Bruch und Kontinuität: Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte 9783050071336, 9783050027852


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German Pages 258 [260] Year 1995

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Sinnsuchende Überlegungen
Eigentlich ist nichts profan - Bruch und Kontinuität
Wem gehört das Andenken der Shoa?
Four Ways of Holocaust Denial
Ideengeschichtliche Hintergründe
Zum Begriff der Heiligkeit im modernen jüdischen Denken
Wissen wir noch nicht, "was aus der Bibel zu lernen ist"?
Raum und Zeit als Ordnungselemente im Neuplatonismus und in der Kabbalah
Die Wahrheit der Wissenschaft: "Deutsche und Jüdische Physik"
Philosophische Implikationen
Memory and Perspective in Husserl
Kontinuität und Bruch im Denken Walter Benjamins
Hannah Arendt
"Judentum und Sozialismus"
Die Rache der Sprache
Literarische Zeugnisse
"Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr"
Ungehörte Stimmen
Die unfaßbare Gewißheit
Psychoanalytische Ausbrüche
Gabe - Wiedergabe - Herausgabe
Rund um die Uhr
Personenregister
Über die Autoren
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Bruch und Kontinuität: Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte
 9783050071336, 9783050027852

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Bruch und Kontinuität

Bruch und Kontinuität Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte Herausgegeben von Eveline Goodman-Thau und Michael Daxner

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Oldenburgischen Landesbank A G und der Stiftung zur Förderung der Philosophie.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bruch und Kontinuität: jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte / hrsg. von Eveline Goodman-Thau und Michael Daxner. - Berlin : Akad. Verl., 1995 ISBN 3-05-002785-1 NE: Goodman-Thau, Eveline [Hrsg.]

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Lektorat: Helmar Kreysig Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

7

Sinnsuchende Überlegungen Rudolf zur Lippe / Eveline Goodman-Thau Eigentlich ist nichts profan - Bruch und Kontinuität

15

Michael Daxner Wem gehört das Andenken der Shoa?

31

Joseph Dan Four Ways of Holocaust Denial

39

Ideengeschichtliche Hintergründe Rivka Horwitz Zum Begriff der Heiligkeit im modernen jüdischen Denken

49

Horst Folkers Wissen wir noch nicht, "was aus der Bibel zu lernen ist"?

71

Wolf gang Neuser Raum und Zeit als Ordnungselemente im Neuplatonismus und in der Kabbalah

93

Regine Kather Die Wahrheit der Wissenschaft: "Deutsche und Jüdische Physik"

103

Philosophische Implikationen Gabriel Motzkin Memory and Perspective in Husserl

121

Hans Heinz Holz Kontinuität und Bruch im Denken Walter Benjamins

129

Ingeborg Nordmann Hannah Arendt Tradition als Bruchstück

141

Hansgeorg Schmidt-Bergmann "Judentum und Sozialismus" Über Kontinuität und Bruch in Gustav Landauers anarchistischem Denken . . . .

151

Wolf gang Müller-Funk Die Rache der Sprache Wittgenstein als (unfreiwilliger) Essayist

163

Literarische Zeugnisse Eveline Goodman-Thau "Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr" Edmond Jabes im Schiffbruch des Buches

177

Eva M. Schulz-Jander Ungehörte Stimmen Zu Gertrud Kolmars Das Wort der Stummen

205

Alfred Paffenholz Die unfaßbare Gewißheit Manes Sperbers Judesein

221

Psychoanalytische Ausbrüche Edith Seifert Gabe - Wiedergabe - Herausgabe Eine Kritik an der Psychoanalyse Rudolf Heinz Rund um die Uhr Gedanken zu Kontinuität und Bruch in Schlafen, Träumen sowie Wachen

231

....

243

Personenregister

249

Über die Autoren

254

Vorwort

"An uns übt Gott zerbrechen"

Nelly Sachs

Bei einer Reflexion über den Ort des jüdischen Denkens im Abendland sind Metaphern, die "Bruch und Kontinuität" betreffen einerseits wichtig, um die Signaturen dieses Ortes zu konturieren, doch zugleich sind sie Merkmale dieses undefinierbaren Ortes selbst. Sie entstammen jener historischen Tatsache, die als die Vernichtung des europäischen Judentums in die Geschichte unserer Generation eingeschrieben ist. Eingeschrieben sind die Metaphern in den Herkunftsort ihrer verloren gegangenen Geschichte und weisen zugleich als Beschreibungsgrößen über ihren Untergang hinaus. Der Widerspruch, der zwischen den beiden Größen "Bruch" und "Kontinuität" wieder spricht, erlaubt eine Brücke zu bauen über den Abgrund, über den kein Gespräch möglich ist. Im Blick auf die kontinuierliche Zeit heißt dies, eine Möglichkeit zu schaffen, die Pflöcke des Zeltes aufs neue mit einem Seil zu überspannen, unter dem erneuert Tradition sich entfalten kann. In diesem Sinne ist es wichtig, Nutzen und Nachteil der Historie als feste Anhaltspunkte kritisch zu betrachten, jedoch wäre es verfehlt, die Zukunft fortzuschreiben oder idealistisch zu betrachten. Durch eine solche kritische Betrachtung werden Gegenwart und Zukunft zu einer Indikation des erinnerten Gedächtnisses, das in seiner Brüchigkeit ein Kontinuum in der Zeit aufspannt. Raum und Zeit gewinnen so eine Dimension der Offenheit, in der Gegensätze nicht aufgehoben werden, sondern sich fruchtbar begegnen. Der vorliegende Band dokumentiert die Vorträge eines Kolloquiums zum Thema Bruch und Kontinuität, Jüdisches Denken in der Europäischen Geistesgeschichte, das vom 1. bis 3. Juli 1994 in Zusammenarbeit mit den Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit und der Universität Oldenburg stattfand. Die Diskussion wurde erweitert durch Beiträge von Forschern aus Israel, die im Sinne der vorgegebenen Thematik eine Kontinuität darstellen und die Einbettung des jüdischen Denkens im Abendland auch als lebendige Tatsache deutlich machen. Wie im ersten Band im Rahmen des Projektes Jüdisches Denken in der Europäischen Geistesgeschichte, der dem Thema Messianismus zwischen Mythos und Macht (Berlin 1994) gewidmet war, begegnen sich hier verschiedene Ansätze und Formen der wissenschaftlichen Reflexion. Sie zeigen eine breite Tragweite der Fragestellung wie auch den Verzicht auf eine festgelegte Methode der Annäherung, wodurch die Vielfalt der gegen-

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Vorwort

wältigen Diskussion in den Geisteswissenschaften widergespiegelt wird. Dies erlaubt eine Vertiefung des Verstehens im bewußten Bruch mit gängigen Denkgewohnheiten. "Bruch" und "Kontinuität", nicht als dialektische Begriffe, sondern als poetische Metaphern verstanden, öffnen einen Horizont, in dem die üblichen Unterscheidungen im abendländischen wissenschaftlichen Diskurs zwischen Wissenschaft, Kunst, Religion und Philosophie als geistige Disziplinen aufgehoben und in einander verflochten werden, um das Wissen in seiner Ganzheitlichkeit darzustellen. Die Spannungen, die in Europa zwischen Religion und Philosophie ausgetragen wurden und jetzt im Zusammenbruch der Traditionen, die diesen Kontinent geprägt haben, als Riß ins Auge fallen, machen die Suche nach neuen Denkmöglichkeiten zur Herausforderung. Die Aufgabe, die die denkende Bewältigung unserer politischen, sozialen und vor allem unserer menschlichen Probleme uns stellt, lassen in den Ruinen der sich auflösenden Materie neue Funken aufleuchten. Durch die Gedenkfeierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung Europas vom nationalsozialistischen Würgegriff und die gesellschaftliche Diskussion, die dieses Ereignis in bezug auf Deutschland - sicher auch in seiner wiedervereinten Form - in Europa ausgelöst hat, wird die "Verschiedenheit der Erinnerung", das "Leben von Bruch und Kontinuität" nochmals deutlich, und zeigt, wie die Spuren dieses Ereignisses in alle Bereiche des Lebens eingeschrieben sind und meistens auf Deutung noch immer warten. Keine historische Aufarbeitung der Tatsachen, sei sie noch so gründlich, kann die geistesgeschichtlichen Spuren in den traditionellen Denkmustern auswischen, wenn diese Arbeit nicht begleitet wird von einem Überdenken der Prämissen, auf die die Gesellschaft sich stützt. Erinnerung an sich kann diese Aufgabe nicht übernehmen, wenn nicht zugleich die Frage nach einem glaubwürdigen Ethos gestellt wird, das es erlaubt, die Kontinuität als Bruch, also als Scheitern der Tradition als sicherem Angelpunkt, zu denken und zu gestalten. In der Begegnung von Individuum und Gesellschaft, des einzelnen mit sich selbst und mit seiner Umgebung, findet die Gestaltung von Tradition statt, und es ist möglicherweise das Verdienst der jüdischen Tradition als historischem Phänomen, welches dieses gerade hier in Europa am deutlichsten zeigt. So ist auch der Verlust an Tradition in Europa gekennzeichnet vom Verlust des europäischen Judentums, welches neben dem antiken griechisch-römischen Erbe und dem Christentum das Denken in Europa geprägt hat. Die Erfahrungen, die die Völker Europas am Ende dieses Jahrhunderts machen mußten, sind ein Glied in der Kette, das - trotz oder gerade wegen der damit verbundenen Grausamkeit - unentbehrlich ist, um weiterzuleben und um den kommenden Generationen dies auch in würdiger und richtiger Weise zu ermöglichen. Im Lichte dieser Überlegungen werden in diesem Band Beiträge aus den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Bereichen zusammengetragen, die nicht nur eine historische oder systematische Fragestellung anstreben, sondern den Verlust an Tradition reflektieren, neue Wege des Diskurses suchen und indem sie den Spuren folgen, ein Nach-denken und Nach-dichten versuchen, wo Lernen und Lehren sich abwechselnd befruchten. So entsteht aus den vielfarbigen Steinen des Textkorpus ein Mosaik, welches zwar die alten Steine benutzt, sie aber in einem neuen Gebilde zusammensetzt. Das Lesen dieses Gebildes als Textbild erlaubt einen Durchbruch durch die Ordnungs- und

Vorwort

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Zweckbestimmtheit hindurch, ein Lesen, welches die Gegenwartserfahrung aus dem Kreislauf der Wiederholung erlöst und in etwas über sich Hinausweisendes verwandelt. Durch diese Wahl des freien hermeneutischen Handelns wird eine Verfügbarkeit hergestellt, durch die eine Kontinuität in der Tradition, basierend auf einer Vielfalt der Möglichkeiten, in der die Wirklichkeit sich dem Menschen darbietet, auch dargestellt werden kann. So finden sich neben inner-jüdischen, historische, philosophische, literarische und psychoanalytische Perspektiven beisammen, die das Spektrum unseres Traditionswissens erweitern und grenzüberschreitend zur Sinngebung beitragen können. Allen Beiträge gemeinsam ist die Suche nach einer jüdisch bestimmten Traditionslinie, die im abendländischen Denken aufgedeckt werden soll. Die historische Bedingtheit dieser Tatsache ist in der teilweise christlich geprägten Rezeption der Geistesgeschichte des Judentums auch in unserem Jahrhundert weitgehend vergessen worden. Im Interpretieren der Geschichte liegt jedoch, wie es in jüdischer Tradition heißt, das Geheimnis der Erlösung aus der Geschichte. So zeugen die Beiträge in diesem Band von den besonderen Bedingungen der Suche nach Wahrheit in einer Welt, in der der Wille zur Macht in einer bisher unerdachten Radikalität für das Böse beansprucht wurde und zur Zerstörung, nicht nur des europäischen Judentums, sondern auch der Traditionen, die Europa geprägt haben, geführt hat. Im gemeinsamen Suchen nach Sinn wird die Verknüpfung von Theorie und Praxis, die im Judentum von seinen frühen Anfängen bis zum heutigen Tag in vielen Varianten zutage getreten ist, nochmals deutlich und möglicherweise zur Chiffre, in der jede Erkenntnis an der Praxis geprüft wird; wo jeder Mensch als Einbruch in die Geschichte Kontinuität schafft durch sein nacktes Dasein als Mensch, als Ausnahme die Regel verstärkt, die Normen der Gesellschaft fixiert, die Lebenswelt der nächsten Generation mitbestimmt. In dieser Hinsicht sind wir die Kinder unserer Gedanken, aber auch ihre Eltern. Universitäten gewinnen als Orte der Verständigung über unser Thema eine neue Bedeutung. Noch immer besetzen sie die Begriffe des wissenschaftlichen Diskurses, der sich gerade in den problematischen Feldern der Geschichtsarbeit und der zukünftigen Ethik mit einer Medienwirklichkeit auseinandersetzen muß, die nicht selten sehr prekäre Formen der künftigen Wissensgesellschaft vorwegnimmt. Die relative Nichtentfremdung akademischen Arbeitens ist aber wichtig, um eine solche Verständigung vor der Unmittelbarkeit von Praxis zu ermöglichen. An der Carl v. Ossietzky Universität wird das Experiment unternommen, "Jüdische Studien" im Korridor zwischen traditioneller Judaistik und jüdischer Theologie anzusiedeln: Als Bestandteil jener allgemeinen Bildung, die sich die europäische Geschichte nicht anders als eine mit Juden, und nach der Shoa: ohne Juden zu vergegenwärtigen hat. Keine Erinnerungswissenschaft und keine Verwissenschaftlichung der Gerüchte über die Juden ist angesagt. Die Interdisziplinarität der Abhandlungen steht in direkter Kontinuität zu der Aufgabe, die die Herausgeber sich im ersten Band gestellt hatten, nämlich die engeren Grenzen der gängigen Forschungsthemen zu erweitern, um den oft verborgenen Spuren des jüdischen Denkens in der europäischen Kultur nachzugehen. Dieses Interesse steht somit im unmittelbaren Zusammenhang mit der gegenwärtigen Debatte in Deutschland

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Vorwort

über den wissenschaftlichen Ort dieses Denkens in der akademischen Landschaft der Geisteswissenschaften. Die Tatsache, daß das europäische Judentum als lebendige geistige Tradition in der Shoa Europas verlorengegangen ist, hat eine Tragweite für die europäische Kultur als Ganzes, weil sie Träger des abendländischen Erbes ist. Das Ausmaß dieses Verlustes greift tief in die Wurzeln dieses Erbes ein und macht die Wiederentdeckungsarbeit schwierig, da die Träger dieser Kultur das Trauma des Verlustes in sich tragen, und daher die eigene Tradition nicht als Quelle der Erneuerung zugänglich ist. So führt das Abbrechen der Tradition zu abgebrochener Identität und Selbstentfremdung. In einem einführenden Teil steht die oben beschriebene Suche nach Sinn im Mittelpunkt, wobei die geschichtlichen Aspekte von Bruch und Kontinuität in der jüdischen und christlichen Kultur verglichen werden. Diese Reflexion über die unterschiedlichen Wege des Tradierens im Abendland führt zu der Frage nach dem Gedenken der Shoa bei Opfern und Tätern und dem Problem der Verarbeitung dieses Traumas innerhalb des Judentums. Die Beiträge im zweiten Abschnitt beschäftigen sich mit den ideengeschichtlichen Hintergründen von Bruch und Kontinuität, wobei die Bedeutung von Heiligkeit und Profanität, die bereits im ersten Teil berührt wurde, vertieft wird in bezug auf den Zusammenhang und den Unterschied zwischen jüdischem und abendländischem Denken. Die Überlegungen zur Idee der Heiligkeit in den Quellen des Judentums und ihr Einfluß auf die moderne jüdische Religionsphilosophie werden erweitert durch einen Beitrag zur hermeneutischen Frage von Text und Kommentar aus christlicher Sicht. So werden diese Traditionslinien auch im Neoplatonismus und der Kabbala unter dem Aspekt von Raum und Zeit bis in die Renaissance verfolgt und vergegenwärtigt durch eine Studie zur Frage des Ethos der modernen Wissenschaft. Der dritte Teil behandelt philosophische Grundfragen der Moderne und Postmoderne unter dem Aspekt von Bruch und Kontinuität. So wird das Thema des Gedächtnisses bei Edmund Husserl, die Frage nach der Geschichte bei Walter Benjamin, die nach der Tradition bei Hannah Arendt, die nach Theorie und Praxis bei Gustav Landauer und die der Sprache bei Ludwig Wittgenstein untersucht, wobei jeweils die jüdischen Motive im Denken dieser Philosophen mitreflektiert werden und zu neuen Einsichten führen. Abschließend werden in einem vierten Abschnitt literarische Zeugnisse von Edmond Jabes, Gertrud Kolmar und Manes Sperber behandelt, in denen die Poetik von Bruch und Kontinuität in der Begegnung mit den Erfahrungen der Shoa zum Ausdruck kommt. Auch hier wird die Verflochtenheit von Judentum und Abendland deutlich wie auch die Schwierigkeit einer systematischen Darstellung dieser Verbindung, die erst in der Beschreibung selbst sichtbar wird. Am Schluß werden die bewußten und unbewußten Aspekte unseres Themas verbunden durch zwei Aufsätze aus dem Bereich der Psychoanalyse, die die Fragestellungen am Anfang dieses Bandes in gewisser Weise wieder aufnehmen. Wenn die symbolische Weitergabe des Bruchs nicht mehr gelingt und im traumlosen Schlaf der Tod wohnt, wird Kontinuität zum unheilbaren Ausbruch, wo kein Austausch mehr möglich ist. Die verdichtete Brüchigkeit dieser Erfahrung könnte jedoch zu einem Ausweg führen, in dem möglicherweise Kontinuität als Bruch seinen Ort hat.

Vorwort

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Die bekannte französische Philosophin Sarah Kofman, die in diesem Jahr freiwillig aus dem Leben geschieden ist, hat die Entscheidung, ihre Autobiographie zu schreiben, vor sich hergeschoben, da sie eigentlich nur die Geschichte eines kleinen jüdischen Mädchens schreiben wollte, das zwischen zwei Welten hin- und hergerissen wurde, und weil sie wußte, daß sie damit ihr "Todesdatum verschieben würde", wie sie 1991 schrieb. "Für mich sind diese Dinge so wichtig, daß ich den Eindruck habe: wenn es gesagt ist, werde ich nichts anderes mehr schreiben können." Ihre Schriften zu wichtigen Trägern und Kritikern der europäischen Kultur, wie Rousseau, Nietzsche und Freud, waren nur Umwege, um sich "einen Namen" zu machen. Ihre Signatur liegt beschlossen in den ersten Sätzen ihrer letzten kleinen Schrift: im Bruch und in der Kontinuität. "Von ihm habe ich nur noch den Füller. Ich habe ihn eines Tages aus der Handtasche meiner Mutter genommen, in der sie ihn mit anderen Andenken an meinen Vater aufbewahrte. Einen Füller, wie es ihn heute nicht mehr gibt, und den man mit Tinte füllen mußte. Ich habe ihn während meiner ganzen Schulzeit benutzt. Er hat mich 'verlassen', bevor ich mich entschließen konnte, ihn aufzugeben. Ich besitze ihn immer noch, er ist mit Klebestreifen geflickt, er liegt vor meinen Augen auf meinem Arbeitstisch und zwingt mich, zu schreiben, zu schreiben. Vielleicht waren meine zahlreichen Bücher Umwege, die notwendig waren, um endlich 'dies' erzählen zu können."1

Wir wollen unseren Dank aussprechen an die Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit für die finanzielle Unterstützung bei der Durchführung des Kolloquiums in Oldenburg und den Mitarbeitern dieses Rahmens, insbesondere Dr. Rüdiger Schmidt, für die liebevolle Vorbereitung und Betreuung. Der Oldenburgischen Landesbank danken wir für die großzügige Förderung des Vorhabens. Herrn Frank Hermenau danken wir für die sorgfältige redaktionelle Durchsicht der Manuskripte und Frau Siggi Rasenberger für die Erstellung der Druckvorlage. Zum Schluß an dieser Stelle noch eine besondere Danksagung an Herrn Helmar Kreysig, den Lektor beim Akademie Verlag, für sein ständiges Interesse an der Thematik dieses Buches. Michael Daxner (Oldenburg)

Eveline Goodman-Thau (Jerusalem/Halle) im Juli 1995

1

Sarah Kofman, Rue Ordener, Rue Labat, Autobiographisches Tübingen 1995 , 9.

Fragment,

Paris 1994, dt. Ausgabe

••

Sinnsuchende Überlegungen

Rudolf zur Lippe / Eveline

Goodman-Thau

Eigentlich ist nichts profan - Bruch und Kontinuität*

Goodman-Thau: Also, unser Thema ist Bruch und Kontinuität - ist das vielleicht für Sie ein anderes Thema? zur Lippe: Ich möchte jedenfalls so anfangen, daß wir nicht den Begriff der Kontinuität voraussetzen. Und deswegen lassen Sie mich bitte zur Grundlage unserer Überlegungen und Bemühungen eine Bemerkung zur Methode machen, die zugleich eine geschichtsphilosophische Behauptung ist: Die gelebte, die geschehene Geschichte machen wir immer vereinfachend und deutend, das heißt mit deutenden Vereinfachungen, zur Geschichte der Geschichtsschreibung und zur Geschichte des Geschichtsbewußtseins. Sie ist jeweils ein Zusammenhang gewesen und durch die Zeiten hin ein Zusammenhang geworden also diachron und synchron - nur unter der Bedingung, daß wir die elementare Bedeutung von Brüchen verschiedenster Modalität als konstitutiv für das begreifen, was wir dann "Zusammenhang" oder "Kontinuität" nennen wollen. Diese Behauptung enthält eine grundlegende Entscheidung. Sie bedeutet, menschliche, und das heißt geschichtliche Existenz immer in Antwort auf Geschehen zu begreifen, das unvorhergesehen und unvorhersehbar ist. Damit wird gesagt, daß eine bestimmte Geschichte, dieses oder jenes Lebens, dieser oder jener Gemeinschaft, nicht ihren Sinn aus sich selbst nehmen kann, sondern ihn durch ihre Antwort auf ein Anderes bestimmt, und das heißt: aus Freiheit. Bruch und Freiheit bedingen insofern einander. Das wiederum bedeutet politisch-kulturell, daß der Bruch mit einem bisher Geltenden, eine Begegnung oder eine Gegenüberstellung, eine Befruchtung durch oder eine Auseinandersetzung mit einem Anderen, in besonderer Weise dem allgemeinen Grundsatz aller Bildung von Zusammenhängen und Kontinuität entspricht. Wenn Geschichte als Zusammenhang in der Zeit und durch die Zeit begriffen werden muß, kommt Bruch nicht prinzipiell von außen, sondern nur tatsächlich, nämlich solange, bis dieser Mensch oder diese Gemeinschaft seine oder ihre Antwort auf die zunächst äußerliche Tatsache zu finden beginnt. Das ist eine geschichtsphilosophische, keine metaphysische Betrachtung; die würde anders aussehen.

*

Ein Zwiegespräch zum Thema Bruch und Kontinuität zwischen Eveline Goodman-Thau und Rudolf zur Lippe am 14. Juni 1995 in Bremen, in der Wohnung von Alfred Paffenholz.

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Rudolf zur Lippe / Eveline

Goodman-Thau

Goodman-Thau: Ja, ich glaube, Sie haben Recht; wenn wir Geschichte als etwas Gegebenes sehen, und sicher als etwas Gegebenes aus abendländischer Sicht, nämlich aus der Sicht, daß es soetwas gibt wie eine Geschichtsschreibung. Unser Thema ist Bruch und Kontinuität gerade im Rahmen von jüdischem Denken in der europäischen Geistesgeschichte. Und wenn wir diese zwei Elemente miteinander verbinden wollen oder auf jeden Fall die Verbindungen suchen wollen, dann müßte man jetzt fragen, ob diese geschichtsphilosophische These, die Sie aufgestellt haben, allgemein ist und ob sie auch für jüdisches Denken zutrifft oder nicht. Ich möchte nicht zuviel analysieren, aber das Folgende sagen: In der jüdischen Geschichte gibt es ganz viele Brüche - geschichtlich gibt es ganz viele Brüche, historisch kann man fast keine Epoche sehen, die nicht schreckliche Brüche hat, angefangen mit der Zerstörung des Tempels. Auch das Tradieren von Überlieferungen war immer sehr schwierig. Jede Gemeinschaft, die sich in einem bestimmten Exil vorgefunden hat, hat ihre eigenen Gebräuche gemacht, und Gebräuche haben mit Bruch natürlich zu tun. Man weiß nicht, was man bekommen hat, aber man muß immer wieder eine Kontinuität schaffen; und die Verschiedenheit der jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora ist überhaupt nicht geprägt von einer Kontinuität, sie ist gerade geprägt von mehreren Brüchen. Aber diese Brüche möchte ich nicht unter demselben Stichwort oder auf dieselbe Weise beschreiben wie Sie, daß es etwas mit Freiheit zu tun hat; es hat etwas zu tun mit dem Drang der Verantwortung, Kontinuität zu schaffen - Kontinuität zu schaffen in einer Situation, die eben mir nicht ganz vorschreibt, wie ich das zu tun habe, die mir aber auch nicht die Freiheit gibt, es ganz aus mir selbst zu gestalten. zur Lippe: Aber die Gestaltung ist die Antwort - in meiner Sprache - , und die Antwort kann nicht ex nihilo sein. Sie wird immer so oder so - und sei es negativ - durch die Geschichte, durch die Tradition bestimmt sein. Also sprechen wir, glaube ich, auf sehr ähnliche Weise vom Gleichen. Ich begreife jetzt natürlich die Brüche, die Sie für die jüdische Geschichte betonen, als die Einbrüche von außen, das Zerbrechen von geschichtlicher Kontinuität, wie sie zu leben gewesen wäre, - hätte sein sollen, wie man es gewollt, gewünscht, gebraucht hätte. Ich wollte zunächst einmal sagen: Es gibt gar keine Möglichkeit, über die wechselseitigen Beziehungen verschiedener Kulturen und Geschichtsgemeinschaften - ich nenne sie Geschichtsgemeinschaften, in jetzt einem engeren Sinne, um sie nicht Völker, Rassen, Konfessionen zu nennen - nachzudenken, wenn Wandel als Störung und Anlaß zu Wandel als Störfaktor betrachtet wird. Es gibt eine Möglichkeit der Wechselbeziehungen überhaupt nur, wenn nicht die einen und die anderen eine absolute Fiktion einer immanenten Kontinuität haben. Wenn nicht in uns selbst die Vorstellung und das Erlebnis des Wandels so lebendig ist, wie es eigentlich jeder Lebensvorgang uns zu begreifen gibt, dann gibt es eben keine Wechselbeziehungen. Ich will darauf hinaus, daß in der abendländischen Geschichte so viele von diesen, und gerade die von der christlichen Seite, aber auch von der Seite schon Roms getragenen, vorgetragenen Einbrüche in die jüdische Geschichte das Resultat der Leugnung dieser inneren Brüchigkeit sind. Die Fiktion

Bruch und Kontinuität

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einer in sich bestimmten Kontinuität, die gerade das Andere ausschließen muß, die ist es, die die £mbrüche in die jüdische Geschichte als ^Hibrüche aus der abendländischen übrigen Geschichte hervorgebracht hat. Das war mein einer Gedanke. Der andere dazu - wenn ich das noch sagen darf - ist der der großen Bewunderung, zunächst einmal geradezu Verwunderung, die ich empfunden habe, als ich kennenlernte, wie Menschen aus der jüdischen Tradition noch in meiner Generation und der, die ich erlebt habe, ich denke besonders an Gershom und Fania Scholem, berichteten, wie 2000 Jahre lang die gläubigen Juden, zum Beispiel in den polnischen Regionen, geistig in dem Lande ihrer Herkunft gelebt haben. Da ist dann etwas gesagt, was Sie eben selber auf andere Weise schon angedeutet haben, indem Sie sagten, Kontinuität ist das, worum es geht. Aber wir haben uns auch schon - glaube ich - verständigt, Kontinuität ist eigentlich geschichtlich erst Kontinuität, wenn wir sie wollen. Wir können sie nur wollen, wenn sie sich nicht über uns wirft, sondern wenn wir uns zu ihr stellen können. Gezwungen zu sein, uns wider allen Einbruch zu ihr zu stellen, ist eine, manchmal vielleicht geradezu ausweglose, Extremsituation, die ich damit noch nicht berührt haben kann. Goodman-Thau: Hier rühren Sie an dem Kern des Problems, nämlich: Was ist Bruch und Kontinuität in der christlichen oder post-christlichen Welt, und was heißt das in der jüdischen Welt? Obwohl ich diese Welten nicht trennen will, sondern nur zum Vergleich einander gegenüberstellen möchte. Wir begegnen etwas, was eigentlich eine sehr tragische Situation ist: Natürlich ist die Begegnung zwischen Kulturen immer eine Begegnung, wo das Eigene im Fremden erkannt wird, wo die eine Kultur die andere befruchtet, manchmal die andere übernimmt, nolens volens ist vielleicht eine Kultur stärker als die andere, und ob es jetzt die Gemeinschaft eines Volkes ist oder eine Glaubensgemeinschaft, sie verändert sich; wir sehen Wandel. Und sehr oft geht das natürlich auch mit Konflikten zusammen oder mit Kriegen, aber das ist, glaube ich, nicht das, was den Sonderfall Judentum und Christentum erklären kann. Das Judentum hat von Anfang an seinen eigenen Glauben nicht für sich halten wollen. Das sehen wir schon bei Paulus. Das Judentum hat also von Anfang an gesagt, dieser Gott, dieser eine Gott - das war natürlich auch ein Durchbruch, ein geistesgeschichtlicher Durchbruch, ein Gott, ein persönlicher Gott, ein Mensch und ein Gott wurden auf einmal wichtig. Und es handelt sich nicht nur um einen Gott, der mir Gebote gibt, sondern um einen Gott, der will, daß ich weiß; nicht wie die griechischen Götter, die ihr Wissen ganz eifersüchtig für sich selbst behalten, nein, hier ist ein Gott, der spricht. Gott spricht und die Welt war. Dann offenbart er sich und sagt: Das und das sollst Du tun. Die Bibel ist jedoch nicht das Buch von dem Gehorsam des Volkes. Es ist eigentlich das Buch, wo erzählt wird, wie Gott scheitert in seinen Geboten. Und das ist natürlich auch sehr lächerlich, wenn man immer wieder liest, daß Gott das Volk zwingt. Gott kann das Volk nicht zwingen, das ist die Geschichte des jüdischen Volkes: daß es immer wieder abtrünnig ist. Aber nachdem man dieses Wissen oder diese Einsicht bekommen hat, wollte man sie dann in die Welt hineintragen. Was dann passiert ist zwischen Judentum und Christentum, ist eine sehr tragische Tatsache. Denn das Christentum hat, nachdem es sich als eine Religion

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Rudolf zur Lippe / Eveline

Goodman-Thau

etabliert hat - meine ich diesen jüdischen Kern, den das Judentum nötig hat, und den jede Kultur nötig hat, um im Wandel alle Brüche und Kontinuitäten auszuhalten, diesen Kern hat das Christentum in Frage gestellt. Und an dem Punkt kann eine Kultur nicht weitermachen. Das heißt, sogar wenn das Christentum das Judentum übernommen hätte, wär das nicht so schrecklich gewesen. Weil dann alle Christen geworden wären und dann wären eben die Brüche und die Kontinuitäten weitergegangen, vielleicht als eine jüdisch-christliche Kultur. Aber sobald eine Kultur ausbricht - aus einer Mutterkultur sagen wir jetzt mal - und dann diese Mutter zerstören will oder diesen Kern in Frage stellt, worauf sie selber beruht - und sie beruht auf diesem Kern - , haben wir den Sonderfall Judentum - Christentum. Und darum ist natürlich auch die jüdische Haltung gegenüber der Diaspora, in der sie sich befindet, die eine feindliche Diaspora ist, anders als jede andere Diaspora. Also man kann jetzt dem Judentum nicht den Vorwurf machen: "Guckt mal, Ihr seid so feindlich, Ihr wollt die anderen Sachen nicht aufnehmen, Ihr behaltet jetzt alles für Euch" oder "Ihr seid nicht offen gegenüber der Welt". Ich meine, man muß an dieser Stelle erstmal zur Kenntnis nehmen, daß hier die Bedrohung nicht nur eine Bedrohung von außen ist, sondern eine Bedrohung, die - wie ich schon sagte - den Kern zerstören will. zur Lippe: Wir beide haben uns bis jetzt implizit unterschiedliche Aufgaben gestellt, und die müßten wir nun vergleichbar zu machen versuchen. Dazu muß ich an mehreren Enden noch einmal darauf antworten. Ich habe zunächst den Versuch gemacht, mit einem grundlegenden Gedanken zu der gesamt-abendländischen Geschichte, die Öffnung zu erreichen dafür, daß überhaupt so etwas wie eine gemeinsame Kontinuität im Wechsel möglich ist - und in der Andersheit. Sie haben die besonderen und eigenen Bedingungen und Antworten der jüdischen Geschichte zum Leitfaden Ihres Gedankens gemacht. Jetzt versuche ich, die beiden noch einmal zu verbinden, und das hat mehrere Seiten natürlich. Einmal meine ich, ist die Frage, wie weit die Christen den Juden ihr eigentlich jüdisches hebräisches Erleben, Leben und Denken hätten lassen können und sollen, eine ganz entscheidende. Sie ist aber gleichzeitig nicht zu trennen - meine ich - davon, daß es eine Voraussetzung in der umgekehrten Richtung gibt, durch die die Christen sich offenbar von - vielleicht nicht von vornherein, weil der Übergang durch das jüdische Christentum gegeben war in der griechischen Welt ohnehin - , aber doch sehr bald die Christen, die das alte Testament sich zu eigen zu machen hatten und zu eigen gemacht haben, auf ihre Weise, erfahren haben, daß die andere Religion - die jüdische - sich aus der Tradition als die "rechtgläubige" verstanden hat. Und an wie vielen Stellen sehen wir, daß die Juden sagen: "Gott, Du bist mit uns im Bunde, sorge dafür, daß unsere Gegner vernichtet werden." Diese Gegner sind inzwischen auch die Christen, wenn wir die Sache ernst nehmen. Und was tun diese Gegner? Sie müssen entweder sich in die Situation derer, die das von sich behaupteten, hineinzusetzen versuchen durch Okkupation. Und ich glaube, dies ist ganz entscheidend das, was die christliche Geschichte immer wieder versucht hat und was sie so vehement und so tragisch und auch so selbstvergessen gemacht hat - gottvergessen sowieso. Oder sie setzen sich davon ab und

Bruch und Kontinuität

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sagen: "Nein, wir nehmen uns das Selbstbewußtsein, eine eigene Beziehung zu diesem Gott zu bekommen". Das wäre ja so schön gewesen. Was hat davorgestanden? Ich möchte, um diesen Gedanken weiterzuführen, einen Einschub machen: Ich glaube, daß es doch deutlich wird; das erweiterte Abendland, das heißt der Zusammenhang von sagen wir mal - dem mittelmeerischen Raum mit den Ländern, die im Norden und im Osten und Westen dazugehören, hat ja noch einen zweiten solchen Konflikt, und das ist der zwischen dem Islam und dem Christentum, der auf ganz ähnliche Weise konstitutiv für die abendländische Geschichte ist. Daraufhin hatte ich meine Überlegung angelegt, wieviel Bruch muß in einer Geschichte selbst sein, um mit dem Einbrechenden oder Aufbrechenden der Begegnung oder der Auseinandersetzung mit dem anderen etwas anfangen zu können, das diese Kontinuität verändert in eine neue Kontinuität? Und nur das wäre überhaupt eine Kontinuität, wie wir alle vom Leben Wissen: Ohne Wandel gibt es gar kein Leben, sondern nur Tod. Die Auseinandersetzung mit dem Islam hat ja relativ spät eingesetzt. Und unsere drei Religionen sind ja, etwa in dem Spanien des Hoch- und Spätmittelalters, zu einer sehr schönen vielpoligen Harmonie vereinigt gewesen. Was dann geschehen ist, ist mir nicht ganz erklärlich. Mit Sicherheit hat jemand wie Mohammed Arkun das richtige Stichwort für den Islam und das Christentum gefunden, die beide als Religionen etatisiert worden sind: also den Machtstrukturen und -interessen einer staatlichen Organisation unterworfen worden und auch dienstbar gemacht worden sind, ihnen aber eben auch angeglichen worden sind. Wenn man diesen Gedanken jetzt hier stehenläßt, kann man vielleicht noch einmal den Punkt wieder aufnehmen, wo ich eben an der zweiten Seite abgebrochen hatte. Da ging es um die Frage: In was für einer Situation haben sich befunden und befinden sich noch heute die Christen, wenn sie sich auf einen Gott beziehen, der eigentlich der Gott einer anderen Religion und einer anderen Geschichtsgemeinschaft ist? Ich meine, daß das, was Sie eben mit dem Begriff des Monotheismus deutlich machten, hier von entscheidender Bedeutung ist, von einer Bedeutung, die wir uns alle überhaupt noch gar nicht angefangen haben klarzumachen in Europa, im Westen. Der Monotheismus ist das, was diese drei, einander bekämpfenden Religionen, und manchmal ja doch auch ergänzenden und verstehenden Religionen, heute wieder gemeinsam haben: Wir alle haben überhaupt noch nicht angefangen zu untersuchen, was an gar nicht primär religiösen, sondern mentalitätsgeschichtlichen, soziologischen, politikwissenschaftlichen Strukturen, vielleicht bis ins Ökonomische hinein, die - ich möchte einmal das Wort wagen Metastasen eines monotheistischen Wahngebildes bewirkt haben. Wo sie denn überall auftreten. Mit dieser kritischen, also wirklich sehr negativen Kennzeichnung meine ich, daß Ihr schöner Gedanke von dem Erkennen eines Einen gebunden war, so wie Sie uns das so wunderbar erklärt haben, daran, daß der Eine mit den Anderen spricht - und sie hört. Das haben Sie immer wieder betont. Aber dieses Hören und Sprechen von diesseits und jenseits der Scheidung des rakia als re-ligio, dieses ist eben die - dann vielleicht in der mystisch-kabbalistischen Tradition fortgeführte - Weisheit. Die Praxis aller anderen hat zu einer Auflösung der Beziehungen in extreme Konfrontationen geführt. Ich will es jetzt abschließen mit dem Hinweis nur darauf, wo mir das also schlagartig klargemacht wurde: Ich las in der Zeitschrift der amerikanischen Akademie der Wissenschaften den Beitrag eines indischen Soziologen, der sich über Europa Fragen stellt und dann

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Rudolf zur Lippe / Eveline

Goodman-Thau

sagt: Ach, das ist es; ich hab mich immer gefragt, warum diese Menschen so eigenartige Ideen und Reaktionen haben: Die sind ja Monotheisten - das muß man eben in Betracht ziehen. Goodman-Thau: Nun haben Sie eine ganze Menge Punkte angeschnitten, und ich will versuchen, einen dieser Punkte zu entwickeln. Es scheint mir, daß ein wichtiger Punkt der Bruch ist, der zwischen Judentum und Christentum stattgefunden hat, und es wäre sinnvoll, mal zu fragen, warum dieser Bruch stattgefunden hat und was die Merkmale dieses Bruches sind. Wir haben am Anfang darüber gesprochen, daß Kulturen einander nötig haben, daß sie dann auf einmal auseinandergehen, daß sie manchmal einander bekämpfen und in welcher Weise sie das tun, das sind alles - möchte ich fast sagen - normale Phänomene. Der Sonderfall von Judentum, Christentum und Islam als monotheistische Religionen, dieser Streit um diesen einen Gott, ist natürlich ein ganz besonderer Fall, aber man sollte auch nicht den Fehler machen, zu sagen, daß das selbe Verhältnis, welches der Islam mit dem Judentum hat, identisch ist mit dem Verhältnis vom Judentum zum Christentum. Bis zum heutigen Tag gibt es große Gremien, die jüdisch-christlichen Dialog und nicht einen Trialog machen, weil man das Gefühl hat, man müßte erst dieses Problem lösen. Jetzt meine ich, daß man bis zum heutigen Tag eine Linie von Alt zu Neu ziehen kann über die Gründe, warum dieser Bruch stattgefunden hat. Monotheismus ist - Sie haben Recht - ein Gott, ein Gott der spricht, ein Gott, der eine Lebensordnung vorschlägt und der den Menschen selber anspricht - in seiner Vernunft, in seiner Weisheit, in seinem Gehorsam oder Nicht-Gehorsam, in allen Bereichen des Lebens. Monotheismus ist also nicht nur ein quantitativer Sprung, er ist ein qualitativer Sprung. Es gibt im Monotheismus keine Bereiche, die Privatbereiche sind. Es gibt keine Bereiche - im Judentum auf jeden Fall die nur profan sind. Darum kann ein Philosoph wie Rosenzweig sagen: "Ich habe über Hegel und den Staat promoviert und ich mache Deutschen Idealismus, auf einmal kann ich nicht weiterphilosophieren und ich finde stattdessen die alten jüdischen Wörter." Nicht: "Ich mache Judentum." Der Stern der Erlösung, sagt er, ist kein jüdisches Buch. Es ist in jüdischen Wörtern geschrieben, aber es ist kein jüdisches Buch. Das heißt also - ob man Philosoph ist, ob man so oder so praktiziert - , es läuft ineinander, es hat miteinander zu tun. Darum war es auch wichtig für den Islam zu sagen, daß ihre Religion die anderen Religionen überholt hat. Der Islam hat sich also in dieser Hinsicht getrennt von der Mutterreligion. Er hat nicht gesagt: "Jetzt muß ich mich noch mit dem Christentum auseinandersetzten oder nochmal mit dem Judentum auseinandersetzen", nein, der Islam war von Anfang an oder mehr oder weniger von Anfang an - emanzipiert. Das ist auch der Grund oder einer der Gründe, warum das Verhältnis zwischen Judentum und Islam sicher in Spanien ein ganz Hervorragendes war und im Grunde bis zum heutigen Tag sein kann, wo aber der politische Konflikt, der jetzt im Nahen Osten entstanden ist, religiöse Übertöne bekommen hat, weil Politik und Religion im Islam verbunden sind. Aber als Religion ist der Islam für das Judentum kein Götzendienst. Das Christentum ist es schon. Weil: Mohammed ist Prophet; Mohammed ist nicht Messias. Er ist nicht Vermittler, er ist nicht ein von Gott Gesandter.

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Und jetzt kommen wir zum wichtigsten Punkt: Was war nun der Bruch? Ich sagte schon: Es ist ein Gott der spricht, es ist ein Gott, der den Menschen anspricht; und das Judentum hat bis zum heutigen Tag gesagt: "Es gibt keinen Vermittler." Ich möchte es jetzt ganz vereinfachen - man kann natürlich sehr ausführlich darüber reden, aber wir wollen die Sachen auf einen Punkt bringen. Weil also das Judentum gesagt hat: "Wir wollen keinen Vermittler" - obwohl es viele Propheten gab, viele Gottesknechte (die Bibel ist voll von "Gottesknechten"; Moses wird z.B. ein "Gottesknecht" genannt) - , war es problematisch, daß in einer bestimmten historischen Situation auf einmal diese religiösen Bilder und diese religiösen Sehnsüchte nach Erlösung, einer Erlösung aus der römischen Herrschaft in dieser Situation sich auf diese Person konzentrierten. Vielleicht nicht durch sein Leben, weil Jesus sicher, wenn man ihn gefragt hätte, Jesus, den Jude: "Bist Du König von Israel? Melech Israel? - König von Israel", gesagt hätte: "Nein, das bin ich nicht." Man muß natürlich sehen, daß es eine historische Situation gab, und diese historische Situation bekommt in der Erinnerung einer Gemeinde eine Bedeutung; und jetzt: Was tut man mit dieser Bedeutung? Diese Bedeutung begegnet anderen Deutungen, anderen Sehnsüchten, anderen Situationen. Und ich meine, der Bruch zwischen Judentum und Christentum hat von Anfang an damit zu tun, daß die Gottesbeziehung in Gefahr war. Und das ist eine Bedrohung von innen. Weil der Monotheismus über Gottesbeziehung redet. Wenn das anders gelebt wird, wenn das verneint wird, ist das gefährlich. Dazu will ich noch etwas hinzufügen. Meine große Frage, die ich immer wieder an das Christentum habe, ist: Warum ist das Judentum für das Christentum eine Bedrohung? Das Christentum ist für das Judentum keine Bedrohung. Aber das Judentum ist für das Christentum eine Bedrohung. Warum? - Das ist meine große Frage. Im zweiten Schritt muß man dann sagen, es geht um drei große Themen, und diese Themen sind bis zum heutigen Tag die Themen in der Postmoderne: die Sprache, die Geschichte und der Mensch. Ich habe vor kurzem im Rahmen der Bremer Vorlesungen einen Vortrag gehalten über "Bruch und Kontinuität" und dort über diese drei Themen gesprochen und sie festgemacht an drei modernen jüdischen Religionsphilosophen: die Sprache - Rosenzweig; die Geschichte - Benjamin; und der Mensch - Levinas. Rosenzweig vor dem Bruch, Benjamin im Bruch - jetzt rede ich über die Gegenwart - und Levinas nach dem Bruch. Rosenzweig und Benjamin waren nicht klassisch-jüdisch geschult, haben aber bestimmte Teile aus dem Judentum aufgenommen, die im Abendland gefehlt haben. Für mich ist das Geschichtsschreibung als messianische Hermeneutik, es heißt Zeit und Ewigkeit zusammendenken. Weil, wenn es um den Menschen geht, und das hat Levinas natürlich nach der Shoa gut verstanden, soll man nicht mehr über Geschichte reden, man soll auch nicht mehr reden über die Sprache, man soll reden über das, was Husserl "Intentionalität" genannt hat. Das menschliche Bewußtsein hat eine Richtung und diese Richtung muß sicher nach der Vernichtung des europäischen Judentums die Frage nach dem Menschen sein. "Der Andere", was heißt das? Und darum möchte ich nochmal zusammenfassend sagen, daß der Konflikt zwischen Judentum und Christentum heute eben nicht mehr auf eine Religionsfrage zu reduzieren ist, es wird eine kulturelle Frage. Es wird eine Frage des Überlebens. Sogar wenn man heute sagt: "Ja, das Christentum hat seine Bedeutung verloren", dann heißt das für Christen oder auch für Post-Christen,

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sie haben eigentlich keine Tradition, auf die sie zurückgreifen können. Die Juden haben das schon. Sogar wenn sie ungläubig sind. Ich hab mal gesagt: "In einer atheistischen Welt kann ich als Jüdin sehr gut leben, nicht in einer gottlosen Welt." zur Lippe: Ja, zunächst vielleicht noch eine Anmerkung. Die Idee, es könne überhaupt irgendetwas Privates, also etwas, das aus dem, was mit der Kultur als dem Raum des Glaubens und der Religion ausgeschlossen ist, geben, ist eben eine moderne Behauptung überhaupt. Aber wie sieht das in den verschiedenen Kulturen aus? Das ist sicher sehr verschieden. Die Fragen, die wir erörtern, versuchen wir ja heute immer unter diesem Leitfaden "Bruch - Kontinuität - Bruch" anzugehen. Wir könnten sie unter ganz anderen Aspekten besprechen, und dann würden wir anders darüber sprechen. Ich versuche, noch einmal einzugehen auf diesen einen Punkt, der mir so außerordentlich wichtig zu sein scheint, und das verdanke ich auch so bewußt sehen zu können, den vielen Begegnungen, die um Sie herum in den Kolloquien und Gesprächen stattgefunden haben, während Sie ihre Vorlesungen bei uns hielten. Ich habe erst da so deutlich verstanden, wie fast versessen die Christen auf die Einheit sind. Kontinuität als Kontinuum - also nicht als zeitliche, sondern als ontologische - , diese Göttlichkeit des Menschen anzustreben, ist offenbar um so größer als Drang und auch unbestimmtes, halb unbewußtes Bedürfnis, je deutlicher auf der anderen Seite eine rationale Trennung zwischen Diesseits und Jenseits gezogen wird. Da kommt natürlich die griechische Philosophie dazwischen. Offenbar ist das miteinander verbunden. Ich will zunächst diese Seite noch einmal deutlicher benennen: Wenn die jüdische Religion sagt, ich will lieber sagen, die jüdische Gläubigkeit weiß, daß es eine unverbrüchliche Verbindung zwischen Gott und Menschen, in der Unterscheidung durch die Scheidung, gibt, als gegenseitige Antwort, dann ist das eine Gewißheit, die auch diese Trennung ertragen läßt. Offenbar fehlt etwas entsprechendes in ausreichendem Maße in der christlichen Religion; denn die Christologien wollen immer darauf hinaus, daß jeder Mensch ein Christus sein kann. Warum eigentlich das? Warum genügt es nicht, mit Christus und zu Gott und von Gott her zu sein? Da wäre eine große Frage, der - glaube ich - unsere Religionsphilosophie noch gar nicht genug nachgegangen ist, weil sie verdeckt war unter der Begeisterung für die Einheit und unter der gleichgroßen Begeisterung für und dem gleichgroßen Leiden durch die Trennung. Die andere Seite ist, daß daraus ja eine Menge Denkstrukturen gefolgt sind, deren religiöser Zusammenhang uns völlig verlorengegangen ist und deswegen nicht bewußt wird. Da, wo wir immer wieder denken: "Aha, das ist doch alles common sense" oder "Das ist doch notwendige Logik." Ich fürchte, daß die Notwendigkeit im Christentum diese Überbrückung so wie im Schnellverfahren herstellen zu müssen, dadurch bedingt ist, daß der christliche Gott, mit den Kirchenvätern beginnend, insbesondere dann durch die Rationalisierung in der Scholastik und erst recht durch die Fortsetzung der Rationalisierung in der Scholastik als Rationalisierung der Aufklärung in ein geradezu topographisches Jenseits verwiesen worden ist. Dazwischen gähnt eine Leere. Eine Leere, die das Abendland nur durch eine Hierarchie wieder irgendwie hat überbrücken können; und das hat natürlich nicht befriedigt. Hierarchien machen aber diejenigen, die nicht anders als in Hierarchien gerade in dem Tiefsten und Höchsten denken können, einerseits

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herrisch gegenüber anderen, weil sie keine andere Zuordnung finden als die der Überund Unterordnung, und gleichzeitig neidisch, weil sie sich immer auch an einem tiefen Platz der Hierarchie wissen. Es sind zwei Formen der Deformation, der Zuordnungsvorstellungen. Ich will nur noch eine Gegenvorstellung erwähnen, um überhaupt deutlich zu machen, daß es etwas anders geben könnte: Die Hindu haben, als die Parsi, also die Nachkommen der zoroastrischen Religionsreformen in Persien nach Indien vertrieben wurden, den Parsi gesagt: "Ihr könnt in diesem Lande leben, aber Ihr könnt nur in diesem Lande leben, wenn ihr etwas mit unserer Religion gemeinsam habt. Ihr könnt Eure Religion leben, aber ihr müßt wenigstens irgendeine unserer Gottheiten mit in das Gebäude Eurer Religion aufnehmen. Das heißt, es muß irgendeine Verwandtschaftsbeziehung geben. Also meine Frage ist: Können wir alle miteinander das? Können das die Juden? Können das die Islamanhänger? Können die Christen das? Und vor allen Dingen, können die fabelhaften modernen Rationalisten es, die ja die Erben der rationalisierten christlichen Hierarchievorstellungen sind? Goodman-Thau: Ja, ich denke, die Antwort ist vielleicht da zu suchen, wo wir über Aufklärung reden. Es geht glaube ich nicht nur um eine Dialektik der Aufklärung, sondern auch darum, gegen was man sich aufklärt. Aufklärung von etwas oder Aufklärung in etwas? Wie schon gesagt, ich habe den Eindruck, daß viele von den modernen Denkern, europäischen Denkern - ob es jetzt Cassirer ist, ob es Husserl ist, Wittgenstein oder Benjamin - sich mit Themen beschäftigt haben, die eine bestimmte Nähe haben zum religiösen Denken. Sie sind in dieser Hinsicht nicht "religiöses Denken", aber sie haben eine Nähe zu religiösen Bereichen; oder sie fragen Fragen, die die Religionen gefragt haben. Ich denke nur an die der Symbolik oder nach der Bedeutung der Sprache, der Bedeutung der Geschichte; und wenn sie die Frage gefragt haben: "Was ist jetzt die Bedeutung von Jesus?", dann glaube ich, daß das Judentum die Trennung zwischen Himmel und Erde im Menschen gesehen hat, in jedem Menschen und nicht in einem Menschen. Und darum ist auch das Judentum dort, wo Geschichte und Biographie sich kreuzen. Und wenn nur die Biographie von einem Menschen wiederholt wird, dann verliert Geschichte ihre Bedeutung, und dann ist es auch nicht mehr möglich, den Bruch wirklich zu leben. Also, wenn der Himmel seine Bedeutung überhaupt verloren hat, dann gibt es keinen Bruch mehr. Der Mensch ist eben Ein-Bruch in den Himmel. Gott ist Ein-Bruch in dieser Erde und in dem Menschen selber liegen diese zwei Probleme auch. Sie liegen da einfach. Auf jeden Fall auf der europäischen Ebene. Ich denke, daß es sehr wichtig ist, auch in diesem Kontext sich zu fragen - vielleicht wäre das eine Frage an Sie - , eine Frage, die nicht genug gestellt wird, und darum haben alle Gedenkfeiern für fünfzig Jahre Auschwitz auch überhaupt keinen Sinn, wenn nicht die Frage in Europa gestellt wird: Was ist der Verlust für Europa? Was ist der Verlust, daß es heute keine Juden mehr in Europa gibt, daß bestimmte Traditionen abgebrochen sind? Die Juden wissen, was sie verloren haben. Aber ich begegne immer wieder - und das ist nicht Unwillen - der Unfähigkeit, das zu benennen, was verloren gegangen ist. Und das ist, glaube ich, die große Frage auch für das Erbe Europas: Was sind die Traditionen, die Europa geprägt haben? Und vielleicht noch etwas: Warum

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beunruhigt mich das? Weil eben das jüdische Denken nicht davon geprägt ist, daß man historische Tatsachen kennt; man will sie lieber vergessen, weil sie zu schrecklich sind, man will auch nicht eine Systematik daraus machen, aber man muß etwas erinnern, so daß man Tradition weitergeben kann. Die Frage, die in der europäischen Wissenschaft bis zum heutigen Tag immer noch fehlt, und das hat mit dem christlichen Erbe zu tun, ist die Frage: "Was hat man bekommen?" und: "Was gibt man weiter?" Wenn man sich vom christlichen Erbe trennen muß durch eine radikale Aufklärung und sagen muß: Dieses Erbe ist ein religiöses Erbe und wir müssen es mit unserer Vernunft, mit unserer Ratio aufklären, dann glaube ich, hat Europa ein Problem: "Wie kreiert es wieder Tradition?" Weil dieser Bruch in Europa nicht auszuhalten ist. Das ist meine Befürchtung. Man könnte sich den modernen Humanismus nicht vorstellen ohne die Propheten. Wir sehen das in dem Problem des Ethik-Unterrichts in den neuen Bundesländern, wo es die Frage ist, ob man Religionsunterricht oder Ethikunterricht machen soll. Ich meine, beides geht zusammen. Man braucht vielleicht keine christliche Tradition wiederzubeleben, aber man muß auf jeden Fall den Schülern erzählen, wo diese Ethik herkommt. Sie kommt nicht aus dem "Judentum", sie kommt von Menschen, die gespürt haben, die nicht abstrakt geglaubt haben, aber die gewußt haben, daß das etwas mit Zwischenmenschlichem zu tun hat. Die Zehn Gebote - es sind eben zehn Gebote - , nur fünf reden über das Verhältnis von Gott und Mensch, die anderen fünf reden über das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch. Beide gehören zusammen, weil eben der Mensch sich nicht imstande weiß, immer das einzuhalten, was da angesprochen wird; und für mich ist Humanismus in erster Linie, was auch in gutem jüdischen Brauch ist, der Friede zwischen Menschen - und die Versöhnung zwischen Menschen kommt vor - die Versöhnung mit Gott. zur Lippe: Ich meine überhaupt, daß sicher die einzige Grundlage für die Antworten oder auch nur die Fragen zwischen uns Menschen die Liebe ist. Und Liebe begegnet immer in etwas dem Anderen und dieses Gemeinsame nennen wir eben Gott oder wie auch immer. Dafür scheint mir bisher kaum eine der Religionen frei zu sein von ihrer kirchlichen etatisierten Geschichte oder von anderen Dogmatisierungen, die immer auch unter Bedrängungen natürlich die Verteidigungsantwort gewesen sind. Es scheint mir aber auch das zu gelten, und zwar gerade, für die Aufklärung, solange wie Aufklärung nur die Verdrängung, nun buchstäblich im doppelten Freudschen und vielleicht Kantischen Sinne, die Rationalisierung ist eines unerkannten kirchlichen Erbes von Beziehungsstrukturen, die in ihrer rationalisierten Form übernommen und nur ihrer religiösen Namen und Bezüge entkleidet worden sind. Sofern Aufklärung diese Form der Verdrängung der eigenen Geschichte ist, hat sie natürlich beigetragen zu einer um so resistenteren Verankerung, Wucherung geradezu dieser Strukturen in unserem Denken und Benehmen, und wird uns nicht loslassen. Das müßte aufgelöst werden. Nun ist meine Frage gerade eine doppelte. Ich hatte ursprünglich in meinem letzten Zusammenhang nach den Bedingungen, die in der Mentalitätsgeschichte, im denkenden Bewußtsein unserer Gemeinschaften gegeben sind und gegeben sein müßten, gefragt. Sie haben geantwortet mit dem Hinweis auf die wirkliche gegenwärtige Geschichtsfrage an uns.

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Diese Frage ist, auch für mich, die wesentliche. Deshalb lassen Sie mich sie in der so allgemeinen Form vermeiden, wie sie nur eine allgemeine und das wäre eine moralisierend abstrakte Antwort bekommen könnte. Dieses Buch, dieses Thema und Ihre ganze Arbeit ist ja diese Frage in so vielen Konkretionen. In dieser Geschichte haben, als ein entscheidendes Moment der abendländischen Geschichte, Menschen der jüdischen Tradition eine doppelte Bedeutung, einen doppelten Anteil - in dieser Geschichte der Aufklärung, meine ich, und nicht nur ihr gegenüber. Sie haben von Walter Benjamin etwa gesprochen, aber auch von Rosenzweig. Ich könnte genausogut an Bloch denken, ich könnte genausogut an Scholem - nicht als Historiker, sondern als Denker in seiner eigenen Weise - , aber auch an Adorno, meinen Lehrer, denken. Immer wenn wir in der neueren Zeit auf die Möglichkeit stoßen, die rationalen Strukturen durchsichtig werden zu lassen als Transparenz auf etwas Wesenhaftes hinter ihnen, dann ist die Frage angebracht: Kommt das nicht aus einer jüdischen Tradition? Sie vermögen offenbar diese, dem Abendland an sich durchaus zugängliche, Dimension jedoch sehr viel öfter noch zu vergegenwärtigen. Mir hat einmal Scholem gesagt, für ihn ist Adornos Negative Dialektik, also in der Behutsamkeit nur des Ausschließenden, damit dann das Wahre übrigbleibt gewissermaßen, in der Formulierung, daß wir mit unseren identifizierenden Begriffen so viel leisten und so behutsam vorgehen müssen wie möglich, um ein Nicht-Identisches dahinter vielleicht aufscheinen zu lassen - das ist dann eben schon ein Benjaminisches Wort - , das sei für ihn die keuscheste Metaphysik. Aber eine ganz andere Metaphysik als die, die erst versucht, aus dem sinnenhaft Erfahrbaren das Göttliche - oder wie immer wir das nennen wollen - auszugrenzen und dann ihm doch mit irgendwelchen Begriffen nachzueilen und dort drüben es noch festzunageln, weil wir es von dort her als Erklärung wieder brauchen, denn wir haben die Dinge getrennt. Wenn das nicht der Fall ist, wenn, ganz anders, ein je Ursprüngliches, nicht von unvordenklichen Zeiten, sondern ein jetzt entspringendes, ereignishaftes Ahnen dieses Nicht-Benennbaren plötzlich auftritt, dann ist so oft eine jüdische Tradition im Spiel. Aber es ist umgekehrt auch so, daß an so vielen Stellen gerade ein jüdischer Autor im Spiele ist, wo die Klärung der Trennungen gewissermaßen zu ihrer äußersten Konsequenz getrieben wird und damit eben auch Trennungen in der Tradition des Erbes dieser rationalisierten kirchlichen Hierarchie-Denkstrukturen weitergetrieben werden. Ich möchte darauf hinaus, daß ich glaube, wir dürfen in diesem Gespräch, für dessen Vertrauen ich einen ganz besonderen Dank Ihnen aussprechen muß, dann doch nicht versäumen zu erwähnen, was mir auch in den Begegnungen mit vielen Menschen um Sie deutlich geworden ist: Wir haben in der europäischen Art, über Juden zu sprechen, immer wieder zu tun mit dem Klischee von dem zersetzenden jüdischen Denken. Ich habe die Idee bekommen, das in einer bestimmten Weise mir zu erklären, nachdem ich gesehen habe, was geschieht, wenn jüdische Menschen laizistisch gewissermaßen werden. Ich habe von Ihnen aufgenommen - und das ist ja ein entscheidender Hintergrund unseres Gespräches über "Bruch und Kontinuität" - die unglaubliche, die grundlegende Bedeutung des Begriffs von der rakia, von der Scheidung der Wasser etwa - schon aus der Schöpfungsgeschichte und überhaupt für die Möglichkeit einer Weltgeschichte zwischen Menschen und Gott. Zu meinem Kummer ist ja dann auch in der jüdischen

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Geschichte, scheint mir, die übrige Schöpfung nicht so furchtbar wichtig. Das haben wir nun leider alle miteinander gemein. Aber darüber brauchen wir jetzt nicht zu klagen. Ich habe begriffen, daß die Betonung der grundlegenden Scheidung zwischen Himmel und Erde von Ihnen mir dargestellt werden kann als gemeint gewissermaßen, als Aufforderung zur Antwort. Sie haben einmal gesagt: Das bedeutet, die Erde soll nicht nur vom Himmel, sondern der Himmel muß auch von der Erde gesehen werden. Dieses einander Antworten, das ist die re-ligio. Daraus wurde mir dann deutlich: Wenn es offenbar den Menschen der jüdischen Geschichtsgemeinschaft, die nicht sich ihrer Glaubensgemeinschaft mehr zurechnen mögen, so unerhört viel schwerer noch ist offenbar, dieses Schicksal zu tragen, als etwa den Laizisten unserer Bekenntnisse, dann muß es damit zusammenhängen, daß das Bewußtsein von der Trennung bleibt und die religio verloren geht. Die Christen, die sich selber so viel dadurch an möglicher Klarheit erschweren, wenn nicht verstellen, daß sie immer diese Einheit suchen, wo also die Unterscheidungen verloren zu gehen drohen, sind als Laizisten nicht in einen so schweren Konflikt geworfen, weil sie nicht den Mangel an der re-ligio ertragen müssen auf dem Grunde eines so bedeutenden Bewußtseins von der Trennung. Ob nicht von daher doch zu erklären ist, daß laizistische Juden tatsächlich in eine Situation der Trennungen geraten, die mit dem völlig unverständigen, dem verständnis-losen Wort vom "zersetzenden jüdischen Geist" auf eine ganz andere Weise getroffen werden könnten und erklären, womit wir es da zu tun haben. Das wäre mir außerordentlich wichtig. Damit wollte ich jetzt noch einmal die beiden Möglichkeiten, die aus dem Judentum, durch seine einzelnen Vertreterinnen und Vertretern mitten unter uns, für uns gegenwärtig erlebbar werden, beziehen auf die gesamte Geschichte, von der wir sprechen, um sie von daher verstehen und neu aufnehmen zu können. Goodman-Thau: Ja, erstens bin ich Ihnen auch sehr dankbar, daß Sie Sätze, die ich gesagt habe, so interpretieren und so auch zum Teil Ihrer eigenen geistigen Ausführungen machen konnten, (zur Lippe: "Das ist mir zu eigen geworden.") Das ist, ich muß fast sagen ein Trost. Es gibt natürlich keinen Trost, aber das ist ein Trost. Und dazu vielleicht noch etwas: Sie haben Recht, Juden sind die Trennung. Es gibt einen jüdischen Satz, der sagt: Am levad jischkon - ein Volk, das allein ist. Das Judentum hat das gewählt, dieses Schicksal, allein zu sein, hat das Judentum gewählt. Und vielleicht ist das auch das Martyrium des Judentums überhaupt. Aber in dieser Trennung, der Position der Trennung, der Position der rakia ist eben der Hintergrund für die ganze Welt. Die rakia ist die Bedingung für die Welt. Und in diesem Sinn möchte ich auch sagen: Der Mensch ist die Bedingung für die Welt. Es gibt keine Welt, es gibt keine Trennung zwischen Himmel und Erde, wenn es keinen Menschen gibt. Und darum hat das Judentum sich gewehrt gegen eine Begrifflichkeit, da es nur in der Trennung zu begreifen ist. Ich möchte es so ausdrücken: Das Judentum ist nicht befindlich, sondern empfindlich. Darum hat es auch viel gelitten, weil es empfindlich ist. Es befindet sich an vielen Orten, aber überall, wo es sich befindet, ist es empfindlich für die Trennung. Durch diese Empfindlichkeit für die Trennung wird es aber verbunden.

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Der ganze Umbruch Europas heute ist so schwierig, weil die Juden der Kitt der Gesellschaft waren. Kitt zwischen Ost und West, Kitt zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen und Denktraditionen, und das ist verlorengegangen. Heute probiert Europa - und das ist also meine Befürchtung sich künstlich zu vereinen, ohne die einzelnen Teile wirklich als Trennung zu sehen. Wenn wir nicht die verschiedenen ethnischen Gruppen, wenn wir nicht die verschiedenen Sprachen, die verschiedenen Nationen als einzelne, als eigenständig sehen können, dann befürchte ich ein Schicksal für Europa, wie es schon in diesem Jahrhundert stattgefunden hat. Und wenn es überhaupt eine Lehre gibt, dann gibt es die Lehre des "Lernen aus der Trennung zusammenzusein". Die Bibel erzählt eben nicht vom Streit zwischen Vater und Sohn, sie erzählt vom Streit zwischen den Brüdern - das ist das schwierigste. Und vielleicht ist auch dieses Gespräch - Sie als Deutscher, ich als Jüdin - ein Stück Trennung und ein Stück Verbindung. zur Lippe: Sie sagen zu Recht, ich als Deutscher, denn ich bin "nicht als Christ Ihnen gegenüber, wie wir beide wissen. Das macht mir manche Dinge schwerer, aber sicher auch viele leichter, vielleicht auch deshalb weil ich etwas über die äußeren Trennungen erfahren habe, die einen Verbindungen in einer anderen Dimension wissen und suchen lassen. Ich möchte gerne auf etwas zu sprechen kommen, das aus unserer Geschichte, glaube ich, bereits auf die gegenwärtige Frage antwortet. Das ist das Tragische, daß es so viele gute Antworten bereits gibt, von denen man nicht mal so viel Kenntnis genommen hat, daß wir unsere Fragen danach ausrichten. Vor zweihundert Jahren stand in Deutschland die Emanzipation des Judentums, wie man gesagt hat, an. Mein Verständnis der Position von Wilhelm von Humboldt, den ich deshalb nenne, weil ich ihn überhaupt für den Vater der besseren Hermeneutik halte, scheint mir zukunftweisend gewesen zu sein. Er hat die Emanzipation durch und als Anpassung und um der Anpassung willen, das stand ja auch noch dahinter, abgelehnt. Er hat Emanzipation als eine organisatorische Ebene verstanden, die in der Korrespondenz mit dem Austausch zwischen verschiedenen, sich unterscheidenden Kulturen vor sich geht. Und zwar deshalb, weil er überhaupt grundsätzlich gemeint hat, daß Verstehen bedeutet, einander mitzuteilen von den unterschiedlichen, den von anderen Seiten her begrenzten Zugängen zu einem Weltverständnis, das wir vielleicht in diesem Austausch zu einem Bewußtsein der Menschheit entfalten können, das aber nicht irgendwo da ist. Und die grundsätzliche hermeneutische Voraussetzung ist - das ist jetzt die philosophische, erkenntnistheoretische Ergänzung zu meiner geschichtsphilosophischen Behauptung - die hermeneutische Grundannahme von Humboldt ist: Keiner weiß. Das sind die beiden Worte, die Hölderlin seinem Gedichttitel der letzten Jahre Heimat hat folgen lassen. Das ganze Gedicht besteht aus den beiden Worten: "Keiner weiß." Das ist die Voraussetzung dafür, daß es Verstehen gibt, weil niemand eine Hierarchie voraussetzt und sich nicht, während eine Verständigung stattfinden soll, in einer Hierarchie dem Anderen gegenüber positionieren will und muß.

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Goodman-Thau: Ich muß da doch etwas dagegensetzen. Die Streitkultur war bei den Rabbinen das Medium, um sich zu verständigen, untereinander und mit Gott. Und da basierte jede Meinung darauf, daß jeder weiß. Und ich möchte sagen, die wirkliche Steigerung ist nicht, daß niemand weiß - das ist schon eine Absprache - , sondern daß zwei Menschen einander gegenübersitzen und jeder weiß, und daß man doch dem anderen den Ort läßt. Das ist, glaube ich, die Utopie. zur Lippe: Diese Utopie ist nur möglich, wenn keiner gegen den anderen behauptet, es besser zu wissen. Infolgedessen sagen diese beiden Formen das gleiche. "Keiner weiß" ist das sokratische Wissen des Nichtwissens. Und deswegen ist dieses Wissen vom Nichtwissen auf beiden Seiten. Es weiß, daß es etwas zu wissen gibt, und hat eine Ahnung, eine erfahrene Ahnung davon. Aber es weiß auch, daß es keine mögliche Beweisführung gibt, dem Anderen dieses aufzuerlegen, sondern im Gegenteil: Nur indem ich von dieser Beweisführung zurücktrete, kann ich überhaupt für die Erfahrung und vielleicht auch die Beweisführung des Anderen, die eine andere ist, ein offenes Ohr bekommen. Und dann wird es auf einen Vergleich ankommen in der Annäherung an etwas, aber nicht in einer Verrechnung eins zu eins. Goodman-Thau: Ja, natürlich haben wir hier wieder die Brücke, weil die Rabbinen sagten auch: Der Streit um des Himmels Willen ist erlaubt, nicht der Streit, um Recht zu haben. Und der Streit um des Himmels Willen ist dann auch ausgetragen worden unter dem Motto Diese und diese sind die Worte des lebendigen Gottes; diese und diese - beide Meinungen. zur Lippe: Also wenn wir die Humboldtsche Position in unsere Geschichte wenigstens überhaupt aufgenommen hätten, dann wären wir natürlich in einer ganz anderen Ausgangslage. Ich meine, es ist kein Zufall, daß zu dieser eben leider so außergewöhnlichen Haltung und dieser deshalb ja auch gescheiterten Position jemand in der Lage war, der sich nur in einem sehr sehr weiten Sinne als Christ verstanden hat. Sie wissen vielleicht, daß in dem Humboldtschen Park beim Schloß Tegel der Friedhof gegenüber den Fenstern der Wohnräume am Ende der großen Wiese liegt und auf der Säule nicht ein Kreuz trägt, sondern die Statue der Hoffnung von Thorvaldsen. Ich meine, Humboldt war eben nicht Monotheist. Und deswegen war es ihm möglich, eine solche Hermeneutik zu begründen. Ich würde denken, daß wir von daher unser ganzes Gespräch bei einer anderen Gelegenheit noch einmal neu führen könnten, indem wir auf die Zwänge der philosophischen Geschichte, immer wieder in Aufteilung zu führen, uns spezialisieren. Also diese merkwürdige Geschichte, die in der Antike mit Aristoteles etwa noch ganz anders aussah, weil das Endliche und das Unendliche zwar einander gegenübergestellt wurden, aber ineinander gewußt wurden. Und damit war verbunden, daß die rationale Erfassung, die Euklidische Vorstellung von Raum, die messende Vorstellung von Zeit ausschließlich Instrumente für den endlichen Aspekt einer gleichzeitig auch unendlich zu betrachtenden

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Welt gelten konnten. Das ist voneinander gelöst worden unter dem Einfluß natürlich wieder des Christentums auf der einen Seite. Aber es muß auch noch andere Einflüsse gegeben haben. Warum der Aristoteles in die mittelalterliche Christenheit so anders zurückgekommen ist, als er in der Antike gedacht gewesen ist, ist für mich noch eine ungelöste Frage. Ich könnte mir vorstellen, daß da unsere gemeinsamen Freunde im Islam auch nicht ganz unschuldig gewesen sind. Wir müßten diese Geschichte genauer untersuchen. Jedenfalls - meine ich - ist doch das Unglück, das bei dem heiligen Augustinus bereits mit Händen zu greifen ist, uns geblieben. Da wird auf der einen Seite über Zeit, um dieses Beispiel zu nennen, als die reine meßbare gesprochen; dann wird Gegenwart zu einer bloßen Denkfigur, einer Membrane zwischen Vergangenheit und Zukunft. Eine Geschichte, in der es keine Gegenwart gibt, ist eine Geschichte der totalen Trennung. Bei Augustinus fällt das nicht so auf, denn das ist ja sowieso alles die unwesentliche Welt, die, gemessen an der Ewigkeit, von untergeordneter Bedeutung ist, aber: Die Ewigkeit ist bei Gott. Die Ewigkeit ist zwar in dem Verhältnis von civitas dei und civitas terrena etwas, das in die gegenwärtige und irdische Welt hineingeht, aber in der Philosophie der Confessiones über die Zeit ist sie es nicht. Die Gegenwart ist nicht das Moment, das in der linearen Zeit den Bruch schafft, durch den Ewigkeit sich mit der gemessenen Zeit zu vermählen und wiederzubegründen vermag. Diese Linie ist dann etwa durch die Kantschen Kategorien der transzendentalen Ästhetik - Zeit als reines Nacheinander, Raum als reines Nebeneinander - zu einem Instrument geworden, das in instrumenteller Hinsicht außerordentlich brauchbar ist, das uns aber vergessen hat lassen, welche ganz anderen Dimensionen damit nicht nur nicht erfaßt, sondern aus dem Bewußtsein verdrängt worden sind. Ich meine, daß diese Geschichte der Trennungen, die im Abendland nicht als Trennungsgeschichte wahrgenommen wurde, die Fiktion von der Kontinuität der Christen ausmacht; und ich fürchte, nicht weniger Juden auch; und ich fürchte, gar nicht weniger Muslime von heute auch. Das ist nämlich der Boden, auf dem Fundamentalismus wächst. Wenn man diese dichotomische Geteiltheit der Welt dann merkt, erschrickt man, und dann rettet man, was man retten kann, indem man hochhält, was übrig ist und das hält man dann so hoch, wie's gar nicht gehört. Wenn wir nicht mit den Überlegungen, die wir heute miteinander führen, gleichzeitig eine Reflexion darauf einleiten, das, was das Abendland als Kontinuität vorherrschend zu betrachten sich angewöhnt hat, gerade als die Geschichte einer - wenn auch ziemlich lückenlosen - Fortsetzung von Trennungen zu begreifen, dann werden wir über unser Thema mit den Menschen gar nicht sprechen können. Goodman-Thau: Ja, ich meine auch, daß, wenn Gegenwart nur als Apokalypse gelebt werden kann, dann gibt es auch wirklich keine Kontinuität, und dieses Gespräch, dieses Zwiegespräch ist vielleicht der Beweis dafür, daß es eine lebendige Gegenwart gibt. zur Lippe: Ich bin so dankbar für das Wort vom Bruch, das damit ja eine solche Reflexion einleitet, und ich bin so dankbar dafür, daß es von Ihnen kommt, denn, wenn wir miteinander

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sprechen, habe ich nicht nur in der Nase, sondern in den Lungen den Geruch des roach von der Blumenschale, die zwischen uns gekreist ist. Goodman-Thau: Ja, Sie meinen diese Schale voll Gewürze mit gutem Duft, der laut der Überlieferung aus dem Paradies stammt, in unserer Abschiedszeremonie des Schabbats, die Havdala - Scheidung - heißt; Havdala, also was Scheidung meint: Scheidung "zwischen Heilig und Profan, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Israel und den Völkern, zwischen dem siebten Tag und den sechs Tagen der Woche", wie es im jüdischen Gebet heißt. zur Lippe: Also doch wieder die Scheidung zwischen dem heiligen Jetzt und dem folgenden Profanen, damit das Heilige dieses Tages nachklingen und übergreifen kann in die profanen Tage, die kommen, weil wir doch wissen: Eigentlich ist nichts profan.

Michael Daxner

Wem gehört das Andenken der Shoa?

Die Frage ist obszön. Ihre einzig sinnvolle Antwort ist: "Niemandem", und ihre geläufige lautet: "Allen". Obszön (A. Bodenheimer) ist sie, weil sie nur rhetorisch ist, und keine Antwort im normalen, alltäglichen, reflektierten Gespräch zuläßt. Aber sie ist wegen der All Verfügbarkeit notwendig zu stellen. Menschen neigen dazu, sich mythischer Daten zu bemächtigen, um in der Gegenwart Legitimationen zu erwirken. Sie befragen ihre/die Vergangenheit, ob sie in der Lage ist, gegenwärtiges Tun zu rechtfertigen. Ein gutes Beispiel ist, wie früheres Unrecht an den Serben heute diesen eine scheinbare historische Begründung und Entschuldigung für ihr barbarisches Tun liefert - und viele lassen sich drauf ein. In diesen Tagen findet der "Gedenkmarathon" seinen Höhepunkt: die Befreiung der Konzentrationslager jährt sich zum 50. Mal und das Ende des Kriegs am 8. Mai. Nicht die runde Zahl ist es, die die unsäglichen Peinlichkeiten allein produziert, sondern ein nichtumkehrbares Ereignis, das die letzten Jahre schon sich anbahnte und nach dem Jahrestag sich fortsetzen wird, beschleunigt, von uns nicht zu beeinflussen: die Verwandlung einer Kultur der Zeitzeugen in eine Erinnerungskultur, soweit es die Vernichtung der Juden durch die Nazis betrifft. Die Täter sterben aus, und Überlebende wie andere Zeugen werden auch nicht mehr lange leben. Ob es dann die Shoa gegeben hat, wird eine Frage des kollektiven Gedächtnisses und der Interpretation von Dokumenten sein. Schon arbeiten viele daran, mit dem Schrecken der Lager umzugehen wie mit der Hermannsschlacht: gab es sie, gab es sie nicht? - sie verwandeln die Tatsachen in Symbole, anders geht es wohl nicht, und wenn diesen Symbolen kein wirkliches Geschehen zugrunde liegt, dann werden Historisierung und Allegorisierung ein wirklich Geschehenes auslöschen. Wie müssen wir es erhalten als Tatsache, wenn wir es erhalten wollen? Ob wir es erhalten wollen und sollen, ist Gegenstand meiner Überlegungen. Wenn Überlebende der Lager von ihren Leiden erzählen, dann stellt sich ein Zwiespalt ein: das Leid des Einzelnen ist mit-leidig begreifbar, spürbar, aber nicht verständlich in seiner millionenfachen Vervielfältigung - das ist die Anmutung eines symbolischen Nachvollzugs, in tausenden Dokumenten entweder aus der Erfahrung wiedergegeben oder künstlerisch verdichtet. Aus der Anmutung wird eine Zumutung: Für die Lebenden wie die Überlebenden ist die Geschichte auch vergangen, traumatisierend oder kalt objektiviert, aber vergangen - sonst wäre die Geschichte nicht erzählbar. Die vielen Varianten der Erzählung des immer Gleichen zeigen schon, wie vielfältig die Über-

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lebensarbeit derer ist, denen die Erinnerungsarbeit zu eigen ist: sie haben ihre Verwandten, ihre Liebsten vielleicht in die Gaskammern gestoßen sehen, einer schneidet seiner Mutter noch die Haare und sagt ihr nicht, was sie erwartet ("Shoah" von Lanzmann), oder sie waren gar nicht mehr fähig zu begreifen, daß und wie sie überlebt hatten und reflektieren den nie abschließbaren Heilungsprozeß, ihre Rückverwandlung in Menschen. Gehört ihnen das Denken oder übergeben sie es uns und den später Nachgeborenen, weil sie sich seiner entledigen wollen? Vielleicht ist das "Sagen-Müssen" der notwendige Weg von der persönlichen Erinnerung zum persönlichen Vergessen - ist es nicht verständlich, daß gerade die Betroffenen vergessen wollen, aber nur dann sich dieser Erleichterung annähern können, wenn und indem sie die Erinnerung an andere übergeben? Das "Sagen" ist wieder eine von Bodenheimers Perspektiven, wo fragen nichts mehr in Frage stellt. Sagen-Müssen, das kann eine Transformation bedeuten, weil das Erinnerte nicht naturalistisch wiedergegeben werden kann. Die Einheit des Ortes und der Zeit wird aufgelöst, die Dramaturgie der Erzählung wird Teil ihrer Wahrheit. Wann immer aufgerufen wird, nur ja nicht und nimmer zu vergessen, schwingt eine vage Hoffnung mit, man könne vergessen, und am besten wäre der Schlußstrich unter das quälende Gedächtnis zu Lebzeiten. Aber wer sind wir, den Überlebenden zu verbieten, selbst nicht mehr denken zu wollen, was sich nicht verstehen läßt? Der Erinnerungs-Zwang kann das Gedächtnis so betrügen, wie der Anti-Faschismus der DDR den Anti-Faschismus des wirklichen Widerstandes gegen die Nazis. Und trotzdem erinnerte die Farce an diesen wirklichen Widerstand, und das Gedächtnis kommt nicht zur Ruhe, bis es sich von dieser Verzerrung befreit hat. Die Trauer um Tote ist etwas ganz natürliches, in vielfältigen Ritualen auch eingeübt um das Leben zu erleichtern. Aber es läßt sich auf das große Sterben nicht übertragen. Das Andenken kann den Erzählenden niemand abnehmen, wir können nur Zuhören, zur Kenntnis nehmen, (Hannah Arendt meinte, wenn dies geschehe, könne man bestenfalls abwarten, was sich weiter entwickle ...) wie eines Schicksals gedacht wird, das in fast allen Überlebenden eine Schuld bewirkt, die "Schuld der Überlebenden": Warum ich - warum wurde ich ausgespart und nicht meine Tochter, meine Mutter, mein Bruder? Das Andenken dieses Leidens ist nur vervielfältigbar, nicht zusammenzufassen. Das Überleben löscht das Leben davor in gewissem Sinn aus, die vielen Biographien und vor allem Autobiographien beschreiben ihr Leben davor als eine unabgeschlossene, trügerische Wirklichkeit, die keine Fortsetzung finden konnte, so "normal" der Lebenslauf nach der Befreiung uns erscheinen mag (oft bewundern wir, was uns mit Schrecken erfüllen müßte: wie kommt so ein Mensch mit seiner Erinnerung zurecht?). Diese Form von Andenken ist nur immer wieder erzählbar und hörbar, sie verfestigt sich nicht, sie ist sozusagen flüssig geblieben, ohne Dauer. Daran machen sich Leugner gerne fest und sagen: es war schrecklich, aber so, wie du erzählst, war es nicht. Diese Kränkung kann nicht wieder gut gemacht werden (sie hat die bittere Ironie von Gottes Frage an Hiob: warst du dabei, als ich die Welt geschaffen habe?), aber sie erlaubt, ein

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anderes Andenken ernst zu nehmen, das der Tat. Die Shoa kommt ja nicht unvermittelt, als Naturkatastrophe. Menschen haben sie angerichtet. Dazu muß man Raul Hilberg lesen1 oder die Recherchen von Jean Claude Pressac2 und die Tagebücher der Lagerkommandanten. Vor jeder Analyse muß man Kenntnis nehmen und zur Kenntnis nehmen, d.h. akzeptieren, es war. Die Differenzierungen des "So" spiegeln vor, daß historische Subjektivität das Leiden differenzieren könnte - es geht aber nicht um Leiden, es geht um Sterben, um ausgelöscht werden. Ich spreche nicht vom Mord oder der Tötung, es handelt sich um Vernichtung von Wesen, die vor ihrem Tod ihrer Menschlichkeit entkleidet wurden. Erst wenn die, die "weniger als Tiere" waren, allen menschlichen Gedächtnisses beraubt waren, ihre Namen zu Nummern geworden waren, wurden sie vernichtet, nicht "getötet", nicht einmal "ermordet" im Sinne des Strafrechts. Es wäre ein Fehler, solche Forschungen als aus der "Sicht der Täter" zu entwerten oder gar eine Affinität zwischen Tätern und Opfern zu konstruieren. Ob wir von "Opfern" sprechen dürfen, will ich bezweifeln. Im Deutschen gibt es keine Differenzierung in "victims" und "sacrifice" wie im Englischen. Wem geopfert? Wer darf, priesterlich, wie sich viele Nazis bis zum Ende gern gesehen hätten, opfern? Darf sich das Opfer auflehnen? Es hat sich mehrheitlich nicht aufgelehnt - wie ist die Minderheit des Widerstandes mit dem Opferbegriff zu verbinden (vgl. die Kontroverse zwischen Arno Lustiger und Raul Hilberg). So wie die Tat jedenfalls keine strafrechtlich zu definierende Handlung (Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung, Notwehr ...) war, sondern Vernichtung, sowenig darf die Affinität zwischen Tätern und Opfern von subjektiven Konstellationen her konstruiert werden. Zunächst: was die Zeitzeugen uns übergeben, impliziert für uns keineswegs den Zwang, diese Erinnerung zu bewahren. Es reicht nicht, wie jeder Dorfhistoriker zu sagen: das war (auch) Geschichte, teilweise unsere Geschichte, sie ist unteilbar, der Holocaust gehört dazu. Wenn wir uns erinnern wollen und das Gedächtnis für unsere Nachkommen aufbewahren wollen, dann braucht das mehr Gründe als unsere noch so aufrichtige Betroffenheit - aber wovon sind wir betroffen? Wir können sagen: die Erinnerung dessen, was tatsächlich geschehen ist, zwingt uns die Frage nach den Menschen als Gattung, als vernunftbegabte Wesen, als Ebenbilder Gottes auf - und diesen Fragen uns zu stellen kann verhindern, daß sich wiederholt, was geschehen ist. Wir können moralisch hoffen, daß die Erinnerung erzieherischen oder versittlichenden Wert hat, wenn die Texte des Leidens dazu beitragen, dürfen wir sie instrumentalisieren. Je nachdem wie unsere Antworten ausfallen, geben sie schon Hinweise darauf, wem das Andenken der Shoa zugehört, unsere Motive sind nicht gleichgültig. Gerade in diesen Tagen stehen viele an den Gedenkstätten, die die öffentlich bekundete Trauer auch benutzen, um uns milde zu stimmen, wenn sie Asylbewerber ausweisen 1

Raul Hilberg, Die Vernichtung der Europäischen Juden, 1961.

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Jean Claude Pressac, Die Krematorien von Auschwitz, München 1995.

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und in den Tod schicken oder wenn sie ihre Betrübtheit auf alle Opfer von Gewalt so gleichmäßig ausstreuen, daß die Frage nach der Tat irrelevant wird. Die Erinnerungskultur bewirkt zunächst, daß jedenfalls in Deutschland alle Geschichtsinterpretation "Auschwitz" als einen allegorischen Ort der Unteilbarkeit von Geschichte haben wird, und der Umgang mit diesem Symbol wird Gegenstand der Politik und Kultur aller nachfolgenden Generationen sein. Wenn wir bei der Pädagogik stehen bleiben, wird bald eine "Sättigung" eintreten, weil es offenbar nicht genügt, zu wiederholen und immer wieder zu zeigen, wie etwas geschah, von dem alle fragen, wie es geschehen konnte. Über die Erziehung hinauszugehen, ist aber schwierig. Zu Beginn dieser Ausführungen habe ich darauf hingewiesen, daß das persönliche Gedächtnis auch seine künstlerische Form finden kann. Es gibt Kontroversen, ob "man das überhaupt darf". Auf diese gehe ich nicht ein, weil es keiner Legitimation für das Gedicht nach und über Auschwitz bedarf, nur unbefangen werden Werk und Rezension nicht sein können. Jizchak Katzenelsons Poem vom untergegangenen jüdischen Volk oder Zvi Kolitz' Erzählung von Jossei Rakovers Weg zu Gott sind zwei ganz unterschiedliche Beispiele, und gerade die politische Erinnerung an eigenes Leiden hat viele künstlerische Zeugnisse hervorgebracht. Man muß nicht "erlebt" haben, was als Wahrheit zu bezeugen ist. Wenn man sich vorstellt, wie schwierig es für Kolitz war, als Autor des Jossei Rakover akzeptiert zu werden, dann beginnt man zu begreifen, daß es in den Nachgeborenen eine (Sehn)Sucht nach dem Authentischen gibt, als wäre es eine Beruhigung des Gewissens, wenn das Wirkliche auch "erlebt", am besten "gelebt" worden war. Der "Besitz" der Erinnerung gewinnt an Wert gegenüber dem Objekt dieser Erinnerung. Er wird instrumenteil, er rechtfertigt Haltungen und Meinungen, vor allem Abwehr. Ein Kunstwerk bedeutet "Vergegenständlichung", anders als eine Erzählung über sich selbst (die natürlich auch ein Kunstwerk sein kann). Es geht in diesem Andenken immer um Denkmale. Warum sollen die Lager erhalten bleiben? Können sie ausdrücken, was geschah? Und wenn ja, eher, wenn die Baracken restauriert werden und der Weg bis ins Gas anschaulich gemacht wird - oder besser, wenn grüne stille Parkflächen durch Abwesenheit des Anschaulichen Versenkung und unbeeinflußtes Gedächtnis bewirken? Was bewirkt ein Denkmal? Jochen Gerz hat mit seiner immer wieder abgesenkten Stele aus Blei in Hamburg eine Antwort gegeben, heute ist sie schon verschwunden im Erdboden, wir wissen, gut dokumentiert, wie sie jeweils war, alle eingekratzten Inschriften sind dokumentiert. Andere Beispiele sind die Lagerdenkmäler, z.B. das von Dachau. Vom simplen Stacheldraht-Motiv bis zu ausgeklügelten Hypersymboliken findet sich alles, und vieles kämpft um seine Legitimation, aber was geht es die Toten an? Darf jeder sich denken, was er oder sie will, angeregt durch ein Denkmal? Darf es Kunstkritik und die Einführung ästhetischer Kategorien bei der Bewertung der Erinnerung geben? Die Diskussion um das Berliner Holocaust-Denkmal bricht diese Fragen wieder auf. Brauchen wir ein solches Denkmal, zu den vielen Gedenkstätten und Kleindenkmälern und

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Museen? Welchen Bezug hat es zur Hauptstadt, die schon einmal Hauptstadt war, zur "Topographie des Terrors", die dort seit langem ausgestellt ist, zur Entsorgungsstätte deutschen Gewissens an der Schinkelschen Alten Wache ...? 128 Entwürfe wurden gesichtet, 17 hervorgehoben. Ein Künstler schlug vor, alle Entwürfe auszustellen als Denkmal, um die Vielfalt der Zugänge zu dokumentieren. Reicht der Wunsch, "den ermordeten Juden im öffentlichen Gedächtnis der Deutschen einen Ort zu schaffen" und damit auch Versäumnisse der Nachkriegszeit zu mildern?3 In Oldenburg stehen nebeneinander: der Gedenkstein für den "unvergessenen" Ort Leobschütz im Osten; das Denkmal, das an die zerstörte Synagoge erinnert: "Sind wir nicht alle Kinder eines Vaters, was verfolgen wir einander?" Und das neue HolocaustDenkmal, das die Versteinerung des hingemähten jüdischen Volkes symbolisiert. Ist das ein Zeichen von Toleranz, daß wir das alles nebeneinander aushalten und reflektiert auseinanderhalten können? Wir verfolgen nicht einander, die Juden haben die Deutschen nicht verfolgt und vernichtet, es sind nicht alle immer auch Opfer, wie Helmut Kohl noch an den SS-Gräbern in Bitburg behauptete, und das Kriegergedenken am 8. Mai kann die Wehrmacht nicht von ihrem Beitrag an der Judenvernichtung freisprechen, wie das Herr Dregger und seine Spießgesellen gerne möchten. An diesem Beispiel kann deutlich gemacht werden, daß das Andenken an die Shoa zunächst von uns Arbeit verlangt, nicht nur Trauerarbeit. Es wird uns in dem Maß gehören, in dem wir ein Wissen auf uns nehmen, das uns nicht in Ruhe läßt, aber auch nicht zu demonstrativen Verhaltensweisen zwingt, die falsche Stellvertretungen symbolisieren. Von der Shoa wissen wir, sie war die gewollte, geplante, industriell ins Werk gesetzte Vernichtung der europäischen Juden. Erinnerung neigt dazu, Sinnfragen zu stellen. Welchen Sinn die Shoa für die Nazis und ihr Publikum machte, ist wichtig zu erforschen, für die Gestaltung künftiger Politik, für das Andenken der Shoa hat es wenig Bedeutung. Deshalb macht es einen Unterschied, ob wir, wie Hilberg oder Pressac, die Vollzüge der Vernichtung beschreiben oder uns in die Täterpsyche eingraben, um über Motiverforschung doch noch Entlastung zu erhalten oder gar eine Affinität von Tätern und Opfern zu konstruieren. Allerdings ist es wichtig zu wissen, daß führende Nazis ihr Vernichtungswerk nicht einfach aus Antisemitismus heraus vollbracht haben. Allerdings ist es wichtig zu wissen, wie leichtfertig die Vorgeschichte der Nazis in Kauf genommen wurde. Aber nicht für Auschwitz, nicht für die Überlebenden schlechthin, nicht für künftige Generationen. Die Aneignung der Shoa hat drei besonders bedenkliche Sinngebungsversuche, die ich ablehne und zugleich zu verstehen mich bemühe:

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Müller u. Lautenschläger, taz vom 12.04.1995.

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Die Erhabenheit, die in der gefrorenen Trauerpose huttragender Politiker und klagender Musik ihren Ausdruck findet: sozusagen einen immer wiederholbaren Volkstrauertag für die Juden und alle anderen Opfer des Nazismus zu begehen, der Welt zu beweisen, wie die Unfähigkeit zu trauern überwunden wurde. Erhaben war das Sterben durch die große Zahl, das Unaussprechliche, geben diese Trauernden vor und verwandeln die Singularität des Ereignisses in eine Beruhigung, daß die Menschen zu anderen Untaten, Massenmorden und Vernichtungsfeldzügen zwar fähig sind, aber doch korrigierbar. Etwas vom kalten Pathos der Nürnberger Parteitage weht da über die Gedenkstätten, und man flüstert. Man flüstert und nennt "es" zurecht "Es", weil man es unaussprechlich nennt. Die Erhabenheit großen Sterbens, am kühlsten bei Ernst Jünger zusammengeschrieben, kann auf jeden Umschlag der Qualität in Quantität übertragen werden. Sie entzieht die Geschichte der politischen und der moralischen Wertung und reduziert sie auf eine Ästhetik der unüberschaubaren Form. Sie gibt ihr etwas "Naturhaftes", dem wir uns vielleicht schaudernd - unterwerfen, aber was hat es mit uns zu tun? Die theologische Sinngebung, wie sie auch eine Gruppe orthodoxer Juden versucht und wie sie jeder Teleologie entgegenkommt: Auschwitz war die letzte Antwort auf das sündige Leben der Juden, christlich würde man sagen, sie war ein für uns unbegreiflicher Teil eines göttlichen Heilsplans und einer unfaßbaren Gerechtigkeit. Ich halte diesen Versuch für blasphemisch, aber er scheint höchst gefährlich eine besonders widerständige Form der Akzeptanz zu bewirken. Gott für das Geschehen, irgendein Geschehen, in Anspruch zu nehmen, ist eine Rückwendung zu einem Animismus, bei dem Moral "nachgeholt" wird. Trost kann aus solcher Theodizee nicht werden. Die Sinngebung aus dem Widerstand heraus ist eine Spielart, die sich an Schindlers Liste und der Auseinandersetzung zwischen Hilberg und Arno Lustiger wieder entzündet hat. Letzterer hat die Zeugnisse des jüdischen Widerstandes gesammelt wie keiner vor ihm, um zu beweisen, daß die Vernichtung jedenfalls nicht einfach das Produkt eines passiven Sich-Abschlachtenlassens war. Die Wut über die Passivität, wie sie Biermann ganz stark in Übersetzung und Vortrag von Katzenelsons Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk ausdrückt, ist verständlich und nachvollziehbar. Sie macht Sinn für unsere Lebensgestaltung, aber sie trifft kein früheres Subjekt. Anders als bei den Tätern können wir nicht einfach sagen: sie hätten sich besser nicht so oder so verhalten; allenfalls: es wäre besser gewesen, sie hätten sich anders verhalten - aber die letzte Empirie, über das Sinnlose zu urteilen, gibt es nicht. Der Widerstand gerät leicht zur Metapher der Überlebenden, da allerdings kann er sehr wertvoll sein, unser Leben zu gestalten, angefangen bei der Zivilcourage. Das Gedächtnis gehört auch nicht dem Staat Israel, dem Besucher-Muß von Yad-Vashem. Tom Segev hat das mit kaltem und gerechten Blick dokumentiert, 4 auch Juden können nicht nachvollziehen, was den Juden in der Shoa widerfuhr, und die Reduktion auf Märtyrertum oder politische Voraussetzungen für den Staat ist zu eng. Wie damit 4 Tom Segev, Die siebte Million, Reinbek 1995.

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im Erez Israel umzugehen wäre, kann uns vielleicht ein Film wie Balagan (André Veiel) zeigen: Geschichte kann ihre gegenwärtigen Brüche nur produktiv verarbeiten lassen, wenn ihre vergangenen Grundlagen auch ins Leben hineingenommen werden. Was sagen wir unseren Kindern? Wie gehen wir mit den Traumata der Nachkommen von Überlebenden um, mit denen, die nichts wissen wollen und können, wie mit den Wiedergängern der Täter, die sich gar nicht als solche fühlen, weil sie ja nicht töten? Die Erinnerung ist kein Wert an sich. Die Abwesenheit Gottes in der Shoa ist keine theologische Alltagsdiskussion. Es ist nicht möglich, über die Verwaltung des Gedächtnisses Zukunft zu gestalten. Aber darum geht es: Leben, um jeden Preis. Wenn es etwas "jüdisches" gibt, dann dies. Die Erinnerung kann ihren Wert erst erhalten, wenn die Eigentumsfrage negativ gelöst ist. Es ist schon richtig, daß alle Politik und Kultur darauf gerichtet sein soll, daß sich Auschwitz nicht mehr ereigne (Adorno), aber daß es sich ereignen kann und daß viele Aspekte menschlicher Fähigkeiten zur Vernichtung wie die Splitter des bösen Spiegels (Andersens Schneekönigin) sich weltweit verbreiten, wissen wir. Das Andenken gehört immer mir und dir, aber nicht als Besitz, sondern zur Gestaltung einer einzigen Bewußtheit: was wir vergessen lernen müssen, um uns erinnern zu dürfen - und was wir erinnern, besser: wissen müssen, um beim Vergessen zu helfen. Mit Versöhnung hat das nichts zu tun. Die Shoa kann bestenfalls zur Einwilligung in die Haftungsgemeinschaft bei den Deutschen führen, in die Trost-Losigkeit bei den Juden. Ein letztes Mal Bodenheimer: nur aus solcher Trostlosigkeit kann Trost und Heilung kommen. Wer noch Trost besitzt, ist noch nicht am Ende. Dort muß aber ankommen, wer nicht der Verführung des Besitzes undenkbarer Erinnerung erliegen will. Uns bleibt das Leben, die Zukunft auch unserer Kinder, die "Welt".

Joseph Dan

Four Ways of Holocaust Denial

I As the fiftieth memorial day for the Holocaust has passed, it seems to be in order to examine the current attitudes in western culture towards the memory of that momentous event. No detailed study of contemporary conceptions of the Holocaust has been made, and probably, on such a vast scale, only impressions and subjective selections are possible. Yet it may be important to try to present a comprehensive picture, even though it will be, by necessity, accidental and fragmentary. It is important especially when we realize that in the events commemorating the fiftieth anniversary of the liberation of Europe many of the participants were those who experienced the events directly, and had a living memory of the war and the Holocaust. This will not be the case in ten years and afterwards: the element of direct personal testimony and participation will dwindle very quickly. It is meaningful, therefore, to asses the situation when a turning-point has been reached, when the number of people who remember it diminishes quickly and the number of those who heard about it and read about it increases, and they will be the main carriers of the message in the future. The picture briefly described in the following pages is, of course, fragmentary and incomplete, yet it is sufficient to demonstrate the complexity and the intrisic contraditions which characterise the present situation. There is no doubt that on the one hand there is a marked increase in the awareness of the meaningfulness of the Holocaust, while on the other there is an increase in the attempts to deny it. The main purpose of this essay is to try to categorize the ways of the denial, in western culture in general and in the Jewish contemporary culture in particular. It seems that, on the one hand, the intensity of the memories and the centrality of the recognition of the horrors of the final solution are on the increase. The concept of the uniqueness of the Holocaust in human history is accepted more and more, and expressions of its meaningful ness are to be found in places which previously ignored it. This year, for instance, ceremonies were conducted, for the first time, by the Vatican, by the United States Congress, as well as the White House in Washington. The unequaled success of the film Schindler's List served as a reminder for the human meaning of the Holocaust. When I came to Berlin last year, I counted seventeen cinemas which played it at the same time; this was unthinkable a decade or two ago. Nobody dared to hope that the Holocaust Museum in Washington would draw as much attention as it does. After fifty years, the Holocaust is not receding into the vague fog of the remote, irrelevant past: it is a vivid memory, demanding constant awareness. Whenever a tragedy

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occurs - in Bosnia or in Ruanda - the comparison to the Holocaust is immediately evoked; it still serves as the extreme pole of human evil, unparalleled and unique, a constant reminder of the lowest point ever achieved by human society. Two new developments highlight this process. One is, that the comparison between Nazism and communism, which was heard very often in the last forty years, is fading away. For many years, one of the most common ways to minimize and trivialize the Holocaust was the comparison of Hitler's crimes to those of Stalin. In the last three years it has become evident that this comparison is not accepted by the consciousness of western culture. Communism and Stalin - rightly or wrongly - is being forgiven by contemporary spiritual atmosphere with surprising swiftness. In almost all the countries which used to be the "soviet bloc" in Eastern Europe and Asia communist parties and politicians have become respectable again, competing, often successfully, for leadership. Western communist parties, which seemed to be a ridiculous anachronism a few years ago, are presenting a viable alternative to other political parties. Memories of communist atrocities towards man and towards nature do not seem to be drawing much attention. Stalin and communism have not been identified by contemporary consciousness as supremely evil, as the Nazi regime and its leaders have. With the fall of communism, the Holocaust standes alone as the expression of purest evil. Leaders of the far right side of the political arena, in Italy or France, are constantly confronted with memories of the Nazi past, while ex-communists have been elected to the governments of Poland and Hungary. The second new development is the increasing rate in which the Holocaust is discussed in works of literature, philosophy, history and the social sciences in contexts which are not directly concerned with it. For many years, Holocaust studies were a segregated field, tended by devoted specialists, and it did not seem that they had a relevant and meaningful message for other realms of humanistic studies. The Holocaust was perceived as a unique phenomenon, unconnected and detached from other fields of inquiry, dealing with a subject which is so extreme as to be completely severed from "normal" human affairs. An early expression of this attitude was Jean-Paul Sartre's book on antisemitism, written immediately after the liberation of France in 1944, which did not even mention the Holocaust. A little later, antisemitism became completely identified with the Holocaust, its history serving as an introduction to the study of the Final Solution, the ultimate expression of antisemitism. Today, in an increasing rate, the meaning of the Holocaust penetrates discussions in various fields of psychology and sociology, in philosophical and historical works, and in literary criticism. It is still a trickle, yet the recognition of the universal meaning of this catastrophe as an expression of the depth of human cruelty on the one hand and human suffering on the other is spreading, and we shall hear more and more about it in the future.

II At the same time, a parallel process is becoming more and more influential: the denial of the Holocaust. It is assuming new shapes, becomes more and more sophisticated, and

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its influence is increasing. Surprisingly, some of the new ways in which the Holocaust is denied are developed by Jews, and take hold within Jewish contemporary culture. This phenomenon demands close attention and analysis. The "classical" denial of the Holocaust was - and is - crude, stupid and a direct expression of unmasked antisemitism: The Holocaust never happened. It is a fabrication, fostered by Jews/Zionists/capitalists/communists to achieve their own political-economic ends. The pictures are forgeries, the documents - fabrications, the memoirs - fiction, and so on. This crude presentation is sometimes expressed in a more "moderate" fashion: "there were no six million victims, but only two or four million (which is "reasonable" and "acceptable"); the histories of the Holocaust are "exaggerations", and things "were not really so bad". An even more "moderate" version of the same attitude is the one stating that "a war was going on". There are always atrocities in war. All sides committed such crimes, like the bombing of Dresden. Such things happen always, everywhere: Cambodia, Vietnam, the Armenians. The denial of the Holocaust is essentially the denial of its uniqueness: the Holocaust is conceived as one more example of human standard behaviour in the context of war, and nothing more. Therefore, it has no special meaning or message, should not be remembered in a separate context, and better forgotten, like all other "human mistakes". In all its versions, the antisemitic motive for this attitudes is presented unabashedly, and its influence outside of the circles of dedicated antisemites is limited. While this phenomenon cannot and should not be ignored, and it is often very irritating and even infuriating, its cultural impact on contemporary culture is minimal, and hopefully will stay so. A second way of trivialization and denial of the Holocaust is a purely Jewish one, found in many circles of the Jewish ultraorthodox community (the haredim). Its message is: Throughout history, God punishes, from time to time, Jews because of their transgressions against Him. The first and second Temples were destroyed, the persecutions and massacres during the Crusades and the Black Death, the expulsion from Spain, the Hmelnitzki massacres in Ukraine in 1648/49, the pogroms and upheavals in Eastern Europe before and during the First World War and the Russion revolution - all these are examples of God's punishment. The crimes of the Zionists, the Reformers, the Assimilationists and other sinners in the first half of this century were so great, that God's punishment was inevitable. At most, the Holocaust can be compared to the deluge, the destruction of almost all humanity because of its sins. But one way or another, the Holocaust is a part of cosmic "order", as conceived by God, and Jews should accept their suffering in love, strengthen their faith in God, adhere unreservedly to His commandments, and rejoice at the opportunity to "sanctify the Name", to die for the sake of God. All the vast treasuries of Jewish traditional responses to persecutions and massacres are employed in explaining this event, without adding one new nuance which may distinguish the Holocaust from previous historical events. 1 Some may see in this a "response" to the Holocaust; I can see in it nothing but another way of its denial: if the

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See, for instance, the almost total absence of the subject of the Holocaust in contemporary Hasidism in the detailed description by Jerome R. Mintz; Hasidic People: A Place in their New World, Cambridge (MA): Harvard University Press 1992.

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Holocaust does not require any specific discussion, anything which can relate to its unique character, than it is a part of the regular, "routine", sequence of history, dwarfed and incorporated in the framework of countless other events. It is intended to make the Holocaust disappear among all other events, and absolve the ultra-orthodox rabbis from the need to confront the theological concept of the "God of Auschwitz"; at the same time this "explanation" shifts the responsibility for the Holocaust over to the "sinners", the non-orthodox and especially the Zionists and reform movement, 2 taking no notice of the fact that at the same time the Nazi exterminators are completely absolved: They were nothing but instruments in the hand of God to carry out His historical plan.3 It should be noted, however, that the Hasidic world is not completely comfortable with this attitude; this is recognized by the fact that there is a consisted tendency to hide the subject and avoid it. If there were real confidence in the theological force of this argument, they would not have hesitated in presenting it vigorously. They do so today when they criticize the Zionists and the assimilationists, but within their own world, the subject is muted; it is not part of the school curiculum, and few of their publications intended for internal use are dedicated to it.4 This ultra-orthodox denial of the uniqueness, and therefore the meaning, of the Holocaust is not new: it began immediately after the event in the works of Rabbi Yoel Taitelbaum, the leader of Satmar Hasidism, himself a refugee of the Holocaust who left Hungary by Eichmann's permission in the famous Kastner train, and slowly spread to other Hasidic and non-Hasidic works. Its impact outside of the core of Jewish ultraorthodoxy is limited. It uses traditional Jewish terminology and concepts, and appeals only to people who were educated within the closed doors of contemporary Jewish

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I find it unbelievable to what extent this attitude can be carried to extremes. Three years ago I attended a lecture, on a campus on the East Coast of the United States, on the occasion of the anniversary of Kristallnacht. The lecturer was a well-known Rabbi, orthodox but not ultra-orthodox. He presented the thesis outlined here. One of the students attending criticized him for making the victims the ones responsible to the crime, and I also raised a few points. Several days later I received a letter from him, explaining that he did not recognize me, apologizing for a few mistakes he made, but he added an analogy: if a girl is raped at night, this is a crime which should not be forgiven. But if it was a girl who walked about scantily dressed and behaved provocatively, does she not bear a part of the blame? That is, this Rabbi accused the victims of the Holocaust that their provocative behaviour towards God at least contributed to the tragedy.

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Some of my colleagues, whose work I hold in great esteem, study this attitude under the heading of "orthodox Holocaust theologies". This might be an expression of subjective bias, but it seems to me that there is a limit to a historian's impartiality when studying a subject. A denial, a trivialization, a shifting of the responsibility, the evading of theological discussion, the insistence not to say anything new and therefore not to recognize any phenomenon as a new one, and the expression of pure hatred towards other segments of the Jewish people - this cannot be accepted by me as a "theology" or "response". This is a refusal to think, and a denial, and should be categorized as such.

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The problem is significant especially concerning the concept of history of the Habad-Lubavitch movement and its recent dedication to messianism. There is little doubt that the Holocaust served as a meaningful source for this new eruption of religious eschatology, yet the subject has not been presented in a central manner. There is a need for a detailed study of the relationship between Habad messianism and theology reflecting the problems which rose following the Holocaust.

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segregated communities of these sects. The other two forms of denial seem to have a wider range of appeal. While the first form of denial is definitely an antisemitic, non-Jewish one, and the second is a traditional, internal-Jewish one, 5 and both emerged rather soon after the war, the third is a universal one, which, even though it is expressed by some Jews, has nothing specifically Jewish in it. This is the new concept of the deconstruction of the Holocaust. As time passes, the events of the Holocaust lose their impact as immediate, vivid experiences, and become more and more artifacts in museums, documents in archives, studies in books and journals, books of memoirs, of fiction, art exhibitions, albums of photographs, and motion pictures. These are all texts, produces by individuals, within the framework of their discourse in their social and cultural contexts. All these are regarded as texts, which can have no one definite interpretation; rather, we are taught, usually the most important meanings are those which are not apparent on the surface, but the hidden, non-literal ones. Very often, the deconstructionists tell us, the hidden meaning is the exact opposite of the literal one. 6 There is no such thing as "historical truth", and a work of history, we are taught, is nothing but the subjective expression of the historian's bias and cultural pre-conceptions. Post-modernism increased this attitude and brought it to an extreme by completely denying the existence of history. In Lyotard's system, history is one more example of a "super-narrative", a comprehensive ideology which distorts and tries to shape our consciousness. 7 The quest for "historical truth" is a futile endeavor, meaningless and needless. 8 If this is the prevailing attitude towards the historical texts, what about the Holocaust? Can the descriptions and analyses of the Holocaust be different in any way from those of the Napoleonic wars or the Roman empire? Does the Holocaust belong to the vast realm of meaningless contexts and discourses, the truth of which can never be determined, and certainly cannot be taken into account when formulating post-modern attitudes and future philosophies and cultures? This situation is ironic to some extent, because the Holocaust did serve several postmodernist thinkers in their arguments against the historical narratives of the enlighten5

Even so, the typlogical similarity in one aspect between these two should not be ignored: the people who say that the Holocaust is just one more example of what routinely happens in all wars, and the people who say that it is another example of God's routine response to human sin, are trivializing the Holocaust in essentially similar ways.

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The clearest example of this, which is most relevant to this discussion, is Jacques Derrida's own deconstructionist analysis of Paul de Man's most clearly antisemitic article, which "proved" that this article could be shown to have hidden, philo-semitic meaning.

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It is astounding to see how little these post-modernist philosophers know about the actual work of historical study. They seem to identify "history" with the philosophy of history or historiosophy, seeing in historical study nothing but the wide generalizations of Hegel, Marx or Toynbee. The real historical work, which usually is the exact opposite, negating all generalizations and seeking the unique features in every phenomenon, is not grasped at all in such presentations.

8

See the new analysis of this phenomenon in Gertrude Himmelfarb's new book On Looking into the Abyss: Untimely Thoughts on Culture and Society, New York: Knopf 1994. While chapters in this book deal with several subjects, the main theme, and probably the motive for publication of this work, is a protest against the deconstructionists' and postmodernists' denials of the Holocaust.

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ment and modernity, by serving as a potent example of the dead end reached by them. It is very difficult to refute the argument that a concept of history and of culture which culminates in a Holocaust - or at least, did not include itself the powers to prevent or control the forces which erupted under the Nazi regime - should not be supported or continued, and that a new direction should be sought. The fact, that sometimes the horror of the Nazi atrocities has been directed towards the long intellectual tradition which served as a background to it, is understandable. The real problem, of course, is whether the substitute suggested by post-modernism can guarantee the avoidance of the repetition of such an event. This new, post-modern concept of the Holocaust has not had much influence as yet. Most thinkers who belong to these cultural streams usually ignore history completely. It is significant, however, that post-modern culture is notable for the absence of any recognition or impact of the Holocaust, 9 and it is not regarded as a subject of postmodern discourse, when the awareness of the meaning of the Holocaust has an increasing presence in most other aspects of contemporary culture. It is impossible to speculate how much influence this concept will have in the future, yet its presence must be recognized; it is the most sophisticated way to deny the Holocaust in present culture.

Ill Several Jews take part in this deconstructionist and postmodernistic attitude (or the absence of it) to the Holocaust, but there is nothing specifically Jewish in it. On the contrary, Jews are noted usually by a higher sense of history and a keener interest in the historical context of phenomena, yet they are notable among the academic and cultural sponsors of these ideas. 10 The fourth way of denial to be briefly surveyed in this discussion is again a Jewish phenomenon, and, like the second, it reflects mainly intrinsic Jewish debate. This fourth way which is often subtle and hard to discern, achieves the marginal ization and trivial ization of the Holocaust by the claim that the preHolocaust past should be resurrected, that Jewish culture should resume its structures and return to the study of its favorite subjects, as if the Holocaust did not have any meaning and does not demand any new departures. This attitude is found among some European scholars, many of them Jewish, usually followed by non-Jewish ones. The present form of this attitude is a second-stage development, which follows an earlier one which emerged on a completely different background several decades ago, and its center was in the United States. At that time, the new vigor and swift expansion

9

It should be noted, however, that Lyotard himself is an exception; he did present several discussions of the meaning of the Holocaust in his system, which are characterized by a profound, empathic understanding of the problem. I intend to discuss Lyotard's concept of history related to the Holocaust in detail in a forthcoming study.

10 An interesting recent examination of the traditional Jewish sense of history and the increasingly dominant post-modernistic atmosphere in the academic world is presented by Norman Finkelstein in his book The Ritual of New Creation: Jewish Traditions and Contemporary Literature, Albany (NY): S U N Y Press 1992.

Four Ways of Holocaust Denial

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of Jewish Studies in American universities and in Jewish institutions of higher learning in that country led some scholars to demand "independence" for the American-Jewish scholarly enterprise, and to see it as separate from the then-dominant Israeli scholarly community. It derived much of its sustainance from ideas and attitudes which postulated "two centers of Jewish culture", one in Israel and the other in the diaspora (sometimes the term "Babylonia" was used, and analogy to the Babylonian talmud beside the Jerusalem talmud was presented). 11 Some of the proponents of this theory in the United States a generation ago postulated that the "diaspora culture" in America is the direct continuation of pre-Holocaust Jewish culture in Europe. This concept did recognize a meaning for the Holocaust: it expressed the transition of the center of diaspora creativity, following the Holocaust, from one continent to another. It conceived Europe as an unstable, persecution-prone place, unfit for sustained Jewish development, which should now be centered in the newly-found homeland of freedom and equality in the United Staes, where occurances like the Holocaust are absolutely impossible. 12 It seems that this attitude belongs now to the past; relatively little has been heard in the last decade in America in pursuance of this theory, and it seems that the centers of culture and scholarship in Israel and America did find a modus vivendi without conflict, recognizing the equality and the legitimacy of each other. These ideas, however, are now re-appearing in Europe, especially in Germany. The figures of Leopold Zunz, Heinrich Graetz and Moritz Steinschneider and others loom very large in the thoughts of the people adhering, knowingly and unknowingly, to this new concept. The greatness of their work has never been denied by anyone close to Jewish studies from any angle. They are the giants of Jewish nineteenth-century scholarship and the pioneers of its integration within the norms of European culture and science. Their political agenda has also achieved a great success, and all they could have wished for, concerning the status of the Jews in Germany has been achieved by the 1920s. Why should not contemporary Judaism in Germany follow in their footsteps, reconnect with their enterprise, using the same language, sitting in the same libraries that they did? The fact that in the 1930s everything they represented crumbled to dust, and in the 1940s became a heap of ashes, is indeed a tragedy, but it should not hinder us now from re-creating the world they wished to create. There is a most meaningful difference between the "Babylon" attitude in the United States in the previous generation to the current one in Europe and Germany. The Jewish-American problem concerning the relationship between the Israeli and American centers of Jewish culture were completely meaningless for American general culture as a whole. Non-Jewish intellectuals could not care less whether scholars in Jewish studies in the United States continued European scholarly traditions or not. This phenomenon

11 This is not an innocent, historical analogy: the Babylonian talmud is the dominant basis of Jewish traditional culture, whereas the Jerusalem talmud is, comparatively, marginal. The use of this analogy indicates not a two-centers Jewish culture but the definite dominance of one compared to the other. 12 One of the consequences of this attitude is the reluctance of some Jewish scholars in the United States to recognize the new centers of Judaica scholarship in continental Europe, as if this re-emergence can threaten the status of American scholarship as the legitimate heir of the old, pre-Holocaust European schools.

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had no significance of any kind for the general American scholarship and culture. This is not the case in Germany. Jewish attitudes towards the Holocaust and its significane are extremely meaningful to German intellectuals. If Jews initiate an attitude which expresses marginalization of that experience and the "returning to normalcy", picking up the threads of pre-Holocaust culture and continuing it as if there was no interruption - why should non-Jews have a different attitude? If the Holocaust is regarded as a historical "unfortunate" accident, which should be overcome, laid aside, and let life take its course - non-Jewish culture should do the same. "Let us forget the unhappy past as soon as possible, and go on with our affairs in the normal way". This is a most desired situation, which could satisfy all those who cannot come to terms with the meaning of the Holocaust and would like nothing better than to relegate it to the heap of historical inconsequential episodes which have no relevance to the present. Another aspect, which unites most of these different and divergent ways of Holocaust denials is their intrinsic enmity towards the State of Israel. Marginalization of the Holocaust usually includes a marginalization of the establishment of the state, and a negation of Zionism. Many would like to forget that Zionism was, before the war, the only Jewish ideology which warned that disaster was approaching, which did not deny the impact of antisemitism, and which suggested an alternative to Jewish life in Europe, an alternative which proved to be viable and successful. If the Holocaust is an inconsequential episode, so is the Zionist movement and the State of Israel, which derive their legitimacy from the concept that Jewish integration in the surrounding culture and life in the diaspora is ephemeral, and that a viable, independent and thriving center in the land of Israel is essential for Jewish survival, both physical and spiritual. This hasty survey is not intended to confront or disprove the ideas and directions outlined here. The only purpose is to suggest a typology of attitudes. Yet one cannot refrain from pondering that even if we disregard all ideological and ethical convictions, the possibility of the establishment of a viable basis for scholarship and culture on the negation of the two most momenteous events in two millenia of Jewish history, which occured between 1939 and 1948, is extremely doubtful - at best.

Ideengeschichtliche Hintergründe

Rivka Horwitz

Zum Begriff der Heiligkeit im modernen jüdischen Denken*

Der Begriff des Heiligen gehört zu den Grundpfeilern des biblischen Denkens: Gott ist heilig, die Seraphim stehen vor ihm und rezitieren das Dreimal-Heilig; bei der Erschaffung der Welt hat Gott den siebten Tag geheiligt, und das Heiligkeitsgesetz Lev 19 beginnt mit dem göttlichen Gebot "Heilig sollt ihr sein, denn ich bin heilig." Heiligkeit ist im religiösen Bereich zweifellos ein Begriff von höchster Bedeutung und unterliegt daher verschiedenen Deutungen. Im Sohar steht zu lesen: "Das Heilige ist eine oberste Macht, die den Beginn sämtlicher Stufen darstellt." 1 Aus der Bibel geht hervor, daß Heiligkeit unter anderem ein göttliches Attribut ist. Allerdings wird Heiligkeit an sehr vielen Stellen erwähnt, und diese lassen sich nicht zu einem einheitlichen Begriff zusammenfugen. Daher betont jeder Exeget oder Denker je nach seiner Auffassung, Epoche und Umwelt diesen oder jenen Aspekt und vernachlässigt darüber andere, wobei keine Deutung jemals Endgültigkeit beanspruchen kann. Liegt der Schlüssel zum Verständnis der Heiligkeit in Jesaja 6, dann besteht ihr Eigentliches in Furcht und Zittern angesichts der Größe und Herrlichkeit Gottes; vielleicht aber ist das Gebet der Merkaba-Mystiker die höchste dem Menschen erreichbare Stufe, indem er nahezu ein engelgleiches Wesen wird; oder enthalten die kultischen Reinheitsvorschriften in Lev den Inbegriff der Heiligkeit? Sollen wir von dem Midrasch in Lev Rabba (XXIV 6) und der auch bei Raschi angeführten Erklärung (zu Lev 19,2) ausgehen, wonach Heiligung gleichbedeutend sei mit Enthaltung von verbotenem Geschlechtsverkehr, "denn wo immer eine Einschränkung des Geschlechtsverkehrs zu finden ist, findet sich auch Heiligkeit"; oder geht es bei Heiligkeit um Enthaltung von jeglicher Übertretung, um Verzicht auf böse Gelüste? Nach einem Ausspruch des R. Pinchas b. Jair in der Mischna (Sota IX am Ende) führt Heiligung zu Demut, durch Heiligung sieht der Mensch sich klein und gering vor dem König der Könige; außerdem gibt es die nach der Tempelzerstörung berichtete Askese, die Enthaltsamkeit von Fleisch- und Weingenuß; vielleicht ist das mit Heiligkeit gemeint. Ein anderer Aspekt der Heiligkeit trägt esoterischen Charakter, eine Art Tabu. Besteht das Prinzip der Heiligkeit im Halten der göttlichen Gebote, oder hat sie noch weiter Implikationen? In späteren Generationen wird das Moment der imitatio dei besonders betont: "Wie Er *

Ursprünglich hebräisch erschienen in der Festschrift für Sara Heller Wilensky: Moshe Idel, Davorah Dimant u. Shalom Rosenberg (Hg.), Tribute to Sara - Studies in Jewish Philosophy and Kabbala, Jerusalem 1994, 135-154; deutsche Fassung von Dr. Dafna Mach, Jerusalem.

1

Sohar III, Raja Mehemna, Paraschat Emor, 93a.

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gnädig ist, sei auch du gnädig" (nach bT Sabbat 133b), allerdings ist der biblische Begriff der Gnade mit dem der Heiligkeit durchaus nicht identisch. Die Rabbinen legten aus: "Wie er heilig ist, so auch du, wie geschrieben steht: Heilig sollt ihr sein." Demnach bedeutet Gnade eine Art Bündnis zwischen Gott und Israel. Laut Nachmanides besteht Heiligkeit nicht hauptsächlich in Enthaltsamkeit im negativen Sinne, sondern in Füllung des Heiligkeitsgebots mit positivem Inhalt, 2 ähnlich wie die Äußerung in bT Jewamot 20a, "heilige dich in dem, was dir erlaubt ist", womit gemeint ist: Sei enthaltsamer als die Schrift von dir verlangt. Nachmanides verstand das so, daß der Mensch kein "Tor im Bereich der Tora" sein solle, sondern der Enthaltsamkeit, d.h. der Askese, zugeneigt, "auf daß wir rein und abgesondert seien von der Menge der Menschen, die sich selbst mit Luxus und Greueln besudeln" - dann werde die Heiligkeit zur Vereinigung mit Gott führen. So heißt es im Kommentar des Nachmanides: "Denn nach detaillierter Ausführung der Satzungen für jeglichen Umgang von Menschen untereinander, wie etwa 'Du sollst nicht stehlen', 'Du sollst nicht rauben', 'Ihr sollt nicht übervorteilen' und dergleichen Mahnungen, sagt der Schriftvers jeweils 'Du sollst das Gute und Rechte tun' [...] und wenn wir dann heilig sind, werden wir der Vereinigung mit Ihm teilhaftig." Demnach verknüpft Nachmanides die Askese, die ein Element der Heiligkeit ausmacht, mit dem Guten, der Moral und der Vereinigung mit Gott. So enthält seine Auslegung verschiedene Aspekte der Heiligkeit: den der Enthaltsamkeit sowie den der Vereinigung mit Gott. Die Komplexität des Begriffs Heiligkeit gleicht einer Jakobsleiter, die auf der Erde steht und mit der Spitze bis in den Himmel reicht. Es gibt viele verschiedene Bedeutungen und Abstufungen der Heiligkeit; so gibt es etwa eine Heiligkeit, die Enthaltsamkeit vom Bösen bezeichnet, und eine andere, die das Tun des Guten in den Vordergrund stellt; eine Art von Heiligkeit betont den Abstand des Menschen, der Staub und Asche ist, von dem heiligen und erhabenen Gott, eine andere wiederum legt Wert auf die Nähe und Einheit des Menschen mit Gott. Zu beachten ist auch, daß das Heiligkeitsgebot nicht als ein Gebot unter anderen gilt, vielmehr ist die Heiligkeit die Wurzel sämtlicher Gebote. Die Rabbinen wollten den einzelnen zunächst zur Erlangung eines Mindestmaßes an Heiligkeit bringen, was laut Max Kadushin eine Art"Normalmystik" ist. 3 Die Rabbinen lehrten Heiligkeit auch als etwas Positives: Gott wollte das Leben des Juden durch das Halten der Gebote heiligen: "Wenn Gott Israel ein neues Gebot gibt, verleiht er ihnen zusätzliche Heiligkeit" (Mechilta Mischpatim 22). Ebenso lehrten sie: "Wenn ihr die Gebote haltet, dann seid ihr geheiligt." Einige unter den rabbinischen Auslegern betonten an Heiligkeit und Enthaltsamkeit den asketischen Aspekt. Andere wiederum

2

Kommentar des Nachmanides zum Pentateuch (hg. Chavel), Jerusalem 1960, zu Lev 19,2 (115 f.). Zu Askese und Heiligkeit vgl. auch den Kommentar von R. Pinchas Kehati zu Mischna Sota IX 15.

3

Max Kadushin, The Rabbinic Mind, New York 1972, 167; Solomon Schechter, Some Aspects of Rabbinic Theology, N e w York 1923, 199 ff. S. auch Avraham Holz, In der Gedankenwelt der Rabbinen - auf den Spuren der Lehre von Max Kadushin (hebr.), Tel-Aviv 1978, 134 ff.; vgl. auch den Aufsatz von Warren Ze'ev Harvey, "Holiness: A command to Imitatio Dei", Tradition, 16 (1976), III, 7-25; ferner David Solomon Shapiro, "The Meaning of Holiness in Judaism", Studies in Jewish Thought, 1 (New York 1975), 63-97. Shapiro vertritt die These, daß Heiligkeit etwas Moralisches sei, wozu er reiches Material beibringt.

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Zum Begriff der Heiligkeit im modernen jüdischen Denken

lehrten, daß die Gebote dem Juden gegen die materiellen Versuchungen beistehen und ihm zu Vollkommenheit und Gottesnähe verhelfen, obwohl er sich in einer säkularen Welt befindet. Die Gebote verleihen dem Menschen Momente der Gnade und Stunden der Heiligkeit. Der Jude begehrt zu allen Stunden seines Tageslaufs, sich zu heiligen. So lautet die Eröffnungsformel vieler Benediktionen: "Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, der uns geheiligt durch seine Gebote und uns geboten [...]" ;4 so dankt der Jude seinem Schöpfer beim Aufstehen am Morgen für sein Leben, für die ihm eingehauchte Seele, für sein allmorgendliches Erwachen, für seine Kleidung, seine Nahrung, seine Frau und seine Kinder, doch vor allem für das Lernen der Tora. Besonders geläufig sind die Benediktionen über leibliche Genüsse, und sie stellen einen Weg zur Heiligung dar. Der Kabbaiist Elia de Vidas schrieb: "Jedes erfüllte Gebot heiligt die Seele und bekleidet sie mit neuem Licht." 5 Die Verbindung von Ethik und Heiligkeit findet sich in der Bibel, so etwa Ps 15,1: "Wer wird wohnen auf Deinem heiligen Berge? Der untadelig wandelt und Recht tut [...]" In rabbinischer Zeit ging Enthaltsamkeit zusammen mit Askese und kultischer Reinigung durch Tauchbäder. Wo Maimonides davon spricht (Mischna Tora, Hilchot Deot I 6), daß es geboten sei, den Mittelweg zu wählen, und dabei die Auffassung vertritt, dies sei der "gute und gerade Weg", schreibt er weiter: "So wurde gelehrt bei der Auslegung dieses Gebots: Wie Er gnädig ist, sei auch du gnädig, wie Er barmherzig ist, sei auch du barmherzig, wie Er heilig heißt, sei auch du heilig." Somit hat Maimonides hier drei Momente zusammengenommen: das Maß der Mittel, das aus der aristotelischen Tugendlehre herrührt, sowie zwei rabbinische Aussprüche, deren erster die moralische Angleichung an Gott behandelt, während der zweite die Heiligkeit als eine nachahmenswerte göttliche Eigenschaft nennt, obwohl er ursprünglich nicht von Moral handelt! Im Midrasch Tanchuma (Kedoschim II) heißt es: "Wie ich heilig bin [...] so sollt ihr heilig sein - wem gleicht dies? Einem König, der sich eine Frau anheiligte und zu ihr sprach: Da du meinem Namen angeheiligt bist, so bin ich König und du Königin [...] warum? Weil du meine Frau bist." Maimonides leitet die Gleichsetzung von Heiligkeit mit Moral aus der Bibel ab: "Daß wir unser Tun dem seinigen gleich machen, wie oben ausgeführt: 'Heilig sollt ihr sein' wird ausgelegt als 'wie Er gnädig ist, so sei auch du gnädig; wie Er barmherzig ist, so sei auch du barmherzig.'" Nachmanides ist offensichtlich durch diese Auffassung beeinflußt; weiterentwickelt wurde sie von verschiedenen rabbinischen Autoritäten, in deren Augen die Moral der Weg par excellence war, Gott nahezukommen. Besonders verbreitet war diese Vorstellung bei den jüdischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts, die zum Kantianismus neigten und das Judentum als einen ethischen Monotheismus interpretierten. So wirkte diese Haltung weiter bis zu ihren Nachfahren im 20. Jahrhundert. Demgegenüber steht der Ansatz von R. Jehuda Halevi, der Heiligkeit nicht mit Moral verknüpft. Auch im Sohar ist keine solche Gleichsetzung zu beobachten. Im Kusari (IV

4

S. dazu auch Efraim Elimelech Urbach, The Sages - their Concepts 1975, 323.

5

Elia de Vidas, Beginn der Weisheit Kap. I.

(hebr. Reshit Hokhma),

and Beliefs

(hebr.), Jerusalem

Jerusalem 1984, Abschnitt "Heiligkeit",

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3) schreibt der Dichter: "Heilig nennt man demnach das Geistige, dem nichts Materielles innewohnt und dem nichts widerfährt, was auf Materie zutrifft." Und weiter führt er aus, Gottes Heiligkeit bestehe darin, daß er so erhaben sei, daß nichts von den geschöpflichen Eigenschaften ihm anhaften könne. Über Israels Heiligkeit schreibt er: "Es war Gottes Wille, daß das Verhältnis dieser Nation zu den übrigen Nationen sein solle wie das der Engel zu den Menschen, wie geschrieben steht: 'Heilig sollt ihr sein, denn ich bin heilig, der Ewige, euer Gott' (Lev 19,2)." So haben sich also zwei Grundauffassungen von Heiligkeit herauskristallisiert: die Heiligkeit, die mit der Erfüllung von Moralgeboten zusammengeht, und die Heiligkeit vom Range der Engel, eine Tugend höchsten Ranges. Ein Beispiel dafür ist die Tugendskala des R. Pinchas b. Jair, eines Zeitgenossen R. Judas des Fürsten, der sich durch besondere Frömmigkeit auszeichnete. Es scheint angebracht, den Ausspruch diese Tannaiten ganz zu zitieren, wie er dann auch von R. Mosche Chajim Luzzatto angeführt wird: "Tora bringt Umsicht, Umsicht bringt Eifer, Eifer bringt Lauterkeit, Lauterkeit bringt Enthaltsamkeit, Enthaltsamkeit bringt kultische Reinheit, kultische Reinheit bringt Frömmigkeit, Frömmigkeit bringt Demut, Demut bringt Furcht vor Sünde, Furcht vor Sünde bringt Heiligkeit, Heiligkeit bringt den Heiligen Geist, der Heilige Geist bringt die Auferstehung der Toten (bT Sabbat 33b)." 6

R. Mosche Chajim Luzzatto (1707-1746) hat in seiner Schrift Mesillat Jescharim - Weg der Frommen diesen Ausspruch des R. Pinchas b. Jair aus der Sicht eines kabbalistischen Frommen weiter entfaltet. 7 R. Mosche Chajim Luzzatto war in der Kabbala verwurzelt, und er führt die Äußerung des Nachmanides weiter aus, wonach Heiligkeit mit Hingabe zusammengeht, denn Heiligkeit ist laut Luzzatto völlige Hingabe an Gott. Demnach soll der Mensch in all seinem Tun an Gott festhalten und nicht von ihm weichen: "Wer an Gott festhält, auf dem ruht der Heilige Geist, wie in der Tugendskala des R. Pinchas angegeben, er gilt als Altar [...] nahezu wie ein Engel Gottes." Ja noch mehr: Wer an Gott festhält, ist ein "Quell des Lebens", er vermag "den Zug des Lebens selbst von ihm abzuziehen". Sein ganzes Sein und Tun ist nicht mehr an die Grenzen menschlicher Gesetze gebunden. Von da aus gelangt Luzzatto sogar zur Erhöhung der materiellen Gegenstände, deren sich der Mensch bedient. Denn "die Schöpfung will dem vollkommenen Menschen dienen", in der Art wie die Rabbinen zu der biblischen Erzählung von Jakobs Traum mit der Himmelsleiter (Gen 28) zu berichten wußten, daß die Steine sich um die Ehre gestritten hätten, dem künftigen Erzvater als Kopfkissen zu dienen (bT Chullin 98b). Das Materielle möchte Grundlage der Heiligkeit werden, es verlangt nach Teilhabe an ihr.

6

Luzzatto stützt sich auf die Stelle bT Awoda Sara 20b. In der Mischna Sota IX 15 steht der Ausspruch in anderer Reihenfolge: "Enthaltsamkeit bringt Heiligkeit, und Heiligkeit bringt Demut [ . . . ] und Frömmigkeit bringt den Heiligen Geist." Laut Auskunft von Abraham Rosenthal fehlt in der MischnaHandschrift Kaufmanns die Vokabel "Enthaltsamkeit"; das mag daran liegen, daß im antiken rabbinischen Sprachgebrauch "Enthaltsamkeit" und "Heiligkeit" synonym waren.

7

R. Mosche Chajim Luzzatto, Mesillat Jescharim - Weg der Frommen, Berlin 1906, Kap. 26, w o es um die Heiligkeit geht; die deutsche Übersetzung ist von Dr. Joseph Wohlgemuth.

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Luzzatto wußte, daß Heiligkeit dem Menschen zu schwierig ist, aber "wer sich zu heiligen kommt, dem wird geholfen" (bT Sabbat 104a). Heiligung ist Absonderung seiner selbst vom Materiellen und beständiges Festhalten an Gott, so daß der Mensch in keinem seiner Werke mehr von Gott geschieden ist oder von ihm abweicht. Die geistige Erweckung, die Bemühung und die Vorbereitungen für den Kontakt mit dem Heiligen, wie etwa Absonderung und verschiedene Formen von Askese, Versenkung in die Tiefen der göttlichen Vorsehung und in die Geheimnisse der Schöpfung - dies alles obliegt dem Menschen, aber die Heiligung ist letzten Endes ein "Geschenk" Gottes. "Der Mensch vollbringt ein geringes Maß an Heiligung, woraufhin ihm ein großes Maß an Heiligung zuteil wird." (bT Joma 39a) Das Prinzip, wonach das Erwachen unten die Liebe von oben erweckt, ist im kabbalistischen Schrifttum häufiger anzutreffen. Der hebräische Schriftsteller und Aufklärer Hartwig Wessely (1725-1805), Schüler und Mitarbeiter von Moses Mendelssohn, steht in der Auffassung der Heiligkeit Luzzatto nahe. Auch Wessely sieht in der Heiligkeit den Aufstieg und die Vereinigung mit Gott. In seinem Kommentar zu Lev 19,2 schreibt er: "Heiligkeit ist ein sich Aufschwingen über etwas Geringeres, und es gibt viele Formen von Heiligkeit, denn wer sich so gemeiner Gelüste wie Bosheit und verbotener Speisen enthält, der wird 'heilig' genannt, wie geschrieben steht: 'Ihr sollt mir heilig sein, denn ich bin heilig.' (Lev 20,26)" 8 Allerdings ist dies noch nicht die höchste Stufe der Heiligkeit: "Es gibt eine noch höhere Heiligkeit, zu der man gelangen kann [...] bis man nichts von den guten oder bösen Zufällen der Welt mehr spürt, weil das Herz über alles erhaben ist und mit Gott vereint, wie die Tora erwähnt." Aber nicht jeder Mensch wird dieser Stufe der Heiligkeit teilhaftig, daher heißt es "heilig sollt ihr sein", jeder einzelne nach seinen seelischen Kräften soll sich fernhalten von den Gemeinheiten des bösen Triebs in seiner Natur und sich darüber erheben. Aus dem Gebot an die Priester "sie seien heilig ihrem Gott [...] denn die Feuer des Ewigen und das Brot ihres Gottes bringen sie dar, so seien sie ein Heiligtum" (Lev 21,6) entnimmt Wessely, daß zwar die ganze Gemeinde heilig sei, aber "die Priester, die Zugang zu ihm haben, heiligen sich ganz besonders", d.h. es gibt verschiedene Stufen und Formen von Heiligkeit. In seinem Kommentar zu Lev 11,44 "Denn ich bin der Ewige, euer Gott, und ihr sollt euch heiligen und heilig sein, denn ich bin heilig, und ihr sollt euch selbst nicht verunreinigen durch allerlei Getier, das auf Erden kriecht" betont Wessely Israels Auserwähltheit: "Ich gehe mit euch um in Heiligkeit, nicht wie ich mit den übrigen Völkern umgehe." Und im Anschluß an den eigenartigen göttlichen Ausspruch Lev 10,3 "In den mir Nahen werde ich geheiligt" hebt Wessely hervor, daß Gott es mit Aarons Nachkommen besonders genau nehmen; danach steht nämlich geschrieben "da verstummte Aaron" - "seine Seele vereinigte sich mit Gott, der sich in seinen Heiligen heiligt". Aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als die nicht-jüdischen Gelehrten Religion und Heiligkeit mit rationaler Ethik zusammenbrachten, schrumpfte die Bedeutung des Begriffes Heiligkeit auch bei den jüdischen Denkern zusammen, was zu seiner Reduktion auf die Deutung des Maimonides führte. Laut Julius Guttmann bietet Kant die Gleichsetzung

8

Wessely im hebräischen Kommentar zu Mendelssohns Pentateuchübersetzung, der 1782 verfaßt sein dürfte.

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von Religion mit Sittlichkeit in vollendeter Form, 9 was wiederum ein Anwachsen der rationalistisch-moralischen Deutungen von Heiligkeit nach sich zog. Unter den bedeutenden jüdischen Denkern waren etliche Kantianer. Hier möchte ich auf zwei von ihnen eingehen: Samson Raphael Hirsch und Hermann Cohen. Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888), der Begründer der Neo-Orthodoxie in Deutschland, behandelt den Begriff der Heiligkeit im Zusammenhang mit seiner Auslegung von Jes 6, stellt ihn allerdings ganz und gar auf das Ethische ab. Er folgt dem Bibeltext Vers für Vers: "Da sah ich meinen Herrn sitzend auf einem hohen und gehobenen Thron - Und nur seine Säume noch füllten den Tempel. Seraphim standen seiner wartend aus der Höhe [...] Und es rief einer dem andern zu und sprach: Heilig heilig, heilig ist Gott der Heere, Der ganzen Erde Fülle sei seine Herrlichkeit!" Hirsch unterstreicht das Besondere des Augenblicks: Der Prophet schaut den Herrn der Heerscharen nicht im irdischen Heiligtum in Jerusalem, sondern im himmlischen Heiligtum in der oberen Welt, ihm zur Seite die Engel, die seinen Willen tun, seines Winkes gewärtig. Doch der gesetzestreue Jude Hirsch sieht eine Analogie zwischen diesem Anblick und der Verleihung der Tora vom Sinai, wie in Dtn 33,2 geschildert: "Gott von Sinai trat er ein [...] und war nun aus Myriaden Heiligtums gekommen" - "aus den Myriaden heiliger, um seinen Weltenthron dienender Scharen war Gott einst vom Sinai in den jüdischen Menschenkreis eingezogen, als er sein [...] allmächtig waltendes und gestaltendes Feuer, zu einem [...] Gesetze gestaltet, mit seiner Rechten Israel hingab, auf daß dieses Eschdat, dieses Gesetz gewordene Feuer [...] als Lechem Ische haSchem, als Nahrung des Gottesfeuers auf Erden geweihet werde". 10 Aus dem Munde der Seraphim im Himmel droben vernahm der Prophet Jesaias das Dreimal-Heilig. Dazu schreibt Hirsch: "Wie man auch den Begriff Heiligkeit definieren möge, soviel steht fest, daß es kein metaphysischer, sondern ein ethischer, und zwar der höchste ethische Begriff ist, den auch der Sterbliche mit sittlicher Energie anzustreben hat und dessen Verwirklichung ihm als Ideal seines Lebens vorschweben soll." 11 Besonders betont Hirsch das Motiv des Gehorsams, das auch bei Kant besonders hervorsticht. Großen Wert legt Hirsch darauf, daß der Jude den göttlichen Geboten gehorcht wie ein Engel, des göttlichen Winkes gewärtig. Auf das religiöse Erlebnis, die göttliche Offenbarung, deren der Prophet teilhaftig wurde, dagegen geht Hirsch nicht ausführlicher ein, vor der Besprechung des "Verborgenen" scheut er geradezu zurück. Zum Umgang mit "Verborgenem" schrieb er an anderer Stelle: "Ich will ungescheut gestehen, daß ich mich zeit meines Lebens nicht darum bemüht habe, das Wesen dieser Dinge zu erforschen und zu ergründen, ebensowenig wie ich mich geneigt fühle, dem Wesen der künftigen Welt, der Auferstehung der Toten und ähnlichem nachzuforschen. Die Wahrheit dieser Dinge ist den Augen alles Lebenden entzogen [...] und es bringt keinerlei Nutzen, sie wissen

9

Julius Guttmann, Einiges zur Religionsphilosophie Jerusalem 1959, 27.

(hebr. Devarim al ha-philosophia

scheh

ha-dat),

10 Samson Raphael Hirsch, "Jesaias und seine Welt", Jeschurun, 9 (1883), 1-17; die Bibelverse sind jeweils in Hirschs Übersetzung angeführt. 11 Ebd., 5.

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zu wollen." 12 Heiligkeit als eine meta-ethische, meta-rationale Dimension, als Vereinigung mit Gott oder als Furcht und Zittern, kommt bei Hirsch nicht vor. Er beschränkte sich auf das Innerweltliche, ihm ging es um die Heranführung von Juden an die Erfüllung der göttlichen Gebote. Isaak Heinemann zog das Verständnis von Heiligkeit des protestantischen Theologen Rudolf Otto anderen Deutungsmöglichkeiten vor. Daher kritisiert er an Hirsch, daß er den Begriff des Heiligen auf den engen Bereich der Ethik beschränkt habe. 13 Dem könnte man zwar entgegenhalten, Hirsch habe den Begriff der Ethik so weit ausgedehnt, daß er auch das Zeremonialgesetz mit umfasse, aber es bleibt doch schwer vorstellbar, wie etwa die Opfervorschriften oder kultische Reinheitsgebote als ethische Gebote einzuordnen seien. Im Geiste seiner Zeit betonte Hirsch den Begriff der Ethik und führte so in gewisser Weise die Linie des Maimonides weiter und folgte Nachmanides, der Ethik und Heiligkeit verknüpft. Hirsch steht zwar auch der Kantischen Auffassung nahe, die Religion mit Ethik gleichsetzt, aber im Unterschied zu Kant gilt ihm die biblische Ethik nicht als eine rationale, autonome, dem menschlichen Gewissen überlassene, sondern als eine heteronome Ethik, ausgegangen von einem moralischen Gott, eine geheiligte Ethik. Nicht die menschliche Vernunft gibt den Ausschlag, sondern die göttliche Lehre, wobei festzuhalten ist, daß Gott das absolute Gute ist. Die von Israels Gott erlassenen Gebote und Gesetze sind gerecht, gut und moralisch, wodurch sie gewiß zur Heiligkeit führen. Gott ist das absolut Gute und er ist der moralische Souverän. In der Bestimmung des Guten hat sich der Mensch auf Gott zu verlassen, sich den Gesetzen der Bibel anzupassen und ihnen zu gehorchen, dann wird er geheiligt. Insofern nimmt es nicht wunder, daß Hirsch in seinem Kommentar zu Lev 19,2 die Heiligkeit als die "absolut höchste Stufe sittlicher Menschenvollendung" bezeichnet, die den Menschen so durchdringe, daß der böse Trieb keinerlei Raum mehr in ihm habe. Als Humanist und Demokrat, nicht unberührt von den Ideen der französischen Revolution, äußert Hirsch sein Erstaunen, daß das Heiligkeitsgebot an die ganze Gemeinde Israels, Männer wie Frauen, ergangen sei. Er hebt hervor, daß die Aufforderung, heilig zu sein, "ausdrücklich an jeden gerichtet" sei. "Kein Stand, kein Geschlecht, kein Alter, keine Geschikkeslage schließt von dieser Berufung zum sittlich Höchsten aus." Im Unterschied zu Wessely, bei dem es verschiedene Stufen mystischer Heiligkeit gab, betont Hirsch im Sinne der Aufklärung, es gebe nur einen Grad der Heiligkeit, einen moralischen, von allen zu erreichenden. Heiligkeit besteht laut Hirsch in der Bereitschaft zum Gutes-Tun, in der Durchsittlichung seines ganzen Wesens, so daß der Mensch allen Versuchungen

12 Aus einem Brief an Hille Wechsler, original hebräisch, veröffentlicht von Mordechai Breuer in haMaajan, 16 (Winter 1976), 8. 13 In seinem hebräischen nachgelassenen Werk über Die Begründung der Gebote in Israels Schrifttum (hebr. Ta'ume ha-Mizwoth be-Sifruth Israel), Jerusalem 1956, II, 149. Seine Ablehnung der Ethik als Inbegriff der Heiligkeit hat Heinemann bereits in seiner sehr positiven Besprechung von Ottos Das Heilige geäußert: "Das Ideal der Heiligkeit im hellenistischen und rabbinischen Judentum", Jeschurun, 8 (1928), 99-120. Heinemann vertritt die Meinung, aus Ottos Buch Das Heilige sei mehr über das Judentum zu lernen als aus dem Buch jedes anderen Nicht-Juden seit dem Werk des muslimischen Mystikers Al-Ghasali, von dem Jehuda Halevi beeinflußt war. Heinemann bescheinigt Otto, er bringe echtes religiöses Gefühl zum Ausdruck, obwohl er das rabbinische Judentum nicht gekannt habe.

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standhält und stets bereit ist, Gottes Willen zu tun. Darin weicht Hirsch von Raschi ab und kommt eher der Auffassung des Nachmanides nahe, der die Heiligkeit in moralisch positivem Sinne deutet. Heiligkeit sei "das Produkt der vollendeten, sie dem göttlichen Willen bereitstellenden Herrschaft des göttlichen, sittlich freien Menschenwesens, über alle seine Kräfte und Anlagen und die damit verbundenen Reize und Neigungen". Zur Bekräftigung seiner Ansicht weist Hirsch daraufhin, daß Heiligkeit einen höheren Rang darstelle als Enthaltsamkeit. 14 In seinem Kommentar zu Lev 10,3 "Durch die mir Nahen will ich geheiligt [...] werden" schreibt Hirsch von der "Heiligkeit" Gottes, "die nichts Unheiliges in ihrer Nähe duldet und Heiligkeit als erste Anforderung an jeden stellt, der ihrer Nähe gewürdigt wird". Im Zusammenhang mit der Heiligung des Sabbats Gen 3,2 hält Hirsch fest: Gott "stellte ihn hoch und heilig, unantastbar ewig und unvergänglich hin". Die hebräische Verbalwurzel "heiligen" "drückt die völlige, von keinem Gegensatz mehr erreichbare Entschiedenheit, das Absolute, aus". Auch hier wird erkennbar, daß Hirsch unter Heiligkeit bewußte, willentliche Vorgänge versteht, obwohl er dies nicht weiter ausführt. Andere Auffassungen von Heiligkeit, wie sie zu seiner Zeit verbreitet waren, wie etwa die des protestantischen Theologen Schleiermacher, für den Religion ein emotionales Erlebnis war, das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, waren für die Entwicklung von Hirschs Gedankengebäude nicht relevant, ebensowenig wie ihn die romantischen Aspekte der Religion interessierten. Bereits Heinemann hat auf die gedankliche Nähe von Samson Raphael Hirsch zu Hermann Cohen (1842-1918), dem liberalen Neo-Kantianer, hingewiesen, der als alter Mann eine Philosophie des Judentums entwickelte. 15 Beide verankerten den Begriff der Heiligkeit in einem ethischen System. Doch während bei Hirsch die jüdische Religion insgesamt moralisch ist, besteht bei Hermann Cohen eine gewisse Unterscheidung zwischen Religion und Moral. Wie Nathan Rotenstreich gezeigt hat, paßt Cohens Tugendlehre zum Prinzip der "Gesamtheit" und gilt daher gleichermaßen für jeden einzelnen. Die Religion dagegen enthüllt das Problem des einzelnen in seiner Sündhaftigkeit und konzentriert sich auf das Individuelle. 16 Heiligkeit ist laut Cohen das Kernstück der Sittlichkeit im Judentum, und jeder Mensch kraft seines Menschseins vermag dahin zu gelangen. Bei Cohen ist die Verbindung zwischen Judentum und Menschheit so eng, daß die Grenzen zwischen beiden bisweilen verschwimmen. Der ethische Monotheismus reiche über das Natürliche und Sinnliche hinaus, insofern auch über nationale Grenzen. Die biblischen Erzählungen von Adam und Noah lehren, daß die gesamte Menschheit von ein und demselben Menschen14 Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf die Stufenleiter sittlicher Vollendung des R. Pinchas ben Jair aus Awoda Sara 20b, auf der die Heiligkeit die höchste und letzte Stufe darstellt. Heinemann macht Hirsch zum Vorwurf, im Gegensatz zu Raschi und zum Sifra ziehe er einen Trennungsstrich zwischen Enthaltsamkeit und Heiligkeit und schränke den Begriff der Heiligkeit dadurch ein. 15 Dazu Heinemann, Die Begründung der Gebote,

150.

16 Zu Religion und Moral vgl. Nathan Rotenstreich, Das jüdische Denken der Neuzeit (hebr.), Tel-Aviv 1945, II, 73. Zu Partikularismus und Universalismus bei Cohen s. Rivka Horwitz,"Hermann Cohen und Franz Rosenzweig" (hebr.), Mechkare Jeruschalajim beMachschewet Israel, 4 (1985), 303-326; ferner Leo Strauss, "Cohens Analyse der Bibel-Wissenschaft Spinozas", Der Jude, 8 (1923), 295-314.

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paar abstammt, wie schon Ben Asai sagt: "'Dies ist das Buch der Entstehung des Menschen' (Gen 5,1). Dies ist ein größerer Inbegriff als jener." 1 7 Demnach wären alle Menschen Brüder! Die Brüderlichkeit der Menschen untereinander ist herauszustellen. Die Erzählungen aus den ersten Kapiteln der Genesis legen laut Cohen den Grund zu einer allgemeinen menschlichen Ethik. So etwa die sieben Gebote an die Noachiten auf der Grundlage von Gen 9,6: "Wer eines Menschen Blut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden, denn im Bilde Gottes hat er den Menschen erschaffen." Der Sozialist Cohen hebt als die zentralen Gebote des Judentums hervor: Liebe üben (vgl. Micha 6,8), Mitleid, Barmherzigkeit, Unterstützung der Schwachen - allesamt soziale Gebote aus dem Deuteronomium, von allgemein menschlicher Bedeutung. Die jüdische Ethik basiert nach seiner Auffassung auf der Nachahmung der dreizehn göttlichen Eigenschaften nach der Attributenlehre des Maimonides; zusammenfassen lassen sich die sittlichen Eigenschaften Gottes in zwei Begriffen: Heiligkeit und Güte. 18 Cohen plädiert für eine monotheistische Ethik, gegen eine rationale Ethik ohne Gott und gegen pantheistische Systeme. In seinem Denken besteht, ähnlich wie bei Hirsch, eine scharfe Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Göttlichen. Laut Cohen ist das Wesen der Sittlichkeit die Heiligkeit; diese ist allerdings kein abstrakter, himmlischer Wert, der nur auserwählten Individuen oder den Priestern im Tempel anvertraut wäre, sie ist auch nicht an besondere Stätten gebunden. Heiligkeit ist weder Theorie noch Metaphysik, sondern etwas Praktisches, verbindlich für jeden Menschen auf Erden. Cohen zitiert aus dem Midrasch (Tanna deWe Eliahu IX): "Ich rufe als Zeugen Himmel und Erde dafür an: es sei ein Israelit oder ein Heide, ein Mann oder ein Weib, ein Sklave oder eine Magd, nur nach der Handlung die er tut, ruht der heilige Geist auf ihm." 19 Demnach kann der heilige Geist auf jedem Menschen ruhen, sofern dieser die sittliche Tat vollbringt. Darin hat Cohen ein ausgesprochen jüdisches Element bewahrt. Er betont nämlich, daß eine religionslose Ethik der Heiligkeit entbehre, worüber er mit etlichen Zeitgenossen diskutierte. Cohen äußert scharfe Gegnerschaft gegenüber der Mystik und gegen die Auffassung, Gottes Heiligkeit sei eine verborgene. Eine solche Behauptung lehnt er strikt ab. "Die Heiligkeit ist durchaus nur Sittlichkeit. Und auch bei Gott hat sie nur diejenige Bedeutung der Sittlichkeit, welche die Korrelation mit dem Menschen erfordert. Was sonst die Heiligkeit bei Gott bedeuten mag, das gehört buchstäblich in das Kapitel der negativen Attribute." 20 Cohen stützt sich auf den Vers Jes 5,16: "Und der heilige Gott wird geheiligt durch Gerechtigkeit", d.h. nicht durch rationale Erkenntnis wird Gott geheiligt, sondern durch gerechte Werke des Menschen. Während Kant das Wesen der Sittlichkeit in der Intention und im guten Willen gesehen hatte, unabhängig von den Resultaten, sieht der Jude Cohen das Wesen der Sittlichkeit im Tun.

17 Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1966, 137 f.; Cohen schließt hier an eine Stelle aus dem Jerusalemer Talmud an, Nedarim IX 3. 18 Ebd., 110 f. 19 Ebd., 125. 20 Ebd., 128.

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Heiligkeit ist nach Cohen in erster Linie ein Sich-Absondern vom Bösen, dann erst Selbst-Erhebung. Insofern ist die Heiligkeit auch etwas Geistiges und Vernunftmäßiges, gleich weit entfernt von der Natur wie von der Mystik. Cohen beobachtet eine Entwicklung im Begriff der Heiligkeit: Zunächst sei es ein mythischer Begriff gewesen. Im Polytheismus bedeute Heiligkeit Absonderung oder Unterscheidung. So sei etwa ein bestimmtes Gebäude für gottesdienstlichen Gebrauch abgesondert worden, ein bestimmter Mensch als Priester erwählt, eine bestimmte Sprache zur Kultsprache erklärt worden u.a.m. Im Judentum dagegen beziehe sich die Absonderung in erster Linie auf Gott, der sich selbst von der Welt abgeschieden habe. Cohen hebt Gottes Transzendenz besonders hervor: Gott ist Sein, die Welt ist Werden. Gott ist der Schöpfer, die Welt ist geschaffen; Gott ist ewige Gegenwart, ich bin der ich bin, die Welt ist dynamisch, im Entstehen begriffen. Gott ist der präzise Anfang der heiligen Sittlichkeit, von ihm geht sie an den Menschen über. Der Mensch kann heilig sein, wenn er den Regeln der Sittlichkeit folgt. Cohen kommt auf die Ausfuhrungen des Maimonides (in Hilchot Deot) zurück und vertritt die Auffassung, im Judentum sei das Ideal, dem der Mensch nacheifere, die Nachahmung von Gottes Tun, wie etwa Erbarmen mit den Notleidenden und Unterstützung der Schwachen. Dies ist, laut Cohen, das Festhalten an Gott, d.h. ein Festhalten an Gottes sittlichem Tun, d.h. imitatio dei. Gott, der den Menschen mit Wissen begnadet, verleiht ihm auch die sittliche Erkenntnis, nämlich den heiligen Geist, und Liebe zu Gott ist Liebe zur göttlichen Idee, das sittliche Ideal. Aus Cohens Ausführungen geht hervor, daß Zuschreibung von Heiligkeit an ein Land, einen Tempel, eine Sprache oder ein Volk die Heiligkeit ontologisch reduziert und ihr eine falsche mythische Bedeutung beilegt, denn nur die gute sittliche Tat ist menschlich und heilig. Hermann Cohen legt den Vers "Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott" folgendermaßen aus: Heiligkeit ist ein göttliches Attribut, nur Gott darf sich selbst für heilig erklären. Außerdem ist für Gott die Heiligkeit beständig, unveränderliche Gegenwart; für den Menschen dagegen ist sie ein Ideal. Daher heißt es im Schriftvers "heilig sollt ihr sein", als Aufforderung; ohne dieses Ideal der Heiligkeit ist das ganze menschliche Wesen nichts wert. Heiligkeit ist, laut Cohen, kein theoretisches Wissen, auch nicht die Summe gewisser vom Menschen vollbrachter sittlicher Taten. 21 Cohens Ausführungen nahe kommt die Deutung von Martin Buber, der die Meinung vertrat, Korach sei im Irrtum gewesen, als er anmaßenderweise annahm, der Prozeß der Heiligung komme jemals zum Ende, und verkündete, "die ganze Gemeinschaft ist heilig", als ob das Ideal der Heiligkeit bereits verwirklicht sei. Vielmehr handelt es sich um eine unendliche Aufgabe, die dem Menschen aufgegeben ist, solange er lebt, bis zur Erlösung der Welt. 22 Cohen geht sogar so weit, zu behaupten, je weiter der Mensch

21 Zum Vergleich zwischen Cohen und Emmanuel Levinas vgl. Edith Wyschogrod, "The Moral Seif: Emmanuel Levinas and Hermann Cohen", Daat, 4 (1980), 35-38 sowie in ihrem Buch: Edith Wyschogrod, Emmanuel Levinas - The Problem of Ethical Metaphysics, The Hague 1974. 22 Martin Buber, Moses,

2. Aufl., Heidelberg 1952, 220.

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das Gebot der Heiligkeit erfülle, desto bewußter werde ihm, wie weit er noch von der Erreichung des Ziels entfernt sei.23 Demnach sieht Cohen den Menschen in einem lebenslänglichen Ringen um die Heiligkeit begriffen, im Kampf gegen die Sünde und das Böse. Der auf dem Menschen ruhende heilige Geist erneuert sich dadurch, daß der Mensch Gott um Vergebung seiner Schuld bittet, wie in Psalm 51 zu beobachten, einem Psalm, der Cohen besonders am Herzen lag.24 Der Mensch muß seine Schuld bekennen und die göttliche Vergebung erflehen, woraufhin Gott den heiligen Geist im Menschen erneuert und ihn von seiner Sündhaftigkeit läutert. Hier sind Heiligkeit und Buße eng miteinander verknüpft, eben die beiden Begriffe, die im Denken des alten Cohen zentral waren. Denn Sittlichkeit ohne Gott mag vielleicht denkbar sein, aber gewiß keine Läuterung ohne Gott. Cohen konstatiert eine Wechselwirkung (Korrelation) zwischen der göttlichen und der menschlichen Heiligkeit. Gott gebietet, "heilig sollt ihr sein", und dieses Gebot veranlaßt den Menschen dazu, Gott zu heiligen.25 So entsteht sozusagen eine Rückwirkung vom Menschen auf Gott hin, im Sinne des Bibelverses: "Und ich werde geheiligt inmitten der Israeliten" (Lev 22,32). So kommt die Aussage zustande, daß Gott sich durch den Menschen heiligt. Im dritten Stadium der Selbstheiligung des Menschen, dank der Erfüllung der göttlichen Gebote durch den Menschen, wirkt der Heiligungsakt wiederum von Gott auf den Menschen zurück, wie geschrieben steht: "Und ihr sollt selbst euch heiligen, und ihr werdet heilig sein." (Lev 11,44 u. 20,7) Die Selbstheiligung ist ein Ausdruck der gegenseitigen Beziehung zwischen Mensch und Gott. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Begriff der Heiligkeit bei Cohen an einen Komplex von rationalen sittlichen Werten gebunden ist. Der Inhalt der Heiligkeit ist in Cohens Lehre fixiert auf die sittlichen Gebote, denen er hohen Wert zuerkannte. Cohen als Liberaler sah keine Notwendigkeit, die Übernahme des Jochs der Gebote zur Pflicht zu machen. Außerdem trachtet er danach, die Heiligkeit auf die gesamte Menschheit auszudehnen, sofern diese bereit ist, die monotheistische Moral auf sich zu nehmen. Cohen sieht die Heiligkeit weder an einen Ort noch an bestimmte Personen gebunden. Dabei weiß er jedoch um die besondere Heiligkeit von Zeiten, wie die Heiligkeit des Sabbats oder die des Versöhnungstags. Weder bei Cohen noch bei Hirsch findet sich eine Bezugnahme auf die mystischen Aspekte der Heiligkeit. Doch während Cohen scharfe Ablehnung der Mystik äußert, distanziert sich Hirsch nur von ihr. Cohens Buch Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums wurde im Jahre 1918 verfaßt. Zu jener Zeit kamen neue Strömungen auf, die zu einer Ablehnung der rationalistischen Haltung des 19. Jahrhunderts führten. Kierkegaard wurde entdeckt, Freuds Schriften wurden veröffentlicht, und zusammen mit einer Neigung zum Existenzialismus wurde auch die Notwendigkeit empfunden, sich mystischen und mythischen Deutungen erneut zuzuwenden, die während des vorigen Jahrhunderts im Abend23 Dazu Jehuda Melber, Hermann

Cohen's Philosophy

24 Vgl. dazu Hermann Cohen, Religion

der Vernunft,

of Judaism,

N e w York 1968, 308.

118 f.

25 Ebd., 120. Vgl. Elia de Vidas, Beginn der Weisheit: "Ihr heiligt euch durch mich, und ich heilige mich durch euch." Dazu gibt es auch Parallelen im Midrasch.

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land verdrängt worden waren. So begann der junge Buber mit der Erforschung von Mythen verschiedener Völker und entdeckte für sich und die Welt den Reichtum des Chassidismus, in seinen Büchern über R. Nachman von Brasslaw, über den Baal SchemTow, über die chassidischen Erzählungen u.a. Franz Rosenzweig, der auf anderen Wegen die Grenzen des Rationalismus sehen gelernt hatte, war von der Philosophie des alten Schelling, von Kierkegaard sowie von seinem eigenen religiösen Erlebnis beeinflußt. Er suchte eine religiöse Lösung im Geiste des 20. Jahrhunderts, gegen den Geist des 19. Jahrhunderts. Der Raw Kook, einer der bedeutendsten Männer unseres Jahrhunderts, brachte reiche Schätze jüdischer Quellen aus den Kreisen des Chassidismus und seiner Gegner sowie der Kabbala mit. Er wohnte im Land Israel und entwickelte seine metaphysische mystische Lehre. Auch der junge Gerhard Scholem begann seinen Weg mit Forschungen zur Kabbala. Verschüttete Gedankenströme drängten wieder ans Tageslicht. Scholem allerdings bediente sich später beim Ausbau seiner Gedankenwelt vorwiegend des Begriffs des Säkularen; aus verschiedenen Gründen griff er auf den Begriff der Heiligkeit so gut wie gar nicht zurück. Im Jahre 1917 veröffentlichte der protestantische Theologe Rudolf Otto sein Buch Das Heilige mit dem Untertitel Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Im Unterschied zu seinen Vorgängern, die den Begriff des Heiligen in philosophischem Kontext behandelt hatten, war Ottos Ansatz ein phänomenologisch-empirischer. Otto betrachtete das Heilige als emotionales religiöses Erlebnis. Anhaltspunkte dafür fand er u.a. in der jüdischen Liturgie der Hohen Feiertage, in den Bekenntnissen und religiösen Erfahrungen von Menschen aus verschiedenen Ländern und Zeiten. Laut Otto ist Heiligkeit nicht gleichbedeutend mit Sittlichkeit, sie ist auch kein Produkt der Ästhetik oder der Soziologie. Sie enthält sowohl rationale als auch irrationale Momente. 26 Otto geht von der Unvergleichbarkeit des Heiligkeitsgefühls mit jedem anderen Gefühl aus. Es handelt sich um eine Größe sui generis. Es ist das Gefühl vor dem "Anderen", das sich nicht in abstrakten Sätzen formulieren oder in rationalen Begriffen definieren läßt. Otto prägte für dieses Gefühl - eine zentrale Komponente jeglicher Religion - den Begriff des "Numinosen" (abgeleitet von der lateinischen Vokabel numen = Gottheit). Der Gläubige empfindet Gott als mysterium tremendum, als furchtbares Geheimnis. Der Gläubige fühlt, daß der verborgene Gott ein Geheimes ist, das ambivalente Reaktionen auslöst: Gott ist sowohl barmherzig als auch der furchterregende Herrscher; er bringt zum Erzittern und fasziniert; erregt Sehnsucht, Liebe, Hochgefühl und Anhänglichkeit, aber auch Abscheu und Furcht vor übergroßer Nähe. Otto erläutert das gewaltige Erlebnis des Hingezogenseins zu dem heiligen und furchtbaren König sowie die ungeheure Kluft zwischen Gott und dem Menschen, der doch nur ein schwaches Geschöpf ist, "Staub und Asche". Otto erblickt in der Heiligkeit Inbegriff und Höhepunkt der Religion. Unter Bezugnahme auf Ottos Buch gibt Joseph Schechter

26 Dazu Josef Ben-Shlomo, "Das Rationale und das Irrationale in Rudolf Ottos Religionsphilosophie" (hebr.), in M. Daskal u. A. Parush (Hg.), harationali ve-ha-irrationali, Universität ben-Gurion 1975, 75-87; dieser Aufsatz behandelt Ottos Verhältnis zur Kantischen Ethik.

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Beispiele dafür aus der jüdischen Liturgie der Hohen Feiertage27 und aus der Königskrone des R. Salomo ibn Gabirol. 28 Ottos Ausführungen erinnern in der Tat an die Worte des Maimonides, der aus tiefer religiöser Erregung heraus schrieb: "Während der Mensch in Betrachtung versunken ist [...] und die Weisheit des Heiligen, gelobt sei Er, in allen Wesen und Geschöpfen erblickt [...] dürstet seine Seele und hungert sein Leib danach, den Höchsten gelobt sei Er zu lieben, und er gerät in Furcht und Schrecken ob seiner Niedrigkeit und Dürftigkeit [...] so findet er sich selbst als ein Gefäß voller Ekel und Abscheu, leer und mangelhaft." (Hilchot Jessode haTora IV 12) Gott ist, laut Otto, eine absolut transzendente Realität. Ottos Analyse, die sich auf Heiligkeit als Erlebnis gründet, geht sowohl den rationalen als den irrationalen Aspekten der Heiligkeit nach, wobei das Irrationale allerdings überwiegt. Von der Bibel führt sein Weg direkt zur Mystik. Mannigfach verstärkt erscheinen bei ihm die gedanklichen Ströme zum Irrationalen und Mystischen hin. Heiligkeit als Erlebnis ist bei ihm weder ein ethisches (von daher die Spannung zwischen seinem und dem Kantianischen Zugang) noch ein ästhetisches noch ein intellektuelles Moment, vielmehr handelt es sich um eine Kategorie sui generis, deren Ort Otto zu bestimmen suchte. Die Religion ist autonom. Ottos Buch stieß auf lebhaftes Echo auch im jüdischen Lager. Es gab nicht wenige tief religiöse Menschen, welche die Schwächen der rationalen Auffassungen des 19. Jahrhunderts schmerzlich empfanden und ihre eigenen lieber auf den Mythos und auf das Element des Irrationalen gründen wollten. Denen kam die Hervorhebung des irrationalen Moments der Heiligkeit natürlich gelegen. Doch Otto fand nicht nur Zustimmung im jüdischen Lager. Eine frühe Auseinandersetzung spielte sich bereits 1922 ab, in Martin Bubers Frankfurter Lehrhaus-Vorlesung "Religion als Gegenwart", eine Art Entwurf seines 1923 erschienenen Ich und Du.29 Dort in der Einleitung widerspricht Buber Otto, ohne ihn beim Namen zu nennen, indem er nämlich eine Haltung ablehnt, die in der Religion eine eigene Kategorie erblickt, ohne Beziehung zu Ethik, Ästhetik und sonstigen menschlichen Lebenswerten, wonach das religiöse Erlebnis ein gesondertes neben anderen Erlebnissen sei. Demgegenüber vertritt

27 Joseph Schechter, "Betrachtungen zur Liturgie von Neujahr und Versöhnungstag" (hebr.), Schdemot, 56 (Winter 1975), 673-687, mit Bezug auf den Anfang des zweiten Kapitels bei Otto. Schechter erhebt gegen Otto den Vorwurf, seine Deutung der Sünde sei zu christlich, von der Erbsünde beeinflußt, aber die Vergleiche seien interessant. So heißt es etwa in der Liturgie der Hohen Feiertage "unser Vater, unser König, gedenke, daß wir Staub sind" oder "daher lege deine Furcht [ . . . ] auf all deine Werke" u.v.a. 28 Theosophischer Hymnus des jüdisch-spanischen Dichters aus dem frühen 11. Jahrhundert. An manchen Stellen erscheint die Ähnlichkeit frappant, so etwa: "Dein ist die Herrlichkeit, deren Geheimnis unser Denken nicht zu ergründen vermag, denn du bist viel gewaltiger [ . . . ] Dein ist die Macht, durch nichts getragen, und die Fähigkeit, alles Verborgene ans Licht zu bringen [ . . . ] Du bist der Höchste, das Auge des Verstandes sehnt und verzehrt sich nach dir, vermag aber nur deinen Saum zu erschauen, nicht dich selbst [ . . . ] und nicht gemindert wird deine Würde durch die Menge derer, die einen anderen verehren, denn alle trachten im Grunde danach, zu dir zu gelangen." 29 S. dazu Rivka Horwitz, Buber's Way to "I and Thou". An Historical Analysis and the First Publication of Martin Buber's Lectures "Religion als Gegenwart", Heidelberg 1978, 20-29; ferner Hans Kohn, Martin Buber, Köln 1961, 213.

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Buber die Auffassung, Gott als stets Gegenwärtiger, als ewiges Du, sei der Ursprung sämtlicher übrigen Kategorien, die Quelle, aus der alles fließt, insofern "Religion als Gegenwart". Ein Jahr danach, in seinem Buch Ich und Du, kritisierte Buber den Erlebnisbegriff allgemeiner, indem er der Vorstellung vom religiösen Erlebnis als einem einmaligen, außerordentlichen Ereignis das Eigentliche der Religion als die wahre Begegnung von Menschen untereinander gegenüberstellt. Laut Buber ist Gott in der Begegnung gegenwärtig. Demnach geht es darum, die Heiligkeit im alltäglichen Leben aufzuspüren, an jedem Ort und zu jeder Zeit, sogar unterwegs im Bus. Dieses Erlebnis, nach Buber ein dialogisches Ereignis, bringt uns zurück zu biblischer Denkweise und steht im Gegensatz zum Erlebnisbegriff nach Schleiermacher oder Otto. Auch Bubers Auffassung von Gott ist eine andere als Ottos. Gott ist nicht nur der "ganz Andere", ein ferner, d.h. transzendenter, Gott. Er ist auch der nahe Gott, befindet sich innerhalb der Welt, offenbart sich in der Natur, kein Ort ist gottleer. Mit dieser Auffassung kommt Buber dem Chassidismus nahe. Buber kennt, ebenso wie der Chassidismus, einen Gott, der sowohl transzendent als auch immanent ist, einen Gott, der sowohl geheimnisvoll und furchtbar als auch geliebt ist, "dir näher als dein eigenes Ich". Bei Otto vermißte Buber den nahen Gott, das Dialogische, die Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch, die stete Nähe von Ich und Du. Ottos Sicht erscheint Buber zu einseitig, da sie hauptsächlich im Gefühl der menschlichen Nichtigkeit gründet, der Mensch als Gebilde aus Staub und Asche vor dem fernen Gott. Andere Vertreter der jüdischen Seite dagegen führten die Kantische Linie weiter, die Verknüpfung von Ethik und Heiligkeit; in ihren Augen war Ottos Haltung eine romantische, die nicht dazu beitrug, in den biblischen Geboten oder im jüdischen Religionsgesetz einen Weg zur Heiligkeit zu sehen. Der Einwand des Raw Kook gegen Otto hängt mit seiner Kritik an Christentum und Heidentum zusammen. Das Christentum entfremdet den Menschen sowohl der Natur als auch dem Religionsgesetz; es betrachtet das natürliche Leben als ein Leben wider die Religion. Laut Raw Kook ist das christlich-religiöse Erlebnis ein ganz anderes als das jüdische. Er vertritt die Auffassung, jede Religion habe ihren eigenen Begriff von Heiligkeit. Im Christentum bestehe das religiöse Erlebnis, laut Otto, in Furcht und Zittern, sei also eine negative Erfahrung. Im Judentum dagegen sei es ein positives Erlebnis, die Erfahrung der Liebe. 30 Die Einstellung des Raw Soloveitchik zu Ottos Lehre ist ambivalent: Einerseits stimmt er mit Otto insofern überein, als das von Otto geschilderte erschütternde Erlebnis Soloveitchiks Lebensgefühl entspricht; andererseits aber stimmt er mit Otto nicht überein, denn sein Hauptanliegen ist doch die Halacha. Wie Otto stützt sich auch Soloveitchik auf das persönliche Erleben, die Kombination von Rationalismus und Mystik ist ein Charakteristikum auch seines Denkens. Soloveitchik sieht sich als Nachfahre der dialektischen Strömung von Heraklit über Hegel, Kierkegaard, Karl Barth bis Rudolf Otto, deren Anerkennung die Persönlichkeit befruchtet und deren Leugnung Welten auf-

30 B. Isch Schalom, Der Raw Kook - zwischen Mystik und Rationalismus (hebr.), Tel-Aviv 1990, 156. Die Worte des Raw Kook dort sind zitiert aus dessen Buch Ikwe haZon, 147 f.

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baut.31 Aber andererseits gibt es Spannungen zwischen ihm und dem protestantischen Theologen, denn es handelt sich um die Auseinandersetzung eines gebotstreuen Juden mit seinem Glauben, dessen Wegweiser die Halacha ist und dessen wichtigstes Hilfsmittel zur Meinungsbildung der Talmud. Soloveitchik weiß wie Otto um das Paradox des religiösen Erlebens, um das Verlangen, auf Gott zuzulaufen und vor ihm wegzulaufen. "Wenn Gott aller Unterscheidungen ledig sich als furchtbares Geheimnis enthüllt und Schrecken verbreitet [...] entflieht das elende Geschöpf aus purer Verzweiflung." 32 Soloveitchik setzt sich auch mit den zu seiner Zeit in den USA verbreiteten pragmatischen Strömungen auseinander, die in der Religion etwas Gutes und Nützliches sehen, ein schlichtes und vergnügliches angenehmes Erlebnis, das den Menschen erbaut und auf die Stufe der Heiligkeit emporhebt. Laut Soloveitchik ist genau das Gegenteil der Fall. Das religiöse Erlebnis hat zwei Pole, den der Furcht und den der Liebe.33 Die Heiligkeit erhebt den Menschen zwar, aber sie verleiht seinem Leben keine Harmonie, ganz im Gegenteil: Sie offenbart ihm die Unmöglichkeit, das Rätsel seiner Existenz zu lösen. Die Heiligkeit ist kein Paradies, sondern ein Paradox, denn die vom Heiligen her drohende Gefahr ist größer als die des Profanen. Soloveitchik geht sogar so weit, zu sagen, daß die Religion von der Heiligkeit her große Macht besitzt, aber auch dämonische, destruktive Kräfte in sich birgt. So kann Heiligkeit zur Dirne werden.34 Soloveitchik sieht Gott sowohl außerhalb als auch innerhalb der Welt, sowohl transzendent als auch immanent. "Der erhabene und furchtbare Gott"35 wohnt auch in der Welt. Soloveitchik zitiert die Stelle aus der Mechilta des R. Jischmael, wo berichtet wird, daß Gott den Himmel herabbog und auf den Berggipfel herniederstieg. Diesen Abstieg Gottes in die Welt deutet er als Nähe Gottes zur jüdischen Halacha und zum Tora-gemäßen Leben des Juden. Besonders deutlich faßbar wird Gottes Gegenwart bei den Gelehrten, welche die auf dem Sinai verliehene Tora fortführen und auslegen, die in den Lehrhäusern sitzen und sich mit der Halacha befassen, die alle Details des alltäglichen Lebenswandels umfaßt. Gott, den die Himmel nicht zu fassen vermögen, ergießt doch seine Heiligkeit über die Stiftshütte, ein Heiligtum aus Holz. Der Prophet Jesaja hat den hohen und erhabenen Gott geschaut, aber auch den, "der in jedem Körnchen der Schöpfung wohnt und dessen Glorie das Weltall erfüllt". 36 Während Otto die Distanz betont, findet sich bei Soloveitchik die Nähe Gottes. Ganz gelegentlich kommt es sogar vor, daß der Raw etwas von seinem persönlichen Erleben durchblicken läßt, wenn er etwa sagt: "Wenn ich von Gottes Nähe spreche - dann spüre ich sie, sobald ich 31 R. Joseph Dov Soloveitchik, Halakhic Man, Philadelphia 1983, 17; vgl. auch ders., The Halakhic Mind. An Essay on Jewish Tradition and Modern Thought, New York 1986, 1. 32 Ebd., 158; vgl. auch Gershom Scholem, "Religiöse Autorität und Mystik", in ders., ZurKabbala ihrer Symbolik, Zürich 1960, 45 f.

und

33 Vgl. dazu den englischen Aufsatz von Soloveitchik, "The Sacred and the Profane", Gesher - a publication of the Student Organization of Yeshiva University, 3 (1966), 5-28. 34 Hebräisches Wortspiel zwischen Keduscha ( = Heiligkeit) und Kedescha ( = Kultprostituierte). 35 R. Joseph Dov Soloveitchik, Isch haHalacha, 46 ff. 36 R. Joseph Dov Soloveitchik, Isch haEmuna, Jerusalem 1968, 31.

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den Talmudband zum Lernen aufmache. Wenn ich ein Blatt Talmud lerne, spüre ich den Heiligen gelobt sei Er geradezu hinter mir stehen, fühle, wie er mir die Hand auf die Schulter legt, mit in den Talmudband hineinschaut und mich fragt: Was lernst du da?" 37 Von der liberalen Haltung aus, die sich den Geboten gegenüber selektiv verhält - wie sie sich etwa bei Hermann Cohen findet (über den er in Berlin seine Doktorarbeit schrieb) - stellt Soloveitchik die These auf, Heiligkeit sei nicht identisch mit dem sittlichen Ideal des Guten, vielmehr sei sie ein Gebot, dessen Erfüllung dem Juden obliegt, und sie äußere sich in einem halachischen Lebenswandel. Nur Leben nach den Regeln der Halacha sei heiliges Leben. Soloveitchik plädiert gegen die Abwertung der Halacha, für das Halten der ganzen Halacha. In seinen Augen ist die Halacha sittlich und gerecht, sie vertritt das Recht der Unterdrückten und Verlassenen. Gerade die jüdische Halacha "weiß nichts von dem Dualismus, wie er in den übrigen Religionen herrscht, die einen Unterschied machen zwischen dem Menschen, der vor Gott steht [...] und dem Menschen, der auf dem Markt kauft und verkauft". 3 8 Soloveitchik behauptet, vielleicht als Gegenposition zum Christentum, daß im Judentum der Markt eine religiöse Angelegenheit sei. Ein Blick auf die im Talmud und in der Dezisorenliteratur behandelten Belange lehrt, daß er nicht ganz unrecht hat. In weiterem Sinne kann Soloveitchik sagen, daß auch "die Erschaffung der Welt ein sittlicher Akt ist, der durch die Sinai-Offenbarung zur Vollendung gelangt ist". 39 Gott ist der Ursprung der Sittlichkeit, und das gesetzestreue Judentum ist das Werkzeug, mit dem das Profane geheiligt wird. 40 Im Zusammenhang mit dem Paradox des gleichzeitig fernen und nahen Gottes schreibt er: "Die Idee des Heiligen steht in der Lebensanschauung der jüdischen Gemeinschaft nicht für eine Transzendenz, die der Realität völlig fern stünde und ihr entzogen wäre. Ebensowenig bezeichnet sie die volle Verwirklichung des ethischen Ideals des obersten Guten, das am Bereich des Transzendenten nur durch Normen und Werte beteiligt wäre." 4 1 Nach Soloveitchik ist die Ethik an Menschen aus Fleisch und Blut gebunden. Die Halacha, die göttlichen Ursprungs ist, befaßt sich mit dem Alltag und ist auf Heiligung der ganzen Welt gerichtet. Mit seiner Überzeugung von der Sittlichkeit der Halacha kommt der Raw Soloveitchik Samson Raphael Hirsch nahe. Aber bei Hirsch ist das ethische Moment stärker betont als bei Soloveitchik. Zum Heiligkeitsgebot schrieb Soloveitchik: "Der Mensch heiligt sich nicht durch metaphysische Vereinigung mit dem Verborgenen, nicht durch geheimnisvollen Kontakt mit dem Unendlichen, auch nicht durch weltumspannende Extase, sondern durch sein leibhaftes Leben, durch dessen viehische Funktionen und durch die praktische Verwirklichung der Halacha in der Welt." 4 2

37 R. Joseph Dov Soloveitchik,

al haTeschuwa,

38 R. Joseph Dov Soloveitchik, Isch haHalacha, 39 Ebd., 223. 40 Ebd., 224. 41 Ebd., 46 f. 42 Ebd., 47.

hg. v. Pinchas Peli, Jerusalem 1979, 296.

80.

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Die Halacha ist es, die das Leben heilig macht, und sie steht im Zentrum seines Denkens. "Heiligkeit repräsentiert Leben nach den festen Ordnungen der Halacha." Heiligkeit ist, wie gesagt, keine Sache geheimnisvoller Erhebung und Vereinigung mit Gott, sondern sie entsteht durch das Tun des Menschen und ist dadurch bedingt; die Halacha begründet die Heiligkeit im alltäglichen Leben. Das Land Israel wurde dadurch heilig, daß Josua es einnahm. Der Mensch heiligt einen Ort und bereitet seinem Schöpfer eine Wohnstatt. In der bis heute anstehenden Diskussion, ob es eine gegenständliche, wesenhafte Heiligkeit gebe, die gewissen Dingen eigen sei, steht Soloveitchik natürlich auf seiten derer, die keinem irdischen Ding eine gegenständliche wesenhafte Heiligkeit zuerkennen. Heiligkeit ist nämlich etwas Bedingtes, d.h. wenn der Jude die göttlichen Gebote erfüllt, wird er als Individuum und als Kollektiv heilig, auch sein Land wird geheiligt; wenn er die Gebote aber nicht erfüllt, werden er selbst und sein Land kultisch unrein. Die Vertreter dieser Richtung gehen davon aus, daß die Erfüllung der Gebote der Weg ist, auf dem der einzelne Jude oder das Volk, die Gemeinde oder das Land, heilig werden können. Was die zentrale Stellung der Halacha betrifft, besteht offenbar eine unverkennbare Nähe zwischen Soloveitchik und dem unlängst verstorbenen Professor Jesaja Leibowitz: Beide sehen in der Halacha den wesentlichen Ausdruck des Judentums und beide sehen in ihr den Weg zur Heiligkeit. Auch Leibowitz neigt zum dialektischen Denken, auch er ist von Karl Barth her beeinflußt; aber während das Judentum nach Soloveitchiks Auffassung eine ethische Religion ist, läßt Leibowitz im Judentum keinen Raum mehr für ethische Werte. In seinen Augen ist Ethik etwas Heidnisches oder Atheistisches, Judentum und Ethik haben nichts miteinander zu tun. 43 Die jüdischste Tat ist, nach Leibowitz, die Bindung Isaaks als Symbol für Abrahams absoluten Glauben an Gott bis hin zum Verzicht auf den ethischen Wert. Inbegriff des Judentums ist zwar auch für Leibowitz der Glaube an den Einen Gott und die Erfüllung der Halacha, aber er ist nicht bereit, die Bedeutung der Halacha zu erläutern. In konsequenter Verlängerung seines extremen Gedankenganges kam Leibowitz zu der polemischen Feststellung, die Klagemauer sei keine heilige Stätte und das Gebet dort nichts als ein Anbeten der "Steine des bösen Herodes". Die Ableitung dieses Schlusses aus seinen Prämissen ist schwer nachvollziehbar, denn im Unterschied zu dem liberalen Juden Hermann Cohen beruft sich Leibowitz auf die Halacha, und die Heiligkeit der Klagemauer ergibt sich aus der Halacha. Eine andere Auffassung von Heiligkeit, die schon Jehuda Halevi kannte, unterscheidet heilige und profane Zeiten. Dieser Ansatz findet sich bei etlichen Denkern der letzten Generationen wieder. R. Jehuda Halevi, von dem die Späteren wohl inspiriert sind, schrieb, die Stunden des Gebets seien "Kern und Frucht der Zeit, die übrigen Stunden sind gleichsam Wege zu dieser Stunde". 44 In diesen Stunden distanziert sich der Mensch von dem viehischen Element, wodurch das geistige verunziert wird, von elendiglicher

43 Jesaja Leibowitz, Judentum, jüdisches David Hartman, The Living Covenant,

Volk und Staat Israel (hebr.), Jerusalem 1976, 239. S. auch New York 1985, 61.

44 Kuzari III 5. Zur Gegenüberstellung von heilig und profan s. auch: Mercia Eliade, The Sacred and the Profane, N e w York 1958 , 8 0 f f . , dessen Ausführungen allerdings im Grunde nicht hierher gehören.

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Belastung, von schlechter Gesellschaft oder menschlichen Schwächen. Demnach sah R. Jehuda Halevi im Leben des Juden einen rhythmischen Wechsel von Entfernung und Annäherung an Gott, von profan und heilig, vom Sabbat, dem ganz heiligen Tag, dem "Kern" der Woche, an dem der Jude zum Anhangen an Gott gelangt, und von den sechs Werktagen. Die Betrachtung der Heiligkeit als Erleben von Heiligkeit in der Zeit, im Zyklus des Jahres45 verknüpft die Heiligkeit nicht mit dem Ethischen. Dieser Zugang findet sich etwa bei Rosenzweig und bei Heschel in ihrer Auslegung zu den jüdischen Festen, speziell zum Sabbat. Das ist insofern nicht erstaunlich als der Sabbat das Paradebeispiel für Heiligkeit ist, die primäre Heiligkeit gegenüber sämtlichen übrigen Arten von Heiligkeit. Bezugnahme auf den Jahreszyklus findet sich auch in den Schriften von Samson Raphael Hirsch, der den Unterschied zwischen dem profanen Leben und den Augenblicken der Heiligkeit an Sabbat und Feiertag hervorhebt. Diese Unterscheidung ist besonders offenkundig im Leben des abendländischen Juden zur Zeit der Emanzipation, da dieser zwischen zwei Welten lebt: zwischen der Welt des Geschaffenen (Technologie und Handel) und der Welt als Sinai und Offenbarung, zwischen Natur und Heiligkeit, zwischen der nicht-jüdischen Welt und der Tora, die ihm die Heiligung seines Lebens gebietet. Franz Rosenzweig (der mit Hirschs Schriften vielleicht nicht sonderlich vertraut war, aber die Ähnlichkeit der beiden untereinander ist an manchen Punkten verblüffend) betrachtete das Judentum als einen Lebenskreis von heilig und profan. Er war gegen eine rationale Definition des Judentums oder seine Beschreibung als ethischen Monotheismus, wie sie im 19. Jahrhundert üblich waren. Charakterisiert ist die geheiligte, die ewige Zeit als eine stehende Erlebniszeit.46 Der jüdische Festzyklus basiert zwar auf dem Lauf der Gestirne, die sich ständig bewegen, ohne Anfang und Ziel, aber die Heiligkeit ist kein Naturelement, sondern die Frucht göttlich-menschlichen Schaffens. 47 Die Woche, eine nicht naturgegebene Zeiteinheit, reguliert den Ablauf des Lebens. Die Woche ist mehr als ein Abbild der "Ewigkeit", sie ist Gottes Werk, Absicherung des Ewigen in der Zeit. Schön sind Rosenzweigs Ausführungen über den Sabbat. Ein Moment, das er im Zusammenhang mit diesem Tag besonders hervorhebt und das auch in der chassidischen Literatur vorkommt, ist die Sabbatrede. Die Lesung von Tora- und Prophetenabschnitt am Sabbat oder die auf Bibelversen beruhende Predigt sind Beispiele für heiliges Reden. Geschwätz ist nur am Werktag möglich, aber nicht am Ruhetag, dem Tag des Schweigens; wie schon Jesaja das "noch ein Wort reden" (Jes 58,13) unter den besonderen Sabbatgeboten aufführt. An diesem Tag ist die Vollkommenheit zu spüren. Rosenzweig empfindet auch, daß der Jude am Sabbat sich bereits erlöst fühlt. Im Jahreszyklus erlebt der Gläubige den Wechsel von heilig und profan dank des besonderen Charakters der Festzeiten. An Feiertag oder Sabbat treffen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebnismäßig zusammen und verleihen jedem einzelnen Fest 45 Die Vorstellung vom Judentum als einer Heiligkeit der Zeit, nicht des Ortes, steht der Ansicht der Reformer nahe und widerspricht sicherlich der Halacha, R. Jehuda Halevi und dem Raw Kook. 46 Rosenzweig spielt hier mit den Wörtern "stehen" und "Stunde"; s. Der Stern der Erlösung, III, 39. 47 Dazu ebd., 40 f.

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seine Bedeutung. Der wöchentlich wiederkehrende Sabbat schreitet durch das Jahr und "verleiht dem Jahr Dasein". 48 In den Sabbatgebeten geht es nicht um Bedürfnisse und Nöte des einzelnen, hier werden Schöpfung, Offenbarung und Erlösung gerühmt aus dem Bewußtsein ewigen Lebens und im Ausblick auf die Vollendung. "Der Sabbat ist der Traum von Vollendung, aber nur ein Traum. Und erst indem er dies beides ist, wird er wirklich der Grundstein des Lebens", 49 aus dem sich der Kreis der Woche und des Jahres erbaut. Mit dem Ausgang des Sabbats muß der Mensch wieder den Weg in den Werktag finden, auf den Markt des Lebens, oder (um mit Heine zu sprechen): der Königssohn verwandelt sich zurück in den Hund und wartet auf den kommenden Sabbat. Während Rosenzweig das über den Sabbat ausgegossene göttliche Licht "Ewigkeit" nennt, heißt es bei Abraham Heschel "Heiligkeit". Nach Heschels Meinung bezeichnet das Wort "heilig" das Geheimnisvolle und das Königliche der Gottheit. Heschel, der amerikanische Juden mit der Heiligkeit des Sabbats vertraut machen will, unterscheidet in seinem Buch über den Sabbat verschiedene Grade von Heiligkeit nach der Reihenfolge ihrer Erwähnung in der Bibel, dergestalt daß die zuerst erwähnte die höchste Stufe darstellt, die als zweite erwähnte die zweithöchste und so weiter. Zum ersten Mal kommt die Heiligkeit der Zeit in der Bibel im Schöpfungsbericht vor: "Da segnete Gott den Sabbattag und heiligte ihn" (Gen 3,2), woraus Heschel schließt, daß die Heiligkeit der Zeit höher stehe als jede andere Kategorie von Heiligkeit. Heschels Äußerungen über den Sabbat muten geradezu dichterisch an: "Der Sabbat ist ein Versuch, Gott in der Zeit zu finden. Der Sabbat ist ein Palast in der Zeit. "50 Die Heiligkeit des Sabbats ist das, was Heschel sich über die verschiedenen Stationen seines Lebenswegs hin (von Polen nach Deutschland, zurück nach Polen, von dort nach England und in die USA) bewahrt hat. Für ihn als Flüchtling vor dem Holocaust ist die Heiligung des Sabbats, das Festhalten an der Heiligkeit in der Zeit, das, was dem Juden im Exil geblieben ist, alles, was er zu tun hat. Die göttlichen Gebote sind die Kunst, der Zeit Form zu verleihen.51 Die zweite Erwähnung der Heiligkeit findet sich bei der Sinai-Offenbarung: Bevor das Wort Gottes zu vernehmen war, erging der Ruf an das Volk: "Ihr seid mir ein Königtum von Priestern und ein heiliges Volk", was Heschel als den Aufruf zur "Heiligkeit des Menschen" deutet. Die Heiligkeit des Ortes ist laut Heschel die letzte in der Rangfolge. Sie wird erst erwähnt, als das Volk bereits der Versuchung der Anbetung des Goldenen Kalbs erlegen ist. Danach erhielt das Volk die Anweisung zur Errichtung der Stiftshütte, eines ortsgebundenen Heiligtums. Heschel, der mit seiner Betonung des Jahreszyklus sowie der Kluft zwischen Natur und Heiligkeit in Hirschs Fußstapfen tritt, sieht in der "Heiligkeit des Ortes" ein Zugeständnis an die menschliche Natur, die eines räumlichen Anhalts-

48 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 64. 49 Ebd., 68. 50 Zur Formulierung vgl. Abraham Joshua Heschel, The Sabbath - its Meaning for Modern Man, New York 1951, 14-16. 51 Vgl. ebd., 18.

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punktes bedarf. 52 Heschel geht in diesem Zusammenhang nicht auf die Heiligkeit des Landes ein, überhaupt betont er den Wertunterschied zwischen Heiligkeit des Ortes und Heiligkeit der Zeit: der Ort ist durch Moses geheiligt, die Zeit durch Gott selbst. Aus Heschels Ausführungen wie aus denen seiner Vorläufer, Hirsch und Rosenzweig, spricht ein Drang zum Geistigen hin: Je ferner das Fest der Natur steht, desto höher sein Rang. Beim Sabbat weist er ausdrücklich darauf hin, daß Eingang und Ausgang des Tages zwar durch Gestirne bestimmt sind, die Wiederkehr des Tages als solcher aber nicht. Der Jude zählt jeweils sechs Werktage und ruht am siebten. Somit ist der Sabbat nicht naturbedingt und steht nach Heschels Auffassung an Heiligkeit höher als die übrigen Feste, die an den Lauf von Mond und Sonne gebunden sind, wie die verschiedenen Erntefeste. Der Sabbat dagegen repräsentiert das Heilige, den Wunsch, sich Gott zu nähern, und gleichzeitig Verzicht auf den Willen, die Technologie zu beherrschen. Bei der weiteren Entfaltung der "Heiligkeit des Ortes" wandte Heschel diesen Begriff auch auf das Land Israel und auf Jerusalem an. Er schrieb: "Geheiligt ist das Land Israel durch das Blut des Volkes, durch die Leiden von Generationen, durch Tränen und Gebete von zwei Jahrtausenden [...] Der Staat ist nicht nur eine Zuflucht für die Überlebenden, sondern auch eine heilige Statt für die Neubelebung von Glauben und Gerechtigkeit. Das Land heiligt sich dank der prophetischen Vision." 53 Heschel schreibt über die Heiligkeit des Landes Israel unter dem lebhaften Eindruck des Sechs-Tages-Krieges, als er die furchtbare Angst vor der Zerschlagung des Staates Israel durch die Araber miterlebte. Tiefer ist er nicht in die Problematik eingedrungen. Seine Ausführungen richten sich an die Juden in der Diaspora, viele schöne Worte über die Heiligkeit des Landes, Ermunterung zu brüderlicher Liebe und gegenseitiger Verantwortlichkeit. Heiligkeit des Landes und des Volkes als eine Urtatsache, nicht auf Ethik gegründet, sondern auf die Beziehung zu Gott, findet sich in neuerer Zeit beim Raw Kook, bei Buber und bei Rosenzweig. Buber will, vielleicht mehr als alle übrigen, in die archaische Schicht der Heiligkeit von Zeit und Ort eindringen und weist die Spätdatierung der Heiligkeit, d.h. des Buches Leviticus, durch die kritische Bibelwissenschaft als falsch zurück. Denn ursprünglich ist die Heiligkeit eine Eigenschaft, die diesem Volk und diesem Land eben dadurch verliehen wurde, daß Gott sie beide erwählte, um dieses Volk in dieses Land zu führen und die beiden zu vereinigen. 54 Heiligkeit bedeutet nach Bubers Auffassung, Gottes Eigentum sein, erst in späterer Zeit sei Heiligkeit eine kultische Kategorie geworden. Heiligkeit ist nicht durch Gebote bedingt, sie ist das Ergebnis göttlicher Erwählung, und das Volk vermag nicht zur Verwirklichung seiner göttlichen

52 Schon Mordechai Breuer hat den Einfluß von Hirsch auf Heschel beobachtet; vgl. seinen hebr. Aufsatz "Die Methode 'Tora im Derech Erez' in der Lehre von Samson Raphael Hirsch", haMaajan, 9 (1969), 12. Dort verweist Breuer auf die Übernahme von Hirschs Begriff der "göttlichen Anthropologie" durch Heschel, worunter zu verstehen ist, daß die Bibel nicht die Erkenntnis Gottes vermittelt, sondern die Erkenntnis des als Gottes Ebenbild erschaffenen Menschen. Dazu Abraham Joshua Heschel, God in Search of Man, Philadelphia 1956, 412 sowie Hirschs Kommentar zu Ex 20,21 f. 53 Abraham Joshua Heschel, Israel - Gegenwart

und Ewigkeit

(hebr.), Jerusalem 1973, 29.

54 Vgl. Martin Buber, Zion und die nationalen Ideen, Einleitung zu Israel und Palästina, Zürich 1950, 7; s. auch den Aufsatz von Uriel Tal, "Zu zwei Glaubensweisen in Bubers Lehre" (hebr.), in Hier und Jetzt (hebr.), Jerusalem 1989, 129-138.

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Bestimmung zu gelangen ohne das Land, wie auch das Land nicht zur Verwirklichung seiner Bestimmung zu gelangen vermag ohne das Volk. Buber spürte sein Leben lang mythischen, vitalen und konkreten Motiven nach, predigte gleichzeitig Toleranz, Liberalität und plädierte für einen bi-nationalen Staat im Lande Israel. Somit ist er der beste Beweis dafür, daß Auffassungen wie die seinigen nicht automatisch zu extremem Nationalismus führen müssen. Bei Rosenzweig hängt die Urheil igkeit an seinem Verständnis des Volkes Israel und seiner Erwählung. Zu Beginn habe Gott das Volk Israel erwählt, das anders sei als die übrigen Völker, von seinem Schöpfer bereits vor seiner Entstehung ausersehen. Die Geburt des Glaubens geht zusammen mit seiner Bestimmung. "Wir sind schon beim Vater", sagte Rosenzweig zu seinen christlichen Freunden. Daher sah er keine Notwendigkeit, zum Christentum überzutreten. In manchen seiner Schriften beschreibt er Israel wie ein überirdisches Volk, eine prä-existente himmlische Größe; in anderen Schriften wiederum spricht er von Einheit des Blutes und betont, die Juden seien Fleisch und Blut, keine Idee. Die jüdische Existenz lasse sich nicht durch eine Anschauung, einen Begriff oder Geist definieren, sie gründe in uralten Seelen-Elementen. Die Blutseinheit sei Ausdruck von Verwandtschaft und Schicksalsgemeinschaft aller Juden untereinander. Zwischen je zwei Juden bestehe ein stummes Einverständnis, eine Verständigung durch Blicke, die ungleich mehr sei als Verständigung durch Rede. In diesem Zusammenhang verweist Rosenzweig darauf, daß ein Jude auch ohne Beschneidung Jude sei. Mit dieser Feststellung, das Volk Israel sei schon heilig gewesen, bevor es die Tora empfangen habe, kommt Rosenzweig R. Jehuda Halevi nahe, der davon ausgeht, Gottes Interesse an Israel sei die direkte Fortsetzung seines Gesprächs mit Adam. Dazu schrieb Rosenzweig: "Das Dasein des Volkes ist mein Glaubensgrund, nicht das Gegebensein der Tora. Eines hat nur Sinn durch den Bezug auf das andere", 5 5 wie es im Segensspruch nach der Vorlesung des Wochenabschnitts heißt: "Gelobt seist Du [...] der uns die wahre Tora gegeben und ewiges Leben gepflanzt hast mitten unter uns." Diese existentielle Auffassung findet sich ein wenig anders bei Raw Soloveitchik in seinen Ausführungen über den Bund von Ägypten und den Sinai-Bund; 56 ähnlich auch bei Raw Kook, der unterscheidet zwischen der Seelennatur Israels als väterliches Erbteil, Sonderheit, und der Erwählung durch Gebotserfüllung und gute Werke; dabei spricht er dem von den Vätern Ererbten einen wesentlich höheren Anteil zu als der Erwählung. 57 Rückblickend auf unsere Ausführungen bleibt in bezug auf die Idee der Heiligkeit in der Neuzeit eine Gliederung in drei gedankliche Strömungen festzuhalten: Die erste und wichtigste Strömung ist die rationalistische im Gefolge des Maimonides und Kants; sie versteht die Heiligkeit als gebunden an eine sittliche Aufgabe. Ihr nahe steht die Auffassung vom Befolgen der Halacha als Inbegriff der Heiligkeit. Eine zweite Strömung

55 Franz Rosenzweig, Tagebuch-Eintrag vom 23.06.1914, Briefe und Tagebücher /, Den Haag 1979, 162 sowie ders., Der Stern der Erlösung, III, 66. 56 R. Joseph Dov Soloveitchik, Isch haEmuna, "die Stimme meines Geliebten pocht", 84 ff. 57 Im (hebräischen) Schreiben an R. Jakob David ben Zimra, Briefe des Raw Kook (hebr.), II, Jerusalem 1962, 186.

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scheidet zwischen Heiligkeit und Ethik; diese Richtung ist im 18. Jahrhundert durch die Schrift Messilat Jescharim von R. Mosche Chaim Luzzatto vertreten. Sie betont das unkörperliche Anhangen an Gott. Eine dritte Richtung knüpft die Heiligkeit an eine Zeit, einen Ort oder sogar an bestimmte Personen. Bisweilen geht dieser Zugang mit Einhaltung der Gebote zusammen, bisweilen auch mit prä-existentiellen ontischen Größen und mythischer Denkweise, wie etwa die Vorstellung von der Heiligkeit des Volkes bzw. des Landes. Dabei droht das Verständnis der Heiligkeit als des höchsten sittlichen Wertes die Religion zu verflachen, wohingegen die Auffassung der Heiligkeit als etwas Gegenständliches die zentrale Stellung der Ethik in der Religion zu gefährden scheint.

Horst Folkers

Wissen wir noch nicht, "was aus der Bibel zu lernen ist"?

I Über die Möglichkeit philosophischer Bibelauslegung Philosophie ist Vernunfterkenntnis, vernünftiges Erkennen ihr Weg, die Erkenntnis oder das Wissen ihr Ziel. "Der einzige Gedanke, den sie [die Philosophie] mitbringt", ist, wie Hegel sagt, "der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht".1 Der Gegenstand der Vernunfterkenntnis ist die Wirklichkeit im Ganzen, im speziellen aber die conditio humana, genau übersetzt die "menschliche Beschaffenheit", das "menschliche Los", aber auch, philosophisch schärfer bestimmbar, die "menschliche Bedingtheit". Diese Bedingtheit hat natürliche und geschichtliche Momente, insbesondere aber ist der Mensch durch seine Würde bedingt. Die Würde kommt als das Menschliche dem Menschen unabhängig von den weiteren Bedingungen seines Lebens zu, er mag alt oder jung, arm oder reich, Mann oder Frau, Pole oder Deutscher, Jude oder Christ sein. Sie ist unantastbar, uneinschränkbar, unverlierbar. Keine Umstände, keine Menschen können dem Menschen seine Würde nehmen, ja, man muß bezweifeln, daß sich der Mensch selbst entwürdigen kann. Werden Umstände oder Handlungen, unter denen Menschen zu leiden haben, entwürdigend genannt, so will das besagen, daß sie gegen den Maßstab der Würde verstoßen, nicht aber, daß die Opfer, ihrer Würde beraubt, jetzt würdelos seien. Die Entwürdigung eines Menschen kann seine Würde sowenig einschränken, wie der Bruch des Rechts seine Geltung. Mehr noch, insofern die Würde der Grund menschlichen Rechts ist, kann immer noch eher der Rechtsbruch die Geltung des Rechts einschränken, als die entwürdigende Handlung die Würde des Opfers. So kommt die Würde dem Menschen nicht nur unbedingt zu als diejenige Bedingung, durch die er Mensch ist, sie ist zugleich Kriterium, Entwürdigendes und Würdeloses zu beurteilen, damit aber auch zu verurteilen und nach Möglichkeit zu verhindern, auszugleichen, zu versöhnen. Diese Stellung der Würde lehrt, daß sie nicht zur Disposition des Menschen steht. Der Mensch hat kein Urteil über sie, insbesondere kann er sie keinem Menschen absprechen, sie kommt ihm unbedingt, vom Unbedingten her zu. Der Mensch ist, was die Würde angeht, um seines Eigensten willen fremdem Gericht, dem Gericht des Unbedingten, unterworfen. Daher hat es die Philosophie, die die conditio humana bedenkt, auch mit dem Unbedingten und, insofern der Mensch nicht sein letzter Richter ist, mit dem letzten Gericht zu tun, oder, um es nicht in neuzeitlicher philoso1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Georg Lasson, 2. Aufl., Hamburg: Meiner 1920, 4, (neu hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner 1955, 28).

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Horst Folkers

phischer Terminologie zu sagen, mit Gott und mit ihm, als dem, der kommen wird zu richten. Will gegenwärtiges Philosophieren die conditio humana zu seinem Gegenstand machen, so kann es sich weniger auf die systembildende Kraft der Vernunft als auf die Vergegenwärtigung der Tradition des Denkens berufen. Die Vernunft erkennt ihre gegenwärtige Aufgabe erst vollständig, indem sie das Verständnis der Tradition in sich einholt. Deswegen ist die heute angezeigte philosophische Verfahrensweise wesentlich hermeneutisch. Die Erfahrungen des Menschen mit dem Menschen, mit seiner Bedingtheit und mit dem Unbedingten, bilden die Überlieferung, der sich hermeneutische Philosophie gegenübersieht. Zu dieser Überlieferung zählen in Europa insbesondere die von Sokrates ausgehende Erfahrung, auf dem Weg des "erkenne dich selbst" sich des Menschlichen zu vergewissern und die in Jesus von Nazareth ihren Höhepunkt findende Erfahrung, des Menschlichen in dem "liebe Gott mit all deinen Kräften und deinen Nächsten wie dich selbst" innezusein. Aus dieser Überlieferung lernt, vergegenwärtigt und erneuert im Wiederdenken hermeneutisches Philosophieren, wie es mit der conditio humana bestellt ist. Wenn heutige Philosophie die Bibel nicht ganz selbstverständlich zu ihren großen Quellentexten zählt, so liegt darin ein Mangel an historischer Selbstaufklärung. Den jahrhundertelangen Kampf der Philosophie gegen die Wahrheitsansprüche der Kirche weiterzukämpfen, ist heute ebenso obsolet, wie die Meinung des 19. Jahrhunderts, die gerade errungene Autonomie der Philosophie nur durch die interpretatio graeca der europäischen Dinge und die Opferung der jüdisch christlichen Quelle wahren zu können. Heute, da die Ohnmacht des Staates wie der Kirche in Wahrheitsfragen evident ist, ist die denkende Betrachtung der biblischen Überlieferung, die Frage an die Texte, wie sie die conditio humana verstehen und was sie zu ihrer Aufhellung beizutragen haben, eine genuin philosophische Aufgabe. Der rechte Abstand entscheidet, insbesondere in hermeneutischen Dingen. Die Übung des rechten Abstandes ist das Grundgesetz aller sachgemäßen Hermeneutik. Gegenüber dem heiligen Text vermeidet sie den pietistischen Irrweg, der die "Intimität mit dem Heiligen" 2 prätendiert, ebenso wie den positivistischen. Dieser, der heute geläufigere, vor allem in der exegetischen Wissenschaft zumeist wie selbstverständlich vorausgesetzte Irrweg weiß von vorneherein, daß ein Text entweder fiktional oder historisch ist, im ersten Fall steht er außerhalb des Wahrheitsfähigen, im zweiten ist er wahr nur als eine Abbildung von Fakten. 3 Der Historiker aber findet in dem alten, heilig genannten Text 2

Walter Benjamin, Brief an Gerhard Scholem vom 12. Juni 1938 in Auseinandersetzung mit Max Brod, dem er bescheinigt, daß seine "Haltung als Biograph [...] die pietistische einer ostentativen Intimität {sei}; mit anderen Worten die pietätsloseste, die sich denken läßt" (Briefe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, 757).

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Um so beachtlicher ist es, daß ein so angesehener Exeget wie Peter Stuhlmacher neuestens eine deutliche Abwendung von dieser, schon klassischen Form kritischer Exegese vollzieht, indem er nunmehr "seine Auslegungsmethode der Eigenart und dem Eigengewicht der Texte anzupassen" gesonnen ist. Das ließe sich mit dem hier vorgestellten hermeneutischen Konzept durchaus verbinden, das sich freilich nicht wie "die theologische Exegese der Heiligen Schrift [...] das Geheimnis des Wirkens Gottes für die Menschheit in und durch Christus vorgeben lassen" (Peter Stuhlmacher, Wie treibt man biblische Theologie?, Neukirchen-Vluyn: Neukirchner 1995, 84) darf und muß, wohl aber läßt es sich den Text vorgeben und liest ihn, wo er sich bewährt, als Zeugnis der Wahrheit.

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"was aus der Bibel zu lernen

ist"?

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eine nur undeutliche Abbildung, eine oft verwischte, v o n Irrtümern durchsetzte, von Interessen beschädigte, manchmal kaum noch rekonstruierbare, also ohnehin nur den Fachleuten verständliche, eine, nimmt man es im Ganzen, zumindest z w e i f e l h a f t e und, nimmt man es streng, unwahre, ja unwahrhaftige Abbildung der Fakten, seit eh und j e den Vernünftigen zuwider, w i e der Z u g durchs rote M e e r , "aber die Kinder Israels g i n g e n trocken mitten durchs Meer; und das Wasser war ihnen für Mauern zur Rechten und zur Linken" ( E x 1 4 , 2 9 ) , w i e die Jungfrauengeburt, "wie soll das z u g e h e n , sintemal ich von keinem M a n n e weiß?" (Lk 1 , 3 4 ) , w i e die Auferstehung, "er ist auferstanden und ist nicht hier" (Mk 1 6 , 6 ) . U n d das ist allerdings z u z u g e b e n , v i e l m e h r zu behaupten, daß diese Worte anderes sagen, als nachträglich abzubilden, w a s sich die Vernünftigen nicht als wirklich g e s c h e h e n vorstellen können. D e r rechte Abstand entscheidet. S o haben Christen Christus als die offenbare Schrift verstanden, "und legte ihnen alle Schrift aus, da wurden ihre A u g e n geöffnet" (Lk 2 4 , 2 7 . 3 1 ) . U n d w i e d e r u m ist Christus, d e m es unmittelbar nicht anzusehen war, daß er die A u s l e g u n g der Schrift, ihr Offenbarer sei, in neuen Schriften g e b o r g e n , die ihn

Noch in seiner Hermeneutik (Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, Göttingen 1979), in der er seine Position als "positive" (28) im Unterschied zur "radikalen Kritik" (26) vorstellt, war er von diesem Verhältnis des kritischen Gegenwartsbewußtseins zum Anspruch des Textes ein gutes Stück entfernt. Der positiven Kritik geht es vor allem "um die Eigenart und Selbstaussage der biblischen Texte und um einen sorgsamen Nachvollzug ihrer Gedankengänge" (30), wogegen gewiß nichts einzuwenden wäre, was aber freilich auch die sog. radikale Kritik für sich in Anspruch nehmen würde und was daher ohne weiteres Kriterium noch keine eigene Form begründet. In seiner Aussage, daß die "protestantische Tradition [...] der Bibelexegese die Verpflichtung" auferlegt, "die hl. Schrift in wissenschaftlich verantwortbarer Weise zu interpretieren, und zwar aus dem Geist des Glaubens heraus, in dem diese hl. Schrift verfaßt und zum kirchlichen Kanon erhoben wurde" (30), könnte man einen exegetischen Ansatz vermuten, der bereit ist, sich von den Texten etwas, die Maßstäbe wissenschaftlichen Realitätsglaubens Übersteigendes, sagen zu lassen, und dies, obwohl man sich im Konflikt zwischen dem "Geist des Glaubens" (30) und dem wissenschaftlich Verantwortbaren schwer einen deutschen Universitätsprofessor vorstellen kann, dessen Herz nicht durch Max Weber stärkere Impulse empfangen hätte, als durch die Heilige Schrift. Wenn eine biblizistische Bibelauslegung durch das Argument in ihre Schranken gewiesen wird, daß die kirchliche Schriftauslegung "stets in der Lage sein muß, ihre Verfahrensweise und ihre Ergebnisse vor dem Forum des ihr in der Geschichte vorgegebenen wissenschaftlichen Wahrheitsbewußtseins einer Epoche zu verantworten" (30), so ergibt sich, daß das Apriori des Wissenschaftlichen den Text beherrscht. Dem wissenschaftlichen Wahrheitsbewußtsein unserer Zeit aber ist der "Geist des Glaubens" jedenfalls fremd. Die Frage, ob sich die Vernunft vor der Heiligen Schrift, genauer freilich vor Gott als ihrem, der Vernunft, Schöpfer zu verantworten hat oder ob die "hl. Schrift" sich vor der Vernunft, das meint eigentlich, ob auch Gott sich vor der Vernunft zu verantworten hat, ist seit dem Höhepunkt des Rationalismus in der wünschenswerten Klarheit beantwortet worden: die Geschichte des Wahrheitsbewußtseins enthält das Kriterium apriori für das, was Wahrheit ist. Wenn aber die moderne, hermeneutisch unaufgeklärte Vernunft eines bewiesen hat, dann dies, daß Gott ihr nichts zu sagen hat und es heilige Schriften nicht geben kann. Um von dieser Position zu der von Stuhlmacher heute vertretenen zu gelangen, ist es in der Tat notwendig, das Verhältnis von kritischer Gegenwart und Text "in gewisser Hinsicht umzupolen", nämlich von dem Vorurteil Abschied zu nehmen, die Gegenwart habe immer recht und die Vergangenheit sich vor ihr zu verantworten. Texte, wie der oben ausgelegte (Lk 13,22-30), belegen das Gegenteil. Überlegen ist die Gegenwart der Vergangenheit allenfalls in ihrem hermeneutischen Bewußtsein, dessen Fortschritt aber ist an das Wachstum des Respekts vor den Leistungen der Vergangenheit unlösbar geknüpft.

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verbergen, indem sie ihn bezeugen, den rechten Abstand wiederherstellend. Dem Weltkind freilich ist die Macht Gottes gebrochen, er ist nichts als Schrift, menschliche Rede, und diese Rede zeugt von zufälliger Geschichtswahrheit, die notwendige Venunftwahrheit4 nie werden kann. Doch hat eine Moderne, die zu sich steht, eine eigentümliche und radikale Erfahrung mit dieser Vernunftwahrheit gemacht. Sie blickt ihrer Herkunft aus der selbstmächtigen Vernunft des 18., ihren ideologischen Umformungen im 19. und deren Katastrophen im 20. Jahrhundert ins Auge und erkennt den Abgrund und die Haltungslosigkeit der selbstmächtigen Vernunft. 5 Die Verfallsgeschichte des kategorischen Imperativs zum Grund ideologischer Prinzipien und die von diesen genährte Barbarei des 20. Jahrhunderts zeigen, daß die Moderne keine neuen Quellen des Verbindlichen erschlossen hat. Vielmehr hat sich die in der Aufklärung betriebene Entlassung der Vernunft aus den Erfahrungen der Tradition und den Prinzipien ihrer Verbindlichkeit selbst als eine Katastrophe erwiesen. Wenn als Antwort auf die Barbarei die Menschenrechtsbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Würde des Menschen wenigstens einen Restposten des Verbindlichen für die Gegenwart zu retten unternimmt, 6 so kann dieser Versuch nur gelingen, wenn zugunsten der Würde und ihrer wahren Bestimmung der Gehalt der Tradition wiedergewonnen wird. Dem dient hermeneutische Philosophie. Ihr Apriori kehrt das aufklärerische insofern um, als ihr der Text der Tradition das apriori Vernünftige, von gegenwärtiger Vernunft allererst wieder zu Erreichende ist. Freilich ist mit Text der Tradition nicht jedes beliebige Dokument der Vergangenheit gemeint, 7 die großen, jeder Generation bekannten und immer wieder neu bedachten Texte stehen hier zunächst ganz im Vordergrund. Es mag umstrittene Klassiker geben, aber es ist unsachgemäß an der Maßstäblichkeit der Schriften Piatos und Aristoteles', Augustinus' und Thomas', Hobbes', Descartes' und Spinozas, Rousseaus, Kants und der Idealisten - dieser "Kanon" als pars pro toto! - zu zweifeln. Und allein in diesen Schriften hat hermeneutische Philosophie ein unausschöpfbares Potential vernünftiger Prinzipien und sachgemäßer Reflexion des Verbindlichen vor sich. 4

Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis der Wahrheit und der Kraft [1777], in Werke, Bd. 8, (hg. v. Herbert G. Göpfert, bearbeitet v. Helmut Göbel), 9-14, hier 12: "Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden."

5

Als wissenschaftliche Begleitung der Ideologien hat sich, besonders in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, eine Weltanschauungsphilosophie ausgebildet, als deren Quelle eine unableitbare Willensentscheidung gilt, derart den Abgesang auf eine vernünftige Welt- und Selbstauslegung vollziehend. Vgl. dazu Eduard Spranger, Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften [1929], wiederabgedruckt Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963.

6

Vgl. dazu vom Verf., "Zur Theorie der Menschenrechte - Perspektiven ihrer Weiterentwicklung", Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 76 (1990), 12-36.

7

Das hat schon Walter Benjamin in seinem Versuch, den Gehalt der Ideenlehre im Gedanken des Ursprungs historisch fruchtbar zu machen, gesehen. "Nicht jedes frühe 'Faktum'" ist unverzüglich "als wesensprägendes Moment zu nehmen" (Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928], in Gesammelte Schriften, Bd. I, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, 203-430, hier 226), vielmehr kommt es auf die Entdeckung des Echten an, wie Benjamin sich zutreffend, wenngleich methodisch ratlos lassend, ausdrückt. Daß aber auch hermeneutische Entdekkung ihre vernünftigen Maßstäbe hat, soll weiter unten belegt werden.

Wissen wir noch nicht, "was aus der Bibel zu lernen ist"?

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Was der apriorischen Vernunft zufällige Geschichtstatsache ist, der Stein, den die Bauleute verworfen haben, nimmt die hermeneutisch aufgeklärte Vernunft als Anstoß auf, sich der beanspruchten Wahrheit zu stellen. In den großen Schriften ist Wahrheit und ihre Verbindlichkeit, gebrochen und realisiert durch Sprache und Schrift, gegeben. Und ebenso ist im Text der Schrift Gottes verbindliche Wahrheit gebrochen gegenwärtig. Wohl ist sie nichts als Schrift, menschliche Rede, aber gerade als Schrift ist sie unwiderstehlich. Unwiderstehlich, weil sie sich nicht durchsetzt, sondern sich menschlichem Verständnis aussetzt, ja sie scheint wie versteckt in der stillen Folge der Lettern. Deswegen fängt Rabbi Baruch, der den weinenden Enkel, vom Freund im Versteck alleingelassen, trösten soll, selbst an zu weinen: "So spricht Gott auch: Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen." 8 Diese Tränen bezeugen die Überschwänglichkeit Gottes, seine Macht, oder besser, seine Vollmacht, oder wenn man will, seine der Ohnmacht nächstverwandte, doch sie schlechthin verwandelnde Allmacht. In der Tat handelt es sich bei der Frage nach der heiligen Schrift und ihrer Auslegung um die Frage nach der Macht und Ohnmacht Gottes. Es handelt sich, die Frage politisch gewendet, um die Theokratie, die Herrschaft Gottes. Und auf sie stößt eindringliche Bibellektüre schließlich immer. So ist es kein Zufall, daß Ernst Bloch nach Vollendung seines religionsphilosophischen Buches Atheismus im Christentum in einem Interview über seine Erfahrung mit diesem Werk die Auskunft gibt, "daß wir immer noch nicht wissen, was aus der Bibel zu lernen ist" , 9 In diesen Worten ist noch die Verwunderung Blochs darüber spürbar, das seine erneute Beschäftigung mit der Bibel sie als ein Buch erwies, daß seinem frühen politischen Credo, der Abwehr aller theokratischen Denkformen, so nahe kommt. Denn der späte Bloch entdeckt, daß der "unsterbliche Antrieb" der Bibel "die Enttheokratisierung, mit Herausarbeitung des Menschen" 1 0 ist und eben dieser Antrieb ist philosophisch noch niemals erprobt worden. Deswegen wissen wir noch nicht, was aus der Bibel zu lernen sei. Will man, von Blochs Einsicht geleitet, von der Unbekanntheit des vermeintlich bekanntesten Buches sprechen, so gibt es drei Weisen, dies auf eine nichtmetaphorische Art zu tun. 1) Die Bibel ist unbekannt ihrer Unerschöpfbarkeit wegen, die erst mit dem letzten, der in ihr sein Wort wiedergehört hat, zu Ende gelesen ist, die unbekannt bleibt, weil jeder Leser neu seine eigene, unwiederholbare Wahrheit in ihr findet; 2) sie ist unbekannt, indem sie notwendig zugleich verdeckt, was sie offenbart; sie macht als das geschriebene das gesprochene Wort unhörbar, und, indem sie den Logos, der ebenso uranfänglich wie Gott selbst ist, aussagt, bleibt sie als Selbstoffenbarung Gottes unbekannt, bis Er sich von Angesicht zu Angesicht offenbart; 3) und sie ist deswegen unbekannt, weil in ihr Dinge stehen, die das Schicksal der Zeiten allen Generationen von Bibellesern, unerachtet dessen, daß sich viele Große unter ihnen finden, verborgen hat - dies ist die Meinung Blochs.

8

Martin Buber, Die Erzählungen

9

Rainer Traub u. Harald Wieser (Hg.), Gespräche hier 177.

10 Ebd.

der Chassidim,

Zürich: Manesse 1949, 191. mit Ernst Bloch,

Frankfurt a . M . : Suhrkamp 1975,

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Die Bibel selbst hat ein Schicksal, das es notwendig macht, daß sie nicht schlechthin, aber doch immer wieder in wesentlicher Hinsicht, nicht hat verstanden werden können. Dies Schicksal ist in dem Faktum begründet, daß die im Neuen Testament vorliegende Sammlung von Schriften, ein durch und durch jüdisches Buch," das im Verständnis der Kirche die Heilige Schrift nicht nur ergänzt, sondern vollendet, hat unverstanden bleiben müssen, weil die Juden nach der ersten Zeit, mit nur wenigen Ausnahmen, keine Christen, und die Christen daher keine Juden sind - oder direkter, weil die Juden der Zeit nach Bar Kochba kein Griechisch mehr und die Christen nicht im Lehrhaus mehr gelernt haben - wie noch Paulus, ihr größter Prophet. Es ist merkwürdig, daß uns nicht das kleinste Fragment eines neutestamentlichen Textes in Aramäisch, der Sprache, in der Jesus und seine Jünger gesprochen haben, oder in Hebräisch, der Sprache, in der sie in der Synagoge und im Tempel gebetet haben, überliefert ist. Alles scheint sogleich in der Übersetzungssprache, der damaligen Weltsprache, dem Griechischen geschrieben zu sein, in einem Griechisch allerdings, das weder bei den Tragikern oder den Philosophen, noch bei den Mysterienreligionen beheimatet ist, sondern in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel. Es ist ein durch und durch jüdisch gedachtes und gehörtes, jedes Wort umbiegendes, es in die Tiefen des "Alten Testamentes" zurückverfolgendes Griechisch, also ein Griechisch, das seit dieser ersten Zeit, in der Jünger des Juden Jesus griechisch schrieben, in tiefster Vergessenheit ruht. Deswegen wird, wer die Fremdartigkeit dieses Griechisch respektiert, dem oft kunstvoll tiefsinnig jüdisches Leben erst eingehaucht werden mußte, sozusagen auf Schritt und Tritt auf Neues stoßen, er wird, geht er mit dem unbedingten Sprachvertrauen, das an Gesetz und Propheten seinen unumstößlichen Grund hat, an diese Schrift, sich manchmal nicht retten können vor dem vielen Neuen, das sie zu sagen anfängt. Es ist, was als Schwäche erscheinen könnte, vielmehr die spezifische Stärke hermeneutischer Vernunft, daß sie ihre Behauptungen im Medium einer gelungenen Auslegung zu bewähren hat. Sie knüpft damit an die Kantische Einsicht an, daß erst der Gebrauch, vor allem der theoretische und praktische Gebrauch, über den Wert der Vernunft entscheidet. So ist es sachgemäß, Reflexionen über die Möglichkeit und Angezeigtheit philosophischer Bibelinterpretation mit einer durchgeführten Auslegung zu verbinden. Das kann nur exemplarisch geschehen, wobei die Auslegung selbst den Anschein des Zufälligen in der Wahl des Textabschnittes aufzunehmen und zu widerlegen hat. Wenn hier ein Abschnitt aus dem Lukasevangelium zum Beispiel dient, dann auch deswegen, weil Lukas derjenige der Evangelisten ist, der am ausdrücklichsten Fragen der Hermeneutik thematisiert, etwa in 2,19 oder 24,32.

11 Nachdem die neuere Exegese in Abkehr von der Bultmannschule und seiner griechischen Interpretationslinie wieder die Abkunft neutestamentlicher Schriften von alttestamentlichen ins Auge faßt, tritt dieser Sachverhalt immer deutlicher hervor. Vgl. dazu neuestens Stuhlmacher, der Einzelnachweise in folgender Weise zusammenfaßt: "Das Zentrum des neuen Testaments, die Botschaft von Jesus Christus, ist durch und durch alttestamentlich formuliert und bezeugt das von dem einen Gott für Juden und Heiden gewirkte endzeitliche Heil. " (Wie treibt man biblische Theologie?, Anm. 3, 24)

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"[...], daß man sich nicht einmal hat einfallen lassen, daß so etwas gefragt werden könne". Kant, Prolegomena 1793

II Herrn Irgendwers Himmelsschau, Lk 13,22-30 "Und er ging durch Städte und Märkte und lehrete und nahm seinen Weg gen Jerusalem. Es sprach aber einer zu ihm, Herr meinst du, daß wenig selig werden? Er aber sprach zu ihnen, ringet darnach, daß ihr durch die enge Pforte eingehet. Denn viel werden (das sage ich euch) darnach trachten, wie sie hineinkommen und werdens nicht tun können. Von dem an, wenn der Hauswirt aufgestanden ist und die Tür verschlossen hat, da werdet ihr denn anfangen draußen zu stehen und an die Tür klappen und sagen: Herr, Herr tu uns auf. Und er wird antworten und zu euch sagen: Ich kenne euer nicht, wo ihr her seid. So werdet ihr denn anfangen und sagen: Wir haben vor dir gegessen und getrunken und auf den Gassen hast du uns gelehret. Und er wird sagen: Ich sage euch, ich kenne euer nicht, wo ihr her seid, weichet alle von mir, ihr Übeltäter. Da wird sein Heulen und Zähnklappen, wenn ihr sehen werdet Abraham und Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes, euch aber hinausgestoßen. Und es werden kommen vom Morgen und vom Abend, von Mitternacht und vom Mittage, die zu Tische sitzen werden im Reich Gottes. Und siehe, es sind letzte, die werden die ersten sein und sind erste, die werden die letzten tt 12 sein.

Ein erster Blick auf diesen Text wird Anstoß nehmen an der Unumwundenheit, mit der diejenigen, deren Heulen und Zähneklappen man noch im Ohr hat, vom Himmelreich ausgeschlossen sind. Eine feine Stelle, um dem Christentum, das seinem Vorgeben nach in die Welt gekommen ist, die Trennung unter den Menschen aufzuheben (vgl. Eph 2,14 ff.), vorzuwerfen, daß es diese Trennung verschärft, vielmehr die grausamste aller Trennungen exekutiert, die den Christengott zum Herrn über ewige Höllenstrafen macht. 1.

Aber werfen wir einen zweiten Blick in den Text. Was geht in ihm vor? Das Vorgehen, Vorangehen darf hier wörtlich genommen werden, der Text führt einen Weg oder ein Weg läuft durch den Text, gemäß dem Wort seines ersten Verses "und er [Jesus] nahm seinen Weg nach Jerusalem". Der Text geht, in seiner Gestalt und Weise, selbst diesen Weg, einen Weg der seine Stationen hat, der an jeder eine überraschende Wendung vollzieht. Wie jeder Evangelist, wie jeder Tragiker erzählt Lukas neu, was alle schon wissen. Jerusalem ist die Stadt des Heils, die Stadt des Tempels auf dem Zionsberg, zu der einstmals alle Völker wandern werden, den Gott Israels anzubeten, Jerusalem, die Stadt des erwarteten Messias, die Stadt in der Jesus gekreuzigt wurde und auferstanden ist, den als Messias zu verkündigen auch Lukas unternimmt. Unterwegs zur Stadt des Heils, in der die Entscheidung fällt, unterwegs zur Offenbarung der Vollmacht des Messias - am Kreuz! - , da geschieht diese kleine Begebenheit. Unterwegs, da tritt einer

12 Zit. nach der Übersetzung Martin Luthers, Ausgabe letzter Hand 1544, unter Wahrung des Silbenstandes, der für den Rhythmus und die Gesanglichkeit des Textes maßgeblich ist. Behutsam korrigiert ist der Lautstand an folgenden Stellen: hast du statt hastu, anfangen statt anfahen, Zähnklappen statt Zeenklappen und erste und letzte statt ersten und letzten.

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hin, und sagt etwas zu ihm. Irgendeiner, nq, 1 3 - mit diesem Wörtlein, wie ein Hauch nebenbei gesagt, einem Nichts ähnlicher als einem Etwas, führt Lukas die zweite Hauptperson ein. Es gehört zum Charme dieses Irgendwer, so unbetont aufzutreten, er nimmt niemanden unziemlich in Anspruch, man kann es mit ihm halten, er könnte geradezu einer von uns sein. Von diesem heißt es nun, er "sagte aber". Diese zwei Worte sind die Pforte zur Bedeutung seiner Existenz. Es tritt gleichsam nur sein Sagen in Erscheinung, wie es denn wörtlich übersetzt heißt, "sagte aber irgendwer (zu) ihm". Mit diesem leisen Einspruch und Anspruch, mit dieser aus Mutlosigkeit und Neugier entsprungenen Intervention, hält hier irgendeiner den Heiland auf seinem Weg auf und fragt mit einem Zwischenruf die Jedermannsfrage - nicht die Gretchenfrage an den Geliebten - die Frage "et 0 X 1 7 0 1 0i a^op.evoi' wörtlich, "ob wenige die Geretteten [sind]" - die Frage, derentwegen Lukas uns diese Geschichte überliefert. Vier Worte, und nur eines davon mit vollem Klang, genügen Lukas, um "irgendwen" sich aussprechen zu lassen, den riq als Herrn Jedermann erkennbar zu machen. Was außer diesen vier Worten von ihm gilt, das weiß ohnehin jeder: er wurde geboren, trinkt und ißt, freut sich seines Lebens, leidet, stirbt. Doch was ihn auszeichnet und ihn über den Jedermann zwischen Geburt und Tod hinausführt, sind diese vier Worte seiner Neugier: und das soll alles sein? Nein, hat er sich selbst geantwortet, da muß noch etwas sein. Aber, nur wenige sind es, die gerettet werden. Das, was da noch ist, ist es nicht den Auserwählten vorbehalten? - So leibt und lebt Herr Jedermann, er möchte nichts speziell über sich wissen, aber dabei sein, auf dem laufenden sein, das möchte er doch. Wie ist es mit diesen Gerechten, den Wenigen vermutlich, wahrscheinlich den andern, die gerettet werden? Er hat es nicht nötig, solche Fragen zu stellen, er ist nicht in Not, nicht arm, nicht krank, er hat nichts auf dem Herzen, von all dem hören wir nichts. Aber als er den Heiligen, der dort vorbeigeht, sieht, kann er es doch nicht lassen, wenn auch nur als Zuschauer, als am Rande Stehender, dabeizusein. Draußen bleibend, oder besser doch ein klein wenig drinnen dabeisein, das möchte er schon, und so fragt er. Das immerhin unterscheidet ihn vom Desinteressierten, vom Leugner, vom Gottlosen, welchen zur Tatund Wissenslosigkeit gekommenen Enttäuschten Lukas hier sich selbst überläßt. Fragend mischt er sich ein in die Heilsgeschichte, und auch seiner, unbekannt wie er ist und bleiben muß, wird man, wie der Frau, die Jesus auf den Tod hin salbt, gedenken in aller Welt (Mk 14,4). Das ist die erste Station auf dem Weg durch den Text, Herr Jedermann, auserwählt, wie er dieser Erzählung ist, stellt beispielhaft die Jedermannsfrage. Er selbst wie seine Frage sind paradigmatisch für den Menschen, zugleich fern von sich selbst und interessiert an sich selbst, in der genauen Mitte von Teilnahmslosigkeit und Anteilnahme,

13 Schweizer hat beobachtet, daß Lukas häufig Namenlose - einer der Jünger oder der Pharisäer, der Gesetzeskundigen, der mit zu Tische Sitzenden - eine Frage stellen läßt, auf die Jesus lehrend antwortet. Gerade dadurch ist aber der TU; dieser Erzählung ausgezeichnet, daß er allein im ganzen Evangelium durch keinerlei weitere Zugehörigkeit bestimmt ist, er ist absolut "irgendwer". Deswegen ist die Schlußfolgerung Schweizers für diesen Text, "wie üblich durch 'irgendeinen' Frager hervorgerufen, formuliert Jesus [ . . . ] seine Mahnung", gerade verfehlt (Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1982, hier 148).

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also der Mitte in der alle Welt allein hoffen kann, einigermaßen heil durch dieses Leben zu kommen. So fragt er nach den "wenigen", die Kinder des Glücks sind, die den Sinn des Lebens finden, die erwählt, gerettet sind.

2. Doch eins ist anders als sonst bei dergleichen Fragen. Dieser hier trifft auf den Heiland der Welt und das entscheidet sein Geschick. In dem Herr Jedermann, noch seine Anonymität wahrend, doch heraustritt aus dem schweigenden Einverständnis mit dieser Welt und dem schweigenden Mißmut über sie, gerät er, ohne sein Zutun, an den Ort der Entscheidung. Jedermannswelt und Heilsgeschichte treffen unvermittelt aufeinander. Ein winziges stilistisches Mittel genügt Lukas, um die Differenz der Welten anzudeuten. Mit der Wendung "sagt aber irgendeiner" wird Herr Jedermann, mit "er aber sagt" der antwortende Jesus eingeführt. Geht der eine, namenlos heraustretend aus dem endlosen Fluß der alltäglichen Rede, auf das Gericht der Welt zu, so stellt sich der Andere in seiner Existenz vor: "sagt aber ...er aber". Hier werden neue Kriterien gültig, die Perspektive des Erzählens und Betrachtens ändert sich, hier genügt nicht mehr, ob man, betroffen, unbetroffen etwas wissen will und sei es auch, wer gerettet werde, hier geht es darum, ob man der unvermeidlichen Gegenfrage nicht ausweicht, ob man, wie man im Schwäbischen sagt, "hinsteht", sich ein Herz faßt. Jesus aber, von Lukas noch bevor er antwortet in seiner Haltung charakterisiert, begegnet Herrn Jedermann, wie dieser sich gibt. Es ist ein spiegelndes, darin fast schmerzlich identifizierendes Begegnen. Denn wie hat dieser, der wie jedermann auftritt, sich denn gegeben? Kaum als er selbst ist er aufgetreten, auch nicht stellvertretend für die unbekannten andern, vielmehr sich gleichsam unter ihnen verbergend, hat er gefragt. Gut kann man sich vorstellen, wie er aus der Menge, die Jesus begleitet, herausruft, man sieht ihn gar nicht, man hört ihn nur, "sagt einer". Und Jesus gewährt ihm seine Verbergung inmitten der andern. Er ruft ihn nicht heraus, wie er es mit der blutflüssigen Frau tat (Mk 5,30), er begnügt sich damit, daß der unerkennbare Irgendwer in der Menge die Frage der vielen stellt. Und so wendet Jesus sich ihm zu: Wenn du so fragst, als fragtest nicht du, sondern die andern, dann will ich auch nicht dir, sondern den andern antworten. Und wieder ist es eine winzige Wendung, mit der Lukas Jesu identifizierende Haltung ausspricht: sagt aber einer - er aber antwortet ihnen.14 Nicht ihm, der gefragt hat, sondern ihnen, aus denen heraus er namenlos gefragt hat, wird Antwort zuteil. 15 So wird Herrn Jedermanns Identität aufgedeckt, er ist die andern oder um es richtiger falsch zu sagen: er sind die andern. Das ist die zweite Station, die Lukas dieser kleinen Szene zum Verweilen eingeschrieben hat.

14 Der Liebhaber der Textkritik findet hier einen Fall, in dem der Mehrheitstext die lectio difficilior bewahrt hat, während nur eine kleine Minderheit von Textzeugen (71 pc ( s y " ) bo ms ) zum sachlich naheliegenden antwortet "ihm" (aiiröv) hin korrigiert. Man hat Lukas also ganz mehrheitlich verstanden. 15 Zum Übergang von einem zu ihnen bemerkt Schweizer: "So diskutierten Rabbinen und Apokalyptiker." (Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, Anm. 13, 149)

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3. Aber bei dieser gelassenen Haltung Jesu, sich dem einen, riq zuzuwenden, indem er sich zu ihnen, irpbq avrovq, den Begleitenden wendet, bleibt es nicht. Er nimmt den Anonymus als Fragenden ernst, wer fragt soll eine Antwort erhalten.16 Herr Jedermann will etwas wissen, freilich nur, um bleiben zu können wie jedermann. Es macht das Wesen der Jedermannsfrage aus, daß die Antwort auf sie, die ihre Ebene und Frageform akzeptiert, falsch ist, oder wenn nicht falsch, jedenfalls nichtig. Denn antwortet der Heilige: Ja, nur wenige, so weiß der Fragende nur, was er schon wußte, nur wenige, das heißt doch die andern, die Erwählten, er wohl nicht. Er kann, zwischen Neid und Verächtlichkeit schwankend, der bleiben, der er ist. Heißt die Antwort aber nein, es sind viele, so hat er offenbar den Falschen gefragt, der Mann vor ihm versteht nicht so viel vom Heil, wie das Gerücht wissen wollte. Wie könnte er sonst sagen, viele, es weiß doch jedermann, daß das Heil keine Kleinigkeit ist, wieviel Anstrengungen die Frommen auf sich nehmen seinetwegen, jedenfalls mehr als er je zu unternehmen in der Lage sein würde. Wenn viele gerettet würden, sollten dann auch solche dabei sein, wie er, der Herr Jedermann? dann würde vielleicht auch der X, der stadtbekannte Sünder gerettet, etwa auch die Heiden, am Ende alle? Dann wäre ja völlig gleichgültig, was man wäre oder täte, dann wäre die Frage nach dem Heil auch keine andere als die danach, ob man heute Kohl oder Kraut essen solle. Nur wenige müssen es schon sein um des Heiles willen, das etwas Besonderes ist, wenige müssen es sein, damit sich Herr Jedermann enttäuscht von dem Gerechten vor ihm abwenden und sagen kann: Ich hab es ja gleich gewußt, das Heil ist nur für wenige, also wohl nicht für mich. Doch es kommt anders als das Wissenwollen es sich träumen läßt. Es war ein Wissenwollen, das sich nicht traut, das einer Antwort entgegensah, bei der, gleich ob sie nun ja oder nein heißt, alles bleiben kann, wie es ist. Die Antwort aber ergeht nicht an einen, der wissen will, sie ergeht an einen, dem zu handeln befohlen wird, oder vielmehr ergeht der Befehl an sie, die vielen, ayaivifeade,'7 kämpfet um den Siegespreis. Der Agon, der Wettstreit im Stadion, war damals in Judäa kaum weniger prominent als heute. Allen stand vor Augen, wie es zugeht im Wettkampf: einer ist der Sieger, alle andern sind die Verlierer. Nur wenige können den Wettkampf aufnehmen, gut vorbereitet müssen sie sein, hellwach an seinem Beginn, ganz und gar zielstrebig, all ihr Denken und Wollen, ihr ganzes Sein in ein einziges Ziel versammelnd. Der Wettkampf, der hier befohlen wird, führt den Fragenden nicht allmählich vom Betrachten zum Handeln, er tut es abrupt, er führt das Handeln in die Form seiner höchsten Präsenz.

16 Das ist die Moral, die der theologisch leicht unterschätzbare Brecht seiner Keunergeschichte einwebt, die damit beginnt, daß Herr Keuner die Katzen nicht liebt, und damit endet, daß er ihnen doch jedesmal, wenn sie rufen, öffnet - mit der schlagenden Begründung: "Ihre Rechnung ist einfach, [...] wenn sie rufen, öffnet man ihnen, wenn man ihnen nicht mehr öffnet, rufen sie nicht mehr. Rufen, das ist ein Fortschritt." (Bert Brecht, Geschichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, 177) 17 "Ein Stichwort der hellenistischen und christlichen Ethik (1 Tim 4,10; 6,11 f.; 2 Tim 4,7 f.)", Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas, Bd. 2, Gütersloh/Würzburg: Gütersloher Verlagshaus und Echter 1977, 305; ebenso Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, Berlin: Europäische Verlagsanstalt 1988, 261.

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Kämpfet, das verwandelt alles Abständige in die Gegenwart, auf die es ankommt. Irgendwer wollte ja nur mal gefragt haben, wollte doch nichts versäumt, die Gelegenheit des vorbeiziehenden heiligen Mannes genutzt haben - und durch die Jahrtausende hindurch meint man noch die Verblüffung zu sehen, die sich auf seinem Gesicht malt, als ihm auf seine Frage hin so ausgeteilt wird. Regelrecht angeherrscht kommt er sich vor in diesem Wort, das ihm wie den andern gilt, "kämpfet". Er weiß nicht, wie ihm geschieht, daß er sich jetzt auf die Kampfbahn gestellt sieht, wo er am allerwenigsten sein will, wo ja auch nur wenige sind und nur einer den Preis gewinnen kann - als Zuschauer freilich hat er dem Sieger immer zugejubelt, der hatte für ihn mitgesiegt oder besser er selbst hatte mitgesiegt, in diesem Jubel war er selbst im Ziel, die niedergeschlagenen Konkurrenten hatte er hinter sich gelassen. Nun gut, doch da war er Zuschauer, aber jetzt sieht er sich in den verwandelt, auf den alles ankommt. Auf dem Höhepunkt der dritten Station ist der Knoten der ganzen Geschichte geschürzt. Herr Jedermann, der doch nur fragen wollte, ist auf die Kampfbahn gestellt. 18 Dort, nicht in seiner Frage, wird sich sein Schicksal entscheiden. Nur einer kann den Sieg im Agon erringen, alle andern nicht. So gesehen heißt Jesu Antwort: Nicht wenige, wie der Fragende noch allzu gutmütig hoffte, nur einer, ein Einziger allein ist der Sieger. Und wenn er fortfährt zu sagen, kämpfet, auf daß ihr eingeht, so liegt in der klaren Paradoxie eines Satzes, durch den viele aufgefordert werden zu erreichen, was nur einer erreichen kann, natürlich zugleich ein Hinweis darauf, daß der Agon, von dem eigentlich geredet wird, nicht auf der Aschenbahn im Stadion, sondern auf der Lebensbahn stattfindet. Der Agon des rig ist T'LQ ZU sein, genauer aber zu seinem Namen zu finden, zu seiner Einzigkeit. Das ist die schmale Pforte, die allerschmalste, durch die nur er eingehen kann, der zu werden, als den ihn sein eigener Name ausspricht. So löst sich die Paradoxie des Wortes Jesu: Wenn alle zugleich kämpfen sollen, um "einzugehen", also um zu siegen und alle wissen, daß nur einer siegt, dann verwandelt dieser Befehl die Angesprochenen, seien es viele oder wenige, in lauter Einzelne, die ihres Lebens Bahn zu finden, zu laufen und an ihr Ziel zu kommen haben. 19 So wird aus dem, der wissen will, zuerst einer unter vielen, die handeln sollen, dann aber der, welcher durch seinen Kampf zum Einzelnen wird. So laufen sie auf ihre schmale Pforte zu, um hineinzugehen - mehr als dieses geheimnisvolle Wort wird uns über den Siegespreis hier nicht gesagt. Jeder hat diesen einzigen Kampf zu kämpfen, in dem nur er selbst, findet er seines Lebens Pforte, Sieger werden kann und den er als einer unter den andern in vielfältiger Weise verlieren wird. Stillschweigend, wie so oft, hat Kafka uns gelehrt, was es mit dieser Pforte auf sich hat, als er den Türhüter zum

18 In die gleiche Richtung gehen die Gedanken Schneiders. "Die Frage eines Zuhörers ist eine 'theoreti- sehe' Frage. [ . . . ] Jesus beantwortet sie [ . . . ] so, daß er zu entschiedenem Handeln aufruft." (Das Evangelium nach Lukas, 305) 19 Daß es hier um den Einzelnen geht, deutet auch Schneider an, "[...] der Zutritt [ins Reich Gottes] ist nicht Gruppen verheißen, sondern den Menschen, die jenen 'Kampf' aufnehmen" (ebd., 305).

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Mann vom Lande sagen läßt: "Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn."20

4. Die Erzählung könnte hier enden, die wesentliche Wandlung ist schon geschehen. Lukas hätte uns ein Weisungswort Jesu überliefert, das die Situation des Fragenden schlagartig erhellt, wie es jenem Zögernden geschah, der die Antwort erhielt: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes (Lk 9,62). Aber was hier folgt, spannt den Bogen zu weit, um nur Nachgeschichte zu sein, nichts wird umsonst erzählt. Die vierte Station, die vierte Wendung ist erreicht, indem Jesus nun doch in einem zweiten Wort, auf die Frage dessen, der wissen will, antwortet. Denn viele versuchen hineinzugehen, so sagt er, und Werdens nicht tun können. Begründet diese Rede zum einen die Aufforderung, kämpfet durch die schmale Pforte einzugehen, so antwortet sie zum anderen auf die Frage nach wenigen, indem sie das Schicksal vieler21 vorstellt, ein Übergang von wenigen zu vielen, der zugleich ein Echo auf Jesu Abwendung von einem, der ihn ansprach, und Zuwendung zu all denen, die um ihn standen, ist. Vor allem aber hält Jesus eine Lektion über viele. Die Frage nach den wenigen Geretteten hat in gewisser Hinsicht auch ein Dilemma Jesu aufgedeckt. Der Heiland ist nicht gekommen, wenige zu retten, sondern viele (Mt 26,28, Mk 14,24) - auch wenn er 99 Schafe in der Wüste zurückläßt, um das eine, das sich verirrt hatte, zu suchen (Lk 15,4). Jesus kann die Frage nach wenigen nicht direkt beantworten, ohne das Vorurteil, das alles beim alten läßt, zu bestätigen, das Heil sei für wenige Heilige. Er würde seine Messianität verleugnen, wäre er nicht für viele, ja, im Geheimen, für alle da. So spricht er, statt über die wenigen, nach denen gefragt wurde, über viele. Viele, die man vor sich sieht, über die man spricht, die Gegenstand des Wissenwollens sind, das sind vor allem die andern. Das sind die Namenlosen, wie Herr Irgendwer, diejenigen, die nicht selber sprechen, sondern sagen, was alle sagen. Beiden, dem der gefragt hat und den Dabeistehenden, denen Jesus in der Antwort sich zuwandte, wird gesagt, was er ist, was sie sind, als einer, als einige unter vielen: sie sind die andern. Was erfährt einer, der nicht selber kämpft, der, wie die vielen, Zuschauer bleibt? Er sieht die Szenen vor sich abrollen, die Jesus jetzt schildert. Er sieht diese andern, die das Himmelreich doch auch suchen, denn wer hätte nicht von all dem Guten in der Welt und sei es auch außerhalb derselben, gern etwas ab? Denn viele suchen das Himmelreich, sie versuchen auch hineinzukommen, einmal hier und einmal dort, einmal in dieser, einmal in jener Weise, aber immer woanders und nicht hier, immer ein andermal, aber nicht jetzt, immer mit Blick auf anderes, niemals im Blick auf ihr einziges Ziel, ihr uneingeschränktes Selbst, wie es der Wettkampf verlangt. Gut ist es zu suchen,

20 Franz Kafka, Vor dem Gesetz, 132.

in Sämtliche

Erzählungen,

Frankfurt a . M . : Fischer 1970, 131-132, hier

21 Auch Schneider bemerkt diese Beziehung: "Die 'Vielen', die vergeblich Einlaß suchen, kontrastieren mit den 'Wenigen' der gestellten Frage. " (Das Evangelium nach Lukas, 306)

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denn den Suchenden ist das Finden verheißen (Mt 7,7), aber zu wenig, ja ganz und gar verkehrt ist es, zu suchen und zu versuchen, wo es um den Kampf des Lebens geht. Und so hat solche Suche auch keinen Lohn, gelangt an kein Ziel. Von vornherein weiß man von ihr, wie es enden wird, wie bei einem Wettkampf, den viele aufnehmen sollen: einige werden sich verspäten, andere aufgehalten, einige sind schlecht vorbereitet, einige verzagt, einige werden alles bald aufgeben. Kurz, schon vorher ist klar, wollte man nur über viele etwas sagen, dann nur dieses: viele werden es versuchen, aber sie werdens nicht können. Und in dieser Weise geben viele auch die Antwort auf die Frage nach wenigen. Sie setzen sich ja aus wenigen zusammen, und wenige, nach denen man fragt und über die man spricht, lassen sich von vielen gar nicht unterscheiden. Es geht diesen wenigen nicht so, wie der Frager vermutet, daß ihrer wenige gerettet werden. Wenige sind auch viele und die werdens nicht tun können und daher lautet Jesu Antwort nicht, wie man hoffen könnte, wenige von den vielen werden gerettet werden, sondern klar und gut: niemand von ihnen wird gerettet werden. Das ist der tote Punkt in dieser Geschichte, mit ihm scheint wiederum, jetzt aber zum Tode hin, alles gesagt. Das ist auch für die Zuschauer ein starkes Stück, daß es den vielen, den andern so geht, irgendwie ist man mitbetroffen, wer wäre nicht eher ein Suchender als ein Kämpfender? 5. Auch so hätte die Erzählung enden können; nach dem Weisungswort, wie das Heil zu erlangen ist, folgt jetzt das Lehrwort, wie es verfehlt wird. Daß die Erzählung dennoch weitergeht, verdanken wir zwei Wörtlein, Xeyo) V/XLV, sage ich euch, die Lukas in seinen Bericht, ihre Überflüssigkeit nach Möglichkeit verbergend, eingeflochten hat. Sie betrachtend, verweilt man an der fünften Station des Textes. Luther, wie allermeist gut im Bilde über die Tiefenstruktur eines Textes, die sich dem nichtoffenbaren Rhythmus eher als der für jeden Verstand offenbaren Semantik verdankt, hat hier die Eröffnung einer weiteren dramatischen Wendung geahnt und die scheinbar überflüssigen Worte dadurch herausgehoben, daß er sie in Klammern setzte. Es fordert immer erhöhte Aufmerksamkeit, wenn ein heiliger Text Selbstverständliches oder vollkommen Überflüssiges mitteilt. Etwa wenn Matthäus einen heidnischen Zenturio sagen läßt: auch ich bin ein Mensch (Mt 8,9), als ob das jemand bezweifelt hätte. Und hier nun, wenn Lukas Jesus seine Rede mit den Worten, sage ich euch, unterbrechen läßt. Wem denn sonst? muß man doch fragen, da Jesus zuvor schon die Angeredeten mit "ihr" anredete, indem er sagte: kämpfet, für alle gut unterscheidbar von "ihnen", den vielen. Es muß Fachexegeten vorbehalten bleiben, solche überflüssigen Worte entweder großzügig zu übersehen oder ihnen redaktionsgeschichtliche Motive unterzulegen, die meist auf den Tadel hinauslaufen, der Schriftsteller sei mit seinen Textvorlagen nicht richtig zurechtgekommen. Philosophisch kommt es gerade hier auf Pünktlichkeit an.22 22 Einer philosophischen Interpretation stellt sich die einfache Frage, warum ein Text, der vielfältiger und einheitlicher überliefert ist als jeder Plato- und Aristotelestext nicht erst einmal so gelesen werden kann, wie er dasteht - bewußt aus der Hand seines Autors hervorgegangen. Daß in Lk 13,22-30 eine "Redekomposition" vorliege, "deren Zusammenfügung weitgehend das Werk des Lukas ist", wird immerhin auch von einem Exegeten anerkannt. Es "sei ein nahezu geschlossenes Gleichnis entstanden"

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Denn mehr als die Hälfte eines Rätsels ist gelöst, wird ein solcher Sachverhalt klar ins Auge gefaßt. Vor Beginn seiner Rede über die vielen, nachdem Jesus nur das Wort "viele" ausgesprochen hat, erinnert er die Umstehenden daran, daß er sie mit seinem Wort "kämpfet" angesprochen hat, nicht viele, sondern je Einzelne zu sein. Spricht er über viele, so spricht er eigentlich über die andern - aber zu euch, ihr Einzelnen. Wir könnten hier den Zeigefinger sehen, mit dem Jesus in seinen eigenen Satz hinein interveniert, als würde er erst sinnend von allen wegschauend sagen, "denn viele" - um dann, sich plötzlich unterbrechend, sich denen zuzuwenden, die ihn begleiten, wenn man will fast bedrohlich, oder auch lachend, mit dem Finger auf sie zeigend, sage ich euch. Ihr seid gemeint, laßt euch von dem Schicksal der vielen nicht blenden, nicht entmutigen, laßt euch allenfalls warnen, seid nicht sie, seid ihr. Hier tritt die Differenz zwischen vielen, über die man spricht, und vielen, zu denen man gehört, in einer ersten Form heraus, indem man seiner Zugehörigkeit zu "euch" noch einmal versichert wird, wohlunterschieden von den vielen. Als wollte Jesus sagen: Über viele werde ich etwas sagen, aber ich sage es zu euch und über euch sage ich jetzt nichts, vielmehr habe ich schon zu euch gesprochen: kämpfet.

6. Freilich auch so ist diese Intervention nur halb erkannt, ihr wahrer Schlüssel liegt erst in der folgenden Flucht von Bildern, die Jesus entwirft, um näher zu beschreiben, wie die vielen sich benehmen bei ihrer Suche nach dem Himmelreich und was ihnen dabei widerfährt. Dieses Widerfahrnis macht die sechste Station aus. So viel wissen wir bisher, viele werden es versuchen hineinzukommen und es nicht können. Denn wenn dann der Hausherr aufgestanden ist, spät abends, und die Tür abgeschlossen hat, weil niemand mehr zu erwarten ist, dann werden sie, die Suchenden, aber zu spät Gekommenen, draußen stehen - so sollte man es erwarten, aber so kommt es nicht. Nicht sie werden dann draußen stehen. Alles bezieht sich vielmehr auf die, mit denen Jesus spricht, auf euch ist es bezogen. Denn ihr - nicht sie - werdet anfangen draußen zu stehen, qip^rjade e£u> koravai, so heißt es, die grammatische Folgerichtigkeit mißachtend und zur Freude der Exegeten, die wieder Anlaß zu redaktionsgeschichtlichen Hypothesen haben - als sei Lukas nicht in der Lage gewesen zu unterscheiden, ob er von ihnen spricht, die anfangen oder von euch, die ihr anfangt. 23 Im klaren Bruch also mit der grammatischen Kontinuität bezieht Jesus mit dem "ihr werdet anfangen" alle, die ihn begleiten ein in die vielen, die das Himmelreich suchen. Jetzt wird auch klar, warum zuvor Lukas ein "sage ich euch" einfließen ließ. Denn die mit "euch" Angesprochenen, denen Jesus das Suchen der vielen vor Augen stellte, so daß sie sich anschickten, selbst ungefährdet, ihnen bei ihrer Suche zuzuschauen, sie sind plötzlich selbst in die Szene gesetzt, sie sind zu den vielen, vermeintlich andern, den Suchenden geworden. Nein,

(Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, Anm. 17, 260). Im oben gegebenen Fall des Ktyoi bfilv hat der griechische Text überhaupt keine Varianten zu bieten. 23 Zurückhaltend bemerkt Schweizer: "Ein temporaler Satz im Konjunktiv [ . . . ] geht [ . . . ] , grammatisch nicht korrekt, zum Hauptsatz über." (Das Evangelium nach Lukas, Anm. 13, 148)

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ihr seid plötzlich aus vielen hervorgegangen, zu spät tretet ihr auf, eine bereits verschlossene Tür 24 findet ihr vor und euch bleibt, am Ziel und doch schmählich von ihm ausgeschlossen, nur noch, an sie zu schlagen. War den Kämpfenden die Tür zwar schmal, doch nicht zu schmal, um durch sie einzugehen, euch, den Suchenden, ist sie verschlossen. 25 Das ist die zweite und endgültige Form, die Differenz von vielen andern und selbst viele sein heraustreten zu lassen. Viele, über die man spricht, hatten die Jesus Zuhörenden vor sich, als selbst die vielen finden sie sich hier, in der unbequemsten Szene der Erzählung, wieder. So erfahren sie, was es heißt, vielen nicht zuschauen zu können, sondern zu ihnen zu gehören.

7. Und dann beginnt dieses wahrhaft gespenstische Gespräch durch die verschlossene Tür hindurch, 26 das allem gesunden Menschenverstand zu spotten scheint, die siebte Station und Wendung dieses Textes. Die draußen Stehenden nehmen das Wort, der Hausherr antwortet von drinnen, sie legen ihre Lage dar, machen Einwendungen, der Hausherr antwortet noch einmal. Das sind die Abschnitte dieses Gespräches, man könnte bei jedem Halt machen und eine neue Station aus ihm werden lassen. Und schon im ersten Wort, das sie sprechen, dem ersten Wort der vielen, zu denen auch der irgendwer des Anfangs und die bei ihm Stehenden, an die Jesus sich wendet, gehören, diese nun mit "ihr werdet anfangen" in die Geschichte Hineinverwobenen, mit ihrem, also mit eurem ersten Wort identifiziert ihr euch mit der neuen Lage. Geradezu schicksalsergeben seid ihr bereit, sie hinzunehmen. Nun gut, die vielen, nein ihr steht vor verschlossener Tür, was werdet ihr tun? Aber nicht einer unter euch tritt heraus und fragt danach, wie das gekommen ist, nein ihr fragt nach euch insgesamt, schließt euch zusammen in dem Wort: Öffne uns. Da ist dieses verhängnisvoll identifizierende "uns", dazu seid ihr, die ehemals vielen geworden, zum "wir" seid ihr zusammengeschlossen, es ist das wir der massa perditionis. Und so wird der Hausherr euch antworten: "Ich kenne euch nicht, wo ihr her seid." Eine betrübliche Antwort für die, die Einlaß begehren, ob auch eine unerwartete? Immerhin haben sie gesucht, sich auf den Weg gemacht, sind angekommen, ja, sie haben geklopft, gerufen und Einlaß begehrt. "Ich kenne euch nicht" - zu den Gastfreunden, den Erwarteten gehören sie nicht, das weiß der Hausherr auch durch die verschlossene Türe hindurch und das müssen sie wohl auch selber wissen. Und woher sie sind, fragt er - ist das so wichtig? Ist es nicht gleich, ob sie vom Morgen oder Abend, vom Norden oder Süden kommen? Aber immerhin, so hören sie doch auch, der Hausherr verdammt sie nicht. Ist da nicht eine Lücke, enthält das "ich

24 Starken exegetischen Tobak bietet hierzu Schweizer, dem es so vorkommt: "Lukas spricht also schon abgegriffene Sprache, in der die Bilder nicht mehr richtig leben." (Ebd.) 25 Wiefel denkt an dieselbe Tür für die Kämpfenden und die Suchenden: "Die V. 24 noch geöffnete, wenn auch enge Pforte, ist nun verschlossen." (Das Evangelium nach Lukas, Anm. 17, 261) 26 Ein wenig mehr, und wohl ein wenig zuviel bildlichen Realismus bringt Wiefel in diese Szene, wenn er sie so wiedergibt: "In plastischer Weise wird das Gespräch geschildert, das sich an der verschlossenen Tür entwickelt und wohl durch eine Öffnung geführt wird." (Ebd.)

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kenne euch nicht" und das "woher seid ihr?" nicht behebbare Mängel? Wenn sie erzählten, woher sie kämen, würde er sich nicht erinnern, sie doch zu kennen? Und so legen sie los. Haben wir nicht gegessen vor deinem Angesicht, und getrunken und hast du uns nicht gelehrt in unseren Straßen? Man sieht leicht ein, würde die Geschichte hier abbrechen, ihre Fortsetzung könnte man sich nicht anders als in einer Sackgasse endend denken. Was müssen sie ihre ganze Biographie ausplaudern, gegessen haben sie, getrunken und auch etwas gelernt - ja vor ihm, so rühmen sie sich, haben sie gegessen. Und in der Tat, warum sollten sie nicht, wie die andern auch, den Segen über der Speise gesagt haben? Und er hat sie gelehrt, rühmen sie sich wieder. Auf ihren Straßen freilich nur, nicht im Tempel. So werden sie mitbekommen haben, was man auf den Straßen unter den vielen mitbekommen kann. Und das ist nichts, was dazu aufriefe, nicht zu den vielen zu gehören. Und all das haben sie in schönster Eintracht erlebt, keiner mehr, keiner weniger, dreimal erklingt ihr "wir", im Griechischen ganz ebenso gut hörbar wie im Deutschen, eng sind sie verbunden durch das gemeinsame Minimum, das sie als ihren Lebenslauf erzählen, einer sich versteckend hinter dem andern und jeder hinter allen. Diese Reihe der Worte ist eine einzige abschüssige Bahn, eine immer schnellere Fahrt hinab ins Nichts. Und so ergeht die Antwort auf ihre Selbstvorstellung mit den gleichen Worten: Ich kenne euch nicht - doch wie anders klingen sie jetzt! Denn nun haben die draußen Stehenden sich vorgestellt, nun hat der Hausherr sie kennengelernt, so gründlich, daß er sie ein für allemal kennt, könnte man sagen, und daher sind diese Worte nun endgültig und vernichtend. Doch selbst dann, sollte man auf den ersten Blick meinen, hätte er keinen unmittelbaren Anlaß zu sagen, ihr Sünder, ihr Täter des Unrechts. Es ist nichts Besonderes, das ihnen vorgeworfen würde, es ist ihre bis zur Gefühllosigkeit gehende, in Fleisch und Bein übergegangene Nonchalance, unterschiedslos dabei zu sein, beim Essen und Trinken ebenso wie beim Himmelreich. Den Hausherrn, der sich das Recht nimmt, diesen Sachverhalt mit "ihr Übeltäter" auszusprechen, den werden wir wohl auch als den göttlichen Hausherrn ansprechen dürfen, und der gedenkt nicht nur des hier zitierten neunten Verses des sechsten, sondern auch des ersten Psalms, wie es zuletzt in ihm heißt: "ER kennt den Weg des Gerechten", der Weg der Sünder, den er nicht kennen will, der vergeht. Jetzt sind die draußen Stehenden nicht nur abgewiesen, sie sind verworfen. Herausgetreten aus ihren Straßen, nicht mehr essend und nicht mehr trinkend stehen sie da, am Ziel ohne Eingang, zurückgewiesen, beschuldigt und verurteilt - an dieser Stelle, wo sie nicht mehr weiter können und kein Weg zurück mehr ist. 8. Ihre Lage schildert die achte Station. Da wird sein Heulen und Zähneklappen. Am Ort ihrer größten Verlassenheit, aber doch noch unter den Lebenden, fährt eine große Bewegung durch sie. Stellvertretend, mit größerer Vernunft als ihr Kopf, öffnet sich ihr Leib. Die Augen sind nicht mehr gehalten, es strömt das Wasser aus ihnen, der Kiefer, das auch noch beim Menschen, wenn es aufs Ganze geht, machtvollste Organ, löst seine

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Muskeln.27 Zähneklappen, was das ist, weiß, wer Schüttelfrost, auch wenn es heiß ist, kennt, die Ohnmacht des Willens gegen die selbständig gewordene Kiefernmuskulatur, die die Zähne regellos aufeinanderschlagen läßt, so hörbar, daß wer in der Nähe steht, unwillkürlich aufmerkt. So löst der Leib die Zusammengeschlossenheit der massa perditionis. Was sich als wir versteckte, leibhaft wird es zu Einzelnen, von denen jeder sich selbst spürt. Es gibt ein kollektives Leiden, doch es hat seine Grenze am Leib, in ihm leidet jeder allein. So sind auch hier aus vielen zuerst "ihr", dann "wir", dann Einzelne geworden. An diesem Punkte der Erzählung erwartet jeder die Verzweifelnden, doch er findet den Heulenden und den Zähneklappenden. Dessen Leib als sein schweigendes Selbst bewegt ihn, er eröffnet das Selbst - für eine Wandlung.

9. Den derart nicht mehr an sich Festhaltenden, die insofern auch eines anderen gewärtig sind, geschieht das in der ganzen Geschichte Verwunderlichste. Die tränenüberströmten, die erblindeten Augen werden einer Vision gewürdigt, die neunte Station. Ausdrücklich heißt es o^r/atfe, ihr seht, ihr habt ein Gesicht. Die verschlossene Türe ist aufgegangen, bildlich verstanden. Die Weise des irdischen Sehens ist gesprengt, und sichtbar wird, wonach alle, ohne zu wissen, was es sei, gesucht haben. Die Pforte, durch die die Kämpfenden hoffen einzugehen, ist aufgesprungen, und sichtbar werden die Erzväter und alle Propheten, Mose als ihr größter, aber auch die andern, Jesaja, Jeremia und Hesekiel bis hinab zu Maleachi im Reiche Gottes.28 Geladene Gäste offenkundig, die Würdigsten stellvertretend mit ihrem Namen genannt. Auf alle geheimnisvollen Fragen des Textes antwortet dieses Bild aus der Transzendenz voller Auferstehungs- oder Ewigkeitshoffnung, denn Abraham und Isaak und Jakob, den vor der Tür Stehenden sichtbar, sind sie nicht am Leben? Jetzt wird noch einmal von Bedeutung, was der namenlose Irgendwer des Anfangs erlebt hat, der ja nur nicht versäumen wollte, einmal gefragt zu haben, Fragen kostet doch nichts. Doch, Fragen kostet etwas, es riskiert, daß die entscheidende Antwort ergeht, die sich nicht mehr vergißt, es kostet die Bequemlichkeit, nämlich die Unwissenheit des Falschen. Das ist der drittletzte große Umschwung, der Herrn Irgendwer zu-

27 Die Zürcher Bibel übersetzt den ßpvyiiög röic bbbi>TUV mit "Zähneknirschen", die Einheitsübersetzung folgt ihr darin. Diese Übersetzung, obwohl lexikalisch zweifellos möglich, verundeutlicht hier gerade das, worum es geht. Nicht die verbissene oder aus Wut gespeiste Verspannung, die dem Knirschen der Zähne entspricht, die Lösung der Muskulatur, die in Krämpfen geschüttelt wird, ist die hier einschlägig e Erfahrung. S o ist diese Stelle ein gutes Beispiel dafür, daß das Lexikon zwar die Grenze des möglichen Wortgebrauchs angibt - und auch das nicht immer - , die eigentliche Übersetzung aber aus einer genauen Analyse des Kontextes zu geschehen hat. Das gilt auch für Wendungen, w i e die obige, die man sich als rhetorische Floskel mißzuverstehen angewöhnt hat. Wer, freilich zu Unrecht, "ohnmächtige Wut bei den Ausgeschlossenen" statt ihre Verzweiflung konstatiert, übersetzt dann zu Recht "Zähneknirschen" (vgl. Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas, A n m . 17, 307, ebenso Wolfgang W i e f e l , Das Evangelium nach Lukas, 262). 28 Wiefel hält an der irdischen Sehweise fest, wenn er behauptet, "daß die Öffnung in der Tür [den Abgewiesenen] den Blick freigibt in den Festsaal, in dem die Patriarchen Israels versammelt sind" (Das Evangelium nach Lukas, A n m . 17, 262).

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gemutet wird, er schaut den Himmel, das Königreich Gottes, offenstehen. Lukas geht nicht verschwenderisch mit solchen Visionen um, aber ihm, dem anfangs Fragenden samt denen, zu denen er gehört, wird sie zuteil. Er ist an das Ziel aller, ob es nun wenige oder viele sind, die es finden, so nahe herangeführt, als es in dieser Welt möglich ist. Nicht von dieser Welt und doch sichtbar in dieser, zuteil werdend den tränenüberströmten Augen und den aufgelösten Leibern. Freilich, er sieht nur, weil er wieder im Abstand bleibt, weil er nicht herzutritt. Ist die Tür auch weiter aufgesprungen, als irdische Türen es vermöchten, so wird er doch daran erinnert, daß er mit den andern draußen steht, herausgeworfen vom Hausherrn. Gut ist es verständlich, daß einige Textzeugen, vielleicht aus Nachlässigkeit oder Gutartigkeit, diesen Einwurf überlesen.29 Aber als Erinnerung an das Woher des nunmehr der Himmelsschau Gewürdigten, ist diese Einschränkung unumgänglich. Schon sind, vom Himmel selbst, die Augen geöffnet und nun, nicht mehr dem Himmel zugewandt, erblicken sie als das erste Irdische die jammervolle Lage derer, die diesen späten, zu späten Weg gegangen sind. Ihr Blick fällt auf sie selbst, hinausgeworfen, wie sie sind, zugleich bis in den offenen Himmel schauend, zugleich draußen auf der Erde.

10. So stehen sie da, mitten zwischen Himmel und Erde, auf der sie immer noch oder vielmehr wieder Suchende und Zuspätgekommene sind, da öffnet ein neues Bild ihnen abermals den Himmel, wenn es möglich wäre in noch größerer Weite und geradezu heiterer Gestimmtheit. Weit übers Land muß man schauen, um zu sehen, was jetzt zu sehen ist, unmöglich wäre das, verharrten sie weiter vor der verschlossenen Tür.30 Vom Morgen und vom Abend, von Mitternacht und Mittag kommen sie in hellen Scharen unablässig, unzählbar, wie es scheint. Und alle sind geladene Gäste, gesellen sich zu Abraham und Isaak und Jakob, um mit ihnen und allen Propheten zu Tische zu liegen beim himmlischen Hochzeitsmahl. Das sind also die, die den rechten Weg gefunden haben. Sie kommen auch jetzt noch, wo doch der Hausherr schon abgeschlossen hat und finden offene Türen oder, besser wohl, das weite Feld, ohne Tor und Tür, ohne Schloß und Riegel, hineinzuziehen ins unabsehbar offene Himmelreich. Wie leicht es diesen Scharen scheint hineinzukommen, wenige sind es nicht, ob es viele sind? Und kämpfen sieht man sie auch nicht, sieht sie nicht einmal suchen, wie die vielen. Sie kommen einfach und legen sich zu Tisch, leichten Hauptes und leichter Hände. Heißt es so durch die schmale Pforte einzugehen?

29 Es sind die Zeugen 69 pc sy". 30 Vorausgesetzt, daß der kompositorische Sinn der Erzählung im Blick bleibt, ist es interessant zu wissen, daß die lukanischen Motive Parallelen haben, die Frage des Ursprunges bleibe dahingestellt. "Die geschlossene Tür stammt aus einem wirklichen Gleichnis (Mt 25,10-12), der Gerichtsspruch aus einer direkten Gerichtsansage (Mt 7,23), die Verheißung des Herbeiströmens der Völker aus dem Mt 8,11 f. noch in der 3. Person formulierten Jesuswort." (Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, Anm. 13, 149) Im Ansatz ähnlich sieht Wiefel in der Erzählung "drei Herrenworte - ein paränetisches Bildwort (V. 28 f.), ein Gleichnis (V. 25-27), ein apokalyptisches Drohwort (V. 28 f.) - sowie ein Wanderlogion zusammengefügt" (Das Evangelium nach Lukas, Anm. 17, 260).

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Nichts scheint selbstverständlicher, als sich ihnen anzuschließen, ebenso leicht ist es, ja noch leichter als die Allerweltsfrage zu stellen, ob wenige gerettet werden.

11. Drei Stücke hat der große Himmelszug der Scharen, zuerst ihr Kommen aus allen Himmelsrichtungen, dann daß sie sich zu Tische legen und nun als drittes und letztes Stück, die letzte große Wendung der ganzen Erzählung, viel eher ein Wirbelwind von Wendungen, der keinen Stein auf dem anderen läßt, das Denkwort des Schlusses: Und siehe es sind letzte, die werden sein erste und erste, die werden sein letzte.31 Zuerst blickt das Wort rückwärts und deutet das eben vorbeigezogene Bild. Es wird gleich sein, wer schon da ist, wer noch kommt, hier, angesichts der endzeitlichen Freude, haben früher oder später ihre Geltung und ihr Recht verloren. Alle sind sie geladen, alle werden sie zu Tische sitzen, heißt es in dieser einfachen Rückschau. Aber zugleich geht das Wort die ganze Erzählung zurück, beleuchtet alle ihre Stationen noch einmal, läßt sie allererst als Stationen erkennen und läßt die Erzählung insgesamt zu einer Sache des Denkens werden. Erste sind nicht mehr erste und letzte nicht mehr letzte. Unzweifelhaft ist dieser Affront gegen den gesunden Menschenverstand beabsichtigt. Eine Welt, die es nicht mehr erlaubt, erste von letzten zu unterscheiden, ist nicht die in Zeit und Raum gegebene, den Kategorien des Verstandes unterworfene Alltagswelt. Hieße es wenigstens nur, "und es sind erste, die werden letzte sein", so könnte man noch sagen, gut, die Welt wird auf den Kopf gestellt, aber wenigstens ist sie auch danach wieder überschaubar.32 Die doppelte Umkehr aber, die Lukas uns hier zumutet, erlaubt keine einfachen Ordnungs- und Zurechnungsformen mehr. Denn was soll mit den letzten sein, zu denen in der zweiten Umkehr die ersten geworden sind? Stellen sie sich wieder an bei der ersten Umkehr, nach der auch letzte erste werden können, so daß sie immer an allen Positionen zugleich, damit aber an gar keiner festen sind? Stellt die erste Umkehr die Ordnung der Reihe auf den Kopf, ohne ihr Prinzip, das Prinzip des Urteils oder Unterscheidung zu verletzen, so stellt die zweite Umkehr, fern davon als Negation der Negation neue Position zu begründen, dieses Prinzip überhaupt in Frage.33 Nach zwei Seiten hin läßt sich dies Infragestellen näher präzisieren. Auf der Ebene der Logik ist das Urteilsvermögen, Menschen als erste und letzte zu identifizieren, aufgehoben. Auf der Ebene der Sprache hingegen sind die Differenzen von ersten und letzten nicht aufgehoben, sie werden ja genannt, um die Logik an ihre Grenze zu führen. 31 Aus diesem Wort liest Schweizer das Folgende heraus: "V. 28 f. werden also korrigiert: es gibt Heiden, aber auch Juden, die glauben." (Das Evangelium nach Lukas, 150) 32 Bis hierher folgt Wiefel der Erzählung. Lukas "geht es um den Gedanken der Umkehrung: die da meinen, ein Anrecht zu haben, sind draußen, unerwartet Hinzukommende drinnen". Der Schlußsatz enthalte "die Umkehrung der irdischen Wertordnung im Eschaton" (Das Evangelium nach Lukas, Anm. 17, 262). 33 Schneider läßt sich durch dieses Wort in seinem Ordnungssinn nicht beirren: "Die Trennungslinie verläuft vielmehr zwischen denen, die [ . . . ] und denen, die [...]" (Das Evangelium nach Lukas, Anm. 17, 307); ebenso ergeht es Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, Anm. 17, 262.

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Was die Logik dieses Schlußwortes angeht, so zeigt es, daß denen, die hier dem Drama der Ausgeschlossenen und der ins Himmelreich Einziehenden zuschauen, kein Urteil zusteht, genauer aber, daß ihnen das Vermögen dazu aus der Hand geschlagen ist. Was aber die Sprache angeht, so hat sie die Worte erste und letzte verwendet, um ihrer ersten Intention, die Ordnung der Reihe aufzurichten, zu widersprechen und weist so hin auf eine Sprache, die den Sinn der Worte, unbeschadet eines falschen Gebrauchs, bewahrt - auf die wahre Sprache. Das Urteil, erste von letzten zu unterscheiden, hat der Fragende des Anfangs ganz selbstverständlich gehandhabt, als er nach wenigen fragte, sie stillschweigend unterscheidend von vielen, wie erst recht von keinem oder einem oder allen, und die Erzählung ist dieser Logik ebenso selbstverständlich gefolgt. Ihre Absicht ist es, alle diese Antworten - keiner, einer, wenige, viele, alle - auf die Frage, wer wird wohl gerettet werden, selbst zu geben und sie zugleich aus ihrer gewohnten Kontinuität herauszubrechen. Der versteinerten Urteilsform erste-letzte, nach der es ewig in der Welt zugeht, ist hier ihre eigene Melodie vorgespielt worden, und sie hat zu tanzen begonnen. Wohlbestimmt, nämlich an ihrem jeweiligen Ort, sind alle Urteilsformen wahr. In der Form der Reihe, urteilend gehandhabt, vom ersten bis zum letzten die einzelnen identifizierend, sind sie alle unwahr. Es steht dem Menschen kein Urteil über das Unendliche im Menschen zu - dieser Satz ist anfangs in bezug auf die menschliche Würde behauptet worden. Der Denksatz dieser Erzählung faßt ihn nicht normativ, sondern konstatierend, es ist dem Menschen unmöglich, so zu urteilen. Damit aber ist die lukanische Fassung zugleich genauer als das anfangs normativ Gesagte, denn zu Ende gedacht, bis zu dem Ende, von dem Licht auf das Ganze fällt, gilt es keine Forderungen zu stellen, sondern ein Rettungswerk zu begründen. Dabei bleibt bestehen, daß das Heil nicht einfach unlogisch ist, es bringt seine eigene Logik mit. Es ist die Logik des Heilands, die die Welt nur um ein Geringes zurechtstellt und damit doch die Revolution bewirkt, in der die heillose Teilung in Böse und Gute, Gerettete und Verworfene, aufgehoben ist.34 So daß schließlich der Heiland selbst, der, wie es das Kirchenlied singt, "der Erste und Letzte ist", eintritt in die Rolle des Ersten und des Letzten, beide in sich aufnehmend, beide, den adamitischen Menschen und den der letzten Tage, ins Himmelreich zuführen. Mit der Aufhebung alles Urteils über andere und über sich wird die Logik der messianischen Ordnung freigesetzt. Durchaus verläßlich tritt sie auf. Es ist dem Menschen gesagt, was gut ist, kämpfet einzugehen durch die schmale Pforte, und ebenso ist den vielen, die suchen, gesagt, daß sie es nicht vermögen. Die messianische Logik ist nicht eine der Zuordnung und der Verurteilung, sondern der Verwandlung und der Rettung, wenn möglich eines jeden.

34 Deswegen geht eine Auslegung besonders kraß am Sinn der Erzählung vorbei, die zur Schlußfolgerung kommt: "Alle Menschen, die 'Unrecht tun', werden im Gericht verworfen werden." (Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas, 306) Wozu ist dann der Messias gut?

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III Ausblick Unerwartet weit hat dieser Text aus sich herausgeschaut, unerwartet viele Wendungen hat er genommen. Der Fragende des Anfangs ist sie alle gegangen, er konnte lernen, was es heißt, daß ich oder du, wir, ihr oder sie in eine Geschichte gestellt sind, er gehörte zu wenigen und zu vielen, er war auf die Kampfbahn gestellt als Einzelner, er war ausgeschlossen wie alle und er hat von allen Himmelsrichtungen die ins Himmelreich Einziehenden gesehen. Ihm hat der Text sich ereignet, die Kraft seiner Sprache und die sie tragende Logik sich ihm mitgeteilt. Der Text hat die Grenzen der Alltagssprache und der Logik zugleich gesprengt, er ist nicht im Raum des Irdischen geblieben, hat sich nicht binden lassen durch die feste Ordnung der von der Vergangenheit durch die Gegenwart zur Zukunft verlaufenden Zeit. Er hat eines um das andere Mal die Erwartungen auf den Kopf gestellt, das Gegenwort, die Gegenlogik ins Spiel gebracht.35 Denn wahre Sprache ist nicht Abbild der gegenständlichen Welt, sie ist auch nicht Frage und Antwort in der sozialen Welt, sie ist vielmehr Erzeugung einer Wirklichkeit, die ohne sie nicht da ist. Erzeugend aber ist sie in dem Maße, in dem sie nicht a priori konstruiert, sondern einem innersten Hören folgt, empfangend ist. Das schlechthin nur zu Empfangende ist ihr Unaussprechliches, die Sprache hütet es als ihr Geheimnis, das unverletzt und unzugänglich sie zu überliefern hat, Ausdruck dessen, was nicht durch sie, sondern wodurch sie da ist. Sprache wird erzeugend, wo ihr ein Widerfahrnis vorausgeht, dem sie nicht ausweichen und dem sie nicht widerstehen kann. Wenn dieses Widerfahrnis Sprache dort neu ordnet, wo sie am tiefsten vertraut, am verläßlichsten gesagt wird, wo sie den Eigennamen, ja den eigenen Namen ergreift, Jakob zu Israel, Simon zu Kephas werden läßt, wo sie das den Menschen Allergewisseste, nehmen und essen, gehen, stehen und sitzen, kommen und sehen,36 verwandelnd durchdringt, dann ist sie heilige Sprache. Sie sagt das Ungesprochene und bewährt es, solange sie überliefert wird, als das aller Welt zu Glaubende und den Denkenden zu Denkende. Gleichsam spielerisch führt uns Lukas in den Ernst dieser Verwandlung ein, indem er am Ende einer unausdenkbaren Geschichte den nicht zu Ende zu denkenden Satz überliefert: "Und siehe, es sind letzte, die werden die ersten sein und sind erste, die werden die letzten sein."

35 Diese Auslegung hat betrüblicherweise von den neueren Kommentaren (Schneider, Schweizer, Wiefel) - die großen Kommentare von Heinz Schürmann und François Bovon haben diese Perikope noch nicht erreicht - nur wenig lernen können. Den Gründen dafür ist hier nicht nachzugehen. Wer sich nach dem Durchdenken dieser Auslegung die Mühe machen wollte, die Kommentierung Schweizers zu dieser Perikope, die verbreitetste im deutschen Sprachbereich, zu studieren, würde sein eigenes Evidenzerlebnis haben. 36 Vgl. Mt 26,26; Ps 1,1; M t 8 , 1 4 .

Wolfgang Neuser

Raum und Zeit als Ordnungselemente im Neuplatonismus und in der Kabbalah

In memoriam Ulrich Sonnemann

Die Verwobenheit der Denktraditionen der europäischen Geistesgeschichte mit dem Denken jüdischer Philosophen scheint auf eminente Weise in der Zeit der Renaissance deutlich zu werden. Die Rezeption der kabbalistischen Literatur bei Reuchlin, Postel, Pico della Mirandola, Ficino, Fludd, Bruno, 1 Kepler u.a. steht dabei an erster Stelle. Sie wurde möglich, weil die Kabbalah und die jüdischen Kommentare zur Kabbalah, zu den Büchern Jezira und den beiden Fassungen des Sohar selbst in einer Tradition stehen, die bedeutende Elemente der griechischen Tradition aufnehmen. Die Mitglieder der Florentiner Akademie um Ficino sind ebenso am Neuplatonismus orientiert wie die Interpreten der jüdischen Kabbalah. 2 Ich möchte im folgenden zeigen, daß in beiden Traditionslinien, der der italienisch-neuplatonischen und der nach 1492 nach Italien emigrierten Kabbalisten, zwei zwar in den Grundzügen gleiche, aber in einem Aspekt sehr differente Varianten des gleichen Denkansatzes vorliegen. Dabei ist zu beachten, daß Denken sich nicht in Form einer linearen geradlinigen Entfaltung bislang nicht gesehener Wahrheiten entwickelt, sondern vielmehr in einer Front unterschiedlicher Traditionslinien, deren Gesamtheit je das Denken einer Zeit ausmacht. Bruch und Kontinuität treten dann parallel auf. Sowohl die Kontinuität als auch der Bruch sind fragile Erscheinungen der Ideengeschichte. Die Fortführung von Denkkonzepten kann jederzeit abgebrochen oder wieder aufgenommen werden.

I. Ein Modell des neuplatonischen Denkens Der Neuplatonismus unterscheidet sich von anderen Denkkonzepten, etwa der Aristotelischen Tradition, nicht so sehr durch die Themen, die Begriffe oder Probleme, die er

1

Dank schulde ich der Fritz-Thyssen-Stiftung, die meine Beschäftigung mit der Renaissance-Philosophie, insbesondere der Philosophie Giordano Brunos förderte.

2

Moshe Idel, "The magical and Neupiatonic Interpretations of the Kabbalah in the Renaissance", in Isaac Cooperman (Hg.), Jewish thought in the sixteenth Century, Cambridge 1993,186-242; Wilhelm Schmidt-Biggemann, "Einleitung", in Giom Postel (Hg.), Sefer Jezirah, erneut hg. v. Wolf Peter Klein, Stuttgart/Bad Cannstatt 1994, 11 ff.

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behandelt, sondern durch die Art und Weise, wie er seine Gegenstände denkt. Das, was den Neuplatonismus spezifisch ausmacht, ist eine Denkmethode. Im Neuplatonismus geht man davon aus, daß das Ganze oder Eine höchste Dignität bei der Beschreibung von Welt hat. Nicht seine Elemente sind es, die das Ganze konstituieren, sondern die Elemente müssen jederzeit so betrachtet werden können, daß deutlich wird, wie sie auf das Ganze verweisen.3 Eine analytische und iterative Bestimmung der Elemente, die in der Summe das Ganze ausmachen sollen, ist in dem Sinne nicht möglich, weil nach dem Neuplatonismus jeweils an der Summe der Elemente zugleich eine Differenz zwischen der Summe der Elemente und dem Ganzen bleibt und deshalb methodisch berücksichtigt werden muß. Neben dem Einen und den Vielen ist die Ordnungsstruktur, die diese Vielen in das Eine und auf das Eine hin ordnen, signifikant für ein neuplatonisches Konzept. Aus diesen Gründen ist der Neuplatonismus eher eine philosophische Methode als eine Metaphysik, Theologie etc. Hält man diese drei Komponenten, das Eine, die Vielen und ihre Ordnung, als grundlegende methodische Bedingungen fest, so ergeben sich unterschiedliche Formulierungen neuplatonischer Konzepte dadurch, wie die Beziehung des Einen zum Vielen und die Beziehung der Vielen zum Einen gedacht werden. Der Übergang, den man von dem Einen zu den Vielen denkt, geschieht auf drei Weisen. Entweder die Vielen sind Ausdruck des Wesens des Einen, oder sie werden als aktive Schöpfung gedacht, wobei das Eine die Vielen geschaffen hat, oder als Emanation. Bei der Vorstellung von Emanation hat das Eine die Vielen auf (un-)bestimmte Weise aus sich entlassen. Die Vielen werden entweder als Essenz, als Schöpfung oder als Emanation des Einen gedacht. Umgekehrt kann man das Eine aus der Perspektive der Vielen immer auf zwei Weisen interpretieren. Entweder als Epiphanie oder als Diaphanie, als Erscheinen oder als durchsichtig werden, als Aufscheinen-lassen des Einen in den Vielen. Die Vielen können so das Wesen des Einen ausdrücken. Sie können sein Sein sein oder es aus ihm entlassen.4 Dies sind die methodischen Probleme, die ständig an unterschiedlichen metaphysischen, logischen, anthropologischen, naturwissenschaftlichen, ethischen und theologischen Gegenständen in der neuplatonischen Literatur diskutiert werden. Das grundlegende methodische Problem des Neuplatonismus ist offenbar, wie die ständig veranschlagte Differenz der Summe der Vielen zum Einen und Ganzen zu verrechnen ist. Ein nachgeordnetes Problem erscheint hingegen die Frage nach der Beziehung der Vielen untereinander. Wie ordnen sich die Vielen zueinander? Es scheint eine Frage der Konstitution des Einen zu sein, wie sich die Vielen zueinander ordnen, sind sie doch, was sie sind, nur in Hinsicht auf das Eine. Die Beziehung der Vielen

3

Werner Beierwaltes, "Proklos, ein 'systematischer' Philosoph?", in Colloques National de la Recherche Scientifique Proclus, Paris 1987, 351-368.

4

Wolfgang Neuser, "Methodischer Neuplatonismus in den Selbstorganisationstheorien", System und Struktur, Bd. 2 (1994), H. 2, 113-133; Wolfgang Neuser, "Zur Logik der Selbstorganisation", erscheint in Karen Gloy u.a., Systemtheorie und ihre Kontrapositionen, Bonn 1995.

internationaux

du Centre

Raum und Zeit als Ordnungselemente

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untereinander ist deshalb in der Regel nicht explizit, sondern implizit Gegenstand der philosophischen Erörterung. Der Übergang vom Einen zum Vielen bedeutet natürlich sowohl eine qualitative als auch eine quantitative Bestimmung. Als quantitative Bestimmung bedeutet er zunächst das Auftreten von Zahlen. Die Frage ist dann, wie interpretieren wir dieses Zahlsein des Einen? Wird es primär im Raum oder in der Zeit errichtet? Oder wird das Zahlsein als Logos interpretiert? Interpretiert man die Zahl als Logos, so wird die Zahl als Wort interpretiert - und d.h. zunächst hinsichtlich ihrer qualitativen Bestimmung. Die beiden Folianten quantitativer Bestimmung des Übergangs möglicher Ordnung der Vielen zueinander sind deshalb Raum und Zeit. Betrachtet man das Eine als sich im Raum prozessual konstituierend, so haben die Vielen primär eine räumliche Ordnung untereinander, betrachtet man das Eine aber als sich im historischen Prozeß etablierend, so ist die primäre Ordnung der Vielen zeitlich. Wenn wir einen philosophischen Ansatz des Neuplatonismus betrachten, der für das Eine primär eine räumliche Ordnung zugrundelegt, so wird auch die Zeit in einer räumlichen Metaphorik interpretiert, etwa als auf einem Zeitstrahl ablaufend. Baut das neuplatonische Konzept jedoch auf der Vorstellung einer zeitlichen Ordnung auf, so wird der Raum, etwa über Bewegung als einer, aus der Zeit abgeleiteten Ordnungsstruktur interpretiert.5 Diese Differenz in der Auffassung, wie die Vielen primär zueinander geordnet sind, ist nicht belanglos. Sie bedingt grundlegende Differenzen für die Metaphysik, für die Erkenntnistheorie und auch für die Wissenschaftstheorie. Ein systematisches Interesse an dieser Fragestellung möchte ich andeuten: Die modernen Selbstorganisationstheorien lassen sich im Kontext eines methodischen Neuplatonismus interpretieren, und die Frage, ob Selbstorganisation sich in geschlossenen oder offenen Systemen etabliert, entscheidet sich mit der Frage, ob die Systeme primär durch Raumstrukturen beschreibbar sind (geschlossene Systeme, Maturana) oder ob sie zeitbasierte Systeme sind (offene thermodynamische Systeme, Prigogine). Im folgenden möchte ich unter dieser Fragestellung nach den Raum- und Zeitvorstellungen bei den Kabbalisten und Neuplatonikern in der Renaissance fragen. In beiden philosophischen Richtungen liegt das methodische Grundkonzept des Neuplatonismus vor.

II. Der Neuplatonismus der Kabbalah Eine tiefgreifende Differenz zwischen dem Renaissance-Neuplatonismus und dem der Kabbalah liegt darin, daß im Kontext der Kabbalah die Zeit als primäre Ordnung der Vielen aufgefaßt wird, wohingegen im Kontext der Florentinischen Akademie der Raum

5

Ulrich Sonnemann hat in den letzten Jahren seines Lebens an einer transzendentalen Akustik gearbeitet. Seine Idee war, daß die moderne Erkenntnistheorie auf Vorstellungen des Sehens basiert, von Metaphern des Sehens ausgeht und deshalb eine Ordnung im Raum insinuiert. Die Bedeutung des Hörens wird dabei unterschätzt. Diese ins Bewußtsein zu heben, war Ulrich Sonnemanns Anliegen. Dabei wären Ordnungen in der Zeit zu denken. Diskussionen mit Ulrich Sonnemann verdanke ich die Anregung zu der vorliegenden Untersuchung.

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diese Funktion übernimmt. 6 Sowohl in dem Buch Sohar, als auch im Sefer Jezira finden wir an erster Stelle eine explizite Diskussion der Zeit im Zusammenhang mit der Wesensbestimmung des Einen (Ein Sof). Zu Beginn des Sohar wird in mehreren, immer wieder neu ansetzenden Interpretationen eine Deutung der Wendung "im Anfang" aus dem Beginn der Genesis gegeben. Eine Interpretation macht Gebrauch davon, daß unterschiedliche Vokalisierungen des Wortes BERESHIT, d.h. "im Anfang" möglich sind. Die Alternative ist BARA-SHIT, d.h. "er schuf sechs". Ich zitiere die englische Übersetzung: "BERESHITH (In the beginning). Said R. Yudai: 'What is the meaning of Bereshithl It means »with Wisdom«, the Wisdom on which the world is based, and through this it introduces us to deep and recondite mysteries. In it, too, is the inscription of six chief supernal directions, out of which there issues the totality of existence. From the same there go forth six sources of rivers which flow into the Great Sea. This is implied in the word BeReSHiTH, which can be analysed into BaRa-SHiTH (He created six).' 'What you said about bereshith signifying bara-shith (created six) is certainly correct, since the Torah speaks of six primordial days and not more.'" 7

Die Vielheit der Dinge, deren Existenz in der Weisheit Gottes, dem Einen, ruht, ist danach im Anfang der Dinge angelegt. Der Anfang stellt erstmals eine Geordnetheit der Dinge zugleich mit der Existenz der Dinge dar. Diese Geordnetheit sind die ersten sechs primordialen Tage, also eine zeitliche Ordnung. Die räumliche Ordnung wird sodann aus der Zeit-Metapher interpretiert: nämlich als Fließen von sechs Flüssen. Im Sefer Jezira werden 32 Wege der Weisheit vorgestellt, das sind 32 Stufen des Verstandes. Sie entsprechen den 10 Zahlen und den 22 Buchstaben. Sowohl die Zahlen als auch die Buchstaben werden vom Schöpfer jeweils in drei Hinsichten ausgezeichnet: Die Zahl durch Sepher, Sephar und Sipur. 8 Das sind die Zahl, der Zählende und das Gezählte. Man erkennt darin die Bestimmungen der Methode des Neuplatonismus, wie ich sie zu Beginn des Beitrags skizziert habe. Die drei Hinsichten, denen die Zahl entspricht, sind: das vorgängige Eine, die Ordnungsstruktur und die Vielen. Die 22 Buchstaben beginnen mit drei Müttern (aleph, men, shin).9 Aus ihnen folgen die übrigen Buchstaben. Die ihnen zugeordneten Attribute werden dann auf jeweils dreifache Weise bewiesen. Die Beweise geschehen unter den folgenden Gesichtspunkten: die Welt, das Jahr und die Menschen, d.i. das Einheitliche des Vielen, die Zeit als seine Ordnungselemente und die Vielen selbst.

6

Dazu: Moshe Idel, "Differing concepts of Kabbalah in the early 17th Century", in Isadore T. Twersky u. Bernard Septimus (Hg.), Jewish thought in the seventeenth Century, Cambridge 1987, 138-200; Moshe Idel, "Particularism and Universalism in Kabbalah, 1480-1650", in David B. Ruderman (Hg.), Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, N e w York 1992, 324-368.

7

Sohar, translated by Harry Sperling u. Maurice Simon, 1. Bd., London 1956, 13.

8

Julius Nestler, Die Kabbalah

9

Das Buch Jezira, iibers. v. Johann Friedrich von Meyer, hg. v. Eveline Goodman-Thau u. Christoph Schulte, Nachdruck Berlin 1993, 9, Kap. 2, 1. Abschnitt.

von Papus,

Nachdruck Wiesbaden 1991, 178.

Raum und Zeit als

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Ordnungselemente

D e r Raum spielt keine Rolle im Sefer Jezira. 1 0 N a c h der Vertreibung 1492 aus Kastilien sind insbesondere Isaac Abravanel ( 1 4 3 7 1508) und Judah Abravanel, genannt L e o n e Ebreo ( 1 4 6 0 - 1 5 3 5 ) für die neuplatonische Florentinische A k a d e m i e wichtig g e w o r d e n . B e i d e standen in e n g e m Kontakt zu den Mitgliedern der Florentinischen A k a d e m i e . Isaac Abravanel schreibt in seinem Buch Grundsätze des Glaubens in einer Darstellung und Interpretation von M a i m o n i d e s ' Führer der

(Rosh Amanah) Ungläubigen11:

"Maimonides' demonstrations of God's existence in the beginning of Part II of the Guide are based on the world as a whole and on the interrelationship of its parts, on generation and corruption, or on the movement of the Sphere. The demonstration is equally valid for both believers in eternity and believers in creation, as he pointed out. Therefore Maimonides here calls this Existent, 'God of the Universe', with respect to the demonstration drawn from the world as a whole. He calls Him 'Lord of all the Earth' with respect to demonstrations drawn from generation and corruption. He says 'He it is who Who controls the Sphere' with respect to the demonstrations drawn from the movements of the heavens, according to the opinion held in common by those who affirm eternity and those who affirm creation. Infinity is either a matter of power or duration. In writing 'And He it is who Who controls the Sphere [of the Universe] with a power that is without end or limit' Maimonides establishes [that God has] both kinds of infinity. 'With a power that is without end or limit' refers to the first kind. '[With a power] that is never intermitted' refers to the second kind of infinity, which involves time and duration. It is thus established that Maimonides referred to the movements of the heavens as having neither end nor limit [only] as following the opinion of Aristotle, but not that of the Torah." 12 "Maimonides refers here, can be understood in another way. That is, as referring to a being which has beginning in the past but will have no end or limit in the future and from that aspect is infinite. His statement 'God, blessed be He, it is Who causes it to revolve' accords with the opinion of those who maintain that the First Mover is the First Caus.'" 3 Abravanels platonisch gefärbte Interpretation der v o r w i e g e n d aristotelisch ausgelegten Darstellung des M a i m o n i d e s bestimmt den Urgrund der W e l t als U n e n d l i c h e s , auf d e m die Schöpfung beruht. D i e Unendlichkeit erscheint daher ausschließlich als nach zeitlichen Gesichtspunkten geordnet: "power or duration", "time and duration", "no limits in the future". 1 4 A u c h L e o n e Ebreo nimmt das Problem an d i e s e m Punkt auf. In seinen Dialoghi d'Amore wird der Philosoph gebeten, ein Beispiel dafür zu nennen, daß die göttliche Weisheit viel weiter und tiefer sei als der menschliche Verstand 1 5 und dies die M e ß barkeit eines U n e n d l i c h e n durch ein Endliches sei.

10 Bereits Jehuda Halevi (1085) bezieht sich im Kusari auf diese Argumentation; übers, v. David Cassel, Nachdruck Zürich 1990, 377 ff. (IV, 25 ff.). 11 Ich folge hier Moshe Idel, "The magical and Neupiatonic Interpretations of the Kabbalah in the Renaissance"; vgl. Israel Isaac Efros, The Problem of Space in Jewish Mediaeval Philosophy, New York 1917. 12 Isaac Abravanel, Priciples of Faith, übers, v. Monachim Marc Keller, London 1982, 180. 13 Ebd., 181. 14 Vgl. auch Manuel Joel, Dan Chasdai Creskas' religionsphilosophische Lehren, Breslau 1866, 24 u. 28.

15 Vgl. Leone Ebreo, Dialoghi D'Amore, übers, u. eingef. v. Carl Gebhart, Heidelberg 1929, 43.

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Er nennt die Zeit, die unendlich ist, ohne Anfang und Ende. Weil ihr Sein unendlich ist, ist sie nicht mit endlichen Zeiten kommensurabel. Nach Leone Ebreos Vorstellung wird die Einheit von Einheit und Vielheit durch die Vorstellung von einem Universum, das im göttlichen Geist in vollkommener Einheit ist, ausgedrückt. "Wenn auch die erste Idee des Weltalls die im Geiste seines höchsten Werkmeisters ist, so bringt doch diese Mannigfaltigkeit in ihm keine wesenhafte trennbare Verschiedenheit, noch räumliche Teilung, noch Zahlenunterschied, wie es bei den Teilen des Weltalls der Fall ist, sondern sie ist derart mannigfaltig, daß sie in sich unteilbar, rein und höchst einfach bleibt und in vollkommener Einheit, indem sie die Vielheit aller Teile des hervorgebrachten Weltalls umfaßt mit der ganzen Ordnung feiner Stufen, so daß, wo eine ist, alle sind und die Allen nicht die Einheit der einen aufheben." 1 6

In den hier untersuchten Beispielen der kabbalistischen Texte wird die Ordnungsstruktur der vielen Elemente der Welt untereinander nach einer zeitlichen Ordnung begriffen. Dort wo auf Raummetaphorik für die Ordnung der Vielheit zurückgegriffen wird, ist die Raumvorstellung aus Zeitvorstellungen abgeleitet. Die Zeit ist die vorrangige Ordnung der Welt.

III. Spätantiker Neuplatonismus und der Neuplatonismus der Renaissance: Plotin (204-269), der Uber De Causis (9. Jh.), Proklos (412-485) und Ficino (1433-1499) Plotin schreibt mit Blick auf Piaton und seinen Dialog

Parmenides:

"Indem er es aber in seinen Schriften Eines nannte, konnte man ihm den Vorwurf machen, daß dieses Eine ja als Vielheit angetroffen wird. Da spricht Parmenides bei Plato genauer, er scheidet voneinander das erste Eine, das im eigentlichen Sinne 'Eine', das zweite, welches er 'Eines Vieles' nennt, und das dritte, 'Eines und Vieles'; so stimmt er ebenfalls überein mit der Lehre von den drei Weisheiten. Anaxagoras ferner, indem er den Geist rein und unvermischt nennt, setzt ebenfalls das Erste als ein Einfaches und das Eine als abgetrennt (transzendent); doch hat er Genaueres zu geben infolge seiner Altertümlichkeit unterlassen." 17

Die Ordnung der Vielen untereinander beschreibt Plotin so: "So läuft also der Werdeprozeß, vom Ursprung her bis zum Untersten hin, und jede einzelne Stufe verbleibt dabei immer auf dem ihr eigenen Sitz, während das Erzeugte eine andere Stelle, und zwar eine

16 Leone Ebreo, Dialoghi D'Amore, 61; vgl. auch Alan Ray Milburn, "Leone Ebreo and the Renaissance", in Herbert Loewe, John Brand Trend (Hg.), Issac Abravanel, Cambridge 1937, 134-157. 17 Plotin, Schriften, übers, v. Richard Härder, Leipzig 1930, 122.

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Ordnungselemente

niedrigere einnimmt. Jedoch wird jeweils das Erzeugte mit demjenigen identisch, dem es sich hingibt, solange es sich ihm hingibt." 18 D i e erste g e s t a l t e t e Struktur, d i e v o m E i n e n a u s g e h t , ist d i e S e e l e . W i r erfahren e t w a s über Plotins V o r s t e l l u n g v o n O r d n u n g e n der V i e l e n untereinander, w e n n w i r nach der Ordnung der S e e l e im E i n e n f r a g e n : D e n U r s p r u n g der S e e l e thematisiert Plotin z u nächst unter d e m Gesichtspunkt ihrer räumlichen B e z i e h u n g z u m Einen. D a m i t b e k o m m t der R a u m d i e B e d e u t u n g d e s primären O r d n u n g s p a r a m e t e r s der V i e l e n . Plotin schreibt: "Nun zu ihrem Ursprung; denn sie ist von ihm räumlich entfernt; sie ist also Eines mit ihrem Ursprung. Und wenn man die Wurzel abhaut oder verbrennt, wo bleibt das, was an Seele in der Wurzel ist? In der Seele, denn sie war ja garnicht an einen anderen Ort gegangen. Indessen mag sie auch am selben Ort geblieben sein, sie war doch in einem Andern, wenn sie 'zurückkehrt'; kehrt sie nicht zurück, so geht sie in eine andere Pflanzenseele ein, denn sie ist nicht räumlich eingeengt; kehrt sie aber zurück, so geht sie in das Seelenvermögen ein, das vor ihr ist. Aber wo bleibt dieses? In dem vor ihm liegenden Vermögen; und das reicht schon an den Geist heran, nicht räumlich, denn wie wir sagten, ist die Seele überhaupt nicht im Raum, so daß sie also nicht räumlich an ihn heranreichen kann. Ist sie also nicht irgendwo, sondern in dem das nirgendwo ist, so ist sie damit auch allerwärts; bleibt sie aber beim Aufstieg nach oben im Zwischengebiet stehen, ehe sie gänzlich zur höchsten Höhe gelangt ist, so führt sie ein mittleres Leben und kommt in diesem Teil ihrer selbst zur Ruhe." 19 A u c h w e n n P l o t i n der S e e l e k e i n e n R a u m z u s c h r e i b e n m a g , s o bleibt d o c h der R a u m zunächst der primäre O r d n u n g s a s p e k t , unter d e m d i e g e s c h a f f e n e n V i e l e n betrachtet werden müssen. I m Liber De Causis - w i e bereits b e i m O r i g i n a l , d e n theologischen Proklos 2 0 - hat d i e Z e i t d i e R o l l e der O r d n u n g s f u n k t i o n :

Elementen

von

"die erste Ursache ist in allen dingen nur auf eine art und weise, dagegen sind nicht alle dinge in der ersten Ursache nur auf eine art und weise. "21 "jedes ding, das in der zeit erschaffen ist, ist entweder immer in der zeit, und die zeit geht nicht hinweg von dem ding, denn das ding ist in gleicher weise wie die zeit erschaffen; oder das ding geht hinweg von der zeit und die zeit geht hinweg von dem ding, denn das ding ist in gewissen abschnitten der zeit erschaffen. "22 "jedes ding, das durch seine Wesenheit besteht, ist nur in der zeitlosigkeit erschaffen, es ist höher und erhabener als die zeit und die zeitlichen dinge. "23

18 Plotin, Schriften,

128.

19 Ebd., 128 f. 20 Vgl. Lawrence P. Schrenk, "Proclos on Corporeal Space", Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 76 (1994), 151-167. 21 Proklos, Liber De Causis, übers, v. Emil Orth, Rom 1938, 77. 22 Ebd., 91 f. 23 Ebd., 93; vgl. auch Eric Robertson Dodds (Hg.), Proclus, The Elements of Theologie, Oxford 1963, 48 ff.

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Im Liber De Causius und in Proklos Theologischen Elementen finden wir also die Zeit als primären Ordnungsparameter der Vielen untereinander. Ficino schließlich schreibt: "Was nämlich verschieden ist, bringt - wie gesagt - nicht, insofern es verschieden ist, die Einheit hervor. Aber existiert etwa die Natur, die allen gemeinsam inne ist, gänzlich aus sich selbst? Keineswegs. Es ist nämlich etwas größeres, aus sich selbst zu existieren, als in sich selbst zu bestehen. Da also eine derartige Natur nicht in sich, sondern in einer Menge besteht, kann sie gewiß nicht aus sich selbst existieren. Also geht jede Einigung aller aus einer Einheit hervor, die jenseits aller Zahl in sich selbst besteht; und weil jene höchste Einheit keinem zu eigen ist (so wie die zahlenmäßige Einheit überall in allen Zahlen und der Punkt in den Linien enthalten ist), so bleibt sie auch selbst unteilbar, indem sie dauernd überall in den Geistern und Körpern gleichermaßen enthalten ist und alles gleich miteinander verbindet. Diese leiten gerade durch gegenseitige Übereinstimmung zu dem Einen, weil sie von dem Einen abgeleitet sind. So also, wie alle Körper der Welt auf den einen höchsten, alles enthaltenden und bewegenden Körper zurückgeführt werden, so alle Geister auf den einen alles erfassenden höchsten Geist, der durch die ihm untergebenen Geister die Körper belebt und bewegt." 24

Mit der primären Vorstellung einer Ordnung, die durch Punkte und Linien beschrieben wird, rekurriert auch Ficino zunächst auf Raumstrukturen als Ordnungsfunktion der Vielen. Die Philosophien der untersuchten Autoren (Plotin, Proklos, Ficino, Abravanel, Ebreo) des spätantiken Neuplatonismus und des Renaissance-Neuplatonismus haben also gemeinsam, daß in ihnen die Vielheit der Dinge einen einheitlichen Existenzgrund in dem Einen hat. Die ursprüngliche Ordnung der Vielen untereinander wird jedoch auf unterschiedliche Weise aufgefaßt: entweder als Raumordnung oder als Zeitordnung. Dabei ist nur für die jüdischen Kabbalisten ein Grund für ihre Wahl der Zeit als ursprünglichen Ordnungsparameter der Vielen zu erkennen. Der Rückgriff auf den Sohar und den Sefer Jezira legt auch die dort getroffene Wahl der Zeit als Ordnungsparameter nahe. Hingegen wird in der Luriaschen Kabbalah die Schöpfung als ein Zurückweichen und Raumschaffen Gottes interpretiert. Gott nimmt sich in einem Punkt zurück und schafft so Platz für die Schöpfung. Auf diesen Kontext verweisen Abravanel und Ebreo nicht.25 Mindestens zwei große neuplatonische Theorien gibt es im christlichen spätantiken Raum, die zeitbasiert sind, nämlich die von Proklos und Augustinus. 26 Plotin, der Begründer der neuplatonischen Theorien in der Spätantike, hat eine raumbasierte Theorie. Bei den Renaissance-Philosophen aus dem Kontext der Florentiner Akademie, bei Pico della Mirandola 27 und Ficino, finden wir eine Präferenz für den "Raum" als primäre Ordnungsfunktion für die Vielen.

24 Marsiglio Ficino, Traktate zur Platonischen Philosophie, u. Thomas Leinkauf, Berlin 1993, 115 f.

übers, v. Elisabeth Blum, P. Richard Blum

25 Vgl. Rabbi Moses C. Luzatto, General Prinziples of the Kabbalah, New York 1970, 136 und Isaac Luria, The Kabbalah. A study of the ten luminous emanations, übers, v. Rabbi Levi I. Krakovsky, Jerusalem 1969. 26 Vgl. Augustinus, Confessiones,

Kap. XI.

27 Vgl. Paul Oskar Kristeller, Acht Philosophen der italienischen Renaissance,

Weinheim 1986, 53 f.

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Augustinus und Proklos rekurrieren auf die Zeit als Grundparameter, ebenso wie Isaac und Judas Abravanel. Plotin und Ficino sowie Pico della Mirandola rekurrieren auf den Raum. Bruch und Kontinuität finden sich also zwischen christlichem und jüdischem Neuplatonismus nebeneinander, weil dort zwar gemeinsam das Grundkonzept eines methodischen Neuplatonismus akzeptiert wird, aber ein Aspekt, nämlich die Organisiertheit der Vielen untereinander, auf verschiedene Weise interpretiert wird. Bruch und Kontinuität fügen sich in der Ideengeschichte sicher nicht zu einer linearen Kette, sondern sie folgen aus einer komplexen Gefügtheit von Begriffselementen und Begriffen. Es gibt bei den gleichen Konzepten in bestimmten Hinsichten Brüche und Differenzen und zugleich in anderen Hinsichten Kontinuitäten. Bezogen auf ein ganzes Weltbild existieren Brüche und Kontinuität immer nebeneinander. Ohne die Kontinuität gibt es keine Kommunikation und ohne die Brüche keine Differenz und keinen Dialog.

Regine Kather

Die Wahrheit der Wissenschaft: "Deutsche und Jüdische Physik"

Exposé: Von nationalsozialistisch orientierten Physikern wie Johannes Stark und Philipp Lenard wurde die Relativitätstheorie Einsteins schon seit den frühen zwanziger Jahren als "jüdische Physik" disqualifiziert. Diese Bezeichnung war gleichbedeutend mit der Behauptung, daß die Relativitätstheorie keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und wissenschaftliche Wahrheit erheben könne. Mit klaren Argumenten vertreten Physiker wie Werner Heisenberg das Gegenteil: Sie betonen den übernationalen Charakter der "Sprache der Physik", den auch Einstein immer wieder hervorgehoben hat und der sein Forschen maßgeblich geleitet hat. Diese Haltung Einsteins wurzelt in seiner Überzeugung von der Einheit der Natur und der Gültigkeit derselben Naturgesetze für alle Erdenbürger. Die Argumente für die Allgemeingültigkeit bestimmter Züge der wissenschaftlichen Erkenntnis beleuchten die heutige Diskussion um die Kultur- und Zeitbedingtheit aller wissenschaftlichen Aussagen, wie sie Historismus, Empirismus oder Konstruktivismus vertreten.

I Kontinuität durch Vergegenwärtigung Neues bildet sich weder durch eine schlichte Weiterführung des Vergangenen in der Gegenwart noch durch ein starres Festhalten am Gewesenen; es entsteht ebensowenig durch das Zerreißen von Zusammenhängen, durch Abbruch und blinde Zerstörung, die Einsichten immer wieder dem schieren Vergessen preisgeben. Nichts kehrt jemals wieder und doch ist das Vergangene nie einfach entschwunden. Indem Ideen, Einsichten oder Gedanken in eine andere Konstellation von Ereignissen eintreten, gewinnen sie selbst eine neue Bedeutung: Einsteins Relativitätstheorie hat nach der Entdeckung der Quantentheorie neue Fragen und Diskussionen ausgelöst; die Idee des Kosmopolitismus, in den zwanziger Jahren Ausdruck einer verstiegenen Weltfremdheit ihres Verfechters, hat heute, angesichts der ökologischen Krise, eine ganz andere Dringlichkeit gewonnen. Das Weiterwirken von Ideen in der Geschichte der Wissenschaft und der Menschheit verknüpft die Vergangenheit über Brüche und Abbräche hinweg mit der Gegenwart und der Zukunft; Impulse, die in einer veränderten wissenschaftlichen oder geschichtlichen Konstellation eine neue Wirksamkeit gewinnen, befruchten das Denken, das Lebensgefühl, Ziele und Werte. In diesem Sinne überbrückt Einsteins Wirken den Bruch, den

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das Dritte Reich in der deutsch-jüdischen Geschichte herbeigeführt hat, auf zwei Weisen: Zum einen durch die wissenschaftliche Leistung, die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, die zum festen Bestandteil der modernen Physik gehören; zum anderen durch die kosmopolitischen Impulse, für die erst heute die Zeit reif zu sein scheint. Die zweifache Wirksamkeit Einsteins als Wissenschaftler und als Mensch beruht darauf, daß er sich, wie nur wenige Naturwissenschaftler, in einem von Kriegen und Konflikten zerrissenen Jahrhundert seiner sozialen Verantwortung gestellt hat. 1 Einstein verzichtete trotz seiner Entscheidung für die wissenschaftliche Spezialisierung nicht darauf, als Mensch seine gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Als Naturwissenschaftler war ihm in der modernen Welt eine besondere Autorität zugewachsen; 2 je schwankender und zeitbedingter die sozialen Verhältnisse erschienen, je mehr Philosophie und Theologie ihre zentrale Stellung einbüßten, desto stärker wurde die Suche nach objektiven Erkenntnissen. Im 20. Jahrhundert gelten - anders als in anderen Epochen - vor allem die Aussagen der Naturwissenschaften als beweisbar, allgemeingültig und für jedermann nachvollziehbar. Der Naturwissenschaftler als Vertreter dieser Disziplin erscheint als Repräsentant objektiven Wissens, das ihm eine besondere Glaubwürdigkeit verleiht. Umso erstaunlicher ist es, daß Einstein nicht nur in der Physik, sondern auch in der Ethik von universalisierbaren Einsichten ausgeht. Die Verbindlichkeit physikalischer wie ethischer Einsichten entspringt, wie wir sehen werden, derselben Quelle. Krass hebt sich dagegen ein weltanschaulicher Relativismus ab; wie leicht dieser ideologisch zu mißbrauchen ist, zeigt die Verunglimpfung der Relativitätstheorie als "jüdischer Physik".

II "Deutsche und Jüdische Physik" Als Einstein nach dem ersten Weltkrieg auch außerhalb des engen Kreises der Kollegen berühmt wurde, warfen ihm seine Gegner seinen dezidierten Pazifismus und Antimilitarismus sowie seine jüdische Abstammung vor und bekämpften die Relativitätstheorie als jüdische Anmaßung und Vergiftung deutschen Gedankenguts. Nationalsozialistisch orientierte Physiker wie Johannes Stark und Philipp Lenard, beide Nobelpreisträger, disqualifizierten die Relativitätstheorie seit den frühen 20er Jahren als "jüdische Physik". In seinem mehrbändigen Werk Deutsche Physik, dessen erster Band 1936 erschien, eifert Lenard: "'Deutsche Physik' wird man fragen. - Ich hätte auch arische Physik oder Physik des nordisch gearteten Menschen sagen können, Physik der Wirklichkeitsbegründer, der Wahrheitssuchenden, Physik derjenigen, die Naturforschung begründet haben. - 'Die Wissenschaft ist und bleibt international!' wird man mir einwenden wollen. Dem liegt aber ein Irrtum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft, wie alles, was Menschen hervorbringen, rassisch, blutmäßig bedingt. Ein Anschein von Internationalität kann entstehen,

1

Albert Einstein, Über den Frieden. Weltordnung oder Weltuntergang?, hg. v. Otto Nathan u. Heinrich Norden, Bern 1975.

2

Vgl. Ulrich Charpa u. Alfons Grunwald, Albert Einstein, Frankfurt a.M./New York 1993, 119, 126 f.

Die Wahrheit der Wissenschaft

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wenn aus der Allgemeingültigkeit der Ergebnisse der Naturwissenschaft zu Unrecht auf allgemeinen Ursprung geschlossen wird oder wenn übersehen wird, daß die Völker verschiedener Länder, die Wissenschaft gleicher oder verwandter Art getrieben haben wie das deutsche Volk, dies nur deshalb und insofern konnten, weil sie ebenfalls vorwiegend nordischer Rassenmischung sind oder waren [...] Mit Kriegsende, als die Juden in Deutschland herrschend und tonangebend wurden, ist sie in ihrer ganzen Eigenart plötzlich überschwemmungsartig hervorgetreten. Sie hat dann alsbald auch unter vielen Autoren nichtjüdischen oder doch nicht rein jüdischen Blutes eifrige Vertreter gefunden. Um sie kurz zu charakterisieren, kann man am gerechtesten und besten an die Tätigkeit wohl ihres hervorragendsten Vertreters, des wohl reinblütigen Juden A. Einstein erinnern. Seine 'Relativitätstheorien' wollten die ganze Physik umgestalten und beherrschen; gegenüber der Wirklichkeit haben sie aber nun schon vollständig ausgespielt. Sie wollen wohl auch gar nie wahr sein. Dem Juden fehlt auffallend das Verständnis für Wahrheit, für mehr als nur scheinbare Übereinstimmung mit der vom Menschendenken unabhängig ablaufenden Wirklichkeit, im Gegensatz zum ebenso unbändigen als besorgnisvollen Wahrheitswillen der arischen Forscher. "3

Entlarvend ist schon der Stil, in dem Lenard schreibt: Er führt keine sachlichen Argumente ins Feld; daß die Relativitätstheorie inzwischen bereits durch Experimente bestätigt war, ignoriert er vollständig. Unerwähnt bleibt ebenfalls, daß die vorrelativistischen Theorien innerhalb bestimmter Gültigkeitsgrenzen weiterhin gelten und keineswegs einfach als falsch anzusehen sind. Würde es sich nur um blinde Hetzpropaganda handeln, müßten diese heute nur noch den Psychologen und den Historiker interessieren. Doch hinter diesen Anfechtungen verbirgt sich eine Konzeption von der Wahrheit der Wissenschaft, die keineswegs nur von zeitgeschichtlichem Interesse ist. Die Bezeichnung "jüdische Physik" war gleichbedeutend mit der Behauptung, daß die Relativitätstheorie keinen Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit erheben könne. Begründet wurde diese Einstellung durch ein rein konstruktivistisches Verständnis von Physik. Betrachten wir zunächst die schon in den zwanziger Jahren von dem Wiener Astrophysiker Bruno Thüring vorgetragenen Kritik an der Relativitätstheorie, die an einem für die Relativitätstheorie entscheidenden Punkt ansetzt:4 Thüring interpretiert die mit wachsender Entfernung vom Beobachter zunehmende Rotverschiebung der Spektrallinien entfernter Galaxien nicht als deren Fluchtbewegung gemäß dem Hubble-Gesetz; sondern er sieht in der Rotverschiebung eine Erhöhung aller Emissionsfrequenzen von Atomen und Molekülen. Er verlagert die Ursache dieses Effektes in den subatomaren Bereich und damit in unbekannte Ursachen, so daß seine Behauptung mit den Mitteln der damaligen Physik weder zu beweisen noch zu widerlegen war.5 Mit seiner These greift

3

Philipp Lenard, Deutsche Physik, Bd. 1: Einleitung und Mechanik, München 1936, IX f. Hierzu: Werner Heisenberg, Deutsche und Jüdische Physik, hg. v. Helmut Rechenberg, München/Zürich 1992; Albert Einstein - Arnold Sommerfeld, Briefwechsel. Sechzig Briefe aus dem goldenen Zeitalter der modernen Physik, hg. u. komm. v. Armin Hermann, Basel/Stuttgart 1968, 63 ff.; Rudolf G. Weigel (Hg.), Philipp Lenard der Vorkämpfer der deutschen Physik. Reden und Ansprachen anläßlich der Vollendung seines 75. Lebensjahres am 07.06.1937, Karlsruhe 1937.

4

Friedrich Balke: "Vom Verlust der Kosmologie ..." "... und den Versuchen, sie Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1993, 76-85.

5

Vgl. Bruno Thüring, Methodische Kosmologie. Alternativen zur Expansion des Weltalls und zum Urknall, Frankfurt a.M. 1985, 21: "Die Hypothese der saecularen Frequenzerhöhung der Atome und Moleküle ist nicht so abwegig, wie es der heutigen Schulmeinung erscheinen mag. Denn warum sollen in den langen Zeiten von Millionen und Milliarden Jahren, in denen das Licht zwischen extragalak-

wiederzugewinnen",

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Thüring das Fundament der Relativitätstheorie, die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, an. Dieser Schritt wäre für sich genommen durchaus legitim. Doch hinter dieser sich wissenschaftlich-sachlich gebenden Ausführung steht eine grundsätzliche Einstellung zur Tragweite wissenschaftlicher Aussagen: Wissenschaft gewinnt für Thüring ihre "Exaktheit" erst aufgrund der konstruktiven Tätigkeit des Erkennenden. "Der aktive Wille baut die exakte Wissenschaft auf." 6 Die Astrophysik muß die Welt mit einem ordnenden Regelsystem angehen, ihr ein Maßsystem auferlegen, ein "fundamentales Koordinatensystem"7 schaffen. Es gilt, operativ Wissenschaft zu schaffen. "Die genannten Normwissenschaften [...] enthalten keine Lehrsätze über die Wirklichkeit, sondern nur Normen, d.h. Handlungsanweisungen mit dem Ziel der Herstellung der genannten Grundformen und damit einer vollbegründeten exakten Naturwissenschaft." 8 Die Erläuterungen Thürings fuhren unmittelbar zur Frage nach dem Wahrheitsanspruch physikalischer Aussagen. Auch Einstein war kein Vertreter eines naiven Realismus, sondern hatte immer den konstruktiven Beitrag des Physikers betont: Mathematische Theorien sind aus den Phänomenen nicht unmittelbar ableitbar; ob sie angemessen sind oder nicht muß sich dann allerdings durch Experimente überprüfen lassen. Insofern bleibt auch die mathematische Konstruktion auf die phänomenale Welt bezogen. Das Wechselspiel von Empirie und Theorie, von systematischem Experiment und mathematischem Formalismus, hatte Galilei zur Grundlage der Naturwissenschaften erhoben. Dagegen schließt Thürings Verzicht auf den ontologischen Anspruch naturwissenschaftlicher Aussagen die Überprüfbarkeit und Korrektur der Theorie durch die Phänomene aus. Die Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen beruht allein auf der konstruktiven Tätigkeit des menschlichen Intellekts und hat ihr "fundamentum in re" verloren. Naturwissenschaft soll von Prinzipien ausgehen, die der menschliche Geist konstruktiv an die Natur heranträgt. Damit lassen sich die Konsequenzen der Relativitätstheorie leicht zurückweisen. "Eine 'Expansion des Weltalls' widerspricht der Normwissenschaft [...], der operativen Geometrie, nach welcher sich ein metrisierter Raum nicht 'ausdehnen' kann, eine solche Behauptung nämlich einen Widerspruch impliziert; denn die 'Metrik' eines Raumes ist grundsätzlich eine menschliche, methodische Maßnahme und die Forderung der Eindeutigkeit für geometrische Aussagen bedeutet u.a. auch: Konstanz der Metrik. Sie ist von uns selbst zu garantieren, geistig und manuell."9

tischen Objekten unter sich und bis zu uns unterwegs ist, die atomar-molekularen Emissionsfrequenzen konstant bleiben, wo doch eine Behauptung, daß ein bestimmtes Etwas der Wirklichkeit konstant sei, niemals begründet werden kann. Vielmehr muß gesagt werden: Die Behauptung der zeitlichen Konstanz aller Emissionsfrequenzen des Weltalls über Millionen und Milliarden von Jahren hinweg ist eine kaum glaubhafte Hypothese, welche in allen heutigen kosmologischen Theorien und Weltmodellen enthalten ist." 6

Bruno Thüring, Die Gravitation und die philosophischen

7

Ebd., 64.

8

Bruno Thüring, Methodische Kosmologie,

9

Ebd., 25.

12.

Grundlagen der Physik, Berlin 1967, 50.

Die Wahrheit

der

Wissenschaft

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Bleibt die empirische Bestätigung der Theorie aus, sind Zusatzannahmen nötig, die die widerspenstige Ordnung der D i n g e mit den Prämissen des m e n s c h l i c h e n Geistes mehr oder w e n i g e r g e w a l t s a m in Übereinstimmung bringen. "Methodisches Denkgerüst [ist . . . ] g e w o l l t e Aufrechterhaltung der einmal zugrunde g e l e g t e n Ü b e r z e u g u n g , und im Falle des Ausbleibens einer empirischen Bestätigung die A n n a h m e einer zusätzlichen Wirkung v o n anderer Seite her." 1 0 Indem das Streben nach Objektivität als kritisches Korrektiv subjektiver S e t z u n g e n ausgeschaltet wird, wird das "Realitätsprinzip" aufgegeben. Aussagen über Naturgesetze und insbesondere die Kausalität v o n U r s a c h e und Wirkung verlieren ihren ontologischen Anspruch. "Wenn das axiomatische und somit nicht ontologische, sondern methodologische Wesen der [... ] Kausalität einmal allen geistigen Menschen bewußt geworden sein wird, [...] dann wird der Gedanke, das Weltall werde von ewigen und allgemeinen, ihm innewohnenden Gesetzen beherrscht und gelenkt [...] auf die Liste der großen Menschheits-Irrtümer geschrieben und das Gespenst der Großen Weltmaschine wird restlos zerstört sein."" In all diesen Äußerungen drückt sich der Versuch aus, den M e n s c h e n , b z w . einen bestimmten Typus des M e n s c h e n , z u m M a ß der D i n g e zu erheben. D e r Verzicht auf den Anspruch, daß naturwissenschaftliche T h e o r i e n wenigstens approximativ und aspekthaft die Ordnung der P h ä n o m e n e darstellen, führt zu einer Relativierung aller Aussagen. Außerdem öffnet dieser Verzicht die physikalische Theorie für beliebige weltanschauliche Deutungen. Bei Thüring hat die radikale Betonung eines konstruktivistischen Wahrheitsbegriffs e i n e n ideologischen Hintergrund: Er bindet die Form der Theorie an die Rassenzugehörigkeit. 1 2 "Wohl kann keinesfalls geleugnet werden, daß den Erscheinungen der Natur f...] objektive, jenseits der Menschen existierende Dinge zugrunde liegen. Naturwissenschaft entsteht aber erst durch ein seelisches Erleben, durch Erfassen der Erscheinungen nach Maß und Zahl einerseits und darauffolgende kausale Verbindung der Erscheinungen untereinander mit Hilfe von Begriffen, die dem Geist und Gemüt des Naturforschers zugehören und eine Gestaltung des Gemessenen, des Beobachteten gemäß dem eigenen Fühlen und den eigenen Bedürfnissen darstellen. Hier, in dem was wir Weltbild nennen, tritt Menschliches, Artmäßiges, Rassisches in Erscheinung und es ist durchaus denkbar [...], daß dieselbe Summe von Einzelerscheinungen und Einzelerfahrungen der Natur durch gänzlich verschiedene Begriffssysteme, durch gänzlich verschiedene Weltbilder rational gestaltet werden können. Grundsätzlich verschiedene Weltbilder unterscheiden sich dabei durch grundsätzlich verschiedene seelisch-geistige Haltungen und diese wieder entsprechen im Ganzen grundsätzlich verschiedenen Rassen und Völkern als ihren Trägern." 13

10 Bruno Thüring, Die Gravitation, 109. 11 Ebd., 250. 12 Bruno Thüring, Physik und Astronomie in jüdischen Händen, Braunschweig 1937, 56: "Ein Begriff [...] blieb [...] auch Kant fremd, [...] nämlich der Begriff der menschlichen Art und Rasse [...] Es ist das Problem, das aus der heutigen geschichtlichen Situation des deutschen Volkes geboren ist und nur ein Teilstück der großen Aufgabe darstellt, das Leben des deutschen Volkes nach Zusammenbruch und Niedergang von der ihm gemäßen nationalsozialistischen Weltanschauung aus neu zu gestalten." 13 Ebd., 57.

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Die Ablehnung der Relativitätstheorie erfolgt mit der Begründung, daß die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wie ein Dogma eingeführt werde. Die Theorie selbst verrät die "Art und Rasse" ihres Urhebers. Die Nachvollziehbarkeit und Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Aussagen sowie die Internationalität der Wissenschaft werden bestritten, indem man sie an Rasse und Blut bindet. Man spricht den Juden - wie in früheren Jahrhunderten Frauen und Sklaven - ab, zur Erkenntnis der Wahrheit überhaupt fähig zu sein. Nicht nur das Verständnis für die Wahrheit fehle, auch die Haltung, in der Wissenschaft getrieben werde, sei vom Willen zur Macht durchdrungen. Statt, wie im postmodernen Relativismus, die Vielfalt der Weltansichten positiv zu werten, sind sie für Thüring Ausdruck der Über- oder Unterlegenheit von Rassen. Statt, wie in der Postmoderne, den Relativismus von Weltansichten zum Ausweis von Toleranz zu erheben, wird er für Thüring und seine Gesinnungsgenossen zum Mittel rassischer Diskriminierung. In beiden Fällen ist die Grundlage des Relativismus die Preisgabe des Bezugs auf eine "Sache" jenseits der menschlichen Psyche und gewohnheitsmäßig eingespielter Lebensformen. Ohne ein solches Korrektiv gibt es keine Möglichkeit, den ideologischen Mißbrauch eines konstruktivistischen Relativismus zu kritisieren.

III Der "Vorrang des Objekts" In völligem Gegensatz zu den haltlosen Denunziationen Lenards und dem konstruktivistischen Charakter der Physik bei Thüring steht nicht nur Einsteins Verhalten als Wissenschaftler und Mensch, sondern auch die Bedeutung, die er der Wissenschaft zuwies: Einstein war als international denkendem Menschen der Patriotismus des 1.Weltkriegs völlig fremd. Ihm lag daran, wenigstens die internationalen Beziehungen der Wissenschaftler vor schweren Beeinträchtigungen zu bewahren: "Ich würde so gerne etwas tun, um die Kollegen aus den verschiedenen 'Vaterländern' zusammenzuhalten. Ist nicht das Häuflein emsiger Denkmenschen unser einziges 'Vaterland', für das unsereiner etwas Ernsthaftes übrig hat? Sollen auch diese Menschen Gesinnungen haben, die eine Funktion des Ortes sind?" 14 Nicht Rassenzugehörigkeit, Ländergrenzen oder regionale Bindungen entscheiden über die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern. Die Sache, an der man arbeitet und das gemeinsame Interesse an ihr stiften das Gefühl der Verbundenheit. Für die Gemeinschaft der Physiker handelt es sich um die Erforschung der Gesetze der Natur. Weder Gegenstand noch Methode der Forschung sind an Geschlecht, Rasse oder Nationalität gebunden: Die "Wissenschaft ist und bleibt international", wie Einstein mit aller Entschiedenheit betont. 15 Die die Nationen übergreifende Suche nach Erkenntnis kann gerade in politisch schwierigen Zeiten die Verständigung zwischen verschiedenen Völkern wachhalten. Jenseits der zeitbedingten und wechselvollen Konflikte und kurzlebiger Interessen wird etwas Gemeinsames sichtbar. Tiefe, möglicherweise zeitlos gültige Einsichten haben die Kraft, die Forscher über Ländergrenzen hinweg

14 Zit. nach Albrecht Fölsing, Albert Einstein. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1993, 396; vgl. Albert Einstein, Mein Weltbild, hg. v. Carl Seelig, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1981, 19. 15 Mein Weltbild,

64 f.

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miteinander zu verbinden. Diese Erkenntnisse werden für denjenigen, der darin verwurzelt ist, zur eigentlichen Heimat, während nationale Leidenschaften, die eine "Funktion des Ortes" sind, die Gemeinschaft der Geister zerstören. Ein ermutigendes Zeichen für die völkerverbindende Internationalität der Wissenschaft sah Einstein in dem Bemühen englischer Astronomen, die Relativitätstheorie noch während des ersten Weltkrieges zu bestätigen. Bei einer Sonnenfinsternis im September 1919 gelang ihnen der Nachweis der Lichtablenkung des Sternenlichts durch das Gravitationsfeld der Sonne. Damit war ein von der Relativitätstheorie theoretisch vorhergesagter Befund empirisch bestätigt. Erfreut reagierte Einstein, als er 1920 gebeten wurde, dem englischen Publikum die Relativitätstheorie zu erklären: "Denn nach dem beklagenswerten Zusammenbruch der früher regen internationalen Beziehungen der Gelehrten ist mir dies eine willkommene Gelegenheit, mein Gefühl der Freude und Dankbarkeit den englischen Astronomen und Physikern gegenüber auszudrücken. Es entspricht ganz den großen und stolzen Traditionen der wissenschaftlichen Arbeit in ihrem Lande, daß bedeutende Forscher viel Zeit und Mühe, Ihre wissenschaftlichen Institute große materielle Mittel aufwandten, um eine Folgerung einer Theorie zu prüfen, die im Land Ihrer Feinde während des Krieges vollendet und publiziert worden ist." 16

Die Internationalität der Physik beruht nicht nur auf dem Ethos des Wissenschaftlers, sondern auch auf dem Ziel der Wissenschaft. Gegen Lenards Beschuldigung ist für Einstein das Streben nach Wahrheit das tragende Motiv von Wissenschaft: "Niemand wäre ernst genommen worden, der das Streben nach objektiver Wahrheit und Erkenntnis nicht als hohes und ewiges Ziel der Menschen anerkannt hätte."17 Diese Aussage erhält ihr volles Gewicht erst dann, wenn man bedenkt, daß Wissenschaft für Einstein noch ganz im Sinne der Antike und des Judentums auf die Erkenntnis der Seinsstrukturen zielt. "In einem gewissen Sinne halte ich es also für wahr, daß dem reinen Denken das Erfassen des Wirklichen möglich sei, wie es die Alten geträumt haben."18 Naturwissenschaftliches Forschen ist von der fundamentalen Prämisse geleitet, daß es eine wirkliche Außenwelt gibt, die vom Beobachter unabhängig existiert.19 "Der Glaube an eine vom

16 Zit. nach Albrecht Fölsing, Albert Einstein,

508.

17 Albert Einstein, Aus meinen späten Jahren, 2. Aufl., Stuttgart 1979, 29; vgl. Albert Einstein, "Briefe. Aus dem Nachlaß", hg. v. Helene Dukas u. Banesh Hoffmann, Zürich 1981, 19. 18 Mein Weltbild, 117. Einsteins Verständnis von Wissenschaft nähert sich dem antiken Begriff der Theoria: Bei Piaton und Aristoteles meinte Theoria noch nicht die Konstruktion von Theorien durch den menschlichen Intellekt, sondern die reine Betrachtung der unveränderlichen Zusammenhänge der Wirklichkeit, dessen, was nicht wie die Geschicke der Menschen und Staaten heute so und morgen anders sein kann. Diese fast kontemplative Haltung unterscheidet sich von allen anderen Erkenntnissen, die zur Bewältigung des menschlichen Daseins notwendig sind. Sie ist nicht mehr Mittel zu anderen Zielen, sondern Selbstzweck und trägt die Erfüllung ihrer Mühen in sich. Sie entspricht den höchsten Möglichkeiten des Menschen, der nur in ihr über die Zwänge der äußeren Lebensumstände erhoben ist. 19 Zit. nach Paul Arthur Schilpp (Hg.), Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, Stuttgart 1951, 2: "Da gab es draußen diese große Welt, die unabhängig von uns Menschen da ist und vor uns steht wie ein großes, ewiges Rätsel, wenigstens teilweise zugänglich unserem Schauen und Denken." Auch: Albert Einstein, "Physik und Realität (1936)", Späte Jahre, 64-67; Mein Weltbild, 118. Die Vorstellung von einer vom Beobachter unabhängigen Außenwelt führte zu dem Konflikt mit der Kopenha-

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wahrnehmenden Subjekt unabhängige Außenwelt liegt aller Naturwissenschaft zugrunde."20 Die Natur in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen ist dem Menschen und seinem Erkenntnisvermögen gegenüber ontologisch vorgängig. Eine zweite Prämisse naturwissenschaftlichen Forschens ist, daß die Ordnung der Natur zumindest teilweise erkennbar ist. Eine gewisse Gesetzmäßigkeit im Ablauf der Erscheinungen ist die Voraussetzung nicht nur für die Erkennbarkeit der Natur, sondern schon für das menschliche Überleben. Zielgerichtetes Handeln, und sei es um sich mit Nahrung zu versorgen und sich gegen Gefahren zu schützen, wäre unmöglich, würde man nicht zumindest einige Aspekte der Umwelt angemessen einschätzen können. Jenseits dieser pragmatischen Interessen zielt die Physik in ihrem ursprünglichen Sinn aus schierem Wissensdurst auf die Erkenntnis der Seinsstrukturen. Es ist für Einstein ein tiefes inneres Bedürfnis, die "Geheimnisse der Natur zu verstehen";21 es handelt sich bei großen Forschern wie Max Planck, Isaac Newton oder Johannes Kepler um die Sehnsucht, "jene prästablierte Harmonie" zu schauen;22 der Forscher möchte "die Harmonie der Naturgesetzlichkeit"23 erkennen; er hat den Wunsch, wenigstens einen "Abglanz der in dieser Welt geoffenbarten Vernunft des Weltenbaues"24 zu erfassen. Die Regelmäßigkeit der Naturprozesse, ihre große Gleichförmigkeit und Verläßlichkeit, die über den blinden Zufall triumphiert, erfährt Einstein als Ausdruck einer überpersönlichen Seinsmacht, einer Art Weltvernunft. Diese "in der Welt des Seienden geltenden Gesetzmäßigkeiten seien vernünftig, d.h. durch die Vernunft begreifbar."25 Erkenntnis hat ein ontologisches Fundament. Physik erhält ihre Legitimation dadurch, daß sie nicht nur die menschlichen Erkenntnisstrukturen, sondern die Gesetze der Natur erforscht. Sie

gener Deutung der Quantentheorie: vgl. Abraham Pais, "Raffiniert", 463 f.: Einstein "glaubte, daß man nach einem tieferliegenden theoretischen Rahmen suchen sollte, der die Beschreibung von Phänomenen unabhängig von diesen Bedingungen [des Experiments] gestattet. Dies ist es, was er mit dem Ausdruck objektive Realität meinte [...] 'Wenn wir ohne Störung eines Systems mit Gewißheit (das heißt mit Wahrscheinlichkeit eins) den Wert einer physikalischen Größe vorhersagen können, dann existiert ein Element der physikalischen Realität, das dieser physikalischen Größe entspricht.'" Zur Entwicklung des Realitätsbegriffs bei Einstein vgl.: Gerald Holton, Thematische Analyse, 203-254; ders., Themata. Zur Ideengeschichte der Physik, Braunschweig/Wiesbaden 1984, 46-161. 20 Mein Weltbild, 159. 21 "Briefe", 18 f. 22 Mein Weltbild, 109. 23 Ebd., 18. 24 Ebd. , 1 7 . Vgl. hierzu Regine Kather, "Albert Einstein: Die göttliche Neugier oder: Über den Ursprung von Physik und Philosophie", in Der Mensch - Kind der Natur oder des Geistes. Wege zu einer ganzheitlichen Sicht der Natur, Würzburg 1994, 101-122; dies., "Spinozas Einfluß auf Ethik und Anthropologie A. Einstein", Studia Spinozana, 9 (1995); dies., "Das Verständnis von Realität und die Überwindung der Anthropozentrik. Spinozistische Elemente im Wissenschaftsbegriff Albert Einsteins", in Hanna Delf, Julius Schoeps u. Manfred Walther (Hg.), Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1994, 394-421. 25 Späte Jahre, 43.

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richtet sich nicht auf die Klassifikation einzelner Phänomene, sondern besteht in der Einsicht in deren hintergründige Ordnung. 26 Die Ausrichtung nicht am Erkennenden, sondern am Erkannten schließt Reflexionen über die Begrenztheit der Erkenntnis, einen kritischen Realismus also, nicht aus. Die Phänomene werden nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern immer schon vermittelt durch bestimmte Begriffe. Was wahrgenommen wird, entscheidet letztlich die Theorie, die die Beobachtung leitet. "Wissenschaft ist das durch die Jahrhunderte fortgesetzte Bemühen, die wahrnehmbaren Erscheinungen dieser Welt durch systematisches Denken in einen möglichst vollkommenen Zusammenhang zueinander zu bringen. Kühn ausgedrückt ist es der Versuch einer Nachschöpfung des Seienden auf dem Wege begrifflicher Konstruktion." 27 Nachschöpfung durch Konstruktion bedeutet offensichtlich folgendes: Um die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zu ordnen, bedarf es eines in sich konsistenten Begriffsystems. Dieses Begriffssystem läßt sich nicht durch Induktion aus den Phänomenen entwickeln, 28 sondern muß gleichsam in einem Sprung - oder, wie Einstein sagt, durch Intuition - aufgefunden werden. Zwischen der Welt der Sinneswahrnehmungen und den Begriffen, die sie beschreiben, klafft ein Abgrund. Bei den Begriffen und Axiomen eines physikalischen Systems handelt es sich um "freie Erfindungen des menschlichen Geistes". "Es gibt keine induktive Methode, welche zu den Grundbegriffen der Physik fuhren könnte [...] Logisches Denken ist notwendig deduktiv, auf hypothetische Begriffe und Axiome gegründet." 29 Daß es sich hierbei nicht nur um nachträgliche methodische Reflexionen handelt, bezeugt die im Jahr 1905 publizierte spezielle Relativitätstheorie. Sie beruht nur auf zwei Prinzipien, für die es keine empirische Bestätigung geben kann: Nach dem ersten Postulat, dem sogenannten Relativitätsprinzip, gelten alle Inertialsysteme als gleichberechtigt; das zweite Postulat besagt, daß Licht sich in allen Bezugssystemen mit einer konstanten, endlichen Geschwindigkeit ausbreitet. Aus diesen beiden Prinzipien müssen sich dann alle weiteren Folgerungen entwickeln lassen. "Die Relativitätstheorie gehört zu den Prinziptheorien. Um ihr Wesen zu erfassen, muß man also in erster Linie die Prinzipien kennenlernen, auf denen sie beruht." 30 "Nachschöpfung durch Konstruktion" bedeutet aber auch, daß die Prinzipien nicht völlig willkürlich sein dürfen: Aus den Prinzipien, Axiomen und Grundbegriffen lassen sich deduktiv Folgerungen entwickeln, die sich empirisch überprüfen lassen. 31 Neben

26 "Briefe", 30: "Zur Aufstellung einer Theorie genügt niemals das bloße Zusammenbringen registrierter Erscheinungen - es muß stets eine freie Erfindung des menschlichen Geistes hinzukommen, die dem Wesen der Dinge näher auf den Leib rückt. Der Physiker darf sich nicht begnügen mit der bloßen phänomenologischen Betrachtung, die nach der Erscheinung frägt, sondern muß vordringen zur spekulativen Methode, welche die Existenzform sucht." 27 Späte Jahre,

41.

28 Gerald Holton, Themata, 29 Späte Jahre,

10 f.

85.

30 Albert Einstein zit. nach Peter C. Aichelburg, "Zeit als dynamische Größe in der Relativitätstheorie", in Zeit im Wandel der Zeit, Braunschweig/Wiesbaden 1988, 230. 31 Mein Weltbild,

111.

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das begriffliche D e n k e n treten die Sinneswahrnehmungen als z w e i t e Erkenntnisquelle. 3 2 "Die Physik ist ein Versuch der begrifflichen Konstruktion eines M o d e l l s der realen Welt s o w i e v o n deren gesetzlicher Struktur. Allerdings muß sie die empirischen Relationen z w i s c h e n den uns z u g ä n g l i c h e n Sinneserlebnissen exakt darstellen." 3 3 Kriterium der A n g e m e s s e n h e i t der Grundbegriffe ist neben ihrer inneren Konsistenz vor allem ihre Übereinstimmung mit den Phänomenen. 3 4 Empirie und Ratio sind die beiden unzertrennlichen K o m p o n e n t e n menschlichen W i s s e n s in der Physik, die sich gegenseitig korrigieren. 3 5 Genau dieses Korrektiv hatte Thürings konstruktivistischer Ansatz ausgeschlossen. Einsteins Verständnis v o n W i s s e n s c h a f t als Streben nach Wahrheit beruht auf der "Sache", auf der Ordnung der Natur selbst. 3 6 Einstein war v o n der Ü b e r z e u g u n g gelei32 Vgl. Gerald Holton, "Wie man eine Theorie konstruiert: Einsteins Modell", in ders.. Thematische Analyse, 372-418. 33 Zit. nach Gerald Holton, Thematische Analyse, 233. 34 Späte Jahre, 105: "Physik ist ein in Entwicklung begriffenes logisches Gedankensystem, dessen Grundlage nicht durch eine induktive Methode aus den Erlebnissen herausdestilliert, sondern nur durch freie Erfindung gewonnen werden kann. Die Berechtigung (Wahrheitswert) des Systems liegt in der Bewährung von Folgesätzen an den Sinneserlebnissen, wobei die Beziehung der letzteren zu ersteren nur intuitiv erfaßbar ist." Auch 106 f.; Mein Weltbild, 109: "Höchste Aufgabe der Physiker ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition. Bei dieser Unsicherheit der Methodik könnte man denken, daß beliebig viele, an sich gleichberechtigte Systeme der theoretischen Physik möglich wären; diese Meinung ist auch prinzipiell gewiß zutreffend. Aber die Entwicklung hat gezeigt, daß von allen denkbaren Konstruktionen eine einzige jeweilen sich als unbedingt überlegen über alle anderen erwies. Keiner, der sich in den Gegenstand wirklich vertieft hat, wird leugnen, daß die Welt der Wahrnehmungen das theoretische System praktisch eindeutig bestimmt, trotzdem kein logischer Weg von den Wahrnehmungen zu den Grundsätzen der Theorie führt." 35 Mein Weltbild, 115: "Die Ratio gibt den Aufbau des Systems; die Erfahrungsinhalte und ihre gegenseitigen Beziehungen sollen durch die Folgesätze der Theorie ihre Darstellung finden. In der Möglichkeit einer solchen Darstellung allein liegt der Wert und die Berechtigung des ganzen Systems und im besonderen auch der ihm zugrunde liegenden Begriffe und Grundgesetze. Im übrigen sind letztere freie Erfindungen des menschlichen Geistes, die sich weder durch die Natur des menschlichen Geistes noch sonst in irgendeiner Weise a priori rechtfertigen lassen. Die logisch nicht weiter reduzierbaren Grundbegriffe und Grundgesetze bilden den unvermeidlichen, rational nicht erfaßbaren Teil der Theorie." 36 Mein Weltbild, 171 ff.: Immer wieder hebt Einstein hervor, daß das Streben nach Naturerkenntnis nicht nur Mittel sein darf für technische Errungenschaften oder gar für die Rüstung. Nachdrücklich wendet er sich gegen das von Francis Bacon im 17. Jahrhundert für die neuzeitliche Naturwissenschaft aufgestellte Programm. Danach muß Naturforschung dem Menschen dienen; die Gesetze der Natur sollen erkannt werden, um sie auszunutzen und Macht über die Natur zu erlangen. Der Wille zur Erkenntnis und der Wunsch, die Naturprozesse zu beherrschen, sind untrennbar miteinander verschränkt. Für Einstein dagegen sind technische Verbesserungen nicht Ziel der Naturforschung, sondern dienen lediglich der Erleichterung des alltäglichen Lebens; Technik ist nur eine Vorbedingung für ein glückliches Leben. - Im Streben nach Wahrheit drückt sich nicht nur die Freiheit des Menschen vom Druck der Lebensnotwendigkeit aus, sondern zugleich die Unverfügbarkeit der Natur. Im betrachtenden Erkennen ist sie nicht mehr Mittel zu Zielen, die nicht in ihr selbst liegen. Unausgesprochen erlangt die Natur eine Dignitat, in der sie nicht mehr der Befriedigung menschlicher Pläne, Absichten und Bedürfnisse dient. "Briefe", 37 f.: "Wo die Welt aufhört, Schauplatz des persönlichen Hoffens, Wünschens und Wollens zu sein, wo wir uns ihr als freie Geschöpfe bewundernd, fragend, schauend

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tet, daß sich eine durchgreifende Gesetzmäßigkeit im Universum manifestiert. Die ganze Natur bildet eine Einheit; dieselben Naturgesetze gelten für alle Erdenbürger gleichermaßen, ungeachtet ihrer jeweiligen Nationalität und persönlichen Lebensgeschichte. Alle Menschen sind gleichermaßen aufgrund ihrer Leiblichkeit in die Ordnung der Natur eingebunden. Der Mensch wäre gar nicht da, gäbe es nicht die Jahrmilliarden währende Geschichte des Universums, deren Ablauf von Naturkonstanten und Naturgesetzen gesteuert wird. 37 Die Ordnung der Natur gehört zu den "Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Existenz", wie man in freier Abwandlung Kants sagen darf. Letztlich beruht also die Internationalität der Wissenschaft und die Allgemeingültigkeit ihrer Ergebnisse auf der durch endliches Erkennen nicht weiter begründbaren Ordnung der Natur. Damit gewinnt die Suche nach Wahrheit bei Einstein eine kosmologische Dimension: Die Wissenschaft berührt ein Sein, das der Mensch als Voraussetzung seiner eigenen Existenz immer schon vorfindet, aber selbst nicht mehr begründen kann. Die unerklärliche Ordnung der Natur weist ihn auf unzugängliche, verborgene, geheimnisvolle Dimensionen der Wirklichkeit hin. In der tiefen Ordnung der Natur manifestiert sich eine Seinsmacht, die alles menschliche Planen und Wollen unendlich übersteigt. Diese Ordnung wird für den Menschen in seinem eigenen Leben spürbar durch die Verläßlichkeit und Regelmäßigkeit vieler Naturabläufe; durch seine Vernunft kann er diese wunderbare Ordnung wenigstens teilweise erkennen. Das Bewußtsein, daß die Wissenschaft nur einen "geringen Abglanz" 38 der in der Natur geoffenbarten Vernunft erforschen kann, verändert die Haltung des Menschen zu der ihn umgebenden Welt tiefgreifend. "Was ich in der Natur sehe, ist eine großartige Struktur, die wir nur sehr unvollkommen zu erfassen vermögen und die einen vernünftigen Menschen mit einem Gefühl von 'Humility' erfüllen muß." 39 Durch diese Ausrichtung an einer objektiven Wirklichkeit jenseits der eigenen Begriffe, Vorstellungen, Gedanken und Gefühle erfährt der Wissenschaftler auch die Begrenztheit seiner eigenen Begriffe und Einsichten. Trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte erfährt er immer wieder, daß die Wirklichkeit mehr ist, als Begriffe und Theorien darstellen können. In diesem Sinne bleiben auch die Naturwissenschaften unabgeschlossen. Trotz aller Erkenntnisse behält die Natur die Aura des Geheimnis-

gegenüberstellen, da treten wir ins Reich der Kunst und Wissenschaft ein. Wird das Geschaute und Erlebte in der Sprache der Logik nachgebildet, so treiben wir Wissenschaft." 37 Vgl. Bernulf Kanitscheider, Das Weltbild Albert Einsteins, 38 Mein Weltbild,

München 1988, 179 f.

17 u. 10.

39 Albert Einstein, The Human Side, hg. v. Helene Dukas u. Banesh Hoffmann, Princeton 1979, 39 u. 132. 40 Carl Seelig (Hg.), Helle Zeit - Dunkle Zeit. In Memoriam Albert Einstein, Zürich/Stuttgart/Wien 1956, 58: Am 0 5 . 0 4 . 1 9 5 4 schrieb Einstein an Hans Mühsam: "Daß die Menge der Materie endlich sei, haben wir für kurze Zeit zu wissen geglaubt. Es ist aber wieder völlig fraglich geworden. Für mich ist das Leben der Inbegriff all der Erscheinungen, von denen jeder sieht, daß er das Wesentliche davon nicht begreift. Beim Anorganischen merkt man es nur nach langem, tiefem Studium. Man hat zwar prächtige Begriffe ersonnen und damit scheinbar alles im Prinzip verstanden. Aber es kommt der Augenblick, in dem man sieht, daß alles unzureichend ist. Beim Lebendigen liegt die Oberflächlichkeit unseres

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IV Kosmopolitische Prinzipien in Ethik und Politik Einsteins berühmte Gleichung E = mc2, die die Umwandlung von Energie in Materie und von Materie in Energie ausdrückt, wurde zur theoretischen Grundlage der Atomspaltung. Was aus lauterster Forschung entstanden war, barg die Möglichkeit zur Konstruktion der Atombombe in sich. Diese furchtbare Vernichtungswaffe konnte den Tod von Hunderttausenden von Menschen auf einen Schlag herbeiführen, ohne daß derjenige, der die Bombe abwarf, auch nur eines seiner Opfer zu Gesicht bekommen würde. Damit wird die Atombombe zum Sinnbild der Entpersönlichung des modernen Lebens, die die Überbetonung des Faktischen und Funktionalen in den letzten drei Jahrhunderten bewirkt hat.41 Die menschliche Persönlichkeit, die Einstein als höchsten Wert ansieht, gerät durch eine Lebenseinstellung, die an bloßer Effizienz von Organisationen orientiert ist, immer mehr in Vergessenheit. Die Mechanisierung, die ein Nebenprodukt der Entwicklung des technisch-wissenschaftlichen Geistes ist, gefährdet die ethischen Werte. 42 Will die Menschheit heute überleben, dann ist angesichts der Möglichkeit, die ganze Menschheit durch moderne Waffensysteme mit einem Schlag zu vernichten, ein neuer "Denktypus"43 gefragt. Das "Realitätsprinzip" ist nur dann gewahrt, wenn die Menschheit in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten den modernen Technologien Rechnung trägt.44 Sie muß sich zu einer höheren moralischen Stufe entwickeln. Der Intellekt ist nur ein Teil der menschlichen Persönlichkeit; er ist blind für Ziele und Werte;45 er kann nicht führen, sondern nur dienen. Die Erkenntnis faktischer Zu-

Begreifens offen zutage. Daran kann nur einer zweifeln, der überhaupt nie etwas tiefer begriffen hat. Kurz, man wird zum tief religiösen Ungläubigen." 41 Vgl. Heinrich Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, Bd. I/II, Freiburg/München 1965/66; Max Müller, "Person und Funktion", Philosophisches Jahrbuch, 69 (München 1961/62), 371-404; Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, 6. Aufl., München 1989. 42 Entschieden weist Einstein die Behauptung, alle Werte seien bloß relativ oder sogar sinnlos, weil sie naturwissenschaftlich nicht beweisbar und aus den Sinneseindrücken nicht ableitbar seien, zurück. Einsteins eigenes soziales Verantwortungsgefühl spiegelt sich in seinem Menschenbild: Zwar sollte die wissenschaftliche Forschung wertneutral sein; doch jeder Wissenschaftler ist auch und zuerst ein Mensch, für den Werte und Ziele Bedeutung gewinnen. Trotz aller Erkenntnisse aus Biologie und Psychologie, die die Abgründe menschlichen Verhaltens erschließen, sind die Menschen für Einstein nicht dazu verurteilt, sich gegenseitig zu bekämpfen und zu vernichten. 43 Zit. nach Virgil G. Hinshaw (jr.), "Einsteins Sozialphilosophie", in Paul Arthur Schilpp (Hg.), Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, 483. 44 Albert Einstein, The Human Side, 81 u. 150. Solange die Menschen von atavistischen Impulsen bestimmt sind, bedrohen die von ihnen selbst geschaffenen technischen Möglichkeiten ihre Existenz (Mein Weltbild, 59; Späte Jahre, 141). Mit dem zunehmenden Zerfall der Werte verband sich das Aufkommen des Nationalismus in den letzten zwei Jahrhunderten. Im Nationalismus sieht Einstein eine Leidenschaft, die den menschlichen Blick trübt und die unfähig macht, objektiv und vernünftig zu denken und human zu handeln. Dadurch wird der Nationalismus zu einem gefährlichen Hindernis für den menschlichen Fortschritt. Jede Form des Egoismus stört das Gemeinschaftsleben, egal ob es sich um individuellen Egoismus, Klassenegoismus oder nationalen Egoismus handelt. 45 Späte Jahre, 252 f.

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sammenhänge, wie sie die Wissenschaft leistet, kann deshalb nicht den Weg zu dem weisen, was sein soll: Sie macht keine Aussagen über die fundamentalen Ziele der menschlichen Existenz. Das steigende Raffinement des Wissens und des technischen Könnens, die Schulung der "instrumenteilen Vernunft", der technischen Fertigkeiten und der mechanischen Reaktionsfähigkeit kann das lebendige Gefühl für Gerechtigkeit und Menschlichkeit nicht ersetzen.46 Die Schöpfungen des menschlichen Geistes können für Einstein nur dann zum Wohle des Menschen ausschlagen, wenn die Welt der Werte der Darstellung wissenschaftlicher Tatsachen übergeordnet wird.47 Aber sind die Werte nicht von Kultur zu Kultur verschieden? Wie soll sich hier, wo keine Beweise im wissenschaftlichen Sinne möglich sind, eine verbindende und verbindliche Norm finden lassen? Zwei Aspekte sind es, die Einstein immer wieder betont: Die Würde des Einzelnen und die Gemeinschaft der Menschen. Der Überordnung der Werte über die Fakten entspricht die Bedeutung, die die Mitmenschen für die eigene Existenz haben: Fast all unser Tun und Wünschen ist an andere Menschen gebunden. Wir ähneln gesellig lebenden Tieren, wie Einstein im Sinne der aristotelischen Bestimmung des Menschen als "zoon politicon" und als "zoon logon echon", als einem "mit Sprache und Vernunft begabten Gemeinschaftswesen", sagt. "Was der einzelne ist und bedeutet, ist er nicht so sehr als Einzelgeschöpf, sondern als Glied einer großen menschlichen Gemeinschaft, die sein materielles und seelisches Dasein von der Geburt bis zum Tod leitet."48 Dieser Gedanke ist, so widersprüchlich das im ersten Augenblick erscheint, ein Grund dafür, daß Einstein trotz seines dezidierten Internationalismus den Zionismus unterstützte, so daß ihm nach dem Tod von Chaim Weizmann 1952 sogar das Amt des Präsidenten des Staates Israel angetragen wurde. Seit dem 16. Lebensjahr hatte sich Einstein als konfessionslos bezeichnet und dem Jude-Sein keine Bedeutung beigemessen. Geprägt vom Geist bürgerlich-liberaler Aufklärung galten ihm Nationalität und Konfession als Relikte einer vergangenen Epoche. "Die traditionelle Religion hat in meinem Bewußtsein überhaupt keinen Platz gehabt. Ich war mir aber meiner jüdischen Abstammung vollbewußt, wenn auch diese Zugehörigkeit in ihrer vollen Bedeutung von mir erst später erkannt wurde." 49 Diese ging Einstein während seiner ersten Jahre in Berlin vor allem durch den Antisemitismus auf. Was ist eigentlich ein Jude? Einstein hebt folgende Merkmale hervor: Zunächst einmal handelt es sich beim Judentum nicht um eine Rasse; auch durch die Konfession, durch den Rahmen einer institutionalisierten Religion also, läßt es sich nicht adäquat bestimmen. Beim Judentum handelt es sich um eine Traditions- und "Schicksalsgemeinschaft",50 die tiefer prägt als jede Staatszugehörigkeit.51 46 Späte Jahre,

38 ff. u. 257.

47 Albert Einstein, The Human Side, 7 0 u. 144. 48 Mein Weltbild, 11. Alle materiellen, geistigen und moralischen Güter, die die Menschheit in Jahrhunderten errungen hat, stammen von schöpferischen Einzelpersönlichkeiten. Weder die Entwicklung der Sprache noch die seelische Entwicklung sind ohne andere Menschen möglich. 49 Zit. nach Carl Seelig (Hg.), Helle Zeit - Dunkle Zeit, 57 f. 50 Späte Jahre,

236.

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Die Kraft, die das jüdische Volk über die Jahrhunderte hinweg erhalten hat, beruht auf seiner seelischen Einstellung. "Der Wert des Judentums liegt ausschließlich in seinem geistigen und ethischen Gehalt und in demjenigen der einzelnen Juden. Deshalb war das Studium mit Recht von Alters her die geheiligte Bemühung der Fähigen unter uns." 52 Die hohe Wertschätzung jeder Art intellektuellen Strebens und geistiger Arbeit um ihrer selbst willen sowie die Orientierung an der Idee der sozialen Gerechtigkeit waren die Motive, durch die sich Einstein in der jüdischen Tradition verwurzelt fühlte. Durch den Dienst an Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit, wie sie die jüdische Tradition betont, werden Werte geschaffen, die zur Veredelung der ganzen Menschheit beitragen können. "Eine jüdische Weltanschauung im philosophischen Sinne gibt es nach meiner Meinung nicht. Judentum scheint mir fast ausschließlich die moralische Einstellung im Leben und zum Leben zu betreffen. Judentum scheint mir mehr der Inbegriff der im jüdischen Volke lebendigen Lebenseinstellung zu sein [ . . . ] Das Wesen der jüdischen Lebensauffassung scheint mir zu sein: Bejahung des Lebens aller Geschöpfe. Leben des Individuums hat nur Sinn im Dienst der Verschönerung und Veredelung des Lebens alles Lebendigen. Leben ist heilig, d.h. der höchste Wert, von dem alle Wertungen abhängen. Die Heiligung des überindividuellen Lebens bringt die Verehrung alles Geistigen mit sich - ein besonders charakteristischer Zug der jüdischen Tradition. "53

Diese Werte, durch die sich Einstein dem Judentum verbunden fühlte, mußten zum Wohle der ganzen Menschheit erhalten werden. Dadurch gewann das Judentum eine kosmopolitische Dimension und Aufgabe: Es wird zu einer Lehre der reinen Menschlichkeit. Das Streben des jüdischen Volkes nach Gerechtigkeit und Vernunft soll der Allgemeinheit der Völker in Gegenwart und Zukunft dienen. 54 Die Juden sollen Träger und Förderer geistiger Werte bleiben. Sie sollen sich aber immer der Tatsache bewußt bleiben, daß das Geistige gemeinsamer Besitz und gemeinsames Ziel der ganzen Menschheit ist. 55 Jenseits der Verschiedenheit der Menschen und Nationen weist Einstein beharrlich auf die Verbundenheit aller Menschen hin, die er höher bewertet als das Trennende. "Im letzten Grunde ist jeder ein Mensch, gleichgültig ob Amerikaner, Deutscher, Jew or Gentile. Wenn es möglich wäre, mit diesem allein würdigen Standpunkt auszukommen, wäre ich ein glücklicher Mensch. Ich finde es traurig, daß im heutigen praktischen Leben Trennungen nach Staatszugehörigkeit und kultureller Tradition eine so erhebliche Rolle spielen." 56 An die Stelle des Nationalismus muß ein Internationalismus treten, bei dem sich jedes Volk in seiner Besonderheit als Teil einer universalen Gemeinschaft

51 Albert Einstein, The Human Side, 61 u. 140. 52 Ebd., 66 u. 139; Späte Jahre, 53 Mein Weltbild,

244 ff.

89 f.

54 Ebd., 91 f. 55 Späte Jahre, 238 f. 56 Albert Einstein, The Human Side, 61 u. 139 f.

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fühlt. Toleranz fordert eine Bejahung der Verschiedenheit der Menschen, Rassen und Nationen57 im Bewußtsein der gleichen Würde aller Menschen. 58 Das Bewußtsein, daß alle Menschen in einer gemeinsamen Welt59 leben, läßt keinen Raum mehr für nationale Egoismen, für die Vergottung einer Nation, einer Klasse oder eines Individuums. Die Menschheit kann sich, das ist Einsteins Überzeugung, sittlich zu höheren und freieren Zielen als denen des Patriotismus und des Machtstrebens entwickeln. "Wir müssen danach streben, allmählich ein Solidaritätsgefühl in den Menschen zu erwecken, das nicht wie bisher an den Staatsgrenzen haltmacht." 60 Es gilt, einen durch den nationalen Egoismus in den Hintergrund gedrängten höheren Gemeinsinn zu erwecken, für den menschliche Werte unabhängig von Politik und Landesgrenzen gelten.61 Die Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit waren für Einstein längst nicht ausgeschöpft. Das Bewußtsein, in einer Welt zu leben, beschränkt Einstein allerdings nicht auf das Verhältnis der Menschen untereinander, sondern er bezieht die ganze Natur ein. Im ursprünglichen Sinne des Wortes verficht er einen "Kosmopolitismus". "Es steckt aber noch etwas anderes in der jüdischen Tradition, was sich in manchen Psalmen so herrlich offenbart, nämlich eine Art trunkener Freude und Verwunderung über die Schönheit und Erhabenheit dieser Welt, von welcher der Mensch eben noch eine schwache Ahnung erlangen kann. Es ist das Gefühl, aus welchem auch die wahre Forschung ihre geistige Kraft schöpft [ . . . ] Es ist charakteristisch, daß im Gebot der Heiligung des Sabbats auch die Tiere ausdrücklich eingeschlossen waren, so sehr fühlte man die Forderung der Solidarität des Lebenden als Ideal. Noch viel stärker kommt die Forderung der Solidarität aller Menschen zum Ausdruck. "62

Die Überzeugung von einer allumfassenden Vernunft des Weltenbaues, die Einsteins physikalische Forschungen leitete, findet sich hier noch einmal auf einer neuen Ebene. Da der Wissenschaft jeglicher Bezug zum denkenden und fühlenden Individuum fehlt, spielt die Seite des eigenen Erlebens und Mitfühlens in der Wissenschaft keine Rolle. Die Rede von der "Solidarität alles Lebenden" kann daher erst auf einer Ebene ins Spiel kommen, bei der die Ziele der menschlichen Existenz erörtert werden. Hier nun wird der ganze Mensch in seiner "Stellung im Kosmos" gesehen. Eingebunden ins Universum ist er nicht nur durch Naturgesetze, die die Physik in der Sprache der Mathematik beschreibt; betrachtet er sich selbst als denkende, fühlende und verantwortlich handelnde Persönlichkeit, dann weiß er sich mit allen anderen Lebewesen verbunden. Durch die Ergänzung der rein intellektuellen Beschreibung des Universums in der Physik durch die Ethik erweitert sich nicht allein das Verhältnis der Menschen untereinander, sondern auch das des Menschen zur Mitwelt insgesamt.

57 Albert Einstein, The Human Side, 89 u. 154 f.; Späte Jahre, 58 Späte Jahre,

180 f.

59 Ebd., 147. 60 Mein Weltbild, 61 Ebd., 68. 62 Ebd., 90.

67.

35 f.

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VI Zusammenfassung Dieselbe Einstellung verrät sich in der Physik wie in der Ethik: Tragend ist die Überzeugung, daß der Mensch eingebettet ist in ein umfassendes Sein, das der Wissenschaftler mit seinen Methoden erforscht und dem er als Mensch seine Existenz verdankt. Der "Vorrang des Objekts", wie Adorno diese Haltung nennt, wird zum Korrektiv nicht nur für wissenschaftliche Ergebnisse, sondern auch für menschliche Ziele und Wünsche. An diesem Objektiven, das alles Wollen und Denken uneinholbar überschreitet, erfährt der Mensch immer wieder, daß er nicht das Maß aller Dinge ist; daß er leibhaft in eine Ordnung eingebunden ist, die er nicht mit seinem Intellekt konstruiert; daß es nur eine Ordnung der Natur für alle Menschen gibt, jenseits rassischer, konfessioneller und nationaler Unterschiede. Die Einheit, die in der Vielheit von Lebensentwürfen sichtbar wird, wird zum tragenden Fundament der Wissenschaft ebenso wie von wirklicher Toleranz.

Philosophische Implikationen

Gabriel Motzkin

Memory and Perspective in Husserl

Perhaps Sigmund Freud was the last anti-modern. Perhaps the popularity of his philosophy stems from its capacity to validate a quest for personal meaning on the basis of metaphysical assumptions that have been untenable since the beginning of this century. Almost all the outgoing century's philosophies, of whatever school, do not believe in the preservation of the past. Like Hegel, Freud did. Freud's past was no longer preserved in time or in history, but only in memory. So long as a subject is alive, his past also lives on in his present experience. Proust also held to this tenet, but in his work the anguish of the crisis could be felt, the idea that the non-existence of the past would imply the meaninglessness of existence. The idea that the past could survive won out by a thin margin in his work, and this survival of the past in memory, as for Freud, did not depend upon the volition of the subject. For Heidegger, the past that is preserved in memory is no longer there; along with the internality of consciousness it has disappeared. If there is no subject, then there can be no memory. Heidegger consequently concluded that meaning is a construction, that it is always designed with respect to a future, i.e. with respect to an absence, to what is not there, and that it is therefore transcendent. Thus at the beginning of this century on the one hand were ranged those who believed in an attenuated version of the preservation of the past in individual memory, and thought that meaning is based on memory, and on the other hand those who thought that if the past is preserved it is not preserved in memory, that its preservation is a derived, constructive and volitional act based on the model of future time. Both positions denied the automatic and permanent preservation of the past in which Hegel had believed. From the position that the past is always there, the position had weakened to the position that the past is always there for an individual, and finally turned into the position that the past is always there only if we choose to remember it. For such a point of view, there can really be no tradition. There can be an inheritance (Erbe), but this inheritance must be acquired. The past belongs to the future, and memory is then also a volitional structure. Husserl maneuvered between these positions. For him as well, the past has disappeared. If it is preserved, it is preserved like the bits on a computer disk, not as full pictures that can be retrieved without being reassembled. Each time that we reproduce something from the past, we must reconstitute it, and that reconstitution takes place now. There is no time outside of memory, except insofar as we ourselves posit a time that is transcendent to ourselves. However, the constitution of that time is based on the structure of our memory. And our memory is not really a memory of the past, but rather

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part of our equipment for living in the present. Hence it can be the origin of our sense of time. Because the gulf between present and past is so huge and so unbridgeable, the constitution of each of these times, past and present, requires its own, quite different type of memory, one memory with which the present is constructed, and another memory for the construction of the past. In Ideas I, Husserl even suggested that the future also has its own kind of memory, Vorerinnerung.1 In contrast, for Heidegger, the external experience of time is the prior experience of the world, and any kind of memory that we could have depends on our sense of anticipation. Husserl is quite clear that the situation is the reverse: anticipation depends on a kind of memory. Each different kind of memory is then, as it were, a different prepositional attitude, one for which I am remembering in the present, one in which I seek to remember something from the past, and one which I stand before, and project on the basis of memory. In each of these attitudes, in which I take cognizance of a different kind of memory, the link between past, present, and future operates through memory. There is no other link between past, present and future, for the demarcations between them are so strong that, taken in themselves, the different tense-times are discontinuous with each other. These memories are bound together in the primacy of the memory of the present, retention, which serves as a substrate for any other kind of memory. This memory is also different from the other kinds of memory in its volitional structure, for I do not need to think of the past, i.e. to reproduce, nor do I need to think of the future. Indeed, I can choose at any moment not to think of the past or the future, but I cannot choose not to think of the present. That thinking of the present is not a volitional structure, for I cannot entertain any act of consciousness whatsoever without the functioning of a kind of memory in the present, what experimental psychologists would call short-term memory. That kind of memory is the kind of memory that makes it possible for me to follow a melody, or a thought, as it extends over time. The existence of that kind of memory has two quite significant consequences: First, it expands the field of the now from an instant to whatever time is needed while things are being held constant in consciousness. This kind of now is then not the kind of now that is meant in the instant now, and it therefore does not depend conceptually on the primary kind of now as an instant. Husserl was ambivalent about the relation between the momentary now and the extended now, between the physical instant of sensation and the coherent environment of a present experience, but clearly he conceived the extended now as an act of meaning. Perhaps his temporal diagram would be one in which the extended now is an enlargement of the instantaneous now, and then on its basis past and future are first constituted through their memories, so that the structure of the relation of time to memory is not the same in the present as it is in the past and the future. In the present, retentive mem1

Edmund Husserl, Ideas Pertaining to a Pure Phenomenology and to a Phenomenological Philosophy, iibers. von F. Kersten, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers 1982, 175; dt. Ausg.: Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana III, hg. von Karl Schuhmann, The Hague: Martinus Nijhoff 1976, 145.

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ory depends on sensation. For the past and the future, representation depends on a kind of imagination. However, Husserl was quite clear in his antipathy to imagination: the structure of retention as a present memory and reproduction as a past memory was meant to make recourse to a concept of the imagination as mediating the relation between one time and another unnecessary. The point of his theory was to make memory secure the reality of the past, and it could only derive that reality of the past from the present. Hence he concentrated on the way in which past memory is retrieved, the way in which it is connected to the reality of the present, and not on a constitution of a past as past, for he did not believe that the past can exist in the past; there is no act of imagination which can escape present reality. Second, the consciousness that can support such an extended now is not a consciousness of space as extension, a consciousness of simultaneity, as it would be if it were a Kantian receptive consciousness; it is rather a consciousness of which the very matter is time, for it extends over a time-field rather than over a space-field. Hegel had conceived of space more as a continuity than as a simultaneity, and that conception is similar to Husserl's conception of the extended now, for which continuity exists in the present. For Husserl, however, the consciousness of the extended now, while imagined spatially, is really a characteristic of time-consciousness and not of space-consciousness, as it was for Hegel.2 Husserl entertained a thoroughgoing ambivalence as to the relation between the two kinds of memory, present memory and past memory. Present memory functions between the two limits of the extended now, the limit of the present moment and the limit of what we need to retain in order to provide the now with its coherent context of meaning. In order to be retrieved, past memory must be realized within the structure of present memory. However, there exists a contradiction in the structure of present memory. The relation between the limits of the extended now is conceived as a spatial relation, one that takes place according to the rules of linear perspective. The contradiction lies in the directionality of the picture: if we were always looking retrospectively to the limit of the now in the just past, there would be no problem, and indeed that is Husserl's idea, that we are always comparing the present with the immediate past. Then however, we must assume that our vision is always retrospective to the limit of the retained field. However, the whole field is moving forward, and it is not clear that is moving forward according to the same rules of perspective. Husserl did think that we anticipate our futures according to the same rules of perspective which govern our relation to the present. If, however, the whole field is moving forward, then we need one perspective to govern our relation to our motion, and an inverse perspective in order to be able to impose a retrospectively retained meaning on that motion. It is not clear that the rules of perspective that govern memory and the rules of the experience of the now can simply be taken as having the same structure and direction. If anything, the rules of perspective presuppose the possibility of spatial inversion, as in reverse perspective. In the same way, they can presuppose the possibility of temporal inversion.

2

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hegel's Philosophy of Nature, hg. u. übers, v. M. J. Petry, London: George Allen and Unwin 1970, § 254, 223; dt. Ausg.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 254.

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When applied to time, they must make it possible to rearrange experience in contradiction to the time-flow. Instead, Husserl simply assumes that all temporal models follow the same rules: there is no change of perspective in the superimposition of reproduction, i.e. of memory of the distant past, on the retentional memory with which we experience our present. If this problem of the relation between a perspectival meaning-giving act that first constitutes the temporal border and a non-perspectival flow of experience is endemic to the relation between present experience and present memory, it becomes even more critical in the relations between retention and reproduction, between functional memory in the present and the retrieval of a past that is marked as being discontinuous with the present. While secondary memory, the memory of the past that is discontinuous with the present, is embedded in primary memory, it, unlike primary memory, retention, is a voluntary act: we choose the past we wish to realize. On the basis of signs, we compose pictures from the material pre-pictural data stored in our minds in the same way as we first compose perceptions from the material sensations which affect our eyes. If we were to question Husserl as to the rules that govern these pictures, he would not be able to discern any difference between the rules of these composed or reproduced pictures and the rules of the composition of perceptions of the external world: there is no difference in the rules of vision for memory and for perception. In both cases, these take place within the structure of linear perspective. However, that linear perspective should not be understood as a correlate of the spatial field, but rather of the temporal field: it is the consciousness of time that imposes perspective on our vision of space. That consciousness of time is itself a consequence of the act of memory: memory creates time and not the other way about. Thus to be more precise it is rather memory which endows time with perspective, i.e. with tense. In turn, successive time is formed from the combination of retention and reproduction, from the embedding of one tensetime in another tense-time. In contrast, Heidegger's construction of a future for which time precedes memory completely denies linear perspective as a model for temporal experience, even while it retains the notion that tense-time is prior to successive time. Unlike Husserl, Heidegger is quite aware of the possibility that a reversal takes place between the way in which consciousness structures time and the way in which it perceives time. Heidegger's future intrudes into the present in a kind of reverse perspective; in these terms Heidegger's problem is whether time is perspectival at all, or whether it is aperspectival in a way similar to modern art. It should be noted that the question of aperspectivism for Heidegger is not formulated in relation to linear perspective, i.e. to an extension of a present subject into the future and the past, but rather in terms of a reverse perspective, of whether the future and the past intrude into the subject, or on the other hand the subject is capable of taking a position in which the time of the past or the future, i.e. tensetime, can be experienced without a spatial or a specifically perspectival construction of a tense-field. The notion of linear perspective as applied to memory raises the question of the voluntary nature of memory in the following way: namely linear perspective is applied when it is assumed that the structure of memory is involuntary, that it must follow set

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rules. That assumption rests on the still stronger presupposition that the act of memory is involuntary. Husserl's consciousness is a voluntary consciousness when it confronts the past and the future, but it is not so when it confronts the present, and therefore it operates in time according to the rules of linear perspective, as if these could be applied to time. Memory's central function in the present is the extension of the now by applying linear perspective to the present. Ingarden's work works through the conditions and aporias of such an application of linear perspective to time. 3 Above, I raised the question of whether this structure presupposes the possibility of temporal inversion. This problem is rendered acute once past memory is realized within the present. It could be argued that the transition to successive time takes place because it is the conflation of times that makes it the experience of the sequence past to present irreversible: past time as realized in reproduction would then not be perspectival but would rather have borrowed its perspective from the present. It is that experience of superimposing a perspective on a matter that is not itself perspectival by nature which would give rise to the sense of succession. In this case, succession replaces continuity. It is the present that is continuous, and the past is first realized within it as discontinuous. In turn however, continuity and discontinuity are to be integrated: the discontinuous is to be brought into harmony with the continuous. Temporal succession first notes the difference between past and present, and then orders their sequence. Yet when we introduce the future or the past into the present, we still cannot decide whether the perspective of the present is retained, or whether it is reversed through the mere act of the superimposition of times. On the one hand, we must conclude that it is retained; Husserl is quite clear that I experience the past as part of the present when I experience it. On the other hand, the past appears to come to me, and not I to it, whereas in the rules of linear perspective it is the subject who is drawn into the picture. The historian may think that he penetrates the past, and it can be argued that historicism is a consequence of this notion of the application of perspective to historical experience, but the experience that Husserl describes, which is an experience of the past as memory, is one in which I reproduce or reenact a past experience, in which I fill up the present with the past. Either this obtrusion, of the past into the present is an illusion of consciousness, or there is a disharmony between the perspectival experience of the present and this creation of the past in the present. We have not considered the question of whether this reversal between present and past is a structure of present experience or of consciousness in general without regard to temporal experience, a reversal that would be prior to the experience of time and memory. It could be, and has been, argued that the subject, by posing itself as a subject, has always already created a disharmony between the perceived world and subjective experience. In that case, each successive phase of structural inversion would be return to the original structure so that the other of consciousness would become a replica of the (mis)perceived world.

3

Roman Ingarden, The Cognition of the Literary Work of Art, iibers. v. Ruth Ann Crowley u. Kenneth R. Olson, Evanston: Northwestern University Press 1973; dt. Erstausg.: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1968, s. Kap. 2.

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Such a theory of the reversal of consciousness may help illumine the reversal of consciousness in the traditional idea of linear perspective. The viewer who stands before the picture does not operate with an active vision. The theory of optics that conforms to the idea of linear perspective is not one for which the subject illumines the world: rather the eye reflects the world. On the other hand, that eye which belongs to a subject who is looking into the picture belongs in a sense to a non-visual subject who is active despite the lack of an active faculty of seeing. It seems to the beholder as if he is drawn to the picture even while the picture comes to him. In contrast, it seems to the Husserlian subject as if the past comes to him in a reverse perspective even while he in reality is constituting the past by an act in the present. Thus the asymmetric duality of the relations specified for consciousness by the notion of linear perspective are retained by the Husserlian consciousness, but they have been reversed. Husserl's perspective is not, however, an example of inverse (bas-relief) perspective, but rather of a reversed experience of linear perspective. Kant had noticed that asymmetric duality in his specification of space and time. Both intuitions, of space and of time, are perspectival: space is the form of outer intuition and time of inner intuition. But Kant defines both spatially: space as simultaneity and time as succession - which is a spatial metaphor for Kant. However, these two intuitions, space and time, are not fully equivalent. It is clear that for Kant time appears as space whereas in reality the importance in his system of inner intuition, of time, is actually much greater. Thus here too a perspectival philosophy depends on the assumption of an asymmetric reversal of consciousness, but the reversal here is between inner and outer, between the two spaces in which the subject operates, and not between two times. For Husserl, this reversal is the reversal between two modes of time, between, as it were, "real" time and irreal time. Husserl's Phenomenology of the Consciousness of Internal Time begins with his criticism of Brentano's notion that all time except the infinitesimal now is irreal, and that therefore a synthesis that takes place in the imagination is necessary to bridge even the most simple experience of duration. 4 That position would necessarily lead to the psychologism that Husserl so abhorred, for it would make every contact with an external world dependent on an act of the imagination, and would thus fix an insurmountable gap between outer experience and inner experience, since the only bridge between the two would not be a real one. Against Brentano, Husserl sought to affirm the reality of the experience of the external world, but he sought to do so in a way that would secure the position of consciousness in relation to that world. He wished to provide, as it were, a transcendental empiricism that is based on Hume's account of the perception of external things for an ego which is quite distinct from that perception. Husserl's famous dictum that consciousness is just the consciousness of things has often been misunderstood as if he wished to claim that consciousness is the consciousness of things that exist, whereas he meant that consciousness is inseparable from the 4

Edmund Husserl, On the Phenomenology of the Consciousness of Internal Time [1893-1917], übers, v. John Barnett Brough, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers 1991; dt. Ausg.: Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des innern Zeitbewußtseins, hg. v. Rudolf Boehm, Husserliana X, 1. Aufl., The Hague: Martinus Nijhoff 1966.

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objects that exist in consciousness. Husserl's consciousness, like Fichte's, is an actconsciousness, and it cannot be distinguished from its act. The act and the content that is intended by that act, however, can be distinguished through the procedures that Husserl developed, so that his logic is not a logic of the association of impressions. Sense-impressions form the material for the act of consciousness. Kant also believed that the subject's fundamental consciousness is an act, the synthetic unity of the apperception. However Kant's subject is a synthetic subject, one for which a priori statements that are true about the world can be constructed from thoughts that specify the necessary conditions of the perception of that world. Husserl's consciousness is never synthetic; its truths are analytic and a priori. That is to say, consciousness already is viewing the world through its act, and its act constitutes its object from the material with which it is presented. It does not constitute the sense-impressions, but the organization of the appearances is not empirical, but is rather a priori. Such a consciousness necessarily has a different relation to time than Kant's. Its relation to time cannot precede its act, but rather its act specifies the conditions that are necessary for its relation to time. That relation to time must be as analytic as consciousness. Insofar as memory is an a priori characteristic of consciousness, it too is an analytic structure; not only is it not derived from experience, but it is not a structure that combines different elements of consciousness in order to arrive at a true statement. It is rather a dependent structure, for it cannot exist without the experience of the now that is the fundamental characteristic of consciousness: it has not object of its own. Memory, unlike consciousness, is not primarily a memory of objects, i.e. of experiences. It is rather an aspect of the consciousness of experiences. In Husserl's terms, then, his opposition to theories that base memory in imagination is that these theories make reproduction prior to retention: it is our memory of the past that makes possible our use of memory in the present, where he believed that the opposite is the case. The theories that he opposed were theories in which a key element of our experience of the present is our ability to represent the present. If the memory of the past is indeed prior to the use of memory in the present, then indeed we need a theory of representation, for we have to explain how images from the past are retained and applied in the present. However, in Husserl's theory there is no act of representation in the present: on the contrary the perceptual act is an act of presentation of the data. The object that is composed in that act is not a representation of anything. It is rather the reproductive memory of past events that first creates the need for representation. In turn represented images all contain this sign of pastness within them, for they are all superimpositions of images onto a non-representational perception. Thus it turns out that one kind of memory, present memory or retention, precedes the existence of images, whereas the other kind of memory, past memory or reproduction, is instrumental in their formation. One conclusion would then be that the experience of perspective precedes the existence of images and first makes imaging possible. In turn, however I have argued that that experience of perspective cannot be viewed as identical in the pre-image stage and the image, that a reversal of perspective must take place between the two. In the present, perspective for Husserl means that experiences vanish according to the rules of perspective. When they return in reproduction, they

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appear to return according to the same rules, but these rules must have been inverted, since they are being brought closer to us. However, what is brought closer to us is not a bas-relief, but rather a picture that appears to have the same structure as the structure of experience. The bas-relief, or inversion, must have taken place between the present and the reproduction of the past. If it were to appear, it would constitute a kind of break in time, since it would contradict the structure of temporal experience. 5 In other words, we recreate a picture that is like our experience of the present, but it appears to come to us. It is that coming to us of the past that we cannot envision, just as the coming to us of the picture into which we are drawn is the frame of the picture and not its content. That frame is the barrier between present and past which makes it possible for us to look at pictures and interpret them as pictures, and it is then the same frame that makes it possible for us to imagine the past, but never to experience it.

5

Eveline Goodman-Thau, Zeitbruch. Berlin: Akademie Verlag 1995.

Zur messianischen

Grunderfahrung

in der jüdischen

Tradition,

Hans Heinz

Holz

Kontinuität und Bruch im Denken Walter Benjamins

"Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich." 1 D i e s e r erste Satz der fünfzehnten These Über den Begriff der Geschichte ist v o n e i n e m g a n z e n H e e r v o n Benjamin-Interpreten und solchen, die sich in seiner N a c h f o l g e w ä h n e n , 2 als b e w e i s k r ä f t i g e s Z e u g n i s dafür zitiert worden, daß Benjamin geschichtsphilosophisch ein D e n k e r der Brüche, der Diskontinuitäten, ein G e g n e r des Konzepts der Universalgeschichte g e w e s e n sei; w a s da auf d e m Gebiet der Geschichtsphilosophie a n g e n o m m e n wird, sei durch Parallelen methodologischer Art gestützt, nämlich durch Äußerungen, vor a l l e m aus den PassagenFragmenten, die auf die Destruktion v o n prätendierten Z u s a m m e n h ä n g e n im Geschichtsprozeß zielten und die Konstruktion v o n isolierten, aus d e m historischen Material herausgelösten Sinn-Kokons anvisierten. 3 E s ist m e i n e Absicht zu z e i g e n , daß das Verhältnis von Kontinuität und Bruch bei Benjamin komplizierter ist und eine Einheit der Differenten bildet, in der die Kontinuität die über sich selbst und ihr Gegenteil, den Bruch, übergreifende Gattung ist. 4

1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I, Frankfurt a.M. 1974, 701. 2

Ich bin entschieden der Meinung, daß es eine Benjamin-Nachfolge nicht geben kann. Die Verschmelzung jüdisch-mystischen und messianischen Gedankenguts mit Intentionen des deutschen Idealismus, vor allem der Romantik, in Benjamins Anfängen und deren Eindeutung in eine historisch-materialistisch begründete Perspektive politischen Engagements ist singular und nicht nachvollziehbar. Wohl lassen sich die Denkfiguren, die Benjamin entwickelt und deren er sich bedient, entschlüsseln und interpretieren und in dieser Interpretation systematisch fruchtbar machen; aber einfach anschließen kann man an sie nicht. Benjamins Werk ist eine ideelle Konstellation ganz in dem Sinne, wie er "Ideen" verstand: eine individuelle, monadische Konjunktion von Sinn, die ein anderer wahrnehmen, aber nicht nachahmen kann und die sich in jeder Interpretation auflöst und verändert. Vgl. Hans Heinz Holz, "Idee", in Erdmut Wizisla u. Michael Opitz (Hg.), Benjamins Begriffe, Frankfurt a.M., in Vorb.

3

Sicher ist die prekäre Spannung zwischen den Elementen von Benjamins Denken ein Grund dafür, daß er von Autoren des Post-Modernismus als Kronzeuge für eine Quasi-Metaphysik der Diskontinuität in Anspruch genommen werden konnte. Es mag aber auch der Unkenntnis dieser Interpreten geschuldet sein, daß sie die in einem spezifisch rabbinischen Traditions-Verständnis liegende Einheit von Benjamins "Lehre" nicht gesehen haben. Vgl. dazu Gershom Scholem, "Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum", in Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a.M. 1970, 90 ff.

4

Es kann vermutet werden, daß in der Reflexion des Verhältnisses von Kontinuität und Bruch diese Struktur des Übergreifens stets und unumkehrbar auftritt (vgl. Hans Heinz Holz, "Tradition und Traditionsbruch", in Vom Kunstwerk zur Ware, Kap. III, Neuwied/Berlin 1972, 66 ff.; ders., "Bruch

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Hans Heinz Holz

Das heißt, es scheint mir Willkür, die prononcierten Hinweise auf Diskontinuität, die sich in den Passagen-Konvoluten finden,5 als Leitmotiv oder Verfahrensanweisung der Benjaminischen Metaphysik überhaupt zu lesen. Schon der Vergleich dieser Notizen untereinander müßte stutzig machen. Nehmen wir eine zunächst ganz eindeutig scheinende Aussage: "Daß der Gegenstand der Geschichte aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufes herausgesprengt werde, das wird von seiner monadologischen Struktur gefordert. Diese tritt erst am herausgesprengten Gegenstand zutage."6 Aber man lese genauer! Es geht nicht um die Geschichte als den Zusammenhang der menschlichen Gattung in der Zeit (den "Geschichtsverlauf"), sondern um den "Gegenstand", also eine bestimmte Situation oder Epoche oder auch Person, die erkannt werden sollen, zu denen sich heute ein Mensch rückblickend in Beziehung setzt (was ja nur eine Beziehung im Bewußtsein sein kann, da das Vergangene materialiter ganz und gar ungegenwärtig ist). Nun ist es selbstverständlich, daß ein Erkenntnisgegenstand gerade nur dann erkennbar wird, wenn er aus seinem unendlichen Beziehungsfeld analytisch isoliert und für sich betrachtet wird. Benjamin erkennt aber, daß die inhaltliche Ausfüllung des begrifflich bestimmten Einzelnen in dieses wieder alle seine Beziehungen hineinzieht, so daß in "das Innere (und gleichsam die Eingeweide) des historischen Gegenstandes [...] sämtliche historischen Kräfte und Interessen in verjüngtem Maßstabe eintreten".7 Diesen von Hegel in seiner Konzeption vom "absoluten Begriff" entwickelten Gedanken übernimmt Benjamin allerdings nicht von ihm, sondern von Leibniz, bei dem schon vor Hegel der logisch-metaphysische Doppelaspekt von Intensionalität ausgearbeitet wurde: Was logisch die notio compléta, ist ontologisch die monas distinctissimepercipiens, ein Spiegel der ganzen Welt (repraesentatio totius mundi)} Präzis in dieser terminologischen Zuspitzung greift Benjamin die Denkfigur auf: "Kraft dieser monadologischen Struktur des historischen Gegenstandes findet er in seinem Innern die eigene Vorgeschichte und Nachgeschichte repräsentiert. (So liegt beispielsweise die Vorgeschichte von Baudelaire, wie sie sich der gegenwärtigen Forschung darstellt, in der Allegorie, seine Nachgeschichte im Jugendstil)".9 Das Beispiel Baudelaire macht die erkenntnistheoretischmethodologische Funktion des "Heraussprengens" deutlich: Das Einzelne wird als Einzelnes bestimmt, und in der Bestimmung erscheinen dann wieder die zuvor ausgeblendeten Verknüpfungen. Würde man aber die zeitliche Folge gesamthaft überblicken wollen, so entschwände der einzelne Gegenstand im Unbestimmten - das zeigt schon die

und Vermittlung", in Annalen der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie - Societas Hegeliana, Bd. IX, Bonn 1995). Ich spreche vorsichtig von einer Vermutung, weil die Struktur des übergreifenden Allgemeinen bisher noch wenig durchleuchtet worden ist (vgl. Hans Heinz Holz, Dialektik und Widerspiegelung, Kap. 2 . 1 , Köln 1983, 51 ff.). 5

Walter Benjamin, Gesammelte

Schriften,

Bd. V, vor allem 587-594.

6

Ebd., 594.

7

Ebd. Diese Repräsentation von allem in jedem einzelnen macht Benjamin gleich zu Anfang des ParisEssays sozusagen zum Motto des Passagen-Motivs: "[...] so daß eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im kleinen ist" (ebd., 45).

8

Vgl. Hans Heinz Holz, Leibniz,

9

Walter Benjamin, Gesammelte

Frankfurt a.M. 1992. Schriften,

Bd. V, 594.

Kontinuität und Bruch im Denken Walter Benjamins

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zenonische Paradoxie vom fliegenden Pfeil, der ruht! "In der Tat kann im kontinuierlichen Verlauf der Geschichte ein Gegenstand der Geschichte überhaupt nicht visiert werden. Die Geschichtsschreibung hat denn auch von jeher aus diesem kontinuierlichen Verlauf einen Gegenstand einfach herausgegriffen." 10 Isolierende Betrachtung ist eine apriorische Notwendigkeit identifizierenden Denkens und Erkennens. Nicht die artifiziell-methodische Herstellung von Diskontinuität ist es, die Benjamin für sein Verständnis von historisch-materialistischem Vorgehen als Besonderheit herausstellt; sondern die zielgerichtete Orientierung an einer ideellen Leitvorstellung, die das Selektionsverfahren einem (geschichtsphilosophischen, metaphysischen) Sinn subsumiert. Von dieser "Zäsur in der Denkbewegung", die den Gegenstand hervortreten läßt, sagt Benjamin: "Ihre Stelle ist natürlich keine beliebige. Sie ist, mit einem Wort, da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist. Demnach ist der in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand selber das dialektische Bild. Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand; es rechtfertigt seine Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs." 11 Die monadologische Struktur des Gegenstands der Geschichte ist also die des dialektischen Bildes. "Dialektisches Bild" ist aber der Titel, den der späte Benjamin für das gebraucht, was er früher "Idee" genannt hatte. Unter diesem Titel schmuggelt er die Ideenlehre des Trauerspiel-Buches12 in die historisch-materialistische Bastion des Spätwerks - eine gefährliche Konterbande. Nun liegt die Dialektizität des Bildes ebenso wie das eidetische Wesen (die "Idealität", könnte man sagen) der Idee darin, daß sie aus dem unendlichen Kontinuum (sei es zeitlich des GeschichtsVerlaufs, sei es räumlich des Universums, sei es semantisch der Bedeutungen) ein Segment herauslöst und es als einheitliches Ganzes, als "Gestalt", als Konstellation einander zugeordneter Elemente betrachtet.13 Dadurch wird - zunächst für das erkennende Subjekt - die Individuation von Seienden, Sachverhalten, Bedeutungen vollzogen; die individuierten Sinneinheiten werden alsdann durch Benennung für andere Subjekte kenntlich gemacht und durch Hinweis oder andeutende Sprechakte in anderen Subjekten evoziert. Darum ist der eigentlich schöpferische Akt der Erkenntnis das Benennen, durch das eine Sinneinheit als individuell Existierendes gesetzt wird - und das Wort "setzen" ist hier in terminologischer Strenge nach dem Vorbild der klassischen deutschen Philosophie, insbesondere Fichtes, gebraucht. Die menschliche Sprache vollzieht nur nach, was Gott bei der Erschaffung der Welt getan hatte: Er "setzte" die Dinge, indem er ihnen Namen gab.14

10 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V, 594. 11 Ebd., 595. 12 Vgl. dazu Hans Heinz Holz, Philosophie der zersplitterten Welt. Reflexionen über Walter Benjamin, Bonn 1992, 92 ff. Die "Schmuggelware" im Lager des Marxismus hat wohl auch Gerhard Seidel geahnt, als er seinem Aufsatz über Benjamin den Titel "Im Freihafen der Philosophie" gab. Neue Deutsche Literatur, Berlin 1977/1, 56 ff. 13 Vgl. hierzu den in Anm. 2 genannten Artikel "Idee". 14 Gen. I hebt auf das Aussprechen und Namengeben ab. Jeder Abschnitt beginnt mit "Und Gott sprach" (Luther; genauso Martin Buber: "Gott sprach") und befestigt das Wort Gottes durch die Formel "und

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Hans Heinz Holz

In dem frühen Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache der Menschen15 heißt es: "Das sprachliche Wesen des Menschen ist also, daß er die Dinge benennt. [•••] Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht. [...] Der Name ist aber nicht allein der letzte Ausruf, er ist auch der eigentliche Anruf der Sprache. Damit erscheint im Namen das Wesensgesetz der Sprache, nach dem sich selbst aussprechen und alles andere ansprechen dasselbe ist." Gottes Sprache sind die Geschöpfe selbst. Indem er sie benennt, setzt er sie in materiale Existenz. Name und Benanntes sind in Gottes Schöpfungswort eins. Wenn Gott sprach, so geschah es also. 16 Die Allheit Gottes (derzufolge er das ens realissimum ist, in dem keinerlei privatio enthalten ist) erlaubt es nicht, daß in ihm die Differenz zwischen Realität und Virtualität, zwischen dem Sein der Sache und dem Schein-Sein des Bilds auftreten kann. Darum vollendet sich durch den Menschen, der Gott ähnlich, aber nicht gleich ist, die Schöpfung Gottes; auch der Mensch gibt (wie Gott) den Dingen Namen, aber diese bleiben (anders als bei Gott) von den Dingen unterschieden. Sie sind die Dinge in der Virtualität ihrer spirituellen Repräsentation. "Wenn das geistige Wesen mit dem sprachlichen identisch ist, so ist das Ding seinem geistigen Wesen nach Medium der Mitteilung, und was sich in ihm mitteilt, ist - gemäß dem medialen Verhältnis - eben dies Medium (die Sprache) selbst. Sprache ist dann das geistige Wesen der Dinge." 17 In ihrem geistigen Wesen als Sprache werden die Dinge von der Unvollkommenheit ihrer realen Existenz erlöst und kraft ihrer Namen wieder in das Universum im Geiste Gottes zurückversetzt. Schöpfung ist Entäußerung und durch das Medium der Menschensprache wieder Erinnerung, Exil in der Dinglichkeit und Heimkehr im Geiste.18 Daß von dieser wiederzugewinnenden Spiritualität jede mythische oder magische

er nennet" (Luther; etwas abweichend Buber: "Gott rief" - mit Dativ ihren Namen zu). 15 Walter Benjamin, Gesammelte zersplitterten Welt, 118 ff.

Schriften,

das heißt er rief den Dingen

Bd. II, 140 ff.; vgl. dazu Hans Heinz Holz, Philosophie

der

16 Vgl. dazu die Formeln in Gen. I: "Gott sprach [ . . . ] und es geschah also" (Luther; Buber: "Gott sprach f . . . ] und es ward"). 17 Walter Benjamin, Gesammelte

Schriften,

Bd. II, 145.

18 Daß diese Denkfigur einem gnostischen Schema unterliegt, kann hier nur angedeutet werden. Hans Joachim Schoeps hat sicher recht, wenn er Rudolf Bultmanns Perspektivenwandel in der Gnosisforschung für richtungsweisend hält: "Man müsse von der [ . . . ] Ursprungsfrage fortkommen und weiterschreiten zur Untersuchung des spekulativen Systemcharakters der Gnosis als Weltanschauung. Dies hat Bultmann dadurch getan, daß er aus der Gnosis ein 'der antiken Welt gegenüber neues Welt- und Selbstverständnis" herausinterpretierte." (Hans Joachim Schoeps, "Zur Standortbestimmung der Gnosis", in Kurt Rudolph [Hg.], Gnosis und Gnostizismus, Darmstadt 1975 , 4 6 3 f f . , hier 467) Aber Bultmanns Perspektive bleibt gerade auf christliche Anthropologie bezogen und blendet spezifische jüdische Möglichkeiten aus, weil er, echt christlich-protestantisch, den Entfremdungstopos ausschließlich auf das "Selbst" des Menschen bezieht. Darum muß Schoeps auch konsequenterweise eine jüdische Gnosis verneinen und annehmen, "daß es innerhalb des Judentums eine homologe Begriffsbildung gibt, die der Gnosis entgegenzukommen oder vorauszulaufen scheint, in Wirklichkeit aber mit ihr überhaupt nichts zu tun hat, sondern im geschlossenen Rahmen der jüdischen Religions- und Geistesgeschichte als eine unterirdische (heterodoxe), die kabbalistische Mystik vorbereitende Strömung verlaufen ist"

Kontinuität und Bruch im Denken Walter Benjamins

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Instrumentalisierung ferngehalten werden konnte, hängt mit der Sprachspekulation zusammen, die den Namen (und nur den Namen) zum eigentlichen Träger des metaphysischen Wesensgehaltes der Sachen macht. Die gnostische Mythologie wird durch die kabbalistische Semasiologie ersetzt. An sie knüpft - vermittelt durch romantische Interpretationen - Benjamin an. Und weil der Name, den der Mensch dem Ding gibt, es zwar möglich macht, über das Ding zu sprechen und es zu evozieren, aber das eigentliche Wesen des Dings, wie es in Gott inhäriert) stumm läßt und nur symbolisch andeutet, "ist nämlich Sprache [...] nicht allein Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des N icht-M itteilbaren". 19 Die Namen, die Menschen geben, sind nun aber nichts anders als das sprachliche Medium, in dem und durch das Ideen erscheinen. Als menschliche Namen sind sie das Zeichen für die Individuation, dergemäß ein Sachverhalt sich aus dem Kontinuum der raum-zeitlichen Welt als ein bestimmter (und das heißt von anderen verschiedener) heraushebt. Die Menge der Namen ist die Repräsentation der Diskontinuität der einzelnen; die evidente Manifestation dieser Diskontinuität wäre das Lexikon. Dennoch setzt das Lexikon in seiner Zerfällung der Sprache in ihre nominalen Bestandteile die Universalität der Sprache voraus. In jedem Wort (Namen) ist enthalten, daß es zu allen anderen Wörtern sprachlich nicht zufällige Beziehungen hat; solche Beziehungen werden in Sätzen ausgesprochen, die wiederum im grammatischen System der Sprache keine zufällige Form haben. Daß in jedem Wort potentiell die ganze Sprache eingebildet ist, nennt Benjamin die "intensive Totalität des Namens"; daß alle Wörter, die zu einer Sprache gehören, in einem Systemzusammenhang stehen, macht die "extensive Totalität der Sprache" aus. Beide Weisen der Totalität sind in bezug auf die Welt, die im Geiste Gottes simultan ist, korrelativ. Es wird nun wohl erkennbar, wohin uns der scheinbare Umweg über die Sprachtheologie Benjamins geführt hat. Er bringt uns an den Ort, wo die Diskontinuität der Namen, Ideen, Erkenntnisgegenstände sich als Muster erweist, das auf die Oberfläche des Kontinuums des Seins, des Sinns, des Wissens aufgetragen ist. Dieser Grund - "das ganze, eine, zusammenhängende Sein", wie es bei Parmenides heißt20 - ist es, aus dem etwas herausgesprengt wird, auf dessen Boden Brüche im Zusammenhängenden auftreten. Mir ist unverständlich, wie übersehen werden konnte, daß Benjamin dieses ursprüngliche Kontinuum immer in Gedanken hat und immer wieder anspricht - von dem frühen Brief an Scholem, wo er sich auf den "göttlichen Ordnungszusammenhang" bezieht, bis zu den Thesen über den Begriff der Geschichte, wo der "gesamte Ge(ebd., 475). Daß aber die Natur eine Entäußerung Gottes und eine hyletische Entfremdung des Logos sei - dies ist ein gnostisches Motiv, mit dem durchaus das Geschehen von Genesis 1-3 in Einklang gebracht werden kann: die Entäußerung Gottes aus reinem Geiste, in dem die Namen gedacht werden, in die Welt der Dinge, die beim Nennen ihrer Namen entstehen, und der Abfall des gottesähnlichen Geschöpfes aus der paradiesischen Eintracht in die Fremde durch den Sündenfall. Philos' Buch De opiflcio mundi folgt genau diesem Verlaufsschema. 19 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II, 156. Vgl. Walter Benjamin, Briefe, Bd. I, Frankfurt a.M. 1966, 127: "Jedes heilsame, ja jedes nicht im innersten verheerende Wirken der Schrift beruht in ihrem (des Wortes, der Sprache) Geheimnis." (An Martin Buber, Juli 1916) 20 Parmenides B 8, 5 f.

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Hans Heinz Holz

schichtsverlauf" den Horizont bildet, der einem endlichen Verstände gerade durch das Herausheben eines Moments als ganzer vergegenwärtigt werden soll, bis zum PassagenWerk, wo gerade der "kontinuierliche Verlauf" zum Problem der Geschichtserkenntnis und des politischen Verhaltens wird, für das eine nicht-konformistische Lösung gefunden werden soll.21 Denn das Verständnis eines besonderen historischen Gegenstands bloß als Moment eines fließenden Verlaufs der Gattungsgeschichte würde gerade die Entgegensetzung des Besonderen gegen das Allgemeine, seine Widerspenstigkeit und Sperrigkeit (hegelisch: seinen Eigensinn), den Modus der alteritas außer acht lassen und damit das Moment der Negativität, des Widerspruchs als Movens der Geschichte unterdrücken. 22 Dieses Spannungsverhältnis von Einheit des Verlaufs und Entgegensetzung des Ereignisses hat Benjamin ausdrücklich ins Bewußtsein gerufen: "Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Male mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht." 23 Der Zeitverlauf ist kontinuierlich, das wird hier nicht bestritten. Aber er ist gerade nur Verlauf, indem etwas zu einem anderen wird, also Nicht-Identität auftritt, die sich aber als solche nur in der Weise der Nicht-Identität eines Identischen24 herstellen kann. Darum spricht Benjamin auch nicht von intermittierenden, sondern von interferierenden Zuständen: Interferenz ist ein Überlagerungsphänomen, das in einem Kontinuum stattfindet - Intermission ist eine Unterbrechung des Kontinuums durch ein "Dazwischen" {metaxy in platonischer Sprache). Wir dürfen annehmen, daß Benjamin bei seiner Wortwahl genau war. Nun wäre Benjamin aber nicht der jüdische Metaphysiker, als welchen ihn Gershom Scholem zu Recht gekennzeichnet hat,25 wenn er es bei der Feststellung der Dialektik von Kontinuität und Bruch belassen und aus ihr einfach eine Methode der gegenwärtigen Aneignung von Geschichte und ihrer politischen Aktivierung herleiten würde. 26 Vielmehr ist das Verständnis des Verhältnisses von metaphysischer Wahrheit und ihrer geschichtlichen Erscheinung in einer besonderen, aus der jüdischen Tradition herstammenden Konzeption begründet, aus der Benjamin das Verfahren der Dislokation von Ereignissen im Rahmen eines Geschichtskontinuums gewinnt. Das Erscheinen der

21 Walter Benjamin, Briefe, Bd. I, 170; Gesammelte Schriften, Bd. I, 703; Gesammelte Schriften, Bd. V, 594 f. Die "Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs" bedarf einer "Rechtfertigung" (ebd., 595). 22 Die Verabsolutierung des Prinzips der Negativität im Stile einer "negativen Dialektik" müßte allerdings die Gattungseinheit der Menschheit vergessen lassen (vgl. Hans Heinz Holz, "Mephistophelische Philosophie", in Wilfried F. Schoeller [Hg.], Die neue Linke nach Adorno, München 1969, 176 ff.). Es mag sein, daß der lange Zeit vorherrschende Einfluß der Denkweise Adornos in der BenjaminRezeption zur Überbetonung des Aspekts der Diskontinuität bei Benjamin geführt hat. 23 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V, 593. 24 An dieser Stelle muß unerörtert bleiben, wie der Genitiv "eines Identischen" zu interpretieren sei. 25 Gershom Scholem in Über Walter Benjamin, Frankfurt a.M. 1968, 132-162; zu Benjamin als Metaphysiker besonders 138 ff., zum Jüdischen 155 ff. 26 Vgl. Hans Heinz Holz, Philosophie der zersplitterten

Welt, 102 ff.

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Wahrheit - und das heißt in gewissen Sinne die Offenbarung des Wortes Gottes - faßt Benjamin in den Begriff der "Lehre". 27 Die Lehre ist die Gesamtheit dessen, was als Auslegung des Wortes Gottes vorgetragen wurde, wird und noch werden wird. Die Lehre ist also nie abgeschlossen, sie perpetuiert sich (indem sie sich zugleich verändert, aber doch auf denselben Kern und Sinn bezogen bleibt) dadurch, daß der Lernende im Lernen des Gelehrten selbst zum Lehrenden wird. "Ich bin überzeugt: die Tradition ist das Medium in dem sich kontinuierlich der Lernende in den Lehrenden verwandelt und das im ganzen Umfang der Erziehung. In der Tradition sind alle Erziehende und zu Erziehende und alles ist Erziehung. Symbolisiert und zusammengefaßt werden diese Verhältnisse in der Entwicklung der Lehre." 28 Deutlicher kann das Verhältnis von Kontinuität und Bruch nicht ausgedrückt werden. Der geheime, kabbalistisch verschlüsselte Sinn der Lehre ist das Gemeinsame aller ihrer Gestalten, das Kontinuum die Bedingung der Möglichkeit, daß die Lehre wahrhaft Lehre ist.29 Das Kontinuum wird dabei ganz stark betont: "Es ist so schwer über Erziehung zu reden weil deren Ordnung mit der religiösen Ordnung der Tradition ganz zusammen fällt. Erziehen ist nur (im Geiste) die Lehre bereichern; nur wer gelernt hat kann das: darum ist es unmöglich für die Kommenden anders als lernend zu leben. Die Nachkommen sind aus dem Geist Gottes (Menschen), sie steigen aus der Bewegung des Geistes wie Wellen auf." 30 Was aber in der Einheit von Lernen und Lehren geschieht, ist die Geburt eines Neuen, das sich aus der Lehre heraussetzt und doch später in der Tradition wieder zur Lehre gehören wird. Das sind die geschichtlichen Brüche, an denen und durch die die jeweilige Gegenwart (Aktualität) als disparat zu allen bisherigen Epochen aufgefaßt wird. Die Tathandlung, die aus einer Entscheidung hervor- und mit ihr einhergeht, unterscheidet jede Gegenwart essentiell von allen Vergangenheiten, die nur in der Erinnerung, im Geiste (also lebenswirklich virtuell) bestehen. Aus diesem Reich der erinnerten Wahrheit kann das in der Gegenwart sich bewährende (den Sinn bewahrende) Denken die Momente herausgreifen, aus denen es, sie kommentierend, Anweisung für das Verständnis seines Tuns in der Gegenwart zu gewinnen hofft. Diese Momente der Vergangenheit sind dann "Jetztzeitlich". "Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom." 31 Man könnte einwenden, es sei unzulässig, die Formulierungen des Benjamin von 1918 mit denen des Benjamin von 1940 in ein theoretisches Konzept zu montieren; zwischen ihnen habe sich ein Bruch vollzogen, es seien nicht mehr die Gedanken ein 27 Vgl. Walter Benjamin, Briefe, Bd. I, 145 passim. 28 Ebd., 145 f. (an Scholem). 29 Der Begriff der Lehre unterscheidet sich sehr klar von Theorie, Doktrin, Dogma, Philosophem. Sie ist das, was sie ist, nur im Fluß des Weitergebens, in dem sie sich zugleich wandelt und bleibt, was sie ist. 30 Walter Benjamin, Briefe, Bd. I, 146. 31 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, 701.

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und desselben Benjamin. Ich meine, im Gegenteil, daß der jugendliche messianische Religionsphilosoph von 1918 und der durch Enttäuschungen gegangene kommunistische Geschichtsphilosoph von 1940 in einem ideellen Kontinuum Orte besetzen, die in Konjunktion zueinander stehen, und daß es in der Tat ein und derselbe Benjamin ist, der hier auf zwei Weisen spricht. Die Mitte, zu der sich religionsphilosophische und geschichtsphilosophische Standorte verhalten, liegt in seiner Ideenlehre. Ideen sind für ihn Konstellationen, in denen die Phänomene in einer virtuellen Anordnung verbunden sind und durch deren Konstruktion die Phänomene (die Tatsachen) interpretiert werden. 32 Ideen sind Konstrukte, als welche sich ein besonderer Bedeutungszusammenhang aus dem Kontinuum der Geschichte herauslöst und interpretationsfähig kristallisiert. Sie sind objektiv und nicht beliebige oder willkürliche Fiktionen, weil sie sich auf Phänomene beziehen; aber sie sind nicht real, weil sie in einem subjektiven Akt, der Setzung eines interpretierenden Denkens, als Bedeutungen entstehen, in welchem geistigen Akt sie ihre Identität (und also auch ihren - irdischen - Namen) erhalten. Real wären sie nur als Ideen im Geiste Gottes, als menschliche Ideen haben sie an der Beschränktheit (privatio) des endlichen Seienden und an der Perspektivität (point de vue) eines Standorts teil und sind nur ähnliche Abbilder der Ideen oder Worte Gottes, so wie der Mensch von Gott auch nur in der Form seines Bildes gemäß dem Modus der Ähnlichkeit geschaffen wurde. 33 In allegorischer Sprechweise drückt Benjamin das in einem Brief an Florens Christian Rang aus: "Die Ideen sind die Sterne im Gegensatz zu der Sonne der Offenbarung. Sie scheinen nicht in den Tag der Geschichte, sie wirken nur unsichtbar in ihm [...] Ihre intensive Unendlichkeit kennzeichnet die Ideen als Monaden." 34 Monaden aber sind die Ideen, weil jede Bedeutung und jeder Bedeutungskomplex über sich hinausdeutet auf alles andere. Genau aber das sagt, in modifizierter Formulierung, auch noch der späte Benjamin: "Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als

32 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, 214 f.; vgl. auch Richard Wolin, Walter An Aesthetic of Redemption, 2. Aufl., Berkeley/Los Angeles/London 1994, insbes. 9 0 ff.

Benjamin.

33 Gen. I, 26. Ich kann Bild und Ähnlichkeit nicht als Hendiadyoin deuten und auch die Präpositionen nicht bedeutungsgleich setzen. Zwar scheint der Gebrauch der Präpositionen b e und kE (die in griechischer und lateinischer Übersetzung synonym mit kata und ad [secundum] wiedergegeben werden) ihre Auswechselbarkeit anzuzeigen; doch abgesehen vom unterschiedlichen Alter der vergleichbaren Stellen in der Genesis muß dieser äquivalente Gebrauch an verschiedenen Stellen noch keinen Beweis dafür abgeben, daß sie an derselben Stelle nebeneinander gebraucht keine Bedeutungsdifferenz hätten. Die Formel b'salmenü kid'mütenü - griechisch (Septuaginta) kat'eiköna hemeteran kai homoiösin, lateinisch (Vulgata) ad imaginem et similitudinem nostram - legt vielmehr durchaus eine Bedeutungsdifferenz der Präpositionen nahe: in der Weise, in der Form eines Bildes von uns (von welchem Bilde dann gesagt wird, es sei gemacht) gemäß, entsprechend dem Modus der Ähnlichkeit (denn natürlich kann ein Bild auch bloß zeichenhaft und unähnlich sein, wie uns gerade archaische Bildkunst zeigt). Luther hat das wohl gespürt und spitzfindig offen gelassen, als er formulierte: "ein Bild, das uns gleich sei" und damit die Formel appositiv stellte zu dem Vordersatz "Lasset uns Menschen machen". Buber: "Machen wir Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis" hält zwar die Bedeutungsdifferenz sprachlich fest, aber erhellt sie nicht begrifflich. 34 Walter Benjamin, Briefe, Bd. I, 323 (an Rang 1923). "Sterne" deutet auf den Vergleich aus dem Trauerspiel-Buch hin: "Ideen verhalten sich zu den Dingen wie Sternbilder zu den Sternen." (Gesammelte Schriften, Bd. I, 214)

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Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt." 35 Die Präzision der Konstruktion (vor dem Hintergrund des Sinns, der rein als göttlicher immer verborgen bleibt) macht den treffenden Gehalt der Aktualisierung aus. Dann muß das vergangene Ereignis aus seinem einstigen Zusammenhang herausgelöst, ein Bruch mit der historischen Zeitfolge vollzogen und die Interferenz einer sich gegenwärtig konstituierenden Bedeutung mit einer aus der erinnerten Vergangenheit herübergeholten hergestellt werden. "Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild [...] Demnach ist der in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand selber das dialektische Bild. Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand; es rechtfertigt seine Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs." 36 Das Interesse erzeugt die Diskontinuität der den Zeitlauf überspringenden Selektionen. "Man sagt, daß die dialektische Methode darum geht, der jeweiligen konkret-geschichtlichen Situation ihres Gegenstandes gerecht zu werden. Aber das genügt nicht. Denn ebensosehr geht es ihr darum, der konkret-geschichtlichen Situation des Interesses für ihren Gegenstand gerecht zu werden." 37 Methodologisch bedeutet das eine Inversion gegenüber dem Geschichtsverständnis des Historismus: "Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist, sie in unserem Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen [...] Nicht wir versetzen uns in sie, sie treten in unser Leben." 38 Diese Vergegenwärtigung aber, die Benjamin im TrauerspielBuch dem "Reigen der dargestellten Ideen"39 zuschreibt, vollzieht sich für ihn im Passagen-Werk im "Aufblitzen des dialektischen Bildes": "Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. [...] Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit." 40 Idee als Konstellation, dialektisches Bild als Konstellation - die Übereinstimmung ist eindeutig. In der Konstellation der Idee, die den messianischen Augenblick als Erfüllung der Universalgeschichte vorstellt, 41 kann Benjamin den religionsphilosophischen Kabba-

35 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, 702 f. 36 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V, 595. 37 Ebd., 494. 38 Ebd., 273. 39 Ebd., Bd. I, 209. 40 Ebd., Bd. V, 576 f. u. 578. 41 Ebd., Bd. I, 703: "Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheueren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit der Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum ausmacht." Und ebd., Bd. V, 608: "Der echte Begriff der Universalgeschichte ist ein messianischer."

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lismus und den geschichtsphilosophischen Kommunismus aufeinander projizieren wechselseitig den einen als Ausdruck des anderen. 42 Diese Denkmöglichkeit ergab sich für Benjamin, weil er das Kontinuum der im ganzen verborgenen Lehre, der "wahren Lehre" (welche er auch als Kommunist nicht preiszugeben bereit war), in den Brüchen zwischen den Lehrgehalten historisch realisiert sah. Eine Lehre, die immer nur im Weitergeben sich bewährt, hat die Form von sich iterierenden Kommentaren, jeder Kommentar ist eine neue Interpretation von bereits kommentierten und nur als kommentiert sich erhaltenden Gedanken. Der originale Text unterliegt wie in einem Palimpsest unlesbar den über ihn geschriebenen Versionen. Jede neue Interpretation kann mit einer früheren brechen (ebenso wie sie sie weiterführen kann); aber der Bruch geschieht unter der Voraussetzung der Identität des Gemeinten und damit in einem Kontinuum des sich unter verschiedenen Perspektiven zeigenden Sinns. Seit der Entdeckung der Geschichtlichkeit des Denkens können diese Brüche als Perspektivenwechsel im Epochenwandel begriffen werden und bezogen werden auf die im Geiste Gottes garantierte Einheit der in zersplitterter Gestalt sich darstellenden Menschheitsgeschichte. Dieses Verhältnis der Zerfällung der Lehre in Lehren zu der sich erhaltenden wahren Lehre stellt sich als das Sinnproblem der Geschichte und ist selbst nicht historisch, sondern nur geschichtsphilosophisch (und das heißt ebenso: religionsphilosophisch) in den Blick zu bringen. Diese Einheit von Religions- und Geschichtsphilosophie artikuliert schon der junge Benjamin: "In der Geschichtsphilosophie wird die spezifische Verwandtschaft einer Philosophie mit der wahren Lehre am klarsten hervortreten müssen; denn hier wird das Thema des historischen Werdens der Erkenntnis das die Lehre zur Auflösung bringt, auftreten müssen. "43 Bezogen auf den Horizont des Kontinuums der Lehre, hält sich Benjamins Exposition des Verhältnisses von Kontinuität und Bruch im Felde des rabbinischen Verständnisses vom Wesen des Wissens. Kein anderer als Benjamins Freund Gershom Scholem hat diese Grundstruktur rabbinischer Gelehrsamkeit - eines Lehrens aus dem Lernen heraus - mit äußerster Klarheit herausgearbeitet: "Die Anstrengung des Wahrheit Suchenden besteht nicht darin, sich etwas auszudenken, sondern vielmehr darin, sich in die Kontinuität der Tradition einzuschalten und das, was ihm von dorther zukommt, in seiner Beziehung auf sein Zeitalter zu entfalten. [ . . . ] Mit anderen Worten: nicht das System, sondern der Kommentar ist die legitime Form, unter der die Wahrheit entwickelt werden kann. [ . . . ] So wurde der Kommentar die charakteristische Ausdrucksform des jüdischen Denkens über die Wahrheit, dessen, was man rabbinischen Genius nennen könnte." 44

42 Es ist wohl ein im strengen Sinne tragisches Mißverständnis zwischen Freunden, daß Scholem aus vordergründig politischen Motiven diese ideelle Konstellation in Benjamins Denken nicht begreifen konnte; obwohl Scholem gewiß Recht hatte, wenn er meinte, daß Benjamins Konstruktion rational nicht durchführbar sei und nur quasi mystisch erfahren werden könne (was den Mystiker in Scholem allerdings nicht hätte stören dürfen). 43 Walter Benjamin, Briefe,

Bd. I, 151 f. (an Scholem 1917).

4 4 Gershom Scholem, "Offenbarung und Tradition", 101.

Kontinuität und Bruch im Denken Walter Benjamins

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Der Kommentar aber hat die paradoxe Form, die Kontinuität des zu Bewahrenden unter dem Anspruch des Bewahrens aufzubrechen und Neues, Anderes in sie einzulassen. "Die Entfaltung der in der Offenbarung gegebenen oder mitgegebenen Wahrheiten, Aussagen und Sachverhalte wird das Anliegen der mündlichen Tora, die damit einen neuen Typus des religiösen Menschen herausstellt, der in der Religionsgeschichte nicht ohne Grund ebensoviel Bewunderung wie Ablehnung und Hohn hervorgerufen hat. Der Schriftgelehrte ist es, der die Offenbarung nicht mehr als etwas Einmaliges, fest Umrissenes, sondern als etwas unendlich Fruchtbares ergreift, das aufgegraben und umgegraben werden will: 'Wende sie um und um, dann ist alles in ihr.' S o ist die Leistung der Schriftgelehrten in der Aufstellung einer Tradition, die doch in der Tora selber gründet und aus ihr hervorwächst, ein Musterfall der Spontaneität in der Rezeptivität. "45

Dieses kommentierende Verhalten ist sowohl gegenüber Texten wie gegenüber der Natur und der Geschichte möglich. Benjamin spricht vom "Kommentar zur Wirklichkeit" im Unterschied zum "Kommentar zu einem Text". 46 Die Wirklichkeit, die Phänomene, die Welt sind wie ein Buch zu lesen und zu interpretieren, eben weil ihr wahres Sein das Aussprechen des Wortes Gottes ist.47 Die Möglichkeit der Allegorie - der Kollokation des Disparaten - gründet darin, daß die Sprachlichkeit die universelle Verfassung alles Seienden ist; so kann jede Sprache in eine andere übersetzt werden, die der Dinge, der Ereignisse, der Menschen. Die Brüche zwischen den Sprachen verlaufen quer durch das Kontinuum der Bedeutungen. Kontinuität des erst messianisch sich erfüllenden Sinns ist der metaphysische Urgrund von Benjamins Weltverständnis. Aber diese Kontinuität ist zerbrochen (obschon nicht zerstört) durch die privative Weise der Existenz, die allein allem Seienden zukommt und es in die Begrenztheit und Unvollkommenheit bannt. Einzig in der Sprache, die das geistige Wesen der Dinge ist, übersteigt der Mensch diese Grenzen und betritt die Brücke zur Wahrheit. Aber erst die in jeder Sekunde zu erwartende (aber ungewisse) Öffnung der kleinen Pforte, "durch die der Messias eintreten könnte", 48 würde die restitutio in integrum bedeuten. Benjamins Geschichtsbild ist erfüllt von Utopie, darin den Mystikern der Kabbala verbunden. 49 Worin die Menschen sich dem Ereignis bereit halten können, ist das Eingedenken der Vorzeichen, die in der Geschichte erschienen sind.50 45 Gershom Scholem, "Offenbarung und Tradition", 96 f. 46 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V, 574. Und auch noch in diesem späten Stadium der Passagen-Entwürfe sagt er, der Kommentar zu einer Wirklichkeit erfordere Theologie! 47 Zur Metapher von der Welt als Buch als einer Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981. Dort kommt Benjamin allerdings trotz (oder vielleicht wegen) der Nähe zu Blumenbergs Intention nicht vor (außer in einer marginalen Bemerkung zu Valéry). Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V, 580: "Die Rede vom Buch der Natur weist darauf hin, daß man das Wirkliche wie einen Text lesen kann." Das ist die gleiche Konzeption wie in dem ganz frühen Aufsatz über die Sprache, den wir oben zitierten. 48 Walter Benjamin, Gesammelte

Schriften,

Bd. I, 704.

4 9 Vgl. Gershom Scholem, "Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum", in Über Grundbegriffe des Judentums, 121 ff. 5 0 Dieser Aufsatz soll Gershom Scholem in dankbarer Erinnerung gewidmet sein.

einige

Ingeborg Nordmann

Hannah Arendt Tradition als Bruchstück

"Verlorengegangen ist die Kontinuität der Vergangenheit, wie sie von einer Generation auf die andere überzugehen schien. [ . . . ] Man hat dann immer noch die Vergangenheit, aber eine zerstückelte Vergangenheit, die ihre Bewertungsgewißheit verloren hat." Hannah Arendt

Im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus hatte Hannah Arendt begonnen, die theoretischen Bedingungen zu präzisieren, die es Geschichtswissenschaft und Philosophie, die sich ans "Geländer" der Tradition hielten, erschwerten bzw. unmöglich machten, das spezifisch Neue des Traditionsbruchs zu begreifen, der durch die totale Herrschaft manifest geworden war. Dies geschah auf zwei Ebenen: durch eine Beschäftigung mit den verschiedenen Begriffen von Geschichte und Politik von den Griechen bis zu Kant und Hegel, um genauer verstehen zu können, "warum die Tradition schweigt, wenn wir unsere Fragen stellen"; zum anderen durch eine weitere Klärung des totalitären Phänomens des Bösen, das mit dem Begriff des "radikal Bösen" in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft nur vorläufig bezeichnet werden konnte. Der Begriff der Tradition, wie er die politische Kultur des Abendlandes geprägt hat und in der strukturellen Verflechtung von Tradition, Autorität und Religion zum Ausdruck kommt, ist nach Hannah Arendt römischen Ursprungs. Im Zentrum der römischen Politik und Kultur steht der heilige Gründungsakt der Stadt Rom, der für alle Generationen bindend ist. Religion bedeutet in diesem Zusammenhang "wirklich re-ligare, Zurückgebunden- und Verpflichtetsein der ungeheuren, nahezu übermenschlichen und daher immer schon legendären Anstrengung, die Grundlagen zu schaffen, die Fundamente zu legen, für alle Ewigkeit zu gründen". Autorität ist nicht identisch mit Macht oder Weisheit, sondern hat die Aufgabe, die Gründung zu vermehren, "jede Handlung und jede Entscheidung an diesen geheiligten Anfang zurückzubinden, um jedem einzelnen Augenblick gleichsam das ganze Gewicht der Vergangenheit hinzuzufügen". 1 Das Wort "zurückbinden" ist in einem materiellen Sinne wörtlich zu nehmen. In ihm kommt das 1

Hannah Arendt, "Was ist Autorität?", in Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1957, 152/5 (wiederabgedr. in Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1994, 159 ff.).

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Besondere des römischen Traditionsbegriffs zum Ausdruck. Der griechische und jüdische Traditionsbegriff zeichnet sich durch seine Beweglichkeit aus. Er ist ortsunabhängig. Wo immer Griechen zusammenkamen, konnte im Prinzip die Polis gegründet werden. Der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk erfährt im jüdischen Ritual seine überall mögliche Vergegenwärtigung. Im römischen Verständnis bleibt das die Tradition begründende Ereignis unverrückbar an den Ort des Ursprungs gebunden. Die Entwicklung erstreckt sich nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit: "Als ob die Pyramidenspitze hier nicht in die Höhe eines sich über der Erde erstreckenden Himmels ragt (wie bei Plato) und nicht in ein transzendentes Jenseits der Welt hinaufreicht (wie im Christentum), sondern gleichsam auf dem Kopf stünde und in die Tiefe einer irdischmenschlichen Vergangenheit hinunterreiche."2 Nach dem Untergang des römischen Reiches wird der Faden der Tradition durch die christliche Kirche neu geknüpft. Ihre politische Leistung sieht Hannah Arendt darin, den römischen Traditionsbegriff entgegen den antipolitischen und antiinstitutionellen Tendenzen im Christentum restabilisiert zu haben, indem sie Geburt und Auferstehung Christi als ein durch die Apostel geschichtlich bezeugtes Ereignis interpretierte und zum Eckstein einer neuen Gründung machte, die den Mitgliedern der christlichen Gemeinschaft das Bewußtsein eines Bürgertums vermittelte. Die von einer christlichen in eine römische transformierte Kirche beerbte die römische Trinität von Religion, Autorität und Tradition und institutionalisierte damit auch jene Dauerhaftigkeit, die das römische Imperium vor allen anderen Imperien der Antike ausgezeichnet hatte. Um die dem römischen Gründungsgedanken widersprechenden Elemente der christlichen Lehre, nämlich die "geoffenbarten Gebote und Wahrheiten einer wahrhaft transzendenten" Autorität einbeziehen zu können, wurde der römische Gründungsgedanke mit Begriffen der griechischen Philosophie amalgamiert, und zwar in einer Weise, die das unerreichbar Transzendente in transzendierende Maßstäbe verwandelte. In dieser Amalgamierung gewann der römische Gründungsgedanke neue Bedeutung, allerdings auf eine Weise, die den ursprünglichen Gehalt des Gründungsgedankens, das Zurückbinden an den Anfang, überlagerte und schließlich verdrängte. Für Hannah Arendt zeigen sich Symptome dieser Verkehrung in den Rebellionen der Neuzeit gegen die Autorität der katholischen Kirche, denen das Bewußtsein der strukturellen Zusammengehörigkeit der Trinität von Tradition, Autorität und Religion verlorengegangen war. Es war der Irrtum Luthers zu meinen, "daß seine Herausforderung der weltlichen Autorität der Kirche Tradition und Religion intakt lassen könnte; wie es der Irrtum von Hobbes und der politischen Theorien des siebzehnten Jahrhunderts war, zu hoffen, daß man Autorität und Religion ohne Tradition intakt belassen und sogar neu begründen könnte; wie es schließlich der Irrtum der Humanisten war, zu denken, man könne innerhalb einer ungebrochenen Tradition der abendländischen Zivilisation bleiben ohne Religion und ohne Autorität." 3

Die ambivalente Verschränkung von Geltung und Verkehrung der Tradition erfuhr eine entscheidende Veränderung im Revolutionsbegriff der Moderne, der das Interesse an der Vergangenheit auf die Zukunft verschob. Die französische Revolution, die den Geist der 2

Hannah Arendt, "Was ist Autorität?", 156.

3

Ebd., 161.

Hannah Arendt

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römischen Gründung wiederbeleben wollte, brach mit seinem wesentlichen Interesse an der Unvergänglichkeit des Ursprungs, die dem Ereignis der Gründung für immer einen Platz im Gedächtnisraum gesichert hatte. An der Differenz zwischen antikem Geschichtsverständnis und modernem Geschichtsbegriff macht Hannah Arendt deutlich, daß hier eine Tradition an ihr Ende gekommen ist. Die antike Geschichtsschreibung - und darin konvergieren die griechische und die römische - , ging davon aus, daß jedes Ereignis in dem Zusammenhang gesehen werden mußte, der von ihm selbst geschaffen wurde. Dem Zusammenhang selbst kam kein vorgängiges Dasein zu, durch das das Ereignis erst seine Bedeutung erhielt. Geschichtlich wurde das Ereignis durch Sprache und Schrift. Sie verliehen ihm Dauer und Unvergänglichkeit und versammelten es im Gedächtnisraum. Das moderne Geschichtsdenken dagegen ist wesentlich ein Prozeßdenken, das die Ereignisse zu bloßen Funktionen und Ausprägungen eines unsichtbaren, aber sie determinierenden Vorgangs macht. Die Transformation der Geschichte in Geschehen läßt sich zwar auch in den jüdischen und christlichen Zeitvorstellungen nachweisen, soweit sie der Vorstellung eines göttlichen Heilsplans folgen. Aber der dem modernen Prozeßdenken zugrundeliegende Zeitbegriff ist davon grundlegend verschieden: "In prinzipiellem Gegensatz zu all diesen Zeitrechnungen steht unsere eigene, die erst Ende des achtzehnten Jahrhunderts eingeführt wurde und in der Christi Geburt als ein Wendepunkt gefaßt ist, von dem her man Zeit nach rückwärts wie nach vorwärts gleichermaßen berechnen kann. [...] Diese zwiefältige unendliche Erstreckung in die Vergangenheit und die Zukunft macht alle Vorstellungen von Anfang und Ende unmöglich."4

Unvergänglichkeit wird nun einem Prozeß anvertraut, das heißt einem sich in ständiger Veränderung befindlichen Bereich, der sich unabhängig von den Geschichten der einzelnen Ereignisse, Städte oder Nationen entwickelt. Sein eigentliche Terrain ist die "Menschheit als Ganzes, deren Geschichte Hegel dann als eine ununterbrochene, kontinuierliche Entwicklungsgeschichte des Weltgeistes deuten konnte". 5 Die Vorstellung von Geschichte als Prozeß und des Gründens als Ziel der Politik, das folglich nicht mehr im Sinne von Handeln, sondern von Herstellen verstanden wurde, steht im Kontext vielfältiger Veränderungen, die das Denken der Neuzeit konstituieren. Zu ihnen zählt Hannah Arendt Descartes' De omnibus est dubitandum und die Entstehung einer neuen Wissenschaft, welche die Erde vom Gesichtspunkt des Universums aus betrachtet, die Vernichtung der Ferne durch die Geschwindigkeit, die Absetzung des Übersinnlichen, der das Mißtrauen in die Wahrheitsfähigkeit der Sinne auf dem Fuße folgte, die Umkehrung der traditionellen Hierarchie von Kontemplation und Praxis. Sie alle signalisieren, daß Tradition, wie sie mit der Gründung der Stadt Rom ihren Anfang nahm, ihre bindende Kraft verloren hat. Die Verherrlichung der Tradition durch die Romantiker, die verschiedenen Rebellionen gegen die Tradition, die noch mit den Kategorien und Vorstellungen der Tradition durchgeführt wurden, so bei Nietzsche,

4

Hannah Arendt, "Geschichte und Politik in der Neuzeit", in Fragwürdige Traditionsbestände schen Denken der Gegenwart, 88 f.

5

Ebd., 99.

im politi-

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Kierkegaard oder Marx, und ihre alltägliche Weiterexistenz in den kulturellen Institutionen und Wertvorstellungen sind einerseits Ausdruck der weiterexistierenden Kraft der Tradition, während sie andererseits die Brüchigkeit des ganzen Gebäudes verdecken und es zugleich vor seinem Einsturz bewahren. Erst die totale Herrschaft hat den Traditionsbruch zu einer nackten Tatsache gemacht, indem sie alle sozialen und kulturellen Zusammenhänge zerstörte, die dem zwischenmenschlichen Bereich Verläßlichkeit vermittelt hatten, und alle Werte zu Funktionen wechselnder Herrschaftsbedürfnisse instrumentalisierte. Der Bruch der Tradition zeigt sich für Hannah Arendt aber auch in der Unangemessenheit der Kategorien, mit denen Philosophie, politische Theorie und Geschichtswissenschaft das Phänomen totaler Herrschaft zu deuten und zu erklären versuchen. Erscheinungen des Bösen in der Vergangenheit wie Tyrannei, Machtgier etc. werden auf den Totalitarismus projiziert, durch die Entsubstantialisierung der Phänomene zu Funktionen wird Ideologie mit Religion, der totalitäre Terror mit Tyrannei, Antisemitismus mit Rassismus gleichgesetzt. Die Methode der Analogisierung, die weder die Differenz des Ereignisses noch die "wahrheitsenthüllende Eigenschaft der Sprache" ernst nimmt, verfehlt das spezifisch Neue totaler Herrschaft: "The 'phenomenal differences', far from 'obscuring' some essential sameness, are those phenomena which make totalitarianism 'totalitarian', which distinguish this one form of government and movement from all others and therefore can alone help us in finding its essence. What is unprecedented in totalitarianism is not primarily its ideological content, but the event of totalitarian domination itself. This can be seen clearly if we have to admit that the deeds of its considered policies have exploded our traditional categories of political thought (totalitarian domination is unlike all forms of tyranny and despotism we know of) and the standards of our moral judgment (totalitarian crimes are very inadequately described as 'murder' and totalitarian criminals can hardly be punished as 'murderers'). [...] My chief quarrel with the present state of the historical and political sciences is their growing incapacity for making distinctions. Terms like nationalism, imperialism, totalitarianism, etc. are used indiscriminately for all kinds of political phenomena (usually just as 'highbrow' words for aggression) and none of them is any longer understood with its particular historical background. The result is a generalization in which the words themselves lose all meaning. [...] This kind of confusion - where everything distinct disappears and everything that is new and shocking is (not explained but) explained away either through drawing some analogies or reducing it to a previously known chain of causes and influences - seems to me to be the hallmark of the modern historical and political sciences." 6

Was macht nun das schockartig Neue totaler Herrschaft aus, das den Traditionsbruch zu einer unumkehrbaren Tatsache werden läßt, und wie gelingt es Hannah Arendt, diesen Einschnitt zu verdeutlichen. Die Besonderheit ihres methodischen Vorgehens läßt sich von folgendem Satz leiten: "It [the Totalitarianism] did not exist before it had not come into being." Dieser Satz richtet sich sowohl gegen falsche Analogien als auch gegen die verabsolutierte Suche nach Ursachen, welche die Tatsachen ihrer Substanz berauben und "die Brutalität der Dinge, so wie sie sind, vergessen" lassen. Hannah Arendt ist nicht der Auffassung, es gäbe einen direkten Weg zur Wirklichkeit. Dem Historiker geht es um eine wahrheitsgemäße Erfassung seines Gegenstandes, aber er 6

Hannah Arendt, "The Origins of Totalitarianism. A Reply", The Review of Politics, Nr.l (1953), 80 u. 82 f.

Hannah Arendt

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nähert sich diesem Ziel über die Konstruktion, welche die Differenz zwischen Wirklichkeit und Theorie gegenwärtig hält. Die Konstruktion jedoch, die Hannah Arendt wählt, entstammt nicht dem Repertoire der Geschichtswissenschaft, sondern der Dichtung, indem sie einen Zusammenhang herstellt, der losgelöst von seiner Entstehungsgeschichte in seiner existierenden Faktizität gezeigt wird. Dieser Zusammenhang konstituiert sich nicht auf der theoretischen Ebene einer Systemanalyse, für die die Dialektik zwischen Wesen und Erscheinung bestimmend bleibt. Hannah Arendt arbeitet mit konkreten Phänomenen. Worte und Begriffe treten auf, welche die Unmittelbarkeit, Dichte und Vielfalt von Erfahrungen repräsentieren. An diesem Punkt stellt sie eine unmittelbare Entsprechung zur Darstellungsweise Kafkas her. Es handelt sich hier um eine ihrer überraschenden Grenzüberschreitungen zwischen Theorie und Literatur. Kafkas "Kargheit" eignet deshalb eine so gespenstische Realitätsnähe, weil er alle psychologischen und sozialen Prozesse, die zu dem beschriebenen Zustand geführt haben und ihn erklären könnten, ausgeblendet hat: "Kafka stellt uns sofort vor das Ergebnis einer solchen Entwicklung, denn nur das Ergebnis gilt. Umfassende Tüchtigkeit ist der Motor der Maschine, in der sich Kafkas Helden verfangen, einer Maschine, die in sich selber sinnlos und zerstörerisch ist, die aber reibungslos arbeitet. "7

Kafka erfindet eine völlig neue Komplexität, weil er das Muster psychologischer und soziologischer Zuordnungen und die ihnen entsprechenden Kategorien verwirft. In der Welt, die er beschreibt, herrscht die Notwendigkeit uneingeschränkt, und nur indem Kafka diese Uneingeschränktheit inszeniert, gelingt ihm der Aufriß einer Welt der schrecklichen Verkehrung, in der alles normal funktioniert. In dieser Welt tauchen alle Werte, Maßstäbe und Metaphern unserer gewohnten Ordnung auf, nur haben sie keinen festen Platz und keine feste Bedeutung mehr. Sie funktionieren als austauschbare Wechselmarken. Vertraute Einteilungen und Grenzen wie privat und öffentlich, Täter und Opfer, Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht haben jede Beziehung zu einem strukturierten gesellschaftlichen Zusammenhang verloren, sie sind unabhängig von Erfahrung und Realität geworden. Das hellsichtige Gedankenexperiment macht Kafka jedoch nicht zum Visionär. Für Hannah Arendt ist er der beste Entdecker und Konstrukteur vielfältiger Kombinationen, Verdichtungen und Auffaltungen von Bildern und Gedankenbruchstücken. Seine Erfindungsgabe entzündet sich nicht an der Konstruktion von Zusammenhängen, sondern an deren Zerstörung. Kafka entwickelt eine ungewöhnliche Phantasie für die Momente, an denen Brüche zu setzen sind, und für die Montage von Dingen, die eigentlich nicht zusammengehören. Ebenso bricht Hannah Arendt mit allen Erklärungen, deren Angelpunkt die Vermittlung ist. Hierzu zählt sie alle geistesgeschichtlichen und historistischen Methoden in der Tradition Hegels, aber auch Soziologie und Psychologie. Ihre Analyse beschäftigt sich nicht mit dem Nachweis von Kontinuitäten, sondern mit der Auseinanderfaltung und Differenzierung von Phänomenen. Die Komplexität der Realität fordert dazu heraus, vereinheitlichende Diskurse aufzugeben und zu einer Darstellung zu kommen, welche 7

Hannah Arendt, "Franz Kafka, von neuem gewürdigt", Die Wandlung, 1057.

1. Jg., Heft 12 (1945/46),

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die Möglichkeiten erweitert, Disparatheiten, Kontingenzen und aporetische Konstellationen aufzunehmen. Nicht immer bringt eine derartige Grenzüberschreitung eine neue eigene Strenge hervor. Durch die Infragestellung diskursiver Ordnungen droht die Erkenntnis, daß Geschichte weder nach Gesetzen verläuft noch in der Utopie ein befreiendes Ende findet, ins Bodenlose zu sinken. Hannah Arendts Übertragung des Kafkaschen Denkexperiments in den Kontext der Geschichtsschreibung ist somit mit dem Risiko des Scheiterns behaftet, und die zahlreichen kontroversen Rezeptionen ihrer Darstellungsmethode sind ein deutliches Zeichen dafür. Dennoch ist unbestritten, daß sie ihr Ziel, die mit der historischen Darstellung einhergehende Bewahrung und Rechtfertigung zu durchkreuzen, erreicht hat. Das betrifft nicht nur die Dinge, Werte und Vorstellungen, welche das überlieferte Gemeinsame der menschlichen Welt ausmachen, sondern auch die Essenz der Kategorien: "Die Todesstrafe wird absurd, wenn man es nicht mit Mördern zu tun hat, die wissen, was Mord ist, sondern mit Bevölkerungspolitikern, die den Millionenmord so organisieren, daß alle Beteiligten subjektiv unschuldig sind: die Ermordeten, weil sie sich nicht gegen das Regime vergangen haben, und die Mörder, weil sie keineswegs aus 'mörderischen' Motiven handelten. [ . . . ] Es ist Aufgabe der historisch-politischen Wissenschaften, diesen Ereignissen nachzugehen und festzustellen, mit welchen Mitteln und in welchem Funktionszusammenhang sie ins Werk gesetzt wurden. Dabei ist wichtig, sich darüber klar zu werden, daß es sich nicht darum handeln kann, das spezifisch Unerhörte durch beliebige Parallelen mit der Vergangenheit wegzuerklären oder auf jenen Aspekten totalitärer Herrschaft, die sie mit anderen Gewaltherrschaften teilt und die in ihren Anfangsstadien deutlich in Erscheinung treten, zu bestehen; sondern im Gegenteil zu versuchen, das wesentlich Neue, das nämlich, was diese Herrschaft wirklich zu einer totalen Beherrschung macht, in den Blick zu bekommen." 8

Um den Stellenwert von Hannah Arendts Konstruktion zu erfassen, muß man sich bewußt sein, daß nicht die Ideologie des Nationalsozialismus das Material ihrer Darstellung bildet, sondern die tatsächliche Organisation und Funktionsweise totaler Herrschaft in ihrer uneingeschränkten Form: die Konzentrations- und Vernichtungslager. In den Vernichtungslagern, die gegen die Welt aller anderen hermetisch abgedichtet waren, wurden alle Hindernisse beseitigt, die dem reibungslosen Funktionieren totaler Herrschaft entgegenstehen konnten. Indem Hannah Arendt diese Uneingeschränktheit in den Blick nimmt, kann sie das Spezifische des Traditionsbruchs hervortreten lassen. Der Bruch besteht nicht darin, daß Gesetze und moralische Werte willkürlich außer Kraft gesetzt, sondern daß sie in eine unaufhaltsame Bewegung hineingezogen werden, in der sie jede feste Bedeutung verlieren und als Wechselmarken eines "gigantisch übermenschlichen Prozesses von Natur und Geschichte" funktionieren. Was den totalitären "Mahlstrom" von anderen tiefgreifenden Krisen und extremen Grausamkeiten in der abendländischen Geschichte unterscheidet, ist die prinzipielle Eliminierung jeder Schranke und Grenze. Die entscheidende Differenz totalitärer Herrschaft besteht nicht in dem "Alles ist erlaubt", sondern in dem "Alles ist möglich". Daß damit Tradition im Sinne eines verbindlichen Rahmens, der sich sowohl in der Anerkennung als auch in der Kritik

8

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Berlin/Wien 1975, 238 f.

Bd. 3: Totale Herrschaft,

Frankfurt a . M . /

Hannah Arendt

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durchhält und erneuert, gegenstandslos wird, konkretisiert Hannah Arendt am Begriff des Gesetzes. Totalitäre Herrschaft ist gesetzlos, da sie jedes positive Recht verletzt, gleichgültig ob es sich dabei um überkommene oder selbstgeschaffene handelt. Diese Willkür, die in der Negation auf das positive Recht bezogen bleibt, ist aber noch nicht das Entscheidende. Denn hinter dieser Willkür steht der totalitäre Anspruch auf eine höhere "Gesetzestreue", die zu den Quellen der Autorität zurückzukehren behauptet, und die unabhängig vom Handeln der Menschen existiert: "In der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht spricht sich eine unmenschliche Gesetzestreue aus, für welche Menschen nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur und Geschichte vollzogen und das heißt hier im furchtbarsten Sinne des Wortes exekutiert werden."9

Das schockartig Neue des Totalitarismus, das eine einfache Rückkehr zur Tradition unmöglich macht, besteht darin, daß die Zerstörung nicht an den Rändern, sondern im Innern der Zivilisation selbst, mit ihren Mitteln und Kategorien durchgeführt wurde. Die Werte und Vorstellungen der Tradition boten nicht nur keine Orientierung mehr, wie dem Totalitarismus zu widerstehen ist, sondern sie waren selbst in die Zerstörung involviert. Es stellte für Hannah Arendt eine große Schwierigkeit dar, diese Erkenntnis begrifflich zu fassen. Das zeigen die vielen metaphorischen Umschreibungen des Phänomens. Die präziseste und zugleich mißverständlichste Bezeichnung ist die Formulierung der "Banalität des Bösen". Sie zeigt an, daß Klarheit und Realitätshaftigkeit in der Beurteilung des totalitären Phänomens am ehesten durch die paradoxe Konstruktion erreicht wird. Das Paradoxe dieser Bezeichnung liegt darin, daß alle traditionellen Bedeutungen des Bösen außer Kraft gesetzt werden, ohne daß die Verbindung von Banalität und Bösem eine neue identische Definition bietet. In die "Banalität des Bösen" ist der Bruch mit der Tradition und die zerstörerische Konsequenz, in die der Ausweg aus der Krise mündete, eingezeichnet. Nämlich, daß das Böse mit der Normalität gesellschaftlichen Funktionierens so legiert ist, daß ihre Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster keine Möglichkeiten des Widerstandes mehr eröffneten. Auch wenn Hannah Arendt hieraus schlußfolgert, daß die Tradition keinen Leitfaden mehr zur Verfügung stellen kann, so ist sie dennoch nicht absolut verloren: Tradition wird gerettet als Bruchstück. Die Arbeit der Destruktion der Tradition ist ganz im Sinne von Benjamin rettende Kritik. Tradierbarkeit wird bewahrt, indem an die Stelle der Tradition das aus dem Zusammenhang gebrochene Fundstück tritt, an die Stelle der Autorität die "gespenstische Kraft, sich stückweise in der Gegenwart anzusiedeln".10 Die Tradition ordnet das Vergangene nach einem System. Sie muß alles ausschließen, was sich ihm nicht einfügt. Der Traditionsbruch eröffnet die Chance, "die Vergangenheit mit neuen Augen [zu] sehen und damit an einen ungeheuren Schatz unbearbeiteter Erfahrungen heranzukommen". 11 Wie ein solcher Dialog mit den Elementen einer ver9

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Bd. 3, 240.

10 Hannah Arendt, "Walter Benjamin", in Benjamin, Brecht. Zwei Essays, München 1971, 49 (wiederabgedr. in Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1989, 185 ff.). 11 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken, München/Zürich 1979, 22.

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borgenen und ausgeschlossenen Kultur begonnen werden kann, ohne wiederum der Autoritätsgläubigkeit zu verfallen, umschreibt Hannah Arendt mit einer talmudischen Geschichte: "Sie kennen wahrscheinlich die talmudische Geschichte von den 36 Gerechten, um derentwillen Gott die Welt nicht zerstört. Niemand weiß, wer sie sind, am wenigsten sie selbst. Jede Form der Selbsterkenntnis ist hier absolut verheerend. Wenn Sie also versuchen nachzudenken, denken Sie nicht über sich selbst nach, 'vertraue nicht dem Erzähler, sondern der Geschichte'." 12 Im Unterschied zu Benjamin ergreift Hannah Arendt diese Aufgabe ohne Melancholie und messianische Implikationen. Für Benjamin ist das, was von Vergangenheit und Tradition bleibt, verkörpert in der Ruine. Sie stellt Vergeblichkeit und Rettung vor dem Vergessen zugleich dar. Angesichts dieses paradoxen Stillstands bewirkt der Messianismus als unvordenklicher Einbruch, daß Handeln überhaupt noch vorstellbar ist. Im Gegensatz zum christlichen Heilsgeschehen, das die Wiederkunft Gottes mit dem geschichtlichen Fortschritt verbindet und Geschichte zu einem teleologischen Prozeß objektiviert, der sich über den Köpfen der Individuen vollzieht, ist Benjamins Messianismus offen und auf das Handeln und Nachdenken des Einzelnen angewiesen. Hannah Arendt knüpft an Benjamins Gedanken der messianischen "Jetztzeit" an, die unvermutet einbricht, und distanziert sich zugleich von seinen apokalyptischen Tendenzen. Das Bild, das sie wählt, um den Bruchstückcharakter der Tradition zu bezeichnen, ist das Kristall. Anders als die Ruine Benjamins akzentuiert das Kristall nicht das widerstreitende Zusammen von Vergänglichkeit und Hoffnung, sondern das, was der Vergänglichkeit widerstanden hat. Seine genau geschliffene Facettierung appelliert an das Urteilsvermögen, das - wie Hannah Arendt aus ihrer Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft extrapoliert - das konkrete Einzelne zu erfassen vermag, ohne es unter ein Allgemeines zu subsumieren. Hierin zeigt sich auch eine andere Auffassung von Bruch und Kontinuität. Das Ereignis ist unverfügbar, aber zugleich richtet sich Hannah Arendts Interesse auf die Elemente in der Geschichte, die dem menschlichen Zusammenleben Dauer verleihen können. Keine negative Theologie also, das Dasein der Menschen, die irreduzierbare Pluralität der Individuen, bleibt für sie die Quelle des philosophischen Staunens und die ontologische Voraussetzung des Neubeginnens. Es gibt Erfahrungen und institutionelle Errungenschaften, die als unverlierbare Traditionen erinnerungswürdig sind und auf ihre gegenwärtige Bedeutung gelesen werden müssen. Hannah Arendt teilt nicht die anti-institutionelle Geste der Entfremdungstheorie. Sie versucht die Beziehung von Dauer und Bruch, von Symmetrie und Asymmetrie jenseits dialektischer und apokalyptischer Modelle zu denken, indem sie sie als Verlassen und Rückkehr zu einem Gleichgewicht konfiguriert. Die Chance der Stabilität in diesem Wechselspiel von Anfangen, Asymmetrie und Rückkehr zu einem Gleichgewicht liegt nicht in der Fixierung des besten Modells, sondern in der Schaffung von Bedingungen, welche die größte Bewegungsfreiheit ermöglichen. Jeder normative Anspruch bedeutet eine Gefährdung dieses Ausgleichs, weil er die Bewegungsfreiheit einschränkt. Denn Bewegungsfreiheit ist gleichbedeutend mit der Vervielfältigung strukturierter Räume, in denen die Individuen

12 Hannah Arendt an William O'Grady, 16. Juli 1975, zit. nach Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Leben und Werk, Frankfurt a.M. 1986, 516.

Arendt.

Hannah Arendt

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zum politischen Handeln ermutigt werden. Der Gewißheit der Wahrheit und der Verpflichtung durch Tradition stellt Hannah Arendt die spezifische menschliche Fähigkeit gegenüber, durch Erfahrung sich immer wieder einen gemeinsamen Raum zu schaffen: "Der Verlust der Maßstäbe, der in der Tat die moderne Welt in ihrer Faktizität bestimmt und durch keine Rückkehr zum guten Alten und keine willkürliche Aufstellung neuer Werte und Maßstäbe rückgängig gemacht werden kann, ist also eine Katastrophe der moralischen Welt nur, wenn man annimmt, Menschen wären eigentlich gar nicht in der Lage, Dinge an sich selbst zu beurteilen, ihre Urteilskraft reiche für ein ursprüngliches Urteilen nicht aus; man könne ihr nicht mehr zumuten, als bekannte Regeln richtig anzuwenden und bereits vorhandene Maßstäbe sachgemäß anzulegen." 13

13 Hannah Arendt, Was ist Politik?, aus dem Nachlaß hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1993, 22 f.

Hansgeorg

Schmidt-Bergmann

"Judentum und Sozialismus" Über Kontinuität und Bruch in Gustav Landauers anarchistischem Denken

Norbert Altenhofer gedenkend1

Als Opfer war Gustav Landauer prädestiniert g e n u g , nicht allein in den letzten Jahren des wilhelminischen Kaiserreiches. Literat, Anarchist und jüdischer Herkunft zugleich, war er auch innerhalb der Münchener Räte als Vertreter eines kommunitären Anarchismus in der "zweiten" Räterepublik unter Führung der K o m m u n i s t e n schließlich isoliert. D i e konterrevolutionären Soldaten schließlich b e g e g n e t e n d e m alle K l i s c h e e s des Fremden verkörpernden Landauer, der sich schon im Äußeren so eindeutig v o n ihnen unterschied, mit unversöhnlichem Haß - nach seiner Verhaftung durch Weißgardisten am 1. Mai 1919 wird Landauer e i n e n Tag später im Münchner Zentralgefängnis Stadelheim von einer Soldatenmeute erschlagen. D o c h nicht v o n der w e c h s e l v o l l e n und letztlich tragischen Biographie, die den aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Karlsruhe entstammenden Gustav Landauer über Berlin, London, w i e d e r Berlin und schließlich nach M ü n c h e n führte, soll im f o l g e n d e n die Rede sein, 2 sondern v o n seiner Verbindung von Judentum und Sozialismus, w a s in der Terminologie Landauers mit Anarchismus identisch ist. 3 Gefragt w e r d e n soll nach

1 Die folgenden Ausführungen schließen an zwei zentrale Aufsätze Norbert Altenhofers über Gustav Landauer an: "Tradition als Revolution: Gustav Landauers 'geworden-werdendes' Judentum", in David Bronsen (Hg.), Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979, 173-201; "Martin Buber und Gustav Landauer", in Werner Licharz u. Heinz Schmidt (Hg.), Martin Buber (1878-1965). Internationales Symposium zum 20. Todestag, Bd. 2: Vom Erkennen zum Tun des Gerechten, Frankfurt a.M., 150-177; vgl. weiter von Norbert Altenhofer: "Gustav Landauer", in Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, 491-493. 2

Zu Leben und Werk Landauers sowie zu den wichtigsten Forschungsbeiträgen, vgl. unter anderem: Siegbert Wolf, Gustav Landauer zur Einführung, Hamburg 1988; ders. (Hg.), Gustav Landauer Bibliographie, Grafenau-Döffingen 1992; Von der Kaiserstraße nach Stadelheim (1870-1919). Gustav Landauer, Eggingen 1994 ( = Rheinschrift 2 in der edition isele, Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Oberrheinischen Dichtermuseum Karlsruhe); Leonhard M. Fiedler, Renate Heuer u. Annemarie Taeger-Altenhofer (Hg.), Gustav Landauer (1870-1919). Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption seines Werkes, Frankfurt a.M./New York 1995 ( = Campus Judaica, Bd. 2).

3

So heißt es in Landauers Vortrag "Aufruf zum Sozialismus", gehalten am 26. Mai in Berlin: "Sozialismus und Anarchismus sind identisch. Proudhon hat dies zuerst gesagt. Gesellschaft, Freiheit, Bund, Zusammenschluß zu freien selbständigen Gruppen, das sind die Zwecke des Sozialismus; aber hierzu

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Schmidt-Bergmann

den Elementen der jüdischen Tradition, die in den spezifischen "gelehrten Anarchismus" von Landauer mit eingegangen sind, und zugleich soll deutlich werden, daß für Landauer am Ende des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts eine spezifische Auslegung des jüdischen Messianismus für seinen Anarchismus wichtig werden konnte. Geschichtsphilosophische "Denkbilder" sind es, die auf jüdische Traditionen zumindest zu beziehen sind und die in sich selbst schon die "Kontinuität als Bruch" transportieren, da sie in den veränderten politischen Konstellationen unmittelbar am Ende des Kaiserreichs plötzlich relevant und in ihrer Aktualität neu erkannt werden konnten. "Der Sozialismus ist ein Bestreben, mit Hilfe eines Ideals eine neue Wirklichkeit zu schaffen", schreibt Landauer 1911 in seiner Programmschrift Aufruf zum Sozialismus,4 Auf dem Weg zu einem "neuen Menschenbund" konnte der jüdische Messianismus, den Landauer in der Interpretation Martin Bubers in sein Denken mit aufnahm, für sein Programm einer anarchistischen Umgestaltung der Gesellschaft konstitutiv werden. Im Schlußkapitel des Aufrufs zum Sozialismus vollzieht Landauer dann den Anschluß an die alttestamentarische Tradition offensiv. Im Anschluß an ein längeres Zitat aus dem Dritten Buch Mose postuliert er: "Der Aufruhr als Verfassung, die Umgestaltung und Umwälzung als ein für allemal vorgesehene Regel, die Ordnung durch den Geist als Vorsatz; das war das Große und Heilige an dieser mosaischen Gesellschaftsordnung. Das brauchen wir wieder: eine Neuregelung und Umwälzung durch den Geist, der nicht Dinge und Einrichtungen endgültig festsetzen, sondern der sich selbst als permanent erklären wird."5

Nun scheint die Aktualisierung dieser Tradition aufgrund der jüdischen Herkunft - aus einem allerdings sehr liberalen Elternhaus - von Landauer nicht ungewöhnlich zu sein, und prophetische oder messianische Elemente in seinem Werk hat man denn auch mit jüdischen Traditionen in Verbindung gebracht, Elemente, die man in der Zeit Landauers bei vielen oppositionellen jüdischen Intellektuellen ausmachen kann, bei Rosa Luxemburg ebenso wie bei Walter Benjamin beispielsweise. Doch darum geht es nicht; hier soll es um die Ausbildung eines spezifisch jüdischen Selbstverständnisses gehen, eines Prozesses, der bei Landauer um 1908 einsetzt, also verhältnismäßig spät, und einen Höhepunkt in den Jahren 1912 und 1913 findet. 6 In diesen Jahren entstehen wichtige Arbeiten Landauers über die jüdische Tradition, über den Zusammenhang zwischen Judentum und Sozialismus und über Martin Buber. An diesen schreibt Gustav Landauer am 15. September 1908 aus Hermsdorf bei Berlin:

ist heute der Geist nicht da, [...]." (Der Revolutionär. Anarchistisches (6. Juni 1908), 1.

Wochenblatt, 4. Jg., Nr. 23

4

Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Reprint der 4. Aufl. [Gießen 1978], Köln 1923, 1.

5

Ebd., 136 f.

6

Vgl. dazu auch Norbert Altenhofer, Tradition als Revolution, 173: "Zum andern ist die um Landauers vierzigstes Lebensjahr einsetzende Hinwendung zum Judentum keine Wendung zum Judentum schlechthin, sondern ein Akt selektiver Traditionsaneignung und Traditionskritik, deren Grundlagen und Implikationen differenzierterer Betrachtung bedürfen. "

"Judentum und Sozialismus" "Mit meiner Besprechung Ihres Baalschem, der mir immer tiefer und wundervoller wird, geht es seltsam. Ich hatte sie noch zurück behalten, um eine Kleinigkeit zu ändern; und dann habe ich sie, so sie da war, ganz annulliert; sie war mir nämlich, so wie mir's in der Zeit zu Mute war, ganz und jüdisch geraten, und das paßte mir nicht mehr für die Neue Rundschau. Und nun ringe ich noch um Ausdruck für das Dichterisch-Geistige, unabhängig von Persönlichem und Ethnischem."

153 mir wie gar den

Erst die Lektüre von Martin Bubers Buch Die Legende des Baalschem bringt Landauer wieder in eine bewußte und produktive Nähe zur jüdischen Philosophie. Es ist die chassidische Bewegung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts und die von ihr aktualisierte jüdisch-mystische Tradition der frühen Neuzeit, auf die Landauer durch Buber aufmerksam gemacht wird, und diese revolutionäre Bewegung und ihr Begründer Baal-Schem wird für Landauer Bestandteil seiner eigenen Tradition - mehr noch, die chassidischen Legenden treten jetzt für ihn an die Stelle der christlichen des Mittelalters, dessen mystische Spuren er bis in die Gegenwart verfolgt hat. Seit der Jahrhundertwende verband Landauer mit Buber eine tiefe Freundschaft. Beide hatten sich durch die "Neue Gemeinschaft" kennengelernt, eine Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, die von den Brüdern Heinrich und Julius Hart ins Leben gerufen wurde und bis 1904 bestand. Neben Landauer und Buber gehörten zu diesem Bund, der sich die Durchsetzung einer "wahren Menschheitskultur" zum Ziel gesetzt hatte, die Lyrikerin, Übersetzerin und spätere Frau Landauers, Hedwig Lachmann, Erich Mühsam, der Maler Fidus (d.i. Hugo Höppener) und der Verleger Eugen Diederichs. Insgesamt sammelten sich am Schlachtensee bei Berlin, wo die "Neue Gemeinschaft" schließlich sich angesiedelt hatte, zwischen zwanzig und dreißig Personen, zu denen sich auch Fritz Mauthner, Else Lasker-Schüler und Rudolf Steiner hinzugesellten. Als Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die "eine wahre Menschheitskultur" anstrebte, war die "Neue Gemeinschaft" konzipiert; das Ziel war, Kunst, Religion, Wissenschaft und Philosophie praktisch werden zu lassen, ein "Orden vom Wahren Leben" sollte begründet werden, der sich vom Alltäglichen entfernen sollte. "Durch Absonderung zur Gemeinschaft" lautete denn auch der Titel von Landauers programmatischer Rede, die er anläßlich einer Versammlung der "Neuen Gemeinschaft" am 18. Juni 1900 hielt. Was Landauer dort formuliert, ist der anmaßende Anspruch einer geistigen Avantgarde, einer "Vorhut", der die bürgerlichen Traditionen ebenso suspekt geworden war wie die sozialdemokratischen und marxistischen Modelle, durch die dem "Volk" zur Emanzipation verholfen werden sollte. Nicht zu den "Massen hinuntergehen", ist dagegen die Konsequenz Landauers, sondern ihr, durch das eigene Leben ein Beispiel gebend, voranzugehen: "Nun sind wir, die ins Volk gegangen waren, von unserer Wanderung zurückgekehrt. Einige sind uns unterwegs verloren gegangen, bei einer Partei oder bei der Verzweiflung. Etwas haben wir mitgebracht: einzelne Menschen. Einzelne Menschen, die wir aus dem Meer des Alltags herausgefischt haben, mehr haben wir nicht gefunden. Es sei denn eine Erkenntnis, die wir in Schmerzen und Kämpfen erobert haben: wir sind zu weit voran, als daß unsere Stimme von den Massen noch verstanden werden könnte. Wir fassen das Leben zu einfach auf, als daß die Menschen aus ihren verworrenen Irrgängen den Weg zu uns schlichten Tieren finden könnten. Und wieder sind unsere Seelen zu fein und kompliziert, als daß wir es da unten auf die Länge aushalten könnten. Unsere Erkenntnis ist: wir dürfen nicht zu den Massen hinuntergehen, wir müssen ihnen vorangehen, und das sieht zunächst so aus, als ob wir von ihnen weggingen. Die Gemeinschaft, nach der wir uns sehnen, die wir bedürfen, finden wir nur, wenn wir Zusammen-

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gehörige, wir neue Generation, uns von den alten Gemeinschaften absondern. Und wenn wir uns ganz gründlich absondern, wenn wir uns als Einzelne in uns selber tiefst hinein versenken, dann finden wir schließlich, im innersten Kern unseres verborgensten Wesens, die urälteste und allgemeinste Gemeinschaft: mit dem Menschengeschlecht und mit dem Weltall. Wer diese beglückende Gemeinschaft in sich selber entdeckt hat, der ist für alle Zeit bereichert und beseeligt und endgültig abgerückt von den gemeinen Zufallsgemeinschaften der Mitwelt." 7

Enttäuscht und isoliert von den sozialen Bewegungen seiner Zeit, wurden um die Jahrhundertwende für Landauer Traditionen maßgebend, die sich mit einer anarchistischen Utopie scheinbar nur schwerlich vereinbaren ließen. Vom Arbeiteranarchismus, dem sich Landauer bis zur Jahrhundertwende verbunden fühlte, trennt ihn schließlich ein Blick auf die Geschichte, der auch mystisch-mittelalterliche Traditionen als wichtig für sich erkannte, Meister Eckhart beispielsweise, dessen Predigten Landauer im Anschluß an seine Lektüre Mauthners übertragen und veröffentlicht hatte. In der Rede "Von der Absonderung zur Gemeinschaft" geht es denn auch zunächst um eine mystische Selbsterfahrung: "als Einzelne in uns selber tiefst hinein versenken", erst dann finden wir "im innersten Kern unseres verborgenen Wesens, die urälteste und allgemeinste Gemeinschaft", postuliert Landauer. 8 Doch für ihn blieb die "Neue Gemeinschaft" nur eine kurze Episode, im Laufe des Sommers 1901 zog Landauer sich aus dem Bund zurück, weil er die radikale Loslösung von der sozialen Bewegung nicht teilen konnte, und übersiedelte mit Hedwig Lachmann für einige Monate nach England, wo sie zusammen Oscar Wildes Der Sozialismus und die Seele des Menschen und Rabindranath Tagores Der König der dunklen Kammer übersetzten. 1903 erschien Landauers Buch Skepsis und Mystik. Versuche in Anschluß an Mauthners Sprachkritik - und auch hier, in der Auseinandersetzung mit Mauthners Kritik, geht es ihm um die Überwindung der individuellen Vereinsamung, und die schien ihm wiederum nur möglich durch die radikale Versenkung in das eigene Ich. 9 Mit Skepsis und Mystik wird offenkundig, was sich schließlich in der Schrift Die Revolution aus dem Jahre 1907 ausformuliert findet, daß Landauers Geschichtsphilosophie und seine Utopiekonstruktion sich fortschreitend von den gängigen deterministischen Theorien seiner Zeit wegbewegt: gegen die lineare Betrachtung von Geschichte, gegen Evolution und Fortschrittsglauben setzt er eine Geschichtsphilosophie der Diskontinuität. Vergangenheit wird für Landauer nicht zu einem abgeschlossenen Prozeß, zu einem deutbaren Kontinuum von Fakten und Taten, sondern zu einem Reservoir, das immer neu befragt werden muß. Das Bild von Vergangenheit verändert sich allein durch die "Revolution der Geschichtsbetrachtung", es wird revolutionär revidiert und neu rekonstruiert:

7

Gustav Landauer, "Durch Absonderung zur Gemeinschaft", in ders., Die Botschaft der Titanic. Ausgewählte Essays, hg. v. Walter Fähnders u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Berlin 1994 ( = edition Kontext), 9 f.

8

Ebd., 10.

9

Vgl. dazu auch: Gustav Landauer/Fritz Mauthner, Briefwechsel H. Schoeps, München 1994.

1890-1919,

hg. v. Hanna Delf u. Julius

"Judentum

und

Sozialismus"

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"Anders ausgedrückt heißt das, daß die Vergangenheit nicht etwas Fertiges ist, sondern etwas Werdendes. Es gibt für uns nur Weg, nur Zukunft; auch die Vergangenheit ist Zukunft, die mit unserem Weiterschreiten wird, sich verändert, anders gewesen ist."10 V o n einer Kontinuität der Geschichte, die für Landauer hier noch allein aus der Perspektive der "mittelalterlich-christlichen" Tradition gedeutet wird, die in sich die griechisch-römischen und jüdischen Traditionen a u f g e n o m m e n und in eine "neue Kultur" hineingeführt hat, 11 kann so nicht mehr gehandelt werden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stürzen z u s a m m e n in eine erfüllte Zeit: "Alles was in jedem Moment überall geschieht, ist die Vergangenheit. Ich sage nicht, daß es die Wirkung der Vergangenheit ist; ich sage, sie ist es. Ganz etwas anderes aber ist jene zweite Vergangenheit, die wir gewahren, wenn wir zurückblicken. Man möchte fast sagen: die Elemente der Vergangenheit haben wir in uns, die Exkremente der Vergangenheit erblicken wir hinter uns. Nun ist wohl klar, was ich sage. Die Vergangenheit, die lebendig in uns ist, stürzt mit jedem Augenblick in die Zukunft hinein, sie ist Bewegung, sie ist Weg. Jene andere Vergangenheit, nach der wir uns umblicken, die wir aus Überresten konstruieren, von der wir unsern Kindern berichten, die als Bericht der Vorfahren auf uns gekommen ist, hat den Schein der Starrheit, kann sich auch nicht, da sie zum Bild geworden, keine Wirklichkeit mehr ist, fortwährend verändern. Sie muß vielmehr von Zeit zu Zeit, in einer Revolution der Geschichtsbetrachtung, revidiert, umgestürzt und neu aufgebaut werden. Und sie baut sich überdies für jeden Einzelnen besonders auf: jeder Einzelne gewahrt die Bilder anders, je nachdem die wirkliche wirkende Vergangenheit ihn anders vorwärts treibt und zuwege schickt."12 Diskontinuität v o n Geschichte markiert ein Zentrum von Landauers Theorie, und darin liegt die A u f f a s s u n g beschlossen, daß auch das weit Entfernte plötzlich aktuell werden kann, daß beiseite g e s c h o b e n e D e n k - und Handlungsformen w i e d e r als praktikabel erfahren werden, daß verschüttete Traditionen und unbekannte g e i s t i g e Potentiale, die erst freigelegt w e r d e n m ü s s e n , wiederbelebt w e r d e n und für die politische Auseinandersetzung aktiviert w e r d e n können und m ü s s e n - aber auch, daß der Blick auf Geschichte und damit auch auf das freizusetzende Potential den subjektiv-individuellen Erfahrungen unterworfen ist: "Unbekanntes, Tiefbegrabenes und Plötzliches" muß s o j e w e i l s aktualisiert werden. 1 3 N o c h zu d e m Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Schrift Die Revolution im Jahre 1907 gehörte das Judentum für Landauer zu diesen verschütteten Traditio-

10 Gustav Landauer, Die Revolution, Frankfurt 1907 ( = Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, hg. v. Martin Buber, Bd. 13), 26 f. 11 Die jüdische Tradition wird so noch zur Vorgeschichte erklärt: "Doch kommt für unsere Betrachtung das Schicksal der modernen Juden, deren Kultur verschlafen-traumhaft in die andern Völker hineingesprenkelt ist, nicht in Betracht; wir reden hier nur von dem Verhältnis der alten Völker zu unsrer eigenen Geschichte. So betrachtet sind Griechen-Römer und Juden nicht die Vorfahren unserer eigenen Geschichte; die Christenheit oder Europa bedeutet vielmehr einen neuen Beginn: ausgeruhte Völker haben Griechisches, Römisches, Jüdisches in sich gefressen, verdaut und in eine neue Kultur hinein Schritte getan." (Ebd., 32) 12 Ebd., 28. 13 Ebd., 119: "Im einzelnen", so beschließt Landauer die Revolutionsschrift, "wissen wir gar nichts über unsern nächsten Weg; er kann über Rußland, er kann auch über Indien führen. Nur das können wir wissen: daß unser Weg nicht über die Richtungen und Kämpfe des Tages führt, sondern über Unbekanntes, Tiefbegrabenes und Plötzliches".

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nen lediglich vermittelt. V o n seiner jüdischen Sozialisation finden sich in d e m frühen Werk, w i e in d e m jugendlich-schwärmerischen R o m a n Der Todesprediger14 oder in seinen Aufsätzen und Artikeln nur sehr w e n i g e Spuren, eher relevant sind ihm N i e t z sche, Fichte und die Romantiker. S o ist auch Der Todesprediger, der s c h o n im Titel auf die "Prediger des Todes" aus N i e t z s c h e s Zarathustra anspielt, e i n Beispiel unter mehreren für den N i e t z s c h e a n i s m u s des j u n g e n Landauer. 1 5 Erst durch die Lektüre der Schriften Martin Bubers w e r d e n auch unmittelbar j ü d i s c h e E l e m e n t e bei Landauer wieder wirksam. Ü b e r die Gründe der tiefen Wirkung, die die Lektüre der chassidischen L e g e n d e n und Erzählungen auf Landauer gehabt haben, gibt die gedruckte Fassung der Besprechung v o n Martin Bubers Buch Die Legende des Baalschem Aufschluß. Der Artikel erschien z w e i Jahre nach d e m zitierten Brief an Martin Buber, dann auch nicht in der Neuen Rundschau, sondern im Literarischen Echo v o m 1. Oktober 1910: "[...] es ist ein Buch jüdischer Mystik, gedichtet, weitergedichtet, wie der Mythos immer wieder durch die Jahrhunderte hin auf einen stößt, der ihn in sein Erleben aufnimmt und neu aus seinem Wesen gebiert, von einem jüdischen Mystiker. Nirgends so wie von dem Denken und Dichten Martin Bubers kann der Jude lernen, was mancher in unsern Tagen nicht von Haus aus weiß, sondern auf einen äußern Anstoß hin erst in sich findet: daß das Judentum nicht eine äußere Zufälligkeit, sondern eine unverlierbare innere Eigenschaft ist, deren Gleichheit eine Zahl Individuen zu einer Gemeinschaft verbindet. So besteht also zwischen dem, der dies schreibt, und dem Verfasser des Buches ein gemeinsamer Boden, eine Gleichheit der Seelensituation, die nicht so ohne weiteres für andere Leser vorauszusetzen ist. [...] Das Besondere dieser jüdischen Legende ist [...), daß der Gott, der da gesucht wird, nicht nur von den Banden und dem Trug des Sinnenlebens befreien soll, daß er vielmehr zugleich der Messias ist, der die armen, gepeinigten Juden in der Fremde aus Qual und Gedrücktheit erheben wird. Nirgends so wie hier ist die Legende, das Gottesmärchen, in eine Melancholie getaucht, die ganz irdische Depression und doch zugleich ganz himmlische Sehnsucht ist. [...] ein Werk des Kollektiven haben wir hier, Denken und Dichten, das Volk in sich trägt. Viele heutigen Tages, und Gelehrte besonders, wissen freilich nicht, was Volk ist. Hier können wir es lernen: es braucht nichts Populäres und noch weniger Triviales zu sein; aber es muß ein lebendiges Wachsen sein. Zukunft in der Gegenwart, Geist in der Geschichte, Gesamtheit im Individuum, Überschwang in der Anekdote, der befreiende und einigende Gott im gebundenen und versprengten Menschen und der Himmel im Irdischen."16 D i e s dürfte der erste publizistische H i n w e i s Landauers auf die e i g e n e j ü d i s c h e Identität sein, und man kann diese R e z e n s i o n daher durchaus als "biographischen Selbstkommentar" und als ein Akt der Selbstverständigung lesen, zu der er sich durch die Lektüre der L e g e n d e n Bubers veranlaßt sieht. 1 7 Es ist dieser "äußere Anstoß", der ihn darauf 14 In dem Nachwort aus dem Jahre 1903 schreibt Landauer: "Es sind Seelenvorgänge, was gestaltet wurde, phantastisch-visionäre Sehnsucht; und in der Entfernung, die ich dem Buch gegenüber heute einnehme, darf ich wohl sagen, daß manche Bilder dieser Visionen sehr schön sind." (Gustav Landauer, Der Todesprediger, 3. Aufl., Köln 1923, 126) 15 Vgl. dazu im einzelnen: Hanna Delf, "'Allseitig, nicht einseitig sein'. Zwei unveröffentlichte Manuskripte Gustav Landauers zur frühen Nietzsche-Rezeption", Teil I, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Heft 3 (1992), 263-273. 16 Gustav Landauer, "Martin Buber: Die Legende des Baalschem", Das literarische Echo, 13 (1910/11), Heft 2, Sp. 148 f. Vgl. dazu im einzelnen Norbert Altenhofer, Martin Buber und Gustav Landauer, 150 ff. 17 Vgl. dazu Norbert Altenhofer, Martin Buber und Gustav Landauer, 151 f.

"Judentum und Sozialismus"

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führt, daß das Judentum auch für ihn eine "unverlierbare innere Eigenschaft" sei. Das Verbindende zu seiner eigenen politischen Position sieht Landauer in der messianischbefreienden Kraft der chassidischen Legenden, beziehungsweise in Bubers Interpretation des Chassidismus als einer jüdischen revolutionären Erneuerungsbewegung. In der kollektiven, mystisch inspirierten Hoffnung auf Erlösung sieht er einen "befreienden und einigenden Gott" wirken, der noch im Irdischen den Himmel als möglich erklärt. Man muß dies als die Voraussetzung für Landauers neue Musterung der jüdischen Traditionen ansehen, die er zunehmend in sein anarchistisches Programm mit zu integrieren sucht. Inwieweit Judentum und Sozialismus für Landauer zusammengehörige Momente werden konnten, wird dann in einem Vortrag deutlich, den er unter dem Titel "Judentum und Sozialismus" am 7. Februar 1912 in der Zionistischen Ortsgruppe West-Berlin gehalten hat. Dieser Vortrag wurde in der Zeitschrift Selbstwehr am 16. Februar 1912 abgedruckt. Landauer geht es nicht um den jüdischen Beitrag zur sozialistischen Theorie und Praxis, es geht ihm vielmehr um die aktuelle Möglichkeit, um eine Synthese von Judentum und Sozialismus unter einer politischen Perspektive. Daß sich Landauer in seinem Vortrag ausdrücklich zum jüdischen Denken bekennt, unterstreicht die Bedeutung dieser Synthese für die theoretischen Konsequenzen, die der anarchistische Theoretiker daraus zieht: "[...] ich will vom lebendigen Judentum und vom lebendigen Sozialismus zu ihnen sprechen. Dieses Judentum ist zunächst eine große Tatsächlichkeit, eine natürliche Eigenschaft derer, die da Juden sind, etwas, das uns Juden von Natur aus zueinander bindet. Man ist Jude, auch wenn man es nicht weiß oder nicht bekennen will. Trotzdem oder gerade deswegen ist davor zu warnen, daß man glaubt, diese Tatsächlichkeit definieren zu können. Es ist nicht ohne weiteres in Begriffe zu fassen, was ein Alemanne oder Franzose ist. Und dasselbe gilt von uns. Dennoch müssen wir uns heiß bemühen, dieses scheinbar Unsagbare in Worte zu bringen. Denn wenn eine Nation wieder einmal an einem Wendepunkt steht, wenn sie das erst werden soll, was sie ihrer Möglichkeit nach ist, dann sind die Dichter und Propheten nötig. Es ist mir in diesem Zusammenhange Bedürfnis, den Namen Martin Buber zu nennen und zu sagen, daß ich in seinen 'Drei Reden' das Aussprechen dessen finde, was das Judentum seinem Wesen nach sein soll, weil es in diesem tiefsten Grunde nach unserm Wissen das ist." 18

Landauers Reflexion seines Judentums ist hier von einem bekennerhaften Duktus getragen, der erst durch die Auseinandersetzung mit Martin Bubers Schriften möglich geworden war. Hier nennt Landauer ausdrücklich Bubers Drei Reden über das Judentum aus dem Jahre 1911. Bubers Bedeutung für eine Erneuerung der jüdischen Tradition hat Landauer in einem Beitrag über Martin Buber für die Neuen Blätter 1913 inhaltlich ausdrücklich begründet, und auch hier stellt er Bubers Interpretation des Chassidismus, durch die für Landauer die jüdische Mystik einen neuen theoretischen Ort einzunehmen beginnt, in das Zentrum:

18 Gustav Landauer, "Judentum und Sozialismus", Selbstwehr, VI. Jg., Nr. 7 (16. Februar 1912), 2. In der redaktionellen Anmerkung zu Gustav Landauer heißt es: "Gustav Landauer, der viel zu wenig Gekannte, ist auch auf dem Gebiete der sozialistischen Philosophie von hervorragender Bedeutung. Sein Organ ist die Berliner Zeitschrift 'Der Sozialist'. Von seinem 'Aufruf zum Sozialismus' dürfte vielleicht auch schon mancher gehört haben."

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"Mit seinen Legenden aus dem Kreise der chassidischen Lehre und des chassidischen Lebens und seiner Darstellung des Chassidismus hat Buber uns eine neue Gestalt der Mystik gegeben. Gleichviel, wie weit er Schöpfer ist, er ist in den magischen Kreis einer Überlieferung eingetreten und hat aus Trümmern und Entstellungen ein Ganzes und Neues gegossen. [...] Wenn man von den Legenden des Baalschem und des Rabbi Nachmann herkommt, diesen so ganz weltlichen, zugleich kosmischen und irdischen Geschichten von dem, was niemals und immer ist, diesem Einklang von Landschaft und Menschengeist, von Natur und Seele, dann merken wir selbst in den liebsten, köstlichsten Legenden von Franziskus und den ersten Franziskanern noch einen Rest konfessioneller Enge, eine Unausgeglichenheit zwischen zufallig-geschichtlicher Anekdote und dem Gleichnis heiliger Wahrheit."19

Zwar beinhalten Landauers frühe Briefe immer wieder auch Hinweise auf den Talmud, aber von einem konstitutiven Element der jüdischen Tradition in seiner frühen Theorie kann kaum die Rede sein.20 Auf der theoretischen Ebene konnte erst eine revolutionäre Gestalt der jüdischen Mystik für seine Philosophie Bedeutung erlangen, vor allem auch darum, weil diese Legende gebunden war an den Versuch einer umfassenden Erneuerung der jüdischen Lebenspraxis. So wie sich um Baal-Schem und seine Gruppe eine zunächst kleine Gemeinschaft gebildet hatte, die ihre Lehren unter dem Volk verbreitete und sich gegen jegliche Autoritäten stellte, zum Sprachrohr gerade der "sozial deklassierten, der wirtschaftlich Ausgebeuteten" werden konnte,21 so hatte Landauer nach 1900 seine praktische Sendung verstanden, wie auch seine 1908 publizierten 12 Artikel des Sozialistischen Bundes deutlich machen. Anknüpfungspunkte an die zeitgenössische jüdische Orthodoxie oder an das liberale Judentum hat es daher auch nicht geben können. Wenn überhaupt, dann beginnt Landauer die jüdische Reformbewegung und deren soziale Implikationen für eine übergreifende sozialistische Praxis fungibel werden zu lassen und in seine Theorie zu integrieren - aber ausschließlich in dem Sinne, daß er hier wie im ostjüdischen Chassidismus und Messianismus Spuren einer Sozialrevolutionären Tradition zu entdecken glaubte. Weil die "Nation" zu dem werden soll, was sie der Möglichkeit nach sein könnte, bedarf es der "Erlösung", und die kann, so Landauer, nur messianisch und sozialistisch als ein Bruch der politischen Kontinuität real werden - in diesem geschichtsphilosophischen Kontext konnte dann ein sozialrevolutionärer Chassidismus zur Tradition einer erneuerten sozialen Bewegung erklärt werden. Die "Dichter und Propheten" - und Landauer sah sich mit seinem schon missionarischen Sendungsbewußtsein durchaus auch in einer alttestamentarischen prophetischen Tradition - werden so zu den Verkündern eines utopischen geschichtlichen Einbruches der Erlösung. Landauer plädiert so für die als notwendig erkannte Synthese von Sozialismus und Judentum. Das Judentum kann sich aus der gesellschaftlichen Isolation nur befreien, wenn es den Sozialismus als notwendige politische Kraft der gesellschaftlichen Emanzipation akzeptiert:

19 Gustav Landauer, "Martin Buber", in ders., Die Botschaft der Titanic, 239 f. 20 Vgl. dazu auch Guy Stern, "Einblicke in die jüdische Welt Gustav Landauers", in Leonhard Fiedler, Renate Heuer u. Annemarie Taeger-Altenhofer (Hg.), Gustav Landauer (1870-1919), 56. 21 Vgl. dazu Gerhard Wehr, Der Chassidismus. 1978, 17 ff.

Mysterien und spirituelle Lebenspraxis,

Freiburg/Br.

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"Ist für andere der Sozialismus eine Praxis der Partei und Politik, so ist er uns eine Verbindung der Praxis und des Geistes. Das was bisher in uns als eine Abkehr von der Wirklichkeit gelebt hat, wird durch den sozialistischen Willen dahin gebracht, daß wir uns zur Konkretheit, zu den Dingen wenden. Das was wir Einheit nennen, kann es für die Menschen der Gegenwart auf dem Gebiete der Weltanschauung nicht geben. Wir haben dafür Positives im Gefühl. Wie auch immer wir denken mögen - wie die Menschen sich zueinander verhalten sollen, was Gerechtigkeit und Vernünftigkeit in Gesellschaft und Wirtschaft ist, was Freiheit in den Einrichtungen und im Leben ist, das wissen wir mit positiver Sicherheit. Mir scheint, es ist jetzt nicht die Zeit des großen Geistes, der uns auf dem Gebiete des Wissens mit sich fortrisse. Wir sind auf einem andern Wendepunkte. Jene Zeit wird über uns kommen, wenn wir erst das getan haben, was heute das unsrige ist. Wir müssen auf Verwirklichung dringen, auf Verwirklichung aus dem Geiste der Ganzheit und Einheit. Nun werden viele sagen: 'Also verwirklichen wir es unter uns Juden!' Aber es gibt kein Volk, auch kein jüdisches, solange nicht die Grundlage jeglichen Volkes gegeben ist: die auf der Gerechtigkeit basierende freie Wirtschaftsgemeinde. "22

Im Anschluß an Landauers Vortrag über "Judentum und Sozialismus" ergab sich eine heftige Diskussion in der Zionistischen Ortsgruppe West-Berlins, über die die Zeitschrift Selbstwehr ausführlich berichtet hat.23 Auch Martin Buber schaltete sich mit einer längeren Rede ein, die nach dem Stenogramm der Redaktion abgedruckt worden ist. Buber äußert sich ebenfalls ausführlich über das Verhältnis zwischen Judentum und Sozialismus. In der Tradition des "Messianismus" sieht er das Vermittelnde, den Sozialismus als die Möglichkeit einer neuen Gestaltung der Geschichte: "Denn hier, im Messianismus, ist beides eins geworden: Das vom Geiste gestaltete Volk, die vom Geist gestaltete Menschheit sind eines und die Sache des Judentums und die Sache der Menschheit sind eines. Und wenn es gestattet ist, vom Sozialismus in dem Sinne zu sprechen, in dem ich hier das Wort angewendet habe, so darf man wohl sagen: Die Sache des Sozialismus und des Judentums sind Eines. Es ist die Sache des Sieges der Gestaltung, es ist die Sache des Geistes, der sich der Wirklichkeit und auch der sozialen Wirklichkeit, auch der Wirklichkeit der Menschengemeinschaft aufprägen will, daß seine Form, daß seine Forderung, die Forderung eines wahrhaften, eines ganzen Lebens, eines gerechten Lebens zwischen den Menschen der Menschheit aufprägen, der die Menschheit zu einem wahren Menschentum gestalten will."24

22 Gustav Landauer, Judentum und Sozialismus, 2. 23 In der Nummer 8 vom 23.02.1912, 2 berichtet die Redaktion: "Wir haben in der vorigen Nummer über den Vortrag Landauers berichtet [...] und werden demnächst über die Diskussion, die am 21. Februar sich in der Ortsgruppe Berlin-West der Zionistischen Vereinigung anschloß, noch Näheres zu melden zu haben. Heute seien hier über Landauer einige Worte gesagt. Als Jude gehört Landauer jener Gruppe an, die sich um Martin Buber schart. Als Sozialist ist er der Begründer und Führer des 'Sozialistischen Bundes', dessen Programm er formuliert und in seinem 'Aufruf zum Sozialismus' begründet hat. [...] Es steht hier nicht zur Untersuchung, ob Landauers Ideale die richtigen sind. Aber man wird wohl sagen dürfen - und Landauer sagte es in seinem Vortrag, daß es der Geist des Judentums ist, der hier Wirklichkeit werden will." 24 Martin Buber, zit. nach: "Diskussion über den Vortrag Gustav Landauers: 'Judentum und Sozialismus'", Spezialbericht, Selbstwehr, VI. Jg., Nr. 9 (1. März 1912), Stenogramm seiner Rede, 2 f. Landauers Diskussionsbeiträge werden wie folgt zusammengefaßt: "Landauer griff öfter in die Debatte ein und präzisierte seine Stellung zum Zionismus dahin, daß jeder Jude auch für sein Judentum am besten so arbeite, daß er für den Sozialismus (im weiten Sinne Bubers und Landauers) arbeite, und zwar arbeite, wo immer sich dazu die Möglichkeit findet. Diese Arbeit solle sich keineswegs auf Arbeit unter den Juden beschränken. Wird es sich aber, wie Buber meinte, herausstellen, daß die Zusammen-

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Hansgeorg

Schmidt-Bergmann

In dem Aufsatz Sind das Ketzergedanken? aus dem Jahre 1913, der erstmals in dem Band Vom Judentum, herausgegeben vom Jüdischen Studentenverein Bar Koch-ba, publiziert worden ist, versucht Landauer eine Zusammenfassung seines Versuches, Judentum und Sozialismus zusammen "schöpferisch und aktiv" werden zu lassen. Landauer geht es, wie Martin Buber, um eine "Erneuerung des Judentums", das voranzuschreiten habe bei der "Regeneration der Menschheit". Dieser Versuch könne nur gelingen, wenn sich das Judentum als zusammengehöriger "Bund" aus der Diaspora heraus definiere, sich nicht assimiliere, aber auch nicht in einem eigenen Staat organisiere. "Die jüdische Utopie liegt", so beschreibt Norbert Altenhofer Landauers Position, "jenseits von Assimilationsstreben und politischem Zionismus, in der Rückbesinnung auf die revolutionären Elemente der eigenen Tradition".25 Unter dieser Perspektive bekennt sich Landauer ganz, und so radikal wie nie zuvor, zu seinem eigenen gelebten Judentum, er spürt es in der "Mimik, in meinem Gesichtsausdruck, meiner Haltung, meinem Aussehen", er sieht es am Wirken in allem was er "beginnt" und repräsentiert.26 Es ist diese personale Identität, die sich aus der jüdischen Tradition heraus definiert und die für sich den Auftrag angenommen hat, auf dem Weg der "Erlösung" der Menschheit voranzuschreiten: "Wir haben uns abgetrennt und finden uns beisammen; der Dienst an der Menschheit treibt uns, und unser Geist lechzt, mehr und anderes zu werden als Geist: Gesellschaft, Volk, Körperschaft, Organismus. So daß, je mehr wir unsere Nation aus der verborgenen Stille bloßer Tatsächlichkeit zu Worten des Willens und der Wandlung erheben, je mehr wir bewußte Juden werden, die unter Judentum unser Wesen verstehen, Judentum für uns zusammenfällt mit einer sachlichen Richtung einer Erfüllung zu. Je völliger und reiner und wirklichkeitsgesättigter wir dies unser Wesen und Drängen und Wissen und Bereiten aussprechen, um so zugehöriger werden sie aus allen Nationen zu uns stoßen und uns in liebevoller Gemeinschaft beibringen, daß das uralt Gewordene, das wir aus unserer Seele emporheben, der Weg der werdenden Menschheit ist, daß unserem gemarterten sehnsuchtsvollen Herzen Tradition nichts anderes ist als die Revolution und Regeneration der Menschheit. Wie ein wilder Schrei über die Welt hin und wie eine kaum flüsternde Stimme in unserem Innersten sagt uns unabweisbar eine Stimme, daß der Jude nur zugleich mit der Menschheit erlöst werden kann und daß es ein und dasselbe ist: auf den Messias in Verbannung und Zerstreuung zu harren und der Messias der Völker zu sein. "27

Hiermit formuliert sich ein Bruch in der Konzeption Landauers, der jetzt die messianische Tradition bewußt und reflektiert in seine anarchistische Geschichtsphilosophie mit integriert, aus "Gewordenem" soll "Werdendes" werden. Es ist diese Form eines "gelehrten Anarchismus", der die Traditionen der Geschichte immer wieder neu mustert, der ausgehend zunächst von Meister Eckhart, dann von Fritz Mauthner und Martin

arbeit von Juden und Nichtjuden nur ein Stück Weges, nicht bis zum Ende möglich sei, so werden die Juden den Sozialismus ebenso wie alle anderen Völker innerhalb ihrer Gemeinschaft zu verwirklichen haben. Er sei sechs Siebentel Zionist, rief Landauer, als Dr. Schmarjahn Lewin ihn einen halben Zionisten nannte." 25 Norbert Altenhofer, Martin Buber und Gustav Landauer,

165.

26 Gustav Landauer, "Sind das Ketzergedanken?", in ders.. Die Botschaft der Titanic, 235 (zuerst in Vom Judentum, hg. v. jüdischen Studentenverein Bar Kochba, Prag 1913, 250-257). 27 Ebd., 234.

"Judentum und Sozialismus"

161

Buber gerade die spirituellen und geistigen Wurzeln oppositionellen Denkens, ab 1910 zugleich die mystisch-jüdischen Traditionen in sich aufnimmt und sie gegen die instrumentalisierte Rationalität der bürgerlichen Gesellschaft stellt. Martin Buber hat das früh erkannt, er nahm bereits Landauers Programmschrift Die Revolution als dreizehnten Band in seine Buchreihe Die Gesellschaft mit auf. 28 Die dort ausgearbeitete Utopiekonstruktion war offen für neue Traditionen, Landauers spätere "Entdeckung" des Chassidismus war so nur konsequent. Die jüdische Tradition mit ihren utopischen Impulsen wird von ihm zur messianischen Hoffnung erklärt, wird zum "Messias" selbst, und soll so wiederbelebt werden und damit Anteil an der "Erlösung" der Menschheit haben. Für Landauers späteres Denken und sein politisches Handeln bleibt diese Verteidigung des Vergangenen als Möglichkeit und Antizipation des Kommenden auch in den folgenden Jahren weiter konstitutiv: "Nur Geworden-werdendes lebt; nur wer in seiner Gegenwart und Wirklichkeit Vergangenheit und Zukunft in eins begreift, nur wer sich selbst, wie er wahrhaft und ganz ist, mitnimmt auf die Reise nach seinem gelobten Land, in dem nur scheint mir das Judentum ein lebendiges Gut zu sein. Die Nationen, die sich zu Staaten abgegrenzt haben, haben draußen Nachbarn, die ihre Feinde sind; die jüdische Nation hat die Nachbarn in der eigenen Brust; und diese Nachbargenossenschaft ist Friede und Einheit in jedem, der ein Ganzer ist und sich zu sich bekennt. Sollte das nicht ein Zeichen sein des Berufs, den das Judentum an der Menschheit, in der Menschheit zu erfüllen hat?"29

28 Vgl. dazu auch Martin Buber, "Landauer", in ders., Der utopische Sozialismus, Köln 1967, 81-99. 29 Gustav Landauer, "Sind das Ketzergedanken?", 236 f. Norbert Altenhofer resümiert im Anschluß an dieses Zitat: "Erst wenn das neu erwachte jüdische Selbstverständnis der bewußten Betonung nicht mehr bedarf, ist der Jude mit sich selbst, seinem Schicksal und seiner Aufgabe, einig." (Norbert Altenhofer, Martin Buber und Gustav Landauer, 165)

Wolfgang Müller-Funk

Die Rache der Sprache Wittgenstein als (unfreiwilliger) Essayist

"Es geht", so schreibt Sören Kierkegaard einmal, "den meisten Systematikern in ihren Systemen wie einem Mann, der ein ungeheures Schloß baut und selber daneben in einer Scheune wohnt; sie leben nicht selber in dem ungeheuren systematischen Gebäude. Aber in geistigen Verhältnissen ist und bleibt dies ein entscheidender Einwand. Geistig verstanden müssen die Gedanken eines Mannes das Gebäude sein, in dem er wohnt - sonst ist es verkehrt." Der strenge Imperativ impliziert eine lebensphilosophische Kehre, postuliert er doch eine Einheit von gedachtem und gelebtem Leben. Mehr noch: er macht gegen den grandiosen Systembau etwa Hegels geltend, daß die Unbewohnbarkeit philosophischer Gedankengebäude negativ theoretisch zu Buche schlagen. Ihre Unbewohnbarkeit sei, heißt es, ein "entscheidender Einwand". Dieser Einwand läßt sich geschichtsphilosophisch strecken, und er ist bei dem nachromantischen Essayisten Kierkegaard auch so gemeint: als Befund einer philosophischen Unbehaustheit, wie sie das Bild der "Scheune" neben dem Schloß, schäbig, aber wenigstens Unterschlupf gewährend, drastisch nahelegt. Mit dem Schloß im Kopf in einer Scheune leben, ist kümmerlich und verkehrt, vor allem deshalb, weil man das Schloß im Kopf hat, ohne sich recht eingestehen zu wollen, in einer Scheune zu leben (die vielleicht nur als Scheune sich darstellt, weil man ein Schloß im Kopf hat). 1 Man hat nur selten daran gedacht, daß man philosophische Gedankengebäude bauen könnte wie andere Gebäudlichkeiten auch: um zu leben. Hegel, der philosophische Reibebaum auch Kierkegaards, hätte ein derartiges Ansinnen entschieden abgewehrt, und aus der eigenen Interpretation stellt sich sein System als ein Totenhaus dar, als "die Schädelstätte des absoluten Geistes", wie es im Anschluß an Schillers Gedicht Die Freundschaft heißt. 2 1

Vgl. hierzu die Romantik-Interpretation in Wolfgang Müller-Funk, Die Rückkehr der Bilder. zu einer "romantischen Ökologie", Wien 1988.

Beiträge

2

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in Werke, Bd. 3, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1979, 590: "Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffne Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur

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Wolfgang Müller-Funk

Die architektonische Metaphorik ist nicht neu und leichthin verwandte Begriffe wie "Grundlage" und "Aufbau" können uns darauf aufmerksam machen, daß wir uns Philosophie und Wissenschaften gerne als solide Gebäudlichkeiten vorstellen, die uns Sicherheit, Solidität und Dauer verbürgen, nicht zuletzt auch deshalb, weil wir Kultur in Artefakten architektonischer Provenienz manifestiert sehen. Kierkegaard hat diese metaphorische "Ablagerung" ins Bewußtsein gerückt und zugespitzt, indem er die Metaphorik wieder reaktualisiert und konsequent durchführt. In dieser radikalen Konsequenz hat Ludwig Wittgenstein den dänischen Spätromantiker und Frühexistentialisten übertroffen. Nicht nur ist der bei Kierkegaard formulierte Imperativ Teil der eigenen "Reflexionsmasse" und macht schlaglichtartig die Gespaltenheit von Wittgensteins Denken sichtbar, vielmehr hat sich der Verfasser des Tractatus bekanntlich selbst als Baumeister versucht, und das Stadthaus im dritten Wiener Gemeindebezirk läßt sich getrost neben die zu Lebzeiten publizierten Werke stellen. Es dokumentiert die Sympathie für einen Baustil, der es sich zum Ziel gemacht hat, praktisch und bewohnbar zu bauen, und programmatisch wird hier festgehalten, daß Schlichtheit, Klarheit und Beschränkung jene entscheidenden Momente eines neuen auch geistigen Bauens sind, das keine Schlösser mehr bauen will und uns nicht zumutet, darin oder daneben wie in einer "Scheune" zu leben. Was hier angeregt wird, ist, das funktional istische Stadthaus in der Kundtmanngasse, das Haus für die Schwester (die eigenen Domizile Wittgensteins, etwa jenes in Norwegen, werden radikal bescheiden und klösterlich ausfallen) in einem Kontext mit dem Tractatus zu lesen. Daß Wittgenstein, der für fast zwei Jahre auf Briefköpfen als Architekt firmiert, seine Architektur so verstanden wissen wollte, zeigt sich an eigenen Bemerkungen und Kommentaren, so etwa wenn er rückblickend im Jahre 1940 darüber befindet: "[...] mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für Kultur etc.). Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich austoben möchte - fehlt. Man könnte also auch sagen, es fehlt ihm die Gesundheit (Kierkegaard). (Treibhauspflanze)." 3 Eine gewisse Distanz ist bei allem Selbstbewußtsein unübersehbar, und sie gipfelt bei dem Spengler- (nicht nur Kierkegaard-)Leser Wittgenstein in die Diagnose des Späten, Raffinierten, Reproduktiven, ein wenig Dekadenten (das sich gelegentlich zum jüdischen Selbsthaß steigert, zur Übernahme also der Vorstellung, "der Jude" sei der Schaffung "authentischer" und "originärer" Kultur nicht fähig). An der Kühle seiner Architektur hat Wittgenstein hingegen entschieden festgehalten, an jener vornehmen Distanz zur minder geregelten und geordneten Welt draußen: "Mein Ideal ist eine gewisse Kühle.

aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit." Zur Bedeutung des Todes und der Sterblichkeit für Hegels Philosophie vgl. Thomas H. Macho, metaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M. 1987, 83 ff. u. 98 ff. 3

Todes-

Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, in Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1984, 453; vgl. zu dem hier angesprochenen geistesgeschichtlichen Gesamtkomplex Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989, insbesondere den Abschnitt über Adolf Loos, 155-161.

Die Rache der Sprache

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Ein Tempel, der den Leidenschaften als Tempel dient, ohne in sie hineinzureden."4 Kein Schloß, keine Scheune. Ein Tempel. Andere Domizile Wittgensteins werden eher Kartausen ähneln. Ganz dezidiert erhält der moderne Rationalismus hier eine religiöse Konnotation: als eine Geisteshaltung exakter Kühle, als eine asketische Haltung. Wie Herbert Hrachovec5 anschaulich gezeigt hat, ist Wittgenstein ein Philosoph der Grenzziehungen. Das Ich ist eben jene Grenze selbst, um die Welt draußen links liegen zu lassen. Der Aphorismus 6.52 im Tractatus befindet einigermaßen kategorisch: "Wir fühlen, daß selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind."6 In diesem Tempel kühler Rationalität, in diesem selbstbegrenzten Kosmos sprachlich anwesender Tatsachen, ist kein Platz für die Kierkegaardschen Forderungen vorgesehen. Im Gegenteil, der Bau ist genau dazu geschaffen, den eigentlichen Lebensfragen keinen Einlaß zu gewähren, so wie es der Kafkasche Torhüter mit dem Mann vom Lande tut. In einer ähnlich paradoxen Wendung wie im Prozeß wird aber die Berechtigung der Lebensfragen ausdrücklich bestätigt, ja mehr noch: das Denken wird ausdrücklich für inkompetent erklärt, die rigoros ausgegrenzten Fragen des Lebens zu beantworten. So fallen radikaler Szientismus und Skepsis, die Begründung der Philosophie als eines auf Naturwissenschaft, mathematischen Symbolismus und "transzendentaler" Sprachanalyse beruhenden Unternehmens und ihre essayistische und aphoristische Dementierung buchstäblich ineins: "Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind."7

Sich auf das Wesentliche, das zugleich das Unwesentliche ist, zu beschränken, gehört zur Devise auch des Gedankenbaumeisters Wittgenstein: "Es interessiert mich nicht ein Gebäude aufzuführen, sondern die Grundlage der möglichen Gebäude vor mir zu haben." 8 Nur zwei "Gebäude" hat Wittgenstein "aufgeführt" und fertiggestellt: das Stadthaus an der Kundtmannstraße und den Tractatus. Das war genug, fortan gilt es, sich in einem essayistischen Verfahren des Ausprobierens die räumlichen Dimensionen vorzustellen. Nach dem Tractatus kein Supertractatus, sondern Tausende von Aufzeichnungen, Aphorismen, Versuchsanordnungen, wenn man so will Architekturkritik. Nach der Philosophie als Mathematik Philosophie als Dichtung. Immer wieder kommt Wittgenstein auf die architektonische Grundproblematik zurück, daß Gebäude Grenzen darstellen und daß nur der ungeschickte Philosoph, der Architekt, Baumeister und Baudirektor, sich übernimmt, indem er selbst Hand anlegt, wobei der herrschaftliche

4

Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, 459 (Eintragung von 1929).

5

Herbert Hrachovec, "Wittgenstein als Ruhestifter", in Rudolf Haller u. Johannes Brandl (Hg.), Wittgenstein - eine Neubewertung, Wien 1990, 268-272.

6

Ludwig Wittgenstein, Tractatus, in Werkausgabe, Bd. 1., 85.

7

Ebd., 10.

8

Ebd., Bd. 8, 459.

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Wolfgang Müller-Funk

und imperiale Gestus unüberhörbar ist: "Der Philosoph kommt leicht in die Lage eines ungeschickten Direktors, der statt seine Arbeit zu tun, und nur darauf zu schauen, daß seine Angestellten ihre Arbeit richtig machen, ihnen ihre Arbeit abnimmt und sich so eines Tages mit fremder Arbeit überladen sieht, während die Angestellten zuschauen und ihn kritisieren." 9 Bacon zum Beispiel, der erste Denker, der Philosophie als Fundament eines naturwissenschaftlichen Unternehmens betreiben wollte, war für Wittgenstein ein so unvorsichtiger Baumeister. Wittgenstein attestiert ihm breite Visionen, aber mangelnde Schärfe und das heißt, in Parallelität zu ihm, dem Erfinder mathematischer Kalküle: er war nicht imstande, Grenzen zu ziehen. Grenzen zu ziehen bedeutet: Vorsicht, Zurückhaltung und, wo diese Grenze gemauert ist, Schutz vor eben jenem Leben, das die klare Ordnung von Wissenschaft und Philosophie bedroht. So ist die Ausgrenzung des "wilden Lebens" wie auch des "Mystischen" keineswegs nur eine methodische (im Sinne einer Reduktion auf rationale Kernbestände), sondern eine lebensphilosophische Option, die Askese, als Form eines programmatischen Nicht-Lebens, nach sich zieht: "Daß alle Weisheit kalt ist; und daß man mit ihr das Leben so wenig in Ordnung bringen kann, wie man Eisen kalt schmieden kann." 10 Nur ein eingefrorenes Leben ist im Tempel dieses kühlen Rationalismus möglich, ein einsames, mönchisches Leben, das auch vor den Unbillen der Zeit schützt, Unnahbarkeit erzeugt. 1931 hält Wittgenstein fest: "Es gibt Probleme, an die ich nie herankomme, die nicht in meiner Linie oder in meiner Welt liegen [...]" n Wittgenstein benannte diese Probleme als Probleme von Kultur und Zivilisation (was hier abschätzig gemeint ist); ausdrücklich weist er dabei für sich den Anspruch ab, eben dieser "Epiker" (bzw. Nicht-Epiker) der sterbenden Kultur, die im Gefolge Spenglers nichts anderes ist als die moderne Zivilisation, zu sein. Aber die Grenzziehung, die Wittgenstein vornimmt, ist auch eine gegenüber dieser Zivilisation, von der es 1930, im ersten Entwurf zu einem Vorwort zu den Philosophischen Bemerkungen heißt: "Dieses Buch ist für diejenigen geschrieben, die dem Geist, in dem es geschrieben ist, freundlich gegenüberstehen. Dieser Geist ist, glaube ich, ein anderer als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation. Der Geist dieser Zivilisation, dessen Ausdruck die Industrie, Architektur, Musik, der Faschismus und Sozialismus unserer Zeit ist, ist dem Verfasser fremd und unsympathisch."12

Dies sei kein Werturteil, auch wenn er der modernen Musik und Architektur mit großem Mißtrauen gegenüberstände, es sei eine Krise der Kultur und ein Verschwinden der Künste. Der Geist der "Unkultur" wolle durch die Peripherie die "Welt" in ihrer "Mannigfaltigkeit" erfassen, seiner, Wittgensteins, die Welt in ihrem Wesen und Zentrum. 13

9

Ludwig Wittgenstein, Tractatus, Bd. 8, 472.

10 Ebd., 526; vgl. 525, 537 u. 546. 11 Ebd., 472. 12 Ebd., 458. 13 Ebd., Bd. 2, 7.

Die Rache der Sprache

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Der Philosophie Wittgensteins liegt also eine Abwendung zugrunde und eine Ausgrenzung, die ganz anderer Art ist als jene, die etwa im Tractatus zur Sprache kam: "Ich aber komme zu diesen Problemen überhaupt nicht. Wenn ich 'have done with the world', so habe ich eine amorphe (durchsichtige) Masse geschaffen, und die Welt mit ihrer ganzen Vielfältigkeit bleibt, wie eine uninteressante Gerümpelkammer, links liegen. Oder vielleicht richtiger: das ganze Resultat der ganzen Arbeit ist das Linksliegenlassen der Welt. (Das In-die-Rumpelkammer-werfen der ganzen Welt)."14

Wenn man sich nicht als Epiker einer untergehenden Kultur betätigen möchte wie Beethoven, Goethe, Spengler, dann muß man sich ihr entziehen: durch den linguistic turn, der nicht zuletzt den Effekt mit sich bringt, daß er der Masse der Tatsachen ein Zentrum gibt: die Sprache. Selten zuvor sind Vielfalt, Komplexität und Unübersichtlichkeit so strikt im Sinne eines Kulturzerfalls interpretiert worden. Wenigstens das eine vermag die Hinwendung zur Sprache: diese Vielfalt in sprachliche Ausdrücke-Sätze und -Namen zu verwandeln und die Sprache als das Wesentliche zu etablieren, während die Vielfältigkeit der Welt in einer Rumpelkammer Platz findet. Die philosophische Ordnung ist nicht wiederherzustellen durch den Rekurs auf die Aristotelische Unterscheidung von Substanz und Akzidenz (und auch nicht durch jenen auf die Platonischen Begriffsexplikationen, über die sich Wittgenstein gelegentlich amüsiert zeigt), vielmehr durch die Verwandlung der Welt in Sätze. Diese ist nur möglich unter der Voraussetzung einer starken Annahme: dem Primat der Sprache. Ohne Sprache keine Welt. Daraufläßt sich ein neues Gebäude der Wissenschaft errichten. Die Philosophie verhält sich zu dieser wie die Literaturkritik zur Literatur. Das ist eine Quelle des Wittgensteinschen Essayismus. Alles, was nicht Sprache ist, ist keine Welt, hat höchstens Platz in der Rumpelkammer. Die Reduktion, die im linguistic turn enthalten ist, ist ein sinnstiftendes Unternehmen angesichts des Zerfalls einer Kultur, die jede Mitte verloren hat und sich peripher in chaotischer Vielfalt ergießt. Die Wissenschaft hat die Erbschaft der Religion angetreten, ihr wird zugetraut und zugemutet, gegen den mainstream der Zeit Sinn und Ordnung zu stiften. Wittgenstein weiß um die Riskanz seines Unternehmens, des Geheimnisvollen, das jenseits der Sprache liegt. Sein Gestus ist der eines Weisheitslehrers, und die vielen Anreden simulieren gleichsam das Sprachspiel zwischen Lehrer und Schüler. Sehr merkwürdig nimmt sich auch seine Aufforderung aus, daß die Sätze seines Werkes langsam gelesen sein wollen, etwa auch der programmatisch belanglose Satz, daß die Welt alles sei, was der Fall ist. Der HyperRationalismus kippt unversehens in sein Gegenteil um, wenn es etwa, noch einmal im Hinblick auf die Philosophischen Bemerkungen, heißt: "Willst Du nicht, daß gewisse Menschen in ein Zimmer gehen, so hänge ein Schloß vor, wozu sie keinen Schlüssel haben. Aber es ist sinnlos, darüber mit ihnen zu reden, außer du willst doch, daß sie das Zimmer von außen bewundern."15

14 Ludwig Wittgenstein, Tractatus, Bd. 8, 462. 15 Ebd., 460.

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Wolfgang Müller-Funk

II. Annäherung: Eine Welt aus lauter Sätzen, linguistic turn-s, Plural Die Bedeutung manches Großphänomens ist zuweilen so naheliegend, daß man gar nicht daraufkommt, sich mit diesem eigens zu beschäftigen. Phänomene wie die Gesellschaft und die Sprache gehören unbedingt dazu nebst den Disziplinen, die die späte und ausschließliche Beschäftigung mit ihnen hervorbrachte: Soziologie und Linguistik. Als Teil eines Umfassenderen hat man sich schon früh mit ihrer Funktionsweise oder auch mit ihrem Ursprung beschäftigt. Der Verdacht ihrer Vorgängigkeit hat die Ursprungsfrage in den Hintergrund treten lassen und hat das bewirkt, was man gemeinhin als linguistic turn bezeichnet, wobei der Singular doch höchst vereinfachend anmutet. Nehmen wir nun drei historische Beispiele. Wittgenstein selbst erwähnt einmal einen Brief Kleists, in dem dieser von seinem Wunsch berichtet, seine Gedanken ohne Worte zu übertragen.16 Um zu notieren: "Welch ein seltsames Geständnis?" Seltsam mag anmuten, daß ein Dichter, der Künstler, der in der Sprache, den Worten und Sätzen lebt, am liebsten sprachlos sich mitteilen möchte. Und doch: so seltsam ist dieses Eingeständnis nicht: denn nur die sprachlose Mitteilung verbürgt Ewigkeit, Gewißheit, Evidenz, Absolutheit. Nur weil es das lästige Medium der Sprache gibt, bestehen Verständnisprobleme. Vielleicht rühren alle Probleme der Philosophie daher, daß es die Sprache gibt. Der von Dichtung und Glauben Ergriffene glaubt an die Unmittelbarkeit des Gedankens. Es gibt eine Kunst, mit der Sprache umzugehen, die sie zum Verschwinden bringt. Die Dichtung ist immer auch Trauer um verlorene Magie. Aber schon die Theologie muß sich damit herumschlagen, wie denn Gottes Wort zu verstehen sei. Woher rührt unser Verständnis? Und wo soll man anfangen? Und wie läßt sich das Wort von damals in die Sprache des Heute transferieren, übersetzen? Sprache und Geschichte verschmelzen zu einem transzendentalen Horizont, der nicht frei gewählt ist. Und wie mit dem Verstehen beginnen, beim Teil oder beim Ganzen? Verstehen wir einen Satz, weil wir den größeren Kontext verstehen oder verstehen wir den Kontext, weil wir seine Sätze kennen? Das, was wir seit Schleiermacher als hermeneutisches Problem, als hermeneutischen Zirkel bezeichnen, ist undenkbar ohne den Bezug auf die Sprache und einen: linguistic turn. Die Sprache besteht zudem aus Zeichen, die aus zwei Teilen zusammengesetzt sind, willkürlich, ohne inneren Zusammenhang, aus einem Signifikanten und einem Signifikat, aus einem Äußerlichen, zum Beispiel einem Laut oder einem fixierten "Bild". Zwischen beiden, dem Signifikanten und dem Signifikat, besteht nur ein äußerer Zusammenhang. Und doch kann dieser Zusammenhang nicht gestiftet sein, denn eine solche Konvention setzt ja die Existenz von Sprache voraus usw. Die Konzentration auf die formale Struktur des Signifikaten im Spiel der Differenzen (in der Sprache, in der Ethnologie und in der Psychoanalyse), dieser linguistic turn, der uns die sinnlose Seite der Sprache näherbringt und uns poststrukturalistisch als von Ketten von Signifikaten determiniert erscheinen läßt, wäre die zweite folgenschwere Hinwendung zur Sprache, sozusagen von 16 Heinrich von Kleist, Briefeines Dichters an einen anderen, 5. Januar 1811, in ders., Sämtliche und Briefe, Bd. 2, hg. v. Helmut Sembdner, 4. Aufl., München 1965, 347-349.

Werke

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Saussure bis Lacan, und sie zeitigt erhebliche Folgen für ein Denken, das sich in diesen Bahnen bewegt. Zweifelsfrei läßt sich die Wendung, die Wittgenstein mit seiner Sprachphilosophie vollzieht (was hier eine Philosophie meint, die mit der Vorgängigkeit von Sprache rechnet), einem dritten Typus von linguistic turn zurechnen, einem semantischen (der die pragmatischen Aspekte, wie sie später in der sog. Sprechakttheorie auftauchen, mit einschließt). Was heißt in der Sprache denken? Darüber gibt das Vorwort des Tractatus bekanntlich schon Auskunft, wenn es heißt, daß die Grenzen des Denkens "durch die Sprache gezogen werden". Und im Abschnitt 119 der Philosophischen Untersuchungen wird dekretiert: "Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat [...]" 17 In einem Notat (1931) werden die philosophischen Probleme abermals als sprachliche Mißverständnisse interpretiert, wenn es heißt: "Man hört immer wieder die Bemerkung, daß die Philosophie eigentlich keine Fortschritte mache, daß die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigen, uns noch beschäftigen. Die das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so sein muß. Der ist aber, daß unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum 'sein' geben wird, das zu funktionieren scheint wie 'essen' und 'trinken', solange es Adjektive 'identisch', 'wahr', 'falsch', 'möglich' geben wird [...] solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was keine Erklärung scheint wegheben zu können."18

Wir sind Gefangene unseres traditionellen metaphysischen Denkens, weil wir nicht aus unserer sprachlichen Haut herauskönnen. Die Sprache ist es, die uns dazu verleitet, den Begriff für die Sache zu halten. Die Metaphysik ist nichts anderes als ein sprachliches Mißverständnis des Verbums "sein" usw. Problematisch an diesem Aphorismus ist die Behauptung von der Unveränderlichkeit der philosophischen Probleme. Denn eine Philosophie, die einen sprachlichen Holismus propagiert und Philosophie als Kritik der Philosophie an deren sprachlicher Blindheit vorträgt, ändert die Philosophie von Grund auf, und sei es nur dadurch, daß sie die Probleme der Philosophie in die Grammatik der Bedeutung von Sprache "übersetzt". Umgekehrt legt es "die" Sprache, genauer ein Sprachspiel, wie Wittgenstein später vorsichtiger formulieren wird, nahe, eine Welt, die durch die vorgängige Sprache begrenzt, definiert ist, als Akkumulation von Fällen, von Tatsachen zu bestimmen. Auf der Ebene der sprachlichen Semantik ließe sich ex aequo formulieren: Die Welt ist die unendliche Summe aller Aussagesätze, die sich symbolisch in einer Aussagelogik darstellen lassen. Die Schlußfolgerung, die zweimal im Tractatus auftaucht, im Vorwort wie im Schlußwort, daß man darüber schweigen muß, wovon man nicht reden bzw. sprechen kann, ist entweder unsinnig oder trivial. Wovon man nicht sprechen kann, das ist offenkundig jenes Unaussprechliche und Mystische, das nicht der Fall ist, nicht in die "Welt der Tatsachen" gehört, daß da ist, obwohl es nicht da sein dürfte. Das Mysti-

17 Ludwig Wittgenstein, Tractatus, Bd. 1, 301. 18 Ebd., Bd. 8, 470.

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Wolfgang Müller-Funk

sehe ist wie das "Ich", das ja auch nicht in der Welt ist, offenkundig ein Grenz-Fall, über den eben doch gesprochen wird und werden muß. In gewisser Weise wird das autoritative Gebot also durch den Hinweis auf die Existenz eines Unaussprechlichen übertreten. Ohne Übertretung keine Grenzziehung zur Welt des Unsinns, die eigentlich nicht ist, weil es keine Welt ohne Sprache gibt. Man müßte es fertigbringen, über das Schweigen zu schweigen. Aber gerade das Schweigen und das Absente machen beredt, wie die Dichtung und Kunst, jene verzweifelten Grenzgängereien, eindrucksvoll belegen: gerade, wovon man nicht sprechen kann, wird gesprochen, geheimnisvoll (so wie im Tractatus gelegentlich auch), und die Grenze, die hier markiert wird, ist die Welt der Fälle, die "amorphe durchsichtige Masse", die im Netz der Sprache eingefangen wird. Aus der Perspektive "der" Sprache gibt es keinen Unsinn, sie läßt jeden "Unsinn" zu, höchstens aus der Perspektive eines bestimmten Sprachspiels, das sich auf die symbolische Formalisierung, zum Beispiel physikalischer Tatsachen, konzentriert. Daß es das Schweigen ist, das die Sprache erhellt, wirft ein Problem auf, das im Tractatus implizit vorhanden, aber im Grunde genommen unbedacht bleibt: wenn es nichts außerhalb der Sprache gibt, läßt sich über die Sprache nur in der Sprache sprechen. Im Tractatus wurde die radikale Allgegenwart behauptet, die nur durch den Unsinn horizontal begrenzt ist, aber das hatte, trotz sprachkritischer Passagen und Definitionen von Sätzen und Namen, keine Folgen für die Darstellung, die mit den Tatsachen und Fällen gleichsam außersprachlich begann, um sie sodann auf Satz, Bild und Name zu beziehen. Peter Handke hat in einer heute etwas kraus anmutenden Art den Versuch unternommen, die völlige sprachliche Determiniertheit und Manipuliertheit des Menschen durch die Welt der Sprache und Sätze theatralisch zur Darstellung zu bringen. Der Eingangssatz aus dem Tractatus bekommt hier eine seltsame Nebenbedeutung, denn Kaspar, der sprach- und zugleich weltlose Mensch, stolpert förmlich auf die Bühne. Die Welt ist alles, was der Fall ist. Sprecher hämmern ihm Sätze ein, bis der sprachlich Malträtierte lernt, nach und nach mit den Dingen umzugehen, ein Sprachspiel, das einer Dressur ähnelt, wie Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen bemerkt. 19 Anders als für Kaspar ist für den Zuschauer vorgängig eine Welt von Gegenständen vorhanden, auf die nach und nach konventional die Sätze bezogen werden, die Kaspar eingetrichtert bekommt und die an die Stelle des sinnlosen Gestammels treten, das mit dem Gestolpere korrespondiert, so wie die stummen Dinge allmählich auf die beredten Worte bezogen werden. Eine ganz konventionelle Darstellung: hier die Dinge, dort die sprachlichen Begriffe oder Sentenzen. Handke läßt das Karikaturhafte der Szenerie grell hervortreten, als Dressurakt, als eben primitives Sprachspiel, das so im Tractatus nicht gemeint war. Aber auch hier bleibt es bei einer traditionellen Darstellung, und das Problem, das sie verbirgt, ist die Undarstellbarkeit des radikalen sprachlichen Holismus, den Wittgenstein vertritt: "Die Grenze der Sprache zeigt sich in der Unmöglichkeit, die Tatsache zu beschreiben, die einem Satz entspricht (seine Übersetzung ist), ohne eben

19 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, hier kein Erklären, sondern ein Abrichten."

Bd. 1, 2 3 9 (§ 5): "Das Lehren der Sprache ist

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den Satz zu wiederholen."20 Das gilt auch für jene Sätze, die die Tatsache des Satzes und der Sprache zum Inhalt haben. Es gibt keine Semantik der Sprache jenseits ihrer eigenen Semantik. Statt sich Beulen zu holen oder Unsinn zu reden, kommt es darauf an, Übersetzungsarbeit zu leisten, von einer Sprache in die andere, auf die Produktion von Paradoxien und Tautologien. Es gibt keinen Ort außerhalb, von dem aus die Welt als die durch das universelle Medium Sprache vermittelte Welt dargestellt werden könnte: "Die Sprache kann man nur durch die Sprache erklären, darum kann man 'die' Sprache nicht erklären. Das Ziel der Philosophie ist es, eine Mauer dort zu errichten, wo die Sprache ohnehin aufhört. "21 Denken und Sprache fallen ineins (wobei Wittgenstein gerne in eine Sprache zurückfällt, die den Sachverhalt so darstellt, als ob die Sprache das Denken "ausdrückt", also eine wesentlich sekundäre, rein vermittelnde Rolle einnähme).

III. Annäherung: Sprachspiele, Schweigen, Ernst, Sprache, Spiel Die Konzentration auf die Sprache sollte nicht zuletzt eine sinnvolle Beschränkung ermöglichen, einen schlichten, kühlen Bau, einen Neubau der Philosophie. Gerade im Hinblick auf den linguistic turn erweist sich Wittgenstein als genuiner Modernist. Der perspektivische Schwenk hin auf die Sprache, ihre Tautologie mit dem Denken, ermöglicht den Traum aller Philosophen, die unter der Last der Tradition ächzen: Noch einmal zu beginnen mit dem Bau, ganz von vorne, unbekümmert - so als wäre die Welt ganz neu. Diese Aura strahlt der berühmte Satz aus, der zwischen Beliebigkeit und Gewichtigkeit schwankt, der beiläufig klingt und doch langsam gelesen sein soll (so wenigstens will es sein musikalisch spätromantisch inspirierter Autor): Die Welt ist alles, was der Fall ist. Alles, alle Probleme schienen gelöst, die Welt der Sprache und die Welt der Fälle kongruent aufeinander bezogen, die verwirrende Vielfalt der Welt war in der Rumpelkammer untergebracht. Aber die Zuwendung zu dem Großphänomen der Sprache, das, was Wittgenstein mitunter auch den "Kampf mit der Sprache" nennt, hat tückische Konsequenzen. Am Anfang, in der Welt der Sätze, die etwa allesamt in die Form "Es wird behauptet, daß [...]" gebracht werden können, schien diese Welt der Sprache leicht zu handhaben zu sein. Mehr und mehr stellt sich heraus, daß es sich dabei nur um ein "Sprachspiel" unter vielen handelte, nicht um die Sprache selbst, vielleicht sogar um ein noch recht "primitives". Vielleicht war die Sprache ein unendliches und unbegrenztes Spiel, das zu durchschauen und zu beschreiben die Kraft eines jeden Denkers übersteigt, auch die eines so zähen wie Ludwig Wittgenstein. Das Sprachspiel ist ein Ausschnitt, so wie ein einzelnes Spiel Teil einer unendlichen Menge möglicher Spiele darstellt, die alle untereinander 2 0 Ludwig Wittgenstein, Vermischte

Bemerkungen

[1931], Bd. 8, 463.

21 Zitiert und diskutiert bei Merril B. Hintikka und Jaakko Hintikka, Untersuchungen Frankfurt a.M. 1990, 38-41.

zu

Wittgenstein,

172

Wolfgang Müller-Funk

durch gewisse "Ähnlichkeiten" miteinander verbunden sind, ohne daß es einen fest umrissenen Oberbegriff gäbe, zu dem sich alle Spiele zuordnen ließen: "Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir 'Spiele' nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw. Was ist allen diesen gemeinsam? - Sag nicht: Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht 'Spiele' - sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist." 22 Das "Sprachspiel" ist eine Metapher, und wörtlich genommen ist es ein ganz bestimmtes Sprachspiel, eben jenes, in dem mit der Sprache und den Bedeutungen gespielt werden darf. Dieses Sprachspiel ist die Literatur, die Dichtung. Die Philosophie Wittgensteins bedient sich also dieses Sprachspiels des Sprachspiels, um etwas über die Sprache aussagen zu können, weil sich in diesem Sprachspiel die Sprache gleichsam selbst darstellt. Das ist die logische Konsequenz aus Wittgensteins Einsicht, daß es keine Außenbeschreibung von Sprache geben kann, keine Metasprache, die wirklich jenseits der Allgegenwart der Sprache, unserer Sprache läge. Dieses spielerische Verweisen auf die Sprache, diese didaktische Verwendung des Sprachspiels des Sprachspiels nenne ich "Essayismus" und betone dabei den Einsatz literarischer Mittel, die Simulation des Dialogischen, das Hypothetische, Vorläufige und Fragmentarische - ein Konzept, das sich nicht mit den Metaphern "Tempel" und "Rumpelkammer" umschreiben läßt. 23 Noch ein Moment am Vergleich zwischen Sprache und Spiel ist erhellend: die Begrenzung. Einzelne Spiele sind, wie man das aus diversen Spieltheorien24 kennt, begrenzt und dies in dreierlei Hinsicht: 1. zeitlich, 2. räumlich, 3. im Hinblick auf die Anzahl der Regeln. Weil Spiele begrenzt sind, lassen sie sich beschreiben, gibt es eine klare Zuordnung von Innen und Außen. Wer das Spiel beschreibt, kommentiert, der befindet sich außerhalb, entweder als Zuschauer oder zeitlich versetzt als derjenige, der nach Spielende das Spielfeld verlassen hat. Vom Spielfeldrand aus lassen sich die Spielregeln explizieren, auch wenn sie der Betrachter nicht kennt. Die Analogie ist folgenreich, verändert die Welt, die der Fall war und die nun vielleicht eine Welt all jener Gegebenheiten ist, die man als "Sprachspiele" beschreiben kann. Wobei Wittgenstein methodisch festhält, "daß wir nämlich in der Philosophie den Gebrauch der Wörter oft mit Spielen, Kalkülen und nach festen Regeln vergleichen, aber nicht sagen können, wer die Sprache gebraucht, müsse ein solches Spiel spielen [...]" 25 Die Philosophie erzeugt ein Schwindelgefühl und sie ist zugleich jene Disziplin, die diesen Schwindel zu beheben sich anheischig macht. Im Tractatus ließ sich über die Sprache nur etwas aussagen, indem man eine Mauer des Schweigens errichtete, eine Mauer, hinter der das Schweigen beginnt. Aber das Schweigen ist nicht beredt, auch wenn es beredt macht. Das Konzept der Sprachspiele ermöglicht es, zu zeigen, was wir alles machen, wenn wir sprechen. Sie erlaubt uns, bestimmte Vorstellungen von Sprache, etwa jene aus dem Tractatus oder die dem Lexikon zugrundeliegende zu relativie-

22 Ludwig Wittgenstein, Philosophische

Untersuchungen,

Bd. 1, § 66, 277.

23 Vgl. hierzu Wolfgang Müller-Funk, Erfahrung und Experiment. Essayismus, Berlin 1995.

Studien zu Theorie und Geschichte

24 Vgl. hierzu den Sammelband von Ursula Baatz u. Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Vom Ernst des Berlin 1993. 25 Ludwig Wittgenstein, Philosophische

Untersuchungen,

Bd. 1, § 81, 286.

des

Spiels,

173

Die Rache der Sprache

ren als ein mögliches Sprachspiel. Die gesprochene Sprache rückt in den Vordergrund, eben die "Sprechakte", und dabei fällt Licht auf den Spracherwerb und die Relation von Sprache und "Wirklichkeit", wie Merrill und Jaakko Hintikka betonen: "Das Lernen der Sprache besteht - im Gegensatz zur Auffassung des Augustinus und des Verfassers der Logisch-philosophischen Abhandlung - nicht darin, daß man sich eine Reihe diverser Namen für verschiedene Entitäten aneignet, sondern darin, daß man diejenigen Sprachspiele lernt, die zur Vermittlung der Beziehungen zwischen Wort und Gegenstand dienen [,..]" 26 Eher gehe es um die Einübung von kulturellen Fertigkeiten: "Die Wilden haben Spiele (oder wir nennen es doch so), für die sie keine geschriebenen Regeln, kein Regelverzeichnis besitzen. Denken wir uns nun die Tätigkeit eines Forschers, die Länder dieser Völker zu bereisen und Regelverzeichnisse für ihre Spiele anzulegen. Das ist das ganze Analogon zu dem, was der Philosoph tut." Die Regeln sind nun jene Grenzmarke, die nicht überschritten werden kann: "Hinter die Regeln kann man nicht dringen, weil es kein Dahinter gibt." 27 Seine ethnologische Untersuchung beginnt Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen in der eigenen Kultur, bei Augustinus, dessen Vorstellung vom Spracherwerb im Sinne des Benennens er im Sinne eines einfachen Sprachspiels vorführt. Das Spiel, das vorgegeben wird, heißt - wie sollte es anders sein "Hausbau": "Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen [...]" 28 In dem Sprachspiel gibt es noch vier sprachliche Elemente, Wörter nebst dazugehörigen, ihnen entsprechenden Bausteinen: also "Würfel", "Säule", "Platte", "Balken" und das ganze nicht nur im Lautbild, sondern auch realiter: Würfel, Säule, Platte, Balken. Ein sehr einfaches System, überschaubar, didaktisch gut handhabbar (wenn es bislang auch kaum Eingang gefunden hat in den Sprachunterricht österreichischer Schulkinder) und zugleich nur ein winziger Ausschnitt: "Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar? Die Antwort ist dann: 'Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.'" 29 Das Ganze der Sprache, obschon es als Horizont vorausgesetzt wird, ist unerreichbar, weil es zu vielfältig, zu komplex ist. Man muß sich mit Ausschnitten begnügen, wenn man etwas aussagen möchte. Man kann nicht direkt über die Sprache sprechen, aber man kann die einzelnen Kontexte miteinander vergleichen. Vom Standpunkt einer szientistischen Philosophie ist das unbefriedigend und hat dort auch eher eine zurückhaltende Aufnahme gefunden. Denn mit den "Sprachspielen" wird ja der "Unsinn" des Tractatus quasi durch die Hintertür hereingelassen. Und es bleibt ungehörig, wissenschaftlich ungehörig, sich durchgängig einer Analogie zu bedienen, obschon doch klar ist, daß die Sprache kein bloßes Spiel und auch nicht das Ensemble aller möglichen Spiele ist. Denn das Spiel in all seinen Variationen ist eine exklusive Situation, die vornehmlich von Außen als Spiel

26 Merril B. Hintikka u. Jaakko Hintikka, Untersuchungen

zu Wittgenstein,

27 Ebd., 233. 28 Ludwig Wittgenstein, Philosophische 2 9 Ebd., 238.

Untersuchungen,

Bd. 1, § 2, 238.

272.

174

Wolfgang Müller-Funk

betrachtet werden kann. Von der Sprache wissen wir doch, daß sie allgegenwärtig ist. Das Spiel allgegenwärtig zu sehen, etwa im Sinne der indischen "Maya", ist eine Totalisierung und Metaphorisierung des Phänomens. Obschon auffällig ist, daß sowohl das Spiel wie die Sprache keine vollgültigen Gegenbegriffe kennen: weder ist das "Schweigen" ein gleichwertiges Pendant zur Sprache, noch ist der Ernst die bloße Negation des Spiels. Man kann im Sprachspiel schweigen, und im Spiel zeigt sich nicht selten der Ernst, vor allem für die Beteiligten auf dem Spielfeld. Assoziativ ließe sich noch, um den glücklichen Einfall der Wittgensteinschen Analogie zu unterstreichen, hinzufügen, daß es meistens ernst wird, wenn das Schweigen überhand nimmt. Das Schweigen wie der Ernst sind also Bestandteile des "Ganzen", Indices für eine handgreifliche Wirklichkeit, die selbst "Sprache" und "Spiel" umfaßt. Umgekehrt sind Sprache wie Spiel auch deshalb so schwer zu definieren, weil wir prinzipiell alles und jedes als "Sprache" und "Spiel" deuten können: auch das Donnern von Artilleriegeschützen. Die innere Voraussetzung für den Vergleich von Sprache und Spiel war das spielerische Moment in der Sprache selbst, ihr kombinatorischer Überschuß, daß es ein Sprachspiel, ein Spiel der Sprache gibt. Aus dieser Perspektive erweist sich das Konzept einer festgefügten Weltbeschreibung als unzulänglich. Keine gute Zeit für philosophische Häuslebauer. Aber andererseits weiß man, wie Häuser gebaut werden und zu welchen Zwecken. Der Essayist, dieser erstaunliche unbefangene Denker, der Wittgenstein auch ist, ist ein Hausbetrachter, eher einer, der unterwegs ist. Sich beschränken kann man auch ohne feste Mauern. Insofern hat die theoretische Entwicklung Wittgensteins ihre Logik, und was uns hier interessierte, waren die Brüche und Inkonsistenzen, die mehr über die Tendenzen des modernen Denkens aussagen als jedes homogene Werk. Allein der diagnostische Wert ist unbestritten. Daß es am Ende das wissenschaftliche Weltbild, auch das eigene, als ein vergleichsweise primitives unter anderen darzustellen erlaubt, macht die Auseinandersetzung mit Wittgenstein ebenso spannend wie sein essayistisches Verfahren, das es nahelegt, auf jedwede ideale Metasprache zugunsten der Selbstdarstellung der Sprache zu verzichten. Es gibt einen linguistic turn vor allen angestrengt philosophischen: den der Dichtung, des geschriebenen und vorgetragenen Wortes. Der philosophische turn macht diesen Sachverhalt nur klar. Um Sprache zu verstehen, brauchen wir bloß zu lesen: und zwar Literatur.

Literarische Zeugnisse

Eveline Goodman-Thau

"Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr" Edmond Jabes im Schiffbruch des Buches

"Zu jener Zeit sprach Gott zu mir: Haue dir zwei steinerne Tafeln wie die ersten und steig zu mir den Berg hinauf und mache dir einen Holzschrein. Und ich werde auf den Tafeln die Worte schreiben, die auf den ersten waren, die du gebrochen hast und du sollst sie in den Schrein legen." Dt. 10,1-2 "'Die du gebrochen hast, lege sie in den Schrein.' Rav Joseph lehrte: Dies lehrt, daß die Tafeln und die Tafelbruchstücke in den Schrein gelegt waren. Hieraus ergibt sich, daß man einen Gelehrten, der durch höhere Gewalt seine Lehre vergessen hat, nicht mit Geringschätzung begegnet. Resch Lakisch sagte: Manchmal ist die Aufhebung der Weisung ihre Gründung, denn es steht geschrieben: 'Die du gebrochen hast.' Der Heilige, gelobt sei er, sprach zu Mose: Wohl dir, daß du sie gebrochen hast!" Babylonischer Talmud, Menachot 99a

In seinen Abschiedsreden erzählt Moses den Kindern Israel die Geschichte der Tafeln. Die ersten brach Moses beim Anblick des Goldenen Kalbs, als er vom Berg Sinai hinabgestiegen war: "[...] Tafeln beschrieben von ihren beiden Seiten, von hier und von hier waren sie beschrieben. Und die Tafeln waren das Werk Gottes, und die Schrift, Schrift Gottes, eingraviert in die Tafeln." (Ex. 32,15-16) Diese ersten Tafeln sind nun vom Anfang an und so für ewig gebrochen, und Gott fordert von Moses, anstelle dieser steinerne Tafeln anzufertigen: "[...] den ersten gleich, und ich werde auf die Tafeln die Worte schreiben, welche auf den ersten Tafeln waren, die du gebrochen hast." (Ex. 43,1) In der Nacherzählung dieser Ereignisse im fünften Buch Mose ist die Rede von einem Holzschrein, in den die zwei Tafeln, nachdem sie von Gott beschrieben sein werden, gelegt werden sollen. In dem oben zitierten Talmudkommentar wird diese Tatsache zum Ausgangspunkt einer Auslegung von Rav Joseph, der den Nebensatz des biblischen Verses "die du gebrochen hast" in einen Hauptsatz verwandelt, und so für die nächsten Generationen beide Tafeln, die zweiten wie auch die Bruchstücke der ersten, im Schrein aufgehoben weiß. Der Gelehrte, "der durch höhere Gewalt seine Lehre vergessen hat", ist wohl Rav Joseph selbst, der erblindet war. Hinter seiner Person und Aussage versteckt sich aber eine tiefere Wahrheit: die Schrift auf den ersten Tafeln ist

178

Eveline Goodman-Thau

für das menschliche Auge unsichtbar und vergessen. Der Bruch mit dem ursprünglichen Text soll aber in der Erinnerung bewahrt bleiben durch die Aufbewahrung der gebrochenen Tafeln, als sichtbarer Bruch in einem Schrein zusammen mit den zweiten. Das Vergessen der Lehre soll ein Zeichen ihrer Bewährung sein und bleiben. In diesem Zusammenhang steigert sich die Aussage von Resch Lakisch zu weiterer Radikalität: "Die du gebrochen hast" wird zum Lob durch ein Wortspiel im Hebräischen, welches die Wörter "die" und "Wohl" verbindet. Es scheint, als ob der Bruch eine Notwendigkeit für die Kontinuität der Tradition sei, ein Paradoxon, das die Geschichte des jüdischen Volkes von seinen frühen Anfängen an geprägt hat. Im Buch der Bücher, für Gott Plan der Welt, für den Menschen die Grundlage und Voraussetzung für die Kontingenz der Welt, ist dieser Bruch eingeschrieben. Die Existenz der Welt und die des Menschen hängt von der Existenz des Buches ab, welches in seiner Ganzheit, aber auch in seiner ursprünglichen, jetzt gebrochenen Form, vorliegt: das Original ist nur als Bruchstück vorhanden, jede Kontinuität vermag den Bruch nicht zu heilen. So wird der Bruch zur Chiffre für das Buch. "Die Letter ermöglicht das Wort, wie sie auch die Spur der zerstörten Vokabel lesbar macht." 1 Im Exil des Wortes zu stehen heißt, im Wort zu leben, eine Wahrheit, welche für die Existenz des jüdischen Volkes bestimmend war und sie gesichert hat. Einerseits kann es zurückblicken auf eine lange, wenn auch leidensvolle Geschichte, voller Brüche und fast unmöglichen Rettungen aus dem Untergang, andererseits hat es die fast übernatürliche Fähigkeit zum Überleben. Für den Gläubigen ist dies die Hand Gottes, für den Ungläubigen die Hand des Schreibers. "Du bist der, der schreibt und der geschrieben wird." 2 Die Überlebensfrage war verbunden mit der Fähigkeit, einen neuen Text aus dem Untergang heraus zu schreiben. Einer alten Legende zufolge handelte der alte, weise Rabbiner Jochanan ben Sakkai nach der Zerstörung des zweiten Tempels (im Jahre 70 der christlichen Zeitrechnung) mit dem römischen General aus, daß er in einem Sarg aus der brennenden Stadt Jerusalem getragen werden dürfe, und gründete dann in Javne das erste jüdische Lehrhaus. So fängt aus der Mitte des Bruchs für das jüdische Volk die Tradition des Buches an, die die Lust am Verlust durch den Kommentar befriedigt. Jeder überlieferte Kommentar wird zum Glied in der Kette der Tradition, die so nie unterbrochen wird. Über den Tod des Kommentators hinaus bringen seine Schüler in seinem Namen Erlösung in die Welt und schreiben sich selbst so in die Ewigkeit ein. So ist jeder Kommentar ein Einbruch der Ewigkeit in die Geschichte. Jeder Mensch bricht das schon vor ihm geschriebene Buch, wie die ersten Tafeln, durch die Mitteilung seines Lebens. Ein Buch ist immer ein geschriebenes Buch - das Buch der Bücher, das von Gott geschriebene Buch. Der Mensch als Mitschreiber schreibt sich in das Buch des Lebens ein. Sein Leben und das Leben des Buches sind von nun an untrennbar miteinander verbunden. Es ist ein Gehen in die Fremde, aus seinem Haus, in dem er zu Hause ist, in ein Land, das nicht gesät ist (Jer. 2,2), nicht von seiner Feder berührt ist. Welches wie das weiße Blatt der Wüste auf seine Hand wartet, um gefüllt zu werden, mit

1

Edmond Jabès, Es nimmt seinen Lauf, Frankfurt a.M. 1981, 74.

2

Edmond Jabès, Das Buch der Fragen, Frankfurt a.M. 1989, 7.

"Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr"

179

Worten wie jenen, die Gott einst in der Wüste gesprochen hat, 3 mit Sätzen, mit Blättern voll Schrift, lesbar und unlesbar. Die Abstände zwischen den Zeilen werden immer kleiner, der Text wird immer dichter: so entsteht ein Text, der einerseits das Exil des Menschen ausdrückt, eine Aussage über sein Fremdsein macht, der aber zugleich Begegnung ist in dem Sinne, daß er sich endlich in dieser Fremdheit als Eigenes erkennt. Das Unerwartete wird zur Erwartung, das Unsichtbare zum Objekt des Sehens. Das menschliche Auge nämlich ist nach innen und nach außen Auge: nach außen im Exil, nach innen zu Hause. Nach außen kann es die Umwelt aufnehmen, nach innen deutet es. Der Mensch kann seine Augen schließen vor der Welt, er kann aber nicht, nicht einmal im Traum, aufhören, die Welt zu deuten, einen Traumtext zu schreiben. "Ein Traum, der nicht gedeutet ist, ist wie ein Brief, der nicht geöffnet ist", lautet ein bekannter rabbinischer Spruch. Die Vorhaut des Auges4 dient dem inneren Sehen: die Welt muß verdeckt werden, um dann als innere Welt aufgedeckt, entdeckt zu werden. Die Wirklichkeit wird durch das Auge verwandelt, und die Buchstaben, die Schriftzeichen, die ein Schreiber auf das Blatt setzt, dienen dieser Verwandlung. Sonst könnten die Juden, denen das Schreiben nicht leicht fällt, für die es aber eine Überlebensfrage darstellt, nicht überleben. In diesem Sinne spricht der alte Rabbi Joseph durch den Mund von Reb Yekel, wenn er zu einem Blinden, der um seinen Segen bittet, sagt: "Sprich mit dem, der mit deinen abwesenden Augen sieht. "5

1. Im folgenden wollen wir einige Spuren der oben angedeuteten Motive aus der jüdischen Tradition im Werk Edmond Jabes' verfolgen. Jabes ist ein poetischer Denker. Poetisches Denken ist nicht an Logik und Kausalität gebunden, es läßt sich durch die Sprache leiten, es bringt keine Antworten, sondern stellt Fragen. Poetisches Denken fällt für Jabes mit "Jüdischem Denken" zusammen. Indem wir der Struktur seiner Texte folgen, die wie einzelne Aphorismen oder Gedankensplitter wirken, 6 werden wir uns in den Bahnen dieses poetischen Denkens mit all seinen Assoziationen bewegen. Der vorliegende Aufsatz wird also seine Systematik aus dem Dialog mit dem Text ableiten. "Wer schreibt, schreibt Gelesenes nach; jedoch das Gelesene ist bloß eine mögliche Lesart des Unlesbaren." Der Kommentar ist so "wenn nicht der eigentliche, so doch der einzig mögliche Text". 7

3

Das hebräische Wort für Wüste ist midbar, "der Ort, wo Gott redet".

4

Die traditionelle Beschneidung heißt im Hebräischen brit mila, also Entfernung der Vorhaut = "Bund des Wortes". Vgl. auch Gen. 3,7; Gen. 17,10-15; Ex. 4,24-26 etc.

5

Edmond Jabes, Das Buch der Fragen, 71.

6

Das Bruchstückhafte kommt auch optisch durch die Gestaltung von einzelnen, zum Teil kursiv gedruckten und eingerückten Textstellen zur Wirkung.

7

Edmond Jabes, Hommage, Stuttgart 1994, 125 u. 128.

180

Eveline

Goodman-Thau

Wie Jabès' Texte Kommentar sind, wird auch sein Text weiterkommentiert, kommentierend nacherzählt. Denn nur so, durch einen neuen Text, kann das Werk Jabès', das in seinem Nachdenken von den Lücken zwischen den Worten geprägt und so Ausdruck des Bruchs im Judentum ist, weitergeführt und der Bruch überwunden werden. So werden also mit dem Text auch seine Brüche kommentiert, die Lücken mit eigenen, neuen Wörtern gefüllt. Als Kontext für dieses Kommentieren werden neben Jabès' Texten und seinen eigenen Kommentaren die Schrifttheorie Villém Flussers sowie die postmoderne Philosophie Lyotards herangezogen. Edmond Jabès, geboren 1912 in Kairo als Sohn jüdischer Eltern, mußte 1957 aus Ägypten emigrieren und lebte bis zu seinem Tod 1991 in Paris. Er gehörte zu den wichtigsten französischen Schriftstellern seiner Generation und blieb gleichwohl immer ein Fremder in Frankreich. Ein Fremder mit einem kleinen Buch unterm Arm ist eine der vielen Schriften, in denen er das Leben des Menschen als Fremden in den Mittelpunkt seines Diskurses rückt. "Lange Zeit hat dieses Buch in mir gewohnt, bevor ich es meinerseits bewohnte; so brachte ich es dazu, mich dort zu lesen, wo ich selbst es lese." 8 Zurückblickend auf ein Leben in der Fremde (der gezwungene Auszug aus Ägypten führte ihn wie das jüdische Volk durch die Wüste in die Fremde 9 ) wird être autre Anderssein - zur raison d'être seines Lebens. Der Fremde erinnert ihn an sein eigenes Fremdsein, Weg zur Selbstfindung. "Der Fremde ermöglicht es dir, du selbst zu sein, indem er dich zum Fremden macht." 10 In der äußerlichen Fremde findet Jabès eine Heimat im Buchstaben, insbesondere im Gottesnamen, der im Hebräischen JHWH das Sein schlechthin ausdrückt. Das menschliche Dasein findet dergestalt seinen Ausdruck im Buchstaben: im homophonen Wortlaut von lettre und l'être.11 Die Bücher Jabès' sind Fragmente der gebrochenen Tafeln, die im Schrein der Wüste umhergetragen werden. Texte, die in ihrer sichtbaren Gebrochenheit ihre Bruchstücke mit sich tragen, sich nur so ausdrücken können. Jabès ist kein Autor (auteur), der einen neuen Text schreibt, sondern der Andere {autre), der geschrieben wird, wo das Ganze das Gebrochene sichtbar macht. Das Dasein im gebrochenen Buchstaben-Text ist im Kern Jabès, Autor und Jude, Jude als Autor: "Was ist ein Schriftsteller? Was ist ein Jude? Juden und Schriftsteller haben kein einziges Bild von sich selbst, das sie schwenken könnten. 'Sie sind das Buch. ""2 Es gibt für Jabès keine Fragen, die auf Antworten warten. Es gibt nur das Buch, das er als Edmond Jabès, Schriftsteller und Jude, schreibt und in dem er sich wiederfindet, in der Wüstenschrift, die im Wind verweht und immer wieder neue Wörter aus dem

8

Edmond Jabès, Ein Fremder

9

Vgl. Ex. 23,9: "Denn ihr wisset um die Seele des Fremden, weil ihr wart Fremde in Ägypten."

10 Edmond Jabès, Ein Fremder, 11 Edmond Jabès, Hommage,

mit einem kleinen Buch unter dem Arm, München/Wien 1993.

7. 152.

12 Edmond Jabès, Der vorbestimmte

Weg, Berlin 1993, 64.

"Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr"

181

Wüstensand hervorbringt. Er erscheint "als Autor eines Buchs, das er nicht geschrieben hat, und als Leser eines Buchs, das ihn schreibt".13 Das Judentum als verlorene Tradition, als Leerstelle, wird zum Ausgangspunkt seiner poetisch-philosophischen Schriften. Vor dem Philosophen bevorzugt er den Dichter: "Dem Dichter die Verantwortung fürs Sprechen, dort, wo es benennt, und dort, wo es nur noch seine Benennung benennt."14 Er findet das Judentum in der Begegnung mit der Abwesenheit Gottes, des Gottes, der von Anfang an das Wort seiner Abwesenheit überließ und so dem Juden das Nichts nicht als Abgrund, sondern als Anwesenheit im Buch erlaubte. Die Benennung benennen bedeutet für Jabes aufs neue anfangen zu denken, der "Vokabel in der Fülle ihres Werdens"15 begegnen, aus dem Nichts Inhalt zu schöpfen. Diese radikale Hermeneutik liegt laut Jabes dem Judentum zu Grunde: "Gott beschwören, hieße also das Nichts beschwören? Gott denken, hinterfragen, hieße also das Nichts denken, befragen?"16 Dieses Denken führt ihn nicht zu einer Mystik, auch nicht zu einem Nihilismus, sondern zur Frage nach dem Anderen, einem Nächsten, nach einer "Verantwortlichkeit für ein Werden, an dessen verborgenem und zitterndem Anfang der Nächste noch gar nicht stünde?"17 In diesem Sinne ist das Ende für Jabes ein Anfang: "Zum Schreiben habe ich mich also zwischen 1912 und 1984 entfaltet, eher am Anfang. Zum Judentum bin ich zwischen 1912 und 1984 gelangt, eher am Ende."18 Edmond Jabes, geboren in einer Familie, die der französischen Kultur verbunden war, geht nach Paris, um sein Leben zu retten, - ein gelobtes Land, welches für ihn keine Heimat, aber gerade ein Exil bedeutet. An diesem Ort findet der Schriftsteller Jabes in sich den Juden und so die gebrochenen Tafeln: "Meine Bücher sind für mich Durchgangsorte und zugleich sind sie der einzige Ort, wo ich leben kann. Ist es nicht staunenswert, daß das Wort Gottes aus der Wüste kam, daß einer der Namen Gottes auf hebräisch Ort bedeutet und daß das Buch bei den Juden während Jahrtausenden als Ort des Wortes erfahren wurde? Doch gleichzeitig kann ich das Buch nicht so akzeptieren, wie es ist. Ich glaube, daß auch solche Ablehnung in der jüdischen Tradition vorkommt. Das Volk Israel hat Moses dazu veranlaßt, die Tafeln zu zerschlagen. Der Ursprung des Buches liegt auch im Bruch. Es ist, als hätten die Israeliten Moses verdrängt, um mit dem Buch in unmittelbaren Kontakt zu treten, ohne Vermittlung, um aus dem Text die Entsprechung Gottes zu machen. Die Entsprechung jenes unsichtbaren Gottes, von dem selbst der Name unaussprechlich ist. Es bleibt bloß der Text, das Wort. Die Juden hören nicht auf, das Buch zu befragen, weil darin ihre Wahrheit liegt. Und zugleich kann dort ihre Freiheit sich ausleben, eine Freiheit, die man ihnen überall sonst vorenthalten hat."'9

13 Edmond Jabès, Hommage,

143.

14 Edmond Jabès, Ein Fremder, 98. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., 99. 18 Edmond Jabès, Der vorbestimmte

Weg, 62.

19 Edmond Jabès, Die Schrift der Wüste, Berlin 1989, 106 f.

182

Eveline Goodman-Thau

Es ist fast unheimlich, wie aus diesen Worten ein Echo aus vielen Talmudkommentaren hörbar wird. Sicherlich hatte Jabes keine tiefgehenden Kenntnisse der rabbinischen Auslegungskunst, aber der Leser seiner Texte gewinnt den Eindruck, daß es einen geheimen Faden vom Alten zum Neuen gibt, einen Faden, der durch die Bruchknoten die Kontinuität sichert. Jeder Kommentar bindet den Text an seinen unsichtbaren Ursprung, der erst so seine Konturen als Ort der Gottesbegegnung gewinnt. Die Kunst des Kommentierens ist für Jabes wie für die Rabbinen eine Lebenskunst, die sie wie ihn zum Judesein bestimmt. Nicht das Vorgegebene bestimmt ihren Weg, sondern das Vorbestimmte, das mit einer Stimme des Schweigens am Anfang erfahrene, lautlose Wort, welches im Kommentar seiner Vokabel begegnet. Als Schreiber wird Jabes Jude. In seinen Texten, die wie Bruchstücke eines verlorenen Midrasch die Offenheit der Welt als Textbuch verkörpern, verliert die Wahrheit ihre Eindeutigkeit, offenbart sich eine Vielfalt von Lesarten , die den Schreiber zum Leser seines eigenen Buches macht. Diese Konfrontation mit dem Text als lebendige Materie bringt den Kommentar des Textes selbst hervor, läßt den Text seinen Kommentar aussprechen. So baut der Text sein eigenes Gehäuse, seinen eigenen Schrein, in dem er geborgen ist, ganz und gebrochen, unterbrochen nur von seinem eigenen Kommentar. Im Gespräch zwischen den Bruchstücken, die groß und klein ihren Laut-ort suchen, erläutern sich Text und Kommentar gegenseitig im Schweigen, einem Schweigen, das im Sagen des Lesers hörbar wird, da "das Schweigen [...] das immer Warten auf jemanden ist".20 So wartet das Buch auf seine Subversionen, die alle anderen in Frage stellen. Warten heißt Warten auf die Frage, die Judenfrage.

2. Diese Grunderfahrung des jüdischen Kommentierens verbindet sich in Edmond Jabes mit der Erfahrung der Shoa. "Ich halte mich für einen Überlebenden, nicht nur als Jude, sondern als Mensch."21 Damit gewinnt sein Werk eine Dimension über seine eigene Biographie hinaus, über die Gewalt der Ermordung von sechs Millionen Männern, Frauen und Kindern hat es ein eigenes Leben, jenseits seines eigenen Bruches; es wird zum Buch für den Leser an der Schnittstelle von Geschichte und Biographie. Nachdem er Ägypten verlassen mußte, fand er sich, ohne dies gewollt zu haben, mit der Tatsache, Jude zu sein, konfrontiert. Es ist die Erfahrung der Wüste, die er in Ägypten gemacht hatte, die ihn zwingt, alles loszulassen, alles Überflüssige abzuwerfen, und die sich nun, nach dem Bruch mit diesem Land, in Schrift umsetzt. Er empfindet seinen eigenen Bruch und den Bruch in Europa als tiefe Erinnerung von innen, und so ergibt sich ein ganzer Fragenkomplex im Anblick der unerträglichen Ungerechtigkeit, die aus den Erzählungen der Überlebenden spricht. So entsteht das Buch der Fragen (1963), welches über die Erzählung von zwei Menschen, Sarah und Yukel, die jahrtausendealte Klage des jüdischen Volkes zu Gehör bringen will. Dann formuliert Jabes

20 Edmond Jabes, Ein Fremder,

141.

21 Edmond Jabes, Vom Buch zum Buch, München/Wien 1989, 31.

"Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr"

183

seine eigenen Fragen: "Was kann Kultur nach Auschwitz noch bedeuten? [...] Was bedeutet es, Jude zu sein?"22 Jabes findet die Worte der Weisen, die wie Glut unter der Asche ruhen.23 "Sich immer wieder in Frage zu stellen, das bedeutet für einen Schriftsteller, sein Buch jeder etwaigen Aneignung von Seiten des Lesers zu entziehen, denn dadurch wird diesem die Möglichkeit einer globalen Lektüre des Werks genommen." 24 Der Schriftsteller-Leser wird zum Leser-Schriftsteller. Seine Lektüre schreibt den Text und gibt ihm zugleich eine Identität, in der der Leser sich im Widerschein wiederfindet. Es sind also nicht die Buchstaben, die dem Text eine Bedeutung verleihen, sondern die Anwesenheit des Lesers, der sich in der Anwesenheit des Schriftstellers widerspiegelt. Von Angesicht zu Angesicht, in Abwesenheit und Anwesenheit stehen sich Leser und Schriftsteller im Spiegel des Textes gegenüber. Das Buch der Fragen wird die "zum Buch gewordene Frage", nicht nur für Jabes, sondern für jeden Leser. Die Unfähigkeit, Auschwitz in Sprache auszusagen, bringt Jabes dazu, das spekulative Denken zu suspendieren, welches einen Text als begriffliche Grundlage braucht, um das Geäußerte zu äußern. Jude-sein, als Schriftsteller als Jude erkannt zu werden, bedeutet, sich abzugrenzen, sich dem Verlangen nach Fremdheit hinzugeben. Schriftsteller und Jude finden endlich sich selbst: das Buch. Die Vernichtung des europäischen Judentums wirft die Frage über das Judentum überhaupt auf: die Frage über Gottes Absicht. Das Schweigen, die Stille der Stimmen, wird zur Rede des Buches, in dem "Jude und Schriftsteller, völlig unbedarft in ihrer gemeinsamen Ergebenheit dem Text gegenüber, es wagen, ihre eigene Wahrheit zu suchen". 25 Das Buch reden zu lassen bedeutet, den verlorenen Stimmen eine Stimme zu geben, eine Stimme, die nicht nur erloschen ist, sondern auch in ihrer Ursprünglichkeit nicht zu hören ist, welche erst im Dialog einen Laut gewinnt. Sarah und Yukel sind im Buch der Fragen die Hauptfiguren, die Lautlosen, die Verschwundenen, die Angeklagten, die Ankläger. Und dann gibt es andere Bücher, wie Yael, Elya und Aely, die den göttlichen Namen in einer Welt, in der Gott nicht redet, in ihren Namen tragen. Diese Bücher enthalten auch die Stimmen der Rabbiner, die noch immer diskutieren in einem unendlichen Disput über das Wunder von Gottes Offenbarung eines Textes, der nur in gebrochener Form anwesend ist und so erst im Riß hörbar wird. So lebt das Buch der Fragen in der Spannung zwischen Wunder und Verwundung: "Für einen Schriftsteller hängt die Entdeckung des Werkes, das er schreiben wird, vom Wunder und der Verwundung ab; vom Wunder der Verwundung." 26 Es ist ein Dialog, in dem nicht nur die Gesprächspartner anwesend sind, sondern auch die Zuschauer, die Kommentierenden, als Augen- und Ohrenzeugen. Die Personen sind nicht nur anwesend im Buch, sondern gestalten auch ihre eigene Abwesenheit. Sie sind da im Reden wie

22 Edmond Jabès, Die Schrift der Wüste, 101. 23 Edmond Jabès, Das kleine unverdächtige Buch der Subversion, München/Wien 1985, 51. 24 Edmond Jabès, Vom Buch zum Buch, 31. 25 Edmond Jabès, Der vorbestimmte

Weg, 13.

26 Edmond Jabès, Buch der Fragen, 23.

184

Eveline Goodman-Thau

auch im Schweigen, im Licht wie auch im Schatten. So reden sie miteinander über den Tod hinaus. "Ich habe dir meinen Namen gegeben, Sarah, und das ist ein Gang ohne Ausweg." (Yukels Tagebuch) "Ich schreie. Ich schreie, Yukel. Wir sind die Unschuld des Schreis." (Sarahs Tagebuch)21 Sarah ist ein untrennbarer Teil von Israel, und ihr Schrei ist daher der Schrei des jüdischen Volkes, dessen Schrei die Unschuld des Schreis selbst ist. Sarah und Yukel sind nicht mehr Teil des Lebens, Teil der Geschichte, sie gewinnen ihre Konturen als Zeugen Gottes, als Zeugen des Buches, die wie die Rabbinen zwischen den Worten der Tora ihre eigenen Kommentare schrieben, bis Schrift und Wort eins wurden.

3. Edmond Jabes' Weg zum Buch der Fragen war lang. In Ägypten entstanden zwischen 1943 und 1957 Gedichte unter dem Titel Ich baue mir eine Behausung. Ägypten bedeutet für Jabes, wie für das jüdische Volk, das Bauen von Wohnstätten in der Fremde. Es ist die mühsame Arbeit, ein geistiges Zuhause zu bauen, um dann in der Welt fremd zu sein. Vaterlos, mutterlos, der alleinige Zeuger seiner selbst: das Gedicht. "Lied des Fremdlings Ich bin auf der Suche nach einem Menschen, den ich nicht kenne, der nie so sehr ich war wie seit dem ich ihn suche. Hat er meine Augen, meine Hände und all die Gedanken, die dem Strandgut dieser Zeit so ähnlich sind? Zeit der tausend Schiffbrüche das Meer hört auf, das Meer zu sein, es ist zum eisigen Wasser der Gräber geworden. Doch weiter, wer weiß weiter? Ein Mädchen singt rückwärts, und des Nachts hat es Macht über die Bäume, Hirtin inmitten der Schafe. Entringt dem Salzkorn den Durst, den kein Getränk mehr stillt. Mit den Steinen verzehrt sich eine Welt, weil sie, wie ich, ohne Herkunft ist." 28

Jabes sucht sich selbst, den er nicht kennt, der "nie so sehr ich war, wie seitdem ich ihn suche". Das Suchen ist eine Hingabe an den Fremdling in sich, nicht an eine beliebige Metapher, ein Sprachmedium, durch welches der Dichter sein Inneres zum Ausdruck zu bringen versucht. Ort und Zeit fallen zusammen, wenn das Strandgut die Zeit von

27 Edmond Jabes, Buch der Fragen,

11.

28 Edmond Jabes, Vom Buch zum Buch,

16 f.

"Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr"

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tausend Schiffbrüchen wird, das Meer nicht mehr das Meer ist, sondern eisiges Wasser der Gräber, wenn jedes Wissen aufgehört hat. Das Rückwärtssingen eines Mädchens, einer Hirtin, herrscht in der Nacht und am Tag, in einer Welt, die nicht mehr dürstet nach Wasser, die sich an den Steinen verzehrt, ohne zur Quelle des lebendigen Wassers - ihrer Herkunft wie auch der Herkunft des Dichters - gelangen zu können. Das Land Ägypten ist eine dürre Wüste, in der man kein Wasser aus dem Stein schöpfen kann. Die Hirtin "entringt dem Salzkorn den Durst, den kein Getränk mehr stillt". Sie ist es, die den geistigen Durst zu spüren vermag ... Sicherlich hören wir hier biblische Stimmen, wie wir sie aus der langen Wüstenwanderung der Kinder Israels kennen, sie sind jedoch noch unsichtbare Spuren, nicht genau zu identifizieren, gewinnen Konturen und verschwinden wieder im Schiffbruch. Die Frage, das Sich-in-Frage-stellen, die Infragestellung selbst, passiert im Gedicht wie später im Buch der Fragen. Die Welt, die sich mit den Steinen verzehrt, wird selbst zum Stein, zum Buch seiner selbst, zur steinernen Tafel, die auf Inschrift wartet. "Es ist, als sagte in einem bestimmten Augenblick das Buch zu mir: 'Nun, da du, für mich, das Wesentliche gesagt hast, kann ich endlich mich selbst ausdrücken. Wenn du dich einschaltest, wenn du deine Stimme mitschwingen läßt, verfälschst du alles.'" 29 Das Buch darf auf keinen Fall ein Monument sein, ein Steingebilde, das eine Stimme der Vergangenheit ist oder sogar der Ewigkeit sein will. Kein Sein will das Buch ausdrücken, sondern "das Wesentliche für mich", das heißt das Wesen Jabes' selbst. Die Unlesbarkeit der Welt - das Wirkliche an der Welt - gewinnt hier seinen Sinn. Das Schweigen des Buches erlaubt das Hören des Wortes aus dem Inneren des Schriftstellers. Jabes zu kommentieren heißt, das Buch als möglichen Kommentar zu sich selbst zu lesen. Zu lesen also mit dem Ohr, das die verschiedenen, sich kommentierenden Stimmen im Schriftzeichen erkennt. Im Buch der Fragen, entstanden zwischen 1959 und 1962, praktiziert Jabes dieses Kommentieren der Abwesenden und der Anwesenden in der Form von Schriftzeichen. Teile des Textes sind normal gedruckt, Teile kursiv in Klammern. So entsteht ein Text aus Sandkörnern, die in der Hand des Schriftstellers ihren Zusammenhang gewinnen und verlieren. "Ergreife ein wenig Sand, schrieb Rev Ivri, dann laß ihn durch deine Finger gleiten; so wirst du die Nichtigkeit des Wortes erkennen [...] Und anderswo: Kannst du schwören, daß die Sandkörner, die du in der Hand gehalten hast, dieselben sind wie jene, die über dein Knie gerieselt sind? Es sind schon tausend andere, die du nicht kanntest. So ist es mit deinen Worten, wenn sie erst einmal ins bevölkerte Universum des Wortes entlassen sind."30

Die Topographie dieses Textes zwingt den Leser, sich in der in Bruchstücken bestehenden Erzählung zwischen die Personen zu stellen als aktiver Teilnehmer an einem Gespräch, welches er nicht bestimmt, er auch nicht lenken oder gar unterbrechen kann, das aber seinen eigenen Gedankengang bricht, ihm den Weg zur Eigenauslegung versperrt 29 Edmond Jabes, Die Schrift der Wüste, 107 f. 30 Edmond Jabes, Buch der Fragen, 114.

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durch ein Frage- und Antwortspiel, in dem jede Frage eine neue Antwort in sich trägt. So geht der Text schwanger mit Fragen, die unverkennbar "jüdisch" anmuten, dessen Quellen aber nicht unbedingt identifizierbar sind. Die Traditionslinie, die normalerweise das Frühere mit dem Späteren verbindet und so eine Intertextualität gestaltet, in der eine Aussage die andere Aussage auslegt, wird hier gebrochen durch die Traditionsstifter selbst: Reb Tal und Reb Stein diskutieren mit Reb Aber und Reb Zaccai wie auch mit Reb Jais nicht über die Wahrheit, sondern um die Worte eines lebendigen Gottes, die alle im Buch sind, welches mit einer Frage auf eine Frage antwortet. Wissen ist Fragen, sagte Reb Mendel. - Was werden wir von diesen Fragen haben? Was werden wir von all den Antworten haben, die uns dazu bringen werden, andere Fragen zu stellen, da doch jede Frage nur aus einer unbefriedigten Antwort entstehen kann?, sagte der zweite Schüler. - Das Versprechen einer neuen Frage, sagte Reb Mendel."31

So kommen Rabbi Mendel und seine Schüler zum Ergebnis, daß Gott eine Frage ist, die sie erleuchtet. Jabes' Buch der Fragen ist das Frage-Zeichen hinter seiner eigenen Existenz als Jude nach der Shoa; er findet seinen Ort im Verlust des Ortes, in der Vernic/ztung des Judentums, wo er die historische Bedingung seines Judeseins durchlebt, wo er seine Wahrheit findet im Befragen. Das Buch wird zum "Zuhause bei Gott",32 wo alle Fragen aufgehoben sind ohne Antwort. Doch hier kommt durch die Erzählung keine Erlösung, sondern das Unsagbare des Gesagten wird im Moment seiner Aussage ausgelöscht. Die endlose Fragestellung an die Geschichte von Auschwitz findet ihr Echo nur im Schrei. Jabes ist der Hörer dieses Schreis: in der dritten Person, als er beschreibt er sein eigenes Schreiben im Schrei. "Die Geduld des Schreis ist grenzenlos. Sie überlebt den Märtyrer. [...] Hier, das anderswo ist, an unsere Knöchel gekettetes Anderswo, ist es kein Land, das der Schrei in Frage stellt, noch ein Kontinent, sondern die Welt; nicht einen Menschen, sondern alle."33 Schreiben ist für Jabes der schriftliche Ausdruck eines Schreis, der den toten Buchstaben zum Leben erweckt. Wie der Kommentar der Rabbinen im Talmud die Heilige Schrift sprechen läßt, so gibt Jabes den Toten einen Mund, legt Zeugnis ab von all dem was war, als er sich in Ägypten befand.34 Das Buch der Fragen wie auch das Buch von Yukel und Die Rückkehr zum Buch formen eine Trilogie. "Im Mittelpunkt jedes dieser Bücher steht die Geschichte von zwei jungen Menschen [...] die einander lieben und die deportiert werden. Sie kehren aus den Lagern zurück: sie ist wahnsinnig geworden, und ihre Schreie vermischen sich mit den Schreien eines verfolgten Volkes, eines über Jahrhunderte verfolgten

31 Edmond Jabes, Buch der Fragen, 117. 32 Vgl. Eveline Goodman-Thau, Zeitbruch. Zur messianischen Grunderfahrung in der jüdischen Berlin 1995, 205. 33 Edmond Jabes, Buch der Fragen, 45. 34 Vgl. Ex. 2,23-25: "Gott hörte den Schrei der Kinder Israel in Ägypten."

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Volkes; im zweiten Band begeht er Selbstmord, und alles, was geschieht, geschieht gleichsam nach seinem Tod. Doch dieses Nach-dem-Tod ist auch ein Vor-dem-Tod [...] gleichsam Gedächtnis, so als gäbe es immer schon ein Davor. Dann tauchen die Rabbiner auf [...] mit ihren Fragen, mit ihren Betrachtungen undsofort. Aber das trifft es noch nicht genau. Es handelt sich um einen weitgespannten Dialog innerhalb und außerhalb der Zeit. Die Menschen, die in diesen Büchern gegenwärtig sind, manchmal durch viele Jahrhunderte getrennt, können miteinander nur deshalb sprechen, weil sie Fragen stellen. "35

So beschreibt Jabes den Inhalt dieser Bücher in einem Gespräch mit Paul Aster. Es geht Jabes nicht (nur) darum, das Einzelschicksal von Sarah und Yukel zu erzählen, nicht um ihre Liebe und auch nicht um ihren Tod, sondern die Geschichte des jüdischen Volkes, in der das Leben von Sarah, Yukel und allen anderen Namenlosen einen Namen bekommen. Alle sind Zeuge, innerhalb und außerhalb der Zeit, und genauso wie der Midrasch erzählt, daß alle Seelen der kommenden Generationen am Berge Sinai standen, als Gottes Wort an das Volk ausging, so standen auch alle da und waren Zeuge der Vernichtung ... Keine Posaune kann diesen Schrei übertönen, aber die Zeit vermag ihn auch nicht auszulöschen. Jabes schafft so neue Dimensionen von Raum und Zeit, in dem Leben und Tod sich begegnen. "[...] die Seele hat Hunger nach dem Brot des Lebens und des Todes." 36 Die Erzählung über den Toten wird zur Erzählung der Toten wie auch der Lebendigen. Nicht die Lebensgeschichte der Liebenden wollte Jabes erzählen, sondern die Funken ihrer Seelen aus der Asche heben. "Für die Juden ist es unglücklicherweise, nach all den Lagern und all den Schrecken, eine nur all zu banale Geschichte. Unnötig, ins Detail zu gehen. Wenn Sie sagen: sie wurden deportiert, dann reicht dies für einen Juden aus, um die ganze Geschichte zu verstehen f...]" 37 Das jüdische Gedächtnis lebt vom Vergessen der Einzelheiten, ist geprägt von der großen Wunde, die jeder Überlebende mit sich trägt. Die Sprache lebt aus dem Schweigen, es gibt eine Geschichte des Schweigens, die lauter klingt als jedes gesprochene Wort, da sie jede Sprache zum Schweigen bringt, eine Sprachlosigkeit auslöst, in der sich die Worte auflösen. "Lauer Hauch des wiedererstandenen Wortes gegen kalten Hauch des ungestillten Schweigens." 38 Die Aphorismen Jabes' lassen sich nicht nach einem Innen und einem Außen unterscheiden. Ein Satz legt den anderen aus, ein Wort das andere, wird zum Andern. In seinen Texten finden wir eine Bejahung und eine Verneinung der Welt in einem Atemzug. Die Liebe von Sarah und Yukel ist die Geschichte einer abwesenden Geschichte, deren Inhalt das Vergessen der Wörter ist, die die Wächter des Hauses sind. "Ich bin abwesend, da ich der Erzähler bin. Allein die Erzählung ist wirklich." 39 In seiner Abwesenheit jedoch ist Jabes als Yukel (dessen Name Serafi - Engel Gottes - ist) da und schöpft Wasser aus einem Brunnen von lebendigem Wasser, aus dem die Kinder

35 Edmond Jabès, Hommage, 55 f. 36 Edmond Jabès, Buch der Fragen, 53. 37 Edmond Jabès, Hommage,

62.

38 Edmond Jabès, Die Schrift der Wüste, 134. 39 Edmond Jabès, Buch der Fragen, 54.

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Israel in der Wüste getrunken haben, aus dem er jetzt die Wörter schöpft, um mit den Toten zu reden: Yukel, was für ein Land ist es, das du jüdisch nennst und das jeder Jude für das seine erklärt, ohne je dort gelebt zu haben? - Es ist das Land, wo ich meinen Brunnenschacht gegraben habe. - Yukel, was für ein Wasser unseres Landes ist das, so gut für den Durst, daß kein anderes Wasser ihm vergleichbar ist? - Es ist das Wasser, das wir fünfzig Jahrhunderte in unserer hohlen Hand vergessen haben." "Öffnet eure Hände, meine Brüder, schrieb Reb Segre, um eure Gesichter in sie zu flüchten, und diese werden aufblühen wie die Pflanze bei der Berührung mit dem Wasser."40

Die Tora wird in jüdischer Tradition mit Wasser verglichen, und so belebt das Wasser des Wüstenbrunnens,41 das Wasser, welches die Schmach des Volkes vergessen hat, das Antlitz der Toten, deren Scham sich in Freude verwandelt. Die Grenzen zwischen Tod und Leben sind hier aufgehoben, das Ferne ist nah. Das Wort wird Dort zum ORT,42 Obwohl Jabes nicht im formalen Sinn an Gott glaubt, ist das Wort "Gott" ihm unentbehrlich, um auszudrücken, was er am meisten sucht: eine Leere, eine Ferne, den Abgrund, ein Wort ohne Worte, ohne Bedeutung, welches erst im Gehäuse des Buches seine Unsichtbarkeit zeigt: Jabes verbindet die Unsichtbarkeit Gottes in der jüdischen Überlieferung und die Tatsache, daß der Name Gottes unaussprechbar ist, zu einem Ganzen. "Was ich wahrhaft phantastisch finde, ist, daß man, wenn man etwas 'unsichtbar' nennt, etwas benennt, und das bedeutet, daß man damit fast eine Darstellung des Unsichtbaren gibt. Anders gesagt, wenn man 'unsichtbar' sagt, weist man auf die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren; dafür gibt es Worte. Aber wenn man das Wort nicht sagen kann, steht man vor gar nichts. Und für mich ist das sogar noch gewaltiger, weil letztlich etwas Sichtbares im Unsichtbaren ist, so wie etwas Unsichtbares im Sichtbaren ist. Und das, das hebt alles auf [...]" 43

Es geht Jabes darum, den Punkt zu erreichen, an dem der Name der Dinge ein unaussprechlicher Name wird. Die Worte befragen sich gegenseitig in einem unendlichen Prozeß während der Suche nach Bedeutung. So wird die Macht des Wortes gebrochen, die Sprache als Ausdruck des Menschseins findet hier seine Grenzen und eine andere Wirklichkeit bricht durch. Im Hebräischen bedeutet der Gottesname JHWH, der nicht ausgesprochen werden darf, einfach "Dasein".44 In dem Augenblick, als Adam unter den Tieren keinen Ge-

40 Edmond Jabes, Buch der Fragen, 55. 41 Vgl. Num. 21,16-18: "Das ist der Brunnen, von dem der Gott zu Moses sagte: Versammle das Volk, ich will ihnen Wasser geben." 42 "Der Ort" (hebr. ha-makom) ist einer der Gottesnamen. 43 Edmond Jabes, Hommage, 64. 44 Vgl. Ex. 3,14: "Ich werde sein, der ich werde sein" - Gottes Antwort auf Moses Frage nach Seinem Namen. Siehe auch Franz Kafka: "Das Wort sein bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihmgehö-

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genpart von sich selbst erkennen kann, entdeckt der Mensch als Benenner der Welt seine eigenen Grenzen, aber auch seine Innerlichkeit. Erst im Namen der Frau, in seinem Gegenüber, erkennt er sich als Mann, wenn aus dem Unsichtbaren das Sichtbare wird (Gen. 2,19-24). Die Frage über die innere Dimension der Dinge ist jetzt zur Frage nach der Frau geworden; sie ist es auch, die die Begegnung mit Gott - im Konflikt der Erkenntnis - ermöglicht. Adam und Eva erfahren sich und einander als Einheit und Trennung, Leben und Tod, durch das Medium der Sprache, welches sich selbst in Frage stellt. Durch den Riß im Körper - des Mannes wie auch der Frau - trägt das Wort von nun an die Frage in sich, so daß jedes Wort einen Abgrund öffnet, der nicht zu überbrücken ist durch die menschliche Sprache.45 Es ist der Abgrund und die Brücke zwischen Mensch und Gott, und jeder Mensch trägt wie Kain dieses als Zeichen in die Welt. Jedes Schriftzeichen gräbt so den Grund der menschlichen Existenz als Ab-grund wie ein Ab-bild, ein abhandengekommenes Bild ein. Im Tod des Bruders, des Anderen, erkennt Kain sein eigenes Zeichen, nicht wie Adam und Eva als bloße Erkenntnis, sondern als reale Gegenwart:46 das Hüten des Paradieses findet sich wieder in der Frage "Bin ich meines Bruders Hüter?" (Gen. 4,10). Im Paradies lautet die Frage Gottes an Adam: Ajeka ("Wo bist du?"), hier lautet die Frage: "Wo ist Abel, dein Bruder?" Sie führt zur Frage der Selbsterkenntnis, wann der Körper des Bruders die Erde zerrissen hat und aus den Tiefen der blutige Schrei aufsteigt, ein Schrei, der ihn als von Gott und den Menschen getrennten, fremd in der Welt Umherirrenden für immer verfolgen wird. Der Tod wäre das Ende dieses Schreis; Kain aber lebt im Aufschub dieses Todes, da der Tod keine Strafe, sondern Gottesbegegnung und so Selbstbegegnung bedeutet - das Ende aller Fragen wäre.

4. Villem Flusser erklärt den Ursprung des Schreibens etymologisch aus dem Lateinischen scribere, welches "ritzen" bedeutet, wie aus dem Griechischen graphein - "graben". Von hier aus deutet er den biblischen Mythos der Schöpfung des Menschen: Gott hat sein Ebenbild aus Lehm (hebr. adama) geformt, dem er seinen Odem eingegraben hat, um so einen Menschen (hebr. adam) zu schaffen. Der mesopotamische Lehm, so Flusser, wird zu einem Ziegel geformt, der göttliche Stilus gräbt in ihm, wodurch die erste Inschrift (der Mensch) geschaffen worden ist. Lehm ist nämlich das Material (die Große Mutter), in welches Gott (der Große Vater) seinen Odem ("Geist") hineingrub.47 Er hat in-formiert, das heißt Formen in ihn gegraben, ihn dann gebrannt, um ihn zu härten. Aus diesen Handlungen zieht Flusser den folgenden Schluß:

ren." (Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, hg. v. Max Brod, Frankfurt a.M. 1986, 33) 45 Das hebräische Wort für "Frage" ist sche'ela und ist mit dem Wort sche'ol ("Abgrund") verwandt. 46 Vgl. Gen. 4,1: Und sie sagte, "Ich habe einen Mann bekommen mit Gott". 47 Villem Flusser, Die Schrift, Frankfurt a.M. 1992, 14.

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"Informieren ist eine negative, gegen den Gegenstand gerichtete Geste. Die Geste eines gegen Objekte vorgehenden Subjekts. Sie gräbt Löcher in Gegenstände. Sie gräbt Löcher des 'Geistes' in die zu sehr von sich selbst gefüllten Dinge, damit diese Dinge das Subjekt nicht bedingen mögen. Es ist die Geste des Sich-befreien-Wollens vom sturen Widerstand, den die Gegenstände dem Subjekt bieten. Das grabende Schreiben ist eine informierende Geste, deren Absicht es ist, aus dem Kerker der Bedingungen zu brechen, d.h. Ausbruchschächte in die uns einkerkernden Mauern der objektiven Welt graben."48

Aus dieser Sicht erscheint also das Schreiben als Beherrschen der Materie und der Welt. Nicht die Materie hat das Sagen, sondern der Mensch, der sein Siegel unverkennbar auf die Objekte setzt, sie be-schreibt und so ihres Willens beraubt. Die Freiheit des Individuums hängt von der Bezwingung der Materie ab, die ihm dann Zeichen liefert zur Struktur seines Denkens. Das Hervorbringen visueller Zeichen bedeutet also von Anfang an einen Ausweg aus einer nicht beherrschbaren Situation; sie stellen den notwendigen Überschuß dar (wie andere kulturelle Prozesse und Produkte), den der Mensch braucht, um eine Balance zu finden, seinen Ort im Kontext der Welt zu bestimmen als Subjekt, indem er alles andere zum stummen Objekt macht ... Das Schweigen der Welt ist die Voraussetzung der göttlichen Schöpfung. Gott redet und die Welt war, der Mensch redet und die Welt ist. Villem Flusser zeigt eine weitere Seite des adamitischen Mythos. Da Gott sein Ebenbild aus Lehm geschaffen hatte, schrieb er nicht im amorphen Lehm, sondern in ein Bild aus Lehm. "Nicht gegen das Gegebene (das Datum 'Lehm') sondern gegen etwas Gemachtes (das Bild 'Gott') hat Er geschrieben. Gegen ein Faktum also. Die Geste des Schreibens richtet sich nicht unmittelbar gegen das Objekt, sondern mittelbar, durch ein Bild hindurch bzw. durch Vermittlung eines Bildes. Er gräbt im Lehm, um ein Bild zu zerreißen. Das grabende Schreiben (das Schreiben überhaupt) ist ikonoklastisch. [...] Die alten Juden fielen vor den beiden Tafeln entsetzt auf die Knie, und in den Metamorphosen heißt es vom Goldenen Zeitalter, das noch keine Inschriften hatte: 'nec verba mimantia fixo aere legebantur Damals wurden noch nicht bedrohliche Worte aus der dauerhaften Bronze erlesen.'" 49

In dieser Sicht erscheint der Mythos von der Erschaffung des Menschen das anti-magische Ziel allen Schreibens. Das Bilderverbot ist unmittelbar mit der Macht des geschriebenen Wortes verknüpft, und wie in der Geschichte des Goldenen Kalbes im Buch Exodus beschrieben wird, können die von Gott beschriebenen Tafeln, die wie Bilder durchsichtig waren, von beiden Seiten beschrieben, nicht neben dem wirklichen Bild des Kalbes als Gottesbild bestehen. Moses bricht also die Tafeln für und gegen Gott, und damit wird das vorschriftliche Bewußtsein ersetzt durch die Vorschriften: Gott diktiert Moses, was er auf den zweiten Tafeln zu schreiben hat. Eine alte Legende besagt, daß die Buchstaben der ersten Tafeln gen Himmel flogen und dort aufbewahrt sind ... Der Text wird nun zwar niedergeschrieben, bleibt aber das gesprochene Wort Gottes, das im Munde eines jeden Auslegers lebendig werden soll. Das einzige Bild, das erlaubt ist, sind die Buchstaben, eingraviert in den Tafeln; die Rabbinen mahnen aber, das hebräische Wort für eingraviert charut wie cherut zu lesen, welches Freiheit bedeutet. 48 Villem Flusser, Die Schrift, 49 Ebd., 17.

15.

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So wird jeder deterministische Effekt des Schreibens abgelehnt: die jüdische Tradition bleibt eine im Grunde mündliche und der Weg der Überlieferung geht über die Erzählung, in der Geschichte und Biographie sich kreuzen. "Du bist der, der schreibt und der geschrieben wird", schrieb Jabes über sein Buch der Fragen - so graviert jeder sich als Subjekt und Objekt in die Tora, die zugleich den Plan der Welt, wie auch ihre vorgeschriebene Ordnung enthält. Die Existenz der Welt hängt von der Existenz des Buches ab, und es ist der Mensch, dem die Auslegung dieses Buches anvertraut ist.50 Auf diese Weise hängt die Lesbarkeit der Welt vom Buch ab, aber wenn niemand dieses Buch beständig schreibt, dann gibt es keine Welt. Das Schreiben ist Zerreißen, es dringt bis tief in unsere Vorstellungswelt, in das Reservoir unseres Gedächtnisses ein, um sich jedes Detail, dessen es sich bemächtigen kann, zu bemächtigen. Flusser erinnert uns daran, daß der Vormarsch des Schreibens entlang der Zeilen in die Richtung des Unbewußten, in die Richtung der von Vorstellungen entblößten objektiven Welt entlang das ist, was wir "Geschichte" nennen. Es ist in dieser Hinsicht interessant zu beobachten, daß im Hebräischen von rechts nach links, also in rückwärts gewandter Geste geschrieben wird. Wir sind die von Gott beschriebenen Ziegel in der Welt.

5. Aus diesem Blickwinkel ist das Werk Jabes' zu betrachten. Aus den brennenden Öfen von Auschwitz sind einige Ziegel gerettet worden. Nicht an der Geschichte der Kinder Israels in Ägypten, die aus den Ziegelsteinen für den Pharao riesige Gräber bauen mußten, in denen die Trennung zwischen Leben und Tod verschwinden sollte, sondern an den Ziegelsteinen selbst, dem einzigen Material, welches noch vorhanden ist, soll etwas erkannt werden. 51 Es gibt eine weitere interessante Parallele zur biblischen Geschichte: Die Kinder Israels sollten keine Totengräber werden, sondern in die Wüste ziehen, um dort, am Berge Sinai, Gott zu begegnen. In der ersten Begegnung zwischen Moses und dem König von Ägypten (Ex. 5) wird dies thematisiert: "[...] sende mein Volk, daß es mir ein Fest halte in der Wüste." (Ex. 5,1) Pharao52 aber will sie nicht gehen lassen und erschwert darum die Arbeit: er gebietet seinen Aufsehern, von nun an dem Volk kein Stroh für die Ziegel zu geben, sie sollen das Stroh nun selbst suchen; doch von der Zahl der Ziegel, die ihnen auferlegt ward, davon sollte nicht abgelassen werden. So mußten jetzt die Kinder Israel selbst das Rohmaterial für die Ziegel suchen und in dieser Weise erkennen, welches ihre Arbeit in Ägypten war. Erst dann konnten

50 Vgl. Eveline Goodman-Thau, Zeitbruch. Hier wird die Implikation dieser Tatsache in bezug auf die messianische Grunderfahrung im Judentum erörtert. 51 Vgl. dazu Hes. 4,1. 52 In der Geschichte des Auszugs aus Ägypten finden wir zwei Benennungen für den König: "Pharao" und "König von Ägypten". Wenn er "Pharao" heißt, ist er Instrument in der Hand Gottes. Vgl. Ex. 4,21: "Ich aber werde sein Herz härten, daß er das Volk nicht schicken wird."

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sie von dort erlöst werden. Die Strafe des Pharaos an dem Volk, ist zugleich die Lehre für das Volk. "Das Wort Gottes ist nicht Befehl, sondern Entsprechung." 53 Die Bibel, wie das Buch Jabes', ist eben in diesem Sinne Buch, daß es dem Leben entspricht, verspricht, was im Leben, in der Geschichte aussteht. Die Zeit der Notwendigkeit und die Zeit der Möglichkeit fallen zusammen in einer realen Gegenwart, die ein Setzen auf Transzendenz ist, wo "das scheinbare Paradoxon einer notwendigen Möglichkeit" aufleuchtet. 54 Im Ansprechen dieser Entsprechung gewinnt Jabes die Leere, in der die Abwesenheit Gottes, wie in Ägypten, im Urtext "da" ist, "doch bedeutungslos gemacht (wird) durch einen ursprünglichen Akt der Abwesenheit". 55 Es geht Jabes darum, diesen Konturen der Gegenwart nachzugehen, den Stummen eine Stimme zu geben, den Kontrakt zwischen Wort und Welt in Frage zu stellen. So sind die Stimmen frei und gebunden; frei zu sagen, was sie zu sagen haben, und gebunden an das Gitter des Buches, ein Sprachgitter, welches keinen Ausbruch erlaubt, aber so den Einbruch des Wortes ermöglicht, wo Warten in Erwarten umspringt. "Und du wirst in deinem Kerker leben, mein Bruder, dir zum Heil; denn der Erwählte ist der Gefangene des von Gott überlieferten Worts, für dessen Überdauern er aus seinem Leib eine Zelle gemacht hat nach seinem Maß." 56 Traum und Wirklichkeit finden ihre Lösung im Kerker der Seele, die im Leben - wie die Josephsgeschichten in der Bibel als Vorspiel der Knechtschaft in Ägypten zeigen ihren Ausdruck finden. Die Bilder begegnen ihrem Sinn in der sprachlichen Deutung, besser gesagt in den menschlichen Versuchen der Deutung. Im Wagnis des Wortes versucht Jabes, den Grund zu erreichen, den Urgrund aller Gründe, wo das Ende kein Ende nimmt. "Das Buch aufzugeben heißt, aus dem Gelöbnis des kommenden Buchs entlassen zu werden. Die geringste Schwäche nagelt uns an Ort und Stelle fest." 57 Die Kette der Tradition darf nicht verloren gehen in einer Welt, in der der Name in seiner Unaussprechbarkeit, die Schrift in ihrer Differenz nicht mehr gehört werden kann: Lesen mit dem Ohr in Gefahr ist, verloren zu gehen. Jabes ist es, der die Zeichen des Gehörten zu schreiben versucht. Er will nicht die vielen Stimmen in Einklang bringen, sondern der Sehnsucht des Ohres im Leben und im Tod eine Stimme verleihen: "Und das ganze Volk sieht die Stimmen" - wie es in biblischer Sprache von der Offenbarung heißt (Ex. 20,18). Der Schofar (hebr. für "Posaune") muß immer neu als Sprachrohr geschaffen werden, so daß die Verbindung zwischen Mensch und Gott für immer wachgehalten wird. "Einer muß wachen", heißt es bei Kafka, "einer muß da sein", der die Täuschung des Schlafes in festen Häusern durch-schaute, um eine andere Wirklichkeit zu sehen, wo die Menschen sich zusammengefunden haben "wie damals einmal und wie später in wüster

53 Edmond Jabès, Vom Buch zum Buch, 90. 54 George Steiner, Von realer Gegenwart,

München/Wien 1990, 14.

55 Ebd., 298. 56 Edmond Jabès, Vom Buch zum Buch, 62. 57 Ebd., 88.

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Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend". 58 In dieser Nacht ist Kafka der Wächter, der Schomer Israel - der "Hüter Israels", wie es von Gott einst in der Bibel hieß - der die Gefahr des Vergessens kennt, wo das Ich im leeren Strom des Zeitschlafes mitgerissen wird, wo das Eingedenken dem Vergessen verfallen ist. Auch Jabes sucht das Leben, das wacht. "Also wäre mein Leben, seit dem Buch, ein Wachehalten der Schrift im Dazwischen der Grenzen gewesen, unter dem glanzvollen Zeichen des unaussprechlichen Namens. Ein Wachehalten am belagerten Tag, am belagerten Abend. Die Welt wandelt sich wider den Willen der Welt. Dieser langwierige Vorgang wird eins mit dem Schlaf."59 Wie Franz Kafka benutzt Edmond Jabes eine poetische Sprache, um philosophisch das auszudrücken, was nicht gedacht, nur erfahren werden kann. Seine Sprache ist so der Ausdruck des Erbes, eines Erbes, welches der Mensch wie die Welt wider seinen Willen bekommen hat und wider seinen Willen weitergibt. Doch handelt es sich hier nicht um einen geschichtlichen oder gar menschlichen Auftrag, sondern um ein Angerufensein, ein Sein, das sich als Ich konstituiert im Konzert der Stimmen, die wach sind zum Hören und also zum Sprechen. Dem Tod ausgesetzt, gewinnen sie das Leben. Wo die Stirn dem Anderen nicht mehr ausgesetzt ist, finden Wort und Namen zueinander. In Jabes' dichterischer Prosa zeigt sich, was Paul Celan eine "Neigung zum Verstummen" nennt. "[...] das Gedicht", so heißt es im Meridian, "behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück". 60 Dieses "Immer-noch" ist ein Sprechen, laut Celan, als aktualisierte Sprache des Einzelnen, der nicht vergißt. Das Gedicht ist also "seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz". 61 So gewinnt das Verlorene, das Abwesende, seine Gegenwart, und in dieser Gegenwart ist die Sehnsucht nach Begegnung aufgehoben. "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein ist" (Gen.2,18) ist die Selbstaussage Gottes, die in der Gabe der Frau - wenn das Unsichtbare im Schlaf sichtbar gemacht wird aus dem Leib des Menschen - seine Gestalt gewinnt. "Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben. Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung - im Geheimnis der Begegnung? Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen. "62

58 Franz Kafka, Nachts, in: Gesammelte

Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1992, 88.

59 Edmond Jabes, Vom Buch zum Buch, 90. 60 Paul Celan, Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1986, 197. 61 Ebd., 198. 62 Ebd.

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Wie das Gedicht Celans, so ist das Buch Jabes' ein Brechen des Schweigens, ein Ende der Einsamkeit des Menschen wie der Einsamkeit Gottes.63 Ein Einbruch in das Universum des Wortes, um es durch das Lesen zu erlösen. Durch das Lesen den Horizont dieses Wortes auszudehnen, das Wort in seiner inhaltslosen Leere in der Fülle seines Inhaltes zu erfahren. "Was wir als das 'Ganze' bezeichnen, ist nur ein Teil der unsichtbaren Gesamtheit - Unfaßbares - ; einer ihrer sichtbaren Teile: der Buchstabe, den die Leere stützt, wie sie auch die Welt trägt."64 Das Wort "Gott" ist für Jabes unter diesem Gesichtspunkt das leerste Wort des Vokabulars, in dem der Welt und dem Menschen immer ein Zuhause geboten wird. Es ist die Bedingung für den Ort und so der Ort schlechthin. In der Vielfalt der Aphorismen will Jabes den Bruch als Bedingung für den Ort setzen. "Der Bruch ist immer am Anfang. Was kursiv geschrieben ist, ist das Innere des Buches, dieses Innere, welches ab und zu sich sträubt, an die Oberfläche des Textes steigt und protestiert: 'Und das, hast du das nicht gesagt'. So vieles fügt das Buch zum Buch hinzu, als ob, was gelesen werden muß und was immer hinter dem Geschriebnen liegt, in den Vordergrund drängte."65 Die Fragen und die Antworten sind gegenseitig bedingt durch den Ort, den sie schaffen. Über den Abgrund der Zeit und des Ortes rufen sie einander Argument und Gegenargument zu. So ist der Jabes-Text eine Textur von Zitaten, die einen Lebensraum für die Verstorbenen schafft, wo das Primat der Aussage jegliche Autorität in Frage stellt. Es ist aber nicht die Sprache selbst, die spricht, sondern die Menschen, und jeder spricht in seinem Namen, indem er dem unaussprechlichen Namen eine Sprache verleiht. Die Frage wird immer wieder mit einer Antwort befragt, die die Frage als Ant-v/ort (Wort vor dem Wort) in sich trägt. In der Kontinuität des Textes zerstören sich Satz und Gegensatz. "Den Sinn anzugreifen, indem man sich gegen den Satz auflehnt, hieße nicht, ihn zu zerstören, sondern im Gegenteil ihn dadurch zu bewahren, daß man den Weg auf einen anderen Sinn hin öffnet. Für mich ist das alles so, als ob ich mich zwei entgegengesetzten Diskursen gegenüber befände, von denen jeder dieselbe Überzeugungskraft hat. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit, den einen gegenüber dem anderen zu privilegieren, welche die Herrschaft des Sinnes über den Satz ständig hinausschiebt. Das Ungedachte wäre vielleicht nichts anderes als die gegenseitige Aufhebung zweier widersprüchlicher und letzter Gedanken. "66

Jabes will sich als Schriftsteller aus dem Text zurückziehen, um den verschiedenen Lesarten einen Platz einzuräumen. Es sind nämlich die gegensätzlichen Erörterungen der Stimmen im Text, wie auch die Parteinahme des Lesers für die eine oder andere Meinung, die den Text verständlich machen. In der Sprache der Rabbinen: "Diese und diese sind die Worte des lebendigen Gottes."67 63 Zu den Unterschieden zwischen beiden Schriftstellern siehe einen Nachruf Jabes' auf seinen verstorbenen Freund in Die Schrift der Wüste, 117-124. 64 Edmond Jabes, Der vorbestimmte

Weg, 97.

65 Edmond Jabes, Die Schrift der Wüste, 90. 66 Ebd., 69 f. 67 Vgl. Eveline Goodman-Thau, Zeitbruch,

107-112.

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Jabes hat oft geäußert, daß Literatur und Literaturgeschichte ihn nicht interessieren. Literatur und Literaturgeschichte meinen eine "Abstammung", der er sich widersetzen müsse. Seine Bücher wollen sich selbst ausschließen, ihre eigene Existenz - die Unmöglichkeit des Schreibens - bestätigen. Sie sind eine leere Hülle, geschaffen von der Befragung selbst, der Mensch wird im Buch zur Frage. "Eine leere Hülle, ja, in die man die Nachricht zu schieben vergessen hätte [...] Denn es gibt nie eine Nachricht. Oder vielmehr ist die Nachricht im Grunde reine Schöpfung des Empfängers. Die erwartete, ersehnte Nachricht, die er sich selber hätte schicken mögen, doch so, daß er sich dabei der Hand seines Korrespondenten bediente."68 Hieraus ergibt sich eine Hermeneutik, in der man sich nicht "nach etwas richten kann", wo Geben und Empfangen sich gegenseitig befruchten in einer Leere, in der Ähnlichkeiten im Spiegel der Wahrheit verblassen. Dem Buch der Fragen hält Jabes einen Spiegel vor, der Das Buch der Ähnlichkeiten (1976) heißt, dessen drei Bände alle mit einem Prozeß enden, in dem die Unmöglichkeit eines Urteils ans Licht tritt. Jabes gewinnt die Einsicht, daß die menschliche Rechtfertigung eben nicht vor der eigenen Befragung einer unantastbaren Antwort standhalten kann. "So sind die Wörter Jude, Buch, Schriftsteller und Richter nichts als Spiegel, die uns hingehalten werden. Spiegel jedoch, die nur den Blick reflektieren, der sie befragt." 69 Das Leben aus dem Zweifel, wo Wort und Sache als zwei Dinge auseinanderfallen, wo die Wahrheit nicht aus einer anderen Wahrheit ableitbar ist, öffnet den Weg zur Suche nach der Sache selbst, die oft nur im Schrei hörbar ist. Es ist ein Gehen im Kreis, in dem immer wieder neue Kreise sich befinden, "bis zum letzten Kreis, der ein geballter Punkt geworden ist, ein unsichtbarer Punkt; doch unglaublich gegenwärtig, doch auf majestätische Weise abwesend. [...] Ist's dies, was man Einheit nennt? Ein zerfallener Kreis? Ein Schrei, ein Schritt, ein Geständnis in Kreisform?" 70 Zwischen dem Buch der Fragen und dem Buch der Ähnlichkeiten entstehen die Rückkehr zum Buch (1965), Yael (1967), Elya (1969), Aely (1972) und El oder Das letzte Buch (1973), in denen Jabes jenen unsichtbaren Punkt als Mittelpunkt der Gottesbegegnung zu erreichen versucht. El ist der Gottesname, der im Hebräischen "zu" bedeutet, und die Namen der Personen umkreisen so den Ort, von dem sie eingenommen sind und den sie dennoch einnehmen wollen. Hier zeigt sich der Sturz in den Abgrund der menschlichen Verzweiflung, Gott je finden zu können: "[...] denn unsre Verzweiflung ist beschlossen in dem Akt, der uns dazu führt, den Tod Gottes zu fordern, um Ihn mehr als uns selbst lieben zu können, gegen uns selbst."71 Es sind die Letztgeborenen in Gottes Schöpfungsplan, die die Verantwortung für die Schöpfung und den Tod Gottes zu übernehmen haben. Das Wissen um Gott schließt das Wissen um den Tod Gottes ein, wenn die Welt zum Wahnsinn geworden ist, wo Gut und Böse keine Kategorien der Gerechtigkeit sind, sondern Wirklichkeit. Dieser Wirk-

68 Edmond Jabes, Die Schrift der Wüste, 73. 69 Ebd., 75. 70 Edmond Jabes, Vom Buch zum Buch, 110. 71 Ebd., 109.

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lichkeit verschafft Jabés eine Stimme im Schweigen der Tage, in denen das Ajeka - "Wo bist du?" - als Schrei des Menschen zu Gott vernommen wird. Das Urteil von Mensch und Gott wird suspendiert in dieser Frage, die alle Fragen und Gegenfragen aufhebt. Die Form der Erzählung in den Werken Jabés' ist eng mit ihren inhaltlichen Intentionen, ihrem Sinn verbunden. So entsteht eine Hermeneutik, die sich nicht in ein bestimmtes Raster einordnen läßt. Jabés betont, daß es weder religiöse noch profane Texte sind, obwohl Gott ein häufig vorkommendes Wort ist. Für ihn bedeutet das Anruf von Totalität. "Ich bin besessen von Gott als einer Totalität [...] die Grenze, die man zu erreichen sucht und die man in Wahrheit nie erreicht. [...] Die Totalität stellt die Fragen, und jedesmal antwortet das Fragment, das sich zur Antwort aufgerufen fühlt." 72 Das Heilige und das Profane begegnen sich für ihn im Akt des Schreibens, der jegliche Distanz überbrückt. 73 Der Mensch Jabés hat diese Erfahrung in der stillen Ortlosigkeit der Wüste selbst erlebt: in der Sinaiwüste, um sich "dieser 'Person' in uns, die uns blockiert, zu entledigen". 74 Er wollte aus der schweigenden Stimme das erste Wort hören, welches im Buch zur Schrift wird, geboren aus der Erinnerung des Vergessens: im Bruch des Fragmentes das Ganze zu erkennen. Die Form der Aphorismen läßt im Text dieses Vergessen schöpferisch aufleuchten, verhindert jegliche philosophische Systematisierung. "Sie bezeichnet die Sprengung des Ortes, das Konzert der Personen und Zeiten. Sie ist die Frucht eines bestimmten Schweigens [ . . . ] Die Aphorismen vervielfachen sich um die Erzählungen herum, die veritable Orte des Fragens sind, Erzählungen, die als Protagonisten eine Frau haben, zum Beispiel die rätselhafte Yaél oder auch Sarah, die in ihrer Unschuld das Gewicht der jüdischen Frage trägt. "75

Jabés kommentiert seine eigenen Texte in Gesprächen, aus denen wieder deutlich wird, wie nur im Kommentar des Kommentars die Fragen, die er sich stellt, eine Gestalt gewinnen. Wie im jüdischen Midrasch kommentiert er einen Text, der erst in der Fragestellung, die, ohne explizit ausgedrückt zu werden, implizit im Text anwesend ist, eine Bedeutung bekommt. Wie in einem Traum z.B. führt das Buch des Dialogs (1984) eine Frau ein, die existieren will vom Schriftsteller einen Namen erbittet. 76 Das Buch Jabés' muß aber immer an der Schwelle des Dialogs stehen bleiben, da "das Herz des Dialogs erfüllt ist vom Pulsieren der Frage". Ich bin gekommen, um dich zu fragen, sagte der Schüler. - Erwarte von mir keinerlei Unterweisung, gab der Lehrer zur Antwort. Wir sind, beide, desselben Lichts teilhaftig geworden: unser bescheidenes Wissen. - Muß ich dich so früh schon verlassen? sagte der Schüler.

72 Edmond Jabes, Die Schrift der Wüste, 92. 73 Vgl. Edmond Jabes, Das kleine unverdächtige

Buch der Subversion,

48-50.

74 Edmond Jabes, Die Schrift der Wüste, 93. Das erinnert an Abraham, der von Gott aufgefordert wird, sich aus jeglicher Vertrautheit aufzumachen in ein Land, das Gott ihm zeigen will (Gen. 12,1). 75 Ebd., 91. 76 Vgl. Ex. 3,13-16 und Ex. 33,17-23.

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- Gedulde dich. Ich will mein Bestes tun, um dir zu helfen. Du wirst bei mir allmählich lernen zu verlernen. Dies ist der Vorzug des Dialogs, antwortete der Lehrer. n77

So fängt der Dialog zwischen Lehrer und Schüler an, beide beginnen zu hören, wo das Unfixierbare in der Wüste des Wortes, welches Schweigen ist, anfängt zu sprechen. Ein Dialog zwischen zwei Menschen, die wissen, daß der Tod eine menschenleere Sackgasse ist "an der Biegung zu einer belebten Straße in der das Echo eines unterbrochenen Dialogs nachklingt".78 Der Tod ist der Schnittpunkt, an dem die Vernichtung des europäischen Judentums sich mit der Jabesschen Hermeneutik kreuzt. Die leeren Sackgassen, in denen nun die Stimmen der Juden verstummt sind, sind präsent an jeder Biegung zu einer belebten Straße. Aus dieser Stille, die Jabes in der Ägyptischen Wüste gehört und über das Mittelmeer nach Europa gebracht hatte, wird nun in der Begegnung mit dem Tod der Ermordeten die Leere sichtbar. Für Jabes wird die Frage nach der Gerechtigkeit, nach dem Leiden, zur Frage seines Judentums. Das Unfaßbare, das Unsichtbare, gewinnt eine Transparenz wie die ersten Tafeln - die laut der Überlieferung auf beiden Seiten beschrieben waren - , die eine neue Horizontlinie des Denkens erlaubt. "Ob ich von Buch zu Buch, auf dem U m w e g über seine Schrift, ausschließlich das Judentum befragt habe? Ich glaube erkannt zu haben, daß das jüdische Schrifttum, in seiner Rückbindung an die Ewigkeit, immer nur ein Schrifttum sein kann, wie es aus dem zähen Kampf des Buchs gegen sein eigenes Bild hervorgeht: das Wort des Bilds gegenüber dem Bild des Worts. Ein Kampf, dessen nichtfeststellbares Ende dieses Schrifttum verbürgt. Weiß sind die erste und die letzte Seite des Buchs." 79

So bewahrt das Buch die Erinnerung, sogar wenn schon alle Namen ausgelöscht sind, das Gras die Gräber überwachsen hat. Das Buch ist die Erzählung des Kampfes gegen jegliche Fixierung des Menschen, da der Jude die Geschichte seines Judeseins immer von Anfang an erzählen muß, das Buch seiner Erhaltung selbst schreiben muß. Eine Auflehnung also gegen die Vernichtung des Ichs, ein totalitäres Denken, welches das Subjekt aufgehen läßt in einer begrifflichen Allgemeinheit. "[...] doch das Judentum ist Leben; es ist unerschütterlicher Glaube an das Leben und an den Menschen."80 In diesem Widerspruch zur Geschichte, die nur seine eigene sein kann, liest Jabes sein Judentum im Buch, das die Präexistenz des letzten Buches ist, Gottes Buch: "ein Buch, das für den Menschen das erste gewesen wäre, falls er es hätte schreiben können".81 Und so schreibt Jabes einen Text, von dem er nicht weiß, daß er ihn gewußt hat, der ihn nicht, wie seine Leser, zum Staunen bringt durch seine Vertrautheit, als Erbe, welches den Juden anvertraut wurde. So notiert Reb Zalal:82 "Sehen

77 Edmond Jabes, Vom Buch zum Buch, 207 f. 78 Ebd., 208. 79 Ebd., 215. 80 Ebd. 81 Ebd., 182. 82 Möglicherweise ist der Name Zalal abgeleitet vom hebräischen zalul, welches "durchsichtig" bedeutet.

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heißt, das Gesehene mit einem Wissen verbinden, welches das unsre bereichern wird."83 Jabes weiß Fragen zu stellen ohne Aufgabe, ohne Bindung, um so in der Ent-bindung sich wieder zu binden; weiß sich gebunden an eine Erde, die dem Himmel zum Spiegel wird, wo die Namen aller anderen eingeschrieben sind. Um seine Texte durchdringen zu können, muß man bedenken, daß er danach trachtet, das Alte mit dem Neuen zu verbinden. "Wir werden den Weg gegangen sein, der für uns durch das jüdische Wort gebahnt wurde. Zwei Sätze werden uns beim Umherirren begleitet haben. Für das Einatmen: 'Gott hat den Menschen nach Seinem Bilde erschaffen', für das Ausatmen: '[...] denn Staub warst du und zu Staub sollst du werden'.1,84 Dort beginnt die Lektüre des Buches, welches neben der historisch-kritischen und der systematischen eine Fragestellung aufwirft, die nach den traditionsstiftenden Elementen in seinem Werk fragt. Jabes ist nämlich kein Traditionalist, der eine Tradition bewahren will, sondern ist auf der Suche nach der verlorenen Tradition, einer Vergangenheit, die sich wie die Woge des Ozeans durch ihre Bewegung brechend den Weg zur Zukunft bahnt. Er ist bereit, sich gegen jeden Zweifel, die Verzweiflung, gegen jeden Nihilismus aufzulehnen: "Und wenn das Buch mit seinen Listen und Gewagtheiten nichts anderes wäre als des letzten Blattes wahnsinniges Aufbegehren gegen das Nichts?"85 Dies ist der Grund seines Schreibens, die Rettung in einer postmodernen Welt, wo die Reflexion über Auschwitz ihn an den Rand eines geistigen Abgrunds führt. Die Erzählung vom uralten Streit der Rabbinen um die Wahrheit muß um jeden Preis - da er ja ein Streit um des Himmels willen ist - wieder erzählt werden, so daß die Welt Bestand haben kann.86

6. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard hat den Unterschied zwischen Wissenschaft und Erzählung gezeigt. Laut Lyotard verbinden Erzählungen verschiedene Satz-Regelsysteme, und ihr Ziel ist es, Wissen zu vermitteln, Ereignisse zu deuten, das Leben zu verstehen und überzeugend zu erklären. Sie neutralisieren den Widerstreit zwischen den Dingen.87 Im postmodernen Denken jedoch ist das Wissen in eine Krise

83 Edmond Jabès, Vom Buch zum Buch, 84 Edmond Jabès, Der vorbestimmte

183.

Weg, 133 f.

85 Ebd., 135. 86 Vgl. Babylonischer Talmud, Schabbat 88a: "Resch Lakisch sagte: Was bedeutet es, daß geschrieben steht 'Abend ward und Morgen ward - Der sechste Tag?' Was soll mir dieses überschießende 'der'? Es lehrt, daß der Heilige, gelobt sei er, mit dem Schöpfungswerk die Bedingung aussprach: Wenn Israel die Weisung annimmt, sollst du bestehen bleiben, wenn aber nicht, führe ich dich zurück in Wüste und Leere". Es hängt also von der menschlichen Auslegung der Weisung ab, ob die Welt Bestand hat oder nicht, wenn die Welt "im Streit und Widerstreit" verstanden wird, ist sie "geschaffen", sonst ist sie "Chaos". Siehe dazu auch Eveline Goodman-Thau, Zeitbruch, 156-161. 87 Jean-François Lyotard, Der Widerstreit,

München 1987.

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geraten. Von Beginn an war die Wissenschaft im Konflikt mit den Erzählungen, da sie sich in den meisten Fällen als Fiktion erweisen. Die Wissenschaft muß aber, wenn sie nicht nur die Regeln entdecken will und das Wahre sucht, einen Legitimationsdiskurs über ihren eigenen Status führen, der sich Philosophie nennt. "Wenn dieser Metadiskurs explizit auf diese oder jene große Erzählung zurückgreift wie die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinnes, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts, so beschließt man, 'modern' jene Wissenschaft zu nennen, die sich auf ihn bezieht, um sich zu legitimieren. So wird etwa die Konsensregel zwischen Sender und Empfanger bei einer Aussage mit Wahrheitswert für annehmbar gehalten, wenn sie sich in die Perspektive einer möglichen Einstimmigkeit der mit vernünftigem Geist begabten einschreibt: Das war die Erzählung der Aufklärung, worin der Heros der Wissenschaft an einem guten ethisch-politischen Ziel, dem universalen Frieden, arbeitet. Man sieht daran, daß die Legitimierung des Wissens durch eine Meta-Erzählung, die eine Geschichtsphilosophie impliziert, zur Frage über die Gültigkeit der Institutionen führt, die den sozialen Zusammenhang bestimmen: auch sie verlangen, legitimiert zu werden, so sieht sich die Gerechtigkeit ebenso wie die Wahrheit auf die große Erzählung bezogen. Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den Meta-Erzählungen für 'postmodern'. Dies ist ohne Zweifel ein Resultat des Fortschritts der Wissenschaften; aber dieser Fortschritt setzt seinerseits diese Skepsis voraus." 88

Lyotard identifiziert zwei Meta-Erzählungen, die die Moderne geprägt haben: die des spekulativen Diskurses in der Gestalt der Hegeischen Philosophie und die der Emanzipation. Beide brechen auseinander in der Postmoderne, in der wachsenden Einsicht in die Relativität der Erkenntnis und die Aufhebung der Trennung zwischen Subjekt und Objekt, wodurch ein Delegitimationsprozeß einsetzt für den Anspruch des Wissens selbst wie auch für seine Funktion im emanzipatorischen Bereich. Im Namen des Fortschritts wird eine Universalgeschichte erzählt. Subjekt dieser Erzählung ist die Menschheit, nicht der Mensch, der einen Namen hat. Diese Meta-Erzählung einer anonymen Idee, mit der das Individuum sich nicht identifizieren kann und zu der es sich nicht verpflichtet fühlt, kann es weder emanzipieren noch seinem Leben einen zusammenhängenden Sinn verleihen. So wird die Meta-Erzählung der Postmoderne zum Ort, wo alle Widersprüche aufgehoben, alle Ereignisse integriert werden. Lyotard sieht im Ereignis Auschwitz den Sieg über die Differenzen, über den Menschen in seiner Einzigartigkeit, der der spekulativen Logik einen Spalt im "Selbst" verursacht. Hier geschah etwas, das nicht darstellbar ist im Rahmen der Regel der Erkenntnis. Der Tod wird legitimiert ohne Diskussion über Recht oder Unrecht. Der Name der Juden wurde ersetzt durch eine Nummer, keine Familie, keine Gemeinschaft sollte die Toten in Liebe aufnehmen, sie in die Erinnerung eingehen lassen, über sie erzählen, Gefühle zeigen im Schweigen der Erkenntnis, welche den Widerspruch zuläßt. Lyotard plädiert für die Rettung des Nicht-Darstellbaren, der Namen, der Eigen-namen für die Überlebenden. Diese Einsichten bringen Lyotard dazu, über die "Juden" zu reflektierten, die er mit einer "Schar vergeßlicher Seelen" vergleicht, "die das Vergessene wesentlich darum bedrängt, um zurückzurufen, was sie ihm schulden [...] Dieses Etwas ist kein Begriff und keine Vorstellung, sondern eine 'Tatsache', ein 'Faktum': das man verpflichtet ist

88 Jean-François Lyotard, Das postmoderne

Wissen, Wien 1986, 13 f.

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und in der Schuld des Gesetzes steht".89 "Die Juden" sind Zeuge dafür, daß jede Darstellung Undarstellbares mit sich bringt, daß in diesem Entzug sich etwas ankündigt, eine Gegenwart, eine "verbergende Entbergung". Das Denken der Juden versucht eigentlich, nur dies zu denken, und so wird an den Juden als Volk vollzogen, was man gegen das Denken der Juden vollziehen will, nämlich das Vergessen und Verdrängen des Undarstellbaren, Ausgrenzung und Vernichtung dessen, was sich nicht integrieren läßt, was den Widerspruch bis zum letzten aushält. "Man darf den Antisemitismus des Abendlandes nicht mir dessen Xenophobie verwechseln. Er ist vielmehr eines der Mittel seines kulturellen Apparates, den ursprünglichen Schrecken, so gut es geht, zu bannen, ihn darzustellen und abzuwehren, ihn aktiv zu vergessen. Er bildet die defensive Ergänzung seines Angriffsmechanismus, der griechischen Wissenschaft, des römischen Rechts und der römischen Politik, der christlichen Geistlichkeit, der Aufklärung, jene Ergänzung, die der 'Kehrseite' des Wissens, des Habens, des Wollens und des Hoffens zugewandt ist. Im Mittelalter werden die Juden genötigt, sich zu bekehren, und sie widersetzten sich der Konversion kraft einer reservatio mentalis. Im Zeitalter der Klassik werden sie vertrieben, und sie kommen zurück, in der Moderne werden sie integriert, doch sie beharren auf ihrer Verschiedenheit. Im 20. Jahrhundert werden sie vernichtet."90

Im Denken der Juden ist das aufgehoben, was das jüdische Volk als Ganzes bestimmt: ein Ereignis, welches nicht darstellbar ist, da dies bedeuten würde, die Bedeutung des Ereignisses zu enthüllen und wieder herzustellen. "Bund ist der Name des Ereignisses, der Bund ist das Ereignis mit dem Gott, das nicht-nennbare, das das jüdische Volk heimgesucht hat" ... "Kraft des bloßen Faktums dieser 'Offenbarung', der dunklen, ungewissen Enthüllung einer namenlosen Sache, ist dieses Volk unmittelbar aufgerufen" ... "Es wird keinen Gott haben in der Weise, wie die anderen Völker [...] Ein Gesetz des Hörens also, das dem Hörenden die Verzweiflung nicht erspart, niemals zu verstehen, was es sagt" ... "Unabläßlich ruft man sich ins Gedächtnis, daß es geschehen wird, doch dann geschieht einzig, daß man sich dies ins Gedächtnis rufen muß [...] Schließlich muß genügen, daß man sich ins Gedächtnis ruft, daß man es sich nicht mehr ins Gedächtnis ruft. Es muß genügen, um das, was kein Ende nimmt, und das Warten zu retten." 91

Es ist die Aufgabe der Juden, das Undarstellbare zu bewahren, gegen jede Logik, gegen jede geschichtliche Beweisführung, die göttliche Aufgabe im Erinnern durch ihr Handeln zu bestätigen, sich dem Warten auf das Unerwartete hinzugeben. Auf den Widerstreit darf nicht verzichtet werden, da es ja ein Streit um des Himmels willen ist, noch mehr, jetzt nach Auschwitz.

7. "Das kleine unverdächtige Buch der Subversion" (1982) redet von diesem Aufstand um den verlorenen Himmel und der verbrannten Erde. Mit eigener Stimme vertritt Jabes

89 Jean-François Lyotard, Heideggerund 90 Ebd., 35. 91 Ebd., 22, 32, 33 u. 50.

"die Juden", Wien 1988, 11.

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hier alle Stimmen, "denn der Kreatur ist das Fehlen des göttlichen Namens unerträglich", und "Gott ist dem Menschen ausgeliefert durch Seinen Namen".92 Wie die Rabbinen im Buch der Fragen den ungeschriebenen Text - den der gebrochenen Tafeln - befragen, so befragt Jabes nun seinen eigenen Text. Wirkungen der Subversion sind für ihn das Erwachen aus dem Schlaf, um das Nichts zu denken, welches sich auf alle Gesten des Lebens bezieht. Es geht ihm darum, den Punkt zu erreichen, wo Erfahrung und Denken sich begegnen, wo die inneren Konflikte ein Gleichgewicht finden, da sich "in jedem Augenblick das Leben gegen den Tod auflehnt". So findet der Protest gegen den ungerechten Tod der Millionen Juden eine philosophisch-poetische Chiffre: sich im Akt des Schreibens dem Untergang auszusetzen. Die gebrochenen Tafeln werden zum Zeichen der Schrift im Bruchstück des Wortes: "Die Subversion, das ist die Bewegung der Schrift: die Bewegung des Tods."93 Den Weg des Todes in der Bewegung der Schrift heißt, die Hoffnung selbst in Frage zu stellen, den "Gnadenort jenseits der Sandweiten" als "Trugbild" zu entlarven. Jabes schreibt ein Buch für morgen, für die, die gelernt haben werden, aus dem Nichts zu lesen, da alle Bücher zu Asche geworden sind, alle Menschen zum Staub der Erde. Nur der Schriftsteller blieb zurück in der Einsamkeit des Wortes, um die Chronik des Nichts zu erzählen in der Unendlichkeit seiner Fülle. Der Kampf um das Buch aber muß erst geführt werden: "(Überall werde ich die Schranken niederreißen, um meinen Werken, nebst ihrem eigenen Raum, die Unendlichkeit eines verbotenen Raums zu eröffnen.) "94 Jabes weiß, daß der Weg nach innen über die Subversion geht, daß jedes ausgesprochene Wort subversiv ist im Bezug auf jedes Verschwiegene, subversiv im Bezug auf jedes Geschriebene, jeder schwarze Buchstabe eine Waffe gegen das weiße Blatt, welches sich als Spiegel anbietet, dadurch aber zerschmettert wird. So schließt der Blick nach innen immer Selbstvernichtung mit ein. Den eigenen Ort finden, heißt auch, die Unendlichkeit zu bedrohen, Transgression zu üben. So heißt den Himmel bestürmen nicht nur, Gott in Frage zu stellen, sondern auch das vernünftige Denken, beide sozusagen zusammenzudenken: "Wäre Gott, als Gefangener des Gedankens, dem All anheimgestellt? Allein das Ungedachte - welches seine unvorstellbare Nicht-Dauer ist - könnte ihm also insgeheim Dauer verleihen, denn die Ewigkeit ist auch lautere Nicht-Dauer, die sich der erlebten Dauer entzieht. Gott bleibt der Zeit wie auch der Dauer fremd, denn Er ist fortsetzungslos. 095

Zeit und Dauer sind für Jabes menschliche Kategorien, die Gott fremd bleiben. Aber ist dies nicht das Ziel der Subversion, diesen Ort zu erreichen, die Freiheit und die Ketten des Gedächtnisses zu erfahren, einen Freiraum zu schaffen, der eben nicht von Gott besetzt ist, so daß Gott erfahren und gedacht werden kann?

92 Edmond Jabes, Das kleine unverdächtige Buch der Subversion, 93 Ebd., 5. 94 Ebd., 8. 95 Ebd., 19.

15.

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Das Ringen um das Buch wird nun ein Ringen nicht um Gott, sondern mit ihm ( - wie Moses im Anblick des tanzenden Volkes um das Goldene Kalb die Tafel n/wr, aber auch gegen Gott gebrochen hat - ) um den Willenswillen selbst, den Menschen, der dem Tod ausgeliefert, das Leben will, in der Fülle der unaussprechlichen Bilderhaftigkeit der Seele, die sich äußern will, jenseits vom Sagen. "Schau, wie paradox das Wollen Gottes ist. Einerseits appelliert Er an das Bewußte, um die Idee, das Gefühl der Göttlichkeit in uns zu stärken, andererseits stößt Er uns, indem Er das Bild unter Verbot stellt, zurück ins Unbewußte, das Er ohne uns beherrscht." 96 Aus dieser Aussage spricht der paradoxe Kern des jüdischen Monotheismus, der im Bilderverbot den Glauben am Wissen prüft. Es ist nämlich der Glaube an einen Gott, der will, daß ich weiß, der aber dieses Wissen vom Wollen des Menschen abhängig macht. "Alles ist vorgesehen, aber die Wahl ist gegeben" lautet eine bekannte alte Aussage der Rabbinen, nicht nur um das Paradoxon zwischen Gottes Allwissenheit über die Zukunft und der freien Wahl der menschlichen Entscheidung aufzuheben, es stellt dieses Paradoxon in den Mittelpunkt der Gott-Mensch-Beziehung, da es ja weniger um den Willen Gottes, vielmehr jedoch um den Willen des Menschen geht. Wie leicht wäre es für einen allmächtigen Gott, den Menschen zu zwingen, um so auch allwissend zu sein ... So zwingt das Bilderverbot ins Unbewußte, wo der Mensch seinen Willen nicht beherrscht, und so sich selbst auch nicht zwingen kann, Gottes Willen zu tun. In einem Akt der Subversion klagt Jabes Gott an, sogar diesen Ort des Unbewußten beherrschen zu wollen, den Menschen nämlich diese freie Entscheidung zu nehmen. So sucht er Gott im Bild, in den Bildern im Unbewußten, um dessen Rückgewinnung es ihm geht: "Das älteste davon ist gewiß das Bild Gottes, an das auch Gott selbst sich nicht erinnern kann. Bild vom ersten Tag. Bild des Tods, den man uns vorenthalten wird bis zum Tod." 97 So ist die Lesbarkeit der Welt für Jabes nur möglich aus der Perspektive des ersten Tages, der zugleich der letzte ist. Dazwischen liegen die Tage der Subversion, in dem die "Grenzen der Grenzlosigkeit" abgesteckt werden. Aus diesem Zwiegespräch mit sich selbst spricht eine ungeheuerliche theologische Musikalität, die den Dialog mit Gott, der "nicht anders als Er selber" ist, eröffnet. "Und wenn Gott, um an sich selbst zu zweifeln, eines Schattens bedürfte?" 98 Jabes will diese Schattenbilder aufleuchten lassen, die den Kern des Menschseins zum Licht bringen sollen. So gibt es keine Antworten, nur Fragen, da nur die Frage ein Gedächtnis hat: der Mensch muß also, wenn Gott vergessen hat - ein Vergessen, daß ein Vergessen-um-sich ist - sich erinnern. Wir begegnen hier der "Zeit der Subversion", in der sogar Gottes Erinnerung in Zweifel gezogen wird, da laut jüdischer Tradition Gott es ist, der sich erinnert. 99 Hier erinnert sich der Mensch, 100 der den Himmel in

96 Edmond Jabes, Das kleine unverdächtige

Buch der Subversion,

21.

97 Ebd., 22. 98 Ebd., 24. 99 Die Hohen Feiertage Rosch Haschana ("Neujahr") und Jörn Kippur ("Großer Versöhnungstag") werden in der Bibel "Tag der Erinnerung" genannt; es geht hier aber nicht um die Erinnerung historischer Ereignisse zwischen Gott und dem Volk Israel, sondern um die Mensch-Gott-Beziehung, um die Bitte, im "Buch des Lebens" eingeschrieben zu werden.

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seinen Augen hat, wenn er das Buch schreibt, da das Himmelsbuch verloren gegangen ist.101 Die Tora als Plan und Erfüllung der Welt, ist im Schiffbruch Europas untergegangen, da das Blut die einzige Tinte ist, mit der das Buch geschrieben wird. Aus dieser Situation heraus schreibt Jabes die Geschichte des Denkens, welche einerseits seine Autobiographie ist, aber auch die Fiktion der Autobiographie zeigt, die Vorstellung, daß der Mensch gedacht, Gott erdacht werden kann: "Allenfalls können wir die Handlungen Gottes begreifen, niemals aber den verunklärenden Gedanken, der sie lenkte."102 Die Reflexion des Denkens und des Erinnerns führt ihn dazu, den Schleier der Sprache, der die Welt verstellt, zu lüften, die Welt "einzubilden", ihr die Einbildungskraft, den Vorrang des Ereignisses, zu erlauben. "Das Ungedachte", sagt er, "ist jenseits des Buches, sein innerer Horizont".103 So gibt es für Jabes nur einen Ausweg ins Unbekannte, ein Gehen in die Wüste, "[...] in ein Land, das nicht gesät ist" (Jer. 2,2). "Nicht der Schriftsteller [...] verfügt über den Schlüssel zum Text, ebensowenig wie der Text selbst - als das, was der Lektüre sich darbietet - über ihn verfügt, vielmehr das, was sich nicht ins Wort hat einschließen lassen. Zweifellos ist der Schlüssel jenes Fehlende, welches im Buch angezeigt wird durch ein paar Vokabeln, die ihrerseits Träger einer unerinnerten Abwesenheit sind: Fehlendes im Unendlichen des Fehlenden. Was uns das Sehen ermöglicht, ist das, was man nicht sehen kann."104

Jabes ist ein jüdischer Postmodernist, der "unerinnerte Abwesenheit" als eine Anwesenheit Gottes im Fehlenden sieht; dort wo der Verlust erfahren ist, ist das Sehen möglich. Im Hebräischen werden allein die Konsonanten geschrieben, die Vokale können nur gehört werden, und so ist Lesen für Jabes "Zuhören mit dem Ohr" aufnehmen, was sich nicht im Wort erfassen läßt; nicht die Erinnerung an die Stimmen, sondern die sprechenden Stimmen selbst bringen die Worte in den Wörtern zum Laut. Nun ist sein Denken aber keine postmoderne Dekonstruktion nur im klassischen Sinn, Subversion heißt für Jabes auch "sub vers Sion", im Sinne von "hinunter nach Zion". Es meint den "Abstieg für den Aufstieg", eine rabbinisch-kabbalistische Floskel, die an ihre eigenen subversiven Kräfte glaubte und sie für den Aufstieg zu Gott zu vereinnahmen wußte, ohne daran zugrunde zu gehen. Die unsichtbare Form des Buches wird so zum lesbaren Körper Gottes, das Buch zur erneuten Erzählung der Errettung, da der Jude ja durch das Buch errettet wird, und das Verschwinden Gottes die Überlegenheit des Todes über das Leben bestätigt.105 Und so kämpft Jabes den Kampf von Buch zu

100 Siehe dazu: Eveline Goodman-Thau, "Kabbala und Neues Denken", in: Messianismus zwischen Mythos und Macht. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1994. 101 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1986, 17-35. 102 Ebd., 62 . 103 Ebd., 84. 104 Ebd., 68. 105 Edmond Jabes, Hommage,

128.

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Buch und fragt sich, ob er über seine Schriften möglicherweise allein um sein Judentum gekämpft hat. "Ich glaube begriffen zu haben, daß die jüdische Schrift in ihrem Bezug zur Ewigkeit nur eine Schrift sein kann, die aus dem unerbittlichen Kampfe des Buches mit seinem Bild hervorgegangen ist: das Wort des Bildes dem Bild des Wortes gegenüber."106 Am Ende findet er - wie den unaussprechlichen Namen, der die Abwesenheit der Allgegenwart Gottes ausdrückt - auch den des Buches in seinem Wort-Bruch, der der des Schriftstellers und der des Juden ist. "Nicht mehr zu sehen geben, sondern sehen, was gegeben wurde."107 Es ist der Verdienst Jabes', diesem eine Stimme zu geben. Im Haus der Verrückten sagte Sarah: "Ich höre den Schrei nicht, ich bin der Schrei" und Reb Louel erklärte: "Die jüdische Seele ist der zerbrechliche Schrein eines Schreis."108 So ist der Schrei Sarahs und aller anderen Verstorbenen aufgehoben im zerbrechlichen Schrein des Buches zusammen mit den Gesetzestafeln, denen von Gott und denen vom Menschen geschriebenen, in ewiger Erinnerung. Kursiv und in Klammern zeigt Jabes uns im Bild der betenden Gemeinde, in der Synagoge, die zur Arche geworden ist, ein Bild der Heimkehr: "(Wir glauben, sie stehen aufrecht, weil wir sie uns anders nicht vorstellen können. Tatsächlich sind sie, mit ihrem Gebetsschal um die Schultern, Schiffe, ausgeliefert dem Wind und dem Meer. Die Wogen gewinnen, während des Gottesdiensts, bisweilen eine solche Kraft, daß die Synagoge erschüttert wird dadurch. Die Synagoge zu verlassen heißt eigentlich, Land zu betreten. Man findet zu seiner Straße, zu seiner Familie zurück wie nach einer langen bereichernden Abwesenheit.) "109

Im Schiffbruch110 des Buches, in vollem Bewußtsein des totgeborenen Ereignisses des Schreibens - "In jedem Namen gibt es einen störenden Namen: Auschwitz",1H findet Jabes so einen Ort zum Sterben: da für ihn der Tod "Sterben mit der Feder in der Hand, wie der Vogel mit den Flügeln noch voller Wind"112 war.

106 Edmond Jabès, Der vorbestimmte

Weg, 131.

107 Ebd. 108 Edmond Jabès, Vom Buch zum Buch, 64. 109 Ebd., 54. 110 Nach Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, a.M. 1979. 111 Edmond Jabès, Der vorbestimmte 112 Ebd., 59.

Weg, 51.

Frankfurt

Eva M.

Schulz-Jander

Ungehörte Stimmen Zu Gertrud Kolmars Das Wort der Stummen

Die Literatur zu Gertrud Kolmars Werk hat inzwischen einen beträchtlichen Umfang erreicht, 1 und dennoch bleibt die Dichterin Kolmar eine der großen Unbekannten in der Rezeption des allgemeinen Lesepublikums. Ihr Werk versperrt sich dem leichten Zugang, fordert heraus zum Widerspruch und zur Auseinandersetzung mit eigenen Mythen und eigenem Scheitern. Ganz anders erging es der Person Gertrud Kolmars. Obwohl über ihr Leben bisher nur Bruchstückhaftes bekannt war, schien das Bedürfnis nach biographischer Information so groß zu sein, daß 1993, fünfzig Jahre nach ihrer Ermordung in Auschwitz, mehrere Versuche unternommen wurden, das Fragmentarische ihres Lebens zu ordnen und in Beziehung zu setzen mit dem Werk und dem historischen Kontext, in dem es entstand. Das Schiller-Nationalmuseum in Marbach widmete der Dichterin zwischen Februar und Mai 1993 eine große Ausstellung. 2 Kaum eine Feuilletonseite der großen Zeitungen, die nicht das einzig erhaltene Portraitphoto der Dichterin schmückte. Dann erschien Anfang dieses Jahres eine Monographie, Gertrud Kolmar Leben und Werk, von Johanna Woltmann, 3 die die zwei bisher getrennten Interessenstränge verbindet, indem sie den inneren Zusammenhang von Biographie und Werk nachzeichnet. Woltmann liest das Werk Kolmars auch als Selbstdarstellung und Bekenntnis und stellt Querverbindungen zwischen dichterischem Ausdruck und Biographie her. Ihr Buch ist angereichert mit einem Dokumentationsteil mit bisher zum Teil unveröffentlichten Quellen. Diese Hineinnahme von Kolmars Werk in die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus kontextualisiert es und bietet einen Zugang, der über den rein literaturwissenschaftlichen hinausgeht unter Berücksichtigung historischer, soziologischer und psychologischer Kategorien. Da jede Auseinandersetzung mit Gertrud Kolmars Werk überschattet wird von ihrer gewaltsamen Ermordung in Auschwitz, und deshalb von seinem Ende her gelesen wird, erscheint es legitim, die Frage danach zu stellen,

1

Siehe für eine vollständige Bibliographie zu Gertrud Kolmar: Birgit R. Erdle, Antlitz - Mord - Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas, Wien/Zürich 1994.

2

Zu dieser Ausstellung, die Johanna Woltmann betreute, erschien ein Katalog, "Gertrud Kolmar 18941943", Marbacher Magazin, 63 (1993), bearb. von Johanna Woltmann. Im gleichen Jahr erschien von Beatrice Eichmann-Leutenegger, Gertrud Kolmar - Leben und Werk im Jüdischen Verlag, Frankfurt a.M. 1993.

3

Johanna Woltmann, Gertrud Kolmar - Leben und Werk, Göttingen 1995. Johanna Woltmann betreut seit Jahren den Nachlaß Gertrud Kolmars.

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welche Rolle das Interesse an Leben und Werk der Dichterin in unseren eigenen Auseinandersetzungen mit der Zeit des Nationalsozialismus und unserer Haltung zur Vergangenheit spielt. Es scheint, als ob Leben und Werk einer Jüdin in Deutschland in unseren Erinnerungsprozeß mithineingenommen werden. Einen ganz anderen Zugang unternimmt Birgit Erdle 4 in ihrer 1994 erschienenen Studie zu Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas. Hier stehen die Texte im Mittelpunkt, deren verborgener Diskurs der Gewalt im Licht des Denkens von Emmanuel Lévinas und den Theorien Freuds und Lacans entschlüsselt wird. Diese Arbeit bettet das Werk Kolmars ein in moderne Denkstrukturen und ermöglicht eine von Psychoanalyse, Kulturgeschichte und Textanalyse geleitete Lektüre. In anderen Worten: Sie liefert das theoretische Instrumentarium für eine Annäherung an die Frage, in welcher Weise unser Interesse an Kolmar mit unserem eigenen Erinnerungsprozeß verbunden ist. In dieser Arbeit werde ich einen Mittelweg zwischen diesen beiden Lektüren einschlagen. In der Konzentration auf einen einzigen Gedichtzyklus, Das Wort der Stummen, werde ich versuchen, die darin enthaltenen individuellen und kollektiven Erfahrungen als ein Paradigma der Bedrohung des als fremd gesetzten Anderen mit den Kategorien der Sprache zu entschlüsseln. "Warum ist die Sprache immer an den Rändern, nah am Abgrund, dort wo es umkippt, abstürzt, wo es wankt, schwankt, stottert? Sie ist immer jenseits und diesseits, niemals genau auf der Linie, auf dem Buchstaben, stets abseits, dagegen, daneben, nicht ganz bei sich." 5 So beginnt Regine Robin ihren Aufsatz Ursprungstrauer, in dem von der Unbewohnbarkeit der Sprache, dem Verlust, der jedem Schreibakt innewohnt, und dem Exil, in das das Subjekt schreibend gezwungen wird, die Rede ist. Sprache wird hier konzipiert als Signifikat und Signifikant von Bedrohung. Diese Konzeption soll meiner Lektüre dienen. Anhand einzelner Gedichte werde ich die zerbrochene Sprache, die zerklüftete Identität und immer wieder den Versuch, durch Schreiben den Abgrund zu überbrücken, herausarbeiten. Das Wort der Stummen enthält zweiundzwanzig Gedichte, die zwischen dem 18. August und dem 25. Oktober 1933 geschrieben wurden. Jedes Gedicht ist mit einem Datum versehen, was eine Ausnahme in Kolmars Werk bedeutet. Die Sammlung ist als Handschrift erhalten und befand sich im Besitz von Hilde Benjamin. 6 Als eigenständige Veröffentlichung erschien der Gedichtzyklus erstmalig 1978 in der DDR im Verlag Der Morgen, versehen mit einem Nachwort von Hilde Benjamin. Dort berichtet sie, wie sie in den Besitz des Manuskriptes kam: "Und bald nach Onkel Ludwigs Tod gab sie mir ein Päckchen Manuskriptblätter: 'Nimm.' Ich nahm sie als Vermächtnis, ungelesen. Ich wagte mich an sie so wenig wie an die Briefe und Papiere meines Mannes. Mit ihnen waren sie verpackt, versteckt und verwahrt. So verwahrt, wie das Erleben dieser Jahre

4

Birgit Erdle, Antlitz - Mord - Gesetz, Zürich 1994.

5

Régine Robin, "Ursprungstrauer. Von der Fremdheit der Sprachen", in Jutta Dick u. Barbara Hahn (Hg.), Von einer Welt in die andere, Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1993, 297.

6

Hilde Benjamin war die Frau Georg Benjamins, dem Bruder Walter Benjamins, und Justizministerin der DDR zwischen 1953 und 1967.

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zunächst tief versank und ich nicht daran zu rühren wagte. Als ich vor einigen Jahren an das Ordnen der Papiere meines Mannes ging, waren auch die vorliegenden Gedichte in unseren Händen." 7

Die Anordnung der Texte im Manuskript ist chronologisch. Am Ende hat Gertrud Kolmar jedoch eine thematische Gliederung bestimmt, nach der sich die Erstausgabe sowie alle anderen Ausgaben richten.8 Zwei Gedichte, Trauer und Im Lager, sind von der Autorin mit "nicht" versehen, werden aber stets mit einbezogen. 9 Der Zyklus läßt sich in drei Teile gliedern. Eine erste Sequenz führt in das Thema der Bedrohung ein. Geleitet von einer ruhigen Sprachfiihrung, steigt die Bewegung an zum mittleren und dissonanten Hauptteil hin, um in einer Abwärtsbewegung in der letzten Sequenz im Mollton auszuklingen. Die Texte der ersten Sequenz rekurrieren auf Bilder und Figuren, die das gesamte Werk Kolmars durchziehen: Mutter-Kind-Beziehung, Natur- und Tiergestalten. Der mittlere Teil ist den Entrechteten gewidmet, den Gefangenen und Mißhandelten, und in seinem direkten Bezug zum Zeitgeschehen eine Ausnahme in ihrem Werk. Der dritte Teil wendet sich einer historischen Thematik zu und weist mit zwei Robespierregedichten bereits auf den 1934 entstandenen Robespierrezyklus hin. Als letztes steht die Begegnung mit einem Engel, die sich nicht recht einordnen läßt in die vorangegangenen Texte, diese aber rückblendend beleuchtet. Eingebettet in die Zeitsituation, verlassen die Gedichte die sprachliche Geborgenheit und setzen an ihre Stelle eine Sprache, die sich an den Rändern bewegt, stets vom Absturz bedroht ist. Zu tintigem Gestrichel Zerrann der Birke weißer Stab; Trauer (19. September 1933)10

7

Gertrud Kolmar, Das Wort der Stummen, Berlin 1978, 49. Es ist nicht sicher, ob es sich hier um den Tod Ludwig Chodziesners, dem Vater Gertrud Kolmars, oder dessen Deportation nach Theresienstadt im September 1942 handelt. Gertrud Kolmar wurde am 10. Dezember 1894 in Berlin als älteste Tochter einer bürgerlichen, assimilierten jüdischen Familie geboren. Durch ihre Mutter, eine geborene Schoenflies, war sie die Cousine Walter Benjamins. Sie besuchte eine hauswirtschaftliche Frauenschule, danach ein Lehrerinnenseminar, erhielt dort ihr Sprachlehrerinnendiplom für Englisch und Französisch. Im ersten Weltkrieg arbeitete sie als Dolmetscherin in einem Gefangenenlager, danach als Erzieherin und später mit taubstummen Kindern. Als die Eltern ihre Pflege brauchten, gab sie alles auf und kehrte zu ihnen zurück. Ihr bürgerlicher Name war Chodziesner; Kolmar ist der deutsche Name der kleinen Stadt in der Provinz Posen, aus der die väterliche Familie stammt. Ab 1938 muß sie den Namen Gertrud Sara tragen. Ab 1941 wird sie zwangsverpflichtet, in der Rüstungsindustrie zu arbeiten. Am 23. Februar 1943 wird sie bei der sogenannten Fabrikation verhaftet, und nun verlieren sich ihre Spuren. Keiner kennt mit Sicherheit den Ort noch den Tag ihres Todes. Am 2. Mai 1951 erklärt sie das Amtsgericht Berlin-Schöneberg für tot.

8

Siehe hierzu: Gertrud Kolmar, Frühe Gedichte (1917-1922). Wort der Stummen (1933), hg. v. Johanna Zeitler, München 1980; oder Gertrud Kolmar, Weibliches Bildnis, Gedichte, München 1987.

9 Siehe die oben erwähnten Ausgaben oder auch Das Wort der Stummen, hg. v. Uwe Berger, Berlin 1978. 10 Gertrud Kolmar, Das Wort der Stummen, Berlin 1978, 8 (fortan zitiere ich nach dieser Ausgabe).

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Die unterschiedlichen jüdischen Reaktionen auf die brutalen Übergriffe und Erniedrigungen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung am 30. Januar 1933 sind ausreichend dokumentiert. 11 Gertrud Kolmar reagiert auf die Ereignisse, die auch ihre unmittelbare Familie trafen, mit diesem Gedichtzyklus. Im Frühjahr 1933 verliert ihr Schwager, Peter Wenzel, seine Stellung als Buchhändler "wegen nicht einwandfreier Gesinnung", in Wirklichkeit aber wegen seiner Ehe mit einer Jüdin. Ihr Cousin, Georg Benjamin, wird im April 1933 verhaftet und mißhandelt. Die Destruktivität der äußeren Ereignisse zeichnet eine textuelle Spur in diesem Gedichtzyklus. Der Titel Wort der Stummen signalisiert als Paradoxon die Ambiguität jeder sprachlichen Mitteilung. Wie kann man diesen Titel lesen? Eine erste Lektüre könnte ungefähr so lauten, daß Kolmar ihre Stimme denen leiht, die keine haben, den Pflanzen und Tieren, oder dem Kind, das nie geboren wurde, den Entrechteten und Erniedrigten. Eine zweite Lektüre unter Zuhilfenahme von Walter Benjamins Aufsatz Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen würde einen Schritt weitergehen. In diesem Aufsatz äußert Benjamin den Gedanken, daß im paradiesischen Zustand, vor dem Sündenfall, die Sprache des Menschen erkennend und schaffend zugleich war. 12 Der Sündenfall entzweit die schaffende von der erkennenden Sprache, und fortan ist die menschliche Sprache nur noch Mitteilung. 13 Von dem Verlust der Einheit ist es, laut Benjamin, nur noch ein Schritt bis zur Vielheit der Sprachen. Und dennoch haftet jeder Mitteilung die Ahnung ihrer ursprünglichen Einheit an, sie ist gleichzeitig "Symbol des Nicht-Mitteilbaren". 14 Aus diesem Verlust rührt die tiefe Traurigkeit jeder sprachlichen Äußerung. Eine Trauer, die auch die Natur und die Dinge betrifft, da diese nun nicht mehr aus der einen Paradiessprache benannt werden, sondern aus den vielen Menschensprachen, was Benjamin "Überbenennung" nennt. Diese zweite Lektüre des Titels im Rekurs auf Benjamins Sprachphilosophie deckt ein tieferes Verhältnis zwischen den Stummen und dem Wort der Dichterin auf, in dem der Erlösungsgedanke aufleuchtet. Da jeder Sprache die Erinnerung des Gotteswortes und die Trauer über seinen Verlust innewohnt, ist sie durchdrungen von der Bewegung hin zur ursprünglichen Sprache. Der ununterbrochene Strom der sprachlichen Mitteilung, der in Benjamins Konzeption vom niedersten Existierenden bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott fließt, findet seine Konkretion in Kolmars Werk in der Entgrenzung der eigenen Existenz, in ihrer Fähigkeit, in Menschen, Pflanzen und Tiere einzutauchen, um diese durch ihre Sprache aus der Stummheit zu reißen, und sie somit einzugliedern in den Prozeß der Erlösung. Im folgenden werde ich auf zweierlei Weise vorgehen. Ich werde in der Betrachtung des Zyklus als geschlossenem Ganzen eine Bewegung aufzeigen, die von den ersten noch verschlüsselten Bildern der Bedrohung zu einer immer konkreter werdenden Verknüpfung von Zeitgeschehen und sprachlichem Ausdruck und am Ende zu einem Schlüsselbild führt; und ich werde in der Analyse einzelner Texte der Verknüpfung des Zeitge11 Siehe z.B.: Wolfgang Benz (Hg.), "Die Juden in Deutschland 1933-1945", Veröffentlichung des Instituts für Zeitgeschichte, München 1988. 12 Walter Benjamin, Angelus Novus, Frankfurt a.M. 1960, 18. 13 Ebd., 22. 14 Ebd., 25.

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schehens mit dem Versuch, durch Sprache den Abgrund zu überbrücken, zu übersetzen, was nicht übersetzbar ist, nachspüren. Dadurch sollen die verschiedenen Bilder und Metaphern, die Kolmar als Zeichen von Bedrohung und Entrechtung wählt, deutlich werden. In der bereits erwähnten Studie zu Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas führt Birgit Erdle zwei rhetorische Figuren - Apostrophe und Apotrope - ein, die sie als konstitutive Sprachfiguren in Kolmars Werk erachtet.15 Die Apostrophe, d.h. die Hinwendung zu einem Abwesenden, beschreibt Erdle als "eine Figur, die die Belebung, Sprache und Erlösung angesichts von Tod und Katastrophe aufzeichnet: eine Konfiguration, die immer mehr zu einer Aporie wird".16 Sie setzt die Figur in einen engen Zusammenhang von Sprache und Bedrohung. Diese Hinwendung zu einem abwesenden/ anwesenden Adressaten, dessen Präsenz allein in der Sprache seine Gestalt erhält, betrachte ich als die dominante Sprachfigur dieses Zyklus. Die erste Sequenz des Gedichtzyklus setzt ein mit der Hinwendung zum abwesenden Kind: Ich spielte gern im Gelock Eines Knaben, der niemals war. Blühn und Blau als mein Veilchenstock, Unflügg und fern als mein Aar. Trauriges Lied (20. Oktober 1933)

Obwohl das Kind nicht direkt angesprochen wird, ruft der Text seine Gestalt ins Leben und zeichnet die Trauer über seinen Verlust nach. Die apostrophische Bewegung wendet sich nach innen. In dem scheinbaren Widerspruch der ersten zwei Zeilen erringt die Sprache einen Sieg über die Logik und vollzieht einen Schöpfungsakt. Das Motiv des Kindes zieht sich durch das gesamte Werk Kolmars und ist behaftet mit einer Vielfalt von Bedeutungen.17 Beschränkt auf diesen Gedichtzyklus kann die Figur des Kindes gelesen werden als Trauer über den Verlust eines paradiesischen Zustandes, den es aber wiederum nur in der Erinnerung gibt, einer Erinnerung, die sich der adamatischen Namenssprache Benjamins nähert. Auf keinen Fall möchte ich die Figur des Kindes einschränken auf die biographische Lesart, die in ihm den Signifikanten für das abgetriebene Kind sieht.18 Das Eingangsgedicht Trauriges Lied entwirft einen Zustand der Einheit zwischen Mutter, Kind und Natur, dessen Metaphorik über

15 Birgit Erdle, Antlitz - Mord - Gesetz,

18.

16 Ebd., 322. 17 Siehe Birgit Erdle, Antlitz - Mord - Gesetz, 319-321. Hier schlägt sie eine Lesart vor, die das Kind als Phantom des Mythos der deutsch-jüdischen Symbiose sieht, das von ihr zeugt und gezeugt wurde. 18 Z.B. Peter Hamm, "Die Frau der Tiere", Die Zeit vom 14. Mai 1993; oder Ursula Kreschel, Süddeutsche Zeitung vom 19/20 Juni 1993; oder auch Eichmann-Leutenegger, die schreibt: "Das lyrische Ich drückt nun eine irreale Schuld aus, erniedrigt sich selbst. Gertrud Kolmar ist Jüdin, kinderlos und schuldig, mithin Paria. Als kinderlose Jüdin teilt sie das Los jener unfruchtbaren Frauen, die nicht an der Messiaserwartung mitwirken können. Sie sieht sich ausgestoßen aus der Heilsgeschichte." (Gertrud Kolmar - Leben und Werk, 21)

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vier Strophen hinweg die körperlichen Grenzen überwindet bis in den Himmel, das Wasser und die Erde hinein: Dann schwamm er im Schattensee, Da ward ich sein tragendes Boot. Auf Inseln in funkelndem Schnee Aus Feldertiefen wuchs Brot.

Doch in der fünften Strophe verengt sich der Textraum. Von der Ausdehnung zwischen Himmel und Erde bleibt nur noch der enge Raum zwischen Dach und Gebälk, und statt der Fülle der ersten Strophen erfährt das sprechende Ich nur noch Kälte und Leere. Entschritten wie Räuber dem Fest, Die Kram und Kammer geleert. Und am Dach klebt ein frierendes Nest, Dem der Vogel nie wiederkehrt. Er kehrt nicht ... November tappt, Ein hüstelnder Greis, durchs Moor, Der Mahr im Giebelhorst schnappt Kauzschrei und Fledermausohr. Ich leuchte ihn fort vom Gebälk, Und da ich den Spiegel schau, Ist leise mein Antlitz welk Wie das einer alten Frau.

Ein Raub hat stattgefunden. Der Einbruch von Bedrohung und Gewalt ist gebunden an Metaphern der Kälte, "ein frierendes Nest", des Dunkels und der Angst, "der Mahr im Giebelhorst", und des Alters, "ein hüstelnder Greis", und das "welke Antlitz einer alten Frau". Die gleiche Bewegung findet sich in den anderen Texten an das Kind, die eine Spur des Verschwindens zeichnen. Ich stickte mit meinen Träumen Ihm helle leinene Kittel Und nähte aus meinem Hoffen Ihm moosgrüne Lederschuhe. Ich schritt ein wenig gebückt; Er hing so an meinem Herzen. Die Leute sahen ihn nicht. Und nun ist Ruhe. Begraben (10. Oktober 1933)

So gesehen benutzt Kolmar die Figur des Kindes im Jahr 1933 als Konfiguration des Verlustes eines früheren glücklichen Zustandes und semantisiert den gewaltsamen Verlust in einer Reduktion von Raum und Zeit. Die nächsten Gedichte der ersten Sequenz wenden sich den Sprachlosen zu, Wesen, um derentwillen, laut Benjamin, der Mensch die Gabe der Sprache besitzt, um diese aus der Stummheit zu erlösen. Zwei Naturgedichte umrahmen zwei Tiergedichte. Das erste,

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Garten, mit dem Datum 24. September 1933, besitzt alle Attribute des locus amoenus - Baum, Wiese, Blumen und Wasser - und gleichzeitig die Negation desselben. Mit dem letzten Vers löst sich der Garten auf und versinkt im Meer. Der erste Vers steht allein; als Satzgebilde hebt er sich ab vom Rest der Strophe. Mein wilder Wein singt rubinene Lieder.

Wer spricht? Der Garten? Ein lyrisches Ich? Auf jeden Fall sind es zwei Stimmen, die den Text einführen, die des lyrischen Ichs und die des Weins, der seine Lieder singt. Die Ambiguität des Eingangsverses läßt eine sprachliche Bruchstelle deutlich werden. Alles in diesem Garten ist in Bewegung: die Birken träufen, die Goldraute lockert den schwebenden Busch, das Gras bebt. Die ersten drei Strophen lassen noch den idyllischen Ort ahnen. Eine sanfte Hand malt mit dunklerm Getusch Der Dahlie purpurnen Stern; Goldraute lockert den schwebenden Busch, Und die Bienen sind fern. Das bebende Gras um meine Füße, Gerne trät ich es nicht: Verweint und kühl und weich und voll Süße, Ein Kindergesicht.

Doch deutet sich eine Störung an im Bild des "verweinten Grases" und in der Abwesenheit der Bienen. Mit der vierten Strophe setzt die Defiguration des Gartens ein. Die Beerensträucher wuchern, verrotten Fahl und unform im Westen. Schwerfallig lösen sich Bergamotten Aus tragenden Ästen. Die schwefelfarbige Rose erlischt, Und große schwarztrauernde Frau Steht eine Tanne am Himmel und fischt Sterne im Grau. Silberne Flosse zittert und blinkt Um die Verdüsterte her. Bläue rauscht, mein Garten versinkt, Eiland, im Meer.

Die hellen Farben verdunkeln sich - Rot, Gelb und Weiß werden fahl, grau und schwarz. Eine Todesahnung kündigt sich an. Die festen Konturen lösen sich auf und versinken. Die Trauer über einen Verlust faßt dieser Text in das Bild der schwarztrauernden Frau, deren Gestalt vom Wasser umgeben und von Auflösung bedroht ist. Dieser Text inszeniert - verglichen mit dem oben betrachteten - eine inverse Bewegung. Die Auflösung des paradiesischen Zustandes vollzieht sich nicht in einer Ver-

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engung des Raumes, sondern in einer Ausweitung: "Steht eine Tanne am Himmel und fischt". Doch die sprachliche Folie, auf der sich die Auflösung der vertrauten Welt ereignet, bleibt die gleiche. Wir müssen uns hüten, diese Texte nur mit unserem Wissen von Auschwitz zu lesen, sie entstehen vor Auschwitz, vor dem Geschehen, das die Kontinuität der Geschichte zerbrechen wird, vielleicht aber auch, wie Erdle argumentiert, angesichts von Auschwitz, d.h. in einem örtlichen und zeitlichen Davor. 19 Sie geben eine Blickrichtung an, und die Bedrohung lauert in den Sprachzwischenräumen. Beide Tiergedichte, Lied der Schlange, 21. September 1933, und Die Kröte, 12. Oktober 1933, gehen einen Schritt weiter in der sprachlichen Gestaltung von Bedrohung. Nicht mehr die metaphorische Darstellung von Verlust und Bedrohung steht im Vordergrund, sondern die Figuren selbst sind zum Zeichen dieser Bedrohung erhoben. Beide Gedichte rekurrieren auf Tierfiguren, die in der hebräischen Bibel (Leviticus 11) als unrein gelten. Dies ist euch das Mäklige am Gewimmel, das auf der Erde wimmelt: der Blindmull, die Maus, die Kröte nach ihrer Artung, die Natternechse, das Chamäleon, der Gecko, die Glanzschleiche, der Feuermolch. Diese sind euch die Mäkligen unter allem Gewimmel.

So heißt es in der Buber-Rosenzweig-Übersetzung. Das Abstoßende macht diese Tiere zu beispielhaften Figuren des Ausgestoßenseins,20 zu Projektionsflächen des Fremden. Kolmars Texte erheben Schlange und Kröte in den Subjektstatus. Die apostrophische Bewegung faltet sich in beiden Gedichten nach außen, bedingt durch Aufhebung der Trennung zwischen Rede und Anrede. Nicht Hinwendung zu einem Abwesenden, wie im Falle des Kindes, bestimmt den sprachlichen Duktus, sondern die Verleihung des Rederechts zur eigenen Verteidigung an zwei Figuren, deren Abwesenheit durch Sprachlosigkeit bedingt ist. Beide Texte sind in der Ich-Form geschrieben und richten sich an die Anderen: Ich durchschreite zierlich das hölzerne Gatter; In euren Garten komm ich, die Schlange. Ihr kennt mich stumm, nennt mich Ringelnatter, Doch zieht nur die Fäden aus meinem Gesänge, Die flimmernden Silber- und kupfernen Fäden Behutsam aus schwarzem gebreiteten Tuche: Lied der Schlange

(21. September 1933)

19 Birgit Erdle, Antlitz - Mord - Gesetz, 22. 20 Siehe Erdles Diskussion zu Repräsentation und Abjektion, 300-312. Sie rekurriert in ihrer Argumentation auf das Konzept der Abjektion, das Julia Kristeva in ihrem Essay Pouvoirs de l'horreur, Paris: Editions du Seuil 1980, entwickelt. Erdle argumentiert, daß "die Figurationen des Abscheus, die Metaphern der Beleidigung, der Verachtung und der Dehumanisierung, die an verschiedenen Stellen in den Texten Gertrud Kolmars auftauchen, als Abjekte im explizierten Sinn Kristevas" zu entziffern sind (309 f.).

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Die Figur der Apostrophe weist in beiden Texten eine doppelte Bewegung auf, ist Aufforderung und Zeugnis zugleich; beide Tierfiguren richten sich an ein nicht näher definiertes Gegenüber. Das Lied der Schlange ist der diskursive Versuch, die Geschichte der Schlange als heiliges und weises Wesen zu bezeugen: Ich lernte die Sprüche, ich weiß die Künste und schmecke sie alle auf spielender Zunge; In östlicher Tempel blauende Dünste Zischt ich einst hin mit gleitendem Sprunge.

Der Text fordert auf zur Entzifferung der Sprachfäden, die eine positive Überlieferungsgeschichte enthalten, und aus dem schwarzen Tuch des Gedächtnisses vernommen werden können. Der Atem der Sprache, hier das Lied der Schlange, haucht der Vergangenheit Leben ein und verknüpft sie mit der Gegenwart im Moment des Sprechens und Gehörtwerdens. In diesem Bild enthält der Text noch einen Moment der Hoffnung, die Aufforderung könnte gehört, die Bedrohung abgewendet werden. Das folgende Gedicht Die Kröte negiert diese Hoffnung auf unwiderrufliche Weise. Im Juli 1940 schreibt Gertrud Kolmar an die Schwester Hilde bezugnehmend auf ihren Hebräischunterricht: "Ich genieße meinen Sprachunterricht und habe letzthin wieder ein Gedicht gemacht, zum ersten Male eins, das nicht bloß den Wert einer Kuriosität hat [...] Es heißt 'Ha Zaw', 'Die Kröte' - »Natürlich!« sagte meine Lehrerin, als ich den Titel nannte. Von einer Zeile behauptete sie, »daß sie stilistisch ganz neuartig und Bialiks würdig« sei." (64 f.)

In seinem Aufsatz zur Poetik der Tierträume weist Bayerdörfer darauf hin, daß die Gleichsetzung von Mensch und Tier im Zeichen von 'Mord' und 'Totschlag' ein zentrales poetisches Element in Bialiks Dichtung sei.21 Ob Gertrud Kolmar Bialiks Dichtung, die sie sehr schätzte, bereits 1933 kannte, wissen wir nicht. Wir können uns aber dem Urteil Bayerdörfers anschließen und festhalten, beide Dichter haben "aufgrund analoger Erfahrungen und mit Hilfe analoger poetischer Muster des Verdichtens zu einer Nähe [gefunden], die jenseits der Zufälligkeit von individueller Kenntnis oder'Abhängigkeit liegt".22 Im Lichte dieser Gleichsetzung wird die Figur der Kröte zum unmißverständlichen Zeichen gesteigerter Bedrohung, die im Fortgang des Zyklus die Möglichkeit der Auslöschung enthält. Das Gedicht Die Kröte ist radikaler als die vorhergehenden Texte. Kolmar unternimmt hier nicht mehr den Versuch, eine positive Geschichte zu entwerfen. Der Ort, von dem aus die Kröte spricht, ist von Vergänglichkeit, Ekel und Tod gezeichnet. Wie Totenhaupt kollert so dumpf ein Apfel zur Furche, Und knisternd verflackert mählich das herbstbraune Blatt. Mit Lichtchen gespenstert ferne die düsternde Stadt. Weißer Wiesennebel braut Lurche.

21 Zit. nach Birgit Erdle, Antlitz - Mord - Gesetz, 246. 22 Zit. nach ebd., 246.

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Aus dieser vom Tod bedrohten Natur tritt nun apodiktisch die Kröte hervor. Ich bin die Kröte. Und ich liebe die Gestirne der Nacht.

Der Rhythmus ändert sich, wird atemloser, die Sprache doppelbödig. Der Ort der Kröte kennt keine versunkene Tradition, alle Verben sind im Präsens: Unter der Regentonne Morschen Brettern hock ich duckig und dick; Auf das Verenden der Sonne Lauert mein schmerzlicher Mondenblick.

Das Ich der Kröte spricht im Wissen, daß sie als Phantasma gilt und daß jede Aufforderung, die Stimme zu hören, gewaltsam zerstört werden muß. Zerr mich an fingrigem Bein Unter fauler Planke Aus Morastigem Glied um Glied, Wie versunkner Gedanke Aus dem Wust, aus dem Schlamm sich zieht.

Der Ort der Kröte ist gleichzeitig der Ort kulturell konstruierter Bilder des Anderen. Das Gedicht endet mit der direkten Hinwendung der Kröte an ein "Du": Ich atme, schwimme In einer tiefen, beruhigten Pracht, Demütige Stimme Unter dem Vogelgefieder der Nacht. Komm denn und töte! Mag ich nur ekles Geziefer dir sein: Ich bin die Kröte Und trage den Edelstein ...

Die Anrede an die Anderen ist keine Aufforderung mehr, die Sprachfäden aufzunehmen, sondern enthält das Wissen, daß die Aufforderung zum Dialog im Mord enden muß. Und dennoch blitzt am Ende so etwas wie das Wissen um die eigene Erwähltheit auf im Zeichen des Edelsteins. Ähnlich wie Susanna sich in einem zehn Jahre später entstandenen gleichnamigen Prosatext stolz als Königstochter bezeichnet, weil sie eine Tochter König Davids ist, weist der Text der Kröte in der Metonymie des Edelsteins auf eine Kontinuität über den Mord hinaus hin, was unterstrichen wird durch die Auslassungspunkte am Ende des Textes. Doch das Königszeichen kann den Mord nicht abwenden, und so reiht sich dieser Text, als erster in dem Zyklus, ein in die lange Geschichte der Judenverfolgung. Das Fremde, eingekerkert in konstruierte Bilder des Abscheus, ist von Vernichtung bedroht. Das Verlöschen der vorangegangenen Texte heißt hier Mord. Die gelbe Rose fungiert als Nahtstelle zwischen der ersten und zweiten Sequenz des Zyklus. Das Gedicht verbindet das Motiv der Rose mit dem gewaltsamen Tod durch

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Haß und Verfolgung und zerstört dadurch die Metapher der Rose. In die Stille des Innenraums, den Schutzraum der Rose, dringt der gewaltsame Tod von Außen hinein. In Augenlöchern, auf Zähnen heiligen Spott: Und ob sie wiehern und stampfen wie stolz gezüchtete Pferde, Der Nordmann besser sich preist als Jude und Hottentott Und der Priester im engen Himmel ihm schafft einen neuen Gott Ich warte auf alle gleich still mit der gleichen Schaufel voll Erde.

Die Farbe Gelb im Titel nimmt den Faden der Geschichte des Antisemitismus auf und knüpft die Verbindung zu den folgenden Gedichten. Der mittlere Teil des Zyklus weist einen anderen Sprachduktus auf. Die Metaphorik tritt zurück und weicht einer eher narrativen Sprachführung. Es wird eine Bewegung hin zur Konkretion deutlich, die direkte Bezüge zum Zeitgeschehen herstellt. Wörtliches Bedeuten signalisiert die Hinwendung zur Aktualisierung der Thematik, bis hin zur Darstellung konkreter physischer Leiden. Das im privaten Raum der figurativen Rede aufgehobene Leid der ersten Sequenz erfährt in der zweiten eine Wendung hin zum öffentlichen Raum. Die Entrechteten sind dem Blick der anderen hilf- und sprachlos ausgeliefert. Jahreszahlen sind Teil der Titel: Die Gefangenen 1933, Zum Erntedankfest am 1. Oktober 1933 oder auch Anno Domini 1933. Das braune Hemd der Folterer, das gelbe Zeichen, das der fremde Blick auf die Lumpen näht, oder die Hakenkreuze werden benannt. Der realgeschichtliche Kontext wird zur Matrix, auf der der Bericht über die Leiden und Entwürdigungen Verfolgter gezeichnet wird, und bedingt gleichzeitig eine ganz direkte Hinwendung zur Leidensgeschichte des jüdischen Volkes. Fast jedes Gedicht wendet sich an ein anonymes Ihr der Folterer und bezeugt den gescheiterten Versuch eines Dialogs, so daß eine apostrophische Linie hin zur sprachlichen Entmächtigung der Verfolgten entsteht. Das Gedicht Anno Domini 1933 trägt das Datum 16. Oktober 1933. Es soll hier in Gänze zitiert werden, um den sprachlichen Duktus zu verdeutlichen. Er hielt an einer Straßenecke. Bald wuchs um ihn die Menschenhecke. Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht. Ein großes östliches Gesicht, Doch schwer und wie erschöpft von Leid. Ein härenes verschollnes Kleid. Er sprach und rührte mit der Hand Sein Kind, das arm und frostig stand: "Ihr macht es krank, ihr schafft es blaß; Wie Aussatz schmückt es euer Haß, Ihr lehrt es stammeln euren Fluch, Ihr schnürt sein Haupt ins Fahnentuch,

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Eva M. Schulz-Jander Zerfreßt sein Herz mit eurer Pest, Daß es den kleinen Himmel läßt - " Da griff ins Wort die nackte Faust: "Schluck selbst den Unflat, den du braust! Du putzt dich auf als Jesus Christ Und bist ein Jud und Kommunist. Du krumme Nase, Levi, Saul, Hier, nimm den Blutzins und halt's Maul!" Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb. Die Leute zogen mit. Er blieb. Gen Abend trat im Krankenhaus Der Arzt ans Bett. Es war schon aus. Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz Im fernen Staub des Morgendlands. Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich Im dritten, christlich-deutschen Reich.

Vierzehn schlichte Zweizeiler erzählen die Geschichte der Ermordung eines hilflosen Mannes, der sein Kind zu schützen sucht, durch den anonymen Mob. Die ersten vier Strophen führen den Mann ein. Seine Gestalt, an der sich der Haß entzündet, kennzeichnet ihn als Juden osteuropäischer Herkunft, also als Gestalt der antisemitischen Stereotypisierung. Den mittleren Teil des Textes charakterisiert die direkte Rede. Und dennoch ist der Text, wie alle Texte dieses Teils, monologisch, auch wenn der Versuch der Anrede in der fünften Strophe gewagt wird. Die Anrede an den Mob verhallt im Leeren. Als Antwort trifft ihn die Faust mitten ins Wort. Die sich zur Masse formierende Gesellschaft kennt keinen Dialog, sie ist eine strikt monologische Gesellschaft, und davon zeugt dieses Gedicht. Zwei Monologe stehen sich unverbunden gegenüber: die bitteren, hilflosen Worte des Juden und die haßerfüllten Tiraden antisemitischer Klischeebilder der Masse. Kolmar nimmt hier die Motive des christlichen Antijudaismus auf und verwebt sie mit Bildern des politischen Antisemitismus zu einer Symmetrie von Zerrbildern, welche eine Kultur zur Tilgung des Fremden bereit hält, um mit diesen den Vernichtungswillen zu rechtfertigen. Die Gewalt in diesem Text geht aus von anonymen, gesichtslosen Angreifern - "Leute" während der Jude Gestalt und Gesicht aufweist. Der Text semantisiert die gewalttätige Zerstörung des Individuellen, Anderen und Fremden durch eine anonyme Masse, die nur in Mythen denken kann. Wie der Jude durch "Stiefeltritt" und "Knüppelstreich" ausgelöscht wird, so verschwindet das Kind, erst sein Gesicht im Fahnentuch, dem kollektiven Zeichen des Nationalen, und dann im Text. Das Gedicht endet mit einer Parallelisierung des Opfertodes des Juden Jesus "im fernen Morgenland" und des Todes eines Juden im "dritten christlich-deutschen Reich". Der parallele Aufbau der beiden letzten Strophen markiert den Zivilisationsbruch, der im Jahr 1933 seinen Anfang nimmt.

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217

Das Moment christlichen Versagens angesichts der offenen Gewalt wird mehrere Male in dieser Sequenz angesprochen. So z.B. in dem Gedicht Die jüdische Mutter (24. Oktober 1933), in dem die Mutter die christliche Mehrheit, die ihr Kind bedroht und quält, anklagt: Glaubt ihr, es sei gerecht, in Kirchen mitzubeten, Behaglich anzunehmen, was der Pfarrer spricht, Dann hinzugehn und diese Seele wie ein Tier zu treten? Ach, auch das Tier zertritt der Wohlbedachte nicht!

Die Semantik der christlichen Frömmigkeit im Schutzraum der Kirchen kehrt sich um in eine Semantik der Gewalt im ungeschützten Raum der Straßen und wird ausgetragen am Körper eines Wehrlosen. In dieser ganzen Sequenz ist die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk geknüpft an die Verwundbarkeit des Körpers, vor der die Metaphernsprache der ersten Sequenz scheitert, und die nur in einer Bewegung hin zur Konkretion ihren sprachlichen Ausdruck findet. Hetzt die Tölen! Keiner, der den Riß im Kaftan flickt. Meine Augen sind nur Aschenhöhlen, Drin ein roter Funke trüb erstickt. Ewiger Jude (20. September 1933)

Die Leibhaftigkeit der Gewalt konkretisiert Kolmar in der fiktiven Figur des ewigen Juden, der durch seine Funktion in christlichen Mythen und antisemitischer Hetze die Verschmelzung antijudaistischer und antisemitischer Denkmuster verkörpert. Das Gedicht Wir Juden, mit dem Entstehungsdatum 15. September 1933, steigert die Verfolgung eines Einzelnen in die eines ganzen Volkes und verknüpft das Gegenwartsgeschehen im 20. Jahrhundert in Deutschland mit der gesamten Geschichte der Judenverfolgung. Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, ich liebe dich, mein Volk, Und will dich ganz mit Armen umschlingen heiß und fest, So wie ein Weib den Gatten, der am Pranger steht, am Kolk, Die Mutter den geschmähten Sohn nicht einsam sinken läßt.

Das sprechende Ich wendet sich an die jüdische Gemeinschaft, die die Worte aber nicht hören kann, so daß nur Nacht vernimmt, was das Ich verkündet. Diese Anrede an das geliebte, abwesende Volk wird zu einer Liebeserklärung, verglichen mit der Liebe einer Frau zu Mann oder Sohn, die der öffentlichen Schande ausgeliefert sind. Die zweite Strophe enthält das Versprechen, für die stumme und abwesende jüdische Gemeinschaft zu künden, das geschehene Unrecht stellvertretend in alle Zeit herauszuschreien: Und wenn ein Knebel dir im Mund den blutenden Schrei verhält, Wenn deine zitternden Arme nun grausam eingeschnürt, So laß mich Ruf, der in den Schacht der Ewigkeiten fällt, Die Hand mich sein, die aufgereckt an Gottes hohen Himmel rührt.

218

Eva M.

Schulz-Jander

Der Text zeichnet die Nahtstelle zwischen Zeit und Ewigkeit in das Rufen und Zeigen ein, durchbricht die lineare Zeit und trägt den Ruf bis in die Ewigkeit hinein. In der Kontinuität jüdischer Verfolgungsgeschichte, die der Text nachzeichnet, tritt eine Entgrenzung ein, die Raum und Zeit durchbricht. Bis in den Himmel reicht die mahnende Hand der Ruferin, die, wie einst Abraham, mit Gott streitet. In diesem sprachlichen Gestus wird das "ich" zum "wir" der jüdischen Gemeinschaft. Und doch ist das sprechende Ich sich seiner Ohnmacht bewußt. Der Ruf, der die Kette des jahrhundertelangen Unrechts durchbrechen könnte, ist in einen wehrlosen Konjunktiv gekleidet: O könnt ich wie lodernde Fackel in die finstere Wüste der Welt Meine Stimme heben: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!

Dem hilflos ausgelieferten Ich sind Gehvermögen, Sprache und Atem geraubt worden: Knöchel. Ich schleppt' doch Ketten, und gefangen klirrt mein Gehn. Lippen. Ihr seid versiegelt, in glühendes Wachs gesperrt. Seele. In Käfiggittern einer Schwalbe flatterndes Flehn. Und ich fühle die Faust, die das weinende Haupt auf den Aschenhügel mir zerrt. Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, mein Volk im Plunderkleid:

"Nur Nacht hört zu" kann hier auch gelesen werden als der verzweifelte Ruf nach Gott, der schweigt, der weder Zeigen noch Rufen beantwortet. Es scheint, als ob die Grenze der Darstellbarkeit erreicht sei, die Lippen sind versiegelt, die Beine gebunden, die Seele gefangen, das Haupt gewaltsam zur Richtstatt gebracht. Und doch öffnet sich der Text noch einmal in der letzten Strophe zu einem zeitlichen Danach. Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zur Mutter glitt, S o wirf dich du dem Niederen hin, sei schwach, umarme das Leid, Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken der Starken tritt.

Der Horizont weitet sich erneut, knüpft an die Nahtstelle zwischen Zeit und Ewigkeit an und läßt einen Bruch in der Kontinuität der Verfolgungsgeschichte ahnen. Ein letzter Versuch das Tödliche, Undarstellbare durch Sprachfindung zu überwinden und abzuwenden. Der letzte Text dieses Zyklus, Der Engel im Walde (25. Oktober 1933), ist eine frühe Version des Gedichtes mit dem gleichen Titel, das zu dem Zyklus Welten, 1937, zählt. Nach der Anspannung der vorangegangenen Texte entwirft dieser letzte Text einen Ort der Ruhe. Ich aber traf ihn nachmittags im Wald. Ein Wunder, das durch Buchenräume ging, So menschenfern, so steigend die Gestalt, Daß blaue Luft im Fittich sich verfing;

Ungehörte Stimmen

219

Das Antlitz schien ein reines, stilles Leid, Sehr sanft und silbrig rieselte das Haar, In großen Falten schritt das weiße Kleid. Er schaffte nichts, er sagte nichts; er war.

An welche Abwesenden richtet sich das sprechende Ich? An die Figuren, die diesem Gedicht vorausgehen, der Auslöschung preisgegeben, und die nur im Text ihre Konkretion bewahren? Oder wendet sich der Text an die Abwesenden der Zukunft? Die Begegnung mit dem Engel, hebräisch mal'ach, Bote, findet im Walde statt. Stadt und Garten waren bisher die Orte der sprachlichen Topographie. Beide Orte der Zivilisation erwiesen sich als Orte der Bedrohung und Gewalt. Der Wald, wie Erdle hervorhebt, repräsentiert in Kolmars Motivik einen Ort außerhalb der Kulturation, der einen anderen Blick, eine andere Sprache erzeugt. Der Wald scheint die Chiffre eines Ortes jenseits des Zivilisationsbruches zu sein; er repräsentiert einen Ort außerhalb des privaten und öffentlichen Raumes von Garten und Stadt. Nach der mittleren Sequenz, in der präzise Daten die Gedichte in der geschichtlichen Zeit situieren, errichtet dieses letzte Gedicht eine Brücke über den Abgrund des Geschehens. Bewegt auch dieser Engel, wie Benjamins Engel der Geschichte, sich zwischen Vergangenheit und Zukunft? Wendet auch er sein Antlitz dem Trümmerhaufen der Vergangenheit zu? Kündet seine Erscheinung gleichzeitig vom Paradies? Paradies verstehe ich hier im Sinne Scholems, der in seiner Benjamin-Lektüre Paradies als "Ursprung und Urvergangenheit des Menschen wie auch [als] ein utopisches Bild der Zukunft seiner Erlösung"23 versteht. Kolmars Engel, stumm wie der Engel Benjamins, hat aber im Gegensatz zu diesem nichts Erschreckendes und ist selbst nicht erschrocken. Er ist weder abgewandt noch zugewandt; er durchzieht den Raum als Zeichen einer anderen Wirklichkeit. Die Frage, die das ihm begegnende Ich noch an ihn richten will, verstummt; angesichts seiner reinen Erscheinung wird sie überflüssig, seine Botschaft artikuliert sich außerhalb der Worte. Der Dialog, der in den vorangegangenen Gedichten so brutal zertrümmert wurde, wird in diesem letzten Gedicht aufgehoben in der Ahnung der anderen Sprache, der des Paradieses. Und nichts an ihm, was schreckte, was verbot. Und dennoch: keines Sterbens Weggenoß, Daß meine Lippe, ob auch unbedroht, Erstaunten Ruf, die Frage stumm verschloß.

Kolmar entwirft ein Bild des Friedens und der Ruhe. Die von Vergänglichkeit bedrohte Natur verwandelt sich in der Gegenwart des Engels in Zeichen der Unvergänglichkeit. Am Ende des Gedichtes versteht das Ich die Botschaft des Engels als die Annahme des eigenen Ortes in der Geschichte im Wissen um die Begegnung mit dem Engel.

23 Gershom Scholem, Walter Benjamin

und sein Engel,

Frankfurt a.M. 1983, 65.

220

Eva M.

Schulz-Jander

Nicht unsre Not, nicht unser armes Glück, Nur keusche Ruhe barg sein Schwingenpaar. Ich folgte nach und stand und blieb zurück. Er brachte nichts, er sagte nichts: er war.

Wieder endet der Text mit einer parallelen Sprachführung, der eine Spiegelfunktion zukommt, die hier eine Verbindung herstellt zwischen der Erscheinung des Engels und der Erkenntnis des Ichs. Im Spiegel der Präsenz des Engels steht das Ich des Textes am Scheideweg zwischen Zeit und Ewigkeit. Der Faden des Zeitbruches, der in Wir Juden schon erkennbar war, wird wiederaufgenommen und verwoben mit der Figur des Engels. Als sprachliches Zeichen von Diesseits und Jenseits, vereint die Figur des Engels das Leid und seine Überwindung und kann so als Zeugnis des Versprechens von Erlösung gelesen werden. In gewisser Weise ist dieser letzte Text eine Antwort auf das Gedicht Wir Juden, in dem Zeit und Ewigkeit sich schon berührten, aber im Angesicht der Katastrophe, während in diesem letzten Gedicht die Worte des Ichs nicht mehr "in den Schacht der Ewigkeit" fallen, sondern aufgehoben sind in der Erscheinung des Engels. Für uns, die wir mit der völligen Sinnlosigkeit von Auschwitz ringen, die wir immer wieder Fragen stellen, auf die es keine Antworten gibt, haben diese Gedichte Kolmars aus dem Jahr 1933 etwas Hellsichtiges, Vorwegnehmendes. Geschrieben im zeitlichen Davor, scheinen sie dorthin zu blicken, und wir können sie nur angesichts von Auschwitz lesen. Die Worte der Stummen werden somit ein Teil unseres Erinnerns, eine Spur, die uns vor den Bruch in der Geschichte führt und einen Entwurf gegen die Vernichtung des Gedächtnisses bildet. Aber wie können wir das letzte, scheinbar versöhnliche Gedicht, die Begegnung mit dem Engel, in unseren Erinnerungsprozeß hineinnehmen? Für uns steht nicht mehr das Bild der tröstlichen Ruhe und des Friedens im Vordergrund, sondern der Zeugnischarakter, d.h. die Verpflichtung, trotz der Grenzen des Verstehens zu berichten und dem Vergessen entgegenzuwirken. Das Wunder der Begegnung mit dem Engel besteht für uns darin, daß trotz aller Zweifel und Fragen sich die "Worte der Stummen" verbinden mit unseren Worten der Erinnerung. Er brachte nichts, er sagte nichts: er war.

Alfred Paffenholz

Die unfaßbare Gewißheit Manès Sperbers Judesein

Einen großen Humanisten aus jüdischer Tradition und einen enttäuschten Revolutionär hat man ihn genannt, einen aufstörenden Erzieher, unermüdlichen Aufklärer, Sachwalter der Menschlichkeit, Warner vor den Irrwegen des Denkens, Kronzeugen des Jahrhunderts: Manes Sperber, geboren 1905 im jüdischen Schtedtl von Zablotow in Ostgalizien, im Südostzipfel der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, nahe der russischen Grenze, gestorben vor zehn Jahren, am 5. Februar 1984 in Paris. Zusammen mit Ignazio Silone, André Malraux und Arthur Koestler war Sperber einer der letzten Repräsentanten einer Ära, deren Grundtendenz der Glaube an die politische und gesellschaftliche Verwirklichung der großen Menschheitsideale durch eine sozialistische Revolution gewesen war - und bitter enttäuscht wurde. Manes Sperber hat diese Enttäuschung produktiv verarbeitet, davon gibt sein Werk Zeugnis. Ihm ist bescheinigt worden, er habe mit seinen dichterischen und essayistischen Schriften die zentralen europäischen Erfahrungen seiner Generation aufgenommen und habe - wie nur wenige - ohne Leugnen der geschichtlichen Ereignisse einen skeptischen Humanismus vertreten. Sein Leben und seine Bücher stehen - so ist ihm bei zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen bestätigt worden für unser Jahrhundert und die Möglichkeit des Menschen, Denken und Handeln zu vereinen und unbestechlich den Weg nach der Wahrheit zu suchen. Sein Denken als Soziologe und Psychologe, als Romancier und als Essayist kreiste um die zentrale Frage, wie man die Welt verändern und gerechtere Verhältnisse schaffen könne, ohne den Menschen zu manipulieren, ohne Ideologien, die ihre Forderungen verabsolutieren und damit den Menschen seiner Freiheit berauben. Und so sah Sperber sich selbst: "Ich bin kein Revolutionär im politischen Sinne von heute, ich will sagen: Ich bin ein reformistischer Sozialist und ich würde sagen, die Quelle der Werte, zu denen ich mich bekenne, war lange Zeit eine religiöse Quelle. Zur Bibel habe ich eine sehr intime Beziehung, ich begann die Bibel zu übersetzen im vierten Lebensjahr. Kinder meiner Art im Schtedtl taten das. Dies sind Dinge, die ungeheuer tief wirken, wenn man nicht mit den moralischen Fundamenten der Religion gebrochen hat. Ich selbst habe niemals damit gebrochen, im Gegenteil, ich bin Revolutionär geworden wegen der Bibel, nicht gegen die Bibel. Aber dann ändert sich die Quelle der gleichen Werte, verstehen Sie. Ich glaube, daß ich mich nicht über mich irre, wenn ich sage: Der Himmel über mir ist unbewohnt, wir haben aber so zu leben, als ob die Forderung, Gott solle heruntersteigen und die Welt erlösen, von uns selbst käme. Wir haben nicht im Namen Gottes etwas zu fordern, sondern im Namen dessen, wodurch der Mensch wert ist zu leben. Das ist sozusagen eine gottlose Religion. Ich glaube, es gibt eine Moral ohne Religion, und die ersten, klarsten

222

Alfred Paffenholz

Formulierungen rühren vom Sozialismus her. Ich bin ein Sozialist gewesen, ich bin es geblieben, auch wenn ich heute viel weniger als früher sagen könnte, was Sozialismus ist." 1

Der "gläubige Atheist" war ein Mensch voller Widersprüche, der das politische Niemandsland seine Heimat nannte, die er mit seinen Gefährten im Kampf gegen alle Ideologien teilte. Die Warnung, die fast immer zur vergeblichen wird, schien Heinrich Boll eines der Hauptthemen von Sperbers Werk zu sein, und nicht zufällig lautet der Titel des zweiten Teils von Sperbers Autobiographie Die vergebliche Warnung. Die Frage nach der Heimat sei die am heftigsten gestellte bei Sperber, meinte Heinrich Boll bei seiner Laudatio für den Büchner-Preisträger Sperber 1975, die Frage nach einer intellektuellen, aber auch einer geographischen Heimat. Das jüdische Schtedtl und die Welt des Chassidismus hatte Sperber noch im Kindesalter verlassen; im ersten Band seiner Erinnerungen mit dem Titel Die Wasserträger Gottes hat er dieser von den Nazis unwiederbringlich vernichteten Welt ein bewegendes Denkmal gesetzt. In Wien schloß Sperber sich der damals von sozialistischen Ideen durchdrungenen jüdischen Jugendbewegung an, wurde Schüler von Alfred Adler, dem Begründer der vergleichenden Individualpsychologie, ging als Psychologe nach Berlin, trat in die kommunistische Partei ein, mit der er später unter dem Eindruck der Stalinschen Schauprozesse brach - lebenslang gezeichnet und zu Uberreaktionen neigend, wie kurz vor seinem Tod, als er in seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1983 angesichts der Weltlage nach einer europäischen Atomwaffen-Strategie verlangte, was verständlicherweise eine heftige öffentliche Diskussion auslöste. Bis zuletzt galt ihm als erstrebenswerte Ziel: eine Gesellschaft, welche die Voraussetzungen zum notwendigen Ausgleich der natürlichen Ungleichheit aller Menschen schafft. Sperber war ein widersprüchlicher und widerspruchsvoller Mensch und Denker. Nicht von ungefähr hat Ludger Lütkehaus in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. Februar 1994 unter dem signifikanten Titel "Selbstgewählte Verblendung" Sperber als Prototyp des "Renegaten" bezeichnet, der seit den 60er Jahren in einer Art "verschobener" Reaktion alte Rechnungen beglichen habe. Ich habe Manes Sperber persönlich gekannt; als Mitglied der Hörfunk-Kulturredaktion des NDR, der er über lange Jahre als Mitarbeiter freundschaftlich verbunden war, habe ich zwischen 1973 und 1983 manche Begegnung mit ihm gehabt und verschiedene Gespräche mit ihm geführt, die im 3. Hörfunkprogramm des NDR ausgestrahlt wurden. Ich habe seine Ansichten längst nicht immer geteilt. Im Gegenteil; über die Bedeutung und Langzeitwirkung beispielsweise der Studentenbewegung haben wir lange und heftig gestritten, im privaten Gespräch wie vor dem Mikrophon. Zu einem Konsens sind wir nicht gekommen, konnten wir wohl auch nicht kommen. Das hat mich nicht gehindert, Manes Sperber mit Respekt und Hochachtung zu begegnen, zuweilen auch mit jener spezifischen Bewunderung, wie sie Menschen meiner Generation (ich bin Jahrgang 1937) für die großen und zornigen alten Männer hegen, die das Abenteuer Leben höchst

1

Radio-Interview Manes Sperber u. Alfred Paffenholz in der Sendung "Wir waren Wasserträger Gottes" (Zur Erinnerung an Manes Sperber), NDR am 3. Februar 1984.

Die unfaßbare

Gewißheit

223

achtbar bestanden haben und die mit nicht erlahmender Intensität - gefragt und auch ungefragt - immer w i e d e r auf die Schwachstellen, D e f i z i t e und F e h l e n t w i c k l u n g e n in unserer Gesellschaft und ihrer Lebensentwürfe hinweisen, erfüllt v o n der Ü b e r z e u g u n g , w i e sie Sperber e i g e n war, daß diese W e l t nicht so bleiben kann, w i e sie ist, daß sie ganz anders, besser w e r d e n kann, daß sie es w e r d e n muß. U n d diese Einsicht, denke ich, hatte durchaus etwas zu tun mit d e m Judesein v o n M a n e s Sperber. Ja, diese Idee, diese fordernde G e w i ß h e i t hat sein S e i n als Jude und als Z e i t g e n o s s e bestimmt, seit er denken konnte. G e g e n die "Wasserträger"-Existenz, die individuelle, die das Kind in Zablotow an Nachbarn wahrnahm, w i e g e g e n die kollektive, die Sperber als S i g n u m des jüdischen V o l k e s erkannte, hat er früh schon opponiert: "Man belehrte mich, daß die Arbeit des Wasserträgers zwar schwer war, aber so einfach, daß ein jeder, der nichts Rechtes gelernt hatte, ihn ohne weiters ersetzen könnte. Deshalb mußte der Mann vom frühen Morgen bis in die Nacht das Wasser schleppen, nur um sein tägliches Auskommen zu finden. Es schien allen gerecht, ja selbstverständlich zu sein, ich aber fand mich auf der Seit der Wasserträger, ich bin es geblieben."2 E b e n s o stellte s c h o n das Kind auch die messianische H o f f n u n g seiner U m w e l t in Frage, ihr Gottvertrauen und ihre Zuversicht auf eine Besserung der Verhältnisse, auf das nahe K o m m e n des Paradieses: "So weiß ich seit meiner Kindheit, daß Treue denen, die sie gewähren, gefährlicher sein kann als Krieg und Cholera. Mich empörte es, daß Gott uns die Treue so schlecht lohnte, ja daß er uns bestrafte und nie belohnte. Wir waren Wasserträger Gottes. Wenn er gerecht war, wie konnte er es dann zulassen, geschweige denn fördern, daß wir von Ewigkeit zu Ewigkeit seine Wasserträger seien?"3 Anders als andere Autoren ist Sperber nicht der Gefahr e r l e g e n , rückschauend ein schönfärberisches Bild v o m L e b e n im Schtedtl zu zeichnen. "Zablotow, so hieß dieser kleine Ort, der hunderten anderen Städten ähnlich war, in denen bis 1942 die jüdische Bevölkerung Galiziens, Russisch-Polens, Litauens, Weißrußlands und der Ukraine auf engstem Raum zusammengepfercht lebte. Zablotow - schon der Name ist unangenehm: er spielt auf den lehmigen Boden, auf die ungepflasterten Straßen an, in denen man zu versinken drohte, sobald die unaufhörlichen Herbstregen sie aufgeweicht hatten. Die 3.000 Einwohner waren zu 90 Prozent Juden: Handwerker, viel mehr als man je brauchen konnte, Händler mehr als Käufer - Händler ohne Kapital, welche die Waren, die sie anboten, zumeist selbst noch nicht bezahlt hatten [...] Die Zablotower waren wie die Bewohner der anderen Städtchen 'Luftmenschen' oder 'Luftexistenzen', wie sie sich selber gerne nannten - mit jener Selbstironie, auf die sie schwerer verzichten hätten können als auf ihre kärgliche Nahrung oder ihre schäbige Kleidung. Habe ich von der Armseligkeit des Städteis gesprochen? Das Wort ist irreführend, weil durchaus unzureichend. Sich kaum je wirklich sattzuessen, war das Schicksal der meisten, obschon die Nahrungsmittel dort weit billiger waren als im Westen [...] Bis spät in den kalten Herbst gingen die Kinder barfuß; im Winter mußten häufig ein oder zwei Paar Stiefel für die ganze Familie reichen. Man heizte mit der billigsten Brennkohle, aber auch für sie reichte

2

Manes Sperber, Die Wasserträger Gottes, Wien 1974, 60.

3

Ebd., 61.

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Alfred

Paffenholz

das Geld nicht. Reichen mußte es jedoch in jeder Familie für eines: für den Lohn des Lehrers. Vom dritten Lebensjahr an mußten die Kinder, die Buben, nicht die Mädchen in den Cheder, die Schule, in der man hebräisch lesen, beten und schließlich die Bibel übersetzen lernte. [...] Wieviele auch hungerten, niemand verhungerte [...] Ja, es war eine bis zur Absurdität maßlose, groteske Armut, jedoch keine Armseligkeit, weil die Zablotower nicht nur etwa glaubten, sondern wußten, daß der Zustand nur provisorisch war und sich bald alles ändern würde, auch wenn die Not schon Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte dauerte - in der Tat seit dem Siege des Kosakenhetmans Bogdan Chmielnicki im Jahre 1648. Gott, ihr Gott natürlich, griff stets ein. Spät, sehr spät, aber nie zu spät. Darüber hinaus konnte man jeden Augenblick mit der Ankunft des Messias, also mit der endgültigen Erlösung rechnen [...] Diese Männer, von denen die meisten am Sonntag nicht wußten, wie sie während der anbrechenden Woche ihre Familie durchbringen würden, und die sich am Donnerstag den Kopf zerbrachen, wo sie die Mittel finden sollten, den Sabbath zu bereiten - diese bettelarmen Männer, zumeist zu früh verheiratet und rastlos im Kinderzeugen, waren nicht armselig, denn sie wußten sich teilhaftig am Olam haba, an der 'kommenden Welt', zu der sie nach ihrem Tode Zutritt erhalten würden. Und traf der Messias vorher ein, so öffnete sie sich ihnen noch viel früher. "4 Sperber unterschlägt also k e i n e s w e g s die Schattenseiten dieser j ü d i s c h e n Existenz, aber er sieht in ihr - im Gegensatz zu anderen - nicht nur Armseligkeit und Trostlosigkeit, keinen diskriminierten Fremdkörper innerhalb einer höheren Zivilisation, sondern im Gegenteil eine G e m e i n s c h a f t besonderer Art: "[...] eine scharf profilierte, in ihren Grundlagen gefestigte autonome Gemeinschaft mit einer eigenartigen Kultur - dies inmitten von Armut und Häßlichkeit, und eingekreist von Feinden des jüdischen Glaubens. Das Schtedtl war ein Zentrum, von dem aus gesehen die slawischen Dörfer periphere Agglomerationen waren, deren Einwohner, zumeist Analphabeten, zum Geistigen kaum eine Beziehung hatten. In all seiner Misere war das jüdische Städtchen eine kleine Civitas Dei - geistig und geistlich erstaunlich, in mancher Hinsicht um Jahrhunderte zurückgeblieben, nicht selten abstoßend, aber dennoch bewundernswert, weil das lieben dieser Menschen täglich, ja stündlich bis in die letzte Einzelheit durch ihre wahrhaft beispielslose Treue zu einem unablässig fordernden Glauben bestimmt wurde. Die Juden des Ghettos von Venedig, von Rom oder Worms blieben eine in der eigenen Vaterstadt diskriminierte exilierte Minderheit, während die Einwohner des Schtedtls majoritär, also bei sich zu Hause waren; ihre nichtjüdischen Nachbarn, etwa die polnischen Adligen, mochten mächtig und reich sein und auf sie herabsehen: die Juden jedoch waren von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt. Im Schtedtl gab es nicht die Spur eines Minderwertigkeitsgefühls wegen der Zugehörigkeit zum Judentum und daher nicht die geringste Neigung, das eigene Wesen zu verhüllen oder wie die anderen zu werden." 5 D i e Lebensauffassung der M e n s c h e n im Schtedtl, das alles metamorphosierende "als ob" dieser L u f t m e n s c h e n (als ob die Ankunft des M e s s i a s kurz bevorstünde), diese Erkenntnis der Idee des "als ob" ist für M a n e s Sperber lebensbestimmend g e w e s e n . S o g e w i ß es ist - wir w i s s e n es v o n ihm selbst - , daß er in späterer Zeit niemals H e i m w e h nach dem Schtedtl gehabt hat, so g e w i ß ist es auch, daß er dieses j ü d i s c h e Erbe - und nach jüdischem Verständnis sind R e l i g i o n und Zugehörigkeit z u m V o l k nicht voneinander zu trennen - immer mit sich getragen hat, mal bewußter, mal eher unbewußt. D a s mag eine Begebenheit erhellen, die ich für äußerst charakteristisch halte. Sperber - im Frühjahr

4

Manes Sperber, Die Wasserträger Gottes, 19-23.

5

Ebd., 25.

Die unfaßbare

Gewißheit

225

1933 in Berlin w i e v i e l e seinesgleichen im Gefängnis und in Erwartung des T o d e s durch Erschießen (Konzentrationslager gab es damals noch nicht) - hört eines abends, w i e v o m Appell der S S - L e u t e unter der Hakenkreuzfahne das im Chor g e s u n g e n e Horst-WesselLied in seine Z e l l e dringt. In seinen Erinnerungen notiert er dazu: "[...] in jenem Augenblick beeindruckte es mich wie ein Gebet, das heißt, ich achtete nicht auf die Worte, sondern nur auf die alte mißbrauchte Soldatenmelodie. Als es vollends Nacht wurde und das Zellenlicht erlosch, drängte sich in mir - wie von außen kommend - ein Psalm über die Lippen: 'Nicht uns, nicht uns erweise die Ehre, sondern tu's um Deiner Gnadenhaftigkeit und um Deiner Wahrheit willen. Warum sollen die Heiden höhnen: Wo ist denn ihr Gott? Unser Gott aber ist im Himmel wie auf Erden, was er will, das vollbringt er.' Ich hörte nur erst mit irdischem Staunen zu, dann aber ließ ich mich gehen. In jener Nacht habe ich alle Psalmen, die ich auswendig kannte, leise vor mich hin gesungen und dann das Nachtgebet aufgesagt, mit dem ich als Kind die Erzengel aufzählte, die, zu meinen Häupten und zu meinen Füßen, über mich und meinen Schlaf wachen würden. "6 Hier widerfuhr d e m bald dreißigjährigen Mann, w a s das Kind v i e l e Jahre zuvor - in freilich gänzlich anderer Situation - schon kennengelernt hatte: "Majim Chajim", das lebendige, aus einer Quelle sprudelnde Wasser, das immer g l e i c h e , aber dennoch nicht dasselbe ist. "Als wir nämlich die Hügel - wir nannten sie Berge - hinaufstiegen, erblickte ich deren höchste Spitze, die den Himmel zu berühren schien. Das Kind, das sooft insgeheim Steine gegen den Himmel geworfen hatte, ohne ihn je zu treffen, wurde von einer unaussprechlichen, erschütternden Hoffnung ergriffen: auf der Bergspitze angekommen, würde es das Ende der Welt und damit den Zugang zum Himmel erreicht haben. Was sodann geschah, das haben zahllose Menschen vorher und nachher erlebt: die Entdeckung, daß der Himmel gleich hoch und entfernt bleibt im Tale wie auf den Bergen, und daß es hinter diesen andere gibt, höhere, höchste, hinter denen sich wieder andere verbergen - und so in der ganzen Welt und ohne Zahl. Diese höchste, intensive Erfahrung hinterließ in dem Kinde nicht nur eine Enttäuschung, sondern auch eine erwartungsvolle Unruhe. "7 D i e s e Unruhe sollte auf vielfältige W e i s e gestillt werden. Sperbers Kindheit hatte schon zuvor abrupt geendet, in den ersten M o n a t e n des Jahres 1 9 1 5 , als das Schtedtl Schauplatz von Kriegshandlungen und Epidemien wurde und er den T o d erstmals vor A u g e n sah. Es trat ein "dauerhafter Bruch" ein: "Nach diesen Erlebnissen habe ich die Welt niemals mehr wie vorher, nie wie ein ganzes gesehen, dessen leuchtendes Bild in zwei einander gegenüberliegenden Spiegeln endlos wiederholt wird. Nun waren die Spiegel aufgesplittert und teilweise erblindet - sie zeigten nichts Ganzes mehr, sondern nur Stückwerk [...] Ich erkannte in tiefer Erschütterung, daß es keinen schützenden Himmel über den Menschen gab, daß es für sie, für uns alle nur die Erde, die grenzenlos gleichgültige, unachtsame Erde gibt. Die folgenreichste Wirkung vollzog sich, als ich begann, wir statt ich zu denken: wir, das heißt nicht die Meinen, nicht nur unser Volk, sondern wir Menschen angesichts von etwas, das mörderisch und gleichgültig in einem, über unser Sterben entschied - und dieses Etwas war nicht Gott. "8

6

Manes Sperber, Die Wasserträger Gottes, 49.

7

Ebd., 52.

8

Ebd., 153 f.

226

Alfred Paffenholz

Noch ein anderes Erlebnis hat sich dem Kind tief eingeprägt und dürfte für Sperbers weiteren Lebensweg mitbestimmend gewesen sein. Auf der Flucht nach Wien kam die Familie auch durch ein Städtchen, wo ein Großonkel als Rabbiner tätig war. Statt den Verwandten ob ihrer Schwierigkeiten sein Mitgefühl auszudrücken, erklärte er den Kindern, Manes und seinem Bruder Hesio, der Verlust der Heimat und die Flucht seien die gerechte Strafe Gottes für ihre Sünden. Während Hesio dieser Ansicht entschieden widersprach, gab der jüngere Manes aus Furcht und Feigheit dem Rabbi recht. Die Scham, die er vor seinem Bruder empfand, war erkenntniserhellend und haltungsprägend: "Ich glaube, daß ich niemals mehr einer Stimmung oder irgendeiner persönlichen Verpflichtung zuliebe eine andere Meinung ausgedrückt habe als die meine. Wenn ich manchmal geneigt war, nachzugeben und, egal aus welchem Grund, als Wahrheit gelten zu lassen, was ich nicht als solche empfand, stellte sich gleich die Erinnerung an jene Szene ein, für die ich mich noch während langer Jahre schämte. "9

Mit zunehmendem Alter hat Manes Sperber in immer neuen Anläufen versucht, das Mysterium des Judentums und die "unfaßbare Gewißheit" des Judeseins zu ergründen. "Ich bin ein europäischer Jude, der jeden Augenblick dessen bewußt bleibt, ein Überlebender zu sein, und der nie die Jahre vergißt, in denen ein Jude zu sein ein todeswürdiges Verbrechen gewesen ist"10 - so charakterisierte er sich. Als Zeitgenosse und Überlebender des Churban (in der nicht-jüdischen Welt sagt man heute Holocaust) näherte sich Sperber diesem Themenkomplex und versuchte, "das einzigartige Schicksal des jüdischen Volkes mit vernünftigen Mitteln zu erklären", und wußte doch, daß er das "unentwirrbare Problem" nicht würde lösen können. Seit Jahrzehnten vergehe ihm kaum ein Tag, hat Sperber geschrieben, ohne daß er jener Zeit gedenke, da sein Volk im Herzen Europas bis zur Entmenschung gedemütigt und von den herrschenden Mördern ausgerottet wurde. Kaum ein Tag vergehe ihm, an dem er die Gleichgültigkeit habe vergessen können, mit der die Welt dies jahrelang geschehen ließ. Das Geschehen - so sah er es - dringe in die Gegenwart ein, als ob es nicht Erinnerung, sondern eine unablässig wiederholte Gewalttat wäre. Diese Ereignisse hätten zwar sein Judesein nicht verändert, räumte Sperber ein, aber sie hätten - im Sinne des biblischen Gleichnisses - seinen Nacken noch mehr verhärtet, sie hätten ihn versteinert. Der Mann, der dergestalt seine Verbundenheit mit seinem Volk bekennt, hat - wie bereits erwähnt - schon in früher Kindheit im Schtedtl von Zablotow Zweifel am traditionellen jüdischen Glauben gehabt und die messianische Hoffnung der chassidischen Juden seiner Umwelt nicht sehr lange geteilt, später auch nicht mehr nach den Vorschriften und Riten gelebt, die das Leben des frommen Juden von der Wiege bis zur Bahre bestimmen. Er sei ein völlig glaubensloser Mensch, nicht ein Anti-Theist, wie Sartre, sondern ein A-Theist - so hat er sich immer wieder bezeichnet. Ein ungläubiger Jude nach eigener Auffassung, blieb er aber doch jüdisch, er hat sein Judesein nie verleugnet, es blieb ihm Antrieb zu aktivem Tun. Wobei er sich natürlich gefragt hat:

9

Manes Sperber, Die Wasserträger Gottes,

167.

10 Manes Sperber, Churban oder Die unfaßbare Gewißheit,

Wien 1979, 42.

Die unfaßbare Gewißheit

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Was bin ich eigentlich für ein Jude? Nicht religiös und nicht ein Israeli - was bleibt dann noch? Sperbers Antwort: "Ich bin ein Jude, weil ich in meiner Kindheit von einer alles umfassenden jüdischen Erziehung geformt worden bin. Man lehrte mich, alls im Hinblick auf Gottes Gebote zu erkennen, zu verstehen und zu deuten [...]. Man belehrte mich aufs eindringlichste über die von der biblischen Ethik angeordneten Lebensregeln, deren gebieterischste für mich unabänderlich geblieben ist: den Einklang von Glauben und Tun, von Theorie und Praxis zu erlangen und in seinem Sinne zu leben [...]. So handeln, wie es gut wäre, daß alle handeln sollten; nie vergessen, daß man nicht nur für das eigene Tun verantwortlich ist, sondern für alles Übel, das man vermindern könnte; immer gemäß dem Rat handeln, den uns Rabbi Hillel hinterlassen hat: 'Was du nicht willst, daß man dir antue, das tue auch keinem anderen an.' Und schließlich sich zu dem bekennen, was man als Wahrheit erkannt zu haben glaubt - und bliebe man mit ihr ganz allein.""

Auch Sperber gehört zu jenen nicht-religiösen jüdischen Intellektuellen, die unter dem Erschrecken über den Genozid der Nazis an den Juden ihres "Judeseins" neu innewurden. Das hieß nicht, Rückkehr zur alten Religiosität und zum überkommenen Brauchtum im Alltag, sondern das hieß: Ja zum Staat Israel und zum Verteidigungswillen der Israelis. Das hieß: "Solidarität mit den Juden, eindeutige, unanzweifelbare Identifikation mit ihnen - konnte es denn auch nach allem, was ihnen in diesem Jahrhundert angetan worden ist, anders sein?"12 Wohl nicht. Mag sein, daß in diesem nachdrücklichen Bekenntnis zur Solidarität mit den Juden bei Sperber auch noch ein Rest jenes revolutionären politischen Impetus mitschwingt, der seine Jugend und frühen Mannesjahre mitbestimmt hat. Noch in seiner Dankadresse für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels bekannte er: "Ich bin ein alter Revolutionär, der den Hoffnungen, die er begraben mußte, treu geblieben ist." Das war keinesfalls resignativ gemeint, so wie Solidarität für Sperber nicht Lippenbekenntnis war, sondern tätiges Tun. Kein Opfertod, keine Erlösergnade, wie es die christliche Lehre verheißt, bringt - so Sperber - eine Veränderung der Verhältnisse, sondern "das Kommen des Messias hängt von uns selbst ab, von den Werken aller."13 Sperbers Bekenntnis zu und sein Eintreten für Israel bedeutet keineswegs - daran ist zu erinnern - daß er Zionist war. Denn das stand für ihn fest: Was in der Diaspora die "Judenfrage" genannt wird, ist allein durch den Bestand der israelischen Nation nicht zu lösen. Freilich - und das verwundert nicht - fasziniert war Manes Sperber indes von einer Idee, die im Zionismus geboren und, wenn auch nicht auf breiter Basis, verwirklicht worden ist: der Idee des Kibbutz, antizipatorischer Aufschein einer konkreten Utopie, nach Sperber die einzige Gemeinschaftsform, welche "in diesem Jahrhundert des pseudokommunistischen Despotismus die Idee des Sozialismus mit der Praxis der Lebensge-

11 Manes Sperber, Die Wasserträger Gottes, 57 f. 12 Ebd., 58. 13 Ebd., 64.

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Alfred Paffenholz

meinschaft vereint hat".14 Im Kibbutz sah Sperber die Landauersche sozialistische Gemeinschaft der Gemeinschaften verwirklicht, ja er meinte sogar, dieses Gemeinwesen habe Landauers kühnste Träume von einer Lebens- und Erziehungsgemeinschaft erfüllt: Es sei bereits "die Heimat einer dritten und bald einer vierten Generation, die ohne Privateigentum außerhalb irgendeines Herrschaftssystems, in der unantastbaren individuellen Freiheit leben - in einer sozialistischen Wirklichkeit, einer vergleichsweise winzigen zwar, aber der einzigen, die, nach so vielen verlorenen und verderbten Revolutionen, noch Bestand hat."15 Für den Psychologen Sperber war die Schaffung der Kibbutzim zugleich der Beweis für den Wert einer von der Psychoanalyse, von der Individualpsychologie und anderen Schulen beeinflußten Erziehung und auch der Beweis dafür, daß deren Erziehungsprinzipien auch außerhalb der psychotherapeutischen und der heilpädagogischen Praxis, außerhalb auch der Familie anwendbar sind. Der Kibbutz ist zu der Lebensform geworden, welche den von Adler gemeinten und erstrebten Gemeinschaftsformen am nächsten gekommen ist. Wie bei Sperber das gesellschaftspolitische Engagement immer wieder auch in Beziehung gesetzt wird mit sehr spezifischen Bekenntnissen und Erfahrungen der jüdisch-religiösen Tradition und seiner eigenen jüdischen Sozialisation, zeigt das folgende Bild, das substantiell mehr ist als eine schöne literarische Metapher: "So oft ich ein Kibbutz besuche, denke ich an Landauer. Dann erscheint mir nicht mehr das grausam entstellte Gesicht des Ermordeten, sondern sein wahres Antlitz, es gleicht dem jener Propheten, deren Leben und Tod unser Dasein auf Erden rechtfertigen."16 Der Rückgriff auf die Propheten kommt nicht von ungefähr, sie spielen im Judentum eine wichtige Rolle: "Die Propheten waren es, die selbst in Lebensgefahr die Wahrheit des Judentums verkündeten und jene Hoffnungen begründeten, dank denen die Juden, ob schon immer wieder geschlagen, stets unbesiegt geblieben sind. Die Propheten forderten von ihnen weit mehr als sie versprachen, und luden ihnen die Bürde des Menschseins auf, als ob sie eine Gnade wäre, die man durch eine ständig bewährte Mitmenschlichkeit verdienen könnte, ja müßte.'" 7 Wiewohl Sperber nicht müde wird zu behaupten, nicht judaeozentrisch zu denken und ohne Zweifel hat er auch zeitlebens Ideen angehangen und an Bewegungen und Aktionen teilgenommen, die ohne jeden jüdischen Bezug waren - gleichviel blieb er doch ein Gefährte seiner Ahnen "auf all ihren Wegen und Zeuge der Freveltaten, deren ausgewählte Opfer sie wurden, wie der Wunder, die sie schließlich vor der völligen Ausrottung bewahrt haben". Und selbstironisch wie die Menschen im chassidischen Schtedtl ehedem und "ein gut' Wörtl" schätzend, meint der ungläubige Manes Sperber: "Gäbe es einen Gott, so wäre es zweifellos der jüdische."18 14 Manes Sperber, "Gustav Landauer oder: Die herrschaftslose Gemeinschaft", Manuskript der Radiosendung vom 1. Mai 1982, N D R 3. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Hans Jürgen Schultz, Mein Judentum, 13. Kap.: "Manes Sperber", Stuttgart 1978; vgl. auch Alfred Paffenholz, Manes Sperber - Zur Einführung, Hannover 1984. 18 Manuskript der Radiosendung vom 1. Mai 1982, NDR 3.

Psychoanalytische Ausbrüche

Edith Seifert

Gabe - Wiedergabe - Herausgabe Eine Kritik an der Psychoanalyse

Die hier vorgestellten Thesen gehen von einer psychoanalytischen Konzeption aus, die sich ohne die üblichen Einschränkungen auf Freud bezieht und ihre Differenz aus der Rückkehr des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan zu Freud bezieht. Zentrales Anliegen dieser Auffassung ist eine Subjektkonstitution, die von ihren zwei Aspekten her, dem sprachlichen wie dem geschlechtlichen, auf einer Mangelerfahrung, einem Negativitätseinschlag oder einem Bruch beruht: Ein reales, traumatisch wirkendes Trennungserlebnis (Kastration) ist die paradoxe Voraussetzung dafür, daß einerseits die sprachliche Realität des Geschlechtswesens (Mädchen) aufgebaut wird, und andererseits der Geschlechtsaufbau (des Knaben) einen Abschluß findet. Abgeschlossen wird man jedoch diese Art der sprachlichen Geschlechtskonstruktion aufgrund ihrer Paradoxalität kaum nennen können. Es sei denn, man versteht darunter eine Schließung, die den Bruch (Kastration) weiterträgt, wiederholt, einen Bruch, der sich fortschreibt und auf diese Weise die individuelle Begrenztheit transzendiert und Subjektivität erreichbar macht. Der Bruch ist Ausgang und Ende der psychoanalytischen Subjektkonstitution. Psychoanalytische Ethik verpflichtet darauf, insofern sie davon ausgeht, daß er nicht aus sich selbst heraus, sondern nur über die gelebte Erfahrung der anderen weitergegeben und produktiv werden kann. Im folgenden möchte ich dem Zusammenhang von Bruch und Kontinuität am Thema des Gabentauschs nachgehen.

1. In seinem Essai über die Gabe (1925) beschreibt der Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss Erscheinungsformen des Austausches und Vertrages innerhalb von Gesellschaften, die vom Tauschsystem der westlichen Ökonomie abweichen, insofern sie nicht allein an Nützlichkeitserwägungen orientiert sind. Die Tatsachen, mittels derer diese Gesellschaften sich und ihre Institutionen in Gang halten, nennt Mauss "totale soziale Tatsachen" (fait social total). Sie inszenieren und ermöglichen einen Gabentausch, der, theoretisch freiwillig, im Grunde genommen aber einem Zwang zur Gegengabe gehorcht. Die Geste der Gegengabe kann darum streng genommen als Fiktion, Formalismus oder sogar soziale Lüge aufgefaßt werden, ohne daß die Weitergabe damit die Form eines Geschenkes verlöre. Total nennt Mauss diese freiwillig-obligatorischen Tatsachen, insofern sie in die unterschiedlichsten Bereiche hineinspielen. - Sie sind juristische Fakten, haben magisch-religiöse Bedeutung, besitzen mythologische und

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Edith Seifert

geistige Kraft und dienen dabei doch sozialen und ökonomischen Zwecken. Eine seltene und entwickelte Form dieser totalen Leistungen tritt am Potlatsch in Erscheinung. Bemerkenswert beim Potlatsch ist das offene Zutagetreten eines agonistischen Zuges, der alle Praktiken des Gabentausches beherrscht. Beim Potlatsch äußert er sich gleich in mehrfacher Weise: - Zum einen in der rein verschwenderischen Zerstörung der im Laufe der Zeit angehäuften Reichtümer und Gaben; - zum anderen in seiner Funktion als Mittel des Rivalitätskampfes; rivalisierende Häuptlinge versuchen sich auf diese Weise den Rang abzulaufen; - wie durch die Tatsache, daß der Geber durch das Übermaß der Gabe seinen Platz in der sozialen Hierarchie bestimmt. Was das Phänomen des Potlatsch auf drastische Weise zeigt, charakterisiert jede Gabe; nämlich Herausforderung zu sein, insofern sie die Pflicht des Erwiderns provoziert; eine Herausforderung, die angenommen worden ist, sowie die Gabe in Empfang genommen wurde. Insofern die Gabe auf den Kredit ihrer Erwiderung hin gemacht wird, spricht Mauss von Schulden machen und Schulden begleichen. In diesem Sinne versetzt die Eröffnungsgabe den Empfänger bereits in den Zustand einer Quasi-Schuld. Diese Sichtweise kann nach Mauss die vielen Theoreme über das Quasi-Delikt, d.h. den Ursprung des Vertrages erhellen. (Für den kriminellen Anfang des Lacanschen Seminars über den Entwendeten Brief ist sie jedenfalls, wie sich zeigen wird, anwendbar.) Wird die Herausforderung der ersten Gabe, das "opening gift" (Malinowski), die den Empfänger öffnet, angenommen (wobei dieser, wie gesagt, nicht die Wahl hat), verpflichtet sie den Empfänger (Gewaltmoment) zur Gegengabe (dem "clinching gift"). Die letzte Gabe ist streng obligatorisch und muß der ersten gleichwertig sein, - der Gabentausch folgt Äquivalenzmaßstäben - notfalls kann sie auch mit Gewalt genommen werden. Nehmen zieht also Konsequenzen nach sich, zieht in ein unausweichliches, unabschließbares Tauschsystem hinein. Nehmen, um das Gegebene aufzubewahren, kommt dabei nicht in Betracht. Denn die Gabe, obwohl sie Geschenk ist, widersteht der Inbesitznahme. Das Eigentumsrecht des Empfängers beschränkt sich darauf, sie als Pfand, Leihgabe, Depositum, Mandat, Fideikomiß zu nehmen, d.h. unter der Bedingung in Händen zu halten, sie für einen anderen in Gebrauch zu nehmen oder einer dritten Person, einem fernen Partner, zu übergeben. Die Sache für sich aufzubewahren, wäre daran gemessen gefährlich bzw. tödlich - nicht, weil es verboten wäre, sondern weil sie von einer anderen Person kommt, deren religiös-magische Macht über sie auch noch nach ihrer Ablösung nicht erloschen ist. Die Sache kehrt an ihre Ursprungsstätte zurück, "die Sache selber kehrt zurück", schreibt Mauss.1 Wozu aber das Ganze, der Tausch und der Tauschvertrag? Zu dem Zweck, so Mauss, daß sich Leben ineinander vermischen und die untereinander vermischten Personen und Sachen ihre jeweilige Sphäre verlassen. Die eigene Sphäre soll und muß verlassen werden, weil den Tauschgesellschaftlern das Gefühl noch nicht abhanden gekommen ist, daß sie einander alles schulden, daß sie sich dem anderen schulden. 1

Marcel Mauss, "Die Gabe", in Soziologie und Anthropologie,

Bd. II, München/Wien 1975, 40.

Gabe - Wiedergabe - Herausgabe

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Die Frage, was den Gabentausch in letzter Konsequenz in Bewegung versetzt, führt zum Geist der gegebenen Sache, dem, was in der Maorisprache als hau bezeichnet wird. Mauss nennt es das Supplement im Austausch. Das hau ist der ausgetauschte Wertgegenstand der Güter, ist das, was weitergegeben werden muß, und dessen Inbesitznahme nicht nur nicht angemessen, sondern gefährlich wäre. Nicht angemessen wäre es, die Sache zu behalten, weil der Gegenstand das hau des anderen Gegenstandes ist.2 Und gefährlich wäre es, den Gegenstand zu behalten, weil sein Besitz stumpf {maté) machen würde, krank oder tot. Der Geist der gegebenen Sache - das hau - wird durch den Geber gegeben, ist aber dennoch nicht von ihm in die Welt gesetzt. Lassen wir hier die zugegebenermaßen zugespitzte Darstellung des Mausschen Gabensystems auf sich beruhen. Es dürfte deutlich geworden sein, daß es Ähnlichkeiten mit dem psychoanalytischen System aufweist. Mauss' Analyse von Magie und Gabe bringt - schreibt R. Major - , ohne daß Mauss sie kennen würde, die Mechanismen des Traumes zur Entfaltung. Und sie ist von den Charakterzügen des Tauschsystems, seinem agonistischen wie narzißtischen Zug sowie von ihrer Zielsetzung her (Selbstherausgabe aufgrund der geschuldeten Vermischung) nicht ohne Bezug auf die triebtheoretischen Erörterungen, die Freud in Das Unbehagen in der Kultur entwickelt.3 Eine Kritik an der Theorie der Gabe von Mauss ist deshalb auch eine Kritik an der psychoanalytischen Konstruktion.

2. Lacan In den Sitzungen seines Seminars von 1954 -55 (Das Ich in der Theorie Freuds), die der Einführung des Entwendeten Briefes vorbehalten sind, spielt Lacan mehrfach auf den Essai von Mauss an. Die Verbindung zwischen Gabentausch und psychoanalytischem Einsatz ist deutlich. In der Rede von Rom zieht Lacan offen Vergleiche zwischen Worten (Sprechen) und Gaben: Für den Psychoanalytiker sei Sprechen eine Gabe aus Sprache. Lacans Seminar demonstriert, daß sie Immaterielles hat. Ihre Materialität ist wie die des Signifikanten einzigartig darin, daß sie als unzerstörbar gelten kann. Das Wort einmal ausgesprochen, die Botschaft einmal vernommen, und die Letter, der Signifikant ist allen Abwehrmechanismen zum Trotz in seine Funktion eingesetzt. Das Seminar malt die Materialität der Letter als einen "ungeheuren"(!) Frauenkörper aus. An dieser Stelle soll uns die Verbindung von Signifikant und weiblicher Sexualität allerdings weniger bekümmern. Knüpfen wir statt dessen an die Verbindung zwischen Letter und Gabe an: Rituelle Gaben und Sprechen seien so eng miteinander verflochten, daß sie zuweilen durch ein und dasselbe Wort bezeichnet würden. Der Einsatz des Sprechens, die Gabe des Sprechens, ist in der Psychoanalyse so selbstverständlich, daß man annehmen möchte, es bedürfe keiner weiteren Rechtfertigungen. Der Eindruck

2

Der Anschluß an den Signifikanten, der ein Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert, spricht aus der Mausschen Definition geradezu heraus.

3

René Major, "Die Wahrung der Gabe", in Ethik der Gabe, hg. v. Michael Wetzel u. Jean Michel Rabaté, Berlin 1993, 150.

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Edith Seifert

täuscht, wie man sehen wird. Heben wir darum kurz die Funktion des Sprechens für die Psychoanalyse hervor: - Freud entdeckte das Unbewußte ausgehend vom Sprechen seiner hysterischen Patientinnen (die Letter - der Frauenkörper) und nannte die Praxis daraufhin "talking-cure". Tatsächlich setzt die Methode darauf, Symptome durch Sprechen zum Verschwinden zu bringen, weil sie diese wie eine Sprache strukturiert auffaßt. - In ähnlicher Weise erkennt sie im Traum die Struktur eines Satzes, sieht sie in den Fehlleistungen des Alltagslebens einen Diskurs, der durch den Lapsus geknebelt und verdreht ist, und ist sie imstande, die Position eines Subjektes in einer Buchstabenkombination, wie beispielsweise dem Hauptzauberwort des Rattenmannes, zusammenzufassen. Wie die Gabe den Tauschprozeß eröffnet - ist einmal das Risiko der ersten Annahme überwunden und hat sie einen Empfänger gefunden - , so versetzt die Letter die Subjekte in einen Kreislauf von Intersubjektivität. Lacans Poe-Seminar folgt in diesem Sinne den Transmissionswegen der Letter; es erzählt, wie die Königin im Beisein des Königs einen Brief/die Letter erhält, der/die sie sichtbar in Verwirrung stürzt. Der Minister, der ihre Verwirrung bemerkt, und von ihr auf die Bedeutung der Letter schließt, macht sich die Situation zu Nutze und stiehlt, entwendet der Königin den Brief/die Letter. Ungehindert von der Königin, die nicht riskieren will, vom König entdeckt zu werden, macht er sich mit dem Diebesgut davon und hinterläßt an seiner Stelle ein hastig dahingeschobenes ähnliches Stückchen. Die Geschichte und der weitere Verlauf ist hinreichend bekannt. Im Sinne der Perspektive meines Themas entwickelt das Seminar das Intersubjektivitätsmodell der Lacanschen Psychoanalyse oder den Gabentausch per Sprache. Implizit zeigt es, wie jeder Diskurs auf einen Adressaten hin ausgerichtet ist, anders gesagt, wie er in der Frage, auf der er beruht, die eigene Antwort mit einschließt. Andererseits malt das Seminar explizit den je unterschiedlichen Eintritt der Subjekte in das Tauschsystem aus, in dem diese Positionen durch ihr Verhältnis zur Letter bestimmt werden. Damit führt das Seminar die Autonomie der Letter/des Signifikanten vor, der Letter, die die Subjekte unterwirft, die sie determiniert - und zwar in einem Ausmaß, das dem "fait social total", als das Mauss die Gabe bezeichnet, kaum nachsteht. "Wenn das, was Freud freigelegt hat und immer wieder von neuem in überraschender Weise freilegt, einen Sinn hat, dann weil die Verschiebung des Signifikanten die Subjekte in ihren Handlungen [...] bestimmt, und weil wohl oder übel dem Zug des Signifikanten als Sack und Pack alles psychologisch Gegebene folgt." 4 Bis in die sexuelle Attitüde hinein demonstriere das Sprechen seine Wirkungsmacht und zeige sich, daß es seinen Bestimmungsort immer erreiche. Man denke an die sexuelle Vorliebe des erwachsenen Wolfsmannes für "erniedrigte Frauen", die sich als Konsequenz der psychischen Einschreibung, also der ersten Gabe, der Letter römisch V ausgebildet hatte. 5 Oder an die Orte

4

Jacques Lacan, Das Seminar über E. A. Poes "Der Entwendete Brief", in Schriften /, Weinheim/Berlin 1986, 29.

5

Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, in Studien Ausgabe, Bd. VIII, Frankfurt a.M. 1969, 156 ff.

Gabe - Wiedergabe - Herausgabe

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der Letter im Poe-Seminar, die die jeweiligen Begehrenspositionen der Subjekte determiniert: - Die Position der Königin, die durch den Raub der Letter nach einer Zeit des Zögerns doch in das Tauschsystem eintritt, in dem sie die Position haben wird, die Letter nie gehabt zu haben. - Die Position des Ministers, der allzu hastig dem Trug der Inbesitznahme anheimfällt und daraufhin die gefährliche Seite, das Gift der Gabe, zu spüren bekommt. - Oder die Position des Königs, der die Existenz der Letter verleugnet bzw. seinem Wunsch aufsitzt, sie möge nie in Bewegung geraten sein. Diese und andere Verschiebungen werden durch den jeweiligen Ort der Letter bestimmt. Die Verschiebungen, der Tausch, muß allerdings eröffnet werden. Im Seminar beginnt er mit dem Diebstahl der Letter. Die Frage nach dem Urheber der Letter bzw. dem ersten Geber der Gabe ist aufgeworfen. Lacans Seminar übergeht die Frage nach dem Ort vor der Geschichte. Derrida - an dessen Gabenbegriff ich mich im dritten Teil versuchen will - macht ihn in aller Ausführlichkeit geltend. Der Letter/Gabe wird er damit eine gänzlich andere Wendung geben. Bei Lacan ereignet sich die Geschichte, die er zur Grundlage seines Gabentausches macht, bereits auf der Szene, auf der man sie öffentlich wie per Selbstwahrnehmung vorfindet. Zwar gibt es auch eine Art Herkunft des Briefes, eine Art von Anfang, der vor dem liegt, was beginnt. Die erste Letter-Gabe, die den Tauschprozeß in Bewegung versetzt, trägt noch verschwommen Siegel und Schriftzug des darüber hinaus unkenntlich bleibenden Absenders. Das Sprechen bewegt sich, heißt es in der "Rede von Rom", innerhalb einer angenommenen Gesamtheit von homologen Elementen, und die Besonderheit des Sprechens ist an die Existenz dieser Gesamtheit gebunden, und zwar vor jeder möglichen Bindung an eine besondere Subjekterfahrung. 6 In diesem Sinne, als Reduktion der Sprache auf formalisierbare Oppositionen, die schon Freud in dem berühmten Kinderspiel (fort - da) dargestellt hat, das den Eintritt des kleinen Subjekts in das symbolische Tauschsystem vorbereitet, kann ein Anfang vor dem Sprechen des Subjekts vielleicht angenommen werden. Darüber hinaus erschöpft das Sprechen seinen Sinn in dem Akt der Erzeugung selbst und bezieht den Ursprung seiner Geschichte aus der Gegenwart selbst.7 Sprechen hat kein davor - heißt es auch - , es hat die ganze Zeit und bezieht den Anfang aus der Gegenwart selbst. Dergestalt sieht die Bedeutung des Diebstahls der Letter in Lacans Poe-Seminar aus. Die Gegenwart, in der es beginnt, die Szene, mit der in die historische Subjektivität eingeführt wird, ist darum doch nicht unbelastet. Zwar ist der Anfang (im wesentlichen) ausgelassen, dennoch zeigt er durch die gegenwärtige Letter seine Wirkungen. Der Letter sind Züge des ausgelassenen Anfangs eingeschrieben: Der Brief führt sie als Diebesgut mit sich. Im Weiteren bestehen sie darin, Ärgernis, Vergehen, Entfremdung, Schuld und Aggressivität in den Intersubjektivitätsaustausch einzuführen.

6

Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin 1986, 115.

7

Ebd., 111.

in Schriften 1,

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2.1 Das Ärgernis und die Gefährlichkeit liegen am Ding, an der Letter selbst. Denn die Letter verteilt nicht nur die sexuellen Subjektpositionen, sie verpflichtet die Empfänger auch auf einen Pakt, den symbolischen Tauschvertrag, in den sie mit Erhalt der Gabe freiwillig-obligatorisch eingebunden sind. Mauss beschrieb die Annahme der ersten Gabe als ein paradoxes "fait accompli". Denn im Grunde genommen hat der Empfänger nicht die Wahl, die Gabe abzulehnen, das Tauschsystem würde zusammenbrechen. Und dennoch ist für den Geber der Eröffnungsgabe der Ausgang ungewiß. Zuweilen unternehmen es daher Häuptlinge, den Empfänger zu überreden, ihn zu betören und ihn zu verführen. In ähnlicher Weise zieht Freuds "ehernes Gesetz der Notwendigkeit" die Subjekte in seinen Bann und verpflichtet sie zu Verantwortung und Wiedergabe. Die Subjekte finden sich von nun an in einen Schuldzusammenhang gestellt.8 Verantwortung und Schuldgefühl haben die Wirkung, daß kein Subjekt je als Besitzer oder Letter auftreten, sich nur als passiver Inhaber, Depotinhaber begreifen kann,'der zur Weitergabe verpflichtet ist. Die Folgen der Nichtbeachtung dieses ungeschriebenen Gesetzes werden an der Figur des Ministers dargestellt. Denn ähnlich wie das hau bzw. mana den Gaben innewohnt, besitzt, wie gesagt, auch die Letter eine gefährliche Kraft. Im Poe-Seminar wird sie zunächst personal dargestellt: Der Minister ist es, der den Raub verübt. Und doch kann der Diebstahl der Letter nicht als sein persönliches Vergehen, seine moralische Schuld aufgefaßt werden, zumal es sich nur um eine Schuld handelt, die (monetär) nicht zu begleichen ist. Um nun die Schuld, die mit der Letter auftritt, nicht Seinsschuld, ontologische Schuld nennen zu müssen, empfiehlt es sich, dem Zusammenhang mit dem Freudschen Wiederholungszwang und dem Phänomen des Unbehagens, das Freud in der Kultur entdeckte, nachzugehen.

2.2 Wiederholungszwang Lacans Seminar läßt, wie gesagt, die Inszenierung eines Anfangs vor dem Sprechen aus. Es beginnt da, wo das Wort bereits da ist, bzw. wenn denn von Anfängen geredet werden soll, es beginnt mit der Rede vom Freudschen Wiederholungszwang und endet mit einer Realisierung desselben. Die dazwischen liegenden Verdopplungsfiguren zeigen das Unheimliche, die schreckenserregende Seite des Wiederholungszwanges an. Den Minister, der eine Verdopplung der Position der Königin darstellt, ereilt am Ende das Schicksal der Frau. Die Letter, deren er sicher zu sein glaubte, wird ihm geraubt und wird ihn ins Unglück stürzen; und auch Dupin ist Parteigänger der Dame und nimmt

8

Daß Schuld der beste Tauschwert ist, wußte auch Rabelais zu rühmen, der sich eine Welt, "in der es keine Gläubiger und Schuldner gäbe: eine Welt ohne Schuldigsein" nicht vorstellen mochte. Beziehungen, Austausch und Wechsel wären darin unmöglich, denn keines hätte Verbindungen gegen das andere, von dem es ja ebenfalls nicht empfange und Rabelais resümiert, aus einer solchen Welt wäre Glaube, Liebe und Hoffnung verbannt. (Edith Seifert, "Das topologische Opfer der Psychoanalyse", in Das Heilige, seine Spur in der Moderne, hg. v. Dietmar Kamper u. Christoph Wulf, Frankfurt a.M. 1987, 5 9 6 f.)

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gegen Ende die weibliche Position auf, weshalb er dann ebensowenig von der schrekkenserregenden Seite der Letter, dem Gift der Gabe, verschont bleibt. Der Wiederholungszwang, anders gesagt, Freuds Wahrheit der Insistenz der Signifikantenkette, stellt damit die zwei Pfeile des Bogens dar, in den Lacan seine Formel von der intersubjektiven Kommunikation spannt, die Formel von der Dominanz des Signifikanten über das Subjekt oder der unbewußten Determinierung. Der Wiederholungszwang ist die Ebene, die die Erzählung umklammert und die sie begrenzt. Von hier aus erfahren die Subjekte den Einschlag, den Raub, der sie subjektiv als Schuld, Wut, Gewalt und Gefühl des Unheimlichen trifft. Die Grenze des Seminars, wie die Grenze der Subjekte, repräsentiert somit Vergangenes in einer realen Form, 9 nicht in einer epischen Form, wie sie Derrida der Letter vorausstellt. "Die Letter erreicht ihren Bestimmungsort immer", weil das Subjekt in "jenem Epos, in dem es gegenwärtig von den Ursprüngen seiner Person berichtet, ein Ereignis erzählt", 10 und diese Umsetzung in Sprechen die Symptome zum Verschwinden bringt. "Der Sender erhält vom Empfanger seine Botschaft in umgekehrter Form wieder." Weil der Frage des Sprechens die eigene Antwort mitgegeben ist und weil die Vergangenheit sich in der Wiederholung in umgekehrter Form manifestiert." Darum wechselt die Letter im Grunde genommen ihren Ort nicht - darin "gewissen Fischen ähnlich, die beschwerliche Wanderungen unternehmen, um den Laich in bestimmten Gewässern weit entfernt von ihren sonstigen Aufenthalten abzulegen. Nach der Deutung vieler Biologen [haben sie so] nur die früheren Wohnstätten ihrer Art aufgesucht, die sie im Laufe der Zeit gegen andere vertauscht hatten". Wie das Beispiel, mit dem Freud Wiederholungszwang und Todestrieb vorbereitet, ausführt, taucht dabei das "caput mortuum", die tödliche, schreckensbringende Seite der Letter, als Signifikant auf, diese alte Heimat des Menschen, der nicht nur neurotische Männer mit Schrecken begeg12

nen. Schuld und Angst, Schrecken und Gewalt sind also Begleiter der Letter-Gabe. Sie treffen den, der den Pakt der Letter vergißt oder verdrängt. Der Fall des Ministers zeigt, daß die Letter das vergeßliche Subjekt ihrerseits nicht vergißt und daß die Gewalt, die ihr anhaftet, den, der sie unterschlagen will, "maté", matt und krank macht. Als Herkunft der Aggressivität der Letter haben wir bisher den Wiederholungszwang genannt. Eine zusätzliche Erklärung für den mit Schuld und Gewalt behafteten SprechGabentausch liefert aber auch Freuds Analyse des Unbehagens in der Kultur. Freuds Feststellung von Unbehagen und Angst der Individuen in der Kultur unterstreicht die Annahme, daß der Diebstahl der Letter, weil er Schuldempfindung auslöst, dennoch nicht einfach eine persönliche Tat der Selbsterhebung wäre. Freuds Analyse legt vielmehr nahe, daß es der Diskurs - die Letter selbst - ist, der Schuld erzeugt. " - Le dieu

9

Jacques Lacan, Funktion und Feld,

164.

10 Ebd., 93. 11 Ebd., 165. 12 Sigmund Freud, Das Unheimliche,

in Studien Ausgabe,

Bd. IV, Frankfurt a.M. 1970, 267.

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- le dieur - le dire. Um ein Nichts, das sagen, das macht Gott", schreibt Lacan in EncoreP Das moderne Subjekt partizipiert nicht mehr an der Gnade des Göttlichen, es ist selbst allmächtig, zum Gott geworden und von der Kehrseite seiner Vergöttlichung gleichwohl nicht verschont. Im Diskurs des Anderen, der die Stelle Gottes übernommen hat, teilt sie sich ihm mit als Schuld. Daß dabei die Letter selbst, wo sie ihren Bestimmungsort erreicht hat, wo Dupin sie aufgefunden und der Königin wiedergibt, nicht alle Spuren von Aggressivität und Schuld verloren hat, führt die Rolle Dupins vor, dem sich die Wahrheit des zirkulierenden Mangelsignifikanten ins Sein eingeschrieben hat. Selbst für Dupin, den Analytiker, der das größte Gespür für die Beschaffenheit der spezifischen Letter-Gabe des Unbewußten hat, geht der intersubjektive Sprechgabentausch nicht auf. Zwar hat ihm der Tauschhandel mit dem Polizeipräfekten eine beträchtliche Summe an Geld in die Hand gegeben. Doch scheint die Gegengabe als Äquivalent nicht tauglich, denn der Tausch hat dem Kreislauf der Schuld kein Ende bereitet. Dupin befindet sich plötzlich selbst in einem Zustand der Aggressivität. Und es erweist sich, daß die Gabe an den Exzeß gebunden war, daß sie ein Supplement hatte. In einer leidenschaftlichen Explosion begleicht Dupin eine alte Rechnung, stillt er einen alten Groll, ohne Not und erbarmungslos, daß es ein Schandfleck ist.14 Seine Rachegelüste stammen aus früheren Zeiten, verweisen auf eine alte politische Geschichte, eine Geschichte von der symbolischen Ebene also. Am Ende geht das libidinöse Tauschgeschäft nicht auf. Zurück bleibt ein Rest - ein Rest an Aggressivität.

3. Derridas Kritik an der Gabe15 Derrida bricht, wie er selbst sagt, mit der Tradition, die Gabe und Schuld, Gabe und Wiedergabe, Gabe und Anleihe in ein und denselben Zusammenhang stellt. Allem voran kritisiert er Mauss: So sehr dessen Wahrnehmung des Gabenprozesses zu würdigen sei, so sehr anzuerkennen sei, daß Mauss den Gabentausch von der "kalten ökonomischen Rationalität" abgehoben und Symbolsysteme beschrieben habe, die sich nicht durch das Nützlichkeitskalkül bändigen lassen, so wenig sei die Verknüpfung von Gabe und Leihgabe mit Blick auf die Wiedergabe zu akzeptieren. Ihre Verbindung annuliert für Derrida die Gabe. Gabe, wenn es sie gebe, sei von exzessiver Natur und fange erst an, wo für Mauss der Wahnsinn des Potlatsch ausbricht. Gemäßigte Gabe, wie sie Mauss' Ethik der Freigiebigkeit zum Vorschlag bringt, oder auch die an einem Äquivalenzmaßstab orientierte Gabe der libidinösen Ökonomie, ist nicht Gabe im Sinne von Derrida. (Gabe kann nicht

13 Jacques Lacan, Encore, Das Seminar Buch XX, Weinheim/Berlin 1986, 50. 14 J. Lacan, Der Entwendete Brief, in Schriften, Bd. I, Weinheim/Berlin 1986, 37. 15 Der folgende Teil stellt einen ersten Versuch der Auseinandersetzung mit Derrida dar. Die Komplexität seines Denkens ist dabei mit Sicherheit nicht voll erfaßt worden. Vgl. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993.

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ausschließlich innerhalb des Tauschsystems sein.) Mit seiner Auffassung der Gabe innerhalb des Tauschsystems hat - Derrida zufolge - Mauss nicht unwesentlichen Einfluß auf die Psychoanalyse ausgeübt. Die "rationalistische Geste", mit der Mauss behauptet, daß Gabe wie alle sozialen Phänomene der Sprache assimilierbar sei, findet sich insbesondere in der Lacanschen These vom Unbewußten wieder, derzufolge das Unbewußte strukturiert ist. Um diesen Zusammenhang wird es im folgenden gehen müssen. Erinnern wir uns, daß in der psychoanalytischen Gabenkonzeption die Sprech-Gabe Gewalt freisetzt, weil der Tausch, der die Subjekte zur Gegengabe verpflichtet, durch Schuld, das ist Gewalt, organisiert wird. Diese Gewalt und ihre Folge, die Inbesitznahme des anderen will Derrida durchbrechen und an ihre Stelle eine Ethik setzen, die in der Gewalt selbst ihren Ort hat. Ohne das Bestehen von Tauschsystemen zu bestreiten oder anzunehmen, dem durch Schuld funktionierenden Kreislauf wäre ganz zu entkommen, unternimmt es Derrida, den Diskurs auf die Dissemination hin zu öffnen, an seine Grenzen zu stoßen. Anders gesagt: Die Differenz, die der phallische Signifikant, die Letter des Entwendeten Briefes für Lacan mit sich führte und aufgrund derer die Subjekte immer ein Pfand schuldig bleiben, wird beglichen. Die Differenz ist bezahlt. Mit beglichener, bezahlter Differenz lenkt Derrida den Blick aus dem Tauschsystem hinaus und konstruiert die Gabe außerhalb der sie einschränkenden Tauschökonomie, konstruiert er die AnÖkonomie der Gabe! Der geschlossenen Kreis der Tauschrationalität ist durch die Gabe, die sich rückhaltlos und rückkehrlos verausgaben kann, auf konstruktive Weise gefährdet: Nichts kommt mehr zum Vater zurück. Ausschlaggebend für diese Neukonstruktion der Gabe sind deren Anfangsgründe. Während Derrida den phallischen Signifikanten (oder die Letter) als transzendental Gegebenes bereits an anderer Stelle demontierte, ihn als Phänomen zwar für historisch durchaus relevant erachtete, in der Verallgemeinerung aber für ideologisch bedenklich bewertete, will er nun der gewaltbringenden Letter ganz entkommen und ihren Folgeerscheinungen von vornherein die aggressive Spitze nehmen. Aus diesem Grund verlegt Derrida den Beginn der Gabe, und auch den des Entwendeten Briefes. Er verlegt ihn in die Erzählung: Die Voraussetzungen des Sprechens über Sprache verweisen nämlich für Derrida - auf einen allgemeinen Text jenseits der linguistischen und logozentrischen Geschlossenheit. Dieser allgemeine Text stelle die Verbindung zwischen der Gabe und der inneren Notwendigkeit der Erzählung (dem poetischen Simulacrum) dar. Gabe gibt es, so heißt es, nach dem Text - nach diesem System von Schriftspuren. Mit der Textspur beginnen, erweise sich von Vorteil. Aber nicht, weil die Schrift freigebiger als der Buchstabe wäre, sondern weil in der Schrift etwas gegeben würde, das dem bewußten und unbewußten Kalkül entgehe.16 Der Text gibt auf die Gabe der Liebe die einzige Gegengabe, die ihren Namen verdient, den Tod ("welche Gabe nicht als Gabe annuliert, nicht in den Zirkel von Tausch und Wechsel zieht, sondern in ihrer Unmöglichkeit bestehen läßt. Der Tod ist das Nichtwiedergutzumachende").17

16 Jacques Derrida, Falschgeld,

134.

17 Michael Wetzel, "Liebesgaben. Streifzüge des literarischen Eros", in Ethik der Gabe, 245 f.

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Edith Seifert

Derridas Gegenmodell auch des Entwendeten Briefes nimmt seinen Ausgang bei der unmöglichen Gabe, dem Todes-Rest. Nehmen wir Beispiele, wie sie in der Poeschen Novelle aufzufinden sind:18 Bei der Poeschen Erzählung erscheint der Rest als Rest des väterlichen Erbes, das Dupin durch das Entgegenkommen seiner Gläubiger zurückbehalten und zu einer Rente kapitalisieren konnte, die ihn in die Lage versetzt, bei eingeschränkter Ökonomie, doch gelegentlichem Exzeß, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Er taucht auf in Form des Zuschusses, den Dupin von dem Erzähler, seinem Freund, zur Miete ihres gemeinsam bewohnten Hauses erhält. Und er erscheint im Symbol des geschlossenen Bundes zwischen Dupin und seinem Freund, dem Erzähler, als Symbol der verausgabenden Vergeudung an sich. In der Erzählung, aus der Derrida sein Gegenmodell der Gabe entwickelt, in Baudelaires Das falsche Geldstück - aber auch in der Poeschen Novelle - wird der Rest durch den Tabak dargestellt. Tabak als Rest bestimmt in beiden Fällen die spezifische Atmosphäre der Erzählungen. Vor allem Anfang, d.h. vor jeder diskursiven Realität, vor dem ersten Wort und der ersten Szene19 vernebeln Tabakschwaden die eingeschränkte Tauschökonomie, ist Tabak eine Gabe vom Schauplatz der Schrift. Sie ist weder natürlich noch artifiziell, weder ursprünglich noch authentisch. Poes Erzählung schildert in der Tat, wie sich Dupin und der Erzähler vor dem Beginn der Ereignisse (mit dem Lacan dann einsetzt), dem Genuß einer Meerschaumpfeife hingeben und in meditative Betrachtungen angesichts der den Raum einhüllenden Schwaden geraten. Tabak als Rest hat, derridistisch gesehen, auch die erwünschte Konsequenz, nach seiner Vernichtung einen Rest hervorzubringen, die Asche, deren neuerliche Vernichtung den Pakt des Symbolischen (Bund zwischen den Freunden) unentscheidbar macht, selbst wenn er daran noch erinnern sollte. Auf diese Asche der Unentscheidbarkeit kommt es in der Umformulierung der Gabe durch Derrida an. Anders die Letter in Lacans Version des Entwendeten Briefes. Für Derrida stellt sie eine Theorie der Letter als Platz des Mangels an seinem Platz dar und begründet auf diese Weise einen Diskurs über die Wahrheit des Entwendeten Briefes, die sich als Wahrheit der Kastration buchstäblich entpuppt. - Denn die Letter in Lacans Wahrheitstheorem hat einen Ort und einen eigenen Sinn, der Bedingung, Ursprung und Ziel ihrer Zirkulation sei.20 Doch die Umwege der Letter sprechen nur von einem durch und durch geregelten Tauschsystem: Die Letter kommt immer an! - Weil sie, so Derrida, einen eigenen Ort hat, den Ort, wo sie sich von dem unkenntlich bleibenden Absender ablöst und zum Ort der Anbindung, der weibliche Züge trägt, findet. Die Behauptung, wonach die Letter ihr Ziel immer erreicht, stelle darum nichts anderes als eine Wiederaneignung (und Readaequatio der Wahrheit) dar. In der Konsequenz kann die Letter darum weder verloren gehen, noch kann sie durch Teilung zerstört werden. Die Letter wird bewahrt sie bleibt, im Unbewußten - in der Verdrängung, in der Nichts vom Drängen der Buchstaben verloren geht, erhalten.

18 Vgl. Jacques Derrida, "Le facteur de la vérité", in La carte postale, 19 Jacques Derrida, Falschgeld,

147.

20 Jacques Derrida, "Le facteur de la vérité", 465.

Paris 1980.

Gabe - Wiedergabe - Herausgabe

241

Diese besondere Materialität der Letter - ihre Unteilbarkeit - trägt ihrerseits dazu bei, daß sie unbeweglich ist. Anders als die Schrift, Schriftstücke, die davonfliegen, ist der Signifikant durch das Wort, das bleibt, bestimmt. 21 Er entgeht der Teilung, weil er die Gefahr der Zirkulation vermeidet, bei der er riskieren würde, zerstört, zerrissen oder geteilt zu werden. Ein anderes Ergebnis würde sich einstellen, wenn Lacan der Schrift vor dem Buchstaben (z.B. dem Textrahmen) Geltung schenken würde. Soweit Derrida. Doch Lacan vernachlässigt das geschriebene Wort, wie er auch in seiner Interpretation des Entwendeten Briefes den Textrahmen neutralisiert und den Erzähler als Mittler funktionalisiert. Lacans intersubjektiver Letter-Gabentausch nimmt seinen Anfang erst da, wo er unter dem Schutz des Buchstabens steht, und der Mangel folglich künstlich bewahrt und idealisiert wird. So gesehen mag zwar das Ding von sich selbst sprechen und sagen: "moi la vérité, je parle", doch es hört und schreibt sich nicht selbst - wie die Buchstaben Derridas, die zur "Schrift der Potenz" aggregieren und "die Spur, diese Schrift ohne Anwesenheit und Abwesenheit, ohne Geschichte, ohne Ursache, ohne Gesetz, ohne Ziel" schreiben. - Die das Ereignis einer Materie oder die Schreibtafel, der Wunderblock, schlechthin sind.22 Von da ausgehend kann Gabe gegeben werden, ohne darin gefangen zu bleiben, d.h. ohne die ihr anhaftende Schuld weiterzugeben. 23

5. Differenzen Die Ethik der Gabe von Derrida und das psychoanalytische Intersubjektivitätsmodell weisen Gemeinsamkeiten auf. Beiden Modellen ist eine grundlegende Unentscheidbarkeit eingeschrieben. Und doch soll die anökonomische Gabe, die außerhalb der schuldhaft gewaltsamen Zirkulation der libidinösen Ökonomie gegeben wird - die nicht mehr als Gegebenes wahrgenommen und identifiziert, geschweige denn als solches erinnert wird - wie R. Major postuliert, die Autonomie der Psyche übersteigen. Die Derridistische Gabe ist disseminiert, zerteilt, und bewegt sich jenseits der Differenz, auf der die psychische Realität unumstößlich aufbaut. Die Derridistische Gaben-Spur muß folglich nicht ankommen, sie kann und soll es nicht. Die Letter-Gabe der Psychoanalyse, die ihren Namen vielleicht zu Unrecht trägt schließlich muß wahrnehmbar bleiben, daß etwas gegeben wird, was sich dem Haben entzieht - , diese Gabe kommt an und zwar immer, sagt Lacan im Schlußwort des Entwendeten Briefes vernehmlich.

21 Jacques Lacan, Der Entwendete Brief, 26. 22 Giorgio Agamben, "Pardes - Die Schrift der Potenz", in Ethik der Gabe, 15. 23 Ebd., 17.

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Edith Seifert

6. Ewiger rächender Haß oder gedächtnisloser und doch dem Leben verbundener Tod. Schuldhaft-gewaltsamer oder schuldloser, zu nichts verpflichtender Austausch. Die unterschiedlichen Auffassungen über die Bedingungen des Gabentausches haben nicht nur theoretischen Charakter. Gibt es Kontinuität ohne die Begleiterscheinung der Pflicht zur Herausgabe, ohne die Erfahrung des traumatisierenden Bruchs? Oder ist nicht vielleicht doch ein zwar nicht besseres, wohl aber unentschieden-unentscheidbares Ereignis davor denkbar? Seine Möglichkeit würde eine andere Lebenswirklichkeit versprechen und zu anderem Handeln anleiten, in dem die Gewalt apriori verabschiedet wäre. Theoretisch war dem auf gewalttragender Differenz beruhenden Modell der Psychoanalyse schon vor Jahren die Wirksamkeit abgesprochen worden. Zwar weniger, weil inzwischen gewaltlose Verhältnisse eingetreten wären, als vielmehr aus der Einsicht heraus, daß die symbolische Weitergabe des Bruchs nicht mehr gelingt. Die Diagnose ist deprimierend, aber wohl zutreffend. Eine kleine, fast nebensächliche Episode aus der Hochburg des Symbolischen, dem psychoanalytischen Milieu, bestätigt unabsichtlich ihre Triftigkeit. Meinen Text über den libidinösen Gabentausch hat sie jedenfalls unerwarteterweise in ein psychoanalytisches Anschauungsstück verwandelt, und es sieht tatsächlich so aus, als ob auch Lacansche Psychoanalytiker, die das Symbolische (die Weitergabe des Bruchs) ja auf ihre Fahne geschrieben haben, ihre Parolen doch eher mit dem Munde sprechen als sich zu eigen gemacht hätten. Im Sommer 1994 habe ich auf einer Tagung zum Thema "Transmission in der Psychoanalyse" obigen Text vorgetragen. Gleichsam als illustrierende Gegenthese geschah es, daß die mir zugesagte Gegengabe, sprich Honorarzahlung, trotz Zusage nicht angemessen gewährt wurde, weil Fremdgaben, nicht wie erwartet eingetroffen waren. Dem Gebot des symbolischen Gabentausches entsprechend, der, wie gezeigt, als Axiom psychoanalytischer Theorie und Praxis gilt, wären die veranstaltenden Psychoanalytiker dabei aufgefordert gewesen, die bereits angenommene Gabe (Vortrag) zu erwidern und - so sollte man meinen - , der Theorie des Symbolischen die Tat folgen zu lassen und sei es durch Griff in die eigene Tasche einmal Herausgabe zu praktizieren. Dazu war niemand in der Lage, auf diese enteignende Aneignung von Theorie verfiel keiner, wie auch nur zwei bis drei unter den vielen, die von diesem Abbruch symbolischer Beziehungen im Analytikermilieu erfuhren, den Skandal daran überhaupt bemerkenswert fanden. Es steht schlecht um die Psychoanalyse, und vielleicht hat sie schon ausgespielt. Ob damit allerdings das Versprechen der anökonomischen Gabe Recht behält, muß dennoch dahingestellt bleiben.

Rudolf Heinz

Rund um die Uhr Gedanken zu Kontinuität und Bruch in Schlafen, Träumen sowie Wachen*

Wo der Übergang in einem irreparablen Bruch endet, wo der Übergang unaufhörlich kontinuiert zugleich? Im Transit des traumlosen Schlafs in den Tod sowie - dasselbe am anderen Ende - des Wachens in das Wachen-Wachen, die "unsterbliche Seele". Coi'ncidentia oppositorum der vollbrachten Absolutheit des Tiefschlafs als Tod mit der des Wachens als "Unsterblichkeit". Alle Kontinuitätsbrüche dazwischen sind bloße Unterbrechungen eines in sich distinkten, in diesem Sinne stetigen, Geschehens, es sei denn - so ja der Kriegs- und Krankheitsfall - die Unterbrechungen wären doch fast wie der peremptorische Todesbruch, und die Distinktheit fast wie die immerwährende Kontinuität, der "Un-Tod", unmöglich nicht minder. Wenn aber nun, und sei es, aufgehalten, bloß martialisch und pathologisch, der doppelte selbe Jenseitsübergriff auf das Diesseitsinterim nimmer ausbleibt, dann ist diese Zwischensphäre, das Weltverhältnis, gezwungen, vergeblich erfolgreich sich gründend in sich selbst hineinzutreiben, um grundlos zu sterben oder zu leben; zu leben und zu sterben; zulebenzusterben zu Und die anscheinend harmloseren Übergänge je dazwischen, die gleichwohl gefährdeten, verkommensanfälligen? Notorisch die des Einschlafens und Erwachens, einschließlich der nämlichen Transitorik innerhalb des Schlafs selbst: Erwachen des Schlafs in den Traum hinein sowie Einschlafen des Traums in den Schlaf zurück (und dies regulär drei bis fünfmal des Nachts: sich öffnende Schließung, wiederum geöffnet). "Der Mensch rührt in der Nacht ein Licht an. Lebend rührt er im Schlaf an den Toten." (Heraklit, Fragment 26) Krisis des Übergangs allemal, weil immer auch erzwungen; Übergang, der sich in einer Art soteriologischen Schmach wider die unaufhaltbare Selbstreferenz des vorausgehenden Zustands aufhaltend um des folgenden willen durchzusetzen genötigt ist. So als wäre das Begehren des Gottes - der normalgrammatisch verbotene genitivus absolutus - mitsamt dessen Ablaß als Schöpfung ubiquitär; und als wäre die Rettung der Absolutheit durch den Abfall der Opferalterität von Welt um dieser Rettung willen dementiert; und als Dementi - Krieg und Krankheit - zwingend real.

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Die vorbereitenden Grundgedanken zu den folgenden Skizzen enthält: Somnium novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie, Vol. I, Wien 1994.

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Rudolf Heinz

Übergänge? Jedenfalls in Richtung des Einschlafens sind sie keine, sofern die Selbstempirie des Zustands, in den hinein übergegangen wird, ja fehlt. Kein Übergang demnach, ein Abbrechen, Aufhören vielmehr, das sich als solches aber ebensowenig selbsterfährt. Wie also angemessen benennen? Verlöschen, Verglühen? Auch diese Worte bleiben mehr als ungenau. Angenäherter wohl das Übergehen wie in: "Die Augen gingen ihm über": Über-Sehen, selbstbezügliche Hypervisualität, entropisch. Doch diese ist immer noch zu schwach, nämlich sensorisch partiell, um die thematischen Übergänge in ihrer Übergängigkeit zwischen den unmöglichen Übergangsextremen und -grenzen im ganzen zu reproduzieren. Übergang demnach, der - in der anderen Bedeutung von Übergang - übergangen ist; übergehendes Übergehen. Und in der umgekehrten Richtung des Erwachens? Fehlt hier gleicherweise die Selbstempirie des Zustands, aus dem heraus in den folgenden übergegangen wird. Dieser folgende nimmt sich wie ein Einschlag aus, ein ur-plötzliches "Da", Dasein, rätselhaft endlich und unbegrenzt, so als stelle sich der Gesichtskreis und motil auch - Wahrnehmung und Bewegung - die Kugeloberfläche selbst als solche darin dar. Ausnahme dieser cogito-Expansion und -kontraktion des Erwachens: der unforcierte Übergang vom letzten Traum ins Wachen hinein, insofern dieser ja im Repräsentationsverhältnis übergängig, dieses bloß modifizierend, bleibt? Nein - das Erwachen ins Wachen hinein geht just, überaus verkürzt indessen, über den Abgrund des Rückschlags der Todesentropie des Schlafrückfalls vonstatten; welcher pointierte Krisisvorgang sich durchweg zuvor selbstträumt auch; so daß diese Sonderart des Erwachens die Konzentration des "Daseins" zumal erheischt; und die besondere, nicht mehr verfolgbare Eile liegt daran, daß es brandeilig ist und sich die Zeit verkürzen muß, weil sonst der Tod einträte. Kontinuität mit Diskretheitslöchern, die als solche indessen schlechterdings unerfahrbar sind? Nein, im Letzten immer Doppelanzug und -abprall durch und vom DoppelNichts, der doppelten Todeswand, und dazwischen dasselbe im Letzten nicht bis zum Letzten (und im Letzten dann bis zum Letzten, letztlich, nicht). Immer das übergehende Übergehen, ohne Gewähr. Inbegrifflich dies das Gedächtnis: im Abprall der Hochrißreflux von Welt; dessen haltende Begleitung; wie notwendig verkannt zu dessen Kreation; mitschwindend zu dessen Erhalt zumal und nicht. Nachts aber bleibt das Gedächtnis rein bei sich selbst; memorialer Selbstbezug Selbstkundgabe Traum. Schliefe man nicht weg (bis in den Tod), wachte man nicht auf (bis in die "Unsterblichkeit"), so wäre es dem unmäßigen Gedächtnis in seiner nächtlichen Selbstheimischkeit gelungen, nicht nur der Obergnostiker von Welt, der Demiurg vielmehr zu sein. Unglücklicherweise zum Glück gelingt es ihm nicht; gelingt es ihm nur martialisch und pathologisch. Indessen Exkurs für die Sekte der Logiker. - Gottesfahnder sind sie, immer im Sinne des untersagten genitivus absolutus; Doppelagenten im Auftrag des Gottes, beauftragt gegen denselben, nichts (nichts!) als hinter der Kontradiktion her, doppelt immer zurecht und zuunrecht in einem. Zurecht, weil die weltliche Prätention des schieren Widerspruchs in doppelter Rücksicht zerstört: die Körper wie die Dinge - Krankheit und Krieg. Zuunrecht, denn beide Destruktionen einzig motivieren dasselbe, die Epikalypse der Pro-

Rund um die Uhr

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duktion, abgedeckt in ihrer nämlichen Widersprüchlichkeit. Also hütet man die ordentlichen Kontraritäten, die übergangenen Übergänge, wider die Kontradiktion, und dient auf solche willkommenste polizeiliche Weise dem zugleich gejagten Gotte, der Urkontradiktion der Absolutheit, als immer gerechterweise gejagter Jäger. Gebührend weit weg auch vom Abgrund der Schaffung, Erzengelwache Produktions-epoche, Assekuranz rein des Gebrauchs, und an diesem Orte vom Dauerfrohlocken erfüllt, daß selbst diese meine indolente gnostische Rede, ja, auf den Satz vom Widerspruch angewiesen ist, um überhaupt gesprochen werden zu können und vernehmlich zu sein. In der Tat, man hört es doch! Eben: auch wir sind fromm, wenngleich wir die Frömmigkeit zu ihrer Selbstaufklärung verbrauchen, was zumal dann den Zorn unserer feindlichen Brüder der Logik erregt. Warum wir solches tun? Der hypermagischen Logiküberbietung wegen? Ja, aber nein Spricht denn nicht alles dafür, der Koinzidenz von absolutem Bruch und absoluter Kontinuität, dem Tod und der "Unsterblichkeit", diesen zusammenbezogenen Jenseitigkeiten des Tiefschlafs und des Wachens, das Selbstsein derselben selbst, die ewige Selbsterfahrung der Absolutheit, dieser Urkontradiktion, attribuieren zu müssen? Denn was wäre ein Gott, der nicht zumal rein auch für sich als dieser existierte? Nein - der Gottesbeweis mißrät am Umstand, daß just die isolierte Absolutheit, dieser göttliche Pleonasmus, sich selbst zerstörte, wenn sie den Schein des Abfalls der Schöpfung als des Selbstopfers als des Opferstoffs für sich selbst nicht ausfällte, je schon ausgefällt hätte. Womit der Beweisgedanke nirgendwo anders als beim Menschen mitsamt seiner unabweislichen Selbstüberbietung zum "unmenschlichen Geschlecht", einschließlich des ganzen Wissens dessen, (wieder)angekommen wäre. Kosmos atheos, und eben deshalb des Gottes voll. Nicht aber hieße solche Nicht-Reduktion des Gottes auf den Menschen schon mit, daß es statthaft wäre, Sein/Existenz exklusiv dem übergangenen Übergang, der Welthabe bloß im Zwischen von Traum und Wachen, ja nur dem Wachen, vorzubehalten; was ja nichts anderes wäre, als die altneue Jagd der Kontradiktion im Extrem aufzunehmen, an welchem Verfolg die monierte Seinsausweitung freilich teilhat, wie gehabt, und memorial insbesondere. Welthabe? Es hat einen mehr, als daß man hat. Da im Traum sich das Repräsentationsvermögen memorial rein auf sich selbst bezieht, kann es sich die selbstreferentiell vorerst gedeckte Dramatik herausnehmen, das Spiel von Bruch und Kontinuität bis zum bitteren Wunschende des Tiefschlafs und/oder des Erwachens auf die Spitze zu treiben: also wie unerschöpflich in-sich-reflexiv ("fraktal", sagt man heutzutage) übergehendes Übergehen zu manifestieren. So die mimesis von Tod = "Unsterblichkeit" mitten im nächtlichen Leben, dem Traum, bestens bezeichnet mit "Verdichtung" und "Verschiebung", mit welchen mundanen Gottesminiaturen die "Traumarbeit" folgerichtig auskommt. Zusammengenommen: der Aufschub (differance), Weltschöpfung memorial apo-kalyptisch, davor und danach, davordanach. Jedenfalls ist es entschieden zu wenig, traumhermeneutisch die obligaten zwei Isolate zu bilden: den/einen aus seinem generischen Kontext herausgebrochenen Gehalt einerseits und das ebenso entstehende Subjekt andererseits, und beide dann psychistisch-moralistisch aufeinander zu beziehen: immer-

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dar der Standpunkt der hypostasierten Konsumtion zu deren, die Epikalypse des gesamten Existenzprozesses bedeckthaltenden abschließenden repressiven, Bestätigung - "das also war es / das also bin ich". Als ob es nichts anderes als diese einzige Dummheit, die Pseudologie des satten Nur-Kontinuums, gäbe. Das bedrängendste Theoriedesiderat aber, es ist das Wachen, der Tag. Jedenfalls verliefe das Erwachen in dieses Wachen hinein tödlich, wenn sich dem drohenden WachenWachen (der unaufhörlichen Vigilanz, der absoluten Kontinuität, der "unsterblichen Seele") nicht auf der Stelle, wie einfangend, rückbindend, limitierend, die Realie der Weltausfällung beigäbe; Welt, Menschwelt, Kultur, im Zustand der Umhüllung, Verdeckung (Epikalypse), des Tautologiestatus derselben - alles ist nur, was es ist, und sonst nichts. So das Initial des ordentlichen Repräsentationsverhältnisses, in dem sich der Tiefschlaf als Dinglichkeit unmöglicherweise gleichwohl re-präsentiert, verschoben, entstellt sich selbstdarstellt. Wie sich danach dann auch - im Sinne eines diesen Vorausgang ermöglichenden Danach - alle Vermittlung, mit ihrem Inbegriff Geld, als die ebenso qualifizierte - gelingend mißlingende - Re-präsentation des träumenden Schlafs realisiert. Bruch des Seelenkontinuums an der Todeswand der Dinge, den Tiefschlafrevenants. Todeswand, die sich im Tag-Traum der Kulturarbeit re-kontinuierend erschließt; bis zum Wiedereinschlafen bis. Des Nachts im Tiefschlaf aber nähren sich die Dinge von den Körpern; und tagsüber, umgekehrt, die Körper von den Dingen; und je dazwischen reserviert sich der rettende Mehrwert, das Gedächtnis dieses Metabolismus; Mehrwert, der sich selbst wiederum den Mehrwert des Nichtaufgangs in ihm selbst, der memorialen Repräsentation, reservieren muß, damit es nicht doch passiere, daß nichts sei, und nicht nicht vielmehr nichts. Womit auch der durchaus befremdliche Umstand, daß nur ein Bruchteil des Träumens erinnert wird, des Nachts hierin retrograde Amnesie herrscht, einer Erklärung zugeführt werden könnte. Was ist ein Traum, der als solcher nicht erinnerbar ist, in dem das Dabeisein ausfallt? Eine sich selbst Lügen strafende Repräsentationstätigkeit, die nur von außen, durch Meßwerte, sich indiziert? Gewiß kommen solche sich memorial nicht sättigende Überhänge der Motivik der auf Dinge versierten prothetischen Körper- und Naturausschöpfung, der Kulturkreation wie direkt irgend zugute. Wie anders auch der Erinnerungsauffang des träumenden Gedächtnisaufschlusses sich zugunsten der Vermittlungsstabilität nicht weniger rechnet (theoretisch unerfindlich noch, wie genau). Und wenn man sogleich mitbedenkt, daß beide nicht voneinander isolierbar sind, werden sich dingliche Rechnung und mediale Gegenrechnung, zusammen als Kulturarbeit, gewiß auch immer irgend ausgleichen. Und rücksichtslos, Krankheit und Krieg, Tod und Apokalypse einschließend, sind diese Großalgorithmen allemal. Wenn denn nun der nicht erinnerbare Traum wie zwischen dem Tiefschlaf und dem erinnerbaren Traum - funktional darauf aus, das memoriale Surplus zu kassieren plaziert ist, so stellt er die Basis der repräsentativen Welthabe, selbstverlustig sich -gewinnend, zur Verfügung: Mathematik/Naturwissenschaft. Welchen man diese Provenienz durchaus noch ansehen kann: sie sind, im nachhinein, wie die einzigen Hüter des

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Schlafs der Dinge, immer um deren - freilich nachkommend vorausgehenden - Verwendbarkeit willen. Doppelt paradoxer, weil nicht erinnerbarer, Schlaf als Traum: Dinge, die sich dinglich in sich halten und sich dinglich aufeinander beziehen. Oft auch re-präsentiert sich dieses fundamentale Zwischen an den beiden Enden des Traums: als Phantasos, nach O vid der Traumgott der Dinge. Fundamentales Zwischen Mathematik als Phantasma des letzten Halts der Epikalypse: Traum, der als Traum selbst in sich verschlossen bleibt, in Gänze dann außen vor(außen vor) - so das ganze Erfolgsmysterium dieses einzig "objektivitätsgenerativen" Vorübergangs Mathematik (abermals ja selbstbezüglich), die (on dit) allexkulpierende Spitzenwirksamkeit des strikte verborgenen Gottes, produktiv-schizophren der konsumtiv-paranoischen Logik durchaus überlegen. Einzig auch, den nicht erinnerbaren Traum, diese Paradoxie der Paradoxie, betreffend, ist die neurophysiologische Exteriorität der Schwäche des cogito, als das Dabeisein selbst eben doch nicht dabei zu sein, voraus. Alle objektiven Zeichen sprechen für das Träumen, es wird aber nicht erinnert, es sei denn, man weckte den Träumer aus dem objektiv indizierten Traum auf. (Was heißt das? Fraglich bleibt auch, ob der Anschluß an die Meßgeräte bloß einer Gewöhnungsphase bedarf, nach der die nächtlichen Prozesse wieder wie natürlich verlaufen. Könnte diese artifizielle Situation nicht auch, jenachdem, die Kräfte der Opposition - die Traumerinnerung - oder der Adaptation - gerade die Nichterinnerung des Traums - auf den Plan rufen?) Jedenfalls bleiben im Tiefschlaf wie im erinnerbaren Traum Selbstwahrnehmung sowie deren Ausfall einerseits und deren gemessene Physiologie andererseits als Parallelgeschehen aufeinander beziehbar. Dadurch wird die einschlägige Ausnahme des nicht erinnerbaren Traums, eben als Parallelitätsbruch, zum Movens schlechthin, diese Lücke der Selbstempirie in deren eigener Domäne ersatzweise von außen zu füllen, ja mit den entsprechenden - entsprechenden? - wissenschaftlichen Pendants zu substituieren. Lückenbüßer Physiologie, wider den Bruch des Kontinuums des "psychophysischen Parallelismus". Wissenschaft basierend auf dem horror raptus (Lacan: "Die Wissenschaft näht das Subjekt"). Und dabei wird man nicht eben behaupten können, daß die Einsicht in diese Parallelität wissenschaftlich von der Außenseite her schon besonders fortgeschritten wäre - allein das Versprechen der gar "objektiven" Kontinuierung scheint zu genügen. Vielleicht auch wirkt der Maschinenanschluß indirekt therapeutisch, sofern die Meßapparate, als das dingliche Außenvor des Schlafs bis in die Paradoxie, schlafend nicht zu schlafen, also zu träumen, und wiederum träumend zu schlafen nur, also sich an das Träumen nicht zu erinnern, hinein, rückbezüglich die Körpervorgänge wenigstens ein wenig zu justieren vermöchten? Die hilfreiche Gottesepikalypse. Bruch der Kontinuität nicht minder (in selbstreferentieller, sich wie aus sich selbst heraus erzeugender Sensualität). Wiederum von der Schlüsselstellung des nicht erinnerbaren Traums her gesagt, enthält dieses Mathematikgenerativum in sich retrospektiv den Ton und prospektiv das Bild, Partitur und Bühnenbildentwurf, sozusagen; hält beider auseinanderfliehende diskriminative Entropie wie indifferent als volles Substrat der Repräsentation zusammen: lautlose Verlautungsexklusivität des Tiefschlafs, sich vor der

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ultimativ selbstbezüglichen Selbstvernichtung (sprechendes Ohr/hörender Mund) rettend in die lautende Stille in Un-sicht zerfallender Sichtgestalten des träumenden Schlafs hinein (Traumgott Morpheus, vom mittleren Traumgott Icelos/Phobetor immer angefochten), sich vor der ultimativ selbstbezüglichen Selbstvernichtung (sich sehen sehendes Auge) rettend in die lautlose Verlautungsexklusivität des Tiefschlafs zurück, dieser Übergang selbst. Im erinnerbaren Traum, der Re-präsentation dieses Übergangs, droht konsequenterweise immer der Wecker, die angriffig rettende Veräußerung des Tiefschlaf-Allklangs, der, wenn man ihn gewähren ließe, wenn man nicht aufwachte (und sei es nur in den Traum hinein), den Körper auffräße. Klangfraß (absoluter Geschmack), die unsterbliche immaterielle Seele dann am anderen Ende (absoluter Geruch). Im (erinnerbaren) Traum selbst aber ordnen sich, moderiert, der Ton (Geschmack) der Verdichtung und das Bild (Geruch) der Verschiebung zu bis Wider die männlich filiale Zentralperspektive nicht zuletzt auch des Schlafens, Träumens und Wachens verfängt zwar keine Positivität der entsprechend weiblichen Alternative(n), doch wird man immer damit rechnen müssen, daß die Alterität des anderen Geschlechts sich nicht nur auf der weiblichen Seite selbst als Übertreibungswesen von Indifferenz und Differenz spezifisch kundtut, auch daß sie diffundierend auf Mann in seinen Nachtund Taggeschäften übergreift. Weiblichkeit als motivierende Krisis der Männlichkeit, jedenfalls. Krisis, die davor schon in der Immanenz dieser Vorgänge als System der Inzestformen herrscht, freilich nimmer subjektiv, vielmehr strukturell. Kriterial darin wiederum die Version des Tiefschlafs in den nicht erinnerbaren Traum hinein: unvermeidlich vom Manne her dargetan, die Abwendung des Mutter-Sohn-Inzests (Konsumtion) in den Vater-Tochter-Inzest, die Grundlegung von Rationalität (Produktion). Und der erinnerbare Traum macht aus dem Eltern-Kind-Verhältnis inzestuös ein solches heterosexueller Geschwister (Aufzeichnung): der Aneignung des Ursprungs mittels der Simulation schon desselben, also reminiszent. Parallelismus der definierten Verwandtschaftsverhältnisse und der dimensional differenzierten Ökonomie. Erinnerbar, de facto erinnert, das ist aber nicht schon verständlich, verstanden. Verstehen, philosophisch basal, bezieht die erinnerungsvermittelte, selbst eo ipso selbstreferente Memorialität wiederum auf sich selbst dergestalt zurück, daß das ganze Seinsverhältnis seiner selbst zwar ansichtig wird, doch in dieser seiner ganzen Selbstansichtigkeit sich ebenso verlustig rettend vernachträglicht in das memoriale Repräsentationswesen lesbarer und zumal auszulegender Skripturalität. Schrift, Lektüre aber, die wiederum von sich abzulassen genötigt ist, denn sie avisiert - das Hauptavis - das Ende des Träumens. Sprechen im Tiefschlaf jedoch, dieser verbale Somnambulismus, ist der Inbegriff von Pathologie und Krieg: Tod als "Unsterblichkeit", Bruch als Kontinuität, der Einbruch des Gottes des Menschen, aufgeschoben (aufgeschoben, als Philosophie).

Personenregister

Aaron 53 Aber (Rabbi) 186 Abraham 87 f., 218 Abravanel, Isaac 97 f., 100 f. Abravanel, Judah (s. Leone Ebreo) Adam 56 Adler, Alfred 222 Adorno, Theodor W. 25, 37, 118, 134 Agamben, Giorgio 241 Aichelburg, Peter C. 111 Al-Ghasali 55 Altenhofen Norbert 151 f., 156, 158, 160 f. Anaxagoras 98 Andersen, Hans Christian 37 Arendt, Hannah 10, 32, 114, 141-149 Aristoteles 28 f., 74, 83, 109 Arkun, Mohammed 19 Aster, Paul 187 Augustinus 29, 74, 100 f. Baal Schern Tow 60, 153, 156, 158 Baatz, Ursula 172 Bacon, Francis 112, 166 Balke, Friedrich 105 Bar Kochba 76 Barth, Karl 62 Baruch (Rabbi) 75 Baudelaire, Charles 130, 240 Bayerdörfer, Hans-Peter 213 Beethoven, Ludwig v. 167 Beierwaltes, Werner 94 Ben Asai 57 Benjamin, Georg 206, 208 Benjamin, Hilde 206 Benjamin, Walter 10, 21, 23, 25, 72, 74, 129-139, 147 f., 152, 207-210, 219

Ben-Shlomo, Josef 60 Benz, Wolfgang 208 Berger, Uwe 207 Bialik, Chajjim Nachman 213 Biermann, Wolf 36 Bloch, Ernst 25, 75 Blum, Elisabeth 100 Blum, P. Richard 100 Blumenberg, Hans 139, 203 f. Bodenheimer, Aron R. 31 f. Boehm, Rudolf 126 Boll, Heinrich 222 Bolz, Norbert 164 Bovon, François 91 Brandl, Johannes 165 Brecht, Bertold 80, 147 Brentano, Franz 126 Breuer, Mordechai 55, 68 Brod, Max 72, 189 Bronsen, David 151 Brough, John Bamett 126 Bruno, Giordano 93 Buber, Martin 58, 61 f., 68 f., 75, 131-133, 136, 151-153, 155-161, 212 Bultmann, Rudolf 132 Cassel, David 97 Cassirer, Ernst 23 Celan, Paul 193 f. Charpa, Ulrich 104 Chasdai, Dan Creskas 97 Chmielnicki, Bogdan 41, 224 Chodziesner, Ludwig 207 Cohen, Hermann 54, 56-59, 64 f. Cooperman, Isaac 93 Crowley, Ruth Ann 125

Personenregister

250 Daskal, M. 60 David 214 Delf, Hanna 1 1 0 , 1 5 4 , 1 5 6 Derrida, Jacques 43, 235, 237-241 Descartes, René 74, 143 Dick, Jutta 206 Diederichs, Eugen 153 Dimant, Devorah 49 Dodds, Eric Robertson 99 Dregger, Alfred 35 Dukas, Helene 109,113 Ebreo, Leone ( = Judah Abravanel) 97 f., 100 f. Eckhart 154, 160 Efros, Israel Isaac 97 Eichmann, Adolf 42 Eichmann-Leutenegger, Beatrice 205, 209 Einstein, Albert 103-105, 108-117 Eliade, Mercia 65 Erdle, Birgit R. 205 f., 212, 219 Fahnders, Walter 154 Fichte, Johann Gottlieb 127, 156 Ficino, Marsiglio 93, 98, 100 f. Fiedler, Leonhard M. 151, 158 Finkelstein, Norman 44 Fludd, Robert 93 Flusser, Villém 180, 189 f. Fölsing, Albrecht 108 f. Franziskus 158 Freud, Sigmund 11, 59, 121, 206, 231, 233 f., 236 f. Gebhart, Carl 97 Gerz, Jochen 34 Gloy, Karen 94 Göbel, Helmut 74 Goethe, Johann Wolfgang v. 167 Goodman-Thau, Eveline 15, 96, 128, 186, 191, 194, 198, 203 Göpfert, Herbert G. 74 Graetz, Heinrich 45 Grundwald, Alfons 104 Guttmann, Julius 53 f. Hahn, Barbara 206 Hai evi, Jehuda (Rabbi) 51, 55, 65 f., 69, 97

Haller, Rudolf 165 Hamm, Peter 209 Handke, Peter 170 Härder, Richard 98 Hart, Heinrich 153 Hart, Julius 153 Hartmann, David 65 Harvey, Warren Ze'ev 50 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 20, 43, 62, 71, 121, 123, 130, 143, 145, 163 f., 199 Heidegger, Martin 121 f., 124, 200 Heine, Heinrich 67 Heinemann, Isaak 55 f. Heisenberg, Werner 103, 105 Heller Wilensky, Sara 49 Heraklit 62, 243 Hermann, Armin 105 Herodes 65 Heschel, Abraham Joshua 66-68 Hesekiel 87 Heuer, Renate 151, 158 Hilberg, Raul 33, 35 f. Hillel (Rabbi) 227 Himmelfarb, Gertrude 43 Hinshaw, Virgil G. (jr.) 114 Hintikka, Jaakko 171, 173 Hintikka, Merril B. 171, 173 Hirsch, Samson Raphael 54-57, 59, 64, 6668 Hitler, Adolf 40 Hobbes, Thomas 74, 142 Hoffmann, Banesh 109, 113 Hoffmeister, Johannes 71 Hölderlin, Friedrich 27 Holton, Gerald 110-112 Holz, Avraham 50 Holz, Hans Heinz 129-132, 134 Höppner, Hugo 153 Horwitz, Rivka 56, 61 Hrachovec, Herbert 165 Humboldt, Wilhelm v. 27 f. Hume, David 126 Husserl, Edmund

10, 21, 23, 121-127

Idel, Moshe 49, 93, 96 f. Ingarden, Roman 125 Isaak 87 f. Ivri (Rabbi) 185

Personenregister Jabes, Edmond 10, 177-188, 191-198, 200-204 Jais (Rabbi) 186 Jakob 52, 87 f., 91 Jeremia 87 Jesaja 54, 87 Jesus 21-23, 72 f., 76-85, 143, 216 Jischmael (Rabbi) 63 Jochanan ben Sakkai 178 Joel, Manuel 97 Joseph (Rabbi) 177, 179 Judas der Fürst (Rabbi) 52 Jünger, Ernst 36 Kaduschin, Max 50 Kafka, Franz 81 f., 145 f., 165, 188, 192 f. Kamper, Dietmar 236 Kanitscheider, Bernulf 113 Kant, Immanuel 29, 53-55, 57, 60, 69, 74, 77, 107, 113, 126 f., 148 Kastner, Rudolf 42 Kather, Regine 110 Katzenelson, Jizchak 34, 36 Kehati, Pinchas (Rabbi) 50 Kephas 91 Kepler, Johannes 9 3 , 1 1 0 Kersten, F. 122 Kierkegaard, Sören 59 f., 62, 144, 163-165 Klein, Wolf Peter 93 Kleist, Heinrich v. 168 Koestler, Arthur 221 Kofman, Sarah 11 Kohl, Helmut 35 Kohn, Hans 61 Kolitz, Zvi 34 Kolmar, Gertrud 10, 205-210, 212 f., 216 f., 219 Kook, Abraham Isaak (Rabbi) 60, 62, 66, 68 f. Korach 58 Krakovsky, Levi I. 100 Kreschel, Ursula 209 Kristeller, Paul Oskar 100 Kristeva, Julia 212 Lacan, Jacques 169, 206, 231 -238, 240-242, 247 Lachmann, Hedwig 154

251 Landauer, Gustav 10, 151-161, 228 Lanzmann, Claude 32 Lasker-Schüler, Else 153 Lasson, Georg 71 Leibniz, Gottfried Wilhelm 130 Leibowitz, Jesaja 65 Leinkauf, Thomas 100 Lenard, Philipp 103-105, 108 f. Lessing, Gotthold Ephraim 74 Lévinas, Emmanuel 21, 58, 205 f., 209 Lewin, Schmarjahn 160 Licharz, Werner 151 Loewe, Herbert 98 Loos, Adolf 164 Louel (Rabbi) 204 Ludz, Ursula 141, 147, 149 Lukas 76-80, 83-85, 87-91 Luria, Isaac 100 Lustiger, Arno 33, 36 Luther, Martin 77, 83, 131 f., 136, 142 Lütkehaus, Ludger 222 Luxemburg, Rosa 152 Luzzatto, Moses Chajim (Rabbi) 52 f., 70, 100 Lyotard, Jean-François

43 f., 180, 198-200

Mach, Dafna 49 Macho, Thomas H. 164 Maimonides 51, 55, 57 f., 61, 69, 97 Major, René 233, 241 Maleachi 87 Malinowski, Bronislaw 232 Malraux, André 221 Man, Paul de 43 Marx, Karl 43, 144 Matthäus 83 Maturana, Humberto 95 Mauss, Marcel 231-234, 236, 238 f. Mauthner, Fritz 153 f., 160 Melber, Jehuda 59 Mendel (Rabbi) 186 Mendelssohn, Moses 53 Meyer, Johann Friedrich v. 96 Michel, Karl Markus 163 Milburn, Alan Ray 98 Mintz, Jerome R. 41 Mohammed 20 Moldenhauer, Eva 163

252 Moses 21, 68, 87, 177, 181, 188, 190 Mühsam, Erich 153 Mühsam, Hans 113 Müller, Max 114 Müller-Funk, Wolfgang 163, 172 Nachmanides (Rabbi) 50, 51, 56, 60, 158 Nathan, Otto 104 Nestler, Julius 96 Neuser, Wolfgang 94 Newton, Isaac 110 Nietzsche, Friedrich 11, 156 Noah 56 Norden, Heinrich 104 O'Grady, William 148 Oison, Kenneth R. 125 Opitz, Michael 129 Orth, Emil 99 Otto, Rudolf 55, 60-63 Paffenholz, Alfred 15, 222 Pais, Abraham 110 Parmenides 98, 133 Parush, A. 60 Paulus 17, 76 Peli, Pinchas 64 Petry, Michael John 123 Philos 133 Pico della Mirandola 93, 100 f. Pinchas b. Jair (Rabbi) 49, 52, 56 Planck, Max 110 Piaton 74, 83, 98, 109, 142, 167 Plotin 98-101 Poe, Edgar Allan 234-236, 240 Postel, Giom 93 Pressac, Jean Claude 33, 35 Prigogine, Ilya 95 Proklos 98-101 Proudhon, Pierre Joseph 151 Proust, Marcel 121 Rabaté, Jean Michel 233 Rabelais, François 236 Rang, Florens Christian 136 Rechenberg, Helmut 105 Resch Lakisch 49, 56, 177 f., 198 Reuchlin, Johannes 93

Personenregister Robespierre, Maximilien de 135, 207 Robin, Régine 206 Rombach, Heinrich 114 Rosenberg, Shalom 49 Rosenthal, Abraham 52 Rosenzweig, Franz 20 f., 25, 56, 60, 66-69, 212 Rotenstreich, Nathan 56 Rousseau, Jean-Jacques 11, 74 Ruderman, David B. 96 Rudolph, Kurt 132 Sachs, Nelly 7 Salomo ibn Gabirol (Rabbi) 61 Sartre, Jean-Paul 40, 226 Saussure, Ferdinand de 169 Schalom, Isch B. 62 Schechter, Solomon 50, 61 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 60 Schilpp, Paul Arthur 109, 114 Schleiermacher, Friedrich Daniel 56, 62, 168 Schmidt, Heinz 151 Schmidt-Bergmann, Hansgeorg 154 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 93 Schneider, Gerhard 80-82, 87, 89-91 Schoeller, Wilfried F. 134 Schoeps, Hans Joachim 132 Schoeps, Julius 110,154 Scholem, Fania 17 Scholem, Gershom 17, 25, 60, 63, 72, 129, 134 f., 138 f., 219 Schrenk, Lawrence P. 99 Schuhmann, Karl 122 Schulte, Christoph 96 Schultz, Hans-Jürgen 228 Schürmann, Heinz 91 Schweizer, Eduard 78 f., 84 f., 88 f., 91 Schweppenhausen Hermann 74 Seelig, Carl 1 0 8 , 1 1 3 , 1 1 5 Segev, Tom 36 Segré (Rabbi) 188 Seidel, Gerhard 131 Sembdner, Helmut 168 Septimus, Bernard 96 Shapiro, David Solomon 50 Silone, Ignazio 221 Simon 91

Personenregister

253

Simon, Maurice 96 Soloveitchik, Joseph Dov (Rabbi) 62-65, 69 Sommerfeld, Arnold 105 Sonnemann, Ulrich 93, 95 Spengler, Oswald 166 f. Sperber, Hesio 226 Sperber, Manes 10, 221-228 Sperling, Harry 96 Spinoza, Baruch de 74, 110 Spranger, Eduard 74 Stalin, Josef 40, 222 Stark, Johannes 103 f. Stein (Rabbi) 186 Steiner, George 192 Steiner, Rudolf 153 Steinschneider, Moritz 45 Stern, Guy 158 Strauss, Leo 56 Stuhlmacher, Peter 72 f., 76 Taeger-Altenhofer, Annemarie 151, 158 Tagore, Rabindranath 154 Taitelbaum, Yoel 42 Tal (Rabbi) 186 Tal, Uriel 68 Thomas v. Aquin 74 Thorvaldsen, Bertel 28 Thüring, Bruno 105-108,112 Tiedemann, Rolf 74 Toynbee, Aronld Joseph 43 Traub, Rainer 75 Trend, John Brand 98 Twersky, Isadore T. 96 Urbach, Efraim Elimelech

51

Valéry, Paul 139 Veiel, André 37 Vidas, Eliade 5 1 , 5 9 Walther, Manfred 110 Weber, Max 73 Wechsler, Hille 55 Wehr, Gerhard 158 Weigel, Rudolf G. 105 Weizmann, Chaim 115 Wenzel, Hilde 213 Wenzel, Peter 208 Wessely, Hartwig 53 Wetzel, Michael 233, 239 Wiefel, Wolfgang 80, 84 f., 87, 89, 91 Wieser, Harald 75 Wilde, Oscar 154 Wittgenstein, Ludwig 10, 23, 163-174 Wizisla, Erdmut 129 Wohlgemuth, Joseph 52 Wolf, Siegbert 151 Wolin, Richard 136 Woltmann, Johanna 205 Wulf, Christhoph 236 Wyschogrod, Edith 58 Yekel (Rabbi) 179 Young-Bruehl, Elisabeth

148

Zaccai (Rabbi) 186 Zalal (Rabbi) 197 Zeitler, Johanna 207 Zimra, Jakob David ben (Rabbi) Zunz, Leopold 45 zur Lippe, Rudolf 15

69

Über die Autoren

Joseph Dan, geb. 1935 in Bratislava, Slovakei. Gershom Scholem Professor für Kabbalistik an der Hebrew University of Jerusalem. Seit 1939 lebt er in Jerusalem. 1964 Ph. D. an der Hebrew University, wo er seit 1992 lehrt. Dauerhafte Gastprofessur an der FU Berlin. Er hat über 35 Bücher und 500 Artikel publiziert. Derzeit im Druck: The Unique Cherub Circle, Tübingen: J. C. B. Mohr; Ort Sanctity, Jerusalem: Magnes Press; The Catalogue ofthe G. Scholem Library, Jerusalem: National and University Library. Michael Daxner, geb. 1947 in Wien. Studium der Pädagogik, Anglistik, Sozialwissenschaften, Geschichte und Philosophie an der Universität Wien und Freiburg/Br.; Promotion 1972; Habilitation 1974. Professor an der Universität Osnabrück. Seit 1986 Präsident der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Mitglied der Internationalen Kommission der Hochschulrektorenkonferenz (HRK); Vertreter der Hochschulseite im Ausschuß für Hochschulwesen und Forschung des Europarats (CC-HER). Mitglied der International Higher Education Academy of Science in Moskau. Veröffentlichungen (Auswahl): "Der Erfolg der Überlebenden", neue Sammlung, 26 (1986), Heft 1; gemeinsam mit Henry G. Brandt und Leo Trepp (Hg.), Dem Vergessen entgegentreten, Oldenburg 1989; zusammen mit H. L. Busemann und W. Fölling, Insel der Geborgenheit. Die Private Waldschule Kaliski Berlin 1932 bis 1939, Stuttgart 1992; "Erich Fried. Der österreichische Jude, der aus England deutsche Politik machte - keine Odyssee", in Jens Stüben u. Winfried Woesler in Zusammenarbeit mit Ernst Loewy (Hg.), Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde, Darmstadt 1994; "Die Inszenierung des guten Juden - Fragmentarische Thesen zu einem auffälligen Interesse", in Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann-Braun (Hg.), Kulturinszenierungen, Frankfurt a.M. 1995. Horst Folkers, Nach dem Studium der Rechtswissenschaft und der Philosophie mit einer Arbeit über Hegels Differenzschrift promoviert. Aufsätze zu Spinoza, Kant, Schelling, Benjamin und Bloch; arbeitet an einem Buch über die Spinozarezeption in der deutschen Spätaufklärung.

Über die Autoren

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Eveline Goodman-Thau, geb. 1934 in Wien, überlebte den Zweiten Weltkrieg im Versteck in Holland; seit 1956 in Jerusalem. Studium der Jüdischen Religions- und Geistesgeschichte in Amsterdam und Jerusalem; Promotion zum Dr. phil. Lehrtätigkeit in Israel; in den letzten Jahren Gastvorlesungen an Hochschulen in Deutschland - 1990/91 Franz-Rosenzweig-Gastprofessorin an der Universität/Gesamthochschule Kassel und 1993 Karl-Jaspers-Gastprofessorin an der Universität Oldenburg; zur Zeit an der Martin-Luther-Universität in Halle, wo sie ein Seminar für Jüdische Studien aufbaut. Veröffentlichungen: Zeitbruch - Zur messianischen Grunderfahrung in der jüdischen Tradition, Berlin 1995. Mitherausgeberin von: Kabbala und Romantik, Tübingen 1994; Messianismus zwischen Mythos und Macht. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1994; Editionsreihe Jüdische Quellen: Das Buch Jezira, Berlin 1993; Maimonides. Das Buch der Erkenntnis, Berlin 1994; Salomo Ibn Gabirol. Krone des Königtums, Berlin 1994. Zahlreiche Aufsätze zur jüdischen Religionsphilosophie, Geistesgeschichte und Kabbala. Rudolf Heinz, Dr. phil., Universitätsprofessor für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Psychoanalytische Ausbildung, psychiatrische Tätigkeit (insbesondere Supervision), Konzeption der psychoanalysekritischen Pathognostik. Arbeitsschwerpunkte: das Wechselverhältnis von Philosophie und Psychopathologie, neuere französische Philosophie. Zahlreiche Publikationen. Neueste Buchveröffentlichungen: Hg. zusammen mit D. Kamper und U. Sonnemann, Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose als Spiegel der Zeit, Acta humaniora, Schriften zur Kunstgeschichte und Philosophie, Berlin: Akademie Verlag 1993; Zerstreuungen. Aufsätze, Vorträge, Interviews zur Pathognostik, Wien: Passagen Verlag 1994; Somnium novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie, Vol. I, Wien: Passagen Verlag 1994; Metastasen. Pathognostische Projekte, Wien: Passagen Verlag 1995. Hans Heinz Holz, geb. 1927 in Frankfurt am Main. Studium der Philosophie, Literatur- und Kunstwissenschaft in Frankfurt am Main und Mainz. Promotion bei Ernst Bloch in Leipzig. Zunächst als Privatgelehrter und Publizist in Frankfurt am Main, München und Zürich tätig. 1971 Berufung auf einen Lehrstuhl für Philosophie an die Universität Marburg, 1979 an die niederländische Universität Groningen. 1981 - 1988 Präsident der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie - Societas Hegeliana, 1992 Ehrenpräsident. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Systematik der dialektischen Philosophie und der ästhetischen Theorie der bildenden Künste, u.a. Logos spermatikos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt, 1975; Die abenteuerliche Rebellion, 1976; Dialektik und Widerspiegelung, 1983, Leibniz, 1992; Descartes, 1994; Vom Kunstwerk zur Ware, 1972; Kritische Theorie des ästhetischen Gegenstands (Documenta 5), 1972.

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Über die Autoren

Rivka Horwitz, geb. 1926 in Bad Homburg. Israelin, Doktorarbeit in den USA über Rosenzweigs Sprachdenken 1963. Professorin in moderner jüdischer Geisteswissenschaft an der BenGurion Universität Be'er Sheva, Israel. Zur Zeit Franz-Rosenzweig-Gastprofessorin Professorin in Kassel. Schrieb viele Bücher und Artikel in Israel, USA und Deutschland über Martin Buber, Franz Rosenzweig, Moses Mendelssohn sowie auch über jüdische mystische Gestalten im deutschen Judentum. Buchveröffentlichung u.a. Buber''s Way to "I and Thou", Heidelberg 1978. Regine Kather, geb. 1955 in Gelsenkirchen-Buer, Studium von Physik, Philosophie und Religionswissenschaften in Freiburg i.Br. Nach einem Studienaufenthalt in Basel und Paris seit 1984 Lehrtätigkeit in Philosophie zunächst in der Erwachsenenbildung, seit 1985 an der PH Freiburg. 1989 Promotion in Philosophie über Die Sprachphilosophie Walter Benjamins mit Blick auf religionsphilosophische Hintergründe. Seither neben der Lehrtätigkeit an der PH Freiburg Kursautorin der Fernuniversität Hagen und Publizistin. Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit liegt derzeit im Bereich der Naturphilosophie mit Brückenschlägen zur modernen Naturwissenschaft. Neben zahlreichen Aufsätzen erschienen folgende Bücher bzw. Monographien: "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen". Die Sprachphilosophie Walter Benjamins, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1989; Zeit und Ewigkeit. Die Vieldimensionalität menschlichen Erlebens, 2. Aufl., Würzburg 1993; Der Mensch - Kind der Natur oder des Geistes? Wege zu einer ganzheitlichen Sicht der Natur, Würzburg 1994; Kosmologie im 20. Jahrhundert. Begegnungen zwischen Philosophie und Naturwissenschaften, Bd. I/II, Fernuniversität Hagen 1993/94. Gabriel Motzkin, geb. 1945, ist Senior Lecturer für Geschichte, Philosophie und Deutsche Literatur an der Hebrew University of Jerusalem. Buchveröffentlichung: Time and Transcendence: Secular History, the Catholic Reaction and the Rediscovery of the Future, Dordrecht: Kluwer 1992. Wolf gang Müller-Funk, geb. 1952, Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften in München. Promotion zum Dr. phil. 1980; Habilitation 1993 (Kulturphilosophie, Univ. Klagenfurt). 1984 - 1994 Leiter der Waldviertel-Akademie (NÖ), Lehrtätigkeit an den Universitäten München (1983 - 1990) Wien und Klagenfurt. Publikationen u.a.: Literatur als geschichtliches Argument. Zur ästhetischen Konzeption und Geschichtsverarbeitung in Lion Feuchtwangers Roman "Der Wartesaal", 1981; Die Rückkehr der Bilder. Beiträge zu einer romantischen "Ökologie", 1988; Joseph Roth, 1990; Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, 1995. Publikation von Essaybänden und Herausgeber internationaler kulturwissenschaftlicher Sammelbände.

Über die Autoren

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Wolfgang Neuser, geb. 1950. Studium der Physik, Astronomie, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte in Tübingen, München, Heidelberg, Kassel. Dipl. phys. (1979), Dr. phil. (1986), Habilitation und Privatdozent für Philosophie (1992), Gastprofessuren u.a. an der Pontificia Universidade Catölica Do Rio Grande Do Sus (PUCRS), Porto Alegre, Brasilien (regelmäßig seit 1992), Prof. für Philosophie an der Universität Kaiserslautern. Veröffentlichungen: Natur und Begriff, Stuttgart/Weimar 1995; Hg., Übersetzung, Einleitung und Kommentar von G. W. F. Hegel: Dissertatio Philosophica De Orbitis Planetarum - Philosophische Erörterung über die Planetenbahnen, Weinheim 1986; Hg. und Einführung von Newtons Universum. Materialien zur Geschichte des Kraftbegriffs (Vorwort von Eugen Seibold), Heidelberg 1990; Mitherausgeber von Die Frankfurter Schriften Giordano Brunos und ihre Voraussetzungen (zusammen mit Klaus Heipcke und Erhard Wicke), Weinheim 1991. Ingeborg Nordmann, geb. 1944. Studium der Literaturwissenschaft, Politik, Philosophie in Göttingen und Berlin; Promotion. Wissenschaftliche Publizistin in Frankfurt a.M. Veröffentlichungen: Das Nah- und Fernsein des Fremden. Margarete Susman: Briefe und Essays, Herausgabe und Nachwort, 1992; Hannah Arendt. Zur Einführung, 1994; "in keinem Besitz verwurzelt". Hannah Arendt und Kurt Blumenfeld. Die Korrespondenz, mit Iris Pilling (Hg.); sowie zahlreiche Aufsätze zu Hannah Arendt. Alfred Paffenholz, geb. 1937 in Köln, Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Innsbruck und Köln, Verlagsvolontariat; von 1969 bis 1984 Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) in den Redaktionen Religion und Gesellschaft sowie Kulturelles Wort. Seit Nov. 1984 bei Radio Bremen, Leiter der Kulturabteilung/Hörfunk, außerdem Lehrbeauftragter ("Jüdischen Studien") an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Veröffentlichungen (Auswahl): Für eine politische Kirche: Schwerter zu Pflugscharen. Politische Theologie und basiskirchliche Initiativen, Hannover 1982 (zus. mit Peter Hertel); Manes Sperber - Zur Einführung, Hannover/Hamburg 1984; Was macht der Rabbi den ganzen Tag? Eine Einführung ins Judentum, Düsseldorf 1995. Als Herausgeber: Ohnesarg. Gedichte von Ilse Blumenthal-Weiss, Hannover 1984; Spurensicherung. Kunsttheoretische Nachforschungen über Max Raphael, Raoul Hausmann, Sergej Eisenstein, Viktor Schklowskij, Hamburg 1988. Außerdem: Mitherausgeber der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Reihe Zur Einführung, Frankfurt a . M . : Campus Verlag. Hansgeorg Schmidt-Bergmann, geb. 1956 in Bad Oldesloe, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Wissenschaft von der Politik in Marburg und Frankfurt a.M. und promovierte 1983 mit einer Arbeit über Ästhetismus und Negativität. Er war Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Bari (Italien) und von 1984 - 1990 Hochschulassistent am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe. 1990 habilitierte er sich mit einer

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Über die Autoren

Untersuchung über Die Anfänge der literarischen Avantgarde. Seit 1991 lehrt er als Privatdozent Literaturwissenschaft an der Universität Karlsruhe. Wichtigste Veröffentlichungen: Ästhetismus und Negativität, 1984; Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland, 1991 \ Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, 1993; Mitherausgeber von Gustav Landauer: Die Botschaft der Titanic. Ausgewählte Essays, 1994. Eva M. Schulz-Jander, Literaturwissenschaftlerin, Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie in Houston, Montpellier und Berkeley. Seit 1967 in Deutschland. Mitglied der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frauenforschung an der Universität Gesamthochschule Kassel. Geschäftsführerin der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Kassel. Herausgeberin von Joyce Mansour/Gisele Prassinos - Zwei Surrealistinnen in Frankreich, Gedichte französisch-deutsch, Kassel 1992; Schrift und Spur, ein Beitrag zum christlich-jüdischen Dialog, Kassel 1993; mehrere Veröffentlichungen zum Forschungsschwerpunkt Frauen und Exil. Edith Seifert, geb. 1947 in Essen. Studium der romanischen Literaturwissenschaft und Soziologie. Promotion zum Dr. phil. Psychoanalytikerin in freier Praxis, Lehrbeauftragte in Berlin und Innsbruck, Publizistin. Veröffentlichungen: Was will das Weib? Zu Lust und Begehren bei Freud undLacan, 1987; Perversion der Philosophie (Hg.), 1992; Beiträge zu Rassismus und Schuld. Derzeitiger Arbeitsschwerpunkt: Hysterie und Wissenschaftstheorie. Rudolf zur Lippe, geb. 1937 in Berlin. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften und Theaterarbeit. Dipl. rer. pol. Promotion in mittlerer und neuer Geschichte. Verlagslektor. Einführung in die Sazentradition durch K. Graf Dürckheim. Habilitation bei Adorno. Venia legendi für Sozialphilosophie und Ästhetik. Lehrstuhl an der Universität Oldenburg - Bundesmodellversuch einphasige Lehrerausbildung. Initiator der "Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit". Veröffentlichungen u.a.: Autonomie als Selbstzerstörung-, Naturbeherrschung am Menschen ; Ökonomie des Lebens; Sinnenbewußtsein -, Freiheit die wir meinen -, Zwischen Engeln und Maschinen.

Der Schocken Verlag/Berlin Jüdische Selbstbehauptung in Deutschland 1931-1938 Essayband zur Ausstellung „Dem suchenden Leser unserer Tage" der Nationalbibliothek Luxemburg Herausgegeben von SASKIA SCHREUDER und CLAUDE WEBER 1994. 407 Seiten - 100 Abb. - 170 mm x 240 mm Hardcover DM/sFr 9 8 - / öS 7 6 4 ISBN 3-05-002678-2

Zum ersten Mal findet im Oktober 1994 in Zusammenarbeit mit dem Schocken Institute (Jerusalem) in der Nationalbibliothek Luxemburg eine große, dem Schocken Verlag/Berlin gewidmete Ausstellung statt. Bei Gelegenheit dieser Ausstellung, die 1995 auch in Jerusalem, in Berlin und in Amsterdam gezeigt wird, erscheint im Akademie Verlag ein Essayband, in dem namhafte Spezialisten in einem Dutzend Essays Geschichte, Programm und historisches Umfeld des bedeutendsten jüdischen Verlags im Deutschland der dreißiger Jahre nachzeichnen. Der reich bebilderte Band enthält u. a. Beiträge zur Persönlichkeit des Unternehmers und Kaufhausbesitzers Salman Schocken, zur Geschichte von Schockens einzigartiger Büchersammlung und zu dem von Schocken gegründeten Jerusalemer Institut für hebräische Dichtung. Der Band informiert daneben nicht nur über die Programmatik des Schocken Verlags und über seine markantesten Autoren, wie den späteren Literaturnobelpreisträger Samuel Josef Agnon, den Religionsphilosophen Martin Buber oder den Aachener Dichter und Germanisten Ludwig Strauss, er würdigt auch die Buchästhetik des Verlags und schließt mit einer Analyse der Rezeption von Büchern des Schocken Verlags in der jüdischen Presse der dreißiger Jahre.

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EVELINE G O O D M A N - T H A U

Zeitbruch Zur messianischen Grunderfahrung in der jüdischen Tradition 1995. 216 Seiten - 170 mm x 240 mm Hardcover DM/sFr 7 8 - / öS 6 0 8 ISBN 3-05-002511-5

Diese Arbeit entschlüsselt die „messianische Grunderfahrung", die sich in der Heiligen Schrift als Kanon und in den rabbinischen Kommentaren im Laufe der Jahrhunderte in sprachlicher Form ausgedrückt hat und so den jüdischen Geschichtsbegriff bis in die Moderne bei Dichtern und Denkern im deutschjüdischen Bereich prägt. Die Autorin hat dies „Geschichtsschreibung als messianische Hermeneutik" genannt. Weder das Wesen des Messias noch der Zeitpunkt seines Kommens stehen im Zentrum der Betrachtung, sondern die Wahrnehmung der Möglichkeit seines Kommens innerhalb der Zeit. Dabei werden Texte verschiedener Autoren aus verschiedenen Epochen danach befragt, wie sie die Frage um das Kommen des Messias als Grundhaltung religiösen Lebens in der Zeit reflektieren, das zugleich die Zeit sprengt und sie öffnet für die Ewigkeit - also einen „Zeitbruch" herbeiführt. Im ersten Teil „Bund und Entbindung" werden anhand einer Textanalyse des biblischen Buches Ruth Begriffe wie Exil, Rückkehr, Begegnung, Erkenntnis und Geburt als verschiedene, aufeinander bezogene Aspekte, als Paradigmen der messianischen Grunderfahrung interpretiert. Im zweiten Teil „Tat und Zeit" werden die Werke der wichtigsten Vertreter der jüdischen Religionsphilosophie und literarischen Denker der Moderne auf ihre (bewußt) unbewußte Verbindung zwischen Exegese und Geschichtsphilosophie, zwischen religiöser Tradition und modernen Denkformen hin untersucht - eine Verbindung, die gerade in der Postmoderne eine neue Brisanz gewinnen kann.

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