oder Pharmageschäft denken. Bei derartigen Konstellationen liegt dann der Prämientreiber vornehmlich in den Kosten der Kapitalbereitstellung, um den seltenen, insofern aus Geschäftsjahressicht unerwarteten, aber möglichen und insofern irgendwann vermutlich sich auch realisierenden Ausnahmefall abzudecken.  Identischer Erwartungswert beider Risiken unterstellt.  Kapitalkosten werden in diesem Zusammenhang als Zins für die Zurverfügungstellung von Kapital durch die Muttergesellschaft interpretiert. Im Zusammenhang mit professionellen Versicherungsunternehmen ließen sich die Kapitalkosten aber auch als Gewinnerwartung der Aktionäre interpretieren. Beide Interpretationen wären für eine Captive im Prinzip zulässig, wobei der Unterschied in der Frage liegt, ob der Betrieb einer Captive vom Mutterunternehmen als zusätzliche Geschäftsmöglichkeit (Profit Center) oder als Bereitstellung einer für die betriebliche Leistungserbringung notwendigen Infrastruktur (Cost Center) betrachtet wird. 11 12

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Im oben genannten Beispiel sieht man, dass die Kapitalkosten nicht von der zugrunde liegenden Eintrittswahrscheinlichkeit eines Risikos, sondern lediglich vom abzusichernden Maximalschaden abhängen. Man kann hier grundsätzlich zwei Richtungen zur Optimierung des Kapitaleinsatzes verfolgen: Einerseits ließe sich der Maximalschaden begrenzen, indem man nur Risiken mit gemäßigter Volatilität zeichnet. Andererseits könnte die Captive sich simultan an mehreren Versicherungsprogrammen beteiligen, wodurch sich die Volatilitäten der einzelnen Risiken über eine Portfoliobetrachtung wechselseitig ausgleichen. Im Prinzip haben kleine Versicherungsgesellschaften, insbesondere Captives, bei beiden Strategien einen strukturellen Nachteil gegenüber großen Versicherungsgesellschaften. Allerdings sinkt der Kapitalbedarf bei Risikodiversifizierung dramatisch ab, weshalb auch Captive-Gesellschaften in der Praxis seit Jahrzenten durchaus profitables Geschäft bei moderatem Kapitaleinsatz betreiben können, was die folgende Beispielrechnung verdeutlichen möge. Der Kapitalbedarf zur Absicherung eines Risikos gemäß Szenario C „10.000.000 € alle 100 Jahre“ ist nicht zu vergleichen mit dem Kapitalbedarf von der Absicherung von zehn Risiken des Szenarios A „1.000.000 € alle zehn Jahre“, solange die zehn Risiken nicht miteinander korreliert sind, also durch ein einzelnes Ereignis gleichzeitig ausgelöst werden könnten. Bei völliger Unabhängigkeit dieser zehn Szenario-A-Risiken läge die theoretische Wiederkehrperiode eines Maximalschadens von 10.000.000 € bei 10.000.000.000 Jahren  – 0,1 zehnmal mit sich selbst multipliziert  – und damit Hundert-Millionen-mal höher als der gleiche Maximalschaden bei Szenario C. Um das 100-Jahres-Ereignis von zehn Szenario-A-Risiken abzusichern, was in Szenario C definitionsgemäß 10.000.000 € beträgt, sind nur 5.000.000 € erforderlich.13 Bei 5 % Kapitalrendite betragen die Kapitalkosten zur Absicherung des Worst Cases von Szenario C also 500.000  € und für zehn voneinander unabhängige Szenario-A-Risiken nur 250.000 €. Zur Einordnung: Die Schadenerwartung der Absicherung von Szenario C liegt bei 100.000 €, jene der zehn Szenario-­ A-­Risiken à 100.000  € bei insgesamt 1.000.000  €. Mit anderen Worten, das zehnfache Geschäftsvolumen, die Prämie muss ja zumindest die Schadenerwartung abdecken, kommt mit den halben Kapitalkosten aus; der Diversifizierungsfaktor beträgt also 20. Da bei der Ermittlung einer risikoadäquaten Prämie der Kapitalbedarf zur Absicherung der Schwankungsbreite der in Deckung genommenen Risiken eine gewichtige Rolle spielt und sich unternehmenseigene Versicherungsgesellschaften meist an vergleichsweise inhomogenen und volatilen Unternehmensrisiken beteiligen, hat sich der Einsatz von Simulationsmethoden bei Captives besonders bewährt. Es gibt verschiedene Ansätze, die Prämien für die Indeckungnahme eines Risikos aus einer Simulation abzuleiten. Eine in der Praxis verwendete Variante besteht darin, das abzudeckende Risiko – beispielsweise alle Haftpflichtschäden bis maximal 1.000.000 € Einzelschadenlast – individuell zu simulieren. Hiernach kann man dann innerhalb der Simulationsergebnisse einen Betrag auszuwählen, etwa jenen, unterhalb dessen 70 % aller simulierten Werte liegen, um diesen dann  Die zugrunde liegenden Berechnungen basieren auf der Binomialverteilung und sollen hier nicht ausgeführt werden. 13

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als Referenzprämie zu nehmen.14 Der 70 %-Betrag markiert das gewünschte Sicherheitsniveau hinsichtlich der Auskömmlichkeit einer hierdurch festgelegten Prämie und kann als grundlegende Risikopolitik interpretiert werden: Die Captive beteiligt sich nur an Risiken, wenn die erzielbare Prämie die Wahrscheinlichkeit eines technischen Verlusts auf maximal 30 % begrenzt. Intuitiv hat man hier womöglich den Eindruck eines robusten oder vielleicht sogar risikoaversen Geschäftsmodells. Allerdings impliziert der beschriebene Prämienermittlungsansatz, dass sämtliche möglichen Realisationen des Risikos oberhalb des 70  %-Betrags schlichtweg ignoriert werden. Dies kann im Extremfall dazu führen, dass der 70 %-Betrag tatsächlich nicht einmal den Erwartungswert des Risikos abdeckt, nämlich dann, wenn die Summe der 30 % schlechtesten Ergebnisse die Summe der 70 % besten Ergebnisse übersteigt. Das so beschriebene asymmetrische Verhalten des Risikos kann sogar als eigentliche Charakterisierung von Volatilität aufgefasst werden.15 Da die Methodik umso zweifelhaftere Ergebnisse liefert, je volatiler ein Risiko ist, sind Anwendungsgrenzen unvermeidlich. In der Praxis kommt es in Marktphasen zu einer Verknappung des Angebots dergestalt, dass Deckungsstrecken im Versicherungsprogramm schlichtweg unversichert bleiben. Oft handelt es sich hier um Teilbereiche höherer Layer, etwa 10 % des Risikobereichs 100.000.000 € im Anschluss an 500.000.000 €, weil der bisherige Risikoträger das Geschäft nicht mehr zeichnen möchte und auch kein anderer Risikoträger sich dafür finden lässt. Füllt die Captive einen solchen Risikobereich übergangsweise, dann ist die Methodik einer Prämienermittlung über ein vorgegebenes Zielperzentil insoweit fehlleitend, dass in solchen Risikobereichen die Wiederkehrperioden von Schäden derart hoch sind, dass 70 %, 90 % und selbst 99 % der Simulationsergebnisse für das Risiko einen Betrag von 0 € auswerfen dürften. Im Bereich der üblichen industriellen Eigentragung von Frequenzrisiken bietet der Ansatz, einen strategisch vorbestimmten Referenzwert als Prämie aus der Schadensimulation zu verwenden, konsistente Ergebnisse. Ob man diesen Referenzwert nun bei 60 %, 70 % oder auch 80 % ansetzt, ist aus risikotheoretischer Sicht lediglich eine Frage der eigenen Irrtumstoleranz. Je höher der gewählte Referenzwert, desto robuster die Prämien, aber desto niedriger ist auch der Wertbeitrag des zugrunde liegenden Risikotransfers. Für volatilere Risiken bietet sich allerdings an, die tatsächlichen Kapitalkosten individuell in die Prämienberechnung miteinzubeziehen. Das lässt sich dadurch bewerkstelligen, dass man aus dem Simulationsergebnis einen Extremwert ableitet, etwa den Maximalschaden oder – falls dieser Wert extrem unwahrscheinlich ist16 – jenen Gesamtschaden, der das Simulationsereignis von 99,5 % aller Simulationen nicht überschreitet und für die  Dieses Vorgehen weist eine gewisse Analogie zur sogenannten „Value-at-Risk“-Methodik auf.  Noch volatiler wäre das Risiko, wenn in Summe die 10 % (1 %) schlechtesten Ergebnisse oberhalb der Summe der 90 % (99 %) besten Ergebnisse lägen. 16  Etwa im Falle 10 simultan abgesicherter unabhängiger Szenarien A „1.000.000 € alle zehn Jahre“, bei denen theoretisch denkbarer Gesamtschaden von 100.000.000 € eine extrem geringe Eintrittswahrscheinlich aufweist. 14 15

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Differenz zwischen Erwartungswert und dem 99,5 %-Betrag Kapitalkosten in Ansatz bringt. In Szenario A „1.000.000 € alle zehn Jahre“ lag der Erwartungswert bei 100.000 € und der Maximalschaden bei 1.000.000 €. Den Erwartungswert von 100.000 € müsste die Risikoprämie offenbar zumindest abdecken, zusätzlich müssten für den Maximalschaden 900.000 € im Fall der Fälle bereitgestellt werden. Bei einer Kapitalrendite von 5 % fallen hierfür Kapitalkosten von 45.000 € an,17 die Risikoprämie für Szenario A läge also bei 145.000  €. Berücksichtigt man hier noch den Deckungsbeitrag für Administration und einen Gewinnanteil, erhält man eine versicherungstechnisch sinnvolle Gesamtprämie. Die Schwäche dieser Methodik besteht darin, dass das Kapital einer Captive für alle in Deckung genommenen Risiken simultan zur Verfügung steht. Insofern müssten Kapitalkosten eigentlich je nach Zusammensetzung des Risikoportfolios neu allokiert werden. Tatsächlich spielt dies allerdings vor allem dann eine Rolle, wenn sich das Risikoportfolio einer Captive von einem Jahr zum nächsten signifikant ändert. Also beispielsweise, wenn zusätzliche Sparten miteinbezogen werden oder sich die bereitgestellten Deckungssummen deutlich verändern. In solchen Fällen wäre es dann sinnvoll, die Volatilität des Gesamtportfolios grundsätzlich neu zu bewerten. Unter Umständen müsste ohnehin die Kapitalausstattung der Captive aufsichtsrechtlich neu beleuchtet werden, was dann wiederum Folgen für die Prämienberechnung individueller Risiken hätte. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass es keine optimale Prämienberechnungsmethodik geben kann; sämtliche Verfahren haben ihre spezifischen Anwendungsgrenzen. Allerdings bedarf eine risikoadäquate Prämienberechnung immer der Berücksichtigung von Volatilität, also des den übernommenen Risiken inhärenten Schwankungspotenzials. Ob man den hierdurch etablierten Prämienanteil nun mit Kapitalkosten oder als Sicherheitszuschlag begründet, seine Ermittlung macht bei Captive-­Gesellschaften aufgrund ihrer Geschäftsausrichtung eine individuelle Modellierung der einzelnen in Deckung genommenen Risiken erforderlich.

8.5 Bewertung versicherungstechnischer Strukturen Im konkreten Schadenbeispiel der Ausführungen zu Simulationsmodellen18 wurden sämtliche Schäden gemeinsam betrachtet und damit Bagatell- und Großschäden unabhängig von ihrer Schadenursache oder dem zugrunde liegenden Deckungselement zusammengefasst. Einzelfallbezogene Informationen wurden auf diese Weise eliminiert, was die Berücksichtigung von außerhalb der Daten liegenden Informationen erschwert, wenn nicht verhindert. Man hätte bei der Analyse der Schadenhistorie beispielsweise zwischen Personen-, Produkt- und Betriebsschäden differenzieren können. Einerseits würde damit die  Durch Berücksichtigung der Schadenerwartung haben wir den Kapitalkostenansatz, der schon in den vorangegangenen Ausführungen skizziert wurde, verfeinert. 18  Das Eingangsbeispiel ging von 100 Haftpflichtschäden mit einem durchschnittlichen Gesamtaufwand von 250.000 € pro Jahr aus. Der maximale Einzelschaden lag bei 1.000.000 €. 17

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Bandbreite der jeweils zu simulierenden Schäden in einigen Risikosegmenten reduziert,19 was die Simulation enger an die tatsächliche Schadenhistorie knüpft, andererseits kann man innerhalb homogener Segmente Trends und zusätzliche Annahmen direkt einbringen. Im Bereich von Produktschäden etwa die These einer künftigen Reduzierung der Schadenanzahl, falls dies durch ein verbessertes Qualitätsmanagement zu erwarten wäre. Überlässt man den Mathematikern die Konzeption der Simulationsmodelle vollständig, ist eine solche Einflussnahme der Versicherungsexperten unter Umständen nicht mehr möglich. In der Praxis ist es bei Aktuaren beispielsweise üblich, das Schadenpotenzial einer Versicherungssparte als einzelne Verteilungskurve zu modellieren. Das bedeutet, ein einzelnes mathematisches Element innerhalb des Simulationsmodells repräsentiert sowohl frequent auftretende Kleinschäden als auch seltene Katastrophenschäden, also sämtliche Szenarien, die in der betreffenden Versicherungssparte für das zugrunde liegende Risiko für möglich gehalten werden. Hintergrund hierfür ist, dass mathematische Konzepte existieren, die es erlauben, Kurvenverläufe, die an die bekannte Schadenhistorie angepasst wurden, über den eigentlichen Erfahrungsbereich hinweg fortzuschreiben und hierdurch die Wahrscheinlichkeit für Schadenereignisse abzuleiten, die in der Praxis nicht beobachtet worden sind. Solche Kurven werden mithilfe mathematischer Funktionen erzeugt, die Anpassung an den bisherigen Schadenverlauf folgt Optimierungsverfahren. In diesem Zusammenhang soll nicht auf die mannigfaltigen, teilweise auch unerwünschten Implikationen solcher Vorgehensweisen eingegangen werden. Ein Punkt ist im Zusammenhang mit dem strukturellen Aufbau eines Modells zentral: Informationen über Großschadenrisiken, die durchaus geeignet wären, interdisziplinär diskutiert zu werden, lösen sich bei diesen Verfahren in abstrakte Parameter auf. Namentlich die Wiederkehrperiode bestimmter Großschadenszenarien lässt sich aus einer einzelnen Kurve, die alle möglichen Szenarien repräsentiert, nicht mehr ohne Weiteres extrahieren. Konsequenterweise lassen sich diese  – vermöge einer mathematischen Idealisierung implizit innerhalb der Kurve versteckter Annahmen über die Wiederkehrperiode von Großschadenereignissen – weder im interdisziplinären Team diskutieren noch hinterfragen. Es hat sich in der Praxis der Modellierung von Captive-Risiken bewährt, zumindest eine differenzierte Analyse gemäß unterschiedlicher Schadenhöhen vorzunehmen.20 Generell gilt, dass sich mit zunehmender Höhe des betrachteten Intervalls die Anzahl der beobachteten Schäden ausdünnt. Für Großschäden, die außerhalb der eigenen Erfahrung liegen, muss oftmals auf Annahmen zurückgegriffen werden. Ein erster Ansatz hierzu könnte die Betrachtung der bestehenden Versicherungsprämien sein. Für Schäden zwischen 10 Mio. € und 100 Mio. € könnte eine Durchschnittshöhe von 50 Mio. € angenommen werden und anhand der Layer-Prämie  – beispielsweise 1 Mio. €  – eine

 Anstelle einer Gruppe, bei der die Schadenhöhe zwischen € 0–€ 1.000.000 schwankt, erzeugt man vielleicht drei Gruppen, bei denen die Schadenhöhen zwischen € 0–€ 50.000, € 10.000–€ 100.000 und € 0–€ 1.000.000 schwanken. 20  Beispielsweise: [€ 0–€ 1000], [€ 1000–€ 10.000], [€ 10.000–€ 100.000], [€ 100.000–€ 1.000.000], usw. 19

8  Bewertung versicherungstechnischer Risiken bei Captive-Gesellschaften

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­ iederkehrperiode von oberhalb 50 Jahren als realistisch betrachtet werden. Das grundW liegende Dilemma für den Modellierer liegt darin, dass je größer Schäden sind, desto relevanter werden diese für eine Risikoevaluierung, aber desto weniger kann man auf die konkrete Schadenhistorie zurückgreifen, was die statistische Unsicherheit erhöht. Genau diesem Aspekt soll mit den erwähnten Optimierungsverfahren der Aktuare begegnet werden, indem aus der Schadenhöhenverteilung bekannter Schäden eine „logische“ Ableitung der Gesetzmäßigkeit von Größtschäden erfolgen soll. Dazu werden Kurven erzeugt, man hat in diesem Zusammenhang vielleicht die Begriffe Lognormal-, Pareto- oder Gammaverteilung gehört, deren Gemeinsamkeit darin besteht, Gesetzmäßigkeiten zwischen Schäden unterschiedlicher Höhe mathematisch zu beschreiben. Das jeweilige Verhältnis von Klein- zu Großschäden ist bei den funktional definierten Kurven unterschiedlich ausgeprägt. Manche Verteilungsfunktionen betonen das Großschadenrisiko vergleichsweise mehr als andere, man spricht dann von „heavy-tailed“, was bedeutet, dass die Auswahl des Kurventyps bereits eine Vorentscheidung über die Bewertung von Großschäden beinhaltet und somit auch die Bewertung seltener Ereignisse stark beeinflusst. Der Erkenntnisgewinn einer detaillierten Betrachtung einzelner Schadenbänder liegt für eine Captive deutlich höher als für einen Industrieversicherer, bei dem die Hoffnung besteht, dass sich vergleichsweise viele Unsicherheiten im Gesamtportfolio ausgleichen werden. Captive-Gesellschaften, die in der Regel ausschließlich die Konzernrisiken ihrer Muttergesellschaft abdecken, werden bei der Risikozeichnung die Abdeckung seltener Großschadenereignisse grundsätzlich vermeiden müssen. Allerdings führt ein zufällig auftretender Großschaden eben auch zu einer einzelschadenbezogenen Maximalbelastung der Captive. Insofern ist es bei der Strukturierung der von einer Captive versicherten Risiken wichtig, dass der Einfluss seltener Ereignisse nicht ignoriert wird. In einem konkreten Fall hatte sich eine Captive unter anderem an der Kfz-Haftpflichtversicherung der Dienstwagen ihres Mutterkonzerns bis zu einer maximalen Einzelschadenhöhe von 500.000 € beteiligt. Haftpflichtschäden in dieser Höhe sind extrem selten und treten am Versicherungsmarkt derart selten auf, dass die Berücksichtigung eines solchen Ereignisses aus Sicht der Captive im Grunde aberwitzig erscheinen musste. Nun ereignete sich allerdings im ersten Geschäftsjahr der Captive ein extrem ungewöhnlicher Schaden, dessen Aufwand aufgrund einer Verkettung vieler ungünstiger Umstände mehrere Millionen Aufwand für den Versicherer und damit auch einen Maximalschaden der Captive nach sich zog. Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines solchen Schadens lag objektiv jenseits aller Risikotoleranz, aber ohne eine prinzipielle Begrenzung der Beteiligung auf maximal 500.000 € pro Einzelfall und ohne eine geeignete Rückversicherung wäre das gesamte betriebswirtschaftliche Konzept der Captive bereits im ersten Jahr ihrer Existenz infrage gestellt gewesen. Tatsächlich gibt es auch das Beispiel einer Captive, welche im ersten Jahr einen Großschaden in der Sachversicherung zu verarbeiten hatte, der in der Machbarkeitsstudie als derart unwahrscheinlich betrachtet wurde, also quasi unmöglich, dass in Ermangelung jeglicher Vorkehrung dessen Realisation eine sofortige Re-Kapitalisierung der Captive nach sich zog inklusive der entsprechenden Reputationsfolgen für die handelnden ­Entscheider.

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R. Hoffmann

Simulationsgestützte Risikomodelle erlauben in diesem Zusammenhang zunächst einmal, die in der Schadenhistorie glaubwürdig ableitbare Schwankungsbreite repräsentativer Szenarien mit Annahmen über das Verhalten seltener Ereignisse konsistent zu verbinden. Erstere betrifft jene Schäden, für die der vorliegende Beobachtungszeitraum auch für die künftige Schadenentwicklung repräsentativ ist, sofern das statistische Material um systematische Entwicklungen – etwa Inflation oder Währungsschwankungen im Kontext internationaler Versicherungsprogramme  – und ungewöhnliche Einzelfälle bereinigt wurde. Beispielsweise Großschäden, die man auf zwei Arten filtern kann: Entweder man geht davon aus, dass das gesamte Ereignis selten und damit vollständig bei der statistischen Analyse zu ignorieren ist, oder man stellt fest, dass lediglich die Ausprägung – also die Schadenhöhe – nicht aber das Auftreten des Schadens ungewöhnlich ist. In dem Fall würde man den Schaden bis zur Höhe einer Kappungsgrenze in der statistischen Analyse berücksichtigen. Auch bei einer solchen ersten Abwägung erweist sich die interdisziplinäre Kommunikation zwischen Mathematikern, Juristen, Betriebswirten und Ingenieuren als überaus wertvoll. Würden sich die finanziellen Auswirkungen bestimmter Schadenszenarien aufgrund technologischen Fortschritts, richterrechtlicher Entwicklung, Deckungserweiterungen oder -ausschlüssen künftig anders darstellen als zur Zeit ihres tatsächlichen Schadeneintritts, sollte sich dies sowohl im Design als auch in der Parametrisierung des Modells niederschlagen. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Grundvarianten: Die Schäden werden höher respektive geringer ausfallen oder häufiger respektive seltener auftreten. Wurde auf Basis der bereinigten Schadenhistorie und der abgestimmten Konsensannahmen schließlich ein Schadensimulationsmodell erstellt, können unterschiedlichste Risikotransferstrukturen, die sowohl die Eigentragung als aber auch die Retrozessionsoptionen der Captive betreffen, konsistent bewertet werden. In einem praxistauglichen ­Modell lassen sich also die ökonomischen Auswirkungen einer Erhöhung der Eigentragung der Captive oder der Ausweitung von Deckungselementen genauso untersuchen wie  der Schutzgrad proportionaler, nichtproportionaler oder sogenannter Stop-Loss-­ Rückversicherungen. Eine Abschätzung der mit unterschiedlichen Risikotransferstrukturen verbundenen Risiken ist gleichbedeutend mit der Messung der den Risikostrukturen inhärenten Volatilität. Die mithilfe von Simulationsmodellen ermittelten Auswirkungen vieler möglicher Schadenverläufe für die Captive lassen sich in Form von Verteilungsübersichten zusammenfassen. Die Gegenüberstellung von Chancen und Risiken alternativer Versicherungsstrukturen schafft Transparenz und erleichtert die Entscheidungsfindung. Allerdings dürfte in der Praxis kaum eine gegebene Risikotransferstruktur gegenüber einer alternativen Risikotransferstruktur in ausnahmslos allen Belangen vorteilhaft sein. Beispielsweise kann die Wahrscheinlichkeit für einen Profit bei einer Struktur höher sein als bei einer alternativen Struktur, allerdings zu dem Preis, dass, wenn ein Schaden in der profitableren Struktur eintritt, dieser deutlich höher ausfällt als bei der Alternativstruktur. Allgemeiner ausgedrückt ist in der Praxis damit zu rechnen, dass beim Vergleich zweier Risikotransferstrukturen unterschiedliche Betrachter zu konträren Ansichten über die „bessere“ der beiden Alternativen kommen können. Dies liegt in der bereits erwähnten

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individuellen Risikopräferenz von Personen, wo dem einen Betrachter vielleicht die ­Maximierung der Profitabilität, dem anderen aber die Minimierung des Worst Cases am Herzen liegt. Um die Sache dann noch weiter zu verkomplizieren, könnte ein Unterschied zweier Risikotransferstrukturen lediglich im Verhalten auf eine sich grundlegend verändernde Risikobasis manifestieren. Das heißt, solange sich die Risiken im Rahmen der getroffenen Analysen und Annahmen bewegen, ist die eine Risikotransfervariante der alternativen Risikotransfervariante ökonomisch überlegen. Ändern sich die Rahmenbedingungen aber leicht, führt dies in der ersten Variante zu weitaus größeren Nachteilen als bei der alternativen Variante. Dank Variationsrechnungen, die sich mithilfe einer systematischen Veränderung beispielsweise der Wiederkehrperiode von Großschäden oder der technologischen Verteuerung von Produktschäden erzeugen lassen, können Rückschlüsse auf die Robustheit einer Versicherungsstruktur abgeleitet werden. Dies darf nicht verwechselt werden mit der Simulation einer gegebenen Parametrisierung, sondern betrifft einen Zufall zweiter Ordnung, nämlich jenen, dass die vorhandenen Statistiken und Annahmen sich als falsch oder besser nicht repräsentativ für das künftige Risiko herausstellen. Tatsächlich führen manche Zessions- und Retrozessions-Strukturen zu einer hohen Abhängigkeit des Ergebnisses von der tatsächlichen Realisation der abgesicherten Risiken, wohingegen manche Risikostrukturen weniger anfällig für das prinzipiell nicht vermeidbare „Irrtumsrisiko“ bei der Modellierung sind. Teil der betriebswirtschaftlichen Praxis ist der Hang zur Optimierung, was immer auch eine hinreichende Stabilität der zugrunde liegenden Rahmenbedingungen voraussetzt. Im Allgemeinen ist ein Optimum insofern labil, dass jede Variation des dadurch definierten Zustands zu einer Verschlechterung führen muss. Diese Erkenntnis ist sicherlich trivial, weil sie einer impliziten Konsequenz der Definition eines Optimums entspringt. Nicht trivial dürften die Zusammenhänge im Kontext mit Zufallsprozessen sein. Optimierte Versicherungsstrukturen neigen zur starken Anfälligkeit gegenüber Abweichungen der unterstellten Rahmenbedingungen. Je effizienter die Absicherung eines gegebenen Szenarios erfolgt – etwa der bisher beobachteten Schäden –, desto untauglicher wird die Deckung womöglich beim Auftreten bislang nicht beobachteter Szenarien. Wenn also die Frage gestellt wird, was die beste Risikotransferstruktur für die Captive sei, dann ist mutmaßlich die, die den höchsten Ertrag verspricht, am vulnerabelsten, und diejenige, die alle Überraschungen vermeidet, die ökonomisch schlechteste Lösung. Im Prinzip wird es bei der Konzeption der Risikobeteiligung einer Captive also immer auf einen Kompromiss unterschiedlicher Risikoaspekte hinauslaufen, und bei dessen Erarbeitung sind Simulationsmodelle vor allem deshalb nützlich, weil sich in diesen unterschiedliche Risikoannahmen konsistent testen und bewerten lassen. Dies betrifft beispielsweise die in der Praxis häufig anzutreffende Situation, dass sich die Versicherungsprogramme des Mutterkonzerns einer Captive strukturell verändern, was unmittelbar zu der Frage führt, inwieweit dies dann den Risikoanteil der Captive betrifft und ob dadurch gegebenenfalls Prämienanpassungen erforderlich werden. Ein simples Praxisbeispiel wäre hier etwa die Erhöhung lokaler Selbstbehalte.

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Aspekte, die in einem Modell nicht berücksichtigt sind, lassen sich im Modell aber auch denknotwendig nicht analysieren. Andererseits würde eine völlige Neustrukturierung des Schadenmodells von Jahr zu Jahr nicht nur den Vergleich der Simulationsergebnisse erschweren, sondern einer prinzipiell wünschenswerten Kontinuität der Methodik zur Risikoevaluierung widersprechen. Auch hier ist wieder ein pragmatischer Kompromiss zwischen Flexibilität und Simplifikation im Modellierungsansatz zu finden. Insbesondere wird dies vermutlich nur dann gelingen, wenn die Konzeption des Simulationsmodells zwischen unterschiedlichen Fachleuten diskutiert und vor allem im Hinblick auf die Abbildung zentraler Usancen des Versicherungsmarktes hinterfragt wird. Manche Optionen der Ausgestaltung von versicherungstechnischem Risikotransfer sind dem Aktuar nicht nur nicht bekannt, sondern ergeben vielleicht aus einer rein risikotheoretischen Perspektive überhaupt keinen Sinn. Spielen solche Optionen beim Bepreisen aber eine gewichtige Rolle, schafft deren Berücksichtigung ökonomischen Nutzen für die Captive. Die Offenlegung und Bewertung inkonsistenter Prämienberechnungen unterschiedlicher Risikotransfer-Strukturen stellt einen interessanten praktischen Nutzenbeitrag eines Simulationsmodells dar. Inkonsistent sind Prämienkalkulationen natürlich lediglich aus risikotechnischer Sicht. Neben aktuarischen Erwägungen spielen im Versicherungsmarkt auch andere Aspekte eine gewichtige Rolle. Werden beispielsweise im Zuge einer grundlegenden Portfoliooptimierung vom Versicherer hohe Selbstbehalte präferiert oder unternehmenspolitisch stringent vorgegeben, kann deren Rabattierung auf individueller Ebene sehr attraktiv sein. Umgekehrt ist in Phasen, in denen Umsatzwachstum eine große Rolle spielt, der Versicherungsmarkt im Allgemeinen nicht bereit, eine Erhöhung der Eigentragung der Captive prämientechnisch adäquat zu honorieren. Jeder Prämiennachlass führt unweigerlich zu einem Abschmelzen von Umsatz, unabhängig von den dadurch eingesparten Schadenaufwänden. Diese wiederum spielen nur eine Rolle bei einer Betrachtung des tatsächlich zu erwartenden versicherungstechnischen Ertrags. Ein erster Hinweis für eine solche Marktsituation ist ein vom Versicherer kalkulierter Prämiennachlass für eine erhöhte Eigentragung, der den von der Captive selbst modellierten Zusatzaufwand deutlich unterschreitet. Dadurch, dass eine Captive die Risikoeigentragung in einem Industriekonzern erhöhen oder verringern kann, ohne die operativen Ergebnisse der Profit Center des Mutterkonzerns direkt zu belasten, kann auf unterschiedliche Marktphasen direkt reagiert werden. In sogenannten Hard-Market-Phasen wandelt die Captive durch Ausweitung der konzernweiten Risikotragung Teile der Risikotransferkosten in eigene Risikofinanzierungskosten um. Sinken die Marktpreise aufgrund eines steigenden Wettbewerbs, lassen sich die Risikofinanzierungskosten im Konzern durch Absenken der Captive-Beteiligung reduzieren, was dann aber einen höheren Risikotransferaufwand nach sich zieht. Mit anderen Worten, die Ermittlung der Risikofinanzierungskosten der Captive ist der Schlüssel zur Optimierung deren Risikotransfers: Liegen die eigenen Risikofinanzierungskosten für ein bestimmtes Risiko über den am Versicherungsmarkt gewährten Transferkosten, dann sollte das Risiko traditionell versichert werden, liegen diese unterhalb, dann sollte die Captive das Risiko übernehmen und somit im Konzern bilanzperiodenübergreifend finanzieren.

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Als Resümee bleibt festzuhalten: Ein „gutes“ Simulationsmodell orchestriert unterschiedliche Informationen bei der Indeckungnahme von Risiken: statistisch relevante ­Daten, szenariobasierte Annahmen und Sensitivitätsaspekte. Es kondensiert all diese Aspekte unter Berücksichtigung der Auswirkung optionaler Risikotransferstrukturen zu quantitativen Risikomaßen, die interdisziplinär diskutiert werden können. Der Input, den die am Risikotransfer beteiligten Fachbereiche direkt einbringen können, hilft, unterschiedliche risikorelevante Informationen konsistent miteinander zu verknüpfen. Eine Captive-­Gesellschaft hat als integrativer Teil des Unternehmensverbunds, dessen Risiken sie abdeckt, grundsätzlich einen tieferen Einblick in die individuelle Risikosituation als externe Versicherungsgesellschaften. Werden diese Informationen bei der Strukturierung und Evaluierung von Risiken konsequent verwendet, dann entsteht dadurch potenziell ein Wettbewerbsvorteil und Grundlage hierfür ist eine entsprechend ausgerichtete Modellierung.

Reiner Hoffmann  hat Wirtschaftsmathematik an der Universität Ulm studiert und im Anschluss daran bei Joachim Schmidt-Salzer eine Dissertation zum Thema Spätschadenreservierung in der Haftpflichtversicherung verfasst. Seit rund 25 Jahren beschäftigt sich Reiner Hoffmann mit Fragen der Optimierung von Ei­ gentragung und dem Transfer versicherungsnaher Unternehmensrisiken mithilfe von Captive-­ Gesellschaften. Berufliche Stationen umfassten Haftpflicht-Underwriting beim HDI in Stuttgart und Hannover, aktuarielle Modellierung und Strukturierung bei der Kölnischen Rück im Bereich Inte­ grierter Lösungen sowie die Konzeption und Umsetzung strukturierter Versicherungs- und Finanzlösungen für Dresdner Kleinwort Wasserstein und Allianz Global Corporate & Specialty. Seit 2012 arbeitet Reiner Hoffmann bei AXA XL im Bereich Structured Risk Solutions.

Teil III Ausprägungsformen und Domizile

9

Captives und ihre Ausprägungsformen Holger Kraus und Torsten Rohlfs

Inhaltsverzeichnis 9.1  9.2  9.3  9.4  9.5 

Wesentliche Ausprägungsformen  Erstversicherung vs. Rückversicherung  Eigene Tochtergesellschaft vs. Nutzung einer bestehenden Infrastruktur  Single Parent Captive vs. Multi Parent Captive  Eigenrisikotragung (Pure Captive) vs. Drittgeschäft (Broad oder Open Market Captive)  9.6  Standortwahl  9.7  Fazit  Literatur 

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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag soll einen Überblick über die Ausprägungsformen von Captives als Instrument der Finanzierung von versicherungsfähigen Risiken in Unternehmen geben. Grundsätzlich lassen sich die unterschiedlichen Ausprägungsformen anhand von fünf Kriterien voneinander abgrenzen. In nachfolgenden Beiträgen werden einzelne Ausprägungsformen ausführlich behandelt.

H. Kraus Siemens AG, München, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Rohlfs (*) Institut für Versicherungswesen, Technische Hochschule Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_9

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H. Kraus und T. Rohlfs

9.1 Wesentliche Ausprägungsformen Die Möglichkeiten zur Risikobewältigung sind für die Unternehmen äußerst komplex. Captive-Versicherungsunternehmen als „firmeneigene“ bzw. „konzerneigene“ Versicherer stehen dabei vor verschiedenen Herausforderungen bei der Gestaltung der Risikotragung. Sie müssen bei dem Aufbau des firmenindividuellen Risikotragungskonzepts aufsichtsrechtliche und steuerrechtliche Vorgaben, Kostengesichtspunkte, Konzernstrukturen und die zu übernehmenden Risiken im Blick haben. Aus diesen Gegebenheiten heraus haben sich verschiedene Ausprägungsformen für Captives entwickelt (vgl. Abb. 9.1). Sie lassen sich im Wesentlichen durch fünf Kriterien voneinander abgrenzen. Bei der Versicherungsform kann die Geschäftstätigkeit als Erstversicherer und/oder Rückversicherer erfolgen. Durch die Infrastruktur kann die Risiko­ tragung über eine eigene Tochtergesellschaft oder über Nutzung eines Dienstleistungsmodells (wie Rent-a-Captive oder Protected Cell) abgebildet werden. Im Hinblick auf die zu tragenden Risiken können Captives sowohl firmeneigene als auch firmenfremde Risiken übernehmen. Auch die Eigentümerstruktur kann durchaus komplex sein, wenn man mehrere Eigentümer im Gegensatz zu nur einem Eigentümer betrachtet. Bei der Wahl des Sitzes der Captive unterscheidet man geografisch in Onshore- und Offshore-Standorte. Im Folgenden werden die wesentlichen Ausprägungsformen beschrieben und vonei­ nander abgegrenzt. In nachfolgenden Buchbeiträgen werden einzelne Ausprägungsformen dann intensiver betrachtet.

9.2 Erstversicherung vs. Rückversicherung Die Versicherungsform entscheidet über die Risikogestaltung. Dabei spielen notwendige Kapazitäten und auch die personelle Besetzung mit entsprechendem Versicherungs-­Know-­ how eine Rolle. Eine Captive kann als Erst- oder Rückversicherungsgesellschaft ausgestaltet werden.

Kriterium Versicherungsform

Ausprägungsformen Erstversicherung

Rückversicherung

Eigene (Tochter-)Gesellschaft

Fremde Gesellschaft

Getragene Risiken

Eigene Risiken

Fremde Risiken

Eigentümerstruktur

Ein Eigentümer

Mehrere Eigentümer

Onshore

Offshore

Infrastruktur

Standort

Abb. 9.1  Ausprägungsformen von Captives. (Quelle: eigene Darstellung)

9  Captives und ihre Ausprägungsformen

205

Erstversicherung Eine Erstversicherungs-Captive ist wie ein klassischer Industrieversicherer in der Lage, in verschiedenen Ländern, auf welche sich die Lizenz zum Betrieb des Versicherungsgeschäfts bezieht, Versicherungsverträge direkt mit dem Versicherungsnehmer, das heißt in der Regel der jeweiligen Tochtergesellschaft des Captive-Mutterunternehmens, abzuschließen. Dies beinhaltet somit auch die Möglichkeit, selbstständig Versicherungslösungen zu entwickeln, Prämien zu erheben und Schäden zu regulieren. Aufgrund dieser Tatsache unterliegen Erstversicherungs-Captives in der Regel höheren aufsichtsrechtlichen Anforderungen als Rückversicherungs-Captives. Eine in der EU domizilierte Erstversicherungs-Captive ist in der Lage, auf Basis des Prinzips der Dienstleistungsfreiheit, innerhalb der gesamten EU Direktgeschäft zu zeichnen (vgl. Fläming 2007, S. 57 f.). Damit wird kein vorzeichnender Versicherer (Fronter) benötigt und es entfallen Fronting-Gebühren und die Notwendigkeit, häufig von Frontern geforderte Sicherheitsleistungen in Form von Bankgarantien oder Bürgschaften zu stellen. Für Länder außerhalb der EU besteht die Möglichkeit der Direktzeichnung ohne entsprechende Lizenz üblicherweise nicht. Sollen auch Risiken in Ländern, die nicht von der Erstversicherungslizenz erfasst sind, gezeichnet werden, so ist dies nur auf dem Wege der Rückversicherung möglich. Erstversicherungs-Captives betreiben daher in vielen Fällen nicht ausschließlich Erstversicherungsgeschäft, sondern auch aktives Rückversicherungsgeschäft. Auf der anderen Seite können auch Risiken über Rückversicherungslösungen gezeichnet werden, die eigentlich nicht zum Versicherungsumfang der jeweiligen Erstversicherungs-Captive gehören (vgl. Franz 2015, Rn. 105 f.). Die Zulässigkeit der Kombination von Erst- und Rückversicherungstätigkeit ist vom jeweiligen Domizil der Captive abhängig. So ist zum Beispiel in Deutschland der Betrieb des aktiven Rückversicherungsgeschäfts nur in Sparten zulässig, in welchen auch Erstversicherungsgeschäft betrieben wird. In anderen Ländern ist der Anteil des Prämienvolumens aus aktiver Rückversicherung am Gesamtprämienvolumen der Captive begrenzt. Darüber hinaus ist in einigen Ländern die Kombination von Lebens- und Nichtlebensversicherungsgeschäft in einer Erstversicherungsgesellschaft nicht zulässig. Im Wege der Mitversicherung können Captives als führende Erstversicherer zusammen mit anderen Versicherern die Risikotragung übernehmen oder auch selbst nur als Mitversicherer auftreten. Der Vorteil, als reiner Mitversicherer aufzutreten, ist der, dass bestimmte Front-End-Services wie Risikobesichtigungen, Tarifierung oder Schadenregulierung durch den führenden Versicherer erbracht werden. Hierfür muss die Captive dann jedoch eine Führungsprovision zahlen. Grundsätzlich zeichnen Erstversicherungs-Captives die konzerneigenen Risiken wie ein klassischer Erstversicherer. Somit stehen sie gegenüber dem Versicherungsnehmer bis zu dem in der Police definierten Limit im Risiko und müssen entsprechende Schadenzahlungen leisten. Sofern das gezeichnete Limit die Eigentragungskapazität der Captive übersteigt oder der Rückversicherungsmarkt attraktive Konditionen bietet, kann die Captive

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H. Kraus und T. Rohlfs

einen Teil der Haftstrecke an Rückversicherer transferieren. Mit den Herausforderungen an eine adäquate Tarifierung der Risiken und einer zielführenden Schadenregulierung im Schadenfall entstehen jedoch operative Aufwendungen für die Captives. Rückversicherung Betrachtet man alle weltweit existierenden Captives, fällt auf, dass diese weit überwiegend Rückversicherungsgesellschaften sind. Eine Captive als reine Rückversicherungsgesellschaft kann nicht in eine direkte Versicherungsvertragsbeziehung mit dem Versicherungsnehmer treten. Sie kann Risiken nur von einem vorzeichnenden Versicherer (Fronter) übernehmen. Der Fronter ist in der Regel der führende bzw. die führenden Versicherer eines oder mehrerer internationaler Versicherungsprogramme des Captive-Mutterunternehmens. Dieser stellt die Policen für die jeweiligen Konzerngesellschaften aus, erhebt die Prämien und reguliert die Schäden. Prämien und Schäden werden durch den Fronter häufig zentral gepoolt und die Rückversicherungs-Captive erhält in vertraglich vereinbartem Rhythmus Abrechnungen zu Prämien und Schäden für den von ihr übernommenen Risikoanteil. Ein Großteil der im Zusammenhang mit einem Versicherungsprogramm anfallenden administrativen Tätigkeiten wird in dieser Konstellation durch den Fronter übernommen. Für diese Leistungen erhält dieser von der Captive eine Rückversicherungsprovision oder Fronting-Fee. Da der Fronter das Risiko trägt, dass die Captive möglicherweise nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen aus dem Rückversicherungsvertrag nachzukommen (Gegenparteiausfallrisiko), werden in Abhängigkeit von Finanzkraft und ggf. Rating der Captive teilweise zusätzliche Sicherheiten zugunsten des Fronters gefordert. Rückversicherungs-Captives wollen oder können nicht immer die vollen durch sie rückversicherten Risiken tragen. Daher werden die rückversicherten Konzernrisiken im Zuge der Retrozession teilweise an konzernfremde Rückversicherer weitergegeben und so auf dem traditionellen Rückversicherungsmarkt gestreut (vgl. Franz 2011, S. 3039). Abb.  9.2 zeigt die Versicherungsbeziehungen für eine Erst- und eine Rückversicherungs-Captive. Bei der Entscheidung über eine Erst- oder Rückversicherungs-Captive sind grundsätzlich die Belegenheit der Risiken, der unmittelbare Betriebsaufwand (Administration des Versicherungsprogramms bzw. Erfüllung der aufsichtsrechtlichen Anforderungen) und das Zielgeschäftsmodell (zum Beispiel Kombination von Lebens- und Nichtlebensversicherungsgeschäft) relevante Kriterien. Während in der Vergangenheit die Eigentragung von betrieblichen Risiken im Vordergrund stand, rückt insbesondere für global tätige Unternehmen der Bereich der firmenfinanzierten Personenversicherungen immer stärker in den Fokus, da Gruppenleben-, -unfall-, -berufsunfähigkeits- und -krankenversicherungen, welche von Unternehmen als Teil des Vergütungspakets für ihre Mitarbeiter angeboten werden, vielfach signifikante Effizienz- und Transparenzpotenziale bieten. In Deutschland selbst sind neun Captives zum Betreiben von Versicherungsgeschäft zugelassen. Von diesen neun Captives sind drei als Erstversicherer und sechs als Rückversicherer lizenziert. Sie alle unterliegen der Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin).

9  Captives und ihre Ausprägungsformen

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Direktes Versicherungsgeschäft

Unternehmen mit versicherbaren Geschäftsrisiken

Direktes Versicherungsgeschäft

Unternehmen mit versicherbaren Geschäftsrisiken

Indirektes Versicherungsgeschäft

Captive (Erstversicherer)

Indirektes Versicherungsgeschäft

Industrieversicherer (Fronting)

Zession

Rückversicherer Zession

Indirektes Versicherungsgeschäft

Captive (Rückversicherer)

Retrozession

Rückversicherer

Abb. 9.2  Erst- und Rückversicherungs-Captives. (Quelle: eigene Darstellung)

9.3 Eigene Tochtergesellschaft vs. Nutzung einer bestehenden Infrastruktur Ein weiteres Kriterium ist die Verwaltung der Captive und somit deren Infrastruktur. Als Captives werden rechtlich selbstständige Tochtergesellschaften oder auch von Dritten gegen Gebühr zur Nutzung angebotene Infrastrukturen bezeichnet, die über die aufsichtsrechtliche Lizenz zum Betreiben des Erst- und/oder Rückversicherungsgeschäfts verfügen. Captive als eigene Tochtergesellschaft Die Captive als eigene Tochtergesellschaft kann entweder mittels Gründung und Lizenzierung oder über den Erwerb einer bereits bestehenden Captive-(Rück-)Versicherungsgesellschaft erfolgen. Für Captive-Versicherungs- bzw. -Rückversicherungsunternehmen bestehen sowohl durch die aufsichtsrechtlichen Rahmenbedingungen am Standort der Captive sowie durch (steuer-)rechtliche Rahmenbedingungen am Sitz der Muttergesellschaft definierte Mindestanforderungen zum Beispiel hinsichtlich Kapitalisierung und Geschäftsorganisation. Aufgrund des damit einhergehenden Aufwands sind die Gründung und der Betrieb einer eigenen Captive-(Rück-)Versicherungsgesellschaft in der Regel nur bei einem gewissen Mindestgeschäftsvolumen, verbunden mit einer längerfristigen Per­ spektive, sinnvoll. Vorteilhaft bei der Nutzung einer Captive als Tochtergesellschaft ist die Tatsache, dass es auf Konzernebene in der Höhe der einbehaltenen Prämie nicht zu einem unmittelbaren Liquiditätsabfluss wie im Falle der Prämienzahlung an einen Versicherer kommt. Der Liquiditätsabfluss erfolgt erst dann, wenn durch die Captive Schadenzahlungen erfolgen. Im Fall von Haftpflichtschäden kann dieser Zeitraum mehrere Jahre betragen.

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Nutzung einer bestehenden Infrastruktur (Rent-a-Captive & Protected Cell) Durch die Nutzung einer bestehenden Infrastruktur auf Basis vertraglicher Vereinbarungen wird den Unternehmen der Zugriff auf die Funktionen und Vorteile von konzerneigenen Versicherern ermöglicht, ohne dass diese eine eigene Captive gründen müssen. Hierbei „mieten“ die Unternehmen die Dienstleistungen, wie Underwriting-Know-how, Schadenmanagement oder Verwaltungsaufgaben. Als Ausprägungen dieser Captive-Form sind die sogenannte Rent-a-Captive und die Protected Cell zu nennen. Entsprechende Anbieter dieser Lösungen sind in der Regel Unternehmen, die Versicherern, Versicherungsmaklern oder Risikomanagement-Beratungsgesellschaften angehören. Das Konzept „Rent-a-Captive“ ist vergleichbar mit einem Konto, das ein Versicherer für den Versicherungsnehmer führt und über das die Eigentragung des Versicherungsnehmers abgewickelt wird („virtuelle Captive“). Dem Konto werden die Anteile der vom Versicherer vereinnahmten Prämie gutgeschrieben, welche der vereinbarten Risikoeigentragung entsprechen. Zudem werden auch über das Konto die erzielten Kapitalanlageerträge auf die vorhandenen Mittel vereinnahmt. Im Rahmen der Eigentragung anfallende Schäden werden dem Konto belastet. Die für die Bereitstellung dieser Dienste anfallenden Kosten, welche häufig als Prozentsatz der entsprechenden Prämie vereinbart werden, ­werden ebenfalls auf dem Konto verrechnet. Ein positiver Kontosaldo am Ende der Versicherungsperiode steht dem Versicherungsnehmer zu, ein negativer Saldo ist vom Versicherungsnehmer auszugleichen. Es empfiehlt sich, die Ausgestaltung und die steuerliche Behandlung der Rückerstattung eines positiven Kontosaldos umfassend zu analysieren. Abb. 9.3 illustriert beispielhaft das Konzept und stellt den Rent-a-Captive-Vertrag der klassischen Versicherungsbeziehung (Erst- und Rückversicherungsverhältnis) gegenüber. Eine Protected Cell ist grundsätzlich von der Funktionsweise her mit der Rent-a-­ Captive-­Lösung vergleichbar. Die einzelnen Cells sind Bestandteil einer sogenannten Pro-

Prämien gegen Risikotransfer

Versicherer (oder Captive)

Unternehmen mit versicherbaren Risiken

Rückversicherer (oder Captive)

Erst- oder Rückversicherer RaC-Vertrag

Partizipation am Risiko (Cashflow) +/-

Rent-a-Captive Versicherer Account

Abb. 9.3  Rent-a-Captive-Konzept. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Wöhrmann und Bürer 2001, S. 16)

9  Captives und ihre Ausprägungsformen

209

tected Cell Company (PCC), die sich zum Beispiel im Eigentum von großen Versicherungsmaklerunternehmen befindet. Die PCC ist eine Rechtsperson, die zum Betreiben des Erst- bzw. Rückversicherungsgeschäfts lizenziert ist. Innerhalb dieser Gesellschaft besteht eine grundsätzlich unbeschränkt hohe Anzahl an Zellen (Cells). Diese Zellen verfügen nicht über eine eigene Rechtsperson, jedoch sind die Vermögensgegenstände einer Zelle rechtlich getrennt erfasst und somit gegen Ansprüche anderer Zellen geschützt (daher der Begriff „protected“). Jede Zelle bildet quasi einen virtuellen Versicherer bzw. Rückversicherer innerhalb der PCC. Dieser virtuelle Versicherer kann dann zum Zweck der Risikoeigentragung von einem Unternehmen „gemietet“ werden. Dies bedeutet, dass der PCC-Anbieter die gesamte Infrastruktur für die Zelle, wie die Abwicklung der entsprechenden Erst- oder Rückversicherungsverträge oder die Erfüllung der aufsichtsrechtlichen Anforderungen, zur Verfügung stellt. Da der Anbieter nur die Infrastruktur stellt, jedoch keine Risiken aus der Geschäftstätigkeit des virtuellen Versicherers übernimmt, sind durch den Nutzer der Zelle entsprechende Sicherheiten zu stellen. Die Infrastruktur kann von einer Vielzahl von Zellen genutzt werden, daher sind die Betriebskosten in der Regel vergleichsweise niedrig. Abb. 9.4 illustriert beispielhaft das Konzept und stellt die Protected-Cell-Struktur der klassischen Versicherungsbeziehung (Erst- und Rückversicherungsverhältnis) gegenüber. Letztendlich binden eigenständige Captives durch ihre Gründung, Kapitalisierung und Organisation Kapital, welches den Kerntätigkeiten der Muttergesellschaft entzogen wird. Daher können sich die Vorteile einer Captive-Lösung in Form einer Tochtergesellschaft erst ab einem gewissen Prämienvolumen voll entfalten und werden somit vorrangig für größere Unternehmen infrage kommen. Dagegen bietet sich die Rent-a-Captive oder die Protected Cell als kostengünstigere Alternative auch mittelgroßen Unternehmen an (vgl. Wöhrmann 2004, S. 77).

Prämien gegen Risikotransfer

Versicherer (oder Captive)

Unternehmen mit versicherbaren Risiken

Rückversicherer (oder Captive)

Protected Cell Company Zelle

Zelle

PCC-Vertrag

Partizipation am Risiko (Cashflow) +/-

Kern

Zelle

Zelle

Zelle

Zelle

Abb. 9.4  Protected-Cell-Konzept. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Wöhrmann und Bürer 2001, S. 16)

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9.4 Single Parent Captive vs. Multi Parent Captive Zu differenzieren ist auch das mögliche Beteiligungsverhältnis (Mutter-Tochter-­ Beziehung). Eine Captive kann sich im Eigentum eines einzelnen (Single Parent) oder mehrerer Unternehmen befinden (Multi Parent). Single Parent Captive Eine Single Parent Captive ist ein Erst- oder Rückversicherungsunternehmen, welches sich im Eigentum eines einzelnen Unternehmens oder Konzerns befindet. Eine entsprechende Gesellschaft ist durch das Mutterunternehmen voll zu konsolidieren. Für das von der Captive gezeichnete Risiko können sich damit Ergebnisglättungseffekte, wie sie sich bei Transfer des Risikos auf einen Versicherer ergeben würden, nur auf Ebene der versicherten Konzerntochtergesellschaften, nicht jedoch auf Ebene des Mutterunternehmens erzielen lassen. Auf Ebene der Konzernmutter wirkt eine Captive dann wie ein nichtversicherter Eigenbehalt. Die überwiegende Anzahl von Captives weltweit ist in Form von Single Parent Captives vorzufinden (vgl. Fläming 2007, S. 60). Damit ein Konzern von diesem Ansatz profitieren und die administrativen Kosten tragen kann, muss das Beitragsvolumen des Unternehmens ausreichend groß sein. Üblicherweise agieren Single Parent Captives als Pure Captives. Multi Parent Captive Schließen sich mehrere Unternehmen bzw. Konzerne zusammen, um eine Captive gemeinsam zu gründen und zu betreiben, wird dieser Verbund als Multi Parent Captive bezeichnet. Diese Form von Captives weist Ähnlichkeiten mit dem in Deutschland vorzufindenden Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) oder der Mutual Insurance im englischsprachigen Raum auf. (vgl. Fläming 2007, S. 60) Die am häufigsten auftretenden Formen der Multi Parent Captives werden im weiteren Verlauf erklärt. Group Captive Wenn eine Gruppe von Unternehmen eine Group Captive gründet und die Unternehmen Teilnehmer in gleichen Industrien sind, spricht man von Association- oder Industry-­ Captives. Die Captive-Betreiber statten die Group Captive mit notwendigem Gründungskapital aus. Im Vergleich zur Gründung einer Single Parent Captive ist der einzubringende Betrag pro Unternehmen geringer. Risiken und Prämien werden von den teilnehmenden Unternehmen in den Versicherungsbestand eingebracht und anfallende Schadenzahlungen erfolgen aus dem gebildeten Prämienpool. Während viele Unternehmen in den USA in der harten Marktphase keine traditionellen Versicherungslösungen mehr am Markt einkaufen konnten, wurden die Group Captives ins Leben gerufen. Ein Beispiel dafür ist OIL, eine Captive der petrochemischen Industrie in den USA.  Ein wesentlicher Vorteil liegt zum einen im Risikoausgleich über die Zeit, zum anderen darin, dass Schadenzahlungen an die Teilnehmer gleichmäßiger über die Zeit verteilt anfallen, als dies für jeden Teilnehmer allein der Fall wäre. Das eingebrachte Kapital und die Prämien werden bei Verlusten als Deckung herangezogen (vgl. Fläming 2007, S. 60).

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Risk Retention Group Neben den Group Captives sind Risk Retention Groups in den USA eine weitere verbreitete Spezialform. Risk Retention Groups sind von ihren Mitgliedern gegründete Haftpflichtversicherungsunternehmen, die mit Kapital ausgestattet werden und deren firmeneigene Haftpflichtrisiken in ihr Versicherungsportfolio aufnehmen. Die Risiken, die Mitglieder in diese Form der Captives einbringen, stammen dabei aus gleichen oder zumindest ähnlichen Tätigkeitsbereichen, um ein möglichst homogenes Portfolio von Haftpflichtrisiken zu bilden. Bezogen auf die Haftung werden alle Mitglieder gesamtschuldnerisch gegenüber Ansprüchen von Dritten haften. Die Absicherung von Haftpflichtrisiken in dieser Form ist in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden, als sich viele US-amerikanische Versicherer aufgrund einer Krise des Versicherungsmarktes beziehungsweise des Haftpflichtversicherungsmarktes zurückgezogen haben. Durch die eingeschränkten Versicherungsmöglichkeiten im Jahre 1986 wurde den Risk Retention Groups neben der Absicherung von Produkthaftpflicht auch die Absicherung von anderen ­Haftpflichtsparten gestattet. Anfangs sollte den Klagewellen gegen Fabrikanten somit eine Absicherungsmöglichkeit gegeben werden. Mittlerweile gibt es Risk Retention Groups auch in anderen Industrien, wie im Dienstleistungssektor und Gesundheitswesen. In den USA können Risk Retention Groups in allen anderen Bundesstaaten Geschäft zeichnen, wenn sie bereits in einem Bundestaat eine Lizenz zum Versicherungsbetrieb besitzen (vgl. Fläming 2007, S. 60 f.).

9.5 Eigenrisikotragung (Pure Captive) vs. Drittgeschäft (Broad oder Open Market Captive) Grundidee für die Gründung einer eigenen Versicherungsgesellschaft ist die Übernahme der konzerninternen Risiken. Es gibt jedoch auch Captives, die sich nicht nur auf die Versicherbarkeit konzerneigener Risiken konzentrieren, sondern darüber hinaus auch Kapazitäten für Dritte anbieten. Beschränkt sich die gegründete Captive auf die eigenen Risiken, spricht man von einer Pure Captive. Bei Übernahme von betriebsfremden Risiken handelt es sich dagegen um eine Open Market Captive bzw. Broad Captive (vgl. Abb. 9.5).

Abb. 9.5  Pure Captive vs. Broad Captive. (Quelle: eigene Darstellung)

Broad Captive

Pure Captive

VN

VN VN

Captive

VN VN

Captive

VN

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Pure Captive Eine Pure Captive zeichnet ausschließlich Risiken, welche aus der betrieblichen Tätigkeit ihres Mutterunternehmens resultieren. Sie ist damit integraler Bestandteil und dient der Optimierung des Managements der versicherbaren Risiken eines Unternehmens. Da eine Pure Captive die Risiken eines einzigen Versicherungsnehmers zeichnet (begrenztes Bestandskollektiv), besteht kein Risikoportfolio, vergleichbar einem am Markt tätigen Industrieversicherer, welcher eine Vielzahl von Risiken einer Vielzahl von Unternehmen bündelt und damit einen Risikoausgleich über das Kollektiv erreicht. Bei einer Pure Captive erfolgt der Risikoausgleich – in Abhängigkeit vom gezeichneten Geschäft – zu einem eher geringen Teil über den Portfolioeffekt und zum überwiegenden Teil über die Zeit. Pure Captives unterliegen in einigen Domizilen geringeren aufsichtsrechtlichen Anforderungen als Open Market Captives, da bei Nichterfüllbarkeit der versicherungsvertraglichen Verpflichtungen letztlich nur der frontende Versicherer bzw. das M ­ utterunternehmen finanziellen Schaden erleiden kann und daher der aufsichtsrechtlichen Schutzfunktion eine geringere Bedeutung zukommt. Trotz des begrenzten Bestandskollektivs bedarf es auch für das Versicherungsgeschäft einer Captive eines notwendigen Risikoausgleichs, der ein hinreichend großes Risikokollektiv voraussetzt. Deswegen eignen sich Pure Captives eher für größere Konzerne (vgl. Kajüter 2012, S. 196). Jedoch ist die Unabhängigkeit der einzelnen Kollektivrisiken untereinander auch bei größeren Konzernen aufgrund der konzerninternen Verbindungen und der häufig vorhandenen geografischen Konzentration ebenso eingeschränkt. Bei der Realisation von bestandsgefährdenden Risiken ist auch der zeitliche Ausgleich zwischen Jahren mit Überschäden und solchen mit Unterschäden nicht möglich. Entsprechend müssen Pure Captives mit geeigneten Maßnahmen gegensteuern. Hierzu zählen bspw. hohe Sicherheitszuschläge in der Tarifierung oder das anteilige oder vollständige Zedieren/Retrozedieren der Risiken an Rückversicherer (vgl. Boltz et al. 2013, S. 263). Open Market Captive oder Broad Captive Grundsätzlich können Captives auch Drittrisiken, das heißt Risiken, die in keinem Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Mutterunternehmens stehen, zeichnen (vgl. Fläming 2007, S. 54). Die Zeichnung unternehmensfremder Risiken über eine Captive erfolgt in der Regel aus Gewinnerzielungsabsicht und/oder steuerrechtlichen Überlegungen. Die Gewinnerwartung aus dem Betreiben des Versicherungsgeschäfts kann zum Beispiel auf spezifischer Expertise in einer Versicherungssparte aufgrund der Geschäftstätigkeit der Muttergesellschaft, verbunden mit hoher Kosteneffizienz des Captive-Versicherers, begründet sein. Ebenso ist der Verkauf von Versicherungen, welche an das Kernprodukt oder die Kerndienstleistung des Captive-Mutterunternehmens anschließen (zum Beispiel Garantieversicherung), zu beobachten. Steuerrechtliche Erwägungen sind insofern relevant, als in einigen Ländern die Zeichnung eines Mindestanteils von Drittgeschäft seitens einer Captive Voraussetzung dafür ist, dass an die Captive gezahlte Prämien steuerlich als Betriebsaufwand geltend gemacht werden können (vgl. Fläming 2007, S. 63 f.).

9  Captives und ihre Ausprägungsformen

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Anders als bei Pure Captives ist für Broad Captives eine adäquate Risikostreuung leichter zu erreichen, da sie die in Deckung genommenen Risiken geografisch und sachlich innerhalb einer Sparte sowie spartenübergreifend durch das Betreiben verschiedener Sparten streuen können (vgl. Hets 1995, S. 43). Aufgrund der Gefahr eines „Moral-Hazards“ verlangt die Öffnung einer Captive für externe Versicherungsnehmer professionelle Strukturen, da die Risiken Dritter schon alleine wegen der geringeren Informationen in der Regel schwieriger zu beurteilen sind (vgl. Kajüter 2012, S. 195). Je nach Prämienanteil (und somit Risikoanteil) des konzernfremden Geschäfts wird sie auch als Profit-Center-Captive bezeichnet und ist dann kaum noch von einer klassischen Versicherungsgesellschaft abzugrenzen (vgl. Hets 1995, S. 11 f.).

9.6 Standortwahl Das letzte Kriterium ist der Standort. In der strengsten Auslegung spricht man von einer Onshore-Captive (Domestic Captive), wenn sich diese im gleichen Land wie der Hauptsitz der Muttergesellschaft befindet. Im Umkehrschluss werden dann außerhalb des gleichen Landes liegende Captives als Offshore-Captives (Foreign Captive) bezeichnet. Die ersten Captives wurden im Land ihrer jeweiligen Mutter („onshore“) betrieben. Die erste Captive an einem heute typischen „Offshore“-Captive-Standort wurde 1953 auf Bermuda gegründet (vgl. International Risk Management Institute o.D.). Klassische Offshore-Captives werden vor allem genutzt, um steuerrechtliche, bilanzrechtliche oder aufsichtsrechtliche Vorteile in Ländern wie Bermuda, Luxemburg oder Irland zu nutzen. Mit der Einführung von Solvency II haben sich die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Captives mit Sitz in der EU insbesondere hinsichtlich Organisation des Geschäftsbetriebs, Dokumentation von Geschäftsprozessen und Verfahren sowie Berichterstattung an die Aufsichtsbehörden erheblich erhöht. Zudem sind Captives im Rahmen der OECD-­ Initiative „Base Erosion and Profit Shifting“ (BEPS) als Instrumente identifiziert worden, welche zur Steuervermeidung eingesetzt werden können, sodass jeweils der Nachweis zu führen ist, dass dies nicht der Fall ist. Beide Entwicklungen tragen dazu bei, dass sich der Aufwand für das Betreiben einer Captive, insbesondere sofern sie in der EU beheimatet ist, erhöht. Daraus folgt, dass das Geschäfts- bzw. Prämienvolumen, welches für den wirtschaftlichen Betrieb einer Captive erforderlich ist, ebenfalls gestiegen ist und sich damit der Kreis der Unternehmen, für welche eine Captive sinnvoll ist, tendenziell reduziert. Ein anderes Bild ergibt sich in den USA, wo Captives aufgrund der lokalen Rahmenbedingungen auch für kleinere Unternehmen mit geringerem Prämienvolumen weiterhin interessant sind. In Asien und Afrika ist bisher nur eine geringe Anzahl von Captives zu beobachten. Für das Unternehmen, welches sich mit dem Gedanken trägt, eine Captive zu gründen, oder den Weiterbetrieb einer bestehenden Captive (inklusive einer möglichen Sitzverlegung) kritisch hinterfragt, gilt es, neben der Wirtschaftlichkeitsrechnung insbesondere die standortbezogenen Parameter aufsichtsrechtliches Umfeld und Anforderungen, steuerliche Bewertung, Reputation und Infrastruktur zu prüfen, wobei diese Parameter regelmäßig in Konkurrenz zueinander stehen.

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Deutschland ist kein klassischer Captive-Standort und die meisten hierzulande angesiedelten konzerneigenen Versicherer wurden größtenteils bereits vor einigen Jahrzehnten errichtet (vgl. Franz 2015, Rn. 179). So sind bisher lediglich neun Captives in Deutschland beheimatet. Betrachtet man die Captive-Gründungen weltweit, sind führende Standorte Bermuda, die Caymaninseln, die USA und Guernsey. Europäische Unternehmen tendieren meist zu Standorten innerhalb Europas. Dabei ist neben einem gewissen Reputationsfaktor und einem stabilen politischen Klima insbesondere die Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) oftmals das ausschlaggebende Argument. Denn der freie D ­ ienstleistungsverkehr erlaubt es EU-Captives, grenzüberschreitend Versicherungen innerhalb der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums anzubieten, ohne dafür Niederlassungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten gründen zu müssen (vgl. Franz 2015, Rn.  17). Innerhalb der EU sind bisher insbesondere Luxemburg, Irland und Malta als Captive-Standorte hervorzuheben.

9.7 Fazit Die Entwicklung des Versicherungsmarktes hat einen Einfluss auf die Captive-Landschaft. In einem Verkäufermarkt, das heißt, in Phasen, in denen Prämien und Deckungsumfang eher durch die Versicherer definiert werden, wird die Anzahl von Captive-Gründungen eher zunehmen, in einem Käufermarkt dagegen eher abnehmen. Bei der Entscheidung für eine Captive sind in der Ausgestaltung viele Faktoren zu berücksichtigen, die sich auf die operative Tätigkeit, die Versicherungslösungen und die finanzielle Situation auswirken. Die konkrete Wahl der entsprechenden Ausprägungsformen ist sorgfältig im jeweiligen Einzelfall zu prüfen und kann nicht allgemeingültig beantwortet werden. Betrachtet man den Standort Deutschland („onshore“), ergibt sich in der Tab. 9.1 folgendes Bild für die Ausgestaltung von Captives (als Tochtergesellschaften), wobei dies natürlich eine beispielhafte Momentaufnahme ist. Tab. 9.1  Ausgestaltung von Captives (als Tochtergesellschaften) in Deutschland (Beispiele) Captive Delvag Versicherungs-AG Diehl Assekuranz Rückvers.- u. Vermittlungs-AG Freudenberg Rückversicherung AG Incura AG Lucura Versicherung AG METRO Re AG Pallas Versicherung AG REVIUM Rückversicherung AG RISICOM Rückversicherung AG

Mutterkonzern (Single Parent) Lufthansa Group Diehl Gruppe

getragene Versicherungs lizenz Risiken Erst/RückV Broad RückV Broad

Freudenberg Gruppe Boehringer Ingelheim BASF SE METRO AG Bayer AG B. Braun Melsungen AG Siemens AG

RückV RückV ErstV RückV Erst/RückV RückV RückV

Pure Pure Pure Broad Pure Pure Pure

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Daneben gibt es weitere Konzerne in Deutschland, die eine Captive bspw. im europä­ ischen Ausland betreiben, wie Adidas in Irland, BMW und EON in Malta oder Merck, Henkel und Deutsche Bank in Luxemburg.

Literatur Boltz, J. / Hartung, T. / Nowak, Thomas (2013): Captives zur Absicherung von Extremrisiken? Eine Untersuchung am Beispiel der OIL Insurance Limited, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswirtschaft, Heft 3, Vol. 102, S. 257–272 Fläming, Michael (2007): Alternativer Risiko Transfer – eine volkswirtschaftliche Betrachtung, Universität Bamberg, https://fis.uni-­bamberg.de/handle/uniba/150, Zugriff am 10.06.2021 Franz, Einiko B. (2011): Captives  – eine Standortbestimmung, in: Betriebs-Berater, Heft 49, S. 3037–3047 Franz, Einiko B. (2015): § 5. Captives, in: Bürkle (Hrsg.): Compliance in Versicherungsunternehmen, 2. Auflage, München, C.H. Beck, Rn. 1–132 Hets, Stefan (1995): Captive Insurance Company: Ein risikopolitisches Instrument für deutsche Industrieunternehmen, Wiesbaden, Gabler Verlag International Risk Management Institute (ohne Datum): The Early Days of Captives, https://www. captive.com/captives-­101/history-­of-­captives/the-­early-­days-­of-­captives, Zugriff am 17.06.2021 Kajüter, Peter (2012): Risikomanagement im Konzern: Eine empirische Analyse börsen-orientierter Aktienkonzerne, München, Vahlen Wöhrmann, Paul (2004): Risk Management als strategische Investition: Der alternative Risikotransfer als Mittel zur Realisierung optimaler Versicherungskosten, in: Odenthal/Wissel (Hrsg.): Strategische Investments in Unternehmen – Wie Sie Werte schöpfen, Kunden binden und Risiken managen, 1. Auflage, Wiesbaden, Gabler Verlag, S. 61–82 Wöhrmann, Paul und Bürer, Christoph (2001): Procted Cell Captives: Auch für die Schweiz geeignet?, in: Schweizer Versicherung, Ausgabe 7, S. 16

Holger Kraus  studierte Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Risikomanagement und Versicherung an der Universität St. Gallen (HSG). Nach Abschluss des Studiums war er mehrere Jahre für Aon in der Beratung von Großunternehmen zu alternativen Risikofinanzierungslösungen und Captives tätig. Seit 2009 war er im Bereich Versicherungen der Siemens AG mit Schwerpunkt Risikofinanzierung und Strategie tätig. Seit 2023 verantwortet er den Bereich Versicherungen der Siemens AG. Gleichzeitig ist er Vorsitzender des Vorstands der RISICOM Rückversicherung AG, des konzerneigenen Rückversicherers der Siemens AG. Darüber hinaus leitet er den Captive-Ausschuss des Verbands der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW). Prof. Dr. Torsten Rohlfs  lehrt am Institut für Versicherungswesen der Technischen Hochschule Köln. Seine Fachgebiete sind insbesondere das Rechnungswesen und Risikomanagement von Versicherungsunternehmen. Er ist Wirtschaftsprüfer und war vor seiner Tätigkeit an der TH Köln Senior Manager bei der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Bereich Prüfung und Beratung von Versicherungsunternehmen. Prof. Dr. Torsten Rohlfs ist Mitglied im Rating-Komitee der ASSEKURATA Assekuranz Rating-Agentur GmbH und im wissenschaftlichen Beirat des Gesamtverbands der versicherungsnehmenden Wirtschaft (GVNW). Darüber hinaus ist er Mitglied der Prüfungskommission für Wirtschaftsprüfer.

Erst- und Rückversicherungs-Captives

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Julian Herold und Dirk Schilling

Inhaltsverzeichnis 10.1  E  inleitung  10.2  C  aptive-Gesellschaftsformen  10.2.1  Aktiengesellschaft  10.2.2  Nutzung von Erst- und Rückversicherungs-Captive  10.3  Vor- und Nachteile  10.3.1  Nutzung  10.3.2  Regulatorik  10.3.3  Lizenzierung  10.3.4  Abwicklung  10.3.5  Fronting  10.4  Organisation  Literatur 

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Zusammenfassung

Die Wahl zwischen Erst- und Rückversicherungs-Captive ist maßgeblich von der geplanten Nutzung der Gesellschaft abhängig. Für Unternehmen mit einem breiten Risikoportfolio aus Risiken mit dem Schwerpunkt im Europäischen Wirtschaftsraum und dem Bedarf an hohen Eigentragungslimiten kann sich die Gründung einer J. Herold Chubb European Group SE, Direktion für Deutschland, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Schilling (*) HDI Global SE, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_10

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Erstversicherungs-­Captive lohnen. Werden in Konzernen mit zahlreichen Mitarbeitern neben den Unternehmensrisiken auch Belegschaftsrisiken versichert, können Bestandsgrößen erreicht werden, die die höheren Aufwände einer Erstversicherungsgesellschaft rechtfertigen können. Allerdings ist die Kombination von Leben- und Nichtlebenrisiken nicht in allen Aufsichtsregimen zulässig. Für die Abdeckung von internationalen Risiken, von kleineren Eigenbehalten oder kleinen Anteilen an großen Versicherungsprogrammen ist eine Rückversicherungs-Captive mit einem Fronter zu präferieren. Für eine genauere Abwägung der Vor- und Nachteile sind neben Unterschieden bei der Lizenzierung und Anforderungen an die Personalausstattung auch Unterschiede beim kontinuierlichen Reporting an die Aufsichtsbehörden hervorzuheben.

10.1 Einleitung Eine Captive-Versicherungsgesellschaft (Captive) ist eine Versicherungsgesellschaft einer Nicht-Versicherungsgruppe. Sie dient dem Mutterunternehmen im Regelfall als Werkzeug zur Risikosteuerung. Im Wesentlichen charakterisiert eine Captive ihre im Vergleich zu klassischen Versicherungsgesellschaften geringe Kapitalisierung und die geringe Anzahl an gezeichneten Versicherungsprogrammen. Captives versichern hauptsächlich die Risiken von Konzerngesellschaften sowie zum Teil auch deren Mitarbeiter oder Kunden. Captives dienen hier in der Regel dem Management von Selbstbehalten, als Vehikel zur Risikofinanzierung und dem Risikotransfer. Sie unterliegen dabei grundsätzlich denselben Beschränkungen für die Versicherbarkeit von Risiken wie alle anderen Versicherer auch. Man unterscheidet anhand ihrer Zulassungsart zwischen Erst- und Rückversicherungs-Captives. Eine Erstversicherungs-Captive kann selbstständig und direkt an den Versicherungsrisiken von Industrieunternehmen oder natürlichen Personen partizipieren, wohingegen eine Rückversicherungs-Captive lediglich Versicherungsrisiken von Erstversicherern übernehmen kann. Eine Erstversicherungs-Captive bietet vor allem mehr Möglichkeiten bei der Vertragsgestaltung und bei der Einbindung der Captive in die Unternehmensprozesse. Beispielsweise können so Deckungen für Risiken gestaltet werden, die andere Erstversicherer üblicherweise nicht versichern würden. Aber auch veränderte Versicherungsbedingungen, wie der Einschluss gängiger Bedingungsausschlüsse, können über eine Erstversicherungs-Captive gedeckt werden. Diesen Freiheiten gegenüber steht der administrative Aufwand der Policierung, Schadenregulierung, Erstellung von Abrechnungen, Überwachung des Inkassos, aber auch die Abführung von beispielsweise der Versicherungsteuer. Rückversicherungs-Captives lassen sich mit deutlich niedrigerem administrativen Aufwand betreiben, erfordern aber stets einen Erstversicherer, der bereit ist, besondere Vereinbarungen und Deckungskonzepte zu versichern. In diesem Beitrag beleuchten wir die Grundlagen des Aufbaus einer Captive, infrage kommende Gesellschaftsformen sowie die wesentlichen Unterschiede zwischen Erst- und Rückversicherungs-­Captives in den Themenfeldern Regulatorik, Lizenzierung und Fron-

10  Erst- und Rückversicherungs-Captives

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ting. Im Bereich der Regulatorik wird zunächst das übergeordnete Aufsichtsregime Solvency II erklärt und anschließend auf die Umsetzung im deutschen Recht eingegangen. Die Gründung einer Captive erfordert eine umfangreiche Analyse der Risikosituation des Mutterunternehmens. Für die Einschätzung der Umsetzbarkeit einer Captive-Lösung ist unter anderem die Art der zu versichernden Risiken, deren Schadenhistorie sowie deren geografische Belegenheit bedeutend. Eine detaillierte Beschreibung einer solchen Machbarkeitsstudie findet sich in dem entsprechenden Beitrag.

10.2 Captive-Gesellschaftsformen Versicherungsgesellschaften können in Deutschland nur als Aktiengesellschaft (AG) einschließlich der Europäischen Gesellschaft (SE), als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) oder als Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts gegründet werden (§ 8 Abs. 2 VAG). Da der VVaG und die Anstalt des öffentlichen Rechts in der Praxis als Gesellschaftsformen für Captives nicht vorkommen, gehen wir an dieser Stelle nicht auf diese Gesellschaftsformen ein. Die Rechtsformbeschränkung dient vornehmlich dem Schutz der Versicherungsnehmer, indem sie Versicherungen auf Gesellschaftsformen mit hohen Anforderungen an Kapitalausstattung und Governance beschränkt. Die Aktiengesellschaft eignet sich zum Betrieb des (Rück-)Versicherungsgeschäfts besonders gut, da die Gesellschaft personenungebunden existieren kann. Ein Verkauf ist somit möglich. Darüber hinaus kann die Kapitalisierung der Captive AG im Rahmen einer Beteiligungsfinanzierung durch den Mutterkonzern erfolgen. Versicherungsgesellschaften aus dem europäischen Raum können im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit in Deutschland Versicherungsverträge abschließen, sodass auch verschiedene weitere Gesellschaftsformen in Betracht kommen. Die Incorporated Company Limited by Shares ist mit England, Irland und der Schweiz am weitesten verbreitet. Darüber hinaus ist die luxemburgische Société Anonyme ebenfalls gängig. Beide werden aber in diesem Beitrag aufgrund anderer Aufsichtsregelungen nicht näher behandelt.

10.2.1 Aktiengesellschaft Eine Captive Aktiengesellschaft ist, wie jede andere Aktiengesellschaft auch, eine eigenständige juristische Person, deren Haftung auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt ist (§ 1 Abs. 1 AktG). Die rechtlichen Grundlagen legt das Aktiengesetz, wobei einzelne Vorschriften durch das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) ergänzt oder verändert werden. Zur Gründung bedarf es einer Satzung, welche die grundlegenden Parameter der Gesellschaft, wie den Namen und den Unternehmenssitz sowie den Gegenstand des Unternehmens und die Eigentümerstruktur, festlegt (vgl. § 23 AktG). Diese wird als Teil des Geschäftsplans bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und der zuständigen Handelskammer eingereicht.

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Entsprechend der Satzung werden Anteile in Form von Aktien gegen Einlagen ausgegeben. Diese Anteile bilden das Grundkapital der Gesellschaft. Bei der Gründung einer Captive-Versicherung AG werden die Anteile durch die Muttergesellschaft erworben, welche im Gegenzug das Grundkapital von mindestens 50.000 € (§ 7 AktG) der Gesellschaft stellt. Bei Versicherungsunternehmen ist das Grundkapital deutlich höher, da es ebenfalls die Anforderungen an die notwendigen Eigenmittel zum Betrieb von Versicherungsgeschäft erfüllen muss. Die Captive AG besteht aus drei Organen: der Hauptversammlung, dem Aufsichtsrat und dem Vorstand. Im Rahmen der Hauptversammlung haben alle Aktionäre die Möglichkeit, ihr mit dem Erwerb einer Aktie verbundenes Stimmrecht auszuüben. Im Fall einer Captive AG liegen meistens alle Aktien im unmittelbaren Besitz des Mutterkonzerns, sodass dieser beispielsweise über die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 101 Abs. 1 AktG) oder auch die Verwendung des Bilanzgewinns entscheiden kann (§  174 Abs.  1 AktG). Der Aufsichtsrat als Kontrollgremium über den Vorstand ist in die meisten operativen Geschäfte der Captive nicht direkt eingebunden. Er besteht bei Captives aufgrund der Größe der Gesellschaft meist aus drei Mitgliedern (§ 95 AktG). Diese müssen natürliche, unbeschränkt geschäftsfähige Personen sein (§ 100 AktG). Er bestellt die Vorstandsmitglieder, beauftragt den Abschlussprüfer und überwacht den Vorstand in seiner Art, die Gesellschaft zu führen. Aufsichtsräte sind bei Captives entweder Verantwortungsträger aus der Muttergesellschaft oder externe Experten aus dem Versicherungs- und Wirtschaftsprüfungsbereich. Die Mitglieder müssen dabei über die beruflichen Kenntnisse verfügen und das theoretische Hintergrundwissen haben, welches der Komplexität des Geschäfts gerecht wird (§ 296 Abs. 1 VAG). Selbige Qualifikationsanforderungen gelten auch für die Mitglieder des Vorstands. Der Vorstand besteht aus mindestens zwei Mitgliedern (§  76 Abs. 2 AktG), die das Tagesgeschäft der Aktiengesellschaft lenken und die strategische Ausrichtung festlegen. Die Aktiengesellschaft ist zur jährlichen Veröffentlichung eines Jahresabschlusses mit Bilanz und Gewinn-und-Verlust-Rechnung und eines Lageberichts verpflichtet. Der Jahresabschluss von Versicherungsunternehmen unterscheidet sich in der Bilanzstruktur wesentlich vom Abschluss anderer Aktiengesellschaften (§§ 6 bis 35 Rech Vers V). Dieser ist durch einen unabhängigen Abschlussprüfer zu prüfen (§§ 316 bis 324 VAG) und anschließend im Bundesanzeiger zu veröffentlichen.

10.2.2 Nutzung von Erst- und Rückversicherungs-Captive Viele deutsche Großunternehmen nutzen Captives als Teil ihres Konzern-­Risikomanagements. Häufig haben diese ihren Sitz im Europäischen Wirtschaftsraum, primär in Luxemburg oder in Irland. In Deutschland werden derzeit (Stand 2020) neun Erst- und Rückversicherungs-Captives betrieben; alle von deutschen Konzernen (Tab.  10.1). Zwei Drittel davon sind reine Rückversicherungs-Captives, allerdings kann bei den Erstversicherungs-Captives nicht ausgeschlossen werden, dass auch Geschäft in Rückdeckung übernommen wird. Im restlichen Europa ist der Anteil der Rückversicherungs-­Captives deutlich höher.

10  Erst- und Rückversicherungs-Captives Tab. 10.1  Erst- und Rückversicherungs-Captives in Deutschland

Art der Gesellschaft Erstversicherer Rückversicherer

221 Anzahl 3 6

Quelle: Eigene Recherche basierend auf der BaFin Versicherer Datenbank (Stand 2020)

10.3 Vor- und Nachteile 10.3.1 Nutzung „Die primären Wertschöpfungsaktivitäten eines Versicherers umfassen die Produktentwicklung, das Underwriting, die Risikotragung und -transformation, das Asset Management, das Schadenmanagement, sowie das Marketing, den Vertrieb die Beratung sowie die Kundenbetreuung“ (Köhne, S. 10).

10.3.1.1 Erstversicherung Eine Erstversicherungs-Captive bietet im Vergleich zur Rückversicherungs-Captive eine deutlich höhere Wertschöpfungstiefe. Der größte Vorteil einer Erstversicherungs-Captive ist der hohe Freiheitsgrad bei der Produktgestaltung. Deckungen, die am Versicherungsmarkt entweder kapazitativ oder durch Ausschlüsse nur stark begrenzt verfügbar sind, können gezeichnet werden, ohne diesen Beschränkungen zu unterliegen. Es bedarf keines Versicherers, der bereit ist, seine Bedingungen entsprechend den Bedürfnissen des Unternehmens anzupassen. Ein Beispiel dafür ist eine reine Betriebsunterbrechungsversicherung ohne vorherigen Sachschaden, die von Versicherern häufig nicht angeboten wird. Gleiches gilt zum Beispiel für bestimmte Cyberexponierungen. Die Möglichkeit, Risiken zu versichern, für die am Markt keine Deckung verfügbar ist, ist begrenzt durch die Risikotragfähigkeit der Captive und die Modellierbarkeit des Risikos. Sofern die Muttergesellschaft im Rahmen ihrer Risikostrategie bereit ist, eine hohe Transparenz über die Risiken zu schaffen, und diese aktiv mit den Werkzeugen der Versicherung managen möchte, können bei entsprechendem Kapitaleinsatz viele Risiken versicherbar gemacht werden. Die Captive bewertet die Risiken innerhalb des Underwriting-Prozesses und bepreist diese. Anschließend zeichnet die Captive entsprechend ihrem Risikoappetit (Teil-)Risiken. In der Regel können nur mit einer Erstversicherungs-Captive große Kosteneinsparungen bei der Risikofinanzierung erreicht werden, da einzelne Kosten, die einem klassischen Erstversicherer entstehen, wie Marketingkosten, weitestgehend entfallen. Diese Einsparungseffekte lassen sich besonders gut bei großen Captives mit vielen Verträgen realisieren, weil hier zusätzlich gute Skalierungseffekte für die notwendige Organisation zu erzielen sind. Besonders wenn die Captive neben firmeneigenem Geschäft auch verbundenes (affiliate) Geschäft, Versicherungen von Zulieferern und Mitarbeitern zeichnet, lassen sich große Ver-

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tragsanzahlen erreichen. Dies setzt allerdings eine hohe Anzahl an Mitarbeitern oder (End-) Kunden voraus. Das Geschäft mit Affiliates lässt sich besonders gut für große, bekannte Unternehmen betreiben, da diese von ihrer Markenbekanntheit profitieren können. Die gezeichneten Risiken werden gebündelt und sollen hier bei Mehrsparten-Captives einen Risikoausgleich schaffen. Dieser Risikoausgleich ist dabei aufgrund der kleinen Portfolios und geringen Diversifikation eher gering. Der Risikoausgleich erfolgt bei Captives daher vor allem über Zeit, meist über mehrere Jahre. Hat eine Captive Haftungskapazitäten jenseits ihres eigenen Risikoappetits aufgenommen, werden die überschüssigen Haftungen auf dem Wege der Rückversicherung abgegeben. Zwischen den Einnahmen bei der Risikoaufnahme und den Ausgaben der Risikoabgabe an den Rückversicherungsmarkt besteht häufig ein Einnahmenüberschuss, der bei der Captive verbleibt. Die eingenommenen Versicherungsprämien sowie das Gesellschaftskapital werden in verschiedenste Anlageklassen investiert. Aus diesen Anlagen erwirtschaftet die Captive ebenfalls Einnahmen. Die Schadenbearbeitung wird in der Regel im Zusammenspiel zwischen Captive und einem Schadenmanagementdienstleister abgewickelt, der die Schadenregulierungsexperten vorhält. Ein großer Vorteil der eigenen Schadenregulierung ist die vollständige Freiheit bei der Datenerhebung. Beispielsweise können Schäden den einzelnen Geschäftsbereichen und sogar den einzelnen Abteilungen zugeordnet werden, ohne hierzu auf das ­Wohlwollen eines Erstversicherers angewiesen zu sein. Dies ermöglicht den Einsatz zielgerichteter Risikominderungsmaßnahmen, die sich wiederum positiv auf die Gesamtschadensituation auswirken. Außerdem können Synergien mit bestehender ­Konzern-­IT genutzt werden, um den Datenaustausch zu erleichtern. Über den eigenen Schadenregulierungsprozess im Affiliate-Geschäft lassen sich auch Daten über Kundenverhalten generieren. Dies kann für Dienstleister oder Hersteller ein Grund sein, die Schadenbearbeitung selbst durchzuführen. Auch kann die eigene Schadenregulierung je nach Produkt in das Gesamt­ erlebnis von Produkt und Marke integriert werden. Als Erstversicherung kann die Captive auch die Rückstellungspolitik aktiver gestalten. Während Rückversicherungs-Captives die Reserven meist aus den Meldungen des Fronters ableiten, kann durch eigene Schadenregulierung auch eigene Reservepolitik betrieben und damit aktiver die Bilanz und der Überschuss gestaltet werden. In der Praxis existiert eine reine Erstversicherungs-Captive praktisch nicht. Zum einen ist die Abführung von Steuern bei internationalem Geschäft sehr aufwendig und erfordert umfangreiche organisatorische Voraussetzungen, zum anderen ist es für Captives praktisch unmöglich, eine Lizenzierung in allen Ländern mit Risikobelegenheit zu erreichen. Daher werden die bestehenden Erstversicherungs-Captives in einer Art Mischform aus Erst- und Rückversicherungs-Captive betrieben. Sie zeichnen Anteile an europäischen Versicherungspolicen im Rahmen der offenen Mitversicherung wie ein Erstversicherer. Hierbei zeichnen neben der Captive auch klassische Versicherer Anteile am Risiko. Diese Versicherer führen als zusätzlichen Service auch die anfallenden Steuern für die Captive an die jeweilige Steuerbehörde ab, erhalten dafür im Gegenzug eine Führungsprovision, die die entstehenden Aufwände ausgleicht. Für Verträge außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums werden häufig dieselben Versicherer als Fronter eingesetzt, sodass die Captive diese Policen auf dem Rückversicherungsweg zeichnet.

10  Erst- und Rückversicherungs-Captives

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10.3.1.2 Rückversicherung Die klassische Rückversicherungs-Captive lässt sich mit deutlich weniger Aufwand betreiben und benötigt für einen profitablen Betrieb keine derartigen Skaleneffekte. Die Wertschöpfung erfolgt hier maßgeblich durch die eigene Risikotragung, die Einbindung in die Risikostrategie des Konzerns und durch eine Preisarbitrage zwischen der erhaltenen Prämie und den Konditionen einer Abgabe an den offenen Rückversicherungsmarkt. Für die ökonomische Steuerung von Konzernselbstbehalten reicht die Rückversicherungs-Captive aus. Auch erlaubt sie den Zugang zum Rückversicherungsmarkt. Die Rückversicherungs-Captive gestaltet weder eigenständige Produkte, noch übernimmt sie Aufgaben der Schadenregulierung. Einige Gestaltungsmöglichkeiten bei den Versicherungsbedingungen kann es für vollständig gefrontete Risiken geben. Hierbei ist die Captive allerdings auf die Flexibilität des Fronters angewiesen.

10.3.2 Regulatorik Die übergreifenden Richtlinien für in der Europäischen Union ansässige Versicherungsunternehmen ergeben sich aus der Solvency  II Rahmenrichtline (EU-Richtlinie ­2009/138/ EG), die am 22. April 2009 vom Europäischen Parlament und am 10. November 2009 vom Europäischen Rat beschlossen wurde. Diese Richtlinie regelt europaweit einheitlich die Rahmenbedingungen für den Versicherungsbetrieb und schafft ein vergleichbares Solvenzsystem. Diese Rahmenbedingungen wurden anschließend von einzelnen Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgewandelt und detailliert ausgestaltet. Dabei sind in der Ausgestaltung von Land zu Land durchaus Unterschiede zu erkennen. In Deutschland erfolgte die Umsetzung mit der Neufassung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) zum 01.01.2016. Solvency II Eine Erstversicherungs-Captive, die im Europäischen Wirtschaftsraum Geschäft zeichnen soll, muss zwingend auch in einem EWR-Staat sesshaft sein. Für Rückversicherungen gilt diese Vorschrift grundsätzlich auch (§ 67 VAG), es gibt aber eine Ausnahme für gleichwertige (äquivalente) Solvenzsysteme. Die Solvenzsysteme der Schweiz und Japans werden für Captives als äquivalent angesehen. Allerdings gibt es in Deutschland auch die Möglichkeit, Rückversicherer außerhalb des Solvency-II-Raumes mittels der Korrespondenzversicherung zu bedienen. Die genaue Anwendbarkeit der Korrespondenzversicherung unterliegt erheblichen Unsicherheiten (vgl. BaFin 2016). Drei-Säulen-System Säule 1 legt die Berechnungsverfahren der verfügbaren Eigenmittel sowie die Eigenmittel­ anforderungen fest, die zum Betrieb einer Captive unter Berücksichtigung des gezeichneten Versicherungsgeschäfts und der gewählten Anlagestruktur notwendig sind, und definiert damit die Grundlagen der Solvabilitätsberechnung. Diese Berechnung soll die

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J. Herold und D. Schilling

Ausfallwahrscheinlichkeit reduzieren und mögliche Schwierigkeiten einer Gesellschaft transparenter machen. Das benötigte Solvenzkapital kann entweder mithilfe der Standardformel, welche ein durchschnittliches Versicherungsunternehmen widerspiegeln soll, oder unter Anwendung eines internen Modells berechnet werden. Eine Captive ähnelt in ihren Risiken und deren Allokation nur sehr wenig einem durchschnittlichen Versicherungsunternehmen. Die angenommenen Diversifikationseffekte eines durchschnittlichen Versicherers passen beispielsweise kaum für die realen Effekte einer Captive. Für Captives wird derzeit dennoch ausnahmslos die Standardformel verwendet, da die Entwicklung und Genehmigung eines internen Modells selbst für große Captives meist zu aufwendig ist und weitestgehend die notwendige Datenlage nicht vorhanden ist. Zudem wird die Berechnung versicherungstechnischer Rückstellungen definiert. Die zweite Säule legt das notwendige Governance-System für eine Versicherungsgesellschaft fest. Dabei handelt es sich um ein dreistufiges Sicherungssystem, welches eine Angemessenheit der Geschäftspraktiken sicherstellen soll. Die erste Stufe bilden hierbei die operativen Organisationseinheiten, die die Verantwortung für ihre eigenen Ergebnisse tragen und ihre Risiken individuell bewerten. Die zweite Stufe legt die Rahmenbedingungen für die Erstellung des Risikoprofils und der Risikostrategie des Unternehmens fest und führt die Einzelrisiken zusammen. In die zweite Stufe fallen die Risikomanagement-Funktion, die Compliance-Funktion und die versicherungsmathematische Funktion. Neben einem angemessenen Risikomanagement erfordert die zweite Säule auch das Vorhandensein von Notfallplänen, sodass in Ausnahmesituationen wie zum Beispiel während einer Pandemie die Arbeitsfähigkeit der Gesellschaft sichergestellt ist oder kurzfristig wiederhergestellt werden kann. Die dritte Stufe überwacht die Angemessenheit des Risikomanagementsystems und stellt sicher, dass das System unternehmensweit genutzt und eingehalten wird. Diese Aufgabe übernimmt die interne Revision. Auf die Funktionen wird in Abschn. 10.4 detailliert eingegangen. Die zweite Säule schreibt außerdem die Rahmenbedingungen des Own Risk and Solvency Assessments (ORSA). Das ORSA dient der Analyse und Bewertung des unternehmenseigenen Risikos und der entsprechenden Risikokapitalanforderungen. Die dritte Säule des Governance-Systems legt sowohl die Informationspflichten der Captives gegenüber der Aufsicht als auch gegenüber der Öffentlichkeit fest. Die Veröffentlichungspflichten gegenüber der Öffentlichkeit erfolgen mit dem Solvency and Financial Condition Report (SFCR). Der Report beschreibt die Charakteristik und die wirtschaftliche Lage der Captive und macht Aussagen zur Organisation. Das kontinuierliche Reporting an die Aufsicht erfolgt über den Bericht über das ORSA, das Regular Supervisory Reporting (RSR) und die Quantitative Reporting Templates (QRT). Zur einheitlichen Beaufsichtigung wurde die European Insurance and Occupational Pensions Authority (EIOPA) gegründet. Die EIOPA soll insbesondere für eine europaweit möglichst einheitliche Auslegung der Leitlinien von Solvency II sorgen, um grenzübergreifend agierende Versicherungsunternehmen besser überprüfen können. Zwar soll unter Solvency II der Grundsatz der Proportionalität (vgl. § 296 VAG) gelten, wonach die Anwendung der Vorschriften der Komplexität des Geschäfts Rechnung tragen

10  Erst- und Rückversicherungs-Captives

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soll, doch erlaubt dies nach der Auslegung der Aufsicht kein Entfallen einzelner Vorschriften, sofern keine gesetzliche Ausnahmeregelung besteht. Dies führt im Ergebnis dazu, dass Captives aufgrund ihrer Größe und Mitarbeiteranzahl besonders mit den kurzen Berichtszyklen zu kämpfen haben und auch die Anwendung der Standardformel regelmäßig in der Kritik steht. Die durch Solvency II vorgeschriebenen Rahmenrichtlinien für den Betrieb eines Versicherungsunternehmens wurden in Deutschland mit der Neufassung des Versicherungsaufsichtsgesetzes zum 01.01.2016  in Kraft gesetzt. Die Einhaltung der Richtlinien und kontinuierliche Überwachung der Versicherungsunternehmen wird in Deutschland durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sichergestellt. Die BaFin überwacht alle Erst- und Rückversicherer mit inländischem Geschäftssitz. Versicherungsunternehmen aus anderen Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums, die mittels Dienstleistungsverkehr Geschäft in Deutschland betreiben, werden jeweils von der Aufsicht des Mitgliedsstaates überwacht.

10.3.3 Lizenzierung Zum Betrieb einer Versicherungsgesellschaft bedarf es der Erlaubnis durch die Versicherungsaufsichtsbehörde (§ 8 Abs. 1 VAG). Um eine Erlaubnis zu erhalten, muss zunächst ein Antrag auf Erlaubnis gestellt werden. Die Kosten des Zulassungsverfahrens für eine Erst- oder Rückversicherung AG belaufen sich derzeit auf 10.000 €. Die BaFin weist auf ihrer Website ausdrücklich darauf hin, dass es für eine Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens vorteilhaft ist, vorprüfungsfähige Unterlagen zweifach vorzulegen. Ebenso empfiehlt die BaFin, Entwürfe von Unternehmens- und Ausgliederungsverträgen frühzeitig zur Prüfung einzureichen.

10.3.3.1 Erstversicherungs-Captive Neben dem Antrag ist der Geschäftsplan einzureichen. Dieser muss hinreichend darlegen, welchem Zweck die Gesellschaft dienen soll. Der Unternehmenssitz sowie alle Gebiete, in denen das Geschäft betrieben werden soll, sind zu benennen (§ 9 Abs. 1 VAG). Sofern sich der angedachte Geschäftsbetrieb mittels Dienstleistungverkehr auch auf andere Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums erstrecken soll, so sind hierfür ebenfalls die geplanten Versicherungssparten und Risiken zu benennen (§ 59 VAG). Gegebenenfalls ist die Risikozeichnung im Ausland den dortigen Aufsichtsbehörden ebenfalls anzuzeigen. Sollen Pflichtversicherungen gezeichnet werden, können sich weitere Verpflichtungen ergeben. Beispielsweise müssen bei Kraftfahrthaftpflichtversicherungen Beauftragte für Schadenregulierung im jeweiligen Land benannt werden. Für Erstversicherungsgesellschaften umfasst eine Erlaubnis nur die beantragten Versicherungssparten, wobei eine Lizenz für die Lebens- oder Krankenversicherung eine Zulassung für eine weitere Sparte ausschließt. Außerdem ist mitzuteilen, wenn der Versiche-

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J. Herold und D. Schilling

rungsschutz nur für einen bestimmten Personenkreis angeboten werden soll. Dies kann bei Captives die Beschränkung auf verbundene Unternehmen sein. Die geplante Struktur der der Captive ist unter Bezugnahme auf die jeweilige Sparte und Vertragsart ebenfalls anzugeben. Die Captive muss zum Zeitpunkt der Zulassung bereits über die notwendigen anrechenbaren Eigenmittel zur Erfüllung der Mindestkapitalanforderungen verfügen. Zur Bestimmung dieser Eigenmittel wird eine Schätzung der ersten drei Geschäftsjahre erstellt. Basierend auf dieser Schätzung werden Bilanzen, Gewinn-und-Verlust-Rechnungen erstellt, die sowohl den Aufwand für den Geschäftsbetrieb als auch die Aufwendungen für Versicherungsfälle enthalten. Aus diesen Daten werden anschließend die Solvenzkapitalund Mindestkapitalanforderungen errechnet. Die absoluten Mindestkapitalanforderungen für Erstversicherung-Captives belaufen sich auf 2,5 Mio. € beziehungsweise 3,7 Mio. €, sofern Haftpflicht- oder Kreditversicherungsgeschäft betrieben werden soll (§ 122 VAG). Die Erstversicherungs-Captive muss bei der Beantragung der Zulassung ebenfalls über einen ausreichenden Organisationsfonds verfügen. Dieser muss ausreichend groß sein, um die Fixkosten zum Aufbau und Betrieb des Versicherungsgeschäfts in den ersten drei ­Jahren decken zu können. Hierunter fallen die Kosten für die Zulassung, Ausstattung von Büroräumen, Personalkosten sowie der Aufwand für den Betrieb des Geschäfts und für die fachliche Weiterbildung der Mitarbeiter. Der Organisationsfonds sollte zwischen 500.000 € und 1,5 Mio. € betragen, um alle Kosten decken zu können (vgl. BaFin Merkblatt 2016). Weiterhin sind der Antrag zur Genehmigung der Satzung, in Form eines notariell beglaubigten Protokolls der Hauptversammlung, in der die Satzung beschlossen wurde, sowie eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der zuständigen Industrie- und Handelskammer einzureichen. Für die Organ-Funktionen der Gesellschaft, also den Vorstand, Aufsichtsräte, andere unternehmensleitende Personen und die Schlüsselfunktionen, ist die fachliche Eignung nachzuweisen. Dies setzt berufliche Qualifikation, den Nachweis von Kenntnissen und Erfahrungen für eine solide und umsichtige Leitung des Unternehmens voraus. Ebenfalls sind theoretische und praktische Kenntnisse des Versicherungsgeschäfts sowie gegebenenfalls Leitungserfahrungen einer mindestens dreijährigen leitenden Tätigkeit in einem vergleichbaren Versicherungsunternehmen erforderlich (§ 24 VAG). Auch die fachliche Qualifikation des sonstigen Personals muss der Aufsicht in Anzahl der Personen und Qualifikation gemeldet werden. Einzureichen sind ebenfalls Unternehmens- und Ausgliederungsverträge, wobei sichergestellt werden muss, dass die Captive ihren Geschäfts- und Kontrollpflichten dauerhaft nachkommt.

10.3.3.2 Rückversicherungs-Captives Die Voraussetzungen für die Lizenzierung einer Rückversicherungs-Captive sind in weiten Teilen ähnlich zur Lizenzierung einer Erstversicherungs-Captive. Die Anforderungen wurden bereits im vorherigen Abschnitt besprochen, sodass hier nur auf die Besonderheiten und Abweichungen eingegangen wird.

10  Erst- und Rückversicherungs-Captives

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Abweichend von der Erstversicherungslizenzierung, müssen neben der Art des in Rückdeckung genommenen Geschäfts auch die Angaben zur Art der Rückversicherungsverträge gemacht werden. Hierbei ist zu benennen, ob es sich um proportionales, nichtproportionales oder fakultatives Rückversicherungsgeschäft handelt. Als proportionale Rückversicherung wird die anteilige Abgabe eines Risikos an einen Rückversicherer bezeichnet. Prämie, Kosten und Schäden werden hierbei anteilig an den Rückversicherer abgegeben. Bei der nichtproportionalen Rückversicherung haftet der Rückversicherer erst für den Schadenaufwand, der einen festgelegten Betrag, die Priorität, übersteigt. Als fakultatives Rückversicherungsgeschäft bezeichnet man die Abgabe einzelner Risiken, bei denen es jeweils einer individuellen Prüfung und Annahme des Risikos bedarf. Analog zur Erstversicherungslizenz sind Angaben zur geplanten Rückversicherung der Captive zu machen. Ergänzend sind ebenfalls Angaben zu geplanten Risikotransfers an den Kapitalmarkt, sogenannte alternative Risikotransfers (ARTs), und der Nutzung von Versicherungszweckgesellschaften erforderlich. Die Ermittlung der notwendigen Eigenmittel zur Erfüllung der Mindestkapitalanforderungen erfolgt für die Rückversicherungs-Captive ebenfalls auf Basis der versicherten Risiken (§  122 VAG). Allerdings liegt die absolute Mindestkapitalisierung für ­ Rückversicherungs-­Captives bei 1,2 Mio. € (vgl. BaFin 2017).

10.3.4 Abwicklung Ein wichtiger Aspekt, der bereits bei der Gründung einer Captive bedacht werden muss, ist die Abwicklung der Gesellschaft, falls das Versicherungsgeschäft eingestellt werden soll. Die Schließung einer Versicherungsgesellschaft kann erst dann erfolgen, wenn keine Haftungen mehr bei ihr verbleiben. Besonders bei der Übernahme von Haftpflichtrisiken können auch nach mehreren Jahren noch neue Schäden gemeldet werden. Bei der Abwicklung gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Erst- und Rückversicherungs-Captive. Bei der Abwicklung einer Erstversicherungs-Captive muss der Vertragspartner des Versicherungsnehmers ausgetauscht werden. Dies muss jedem Versicherungsnehmer bekannt gemacht werden. Besonders bei Captives mit einer hohen Vertragsanzahl ist dies aufwendig. Außerdem bedarf es eines Erstversicherers, der bereit ist, den Bestand aufzunehmen, was sich häufig schwierig gestaltet. Die Abwicklung einer Rückversicherungs-Captive ist deutlich einfacher. Es besteht ebenfalls die Möglichkeit einer Bestandsübertragung an einen anderen Rückversicherer oder Run-off-Dienstleister. Darüber hinaus ist es möglich, den Rückversicherungsvertrag mit dem Fronter gegen Zahlung einer Ablösesumme zu beenden. Der Fronter erklärt sich dann in einem zusätzlichen Vertrag bereit, die Rückversicherungs-Captive von allen Haftungen freizustellen.

228

J. Herold und D. Schilling

10.3.5 Fronting Eine Erstversicherungs-Captive kann, wie bereits beschrieben, eigenständig Versicherungsgeschäft zeichnen. Allerdings beschränkt sich diese Möglichkeit auf den Geltungsbereich der erworbenen Erlaubnis durch die Aufsicht. Innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums kann eine Erstversicherungs-Captive mittels der Dienstleistungsfreiheit grenzüberschreitend Risiken versichern. Für diese Risiken agiert die Captive wie ein normaler Versicherer. Die Erstellung von Policen, das Inkasso von Prämie, die Abführung von Steuern und die Bearbeitung von Schäden erfolgen durch die Captive. Sofern Versicherungsrisiken außerhalb dieses Raumes belegen sind, können diese in den meisten Fällen nur mit einer Zulassung im jeweiligen Land und zum Teil auch nur mithilfe einer lokalen Einheit vor Ort versichert werden. Für die Versicherung eines großen internationalen Versicherungsprogramms werden also eine Vielzahl an Versicherungslizenzen benötigt. Allein die Aufwände für die jeweiligen Lizenzierungsverfahren und notwendigen Berichte an die lokalen Aufsichten machen es für eine Captive in großen Konzernen unmöglich, weltweit in allen relevanten Ländern lizenziert zu sein. Um dennoch Versicherungsschutz für alle weltweiten Standorte gewähren zu können, bedienen sich Captives eines Fronters. Ein Fronter (vgl. Abb. 10.1) ist eine Versicherungsgesellschaft, die über Lizenzen zum Betrieb des Versicherungsgeschäfts in vielen Ländern verfügt. Große Versicherungsgesellschaften verfügen häufig über viele Lizenzen und haben sich darüber hinaus ein Netzwerk an Partnern aufgebaut, um weltweit Versicherungsschutz gewähren zu können. Der Fronter zeichnet die lokalen Versicherungspolicen mithilfe seiner Lizenzen, bündelt diese und rückversichert alle Risiken anschließend entweder teilweise oder vollständig bei der Captive. Rückversicherungs-Captives können im Gegensatz zu Erstversicherungs-Captives keine Erstversicherungspolicen ausstellen und ­benutzen daher einen oder mehrere Fronter für ihr gesamtes Geschäft. Sie erhalten das Versicherungsgeschäft ausschließlich auf dem Rückversicherungswege. Die RückversiLokale Gesellschaften

Service-Einheit

Multinationaler Aggregator

Lokale Police

Kunde (USA)

Captive

Fronter (USA) Lokale Police

Kunde (BRA)

Fronter (BRA)

Versicherungsunternehmen mit weltweiter Zulassung

Lokale Police

Kunde (CHN)

Fronter (CHN)



Prämienzahlung Schadenzahlung

Abb. 10.1  Beispielhafte Darstellung einer Fronting-Struktur. (Quelle: eigene Darstellung)

10  Erst- und Rückversicherungs-Captives

229

cherungs-Captive muss ihrerseits nur einen Rückversicherungsvertrag mit dem Fronter schließen. Der Fronter übernimmt das Ausstellen der Erstversicherungsverträge, die Abführung der Versicherungsteuer und auch die Schadenbearbeitung. Somit kann eine Rückversicherungs-Captive mit deutlich weniger Personaleinsatz betrieben werden als eine Erstversicherungs-Captive. Der Fronter erhält für diese Dienstleistung eine Rückversicherungsprovision, die maßgeblich dem Ausgleich entstandener administrativer und bilanzieller Kosten dient. Zu den administrativen Aufwänden zählen ebenfalls die Policierung, das Inkasso und die Schadenbearbeitung. Die bilanziellen Kosten entstehen zum einen durch die Kosten, die dem Fronter für die Bereitstellung der nach Solvency II notwendigen Eigenmittel entstehen, zum anderen durch die Kosten für das Kreditausfallrisiko gegenüber der Captive. Beide Kostenbestandteile sind maßgeblich vom Rating der Captive abhängig und können, da viele Captives kein Rating besitzen, sehr hoch sein. Je nach Höhe der gefronteten Haftungen und der Kapitalisierung kann der Fronter neben der Rückversicherungsprovision auch auf eine Besicherung bestehen. Diese kann beispielsweise in Form einer Bankbürgschaft, einer Patronatserklärung oder einer Freistellungserklärung der Muttergesellschaft erfolgen. Diese Besicherungen werden vom Fronter zur Reduktion des unter Risiko stehenden Geschäfts genutzt. Sie bieten neben der Kapitalstärke der Captive eine weitere Sicherheit im Falle eines Ausfalls der Captive hervorgerufen z.B. durch Schadenfälle, finanzielle Schieflage des Mutterkonzerns oder Wertverluste bei den Anlagen.

10.4 Organisation Die Aufbauorganisation einer Captive (vgl. Abb. 10.2) ist weitestgehend frei gestaltbar, doch muss sie stets der Komplexität und der Höhe der eingegangenen versicherungstechnischen Risiken und den Arten der Kapitalanlage angemessen sein (vgl. BaFin 2021).

Chief Underwriting Officer

IT

Chief Financial Officer

Investmentmanagement

Technical Accounting

Chief Risk Officer

Financial Accounting

Steuer

Reservierung Solvency II

Versicherungsmathematische Funktion

Funktion der Internen Revision

ComplianceFunktion

Aktuarielles Pricing

Investment Unterstützung

Solvency II Schlüsselfunktionen

RisikomanagementFunktion

Erste Verteidigungslinie

Zweite Verteidigungslinie

Dritte Verteidigungslinie

Abb. 10.2  Beispielhafte Darstellung eines Captive-Organigramms. (Quelle: eigene Darstellung)

230

J. Herold und D. Schilling

Diese Freiheit beschränkt Solvency II mit der klaren Trennung von Verantwortlichkeiten und dem Bedarf der vier unabhängigen Schlüsselfunktionen (1) unabhängige Risikomanagement-­Funktion, (2) Compliance-Funktion, (3) Versicherungsmathematische Funktion und (4) interne Revision. Die Risikomanagement-Funktion unterstützt die Captive-Organfunktionen „bei der effektiven Handhabung des Risikomanagementsystems“ (Art 269 Delegierte Verordnung (EU) 2015/35), überwacht den Risikomanagementprozess im Allgemeinen und berät in Fragen des Risikomanagements. Der Risikomanagementprozess beinhaltet die Erarbeitung und jährliche Aktualisierung einer Risikostrategie (vgl. § 26 Abs. 2 VAG). Diese legt den Risikoappetit und den grundsätzlichen Umgang mit Risiken fest. Die Risikostrategie der Captive sollte sich maßgeblich an die Risikostrategie des Mutterkonzerns anlehnen, da der Captive im Risikomanagement der Mutter häufig eine zentrale Rolle zukommt. Die Compliance-Funktion (Art 270 Delegierte Verordnung (EU) 2015/35) stellt die Compliance-Politik und einen Plan zu deren Umsetzung auf. Dabei wird festgelegt, ­welche Zuständigkeiten und Befugnisse der Compliance-Funktion zufallen. Kernaufgabe ist es, die Einhaltung rechtlicher Bestimmungen sicherzustellen, die Organfunktionen der Captive in Compliance-Fragen zu unterstützen und die „getroffenen Maßnahmen zur Verhinderung einer Non-compliance“ zu bewerten (Art 270 Abs.  2 Delegierte Verordnung (EU) 2015/35). Wesentlich sind hierbei besonders Fragestellungen aus der Steuer- und Rechts-Compliance. Die versicherungsmathematische Funktion (Art 272 Delegierte Verordnung (EU) 2015/35) koordiniert die Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellung und überprüft dabei besonders die Qualität der verwendeten Daten, die Angemessenheit der getroffenen Annahmen und bewertet die verwendeten Verfahren insbesondere hinsichtlich möglicher Unschärfen. Die versicherungsmathematische Funktion nimmt darüber hinaus Stellung zur Hinlänglichkeit der Versicherungsprämien zur Bedeckung zukünftiger Ansprüche auch unter Einbeziehung der Effekte durch Rückversicherungsverträge. Alle Erkenntnisse berichtet die versicherungsmathematische Funktion an die Captive-­ ­ Organfunktionen. Die Funktion der internen Revision (Art 271 Delegierte Verordnung (EU) 2015/35) überwacht in regelmäßigen Abständen sämtliche Tätigkeiten innerhalb der Captive und auch das gesamte Governance-System. Hierzu plant und setzt die Funktion das Revisionsprogramm um, indem die Tätigkeiten der Revision für das kommende Jahr festgelegt sind. Anhand der Ergebnisse der Prüfungen gibt die interne Revision Empfehlungen zur Verbesserung und stellt diese mindestens einmal im Jahr in einem Bericht an die Organ-­ Funktionen der Captive zusammen. Jede Captive braucht diese Schlüsselfunktionen, allerdings ist es für die meisten Captives unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten unmöglich, diese vier Schlüsselfunktionen selbstständig vorzuhalten. Da außerdem viele Funktionen nicht in Vollzeit benötigt werden, werden diese häufig an Dienstleister ausgelagert. Zum Outsourcen von Funktionen muss zunächst schriftlich eine Outsourcing-Politik festgelegt werden, welche sowohl die Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit als auch

10  Erst- und Rückversicherungs-Captives

231

die notwendigen Berichts- und Überwachungsmechanismen für das Outsourcing festlegt. Für gruppeninterne Outsourcings, wie zum Beispiel das Auslagern der Funktion der internen Revision durch die interne Revision der Muttergesellschaft, müssen im Rahmen der Möglichkeiten Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität getroffen werden. Bei der Funktionsauslagerung an gruppenfremde Dienstleister müssen die Organfunktionen ebenfalls sicherstellen, dass der ausgewählte Dienstleister über die notwendigen Kenntnisse, Fähigkeiten und falls nötig über die gesetzlich notwendigen Genehmigungen verfügt, um die Tätigkeit auszuführen. Darüber hinaus müssen vertraglich alle Rechte und Pflichten zwischen der Captive und dem Dienstleister vereinbart sein. Weiterhin müssen mögliche Interessenkonflikte und die Einhaltung des Datenschutzes überprüft werden. Für das Outsourcing von Schlüsselfunktionen ist darüber hinaus sicherzustellen, dass relevante Elemente des Risikomanagementsystems und internen Kontrollsystems des Dienstleisters der zu erfüllenden Dienstleistung angemessen sind und den Standards beider Systeme der Captive entsprechen (vgl. Art 274 Delegierte Verordnung (EU) 2015/35). Hierzu wird eine Organfunktion als Ausgliederungsbeauftragter für eine Schlüsselfunktion benannt und stellt für diese sicher, dass die notwendigen Standards eingehalten sind. Im Konzernverbund des Industrieunternehmens fügt sich die Captive als verbundenes Unternehmen ein. Captives bedienen sich mittels Dienstleistungsverträgen der Konzernressourcen zum Beispiel aus der Konzernsteuerabteilung. Bilanziell werden die Geschäftsergebnisse der Captive im Konzernabschluss konsolidiert.

Literatur BaFin – Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2016): Betrieb des Rückversicherungsgeschäfts im Inland durch Versicherer mit Sitz in Drittstaat, https://www.bafin.de/dok/8212150 BaFin  – Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2016): Merkblatt zur Zulassung von Versicherungs-­Aktiengesellschaften zum Betrieb der Schaden- und Unfallversicherung, https:// www.bafin.de/dok/8689816 BaFin  – Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2017): Merkblatt zur Zulassung von Versicherungs-­Aktiengesellschaften zum Betrieb der Rückversicherung, https://www.bafin.de/ SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Merkblatt/VA/mb_080122_rueckvuzulassung_va.html BaFin – Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2021): Governance, https://www.bafin.de/ dok/7851404

Julian Herold  begann seine berufliche Karriere als Mitarbeiter des Geschäftsfelds bei der HDI Global SE im Jahr 2014, wo er in der Entwicklung und Steuerung des Großkundengeschäfts arbeitete. Anschließend leitete er ein digitales Projekt und wirkte an dem Aufbau eines Innovationsmanagements mit. Zwischen Anfang 2019 und Mitte 2022 betreute er in der Rolle des Captive Portfolio Managers die weltweiten Captivefrontings der HDI Global SE. Seit Mitte 2022 arbeitet er als Captive Fronting Solutions Coordinator bei der Chubb European Group SE. Die Inhalte geben die Meinung des Autors und nicht die Meinung der Chubb European Group SE, Direktion für Deutschland („Chubb“) wieder. Chubb übernimmt keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der bereitgestellten Inhalte. Die Nutzung der Inhalte erfolgt auf eigene Gefahr des Lesers.

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J. Herold und D. Schilling

Dr. Dirk Schilling  ist als Leiter Guidance und Captive Services bei der HDI Global SE tätig. Er verantwortet derzeit die Weiterentwicklung der fachlichen UW- und Claims Governance und Infrastruktur sowie das Qualitätsmanagement für Captive-Verbindungen der Gesellschaft. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und einer Promotion zu verschiedenen Themen der Finanzwirtschaft an der Universität Hamburg, begann er seine berufliche Karriere bei der HDI Global SE als Vorstandsassistent im Jahr 2011. Nach einer zweijährigen Tätigkeit als Haftpflicht-Underwriter in London war er ab 2016 verantwortlich für die Entwicklung und Steuerung des deutschen Großkundengeschäfts und für den Ausbau der Captive-Services-­Abteilung. Im Jahr 2017 folgte die Verantwortung für Governance in der Haftpflichtsparte. Daran schloss sich 2019 die heutige Tätigkeit an. Dr. Dirk Schilling verfügt über umfassende Erfahrungen in der Industrieversicherung, insbesondere über die Anforderungen an komplexe Eigentragungs- und Risikotransferstrukturen sowie über Prozesse und Governance im Underwriting.

Rent-a-Captive, Protected Cell Company, Virtual Captive

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Olaf Keller und Holger Sommerfeld

Inhaltsverzevichnis 11.1  Einleitung  11.2  Rent-a-Captive  11.3  Protected Cell Company  11.4  Virtual Captive  11.5  Motivation PCC (RaC)/Virtual Captive vs. Eigentragung auf der Bilanz  11.6  Zusammenfassung  Literatur 

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Zusammenfassung

Neben einer eigenen Captive (einer firmeneigenen Versicherungsgesellschaft) können weitere Captive-Formen wie Rent-a-Captive, Protected Cell Company und Virtual Captive als alternative Risikofinanzierungsinstrumente dienen. Diese bieten Unternehmen die Möglichkeit, ihr Risikomanagement zu optimieren, wenn die Gründung einer eigenständigen Captive zu aufwendig ist. In der Regel ist die Motivation des Einsatzes solcher alternativen Strukturen eine höhere Eigentragung, die aus einer finanziellen Vorteilhaftigkeit oder der Nichtverfügbarkeit von Versicherungskapazitäten resultieren kann. Allerdings sollen eventuelle Effekte auf die eigene Bilanz bzw. Gewinn-und-­Verlust-­ Rechnung geglättet werden – mit dem Effekt einer reduzierten Volatilität von Erfolgs-

O. Keller (*) · H. Sommerfeld Marsh GmbH, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_11

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O. Keller und H. Sommerfeld

kennzahlen. Üblicherweise werden dabei klassisch transferierbare Versicherungsrisiken berücksichtigt. Welche der im folgenden Beitrag dargestellten Formen (alternativ zur Eigentragung auf der Bilanz oder der Gründung einer eigenen Captive) von dem einzelnen Unternehmen zu präferieren ist, hängt im Wesentlichen von Faktoren ab wie der Unternehmensstruktur und -größe, der eigenen Risikostruktur, der Risikophilosophie (Risikopolitik, Risikotragfähigkeit und -bereitschaft), der individuellen Einschätzung des Risikos im Abgleich mit der Einschätzung des Marktes sowie der eigenen Schadenerfahrung.

11.1 Einleitung Bei einer Captive Insurance Company (kurz Captive) handelt es sich um eine konzerneigene Versicherungsgesellschaft. Eine Captive ist in der Regel eine Tochtergesellschaft eines Unternehmens und widmet sich als Selbstversicherungsvehikel der Risikofinanzierung des Konzerns bzw. des Eigentümers. Die Gründung und Unterhaltung einer eigenständigen Captive erfordert einen wesentlichen Einsatz von Ressourcen, insbesondere hinsichtlich des Managements oder der Bereitstellung von Kapital. Aus diesem Grund ist eine eigene Captive speziell für kleinere Unternehmen nicht unbedingt geeignet. Aber auch für große Unternehmen hat sich durch die Einführung von Solvency II im Januar 2016 der mit einer Captive verbundene Aufwand (Management, Kapitaleinsatz und Kosten) nochmals wesentlich vergrößert – sodass sich hinsichtlich Kosten-Nutzen-­Gesichtspunkten vermehrt die Frage stellt, ob das Neugründen und/oder Betreiben einer eigenständigen Captive sinnvoll ist. Wollen sich Unternehmen aber trotzdem über den reinen Risikotransfer hinausgehend (Versicherung) mit alternativen Formen der Risikofinanzierung beschäftigen, ist die Gründung einer eigenen Captive aus den oben aufgeführten Gründen aber nicht sinnvoll, existieren noch „Zwischenformen“. Hierbei handelt es sich primär um eine Rent-a-Captive, eine Protected Cell Company sowie eine Virtual Captive. Diese können in variierenden Ausprägungen Vorteile einer Captive wie Steuerung von Selbstbehalten konzerneigener Töchter, Verfügbarkeit und Auswertung von Schadendaten, Verbesserung des Risikomanagements, der Bildung von versicherungstechnischen Rückstellungen etc. abbilden. Alle drei Formen haben gemeinsam, dass es sich um von Dritten bereitgestellte Strukturen handelt, derer sich ein Unternehmen bedienen kann, ohne eine eigene Gesellschaft gründen zu müssen. Im Folgenden werden diese drei alternativen Formen einer Captive hinsichtlich Struktur, Gesellschaftsformen, Anbietern sowie Vor- und Nachteilen dargestellt.

11.2 Rent-a-Captive Eine Rent-a-Captive ist eine Captive-Versicherungsgesellschaft, die von unabhängigen Versicherten genutzt beziehungsweise „gemietet“ werden kann. Sie ermöglicht den versicherten Unternehmen, die Vorteile einer Captive-Versicherung zu nutzen, ohne tatsächlich am Eigentum oder Management der Captive-Versicherungsgesellschaft beteiligt zu sein.

11  Rent-a-Captive, Protected Cell Company, Virtual Captive

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Der Betreiber (Sponsor) gründet eine eigenständige Legal Entity. Diese setzt sich zusammen aus einem Kern und aus mehreren Accounts beziehungsweise Zellen. Der Betreiber bringt hierbei das gesetzlich geforderte Kapital (auch als „Kernkapital“ bezeichnet) ein und stellt beziehungsweise organisiert das Management und alle Funktionen (Risk Management, Compliance, Actuarial and Internal Audit). Zusätzlich werden die notwendigen Dienstleistungen wie der Erstellung von Deklaration, Policierung, Fiduciary, Claims Handling und Reporting bereitgestellt. Den Mietern gegenüber wird für die Gründung, die Verwendung des eingebrachten Kapitals, die Organisation und den Betrieb der Rent-a-­Captive lediglich eine Gebühr erhoben. Nach außen erscheint das Vehikel als eine Gesellschaft, und alle Vermögenswerte, sowohl im Kern als auch in den einzelnen Zellen, stehen grundsätzlich zur Befriedigung von Ansprüchen Dritter zur Verfügung. Dies kann dazu führen, dass auf andere Vermögenswerte der Rent-a-Captive zugegriffen wird, wenn im Falle eines sehr schlechten Schadenverlaufs einer Zelle die Muttergesellschaft (der Mieter) nicht in der Lage ist, den notwendigen Nachschuss zu leisten. Damit existiert eine gegenseitige Haftung der verschiedenen Mieter und des Betreibers. Im Worst Case kann dies zum Konkurs der Rent-a-Captive führen (vgl. Abb. 11.1; vgl Wöhrmann und Bürer 2001). Der Mieter zahlt neben der Gebühr/Miete eine marktübliche Prämie inklusive Versicherungsteuer an die Rent-a-Captive, in der Regel dem Versicherer, der diese betreibt, oder an einen separaten Fronter. Die Prämie wird dann an den Rent-a-Captive Layer weitergegeAbb. 11.1 Rent-a-Captive. (Quelle: eigene Darstellung)

U1

U2

Gebühr

Erstversicherer (Fronter)

Konto U1

Konto U…

Konto U2

Konto Un

Eigentümer der RaC

Versicherungsschutz

Prämie

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O. Keller und H. Sommerfeld

ben. Das Unternehmen erlangt dafür Versicherungsschutz und im Falle eines versicherten Schadens eine entsprechende Schadenzahlung. Erwirtschaftet die Zelle aufgrund eines guten Schadenverlaufs Gewinne, stehen diese dem Versicherungsnehmer zur Verfügung, kommt es durch einen negativen Schadenverlauf zu Verlusten, löst dies Nachschussverpflichtungen seitens des VNs aus. Rent-a-Captives werden von unterschiedlichsten Organisationen gegründet und bereitgestellt: • Eine große Versicherungs- oder Rückversicherungsgesellschaft gründet eine Rent-a-­ Captive und stellt diese dann den Versicherungsnehmern zur Verfügung. Die Mieter nehmen in der Regel dann auch deren Dienste hinsichtlich der Ausstellung von Policen sowie dem Schadenhandling in Anspruch. Meistens kauft der Versicherungsnehmer auch den über die Rent-a-Captive-Struktur hinausgehenden Versicherungs- und Rückversicherungsschutz über den Betreiber ein. • Ein großer Versicherungsmakler kann eine Rent-a-Captive gründen und zur Miete zur Verfügung stellen, wenn der Versicherte den Versicherungsschutz über diesen Makler einkauft. In dem Fall handelt es sich dann in der Regel um einen Layer des Versicherungsprogrammes, aber auch unabhängig davon ist eine Stand-alone-Lösung vorstellbar. In letzterem Fall erfolgt der Einkauf des Versicherungs-/Rückversicherungteils separat. • Kapital- und/oder Investmentgesellschaften können eine unabhängige Rent-a-Captive einrichten, die es einem Mieter ermöglicht, seine Versicherungsprogramme mithilfe eines Maklers, Versicherers, Rückversicherers oder eines anderen Dienstleisters seiner Wahl zu strukturieren. Hier liegt die Motivation des „versicherungsfernen“ Gründers primär bei der Bereitstellung des Kapitals. In der strategischen Asset Allocation kann dieser eine höhere Diversifikation in seinem Investitionsportfolio erreichen und damit das Rendite-Risiko-­ Verhältnis optimieren. Für den fortlaufenden Betrieb der Rent-a-­Captive wird in der Regel auf Dienste Dritter, zum Beispiel einem Makler, zurückgegriffen. Rent-a-Captives können so konzipiert werden, dass eine Risikoteilung mit gegenseitiger Haftung und Durchgriffsrechten zwischen den Mietern einer Zelle oder keiner Risikoteilung (Procted Cell Companies – mehr dazu im folgenden Abschnitt) gegeben ist. Wenn Risikoteilung gegeben ist, ähnelt die Teilnahme an einer Rent-a-Captive-Einrichtung weiterhin dem Abschluss einer Versicherung bei einem gewerblichen Versicherer, dem Prinzip des Ausgleichs im Kollektiv folgend. Eine reine Rent-a-Captive mit Durchgriffsrechten und gemeinschaftlicher Haftung in Höhe der eingezahlten Prämie zwischen den Zellen wird daher in den meisten Fällen durch einen Versicherer oder Rückversicherer bereitgestellt. Für Unternehmen, die unabhängiger vom Kollektiv agieren und sich somit der Grundidee einer eigenständigen Captive weiter nähern wollen oder für die die eventuelle Mithaftung für Dritte absolut nicht akzeptabel ist, ist eine Protected Cell Company die zu prüfende Option.

11  Rent-a-Captive, Protected Cell Company, Virtual Captive

237

11.3 Protected Cell Company Für eine Rent-a-Captive ohne Durchgriffsmöglichkeit zwischen den einzelnen Zellen existieren viele Synonyme, die abhängig von den jeweiligen Rechtsnormen in den entsprechenden Domizilen Verwendung finden: Segregated Accounts Companies (SACs), Incorporated Cell Companies (ICCs), Segregated Portfolio Companies (SPCs) und Protected Cell Companies (PCCs). Mehr als dreißig Domizile weltweit erlauben es, entsprechende Gesellschaften zu gründen, unter anderen: Bermuda, mehrere US-Staaten inkl. Washington DC & Vermont, Isle of Man, Cayman Islands, Guernsey, Malta und Gibraltar. Alle folgen demselben Konzept und dem sehr vergleichbaren Mechanismus einer rechtlichen Trennung der Programme und der Assets & Liabilities zur Sicherstellung, dass eine schlechte Schadenerfahrung eines Mitglieds keine negativen Auswirkungen auf andere Zellen haben kann. Der Unterschied zwischen der ICC und der PCC beispielsweise ist, dass in der ICC jede einzelne Zelle eine eigene Gesellschaft darstellt (grundsätzlich in Form einer Limited Liability Company LLC), es sich bei der PCC hingegen um eine Gesellschaft handelt, in der die Ansprüche der Zellen untereinander trotzdem voneinander geschützt sind. Theoretisch kann es zu Ansprüchen in Richtung des Kerns kommen – dies wird aber in der Regel durch eine entsprechende Vertragsgestaltung/Pflichten der Mieter verhindert. PCCs können wie Rent-a-Captives durch Versicherungs-/Rückversicherungsunternehmen, Makler, Kapital- und/oder Investmentgesellschaften gegründet werden. Im Folgenden liegt der Fokus auf der Protected Cell Company (vgl. Abb. 11.2), bei der es sich um die global und auch in Europa verbreitetsten Form handelt. „Die PCC-­Gesetzgebung hat ihren Ursprung im Common Law, dass Vertragsklauseln zur Beschränkung der Haftung auf bestimmte innerhalb einer juristischen Person gebildete Haftungsmassen grundsätzlich zulassen. Neu ist, dass mit der PCC eine eigene Gesellschaftsform begründet wurde, in der solche voneinander getrennten Vermögensmassen (nach außen erkennbar) gebildet werden können“ (Pisani und Malta 2011). Die ersten gesetzlichen Rahmenbedingungen für Protected Cell Companies schuf Guernsey im Jahre 1997. Mehrere Staaten und Aufsichtsbehörden folgten dieser Initiative. Die National Association of Insurance Commissioners (NAIC) – die Dachorganisation der einzelstaatlichen Versicherungsaufsichtsbehörden der USA – legte ein Modellgesetz (Protected Cell Companies Model Act) vor, das im Nachgang von einigen Captive-Standorten innerhalb der USA umgesetzt wurde. Guernsey (2001) und Malta (2004) sind die beiden europäischen Domizile mit einer PCC-Gesetzgebung (vgl. Pisani und Malta 2011). Eine PCC kann sowohl als Erstversicherungs- als auch als Rückversicherungs-Captive agieren. Bei einer Rückversicherungs-Captive übernimmt ein Fronter die Ausstellung von Versicherungsbestätigungen, die Prämienrechnungen, das Schadenhandling etc., was sonst der Betreiber der Captive abbildet. Die bekannten „Freedom of Service“-Regeln (also die Vorgaben, in welchen Ländern Versicherungsunternehmen direkt Versicherungsgeschäft schreiben dürfen und in welchen Ländern ein Fronter eingesetzt werden muss) sind wesentliche Kriterien bei der Entscheidung, welche Form gewählt wird – diese Überlegungen sind

238

O. Keller und H. Sommerfeld

Abb. 11.2  Protected Cell Company. (Quelle: eigene Darstellung)

U1

U2

Gebühr

Erstversicherer (Fronter)

Zelle U2

Zelle U1 Eigentümer der PCC

KernZelle

Zelle U…

Versicherungsschutz

Zelle Un

Prämie

analog zu denen bei der Gründung einer eigenen Captive. Die PCC ist prinzipiell unabhängig vom Versicherungsprogramm zu sehen, zwar integriert in eine Versicherungsstruktur, aber nicht Teil dieser wie die Virtual Captive. Bei der PCC ist im Gegensatz zur Rent-a-Captive ein Lizenzierungsprozess nötig, da eine bei den Aufsichtsbehörden zu beantragende Gesellschaft gegründet wird. Der Lizenzierungsprozess ist in den unterschiedlichen Domizilen sehr ähnlich. Zunächst wird die Machbarkeit geprüft. Dies erfolgt vergleichbar mit dem Vorgehen bei einer Captive mit der Durchführung einer Machbarkeitsstudie (Feasibility Study), aber in Form einer „Light-Variante“, der Viability Study (siehe unten). Fällt diese positiv aus, stellt das Unternehmen einen Aufnahmeantrag an das Underwriting Committee der PCC. Dieser Antrag beinhaltet einen Businessplan (siehe unten) und eine erste Pro-forma-Finanzplanung. Nachdem das Underwriting der PCC diesen Antrag angenommen hat, beantragt das mietende Unternehmen offiziell den Erhalt einer Versicherungslizenz bei der Versicherungsaufsicht. Ab Erhalt der Versicherungslizenz ist es dann berechtigt, Versicherungsgeschäft zu betreiben. Eine Viability Study ist wie erwähnt weniger umfangreich als eine Feasibility Study für eine Captive. Die Viability Study umfasst folgende Bereiche:

11  Rent-a-Captive, Protected Cell Company, Virtual Captive

• • • • •

239

Analyse und Darstellung der Schadenhistorie Prognose der Prämienentwicklung über mehrere Jahre Finanzplanung (Bilanz und GuV) Berechnung der regulatorischen Kapitalanforderungen Businessplan

Der für jede Zelle zu erstellende Businessplan kann wie folgt strukturiert sein: 1. Einführung 2. Erläuterungen zum Antrag, Besitzverhältnisse und Geschäftsplanung 3. Geschäftsstrategie 4. Organisationsstruktur und Governance 5. Finanzplanung 6. Investitionsstrategie 7. Outsourcing-Vereinbarungen 8. IT-Systeme und Business Continuity Planning Die Kapitalanforderungen an die einzelne Zelle sind durch die jeweiligen aufsichtsrechtlichen Bestimmungen des Domizils geregelt und grundsätzlich die gleichen wie bei einer eigenständigen Captive. In der EU gilt somit auch für PCCs Solvency II als Grundlage: Das bedeutet, die Berechnung des Kapitalbedarfs (Solvency Capital Requirement „SCR“) erfolgt auf Basis der Standardformel der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung „EIOPA“. Die Anwendung eines internen Modells kommt unter Effizienzgesichtspunkten nicht in Betracht. Unter bestimmten Umständen kann aufgrund der Struktur einer PPC, mit einem kapitalisierten Kern und kapitalisierten weiteren Zellen, der errechnete Kapitalbedarf in einigen Fällen geringer ausfallen. Unabhängig von der nach Solvency II notwendigen Kapitalisierung, wird der Betreiber der PCC die Mieter zu einer „vollen Kapitalisierung“ jeder einzelnen PCC-Zelle verpflichten, um mögliche gegenseitige Durchgriffe – Zelle zu Zelle und Zelle zu Kern – ­auszuschließen. Hierfür werden Bareinlagen, „Letter of Credit“, Parental Guarantees oder der Nachweis eines adäquaten Rückversicherungsschutzes und/oder eines Stop Loss gefordert. Als Mieter einer Zelle hat man grundsätzlich Kontrolle über das Versicherungsgeschäft, das in der Zelle gezeichnet wird, soweit es sich in dem im Vorfeld definierten Rahmen und Umfang befindet. Darüber hinausgehende Veränderungen, wie die Aufnahme zusätzlicher Sparten, eine Änderung des Businessplans, Änderungen in der Ausgestaltung des Rückversicherungsschutzes sowie die Festlegung von Dividenden bedürfen der vorherigen Zustimmung durch den Betreiber der PCC und/oder der lokalen Versicherungsaufsicht. Der Managementaufwand des mietenden Unternehmens ist bei einer PCC vergleichsweise gering, da es sich bei der Zelle nicht um eine eigenständige Gesellschaft handelt. Somit besteht keine Verpflichtung vonseiten des Mieters, Mitglieder im Board zu stellen und nachzuweisen, dass sie die nach Solvency II geltenden „Fit and Proper“-Kriterien (die

240

O. Keller und H. Sommerfeld

fachliche Eignung und die persönliche Zuverlässigkeit grundlegender Organverantwortungen in einem wirksamen Governance-System von Versicherungsunternehmen) erfüllen. Diese regulatorischen Anforderungen werden durch den Vermieter der Cells erfüllt. In einigen Fällen kann es für Unternehmen sinnvoll sein, nicht nur eine, sondern mehrere Zellen zu mieten. Der Grund dafür kann sein, dass es nicht gewünscht ist, Risiken zwischen Tochterunternehmen oder auch Geschäftsbereichen zu teilen, sondern separiert zu belassen, die sonstigen Vorteile einer PCC jedoch nutzen zu wollen. Wie auch eine eigenständige Captive kann eine PCC zur Liquiditätssteuerung im Unternehmen benutzt werden. Der PCC ist es erlaubt, konzerninterne Kredite zu vergeben. Die wesentlichen Unterschiede einer Protected Cell zu einer eigenständigen Captive werden in Tab. 11.1 dargestellt. Tab. 11.1  Gegenüberstellung einer Protected Cell Company und einer eigenständigen Captive Jährliche Kosten

Flexibilität in der Risikoübernahme

Kapitalanforderungen

Gründungsdauer Managementaufwand

Administration

PCC 70–90 Tsd. Euro bei einer Rückversicherungs-PCC ab 150 Tsd. Euro bei Erstversicherungs-PCC Geringere Flexibilität Die Übernahme zusätzlicher Sparten und Limite bedarf der Zustimmung des Boards der PCC

Die Kapitalanforderungen können geringer sein als bei einer eigenen Captive; SCR berechnet sich auf die einzelne Zelle, MCR aber auf die gesamte PCC 6–12 Wochen Weniger Aufwand Der Kern stellt das „Board of Directors“

Captive Ab 150–250 Tsd. Euro

Höhere Flexibilität Die Übernahmen zusätzlicher Sparten und Limite werden selbstständig Top-down vom eigenen Management entschieden Basierend auf Solvency II (EU) beziehungsweise der jeweils gültigen aufsichtsrechtlichen Anforderungen (Offshore)

12–18 Wochen Mehr Aufwand Die Captive fordert ein eigenes „Board of Directors“ und persönliche Präsenz bei Boardmeetings Weniger Admin Mehr Admin Der Kern übernimmt die Die Captive muss alle wesentlichen administrativen Anforderungen nach Solvency II Solvency II-Aufgaben (u. a. ORSA) erfüllen Der Kern stellt die Die Captive erfordert die vier Schlüsselfunktionen nach Solvency II Schlüsselfunktionen und die (Risk Management, Compliance, Genehmigung dieser durch die Audit, Actuarial) Aufsicht Die Captive erfordert quartalsweise/jährliches Reporting an die Aufsicht (Fortsetzung)

11  Rent-a-Captive, Protected Cell Company, Virtual Captive

241

Tab. 11.1 (Fortsetzung) Kontrolle

Konsolidierung

PCC Weniger Kontrolle Geringere operative Kontrolle von Dienstleistern (Manager, Auditor, Aktuare) je Zelle Das Management des Kerns muss dem Businessplan und Dividendenzahlungen zustimmen

Bei der Zelle handelt es sich nicht um eine eigenständige Gesellschaft, somit keine zu konsolidierende Tochtergesellschaft des mietenden Unternehmens ABER: Assets und Liabilities der Zellen werden je mietendes Unternehmen reportet

Captive Mehr Kontrolle Die Aufsicht besteht auf die Verantwortlichkeit des Boards „Top-down-Decision-Approach“ Die Eigentümer der Captive haben die volle Kontrolle über die Investmentpolitik (im Rahmen der regulatorischen Vorgaben) Konsolidierung als Tochterunternehmen

Tabellenfußzeile – bitte überschreiben

11.4 Virtual Captive Der wesentliche Unterschied einer Virtual Captive (vgl. Abb. 11.3) zu den zuvor beschriebenen Konzepten der Rent-a-Captive und der Protected Cell Company ist, dass es sich nicht um eine separate rechtliche Einheit handelt, sondern um einen mehrjährigen Vertrag mit einem lizenzierten Versicherer oder Rückversicherer. Zu diesen zählen ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Swiss Re, Munich Re, HannoverRe, AXA Corso/XL, Allianz, AIG, Tokio Marine. Im Gegensatz zu den Rent-a-Captive-Varianten besteht hier kein Bedarf einer „Up-Front-Kapitalisierung“, sondern es wird auf „das Kapital“ des Versicherers zurückgegriffen. Im Rahmen eines Versicherungsvertrags wird für einen definierten Bereich (Layer) eine direkte Partizipation des Versicherungsnehmers am Schadenverlauf im Vorfeld vertraglich geregelt. Die Partizipation erfolgt in beide Richtungen, sowohl bei einem positiven als auch bei einem negativen Verlauf. Durch die Mehrjährigkeit der Verträge, in der Regel drei bis fünf Jahre mit der Möglichkeit der Verlängerung bei beiderseitiger Zustimmung, kommt es zu einem Ausgleich über die Zeit und einer Glättung der Ergebnisse des Versicherungsnehmers. Beispielhafte Darstellung der Funktionsweise einer Virtual Captive: Ausgegangen wird von einem bestehenden, klassischen Versicherungsprogramm mit einer Nettoprämie von 7 Mio. €, einem Selbstbehalt von 500.000 € und einem Limit von 500 Mio. €. Möglicherweise motiviert durch einen guten Schadenverlauf in den letzten Jahren und dem Vertrauen in einen vergleichbaren Schadenverlauf in den kommenden Jahren, verhandelt das versicherte Unternehmen mit dem Versicherer eine Virtual-­Captive-­Struktur.

242

O. Keller und H. Sommerfeld Limit EUR 500 Mio.

Risikotransfer

EUR 5 Mio. EUR 1 Mio

Account EUR 1 Mio EUR 1 Mio EUR 1 Mio EUR 500 tsd

EUR 1 Mio

Selbstbeteiligung 1

2

3

4

5

t

Abb. 11.3  Virtual Captive. (Quelle: eigene Darstellung)

Ein Teil der Netto-Gesamtprämie von 7 Mio. € wird risikoadäquat dem definierten Virtual Captive Layer zugeordnet, im Beispiel 1 Mio. €, und auf einem virtuellen Konto dem VN gutgeschrieben. Der „Virtual Captive Layer“ ist definiert in Höhe von 5 Mio. €. Oberhalb dieses Layers kommt klassischer Risikotransfer zum Tragen, die 6 Mio. € ­Prämie für den Risikotransfer-Layer werden jährlich bezahlt und in keiner Weise angerechnet. Die Laufzeit des Vertrags liegt bei fünf Jahren. Kommt es während der Laufzeit des Vertrags zu keinem Schaden oberhalb der Selbstbeteiligung von 500.000 €, steht dem Versicherungsnehmer ein „Prämienbonus aufgrund eines positiven Schadenverlaufs“ von 5 Mio. € zu. Kommt es während der Laufzeit zu Schäden, können verschiedene Mechanismen wirken, die es im Vorfeld vertraglich zu definieren gilt: 1) Unterschreitet nach Ablauf der fünf Jahre die Gesamt-Schadenlast im Virtual Captive Layer in Summe den Betrag von 5 Mio. €, verringert sich der „Prämienbonus“ entsprechend der Schadenlast. Tritt ein Schaden in den Anfangsjahren auf, der größer ist als der bis dahin auf dem virtuellen Konto eingezahlte Betrag (zum Beispiel ein Drei-­Millionen-­ Euro-Schaden in Jahr zwei), übernimmt der Versicherer die „Vorfinanzierung“ und somit auch ein potenzielles Kreditrisiko des Versicherungsnehmers. Die Konditionen für die Jahre drei bis fünf bleiben unverändert. 2) Übersteigt die Schadenlast während der fünfjährigen Laufzeit (dies gilt ab dem Jahr eins) den Betrag von 5 Mio. €, können zwei Mechanismen vereinbart werden. Der Versicherungsnehmer kann verpflichtet sein, im Folgejahr eine zuvor verabredete Nachprämie zum Ausgleich der Unterdeckung zu zahlen. Alternativ deckt der Versicherer den Schaden aus der Risikoprämie – die dann aufgrund des höheren Risikos von vornherein größer sein muss, als wenn die Zahlung einer Nachprämie vereinbart ist.

11  Rent-a-Captive, Protected Cell Company, Virtual Captive

243

3) Ist der „Virtual Captive Layer“ wie unter „2)“ dargestellt aufgebraucht, hat der Versicherungsnehmer zunächst keine Deckung mehr für diesen Bereich, die Eigentragung beträgt entsprechend 5,5 Mio. € (Selbstbehalt plus Virtual Captive Layer). Um dies zu vermeiden, kann ein „Deductible-Buy-Back“ (Rückkauf eines höheren Selbstbehalts) gekauft werden. Die Bedingungen dafür können auch schon bei der Strukturierung der Virtual Captive fixiert werden. Die Übernahme des „klassischen“ Risikotransferteils hinter dem Virtual Captive Layer erfolgt in der Regel durch denselben Versicherer, der auch den Virtual Captive Layer bereitstellt – dies muss aber nicht zwangsläufig so sein. Ist der Virtual Captive Layer so strukturiert, dass ein ausreichender Risikoanteil von mindestens 10 % für den Versicherer gegeben ist, können für den Risikotransferteil auch separate Rückversicherungsverträge strukturiert werden.

11.5 Motivation PCC (RaC)/Virtual Captive vs. Eigentragung auf der Bilanz Im Vergleich zu der kostengünstigeren Eigentragung von Risiken auf der eigenen Bilanz sind alle dargestellten alternativen Risikofinanzierungslösungen zunächst mit mehr Kosten und Aufwand verbunden: • • • •

Langwieriger Entscheidungsprozess im Unternehmen Fortlaufend höherer Managementaufwand im Unternehmen Kosten für die Administration und Marge der jeweiligen Anbieter Versicherungsteuer

In Tab. 11.2 werden die wesentlichen Kriterien, die einer solchen Entscheidung zugrunde liegen, gegenübergestellt. Höhere Eigentragung im eigenen Unternehmen durch die ­Zahlung aus dem Cashflow oder zentralen Poolen versus höhere Eigentragung außerhalb der eigenen Bilanz durch eine Virtual Captive oder PCC.

Tab. 11.2  Vergleichende Darstellung der Alternativen Option Zahlung aus dem Cashflow

Beschreibung Zahlung von Schäden im SB durch die jeweilige Geschäftseinheit aus dem Cashflow (wann und in welcher Höhe der Schaden eintritt) Kein formales „Pre-loss-­ Funding“ möglich

Vorteile Kein Administrationsaufwand (Zeit und Kosten) Es fällt keine Versicherungsteuer an auf Schäden im Selbstbehalt Partizipation an einem guten Schadenverlauf

Nachteile Generiert keinen Schutz der Bilanz/GuV Hohe Volatilität im Gewinn und anderen finanziellen Steuerungskennzahlen Keine zentrale Kontrolle der Risiken und Risikoinformationen (Fortsetzung)

244

O. Keller und H. Sommerfeld

Tab. 11.2 (Fortsetzung) Option Virtual Captive

Beschreibung Mehrjahresvertrag mit einem (Rück-)Versicherer mit Partizipation am eigenen Risiko

Vorteile Partizipation an einem guten Schadenverlauf Keine Kapitalisierung erforderlich Glättung des Ergebniseffekts durch Prämienzahlung Protected Regulierte eigene (Rück-) Zentrales „Funding“ der Cell Versicherungsgesellschaft Risikoeigentragung; Company/ Aktiva und Passiva der Zelle Glättung des Ergebnisses RaC sind rechtlich getrennt Budgetsicherheit für Einzelne Zellen sind einzelne lizenziert, die Risiken des VN Geschäftseinheiten und seiner Töchter zu Rechtlich geregelte Form zeichnen des Poolings über Geschäftseinheiten und Ländergrenzen Abbildung auch von Pflichtversicherungen Erhöhte Transparenz über Underwriting-Daten, Risiko- und Schadeninformationen Grundsätzlich nichtversicherbare Risiken können eingebracht werden

Nachteile Partizipation an einem negativen Schadenverlauf, ggf. Verpflichtung zum Nachschuss Langjährige Bindung an den Risikoträger Notwendigkeit der Kapitalisierung Versicherungsteuer und operative Kosten der Zelle Eingeschränkte Auswahl an Domizilen

Tabellenfußzeile – bitte überschreiben

11.6 Zusammenfassung Bei Rent-a-Captives, Protected Cells und Virtual Captives handelt es sich um alternative Risikofinanzierungsformen zwischen einer höheren Eigentragung auf der Bilanz und der aufwendigen Gründung einer eigenen Captive. Auf den in Abb. 11.4 dargestellten Evolutionsstufen von links nach rechts verringert sich die Abhängigkeit vom Versicherungsmarkt und bietet mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten. Dafür steigen der Einsatz von Ressourcen (Managementaufwand und Kapitaleinsatz) und die Komplexität. Die „Zwischenlösungen“ bieten kleineren Unternehmen die Möglichkeit, das eigene Risikomanagement zu optimieren bei gleichzeitig limitierten Investments. Sie können aber auch gleichzeitig für größere Unternehmen als Einstieg in die strukturierte Eigentragung dienen, zu lernen und eventuell zu einem späteren Zeitpunkt ein eigenes Versicherungsunternehmen (Captive) zu gründen.

11  Rent-a-Captive, Protected Cell Company, Virtual Captive KLASSISCHE PROGRAMME/

VIRTUAL CAPTIVE

RENT-A-CAPTIVE/ PROTECTED CELL COMPANY

Risikotransfer

Risikotransfer

Captive-Account

Rent-a-Captive

Selbstbehalt

Selbstbehalt

HOHER SELBSTBEHALT

245 CAPTIVE

€ 250 m

Traditioneller Risikotransfer

Risikotransfer

€ 20 m

€ 10 m

Selbstbehalt 1

Jahre

Captive Selbstbehalt

n

EIGENE RESSOURCEN ABHÄNGIGKEIT VOM VERSICHERUNGSMARKT

Abb. 11.4  Klassische Programme versus alternative Programme. (Quelle: eigene Darstellung)

Literatur Paul Wöhrmann und Christoph Bürer, Instrument der alternativen Risikofinanzierung, Schweizer Versicherung 7 – 2001, https://www.risknet.de/uploads/tx_bxelibrary/art_ar_007_inst-alt-riskf_g.pdf, abruf am 15.10.2022. Christian Pisani, Standort Malta: Protected Cell Companies, Versicherungswirtschaft Heft 7 1. April 2011, https://www.pisani-­partner.de/downloads/publikationen/2011maltesisches_recht_pisani_protected_cell_pcc_malta_captive_insurance_versicherung_mittelstand_kmu.pdf, abruf am 15.10.2022.

Olaf Keller  beendete im Jahr 1995 seine Ausbildung zum Versicherungskaufmann beim Gerling-­ Konzern in Krefeld. Dem schloss sich ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität zu Köln an mit dem Schwerpunkt Risiko- und Versicherungsmanagement. Seit 2001 arbeitet er bei Marsh zunächst in unterschiedlichen Rollen in den Bereichen Risk Consulting und der Großkundenbetreuung. Als Geschäftsführer der Marsh Risk Consulting GmbH und anschließender Übernahme der Vertriebsleiterfunktion in der deutschen Geschäftsleitung übernahm er erste Führungspositionen. Über die Rolle des Chief Commercial Officers für Osteuropa kam er zur aktuellen Position des Heads of Corporate and Sales für Marsh Continental Europe. Dr. Holger Sommerfeld  studierte von 1990 bis 1994 Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Nach einem Berufseinstieg in der Unternehmensberatung und im Investmentbanking hatte er mehrere Fach- und Führungspositionen in den Bereichen Strategische Planung, Risikomanagement, Versicherungswesen, Geschäftsfortführungsplanung und Krisenmanagement in verschiedenen Branchen. Holger Sommerfeld promovierte mit einer empirischen Arbeit zum Finanzrisikomanagement an der Universität Duisburg und ist Lead Auditor BCM (ISO 22301). Er ist Autor einer Vielzahl von Publikationen zu Themen des Risikomanagements und war Referent auf mehreren Konferenzen.

Domizile

12

Olaf Keller und Holger Sommerfeld

Inhaltsverzeichnis 12.1  E  inleitung  12.2  B  edeutung der unterschiedlichen geografischen Gruppen  12.2.1  Onshore-Domizile  12.2.2  Offshore-Domizile  12.3  Kriterien für die Wahl eines Domizils  12.4  Europäische Onshore-Domizile  12.5  Deutschland als Captive-Domizil  12.6  Offshore-Domizile  12.7  US-Domizile  12.8  Zusammenfassung  Literatur 

 248  248  249  250  251  252  254  255  257  258  258

Zusammenfassung

Die Wahl des Domizils, also des Landes, in dem eine Captive gegründet werden soll, ist von einem Industrieunternehmen sorgfältig zu treffen. Regulatorische Gegebenheiten bestimmen vielfältige relevante Inhalte, die von den einbringbaren Versicherungssparten über die Form der Captive bis zur Höhe der notwendigen Kapitalisierung und Formen derselben reichen. Aufgrund reputativer Überlegnungen bleiben für einige Unternehmen Offshore-Domizile außen vor. Die Vorteilhaftigkeit und Erfüllung der stra-

O. Keller · H. Sommerfeld (*) Marsh GmbH, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_12

247

248

O. Keller und H. Sommerfeld

tegischen Ziele, die ein Unternehmen mit der Gründung einer Captive verfolgt, sind daher auf den Einzelfall bezogen im Rahmen einer unternehmensindividuellen Machbarkeitsstudie zu bewerten und abzuwägen.

12.1 Einleitung Domizil bezeichnet das Land, in dem die Captive gegründet und damit angesiedelt wird. Die Entscheidung über die Wahl des Domizils wird von vielen Kriterien und Gegebenheiten beeinflusst. Sie ist daher vor dem Hintergrund der unternehmensspezifischen Faktoren und Zielsetzungen zu treffen und kann nicht generell und allgemeingültig getroffen werden. Unternehmensindividuelle Vor- und Nachteile für ein Domizil werden wesentlich von legislativen und regulatorischen Vorgaben beeinflusst und sind daher auch nach der Art der zu gründenden Captive differenziert zu betrachten. Der nachfolgende Beitrag hat die Darstellung der verschiedenen Gegebenheiten und ihre Konsequenzen für ein Unternehmen zum Inhalt. Ihre Abwägung hat unternehmensindividuell und situationsspezifisch zu erfolgen; dies ist typischerweise Inhalt einer Machbarkeitsstudie (vgl. Kap. 6).

12.2 Bedeutung der unterschiedlichen geografischen Gruppen Global betrachtet existieren über 60 Domizile für die Ansiedlung von Captives (Marsh: Captives Offer Value in Uncertain Times, Captive Landscape Report S. 19). Jedes dieser Domizile hat seine Besonderheiten, individuellen Regulierungen und Anforderungen, die es je nach Zielsetzung und Gegebenheiten für Unternehmen attraktiver oder weniger geeignet erscheinen lassen. Auch wenn im Detail diese Unterscheidung nicht immer eindeutig getroffen wird, lässt sich die Vielzahl von Domizilen in zwei Gruppen unterteilen: • Onshore-Domizile und • Offshore-Domizile. Rein sprachlich betrachtet sind Offshore-Domizile geografisch durch eine größere Entfernung von einer Küste gekennzeichnet. Im wirtschaftlichen Sinn eint diese Gruppe von Domizilen ein hohes Maß an Vertraulichkeit und Geheimhaltung bzgl. der Weitergabe von Informationen über Finanztransaktionen und Eigentumsverhältnisse und eine minimale Finanzmarktaufsicht und -regulierung. Die Bezeichnung Offshore resultiert daraus, dass diese Domizile oft auf kleinen Inseln liegen, bei denen es sich häufig um ehemalige britische Kolonien oder Dependancen handelt (vgl. o.V. (Offshore-Finanzplatz)).

12 Domizile

249

Captive Onshore

Captive Offshore

44 %

47 %

44 %

42 %

42 %

41 %

43 %

56 %

53 %

56 %

58 %

58 %

59 %

57 %

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

Abb. 12.1  Aufteilung der Captive-Domizile nach Onshore und Offshore. (In Anlehnung an Marsh 2021, S. 12)

Betrachtet man im Zeitablauf die Entwicklung der relativen Verteilung zwischen Onshore- und Offshore-Domizilen, so zeigt sich eine recht konstante Aufteilung, in Abb. 12.1 verdeutlicht an der Grundgesamtheit der durch Marsh gemanagten Captives). Die entsprechende Statistik wird in dieser Struktur nicht jährlich veröffentlicht, reicht daher nur bis zum Jahr 2019. Der härter werdende Versicherungsmarkt hat die Attraktivität von Captives weiter gesteigert. Dabei ist für die von Marsh gemanagten Captives ist eine überproportionale Steigerung des Prämienvolumens in Offshore-Domizilen wie Guernsey, Bermuda und Cayman oder Singapur zu verzeichnen (Quelle: Marsh, Global growth affirms captives’ value in solving business challenges, The 2021 Captive Landscape Report, S. 12). Auch in einer Betrachtung der Domizilwahl von Marsh-gemanagten Captives mit Inhabern aus Deutschland zeigt sich ein sehr ähnliches Bild. Onshore-Domizile weisen, gemessen an der Anzahl von Captives, einen Anteil von 60 % auf, während auf Offshore-Domizile 40 % entfallen (vgl. Abb. 12.2).

12.2.1 Onshore-Domizile Onshore-Domizile umfassen alle Länder, die geografisch betrachtet auf dem Festland liegen, ökonomisch betrachtet durch keine unterdurchschnittichen Anforderungen der Finanzmarktaufsicht spezifiziert sind. Im Allgemeinen umfassen Onshore-Domizile, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Australien, Singapur, die Schweiz, wesentliche Teile der USA sowie die EU-Staaten wie Irland, Luxemburg, Malta und Schweden.

250 Abb. 12.2  Aufteilung der von Marsh gemanagten Captives deutscher Unternehmen nach Domizilen. (Anmerkung: Die meisten, ggf. alle der in Deutschland angesiedelten Captives deutscher Unternehmen sind eigenverwaltet. (Quelle: Marsh Benchmarking Database))

O. Keller und H. Sommerfeld Barbados Guernsey 4 % 4%

Luxemburg 28 %

USA 16 %

Bermuda 16 % Malta 16 %

Dublin 16 %

Ein wesentlicher Vorteil von Onshore-Domizilen ist die grundsätzlich vielfältigere Nutzbarkeit. Aus der Sicht eines in Deutschland oder Österreich angesiedelten Unternehmens kann eine in einem EU-­Domizil angesiedelte Erstversicherungs-Captive auf einer „Freedom of Service“-Basis (EU-Passport-Regelung) Risiken übernehmen und Policen für alle Aktivitäten innerhalb der EU schreiben. So kann insbesondere auch die Notwendigkeit einer zusätzlichen Fronting-Police mit entsprechenden Kosten vermieden werden. Onshore-Domizile weisen typischerweise für eine Domizilwahl relevante folgende Merkmale auf: • • • • •

Freiheit der Dienstleistungen und geringe Beschränkungen für Direktversicherungen, Policen können in alle EU/EEA-Staaten gezeichnet werden, Geografische Nähe zur Muttergesellschaft, Konzerndarlehen sind typischerweise möglich und zur Liquiditätssteuerung nutzbar, Keine oder geringe Reputationsrisiken des Domizils.

12.2.2 Offshore-Domizile Als Offshore-Domizil werden im Umkehrschluss alle Domizile bezeichnet, die nicht onshore sind. Hierbei handelt es sich typischerweise um britische Kanalinseln wie Guernsey oder die Isle of Man, Karibikstaaten wie Bermuda oder Cayman Islands sowie im Mittleren Osten Abu Dhabi oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Offshore-Domizile weisen typischerweise niedrige Steuersätze auf, geringere regulatorische und Corporate-Governance-Anforderungen (basierend auf den Kernprinzipien der International Association of Insurance Supervisors), vergleichbare eher niedrige laufende Verwaltungskosten sowie reife und etablierte Infrastrukturen.

12 Domizile

251

Damit lassen sich die für eine Domizilwahl relevanten Merkmale von Offshore-­ Domizilen folgendermaßen zusammenfassen: • • • • • • •

Keine oder sehr niedrige Steuern auf Prämien und Gewinne, Keine Anwendung der Solvency-II-Regularien, Geringere Kapital- und Solvabilitätsanforderungen, Geringere regulatorische Anforderungen, Niedrigere laufende Admin- und Betriebskosten, Kürzere Etablierungszeiten bei Captive-Gründung, In den meisten Fällen Ermöglichung von konzerninternen Darlehen.

12.3 Kriterien für die Wahl eines Domizils Die Erreichbarkeit der Zielsetzungen, die ein Unternehmen mit der Gründung einer Captive verfolgt und die durch die Wahl des Domizils beeinflusst werden, lässt sich durch folgende Kriterien näher spezifizieren (vgl. o.V. Selecting a Captive Insurance Domicile and Captive Manager): • Politische Stabilität des Domizils: Eine stabile politische Umgebung garantiert, dass sich die regulatorischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für das Betreiben einer Captive und seine finanzielle Sinnhaftigkeit nicht unerwartet ändern. • Personalverfügbarkeit: Das Vorhandensein qualifizierten Personals für die eigene Captive sowie für lokale Dienstleister zum Betreiben der Captive ist eine Grundvo­ raussetzung. • Geografische Nähe: Die Anforderung, Meetings der Geschäftsführung der Captive vor Ort abzuhalten, macht die Erreichbarkeit, Zeitzonendifferenzen und Reisezeit und Reisemöglichkeiten (zum Beispiel während Pandemiezeiten) zu einem Kriterium. Wenn Unternehmen und Captive in einer ähnlichen Zeitzone angesiedelt sind, erleichtert dies die Kommunikation beispielsweise auch mit lokalen Behörden und Dienstleistern. • Zulässige Unternehmensformen und Versicherungssparten: Nicht in allen Domizilen ist eine gewünschte Captive-Art umsetzbar oder die intendierten Versicherungssparten einbringbar. • Regulatorische Anforderungen: Die Erfordernisse bzgl. des Reportings, der Auditierung, der Bildung von Verlustreserven und der Besetzung von Schlüsselfunktionen (zum Beispiel gemäß den Anforderungen von Solvency II) und weiterer Corporate-­ Governance-­Anforderungen differieren zwischen den Captive-Domizilen. • Anforderungen der Kapitalisierung: Die Vorgaben und Regularien bzgl. des in eine Captive einzubringenden Kapitals, damit diese ihre Aktivitäten aufnehmen kann. • Geografische Verteilung der zu versichernden Umfänge, insbesondere auch vor dem Hintergrund betreffender Non-admitted/Non-allowed-Regelungen und realisierbarer „Freedom of Service“-Regelungen.

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O. Keller und H. Sommerfeld

• Gebühren und Steuern: Die Höhe von Gebühren und Steuern sowie die steuerliche Behandlung unterschiedlicher Sachverhalte divergieren zwischen unterschiedlichen Domizilen. • Zeitbedarf zur Etablierung: Je etablierter ein Captive-Domizil sich darstellt, umso weniger Zeitbedarf nimmt der Gründungsprozess in Anspruch. Während insbesondere die ersten drei Kriterien der Auflistung Relevanz für fast jegliche Art der Unternehmensgründung haben, sind die weiteren Kriterien captive-spezifisch. Auf diese wird im Nachfolgenden eingegangen. Die nachfolgenden Ausführungen geben den Informationsstand zur Drucklegung wieder. Das Umfeld von Regulatorik und ­Gesetzgebung kann sich jedoch schnell und kurzfristig ändern, insbesondere auch bei Offshore-­ Domizilen.

12.4 Europäische Onshore-Domizile Die europäischen Captive-Domizile lassen sich in zwei große Gruppen unterteilen: EU-Mitglieder und Nicht-EU-Mitglieder. Die relevanten europäischen Domizile umfassen insbesondere Luxemburg (über 200 Captives), Dublin (über 80 Captives), Schweden (über 50 Captives) sowie Malta und die Schweiz mit jeweils über 30 Captives, im Vergleich dazu gibt es etwa zehn in Deutschland angesiedelte Captives (zu Deutschland als Captive-Domizil vgl. Kap. 1.5). Innerhalb der EU-Mitglieder hat Luxemburg, gemessen an der Anzahl von Captives, die größte Bedeutung. Auf dieses Land entfällt in etwa die Hälfte der Captives. Allen EU-Domizilen gemein ist ein „Freedom of Service“: Das bedeutet, dass eine Captive grundsätzlich Erstversicherungspolicen für alle Aktivitäten eines Unternehmens innerhalb der EU (und teilweise darüber hinaus) ausstellen kann, wenn sie als Erstversicherungs-Captive etabliert wurde. Damit entfällt die Notwendigkeit, eine zusätzliche kostenverursachende Fronting-Police einer Primärversicherung zu berücksichtigen. Für eine Captive mit Sitz in der Schweiz oder auch in Offshore-Domizilen gilt dies nicht. Den der EU zugehörigen Domizilen ist außerdem gemein, dass sie sämtlich den Anforderungen von Solvency II unterliegen. Dieses Aufsichtsregime regelt neben den Berichterstattungspflichten ebenso qualitative Anforderungen an das Risikomanagementsystem, so zum Beispiel an die Qualifikation von Vorständen von Versicherungsunternehmen. Diesen unterliegen Captives als in der EU angesiedelte Versicherungsunternehmen. Die Anforderungen hieraus mögen im Detail differieren, je nachdem wie in einzelnen Ländern das „Proportionalitätsprinzip“ interpretiert wird; gemäß Letzterem werden die Inhalte und Anforderungen von Solvency II an das individuelle Geschäftsmodell des Versicherungsunternehmens angepasst. Solvency II bestimmt weiterhin die Anforderungen an die Höhe des notwendigen Kapitals aller Versicherungsunternehmen. Die notwendige Kapitalunterlegung für das Investitionsvolumen wird ebenso durch diese Regelung bestimmt. Die Anwendung von Sol-

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vency II für Captives hat zur Folge, dass die Kapitalkalkulation recht anspruchsvoll ist, auch wenn „nur“ das Standardmodell zur Anwendung kommt. Die Entwicklung und Genehmigung für ein internes Modell ist für Captives aufgrund des Aufwands nicht relevant. Aus diesem Grund übernehmen oft Dienstleister die Kalkulation der Kapitalanforderung für eine Captive. Die zweite Konsequenz ist, dass die Kapitalanforderungen im Vergleich zu US-amerikanischen oder Offshore-Domizilen recht hoch sind. Captives, die in der Schweiz angesiedelt sind, berechnen ihren Kapitalbedarf nach dem Swiss Solvency Test. Die hier zu erfüllenden Regelungen sind durchaus ähnlich anspruchsvoll wie die Anforderungen von Solvency II. In vielen anderen Regelungen unterscheiden sich die Rahmenbedingungen und Gegebenheiten auch für die der EU zugehörigen Domizile. So erlauben Irland und Malta, aber auch Deutschland, Erstversicherung und Rückversicherung aus einer Gesellschaft heraus zu betreiben. In anderen Ländern wie Luxemburg oder Schweden ist dies dagegen nicht möglich. Auch in der Schweiz müssen Erst- und Rückversicherung aus zwei unterschiedlichen rechtlichen Einheiten heraus betrieben werden. Besondere Einschränkungen gibt es hinsichtlich der Domizilwahl, wenn ein Unternehmen seine Risikoeigentragung in Form einer Protected Cell Company (PCC, vgl. Keller, O., Sommerfeld, H. (Protected Cell Company)) vornehmen möchte. In Europa steht ihm dann lediglich Malta offen, denn nur in diesem Land existiert eine spezielle PCC-­ Regulatorik. In anderen EU-Ländern ist eine PCC-Gründung ebenso wenig möglich wie in der Schweiz. Ein für den finanziellen Ergebnisausweis einer Captive relevanter Aspekt sind Regelungen bzgl. des Ergebnisausweises. In einigen Ländern existiert die Notwendigkeit oder – je nach Sichtweise – Möglichkeit, für die Abdeckung extremer Schadenszenarien Schwankungsreserven („Equalization Reserves“) zu bilden. Insbesondere für Captives am Standort Luxemburg sind diese Anforderungen besonders umfangreich und ausgeprägt. Auch regulatorische Regelungen beispielsweise in Schweden, Frankreich, der Schweiz oder auch in Deutschland erfordern die Bildung dieser Art von Rückstellungen, wenn auch im Vergleich zu Luxemburg in geringerem Umfang. An anderen Standorten wie zum Beispiel Dublin ist die Bildung von Schwankungsrückstellungen nicht möglich. Diese Reservenbildung mindert das ausgewiesene Ergebnis der Captive bei günstigem Schadenverlauf und vice versa. Bei Konsolidierung der Captive in den Konzern kann durch die erhöhte Reservenbildung eine verstärkte Ergebnisglättung erreicht werden, die ja ein relevantes Motiv einer Captive-Gründung darstellt. Unter IFRS wird die Schwankungsreserve jedoch nicht anerkannt. Die Schwankungsreserve führt zum Zeitpunkt der Rückstellungsbildung auf steuerlicher Ebene zu einem Steuerstundungseffekt. Generell ist die steuerliche Gesetzgebung für die finanzielle Vorteilhaftigkeit einer Captive ein besonders relevanter Aspekt. Auch hier zeigen sich innerhalb der EU deutliche Unterschiede. Generell sind die Steuersätze recht unterschiedlich. Während in Deutschland die bekannten Unternehmenssteuersätze zur Anwendung kommen, gelten in anderen Ländern zum Teil speziell auf den Bereich von Captives ausgerichtete steuerliche Vorgaben, in denen die Erträge von Captives mit niedrigeren Steuersätzen belegt werden.

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Irland hat mit einem Steuersatz von 12,5 % generell ein sehr attraktives Unternehmenssteuerniveau festgelegt. Der reguläre Steuersatz von 35  % in Malta erscheint zunächst recht hoch. Unter bestimmten Umständen des Nachweises ausreichender Risikosubstanz, insbesondere Risikosparten, in der Captive kann eine Ertragsversteuerung von 5 % erreicht werden. Luxemburgs Steuerniveau liegt mit 24,94 % auch im höheren Bereich. Allerdings sind lokale Steuern absetzbar für das Volumen der Schwankungsreserve und ­reduzieren damit die Steuerlast. Schweden mit einer Besteuerung von 22 % und Frankreich mit 28 bis 30 % liegen im mittleren bis höheren Bereich. In der Schweiz differiert die Ertragsbesteuerung danach, in welchem Kanton sich die Captive befindet. Sie variiert zwischen 11,5 % und 24,2 %. Die laufenden Kosten für eine Captive sind in allen Onshore-Domizilen vergleichbar. Sie bewegen sich in Bereich von etwa 100.000 bis 150.000  € für eine reine Rückver­ sicherungs-Captive und 200.000 bis 350.000 € pro Jahr für eine Erstversicherungs-­Captive. Der genaue Betrag wird unter anderem durch die Anzahl eingebrachter Sparten (insbesondere auch Employee Benefits), Anzahl und Frequenz der Schäden oder die Frequenz des Reportings (monatlich versus quartalsweise) determiniert.

12.5 Deutschland als Captive-Domizil Deutschland steht in der subjektiven Wahrnehmung von Ländern, die für die Gründung einer Captive infrage kommen, typischerweise nicht oben auf der Liste der attraktiven Standorte. Captives unterliegen in Deutschland grundsätzlich den gleichen Regularien wie alle Versicherungsunternehmen. Diese sind im Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz – VAG) zusammengefasst. Eine gewisse Erleichterung resultiert aus der Anwendung des Proportionalitätsgrundsatzes unter dem europäischen Aufsichtsregime Solvency II. Dieser besagt, dass „die Anforderungen von Solvency II so zu erfüllen sind, dass sie der Art, dem Umfang und der Komplexität der Risiken des individuellen Unternehmens gerecht werden“ (vgl. o.V. Konzerneigene Versicherungsunternehmen). Captives weisen aufgrund der eingebrachten, gut überblickbaren Risiken ein geringes Risiko für den deutschen Versicherungsmarkt auf, da sie Teil einer nicht im Versicherungsbereich tätigen Unternehmensgruppe sind. Vor diesem Hintergrund wird die konkrete Ausgestaltung des Proportionalitätsgrundsatzes immer wieder diskutiert. Erleichterungen können auf Antrag im Bereich der Berichterstattung oder der Bündelung von Funktionen gewährt werden. Über den Zeitablauf der kommenden Jahre können sich hier Erleichterungen ergeben. Aus den vergleichsweise hohen Anforderungen und strengen Auslegungen der regulatorischen Vorschriften resultiert die geringe (2018: 9) und im Zeitablauf stabil bleibende Anzahl von Captives (vgl. o.V. (Neue Regeln)). Eine geringe Anzahl existierender Captives, die wie im Falle von Deutschland ein vergleichsweise hohes Durchschnittsalter und einen hohen Reifegrad aufweisen, hat zur Folge, dass nur wenige Dienstleister am Markt vertreten sind, welche administrative und andere regulatorisch geforderte Leistungen,

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Kalkulationen und Reportings übernehmen. Dies ist gerade in der frühen Phase der Gründung und Etablierung einer Captive für viele Unternehmen ein Hindernis. Die geografische Nähe, fehlende Zeitzonendifferenzen sowie das gemeinsame wirtschaftliche und sprachliche Umfeld sind sicherlich Vorteile. Vor diesem Hintergrund erscheint die Gründung einer Captive in Deutschland für ein Unternehmen dann erwägenswert, wenn Erfahrung und Ressourcen verfügbar sind, sich intensiv mit der Nutzung und Gestaltung der Captive auseinanderzusetzen. Final können die Vor- und Nachteile nur in einer Machbarkeitsstudie unternehmensindividuell abgewogen werden, um zur optimalen Domizilwahl zu gelangen. Aktuell zeigen sich auch in Deutschlang über das Gesetz für abhängige ausländische Gesellschaften („Controlled Foreign Companies Legislation“) Bestrebungen, Steuervermeidungsstrategien zu verhindern. Gemäß der Gesetzgebung kann „passives Einkommen“, das von einer kontrollierten ausländischen Gesellschaft generiert wird und in der lokalen Gerichtsbarkeit mit weniger als 25  % besteuert wird, der deutschen Steuer unterliegen.

12.6 Offshore-Domizile Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die Regulatorik und das sonstige relevante Umfeld auch in Offshore-Domizilen gut entwickelt ist und ein hohes Maß an Planungssicherheit aufweist. Entsprechend umfangreich und vollständig ist auch die Präsenz von Dienstleistern wie Captive Managern, spezialisierten Anwälten und Steuerberatern, die den Aufbau und das Betreiben von Captives unterstützen können. Offshore-Domizile haben in der öffentlichen Meinung die Reputation, Steuersparmotive zu verfolgen. In der Tat ist die Steuergesetzgebung in Offshore-Domizilen regelmäßig sehr günstig. Dies gilt für die Kanalinseln Guernsey und Isle of Man ebenso wie für das in der Karibik angesiedelte Bermuda. Daher überrascht es nicht, dass die Anzahl von Captives auf Bermuda bei über 700 liegt. Dies ist in etwa dreimal so viel wie in dem bedeutendsten europäischen Captive-Domizil Luxemburg. Guernsey ist bezüglich der Anzahl von Captives nur knapp halb so relevant als Captive-Standort wie Bermuda. In Analogie hierzu sind auch diverse Corporate-Governance-Anforderungen weniger anspruchsvoll, als sie gemäß der Solvency-II-Regelungen zu realisieren sind. Die Anforderungen an Besetzungen von Schlüsselfunktionen sind geringer, was die administrativen zeitlichen und kostenseitigen Aufwendungen vergleichsweise reduziert. Weiterhin sind die Kapitalanforderungen deutlich geringer, als sie sich unter Anwendung der Solvency-II-Regelungen ergeben würden. Zunächst einmal ist die Methodik der Berechnung der Kapitalanforderung deutlich weniger komplex. Sie orientiert sich in der Regel unter anderem an Prämienhöhen und/oder Risikoexposure. Auf Barbados beispielsweise existiert für das erste Jahr eine vereinfachte Bestimmung für die Kapitalbestimmung. Auf Bermuda dagegen differenzieren die Regelungen in Abhängigkeit von der Art der Captive und beziehen außerdem die Liquiditätsposition der Captive mit ein.

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Gerade für kleinere Captives ist auch relevant, dass in fast allen Domizilen Bestimmungen bzgl. eines Minimumkapitals existieren. Als Untergrenze werden in der Regel Beträge zwischen 50.000 und 125.000 US-Dollar aufgerufen. Für Captives auf Barbados ist eine Mindestkapitalisierung von ca. 125.000 US-Dollar notwendig, die in Form einer Bareinlage oder einer Garantie geleistet werden kann. Für eine Captive auf Bermuda ist je nach Risiko ein Betrag ab 120.000 US-Dollar notwendig, der aber im Falle von langfristigen Risiken bis zu einer Mindestkapitalisierung von 500.000 US-Dollar steigen kann. Eine differenzierte Regelung findet sich auch auf den Cayman Islands, wo die Mindestkapitalisierung zwischen 100.000 US-Dollar und 300.000 US-Dollar (für eine Captive, in die kurz- und langfristige Risiken eingebracht sind). Auf Guernsey ist eine Mindestkapitalisierung von 100.000 Britische Pfund notwendig, während die Regularien auf Isle of Man unterscheiden zwischen einer Reinsurance Captive, für die 100.000 Britische Pfund einzubringen sind, während sonst die Mindestkapitalisierung 50.000 Britische Pfund beträgt. In Offshore-Domizilen existieren typischerweise keine Restriktionen, was die Investitionsanlage der eingebrachten Mittel anbetrifft. In Onshore-Domizilen, welche den Regelungen von Solvency II unterliegen, sind risikoreichere Kapitalanlagen mit mehr Eigenkapital zu unterlegen. Eine Berücksichtigung der Liquidierbarkeit und des Marktwerts der Kapitalanlagen spielt für Captives aus Bermuda eine Rolle, wo die Kapitalunterlegung auch durch die Liquiditätsposition bestimmt wird. Auf den Cayman Islands ist die grundsätzliche Investmentstrategie bei Gründung durch die Behörden sowie bei größeren Änderungen zu genehmigen. Diese Vorgaben haben dann auch eine Auswirkung auf die Möglichkeit der Vergabe von konzerninternen Darlehen. Sie werden auf Bermuda und den Cayman Islands durch die Regelungen zu Investmentaktivitäten beeinflusst: Demnach sind „Intercompany Loans“ möglich, solange die Liquiditätsvorgaben eingehalten werden. Analoges gilt für Captives in den europäischen Offshore-Domizilen Guernsey und Isle of Man: Sie ermöglichen ebenso die Vergabe von konzerninternen Darlehen, die in der Bestimmung der Kapitalisierungsanforderung der Captives entsprechend zu berücksichtigen sind. Ihre Bestimmung und Einhaltung werden durch jährliche Auditierungen überprüft. Während im europäischen Onshore-Bereich die Intention, die Risikoeigentragung über eine Protected Cell Captive (PCC) vorzunehmen, zwangsläufig zur Domizilwahl Malta führt, besteht im Offshore-Bereich eine größere Vielfalt: Im Prinzip existieren in allen Domizilen regulatorische Regelungen zu PCC. Der gegenüber europäischen Onshore-Domizilen vereinfachte regulatorische Rahmen führt auch dazu, dass der Zeitbedarf für den Aufbau einer Captive in Offshore-Domizilen deutlich geringer ist. Während bei Ersteren bis zu einem halben Jahr einzuplanen ist, benötigt dies bei Offshore-Domizilen in der Regel vier bis sechs Wochen. Für Offshore-Domizile in der Karibik oder im Mittleren Osten liegt aufgrund der geografischen Entfernung ein höherer Aufwand in der Durchführung von Management-­ Meetings vor Ort. Diese sind zum Beispiel in Guernsey und Isle of Man notwendig. Auf die oft größeren Entfernungen der europäischen, eine Captive gründenden Unternehmen reagiert der Regulator von Bermuda, dass für einen Teil der Meetings eine telefonische

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Teilnahme ausreichend ist. Eine solche ist für aus europäischer Sicht transatlantische Domizile bedeutsam. Die typischerweise größere geografische Entfernung korreliert mit dem – aus deutscher Sicht relevanten – Sachverhalt, dass Offshore-Domizile kein Freedom of Service für zu versichernde Umfänge innerhalb der EU ermöglichen. Für diese Versicherungsumfänge ist daher eine zusätzliche Fronting-Police notwendig, wenn ein Versicherungsnachweis zu erbringen ist.

12.7 US-Domizile Entsprechend der föderalen Struktur der USA existiert in den Vereinigten Staaten nicht nur eine, sondern für die unterschiedlichen Staaten divergierende Regelungen für die Gründung und das Betreiben einer Captive. Einige davon weisen höhere Anforderungen auf, andere dagegen vereinfachte, die den Regularien von Offshore-Domizilen ähneln. Entsprechend unterschiedlich attraktiv sind die Staaten in den USA als Domizil. Aktuell weisen Vermont, Utah und Delaware die größte Anzahl von Captives auf, gefolgt von Hawaii, District of Columbia, Montana, Nevada und South Carolina. Weitere attraktive Domizile sind Kentucky und Arizona. Die Staaten, die eine besondere Attraktivität als Standort aufweisen, sind gekennzeichnet durch vergleichsweise geringe Steuersätze, liberale Regelungen bzgl. der Einbringbarkeit verschiedener Risikokategorien, der rechtlichen Struktur gründbarer Captives inklusive bestehender Regelungen zur Gründung einer Protected Cell Captive. Mindesthöhen der Kapitaleinbringung betragen in der Regel ab 250.000 US-Dollar und je nach Sparte und Struktur bis 1.000.000 US-Dollar; sie liegen damit höher als in den typischen Offshore-­ Domizilen. Bei der Bewertung der finanziellen Vorteilhaftigkeit von Captives, in die kein ausreichend großes Risikoportfolio eingebracht wird, kann eine Mindestkapitalisierung einer Captive ein überproportionaler kostenverursachender bzw. kapitalbindender Faktor sein, den es zu berücksichtigen gilt. Mit Offshore-Domizilen gemein haben US-Domizile die beschränkte Möglichkeit, als Primärversicherung für europäische Unternehmen hinsichtlich des in Europa angesiedelten zu versichernden Umfangs zu agieren. Ähnlich wie bei Offshore-Domizilen kann für diese Versicherungsumfänge eine zusätzliche Fronting-Police notwendig sein, wenn ein Versicherungsnachweis notwendig ist. Aus der Sicht deutscher Unternehmen kann eine Captive in einem US-Staat relevant sein, wenn das Unternehmen mit relevanten zu versichernden Umfängen in den USA vertreten ist. Wenn die Captive Tochter des US-amerikanischen Unternehmensteils eines deutschen Unternehmens ist, können sich hierüber praktische Vorteile im Management der Aktivitäten ergeben, bestimmte beabsichtigte Folgerungen für den Ergebnisausweis der amerikanischen Geschäftsaktivitäten ergeben und im Falle einer Erstversicherungs-­ Captive die Möglichkeit der gewünschten Ausstellung eines Versicherungsnachweises gegeben sein.

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12.8 Zusammenfassung Die Wahl des Domizils bei der Gründung einer Captive ist eine Entscheidung, die von vielen Faktoren beeinflusst wird. Eine eindeutige Bevorzugung des einen oder des anderen Domizils zum Beispiel für ein in Deutschland angesiedeltes Unternehmen lässt sich demnach nicht allgemein ableiten. Für viele Unternehmen spielt bereits die Reputation eines Standorts eine wichtige Rolle, da es mit einer Unternehmensgründung in der Karibik in der Öffentlichkeit nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Des Weiteren spielt die intendierte Funktion der Captive eine wichtige Rolle, ob sie als Erstversicherungs- oder Rückversicherungs-­ Captive fungieren soll. Außerdem schließt zum Beispiel die rechtliche Struktur einer Protected Cell Captive alle Domizile aus, in denen eine derartige Struktur nicht umsetzbar ist. Die Wahl des Domizils ist nur nachrangig eine der reinen geografischen Lage des Landes, sondern vielmehr die einer Auswahl und Kombination der mit der Wahl einer Regulatorik einhergehenden Regelungen, die durch die Festlegung eines Landes bestimmt werden. Die Vor- oder Nachteilhaftigkeit des einen oder anderen Domizils wird folglich durch die Abwägung der Ausprägungen bestimmt. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen bezüglich Corporate Governance, Kapitalbedarf, steuerlicher Regelungen und laufender Kosten bedingen, dass eine finanzielle Vorteilhaftigkeit nur in einer detaillierten Analyse und Kalkulation ermittelt werden kann. Dies erfolgt typischerweise unternehmensindividuell in einer Machbarkeitsstudie (siehe auch das entsprechende Kapitel zur Machbarkeitsstudie).

Literatur Marsh, Global growth affirms captives’ value in solving business challenges, The 2021 Captive Landscape Report, S. 12 o.V. (Selecting a Captive Insurance Domicile and Captive Manager), verfügbar über Internet unter https://selfinsurancemarket.com/articles/selecting-­a-­captive-­insurance-­domicile-­and-­captive-­ manager, abgerufen am 27.4.2021 o.V. (Konzerneigene Versicherungsunternehmen), verfügbar über Internet unter (https://www.bafin. de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Fachartikel/2017/fa_bj_1704_Captives.html#:~:text=Captive%20%28Re%29Insurance%20Undertakings%20%E2%80%93%20kurz%20Captives%20%E2%80%93%20sind,und%20die%20prim%C3%A4r%20die%20Risiken%20der%20 Eigent%C3%BCmer%20%C3%BCbernehmen o.V. (Neue Regeln), verfügbar über Internet unter https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/solvency-­ ii-­neue-­regeln-­neue-­probleme-­1.4109102 o.V. (Offshore-Finanzplatz), verfügbar über Internet unter https://de.wikipedia.org/wiki/Offshore-­ Finanzplatz, abgerufen am 14.4.2021

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Olaf Keller  beendete im Jahr 1995 seine Ausbildung zum Versicherungskaufmann beim Gerling-­ Konzern in Krefeld. Dem schloss sich ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität zu Köln an mit dem Schwerpunkt Risiko- und Versicherungsmanagement. Seit 2001 arbeitet er bei Marsh zunächst in unterschiedlichen Rollen in den Bereichen Risk Consulting und der Großkundenbetreuung. Als Geschäftsführer der Marsh Risk Consulting GmbH und anschließenden Übernahme der Vertriebsleiterfunktion in der deutschen Geschäftsleitung übernahm er erste Führungspositionen. Über die Rolle des Chief Commercial Officers für Osteuropa kam er zur aktuellen Position des Heads of Corporate and Sales für Marsh Continental Europe. Dr. Holger Sommerfeld  studierte von 1990 bis 1994 Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Nach einem Berufseinstieg in der Unternehmensberatung und im Investmentbanking hatte er mehrere Fach- und Führungspositionen in den Bereichen Strategische Planung, Risikomanagement, Versicherungswesen, Geschäftsfortführungsplanung und Krisenmanagement in verschiedenen Branchen. Holger Sommerfeld promovierte mit einer empirischen Arbeit zum Finanzrisikomanagement an der Universität Duisburg und ist Lead Auditor BCM (ISO 22301). Er ist Autor einer Vielzahl von Publikationen zu Themen des Risikomanagements und war Referent auf mehreren Konferenzen.

Teil IV Sonderthemen: Aufsichtsrecht, Steuerrecht, Bilanzrecht

Aufsichtsrechtliche und gesellschaftsrechtliche Aspekte einer Captive

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Gunne W. Bähr und Gerald Schumann

Inhaltsverzeichnis 13.1  E  inführung  13.2  A  ufsichtsrechtliche Grundlagen  13.2.1  Captive als Versicherungsunternehmen i. S. d. Aufsichtsrechts  13.2.2  Im Besonderen: Unterscheidung zwischen Erstversicherungs- und Rückversicherungs-Captives  13.2.3  Besondere Erleichterungen für firmeneigene (Erst- und Rückversicherungs-) Captives unter Solvency II und im deutschen Aufsichtsrecht  13.2.4  Aufsichtsregime für Captive-Versicherungsunternehmen nach dem VAG  13.3  Gesellschaftsrechtliche Aspekte und Besonderheiten bei Captives in Deutschland  13.3.1  Aus Sicht der Konzern- und Trägerunternehmen: Risikomanagement  13.3.2  Rechtsformzwang für Captives nach dem VAG  13.3.3  Kapitalisierung/Beteiligungskontrolle  13.3.4  Vorstand/Aufsichtsrat  13.3.5  Konzernrechtliche Aspekte  13.3.6  Umwandlung, Sitzverlegung, Liquidation  13.4  Schlussbemerkung  Literatur 

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G. W. Bähr (*) DLA Piper UK LLP, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Schumann DLA Piper UK LLP, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_13

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G. W. Bähr und G. Schumann

Zusammenfassung

Captives Insurance Companies sind selbstständige, konzerneigene Versicherungsunternehmen, die ausschließlich oder überwiegend die Risiken der eigenen Konzerngesellschaften abdecken. Auch nach der Einführung der Solvency II-Richtlinie haben sie ihre Bedeutung im Konzernverbund von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen nicht eingebüßt. Die Komplexität der Gründung einer Captive und auch der mit dem Betrieb einer Captive verbundene Aufwand während des laufenden Geschäftsbetriebs dürfen allerdings nicht unterschätzt werden. Die aufsichtsrechtlichen Anforderungen sind nach Umsetzung der Solvency II-Richtlinie noch weiter gestiegen, zumal Captives auf die strikte Beachtung des Proportionalitätsgrundsatzes durch die Aufsichtsbehörden nicht vertrauen dürfen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet dieser Beitrag die aufsichtsund gesellschaftsrechtlichen Herausforderungen, mit denen Captives mit Sitz in Deutschland konfrontiert sind. Zunächst wird das aufsichtsrechtliche Regelungsregime für Captives aufgezeigt. Dabei spielen auf EU-Ebene insbesondere die Solvency II-Richtlinie und die Durchführungsverordnung eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus kommt den Leitlinien und Empfehlungen der EU-Versicherungsaufsichtsbehörde EIOPA eine große Bedeutung zu, die auch von der BaFin weitestgehend befolgt werden. In einem zweiten Schritt werden die gesellschaftsrechtlichen Aspekte und Besonderheiten bei Captives in Deutschland dargelegt.

13.1  Einführung Captives Insurance Companies sind selbstständige, konzerneigene Versicherungsunternehmen, die ausschließlich oder überwiegend die Risiken der eigenen Konzerngesellschaften abdecken (vgl. Franz 2015, Rn. 1; vgl. auch Meyer-Kahlen, S. 95). Sie nehmen in DAX-Unternehmen und Industriekonzernen seit jeher eine große Bedeutung für den Übertragung konzerninterner Risiken ein und sind damit auch Teil des Risikomanagements dieser Konzerne. Obwohl sich in den letzten Jahren abzuzeichnen scheint, dass es für Captives wegen der hohen aufsichtsrechtlichen Anforderungen in der EU, nicht zuletzt wegen der Umsetzung der Solvency II-Richtlinie, eher schwieriger als leichter geworden ist, ihre Berechtigung zu begründen, hat sich diese Form der Selbstversicherung als beständig erwiesen. Das mag auch darin begründet sein, dass die Prämienentwicklungen und die Versicherungskapazitäten im Industrieversicherungsmarkt volatil sind und Konzerne diese Tatsache auch unter dem Gesichtspunkt guten Risikomanagements zu berücksichtigen haben, um Abhängigkeiten von den Versicherungsmärkten zu reduzieren. Captives versichern vornehmlich nur Risiken des Trägerunternehmens oder -konzerns. Sie können aber auch konzernfremde Risiken übernehmen. Captives lassen sich bei der Beschränkung des Geschäftsmodells auf die Übernahme von Risiken des „eigenen“ ­Konzerns aber auch als eine Form der Selbstversicherung verstehen, für die es gute Gründe

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geben mag. So werden etwa maßgeschneiderte Deckungen auch für neue Risiken ermöglicht, die am Markt nicht ohne Weiteres versicherbar sind, oder auch Kosteneinsparungen bewirkt und steuerliche Effekte genutzt (zu den vielfältigen Gründen, eine Captive zu gründen, siehe auch Franz 2015, Rn. 3). Nicht zuletzt eröffnet eine Captive den Zugang zum Rückversicherungsmarkt und mithin Möglichkeiten des Risikotransfers, die ohne eine Captive nicht ausgeschöpft werden können. Weltweit betrachtet sind Captives häufig auf Bermuda, den Cayman Islands oder auch in den USA angesiedelt, doch bevorzugen europäische Konzerne eher europäische Standorte wie Luxemburg, Irland, Liechtenstein und Malta, weil Captives auf diese Weise in den Genuss des europäischen Aufsichtssystems und damit insbesondere der darin garantierten europäischen Grundfreiheiten kommen (vgl. Winkel 2017, S. 54). Freilich können insbesondere steuerliche Aspekte dafür streiten, eine Captive nicht in Deutschland zu gründen, sondern in einem anderen Land der EU/des EWR oder außerhalb dieses aufsichtsrechtlich harmonisierten Gebiets; dann spricht man auch häufig von sogenannten Offshore Captives. Wenngleich es in Deutschland nur verhältnismäßig wenige Captives gibt, ist der rechtliche Rahmen durch die Vorgaben der Solvency II-Richtlinie gesetzt, sodass es grundsätzlich jedenfalls in der EU keine Aufsichtsarbitrage mehr gibt oder geben sollte. Die Ausführungen dieses Beitrags beschränken sich auf die aufsichts- und gesellschaftsrechtlichen Herausforderungen, mit denen Captives in Deutschland konfrontiert sind.

13.2  Aufsichtsrechtliche Grundlagen Die Versicherungsaufsicht in Deutschland speist sich aus einer Vielzahl von Rechtsgrundlagen. Auf EU-Ebene macht die Solvency II-Richtlinie (Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II)) dem deutschen Gesetzgeber aufsichtsrechtliche Vorgaben. Auch wenn sie grundsätzlich keine unmittelbare Geltung in den Mitgliedsstaaten beansprucht, sondern es für ihre Geltung gemäß Art.  288 Abs.  3 AEUV einer Umsetzung ins nationale Recht bedarf, spielt sie für die Rechtsanwender im Rahmen der sogenannten richtlinienkonformen Auslegung nationaler Vorschriften eine entscheidende Rolle. Auf der Solvency II-Richtlinie beruhen die Delegierte Verordnung (EU) 2015/35 der Kommission und eine Reihe von technischen Durchführungsstandards, die die Vorgaben der Solvency II-Richtlinie ergänzen und präzisieren. Diese beanspruchen im Gegensatz zur Solvency II-Richtlinie unmittelbare Geltung, vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV. Rein faktische Bedeutung kommt den Leitlinien und Empfehlungen der EU-Versicherungsaufsichtsbehörde EIOPA zu, die von der BaFin weitestgehend befolgt werden (vgl. Solvency II: Rechtsgrundlagen, Leitlinien und Auslegungsentscheidungen der BaFin, abrufbar unter www.bafin.de). Auf nationaler Ebene sind primärrechtlich das Versicherungsaufsichtsgesetz und sekundärrechtlich die darauf beruhenden Rechtsverordnungen zu beachten. Von hoher Bedeutung sind – ähnlich den Leitlinien und Empfehlungen der EIOPA – die Bekanntmachungen der BaFin, die die Versicherungsun-

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ternehmen zwar nicht rechtlich, aber sehr wohl faktisch binden, es sei denn es handelt sich um Allgemeinverfügungen in der Qualität eines Verwaltungsaktes; dann hat die Verfügung einen rechtlich verbindlichen Charakter. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Rundschreiben 2/2017 (VA) – MaGO, in dem die BaFin die gesetzlichen Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen konkretisiert, und das Rundschreiben 10/2018 (VA) – VAIT, in dem die BaFin versicherungsaufsichtsrechtliche Anforderungen an die IT konkretisiert.

13.2.1 Captive als Versicherungsunternehmen i. S. d. Aufsichtsrechts Abhängig davon, ob eine Captive „nur“ Versicherungsrisiken oder auch Rückversicherungsrisiken übernimmt, spricht man von Versicherungs-Captive oder auch Rückver­ sicherungs-­Captive. In der Praxis häufiger anzutreffen sind aber Mischformen, die dann „gemischte“ oder „mixed“ Captives genannt werden. Nach der Umsetzung der Solvency II-Richtlinie hat diese Unterscheidung aber weiter an Bedeutung verloren, weil die früheren Erleichterungen für Rückversicherungsunternehmen weitgehend weggefallen sind. Vorrangig ist zu klären, ob Captives Versicherungsunternehmen im aufsichtsrechtlichen Sinne sind. Dies ist für die Frage entscheidend, ob die aufsichtsrechtlichen Regelungen im Versicherungsaufsichtsgesetz auf Captives anzuwenden sind. Dafür müsste der Geltungsbereich des Versicherungsaufsichtsgesetzes eröffnet und Captives als Versicherungsunternehmen i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 VAG einzustufen sein. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 VAG gilt der regulatorische Rahmen des Versicherungsaufsichtsgesetzes für „Versicherungsunternehmen“. Dies sind nach der Legaldefinition des §  7 Nr.  33 VAG „Erst- und Rückversicherungsunternehmen, die den Betrieb von Versicherungsgeschäften zum Gegenstand haben und nicht Träger der Sozialversicherung sind, wobei der Gegenstand eines Rückversicherungsunternehmens ausschließlich die Rückversicherung ist“, dann aber auch „Versicherungsunternehmen eines Drittstaats“. § 7 Nr. 33 und 34 VAG setzen den Betrieb eines Erst- oder Rückversicherungsgeschäfts vo­ raus, ohne diesen Betrieb wiederum zu definieren. Insoweit können aber die im Folgenden beschriebene Kasuistik der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und die Solvency II-Richtlinie zur Präzisierung herangezogen werden, wenngleich auch die Solvency II-Richtlinie den Betrieb des Versicherungsgeschäfts nicht näher konturiert. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts versteht man unter einem Versicherungsunternehmen „ein Unternehmen, das für den Fall eines unbestimmten Ereignisses gegen Entgelt bestimmte Leistungen (Garantieversprechen) übernimmt, wobei das Risiko auf einen großen Personenkreis verteilt wird und die Prämien entsprechend auf der Grundlage des Gesetzes der großen Zahl kalkuliert werden“ (BVerwG, VersR 1993, 1217; VersR 1992, 1381, 1382; VersR 1987, 453, 454; VersR 1987, 701, 702; VersR 1980, 1013; siehe auch Präve 2018, § 1, Rn. 31). Bis 1980 qualifizierte die Vorgängerbehörde der heutigen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht („BaFin“), das ­Bundesamt für Versicherungswesen („BAV“), Versicherungs-Captives nur dann als Versi-

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cherungsunternehmen, wenn neben dem Konzernunternehmen auch externe Versicherungsnehmer versichert wurden. Soweit „nur“ Risiken der eigenen Muttergesellschaft oder von konzerneigenen Unternehmen auf die Captives transferiert wurden, mithin sich der Risikotransfer auf „firmeneigene“ Risiken beschränkte, hat man dies als einen internen Konzernvorgang betrachtet, der per se keinen Aufsichtstatbestand auslöste, weil ihm das Schutzbedürfnis abgesprochen wurde. Diese Aufsichtspraxis wurde aber nach einer Aufforderung durch die EU-Kommission, Captives auch als Versicherungsunternehmen anzuerkennen, aufgegeben (BAV, VerBAV 1980, 162; hierzu Franz 2015, Rn. 28). Grund dafür war die hiervon abweichende Aufsichtspraxis in den übrigen EU-Ländern, sodass im europäischen Sinne eine einheitliche Auslegung des Begriffs „Versicherungsunternehmen“ geboten war (BAV, VerBAV 1980, 162). Spätestens seit Inkrafttreten der Solvency II-­ Richtlinie war die damalige Aufsichtspraxis auch europarechtlich nicht mehr haltbar. So heißt es in Erwägungsgrund 10 der Solvency II-Richtlinie: „Die in dieser Richtlinie enthaltenen Verweise auf Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen sollten fir­ meneigene Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen abdecken, es sei denn, für diese Unternehmen wurden besondere Bestimmungen festgelegt“. Hiernach wird nicht mehr nach firmeneigenen und externen Risiken unterschieden. Noch deutlicher sind die Definitionen des „firmeneigenen“ Versicherungsunternehmens in Art. 13 Nr. 2 Solvency II-Richtlinie und „firmeneigenen“ Rückversicherungsunternehmens in Art. 13 Nr. 5 Solvency II-Richtlinie gefasst, soweit es dort heißt, dass das (Rück-)Versicherungsunternehmen ausschließlich Risiken des Unternehmens oder der Unternehmen, dem bzw. denen es gehört, oder eines oder mehrerer Unternehmen der Gruppe, der es angehört, (rück-)versichert. Folglich sind auch Versicherungs-Captives, die keine externen Versicherungsnehmer zulassen, grundsätzlich als Versicherungsunternehmen im aufsichtsrechtlichen Sinne anzusehen und unterfallen damit dem Anwendungsbereich des Versicherungsaufsichtsgesetzes, wenn nicht allgemeine Erwägungen entgegenstehen, z. B. die Kalkulation des Beitrags nicht nach versicherungstechnisch anerkannten Grundsätzen möglich ist (vgl. Franz, in Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, § 5 Rn. 28). Freilich deutet die Formulierung „ausschließlich“ auch darauf hin, dass die captive-­spezifischen Sonderregeln der Solvency II-Richtlinie nur Captives erfassen, die ausschließlich konzerneigene Risiken absichern, sogenannte Pure Captives (ungenau insoweit Beckmann, in Dauses und Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Kapitel E.VI Rn. 90, der meint, die Solvency II-Richtlinie sei nur auf Pure Captives anwendbar). Versicherungsunternehmen sind aber nicht gehindert, im Rahmen ihres Captive-Modells als sogenannte Broad Captive auch konzernfremde Risiken abzudecken. Das kann z. B. sinnvoll sein, wenn die Drittrisiken den Konzernrisiken ähneln, sodass Schätzrisiken verringert werden können (vgl. Franz 2015, Rn. 10). Damit lässt sich eine Versicherungs-­Captive als ein selbstständiges, konzerneigenes Versicherungsunternehmen, das ausschließlich oder überwiegend die Risiken der eigenen Konzerngesellschaften abdeckt, definieren (vgl. Franz 2015, Rn. 1). Es unterfällt den aufsichtsrechtlichen Anforderungen des Versicherungsaufsichtsgesetzes an ­Versicherungsunternehmen.

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Abzugrenzen ist die aufsichtspflichtige Captive von anderen Formen der Selbstversicherung, in denen eines der o. g. Merkmale nicht erfüllt ist. Das kann etwa bei Poolstrukturen oder Rücklagenfonds der Fall sein, in denen etwa kein rechtstechnisch durchsetzbarer Anspruch gewährt wird oder in denen Leistungen nur nach Maßgabe der verfügbaren Mittel erbracht werden. In diesen Fällen geht es dann regemäßig nicht um die Übernahme von Risiken im versicherungstechnischen Sinne gegen Entgelt, weil dann der Pool oder auch der Rücklagenfonds, seien sie auch juristisch verselbstständigt, kein Risiko übernimmt. Zur Frage, ob so eine Struktur aufsichtspflichtig ist oder nicht, kann die BaFin auf Grundlage des § 4 VAG befragt werden, die dazu dann auch ggf. einen feststellenden (und gebührenpflichtigen) Verwaltungsakt erlässt. Dabei hat die BaFin keinen Ermessensspielraum. Der Verwaltungsakt bindet andere Verwaltungsbehörden, wozu auch die Registergerichte gehören (vgl. Präve 2018, § 4, Rn. 12). Er kann mittels Anfechtungsklage angefochten werden.

13.2.2 Im Besonderen: Unterscheidung zwischen Erstversicherungsund Rückversicherungs-Captives Es lassen sich Erst- und Rückversicherungs-Captives unterscheiden. Da beide Captive-­ Formen als Versicherungsunternehmen im Sinne des Aufsichtsrechts einzustufen sind (in Deutschland sind Rückversicherungsunternehmen seit 2005 aufsichtspflichtig), gelten im Grundsatz alle für Versicherungsunternehmen bestehenden Anforderungen ebenso für Captives. Zum Teil lassen sich aber Besonderheiten für die Erstversicherungs- oder Rückversicherungs-­Captive ausmachen. In der Erstversicherungs-Captive-Konstellation kontrahiert das eigens von dem Konzernunternehmen gegründete Erstversicherungsunternehmen im Rahmen eines Versicherungsvertrags mit den Unternehmen des Konzerns. Hier sind Konstellationen denkbar, in denen einzelne Unternehmen des Konzerns Versicherungsnehmer oder als mitversicherte Unternehmen in eine Konzernpolice eingeschlossen sind (vgl. Franz 2015, Rn.  6). Der zwischen dem Versicherungsnehmer und der Erstversicherungs-Captive geschlossene Versicherungsvertrag ist nach den üblichen versicherungsvertraglichen Maßstäben zu bewerten und weist regelmäßig keine weiteren Besonderheiten auf. Mixed Captives, also solche, die sowohl Erst- als auch Rückversicherungsgeschäft betreiben, werden aufsichtsrechtlich wie Erstversicherungsunternehmen behandelt. Die Rückversicherungs-Captive findet sich in der Praxis häufig. In dieser Konstellation bestehen regelmäßig keine direkten versicherungsvertraglichen Verhältnisse zwischen dem Konzernunternehmen und der Captive. Vielmehr schließt das Konzernunternehmen mit einem außerhalb des Konzerns stehenden Erstversicherungsunternehmen, auch „Fronter“ genannt, einen Versicherungsvertrag ab (vgl. Minnik 2007, S.  1392). Der Fronter nimmt alle Maßnahmen vor, die für ein Versicherungsunternehmen üblich sind (zum Beispiel Prüfung und Policierung des zu erwartenden Risikos nach versicherungsmathematischen Grundsätzen, Schadenabwicklung). Diese versicherten Risiken werden von dem

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Fronter bei der Rückversicherungs-Captive rückversichert. Risiken, die die Rückver­ sicherungs-­Captive nicht selbst tragen kann, werden sodann typischerweise durch Retrozessionen weiter übertragen (vgl. Katschthaler und Topsch 2017, Rn. 28). Grundlage der Versicherungsverträge ist regelmäßig ein sogenanntes Fronting-­ Agreement, das den Erstversicherer zum Abschluss des Rückversicherungsvertrags mit der Captive verpflichtet. Daneben sind die vereinbarten Prämien geregelt. Die Erstversicherungsprämie setzt sich dabei aus der Fronting-Fee für den Versicherer und der Rückversicherungsprämie für die Captive zusammen (vgl. Franz 2015, Rn. 126). Seit Inkrafttreten und Umsetzung der Solvency II-Richtlinie ist Fronting im Gegensatz zur vorherigen Rechtslage dennoch unattraktiver geworden, weil sich die Eigenmittelanforderungen ­erhöht haben, was dazu geführt hat, dass die Fronting-Fees gestiegen sind und es zur ­Verknappung der Fronting-Kapazitäten gekommen ist (vgl. Franz 2015, Rn.  124). Die Verschärfung der Eigenmittelanforderungen gilt letztlich aber für alle Versicherungsunternehmen, die dem Solvency II-System unterfallen. Die Vorteile einer Rückversicherungs-Captive sind überwiegend aufsichtsrechtlicher sowie administrativer Natur. So kann das Konzernunternehmen mit der Rückversicherungs-­ Captive aufsichtsrechtliche Anforderungen, die ausschließlich für Erstversicherungsunternehmen relevant sind, vermeiden. Das gilt insbesondere für das Gebot zu Spartentrennung von Lebens- und Nichtlebensversicherung. Anders als bei der Erstversicherungs-Captive ist das Spartentrennungsgebot auf Rückversicherungs-Captives nach § 8 Abs. 4 Satz 1 und 2 VAG nicht anzuwenden (vgl. Geiger und Salfer, Rn. 55). Die Zulassung erhält das Versicherungsunternehmen lediglich für Rückversicherungsgeschäfte, vgl. § 8 Abs. 4 Satz 1 VAG. In welcher Sparte diese betrieben werden, ist – wie sich aus der Systematik zu § 8 Abs. 4 Satz 2 VAG ergibt – nicht von Bedeutung. Dies bietet Rückversicherungs-Captives den Vorteil, gleichsam betriebliche und mitarbeiterbezogene Risiken im Konzern zu zeichnen, deren Kumulation einer Erstversicherungs-Captive u.  U. verwehrt bliebe. So darf eine Erstversicherungs-Captive bspw. nicht eine Haftpflicht- neben einer Lebensversicherung betreiben. Daneben bestehen in bestimmten Konstellationen Zulassungsvorteile für bestimmte Drittstaaten-Rückversicherungs-Captives (hierzu Ziffer 2 lit. d) gg)). Zuletzt entfällt durch die Rückversicherungs-Captive-Konstellation ein administrativer Mehraufwand, der insbesondere im Zusammenhang mit der – für ein Erstversicherungsunternehmen obligatorischen – Schadenabwicklung entsteht.

13.2.3 Besondere Erleichterungen für firmeneigene (Erst- und Rückversicherungs-)Captives unter Solvency II und im deutschen Aufsichtsrecht Aus Erwägungsgrund 10 der Solvency II-Richtlinie ergibt sich, dass die Bestimmungen der Richtlinie auf firmeneigene Erst- und Rückversicherungsunternehmen (i. e. Pure Captives) anzuwenden sind, es sei denn, es bestehen gesonderte Bestimmungen. Nichts anderes kann für Broad Captives gelten, die nach allgemeinen Grundsätzen Versiche-

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rungsunternehmen i.  S.  d. Richtlinie sind. Die Besonderheit der Pure Captives ist aber darin begründet, dass ausschließlich konzerneigene Risiken abgedeckt werden. Dies bedeutet für die Pure Captive ein überschaubareres, wenngleich weniger diversifiziertes Risikoexposure verglichen mit anderen Versicherungsunternehmen. Bei Anwendung des Solvency II-Regelwerks auf firmeneigene Erst- und Rückversicherungsunternehmen soll deshalb nach Erwägungsgrund 21 auch der besondere Charakter dieser Versicherungsunternehmen berücksichtigt werden. Die BaFin will weiterhin einzelfallbezogen prüfen, ob Erleichterungen für firmeneigene Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen infrage kommen (vgl. etwa Grund 2017, S.  7). Ausdrücklich genannt werden in der Solvency II-Richtlinie Erleichterungen bei der Berechnung der Solvenzkapitalanforderungen und der Bewertung versicherungstechnischer Rückstellungen (hierzu unter Ziffer 2 lit. a) bb)). Eine weitere Erleichterung ist aber auch dem sogenannten Proportionalitätsprinzip zu entnehmen (hierzu unter Ziffer 2 lit. a) aa)).

13.2.3.1 Solvenzkapitalanforderungen, versicherungstechnische Rückstellungen Grundsätzlich sieht die Solvency II-Richtlinie die Möglichkeit vor, dass für Captives vereinfachte Anfordernisse zur Berechnung des erforderlichen Solvenzkapitals gelten (Beckmann, in Dauses und Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Kapitel E, Rn. 96; Drave, VW 2013, 18). So statuiert Art. 111 Abs. 1 lit. l) Solvency II-Richtlinie, dass die Europäische Kommission spezifische Durchführungsbestimmungen zur Bestimmung des erforderlichen Solvenzkapitals erlässt. Entsprechendes sieht die Solvency II-Richtlinie für die Vereinfachung der Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen vor, vgl. Art. 86 lit. h) Solvency II-Richtlinie. Eine obligatorische Vereinfachung der Anforderungen zur Berechnung des erforderlichen Solvenzkapitals sowie der versicherungstechnischen Rückstellung sieht die Richtlinie demgemäß nicht vor. Die genannten Durchführungsbestimmungen wurden aber mittlerweile in der Delegierte Verordnung (EU) 2015/35 („DVO“) erlassen (Beckmann, in Dauses und Ludwigs, Handbuch des EU-­Wirtschafts­ rechts, Kapitel E, Rn. 96). So sehen die Art. 88 ff. DVO Erleichterungen für die genannten Bereiche vor. Außer Acht gelassen werden darf aber nicht, dass die Erleichterungen für firmeneigene Versicherungen nur gelten, wenn sie die in Art. 88 und 89 DVO genannten weiteren Anforderungen einhalten. In jedem Fall muss eine vereinfachte Berechnung der Art, dem Umfang und der Komplexität der Risiken angemessen sein, was die Captive anhand einer umfassenden Beurteilung feststellen muss. Gegebenenfalls müssen alle Versicherten bzw. potenziell Anspruchsberechtigten der Erstversicherung Unternehmen der Gruppe der Captive sein und die Erstversicherungsverträge dürfen sich nicht auf eine Pflichthaftpflichtversicherung beziehen. Die gewährten Erleichterungen der Berechnung des Solvenzkapitals dürfen nicht mit der vorgegebenen Höhe des Solvenzkapitals, das das Erstversicherungs- und Rückversicherungsunternehmen mindestens erfüllen muss, verwechselt werden. In diesem Zusammenhang ergeben sich nur für Rückversicherungs-Captives konkrete Erleichterungen, vgl. Art. 129 Abs. 1 lit. d) iii Solvency II-Richtlinie. Dieser Regelung entsprechend weicht die

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Mindestkapitalanforderung von Rückversicherungs-Captives mit 1,2 Mio. € deutlich vom gesetzlichen Regelfall von Rückversicherungsunternehmen in Höhe von 3,6  Mio.  € ab (vgl. auch § 1 Abs. 2 Nr. 4 und 5 KapAusstV). Für Erstversicherungs-Captives gilt eine solche Erleichterung indes nicht – vielmehr gilt hier nach allgemeinen Grundsätzen eine Mindestkapitalausstattung von 2,5 bzw. 3,7 Mio. €, vgl. Art. 129 Abs 1 lit. d) i) und ii) bzw. § 1 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 KapAusstV (vgl. Beckmann, Rn. 96).

13.2.3.2 Erleichterungen über durch das Proportionalitätsprinzip eröffnete Spielräume Kleinen und mittleren Captives kommt unter der Solvency II-Richtlinie zudem der Proportionalitätsgrundsatz zugute. Freilich gilt dieser nicht ausschließlich für Captives, sondern für sämtliche Versicherungsunternehmen. Der Proportionalitätsgrundsatz konkretisiert den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und findet sich u. a. in Art. 29 Abs. 3 und 41 Abs. 2 Solvency II-Richtlinie wieder. Dabei wird das Solvency II-System von der sogenannten „doppelten Proportionalität“ geprägt (vgl. Dreher 2018, Einl., Rn.  129; Waldkirch 2017, Rn. 9): Wie sich aus Erwägungsgrund 19 S. 3 Solvency II-Richtlinie ergibt, soll der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum einen für die materiellen Anforderungen an die Versicherungsunternehmen und zum anderen für die Wahrnehmung der Aufsichtsbefugnisse gelten, mithin auf der Rechtsanwendungsebene (vgl. Dreher 2018, Einl., Rn. 129; Waldkirch 2017, Rn. 9). Bei Umsetzung dieser Vorgaben ist in jedem Einzelfall das Risikoprofil des jeweiligen Versicherungsunternehmens heranzuziehen (Merkblatt der BaFin vom 15.03.2019 zur Proportionalität in der Versicherungsaufsicht, abrufbar unter www.bafin.de). Das Proportionalitätsprinzip geht auch auf den prinzipienbasierten Ansatz des Solvency II-Systems zurück, der hinsichtlich der Anforderungen auch Gestaltungsspielräume eröffnet, welche den Aufsichtsbehörden im Einzelfall ermöglichen, die prinzipienbasierten aufsichtsrechtlichen Vorgaben angepasst auf das Risikoprofil des jeweiligen Versicherungsunternehmens umzusetzen (Merkblatt der BaFin vom 15.03.2019 zur Proportionalität in der Versicherungsaufsicht). Den Rahmen dieser Prüfung gibt Art. 29 Abs. 3 Solvency II-Richtlinie vor. Danach stellen die Mitgliedsstaaten sicher, dass die Vorschriften dieser Richtlinie auf eine Art und Weise angewandt werden, die der Wesensart, dem Umfang und der Komplexität der Risiken angemessen ist, die mit der Tätigkeit des Versicherungs- oder des Rückversicherungsunternehmens einhergehen. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben in § 296 Abs. 1 VAG umgesetzt. Die Vorteile, die die Anwendung des Proportionalitätsgrundsatzes für kleine und mittlere Captives bringen, sind in Erwägungsgrund 19 Satz 1 Solvency II-Richtlinie angedeutet. Danach soll die Richtlinie kleine und mittlere Versicherungsunternehmen nicht übermäßig belasten. Anders als manche Stimmen in der Literatur, die den Pro­por­tio­ nalitätsgrundsatz bei Anwendung der versicherungsaufsichtsrechtlichen Regelungen nur bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe angewandt wissen möchten (vgl. Dröse und Littmann 2012, S. 339, 346), ist dieser stets bei der Auslegung jeder aufsichtsrechtlichen Regelung zu berücksichtigen (so auch Waldkirch 2017, Rn.  9; Wandt und Sehrbrock,

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VersR 2012, 802, 807). Hierfür spricht bereits, dass Art. 29 Abs. 3 Solvency II-Richtlinie den Proportionalitätsgrundsatz nicht auf Vorschriften der Richtlinie beschränkt, die unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, sondern auf alle Vorschriften der Richtlinie bezieht (vgl. Wandt und Sehrbrock 2012, S. 802, 807). Ebenso heißt es in § 296 Abs. 1 Satz 1 VAG, dass die Aufsichtsbehörden die Vorschriften des Versicherungsaufsichtsgesetzes in einer Art und Weise anwenden, die der Art, dem Umfang und der Komplexität der Risiken angemessen ist, die mit der Tätigkeit des jeweiligen Versicherungsunternehmens einhergehen. Bei Anwendung der versicherungsaufsichtsrechtlichen Regelungen hat die BaFin daher das Risikoprofil der jeweiligen Captive stets zu berücksichtigen (vgl. Merkblatt der BaFin vom 15.03.2019 zur Proportionalität in der Versicherungsaufsicht). Vorteile für die Captive aufgrund des Proportionalitätsgrundsatzes lassen sich insbesondere im Bereich der Geschäftsorganisation und Compliance verorten (vgl. zum Ganzen auch Franz 2015, Rn. 33 ff.; vgl. für weitere Anwendungsbeispiele auch das Merkblatt der BaFin vom 15.03.2019 zur Proportionalität in der Versicherungsaufsicht). Nach §  23 Abs. 1 Satz 1 VAG müssen Versicherungsunternehmen über eine Geschäftsorganisation verfügen, die wirksam und ordnungsgemäß ist und die der Art, dem Umfang und der Komplexität ihrer Tätigkeiten angemessen ist. Der hierin aufgenommene Proportionalitätsgrundsatz ermöglicht einzelfallgerechte Anforderungen etwa bei der Einbindung des Vorstands oder Aufsichtsrats in die Versicherungsgeschäfte, der Komplexität der Risiken und unter Berücksichtigung sonstiger sachlicher und personeller Ausstattung (vgl. Dreher 2018, § 23, Rn. 25). Entsprechende Erwägungen gelten auch für die Schlüsselfunktionen der Governance, beispielsweise den Bereich Compliance, soweit § 29 Abs. 1 Satz 1 VAG eine angemessene unternehmensinterne Berichterstattung auf allen Unternehmensebenen vorschreibt. Je komplexer die Risiken sind, die die Captive übernimmt, desto höher sind die Anforderungen an die Kontrolle der Captive zu stellen (vgl. Michael und Kübler, § 29, Rn. 30 f.; vgl. auch Drave 2013, S. 18; anschaulich auch Michael, S. 1, 19 ff.). Sofern die Captive nur konzerninterne Risiken abdeckt, sind diese in der Regel besser einzuschätzen, sodass die Anforderungen der Kontrolle in aller Regel geringer ausfallen können. Auch hinsichtlich der „externen“ Berichterstattung für Aufsichtszwecke gemäß den §§  43  ff. VAG kennt das Versicherungsaufsichtsgesetz Erleichterungen für firmeneigene Versicherungsunternehmen. Demgemäß hat die BaFin nach § 45 Abs. 5 Nr. 10 VAG bei der Prüfung, ob der Aufwand für die Übermittlung von Informationen im Verhältnis zu Art, Umfang und Komplexität der Risiken des Unternehmens übermäßig wäre, zu berücksichtigen, ob das firmeneigene Versicherungsunternehmen nur konzerneigene Risiken abdeckt. Entsprechendes gilt im laufenden Geschäftsbetrieb gemäß § 40 Abs. 2 Satz 2 VAG für den SFCR-Bericht (vgl. Hoffmann 2018, Rn. 39). Hier zeigt sich deutlich, dass die Captive jedenfalls bisher keine besondere Berücksichtigung im Gesetz gefunden hat. Vielmehr ist der Proportionalitätsgrundsatz in gleicher Weise wie bei übrigen Versicherungsunternehmen anzuwenden. Auf Personalebene lässt das Proportionalitätsprinzip sogar u.  U. die Zusammenfassung von Schlüsselfunktionen zu (vgl. Grund 2017, S. 7 – mehr hierzu unter Ziffer 2 lit. d) bb)).

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Erleichterungen über den Proportionalitätsgrundsatz führen aber nicht dazu, dass den kleinen und mittleren Captives Begünstigungen zukommen, die sich materiell gravierend von dem im Versicherungsaufsichtsgesetz normierten Aufsichtsniveau unterscheiden. Die Grenze etwaiger über das Proportionalitätsprinzip begründbarer Erleichterungen ist dort erreicht, wo die Vorschriften der Solvency II-Richtlinie bzw. die darauf beruhenden nationalen Regelungen Mindestanforderungen festlegen. Es gilt dann das Untermaßverbot, sodass der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie diese Mindestanforderungen einhalten muss. Auch die Captive muss diese Mindestanforderungen einhalten, sodass an dieser Stelle hinsichtlich der Frage, ob die Anforderungen eingehalten werden, kein Entscheidungsspielraum besteht. Entsprechendes gilt für die BaFin, der hinsichtlich der Frage, ob sie die Norm auf die Captive anwendet, kein Ermessensspielraum offensteht. Lediglich bei Fragen, wie die Anforderungen umgesetzt und erfüllt werden müssen, kann mitunter ein Entscheidungsspielraum eröffnet sein. Das aus dem Proportionalitätsprinzip folgende Übermaßverbot ist also stets in Korrelation zum Untermaßverbot zu lesen und auch von der Aufsichtsbehörde anzuwenden. Dies zeigt sich auch in dem bereits angesprochenen § 23 Abs. 1 Satz 1 VAG sowie in Art. 41 Abs. 1 Solvency II-RL. Denn die einzelfallgerechten Anforderungen an die Geschäftsorganisation der Captive finden ihre Grenze dort, wo eine wirksame und ordnungsgemäße Geschäftsorganisation nicht mehr gewährleistet wäre (vgl. Dreher 2018, § 23, Rn. 25; Bornhorst und Bauerfeind 2015, S. 593; Bürkle 2012, S. 878, 881). Daneben reicht es im Rahmen der Governance nicht aus, dass überhaupt eine unternehmensinterne Berichterstattung vorhanden ist. Vielmehr muss diese ein Mindestmaß an Effektivität aufweisen, was nur durch hinreichende personelle und sachliche Ausstattung möglich ist (vgl. Bürkle 2012, S. 878, 884). In der Aufsichtspraxis ist im Übrigen zu beobachten, dass die Aufsichtsbehörde in den Fällen, in denen sie einen Missstand i. S. d. § 298 Abs. 1 VAG festgestellt hat, im Zweifel das volle Eingriffsinstrumentarium nutzt, dabei Proportionalitätsgesichtspunkte zurückstehen und diese die Eingriffsintensität behördlicher Maßnahmen nicht leiten. Das mag damit zusammenhängen, dass bei festgestelltem aufsichtlichen „Erfolgsunwert“ aus Sicht der Aufsichtsbehörde der Nachweis erbracht ist, dass die Geschäftsorganisation nicht wirksam und ordnungsgemäß war, sodass die Berechtigung zu einem Eingriff auch mittels Verwaltungsakten gegenüber dem Unternehmen oder den Geschäftsleitern als gerechtfertigt angesehen wird. Diese Entwicklung wird durch die neuesten Entwicklungen um Fälle wie Wirecard, in denen der BaFin ihrerseits vorgeworfen worden ist, nicht effektiv zu agieren, im Zweifel verschärft werden, sodass auch Captives auf die nach der Solvency II-Richtlinie vorgesehenen Milderungen und eine konsistente Anwendung des Proportionalitätsgrundsatzes nicht vertrauen sollten. Das kann sich in naher Zukunft aber ändern. So hat die EIOPA der Europäischen Kommission einen Vorschlag zur Anwendung des Proportionalitätsgrundsatzes unterbreitet (vgl. BaFin Journal 02/2021, S. 22 ff.; abrufbar unter www.bafin.de). Dieser enthält zum Beispiel neben Vorschlägen zur Erhöhung der Solvency-II-Eintrittsschwellenwerte des Art. 4 Solvency II-Richtlinie oder Erleichterungen im Berichtswesen auch Vorschläge zur Anwendung des Proportionalitätsgrundsatzes auf Pure Captives. Insoweit sind weitere Erleichterungen, insbesondere im Berichtswesen, geplant. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit der Vorschlag in Zukunft umgesetzt wird.

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13.2.4 Aufsichtsregime für Captive-Versicherungsunternehmen nach dem VAG Zunächst sei klargestellt, dass auch auf Captive-Rückversicherungsunternehmen alle für Rückversicherungsunternehmen geltenden Regelungen anwendbar sind. Daher bietet es sich an, die folgenden Ausführungen zu den allgemeinen aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Captive-Versicherungsunternehmen nicht nach Anforderungen an Erst- und Rückversicherungsunternehmen zu trennen. Nach § 7 Nr. 33 VAG sind unter „Versicherungsunternehmen“ ohnehin Erst-, aber auch Rückversicherungsunternehmen zu verstehen. Im Besonderen müssen Rückversicherungs-Captives aber die rückversicherungsspezifischen Anforderungen der §§ 9 Abs. 2, 5 VAG, 12 Abs. 1, 3 VAG (Antrag auf Erlaubnis) und des § 47 Nr. 4 VAG (Anzeigepflichten) beachten. Daneben bestehen rückversicherungsspezifische Privilegierungen in § 23 Abs. 1d (Produktfreigabeverfahren) und § 48 Abs. 6 VAG (Unanwendbarkeit bestimmter Anforderungen an den Versicherungsvertrieb). Schließlich sei auf den vierten Abschnitt des dritten Kapitels im zweiten Teil des Versicherungsaufsichtsgesetzes verwiesen, der insbesondere Vorschriften zu Bestandsübertragungen, Umwandlungen, der Finanzrückversicherung sowie Rückversicherungsunternehmen mit Sitz in einem anderen Mitglieds- bzw. Vertragsstaat enthält.

13.2.4.1 Geschäftszweck, sonstige Satzungs- und Zulassungsfragen Im Rahmen der Zulassung ergeben sich die Anforderungen für Captives aus den §§ 8 ff. VAG. In der Regel bestehen hier keine Besonderheiten zu den Anforderungen an die Zulassung von Versicherungsunternehmen. Die Aufnahme des Geschäftsbetriebs bedarf danach der Zulassung durch die BaFin. Mit dem Antrag auf Zulassung sind die in § 9 VAG aufgeführten Anlagen einzureichen, insbesondere ein Geschäftsplan. Diesen prüft die BaFin auch genau und in diesem Rahmen auch das angestrebte Geschäftsmodell auf seine Zukunftsträchtigkeit. Eine Versagung der Erlaubnis ist nur aus den in § 11 Abs. 1 und 2 VAG genannten Gründen möglich, vgl. § 11 Abs. 3 VAG. (1) Betrieb des Versicherungs- und/oder Rückversicherungsgeschäfts In der Satzung einer Captive sollte bestimmt werden, ob ausschließlich Rückversicherungsrisiken gezeichnet werden sollen oder auch Versicherungsrisiken, denn bestimmte aufsichtsrechtliche Erleichterungen können nur reine Rückversicherungs-Captives für sich in Anspruch nehmen. (2) Geschäftsplan/Tätigkeitsplan Captives müssen zur Aufnahme ihres Geschäfts die Erlaubnis der BaFin beantragen, §§ 8, 9 VAG.  Mit dem Antrag muss der Geschäftsplan der Captive eingereicht werden, §  9 Abs. 1 VAG.

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Begrifflich wurde vor Geltung des Solvency II-Systems zwischen Geschäftsplan für Erstversicherungsunternehmen und Tätigkeitsplan für Rückversicherungsunternehmen unterschieden, wobei Letzterer nach alter Rechtslage nicht der Genehmigung durch die BaFin bedurfte. Die Solvency II-Richtlinie greift diese begriffliche Unterscheidung nicht (mehr) auf. In Art. 18 Abs. 1 lit. c), 23 Solvency II-Richtlinie wird vielmehr allgemein der Tätigkeitsplan in Bezug genommen, der sowohl von Erst- als auch von Rückversicherungsunternehmen einzureichen ist. Auch in Deutschland wurde die sprachliche Unterscheidung aufgegeben, nachdem die sachliche Angleichung von Erst- und Rückversicherungsaufsicht durch Art. 18, 23 Solvency II vorgegeben wurde (vgl. Vogelgesang, Rn. 228). Im deutschen Recht wird nunmehr einheitlich vom Geschäftsplan gesprochen. Indessen handelt es sich dabei lediglich um eine begriffliche Abweichung von der Solvency II-­ Richtlinie. In diesem sind Zweck und Einrichtung der Captive, das Gebiet des beabsichtigten Geschäftsbetriebs sowie die Verhältnisse darzulegen, aus denen sich die künftigen Verpflichtungen des Unternehmens als dauernd erfüllbar ergeben sollen. Zusätzlich muss der Geschäftsplan der Captive die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 und 3 VAG erfüllen. Insbesondere ist die Satzung einzureichen, soweit sie sich nicht auf Allgemeine Versicherungsbedingungen bezieht, vgl. § 9 Abs. 2 Nr. 1 VAG, es müssen Angaben zu den Versicherungssparten gemacht werden, die betrieben werden sollen, vgl. § 9 Abs. 2 Nr. 2 VAG, und es sind Angaben zu den Basiseigenmittelbestandteilen gem. § 9 Abs. 2 i. V. m. §§ 89 Abs. 3, 95 VAG zu machen (vgl. hierzu Franz 2015, § 5 Rn. 38). Schließlich sind die Aufbaukosten für Verwaltung und Vertreternetz zu schätzen und das Vorhandensein der nötigen Mittel nachzuweisen, vgl. § 9 Abs. 2 Nr. 5 VAG. Für die ersten drei Geschäftsjahre müssen gem. §  9 Abs.  3 Satz 1 VAG im Geschäftsplan eine Planbilanz und eine Plan-­ Gewinn-­und-Verlust-Rechnung, Schätzungen der künftigen Solvabilitäts- und Mindestkapitalanforderung inklusive Berechnungsmethode und Schätzungen der voraussichtlich für deren Einhaltung und die Bedeckung der versicherungstechnischen Rückstellungen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel enthalten sein. Für Nichtlebensversicherungen und Rückversicherungen muss darüber hinaus eine Übersicht über die voraussichtlichen Verwaltungskosten und das voraussichtliche Beitragsaufkommen sowie die voraussichtliche Schadenbelastung enthalten sein, für Lebensversicherungen ein Plan, aus dem die Schätzungen der Einnahmen und Ausgaben bei Erstversicherungsgeschäften wie auch im aktiven und passiven Rückversicherungsgeschäft im Einzelnen hervorgehen. Zusätzlich zum Geschäftsplan sind die in § 9 Abs. 4 VAG genannten Unterlagen einzureichen. (3) Organisationsform Versicherungsunternehmen stehen verschiedene Organisationsformen zur Verfügung, vgl. §  8 Abs.  2 VAG: Möglich ist die Organisation als Aktiengesellschaft, Europäische Gesellschaft, Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit sowie als Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts; es lässt sich auch vom Rechtsformzwang im Versicherungsauf-

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sichtsrecht sprechen (siehe dazu Ziffer 13.3.2). Bei der Captive, an der ein anderes Unternehmen gesellschaftsrechtlich beteiligt sein soll, ergibt sich allerdings naturgemäß eine Beschränkung auf die Rechtsform der Aktiengesellschaft und Europäischen Gesellschaft, denn nur diese Rechtsformen ermöglichen die gesellschaftsrechtliche Beteiligung anderer Unternehmen (so auch Franz 2015, Rn. 36). Captives in der Form eines VVaG sind daher am Markt nicht präsent, was insbesondere an der mitgliedschaftlichen Ausgestaltung des VVaG liegt. Solche Formen erscheinen aber nicht gänzlich ausgeschlossen, denkt man etwa daran, dass Mitglieder des VVaG auch die einem Konzern angehörigen Unternehmen sein könnten. Da der VVaG anders als die Aktiengesellschaft kein Grundkapital hat und die §§ 291 ff. AktG nicht auf den VVaG anwendbar sind, kann der VVaG zwar nicht beherrschte Gesellschaft innerhalb eines Unterordnungskonzerns sein. Jedoch ließe sich daran denken, dass die Mitglieder bzw. Mitgliedervertreter in der obersten Vertretung dem Konzern angehören und Beschlüsse in dessen Interesse fassen (vgl. Peiner 1992, S. 920). Freilich kann nicht in jedem Fall sichergestellt sein, dass die Mitgliedervertreter stets in diesem Sinne entscheiden und sich nicht dem Einfluss des Konzerns entziehen werden (vgl. Peiner 1992, S. 920).

13.2.4.2 Interne Unternehmensorganisation Die Solvency II-Richtlinie zwingt Versicherungsunternehmen zu einer internen Unternehmensorganisation, die den Aufbau verschiedener Funktionen erforderlich macht, die im Grundsatz sowohl personell als auch sachlich voneinander zu trennen sind. Erleichterungen zu den strengen Governance-Anforderungen der Solvency II-Richtlinie sieht die Richtlinie nur in dem oben beschriebenen, sehr eingeschränkten Umfang vor. Das mag man damit kritisieren, dass dem besonderen Geschäftsmodell der Captives zu wenig Rechnung getragen wird, etwa wenn es um die Berichtspflichten oder das Risikomanagementsystem geht, zumal Letzteres gerade in Konzernzusammenhängen eingebettet in ein Konzernmanagement ist. Hier lässt sich aber feststellen, dass die BaFin in der Praxis nur wenig Raum für Erleichterungen sieht, ebenso wie sie sich wenig flexibel zeigt bei kleinen und mittleren Versicherungsunternehmen, wenngleich es Spielräume gibt, die die Richtlinie über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eröffnet. Auch Captives haben danach ein funktionierendes Governance-System aufzubauen und zu unterhalten, was gerade kleinere Captives vor Herausforderungen stellt. Es bleibt aber dabei, dass die vier verpflichtenden Governance-Funktionen – Risikomanagement, Compliance, versicherungsmathematische und Revisionsfunktion – einzurichten sind. Die Aufsichtsbehörde erlaubt aber in der Praxis gewisse Erleichterungen, wenn es um die strikte personelle Trennung nach risikoaufbauenden und risikokotrollierenden Funktionen und Tätigkeiten bei schwächer ausgeprägtem Risikoprofil geht. So kann bspw. ein Geschäftsleiter im Einzelfall zugleich intern verantwortliche Person für eine Schlüsselfunktion sein, wenn diese Gestaltung dem Risikoprofil des Unternehmens angemessen ist und Interessenkonflikte vermieden werden können (vgl. Grund 2017, S. 7). Gleichsam kann eine Person intern für eine Schlüsselfunktion verantwortlich sein und als Ausgliederungsbeauftragter eine andere Schlüsselfunktion verantworten (vgl. Grund 2017, S. 7).

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13.2.4.3 POG In § 23 Abs. 1a bis d VAG ist das sogenannte Produktfreigabeverfahren (Product Oversight and Governance – kurz POG) geregelt. Daraus ergibt sich für Erstversicherungs-Captives u. a. die Pflicht, ein Verfahren für die interne Freigabe zum Vertrieb jedes einzelnen Versicherungsprodukts oder jeder wesentlichen Änderung bestehender Versicherungsprodukte zu unterhalten, zu betreiben und regelmäßig zu überprüfen. Im Rahmen des Produktfreigabeverfahrens muss ein bestimmter Zielmarkt für jedes Versicherungsprodukt festgelegt und die Risiken des Zielmarktes müssen bewertet werden. Im Oktober letzten Jahres hat die EIOPA Hinweise zur POG veröffentlicht (EIOPA’s Approach to the Supervision of Product Oversight and Governance (POG); abrufbar unter https://www.eiopa.europa.eu). 13.2.4.4 Outsourcing Outsourcing – oder in der Terminologie des VAG „Ausgliederung“ – ist schon aufgrund der Grundkonzeption von Captives ständiger Gegenstand der Beratungspraxis. Denn Captives sind regelmäßig personell schlank aufgestellt, sodass die meisten Funktionen captive-­ extern erfüllt werden müssen, wenn sie nicht in Personalunion übernommen werden sollen (vgl. Auras 2017, S. 3 ff.). In der deutschen Praxis übernimmt die Captive von den vier Schlüsselfunktionen zumeist nur noch das Risikocontrolling. Das Aktuariat wird nahezu immer konzernextern und die interne Revision an den Mutterkonzern ausgelagert, Compliance jedenfalls meistens ausgelagert (vgl. Winkel 2017, S. 26). Insbesondere die Ausgliederung an konzerninterne Einheiten kann Synergieeffekte erzeugen (vgl. Auras 2017, S. 3, 6). § 32 VAG, der Vorgaben für die Ausgliederung macht, ist mangels einer abweichenden Klarstellung gerade auch auf diese konzerninternen Ausgliederungen anwendbar (vgl. Schaaf 2017, Rn. 23). Nach der Legaldefinition des § 7 Nr. 2 VAG ist eine Ausgliederung eine Vereinbarung jeglicher Form zwischen einem Versicherungsunternehmen und einem Dienstleister, aufgrund derer der Dienstleister direkt oder durch weitere Ausgliederung einen Prozess, eine Dienstleistung oder eine Tätigkeit erbringt, die ansonsten vom Versicherungsunternehmen selbst erbracht werden würde; bei dem Dienstleister kann es sich um ein beaufsichtigtes oder nicht beaufsichtigtes Unternehmen handeln. Die Definition des Art. 13 Nr. 28 Solvency II-Richtlinie, auf dem die deutsche Vorschrift beruht, ist trotz der Verwendung des Begriffs „Outsourcing“ und anderer geringfügiger sprachlicher Unterschiede inhaltsgleich (vgl. Schaaf 2017, Rn. 1). § 32 Abs. 1 VAG, der Art. 49 Abs. 1, 2 und Art. 38 der Solvency II-Richtlinie umsetzt, statuiert, dass Versicherungsunternehmen, die Funktionen oder Versicherungstätigkeiten ausgliedern, für die Erfüllung aller aufsichtsrechtlicher Vorschriften und Anforderungen verantwortlich bleiben. Nach § 32 Abs. 2 VAG dürfen die ordnungsgemäße Ausführung ausgegliederter Funktionen und Versicherungstätigkeiten, die Steuerungs- und Kontrollmöglichkeit des Vorstands sowie die Prüfungs- und Kontrollrechte der Aufsichtsbehörde nicht beeinträchtigt werden. Daraus folgt, dass Leitungsaufgaben der Geschäftsleitung nicht ausgelagert werden dürfen, sodass die Funktionsausgliederung insoweit beschränkt ist (vgl. Dreher 2018, § 32, Rn. 45).

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Ausgehend von § 32 Abs. 3, muss die Captive bei „der Ausgliederung wichtiger Funktionen und Versicherungstätigkeiten sicherstellen, dass wesentliche Beeinträchtigungen der Qualität der Geschäftsorganisation, eine übermäßige Steigerung des operationellen Risikos sowie eine Gefährdung der kontinuierlichen und zufriedenstellenden Dienstleistung für die Versicherungsnehmer vermieden werden“. Insbesondere das operationelle Risiko kann bei Captives erhöht sein, wenn zentrale Prozesse wie die Berechnung von versicherungstechnischen Rückstellungen extern erfolgen (vgl. Grund 2017, S. 7 f.). Die BaFin verlangt die Risikoanalyse dabei nicht nur – wie der Wortlaut von § 32 Abs. 3 VAG es suggeriert – bei der Ausgliederung wichtiger Funktionen, sondern bei jeder Ausgliederung (BaFin Rundschreiben 2/2017 (VA), Rn. 247). Ausgenommen von dieser Pflicht ist aber die für Captives besonders relevante gruppeninterne Ausgliederung (vgl. Franz 2015, 5 Rn. 45 m. w. N.). Gemäß § 47 Nr. 8 VAG muss die Captive der BaFin eine geplante Ausgliederung wichtiger Funktionen anzeigen. Daneben ist die Captive zur Anzeige über wesentliche Umstände in Bezug auf wichtige ausgegliederte Funktionen und Versicherungstätigkeiten verpflichtet, die nach Vertragsschluss eintreten, vgl. § 47 Nr. 9 VAG. Zu den wichtigen Funktionen gehören immer Schlüsselfunktionen und selbst definierte Schlüsselaufgaben sowie regelmäßig Vertrieb, Bestandsverwaltung, Leistungsbearbeitung, Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen, Rechnungswesen, Vermögensanlage und -verwaltung und die elektronische Datenverarbeitung im Hinblick auf wichtige versicherungstypische Tätigkeiten (BaFin Rundschreiben 2/2017 (VA), Rn. 256 f.) § 32 Abs. 4 VAG macht konkrete Vorgaben an den Ausgliederungsvertrag, mit dem die Captive eine effektive Überwachung des captive-externen Dienstleisters sicherstellen muss (vgl. Michael und Kübler, § 32, Rn. 24). Solange die Voraussetzungen von § 32 VAG erfüllt sind, spricht nichts gegen die Gesamtauslagerung aller für sich betrachtet auslagerungsfähiger Funktionen (kritisch dazu Franz 2015, Rn.  47). Allerdings ist der BaFin beim konzerninternen Outsourcing von Captive-­Funktionen daran gelegen (wie auch sonst), Interessenkonflikte zu vermeiden. Insbesondere wenn dieselbe Person intern eine Schlüsselfunktion und als Ausgliederungsbeauftragter eine andere Schlüsselfunktion verantwortet, fordert die BaFin effektive Vorkehrungen der Captive gegen Interessenkonflikte (vgl. Grund 2017, S. 7).

13.2.4.5 Laufende Aufsicht Da Captives in Deutschland Versicherungsunternehmen im Sinne des Versicherungsaufsichtsgesetzes sind, werden sie nach der erteilten Zulassung im Rahmen der sogenannten laufenden Aufsicht durch die BaFin überwacht. Für diese Überwachung stehen der BaFin allgemeine Aufsichtsbefugnisse nach den §§  298, 294 VAG sowie besonders geregelte Aufsichtsbefugnisse zur Verfügung. Allgemein hat die BaFin gegenüber Erstversicherungs-­ Captives sowie deren Vorstandsmitglieder, sonstige Geschäftsleiter und Mitglieder ihrer Kontrollorgane als Adressaten gem. § 298 Abs. 1 VAG die Pflicht, Missstände zu beseitigen. Missstände sind Verhaltensweisen der Captive, die den Aufsichtszielen von §  294

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Abs. 2 VAG widersprechen. Dabei ist die BaFin in EU-rechtskonformer Auslegung nur zur Legalitätsaufsicht befugt (vgl. Brand 2017, Rn. 35 ff.). § 298 Abs. 2 VAG enthält eine korrespondierende Generalklausel, die die BaFin auch gegenüber Rückversicherungs-Captives und deren Vorstandsmitglieder, Geschäftsleiter und Kontrollorgan-Mitglieder ermächtigt. (Aufsichts-)„Maßnahmen“ i. S. d. § 298 VAG können sowohl präventiv als auch repressiv sein und ergehen in Form von Verwaltungsakten, gegebenenfalls in Form der Allgemeinverfügung. Neben ihren allgemeinen Aufsichtsbefugnissen hat die BaFin diverse, im  VAG verteilte besondere Aufsichtsbefugnisse. Für Captives kann beispielsweise die Anordnungsbefugnis der BaFin, den variablen Vergütungsanteil von Mitarbeitern oder Geschäftsleitern zu beschränken oder gar zu streichen, vgl. §  25 Abs.  4 VAG, relevant werden. Zwar lässt die BaFin gerade bei den oft notwendigen gruppeninternen Ausgliederungen eine captive-externe Vergütungsabwicklung zu. Das gilt aber nur insoweit, wie den aktien- und aufsichtsrechtlichen Vorgaben durch ausreichende vertragliche Regelungen zwischen den Parteien Rechnung getragen wird (vgl. Grund 2017, S. 7 f.). Des Weiteren kann die BaFin beispielsweise bei unzureichender Höhe versicherungstechnischer Rückstellungen der Captive gemäß § 133 Abs. 1, 2 VAG die freie Verfügung über die Vermögenswerte des Unternehmens einschränken bzw. untersagen.

13.2.4.6 Captives mit Sitz innerhalb der EU/des EWR Die Anforderungen der Zulassungs- und laufenden Aufsicht an Captives als Versicherungsunternehmen sind unter Geltung des Solvency II-Systems innerhalb der EU/des EWR weitgehend harmonisiert und vereinheitlicht. Allerdings zielt die Solvency II-­ Richtlinie nicht auf eine Vollharmonisierung, sondern regelt häufig nur Mindestanforderungen, von denen die Mitgliedsstaaten abweichen können. Wollen die Captives mit Sitz im europäischen Ausland auch in Deutschland Verträge zeichnen, müssen sie besondere Anforderungen erfüllen. Die regulatorischen Anforderungen an den Versicherungsbetrieb im Dienstleistungsund Niederlassungsverkehr regeln die §§  61  ff. VAG bzw. §  169 VAG für reine Rückversicherungs-­Captives. Damit werden Captives mit Sitz innerhalb der EU bzw. des EWR aufsichtsrechtlich einheitlich wie Erst- oder Rückversicherungsunternehmen behandelt. Im Einzelnen ist hier insbesondere zu beachten, dass das Merkmal der „Mittelsperson“ im Gegensatz zur Vorgängerregelung des § 110a Abs. 1 Satz 1 VAG a. F. keine Vo­ raussetzung mehr für die Anwendung der §§  61  ff. VAG ist. Weil dieses Merkmal der Mittelsperson entfallen ist, dessen genaue Reichweite früher umstritten war (siehe zur Übersicht zum Meinungsstand Pohlmann 2019, § 105, Rn. 39 ff. m. w. N.), könnte man der Auffassung sein, dass die Korrespondenzversicherung einer Captive innerhalb der EU/des EWR nach Deutschland nicht mehr aufsichtsfrei sei. Allerdings erfolgte die ­Streichung des Begriffs nach der Gesetzesbegründung allein, um die Voraussetzungen an die Solvency II-Richtlinie anzupassen (vgl. BT-Drs. 18/2956, S. 255). Die Korrespondenzversicherung bleibt daher aufsichtsfrei möglich (vgl. BT-Drs. 18/2956, S. 255). Nunmehr kann die Mittelsperson aber nicht mehr als Abgrenzungskriterium zur auf-

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sichtsfreien Korrespondenzversicherung herangezogen werden. Vielmehr ist die Frage mit Blick auf den Versicherungsnehmer zu beantworten und davon abhängig, ob er die Initiative ergreift, Versicherungsschutz beim ausländischen Versicherer zu erhalten (vgl. Baroch Castellvi 2017, Rn. 10; Franz 2015, Rn. 50; Grote 2018, Rn. 27). Sofern nach diesen Kriterien eine Korrespondenzversicherung nicht gegeben ist, ist das sogenannte Notifikationsverfahren durchzuführen. Für den Niederlassungsverkehr, das heißt den Betrieb des Versicherungsgeschäfts durch eine Niederlassung in Deutschland, ergeben sich die Anforderungen aus § 61 Abs. 2 VAG i. V. m. Art. 145 Abs. 2 und 3 Solvency II-Richtlinie. Zuständig für die Aufsicht über Captives sind dann die Aufsichtsbehörde des Herkunftsstaats und die BaFin, sofern die Zeichnung von Verträgen in Deutschland erfolgt. Die Finanzaufsicht übernimmt gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 VAG die Aufsichtsbehörde des Herkunftsstaats. Die Aufsicht der BaFin beschränkt sich auf die „Aufsicht im Übrigen“, womit die sogenannte Rechtsaufsicht gemeint ist.

13.2.4.7 Captives mit Sitz in Drittstaaten außerhalb der EU/des EWR Nehmen Captives mit Sitz in sogenannten Drittstaaten den Versicherungsbetrieb in Deutschland auf, gelten für sie die Anforderungen der Solvency II-Richtlinie nicht. Grundsätzlich sind für sie die regulatorischen Anforderungen ihres Herkunftsstaats maßgeblich. Mitunter bestehen aber auch Aufsichtsanforderungen nach deutschem Recht. Diese ergeben sich aus den §§ 67 ff. VAG. Am wichtigsten ist für Captives mit Sitz in Drittstaaten, dass sie für die Aufnahme des Erst- oder Rückversicherungsgeschäfts in Deutschland grundsätzlich der Erlaubnis der BaFin bedürfen, § 67 Abs. 1 Satz 1 VAG. Hierfür bestehen für das Rückversicherungsgeschäft über die Dienstleistungstätigkeit vom Sitz im Herkunftsstaat aus nach § 67 Abs. 1 Satz 2 VAG zwei wichtige Ausnahmen: Einerseits kann die EU bilateral mit Drittstaaten geringere Aufsichtsanforderungen vereinbart haben (so im Jahr 2017 durch ein bilaterales Abkommen mit den USA erfolgt). Andererseits kann die Europäische Kommission gemäß Art.  172 Abs.  2, 4 Solvency II-Richtlinie eine sogenannte „Gleichwertigkeitsentscheidung“ getroffen haben, wonach die Solvabilitätssysteme des Herkunftsstaats den Anforderungen der Solvency II-Richtlinie entsprechen (eine aktuelle Liste der Gleichwertigkeitsentscheidungen ist abrufbar unter https://www.eiopa.europa.eu). Die Tatsache, dass für Bermuda und die Schweiz Gleichwertigkeitsentscheidungen existieren, hat wohl einen Anteil daran, dass sich die Länder großer Beliebtheit als Captive-Standorte erfreuen. Liegen die genannten Ausnahmetatbestände nicht vor und gilt damit die Pflicht zur Einholung einer Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb, müssen die Captives mit Sitz in Drittstaaten eine Niederlassung in Deutschland errichten und einen Hauptbevollmächtigten mit Wohnsitz und ständigem Aufenthalt in Deutschland bestellen, § 68 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 VAG. Im Übrigen erklärt § 67 Abs. 2 VAG das gesamte VAG sowie die aufgrund der Solvency II-Richtlinie erlassenen delegierten Rechtsakte, technischen Regulierungsstandards und technischen Durchführungsstandards für anwendbar.

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13.3  Gesellschaftsrechtliche Aspekte und Besonderheiten bei Captives in Deutschland 13.3.1 Aus Sicht der Konzern- und Trägerunternehmen: Risikomanagement Aus Sicht der Konzernobergesellschaft ist die Gründung eines Captive-­Versicherungs­ unternehmens auch unter dem Gesichtspunkt des Risikomanagements zu betrachten. Allgemeine Handlungsgrundsätze lassen sich hier freilich nicht aufstellen. Die Ausgestaltung des Risikomanagements ist regelmäßig anhand der individuellen Gegebenheiten des Unternehmens (Branche, Größe, Risikoexposition etc.) auszurichten. Da die Konzernobergesellschaft nicht selten eine Aktiengesellschaft ist, sind im Hinblick auf Gründung und Beaufsichtigung der Captive § 91 Abs. 2 AktG für den Vorstand und § 107 Abs. 3 AktG für den Aufsichtsrat zu beachten. Wesentliches Kernelement eines Risikomanagements ist es, dass die Risiken des Unternehmens identifiziert und bewertet werden. Sodann ist zu überlegen, wie Risiken vermieden, vermindert und schließlich transferiert werden. Dabei kommt aus Sicht des Konzerns nicht nur der Risikotransfer auf externe Risikoträger in Betracht, sondern auch die Risikoübertragung auf eine Captive, zumal von dort die übernommenen Risiken wieder weiter übertragen werden können auf Rückversicherungsunternehmen. Der Einsatz einer Captive ermöglicht somit im Konzern eine jeweils fallbezogene Entscheidung über die Tragung beziehungsweise (teilweise) Auslagerung von Risiken durch Rückversicherung. Insofern kann eine Captive im Rahmen eines modernen Compliance-Managementsystems durchaus die Funktion einer adäquaten und flexiblen Absicherung konzerneigener Risiken übernehmen und damit einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung diesbezüglicher Pflichten leisten.

13.3.2 Rechtsformzwang für Captives nach dem VAG Als der Versicherungsaufsicht unterliegende Versicherungsunternehmen i.  S.  d. §§  1 Abs. 1 Nr. 1, 7 Nr. 33 VAG gilt für Captives mit Sitz in Deutschland ein strenger Rechtsformzwang. Nach § 8 Abs. 2 VAG darf die Erlaubnis nur Aktiengesellschaften (AG) einschließlich der Europäischen Gesellschaft (SE), Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit (VVaG) sowie Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts erteilt werden. Aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Eingliederung der Captive in eine Unternehmensgruppe kommen hiervon praktisch nur die AG sowie die SE als mögliche Rechtsformen in Betracht. Für Captives in der Rechtsform der AG gelten zunächst die Vorschriften des Aktiengesetzes. Da konzerneigene Versicherungsunternehmen typischerweise nur einen oder wenige Aktionäre haben, können sie die Erleichterungen für sogenannte „kleine Aktienge-

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sellschaften“ in Anspruch nehmen; die für börsennotierte bzw. kapitalmarktorientierte AGs geltenden Sonderregelungen finden üblicherweise keine Anwendung. Die Regelungen des Aktienrechts werden überlagert bzw. ergänzt von den Sonderregeln des Versicherungsaufsichtsrechts, welche Vorrang vor denen des AktG haben (vgl. Pohlmann 2019, § 8, Rn. 20). Deutsche Captives in der Rechtsform einer SE sind nicht bekannt oder jedenfalls unüblich. Die Vorteile dieser Rechtsform (insb. die mitbestimmungsrechtliche Flexibilität, die Möglichkeit eines monistischen Leitungssystems und das Prestige der europäischen Rechtsform) sind für ein konzerneigenes Versicherungsunternehmen regelmäßig nicht relevant. Für die im Folgenden behandelten gesellschaftsrechtlichen Themen wird in der SE-Verordnung bzw. dem SE-Ausführungsgesetz ohnehin weitgehend auf das deutsche AktG verwiesen. Daher wird die SE nachfolgend nicht näher besprochen. In anderen Rechtsordnungen mögliche Gestaltungen, insbesondere sogenannte „Protected Cell Companies“, durch welche Vermögenswerte und Verbindlichkeiten innerhalb einer Gesellschaft in verschiedene Zellen getrennt werden können (siehe hierzu Franz 2011, S. 3037, 3047; [...]); aber auch Wöhrmann und Bertogg 2020, Teil 3), sind bei in Deutschland ansässigen Captives nicht möglich.

13.3.3 Kapitalisierung/Beteiligungskontrolle Der Mindestnennbetrag des Grundkapitals einer AG beträgt gemäß § 7 AktG 50.000 € (bei einer SE 120.000 €). Bei einer Captive sind darüber hinaus die versicherungsaufsichtsrechtlichen Anforderungen an die Eigenmittel gemäß § 122 VAG zu berücksichtigen. Bei Erstversicherungs-Captives beträgt die absolute Grenze der Mindestkapitalanforderungen gemäß § 1 Abs. 2 der Kapitalausstattungs-Verordnung (KapAusstV) je nach Art der abgedeckten Risiken zwischen 2,5  Mio.  € und 3,7  Mio.  €. Bei Rückversicherungs-Captives beträgt die Mindestgrenze für firmeneigene Rückversicherungsunternehmen nach §  1 Abs. 2 Nummer 5 KapAusstV 1,2 Mio. €. Neben dem Grundkapital der AG werden nur bestimmte Mittel als Eigenmittel im Sinne des VAG anerkannt. Captives unterliegen wie alle Versicherungsunternehmen der Kontrolle bezüglich der Inhaber bedeutender Beteiligungen nach den §§ 16 ff. VAG (detailliert hierzu Bähr 2019, Rn.  1–3). Da ein konzerneigenes Versicherungsunternehmen häufig nur einen Aktionär (oder jedenfalls nur einen kleinen und stabilen Gesellschafterkreis) hat, ergibt sich hier im normalen Geschäftsverlauf eher wenig Handlungsbedarf. Allerdings ist zu beachten, dass die Existenz einer Captive auch im Falle einer Übernahme des Mutterunternehmens (oder bei einer wesentlichen Veränderung auf Gesellschafterebene) zur Durchführung eines Inhaberkontrollverfahrens nach den §§ 17 ff. VAG führen kann, da eine bedeutende Beteiligung gemäß § 7 Nr. 3 direkt oder indirekt gehalten werden kann.

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13.3.4 Vorstand/Aufsichtsrat Das Aktienrecht sieht in § 76 Abs. 3 AktG bestimmte Mindestanforderungen und Bestellungshindernisse für die Mitglieder des Vorstands einer AG vor. Darüber hinaus enthält das VAG besondere Vorschriften zur Qualifikation der Geschäftsleiter, welche auf die Geschäftsleiter eines (auch konzerneigenen) Versicherungsunternehmens ergänzend Anwendung finden. Geschäftsleiter sind nach § 24 Abs. 2 S. 2 VAG diejenigen natürlichen Personen, die zur Führung der Geschäfte und zur Vertretung des Versicherungsunternehmens berufen sind. Bei einer AG sind dies gemäß §§ 76, 78 AktG die Mitglieder des Vorstands. Diese Personen müssen insbesondere die Erfordernisse der Zuverlässigkeit und fachlichen Eignung gemäß § 24 Abs. 1 VAG erfüllen. Weiterhin sehen § 105 Abs. 1 AktG und § 24 Abs. 3 VAG Bestellungshindernisse im Hinblick auf andere Bestellungen als Aufsichtsrat oder Geschäftsleiter in mehr als zwei Versicherungsunternehmen vor, welche auch bei den Vorständen einer Captive zu beachten sind. Allerdings besteht nach § 24 Abs. 3 Satz 2 VAG für eine größere Anzahl von Mehrfachmandaten als Geschäftsleiter innerhalb einer Unternehmensgruppe die Möglichkeit einer Zulassung durch die Aufsichtsbehörde. Auch die Mitglieder des Aufsichtsrats einer Captive unterliegen den Anforderungen des § 24 VAG an Zuverlässigkeit und fachliche Eignung, da sie nach der Systematik des Gesetzes im Versicherungsunternehmen „andere Schlüsselaufgaben wahrnehmen“ (vgl. zur Qualifikation von Aufsichtsräten Pohlmann 2019, § 24, Rn. 22). Bei Captives ist hier insbesondere die fachliche Eignung bedeutsam, da häufig Mitarbeiter anderer Konzernunternehmen (nicht selten ohne Vorerfahrung im Versicherungsgeschäft) in den Aufsichtsrat einer Captive entsandt werden. Die BaFin berücksichtigt in diesen Fällen grundsätzlich auch deren berufliche Erfahrungen aus dem Nichtversicherungsbereich, unter Umständen müssen allerdings weitere Kenntnisse durch Fortbildungen hinzuerworben werden (siehe hierzu „Captives: BaFin lädt konzerneigene Versicherungsunternehmen zum Austausch“, abrufbar unter www.bafin.de). Trotzdem ist aufgrund der „Fit and Proper“-Anforderungen der BaFin eine Besetzung bzw. Nachbesetzung von Organfunktionen bei einer Captive (anders als bei nichtregulierten Konzerntochtergesellschaften) in der Regel mit erhöhtem Aufwand verbunden. Entsprechend sollten Personalmaßnahmen bzw. eine Nachfolgeplanung frühzeitig in Angriff genommen werden (um gegebenenfalls noch die Qualifizierung der entsprechenden Personen sicherzustellen). Da die Anzahl der Arbeitnehmer einer Captive üblicherweise recht niedrig ist, stellt sich die Frage nach einem mitbestimmten Aufsichtsrat regelmäßig nicht. § 24 Abs. 4 VAG sieht auch für die Mitglieder des Aufsichtsrats weitere Bestellungshindernisse vor, welche über die Anforderungen des Aktienrechts hi­ nausgehen. Zu erwähnen sind schließlich noch die Anforderungen des §  25 VAG an die Vergütungssysteme für Geschäftsleiter, Mitarbeiter und Aufsichtsratsmitglieder von Versicherungsunternehmen, welche auch bei einer Captive Anwendung finden. Hier kann es, vor allem beim Wechsel von Mitarbeitern aus anderen Konzernunternehmen in die Captive, zu Anpassungsbedarf bei der individuellen Vergütung kommen. Eine variable Vergütung darf sich in diesen Fällen nicht an Kennzahlen orientieren, die nicht zum ­Versicherungsgeschäft

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gehören. Die BaFin zeigt hier allerdings eine gewisse Flexibilität und akzeptiert gegebenenfalls auch eine Festvergütung für Organe im Hinblick auf deren Tätigkeit für die Captive als Teil eines Gesamtvergütungspakets, welches variable Vergütungsbestandteile für weitere Tätigkeiten im Konzern enthält.

13.3.5 Konzernrechtliche Aspekte Aus konzernrechtlicher Sicht stellt sich bei einer Captive regelmäßig vor allem die Frage nach einer Eingliederung als beherrschtes Unternehmen in den Mutterkonzern durch Abschluss eines Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrags gemäß § 291 Abs. 1 AktG zur Herbeiführung einer steuerlichen Organschaft. Hierbei sind die Vorgaben von § 9 Abs. 4 Nummer 1 b) VAG, wonach bei Beantragung der Zulassung als Versicherungsunternehmen Angaben zu Unternehmensverträgen zu machen sind, und von § 12 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 VAG zu beachten, wonach bei Erstversicherungsunternehmen Unternehmensverträge und deren Änderung, Aufhebung, Kündigung oder Beendigung durch Rücktritt erst in Kraft gesetzt werden dürfen, wenn sie von der Aufsichtsbehörde genehmigt worden sind.

13.3.6 Umwandlung, Sitzverlegung, Liquidation Konzerneigene Versicherungsunternehmen können Gegenstand von Restrukturierungsmaßnahmen sein, insbesondere aufgrund von Änderungen der steuerlichen oder rechtlichen Rahmenbedingungen, aber auch durch Veränderungen der Konzernpolitik oder sonstige Faktoren (zum Beispiel Übernahme, Restrukturierung oder M&A-Aktivitäten des Gesamtkonzerns). Umstrukturierungen können hierbei sowohl im Wege der Einzelrechtsnachfolge durch Übertragung von Vermögensgegenständen (Asset Deal) erfolgen als auch im Wege der (partiellen) Gesamtrechtsnachfolge nach dem Umwandlungsgesetz (zum Beispiel Verschmelzung von zwei Captives innerhalb desselben Konzerns). Hierbei bedürfen sowohl Bestandsübertragungen als auch Umwandlungsvorgänge nach den §§ 13, 14 VAG der Genehmigung der Aufsichtsbehörde. Weiterhin sind allgemeine Vorgaben (wie der beschränkte Kreis zulässiger Rechtsformen, in die ein Versicherungsunternehmen umgewandelt werden kann) zu beachten. Weiterhin kann sich aufgrund des Trends zur Nutzung von Offshore Captives (vgl. hierzu auch Krieger 2018; siehe aber auch Wöhrmann und Bertogg 2020, Teil 6) auch die Frage nach einer (grenzüberschreitenden) Sitzverlegung oder nach der Liquidation einer inländischen Captive (bei Neugründung einer ausländischen Captive) ergeben. Die grenz­ überschreitende Sitzverlegung einer deutschen Captive aus Deutschland „heraus“ ist aufgrund der Komplexität der gesellschafts-, steuer- und versicherungsrechtlichen Anforderungen allerdings kaum attraktiv, sodass eher die Gründung einer ausländischen Gesellschaft für Neugeschäft verfolgt wird.

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13.4  Schlussbemerkung Captives haben ihre Bedeutung im Konzernverbund von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen auch nach der Einführung des Solvency II-System nicht eingebüßt. Allerdings ist die Komplexität der Gründung und des laufenden Betriebs von Captives groß und sollte auf keinen Fall unterschätzt werden, denn die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Captives sind gestiegen und werden im Zweifel noch weiter steigen. Auf die strikte Beachtung des Proportionalitätsgrundsatzes durch die Aufsichtsbehörden kann nicht vertraut werden. Daraus folgt zwingend, dass sich Unternehmen umfassend mit den aufsichtsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen beschäftigen sollten, wenn sie beabsichtigen, eine Captive gründen und betreiben zu wollen. Insbesondere sollte eine Machbarkeitsstudie durchgeführt werden und mit der Aufsichtsbehörde das beabsichtigte Geschäftsmodell frühzeitig abgestimmt werden, insbesondere wenn die Captive ihren Sitz in Deutschland haben soll. Im laufenden Geschäftsbetrieb einer Captive ist es zwingend, die aufsichtsrechtlichen Entwicklungen genau zu monitoren und die sich daraus ergebenden Erfordernisse abzuleiten. Bei Captives sind die strategische Personalplanung und auch -weiterbildung nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Organe bedeutsam, denn nur der „sattelfeste“ Umgang mit den aufsichtsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen ist Voraussetzung für einen „störungsfreien“ Betrieb einer Captive.

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Dr. Gunne W. Bähr,  Rechtsanwalt, ist Partner in der Versicherungs- und Rückversicherungspraxis von DLA Piper UK LLP in Deutschland, Köln. Er ist spezialisiert auf Versicherungs- und Rückversicherungsrecht sowie unternehmensrechtliche Beratungen von Versicherern und Rückversicherern, insbesondere im Vertrags-, Aufsichts- und Vermittlerrecht. Zu seinen Mandanten gehören in- und ausländische Versicherer und Rückversicherer, InsurTechs/MGA und Versicherungsmakler, die er zu versicherungsrechtlichen Fragen berät, etwa bei der Produktentwicklung und zu Internationalen Versicherungsprogrammen, und in Prozessen und Schiedsverfahren vertritt. Besondere Expertise hat Dr. Bähr bei der Betreuung von komplexen Haftpflichtthemen und in Fragen der Rückversicherung. Dr. Bähr ist Autor zahlreicher versicherungsrechtlicher Aufsätze und Mitautor des Kommentars Kaulbach/Bähr/Pohlmann, Versicherungsaufsichtsgesetz (C. H. Beck) sowie Herausgeber des Handbuchs des Versicherungsaufsichtsrechts (ebenfalls C.  H. Beck). Vor dem Beginn seiner Anwalts­tätigkeit in Köln arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Versicherungsrecht der Universität Hamburg (1996–1999). Gunne W. Bähr ist Lehrbeauftragter der Universitäten Hamburg und Münster für Internationale Versicherungsprogramme und Versicherungsaufsichtsrecht.

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Gerald Schumann,  Rechtsanwalt, ist Rechtsanwalt und Partner am Münchener Standort von DLA Piper, dort in der Praxisgruppe Corporate tätig. Er berät nationale und internationale Mandanten bei M&A-Transaktionen u. a. im Versicherungssektor, sowohl bei öffentlichen Übernahmen als auch bei sonstigen Unternehmenszusammenschlüssen, Private-Equity- und Venture-Capital-­Transaktionen und der Gründung von Joint Ventures. Darüber hinaus ist er für zahlreiche Mandanten bei gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierungen und allgemeinen kapitalmarkt- und gesellschaftsrechtlichen Fragen tätig und berät auch zu Governance-Fragen bei Versicherern und Rückversicherern. Zu den Beratungsschwerpunkten von Gerald Schumann gehören Transaktionen in den Bereichen Versicherung und Finanzdienstleistungen, Technologie, Industrie und Nahrungsmittel.

Steuerliche Fragestellungen bei Captives

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Florian Schnabel und Stefan Sigulla

Inhaltsverzeichnis 14.1  Einleitung  14.2  Ertragsteuerliche Fragestellungen  14.2.1  Steuerrechtliche Anerkennung einer Captive  14.2.2  Besteuerung der Captive  14.2.3  Besteuerung der Versicherungsnehmer-Gesellschaften der Captive  14.2.4  Besteuerung der Anteilseigner der Captive  14.2.5  Problembereich Hinzurechnungsbesteuerung nach § 7 ff. AStG  14.3  Operative Steuern  14.3.1  Versicherungsteuer  14.3.2  Umsatzsteuer  14.3.3  Lohnsteuer/Entsendung  14.4  Schlussbemerkung  Literatur 

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Zusammenfassung

Erst- und Rückversicherungs-Captives werden aus den unterschiedlichsten unterneh­ menspolitischen und wirtschaftlichen Motiven gegründet. Neben aufsichts-, handels- sowie gesellschaftsrechtlichen Aspekten stellen sich auch wichtige Steuerfragen, die rechtF. Schnabel WTS Steuerberatung, München, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Sigulla (*) WTS Legal Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_14

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zeitig analysiert, beurteilt und schlussendlich bewertet werden müssen. Dies gilt sowohl bei der Auswahl eines geeigneten Captive-Standorts als auch beim laufenden Geschäftsbetrieb von Captives. Berücksichtigt werden müssen hierbei die Zielsetzungen und Auswirkungen bei den Anteilseignergesellschaften, aber auch bei der Erst- oder Rückversicherungs-Captive selbst. Reputationsrisiken, die sich auch aufgrund unbeabsichtigter steuerlicher (Folge-)Wirkungen ergeben könnten, sollten von Anbeginn an beim Aufsatz einer Captive-Struktur berücksichtigt und möglichst vermieden werden.

14.1 Einleitung Erfahrungsgemäß stehen Captives gerne auch im Fokus der Finanzverwaltung und sind regelmäßig Prüfungsgegenstand im Rahmen von turnusmäßigen Betriebsprüfungen der jeweiligen national zuständigen Finanzverwaltungen. Dabei sind – in Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung der Captive  – immer wieder auch Kontroversen zwischen Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung um Rechts- oder Bewertungsfragen zu beobachten, die bei negativem Ausgang Steuer- und Zinsnachzahlungen zur Folge haben können. Eine gezielte, vorausschauende steuerliche Beratung hilft dabei, diese Risiken zu erkennen und sie zu verhindern bzw. zumindest deutlich zu reduzieren. Im Folgenden soll ein Überblick über die wesentlichen steuerlichen Themen rund um Captives gegeben werden. Im ersten Teil werden ertragsteuerliche Fragestellungen behandelt, die sich klassischerweise im Zusammenhang mit Captive-Strukturen stellen. Dabei werden neben den allgemeinen Besteuerungsregeln für Captives auch ausgewählte Sonderthemen wie die Begründung einer steuerlichen Organschaft durch Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags oder Fragen des Außensteuerrechts behandelt. Im zweiten Teil wird auf einige ausgewählte Fragestellungen aus dem Bereich der Operativen Steuern eingegangen. Unter Operativen Steuern verstehen wir dabei Steuern, deren Auswirkungen sich aus buchhalterischer Sicht regelmäßig im operativen Ergebnis der Unternehmen und nicht „below the line“ in der Steuerzeile wiederfinden. Dazu zählen beispielsweise die Versicherungsteuer oder die Umsatzsteuer.

14.2 Ertragsteuerliche Fragestellungen Bei den folgenden Ausführungen zu zentralen ertragsteuerlichen Fragestellungen, die sich im Kontext einer Captive-Struktur ergeben können, wird eine in Deutschland ansässige Anteilseignergesellschaft als Muttergesellschaft einer in- oder ausländischen Captive in Form einer konzerneigenen Captive-Gesellschaft angenommen. Auf die Durchführungsform mithilfe einer sogenannten Versicherungszelle, die dem Konzern von einem externen Dienstleister zur Verfügung gestellt wird, wird hier nicht gesondert eingegangen. Die steuerlichen Fragen sind bei beiden Umsetzungsvarianten jedoch vergleichbar. Für die steuerrechtliche Beurteilung sind die konkrete Ausgestaltung der Geschäftsaktivitäten der Captive oder der Standort der Captive entscheidender als die Ausgestaltung als konzerneigene Captive oder als Versicherungszelle.

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14.2.1 Steuerrechtliche Anerkennung einer Captive Um steuerlich anerkannt zu werden, muss eine Erst- oder Rückversicherungs-Captive sämtliche Voraussetzungen eines anerkannten, am Erst- oder Rückversicherungsmarkt operierenden Versicherungsunternehmens erfüllen. Die aufsichtsrechtliche Genehmigung ist dabei regelmäßig ein starkes Indiz auch für eine steuerliche Anerkennung der Captive. Allerdings wird die steuerrechtliche Würdigung nach einem eigenen Kriterienkatalog vorgenommen und eine aufsichtsrechtliche Genehmigung führt nicht zwingend auch zur steuerlichen Anerkennung. Nur soweit die Captive diese steuerrechtlichen Voraussetzung vollumfänglich erfüllt, • kann die Versicherungsnehmer-Gesellschaft die an die Captive bezahlte Versicherungsprämie bei sich als steuerlich voll abzugsfähige Betriebsausgabe geltend machen (vgl. hierzu Abschn. 14.2.3). und im Gegenzug • kann die Captive im Rahmen der im jeweiligen Sitzstaat geltenden handels-, steuerund aufsichtsrechtlichen Grenzen auch steuerlich anerkannte, versicherungstechnische Rückstellungen bilanzieren (vgl. hierzu Abschn. 14.2.2). Soweit die Captive den nachfolgenden Kriterienkatalog erfüllt, kann davon ausgegangen werden, dass das Merkmal „Versicherungsunternehmen“ in steuerlicher Hinsicht vorliegt. Dabei sind die einzelnen Kriterien als Indizien zu verstehen, die in der Gesamtschau zu würdigen sind; die einzelnen Merkmale können dabei unterschiedlich stark ausgeprägt sein: • Die Captive trägt ein unternehmerisches Risiko. Dieses Kriterium ist dann nicht erfüllt, wenn die Captive aufgrund der vertraglichen Vereinbarungen mit Sicherheit mehr Versicherungsprämien einnimmt, als sie für Schäden (zum Beispiel wegen eines Haftungs-Höchstbetrags) und Betriebskosten ausgeben muss. Ein nötiger Risikotransfer auf die Captive liegt des Weiteren auch dann nicht vor, soweit die Versicherungsnehmer-Gesellschaften eine Freistellungs-, Durchgriffs- oder Garantieklausel akzeptiert haben, die im Konkursfalle der Captive das komplette Risiko auf die Versicherungsnehmer-Gesellschaften (zurück) abwälzt (vgl. Hets 1995, S. 98).1 • Die Captive unterhält einen, zum Markt vergleichbar agierenden, geschäftsmäßigen Betrieb. Ob die Captive formell der Versicherungsaufsicht unterliegt, ist dabei wohl nicht zwingend ausschlaggebend. Es spricht jedoch eine starke Vermutung dafür, dass ein Versicherungsunternehmen i. S. d. Aufsichtsrechts auch handelsrechtlich und s­ teuerlich als ein Erst- oder Rückversicherungsunternehmen zu qualifizieren ist (vgl. Roser 2020, Rn 2). • Die Captive kalkuliert ihre Erst- bzw. Rückversicherungsprämien aus den Erfahrungen der Vergangenheit auf Basis mathematisch belegbarer Wahrscheinlichkeitsannahmen oder statistischer Gefahrenmerkmale. Das heißt:

 Zu der Fragestellung, ob eine Captive zulässigerweise einen Verlustausgleichsanspruch gegen ihre Muttergesellschaft haben kann, der sich beispielsweise mit dem Abschluss eines Beherrschungsund Ergebnisabführungsvertrags ergibt, vgl. Abschn. 14.2.4.3 1

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–– Die Versicherungsgeschäfte müssen „geschäftsmäßig“, unter Beachtung einer nach dem Gesetz der großen Zahl beruhenden Kalkulation und für einen längeren Zeitraum betrieben werden (das bedeutet konkret: Wagnisausgleich im Kollektiv, Prämienberechnung nach anerkannten versicherungsmathematischen Grundsätzen). „Gelegentliche“ Abschlüsse von Versicherungsverträgen erfüllen das Kriterium eines geschäftsmäßigen Versicherungsunternehmens hingegen nicht. –– Dabei ist es sicher hilfreich, darlegen zu können, wenn die Captive mit unterschiedlichen Versicherungsnehmern kontrahiert, also eine Vielzahl von Versicherungsverträgen abschließt. Andererseits können auch in einzelnen Konzernverträgen Risiken einer Vielzahl von Konzerngesellschaften „gepoolt“ werden. In diesen Fällen ist zu überlegen, ob nicht damit bereits der für das Versicherungsgeschäft typische Risikoausgleich im Kollektiv stattfindet. –– Leistung und Gegenleistung müssen einem „typischen“ Versicherungsvertrag entsprechen, m. a. W. neben einer marktüblichen Versicherungsprämie muss die Captive im Schadenfall auch unbedingt zur Leistung verpflichtet sein. • Die Captive darf nicht ausschließlich aus steuerlichen Gründen gegründet worden sein. Gibt es nur steuerliche Gründe für die Captive-Gründung, legt dies einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO nahe (vgl. hierzu auch Franz 2020, Rz. 89). • Die Captive sollte neben Risiken der Muttergesellschaft bzw. anderen Konzernunternehmen auch Risiken von fremden Dritten, also nicht konzernzugehörigen Versicherungsnehmer-­ Gesellschaften, versichern. Ob eine Fremdversicherung und damit ein Versicherungsunternehmen auch dann noch angenommen werden kann, wenn die Versicherungsdeckung bei einem Konzernunternehmen genommen wird, das von den Versicherten vollständig beherrscht wird und das ausschließlich diese Personen versichert, ist nicht abschließend geklärt. Auf das Zeichnen von Fremdgeschäft kommt es aber wohl nicht an, wenn die Captive auch ohne Fremdgeschäft ausreichend groß ist, um die Kriterien eines Versicherungsunternehmens zu erfüllen (ähnlich in Hets 1995, S. 97). Das Vorhandensein von Fremdgeschäft erleichtert aber vielfach die Diskussionen mit der Finanzverwaltung und ist insbesondere im Kontext einer möglichen Hinzurechnungsbesteuerung nach dem AStG ein wesentliches Argument (vgl. Abschn. 14.2.5 „Hinzurechnungsbesteuerung“). Einen ähnlichen Kriterienkatalog definiert die OECD.  Nach deren Auffassung betreibt eine Captive dann ein anzuerkennendes Versicherungsgeschäft, wenn die folgenden sechs Indikatoren vollständig oder weitgehend vollständig („all or substantially all“) erfüllt werden (OECD Transfer Pricing Guidance on Financial Transactions inclusive Framework on BEPS, Andresen 2020, S. 494 ff.): • In der Captive finden Risikodiversifizierung und das Poolen von Risiken statt. • Die Eigenkapitalsituation der Konzerngesellschaften hat sich durch die Risikodiversifikation verbessert und schafft dadurch einen betriebswirtschaftlichen Vorteil für die Unternehmensgruppe. Dabei wird durch das Poolen von nichtkorrelierten Risiken oder von Risiken aus unterschiedlichen geografischen Regionen der Gesamtkapitalbedarf der Gruppe redu-

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ziert. Der Diversifikationseffekt und damit die Kapitaloptimierung kann darüber hinaus durch die Hinzunahme von konzernexternen Risiken oder durch die Weitergabe konzerninterner Risiken an den externen Rückversicherungsmarkt weiter verbessert werden. Sowohl die Captive-Erst- bzw. -Rückversicherung als auch jeder ihrer konzerninternen als auch -externen Versicherer sind aufsichtsrechtlich regulierte Einheiten, von denen die Aufsichtsbehörden einen Nachweis über den Risikotransfer und eine angemessene Kapitalbasis verlangen können. Das versicherte Risiko des Konzerns wäre auch außerhalb des Konzerns, also auch am Fremdmarkt, versicherbar gewesen. In der Praxis wird dieser Punkt häufig nicht vollständig erfüllbar sein. Im Gegenteil ist die Schwierigkeit der externen Versicherbarkeit manchmal einer der Beweggründe für die Gründung einer Captive. Insoweit ist es wichtig, dass die aufgelisteten Kriterien in der Gesamtschau zu betrachten sind. Die Nichterfüllung eines einzelnen Kriteriums führt nicht automatisch zur Nichtanerkennung der Captive. Die Captive verfügt über die erforderlichen Kompetenzen, einschließlich jener im Investment Management und hat erfahrenes Personal mit der notwendigen Expertise zum Betreiben des (Versicherungs-)Geschäfts. Die Captive trägt tatsächlich ein echtes Verlustrisiko.

Welche Voraussetzungen eine Captive letztendlich als anzuerkennendes Versicherungsunternehmen qualifizieren, muss einzelfallabhängig anhand der oben beschriebenen Kriterien beurteilt werden. Ergänzend werden bei dieser Analyse aber auch die Gesichtspunkte „Ort des Managements der Captive“, „Einfluss der Muttergesellschaft“, „Ort des wirtschaftlichen Erfolgs“, „Risikotransfer und ausreichende Ressourcen der Captive zur Risikoabdeckung“ und „Preisermittlungen der Versicherungsprämien“ mit einfließen (vgl. Roser 2020, Rn. 5). Im Einzelfall empfiehlt sich eine rechtzeitige Abstimmung mit der Finanzverwaltung. Bei noch nicht verwirklichten Sachverhalten kann auch ein – allerdings kostenpflichtiger – Antrag auf verbindliche Auskunft über offene Besteuerungsfragen der geplanten Captive-Struktur gem. § 89 Abs. 2 AO bei der Finanzverwaltung gestellt werden.

14.2.2 Besteuerung der Captive Die konkreten Besteuerungsfolgen werden wesentlich durch den Firmensitz der Captive beeinflusst. Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend zwischen einer in Deutschland ansässigen Captive und im Ausland ansässigen Captive unterschieden.

14.2.2.1 Deutsche Captive Hat die Captive in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft ihren Sitz oder ihre Geschäftsleitung in Deutschland, so ist sie analog anderen Kapitalgesellschaften in Deutschland vollumfänglich gewerbe- und körperschaftsteuerpflichtig. Zur Gewinnermittlung kommen insoweit die einschlägigen handels- und ggf. abweichenden/einschränkenden steuerrechtlichen Vorschriften des HGB, EStG, KStG und GewStG zur Anwendung.

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Die tatsächliche Gewerbesteuerbelastung hängt dabei von dem kommunal individuell festgesetzten Gewerbesteuerhebesatz ab. Anerkannte deutsche Erst- und Rückversicherungs-Captives können, soweit die handelsund steuerrechtlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, wie allgemeine Versicherungsunternehmen die folgenden, wesentlichen versicherungsspezifischen Passivposten bilanzieren: • Beitragsüberträge (§§ 249 Abs. 1 Satz 1, 341e Abs. 2 Nr. 1 HGB; §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 EStG i. V. m. BMF-Schreiben v. 30.04.1974; § 24 RechVersV) • Deckungsrückstellungen (§§  249 Abs.  1 Satz 1, 341f HGB; §  21a KStG; §  25 RechVersV) • Rückstellungen für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle (Schadenrückstellungen) (§§ 249 Abs. 1 Satz 1, 341g HGB; § 20 Abs. 2 KStG; § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG; § 26 RechVersV) Für am Bilanzstichtag noch offene Versicherungsfälle sind handelsrechtlich unter Beachtung des Vorsichtsprinzips Rückstellungen zu bilanzieren. Im Gegensatz zum Handelsrecht, hat steuerlich eine Bewertung unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Vergangenheit „realitätsnäher“ auf Basis pauschalierter Berechnungsschemata gem. BMF-Schreiben v. 05.05.2000 zu erfolgen. Zusätzlich müssen die so ermittelten Rückstellungen nach dem Pauschalverfahren laut BMF-Schreiben v. 20.10.2020 steuerlich abgezinst werden. Die steuerlich anerkannten Schadenrückstellungen sind damit meist niedriger oder höchstens gleich dem jeweiligen Handelsbilanzwert. • Schwankungsrückstellungen (§§  249 Abs.  1 Satz 1, 341h Abs.  1 HGB; §  20 Abs.  1 KStG i. V. m. BaFin-Anordnung R 7/91; § 29 RechVersV) • Der Schwankungsrückstellung ähnliche Rückstellungen (Großrisiken-Rückstellungen Pharma, Atomanlagen, Terror) (§§ 249 Abs. 1 Satz 1, 341h Abs. 2 HGB; §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 EStG; § 30 RechVersV) • Sonstige versicherungstechnische Rückstellungen (§§ 249 Abs. 1 Satz 1; 341e HGB; §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 EStG; § 31 RechVersV) Sind die gezahlten Versicherungsprämien beim leistenden (Konzern-)Unternehmen steuerlich in voller Höhe abzugsfähig und passiviert die Captive versicherungstechnische Rückstellungen, so führt dies aus Gesamt-Konzernsicht in Summe zu einem Besteuerungsaufschub („Steuerstundungseffekt“) und damit zu einem Liquiditätsvorteil. Der Steuerentlastung beim Versicherungsnehmer aus dem Betriebsausgabenabzug der gesamten Versicherungsprämie steht im Zeitpunkt der Prämienzahlung bei der Captive lediglich die Versteuerung des Saldos aus erhaltener Prämie und auf das übernommene Risiko zu bildender versicherungstechnischer Rückstellung gegenüber. Eine Auswirkung auf die effektive Steuerquote der Gruppe ergibt sich aufgrund von Konsolidierungseffekten bzw. dem Ansatz latenter Steuern regelmäßig jedoch nicht. Bei Captives an Standorten mit niedrigem Gewerbesteuerhebesatz ergeben sich darüber hinaus dauerhafte Gewerbesteuerentlastungen, die auch auf die effektive Steuerquote der Gruppe durchschlagen.

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14.2.2.2 Ausländische Captive Aus aufsichtsrechtlichen Gründen werden Captives oftmals in sogenannten „Steueroasen“ bzw. „Niedrigsteuerländern“ gegründet. Als mögliche Standorte haben sich hier zum Beispiel Luxemburg, Irland, Gibraltar, Kanal-Inseln (insbesondere Guernsey, Jersey), Bermudas, Malta etc. etabliert. Die Besteuerung von Captives in diesen Regionen erfolgt nach den jeweiligen nationalen, im Vergleich zu Deutschland mitunter niedrigeren Steuersätzen und dort gültigen Gewinnermittlungsvorschriften. Gerade aus Gründen etwaiger Steuerarbitrageeffekte ist eine einzelfallabhängige Analyse möglicher Standorte und deren länderspezifischer Bilanzierungs- und Gewinnermittlungsregularien unerlässlich. Zur Vermeidung etwaiger Steuerrisiken in Deutschland (wie zum Beispiel der Annahme einer beschränkten Steuerpflicht aufgrund des Bestehens einer Betriebsstätte in Deutschland oder sogar einer unbeschränkten Steuerplicht aufgrund eines faktischen Geschäftsleitungsorts in Deutschland) sollten die Anteilseignergesellschaften gewichtige strukturelle und/oder wirtschaftliche Gründe für die konkrete Standortwahl im Ausland nachweisen können. Zudem sollten die Geschäftsleitung, das für das Tagesgeschäft zuständige qualifizierte Personal und Büroräume vor Ort vorgehalten werden (vgl. Franz 2020, Rz. 89). Dies gilt auch für die Abwicklung aller Geschäfte  – insbesondere der Versicherungsverträge (vgl. Franz 2011, S. 3037 ff.). Entscheidend ist nach der Rechtsprechung des BFH, ob „ausreichend Substanz vor Ort besteht, um die übernommenen Funktionen ausführen zu können“ (BFH-Urteil v. 13.10.2010). An die aufgezählten Substanzerfordernisse dürfen jedoch keine überzogenen Forderungen gestellt werden. Nach zwei Urteilen des BFH ist vielmehr darauf abzustellen, „ob der Ort, an dem die geschäftsleitenden Entscheidungen getroffen werden, auch mit dem Sitz der Gesellschaft übereinstimmt und diese ausländische Gesellschaft auf eine gewisse Zeitdauer und nicht nur vorübergehend angelegt ist“ (BFH-Urteil v. 17.11.2004 und BFH-Urteil v. 31.05.2005). Ob und in welchem Umfang Captives mit Sitz und Geschäftsleitung im Ausland o. g. Rückstellungen bilanzieren können, ist im Einzelfall unter Beachtung länderspezifischer handels-, steuer- und aufsichtsrechtlicher Regularien genau zu überprüfen. So werden zum Beispiel Schwankungsrückstellungen dem Grunde nach nur von einigen Ländern anerkannt. Im Gegensatz zu einer rein deutschen Captive kann sich aufgrund der Nutzung eines etwaigen Steuersatzgefälles (höhere Steuerentlastung aufgrund von Betriebsausgabenabzug beim versicherten Konzernunternehmen, niedrigere Steuerbelastung bei der ausländischen Captive)  – vorbehaltlich etwaiger Korrekturen aufgrund des Außensteuergesetzes (vgl. hierzu Abschn. 14.2.3.3, 14.1.5) – per Saldo eine dauerhafte Steuerersparnis ergeben. 14.2.2.3 Fazit Captives in der Rechtsform von Kapitalgesellschaften mit Sitz und/oder Geschäftsleitung im Inland, die die Wesensmerkmale allgemeiner Erst- und Rückversicherungen erfüllen, werden steuerlich wie typische Kapitalgesellschaften behandelt. Aufgrund der geltenden Rechtsvorschriften können bei ihnen temporäre Steuerstundungseffekte und bei Sitz in Kommunen mit niedrigen Gewerbesteuerhebesätzen sogar dauerhafte (Gewerbe-)Steuervorteile erzielt werden.

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Im Falle anerkannter Captives mit Sitz im Ausland können sich aus Steuersatzdifferenzen dauerhafte Steuervorteile ergeben. Letzteres gilt jedoch nur, soweit eine Einkünfteberichtigung nach § 1 AStG und/oder eine Hinzurechnungsbesteuerung gemäß § 7 ff. AStG vermieden werden kann. In diesem Kontext kommt der konkreten Ausgestaltung des Geschäftsbetriebs und dem Sitz bzw. Ort der Geschäftsleitung eine entscheidende Rolle zu.

14.2.3 Besteuerung der Versicherungsnehmer-Gesellschaften der Captive Soweit die Captive die Kriterien eines Versicherungsunternehmens erfüllt, können die gezahlten, marktüblichen (siehe unten) Versicherungsprämien bei der zur Prämienzahlung verpflichteten Versicherungsnehmer-Gesellschaft steuerlich in voller Höhe als Betriebs­ ausgabe abgezogen werden.

14.2.3.1 Ausgewählte Rechtsprechung zum Betriebsausgabenabzug bei Captives Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Prämienzahlungen als Betriebsausgaben abgezogen werden können, war auch Gegenstand zweier Verfahren beim BFH: So hat der BFH mit Urteil vom 15.02.2012 entschieden, dass Versicherungsbeiträge, die mittelbar über eine konzernfremde Erstversicherung (sogenannte Fronter) an eine konzerneigene Rückversicherungs-Captive (Rückversicherungsquote lag bei 100 %; Sitz der Captive: Isle of Man) geleistet wurden, als Betriebsausgaben abgezogen werden können (BFH-Urteil v. 15.02.2012; auch Busch 2020, Rn. 321 f.). Die von der Betriebsprüfung geforderte Umqualifizierung der Versicherungsprämien zu einer verdeckten Gewinnausschüttung wurde vom BFH mit der Begründung abgelehnt, dass es sich im vorliegenden Streitfall bei der Fronting-Gesellschaft gerade nicht um eine eigenwirtschaftlich funktionslose Kapitalgesellschaft, also einer „Nur-Zahl- bzw. Durchleitungsstelle“ gehandelt hat, da im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Rückversicherungs-Captive das gesamte Versicherungsrisiko von der Fronting-Gesellschaft übernommen werden musste. Zudem lagen im Urteilsfall mit der Unmöglichkeit der Erlangung von Versicherungsschutz auf dem Markt sowie der Übernahme der gesamten Schadenbearbeitung auf Ebene der Fronting-­ Gesellschaft und damit einhergehender Kosteneinsparung beim Versicherungsnehmer für die Zwischenschaltung des Fronters „beachtliche wirtschaftliche Gründe“ vor. In einem ähnlich strukturierten Sachverhalt (zu einem Konzern zugehöriger Versicherungsnehmer, konzernfremde Erstversicherer, konzernzugehörige Rückversicherungs-­ Captive im EU-Ausland) erhielt der Versicherungsnehmer Leistungen von den frontenden Erstversicherungsunternehmen im Schadenfall im Gegensatz zu o. g. Sachverhalt nur dann, wenn und soweit das Rückversicherungsunternehmen/die Captive ihrerseits zuvor ihrer Leistungsverpflichtung nachgekommen ist. Nach den Ausführungen des BFH hat  – wirtschaftlich betrachtet – der Versicherungsnehmer das Schadenrisiko direkt bei der ausländischen, konzerneigenen Captive versichert (BFH-Urteil v. 08.12.2016). Soweit danach die Versicherungsprämien auf den Teil der Versicherung entfallen, den die Erstversicherungsun-

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ternehmen bei der ausländischen Captive rückversichert haben, „bedarf es daher einer konkreten Prüfung, ob die Prämien insoweit betrieblich oder außerbetrieblich veranlasst sind“. Nur in dem Umfang, in dem sie betrieblich veranlasst sind, kann das Versicherungsnehmer-Unternehmen sie als Betriebsausgaben abziehen. Schlussendlich ist zu prüfen, inwieweit die gezahlten Versicherungsprämien marktüblich sind, das heißt „der Höhe nach dem entsprechen, was ein fremder Dritter unter den Umständen des Einzelfalls für den dafür erhaltenen Versicherungsschutz zahlen würde“. Versicherungsnehmer-Gesellschaften sollten deswegen bei gleichgelagerter Sachlage den vom BFH geforderten Fremdvergleich selbst durchführen und die Höhe der gezahlten Versicherungsprämien nachvollziehbar dokumentieren (vgl. § 90 Abs. 2 und 3 AO).

14.2.3.2 Problembereich Einkünfteberichtigung nach § 1 AStG – Anerkennung der konzerninternen Leistungsverrechnung/Höhe der Versicherungsprämie Bei Prämienzahlungen an eine im Ausland ansässige Captive ist – wie bereits in dem oben beschriebenen Urteilsfall zum Ausdruck kommt – zusätzlich die Regelung des § 1 AStG zu beachten, die es der Finanzverwaltung ermöglicht, bei Verstoß gegen den sogenannten Fremdvergleichsgrundsatz die Höhe der abziehbaren Versicherungsprämie zu korrigieren. Gesetzliche Grundlagen des § 1 AStG Eine Einkünfteberichtigung gem. § 1 AStG greift, soweit die in § 1 Abs. 1 AStG genannten Tatbestandsmerkmale vorliegen. Diese sind: • Vorliegen einer Geschäftsbeziehung (siehe § 1 Abs. 4 AStG, der den Begriff der Geschäftsbeziehung recht weit definiert) • Zum Ausland (primär wird hier darauf abgestellt, ob durch die Geschäftsbeziehung Gewinne von Deutschland ins Ausland verlagert werden) • Mit einer nahestehenden Person (Begriffsdefinition siehe § 1 Abs. 2 AStG) und • Vereinbarung nicht fremdvergleichskonformer Bedingungen • Und einer damit einhergehenden Minderung der Einkünfte beim in Deutschland Steuerpflichtigen Fremdvergleich Gemäß § 1 Abs. 3 AStG ist zu prüfen, ob die tatsächlich vereinbarten Bedingungen/Versicherungsprämien denjenigen entsprechen, die voneinander unabhängige Dritte unter gleichen oder vergleichbaren Verhältnissen zu diesem Zeitpunkt und mit demselben Kenntnisstand bei Abschluss des Versicherungsvertrags vereinbart hätten (Soll-Ist-Vergleich) (vgl. Pohl, Rn. 35). Maßgeblich ist, in welcher Höhe Fremde für hinreichend vergleichbare Versicherungsleistungen Versicherungsprämien bezahlen würden („Fremdvergleichspreis“, „branchenübliche Preise“). Maßstab sind dabei die Verhältnisse des freien Wettbewerbs unter Zugrundelegung der verkehrsüblichen Sorgfalt ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter gegenüber Fremden (BMF-Schreiben v. 23.02.1983). Stärkere Schwankungen bei den Ver-

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sicherungsprämien dürfen jedoch „nicht zum Anlass einer Gewinnkorrektur genommen werden, solange deren Kalkulation allein auf versicherungstechnischen Grundsätzen und damit auf dem Verhalten unter fremden Dritten beruht“ (Jakobs 2016, S. 1105). Der Fremdvergleich ist nach BFH-Rechtsprechung stets aus der Perspektive der (beiden) an der Geschäftsbeziehung beteiligten Unternehmen zu führen (BFH-Urteil v. 17.05.1995).

OECD-Ansätze

Ergänzend zu der nationalen Regelung des § 1 AStG sieht die OECD für die Bestimmung einer angemessenen Vergütung einer Captive die folgenden Ansätze vor: • Price-Setting-Ansätze Die Preisvergleichsmethode bietet sich insbesondere dann an, wenn die Captive auch Risiken außerhalb des Konzerns versichert. Auch in diesen Fällen ist jedoch zu prüfen, inwieweit sich die vertraglichen Bedingungen zwischen echtem Fremd- und Konzerngeschäft unterscheiden und entsprechend mit Anpassungsrechnungen die Vergleichbarkeit erhöht wird (vgl. Andresen 2020, S. 494 ff.). Zu den Price-Setting-Ansätzen gehört auch die Prämienkalkulation („Actuarial analysis“), bei der analog zu einer Kostenaufschlagsmethode der Netto-­Risikoprämie ein Sicherheitszuschlag für unerwartet hohe Schäden sowie ein Betriebskostenzuschlag hinzugerechnet, ein Abschlag für Kapitalanlagenerträge abgerechnet und zuletzt noch ein Gewinnzuschlag hinzuaddiert wird (vgl. Andresen 2020, S. 494 ff.). Die Netto-Risikoprämie ermittelt sich dabei aus empirisch gestützten Simulationsrechnungen über den Erfahrungswert der Schadenaufwendungen (OECD, S. 39, Rn. 10.219). • Outcome-Testing-Ansätze Hier wird nachträglich ermittelt, ob die Captive für ihre Leistungen angemessen entgolten worden ist. Dies geschieht unter Zugrundelegung der „Combined Ratio“ und/oder dem „Return on capital“. Liegt die Combined Ratio der Captive innerhalb der Bandbreite der Combined Ratio von vergleichbaren Versicherungsunternehmen, spricht einiges für die Marktüblichkeit der vereinbarten Versicherungsprämien. Ähnlich gilt dies auch für den Investment Return („Return on capital“), der mit anderen Konzernunternehmen oder konzernfremden Versicherungsunternehmen verglichen werden kann (OECD, S. 39, Rn. 10.221).2

 Im Hinblick auf das unter Umständen unterschiedlich hohe regulatorische Kapital der Vergleichs-­ Objekte müssen zur Erzielung sachgerechter Ergebnisse noch Anpassungsrechnungen durchgeführt werden. 2

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Rechtsfolgen Mindern sich die Einkünfte der Versicherungsnehmer-Gesellschaften aus einer Geschäftsbeziehung (hier Versicherungsvertragsverhältnis zwischen Versicherungsnehmer-­Gesellschaften und ausländischer Captive) durch die Anwendung von Bedingungen, die nicht dem Fremdvergleichsprinzip entsprechen, so sind – soweit die übrigen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind – nach § 1 AStG die Einkünfte nicht zu den vereinbarten Ist-Bedingungen anzusetzen, sondern mit dem fremdüblichen Soll-Wert. Das heißt: Soweit also Versicherungsprämien in marktunüblicher Höhe an die ausländische Captive gezahlt werden, erfolgt in Höhe der Differenz zur niedrigeren, marktüblichen Versicherungsprämie eine außerbilanzielle, voll steuerpflichtige Einkommensberichtigung/-erhöhung nach § 1 AStG (vgl. Pohl, Rn. 48 f.). Dokumentationspflicht Die Grundlagen für die Ermittlung der Versicherungsprämien unterliegen der Aufzeichnungspflicht nach § 90 Abs. 3 AO i. V. mit § 1 Abs. 4 AStG. Diese Dokumentationsverpflichtung bei Sachverhalten mit Auslandsbezug zwischen nahestehenden Personen i. S. von § 1 Abs. 1 AStG ist nach BFH-Rechtsprechung unionsrechtmäßig, da mit der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EG vereinbar (BFH-Urteil v. 10.04.2013).

14.2.3.3 Fazit Soweit eine Captive als Versicherungsunternehmen qualifiziert ist, können die gezahlten und marktüblichen Versicherungsprämien bei der zahlungsverpflichteten Versicherungsnehmer-­ Gesellschaft steuerlich als Betriebsausgaben abgezogen werden. Bei einer im Ausland ansässigen Captive muss die Einhaltung der Fremdvergleichsgrundsätze dabei einzelfallbezogen, exakt und nachweisbar dokumentiert werden. Diese Dokumentationspflichten sollten dabei nicht nur als lästige Verpflichtung, sondern als Grundlage zur erfolgreichen Abwehr allfälliger Forderungen der Finanzverwaltung im Rahmen von Be­ triebs­prüfungen und somit gegen eine ungewollte Einkünfteberichtigung gem. § 1 AStG angesehen werden.

14.2.4 Besteuerung der Anteilseigner der Captive Für Anteilseigner einer Captive ist wichtig, wie Erträge aus einer Captive steuerlich zu behandeln sind und ob im Falle von negativen Geschäftsentwicklungen Verluste beispielsweise aus der Abschreibung der Beteiligung an der Captive steuerlich geltend gemacht werden können. Für inländische Captives stellt sich vor diesem Hintergrund regelmäßig auch die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Captive in die ertragsteuerliche Organschaft der Muttergesellschaft einbezogen werden kann.

14.2.4.1 Laufende Dividendenzahlungen der Captive Dividendenausschüttungen der deutschen oder ausländischen Captive sind auf Ebene der deutschen Anteilseigner-Kapitalgesellschafter (nicht jedoch bei Anteilseignern, die ein Le-

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bens- und Krankenversicherungsunternehmen im Sinne von §  8b Abs.  8 KStG betreiben) grundsätzlich in voller Höhe gewerbe- und körperschaftsteuerbefreit nach §  8b Abs.  1 KStG. Nur 5 % der Dividendenschüttung sind außerbilanziell nach § 8b Abs. 5 KStG wieder im Rahmen der Einkommensermittlung hinzurechnungspflichtig. Diese Steuerbefreiung gilt unabhängig von etwaigen einschränkenden Vorschriften nach Doppelbesteuerungsabkommen (wie zum Beispiel Erfüllung einer Mindest-Beteiligungsquote/Schachtelprivileg etc.). Bei einkommensteuerpflichtigen Anteilseignern (Einzelunternehmer, Personengesellschaften) unterliegen Dividendenausschüttungen von Captives dem Teileinkünfteverfahren und sind in Höhe von 40 % steuerbefreit.

14.2.4.2 Teilwertabschreibung auf Captive-Beteiligung Wird die Beteiligung an einer Captive im Anlagevermögen ausgewiesen, so ist handelsrechtlich eine außerplanmäßige Abschreibung auf den niedrigeren beizulegenden Wert nur bei einer voraussichtlich dauerhaften Wertminderung vorzunehmen (vgl. § 253 Abs. 3 Satz 5 HGB). Bei einer nur vorübergehenden Wertminderung besteht nach § 253 Abs. 3 Satz 6 HGB ein Abwertungswahlrecht. Ist die Anteilseignergesellschaft eine Körperschaft im Sinne des KStG, so wirken sich Teilwertabschreibungen auf Anteile an einer Captive in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft gemäß § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG steuerlich nicht aus. Teilwertabschreibungen auf Anteile an Captive-Kapitalgesellschaften können bei Einzelunternehmen und Personengesellschaften steuerlich gemäß § 3c Abs. 2 EStG nur zu 60 % einkommensmindernd geltend gemacht werden. 14.2.4.3 Ertragsteuerliche Organschaft Zweck der Organschaft Eine ertragsteuerliche Organschaft sieht eine konsolidierte Ermittlung der Gewinne und Verluste aller zum Organkreis gehörenden Gesellschaften vor. Die Ergebnisse der Untergesellschaften (Organgesellschaften) und des Mutterunternehmens (Organträger) sind insgesamt auf Ebene vom Mutterunternehmen zu versteuern. Die Organgesellschaft bleibt Steuersubjekt, lediglich deren steuerliches Einkommen wird dem Organträger – als Steuerschuldner im Außenverhältnis – zugerechnet. Ein Ausgleich von Gewinnen und Verlusten innerhalb aller Unternehmen des Organkreises wird damit zeitgleich ermöglicht. Voraussetzungen der Organschaft Zur Begründung einer ertragsteuerlich anerkannten Organschaft müssen gemäß §  14 Abs. 1 KStG die folgenden Tatbestandsmerkmale vorliegen: • Die Organgesellschaft kann eine Aktiengesellschaft, eine Europäische Gesellschaft (in Form einer SE, die Kapitalgesellschaft ist) oder eine KGaA mit Geschäftsleitung im Inland (= Deutschland) und Sitz in einem EU-Mitgliedsstaat oder einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens sein.

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• Als Organträger kann eine natürliche Person, eine nicht steuerbefreite Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse i. S. d. § 1 KStG (mit Sitz oder Geschäftsleitung im Inland) oder eine Personengesellschaft i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG fungieren, soweit Letztere eine Tätigkeit i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG (gewerbliches Unternehmen) ausübt. • Der Organträger muss die un- oder mittelbare Mehrheit der Stimmrechte an der Organgesellschaft haben (finanzielle Eingliederung). Im Falle eines nur mittelbaren Beteiligungsverhältnisses muss der Organträger an jeder vermittelnden Gesellschaft die wirtschaftliche Mehrheit der Stimmrechte haben (vgl. § 14 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 KStG). • Der Abschluss und die tatsächliche Durchführung eines Gewinnabführungsvertrags zwischen Organgesellschaft und Organträger muss für eine Dauer von mindestens fünf Jahren erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass der Abschluss und die Änderung eines Gewinnabführungsvertrags bei einem der Versicherungsaufsicht unterliegenden Unternehmen der vorherigen Genehmigung der BaFin unterliegen (vgl. Franz 2020, Rz. 94 m. w. N.). Problematik des Risikotransfers Die Begründung eines ertragsteuerlichen Organschaftsverhältnisses zwischen einer Muttergesellschaft und einer Captive erfordert – wie oben erwähnt – den Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags u. a. mit einer Verlustübernahmeverpflichtung beim Organträger zugunsten der Organgesellschaft. Das Risiko einer drohenden Insolvenz der Captive wird damit vermieden, da etwaige (temporäre) Verluste aus dem (Versicherungs-)Geschäft der Captive als Organgesellschaft automatisch von der Organträger-Gesellschaft ausgeglichen werden. Fraglich ist hierbei, ob damit das Kriterium „eigenständige Risikotragung“ bei der Captive und damit deren Anerkennung als Versicherungsunternehmen (vgl. hierzu ­Abschn. 14.2.1) gefährdet wird. Das Meinungsbild hierzu in der Literatur ist heterogen: Einerseits wird vertreten, dass ein Risikotransfer von einem Versicherungsunternehmen auf ein Nicht-Versicherungsunternehmen grundsätzlich zulässig ist. Dies sei auch „einsichtig, weil ein Risikoausgleich im Kollektiv (also innerhalb der Captive; Erg. d. Verf) erfolgt, sodass die Anerkennung einer Captive als Organgesellschaft im Organkreis nur davon abhängen sollte, dass die Captive noch weiteren Versicherungsnehmern Versicherungsschutz gewährt“ (vgl. Goverts, Rz. 36). Auch unter Hinweis auf ein Urteil des RFH wird in der Literatur eine steuerliche Organschaft als unproblematisch für die steuerliche Anerkennung einer Captive als Versicherungsunternehmen angesehen (vgl. RFH I D 2/31; Roser 2020, Rn. 5). Andererseits wird hingegen konstatiert, dass es problematisch sei, „ob im Falle des Abschlusses eines Ergebnisabführungsvertrages mit einer Verlustübernahmeverpflichtung nach § 302 AktG zwischen einem Versicherungsunternehmen und einem Versicherungsnehmer die notwendige Risikoverlagerung tatsächlich vorliegt“ (Roser 2020, Rn. 6 m. w. N). Vor dem Hintergrund dieses nicht eindeutigen Meinungsbildes ist es zur Vermeidung von Überraschungen sinnvoll, vor dem Abschluss eines Ergebnisabführungsvertrags mit einer Captive diese Fragestellung vorab mit der Finanzverwaltung zu klären.

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14.2.4.4 Mitteilungspflicht von grenzüberschreitenden Steuergestaltungen Die Gründung und der Betrieb einer Captive im Ausland kann unter die Meldepflichten nach den §§  138d  ff. AO fallen. Im BMF-Schreiben über Mitteilungspflichten bei grenzüberschreitenden Steuergestaltungen stellt die Finanzverwaltung klar, dass es sich bei einer Steuergestaltung um einen „bewussten, das Geschehen mit steuerlicher Bedeutung verändernden Schaffensprozess durch Transaktionen, Regelungen, Handlungen, Vorgängen, Vereinbarungen, Zusagen, Verpflichtungen oder ähnlichen Ereignissen handelt“ (BMF-Schreiben v. 29.03.2021, Rn. 9). Im Hinblick darauf erscheint eine Mitteilungspflicht durch die Anteilseignergesellschaft insbesondere bei Captives in Niedrigsteuerländern als wahrscheinlich. 14.2.4.5 Fazit Dividendenausschüttungen von Captives sind bei deutschen Kapitalgesellschaftern als Dividendenempfänger in der Regel zu 95 % steuerfrei. Handelsrechtlich nötige Teilwertabschreibungen können im Gegenzug steuerlich nicht geltend gemacht werden. Die Begründung einer ertragsteuerlichen Organschaft mit einer Captive als Organgesellschaft eröffnet die Möglichkeit der zeitnahen Gewinn- und Verlustverrechnung innerhalb des Organkreises. Ob damit allerdings das bei Captives für die Qualifizierung als Versicherungsunternehmen geforderte Kriterium „Risikotransfer“ gefährdet wird, wird in der Literatur uneinheitlich beurteilt. Eine rechtzeitige Abstimmung mit der Finanzverwaltung kann deswegen angezeigt sein.

14.2.5 Problembereich Hinzurechnungsbesteuerung nach § 7 ff. AStG Bei im Ausland und hier insbesondere in Niedrigsteuerländern ansässigen Captives kommen unter Umständen die Vorschriften der §§ 7 ff. AStG (sogenannte „Hinzurechnungsbesteuerung“) zur Anwendung. Infolge dieser Regelung können die Erträge einer Captive, auf die im Sitzstaat der Captive keine oder nur eine geringe Ertragsteuer anfällt, durch eine zusätzliche Besteuerung der Erträge der Captive auf Ebene der deutschen Muttergesellschaft mit dem höheren deutschen Besteuerungsniveau belegt werden.

14.2.5.1 Gesetzliche Grundlagen der §§ 7 ff. AStG Eine Hinzurechnungsbesteuerung erfolgt, soweit – kumulativ – die folgenden Tatbestands­ merkmale erfüllt sind: • In Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtige müssen mittel- oder unmittelbar, alleine oder zusammen mit ihnen nahestehenden Personen mit mehr als 50 % an der ausländischen Gesellschaft (hier Captive, die weder Sitz noch Geschäftsleitung in Deutschland hat) beteiligt sein (Inlandsbeherrschung). Die konkreten Berechnungsregeln (bei zum Beispiel abweichenden Stimmrechten, Weisungsgebundenheiten) sind in den Abs. 2 bis 4 des § 7 AStG geregelt.

14  Steuerliche Fragestellungen bei Captives

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• Die ausländische Captive ist eine sogenannte Zwischengesellschaft i. S. des § 8 AStG: Dazu müssen die Einkünfte der Captive „passiv“ sein, einer niedrigen Besteuerung unterliegen, die Captive keiner wesentlichen wirtschaftlichen Tätigkeit („Gegenbeweis für EU-/EWR-Gesellschaften“) nachgehen und die Freigrenzen i. S. v.§ 9 AStG überschritten sein. Diese Tatbestandselemente werden nachfolgend näher erläutert.

14.2.5.2 Aktive versus passive Einkünfte Gesetzlicher Grundsatz: Aktive Einkünfte aus Versicherungsgeschäften Der Betrieb von Versicherungsunternehmen, die einer wesentlichen wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne § 8 Abs. 2 AStG nachgehen, unterliegen gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3 AStG als aktiv tätige Einheiten grundsätzlich nicht der Hinzurechnungsbesteuerung. Ausnahme: Passive Einkünfte bei Versicherungsgeschäften mit nahestehenden Personen Werden die Versicherungsgeschäfte jedoch zu mehr als einem Drittel3 mit dem deutschen Anteilseigner der Captive oder diesem nahestehenden Personen betrieben (§ 8 Abs. 1 Nr. 3 S. 1 2. Halbsatz AStG), so liegen passive Einkünfte vor. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wie das Merkmal „zu mehr als einem Drittel“ Versicherungsgeschäfte mit „schädlichen“ konzerninternen Partnern zu messen ist: Die Kriterien hierzu sind nicht klar definiert. Eine Fülle von Einzel-Maßstäben zur Entscheidungsfindung (wie zum Beispiel erzielte Versicherungsumsätze oder Anzahl der abgeschlossenen Versicherungsverträge mit „schädlichen“ konzerninternen Vertragspartnern, Anteil der versicherungstechnischen Rückstellungen aus diesen Vertragsbeziehungen, anteiliger Gewinn) oder Mischformen daraus sind theoretisch denkbar und finden in der Praxis Anwendung. Unklar ist darüber hinaus, ob für die Feststellung des Merkmals „zu mehr als einem Drittel“ nur auf das Aktivgeschäft oder auf das Aktiv- und Passivgeschäft zusammen abzustellen ist. Nach Auffassung der Finanzverwaltung liegt ein schädliches Überschreiten bereits dann vor, wenn die Captive die schädliche Schwelle entweder im Aktiv- oder Passivgeschäft übertrifft (BMF-Schreiben v. 14.05.2004, Sondernr. 1, S. 3, Tz. 8.1.3.5 und Tz. 8.1.3.6). Diese restriktive Auffassung der Finanzverwaltung wird in der Literatur heftig kritisiert, betrachtet sie ja nur einseitig die Vertragsbeziehungen zwischen dem Versicherungsunternehmen/der Captive und den einzelnen Konzerngesellschaften (Konzernseite) und negiert dabei komplett die Marktseite (vgl. Jakobs 2016, S. 1106 f.). Eine getrennte Betrachtung von Aktiv- und Passivgeschäft ist aber bei Versicherungen nicht sinnvoll, da beide „Geschäftsarten für diese Tätigkeiten charakterisierend und notwendig sind und häufig auch eine Einheit bilden“ (Lehfeldt, Rz. 70).

 Regelung ab 01.01.2022; in der bis Ende 2021 gültigen Gesetzesfassung lagen passive Einkünfte erst vor, wenn „überwiegend“, also zu mehr als 50 %, Versicherungsgeschäft mit dem schädlichen Personenkreis betrieben wurde. 3

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Angesichts des oben beschriebenen unklaren Kriterienkatalogs für das Merkmal „zu mehr als einem Drittel“, aber auch angesichts des dem Geschäftsmodell einer Captive inhärenten Fokus auf konzerninterne Versicherungsbeziehungen besteht ein ernst zu nehmendes Risiko, dass die Finanzverwaltung bei einer Captive zu dem Ergebnis kommt, dass passive Versicherungseinkünfte erzielt werden.

14.2.5.3 Niedrigbesteuerung Eine Niedrigbesteuerung liegt nach § 8 Abs. 5 AStG dann vor, wenn die Einkünfte der ausländischen Captive einer Ertragsteuerbelastung von unter 25 % unterliegen. Der Begriff Ertragsteuern entspricht dem des allgemeinen ESt-/KSt-Rechts, wobei auch sonstige Steuern mit Ertragsteuercharakter (zum Beispiel gewerbesteuerartige Abgaben), Kantonal- und Gemeindeabgaben auf Einkommen, o. Ä. dazu gehören (vgl. Vogt, Rn. 183; BMF-Schreiben v. 14.05.2004, Sondernr. 1 S. 3, Tz. 8.3.1.2). Die Einkünfte müssen unter Beachtung deutscher handels- und steuerrechtlicher Vorschriften ermittelt werden. Aufgrund unterschiedlicher Bewertungsvorschriften von zum Beispiel Rückstellungen für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle (nach deutschem Steuerrecht: „Realitätsnähere Bewertung“ und „Abzinsung“) und Schwankungsrückstellungen (werden in einigen Ländern überhaupt nicht anerkannt) können im Vergleich zu ausländischen Bewertungsvorschriften signifikante Einkünfteunterschiede nicht ausgeschlossen werden. Maßgeblich für die Frage einer etwaigen Niedrigbesteuerung sind dabei die tatsächlich erhobenen/bezahlten und nicht die rechtlich geschuldeten Ertragsteuern (§ 8 Abs. 3 S. 3 AStG). Bei Letzteren müssen aber Sonderfaktoren (wie zum Beispiel Minderung der tatsächlichen Steuerzahllast aufgrund von Verlustrück- bzw. -vorträgen) berücksichtigt werden; freiwillige Steuerzahlungen werden hingegen nicht berücksichtigt (BMF-Schreiben v. 14.05.2004, Sondernr. 1. S. 3, Tz. 8.3.2.5 und Tz. 8.3.2.1). Nachdem in vielen der in der Praxis gebräuchlichen Standortländer für Captives deutlich niedrigere Ertragsteuersätze greifen als in Deutschland, wird auch das Tatbestandsmerkmal „Niedrigbesteuerung“ in vielen Fällen gegeben sein. 14.2.5.4 Wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit/Gegenbeweis für EU- und EWR-Gesellschaften Nachdem bei Captives im Ausland die Tatbestandsmerkmale „passive Einkünfte“ aus Geschäften mit konzerninternen Partnern und „Niedrigbesteuerung“ oft nur schwer vermeidbar sind, kommt dem Tatbestandsmerkmal „wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne des § 8 Abs. 2 AStG zur Vermeidung der Hinzurechnungsbesteuerung bei Captives eine besondere Bedeutung zu. Die Möglichkeit des „Gegenbeweises“ für Gesellschaften, die einer „wesentlichen wirtschaftlichen Tätigkeit“ nachgehen, eröffnet § 8 Abs. 3 AStG ausdrücklich jedoch nur, wenn die Captive in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens ihren Sitz hat. Insoweit haben Captives in EU-/EWR-Standorten Vorteile gegenüber Captives in Drittstaaten.

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Die Regelung in § 8 Abs. 2 AStG geht auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Cadbury Schweppes“ zurück, wonach die Hinzurechnungsbesteuerung gegen die Niederlassungsfreiheit und damit gegen EU-Recht verstößt, wenn sie sich nicht auf die Besteuerung „rein künstlicher Gestaltungen beschränkt, die dazu bestimmt sind, der normalerweise geschuldeten nationalen Steuer zu entgehen“ (EuGH-Urteil v. 12.09.2006). Diese EuGH-Rechtsprechung wird auch von der Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie (ATAD) umgesetzt. Diese bestimmt, dass eine Hinzurechnungsbesteuerung dann unterbleiben muss, wenn die ausländische Gesellschaft in einem EU-/EWR-Staat ansässig ist und dort tatsächlich und nachweisbar eine wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit mit ausreichend qualifiziertem, ggf. auch geschäftsleitendem Personal, (Büro-)Ausstattung und Vermögenswerten ausübt (vgl. § 8 Abs. 2 AStG; sogenannter „Substanznachweis“; „Substanz- oder Motivtest“; Richtlinie (EU) 2016/1164, Art. 7 Abs. 2). An dieser Stelle ergibt sich im Zuge der Neufassung des Außensteuergesetzes mit Wirkung ab 01.01.2022 eine wichtige Verschärfung der Rechtslage. Dieser Substanznachweis ist nach der Neuregelung des § 8 Abs. 2 AStG ungeachtet einer hinreichenden personellen und sachlichen Ausstattung einer Captive ausgeschlossen, wenn diese ihre wesentlichen wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht durch eigenes Personal, sondern überwiegend von Dritten, also i. R. eines Outsourcings, besorgen lässt. Hier stellt sich zu Recht die Frage, „ob das Gesetz dann noch den primärrechtlichen Anforderungen genügt, wonach stets ein Gegenbeweis im Einzelfall zugestanden werden muss, um einem typisierenden Missbrauchsverdacht zu begegnen“ (Gosch und Rautenstrauch 2020, S. 52 ff.). Für Drittstaaten-Gesellschaften Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des §  8 Abs.  3 AStG kann es bei Captives in Drittstaaten auch dann zu einer Hinzurechnungsbesteuerung kommen, wenn diese über hinreichende wirtschaftliche Substanz verfügen, da ein Gegenbeweis für Drittstaaten-­ Gesellschaften gerade nicht vorgesehen ist. Demgegenüber soll nach den ATAD-Vorschlägen eine Gegenbeweis-Möglichkeit auch bei Drittstaaten-Gesellschaften gewährt werden; doch der deutsche Gesetzgeber ist dieser Möglichkeit trotz einer entsprechenden Petition der deutschen Spitzenverbände sowie des EuGH-Urteils in der Rechtssache „Test Claimants in the FII Group Litigation“4 (bislang) nicht gefolgt (Eingabe der deutschen Spitzenverbände vom 03.05.2018 an das BMF; EuGH v. 13.11.2012). Zu der Frage, ob auch in Drittstaatenfällen ein EU-Schutz zu gewähren ist, hat der BFH mit Urteil vom 12.10.2016 den EuGH angerufen (BFH-Urteil v. 12.10.2016; EuGH Vorlage zur Vorabentscheidung v. 26.02.2019).

4

 Danach wäre wohl auch in Drittstaatenfällen ein EU-Schutz geboten.

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In Fortführung des Senatsurteils des BFH vom 22.05.2019 (beteiligter Drittstaat war die Schweiz) hat der BFH im Urteil v. 18.12.2019 eine Hinzurechnungsbesteuerung für die Jahre 2001–2003 aus einer in Ungarn (erst seit dem 01.05.2004 wurde Ungarn EU-­ Mitgliedsstaat) ansässigen, operativ tätigen, also nicht auf einer künstlichen Gestaltung beruhenden Kapitalgesellschaft wegen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit und der rechtlichen Verpflichtung Ungarns zur Auskunftserteilung auf Basis der Amtshilferichtlinie abgelehnt (vgl. Böhmer 2020, S. 1001).

14.2.5.5 Freigrenzen Für ausländische Gesellschaften, die gleichzeitig aktive und passive Einkünfte haben, sieht § 9 AStG kumulativ zu erfüllende Freigrenzen vor. Angesichts des Kumulationsgebots sowie der niedrigen Betragsgrenzen geht die in § 9 AStG enthaltene Freigrenzenregelung aber bei Captives faktisch in den weit überwiegenden Fällen ins Leere.5 14.2.5.6 Ermittlung des Hinzurechnungsbetrags Wenn nach Feststellung der oben beschriebenen Tatbestandselemente eine Hinzurechnungsbesteuerung vorzunehmen ist, ist der Hinzurechnungsbetrag zu bestimmen. Die Ermittlung des Hinzurechnungsbetrags hat gemäß § 10 Abs. 3 S. 1 AStG nach deutschen Gewinnermittlungsvorschriften (§§ 4 Abs. 1 und 3 EStG; § 5 EStG) zu erfolgen. Die Überleitung der Ergebnisrechnung der ausländischen Captive, die auf Basis der lokalen Rechnungslegungsregeln aufgestellt wurde, auf eine Gewinnermittlung nach deutschem Steuerrecht kann dabei einen erheblichen Aufwand in der Praxis verursachen. Insbesondere im Bereich der Bewertung der Rückstellung für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle und der Schwankungsrückstellungen sowie der Großrisiken-Rückstellungen (§ 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG, § 20 KStG) ergeben sich im internationalen Vergleich zu Deutschland gravierende Bewertungsunterschiede.6 Im Zuge einer möglichen Hinzurechnungsbesteuerung bei Captives können diese aufgrund der Verpflichtung zur Anwendung deutscher Gewinnermittlungsvorschriften zudem zu erheblichen hinzurechnungsbedingten Steuerbelastungen führen (vgl. Roser 2020, Rn. 74 m. w. N.). 14.2.5.7 Rechtsfolgen Sind sämtliche Tatbestandsmerkmale einer Hinzurechnungsbesteuerung i.  S.  v. §§  7  ff. AStG erfüllt, unterliegt das der Beteiligungsquote des deutschen Anteilseigners entsprechende, anteilige Einkommen der Captive der Besteuerung in Deutschland beim jeweili-

 Freigrenze nach § 9 AStG: maximal 10  % der Gesamteinkünfte und betragsmäßig maximal 80.000 €. 6  Die Unterschiede können dabei sowohl positiver als auch negativer Art sein; beispielsweise kann der Ansatz zusätzlicher Schwankungsrückstellungen, die nach dt. Vorschriften notwendig sind, dazu führen, dass sich der Hinzurechnungsbetrag reduziert oder in einzelnen Jahren sogar insgesamt entfällt. Hierbei sind stets die Umstände im Einzelfall zu berücksichtigen. 5

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gen deutschen Anteilseigner. Die Einkünfte der Captive sollen faktisch mindestens auf das deutsche Besteuerungsniveau gehoben werden. „Die Hinzurechnungsbesteuerung durchbricht also die steuerliche Abschirmwirkung der ausländischen Gesellschaft und fingiert eine jährliche Hinzurechnung bzw. Ausschüttung an den in Deutschland beherrschenden Gesellschafter“ (Franz 2011, S. 3037 ff.).

14.2.5.8 Fazit Ob die Voraussetzungen für eine Hinzurechnungsbesteuerung vorliegen, ist unter Würdigung aller Gesamtumstände und Vereinbarungen im jeweiligen Einzelfall zu analysieren. Im Idealfall kann das Vorliegen von „passiven“ und damit potenziell hinzurechnungspflichtigen Einkünften vermieden werden, wenn in ausreichendem Umfang Geschäft mit externen Marktteilnehmern erzielt wird. Dies lässt sich beispielsweise durch die ­Schaffung von Rückversicherungsstrukturen bzw. Vereinbarung von entlastenden Rückversicherungsquoten mit konzernfremden Dritten oder durch die Zeichnung von Erst- bzw. Rückversicherungsgeschäft von externen Versicherungs- oder Rückversicherungskunden erreichen. Gelingt dies nicht, kann durch die gezielte Standortwahl und einen anerkannt eingerichteten Geschäftsbetrieb einer Captive in einem EU-Staat (Gegenbeweis/Substanznachweis) die Hinzurechnungsbesteuerung vermieden werden. Offen ist, ob die Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 AEUV bei Captives in Drittstaaten eine Gegenbeweis-Möglichkeit gewährt. Strittige Fälle sollten auf jeden Fall offengehalten bzw. Rechtsmittel eingelegt werden.

14.3 Operative Steuern Neben den Fragen der Ertragsteuer, des Außensteuergesetzes und der fremdüblichen Verrechnungspreise sind beim Betrieb einer Captive auch operative Steuern (Versicherungsteuer, Umsatzsteuer, Arbeitnehmerbesteuerung u. Ä.) zu beachten, die sich als sonstiger betrieblicher Aufwand in der Regel unmittelbar in den Betriebskosten einer Captive niederschlagen.

14.3.1 Versicherungsteuer Versicherungsteuerliche Fragestellungen haben für Captives, die unmittelbar im Erstversicherungs-bereich engagiert sind, eine deutlich größere Bedeutung als für reine Rückversicherungs-Captives, da im Rückversicherungsbereich in der Regel weitgehende Befreiungen von der Versicherungsteuer bestehen. In jedem Fall stellt jedoch die Versicherungsteuer in der Gestaltung von Versicherungsprogrammen international tätiger Konzerne ein bedeutendes Kostenelement dar und sollte schon deshalb genau hinterfragt werden.

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Die wesentliche Fragenstellungen, die sich in diesem Kontext stellen, sind: • Darf das versicherte Risiko in den betreffenden Ländern gezeichnet werden oder ist es untersagt (zum Beispiel Restriktionen in einigen Ländern für sogenannte D&O-Versicherungen). • Wenn es gezeichnet werden darf, stellt sich die Folgefrage, von wem es gezeichnet werden darf. Das heißt, gilt Freizügigkeit hinsichtlich des Risikoträgers oder muss es ein national ansässiger/registrierter oder zugelassener Versicherer sein. Hier kann es erforderlich werden, dass ein ausländischer Versicherer sich extra registrieren lassen muss. • Anschließend ist zu prüfen, ob es bestimmte Grenzen der Absicherung gibt. (Sind bestimmte Risiken im Versicherungsvertrag auszuschließen oder gibt es bestimmte Limits, die die Höhe des abgesicherten Risikos begrenzen?) Das Ergebnis dieser Prüfung kann ergeben, dass ein lokaler Versicherer den Vertrag „fronten“ muss, da die vom Versicherungsnehmer angedachten Risikoträger für ein direktes Geschäft und zum unmittelbaren Handeln in dem entsprechenden Land nicht berechtigt sind. Der „Fronter“ übernimmt in der Regel auch die versicherungsteuerlichen Verpflichtungen. Die früher in Deutschland gängige Praxis, für globale Versicherungsprogramme aus Vereinfachungsgründen die Versicherungsteuer auf die gesamte Prämie in Deutschland abzuführen, ist inzwischen weitgehend abgelöst. Entscheidend für die Zuordnung der Prämie und damit der auf sie anfallenden Versicherungsteuer ist die geografische Belegenheit des Risikos. Exemplarisch wird diese Praxis in einem Urteil des BFH zu Garantieversicherungen deutlich.7 Die Frage der jeweiligen Höhe der zuzuordnenden Prämie kann und muss je nach Versicherungsart und Deckungskonzept variieren. Als Aufteilungsmaßstab kommen zum Beispiel Umsatz, Anzahl der Angestellten, Anzahl der Betriebstätten in Betracht. Die versicherungsteuerliche Situation bei sogenannten Bilanzschutzklauseln oder Financial Interest Covers ist hingegen anders. Hier wird das finanzielle Ergebnis des regelmäßig im Inland belegenen Versicherungsnehmers geschützt. Er trägt für diesen Teil die Prämie und erhält

 BFH-Urteil vom 11.12.2013, II R 53/11: „Dem FG kann nicht darin gefolgt werden, dass durch die Garantie-Versicherung ausschließlich entschädigungsbedingte Vermögensrisiken der Klägerin ohne unmittelbaren physischen Bezug zu der Anlage versichert sind. Es trifft zwar zu, dass der wirtschaftliche Zweck einer Garantie-Versicherung in der Absicherung des Schadensersatzrisikos nach der Werksabnahme besteht (zum Beispiel Voßkühler in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-­ Handbuch, §  35 Rz  8). Die wirtschaftliche Zielsetzung einer Garantie-­Versicherung besteht in der Übernahme des Garantierisikos durch den Versicherer und der sich ggf. aus der Risikoübernahme ergebenden Leistungspflicht. Der Tatbestand des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 VersStG stellt aber nicht auf die wirtschaftliche Zweckrichtung bzw. Folgewirkung der Risikoübernahme ab, sondern knüpft ausschließlich an die geografische Belegenheit des Risikos an. Demgemäß ist für die Anwendung des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 VersStG auf die im Streitfall geschlossene Garantie-Versicherung allein entscheidend, dass sich die versicherten Risiken (das heißt die im Versicherungsvertrag bezeichneten Schäden in Bezug auf die von der Klägerin errichtete Anlage) am Ort der Belegenheit der Anlage in Norwegen verwirklichen.“ 7

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auch die Schadenzahlung aus dem Versicherungsvertrag. Lediglich das den Schaden auslösende Versicherungsereignis für seinen finanziellen Schaden ereignet sich im Drittland. Im Zusammenhang mit dem Versicherungsteuermodernisierungsgesetz, das 2021  in Kraft getreten ist, soll noch auf folgenden wichtigen Aspekt hingewiesen werden: Besonders herausfordernd dürfte die Neugestaltung und Ausweitung der Steuerbarkeit speziell von Versicherungen von bestimmten Fahrzeugen sowie bestimmten Schiffen oder Flugzeugen, aber auch von Betriebstätten deutscher Versicherungsnehmer im Drittland sein. Hier sollen nun auch im Drittland belegene Risiken der deutschen Versicherungsteuer unterfallen. Die Gesetzesbegründung spricht hier zwar von einer gesetzlichen Klarstellung, der BFH hatte die Rechtsansicht der Finanzverwaltung kürzlich jedoch deutlich verworfen, das heißt, die Regelung dürfte damit konstitutiv sein (BFH-Urteil v. 10.06.2020, Tz 19). Versicherungsteuer ist für diese Sachverhalte nun auch (und oft zusätzlich) in Deutschland zu entrichten. Es drohen also Doppelbelastungen aus Versicherungsteuer, die im Land der Risikobelegenheit und zusätzlich in Deutschland anfallen kann. Hieraus ergibt sich auch für deutsche Unternehmen mit internationalen Versicherungsprogrammen Handlungsbedarf. Sie sollten ihren Versicherungsbestand überprüfen, um zusätzliche Kosten durch eine Doppelbesteuerung in Deutschland und im Ausland zu vermeiden.

14.3.1.1 Captives im Inland Captives im Inland unterliegen grundsätzlich den gleichen Regelungen wie alle anderen inländischen Erst- und Rückversicherungsunternehmen. Für reine Rückversicherungs-Captives greifen weitgehende Befreiungen von der Versicherungsteuer. Versicherungsteuer fällt in diesen Fällen nur bei der sogenannten Kautionsrückversicherung8 an, das heißt für die Absicherung von Bürgschaften. Inländische Erstversicherungs-Captives sind für das Versicherungsgeschäft im Rahmen der gesetzlichen Verpflichtungen zur Abgabe der Versicherungsteueranmeldungen verpflichtet. Da häufig im Rahmen einer sogenannten Mitversicherung agiert wird, ist es wichtig, rechtzeitig und klar zu regeln, wer die Versicherungsteuer abführt. Oftmals wird dies gerade nicht die Captive sein, sondern der sogenannte führende Versicherer eines Versichererkonsortiums oder ggf. auch der zwischengeschaltete Makler, da dieser insbesondere bei internationalen Programmen häufig die administrativen Prozesse (Kontakt mit den versicherten Gesellschaften, Koordination des Vertrags, Schadenbearbeitung und -abwicklung) und die Versicherungsteueranmeldung übernimmt. Für die Captive ist hier zu beachten, dass auch bei Durchführung des Versicherungsteuermelde- und abführungsprozesses durch den füh-

 Die Zahlung des Versicherungsentgelts für eine Kautionsrückversicherung ist nicht nach § 4 Nr. 1 VersStG  von der Versicherungsteuer befreit, wenn durch die Versicherung die Gefahr aus einem Vertrag übernommen wird, der nach  §  2 Abs.  2 VersStGnicht als Versicherungsvertrag gilt. Eine Rückversicherung i. S. d. § 4 Nr. 1 VersStG setzt eine andere steuerbare Versicherung voraus, deren Risiko abgesichert wird. 8

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renden Versicherer oder den zwischengeschalteten Makler die Captive bestimmte Aufzeichnungspflichten haben kann (vgl. § 10 VersStG), die im Rahmen des Versicherungsteuermodernisierungsgesetzes gerade verschärft wurden.9 Für die Meldung der Versicherungsteuer im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs gelten ebenfalls die jeweiligen Landesregeln. Hier gilt es zu beachten, dass in einigen Ländern (zum Beispiel Portugal) eine Meldung und Steuerabführung durch den führenden Versicherer nicht möglich ist. Dies bedeutet, dass ein Fiskalvertreter beauftragt oder die Meldung eigenständig durchgeführt werden muss.

14.3.1.2 Captives in der EU/im EWR Für eine in der EU/im EWR gelegene Captive gelten wie in Deutschland auch die jeweiligen nationalen bzw. die EU/EWR-Regeln zum Ort des Risikos und auch zur Steueranmeldung und -abführung. 14.3.1.3 Captives in sogenannten Drittländern In vielen typischen Drittland-Captive-Standorten gibt es weitgehende lokale Steuerbefreiungsregeln, sodass hier versicherungsteuerlich Fragestellungen in der Regel wenig relevant sind.

14.3.2 Umsatzsteuer Versicherungs-Captives sind Versicherungsunternehmen und damit gelten auch für sie in Deutschland die umsatzsteuerlichen Besonderheiten bei Leistungserbringung und beim Vorsteuerabzug. Nach § 4 Nr. 10 UStG sind Versicherungsleistungen umsatzsteuerbefreit. Korrespondierend ist damit der Vorsteuerabzug grundsätzlich ausgeschlossen (vgl. §  15 Abs.  2 UStG), es sei denn, Versicherungsumsätze werden in den EWR bzw. ins Drittland erbracht (vgl. § 15 Abs. 3 UStG). Wichtig ist hier, dass auch Großbritannien mittlerweile ein Drittland ist. Im Ergebnis bedeutet dies, dass eine inländische Captive, die ihre Umsätze im Wesentlichen gegenüber deutschen Versicherungsnehmern oder Rückversicherungen erbringt, über keinen Vorsteuerabzug verfügt. Das heißt, die Umsatzsteuer aus zugekauften Leistungen ist weitgehend vom Abzug als Vorsteuer ausgeschlossen und stellt ein zusätzliches Kostenelement dar.

 Die in der neuen Nummer 9 des § 10 VersStG geregelte Aufzeichnungspflicht betrifft Fälle der offenen Mitversicherung, bei denen das versicherte Risiko von mehreren Versicherern anteilig übernommen wird und jeder Versicherer die Steuer für das von ihm vereinnahmte anteilige Versicherungsentgelt selbst anzumelden und zu entrichten hat. Die aufzuzeichnenden Informationen über die anderen Mitversicherer ermöglichen eine Überprüfung, ob das gesamte Versicherungsentgelt versteuert worden ist, und dienen somit einem effektiveren Verwaltungsvollzug. 9

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Für Rückversicherungs-Captives im Inland, die Risiken aus Drittländern absichern, sollte daher geprüft werden, ob in Bezug auf die Drittlandsumsätze zumindest ein quotaler Vorsteuerabzug vorgenommen werden kann, um die Umsatzsteuerbelastung zu senken. Sofern in größerem Umfang administrative Leistungen von der (Konzern-)Muttergesellschaft zugekauft werden, sollte überprüft werden, ob eine umsatzsteuerliche Organschaft möglich ist. Ist dies der Fall, entsteht keine Umsatzsteuer auf Leistungszukäufe von Gesellschaften innerhalb derselben umsatzsteuerlichen Organschaft. Auf der anderen Seite kennen viele für Captives typische Standortländer außerhalb der EU kein System der Umsatzsteuerbesteuerung, sodass es hier zu keiner Umsatzsteuerbelastung kommt.

14.3.3 Lohnsteuer/Entsendung Grundsätzlich gilt, dass für die Angestellten der Captives in Deutschland und auch im Ausland die jeweiligen nationalen Regeln zum Lohnsteuerabzug und zur Einkommensteuer zu beachten sind. Sobald man aber den Bereich der „grenzüberschreitenden Mobilität“ betritt, empfiehlt sich erhöhte Sorgfalt sowohl mit Blick auf Steuerabzugsverpflichtungen als auch mit Blick auf Haftungsthemen. Exemplarisch sind nachfolgend einige typische Themen dargestellt. Wirtschaftliche Arbeitgeberstellung bei Entsendungen Ein deutsches Stammhaus „entsendet“ an seine Rückversicherungs-Captive oder Captive-­ Betriebstätte im Drittland Mitarbeiter in leitender Funktion. Dort erhalten sie einen lokalen Arbeitsvertrag. Um steuerliche Probleme zu vermeiden, ist es wichtig, dass auch die Kosten im Ausland getragen werden. Ist dies nicht der Fall, so kann sich der sogenannte „wirtschaftliche Arbeitgeber“ in Deutschland befinden. Dann kann eine Abführungspflicht für Lohnsteuer beim kostentragenden Unternehmen bestehen (BMF-Schreiben v. 03.05.2018, Tz. 4.3.3.1). Diese Frage ist unabhängig von körperschaftsteuerlichen und Verrechnungspreisthemen zu klären. Drittlandsbetriebsstätte der Captive Verfügt eine deutsche Captive über eine (Rückversicherungs-)Betriebstätte im Drittland, so ist zu beachten, dass die dortigen Angestellten bei ihren Dienstreisen ins Inland ab dem ersten Tag der deutschen Lohnsteuer unterliegen (BMF-Schreiben v. 03.05.2018, Tz. 4.3.2). Das Stammhaus ist verpflichtet, die deutschen Arbeitstage aufzuzeichnen, sich die Gehaltsdaten einzuholen und deutsche Lohnsteuer abzuführen. Ob und wie diese im Heimatland des Reisenden berücksichtigt werden, ist im Einzelfall vom jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen abhängig. In jedem Fall ist ein geeigneter Prozess aufzusetzen, um sicherzustellen, dass die Abführung der Lohnsteuer der ausländischen Arbeitnehmer gewährleistet ist. Dieser Sachverhalt

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wird in Deutschland inzwischen regelmäßig im Rahmen von Lohnsteueraußenprüfungen untersucht und bei Beanstandungen durchweg an die zuständige Buß- und Strafsachenstelle des Finanzamtes (BuStra) gemeldet. Dort werden dann weitere Konsequenzen geprüft. Außerdem ist wichtig, dass – sofern mit dem Betriebstättenstaat kein DBA (Doppelbesteuerungs-abkommen) besteht  – dort ansässige Geschäftsführer und Prokuristen nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 c) EStG mit ihrem gesamten Gehalt in Deutschland dem Lohnsteuerabzug unterliegen, den das Stammhaus vorzunehmen hat. Mangels Anrechnung im Betriebstättenstaat kommt es hier oft zu einer Doppelbesteuerung.

14.4 Schlussbemerkung Bei der Bewertung von steuerlichen Risiken, die mit dem Betrieb einer Captive einhergehen, ist zwischen materiellen Steuerrisiken und Reputationsrisiken für das Unternehmen zu unterscheiden. Die materiellen steuerlichen Risiken können bei sorgfältiger Beachtung der steuerlichen Compliance-Verpflichtungen und der Berücksichtigung von steuerlichen Anforderungen im Rahmen der Ausgestaltung des operativen Geschäftsmodells der Captive in der Regel gut ge­ managt werden. Oft beschränken sich die materiellen Risiken auch darauf, dass etwaige Steuervorteile, die aus dem Geschäftsbetrieb der Captive entstehen, nachträglich versagt werden könnten. In diesen Fällen reduziert sich das materielle Risiko aus Konzernsicht und bei einem längerfristigen Betrachtungshorizont auf mögliche Zinsen oder Zuschläge auf nachträglich festgesetzte Steuerzahlungen. Auch ist das materielle Risiko regelmäßig abhängig vom Geschäftsumfang und Gewinnpotenzial der Captive. Bei einem nur geringen Gewinn der Captive ergibt sich proportional regelmäßig auch nur ein betragsmäßig geringes materielles Steuerrisiko. Reputationsrisiken ergeben sich in besonderem Maße, wenn ein Captive-Standort in einem sogenannten „Steuerparadies“ gewählt wird. Dass diese Standorte regelmäßig auch aus operativer oder aufsichtsrechtlicher Sicht für Captives sehr attraktiv sind und mit der Standortwahl oft keine oder nur geringe Steuervorteile einhergehen, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung dabei regelmäßig keine Rolle. Dies zeigt auch die praktischen Schwierigkeiten im Umgang mit entsprechenden Reputationsrisiken. Captives unterliegen umfangreichen Tax-Compliance-Anforderungen, wie insbesondere der Darlegung von außersteuerlichen Gründen zur Etablierung der konkreten Captive-­ Struktur, der Dokumentation der Fremdüblichkeit der Versicherungsprämien, des Substanznachweises, der Steueranmeldung für Versicherung-, Umsatz- und Lohnsteuer sowie ggf. der Mitteilungspflicht nach § 138d AO etc. Die sorgfältige und proaktive Beachtung dieser steuerlichen Anforderungen ist ein wichtiger Beitrag für die Vermeidung bzw. Reduzierung von materiellen steuerlichen Risiken und Reputationsrisiken, die mit dem Betrieb einer Captive einhergehen können. Die Ausgestaltung einer Captive entsprechend einem aufsichtsrechtlich anerkannten Erstoder Rückversicherungsunternehmen sollte dabei hohe Priorität haben. Ein wichtiges Kriterium für die steuerliche Anerkennung der Captive als Versicherungsunternehmen ist, dass die Captive auch faktisch Träger von eigenen unternehmerischen Chancen und Risiken ist. Aus Konsistenzgründen sollte daher eine Captive auch in der internen Unternehmenssteuerung re-

14  Steuerliche Fragestellungen bei Captives

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gelmäßig als Profit Center und nicht als reines Cost Center ausgestaltet sein. Empfehlenswert ist darüber hinaus – soweit dies in der konkreten Sachverhaltssituation möglich ist –, konzernfremdes Versicherungsgeschäft in die Risikogemeinschaft „Captive“ mit aufzunehmen. Auch aktuelle Entwicklungen sind aufmerksam zu beobachten und zu bewerten. So führt die Zunahme von Mobile Working oder Homeoffice-Arbeit möglicherweise zu einer Schwächung der lokalen Aktivitäten der Captive. Dies kann negative Auswirkungen auf den Sub­ stanznachweis oder den Nachweis des Ortes der Geschäftsleitung einer Captive haben. Solange entsprechende Aktivitäten nur zu einer temporären Änderung des Arbeitsverhaltens führen (zum Beispiel solange aufgrund der COVID-19-Pandemie aus Gesundheitsschutzgründen ein verstärktes Arbeiten aus dem Homeoffice erfolgt), werden hieraus in der Regel wohl keine nachhaltigen steuerlichen Konsequenzen zu ziehen sein (vgl. auch OECD Secretariat Analysis of Tax Treaties and the Impact of the COVID-19 Crisis, April 2020). Wenn Mobile Working und Homeoffice-Lösungen allerdings auch nach der Pandemie dauerhaft weitergeführt werden, ist sicherlich eine sorgfältige Neubewertung der steuerlichen Risiken hieraus angezeigt. Durch die gezielte Standortauswahl bei Gründung und Betrieb von Erst- oder Rückversicherungs-Captives ergeben sich steuerliche Optimierungspotenziale: • Bei in Deutschland ansässigen Captives beispielsweise durch die Erzielung von Steuerstundungseffekten im Konzern (sofortige Betriebsausgabenabzug für bezahlte Versicherungsprämien, Passivierung von versicherungstechnischen Rückstellungen) oder die Nutzung günstiger Gewerbesteuerhebesätze. • Bei ausländischen Captives durch die Ausnutzung eines Steuersatzgefälles zwischen Deutsch­land und dem jeweiligen ausländischen Staat. Diesen potenziell höheren Steuervorteilen aus grenzüberschreitenden Gestaltungen stehen jedoch im Vergleich zu inländischen Captive-Strukturen erhöhte Anforderungen an Dokumentation, Administration und Beratungsbedarf sowie höhere Steuerrisiken gegenüber. Zu nennen sind hier insbesondere die potenzielle Einkünfteberichtigung nach § 1 AStG bei nicht ­fremdüblicher Prämiengestaltung sowie eine etwaige Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7ff. AStG. Diese Risiken und Kosten gilt es zu bewerten, bestmöglich zu vermeiden und schlussendlich gegen die erzielbaren Vorteile abzuwägen. Einzelfragen zu den steuerlichen Anforderungen an eine Captive können in Zweifelsfällen ggf. im Vorfeld mit der Finanzverwaltung abgeklärt werden. Um in entsprechenden Verfahren Erfolg zu haben, ist es von besonderer Bedeutung, außersteuerliche Beweggründe für die Etablierung der konkreten Captive-Struktur überzeugend darlegen zu können.

Literatur Andresen, Einkünfteabgrenzung bei grenzüberschreitenden Finanzierungsleistungen post-BEPS in Gestalt der „Transfer Pricing Guidance on Financial Transactions“ der OECD (Teil II), in IStR 2020, S. 494ff. BFH-Urteil vom 10.06.2020, V R 48/19 Tz 19 BFH-Urteil vom 18.12.2019, BStBl 2021 II, S. 270

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BFH-Urteil vom 08.12.2016, in BFH/NV 2017, S. 451 BFH-Urteil vom 12.10.2016, in BStBl 2017 II, S. 615 BFH-Urteil vom 10.04.2013, in BFH/NV 2013 S. 1657 BFH-Urteil vom 15.02.2012, in BFHE 236, S. 452 BFH-Urteil vom 13.10.2010, in BStBl II 2011, S. 249 ff BFH-Urteil vom 31.05.2005, in BStBl. 2006 II, S. 118 BFH-Urteil vom 17.11.2004, in BFH/NV 2005, S. 1016 BFH-Urteil vom 17.05.1995, in BStBl. II 1996, S. 204 BMF-Schreiben vom 14.05.2004, in BStBl. 2004 BMF-Schreiben vom 23.02.1983, in BStBl. 1983 I S. 218 ff. Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl., 2015 Busch in Vögele/Borstell/Bernhardt, Verrechnungspreise 5. Aufl. 2020 Böhmer, Hinzurechnungsbesteuerung im Drittstaatenfall, in FR 2020, S. 1001 EuGH-Urteil vom 12.09.2006, Rs C-196/04 EuGH-Urteil vom 13.11.2012, Rs. C-35/11 EuGH Vorlage zur Vorabentscheidung vom 26.02.2019, Rs C-135/17 Franz, § 5 Captives, in Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, 3. Aufl. 2020 Franz, Captives – eine Standortbestimmung, in BB 2011, S. 3037 ff. Gosch/Rautenstrauch: Reform der Hinzurechnungsbesteuerung nach dem RefE eines ATAD-Umsetzungsgesetzes, Fachpublikation der WTS 2020, S. 52 ff. Hets, Captive Insurance Company, 1995 Jakobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, 8. Aufl. 2016 OECD Secretariat Analysis of Tax Treaties and the Impact of the COVID-19 Crisis, April 2020 OECD Transfer Pricing Guidance on Financial Transactions inclusive Framework on BEPS Pohl, § 1 AStG, in Blümich, Außensteuergesetz (AStG) Loseblatt-Kommentar Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (ATAD) Roser, Vorbemerkung zu §§  20–21b, in Gosch, Körperschaftsteuergesetz (KStG) Kommentar, 4. Auflage 2020 Dr. Florian Schnabel  studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Bayreuth und München und erwarb einen Master of Business Administration an der Simon Business School der University of Rochester, NY. Seinen beruflichen Werdegang begann er bei der Bayerischen Finanzverwaltung als Sachgebietsleiter beim Finanzamt München für Körperschaft. Danach war er als Rechtsanwalt in einer großen Steuer- und Wirtschaftsprüfungskanzlei und in leitender Funktion in der Steuerabteilung eines internationalen deutschen Versicherungskonzerns tätig. Seit 2017 ist er Partner der WTS SteuerberatungsGmbH und verantwortet dort unter anderem die Service Line „Insurance“. Dr. Stefan Sigulla  studierte Rechtswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Nach dem 2. Staatsexamen war er mehrere Jahre in der Rechts- und Risikoberatung von Unternehmen der Metallgesellschaft AG tätig. Anschließend übernahm er die Funktion des CEO Insurance der Siemens AG und verantwortete damit u. a. auch die beiden konzerneigenen Versicherungsgesellschaften. Zudem engagierte er sich in den Verbänden der versicherungsnehmenden Industrie als Vorsitzender Deutscher Versicherungs-Schutzverband e. V. sowie als Vice President der Federation of European Risk Management Associations. 2011 wechselte er als Vorstand zur heutigen HDI Global SE. In seinem Ressort gründete er eine spartenübergreifende Abteilung „Captiveservice“ für die Beratung und Betreuung von konzerneigenen Versicherungsgesellschaften der HDI-Kunden. Im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV) war er Spre-

14  Steuerliche Fragestellungen bei Captives

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cher der Expertennetzwerks Internationales Geschäft und Mitglied des Präsidialausschusses Risikoschutz für Gesellschaft und Wirtschaft. Seit 2020 ist er Partner of Counsel der WTS Group AG und Geschäftsführer der WTS Legal Rechtsanwaltsgesellschaft mbH.

Rechnungslegung von Captives

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Michael Stöffler

Inhaltsverzeichnis 15.1  E  inleitung  15.2  R  echnungslegung nach HGB  15.2.1 Allgemeines  15.2.2 Kapitalanlagen  15.2.3 Forderungen  15.2.4 Eigenkapital  15.2.5 Versicherungstechnische Rückstellungen  15.2.6 Verbindlichkeiten  15.2.7 Spartenrechnung  15.2.8 Abgegebene Rückversicherung/Pooling  15.2.9 Outsourcing/Kostenverteilung  15.2.10 Abhängigkeitsbericht  15.2.11 Berichterstattung/Veröffentlichung  15.3  Konzernabschluss/Rechnungslegung nach IFRS  15.4  Solvency II/Solvabilitätsübersicht  Literatur 

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M. Stöffler (*) Hahnstätten, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Kraus, T. Rohlfs (Hrsg.), Captives, https://doi.org/10.1007/978-3-658-37912-4_15

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Zusammenfassung

Deutsche Captives sind vom Geschäftsmodell her sehr individuell. Manche konzentrieren sich auf (kleine) Frequenzschäden, andere auf mittelgroße Schäden, wieder andere decken auch größte Schäden mit einem eigenen Anteil. Das hat vor allem ­Auswirkungen auf die bilanzielle Erfassung der Schadenfälle. Die meisten Captives betreiben ausschließlich die übernommene Rückversicherung, andere auch das selbst abgeschlossene Versicherungsgeschäft, manche auch Vermittlungsgeschäft oder Mitarbeitergeschäft. Die Unterschiede sind vielfältig und ebenso sind es die speziellen Fragen der Rechnungslegung. Nachfolgend werden die wichtigen Besonderheiten der Rechnungslegung von Captives dargestellt mit einem Ausblick auf IFRS und Konzernabschluss sowie auf die Solvabilitätsübersicht – ohne Anspruch auf erschöpfende Vollständigkeit.

15.1 Einleitung Captives erstellen regelmäßig ihre Jahresabschlüsse nach den Vorschriften des HGB für Versicherungsunternehmen. Diese passen aber nicht in einen Konzernabschluss, der nach den Regeln für Industrieunternehmen aufgestellt wird, selbst wenn dieser Konzernabschluss ebenfalls dem HGB folgt. Allerdings ist die Lösung bei HGB-Konzernabschlüssen deutlich einfacher als bei IFRS-Konzernabschlüssen. Im HGB Konzern werden die versicherungstechnischen Posten typischerweise – wegen ihrer untergeordneten Bedeutung im Konzern – ohne Umbewertungen als sonstige Aktiva und Passiva bzw. sonstige Erträge und Aufwendungen ausgewiesen. Beim IFRS Konzernabschluss erfolgt der Ausweis zwar regelmäßig ebenso, aber die Posten werden meistens nach den Grundsätzen der IFRS umbewertet, was für die Versicherungstechnik nicht ganz einfach ist, da die IFRS-­ Spezialisten im Konzern keine Versicherungsexperten sind und die Versicherungsexperten bei den Captives keine IFRS-Spezialisten. Wir stellen beide Sichtweisen nachfolgend dar, um ein besseres Verständnis beider Seiten zu fördern. Neben HGB (und Steuerbilanz) und IFRS spielen auch die Rechnungslegung (Solvabilitätsübersicht) und die Berichterstattung (SFCR) nach Solvency II eine neue und komplexe Rolle. Auch diese wird nachstehend mit ihren wesentlichen Aspekten behandelt, da Captives auch hier besondere Themen haben, vor allem bei der Bewertung der versicherungstechnischen Passiva.

15.2 Rechnungslegung nach HGB Die handelsrechtliche Rechnungslegung von Captives mit Bilanz, Gewinn-und-Verlust-Rechnung, Anhang sowie Lagebericht richtet sich nach den allgemeinen für Versicherungsunternehmen geltenden Vorschriften der §§ 341 ff. HGB in Verbindung mit der Verordnung über die Rechnungslegung der Versicherungsunternehmen (RechVersV). Das Aufsichtsrecht spielt nur dann eine Rolle, wo sich aus dem VAG zwingende Auswirkun-

15  Rechnungslegung von Captives

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gen auf die Rechnungslegung nach HGB ergeben (zum Beispiel beim Gründungsstock eines VVaG) oder die RechVersV Ausnahmen von der Anwendung des Wortlauts mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde zulässt (zum Beispiel bei der Schwankungsrückstellung nach der Anlage zu § 29 RechVersV). Wegen der Auslegung der allgemeinen Vorschriften zur Rechnungslegung der Versicherungsunternehmen wird auf die allgemeine Kommentarliteratur verwiesen (KoRVU 1982; Beck 1998; WP-Handbuch Versicherungen 2018 mit weiteren Verweisen). Die nachstehenden Ausführungen beschränken sich auf die Besonderheiten der Rechnungslegung von Captives. Pensionskassen und Pensionsfonds können im weiteren Sinne auch als Captives ihrer Trägerunternehmen oder Trägerkonzerne verstanden werden, vor allem wenn sie in der Rechtsform der Aktiengesellschaft geführt werden. Deren Besonderheiten in der Rechnungslegung werden nachfolgend nicht kommentiert, da sie in der allgemeinen Kommentierung schon ausreichend abgedeckt sind. In der RechVersV sind für Bilanz und Gewinn-und-Verlust-Rechnung von Versicherungsunternehmen Formblätter vorgesehen, die der Einheitlichkeit der Darstellung dienen sollen. Formblatt 1 ist von allen Versicherungsunternehmen für die Bilanz und die Konzernbilanz zu verwenden (vgl. Abb. 15.1). Aktiva

Passiva

A. (weggefallen)

A. Eigenkapital

B. Immaterielle Vermögensgegenstände

B. Genussrechtskapital

C. Kapitalanlagen

C. Nachrangige Verbindlichkeiten

D. Kapitalanlagen für Rechnung und Risiko von Inhabern von Lebensversicherungspolicen

D. (weggefallen)

E. Forderungen

E. Versicherungstechnische Rückstellungen

G. Rechnungsabgrenzungsposten

F. Versicherungstechnische Rückstellungen im Bereich der Lebensversicherung, soweit das Anlagerisiko von den Versicherungsnehmern getragen wird

H. Aktive latente Steuern

G. Andere Rückstellungen

I. Aktiver Unterschiedsbetrag aus der Vermögensverrechnung J. h K. Nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag

H. Depotverbindlichkeiten aus dem in Rückdeckung gegebenen Versicherungsgeschäft

F. Sonstige Vermögensgegenstände

I. Andere Verbindlichkeiten J. Rechnungsabgrenzungsposten K. Rechnungsabgrenzungsposten L. Passive latente Steuern

Abb. 15.1  Bilanzstruktur nach Formblatt 1 RechVersV. (Vgl. Rohlfs 2023, S. 217)

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Formblatt 2 ist für die Gewinn-und-Verlust-Rechnung derjenigen Versicherungen vorgesehen, die das selbst abgeschlossene Geschäft in der Schaden- und Unfallversicherung betreiben, sowie für alle in Rückdeckung übernommenen Geschäfte der Erstversicherer und der Rückversicherer einschließlich Lebensversicherung und Krankenversicherung. Formblatt 3 ist für die Gewinn-und-Verlust-Rechnung für das selbst abgeschlossene Geschäft in der Lebens- und Krankenversicherung zu verwenden. Da Captives soweit ersichtlich kein solches Geschäft betreiben, ist Formblatt 3 für diese nicht relevant. Das Formblatt 4 ist für die Gewinn-und-Verlust-Rechnung aller Versicherungs-Konzerne zu verwenden. Derzeit stellen keine Captives einen Konzernabschluss nach den für Versicherungen geltenden Vorschriften auf. Im Ergebnis haben alle Captives derzeit das Formblatt 1 für die Bilanz und das Formblatt 2 für die Gewinn-und-Verlust-Rechnung zu verwenden. Soweit Captives sowohl das selbst abgeschlossene als auch das in Rückdeckung übernommene Geschäft betreiben, sind im Anhang Aufgliederungen nach den beiden Bereichen und weitere Untergliederungen vorzunehmen.

15.2.1 Allgemeines Die wesentlichen Bilanzposten von Captives sind typischerweise: • • • • •

Kapitalanlagen, Forderungen, Eigenkapital, versicherungstechnische Rückstellungen, Verbindlichkeiten.

Diese Posten werden nachfolgend näher betrachtet, zudem werden einige Themen der Gewinn-und-Verlust-Rechnung erläutert.

15.2.2 Kapitalanlagen Die Bilanzierung der Kapitalanlagen von Versicherungsunternehmen richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 252 ff. HGB in Verbindung mit den besonderen Bewertungsvorschriften in den §§ 341b–d HGB. Für den Ausweis im Formblatt 1 sind ergänzend die Vorschriften der §§ 7–14 RechVersV zu beachten. Dies gilt gleichermaßen für Captives, bei denen jedoch die Anwendung von § 341d HGB (Bewertung in der fondsgebundenen Lebensversicherung) nicht vorkommt. Die Bilanzen von Versicherungsunternehmen unterscheiden gemäß Formblatt 1 nicht nach Anlagevermögen und Umlaufvermögen. Deshalb bestimmen die speziellen Bewertungsvorschriften in § 341b Abs. 1 HGB, dass sämtliche Vermögensgegenstände nach den

15  Rechnungslegung von Captives

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für das Anlagevermögen geltenden Vorschriften zu bewerten sind, gemäß § 341b Abs. 2 HGB jedoch Aktien, Investmentanteile und andere Wertpapiere nach den für das Umlaufvermögen geltenden Vorschriften zu bewerten sind. Abweichend hiervon dürfen gemäß §  341c  HGB Namensschuldverschreibungen, Hypothekendarlehen und sonstige Forderungen mit ihrem Nennwert angesetzt werden. Unterschiedsbeträge zu den Anschaffungskosten sind aktivisch oder passivisch abzugrenzen und planmäßig über die Laufzeit aufzulösen. Viele Captives haben die Verwaltung ihrer Kapitalanlagen auf den Konzern, teilweise auch für bestimmte Asset-Klassen das Portfolio Management auf Dritte ausgelagert. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Captive die gleichen Informationen hat, als wenn sie ein eigenes Kapitalanlagebuch führen würde, insbesondere jede einzelne Anlage mit Anschaffungskosten und Zeitpunkt der Anschaffung nachweisen kann und die Zeitwerte zum Bewertungsstichtag einzeln vorliegen. Zudem sind ggf. aus den Wertveränderungen die aufgelaufenen Zinsen und Agien/Disagien aus den Zeitwerten abzuspalten und gesondert unter den Rechnungsangrenzungsposten auszuweisen. Gegenstand der Buchführung und Bilanzierung sind bei Investmentfonds die einzelnen Fondsanteile, bei Portfolios jedoch jedes einzelne Objekt innerhalb der Portfolioverwaltung. Denn die Portfolioverwaltung ist eine reine Dienstleistung, bei welcher die Captive unmittelbar Eigentümer der Zielinvestments ist. Soweit Investmentfonds vom Konzern aufgelegt und nach dem Kapitalanlagegesetzbuch (KAGB) verwaltet werden, erfolgt diese Verwaltung durch Kapitalanlageverwaltungsgesellschaften (KVG) unter der Aufsicht der BaFin. Als Zeitwerte ermitteln die KVG die Rücknahmepreise der Fondsanteile nach aufsichtsrechtlich vorgegebenen Regeln zum Stichtag. Diese werden von einem unabhängigen Prüfer geprüft und entsprechende Prüfungsberichte den Anlegern und der BaFin vorgelegt. Einige Captives vermieten Immobilien an Konzerngesellschaften. Dies erfolgt auf Basis von Konzernvorgaben regelmäßig zu marktüblichen Bedingungen. Eventuelle Baumaßnahmen werden von der Captive vorfinanziert, was ja bei fremdvermieteten Objekten ebenso üblich wäre. Sollten bei der konzerninternen Vermietung Ausfallrisiken entstehen, werden diese üblicherweise von der Muttergesellschaft übernommen, entweder durch einen bestehenden Ergebnisabführungsvertrag oder durch Garantien. Bewertungsprobleme sollten daher bei der Captive nicht auftreten. Captives nehmen regelmäßig am Cash Pooling des Konzerns teil. Dies bedeutet, dass täglich bestehende Guthaben oder Verbindlichkeiten der Konzerngesellschaften gegenüber einem bestimmten Kreditinstitut physisch zusammengelegt werden und bei den Konzerngesellschaften als Forderung oder Verbindlichkeit gegenüber der Konzern-­ Obergesellschaft gebucht werden. Dabei gibt es unterschiedliche Ausgestaltungen der Verträge: Ist eine jederzeitige Verfügbarkeit über das Cash-Konto oder sogar eine Überziehungsmöglichkeit vereinbart, handelt es sich in Ermangelung der Dauerhaftigkeit nicht um eine Kapitalanlage, sondern um eine laufende Forderung vergleichbar einem Girokonto. Der Ausweis hat dann als Forderung zu erfolgen. Sollte eine Verfügung nur nach Vorankündigung möglich sein, handelt es sich um Termingeld und damit um eine Kapitalanlage. Dies ist unabhängig von der Frage einer Verzinsung.

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Kapitalanlagen in fremder Währung werden typischerweise vorgenommen, wenn in der gleichen Währung auch Verpflichtungen bestehen (sogenannte währungskongruente Anlage). Dies kommt bei Captives, auch wenn sie zusätzlich das selbst abgeschlossene Versicherungsgeschäft betreiben, normalerweise nur in der eingehenden und ausgehenden Rückversicherung vor. Professionelle Rückversicherer betreiben regelmäßig eine Vielzahl von Fremdwährungskonten, deren Saldo mindestens zum Bilanzstichtag in Euro umgerechnet wird. Captives betreiben einen solchen Aufwand nicht. Abrechnungen werden zum Zeitpunkt der Buchung mit dem Tageskurs oder einem festen Monatskurs umgerechnet. Für die Bewertung der Kapitalanlagen ist es zwingend erforderlich, die Anschaffungskosten in fremder Währung und in Euro zum Zeitpunkt der Anschaffung zu erfassen. Ob man eine Bewertungseinheit mit den entsprechenden Passiva bildet, ist nach den allgemeinen Grundsätzen zu entscheiden und zu dokumentieren (vgl. jeweils die Kommentierung zu § 254 HGB in: KoRVU 1982; Beck 1998 S. 183; WP-Handbuch Versicherungen 2018; Beck’ scher Bilanzkommentar 2020).

15.2.3 Forderungen Die Bilanzierung von Forderungen richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften in § 252 HGB in Verbindung mit § 341 HGB sowie den §§ 15–17 RechVersV. Es gilt zunächst das Prinzip der Anschaffungskosten als Obergrenze des Wertansatzes. Zu jedem Bilanzstichtag ist zu prüfen, ob sich der Wert vermindert hat und eine Abschreibung auf den beizulegenden Wert vorzunehmen ist. Bei Forderungen ist dies auch bei einer vorübergehenden Wertminderung zu prüfen. Nachstehend sind typische spezielle Fragestellungen von Captives dargestellt. Forderungen an den Konzern aus dem Cash Pooling sind bei jederzeitiger Verfügbarkeit unabhängig von der Frage der Verzinsung unter den sonstigen Forderungen zu ­erfassen. Dabei ist zu vermerken, dass es sich um Forderungen an verbundene Unternehmen handelt. Soweit Captives Vermittlungsgeschäft für Konzernpolicen oder Mitarbeiterversicherungen betreiben, sind die daraus am Bilanzstichtag bestehenden Forderungen ebenfalls unter den sonstigen Forderungen auszuweisen (vgl. § 17 RechVersV). Dabei handelt es sich normalerweise nicht um Forderungen an verbundene Unternehmen. Forderungen an Versicherungsnehmer bestehen ausschließlich bei Captives, welche auch das selbst abgeschlossene Versicherungsgeschäft betreiben, für ihren Anteil als Mitversicherer an der Police. Auch wenn der Führende die gesamte Prämie kassiert und an die Beteiligten deren Anteile ggf. unter Abzug von Versicherungsteuer weiterleitet, besteht rechtlich der Anspruch der Captive an den Versicherungsnehmern und ist bis zum Zahlungseingang als solcher auszuweisen (vgl. Beck 1998 S. 450). Abrechnungsforderungen aus dem Rückversicherungsgeschäft können aus der eingehenden und der ausgehenden Rückversicherung bestehen. Ein getrennter Ausweis ist im Formblatt 1 und in § 16 RechVersV nicht vorgesehen. Soweit gegenüber dem gleichen Unterneh-

15  Rechnungslegung von Captives

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men Forderungen und Verbindlichkeiten bestehen, dürfen diese saldiert ausgewiesen werden, auch wenn sie in unterschiedlichen Währungen bestehen (vgl. Beck 1998, S. 453). Die Entstehung der Abrechnungsforderungen spielt für den Ausweis keine Rolle. Sie können aus Prämien, Schäden oder Kosten stammen. Es gibt mittlerweile aber auch Verträge, die einen Teil des Risikos aus Kapitalanlagen übernehmen. Auch aus diesen Verträgen bestehende Salden sind hier auszuweisen.

15.2.4 Eigenkapital Da sämtliche Captives in Deutschland in der Rechtsform der Aktiengesellschaft betrieben werden, gelten für die Bilanzierung des Eigenkapitals ohne irgendwelche Besonderheiten die allgemeinen für Versicherungsunternehmen in dieser Rechtsform bestehenden Vorschriften.

15.2.5 Versicherungstechnische Rückstellungen Die versicherungstechnischen Rückstellungen von Captives umfassen: • • • •

Beitragsüberträge, Deckungsrückstellung (in der Lebens-Rückversicherung), Rückstellungen für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle, sonstige versicherungstechnische Rückstellungen (vor allem für Beitragsnachverrechnungen), • Schwankungsrückstellungen (sogenannte ähnliche Rückstellungen fallen bei Captives typischerweise nicht an).

15.2.5.1 Beitragsüberträge Für die Bilanzierung von Beitragsüberträgen gelten für Captives die allgemeinen Vorschriften für Versicherungsunternehmen gemäß §  341e Abs.  2 Ziffer 1 HGB und §  24 RechVersV. Häufig werden die Verträge mit den Zedenten auf Basis des Kalenderjahres oder bei abweichendem Geschäftsjahr auf Basis des Geschäftsjahres abgeschlossen, sodass keine Beitragsüberträge anfallen. Andernfalls stellt sich bei denjenigen Captives, die kurz nach Ende des Geschäftsjahres ihren Jahresabschluss aufstellen und deswegen noch keine Abrechnung der Zedenten oder Führenden für das vierte Quartal haben, sodass die Zahlen dieses Quartals hochgerechnet werden müssen, folgende Fragestellung: Soll man die Hochrechnung der Beiträge nur auf den Zeitraum bis zum Ende des Geschäftsjahres begrenzen, sodass keine Beitragsüberträge anfallen, oder die Beiträge bis zum Ende des Vertragszeitraums erstrecken und für den auf das Folgejahr entfallenden Teil als Beitragsübertrag abgrenzen? Beides kommt in der Praxis vor und dürfte u. E. zulässig sein, da es sich ja sowieso nur um eine Schätzung handelt und auf das Ergebnis keinen Einfluss hat.

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Falls eine Captive sowohl Erstversicherer als auch Rückversicherer ist und eine Rückversicherungsdeckung der Captive beide Bereiche abdeckt, sind die Prämien und Beitragsüberträge auf beide Bereiche aufzuteilen. Dies kann in einfachsten Fall anhand des Verhältnisses der jeweiligen Brutto-Prämien erfolgen, aber auch auf Basis risikotheoretischer Betrachtungen, wenn die Risiken der Bereiche sehr unterschiedlich sind. Bei Captives können eventuell Rückversicherungs-Deckungen nicht zeitlich kongruent mit der Brutto-Deckung abgeschlossen sein, bspw. wenn in einer Multi-Line-­ Rückversicherung die Vertragslaufzeiten der verschiedenen Brutto-Policen unterschiedlich sind, die Rückversicherung aber auf den Beginn der Hauptpolice abgeschlossen ist. Beispielsweise läuft die größte Sparte, Feuerversicherung, auf den 1.7. eines Jahres, aber die Montageversicherung auf den 1.1. eines Jahres. Dann wird in der Montageversicherung kein Brutto-­Beitragsübertrag gebildet, aber in der dazu gehörenden anteiligen Rückversicherung schon, da die RV-Prämie auf die Sparten aufgeteilt wird und die Laufzeit der Deckung in der Rückversicherung sich auch dort auf den Zeitraum bis zum 1.7. des Folgejahres erstreckt. Soweit die Kapazität einer nichtproportionalen Rückversicherungs-Deckung aufgezehrt ist, sind auch keine Beitragsüberträge mehr zu bilden, da kein Risiko für Zeiträume nach dem Bilanzstichtag mehr besteht. Dies kann im eingehenden oder ausgehenden oder in beiden Bereichen der Rückversicherung auftreten.

15.2.5.2 Deckungsrückstellung Deckungsrückstellungen (aus Mitarbeitergeschäft) kommen in der Lebens-Rückversicherung von Captives vor, während Rentendeckungsrückstellungen in der Haftpflicht- oder Unfallversicherung (Ausweis unter der Rückstellung für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle) selten sind, da Personenschäden in der Industrieversicherung und deren Rückversicherung typischerweise durch Kapitalabfindungen und nicht über Rentenzahlungen erledigt werden. Die anteiligen bei der Captive zu bildenden Rückstellungen werden von den Zedenten gemeldet. Sollten diese Meldungen von ausländischen Zedenten auf Basis lokaler Rechnungslegungs-­Grundsätze oder IFRS berechnet sein, müssen diese auf HGB angepasst werden, zumindest soweit diese Werte darüber liegen. In der Regel haben Captives in den entsprechenden Verträgen, insbesondere wenn keine fremden Rückversicherer beteiligt sind, die entsprechenden Rechnungsgrundlagen konkret vertraglich festgelegt. 15.2.5.3 Rückstellung für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle Die Bilanzierung der Rückstellungen für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle – die klassischen Schadenrückstellungen  – ist für alle Versicherungsunternehmen in den §§  341e, 341g HGB in Verbindung mit den §§  26, 27 RechVersV geregelt. Ergänzend gelten die allgemeinen Grundlagen der §§ 252 ff. HGB. Für Captives gibt es insbesondere die nachfolgend dargestellten Besonderheiten.

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Lebensversicherung In der Lebens-Rückversicherung werden üblicherweise keine Rückstellungen für bekannte oder unbekannte Versicherungsfälle gebildet bzw. von den Zedenten gemeldet. Ausnahmen können vorkommen bei sehr hohen Todesfall-Leistungen oder Berufsunfähigkeits-Leistungen im Einzelfall oder durch Kumulierung im Portfolio. Das Risiko der Langlebigkeit sollte in den Rechnungsgrundlagen der Deckungsrückstellung angemessen berücksichtigt sein. Insoweit folgt der Rückversicherer den Abrechnungen und Meldungen der Zedenten. Sollten Anhaltspunkte vorliegen, dass die Langlebigkeit nicht ausreichend berücksichtigt ist (zum Beispiel, weil infolge abweichender Normen der Rechnungslegung der Zedenten das Vorsichtsprinzip des HGB nicht erfüllt ist), könnte hierfür seitens der Captive eine spezielle Retro-Deckung abgeschlossen werden oder in der Deckungsrückstellung erfolgt eine Verstärkung zur Erfüllung des Vorsichtprinzips. Schaden- und Unfallversicherung In der Schaden- und Unfallversicherung stellt sich zum einen das Thema, dass die Captive im Einzelfall aufgrund der Verbindung zum Konzern einen Informationsvorsprung gegenüber dem führenden Versicherer oder den Zedenten haben kann, zum anderen, dass diese Vertragspartner keine Spätschadenrückstellungen isoliert für einen Konzern erstellen, sondern für ihr gesamtes weltweites Portfolio nach ihren eigenen Versicherungssparten oder nach Segmenten, die nicht der Spartengliederung der Captive entsprechen müssen. Meldungen von unbekannten Spätschäden seitens der Führenden oder der Zedenten liegen damit bei der Captive nicht vor. Grundsätzlich sind Captives an die Meldungen der Führenden nach § 341g Abs. 4 HGB und in analoger Anwendung an die Meldungen der Zedenten gebunden. Sollten diese Meldungen zum Bilanzstichtag nicht vorliegen, was vor allem dann vorkommt, wenn die ­Captives im Sinne einer einheitlichen Konzernrechnungslegung frühzeitig ihre Bücher schließen (sogenanntes Fast Close), können gemäß § 27 RechVersV auch Näherungsverfahren angewendet werden, die auf den letzten vorliegenden Abrechnungen und Meldungen beruhen. Hier bietet sich eine zeitversetzte Buchung oder eine Fortschreibung nach statistischen Erfahrungswerten an. In diesen Fällen, aber auch wenn die Abrechnungen oder Meldungen zum Bilanzstichtag vorliegen, müssen nach § 27 Abs. 1 S. 2 RechVersV ggf. Verstärkungen vorgenommen werden, um ausreichende Rückstellungen zur Erfüllung der bestehenden Verpflichtungen zu bilden. Im Umkehrschluss ist eine Herabsetzung von gemeldeten Rückstellungen, zum Beispiel wegen besserer Kenntnisse aus dem Konzern, nicht zulässig. Hier wäre nur denkbar, die Führenden oder Zedenten seitens des Konzerns zu veranlassen, eine aktualisierte außerplanmäßige Meldung abzugeben, was in der Regel nur bei Großschäden vorkommt. Spätschadenrückstellung Die Bilanzierung von Spätschadenrückstellungen stellt für Captives in der Regel eine besondere Herausforderung dar. Jede Captive hat ein eigenes Geschäftsmodell und jeder

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Konzern hat eine individuelle Risikosituation. Deswegen gibt es keinen einheitlichen Standard zur Bilanzierung der Spätschadenrückstellung für Captives. Die Führenden und Zedenten sind hier wenig hilfreich, weil sie keine anteiligen Spätschadenrückstellungen pro Konzern rechnen und melden. Nach § 341g Abs. 2 HGB „(…) ist die Rückstellung pauschal zu bewerten. Dabei sind die bisherigen Erfahrungen in Bezug auf die Anzahl der nach dem Abschlussstichtag gemeldeten Versicherungsfälle und die Höhe der damit verbundenen Aufwendungen zu berücksichtigen“. Nach § 341e Abs. 3 HGB können die Rückstellungen „(…) aufgrund von Näherungsverfahren geschätzt werden“. Einzelheiten dazu regelt § 27 RechVersV (insbesondere Nullstellung und zeitversetzte Buchung). Das besondere Problem von Captives besteht darin, dass sie kein Massengeschäft betreiben und deswegen kaum über mathematisch-statistisch aussagefähige Stückzahlen an Spätschäden, also über verlässliche eigene Erfahrungen verfügen. Selbst wenn man langjährige Zahlenreihen betrachtet, kommt man zunehmend in die Problematik, dass sich die Grundgesamtheit ändert, Risiken verschwinden und neue Risiken auftauchen und manchmal auch das Deckungskonzept der Captive verändert wird. Hier sind ggf. Sicherheitszuschläge nach § 27 Abs. 1 S. 2 RechVersV angebracht. Für eine genauere Betrachtung unterscheiden wir nachfolgend in Property- und Liability-­Deckungen: Bei Property-Deckungen (Sachversicherungen) werden größere Ereignisse im Konzern schnell bekannt, sodass sie durch eine Einzelbewertung noch in der Bilanz berücksichtigt werden können. Ausnahmen sind sogenannte Allmählichkeitsschäden, die manchmal erst nach langer Zeit erkannt werden. Für diese sowie für kleinere Schäden ist es aus Gründen der Wesentlichkeit praktikabel, einen bestimmten Prozentsatz der Prämie oder der Schadenrückstellung zu bilanzieren, falls diese Schäden nach dem Geschäftsmodell der Captive überhaupt gedeckt werden. Kumulschäden durch Naturereignisse sind entweder ­komplett aus der Deckung ausgeschlossen oder bei einer größeren Bedeutung ebenfalls schnell bekannt, sodass sie in Zusammenarbeit mit den Führenden oder Zedenten einzeln bilanziert werden können. Zudem fallen sie nur ausnahmsweise in die Kategorie der Spätschäden. Bei Liability-Deckungen (Haftpflichtversicherungen) wird häufig nur Betriebshaftpflicht gedeckt, manchmal aber auch eine erweiterte Produkthaftpflicht und Umwelthaftpflicht. Während die Entdeckung und Meldung des Schadenereignisses in der Betriebshaftpflicht eher zeitnah erfolgt und solche Ereignisse häufiger vorkommen, kann es in der Produkt- und vor allem der Umwelthaftpflicht sehr lange dauern, bis ein Schaden entdeckt wird oder den Selbstbehalt des Konzerns überschreitet. Zudem sind solche Schäden selten, sodass möglicherweise selbst in langen Zeiträumen nie ein Schaden entstanden ist. Dennoch sind diese Schäden nicht auszuschließen und sollten in der Bilanz berücksichtigt werden. Hier können die Führenden oder Zedenten auf Basis ihrer eigenen internationalen Portfolios Anhaltspunkte für den Bedarf zum Beispiel bezogen auf die jährliche Prämie geben. Soweit Abrechnungen oder Meldungen der Führenden oder der Zedenten in fremder Währung erfolgen, sind diese zum gültigen (Konzern-)Wechselkurs des Tages der Buchung bei der Captive in Euro umzurechnen.

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15.2.5.4 Rückstellungen für Beitragsnachverrechnungen Unter den sonstigen versicherungstechnischen Rückstellungen werden bei Captives hauptsächlich solche für Beitragsnachverrechnungen ausgewiesen. Diese ergeben sich vor allem in der ausgehenden Rückversicherung, wenn infolge einer unerwarteten Entwicklung der eigenen Versicherungsfälle zusätzliche Beiträge vertragsgemäß an den Rückversicherer nachentrichtet werden müssen oder wenn bei Deckungen durch einen Rückversicherungspool von diesem Nachverrechnungsbeiträge zum Ausgleich der Belastung des gesamten Pools mit Versicherungsleistungen erhoben werden. Dies kann in allen Sparten der Erstversicherung oder Rückversicherung vorkommen. Demgegenüber werden im selbst abgeschlossenen Geschäft oder in der eingehenden Rückversicherung von Captives Risiken der Betriebsunterbrechung aus den Konzernpolicen nicht gesondert gedeckt und nicht nachverrechnet, da die in der Regel auf Basis „All Risk“ abgeschlossen und kalkuliert werden. Die Bilanzierung von Rückstellungen für Beitragsnachverrechnungen aus der eigenen Schadenbelastung erfolgt auf Basis der vertraglichen Vereinbarungen mit den Retro-­ Rückversicherern. Bei Nachverrechnungen von Pool-Beiträgen meldet der Pool die Beträge, die für den Anteil der Captive zum Bilanzstichtag zurückzustellen sind. Für eventuelle Rückstellungen in fremder Währung gelten die allgemeinen Grundsätze. 15.2.5.5 Schwankungsrückstellungen Die Bilanzierung von Rückstellungen zum Ausgleich des jährlich schwankenden Schadenbedarfs ist in § 341h HGB und den §§ 29–30 RechVersV geregelt. Einzelheiten zur Bildung und Auflösung sind in der Anlage zu § 29 RechVersV niedergelegt. ­Abweichungen von den Regeln können im Einzelfall von der zuständigen Aufsichtsbehörde zugelassen werden. Für Captives ergeben sich dabei insbesondere zwei Anlässe, über eine Abweichung nachzudenken und ggf. mit der Aufsichtsbehörde zu kommunizieren: • Wenn das Deckungskonzept der Captive grundlegend verändert wird (Deckungsumfang inhaltlich oder regional, Haftungsstrecken, Selbstbehalte etc.), sind die davor liegenden Jahre für das künftig gedeckte Risiko und für die zu erwartenden Schwankungen nur noch begrenzt aussagefähig. Eine Umrechnung der Vorjahre auf das neue Deckungskonzept würde aus dem grundlegenden Ziel der Schwankungsrückstellung Sinn machen. • Wenn eine Captive an einer Police des Konzerns über eine Mitbeteiligung im selbst abgeschlossenen Geschäft (zum Beispiel Europa) und eine Rückversicherung im übernommenen Geschäft (zum Beispiel alle Länder außerhalb von Europa) mit demselben Versicherungsunternehmen (Fronter) beteiligt ist und die Bedingungen so gestaltet sind und die Prämie so kalkuliert ist, dass diese Police schon einen Ausgleich im weltweiten Kollektiv bietet, macht es unter risikotheoretischen Aspekten keinen Sinn, eine getrennte Schwankungsrückstellung für das selbst abgeschlossene und das in Rückdeckung übernommene Geschäft zu bilden. Hier könnte es Sinn machen, nur eine einheit-

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liche Rückstellung auf Basis beider Teilbereiche zu berechnen und dann entweder dort auszuweisen, wo der Schwerpunkt der Risiken liegt, oder nach den anteiligen Prämien aufzuteilen. Dies gilt noch deutlicher, wenn beide Teilbereiche gleichermaßen in einem Retro-Vertrag mit dem gleichen Rückversicherer gedeckt sind. Allerdings sehen die formalen Vorschriften in § 29 RechVersV und der dazu bestehenden Anlage die Trennung von selbst abgeschlossenem und in Rückdeckung übernommenem Geschäft vor. Eine Abweichung ist nur mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde zulässig. Interessant ist auch die Fragestellung, wie man bei einem Multi-Line-Retro-Vertrag mit einem Selbstbehalt der Captive auf Jahresbasis die Erstattung von mehreren Schäden verschiedener Sparten, die nur in Summe über dem Selbstbehalt liegen, diesen Sparten zuordnet, was wiederum Auswirkungen auf die Schwankungsrückstellungen in den betroffenen Sparten hat. Wenn beispielsweise in einer Sparte ein (größerer) Schaden eintritt, der noch im Selbstbehalt der Captive liegt, dann in einer anderen Sparte ein weiterer Schaden eintritt, sodass die addierte Schadenbelastung über dem Selbstbehalt der Captive liegt und eine Leistung des Rückversicherers auslöst, könnte man diese Leistung anteilig auf beide Sparten verteilen, weil nur in Kombination der Selbstbehalt überschritten wird, oder auf die Sparte mit dem Schaden, der die Leistungspflicht des Rückversicherers zuletzt ausgelöst hat. Wir plädieren für die erste Alternative, da ja auch die Retro-Prämie auf beide Sparten aufgeteilt wird und eine anteilige Aufteilung der gesamten Schadenerstattung auf die Sparten konsistent wäre. Zu beachten ist, dass für Zwecke der Berechnung der Schwankungsrückstellung die in Abschnitt II Ziffer 1 der Anlage zu § 29 RechVersV genannten Versicherungszweige der Berichterstattung gegenüber der Aufsichtsbehörde zugrunde zu legen sind.

15.2.6 Verbindlichkeiten Bei den Verbindlichkeiten von Captives, die vor allem aus Abrechnungsverbindlichkeiten aus dem Rückversicherungsgeschäft bestehen, sind die allgemeinen Grundsätze für den Ansatz und die Bewertung von Verbindlichkeiten bei Versicherungsunternehmen anzuwenden. Spezielle Fragestellungen ergeben sich bei Captives nicht. Die Ausführungen zu den Forderungen gelten analog.

15.2.7 Spartenrechnung Für die Spartenrechnung der Versicherungsunternehmen gelten die Formblätter gemäß § 2 RechVersV sowie die Anforderungen an die Anhang-Angaben gemäß § 51 RechVersV. Der Inhalt der einzelnen Posten der Gewinn-und-Verlust-Rechnung ist in den §§ 36–50 RechVersV geregelt.

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Für Captives, die ausschließlich die Rückversicherung betreiben, ist in § 51 Abs. 4 Ziffer 6 RechVersV nur eine Aufteilung der Beiträge nach Schaden- und Unfallversicherung und Lebensversicherung im Anhang vorgeschrieben. Zusätzlich verlangt § 57 Abs. 2 Ziffer 2 RechVersV für den Lagebericht aber auch eine Berichterstattung für die einzelnen Versicherungszweige. Manche Konzerne haben allerdings eine einheitliche weltweite Property-­Police auf All-Risk-Basis mit einheitlicher Prämie abgeschlossen. Eine Aufteilung auf Versicherungszweige für Zwecke des Lageberichts und der Berichterstattung an die Aufsichtsbehörde kann dann ggf. nur näherungsweise erfolgen. Solche Captives, die neben der Rückversicherung auch das selbst abgeschlossene Geschäft betreiben, müssen die entsprechenden Vorschriften zur Spartenrechnung in §  51 Abs. 4 Ziffer 1 RechVersV für Schaden- und Unfallversicherer zum Anhang und in § 57 Abs. 2 Ziffer 2 RechVersV für den Lagebericht beachten. Da manche Konzerne nur einheitliche Property-Policen vor allem auf All-Risk-Basis haben, kann insbesondere die Ermittlung der Werte für den gesonderten Ausweis der Feuerversicherung schwierig sein.

15.2.8 Abgegebene Rückversicherung/Pooling Captives mit einer Multi-Line-Multi-Year-Deckung müssen umfassende Aufzeichnungen darüber führen, ob und wie weit in welchem Jahr und additiv bestimmte Grenzen der Schadenbelastung (Selbstbehalt, Deckungslimit etc.) überschritten werden, ob Nachverrechnungsprämien für die Vergangenheit oder für den Nachkauf künftiger Kapazität ­anfallen und ob ggf. Prämienerstattungen zu erwarten sind. Dabei ist stets die wirtschaftliche Verursachung bis zum Bilanzstichtag zu beachten, unabhängig von der Abrechnungstechnik. Wenn bspw. Spätschäden erst nach dem Zeitpunkt der Abrechnung mit dem Rückversicherer bekannt und einzeln bilanziert werden, muss auch hierbei ein vertraglicher Anteil des Rückversicherers ggf. berücksichtigt werden, auch wenn er noch nicht abgerechnet wurde. Wenn anteilige Prämienerstattungen eines mehrjährigen Vertrags in einem Jahr rechnerisch zu beanspruchen sind, jedoch von der weiteren Schadenbelastung bis zum Vertragsende abhängen, sind sie aus Vorsichtsgründen nicht als Vermögensgegenstand zu bilanzieren. Die Bildung eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens hängt insbesondere davon ab, ob der Vertrag eine fest bestimmte Laufzeit hat oder sich automatisch immer wieder verlängert und noch nicht gekündigt ist. Ist eine Captive an Rückversicherungspools beteiligt, die ihre am Bilanzstichtag bestehende Schadenbelastung nach dem Umlageverfahren über Zusatzprämien auf die Beteiligten umlegen, ist diese Belastung wirtschaftlich am Bilanzstichtag eingetreten und bei der Captive anteilig zu passivieren. Ob man diese Rückstellung als Rückstellung für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle oder sonstige versicherungstechnische Rückstellung für Beitragsnachverrechnung ausweist, ist offen. Wir neigen zu der zweiten Alternative, weil diese in der buchhalterischen Abwicklung in den Folgejahren als nachverrechnete Prämie erfasst wird.

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15.2.9 Outsourcing/Kostenverteilung Die meisten in Deutschland ansässigen Captives haben ihre gesamte Verwaltung oder wesentliche Teile davon auf Konzerngesellschaften ausgelagert. Diese rechnen nach den unterschiedlichsten Vereinbarungen die anfallenden Kosten an die Captives ab. Allerdings erfolgt dabei keine originäre Verteilung auf die in der Kostenverteilung für Versicherungsunternehmen vorgesehenen Funktionsbereiche. Damit ist eine solche Verteilung von der Captive auf Basis einer sachgerechten Schätzung vorzunehmen, ohne dass es die von der Aufsichtsbehörde regelmäßig geforderten Stundenaufschreibungen der Mitarbeiter gibt. Dazu regelt § 43 Abs. 1 RechVersV weitere Einzelheiten.

15.2.10 Abhängigkeitsbericht Captives, die keinen Beherrschungsvertrag mit der Muttergesellschaft haben, sind nach § 312 AktG verpflichtet, einen Bericht über die Beziehungen zu verbundenen Unternehmen zu erstellen. Die Muttergesellschaft hat ggf. durch die Beherrschung entstehende Nachteile der Tochtergesellschaft nach § 317 Abs. 1 AktG im gleichen Jahr auszugleichen. Eine Captive hat in der Regel Gewinnjahre und Verlustjahre, die sich aus dem Grundprinzip des Versicherungsgeschäfts eines Ausgleichs im Kollektiv und in der Zeit ergeben. Selbst wenn die Konditionen der Originalverträge zwischen dem Konzern und dem ­führenden Versicherer ausgehandelt werden, ist die Beteiligung der Captive an diesen Policen nach Art und Umfang immer auch eine Entscheidung des Risikomanagements im Konzern. Allerdings sind diese Entscheidungen längerfristiger Natur und unterliegen in ihren finanziellen Auswirkungen auf die Captive mehr oder weniger hohen Schwankungen. Soweit negative Ergebnisse aus einer hohen Schadenbelastung durch Gewinnrücklagen oder vorgetragene Bilanzgewinne ausgeglichen werden, kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass der geforderte Ausgleich schon in früheren Jahren erfolgt ist. Hinzu kommt, dass nach Jahren mit hoher Schadenbelastung in der Regel die Prämien erhöht werden, sodass auch hierdurch ein Ausgleich erfolgt. Nicht zu vernachlässigen ist die Tatsache, dass Konzerne nach hoher Schadenbelastung verstärkt in Schadenverhütung investieren, was ebenfalls der Captive zugutekommt, ohne dass sie dafür aufkommen muss. Wir neigen deshalb dazu, keinen Konflikt mit § 317 AktG zu sehen, wenn zufallsbedingt in einem Jahr eine hohe Schadenbelastung und ein negatives Jahresergebnis bei der Captive eintritt, da der Ausgleich versicherungstypisch in der (mehrjährigen) Zeit erfolgt.

15.2.11 Berichterstattung/Veröffentlichung Sämtliche Versicherungsunternehmen haben unabhängig von der Rechtsform ihren Jahresabschluss und Lagebericht nach § 341l HGB offenzulegen. Dies gilt auch für Captives. Die Befreiung nach § 264 Abs. 3 HGB bei Einbeziehung in einen Konzernabschluss

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gilt insoweit nicht. Die Offenlegung geschieht durch Veröffentlichung oder (ausnahmsweise Hinterlegung) im Bundesanzeiger. Dieser ist für jedermann elektronisch kostenfrei einsehbar.

15.3 Konzernabschluss/Rechnungslegung nach IFRS Captives sind definitionsgemäß immer Teil eines Konzerns. Dieser Konzern hat nach den §§ 290 ff. HGB einen Konzernabschluss zu erstellen. Es gibt in Deutschland Captives, die in einen Konzernabschluss nach HGB einbezogen werden, und solche, die in einen Konzernabschluss nach IFRS einbezogen werden (insbesondere, wenn die Konzernmutter ein börsennotiertes Unternehmen ist). Normalerweise werden Captives zum angepassten Eigenkapital (at equity) konsolidiert. Die gegenseitigen Forderungen (inkl. Cash Pool) und Verbindlichkeiten werden gegeneinander aufgerechnet und das Eigenkapital lt. HGB oder IFRS wird mit den Anschaffungskosten des Konzerns verrechnet. Die übrigen Aktiva werden zu Buchwerten (HGB Konzern) oder Zeitwerten (IFRS Konzern) in die Konzernbilanz übernommen und als sonstige Vermögensgegenstände und Schulden ausgewiesen. Die Rechnungslegung nach International Financial Reporting Standards (IFRS) bezieht sich ausschließlich auf einen Konzernabschluss. Ob eine Captive nach diesen Grundsätzen zusätzlich Rechnung legt, hängt davon ab, ob der Konzern einen ­Konzernabschluss mach IFRS vorlegt und ob der Konzern entscheidet, dass die Captive aus Gründen der Wesentlichkeit ebenfalls auf IFRS umstellen muss. Die Umstellung auf IFRS ist keine Besonderheit von Captives. Insoweit gelten die allgemeinen Regeln mit Ausnahme der Frage, ob die Captive voll konsolidiert wird, also Aktiva und Passiva sowie Erfolgsposten ergebniswirksam eliminiert werden, was soweit ersichtlich bei keiner Captive in Deutschland der Fall ist. Regelmäßig werden Aktiva und Passiva aus der Versicherungstechnik ohne Konsolidierung in die sonstigen Posten der Bilanz und Erträge und Aufwendungen in die sonstigen Posten der Gewinn-und-Verlust-­ Rechnung übernommen. Dies steht im Einklang mit § 341j Abs. 2 HGB, der den Verzicht auf Konsolidierung zulässt durch Anwendung des § 304 Abs. 2 S. 1 HGB, auch wenn die Konsolidierung keinen unverhältnismäßigen Aufwand bedeutet. Die Umbewertung von HGB auf IFRS betrifft vor allem die Kapitalanlagen und die versicherungstechnischen Rückstellungen sowie daraus folgende latente Steuern. Die Kapitalanlagen werden nach IFRS 9 zum Zeitwert bewertet, die versicherungstechnischen Rückstellungen entweder unverändert übernommen oder neu bewertet, teilweise auch bei längerer Abwicklung abgezinst, mit Ausnahme der Schwankungsrückstellungen, die nach den IFRS in Ermangelung einer konkreten Verpflichtung am Bilanzstichtag vollständig aufgelöst werden. Ansonsten werden die versicherungstechnischen Rückstellungen meist nicht umbewertet, da es hierzu in den IFRS keine speziellen Regelungen für Versicherungsunternehmen gibt.

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Ab dem Jahr 2023 ist IFRS 17 verpflichtend für Versicherungsunternehmen. Der wesentliche Punkt ist, dass hiernach ein Aktivposten für den Wert des Vertragsbestands angesetzt wird. Da dieser Wert aber ausschließlich durch den Konzern generiert wird, stellt sich die Frage, ob dieser Wert in der Konzernbilanz überhaupt ansetzbar ist, da er ja ausschließlich konzernintern generiert wird. Zudem gibt IFRS 17 keine Hinweise, wie bei einer Captive ohne Massengeschäft dieser Wert bestimmt werden soll. Es ist bei Captives wohl davon auszugehen, dass der Wert des Vertragsbestands langfristig tendenziell gegen null geht. Die latenten Steuern ergeben sich aus dem Jahresergebnis nach IFRS als Aktivposten (ohne Wahlrecht der Aktivierung) oder als Passivposten per Saldo.

15.4 Solvency II/Solvabilitätsübersicht Wegen der ausführlichen Behandlung von Solvency II wird auf Kap. 13 dieses Buches verwiesen. Auch Captives haben nach § 74 Abs. 1 VAG eine Solvabilitätsübersicht zu erstellen und bei der Aufsichtsbehörde einzureichen. Dabei gelten die allgemeinen Vorschriften für Versicherungsunternehmen zur Bewertung, während der Ausweis durch Formblatt vorgeschrieben ist. So sind insbesondere Ansprüche aus Rückversicherung als Aktivposten auszuweisen, diese sind gemäß dem Rating der Rückversicherer abzuwerten und das Geschäft ist aufzuteilen nach dem Betrieb nach Art der Lebensversicherung und nach Art der Schaden- und Unfallversicherung. Allerdings ist bei Captives die Ermittlung der sogenannten Best Estimate Liability (BEL) innerhalb der versicherungstechnischen Rückstellungen aus den zu den Spätschadenrückstellungen behandelten Argumenten (siehe entsprechender Abschnitt) nach aktuariellen Methoden nur begrenzt möglich. Wenn Schadendreiecke auf Meldebasis oder Zahlungsbasis verwendet werden, führen fehlende Meldungen oder Zahlungen der Vergangenheit automatsch zu einem Wert von null für unbekannte Schäden. Dies kann vermieden werden, indem Endschadenquoten aus externen Quellen verwendet werden, beispielsweise von Führenden oder Zedenten. Statistiken von BaFin oder GDV speziell für Captives sind nicht verfügbar. Konkrete Beispiele dazu sind Risiken der Produkthaftpflicht oder Umwelthaftpflicht, wenn eigene Erfahrungen dazu nicht oder nicht in ausreichendem Maße vorliegen. Nach den §§ 40 ff. VAG haben Versicherungsunternehmen jährlich einen sogenannten Solvency and Financial Condition Report (SFCR) zu veröffentlichen, was typischerweise auf der eigenen Homepage erfolgt. Darin sind u. a. die Risiken und das vorhandene Eigenkapital zu deren Deckung sowie die Methoden des Risikomanagements darzustellen. Bei Captives ist hierbei auch auf die Konzentration auf Konzernrisiken einzugehen, die zu einer Einschränkung des Risikoausgleichs im Kollektiv und in der Zeit führen können.

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Literatur Beck’ scher Bilanzkommentar, München 2020. Beck’ scher Versicherungsbilanzkommentar, München 1998. Kompendium der Rechnungslegung der Versicherungsunternehmen (KoRVU), Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe 1982. Rohlfs, Torsten: Rechnungslegung und Controlling der Versicherungsunternehmen, Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe 2023. WP- Handbuch Versicherungen, IDW Verlag, Düsseldorf 2018.

Dr. Michael Stöffler  absolvierte das Studium der Volkswirtschaft an der Johannes Gutenberg-­ Universität zu Mainz und legte sein Examen als Diplom-Volkswirt im Jahr 1980 ab. Er promovierte ebenda im Jahr 1982 mit seiner Dissertation zum Thema „Markttransparenz in der Lebensversicherung“. Seitdem ist er bei verschiedenen WP-Gesellschaften mit der Prüfung und Beratung von Versicherungsgesellschaften betraut. Dr. Stöffler war zudem mehrere Jahre Vorstandsvorsitzender einer konzerneigenen Sachversicherung und Aufsichtsratsvorsitzender einer zweiten Sachversicherung. Dr. Stöffler ist Mitherausgeber des Versicherungsbilanz-Kommentars aus dem Verlag Beck und Verfasser zahlreicher Artikel zu Themen der Versicherungswirtschaft.