Buffalo Bill, Sitting Bull und die Architektur der unsichtbaren Supermärkte 9783990434642, 9783990434635

Weisheit aus dem wilden Westen Für diesen kurzweiligen Roman über Architekten und Bauherren hat der Autor ein ungewöhn

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German Pages 92 Year 2012

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Inhalt
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Buffalo Bill, Sitting Bull und die Architektur der unsichtbaren Supermärkte
 9783990434642, 9783990434635

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W o l f g a n g Pöschl Buffalo Bill, Sitting Bull und die Architektur der unsichtbaren Supermärkte

SpringerWien Ne wYork

Wolfgang Posch] Architekt, A-6068 Mils Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 Springer-Verlag/Wien Printed in Germany SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Marken schütz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Eine Haftung der Autoren oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Layout und Covergestaltung: thoenidesign.at Lektorat: Michael Walch, A - l 170 Wien Druck: Strauss GmbH., D-69509 Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier — TCF SPIN: 80113215 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7091-1034-8 SpringerWienNewYork

Die „Unsichtbaren Supermärkte" sind ein Versuch, sich in einer spielerischen Form der Frage zu stellen, wie wir unser alltägliches Lebensumfeld bauen. Buffalo Bill (William F. Cody) will nach dem ertragreichen Erfolg seiner „Wild West Show" Supermärkte bauen. Sitting Bull (Tatanka Yotanka), der eine Saison lang in der Show auftritt, ist sein Berater. Die beiden streifen durch das unübersichtliche Feld des Showgeschäfts: Sie fragen, wie sich Ideen finden und wem sie gehören, und sie erforschen ihre eigenen Sehnsüchte und Ängste sowie die der zukünftigen Supermarktkunden. Anschaulich führt der Indianer dem zum Unternehmer mutierten Scout denkbare und undenkbare Supermärkte vor Augen und skizziert Charakterzüge, Strategien und Haltungen der Akteure des Bauens. Manches dieser Bilder mag für sich genommen vielleicht eine überspitzte polemische Karikatur sein. Und wahrscheinlich entsprechen gerade die boshaftesten mir selbst am besten. Vermutlich stecken alle diese Eigenschaften und Eigenheiten in uns und werden nur in verschiedenem Maß und verschieden dauerhaft aktiviert.

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Da „unsichtbare Supermärkte" tatsächlich ein Thema meiner Arbeit als Architekt darstellen, lag der Gedanke nahe, die Struktur von Italo Calvinos Roman „Unsichtbare Städte", der mir eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration ist, als vorgegebene Form zu verwenden. Bei Calvino beschreibt Marco Polo seinem Gastgeber Kublai Khan eine Vielzahl von Städten, ohne über seine Heimatstadt Venedig wirklich hinauszukommen. Der Text ist in neun Kapitel unterteilt, in denen die Stadtbilder, in elf Kategorien geordnet, in einer rhythmischen Abfolge aufgerufen werden. Mein Text beginnt mit dem letzten Absatz der „Unsichtbaren Städte". Die Protagonisten der Rahmenhandlung bei Calvino erschienen mir aber für meine Zwecke ungeeignet. Marco Polo, der Reisende und Händler, konnte nicht der Gegenpol des Bauherrn und Investors sein. Und Kublai Khan könnte durchaus einer jener Massenmörder der Geschichte sein, die nur im vergesslichen und verklärenden Rückblick akzeptabel erscheinen. So fiel die Wahl auf Tatanka Yotanka, den Medizinmann der Hunkpapa, der meine Arbeit schon lange begleitet, und auf William F. Cody, den Scout der Armee, Büffeljäger und Pionier des amerikanischen Showgeschäftes. Die tatsächlichen historischen Begebenheiten sind aber kein Thema dieses Textes.

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Es geht vielmehr um die Spannung zwischen kritisch planendem Geist und tatkräftiger, realitätsbezogener Verwirklichung und die gegenseitige Durchdringung dieser beiden Momente. Wie die skizzierten Personen bei den Bildern sind die Personen des Rahmendialogs Projektionsflächen für das in meiner Arbeit sehr wichtige Verhältnis zwischen Bauherrn und Architekt, ohne konkreten Personen zu entsprechen.

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Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, was sein wird; gibt es eine, so ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir täglich wohnen, die wir durch unser Zusammensein bilden. 16

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Die Supermärkte und die Erinnerung 1 1

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Die erdigen Supermärkte 1 1

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Die Supermärkte und die Dienstleister 1 1

Und gerade in den Träumen des Indianers erkannte der Scout seine eigenen Sehnsüchte und Visionen wieder.

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Z w e i

Tatanka Yotanka, „Sitting Bull", der als Kind „Slow" geheißen hatte, bekam seinen Büffelnamen nach dem Ritual der Prärieindianer an der Schwelle zwischen Kindheit und dem Leben als Erwachsener. 27

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Die Supermärkte und die Erinnerung I 5

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Die erdigen Supermärkte I 4

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Die Supermärkte und die Bewegung I 1

Und seine Angst wich immer mehr einer Bewunderung dieser eigenartigen Wesen.

Drei Tatanka: Es ist die Angst, die unser Leben bestimmt. B5

Die erdigen Supermärkte I 5

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Die Supermärkte und die Illusion I 4

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Die Supermärkte und die Dienstleister I 3

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Die Supermärkte und die Bewegung I 2

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Die Supermärkte und die Zauberer I 1

Bald würde er auch noch die Gedanken und Ideen seiner Mitmenschen besitzen wollen.

Vier Buffalo Bills Welt hatte sich verändert. C5

Die Supermärkte und die Illusion I 5

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Die Supermärkte und die Dienstleister I 4

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Die Supermärkte und die Bewegung I 3

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Die Supermärkte und die Zauberer I 2

Gl

Die unentschiedenen Supermärkte I 1

Erst diese grundsätzliche Ablenkung macht die Menschen offen für die Qualität der Architektur in ihrer vollen Tiefe, in ihrer Poesie.

Fünf Cody war ständig mit dem Bauen konfrontiert. D5

Die Supermärkte und die Dienstleister I 5

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Die Supermärkte und die Bewegung I 4

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Die Supermärkte und die Zauberer I 3

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Die unentschiedenen Supermärkte I 2

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Die Supermärkte und das Geld I 1

Es ist daher ratsam sich eher auf der Seite eines rauen, direkten Klangs zu halten.

Sechs Buffalo Bill amüsierten die langen Gespräche mit dem Indianer. E5

Die Supermärkte und die Bewegung I 5

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Die Supermärkte und die Zauberer I 4

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Die unentschiedenen Supermärkte I 3

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Die Supermärkte und das Geld I 2

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Die Supermärkte und die Toten I 1

Vielleicht liegt es daran, dass sich die wenigsten selbst kennen oder zu sehr von sich auf andere schließen.

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Sieben Tatanka: Die Mittel umfassen zum einen Teil das gewählte Material, die Konstruktion und zum anderen die Art und Weise, wie etwas verwirklicht wird. F5

Die Supermärkte und die Zauberer I 5

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Die unentschiedenen Supermärkte I 4

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Die Supermärkte und das Geld I 3

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Die Supermärkte und die Toten I 2

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Die Supermärkte und die Theorie I 1

Und wie Musik erst in der Musizierfreude jedes einzelnen Musikers entsteht jenseits von mechanischem Abspielen von Noten, so entsteht auch der Lebensfunke eines Gebäudes erst im Widerstreit und Zusammenklang aller an seiner Errichtung beteiligten Menschen, trotz aller Fehler und allen Ärgers, der damit verbunden sein mag.

Acht In ihren intensiven Gesprächen schienen sich der Scout und der Indianer oft zu durchdringen. G5

Die unentschiedenen Supermärkte I 5

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Die Supermärkte und das Geld I 4

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Die Supermärkte und die Toten I 3

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Die Supermärkte und die Theorie I 2

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Die unsichtbaren Supermärkte I 1

Und im Umgang der Menschen mit Räumen war diese unglaubliche Geschichte der Menschwerdung noch in all ihren Phasen gleichzeitig im Gange.

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Neun Buffalo Bill hatte die Fähigkeit einen Sachverhalt mit einem Blick zu erfassen. H5

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Die unsichtbaren Supermärkte 1 2

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Die unsichtbaren Supermärkte 1 4

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Die unsichtbaren Supermärkte 1 5

Buffalo Bill: Dann kann der Supermarkt zur Welt werden, und die Welt zum Supermarkt

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Eins

„Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, was sein wird; gibt es eine, so ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir täglich wohnen, die wir durch unser Zusammensein bilden. Zwei Arten gibt es, nicht darunter zu leiden. Die eine fällt vielen leicht: die Hölle zu akzeptieren und so sehr Teil davon werden, dass man sie nicht mehr erkennt. Die andere ist gewagt und erfordert dauernde Vorsicht und Aufmerksamkeit: suchen und zu erkennen wissen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben", sinnierte der Häuptling, als er und der Scout lange nach der letzten Vorstellung noch immer vor dem Showgelände standen. Der Indianer liebte es, das Geld, das er bei Buffalo Bills „Wild West Show" verdient hatte, an die vor den Theatern und Arenen herumlungernden Straßenkinder zu verteilen. Ihn erheiterte die Vorstellung, dass das Geld schon am nächsten Tag wieder in die Kassen der Show zurückfloss, da es sehnlichster Wunsch jedes Kindes war, die Kunststücke der Scharfschützen und den wilden Galopp der Indianer mitzuerleben. Und Buffalo Bill lud in New York alle Zeitungs- und Schuhputzjungen zu einer eigenen Vorstellung ein. 1500 kamen und waren von der Show begeistert. Seither hatte der Scout stets die saubersten Stiefel von ganz New York.

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Die Show war wie eine Droge, deren Wirkung schnell nachließ. Immer neue und immer gewagtere Stunts mussten gezeigt werden. Schon bald nach der Erfindung der Glühbirne fand die erste Nachtshow bei elektrischem Licht statt; es wurde auf brennende Bälle geschossen und eine riesige Windmaschine zauberte einen Orkan in die Arena. In Buffalo Bill keimte die Erkenntnis, dass gerade die Extravaganz und Atemlosigkeit der Darbietungen das eigentliche Problem war. Die neue Erfindung der Lichtspiele, des Films, würde schnell jede Show an vielen Orten gleichzeitig aufführbar und billig und unendlich oft wiederholbar machen. Und was schwerer wog: Der Film würde über kurz oder lang das Unmögliche zur Selbstverständlichkeit werden lassen. „Ich werde mit der Show aufhören", sagte Buffalo Bill, das Schweigen brechend, „ich werde noch ein, zwei Filme von unserer Show drehen und dann aufhören. Ich werde Läden eröffnen und zum Beispiel Schuhe verkaufen ..." „Buffalo-Bill-Büffel-Boots?", fragte Tatanka Yotanka und lachte. „Die Idee ist gar nicht so schlecht; aber mein Vorschlag ist ernst gemeint", erwiderte Cody, „Ich will den Menschen nicht nur kurzweilige Zerstreuung bieten; ich will ihnen etwas verkaufen, das sie wirklich brauchen." „Die Bewohner der Städte müssen überhaupt alles kaufen. Keiner kann mehr auf die Jagd gehen. Niemand hat einen Garten, der groß genug wäre, ihn zu ernähren. Aber es gibt eine Unzahl von Läden, die alles nur Erdenkliche verkaufen. Was könntest du dem noch hinzufügen?", fragte der Häuptling. Und Buffalo Bill: „Es sind zwei Dinge, die wir vielen Menschen voraushaben: die Abenteuer unserer Kindheit und

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unsere Erfahrung im Showgeschäft. Wir können unserem ,echten' Leben in der Vergangenheit nachtrauern und die Menschen mit dem falschen' Leben unserer Vorstellungen beschämen. Oder wir können uns dazu aufraffen, beides zu verbinden, und damit ein Umfeld für neues Leben gestalten." Tatanka war skeptisch: „Ist es nicht das Wesen des weißen Mannes, das Leben zu teilen in echtes und falsches? Und ist nicht er es, der auf der Suche nach dem echten immer wieder dem falschen Leben nachrennt?" Buffalo Bill: „Es ist, als wäre das richtige Leben immer auf der anderen Seite des Flusses. Man wechselt das Ufer, um festzustellen, dass auch das echte Leben wieder die Seite gewechselt hat." Tatanka: „Könnte es sein, dass die Suche nach dem echten Leben nur die Flucht vor dem Leben selbst ist?" „Genau das ist es!" Buffalo Bill sah jetzt das Projekt klar vor sich: „Wenn es uns gelingt, das Alltägliche, das Notwendige und Selbstverständliche liebens- und lebenswert zu gestalten, dann haben wir mehr erreicht als in allen unseren Shows und Kriegen!" Es war genau diese visionäre Klarheit Codys, die ihn für Tatanka Yotanka zum Freund werden ließ, ohne dass die Kluft ihrer verschiedenen Herkunft verschwand. Ihr Umgang blieb distanziert und förmlich. Doch wenn der Indianer in die Augen des Scouts sah, dann schien es ihm, als wäre er mit ihm weit über die Zeitspanne eines Menschenlebens hinaus verbunden. So begann das ungleiche Paar, dessen gemeinsamer Nenner auf sehr verschiedene Weise der Büffel war, mit der Entwicklung von Läden, wie sie die Welt noch nicht gesehen haben sollte. Dem Indianer kam die Rolle des Gesprächs-

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partners zu, der Bilder und Konzepte von möglichen Vorgangsweisen und von denkbaren u n d undenkbaren Supermärkten entwarf.

Die Supermärkte und die Erinnerung I 1 Wie du weißt, ist meine Welt der Wald und die Prärie. Aber auf meiner Reise mit deiner Show durch die vielen Städte des Landes sehe ich unzählige Geschäfte. Und weil mich die angebotenen Waren wenig interessieren, sehe ich die Gebäude, in denen sich die Läden befinden, bewusster. Fast wäre ich versucht, die erste Art von Geschäften, die ich dir beschreiben möchte, unter die unsichtbaren Supermärkte einzureihen; aber ich möchte nicht etwas als unsichtbar bezeichnen, dessen Unsichtbarkeit nur auf der Blindheit des Betrachters beruht. Regen und Wind abzuhalten ist das Mindeste, was von einem Gebäude erwartet werden kann; jedes Tipi erfüllt diesen Zweck. Könnte ein Gebäude wirklich nur seine Funktion erfüllen, so käme dies einem denkbaren Ideal sehr nahe: ein Gebäude mit Waren ohne spürbare Präsenz der baulichen Hülle. Doch die Händler, die nur ihre Waren sehen und ihre Kunden nur mit dem Preis anzulocken versuchen, werden dies nie in einem solch idealen Gebäude tun. Es muss anscheinend weh tun einzukaufen, wenn es billig sein soll. Das beginnt damit, dass der Eindruck der begrenzten Menge erweckt werden muss. Die Waren müssen den Kunden auf Paletten vor die Füße geworfen werden in aufgerissenen Schachteln; zu Stoßzeiten totales Chaos. Das

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entsprechende Gebäude darf keine sinnlichen Qualitäten aufweisen; das Licht aus brüllenden Leuchtstoffröhren; der Boden in einer undefinierbaren, fleckigen Farbe; alles vor allem pflegeleicht. Und weil diese Art von Gebäude wie ein ständiger Schlag auf den Kopf ist, werden seine Benützer blind und gefühllos, um ihr Leiden zu vermindern.

Die Supermärkte und die Erinnerung I 2 Vor nicht allzu langer Zeit lehnten es die meisten Architekten ab, einen Supermarkt zu bauen. Zu alltäglich und zu profan sei das Thema. Auch Architekten sind Kunden und verbinden offensichtlich den täglichen Einkauf unabänderlich mit Leiden. Fand sich ein Architekt, der den Auftrag annahm, so gab er zuallererst dem Gebäude Wichtigkeit und symbolische Bedeutung; mächtige Mauern, wie aus Stein gefügt. Wenn du einen solchen Markt betrittst, erwartest du eine Arena unter freiem Himmel ohne Dach. Statt dessen bedrückt dich ein schweres, fast willkürlich wirkendes Dach; eben eine Arena, die mühsam und provisorisch, aber nicht mit Zeltbahnen und Segeln, sondern mit schweren Balken und Blechen gedeckt wurde. Es gibt nur spärliches Tageslicht und die gleiche blanke Beleuchtung wie in den übrigen Märkten. Doch diese Märkte begannen die Bauaufgabe des Lebensmittelmarktes ernst zu nehmen; sie versuchten das Problem zu strukturieren und zu ordnen. Das Erscheinungsbild der Märkte wurde zunehmend durch unveränderliche

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Merkmale, durch einheitliche Logos, durch immer wiederkehrende Farben bestimmt. Ein gestaltender Geist sollte Ordnung schaffen; ein einziger Architekt für alle Läden! Diese rigide Haltung brachte tatsächlich größere Klarheit in die unübersichtliche Pionierzeit der Supermärkte. Diese Vorgangsweise war eine Zeitlang sehr modern und alle versuchten das Gleiche; doch nur den starrsten Firmen gelang es, sich dieses neue einheitliche Erscheinungsbild zu geben.

Die erdigen Supermärkte I 1 Es gibt Supermärkte, die auf sehr eigenartige Weise mit der Erde verbunden zu sein scheinen. Sie schmiegen sich in Mulden, krallen sich an Hänge oder schweben über Geländekanten; sie könnten sogar Täler und Flüsse überspannen oder auf einem See schwimmen. Immer ziehen sie ihre Umgebung genau in Betracht und holen die Landschaft in ihren Kontext. Und auch die Städte sind ihnen Landschaft; ob Hinterhof oder Bergspitze, Autofriedhof oder Abgrund. Wenn der Benützer des Gebäudes innehält, beschleicht ihn der Verdacht, dass eines ohne das andere nicht existieren könnte, dass mit dem Raum des Marktes auch das Bergpanorama oder der Wohnblock gegenüber verschwinden könnte; dass der jähe Abgrund ohne Gebäude sich als Spiegelung eines bewaldeten Bergrückens im klaren Wasser eines Bergsees erweisen könnte. Ein solcher Supermarkt könnte überall auf der Welt stehen, in den Wüsten des Südens und im Eis des Nordens, in den Tälern der Rocky Mountains genauso wie in jeder Stadt. Und keiner würde dem anderen gleichen.

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Die Supermärkte und die Erinnerung I 3 Besondere Gefahr droht dem Kaufmann, und sei er noch so klein, wenn er in seinem Gebiet das Monopol hat. Eine ähnliche Gefahr kann eine lange Geschichte oder eine zu hierarchische Struktur eines Unternehmens sein, oder eine starke Nähe zu staatlicher Macht. Der Kunde wird zum Bittsteller, zum Störfaktor. Bei kleinen Läden sind es viele kleine Unbequemlichkeiten und Unfreundlichkeiten, die sich häufen. Kompliziertes Parken, kein Platz für Fahrräder, Kinderwagen und wartende Hunde. Bei größeren Läden verschwindet das einfallslose Gebäude hinter besonders teuren und prestigeträchtigen Oberflächen, die Überlegenheit signalisieren und den Kunden arm erscheinen lassen. Die Menschen, die in solchen Läden arbeiten, verbarrikadieren sich hinter mächtigen Schaltern. Doch auch, wenn sie ihre Schutzwälle abschaffen, lässt der repressive Raum sie niemals zum Freund des Kunden werden, der nun seinerseits den trennenden Tresen vermisst. Die Geschäfte, die ich meine, sind meist Banken, Juweliere und irgendwelche Läden für Prestigewaren oder so manche Kirche. Auch Supermärkte können diese Sprache sprechen, wenn sie sich zu wichtig nehmen und sich zu weit von ihrem eigentlichen Zweck entfernen.

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Die erdigen Supermärkte I 2 Ich werde dir jetzt nicht ein Gebäude beschreiben, sondern eine Haltung, in die manch schöpferischer Mensch verfällt, der, statt mit der Erde verbunden zu sein, an sie gefesselt ist. Gefangen in seinem lokalen sozialen Milieu, kann er über dessen Verlogenheit und Widersprüchlichkeit nicht hinwegsehen. Er kann und will sie letztlich aber auch nicht überwinden oder beseitigen, weil sie unentbehrliches Objekt seines permanenten Widerstandes sind. Er akzeptiert keine Taktik, keinen Kompromiss und lässt seinem Gegner keine Chance zum Einlenken. Trotzdem wird der an die Erde Gefesselte von seinen Mitmenschen geliebt und geachtet, weil sie die allzu große Liebe erkennen, die sich hinter dieser verqueren Verstrickung verbirgt. Von solchen Architekten entworfene Supermärkte scheinen bewusst nicht auf den konkreten Ort einzugehen, sie geben sich autark, fast autistisch. Und doch können sie nur an dem jeweiligen einzigen Ort stehen und sind an jedem anderen undenkbar.

Die Supermärkte und die Illusion I 1 Wenn es um Bauen und Geld geht, bemühen sich die meisten, möglichst illusionslos vorzugehen. Sie vertrauen nur den sachlichen und funktionellen Argumenten. Pflegeleichte Räume ohne Stützen sind den Illusionslosen wichtig. Sie vermeiden „Kopfweh" in jeder Hinsicht, wie sie sich ausdrücken.

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Gerade weil sie sich in ihren Möglichkeiten selbst so sehr beschränken und einengen, ereilt sie ihr Schicksal genauso wie alle anderen. Auch ihre Dächer sind ab und zu undicht, ohne dass sie sich je den Gedanken erlaubt hätten, es im Supermarkt regnen zu lassen. Die Umsetzung oft sehr scharfsinniger und klarer Konzepte ist meist erschreckend bieder, bis zur Vernichtung der letzten Eleganz ihres Ansatzes. Das Ergebnis ist entsprechend zwiespältig. Trotzdem neigen die Illusionslosen dazu, ihre Märkte als Rezept und Wiederholungsmodell zu sehen.

Die Supermärkte und die Erinnerung I 4 Die Struktur eines Supermarktes bleibt oft verborgen, unscheinbar. Erst wenn die Zeit kommt, den Markt grundlegend zu erneuern, zeigt sich ihre Qualität. Spätestens dann wird ihre Verwirrung oder Klarheit evident. Es gibt Strukturen, die problemlos vollkommen konträre Nutzungen ermöglichen, und solche, bei denen jede Verwendung nur gequält und unpassend wirkt. Und es ist nicht leicht auszumachen, worin genau der Unterschied liegt. Ein Raum kann stützenfrei sein, alles ermöglichen und doch jede Lösung beliebig erscheinen lassen. Andere Strukturen wirken wie höchst spezielle Individuen und provozieren gerade dadurch zwar ungewöhnliche, aber höchst stimmige Ergebnisse. Es ist nicht die Neutralität und auch nicht eine alles vorauswissende Vielseitigkeit, es ist eine selbstbewusste Offenheit, die eine Struktur für Veränderungen tauglich macht.

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Die erdigen Supermärkte I 3 Eine weit verbreitete und naheliegende Weise, sich auf die Erde zu beziehen, ist es, entwurzelt zu sein. Eine entwurzelte Pflanze verdorrt. Alle Teile schrumpfen, werden braun und fallen ab. Sie existieren so weiter, ohne zu leben. Bei Gebäuden zeigt sich die Entwurzelung an sogenannten traditionellen Elementen ohne Funktion und Leben. Zahllose Giebel, Balkonattrappen, üppige Malereien täuschen Erdverbundenheit vor und werden zugleich in jedes Casino dieser Welt bis in die Wüste von Nevada exportiert. Dort steht Venedig neben Paris und den Schweizer Alpen. Nur dort, wo die vertrockneten Pflanzen ursprünglich blühten, erkennt man nicht, dass sie ohne Wurzeln sind und längst tot.

Die Supermärkte und die Illusion I 2 Radikalität ist oft nur ein Weg, es zu vermeiden, in die Niederungen des realen Lebens hinabzusteigen, eine Vermeidungsstrategie mit vielen Facetten. Gern wird die Aufgabe einfach halbiert oder in wesentlichen Teilen negiert, um zu einer radikalen Lösung zu kommen. Ein auf solche Weise radikaler Architekt wird dich mit seinen Argumenten mundtot machen und vielleicht sogar kurz überzeugen und begeistern. Doch am nächsten Morgen wirst du schweißgebadet erwachen mit der Gewissheit, dass die Realisierung des Projektes ruinöser Schwachsinn wäre. Alles geht seinen vorbestimmten Gang:

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Deine Ablehnung lässt den Radikalen in Schönheit sterben. Noch lange wird er wehmütig über das so ruchlos verhinderte Projekt reden. Und wenn du genau hinhörst wirst du seine Erleichterung merken, der Realisation seines Projektes entkommen zu sein. Denn gebaut wirkt das Radikale oft peinlich, im besten Fall banal.

Die Supermärkte und die Dienstleister I 1 Als Kaufmann werden dir häufig Planer begegnen, die scheinbar genau deine Sprache sprechen. Sie werden sich als Dienstleister bezeichnen und sich offensichtlich vollkommen an dir orientieren. Sie werden nicht wirklich zu dir vordringen, dich nie irritieren oder aus der Reserve locken. Sie werden mit dir ein gemeinsames Klischee, ein allgegenwärtiges Vorurteil der Bauaufgabe formulieren. Die meisten werden beharrlich im Rahmen ihrer eigenen Beschränktheit agieren und darin schon fast kompetent wirken. Andere liegen stets im Trend, ohne inhaltliche Strömungen je zu verstehen. Aus den vielen Unternehmungen, in die Buffalo Bill bisher schon das mit seiner Show verdiente Geld investiert hatte, wusste er eines: Das Scheitern war umso wahrscheinlicher, je sicherer er sich war zu wissen, was richtig und was falsch wäre, was zu tun sei. Und alle Planer, Berater und Experten, denen er bisher begegnet war, sahen gerade darin ihre Existenzberechtigung, mit Sicherheit zu wissen, was richtig und was falsch sei. Verbunden mit der häufigen Behauptung, die Einzigen zu sein, die dies wüssten, waren sie

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Cody immer verdächtiger geworden. So war Buffalo Bill auf die skurrile Idee verfallen, einen Indianer wie Sitting Bull zur Entwicklung seines neuen Projektes heranzuziehen. Der stellte mehr Fragen, als er Antworten gab. Seine Bilder und Schilderungen waren Rätsel und seine größte Sicherheit hatte er in seinen Träumen. Und gerade in den Träumen des Indianers erkannte der Scout seine eigenen Sehnsüchte und Visionen wieder.

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Zwei

Tatanka Yotanka, „Sitting Bull", der als Kind „Slow" geheißen hatte, bekam seinen Büffelnamen nach dem Ritual der Prärieindianer an der Schwelle zwischen Kindheit und dem Leben als Erwachsener. Er war mit dem Märchen von der Maus groß geworden. Immer wieder wurde es von Großmüttern und Großvätern, von Müttern und Vätern erzählt. Eine Maus beschließt eines Tages, einem Rauschen zu folgen, das sie zu hören glaubt. Alle ihre Artgenossen hören es nicht und raten ab. Die Maus trifft den Waschbär, der sie zum Fluss bringt, dessen Rauschen die Maus angelockt hat. Dort treffen sie den Frosch. Dieser erzählt von den unglaublich schönen Bergen, die er bei seinen höchsten Sprüngen in der Ferne sieht. Von nun an kennt die Maus nur mehr das eine Ziel: zu diesen Bergen zu wandern. Sie läuft über die offene Prärie. Jede Wolke, jedes Blatt im Wind, jeden Spatz im Flug hält sie für ihren größten und gefährlichsten Feind, den Adler. Panisch sucht sie nach einiger Zeit Unterschlupf in einem Getreidespeicher. Dort lebt bereits eine Maus wie im Schlaraffenland und versucht den Neuankömmling zum Bleiben zu überreden. Doch nach einer kurzen Rast rennt die Maus mit der Angst im Nacken weiter. Als sie wieder unter einem blühenden, duftenden Busch Schutz zum Verschnaufen sucht, hört sie plötzlich ein stöhnendes Schnauben und ein beißender Gestank sticht ihr

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in die Nase. Sie entdeckt einen sterbenden Büffel. Mit der Spende eines ihrer Augen kann die Maus den Büffel heilen. Nun bringt der Büffel sie zu den Bergen. Unter dem Büffel, immer in Gefahr, von dessen Hufen zermalmt zu werden, bleibt die Maus für den Adler unsichtbar. Am Fuß der Berge angekommen, findet die Maus einen sterbenden Wolf. Auch ihn heilt sie durch den Verzicht auf ihr zweites Auge. Der Wolf führt die blinde Maus auf einen Berg hinauf und schildert ihr die Aussicht. Dann verlässt der Wolf die Maus, die versucht sich die überwältigende Schönheit des Panoramas vorzustellen, als sie plötzlich das Rauschen mächtiger Schwingen vernimmt und im nächsten Moment wieder sehend durch die Lüfte gleitet, hoch über den Gipfeln der Berge. Gleichzeitig packte der Erzähler oft eines der zuhörenden Kinder, das vor Schreck aufschrie, um nur einen Augenblick später „Noch einmal!" zu rufen. Der Name, der ihm gegeben wurde, zeigte dem Indianer seinen Ausgangspunkt. Sein Bestreben sollte es sein, den Kreis des Lebens zu gehen. Geboren als Maus, muss er zum Büffel werden, zum Wolf, um den Kreis als Adler zu beenden. In Begriffen indianischer Spiritualität war Cody ein Adler, wie er typischer nicht sein konnte. Seinen Büffelnamen hatte er bekommen, als er Tausende Büffel erlegte, um sie an die Eisenbahngesellschaft zu verkaufen, die damit ihre Gleisbautrupps ernährte. Ein Büffel war für ihn ein grasender Zehn-Dollar-Schein. Im Gegensatz zu den Prärieindianern sehen die meisten Weißen ihr Ziel darin, ganz und gar zu werden, was sie ohnehin schon sind. Ihr Leben ist kein Kreis; es ist eine Gerade oder besser noch die Parabel eines Geschosses oder der Flug eines Schmetterlings.

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Die Supermärkte und die Erinnerung I 5 Die Kraft und der Fluch des Händlers liegen in der ständigen Veränderung. Jede neue Ware bringt neuen Gewinn. Unermessliche Reichtümer wurden mit der Einführung heute so selbstverständlicher Güter wie Salz und Pfeffer erworben. Und auch die Veränderung im Kleinen bewirkt Erstaunliches. Ein zusätzliches Hinweisschild vervielfacht den Umsatz; die Änderung der Positionierung eines Artikels im Supermarkt erweckt neue Aufmerksamkeit. Der Fluch der Veränderung und zugleich ihr Motor ist die Gewöhnung. Schlichtere Gemüter versuchen dem durch eine Steigerung der Reize zu entgehen. Immer grellere, immer lautere Effekte beschleunigen die Abstumpfung bis zur Besinnungslosigkeit. Auf das Laute kann schließlich nur mehr das Leise folgen, für das aber das Sensorium beschädigt wurde. So entsteht Verwirrung. Besser als der Kreis der Intensität, der einem Looping gleicht, ist eine gleichsam horizontale Wandlung, wie sie die Jahreszeiten darstellen. Dem linearen Denken des weißen Mannes ist die scheinbare Wiederkehr des Vergangenen suspekt. Der Blick zurück lässt die gefeierten Errungenschaften der Vergangenheit hoffnungslos veraltet, oft geradezu lächerlich erscheinen. Es gibt zwei falsche Schlüsse aus diesem Dilemma. Der eine ist jener, die Errungenschaften der Vergangenheit einfach neu aufzugießen und zeitverschoben wieder als Neuheit zu propagieren. Der andere ist zu glauben, die Vergänglichkeit in der Zeit allein sei schon ein Mangel an Qualität. Beide behindern das Nachdenken über die augenblicklich

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notwendige und schlüssige Ordnung der Dinge. Beide erschweren es, den Kreis des scheinbar ewig Wiederkehrenden zu durchbrechen und aus der Vergangenheit zu lernen, ohne sie zu verdammen oder zu beschönigen.

Die erdigen Supermärkte I 4 Hat eine Supermarktkette oder auch ein Architekt von Supermärkten einigen Erfolg in seinem angestammten Gebiet, so lauert die Gefahr, die eigene kleine Welt für die große zu halten. Es droht die Provinzialität. War es früher die Unkenntnis allgemeiner Maßstäbe und Errungenschaften, die eine abseitige Selbstüberschätzung nährte, so scheint jetzt diese Haltung so manche vermeintliche Metropole erobert zu haben. Die provinzielle Selbstüberschätzung grassiert gerade dort, wo das geografische, historische oder ökonomische Gewicht jeden Verdacht, Provinz zu sein, zerstreut. Schon lange hat sich aber Provinz von einer geografischen zu einer geistigen Kategorie gewandelt.

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Die Supermärkte und die Illusion I 3 Bei deinem Bestreben, eine neue Art von Läden zu entwickeln, werden dir auch radikale Architekten begegnen, die bauen. Du erkennst sie daran, dass es ihnen ein Gräuel ist, sich in einer Reihe mit anderen oder gar als einer von vielen zu sehen. Sie haben eine stark missionarische Ader und lieben große Ansagen. Für sie ist der Widerstand, ob von Experten oder Laien, schon ein Beweis für die Qualität ihrer Architektur. Sie bevorzugen ultraharte, hochartifizielle Materialien und versuchen immer an vorderster Front der aktuellen Trends zu liegen. Sie sind betont international und geschichtslos. Ihr Wahlspruch ist „Viel Feind, viel Ehr". Selbst ihren Auftraggeber sehen sie schnell als Feind und Hindernis. Sie verfluchen eine Welt, die sie an Bauherrn und Investoren kettet. Sie beschwören wortgewaltig den Widerstand gegen alles und jeden. Sie sagen hundertmal ,Nein', wenn es darum geht, nicht vom eingeschlagenen Weg abzuweichen. Doch sie bringen dieses Wort nicht über die Lippen, um sich den falschen Auftraggebern oder unfruchtbaren Ausgangslagen zu entziehen. Hinter dieser Art von Radikalität verbirgt sich der Kampf gegen einen selbst, gegen die eigene dunkle Seite, die nach außen projiziert wird. Dementsprechend gewinnt der eigene Schatten der radikalen Architekten auch leicht Oberhand in ihrer Architektur und nimmt ihr jeden Humor und jede Leichtigkeit.

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Die Supermärkte und die Dienstleister I 2 Der Architektentypus, den ich dir jetzt beschreibe, wird von seinen Auftraggebern geschätzt. Seinen Berufskollegen ist er aber höchst suspekt. Er vereint illusionslosen Realismus mit vitaler, fast animalischer Kraft. Verächtlich wird er von den anderen Architekten als ,Macher' bezeichnet. Seine intellektuelle Potenz und Eigenständigkeit wird angezweifelt. Solch vitale Energie ist jedoch zwangsläufig mit taktisch versierter Sturheit und Autonomie verbunden, genauso wie mit pragmatisch eingeschränkter Selbstkritik. Der Macher hat die Fähigkeit, Menschen, die für ihn arbeiten zu Höchstleitungen und totaler Identifikation mit ihrer Arbeit zu führen und doch das erste und das letzte Wort zu behalten. So sind die Werkstätten der Macher wichtige Orte der Lehre für angehende Architekten. Doch ihre Schüler erlangen nur in dem Maß Eigenständigkeit, in dem sie das Werk ihres Mentors nicht für ihr eigenes halten und nicht zu lange bleiben.

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Die Supermärkte und die Bewegung I 1 Wenn du die Pyramiden von Gizeh betrachtest, so bewunderst du deren Größe, ihre exakte Form, die eine rätselhafte Beziehung zur unendlichen Weite des Himmels erahnen lässt. Doch ein Berg ist viel größer und mächtiger. Vielleicht ist es letztlich gar nicht die Größe der Pyramiden, die uns fasziniert; vielleicht ist es die unglaubliche Logistik ihrer Herstellung. Die Spekulationen reichen von magischen Mathematikern, die Steine schweben lassen konnten, bis zu Heeren von Sklaven, die mühsam Stein auf Stein schlichteten. Kaum jemand bemerkt das Titanenwerk der Logistik hinter einem Supermarkt, das den Bau einer Pyramide fast zur organisatorischen Fingerübung schrumpfen lässt. Tausende von Artikeln, ein großer Teil davon frisch und schnell verderblich, stehen in den Regalen und müssen im Preis den täglichen Schwankungen der Angebote angepasst werden. Sie dürfen niemals ausgehen, und die Lagerfläche ist knapp. Ein stetig fließender Strom von den Feldern rund um den Globus endet im Regal des Supermarktes und wird vom Zugriff des Kunden in Gang gehalten. So wird er z u m Abbild der Bedürfnisse und Wünsche, der Schwächen und Verweigerungen der Menschen. Eine der vielen Fragen von Slow an seinen Großvater galt dem eigenartigen Zirpen an den sonnigen Grashängen. Der alte Mann zeigte dem Enkel die Löcher zwischen den Grasbüscheln und wie er mit Grashalmen jene Wesen hervorlocken konnte, die das schrille Geräusch hervorbrachten.

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Der kleine Indianer verbrachte von da an ganze Nachmittage damit, Grillen aus ihren Löchern zu stochern. Kaum näherte er sich dem Ort des Gesangs, wurde es still. Erst nach einer Weile des Innehaltens verriet ein neuerliches Zirpen eine bewohnte Höhle. Die meisten hatten einen Hinterausgang, durch den das Insekt flüchten konnte. Oder es stürzte, genervt durch den Grashalm, plötzlich in einer verzweifelten Flucht nach vorn hervor. Slow erschrak jedes Mal. Nur kurz sah er die wie Kampfmaschinen aus einer anderen Welt anmutenden, schwarz und metallisch schillernden Wesen, bevor sie im Gras verschwanden. Oder, hatte er einmal den Mut zuzugreifen, zerquetschte er die Grille oder er ließ sie in Panik gleich wieder von seiner Hand springen. So begann Slow bald auf das Stochern mit dem Grashalm zu verzichten. Wenn er sich vollkommen ruhig verhielt, kam die Grille an die Sonne und manchmal begann sie sogar zu zirpen. Die Sonne lockte das Insekt vor den Bau und ließ es sein Lied anstimmen. Das brachte den kleinen Indianer auf die Idee, den brutalen Grashalm durch das kleine Bruchstück eines Spiegels zu ersetzen. Mit ihm lenkte er die Sonne in die Tiefe der Höhle; und wenn der Sonnenfleck die Grille erfasst hatte, ließ er ihn geduldig ganz langsam in Richtung Ausgang wandern. Allmählich entwickelte er darin eine wahre Meisterschaft und konnte Grillen innerhalb kürzester Zeit an die Sonne locken und ihre bedrohliche Schönheit und Vielfalt bestaunen. Und seine Angst wich immer mehr einer Bewunderung dieser eigenartigen Wesen.

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Drei

Tatanka: „Es ist die Angst, die unser Leben bestimmt. Die Angst frisst sich in die Seele der Menschen, noch bevor sie für einige Jahre zu dumm sind sich zu fürchten." „Unsere Show lässt die Menschen ihre Angst für kurze Zeit vergessen", spann Buffalo Bill den Gedanken weiter, „sie identifizieren sich mit unserer vermeintlichen Furchtlosigkeit in den Jahren des Kampfes." „Dabei war es die nackte Angst, die dich allein nur nachts durch unser Land reiten ließ, während sie uns in den Zelten festhielt", gestand der Indianer. Noch immer hatte Cody seinen Colt umgeschnallt, obwohl die Zeit des Wilden Westens längst vorbei war. Noch immer gab ihm die Waffe auch ungeladen auf unersetzbare Weise Sicherheit. Tatanka Yotanka klammerte sich in angespannten Situationen an seinen Häuptlingsstab. Wie das Zepter der Könige, war der Stab Zeichen der Macht und Krücke der Ohnmacht, wirksamer noch als eine Waffe, weil er jede rationale Funktion und Begründung verweigerte.

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Die erdigen Supermärkte I 5 Wenn du einen Supermarkt baust, liegt es nahe, von den Möglichkeiten und Mitteln auszugehen. Aber diese Vorgangsweise ist genauso selbstverständlich wie gefährlich. Die verfügbaren Mittel im Auge zu haben bewahrt vor Überraschungen. Und das ist genau die Gefahr, die ich meine: eine Beschränktheit ohne Not, eine Selbstzensur, noch bevor irgendeine Grenze überschritten ist. Die Einsicht ins Notwendige und Wünschenswerte muss vorangehen. Auf dem Boden der Realität zu bleiben ist für sich noch keine ausreichende Basis für ein Gebäude, das es wert ist gebaut zu werden. Es sind vor allem handwerklich orientierte und begabte Menschen, die dazu neigen die Mittel und die Machbarkeit überzubewerten und zu ernst zu nehmen. Das hindert sie daran, mit ihnen zu spielen und im spielerischen Umgang mit ihren Möglichkeiten ihre Träume zu verwirklichen.

Die Supermärkte und die Illusion I 4 Willst du das Unerwartete, dann beauftrage einen Chaoten. Seine innere Widersprüchlichkeit bringt eine große Bandbreite von Lösungen. Seine Konzepte sind überraschend und von ungeahnter Qualität. Die Schwäche des Chaoten ist die Umsetzung. Er delegiert gern an junge Leute, deren Begeisterung die Kompetenz noch weit übersteigt. In der Phase der Verwirklichung seiner Projekte blickt der Chaot ungern den Tatsachen ins Auge.

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Verbunden mit der Tendenz, ausgerechnet für bürokratische Bauherrn zu arbeiten, ist der permanente Krieg bis hin zum Projektkollaps vorprogrammiert. Nicht selten werden wesentliche Teile des Projektes von anderen zu Ende geführt und dabei meist verunstaltet. Der Chaot ist sehr streitbar und agiert wie ein Scharfschütze mit einer Schrotflinte. Er visiert den richtigen Punkt an, trifft aber dann Freund und Feind gleichermaßen und maximiert so sinnlos seine Schwierigkeiten. In seiner Grundkonstitution ist der Chaot sehr geeignet für eine Laufbahn als Universitätslehrer. Er kann junge Menschen begeistern und ist für Machtstrukturen völlig ungefährlich, ja sogar nützlich.

Die Supermärkte und die Dienstleister I 3 Es gibt noch andere Macher als jene, die ich dir schon beschrieben habe. Es sind oft jene, die das Pech haben, Söhne von erfolgreichen Architektenvätern zu sein. Der Status, das „Think-Big" ist ihnen in die Wiege gelegt. Sie betonen meist ungefragt, keine „Künstlerarchitekten" zu sein. Die Angst vor den eigenen Untiefen treibt sie zu immer größerenProjekten, zur homöopathischen Verdünnung eines fast nicht vorhandenen Inhalts. An Honoraren und Schulden hängen eine bis drei Nullen mehr. Sie weiden sich an der Hilflosigkeit jener Kollegen, die ihre hochfliegenden Träume nicht umsetzen können, und kaufen sie mitunter ein und schmücken sich dann mit ihren Federn. Jeder sieht das auf den ersten Blick, nur sie selbst nicht.

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Die Supermärkte und die Bewegung I 2 Seit die Menschen existieren, sind sie in Bewegung. Sei es um zu sammeln oder um zu jagen oder die Viehherden weiterzutreiben. Solange wir nicht säten, war der Grund für unsere ständige Wanderung, nicht durch eine zu lange Anwesenheit an einem Ort unsere Jagdgründe und Weiden zu erschöpfen, die Flüsse nicht durch unsere Abfälle zu verschmutzen. Seit es Ackerbau gibt, leben viele Menschen sesshaft. Sie .besitzen' den Boden und sind an ihn gekettet. Die Bewegung wurde Sache der Händler. Sie brachten die Waren von den Bauern zu den Nomaden, die sich in die Städte geflüchtet hatten. Heute ziehen auch immer mehr sesshafte Familien vom Land in die Stadt, wo sie in den Fabriken neue Arbeit finden. Ihre Herzen aber bleiben auf dem Land. Sie werden in Scharen zurückflüchten, sobald das Auto, diese Fortbewegungsmaschine, in Massen produziert wird. Sie wird das Land vor der Entvölkerung bewahren. Es ist ein Witz der Geschichte. Die Sesshaften werden in Scharen mit dem Auto zur nächsten Stadt pendeln und zur Jagd in den nächsten Supermarkt fahren. Ein Supermarkt ist ohne Auto nicht vorstellbar.

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Die Supermärkte und die Zaubererl 1 Für die Architekten, die ich Zauberer nennen möchte, ist Architektur zuerst einmal alles andere als Bauen. Poesie, Musik und Kampf um die nackte Existenz. „Freiheit oder Tod" ist ihre Devise. Sie können ihren Weg meist nur über eine lange Strecke von fiktiven, programmatischen Projekten machen. Wenn sie über keine materiellen Ressourcen verfügen, haben sie wenig Chancen, sich mit Nebenjobs, zweiten und dritten Preisen bei Wettbewerben in freier Wildbahn zu halten. Sie liefern oft ein, zwei viel beachtete, geniale Jugendwerke und verschwinden dann auf den Universitäten oder schlimmer noch in den „Klöstern der Moderne". Die Illusionslosen sind dort ihre Psychiater. Oder sie dominieren die Weltarchitektur. In der Realisation erfinden sie bei jedem Projekt das Rad neu. Es entstehen höchst innovative, von Experten stets vollkommen verkannte Lösungen. Oder die Umsetzung wird mehr oder weniger freiwillig an Dienstleister delegiert, was leicht zu einem Totalabsturz oder zu einer Bruchlandung des Projektes führt. Doch in der Euphorie des Spektakulären fällt das nicht gleich auf. Buffalo Bill beneidete oft die bloßfüßigen oder nur mit dünnen Mokassins beschuhten Indianer. Ihre nackten Füße waren Symbol der Erdverbundenheit und Ausdruck überwundener Angst. Die stinkenden Stiefel der Scouts und Soldaten waren dagegen Burgen gegen die vermeintliche Feindlichkeit der eroberten Territorien. Es war die Angst in den Stiefeln, die Bloßfüßigkeit zum Stigma des Mangels an Zivilisation machen sollte. Eines

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Tages würden selbst die Ärmsten in den schwarzen Ghettos den letzten Cent nicht nur für Schuhe, sondern für die richtigen Schuhe geben. Angst war für Tatanka Yotanka nicht etwas, das mit Illusionen, Waffen oder sonst etwas von außen verscheucht werden konnte. Mit Sorge und Misstrauen sah er den Weg des weißen Mannes, der seine Angst durch Macht und Besitz zu besiegen trachtete. Zuerst wollte er das Land besitzen, dann seine schwarzen Brüder. Bald würde er auch noch die Gedanken und Ideen seiner Mitmenschen besitzen wollen.

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Vier

Buffalo Bills Welt hatte sich verändert. Die Pionierzeiten seiner Kindheit waren vorbei. Er verbrachte seine Zeit in Eisenbahnwaggons, in den Saloons und Hotels. Sein Zuhause, seine Familie waren nicht viel mehr als eine vage Erinnerung. Er war ein Nomade; die Sesshaftigkeit seiner Vorfahren war nur eine kurze Episode gewesen, eine Illusion. Cody saß mürrisch auf dem einzigen Schaukelstuhl der Hotelveranda und grübelte vor sich hin. Er hasste diese Lähmungen des Geistes, diese zersetzenden Kreisläufe des Denkens. Als Scout war er gewohnt voranzugehen, die Richtung zu bestimmen und im Zentrum der Aufmerksamkeit der Umgebung zu stehen. Seine Erfahrung aus den Shows und Theaterauftritten ließ ihn Unsicherheiten nach außen hin routiniert überspielen. Trotzdem war er kein Schauspieler, der in eine beliebige Rolle schlüpfen konnte; wirklich verkörpern konnte er nur sich selbst. Seine Stärke war, sich trotz seiner Berühmtheit nie zu ernst zu nehmen, sich zumindest in den wenigen Stunden des Alleinseins seine eigene Unsicherheit und Schwäche einzugestehen. Im Zustand des Grübelns war der Scout mürrisch und unansprechbar; und jeder tat gut daran, dies zu respektieren und zu warten, bis er von sich aus wieder das Wort ergriff. Tatanka balancierte sitzend auf dem Geländer der Veranda, gegen einen Pfosten des Vordaches gelehnt. Seine

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augenblickliche Geistesverfassung zeigte sich in dieser labilen, wackligen Position. „Warum alles neu erfinden? Warum alles anders machen als die anderen? Liegt nicht die Erfahrung von Generationen in dem, was die Menschen normalerweise machen?" Es gab Phasen, in denen Buffalo Bill alles zu kompliziert schien. Die Angst vor dem eigenen Mut, der eigenen Experimentierfreudigkeit, hatte ihn wieder einmal eingeholt. „Jemand, der etwas Neues beginnt", fuhr er fort, „erleidet oft Schiffbruch. Andere kopieren es und meist sind es jene Nachahmer, die den wirtschaftlichen Erfolg ernten." Der Indianer kannte diese Stimmung. Auch ihn plagten oft Zweifel an seinem Weg, die manchmal fast in Verzweiflung umschlugen. In diesen Momenten erinnerte er sich an die unzähligen Fragen, die er als Kind hatte, und die von den Erwachsenen allzu oft unbeantwortet blieben. Schon damals erschien ihm ein Großteil des menschlichen Tuns gedankenlos. Nur wenige schienen zu wissen, warum und wie sie etwas machten. Die meisten folgten einem unbewussten, unreflektierten Programm und reagierten sehr ungehalten, wenn sie die naiven Fragen eines Kindes dabei störten. „Es ist nicht das Neue, das jemanden scheitern lässt", entgegnete Sitting Bull, „es ist die Unfähigkeit, eine Idee umzusetzen. Eine Idee an sich ist ökonomisch wertlos. Die Früchte erntet jener, der sie verwirklicht und vermarktet. Insofern steckt in dem, was du beklagst, eine tiefere Gerechtigkeit. Wenn du das Ganze nicht nur aus dem Blickwinkel des wirtschaftlichen Erfolges betrachtest, so kann sich das Bild sogar in sein Gegenteil verkehren. Der eine hat das

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selbstvergessene Glück eines spielenden Kindes, das die Welt jeden Tag neu erfindet. Und der andere das Geld. Und beide sind unglücklich, wenn sie sich an den Maßstäben des anderen messen." „Du mit deinen indianischen Weisheiten kannst jedes Problem im Handumdrehen in Luft auflösen; doch in Wahrheit bleibt am Ende ein unauflösbarer Widerspruch!", schimpfte Buffalo Bill und spuckte seinen Kautabak in weitem Bogen über das Geländer der Veranda. „Sag mir, welchen Sinn kann es haben, meine Läden anders ausschauen zu lassen als die anderen?" „Die Architektur eines Supermarktes ist nebensächlich. Sie ist auch weit mehr als das Aussehen des Gebäudes. Vieles ist für den Erfolg viel wichtiger. Die Freundlichkeit und Fachkunde der Menschen, die den Kunden bedienen, die Qualität der Waren, ihr Preis, der Standort des Marktes, sogar das Wetter ist wahrscheinlich wichtiger als die Architektur. Aber wenn alle Läden die gleich freundliche Bedienung, die gleichen Waren zum gleichen Preis anbieten, dann wird die Architektur entscheidend. Doch es genügt nicht, sich von den anderen zu unterscheiden und Neues zu wagen. Nur wenn das Neue auf einem besseren Verständnis des Lebens, verbunden mit einer Liebe zu den Menschen, beruht, ist es wert in die Welt gesetzt zu werden und nur dann wird es langfristig erfolgreich sein."

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Die Supermärkte und die Illusion I 5 Ein Händler kann Waren verkaufen, die beim Kauf mehr versprechen, als sie dann tatsächlich wert sind. Der besten Werbung wird es aber nicht gelingen, Mängel des beworbenen Produktes auf Dauer zu verbergen. Im Reich der Ideen ist die Sache komplizierter. Die Wirkung von Ideen ist weniger greifbar. Ideen können geschlossene, schlüssige Systeme bilden, ohne irgendeine Verbindung zum Leben, oft aber mit verheerenden Auswirkungen, die erst hinterher offensichtlich werden. Das ist der Grund, weshalb es auf dem Markt der Ideen Werbung geben kann ohne Produkt. Hochstapler im klassischen Sinn sind eine aussterbende Spezies. Status und Vermögen vorzutäuschen bringt wenig in einer Welt, die immer mehr Informationen immer schneller in Umlauf bringt. Wer in der Welt der Ideen auf Nachhaltigkeit pfeift und unverfroren und wendig genug ist, wird ein Nichts bestens verkaufen, ohne je Probleme mit dem Sheriff zu bekommen. Und der Betrogene wird nicht dem smarten Blender, sondern sich selbst die Schuld geben. Erst im Gespräch mit anderen wird ihm allmählich dämmern, dass er einer Chimäre aufgesessen ist. Den Bau von Supermärkten berührt dieses Phänomen weniger, denn Illusionen lassen sich nur schwer in Beton gießen. Aber bei der Einrichtung und Ausgestaltung deiner Läden werden dich die Blender umschwirren, wie die Fliegen den Mist.

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Die Supermärkte und die Dienstleister I 4 Jene Ausformung menschlichen Geistes, die der Volksmund ,Hausverstand' nennt, hat schon unzählige Probleme gelöst, kleine des alltäglichen Lebens und große, wie jenes, Abertausende Menschen mit der Eisenbahn in Vernichtungslager zu verfrachten. Eines kann der Hausverstand nur schlecht: Häuser bauen! Trotzdem werden die meisten Häuser mit Hausverstand gebaut. Er wütet gerade dort, wo Zweckmäßigkeit gefragt ist, bei Werkstätten, Fabriken und Geschäften. Der Hausverstand erhebt das Selbstverständliche zum Allumfassenden. Er hält ein gebautes Funktionsschema schon für die Lösung. Bei aller Schläue ist er zu dumm, das Problem überhaupt in voller Breite wahrzunehmen; das macht ihn effizient und gefährlich.

Die Supermärkte und die Bewegung I 3 Wir haben schon über die Veränderung gesprochen, die durch Ermüdung und Abstumpfung der Sinne angetrieben wird; eine Veränderung, die sich an dem orientiert, was ist und was war; eine Veränderung aus der Perspektive des Konsumenten. Diese Art der Veränderung führt zu den Kreisläufen der Mode und droht in ihrer hysterischen Hektik sich selbst zu überholen. Veränderung ist eine Form der Bewegung. Es gibt eine Veränderung, die unaufhaltsam fortschreitet und Altes 43

unwiederbringlich zerstört. So werden deine Supermärkte viele kleine Läden verdrängen. Und du tust gut daran, diesen Verlust sorgsam zu erwägen. Du wirst viele Argumente finden, die das Verschwinden des Alten rechtfertigen. Du wirst aber auch vieles finden, dessen Verlust die Menschen schmerzt. Oft sind es gerade jene Dinge, die mit dem Neuen unvereinbar erscheinen. Der Dorftratsch mit dem Kaufmann; der Kredit, den er jenen gab, die knapp bei Kasse waren; seine Geduld mit den Kindern, die er bei ihren Groschengeschäften stets wie ehrwürdige Stammkundschaften behandelte; seine Lieferungen ins Haus... Der Versuch, diese liebenswerten Dinge ins Neue zu integrieren, wird deinen Läden ein unverwechselbares Profil verleihen. Und er wird den oft geäußerten Verdacht bestätigen, dass sich die Dinge ändern müssen, um zu bleiben. Und nach sieben Jahren werden deine Errungenschaften alt sein und das gleiche Schicksal erleiden wie der alte Kaufmann. Und du selbst bist nun der, dessen Zeitrichtigkeit zu prüfen ist.

Die Supermärkte und die Zaubererl 2 Das Anliegen des fundamentalen Architekten ist der Raum. Dadurch ist er gleichsam der Prototyp des Architekten. Früher oder später wird er dir als Architekturmönch begegnen, der seinen Fußboden und seine Familie verheizt

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hat, um sich nun ganz seiner Leidenschaft zu widmen. Manchmal bleibt ihm eine jener Frauen, die ihre Existenz ausschließlich von ihren Männern ableiten können oder so autonom sind, dass sie gleichsam die Rolle der Nonne einnehmen. Die Räume des Fundamentalen versuchen sich selbst zu genügen und beziehen das Umfeld mit einer unüberwindlichen Distanz ein. Er verwendet Materialien puristisch. Er legt großen Wert auf Detailästhetik; die Ablesbarkeit, wie ein Detail funktioniert, ist ihm aber kein Anliegen. Wichtig ist die Einordnung des Details bis zum Verschwinden. Das führt zu den denkbar kompliziertesten, einfachen Details. Wer mit einem fundamentalen Architekten baut, braucht viel Zeit oder viel Geld oder beides; aber der Einsatz lohnt sich. Und es ist nicht Sache des Fundamentalen, irgendein Risiko einzugehen.

Die unentschiedenen Supermärkte I 1 Der Selbstkritiker ist als Architekt zugleich sein schärfster Kritiker. Er nimmt stets seinen und auch den entgegengesetzten Standpunkt ein. Dadurch versucht er, sich wie ein Einsiedlerkrebs unangreifbar zu machen, und der Einseitigkeit seines Entschlusses, der seinen baulichen Ausdruck gefunden hat, zu entkommen. Sein Problem ist die Angst, angreifbar zu sein. Dadurch neigt diese Spezies zu Schlampigkeit und Unschärfen in der Durchführung des Bauwerks. Er verzettelt sich mit

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Scheinargumenten und Spiegelfechterei. Der Selbstkritiker manifestiert eine Pose, ohne die möglichen, verschiedenen Haltungen zu einer Bauaufgabe wirklich zu erforschen. „Es liegen Welten zwischen dem, wie ein Architekt sein Gebäude sieht, und dem, wie es von den Menschen wahrgenommen wird, denen es begegnet und die es umgibt", begann Buffalo Bill nach längerem Schweigen von Neuem. „Der Architekt ist am Ende sogar der Einzige, der sein Gebäude überhaupt nicht mehr unvoreingenommen wahrnehmen kann", erwiderte Tatanka. „Er ist der, in dem sich das Gebäude als Idee, als Vision zuallererst mehr oder weniger klar manifestiert hat. Er wäre damit der Einzige, der die Übereinstimmung mit dem gebauten Ergebnis beurteilen könnte. Doch in seinem Urteil ist der Architekt Richter und Angeklagter in einer Person; ihm fehlt als dem Betroffensten jede Distanz. Der Blick auf das fertige Werk ist für ihn pure Verzweiflung." „Ich bin bisher kaum einem Architekten begegnet, der am Schluss nicht sein eigenes Werk gelobt und sein restloses Gelingen beteuert hätte", gab Cody zu bedenken. Tatanka: „Dieses Beschwören der Qualität des Gebäudes ist der Versuch, die eigenen Zweifel zu bannen; es ist umso intensiver, je mehr sich die Zweifel zur Verzweiflung verdichten, den eigenen Träumen wieder nicht oder nur sehr wenig näher gekommen zu sein." „Ein Architekt, der sich nicht überzeugt von seinem Werk zeigt, ist ein schlechter Verkäufer. Oder ist er am Ende einfach ein schlechter Architekt? Wie sollen die Menschen sich für ein Bauwerk begeistern können, wenn sein Schöpfer schon zweifelt?", Cody wurden die Gedankengänge des

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Indianers wieder sichtlich zu kompliziert. „Die Wirklichkeit ist viel einfacher. Der Architekt wird eine, seine Geschichte zum Gebäude erzählen. Der gute Verkäufer wird lautstark die eindeutige Entsprechung von Geschichte und Bauwerk behaupten. Der Zweifler wird seine Geschichte erzählen und seine Zweifel nicht verbergen, um Bestätigung oder Ablehnung zu provozieren und so Klarheit zu gewinnen. Manche werden nicht einmal eine Geschichte erzählen, in der Hoffnung, dass sie das Gebäude erzählt und erfahrbar macht, mit der wohlkalkulierten Gefahr, dass andere eine Geschichte zum Gebäude erfinden. Was auch immer die Geburt eines Gebäudes begleitet, es ist nur von geringer Bedeutung; es wird von wenigen Eingeweihten ernst genommen und selbst von diesen bald vergessen, übertönt von neuen Geschichten und Sensationen in der Routine professioneller Architekturvermarktung." „Was bleibt, ist das Gebäude in seiner alltäglichen Rolle im Lebensumfeld der Menschen", nahm Bill den Gedanken auf, „und genau das ist für meine Supermärkte von Bedeutung. Die Geschichten und ihr Widerhall in der Presse sind wichtig für die Werbung, für die Bekanntheit meiner Läden. Doch die Nachhaltigkeit wird bestimmt durch die Brauchbarkeit der Gebäude im alltäglichen Betrieb." Sitting Bull überwand den aufsteigenden Ärger über den simplifizierenden Pragmatismus des Geschäftsmannes: „Die Geschichten sind notwendig, so weit hergeholt sie auch sein mögen. Im Streit um Differenz und Entsprechung ergeben sich wichtige und brauchbare Orientierungen für den Weg der Architektur. Falsch ist nur, die Geschichte mit dem Gebauten zu verwechseln. Du hast Recht, was die bleibende Qualität eines Gebäudes betrifft.

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Nirgends ist die Ignoranz in der Wahrnehmung von Kunst und Umwelt so fruchtbar wie in der Architektur; sie ist geradezu Voraussetzung, um Architektur zu erleben. Sie verlangt vermessen das nahtlose Zusammenspiel und Funktionieren von höchst widersprüchlichen Elementen. Sie fügt sich zugleich widerstandslos ins Faktische, und sei es noch so absurd, solange es dem Fluss des Lebens folgt. Irritation entsteht dort, wo vorgefasste Bilder und Meinungen den unbefangenen Blick verstellen. Und diese Irritation ist unverzichtbar, solange sie nicht belehrend wird. Die Stacheln eines Bauwerks machen es auf Dauer spannend und liebenswert." Buffalo Bill: „Wenn das stimmt, dann ist der Supermarkt die ideale Bauaufgabe. Die Aufmerksamkeit der Kunden ist auf den Einkauf, auf die Waren gerichtet. Die Architektur drängt sich nur dort ins Bewusstsein, wo sie nicht funktioniert. Erst diese grundsätzliche Ablenkung macht die Menschen offen für die Qualität der Architektur in ihrer vollen Tiefe, in ihrer Poesie."

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Fünf

Cody war ständig mit dem Bauen konfrontiert. Einfache Blockhütten begleiteten seine Kindheit. Sie waren der unbehauenen Wehrhaftigkeit der Forts verwandt. Jeder Axthieb blieb sichtbar und erzählte die Geschichte der Entstehung des Hauses vom Baum des Waldes bis zur rauen, dämmrigen Zuflucht vor den Stürmen des Winters. Nach der Heirat mit seiner Frau Louisa lernte der Scout die Bauweise der Städte des Ostens kennen. Dort lebte die Erinnerung der Städte Europas. Nur hatte das schnelle Leben der Kolonien den neuen Städten nicht die Zeit des allmählichen Wachstums ihrer Vorbilder eingeräumt. Schnelle Holzstrukturen, mehr und mehr von Elementen aus modernem Gusseisen durchsetzt, wurden mit schweren Steinfassaden verkleidet. Beim Bau eines Familiensitzes mit Louisa war die Kluft zwischen den beiden Welten Anlass zu häufigem Streit. Buffalo Bill neigte dazu, die direkte, unverhüllte Materialität der Pionierbauten mit Ehrlichkeit und Offenheit gleichzusetzen, und begegnete der Vielschichtigkeit der Stadthäuser mit Misstrauen. Für Louisa war dieser behauptete Unterschied zwischen Sein und Schein obsolet. Ihr machte die raue Bauweise des Westens Angst; sie erschien ihr unfertig und infantil, als ein Zeichen des Mangels. Es war eine jener paradoxen Wendungen des Lebens, die dem Pragmatismus der Frau die

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hypermoderne Gusseisensäule unverdächtig machte, solange sie dem gewohnten Schema der klassizistischen Fassade folgte. Marmor war für sie ein Zeichen von Wohlstand. Sie nahm die Oberfläche ganz selbstverständlich für das unsichtbare Innere. So gesehen, waren die Fronten noch relativ einfach und klar. Erst viel später sollten Begriffe wie Echtheit und Ursprünglichkeit die Dinge noch mehr verkomplizieren. Erst dann sollten sich Echtheit und Oberflächlichkeit zur allumfassenden Illusion verbinden und die Wirklichkeit aus ihren Angeln heben.

Die Supermärkte und die Dienstleister I 5 Nachdem die Zäune unsere Prärien erobert haben, gewinnen sie auch in der Welt der Ideen an Bedeutung. Wie die Goldsucher des äußersten Westens versuchen viele dort ihre Claims abzustecken, sich ein Stück patentieren zu lassen. Der Patentierer steckt auch in vielen Architekten. Der eine behauptet mit beleidigtem Unterton doch glatt, die blechverkleidete Fassade erfunden zu haben, die nun alle berühmten Kollegen anwenden, und proklamiert damit schon fast die Vaterschaft an deren Bauwerken. Aber auch im Kleinen erfindet der Patentierer Sitzbankprofile, Sammelrinnen für den Inhalt umgeschütteter Gläser und vieles mehr, das schon längst in jedem Heimatmuseum zu bewundern wäre. So mancher lässt sich seine Errungenschaft zur Freude der Patentanwälte auch tatsächlich patentieren, um sich

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dann unter den verkannten Erfindern wiederzufinden. Der Patentierer kann sich so etwas wie Gemeingut oder gar Besitzlosigkeit im Reich der Ideen und Erkenntnis nicht vorstellen. Seine große Zeit wird noch kommen. Auf dem Gebiet der Architektur wirkt der Patentierer aber leicht so lächerlich, wie er es wirklich ist.

Die Supermärkte und die Bewegung I 4 Der Gang der Veränderung liegt nie allein in deiner Macht. Du wirst versuchen im Strom des Lebens zu steuern, um nicht unterzugehen oder schneller zu sein als andere. W a s auch immer du tust, du wirst das Steuer einer unsichtbaren Hand spüren. Die Hand jener Instanz, die sich dir hauptsächlich durch Steuern bemerkbar macht, die Macht der Ämter und Regierungen, des Staates. Ein Teil der Repräsentanten dieses Staates wird in vielen Ländern durch regelmäßige Wahlen ständig in Bewegung gehalten und versucht im Strom der Meinungen und Erregungen nicht unterzugehen. Ein anderer Teil ist durch Privilegien geschützt vor monarchischer Willkür, nicht aber vor den Intrigen um Macht in einer starren Hierarchie. Dir als Geschäftsmann erscheint die Welt als ständige Bewegung, als fortgesetzter Hindernislauf. Und dein Ziel ist es, das Publikum dazu zu bewegen, deine Show zu besuchen oder deine Waren zu kaufen. Zwang ist dazu ein untaugliches Mittel und funktioniert in deiner Welt nur in Ausnahmefällen.

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In der Welt der Verwaltung und Herrschaft wird der Staatsbürger erst allmählich als zahlender Kunde gesehen. Es überwiegt noch ein herrschaftliches Selbstverständnis. Die entsprechenden Mittel sind Vorschriften und Zwang. In autokratischer Bequemlichkeit ist eine vorausschauende Gestaltung nur schwer möglich, eher rückwärtsgewandte Reaktion, die stets zu spät kommt und ein heilloses Flickwerk an Gesetzen und Bestimmungen hinterlässt, das die lebensfreundlichen Entwicklungen übersieht und zusammen mit Bekämpfenswertem vernichtet. Der Verwaltung eines Landes stellen sich anspruchsvolle gestalterische Aufgaben, die denen der Architektur um nichts nachstehen. Aus diesem Grund braucht es an den Schalthebeln der Macht die Besten, denen Macht nichts bedeutet, denen Macht Verpflichtung ist zu dienen. Genau die sind meist unfähig, die Spielregeln der Macht überhaupt zu verstehen oder zu akzeptieren. Deshalb zählt jeder, den Macht nicht korrumpiert, doppelt.

Die Supermärkte und die Zaubererl 3 Eine einigermaßen lebensfähige Verwandtschaft der Zauberer sind die Vitalen. Sie verzichten auf den fundamentalistischen Hang zu Theorie und programmatischer Ansage zugunsten einer rauschhaften Begeisterung ihrer selbst und ihrer Bauherrn. Sie gleichen aktiven Musikern mit hundert Projekten gleichzeitig. Sie neigen dazu auszuufern. Verliebt in jeden Einfall, treiben sie diesen oft bis zum Kitsch.

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Sie sind die natürlichen Antipoden der Illusionslosen. Ihre Opulenz ist jenen Brechreiz. In der Umsetzung sind die Vitalen originell, handwerklich und legen nicht selten selbst Hand an.

Die unentschiedenen Supermärkte I 2 Der Geschichtenerzähler erzeugt einen charmanten Nebel von oft skurrilen Geschichten. Diese beruhen im Kern auf tatsächlichen Begebenheiten und beschreiben auf subjektive Weise den Entstehungsweg des Bauwerkes. Die Geschichten sind Krücken und im gebauten Ergebnis kaum nachvollziehbar. Dabei wird nur ein kleiner Teil der Geschichten erzählt. Wie die rasenden Gedanken eines Schizophrenen begleiten sie alle Wahrnehmungen und Handlungen bis zur kleinsten Banalität. Es gäbe auch eine Geschichte zur dritten Schraube von oben links. Das Geschichtenerzählen ist Ausdruck einer Unsicherheit, die durch intensive Aufmerksamkeit entstehen kann. Es gleicht dem Pfeifen im dunklen Wald.

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Die Supermärkte und das Geld I 1 Beim Bau von Supermärkten fließt viel Geld. Das Geld zieht jene an, die es lieben. Es werden dir Architekten begegnen, die peinlich darauf bedacht sind, sich ja nicht unter ihrem Wert zu verkaufen. Und der kann ihrer Meinung nach gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Der angeblich allerhöchste und bei jeder Gelegenheit redegewandt behauptete Qualitätsstandard ihrer Leistung kann nur durch ein entsprechend hohes Honorar abgegolten werden. Nach der Akquisition des Auftrages verschwindet der Geldgierige schnell von der Bildfläche; oder besser: er taucht dort, wo gearbeitet wird, kaum auf. Die Arbeit macht seine „rechte Hand", sein bester Mann, der total überlastet auch nur notdürftig Regie führen kann beim Einsatz von billigen, unbedarften Lehrlingen. Zwischendurch inszeniert der Geldgierige publikumswirksame Auftritte, indem er ein nicht vorhandenes oder von ihm selbst geschaffenes Problem löst. Doch insgesamt ist er umgänglich, da er auf dem dünnen Eis des Bluffs steht. Nähert sich die Arbeit durch den Einsatz anderer einigermaßen der Vollendung, erscheint wieder die „rechte Hand" oder bei Prestigeprojekten der Chef selbst, um in einem bühnenreif inszenierten, heldenhaften Tag-undNacht-Einsatz nun eigenhändig für gutes Gelingen zu sorgen. „Wenn Architektur Musik wäre, was entspräche dann dem Klang?", fragte Tatanka. „Musik in Form von Noten macht nur für den geübten

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Musiker, für den Komponisten Sinn. Um erfahrbar zu werden, muss sie hörbar erklingen", erwiderte Cody irritiert, „Musik existiert letztlich nur in den vernehmbaren Tönen, im Zusammenklang der Instrumente und Stimmen. Was könnte dem Klang der Musik in der Architektur mehr entsprechen als die Baumstämme und Steine, aus denen ihre Projekte erbaut sind und durch die sie erfahrbar werden?" Tatanka: „Dem Klang der Musik entspricht das Material der Gebäude. Das scheint mir ein treffender Vergleich zu sein!" „Und es ist wieder einmal ein unlösbares Rätsel. Der Klang ist nicht die Musik, und die Musik wird nicht erfahrbar ohne ihn. Zugleich legen unzählige Interpretationen derselben Lieder eine Beliebigkeit des Klanges nahe", sagte Buffalo Bill. Tatanka: „Je einfacher und simpler die Musik, desto mehr Möglichkeiten und Gewicht liegt in der Interpretation und im Klang. Je raffinierter und komplexer die Musik wird, desto zwingender ihre Umsetzung. Die Beliebigkeit wird zur gewissenhaften und genauen Suche nach der adäquaten Aufführung." „Und was bedeutet das für den Bau von Supermärkten?", wollte Cody wissen. Tatanka: „In der Musik kann sich der Klang verselbstständigen, zur hohlen Kulisse vor einer schlechten, nichtssagenden Musik werden. Was den Klang betrifft, darf ein Supermarkt weder zum feierlichen Requiem, noch zu kriegerischer Marschmusik oder zur belanglosen Berieselung verkommen. Es ist daher ratsam, sich eher auf der Seite eines rauen, direkten Klangs zu halten."

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Buffalo Bill amüsierten die langen Gespräche mit dem Indianer. In vielen seiner Schilderungen erkannte er seine eigenen Erfahrungen wieder. Er war oft erstaunt, wie sehr sich seine Sicht der Welt mit der eines Menschen ganz anderer Herkunft und Vergangenheit deckte. Ein wichtiges Thema war das Phänomen der Macht. Für Cody als berühmten und wohlhabenden Mann wäre es naheliegend gewesen, sich einfach auf die Seite der Mächtigen zu stellen, sich selbst Macht anzueignen. Als Geschäftsmann kam er gar nicht umhin, Macht auszuüben. Er war Herr über ein florierendes Unternehmen. Aber seine Macht war nichtig, wenn sie nur auf Zwang beruhte. Das Engagement und der Einsatz seiner Leute war der Lebensnerv aller seiner Unternehmungen. Buffalo Bill hatte es stets abgelehnt, Teil der Armee zu werden. Als Scout wurde er nur für bestimmte Aktionen wie ein Taglöhner angeheuert und konnte sich so Einsätzen entziehen, deren Berechtigung ihm allzu zweifelhaft erschien. Er sah die Ungerechtigkeit der Indianerkriege und bemerkte den Hintergedanken, der hinter der Ausrottung der Büffel stand. Cody war Teil dieses Systems der Macht. Und obwohl er sich nicht außerhalb stellen wollte, war er skeptisch und hielt Distanz, so gut er konnte. Die Absicht Codys, Supermärkte zu errichten, verlangte, sich noch bewusster und genauer mit den Mechanismen der

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Macht auseinander zu setzen. Den Kunden gegenüber war die Macht von vornherein zwischen ihm und seinen Konkurrenten geteilt. Als Händler konnte er sich die Arroganz der Macht, die Menschen für dumm und manipulierbar zu halten, nicht wirklich leisten. Der mächtigste Hebel im Wettbewerb um Marktanteile war gerade, die Menschen, Kunden und Mitarbeiter, ernst zu nehmen und ihre Nöte und Sehnsüchte zu verstehen. Tatanka war in einer Welt der natürlichen Autoritäten aufgewachsen, die stets mit Liebe und Zuneigung und nur im notwendigen Mindestmaß in das Leben anderer eingriffen. Was ihm zu schaffen machte, war, wie seine Brüder sich in der Konfrontation mit der Macht der Weißen veränderten. Die Wachen und Beweglichen wollten kämpfen und wurden mit jeder Auseinandersetzung ihrem Gegner ähnlicher. Für sie heiligte der Zweck die Mittel. Der dumpfe und unbewegliche Teil seiner Brüder floh in eine Welt religiöser Endzeitvorstellungen und versuchte die Probleme fortzutanzen. Tatanka hatte alle diese Wege beschritten und sie wieder verlassen. Nur eine Erkenntnis wurde immer gewisser: Der Zweck heiligt die Mittel nicht! Wer ein Ziel ohne Rücksicht auf Verluste und ohne achtsame Wahl der Mittel verfolgt, zerstört sein Ziel, bevor er dort anlangt; für ihn wird der Weg auf verhängnisvolle Weise zum Ziel, zu einer end- und aussichtslosen Irrfahrt.

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Die Supermärkte und die Bewegung I 5 Die Bewegung scheint geradezu das Lebensprinzip des Menschen zu sein. Der Blick in die Vergangenheit zeigt eine einzige Wanderschaft von Vertriebenen und Eroberern. Der Mensch scheint den unerforschten Horizont nicht ertragen zu können und er wird immer neue Horizonte entdecken, bis hin zu den Sternen. Oder einmal am letzten Horizont dieser Erde angelangt, werden die Menschen leidenschaftlich reisen, ziellos herumlaufen, zum Vergnügen auf Berge steigen oder Maschinen erfinden, mit denen sie sich auf engstem Raum bewegen können. Der erfahrene Krieger weiß den Gegner in eine Bewegung um das eigene Zentrum zu zwingen; er weiß die Bewegung des Gegners zu dessen Verhängnis werden zu lassen. Das bringt ihn früher oder später zur Erkenntnis, dass die ultimative Bewegung das Stillsitzen, die innere Bewegung, ist. Jene Wesen, die sich von Natur aus nicht von der Stelle bewegen können, die Bäume, sind der Inbegriff von Bewegung. Erscheint dir eine Architektur, ein Raum kühn, so setze dich in einen großen Baum. Der rasante Raum um dich herum, das leichte Schwanken im Wind, das Flirren und Rauschen der Blätter wird dir zeigen, dass menschliche Kühnheit erst am Anfang steht und noch viel zu lernen hat.

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Die Supermärkte und die Zauberer I 4 Manche Architekten neigen dazu, die konstruktive Seite der Architektur überzubetonen. Es wird nicht die einfachste und direkteste Lösung gesucht, sondern jene, die volkstümlich dadurch symbolisiert wird, dass man sich mit der rechten Hand, den Unterarm über dem Kopf, am linken Ohr kratzt; dieselbe Übung, die bei kleinen Kindern als Zeichen der Schulreife gilt. Bravourös turnt der konstruktive Architekt über die selbst errichteten Hindernisse hinweg und hat für den fassungslosen Handwerker nur mitleidige Blicke. Die Überbetonung und Verselbstständigung der Konstruktion ist eine schöpferische Flucht nach vorn. Sie beruht auf der Unkenntnis, wie ein Gebäude hergestellt wird; trotzdem entstehen im konstruktiven Dialog mit dem Handwerker manchmal originäre Lösungen.

Die unentschiedenen Supermärkte I 3 Der Kosmische findet im harten Architektenalltag Entlastung, indem er sich eins mit dem Universum weiß. So beglückend die Flucht ins Alleins ist, so bedrückend ist die Rückkehr auf die Erde. Denn es mag viele Wege geben, unschuldig zu bleiben; Architekt zu sein liegt sicher auf keinem dieser Wege. So manifestiert der Kosmische in privater Einsamkeit eine schizophrene Gegenwelt oder er baut als buddhistischer Mönch Klöster im fernen Osten oder Westen.

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Die Supermärkte und das Geld I 2 Geldgier ist den Architekten nicht fremd, auch wenn sie unter Anwälten, Vermessern und Bauphysikern verbreiteter sein mag. Der geldgierige Architekt schließt Verträge so ab, dass nur die Kernbereiche seiner Arbeit erfasst sind, oder dass sein Beitrag in der Praxis ohne entsprechende Zusatzleistungen unvollständig bleibt. Er erbringt seine Leistung so schnell wie möglich unter möglichst oberflächlicher, aber gut dokumentierter Einbeziehung seiner Auftraggeber. Denn sein Geschäft beginnt bei der ersten Änderung, die bei genauer Betrachtung durch seine Vorgangsweise unvermeidlich ist. Jeder Atemzug, jeder Handgriff, jedes Telefonat kostet. Wenn der Geldgierige sich außer Haus bewegen muss, ist die kleinste Einheit der Tausender. So wird er zum Buchhalter seiner eigenen Kleinkrämerei und das Geld dominiert sein Denken. Oft ist diese Art der Geldgier eine verhängnisvolle Reaktion auf eine allzu lange Vernachlässigung der eigenen Finanzen.

Die Supermärkte und die Toten I 1 Stirbt ein Architekt, bleibt er wie jeder Mensch einige Zeit in der Erinnerung jener, mit denen er lebte und denen er begegnete. Die Person steht im Vordergrund und er bleibt als Architekt vorerst mit seinen Bauwerken verbunden wie zu Lebzeiten.

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Je problematischer der Verstorbene war, desto mehr Geschichten und Legenden wird es geben, desto mehr wird er seinen Kollegen im Nacken sitzen als jenseitiges Gewissen und Fragezeichen. So kann der Einfluss eines Architekten als Mythos größer sein als der seiner Bauwerke, auch wenn dies so manchem Verstorbenen gar nicht passen würde. Die Halbwertszeit des Vergessens ist bei Architektenoriginalen aber nicht größer als bei knorrigen Sennern, gesellschaftsfähigen Irren und sonstigen Originalen. Ihre Bauwerke werden aber noch schneller vergessen und versinken in die Erinnerung der Archive und Experten, während sie im alltäglichen Leben endlich ihre Vollendung in der Selbstverständlichkeit finden. Tatanka und viele kaum bemerkte Mitstreiter versuchten den geistigen Kern ihrer Kultur in eine Zeit zu retten, in der die entscheidenden Auseinandersetzungen nicht mehr in Kriegen, sondern in der Gestaltung menschenwürdigen Lebens geführt werden sollten. Buffalo Bills Supermarktprojekt war für den Indianer ein Vorbote dieser Zeit. „Der Zweck heiligt die Mittel nicht!", sagte der Häuptling mürrisch. „Nur Dummköpfen und Schwächlingen kann es egal sein, wie ein Supermarkt gebaut wird. Die Macht, alles machen zu können, macht uns unvorsichtig in der Wahl der Mittel." „Es heißt, jeder zufriedene Showbesucher bringt einen neuen, jeder unzufriedene hält aber sieben davon ab, sich die Show anzusehen. Das Leben eines Supermarktes beginnt beim ersten Spatenstich. Und insgesamt arbeiten sicher mindestens

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zweihundert Leute an der Realisation des Gebäudes. Jeder davon hat Familie; damit sind schon an die tausend Leute aus nicht allzu großer Entfernung von der Baustelle involviert. Diesen Menschen wird der Markt, je nachdem wie sie die Arbeit am Gebäude erleben, sympathisch oder unsympathisch werden. Durch Freunde und Bekannte überträgt sich dieser Eindruck schnell auf eine ebenso große Anzahl von Menschen, die ein Lebensmittelmarkt braucht, um existieren zu können", rechnete der Geschäftsmann vor. Er hatte Recht, trotzdem verschlug es dem Indianer die Sprache über die schnelle Hochrechnung. „Ich denke bei der Wahl der Mittel mehr an die Materialität des Gebäudes, die seinen Charakter dauerhaft manifestiert. Nichts bleibt ohne Wirkung, sei sie dem Planer bewusst oder nicht. Es ist in Wirklichkeit unmöglich, ein Gebäude zum Schweigen zu bringen. Es muss nicht zwangsläufig schreien oder plappern, aber es wird immer etwas sagen, etwas flüstern, vielleicht mit den Augen zwinkern oder lächeln", gab Tatanka zu bedenken. „Dann stehen die Mittel zwischen unserer Absicht, die wir mit einem Gebäude verfolgen, und seiner Wirkung ..." Buffalo Bill wirkte leicht verschreckt, obwohl dies bei genauerer Betrachtung eine Binsenweisheit war, die ihn das Leben schon oft gelehrt hatte. Und Tatanka: „So naheliegend diese Erkenntnis auch sein mag, bei den Architekten und ihren Auftraggebern scheint sie nicht sehr verbreitet zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass sich die wenigsten selbst kennen oder zu sehr von sich auf andere schließen."

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Tatanka: „Die Mittel umfassen zum einen Teil das gewählte Material, die Konstruktion, und zum anderen die Art und Weise, wie etwas verwirklicht wird." Cody: „Bei Material und Herstellungsweise kommt schnell die Moral ins Spiel. Mit fast jedem Material ist eine Wertung verbunden. Das eine gilt als menschengerecht und gut, ein anderes wieder als kalt, ungesund und künstlich." Tatanka: „Obwohl einiges davon begründet sein mag, handelt es sich bei diesen Wertungen oft um Vorurteile, um gedachte Gefühle. Jedes Material hat ganz spezifische Eigenschaften, Fähigkeiten und Schwächen, einen ganz bestimmten Charakter. Und du wirst unschwer die Entsprechung der Menschen mit dem Material, mit dem sie arbeiten, entdecken. Es gibt Erdmenschen, Holzmenschen, Steinmenschen, Metallmenschen... Jeder wird seinem Material entsprechend empfinden und denken. Den Holzmenschen fehlt jede Distanz zu ihrem Material. Sie werden versuchen, jedes Problem mit Holz zu lösen. Da aber auch für sie zum Beispiel Metall unverzichtbar ist, werden sie es verdrängen, verstecken oder in eine betont dienende Rolle als Werkzeug verbannen. Umgekehrt ist Holz für die Metallmenschen unbrauchbar, schwach und unberechenbar und kommt in ihrem Bewusstsein kaum vor." Buffalo Bill: „Wenn das Material den Menschen, der

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damit arbeitet, prägt, dann ist es vom Handwerker zum Architekten ein weiter Weg." Tatanka: „Architekt zu sein bedeutet den Charakter, die Möglichkeiten und Wirkungen der einzelnen Materialien zu kennen, ohne die landläufigen Vorurteile und ohne die Vorlieben des Handwerkers. Für ihn sind die Materialien die Instrumente eines Orchesters. Und obwohl jedes Material seine eigenen Gesetze hat, gibt es keine vorgegebenen Regeln im Universum jedes einzelnen Materials und in der unendlichen Vielfalt ihres Zusammenspiels." Cody: „Aber gibt es nicht so etwas wie Ehrlichkeit und Offenheit in der Verwendung der Materialien und in der Konstruktion eines Gebäudes?" Tatanka: „Vielen ist es sympathischer, wenn ein Material in möglichst ursprünglicher Form verwendet wird, wenn eine Konstruktion verständlich und nachvollziehbar bleibt. Und es gibt gute Gebäude, die dieses Prinzip verfolgen. Aber es gibt genauso gute Bauwerke, die denaturierte und verfremdete Materialien verwenden und ihren konstruktiven Zusammenhang verschleiern, und alle möglichen Variationen zwischen diesen beiden Extremen." Buffalo Bill: „Die Ursprünglichkeit und Ablesbarkeit steht dem Handwerker näher und kommt in der Entwicklung des Bauens vor der abgründigen Haltung des Artifiziellen." Sitting Bull: „Nicht einmal das scheint mir so sicher ... Das Entscheidende ist, jede Beliebigkeit zu vermeiden."

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Die Supermärkte und die Zaubererl 5 Der Abstrakte verbindet fundamentale und radikale Züge. Seine Domäne ist der abstrakte Raum, der durch nichts gestört werden darf. Wirklich rein ist er nur in den kargen Linien einer Zeichnung. Und oft ist dem Abstrakten die Zeichnung schon genug. Materialien aller Art sind ihm suspekt; das Material muss total neutralisiert und verschleiert werden, da Materialisation an sich schon als Sündenfall gesehen wird. Dementsprechend ist die Konstruktion Sache des Handwerkers und des Statikers, die sich plagen müssen, die Struktur des Gebäudes im Verborgenen der vorgegebenen Form unterzubringen. Die einzigen für den Abstrakten zulässigen Farben sind Weiß und Schwarz. Und wenn er ganz verwegen sein will, kommt noch Grau hinzu. Die Benützung seiner Bauten tut dem Abstrakten weh und er grämt sich über jedes Möbel, jedes Bild, besonders aber über Pflanzen, mit denen die Bewohner den makellosen Raum entweihen.

Die unentschiedenen Supermärkte I 4 Nur sehr wenige Änderungen während der Entstehung eines Bauwerkes werden durch veränderte Sachverhalte verursacht. Schon wesentlich mehr Änderungen ergeben sich durch geänderte Ansprüche der Auftraggeber. Weitaus 65

die meisten Änderungen liegen in der Verantwortung des Architekten selbst. Nur die Abgebrühtesten halten es aus, eine mögliche Verbesserung nicht noch schnell in die Realisation einzuarbeiten, nur weil dies mit Mehrarbeit verbunden ist. Der häufigste Grund für Änderungen ist schlicht die Unsicherheit und Unentschiedenheit des Architekten. Soll eine Tür nach links oder nach rechts aufgehen? Ist bei der Lage des Fensters der Blick nach außen oder die Möblierbarkeit des Zimmers wichtiger? Sitzt der Architekt selbst am Zeichentisch oder am Computer, bleibt dieses Hin und Her verborgen. Delegiert der Architekt die Zeichenarbeit, kommt es zu zermürbenden und zeitraubenden Kreisläufen, die schon so manches Arbeitsverhältnis beendet haben. Häufige derartige Änderungen sind wie allzu langes Nachdenken über Geländerdetails ein untrügliches Zeichen für einen nicht tragfähigen, unvollständigen Entwurf, der schleunigst in den Papierkorb wandern sollte.

Die Supermärkte und das Geld I 3 Das scheinbare Gegenteil der Geldgier ist die Geldflucht. Sie ist unter Menschen, die sich als Ausnahmeexistenzen verstehen, als Künstler oder Außenseiter, sehr verbreitet. Die Geldflucht hat mit der Geldgier die Fixierung auf das Geld gemeinsam. Bei dem einen ist es die als unver-

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ständlich und ungerecht empfundene, chronische Abwesenheit von Geld, die ihn ständig beschäftigt. So ein Geldflüchtiger betont bei jeder Gelegenheit, Geld sei nicht wichtig und er hätte ohnehin ausreichend davon, wenn er nicht so gutmütig und großherzig wäre oder wenn von seiner Umwelt sein wahrer Wert nur annähernd realisiert würde. Bei der anderen Spezies von Geldflüchtigen, der eher introvertierten, dringt der verzweifelte innere Dialog kaum nach außen. Sie treibt eine eigenartige Angst vor dem Geld an. Sie schwankt zwischen einer Verdammung des Geldes, das einen ohnehin nur vom rechten Weg abbrächte, und einer unreifen Konsumidiotie, die jedem vernünftigen Umgang mit Geld spottet. Geldflucht ist der dunkle Schatten der Geldgier und kann unvermittelt in Geldgier umschlagen. Und letztlich ist keiner leichter zu kaufen als der Geldflüchtige.

Die Supermärkte und die Toten I 2 Ist ein Architekt schon länger tot, ist er entweder, so in den meisten Fällen, vergessen, oder er ist Teil der Architekturgeschichte. Wie die Aborigines Australiens ihre Welt ersingen, so singen Architekturkritiker und Historiker die Geschichte der Architektur. Und es ist schwer zu sagen, was auf die lebenden und nachkommenden Architekten fruchtbarer wirkt: die Ablehnung oder die Bewunderung der Heroen der Architekturgeschichte aus einer Zeit, in der angeblich noch alles offen und möglich war.

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Wie ein verklärter, unfassbarer Heiliger schwebt der Architekturgigant über seinen als Meilensteine der Architekturgeschichte identifizierten Bauten, unerreichbar weit über allen Möglichkeiten und Fähigkeiten seiner lebenden, zwergenhaften Kollegen. Nur der genaue Blick auf die Biografien dieser Giganten und auf die genauen Umstände ihres Todes lässt auch ihren Kampf, ihre Zweifel und ihre Verzweiflung erahnen.

Die Supermärkte und die Theorie I 1 Der Theoriespinner beginnt auch den kleinsten Beitrag mit einer schulmäßigen Betrachtung der Geschichte des Ortes und der Bauaufgabe. Er hat für jede noch so kleine Aufgabe eine passende Theorie. Meist erstellt er sie im Nachhinein, weil diese Art von Theorie nicht wirklich als Handlungsgrundlage geeignet ist. Es fehlt ihr der innere Zusammenhang und sie ist zu beliebig, um ernsthaft diskutierbar zu werden. Aber gerade deswegen funktioniert das Theoriespinnen als Schutzschild gegen Selbstzweifel und Kritik. Solche Theoriefragmente können, wenn sie nach längerer Zeit wieder ausgegraben werden, zu wahren Mysterien werden, die eine umfangreiche Sekundärliteratur von Sekundär-Theoriespinnern unter den Architekturhistorikern nach sich ziehen. Buffalo Bill: „Wenn die verschiedenen Materialien die Instrumente eines Orchesters sind, dann sind die Arbeiter und Handwerker, die ein Gebäude herstellen, die Musiker.

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Und was ist dann der Architekt, Dirigent oder Komponist des aufgeführten Stücks?" Der Indianer fand den Vergleich einer Baustelle mit einem Orchester nicht schlecht, wenn ihm auch ein Bauwerk in seiner endgültigen und permanenten Schwere das Gegenteil von Musik in ihrer vergänglichen Leichtigkeit zu sein schien. „Der Architekt ist wohl eher der Komponist," entgegnete er, „er ist nicht notwendigerweise der Dirigent. Manche sehen in dieser Personalunion ein Ideal, andere wiederum behaupten, dass gerade die Komponisten durchwegs schlechte Dirigenten wären." „Es liegt wohl nahe, dass jene Komponisten, die auch unmittelbar für die Aufführung sorgen, bei ihren Kompositionen die praktischen Belange der Realisation besser berücksichtigen und vor allem ihre eigenen Absichten am besten kennen. Die Erfahrungen des Musizierens werden in ihre Kompositionen einfließen", spann Cody den Faden weiter. „Dies mag in den meisten Fällen zutreffen", sagte Sitting Bull zustimmend, „doch ein Weg, wenn auch ein gefährlicher, in Neuland vorzudringen, ist Unwissenheit. Andererseits kann ich mir keinen guten Komponisten vorstellen, der nicht über eine möglichst genaue Kenntnis der einzelnen Instrumente und der Art und Weise, wie sie gespielt werden können, verfügt. Und gäbe es einmal die Möglichkeit, Musik losgelöst von Musikinstrumenten zum Klingen zu bringen, so bliebe der Klang selbst, der alle mit dem Wegfall der Instrumente verdrängten Fragen neu und verschärft stellen würde. Der Wegfall der Instrumente wäre nur die Erfindung eines neuen Instrumentes."

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„Schlimmer noch als das Verschwinden der Instrumente wäre wohl noch das Verschwinden der Musiker. Das scheint selbst mir, der bestrebt sein muss, die Dinge zu vereinfachen und die Lohnlisten kurz zu halten, ein unerträglicher Verlust", meinte Buffalo Bill. „Du hast Recht", erwiderte Tatanka, „es ist eine verbreitete Allmachtsphantasie, alles und jedes direkt und uneingeschränkt bestimmen zu können. Und wie Musik erst in der Musizierfreude jedes einzelnen Musikers entsteht jenseits von mechanischem Abspielen von Noten, so entsteht auch der Lebensfunke eines Gebäudes erst im Widerstreit und Zusammenklang aller an seiner Errichtung beteiligten Menschen, trotz aller Fehler und allen Ärgers, der damit verbunden sein mag."

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Acht

In ihren intensiven Gesprächen schienen sich der Scout und der Indianer oft zu durchdringen. Der eine führte den Satz des anderen zu Ende. Beide überboten sich darin, die letzten Winkel des Themas auszuleuchten. Und obwohl die Dialoge oft in sehr vagen und allgemeinen Sentenzen endeten, hatten beide stets das Gefühl, ihren geistigen Garten neu beackert zu haben. Oft endete ein Gespräch fast in der Flucht des einen, ohne aber einen Zwiespalt oder eine Enttäuschung zu hinterlassen. Manchmal waren die Gespräche auch ein hilfloses Umkreisen von etwas für beide noch Unfassbarem. Oder sie waren die Klärung und Zusammenfassung von Standpunkten, die sie über lange Zeit erarbeitet hatten. Von Zeit zu Zeit versuchten sie, Abstand voneinander zu gewinnen, u m ihr Verhältnis nicht zu überfordern. Ohne die heilsame Konzentration auf den Bau von Supermärkten wären ihre Gespräche unverbindlich geblieben und die Themen hätten sich bald erschöpft. Das Konkrete der Supermärkte war das Vehikel, die Unterhaltung auf Bereiche auszudehnen, die einem normalen Gespräch verwehrt sind. Für den zentralen Gegenstand der Architektur, den Raum, fehlen die Worte. Ein scheinbar paradoxer Umstand, der aber nur zeigt, dass Denken keine Domäne der Architekten ist und sie sich in einem Bereich bewegen, in dem Sprache nur sehr indirekt brauchbar ist. So bestanden die Dialoge zwischen Sitting Bull und

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Buffalo Bill oft nur in einem kurzen Aufrufen alltäglicher Abläufe. Ein Kunde betritt den Supermarkt zum ersten Mal. Wie bewegen sich die Menschen in der Obstabteilung, zwischen den Regalen; wie verhalten sie sich in den Warteschlangen an den Kassen? Ein kleines Kind sitzt im Einkaufswagen, als wäre es gerade selbst aus dem Regal genommen worden; ein größeres Kind schiebt den Wagen und rammt den Wagen eines mürrisch dreinschauenden älteren Kunden oder gar diesen selbst. Bekannte und Freunde treffen sich zufällig und beginnen ein Gespräch an einer Engstelle; andere drängen mit Entschuldigungen vorbei. Im Cafe des Supermarktes freut sich ein Paar, weil es den Lieblingstisch frei vorfindet. Wie ist die Atmung eines Menschen beim Betreten eines Raumes? Hält er einen verschwindenden Augenblick inne und hebt den Kopf? Oder nimmt er eine leicht geduckte Haltung ein?

Die unentschiedenen Supermärkte I 5 Im gründlichen Bedenken einer Bauaufgabe mag die Gefahr liegen, seinen Blick einzuengen. Doch das Gegenteil zu machen führt zu Blindheit. Manche Architekten nehmen einen Bleistift und ein Blatt Papier, dessen Leere sie keine Sekunde lang ertragen. Mit kreisenden Linien versuchen sie, den Nebel im Kopf zu lichten. Es sind nicht jene zeichnenden Architekten, die mit bestechender Sicherheit eine klare Perspektive des imaginierten Objektes aufs Papier zaubern. Es sind jene gemeint, die dazu verdammt sind, mit dem Bleistift nicht zu denken.

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Wie ein blindes Huhn picken sie auf dem Boden des Möglichen und Vorstellbaren herum, bis sie ein Korn finden. Sie benötigen doppeltes Glück, um einen wirklich tragfähigen Ansatz zu erhäschen. Fast immer bleibt es aber ein beliebiges Korn, weil ein blindes Huhn es sich nicht leisten kann, wählerisch zu sein. Und es gibt genug Leute, die diese Beliebigkeit mit Phantasie verwechseln.

Die Supermärkte und das Geld I 4 Der Eitle steckt in fast jedem Architekten. Der Eitle weiß um seine Eitelkeit und bekennt sich offen dazu; man ist ja schließlich nicht dumm. Dem Eitlen fehlt aber jedes Sensorium, seine Lächerlichkeit wirklich wahrzunehmen. So mancher hat das Zeug zum Universalgenie und ist etwa auch als Karikaturist erfolgreich. Wenn er baut, dann delegiert er die Umsetzung an einen fähigen und extrem uneitlen Mitarbeiter, der vielen Insidern nicht zu Unrecht als der unsichtbare, wahre Schöpfer der Bauwerke des Eitlen erscheint. Dem Eitlen genügt der Schein und er liebt Titel und ist gern Teil einer anerkannten Institution. Dort ist er mitunter ein guter Reibebaum für jugendlichen Vorwitz und gefährlich für jene, die seinen Status und seine Kompetenz ernsthaft in Frage stellen.

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Die Supermärkte und die Toten I 3 Ein lebendes und ein totes Vorbild unterscheiden sich in dem Grad, in dem sie sich als Projektionsfläche eignen; das lebende kann noch enttäuschen. Die Wirkung eines Vorbildes beruht auf Resonanz; es scheint das zu sein, was man selbst gerne sein oder werden möchte. Die Wahrnehmung eines Vorbildes ist in hohem Maße eine Projektion der eigenen Sehnsüchte und Ideale. Nur so sind Idole erklärbar, die bei nüchterner Betrachtung die Persönlichkeit einer leeren Leinwand haben. Doch gehen wir davon aus, ein Vorbild hätte Substanz und unsere Bewunderung wäre begründet. Was könnte dann besser sein, als möglichst viel von diesem Vorbild zu lernen, gleichsam in seine Haut zu schlüpfen, die Welt mit seinen Augen zu sehen, sich seiner Ausdrucksmittel zu bedienen? Dies zu tun gilt als Charakterschwäche, als Mangel an eigener Persönlichkeit; und bei jungen Menschen ist dieser Vorgang oft beängstigend. Doch was könnte ein deutlicheres Indiz für eine fehlende eigene Persönlichkeit sein als die Angst, sie gleich zu verlieren, wenn man den Standpunkt und die Weltsicht eines anderen erprobt? Nur der Ichschwache muss fürchten, durch die vorübergehende und bewusste Identifikation mit einem Vorbild von seinem eigenen Weg abzukommen. Von anderen zu lernen ist schwer genug und eine der spärlichen Abkürzungen, die das Leben erlaubt.

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Die Supermärkte und die Theorie I 2 Einige wenige Theoretiker können zu Recht als genial bezeichnet werden. Sie haben die Fähigkeit, jene Sprünge zu machen, die dann Generationen von Analytikern beschäftigen. Und es dauert hundert Jahre und mehr, bis die Fehler und Unzulänglichkeiten ihrer Theorien evident werden. Und im Rückblick waren dann genau diese Fehler der fruchtbarste Teil ihrer Theorie. Der geniale Theoretiker korrigiert den entscheidenden Fehler einer überkommenen, zum Vorurteil degenerierten alten Theorie und ersetzt sie durch eine neue Theorie. Ihm genügen der prinzipielle, grobe Beweis und die eigene Gewissheit. Die Überprüfung der Theorie und die Ableitung eines praktischen Nutzens überlässt er Science-FictionAutoren und Heeren von gläubigen Anhängern seiner Lehre. Der Geniale weiß um die Vergeblichkeit jahrzehntelanger Mühen und um die Leichtigkeit des Sprunges, die er sich nicht verdienen kann. Er ahnt auch, dass er nur einen, vielleicht zwei solche Sprünge in seinem Leben machen kann. Er ist daher ein bescheidener, leicht melancholischer Zeitgenosse. Weil es in der Architektur keine Theorie gibt, vielleicht keine geben kann, ist der Geniale als Architekt fast unmöglich.

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Die unsichtbaren Supermärkte I 1 Stell dir vor, ein Supermarkt wäre ein Abbild der umgebenden Landschaft, ein Portrait der Menschen dieser Landschaft. Wenn das Selbstbild der Menschen dem entspräche, wie du sie siehst, müsste die totale Identifikation eintreten; die Menschen müssten sich im Markt wiedererkennen. Doch wer sieht in seinem Abbild schon gern seine zu große Nase, seine abstehenden Ohren? Orientiert sich dein Portrait an der Wirklichkeit und nicht an geschönten Wunschbildern, wird sich ein Sturm der Entrüstung erheben. Der Supermarkt wird als fremd und unpassend beschimpft werden. Doch es wird eine hinterhältige Faszination von ihm ausgehen, der sich kaum jemand entziehen kann. Und über kurz oder lang wird er akzeptiert, vielleicht geliebt. Der Preis dafür ist, dass er unsichtbar wird, so ungewöhnlich und auffällig er auch sein mag. Dem Austausch der Beobachtungen, die jeder von ihnen bei unzähligen Gelegenheiten des Alltags gemacht hatte, folgte der gemeinsame Versuch, Räume zu beschreiben, die jene Motive, die unbewusst blieben und dadurch bestimmender und wirksamer waren, berücksichtigen sollten. Jeder, der im Raum einen Platz für einen längeren Aufenthalt sucht, will sich offensichtlich den Rücken freihalten. Zuerst füllen sich die Plätze in den Ecken, dann jene entlang der Wand. Fast alle wenden ihren Blick dem Eingang zu. Kaum jemand akzeptiert freiwillig eine Position mit dem Rücken zum offenen Raum oder zur Tür, außer er hat einen Gesprächspartner als Wächter in der optimalen Position. „Die Menschen verhalten sich nicht anders als Tiere,

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die ihren Feinden nicht viel mehr als die Flucht entgegenzusetzen haben", meinte Tatanka Yotanka. „Und sie scheinen auch Räume zuallererst einmal instinktiv zu beurteilen. Doch es gibt Unterschiede. Die einen lieben Höhlen mit einem kleinen leicht zu bewachenden Eingang, andere den Überblick und die allseitige Offenheit für eine schnelle Flucht", sagte Cody. Und tatsächlich ließen sich zwischen diesen archetypischen Räumen, der Höhle und dem Baum auf einem Hügel, alle nur erdenklichen Räume einordnen. Buffalo Bill hatte eine Geschichte über vorzeitliche Urmenschen gehört, die im Wald lebten. Als zahn- und klauenlose Wesen unter gefährlichen Raubtieren blieb ihnen nur die Flucht auf die Bäume. Als eine Klimaveränderung die Wälder vernichtete, blieben sie schutzlos in der Prärie zurück. Einziger Schutz waren die letzten mächtigen Baumriesen und vereinzelte Höhlen in den Felsbrüchen am Rande der Savannen. Doch in der Höhle lebte auch der größte Feind der Menschen, der Säbelzahntiger. In dieser Bedrängnis entstand die Vorstellung vom dunklen Bösen, aber auch der Mensch, wie wir ihn heute kennen; und seine erste Errungenschaft war die Zähmung des Feuers, das ihn mächtig machte. Dem Indianer gefiel diese Geschichte, weil sie die menschliche Existenz in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit erhellte. Und im Umgang der Menschen mit Räumen war diese unglaubliche Geschichte der Menschwerdung noch in all ihren Phasen gleichzeitig im Gange.

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Buffalo Bill hatte die Fähigkeit, einen Sachverhalt mit einem Blick zu erfassen. Mit traumwandlerischer Sicherheit traf er den Schwachpunkt in den Aufstellungen und Listen, die ihm seine Mitarbeiter und Geschäftspartner vorlegten. Unvermittelt sprang er vom konkreten Detail zum visionären Konzept. Er war einer jener Menschen, die noch die Fähigkeit hatten, quer zu denken. „Die unvoreingenommene Betrachtung und Empfindung, ohne das Wahrgenommene mit dem Verstand zu analysieren und zu kategorisieren und ohne es gefühlsmäßig zu bewerten und in das Korsett von gut und schlecht zu pressen, befähigt erst dazu, die Möglichkeiten, das Potenzial des Wahrgenommenen zu sehen, aus dem die Antwort der Intuition entspringt", murmelte Tatanka. „Das ist der Grund, weshalb unsere geistigen Väter uns lehren, die Achse zum Gegenüber unseres Ausgangspunktes zu Ende zu gehen, bevor wir die Richtung wechseln. Der Wolf geht zum Adler, bevor er sich dem Büffel und der Maus zuwendet." „In unserer Welt ist die Wahrnehmung eines Sachverhaltes unmittelbar mit der Verarbeitung durch Kopf und Bauch verbunden", wandte der Scout ein, „ und viele ordnen sogar die Geschlechter dem Denken und dem Fühlen zu. Die Intuition wird als weltfremde Träumerei gesehen. Verstand und Gefühl können sich trefflich streiten und leisten wertvolle Dienste in der Verwaltung und im menschlichen Zusammen-

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leben und sind doch unfähig zu einem schöpferischen Ergebnis." Tatanka: „Jede der vier Seiten ist unverzichtbar. Die Empfindung sagt dir, dass da etwas ist, das Denken, was es ist, das Gefühl, was es wert ist, und die Intuition, was es sein könnte."

Die Supermärkte und das Geld I 5 Durch die Kompliziertheit des Bauens keimt in dir immer wieder der Wunsch nach einem Architekten, der alles in die Hand nimmt, der dir ein optimales Grundstück sucht, den Kauf und die Finanzierung regelt, das Gebäude entwirft, alle Genehmigungen einholt, das Bauwerk errichten lässt und es dir zu einem Festpreis schlüsselfertig übergibt. Darüber hinaus könnte er noch das geeignete Personal suchen, die Werbung für den Markt organisieren und nicht zuletzt für die laufende Instandhaltung des Gebäudes sorgen. Du siehst schon, es fehlt nur noch, dass der Architekt die Waren einkauft und sie den Kunden verkauft. Dann wärst du selbst eigentlich überflüssig; nur mehr dein Geld wäre notwendig. Dieser Weg der Vereinfachung ist der Weg des Geldes, wenn die Menschen dahinter abgedankt haben oder zu Attrappen und Marionetten in Aufsichts- und Verwaltungsräten geschrumpft sind, die, scheinbar wichtig und mächtig, nur mehr willenlos im Magnetfeld des Geldes herumgeschoben werden.

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Der richtige Weg ist sehr selten der leichteste und kürzeste; der scheinbar einfachste ist aber oft der teuerste. Jene, die möglichst viel Arbeit und Risiko an andere abwälzen, bezahlen teuer dafür, und sie maximieren das Risiko, ein seelen- und geistloses Ergebnis zu erhalten, das allen bürokratischen und juristischen Anforderungen genügt, nicht aber den Träumen und Hoffnungen der Menschen.

Die Supermärkte und die Toten I 4 Das beste Vorbild ist oft das schlechte Vorbild. Ein Säufer wird durch sein schlechtes Beispiel seine Kinder mitunter besser vom Alkohol fernhalten als ein abstinenter Moralist. Es wäre natürlich absurd, das schlechte Beispiel bewusst als Abschreckung einzusetzen. Es geht mehr darum, von den viel häufigeren, schlechten Beispielen zu lernen. Und dieses Lernen besteht darin, sich selbst im schlechten Vorbild zu erkennen. Erinnert uns das gute Vorbild an unsere Möglichkeiten und Hoffnungen, so führt uns das schlechte unsere Untiefen und Schwächen vor Augen. Und es ist schwer zu entscheiden, was von beidem wichtiger ist.

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Die Supermärkte und die Theorie I 3 Die großen, bahnbrechenden Theorien beruhen oft auf kindlich einfachen Betrachtungen und Überlegungen; aber solch große Geistesblitze sind selten; zu selten, um all jene zu beschäftigen, die sich als Theoretiker gefallen. Deshalb wird viel Theorie produziert, die nur das Offensichtliche umständlich und akademisch breit walzt. Das Thema, das kaum der Rede wert ist, wird zu einer möglichst kryptischen und imposanten Theorie aufgeblasen. Doch was an großen Theorien bestechend einfach ist, wirkt bei der inflationären Theorie schlicht banal. Trotzdem kann einer mit einer solchen Theorie auffallen und vielleicht sogar auf dem Umweg des Buchmarktes damit Geld verdienen. Nur in der Praxis wird sie keine Relevanz erlangen, weil ihr Inhalt schon lange bekannt und berücksichtigt ist oder weil sie überhaupt keinen Bezug zur Realität hat und sich auch nicht als Reibebaum und Prüfstein eignet. Die inflationäre Theorie scheint mir besonders dort zu blühen, wo eigentlich Geschichten angebracht wären oder vielleicht alte und neue Mythen. Als Karikatur der Aufklärung versucht sie, Geschichten und Mythen durch Pseudowissenschaft zu verdrängen, und vernebelt dabei mehr, als sie klärt.

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Die unsichtbaren Supermärkte I 2 Als Mann des Showgeschäfts und als Händler erscheint es dir wichtig aufzufallen. Ein auffälliges Geschäft erweckt Aufmerksamkeit und Neugierde und lockt die Kunden an wie Blumen die Bienen. Doch die grelle Buntheit der Blume entspringt dem gleichförmigen Grün der Wiese. Die Öde und Eintönigkeit der Vorstädte verleitet zum marktschreierischen Lärm von Schildern und Sensationen. Die Zufälligkeit des Grundstücksmarktes und die Moden der Politik bestimmen den Standort deiner Märkte oft ohne sinnvollen und logischen Zusammenhang mit der umgebenden Bebauung. An sich ist ein Supermarkt schon an den langen Reihen von Einkaufswagen vor der Tür leicht zu erkennen. Seine Größe und sein Stellenwert im täglichen Leben begünstigen seine Rolle als markantes, identitätsstiftendes Gebäude. Und je offener und genauer du mit deinem Architekten über das Wesen eines Supermarktes nachdenkst und je genauer du Ort und Zusammenhang einbeziehst, und sei er noch so zufällig und willkürlich, desto ausgeprägter wird er als Typus werden, obwohl keiner dem anderen gleichen wird. Zuletzt wird diese Typologie des Einzelfalles zum Markenzeichen. Und die Märkte werden, obwohl manche in ihrem Umfeld fast unsichtbar sein werden, unübersehbar sein. Das Schild mit deinem Namen wird nur für den vorübereilenden Fremden notwendig sein oder dann, wenn deine Konkurrenten sich gezwungen sähen, deinen Weg

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zu beschreiten, und in Kenntnis deines Geheimnisses je die Qualität deiner Märkte erreichen könnten. Nebenbei hättest du spätestens dann die Welt ein klein wenig verbessert.

Die Supermärkte und die Toten I 5 Ab und zu werden dir Menschen begegnen, die zu dem, was sie tun, geboren zu sein scheinen. Sie sind gleichsam die Inkarnation eines Handwerkers, eines Schriftstellers, einer Putzfrau, eines Architekten, einer Köchin, eines Arztes oder Künstlers; es gibt sie in allen Bereichen menschlicher Tätigkeiten; aber fast nur in den wenig geachteten wirst du Menschen finden, die im Frieden mit ihrer Bestimmung leben. In den Bereichen, wo der Rahmen nicht so klar vorgegeben ist und der soziale Zusammenhang und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Ablenkung und Verwirrung sorgen, wird die Inkarnation oft verzweifeln, manchmal am Unverständnis ihrer Umgebung, meist aber an sich selbst. Allzu sehr sehen diese Menschen die Unendlichkeit des Feldes ihrer Leidenschaft und die Grenzen ihrer menschlichen Natur und Sterblichkeit. Wenn sie die Klippen von Alkohol und Drogen umschiffen können, verlassen sie oft ihr angestammtes Gebiet und finden so Frieden und Erfolg, weil es doch nicht eine bestimmte Rolle, sondern die Haltung, die Leidenschaft an sich ist, die ihnen in die Wiege gelegt war.

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Die Supermärkte und die Theorie I 4 Experten sehen ihre Aufgabe darin, Probleme zu lösen, so wie Erdhörnchen Nüsse knacken. Viele wollen Problemlösungen verkaufen wie Seife. Und weil das Leben gern unlösbare Aufgaben stellt und überhaupt so unübersichtlich und voller Überraschungen ist, haben einige eine sehr wirksame Methode gefunden, die Sache zu vereinfachen: Sie erfinden Probleme. Der Seifenverkäufer wird dich weit über die tatsächliche Nützlichkeit seines Produktes hinaus in eine geradezu endzeitliche Schlacht gegen Schmutz und Krankheitserreger treiben, die immer und überall tobt. Er wird den Mythos der Schmutzigkeit der Frau, wie sie in vielen Religionen und Kulturen behauptet wird, schamlos ausbeuten. Der Seifenverkäufer erfindet viele kleinere Probleme, die er mit seiner Seife löst, als Ableitung eines großen Problems, das er umsichtig im Verborgenen hält, wohl wissend, dass es der Antrieb seines Geschäftes ist. Eine andere Kategorie von Problemerfindern macht es genau umgekehrt. Sie leben vom ultimativen Problem. Du kennst die vielen Prediger auf den Jahrmärkten, die den Weltuntergang in den grellsten Farben ankünden. Für ein paar Dollar Spende zeigen sie dir den Weg durch die Katastrophe ins Paradies. Ist das magische Datum des Untergangs ereignislos verstrichen, haben sie längst den Ort und die Verkleidung gewechselt, um einen neuen Weltuntergang auszumalen. Ihre Methode nützt sich ab und wird zunehmend unwirksam. Es hat sich als wesentlich geschickter erwiesen, den tödlichen Kometen oder das flammende Schwert eines zor-

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nigen Gottes durch subtilere, vom Menschen beeinflussbare Bedrohungen zu ersetzen. Das Gefährliche an dieser Art der Problemerfinder ist nicht, dass sie uns ein paar Dollar aus der Tasche ziehen. Sie lassen uns in den Himmel starren, während unsere Kinder verdorbenes Wasser trinken, und ihre permanente Warnung vor dem Wolf macht uns unvorsichtig.

Die unsichtbaren Supermärkte I 3 Die unsichtbaren Supermärkte möchte ich dir ganz besonders ans Herz legen. Unsichtbarkeit bedeutet nicht Tarnung, mangelnde Sichtbarkeit, Transparenz oder schwache Präsenz. Die Unsichtbarkeit, die ich meine, hat auch nichts mit Gewöhnung und Selbstverständlichkeit zu tun. Sie bezeichnet viel mehr jene Qualität eines Gebäudes, die über die Sichtbarkeit hinausgeht und sie überstrahlt. Ich empfehle die unsichtbaren Supermärkte, weil sie eine Utopie sind, ein vielleicht unerreichbarer Horizont, eine Perspektive, die alle unsere Träume von der Überwindung der Schwerkraft, vom Schweben und Fliegen, von Geschwindigkeit und Transparenz vereint. Der Neffe eines afrikanischen Medizinmannes, der mir einst auf einer Reise begegnete und dem ich aus einer Verlegenheit half, versprach mir ein Zauberamulett seines Onkels. Ich konnte wählen zwischen einem, das mir zu unüberwindlicher Kraft im Kampf, einem, das mir zu Reichtum verhelfen könnte, und einem, das mich unsichtbar machen würde. Ich wählte das Amulett der Unsichtbarkeit.

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Die Supermärkte und die Theorie I 5 Dort, wo eine zusammenhängende und schlüssige Theorie nicht möglich oder nicht sinnvoll ist, kann der Weg durch das permanente Wechselspiel von Handlung und Kritik bestimmt werden. Architekten und Architekturkritiker bilden so ein paradoxes Gespann. Paradox deshalb, weil der Architekt bei seiner Arbeit nicht an den Kritiker denken darf; er muss so handeln, als gäbe es keine Architekturkritiker. Und der Architekturkritiker darf bei seiner Arbeit nicht in die Rolle eines kritisierenden Architekten verfallen; er darf nicht die Haltung eines Architekten einnehmen, will er nicht jede Relevanz verlieren. Der Kritiker hat die schwierige und wichtige Aufgabe, sein Wissen um Zusammenhänge mit der Unvoreingenommenheit und Naivität eines Kindes zu vereinen, das die Welt so sieht, wie sie ist. Architekturkritik ist deshalb tendenziell weiblich. Der Architekt muss die Kritik zur Kenntnis nehmen und bedenken, aber er darf dem Kritiker nicht gefallen wollen. Die wirksamste Kritik ist pointiert, schonungslos und solidarisch, ohne Macht- und Lehranspruch.

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Die unsichtbaren Supermärkte I 4 Während der Unsichtbarkeit noch das Abenteuerliche und Nützliche der Tarnkappe anhaftet, riecht Verschwinden schon nach Untergang und Tod. Viele Kulturen, so auch deine, klammern sich deshalb an das scheinbar Unvergängliche, an die imposanten Bauten der Gegenwart und längst vergangener Zeiten und an die Mythen und Geschichten von Helden der Geschichte, die zu Lebzeiten oft nur simple Massenmörder waren. Ihnen glaubt ihr eure Zivilisation zu verdanken, und vieles spricht dafür, dass es tatsächlich so ist. Unser Leben als Prärieindianer war stets auf Vergänglichkeit ausgerichtet, darauf möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Nun sind unser Volk und unsere Kultur vom Verschwinden bedroht. Aber unser unaufhaltsames Verschwinden wird einen unsterblichen Mythos nähren, der eure Kultur nachhaltig verändern wird; und er wird sich mit dem verbinden, was auch in eurer Welt mehr Bestand haben wird als das Erbe von Mord und Totschlag: die Beschäftigung mit dem Leben, mit den Sorgen und Nöten der Menschen, mit ihren Sehnsüchten und Träumen. Ihr werdet unsere Tomaten und Kartoffeln, unseren Mais essen und unsere Schokolade wird euch trösten. Auch unser beider Ideen und Erkenntnisse, die wir beim Bau der Supermärkte gewinnen, werden die Bauten überdauern.

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Die unsichtbaren Supermärkte I 5 In Abwandlung eines weisen Spruches aus einem anderen Zusammenhang und als Prärieindianer möchte ich behaupten, dass ein Gebäude schon sehr gut sein muss, um besser zu sein als gar kein Gebäude. Andererseits muss ich einräumen, dass die Realität eher dem Wahlspruch „besser ein schlechtes Gebäude als gar kein Gebäude" folgt. Mein Anspruch ist jener eines Nomaden und jener der Architektur. Der Architekt muss sich stets die harte Frage stellen, ob das Gebäude, an dem er arbeitet, es wert ist gebaut zu werden. Ich meine dies nicht in einem abgehobenen, elitären Sinn. Es geht darum, knappe Lebenszeit in etwas zu investieren, das mehr sein soll als Broterwerb. Es ist möglich, dem einen oder dem anderen Motto zu folgen; aber es ist eine Illusion, beiden folgen zu können. Wer sich als Meister des falschen Kompromisses beweist, von dem werden schnell nur mehr faule Kompromisse verlangt und die Welt wird voll mit verständnislosen Auftraggebern sein, die keine Architektur wollen. Die einzige Verteidigungsstrategie dagegen ist, Aufträge abzulehnen und eher den Beruf zu wechseln und nicht zu bauen, als sich auf den falschen Weg zu begeben. „Dir als Indianer mag die Attitüde des Unsichtbaren, des Vergänglichen und des Verzichts entsprechen. Doch in meiner Welt besteht diese Wahlmöglichkeit nicht wirklich und auch das Leben kennt keine Leerstellen. Wo der eine zurückweicht, stößt der andere vor." Cody gab sich härter, als er tatsächlich war. Er war in seinen Entscheidungen bedächtig und ließ sich prinzipiell nicht unter Druck setzen. Er konnte

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auch das Geben und Nehmen des Lebens akzeptieren. Und auch er hatte sich zu eigen gemacht, in der Wahl der Mittel Vorsicht walten zu lassen und etwas nicht um jeden Preis zu erzwingen. Doch die ihn näher kannten, wussten um seine Beharrlichkeit, mit der er in seiner zurückhaltenden Weise doch stets bekam, was er wollte. In diesem Charakterzug waren sich Cody und Sitting Bull ähnlich. Beim Scout war es die gesicherte materielle Basis, die seine Gier zügelte und ihn verzichten ließ, wenn ihm der Preis zu hoch erschien. Manchmal war sein Verzicht auch nur Taktik, um den Preis zu drücken. Beim Indianer als Nomade und Habenichts war die Bedürfnislosigkeit der Garant für größtmögliche Freiheit und Unabhängigkeit. Seine Autonomie war reflexartig, fast autistisch und beschämte nur allzu oft jene, die er liebte. Wenn Buffalo Bill und Tatanka Yotanka sich in ihren Gesprächen von den Supermärkten entfernen, kreist ihr Dialog um Allgemeines und Grundsätzliches: „Es ist nicht notwendig, ein Ziel zu verfolgen. Es genügt, den Kreis des Lebens im Auge zu behalten und zu versuchen, jeden Augenblick aufmerksam zu sein und voll und ganz das zu tun, was gerade getan werden muss", sagte Tatanka bei einer dieser Abschweifungen. „Was heißt den Kreis des Lebens im Auge behalten? Du kommst nicht umhin, eine Wahl zu treffen, wenn du nicht willst, dass andere sie für dich treffen", entgegnete Buffalo Bill. Tatanka: „Wenn die Wahl treffen heißt einem vorgefassten Lebensplan zu folgen, dann kann diese Wahl nur falsch sein, einerlei ob du selbst oder andere sie für dich treffen. Bedeutet Wahl aber das Erkennen des eigenen Weges, dann

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muss sie in jedem Augenblick getroffen werden und gleicht dem Blick auf einen Berg, der umwandert werden soll. Bei seiner Wahl allzu weit nach vorn zu schauen verwirrt genauso wie der sehnsüchtige Blick zurück. Das Leben kann nur vorwärts gehen und es lässt sich weder treiben noch bremsen; und es ist endlich." „Wahrscheinlich ist es diese unausweichliche Endlichkeit, die unser Leben mehr bestimmt als alles andere. In diesem Blick auf das Ende unterscheiden sich Religionen und Kulturen; du hast die Wahl zwischen großen und sehr unterschiedlichen Vorstellungen über den Tod; und doch bleibt er eine höchst persönliche Angelegenheit. Niemand kann dir die Auseinandersetzung mit deiner Sterblichkeit abnehmen. Kann angesichts der Endlichkeit des Lebens noch irgendetwas von Bedeutung sein?", fragte Cody mit sentimentalem Unterton. Tatanka: „Der Tod mahnt uns, die Zeit zu nutzen; er erinnert uns in jedem Augenblick an die Kostbarkeit des Lebens. In jungen Jahren scheint er in weiter Ferne, doch er steht stets links hinter dir und kann dir in jedem Augenblick seine Hand auf die Schulter legen als Zeichen, ohne Widerrede Abschied zu nehmen. Und erst wenn du damit zu leben gelernt hast, wird dir der Sinn des Lebens dämmern, und erst dann kannst du den Stellenwert deines Tuns ermessen." Buffalo Bill: „Dann kann der Supermarkt zur Welt werden, und die Welt zum Supermarkt!"

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