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German Pages 382 Year 2019
Almuth Ebke Britishness
Ordnungssysteme
Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel Florian Meinel und Lutz Raphael
Band 55
Almuth Ebke
Britishness
Die Debatte über nationale Identität in Großbritannien, 1967 bis 2008
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort
ISBN 978-3-11-062405-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062767-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062424-3 ISSN 2190-1813 Library of Congress Control Number: 2018968074 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
für Martin
Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 2016 an der Universität Mannheim eingereicht und im Mai 2017 verteidigt wurde. Zahlreiche Personen haben mich bei der Entstehung und Fertigstellung der Studie unterstützt. An erster Stelle möchte ich mich bei meiner Betreuerin und Erstgutachterin Prof. Dr. Julia Angster bedanken. Seit Kasseler Zeiten hat sie die Arbeit umsichtig und mit vielen wertvollen Denkanstößen begleitet. Sie ließ mir als Mitarbeiterin an ihrem Mannheimer Lehrstuhl den nötigen Freiraum, damit aus einer beiläufigen Beobachtung eine Dissertation entstehen konnte und prägte zugleich nachhaltig mein Denken über Geschichte. Ebenfalls zu großem Dank verpflichtet bin ich Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel, der mein Interesse an Großbritannien in den 1970er Jahren geweckt und gefördert hat. Den Herausgebern Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit sowie für ihre hilfreichen Anmerkungen. Florian Hoppe und Rabea Rittgerodt von De Gruyter Oldenbourg haben dafür gesorgt, dass sich die Drucklegung problemlos gestaltet hat. Das Deutsche Historische Institut in London und der Deutsche Akademische Austauschdienst haben mein Dissertationsprojekt mit Stipendien für Archiv- und Bibliotheksrecherchen gefördert. In diesem Rahmen nahm mich die History Faculty der University of Cambridge 2013 für sechs Monate als Gastdoktorandin auf. Mein Dank gilt Prof. Dr. Peter Mandler, der mich nicht nur zum Nachdenken über den Begriff der „nationalen Identität“ angeregt hat, sondern dessen konstruktive Nachfragen das Projekt in einer frühen Phase geprägt haben. Mein Dank gilt ferner den Archivaren der Black Cultural Archives, London, der Cadbury Library an der University of Birmingham, des Churchill Archives Centre an der University of Cambridge, der London Metropolitan Archives, London, und der National Archives, London. Bei der VG Wort möchte ich mich herzlich dafür bedanken, dass sie die Drucklegung der Arbeit ermöglicht hat. Die Mannheimer Kollegen und Hilfskräfte haben die Arbeit über die Jahre hinweg begleitet. Besonders Dominik Nagl hat mich über den Zeitraum der Doktorarbeit mit gleichbleibendem Vertrauen in meine Fähigkeiten unterstützt, das Buch zum Abschluss zu bringen. Themen und Thesen der Arbeit waren auf unterschiedliche Weise immer wieder Gegenstand meiner Lehrveranstaltungen an den Universitäten Kassel und Mannheim. Die teils lebhaften Diskussionen mit engagierten Studierenden halfen mir, meine Argumente zu präzisieren und – wenn nötig – besser zu erklären.
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Vorwort
Für Kaffeepausen, Gespräche über Großbritannien, aber auch Ablenkung aller Art dies- und jenseits des Ärmelkanals danke ich Roman Krawielicki, Dan Larsen, Emily Löffler und Gui Xi Young. Zarin Aschrafi, Sebastian Demel, Martin Deuerlein, Maria Dörnemann, Christoph Haack und Sina Steglich waren nicht nur bei Vorderem dabei, sondern haben darüber hinaus Teile der Arbeit gelesen und durch kluge Kommentare und präzise Beobachtungen verbessert. Beim Korrekturlesen des Manuskripts hat mich Lars Urbanski tatkräftig unterstützt. Dem gesamten „Ebkeclan“ möchte ich danken, dass er immer für mich da war. Meine Eltern, Gerd und Karin Ebke, haben mein Interesse an Büchern früh geweckt und gefördert, nicht zuletzt durch wöchentliche Besuche in der Stadtbibliothek, in der meine Mutter schon bald das komplette Angebot überblickte und mir näherbrachte. Auch mein Interesse an Zeitgeschichte geht auf meine Eltern zurück. Für ihre bedingungslose Unterstützung möchte ich mich herzlich bedanken. Seitdem ich mich erinnern kann, konnte ich mich ebenso immer auf meine Brüder Sascha, Daniel, Christoph und Bastian Ebke verlassen – nicht nur als das wohl beste Umzugsunternehmen. Meine Nichten Lara und Anna Ebke sind erst am Ende dieser Arbeit auf die Welt gekommen, haben aber die letzten Monate vor Abgabe beziehungsweise die Drucklegung aufgehellt. Martin Deuerlein gilt mein größter Dank. Über die Jahre hat er mich beruflich und privat in unzähligen kleinen und großen Dingen unterstützt – sie einzeln aufzuzählen würde zu weit führen. Vergessen sind sie jedoch nicht: Ihm ist daher diese Arbeit gewidmet. Tübingen, im Dezember 2018
Inhalt Einleitung I II
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1981: Soziale Zugehörigkeit zwischen Nation, Gesellschaft und 27 Empire Die Unruhen von 1981: Verhandlung gesellschaftlicher 32 Zugehörigkeit Nationality Bill: Definitionen staatlicher Zugehörigkeit 60 97 Zusammenfassung und Ausblick
Nationalismus in Schottland und Wales: Staat, Union und Nation im Vereinigten Königreich, ca. 1967 – 1979 102 Nationalismus und die Reform der ungeschriebenen 109 Verfassung Devolution und das constitutional settlement: Staat, Wirtschaft und die Nationen des Vereinigten Königreichs 120 Die Reform des Zentralstaats: Modernisierung und die umfassende Neuordnung des Regierungssystems 144 Devolution, Regionalismus oder Status quo? Die Rolle Englands 152 und die West Lothian Question Zusammenfassung und Ausblick 158
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Zwischenfazit: Sozialordnung in der Krise
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Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“ in den britischen Geschichts- und Sozialwissenschaften 166 Class als Analysekategorie der britischen Sozialforschung Nationale Identität: die Neue Linke und das Problem des 199 Nationalismus Britishness und Decline: Nationalismus im Fokus der Geschichtswissenschaft 215 234 Zusammenfassung und Ausblick
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Britishness und New Labour, ca. 1997 – 2007/2008 237 Britishness politisch: New Labour und die Reform von Staat und Gesellschaft 241
X
Fazit
Inhalt
Devolution im Vereinigten Königreich: Nationalismus, Englishness und der „Break-up of Britain“ 258 Britishness als Programm: Multikulturalismus und der 281 Zusammenhalt der britischen Nation Zusammenfassung und Ausblick 305 310
Abkürzungsverzeichnis
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Bibliographie 320 320 Archivquellen Zeitungen und Zeitschriften Publizierte Quellen 321 323 Sonstige Quellen Literaturverzeichnis Register
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Einleitung Although Britain has not in fact broken up as has been widely predicted since the 1970s, the idea of Britain apparently has. ¹ (Peter Mandler) Historians are interested in ideas not only because they influence societies, but because they reveal the societies which give rise to them. ² (Christopher Hill)
Im Jahr 2006 stellte Gordon Brown vor der Fabian Society einen ambitionierten Plan vor: Die britische Gesellschaft müsse ihren Patriotismus zurückgewinnen und den Union Jack als Symbol nationaler Einheit aus dem rechten Lager zurückerobern. Eine klare Idee davon, was „britisch-sein“ bedeute, sei notwendig, um die Herausforderungen anzugehen, mit denen sich das Land konfrontiert sehe; auf der Ebene der internationalen Politik sei dies vor allem das Verhältnis zu Europa, den USA und zum Rest der Welt, auf der Ebene des Staates die geplanten Reformen von Regierungsinstitutionen. Aber auch gesellschaftliche Herausforderungen erwarteten die Briten, beispielsweise die Balance zwischen Integration und Diversität einer Einwanderungsgesellschaft. Britishness werde nicht durch unveränderliche Institutionen oder Hautfarbe, sondern durch gemeinsame Werte bestimmt: Ein knappes Jahr nach den Bombenanschlägen in der Londoner Innenstadt, die 56 Menschen das Leben gekostet hatten, warb der damalige Schatzkanzler und spätere Premierminister für einen Patriotismus, der sich auf die Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung stützen sollte. Für Brown stellten diese genuin „britische“ Werte dar, die die ideelle Grundlage für das Zusammenleben diverser Kulturen in einer Gesellschaft legen sollten. Aus einer Debatte um „Britishness“ erhoffte er sich nicht nur einen Konsens über Inhalt und Form der nationalen Identität, sondern auch eine Agenda für Wandel, nämlich ein neues „constitutional settlement“, eine explizite Definition von Staatsbürgerschaft, die Erneuerung der Zivilgesellschaft, den Wiederaufbau der Lokalverwaltung sowie eine Verbesserung der Einwanderungspolitik.³ Zur Förderung des
Peter Mandler: The English national character. The history of an idea from Edmund Burke to Tony Blair, New Haven 2006, S. 229. Christopher Hill: The world turned upside down. Radical ideas during the English Revolution, London 1972, S. 15. Gordon Brown: Speech to the Fabian New Year Conference, London, http://www.britishpolitical speech.org/speech-archive.htm?speech=316 (2006), zuletzt abgerufen am 13.7. 2016. https://doi.org/10.1515/9783110627671-001
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Einleitung
Gemeinschaftsgefühls regte Brown an, ähnlich dem amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli oder dem französischem Tag der Bastille am 14. Juli einen „Britishness Day“ einzurichten – ein Projekt, das bald wieder verworfen wurde. Britishness wurde bei dem späteren Premierminister zu einem Schlüsselbegriff, der soziale und kulturelle Differenzen überbrücken, staatsbürgerliche Rechte und Pflichten bestimmen und das Verhältnis von Regierung, Individuum und community neu austarieren sollte: Ein breites und umfassendes Reformprogramm sollte von der Vorstellung eines gemeinsamen, erneuerten britischen Nationalbewusstseins getragen werden. Indem Britishness bei Brown zum Angelpunkt eines ausgedehnten politischen Projektes wurde, rückte die Frage der Zugehörigkeit in das Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit, und zwar sowohl zur britischen Nation, zur britischen Gesellschaft als auch zum britischen Staat. Denn wenn nationale Identität in ihrer Funktion als sozialer Kitt zum Lösungsansatz gesellschaftlicher Probleme wird, stellt sich nicht nur die Frage, wie diese definiert wird, sondern auch, auf welche Weise Individuen Teil dieser vorgestellten Gemeinschaft der Briten werden und welche Rechte und Pflichten damit einhergehen. Obgleich Kritiker dem in Schottland geborenen und aufgewachsenen Brown unterstellten, mit diesem Vorstoß des „nation building“ innerhalb der britischen Gesellschaft seinen Führungsanspruch innerhalb der Labour Party als bekennender Schotte zementieren zu wollen, war er doch nicht allein mit seiner Initiative. Er reiht sich in eine größere Zahl von Politikern ein, die durch Äußerungen dazu, was ihrer Ansicht nach Britishness darstellt, im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hervorgetreten sind. Berüchtigt ist dabei der sogenannte „Cricket-Test“ des konservativen Politikers Norman Tebbit, der im Jahr 1990 die Unterstützung des englischen Teams zum Indikator für eine gelungene Integration in die britische Gesellschaft erhob. Auch der konservative Premierminister John Major erntete eher Spott als Zustimmung für seine Beschwörung eines ländlichen Idylls als Inbegriff eines genuin „britischen“ Lebensstils und als Zukunftsvision für Großbritannien. Frei angelehnt an George Orwell hatte der Politiker in einer Rede vor der Conservative Group for Europe am St. George’s Day im Jahr 1993 versichert, dass Großbritannien weiterhin distinkt in Europa sein werde: fifty years from now Britain will still be the country of long shadows on county [cricket] grounds, warm beer, invincible green suburbs, dog lovers and pools fillers and – as George Orwell said – ‚old maids bicycling to Holy Communion through the morning mist‘.⁴
Zit. nach Richard Weight: Patriots. National identity in Britain, 1940 – 2000, Basingstoke 2002, S. 666.
Einleitung
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Das Nachdenken über den Zustand des britischen Nationalbewusstseins und den Inhalt einer britischen nationalen Identität traf offensichtlich den Nerv der Zeit. Die erste Labour-Regierung nach 18 Jahren in der Opposition setzte 1997 unter der Führung Tony Blairs zu einem breit angelegten Reformprogramm an, mit dem sie den wahrgenommenen Niedergang Großbritanniens stoppen wollte. Der Bezug zu Britishness wurde zeitgenössisch in einer breit angelegten Verfassungsreform hergestellt, mit der nicht nur das House of Lords demokratisiert werden sollte, sondern auch der Regierungsprozess innerhalb des Vereinigten Königreichs. Im Zuge dessen wurden Regionalparlamente in Schottland und Wales eingerichtet. Führende Labour-Politiker wie Gordon Brown und Tony Blair konzentrierten Britishness bald auf den Aspekt der Staatsbürgerschaft, mithilfe derer Inklusion in einer multikulturellen Gesellschaft erreicht werden sollte.⁵ Britishness, sowohl in seiner Bedeutung als Set nationaler Charakteristika als auch als breiter angelegtes Konzept nationaler Identität, war jedoch nicht nur in der britischen Politik der vergangenen 20 Jahre ein Thema. Vor allem in der Geschichtswissenschaft entwickelte sich aufbauend auf grundlegenden Neuerungen in der historischen Nationalismusforschung, die die Nations- und Nationalstaatsbildung nun als soziale Konstruktion begriffen, seit Mitte der 1980er Jahre die Erforschung britischer Identität zum florierenden Forschungsfeld. „Britishness“, ein Begriff, der bis zu Beginn der 1980er Jahre nur selten verwendet worden war, wurde nun etabliert und popularisiert.⁶ Die Veröffentlichungen der englischen Historikerin Linda Colley setzten in diesem Zusammenhang Standards: Ihre 1992 publizierte Interpretation, dass eine britische nationale Identität zwischen dem Act of Union 1707 und der Thronbesteigung Königin Viktorias im Jahre 1837 durch Kriegsführung und die gemeinsame Erfahrung des Protestantismus „geschmiedet“ worden sei, sollte sich als besonders einflussreich erweisen. Obwohl ihre Thesen kontrovers diskutiert wurden, etablierte sich ihr Werk „Britons. Forging the nation“ als eine der grundlegenden Publikationen der historischen Identitätsforschung Großbritanniens. Nachdem diese zunächst vor allem von Historikern angestoßen worden war, weitete sich die Debatte schnell aus: Forscher der Postcolonial Studies, Soziologen und Politologen beteiligten sich daran.⁷ Die
Vgl. Teil V. Für Beispiele früher Verwendungen vgl. beispielsweise Gwynfor Evans: Land of my fathers. 2000 years of Welsh history, Swansea 1974, S. 143, 449; Keith Robbins: „This grubby wreck of old glories“. The United Kingdom and the end of the British Empire, in: Journal of Contemporary History 15/1980, S. 81– 95, hier S. 86 – 93. Vgl. beispielsweise Keith Robbins: Nineteenth-century Britain. Integration and diversity. The Ford lectures delivered in the University of Oxford 1986 – 1987, Oxford 1988; Alexander Grant und K. J. Stringer (Hrsg.): Uniting the Kingdom? The making of British history, London/New York 1995;
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Einleitung
Themen, die in der wissenschaftlichen Debatte angesprochen wurden, waren divers: Nachdem zu Beginn vor allem der Ursprung britischer nationaler Identität analysiert wurde, richtete sich das Interesse der Forscher bald auf das Verhältnis von Britishness zu irischer, walisischer, schottischer, später vor allem aber zu englischer Identität sowie auf den Stellenwert des Empire. Dabei eröffneten sich durchaus Leerstellen: Aufschlussreicherweise wurde die Rolle des Empire nur verzögert und eher in Spezialistenkreisen debattiert.⁸ Kann die Publikation von Keith Robbins’ Ford Lectures im Jahr 1988 und Colleys „Britons“ im Jahr 1992 als Startpunkt der historiographischen Debatte um Britishness gelten⁹, so verdeutlicht ein von Helen Brocklehurst und Robert Phillips im Jahr 2004 publizierter Sammelband die Breite der akademischen Auseinandersetzung mit dem Thema: In einer Reihe kurzer Artikel werden anhand separater Fallstudien die unterschiedlichen „nationalen Identitäten“ an sich und im Verhältnis zueinander aus einem weitestgehend historischen Blickwinkel beleuchtet, aber auch der Einfluss von Prozessen wie Migration, die Rolle geschichtspolitischer Debatten wie der heritage-Debatte der frühen 1980er Jahre oder auch fachinterne Diskussionen wie die Forderung nach der Überwindung des Anglozentrismus.¹⁰ Die Debatte wurde vom Narrativ des wirtschaftlichen und machtpolitischen Niedergangs Großbritanniens eingerahmt, das vor allem in der historiographischen Variante eng verknüpft war mit der Furcht vor dem Zerfall des Vereinigten Königreichs.¹¹
Stephen Haseler: The English tribe. Identity, nation, and Europe, Houndmills, Basingstoke 1996; L. W. B. Brockliss und David Eastwood (Hrsg.): A union of multiple identities. The British Isles, c.1750–c.1850, Manchester 1997; Adrian Hastings: The construction of nationhood. Ethnicity, religion, and nationalism, Cambridge 1997; Keith Robbins: Great Britain. Identities, institutions and the idea of Britishness, New York 1998; Robert Colls: Identity of England, Oxford 2002; Stephen Caunce, Ewa Mazierska, Susan Sydney-Smith und John K. Walton (Hrsg.): Relocating Britishness, Manchester 2004; Paul Ward: Britishness since 1870, London 2004; Paul Ward: Unionism in the United Kingdom, 1918 – 1974, Houndmills, Basingstoke 2005; Christopher G. A Bryant: The nations of Britain, Oxford 2006; Peter Leese: Britain since 1945. Aspects of identity, Basingstoke 2006; Chris Rojek: Brit-myth. Who do the British think they are?, London 2007; Linda Colley: Britons. Forging the nation, 1707– 1837, überarbeitete Aufl., New Haven 2009; Arthur Aughey: Questioning British identity: review article, in: Journal of Contemporary History 45/2010, S. 478 – 486; Catherine McGlynn, James W. McAuley und Andrew Mycock (Hrsg.): Britishness, identity and citizenship. The view from abroad, Pieterlen 2011; Jodie Matthews und Daniel Travers (Hrsg.): Islands and Britishness. A global perspective, Newcastle upon Tyne 2012. Siehe Kapitel IV. Colley: Britons; Robbins: Nineteenth-century Britain. Vgl. Helen Brocklehurst und Robert Phillips (Hrsg.): History, nationhood and the question of Britain, Basingstoke 2004. Zum Konzept des Decline und dem Narrativ des Declinism vgl. Andrew Gamble: Britain in decline. Economic policy, political strategy and the British state, London 1981; Jim Tomlinson:
Einleitung
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An dieser Stelle darf jedoch nicht nur die Auseinandersetzung um Britishness Gegenstand historischer Betrachtung sein, sondern der Begriff selbst muss als Quelle behandelt werden. Die Notwendigkeit dazu zeigt sich, wenn man auf die Bedeutungsverschiebungen im Verlauf der Jahre und die nationale Engführung der Debatte blickt: So verdeutlicht der hier skizzierte Überblick über die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung, dass in den 1990er und 2000er Jahren Britishness in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit in einer Reihe von unterschiedlichen Bedeutungen in unterschiedlichen Kontexten verwendet wurde: mal als Synonym für britische Nationalität, mal bedeutungsgleich mit Nationalbewusstsein, mal als Set nationaler Charakteristika. In den rund 30 Jahren zuvor war Britishness in Politik und Medien jedoch vor allem zur Bezeichnung einer nicht näher definierten kulturellen Zugehörigkeit im Kontext von territorialen Streitigkeiten wie im Fall der Falklands oder Gibraltars gebraucht worden.¹² Die seit Mitte der 1980er geführten Diskussionen verwendeten den Begriff von „Britishness“ daher nicht nur häufiger, sondern auch in einer neuen Bedeutung. Die Debatten der 1990er und 2000er Jahre waren zudem bemerkenswert insular: Verwandte, jedoch vor allem in den 1960er Jahren im Kontext der Dekolonisierung geführte Auseinandersetzungen über Britishness beispielweise in Kanada oder Australien fanden wenig bis gar keine Erwähnung.¹³ Der jeweilige Gebrauch des
Inventing ‚decline‘. The falling behind of the British economy in the postwar years, in: EconHR 49/ 1996, S. 731– 757; David Edgerton: The decline of declinism, in: The Business History Review 71/ 1997, S. 201– 206; Alexander Siedschlag: „Consensus“ und „Decline“. Systemtheoretische Konzepte und Erklärungen zu Substanz und Ursachen der „britischen Krise“ 1945 – 1979, in: ZfP 44/ 1997, S. 46 – 71; Barry Supple: Fear of failing: economic history and the decline of Britain, in: Peter Clarke und Clive Trebilcock (Hrsg.): Understanding Decline: perceptions and realitites of British economic performance, Cambridge 1997, S. 9 – 29; Richard English und Michael Kenny: Conclusion: Decline or Declinism?, in: Richard English und Michael Kenny (Hrsg.): Rethinking British Decline, Basingstoke 2000, S. 279 – 299; Andrew Gamble: Theories and explanations of British Decline, in: Richard English und Michael Kenny (Hrsg.): Rethinking British Decline, Basingstoke 2000, S. 1– 22; Jim Tomlinson: The politics of decline. Understanding postwar Britain, Harlow 2001; Jim Tomlinson: The decline of the Empire and the economic ‚decline‘ of Britain, in: Twentieth Century British History 14/2003, S. 201– 221; Philippa Levine: Decline and vitality. The contradictions and complexities of Twentieth-century Britain, in: Twentieth Century British History 21/2010, S. 396 – 404; Almuth Ebke: „The party is over“? Britische Wirtschaftspolitik und das Narrativ des „Decline“, 1970 – 1976, Frankfurt a. M. 2012. Ben Pitcher: The politics of multiculturalism. Race and racism in contemporary Britain, Basingstoke 2009, S. 42. Zu den Identitätsdebatten in Kanada und Australien in den 1960er Jahren vgl. A. G. Hopkins: Rethinking decolonization, in: P&P 200/2008, S. 211– 247, hier S. 215; James Curran und Stuart Ward: The unknown nation. Australia after empire, Carlton, Vic. 2010, S. 16 – 25.
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Einleitung
Begriffs von „Britishness“ muss daher nicht nur von Fall zu Fall herausgearbeitet, sondern auch in den jeweiligen historischen Kontext eingeordnet werden. Die historische Bedingtheit des Begriffs von „Britishness“ zeigt sich auch daran, dass die einzelnen Stränge und Themen der Debatte bis in die 1960er und 1970er Jahre zurückreichen: So wurde staatliche, gesellschaftliche und nationale Zugehörigkeit am Beispiel der Themen von Staatsbürgerschaft und den Folgen von Migration bereits seit den 1970er Jahren debattiert, allerdings unter anderen Vorzeichen, nämlich im Zusammenhang mit der in Parlament und Presse umstrittenen Reform des britischen Nationality Law, die im Sommer 1981 in die kritische Phase kam. Sowohl Labour als auch konservative Regierungen hatten mit dem Ziel, sich einer Fassung von Staatsangehörigkeit zu entledigen, die seit 1948 das gesamte ehemalige britische Empire umfasste, seit Jahren an einer Reform des Nationalitätengesetzes gearbeitet. In der neuen Gesetzgebung wurde Staatsangehörigkeit nicht nur nach dem Prinzip des ius sanguinis in drei Kategorien unterteilt, sondern damit auch an die schon zuvor restriktivere Einwanderungsgesetzgebung angepasst.¹⁴ Auf diese Weise wurde, so die These, auch das Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu seinen Kolonien neu bestimmt und die Selbstdefinition Großbritanniens als Nationalstaat auch juristisch festgeschrieben.¹⁵ Das Thema der Reform des Regierungssystems und der Verwaltungsinstitutionen lässt sich bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen und wurde vor allem im Kontext der Devolutionsbemühungen der Zeit von Politikern und Journalisten diskutiert. Nachdem seit den späten 1960er Jahren sowohl in Schottland als auch in Wales nationalistische Parteien vermehrt Zuspruch erfahren hatten, wurde die Einführung von Regionalparlamenten („Devolution“ ) zu einem politischen Projekt, das von Labour wie auch von der Conservative Party heftig diskutiert wurde, was unterschiedliche Auffassungen von staatlicher Verfasstheit offenlegte. Doch auch wenn die einzelnen Stränge der Debatte bis in die 1960er Jahre zurückreichten und die staatliche, gesellschaftliche und nationale Zugehörigkeit unterschiedlichster Gruppen seitdem verstärkt thematisiert wurde, wurde erst seit den späten 1980er Jahren der Begriff der Britishness im Kontext dieser Auseinandersetzungen verwendet.
Vgl. Andrew Mycock: British citizenship and the legacy of Empires, in: Parliamentary Affairs 63/2010, S. 339 – 355, hier S. 343 – 344; Kathleen Paul: Whitewashing Britain. Race and citizenship in the postwar era, Ithaca, N. Y. 1997, S. 183. Vgl. James Hampshire: Citizenship and belonging. Immigration and the politics of demographic governance in postwar Britain, Basingstoke 2005, S. 42; Randall Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain. The institutional origins of a multicultural nation, Oxford 2000, S. 219 – 220; Robert Winder: Bloody foreigners. The story of immigration to Britain, überarbeitete Aufl., London 2013, S. 402.
Einleitung
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Diese Arbeit setzt dazu an, die an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Politik und Medien geführte Auseinandersetzung über Ursprung, Genese und Inhalt von Britishness zu historisieren. Der Begriff verweist, so die These, auf eine ebenso räumliche wie soziopolitische Ordnung. Deren vermehrte Diskussion in den 1990er und 2000er Jahren ist Hinweis darauf, dass sie sich im Wandel befand.¹⁶ Diese Veränderungen soziopolitischer Ordnung haben jedoch, so die These, tiefergehende Wurzeln. Die Vorstellung einer umfassenden gesellschaftlichen, aber auch und vor allem nationalen Krise war dabei konstitutiv sowohl für die einzelnen Debattenstränge der 1970er und 1980er Jahre als auch für die Auseinandersetzung um Britishness in den 1990er und 2000er Jahren.¹⁷ Die Wahlerfolge nationalistischer Parteien in den späten 1960er und 1970er Jahren, die den Debatten über die Einführung von separaten Parlamenten in diesen Landesteilen vorangingen, wurden von Intellektuellen und der politisch interessierten Öffentlichkeit skeptisch kommentiert, während die gesellschaftlichen Folgen der Einwanderung der Nachkriegszeit breitere Diskussionen und teils auch Besorgnis hervorriefen. Den intellektuellen Rahmen bildete das Narrativ des „British Decline“, das sich vor allem durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der 1970er Jahre zu einem wirkmächtigen, primär von politischen, journalistischen und akademischen Eliten vertretenen Interpretament der Nachkriegsge-
Zum Konzept eines räumlichen wie sozialpolitischen Ordnungsbegriffs vgl. Ricardo Bavaj und Martina Steber: Germany and „The West“: the vagaries of a modern relationship, in: Ricardo Bavaj und Martina Steber (Hrsg.): Germany and „The West“. The history of a modern concept, New York 2015, S. 1– 37, hier S. 7. Jürgen Friedrichs zufolge wird in einer Krise ein institutionalisiertes Handlungsmuster als gefährdet betrachtet, das bisher die Weltanschauung strukturierte. Diese als bedrohlich erachtete Entwicklung zwinge zum Handeln, um den Status quo zu erhalten, zu verbessern oder die Verschlechterung der Lage zu verhindern. Aufgrund der leichteren Lesbarkeit werden die zeitgenössisch als krisenhaft empfundenen Wandlungsprozesse im Folgenden als „Krisen“ bezeichnet, ohne jeweils auf den konstruierten Charakter dieser akuten Problemlagen hinzuweisen: Die Konstruiertheit einer Krise muss stets mitgedacht werden, ohne es im Text gesondert zu erwähnen. Vgl. Jürgen Friedrichs: Gesellschaftliche Krisen. Eine soziologische Analyse, in: Helga Scholten (Hrsg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 13 – 26, hier S. 24– 25; Reinhart Koselleck: Krise, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Nachdruck, Stuttgart 1995, S. 617– 650, hier S. 625; Ansgar Nünning: Grundzüge einer Narratologie der Krise: Wie aus einer Situation ein Plot und eine Krise (konstruiert) werden, in: Henning Grunwald und Manfred Pfister (Hrsg.): Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, München 2007, S. 48 – 71, hier S. 59 – 60; Helga Scholten: Einführung in die Thematik. Wahrnehmung und Krise, in: Helga Scholten (Hrsg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 5 – 11, hier S. 8; Randolph Starn: Crisis, in: Maryanne C. Horowitz (Hrsg.): New dictionary of the history of ideas, Detroit 2005, S. 500 – 501, hier S. 500.
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Einleitung
schichte entwickelte.¹⁸ Besonders die im Kontext des „British Decline“ artikulierte Furcht vor dem gesellschaftlichen und staatlichen Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs, die mit der Britishness-Debatte einherging, verlieh ihr in den späten 1990er und 2000er Jahren den Charakter einer Selbstvergewisserungsdebatte politischer und kultureller Eliten, in der die Grundfesten sozialer Ordnung neu verhandelt wurden. Die Britishness-Debatte lässt sich daher, so die These, nur aus dem Kontext der Entwicklungen verstehen, die in ihr verarbeitet wurden, hier besonders die politischen, industriellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die in den 1970er und 1980er Jahren sichtbar wurden. Die Auseinandersetzungen um Staatsangehörigkeit, Devolution und die gesellschaftliche Stellung von Einwanderern aus (ehemals) kolonialen Gebieten der Karibik und Südasiens reflektierten, so die These, diese tiefgreifenden Veränderungsprozesse, die die etablierten Vorstellungen sozialer Ordnung in Frage stellten. Mit dieser Infragestellung ging das Problem einer neuen Uneindeutigkeit von staatlicher, gesellschaftlicher sowie nationaler Zugehörigkeit einher: Nicht nur wurde darüber diskutiert, wie man rechtlich Brite werden konnte und ab wann man gesellschaftlich als solcher galt, sondern auch, wie der zentral organisierte britische Nationalstaat mit den unterschiedlichen sozialen Gruppen umgehen sollte, die sich teilweise selbst als Nationen verstanden und die in ihrer Gesamtheit das Vereinigte Königreich bildeten. Zugehörigkeit, sei sie staatlich, gesellschaftlich oder national, wurde ab den 1960er Jahren zu einem oft kontrovers erörterten Thema – und zwar öffentlich-politisch, aber auch wissenschaftlich in den Begriffen, die zur Beschreibung sozialer Zugehörigkeit angelegt werden konnten und sollten. Durch die Bündelung der unterschiedlichen, bereits länger geführten Diskussionen über nationale, gesellschaftliche und staatliche Zugehörigkeit unter dem Begriff von „Britishness“ wurde die Debatte nicht nur begrifflich auf den Inhalt und die Geschichte der sowie die Zugehörigkeit zur britischen Nation zugespitzt. Durch die Verwendung des Begriffs ab den späten 1980er Jahren im wissenschaftlichen, ab Mitte der 1990er Jahre im öffentlich-politischen Kontext rückten zudem, so die These, die Vorstellungen sozialer Ordnung an sich in das Zentrum der Debatte, hier vor allem das Konzept der britischen Nation, vermittelt dadurch jedoch auch Vorstellungen einer britischen Gesellschaft und eines britischen Staates. In den 1970er Jahren schienen die bis dahin verwendeten und bewährten Instrumente der keynesianisch orientierten Globalsteuerung zu scheitern; eine Entwicklung, die der Deutung des Niedergangs erheblichen Aufwind gab. Vgl. Nicholas Woodward: The management of the British economy, 1945 – 2001, Manchester/New York 2004, S. 122– 123; Tomlinson: The politics of decline, S. 84. Zur Debatte des Decline vgl. auch Kapitel IV.3.
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Anhand dieser Auseinandersetzung lässt sich daher untersuchen, wie Vorstellungen sozialer Ordnung in Großbritannien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit neu ausgehandelt wurden. Die Britishness-Debatte soll als Symptom für die gesellschaftlichen Erfahrungsprozesse angesichts des tiefgreifenden Wandels betrachtet werden, die seit Ende der 1960er Jahre in Westeuropa auftraten – zwar geprägt durch nationale Besonderheiten des Vereinigten Königreichs, jedoch in Intensität und zeitlichem Ablauf exemplarisch für weitere, in anderen Ländern ablaufende Debatten nationaler Selbstvergewisserung. Auf diese Weise kann ein Beitrag dazu geleistet werden, nationalgeschichtliche Ansätze mit einer westeuropäischen Perspektive zu verbinden, um in den Worten David Edgertons eine „non-national national history“ zu schreiben.¹⁹ Die Arbeit zielt damit auf die ideengeschichtliche Aufarbeitung der sozialen, politischen und ökonomischen Transformationsprozesse seit den 1960er Jahren und umfasst sowohl die mentale Verarbeitung als auch die entstehenden politischen Steuerungsversuche. Die zunächst vor allem in der britischen Geschichtswissenschaft, später auch in der Politik von rund 1988 bis circa 2007 explizit unter dem Begriff „Britishness“ geführte Debatte bildet den Ausgangs- und Schlusspunkt der Arbeit. Als zeitlicher Einstieg dient die Publikation der ersten Monographie, die sich explizit mit der Entstehung der britischen nationalen Identität beschäftigte, nämlich Keith Robbins’ Ford Lectures aus dem Jahr 1988. Als Endpunkt der Auseinandersetzung gilt das Einsetzen der Finanzkrise im Jahr 2007/2008, die die britische Wirtschaft in eine Rezession stürzte und offiziellen Bemühungen um die Konstruktion nationaler Identität ein vorzeitiges Ende setzte. Ist die Britishness-Debatte der Ausgangs- und Kristallisationspunkt der Arbeit, so liegt ihr analytisches Zentrum in den Debatten, anhand derer seit den späten 1960er Jahren die britische Sozialordnung auf politischer, öffentlicher und begrifflicher Ebene neu verhandelt wurde. Die Debatte um Migration und Staatsbürgerschaft spitzte sich anlässlich der Ausschreitungen in englischen Städten im Frühjahr und Sommer 1981 sowie angesichts der Auseinandersetzung um eine Reform des Nationality Law zu, während die Pläne zur Einrichtung von Regionalparlamenten in Schottland und Wales durch Wahlerfolge nationalistischer Parteien in den Jahren 1967 und 1968 politisch bedeutsam wurden und sich in Gesetzesentwürfen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre niederschlugen. Auch die wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten über die Begriffe sozialer Zugehörigkeit erlebten von Mitte der 1970er bis 1983 eine kritische Phase. Die Arbeit konzentriert sich daher auf zwei Zeitab-
David Edgerton: The rise and fall of the British nation. A twentieth-century history, London 2018, S. xxii.
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schnitte, die Jahre 1967 bis 1983 und 1988 bis 2007/2008, zu deren Einordung aber ein breiterer Zeitraum davor und danach berücksichtigt werden muss. Der empirische Untersuchungszeitraum dieser Studie überspannt damit bewusst die „klassische“ Zäsur von 1979, die durch den Regierungsantritt Margaret Thatchers definiert wird. Dieser politische Wechsel wird eher als Konsequenz des Wandels denn als sein historischer Ursprung verstanden.
Historiographischer Überblick Der Begriff der „Britishness-Debatte“ wurde im wissenschaftlichen Kontext erstmals im Jahr 1995 in einem unpublizierten Promotionsmanuskript von Steven Lawrence Jones erwähnt, der die Konstruktion von kultureller Identität in Großbritannien zwischen 1979 und 1994 untersuchte. Jones verwendet den Begriff jedoch für die wissenschaftliche Diskussion, die vor allem innerhalb der Neuen Linken über britischen Nationalismus, Patriotismus und Rassismus geführt wurde, und gebraucht ihn daher in weiten Teilen als Rückprojektion.²⁰ Ein Themenheft der British Politics Review mit dem Titel „The Britishness debate: Identity issues in a contested United Kingdom“ im Jahr 2009 hingegen verwendete den Begriff für die von der Labour Party angestoßene explizite politische Debatte der 2000er Jahre, in der explizit unter dem Schlagwort „Britishness“ Nationalbewusstsein und Kategorien nationaler Zugehörigkeit verhandelt wurden.²¹ Die vorliegende Arbeit orientiert sich an dieser Verwendungsweise, weitet sie jedoch auf die Periode seit Mitte der 1990er Jahre aus, da nicht nur die expliziten Bemühungen der Labour Party bis dahin zurückgehen, sich auf Kosten der Conservative Party als ‚nationale‘ Partei zu präsentieren, sondern zu dieser Zeit auch die historiographischen Forschungen zu Britishness an Dynamik gewannen und britische nationale Identität im (populär‐)kulturellen Kontext verhandelt wurde. Historiographisch steckt die Einordnung der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte über Britishness noch in den Kinderschuhen. Die Politologen Ben Pitcher und Gerry Hassan haben Gordon Browns Äußerungen zu und Bemühungen um „Britishness“ als Teil eines politischen Projekts zur Sicherung der eigenen Machtposition verortet; eine Sicht, die durch ihren engen Fokus auf die Politik innerhalb der Labour Party weder die weitere gesellschaftliche und politische Basis, noch die tieferen historischen Wurzeln der Debatte in den 1960er Vgl. Steven Lawrence Jones: A nation at ease with itself? Images of Britain and the AngloBritishness debate 1979 – 1994 (Dissertation, Nottingham Trent University, 1995), S. 6 – 37. Vgl. Arthur Aughey: What is Britain for?, in: British Politics Review 4/2009, S. 4– 5; Christopher Bryant: The British question, in: British Politics Review 4/2009, S. 6 – 7.
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und 1970er Jahren in Betracht zieht.²² Neben einem online veröffentlichten und inzwischen entfernten Rezensionsessay zum wissenschaftlichen Zweig der Debatte²³ finden sich erste Ansätze zu einer breiteren Historisierung bei David Cannadine, während die Politologin Pauline Schnapper die politische Debatte der 1990er und 2000er Jahre analysiert. Cannadine lieferte 2008 einen breit angelegten Erklärungsansatz für den historiographischen Strang der Debatte, den er als Reaktion auf eine Reihe von unterschiedlich gelagerten Entwicklungen in den 1970er und 1980er Jahren deutet²⁴: Die schwindende machtpolitische Rolle Großbritanniens, der Verlust des Empire sowie die gesellschaftlichen Konsequenzen des Eintritts in die Europäischen Gemeinschaften hätten Ängste hervorgerufen. Diese seien durch die Ausbildung einer „multi-racial, multi-ethnic, multi-cultural society“ infolge von Einwanderung, durch die Furcht vor dem „break-up of Britain“ angesichts des seit den 1960er Jahren eskalierenden Nordirlandkonfliktes und durch das Wiedererstarken der schottischen und walisischen Unabhängigkeitsbewegung verstärkt worden. Auch der Ansehensverlust nationaler Institutionen mit hohem Symbolwert wie der Monarchie, des Parlaments, der Anglikanischen Staatskirche, der Polizei oder der BBC habe diese Ängste gefördert. Eine veränderte, weniger national denkende britische Geschichtswissenschaft habe schließlich dazu beigetragen, die historische Erforschung nationaler Identitäten zu unterstützen. Cannadine spricht wichtige Aspekte an, hat aber keine übergreifende These, die diese unterschiedlichen Symptome zusammenbinden könnte. Schnapper hingegen beschränkt sich auf die Funktion von Britishness als rhetorisches Mittel der Parteien in dieser Zeit.²⁵ Sie verwendet – ebenso wie Jones 1995 oder Cannadine 2008 – jedoch weiterhin das Paradigma der „nationalen Identität“ und damit auch von „Britishness“ als Analysekategorie. Um die Debatte nicht nur politisch, sondern auch wissenshistorisch einordnen zu können, muss der Begriff der Britishness jedoch selbst als Quellenbegriff betrachtet werden. Einen solchen Ansatz hat Michael Kenny in „The politics of English nationhood“ gewählt, der
Zur Interpretation von „Britishness“ als politisches Projekt vgl. beispielsweise Pitcher: The politics of multiculturalism, S. 46. Gerry Hassan verortet das Aufkommen von „Britishness“ im politischen Diskurs aus der Krise der britischen Sozialdemokratie; eine Sicht, die ebenso zu kurz greift. Gerry Hassan: Don’t mess with the missionary man. Brown, moral compasses and the road to Britishness, in: The Political Quarterly 78/2007, S. 86 – 100, hier S. 97. Vgl. Joseph Hardwick: Historians and ‚Britishness‘, http://www.york.ac.uk/ipup/projects/bri tishness/discussion/hardwick.html (o. Jahr), zuletzt abgerufen am 19. 3. 2012. Vgl. David Cannadine: Making history now and then, Basingstoke 2008, S. 171– 195. Vgl. Pauline Schnapper: British political parties and national identity. A changing discourse, 1997– 2010, Newcastle upon Tyne 2011.
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darin das gestiegene Interesse an „Englishness“ seit den 1990ern untersucht.²⁶ Kenny erachtet das Aufkommen von englischem Nationalismus als kontingente Reaktion sowohl auf die zunehmende Bedeutungslosigkeit anerkannter Ideen davon, was Großbritannien darstelle, als auch auf neue Unsicherheiten angesichts der Transformationsprozesse der britischen Industrie. Obgleich Kenny erste Anzeichen für diesen Prozess in den 1970er Jahren entdeckt, liegt der Schwerpunkt seiner Analyse in den 1990er Jahren²⁷; zudem ist seine Untersuchung durch den Fokus auf England notwendigerweise weniger aussagekräftig, wenn es um die Rolle Schottlands und Wales geht. Generell werden in der historiographischen Literatur die unterschiedlichen Prozesse und Themen, die in der Britishness-Debatte der 1990er und 2000er verhandelt wurden, in der Regel getrennt behandelt und die seit den 1960er angelegten historiographischen Narrative auf diese Weise fortgeschrieben. So finden sich Darstellungen zur britischen Migrations- und Staatsbürgerschaftsgeschichte, sozialwissenschaftliche Analysen der Unruhen von 1981 und geschichts- und sozialwissenschaftliche Forschungsbeiträge zum schottischen und walisischen Nationalismus seit den 1960er Jahren, die jeweils separat diskutiert werden. Im Gegensatz dazu geht diese Arbeit jedoch explizit davon aus, dass diese als unterschiedlich erachteten Entwicklungen erst in ihrem Zusammenspiel das Nachdenken über Kategorien sozialer Ordnung befeuerten.²⁸ Das Projekt greift den Ansatz der zeithistorischen Forschung auf, die mit den 1970er Jahren in den westlichen Industrieländern die Zeit „nach dem Boom“ beginnen lässt und das Jahrzehnt als Schwelle zu einer Problemgeschichte der Gegenwart versteht.²⁹ In den vergangenen Jahren haben die Folgen der industri Michael Kenny: The politics of English nationhood, Oxford 2014. Vgl. ebd., S. 28. Als frühes Beispiel für eine solche Herangehensweise vgl. die im Umfeld des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham publizierte Forschung, in der in den 1970er Jahren mit einem von Gramsci abgeleiteten Ordnungsbegriff gearbeitet wurde, um das Aufkommen eines neuartigen Rassismus in Großbritannien zu erklären.Vgl. Stuart Hall, Chas Critcher, Tony Jefferson, John Clarke und Brian Roberts: Policing the crisis. Mugging, the state and law and order, London 1978; John Solomos, Bob Findlay, Simon Jones und Paul Gilroy: The organic crisis of British capitalism and race: the experience of the seventies, in: CCCS (Hrsg.): The Empire strikes back, Nachdruck, London 1986, S. 9 – 46; Tony Jefferson und John Clarke: Down these mean streets… the meaning of mugging, in: Ann Gray, Jan Campbell, Mark Erickson, Stuart Hanson und Helen Wood (Hrsg.): CCCS selected working papers. Bd. 2, London/New York 2007, S. 571– 584. Vgl. Frank Bösch: Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 9/2012; Anselm Doering-Manteuffel: Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: VfZ 55/2007, S. 559 – 581; Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2., erg. Aufl., Göttingen 2010; Niall Ferguson, Charles S. Maier, Erez Manela und Daniel J. Sargent (Hrsg.): The shock of the global. The 1970s in
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ellen Transformationsprozesse verstärkte wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Vor allem im Kontext der in Tübingen und Trier angesiedelten Forschungsgruppe „Nach dem Boom“ um Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschungen, des Instituts für Zeitgeschichte in München und der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien erschienen, die sich mit den Auswirkungen des industriellen Strukturwandels beschäftigten.³⁰ Die 1970er Jahre werden darin als Zeit des Umbruches konzeptioniert: Für Ulrich Herbert endet um circa 1970 die Epoche der Hochmoderne³¹, Hartmut Kaelble betont die „rapid economic changes, and cultural and social upheavals. It was a ‚silent revolution‘, instead of an upheaval dominated by specific events, it represents a soft turning point.“³² Konrad Jarausch hebt ebenso den „langfristige[n] Wandel sozioökonomischer Strukturen“ hervor³³, der zum „Ende der Zuversicht“ geführt habe.³⁴ Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael vertreten die These des „Strukturbruchs“, der einen „sozialen Wandel von revolutionärer Qualität“ nach sich gezogen habe.³⁵ Sie postulieren, dass „mit der Krise der traditionellen In-
perspective, Cambridge 2010; Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Charles S. Maier: Consigning the Twentieth century to history. Alternative narratives for the modern era, in: AHR 105/2000, S. 807– 831; Charles S. Maier: Transformations of territoriality, 1600 – 2000, in: Gunilla-Friederike Budde (Hrsg.): Transnationale Geschichte, Göttingen 2006, S. 32– 55; Martina Steber und Kerstin Brückweh: Aufregende Zeiten. Ein Forschungsbericht zu Neuansätzen der britischen Zeitgeschichte des Politischen, in: AfS 50/ 2010, S. 671– 701, hier S. 701; Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011. Vgl. beispielsweise Andresen, Bitzegeio und Mittag (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch; Jörg Arnold: ‚De-industrialization‘: a research project on the societal history of economic change in Britain (1970 – 90), in: German Historical Institute Bulletin 34/2012, S. 34– 60; Christian Marx: Multinationale Unternehmen in Westeuropa seit dem Ende des Booms. Von der deutsch-französischen Kooperation zwischen Hoechst und Roussel Uclaf zu Sanofi-Aventis (1968 – 2004), http:// www.europa.clio-online.de/2015/Article=728 (2015), zuletzt abgerufen am 1.6. 2016. Vgl. Ulrich Herbert: Europe in high modernity. Reflections on a theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5/2007, S. 5 – 20. Hartmut Kaelble: The 1970s in Europe. A period of disillusionment or promise? German historical Institute London, The 2009 Annual Lecture, London 2010, S. 18. Konrad H. Jarausch: Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 9 – 26, hier S. 9. Jarausch (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht. Doering-Manteuffel und Raphael: Nach dem Boom (2010), S. 28; Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael: Der Epochenbruch in den 1970er Jahren. Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels „nach dem Boom“, in: Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und
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dustriebranchen und dem Abschied vom fordistischen Fabriksystem […] auch die damit verbundenen sozialen und politischen Ordnungsmuster sowie die individuellen Verhaltensgewohnheiten rasch ihre Gültigkeit“ verloren.³⁶ So sei „die Epoche vor dem Strukturbruch als eine Zeit zu betrachten […], deren politökonomische Normen und kulturelle Orientierungsmuster keine selbstverständliche Ordnungskompetenz mehr aufweisen“.³⁷ Diese These der Veränderung von Orientierungsmustern bildet auch die erkenntnisleitende Annahme dieser Arbeit. Sie reiht sich somit in die Forschungen ein, die eine Ideen- und Erfahrungsgeschichte der Epoche beschleunigten Wandels seit den ausgehenden 1960er Jahren schreiben.³⁸ Für den britischen Fall muss die These jedoch in zwei Aspekten modifiziert werden: Zunächst ist auf inhaltlicher Ebene notwendig, die Existenz des britischen Empire sowie die strukturellen und ideenhistorischen Auswirkungen des Prozesses der Dekolonisation als Faktoren in dieser Geschichte einer intellektuellen Neukonfiguration ernst zu nehmen.³⁹ Auf konzeptioneller Ebene unterscheiden sich zweitens die Ordnungsmuster, deren Wandel analysiert wird: Während sich Doering-Manteuffel und Raphael besonders für das Aufkommen und die gesellschaftliche Prägekraft sozioökonomischer Ordnungsmuster wie beispielsweise dem des Neoliberalismus Jürgen Mittag (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011, S. 25 – 40. Doering-Manteuffel und Raphael: Nach dem Boom (2010), S. 59 – 60. Ebd., S. 29. Vgl. beispielsweise Silke Mende: „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Grü ndungsgrü nen, Mü nchen 2011; Arne Hordt: Kumpel, Kohle und Krawall. Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion, Göttingen 2018; Tobias Gerstung: Stapellauf für ein neues Zeitalter. Die Industriemetropole Glasgow im revolutionären Wandel nach dem Boom (1960 – 2000), Göttingen 2016; Arnold: ‚De-industrialization‘; Dominik Geppert: Großbritannien seit 1979. Politik und Gesellschaft, in: NPL 54/2009, S. 61– 86, hier S. 84. Für eine Prüfung der Krisendiagnostik der 1970er Jahre aus konsumgeschichtlicher Perspektive vgl. Sina Fabian: Boom in der Krise. Konsum, Tourismus, Autofahren in Westdeutschland und Großbritannien 1970 – 1990, Göttingen 2016. Vgl. die Debatte über den Einfluss des Empire auf britische Gesellschaft, die zwischen den von den „Cultural Studies“ geprägten und den „traditionellen“ Historikern geführt wurde. Vgl. hierzu beispielsweise Catherine Hall und Sonya O. Rose (Hrsg.): At home with the empire. Metropolitan culture and the imperial world, Cambridge 2006; John M. MacKenzie: Propaganda and Empire. The manipulation of British public opinion, 1880 – 1960, Manchester 1984; John M. MacKenzie: The popular culture of Empire in Britain, in: Judith M. Brown und William Roger Louis (Hrsg.): The Oxford History of the British Empire, Oxford 2001, S. 212– 231; Bernard Porter: The absent-minded imperialists. Empire, society, and culture in Britain, Oxford 2004; Andrew S. Thompson: The empire strikes back? The impact of imperialism on Britain from the mid-nineteenth century, London/New York 2005; Stuart Ward (Hrsg.): British culture and the end of empire, Manchester 2001.
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interessierten, will die vorliegende Arbeit untersuchen, wie „Letztbegriffe“ sozialer Ordnung wie Gesellschaft, Nation oder Empire an Prägekraft gewannen, verloren oder sich inhaltlich veränderten.⁴⁰ Daher verfolgt die Arbeit den Ansatz, dass alle Formen sozialer Ordnung als Konstruktion verstanden werden müssen, deren Historisierung die Aufgabe des Historikers ist, da auf diese Weise auch der nationalstaatliche und nationalgesellschaftliche Rahmen überwunden werden kann, der viele der im Kontext der 1970er Jahre-Forschung verfassten Arbeiten kennzeichnet.
Ansatz und Methode Während die Konzepte von Nation und Empire, und auch deren Wechselwirkung, auf strukturgeschichtlicher und ideenhistorischer Ebene seit geraumer Zeit die Aufmerksamkeit von Historikern und Soziologen erhalten haben⁴¹, ist die „Gesellschaft“ als ein weiterer zentraler Begriff zur Beschreibung und Abgrenzung sozialer Ordnungen noch kaum untersucht worden.⁴² Denn während die Konstruktion der Nation seit den Arbeiten von Eric Hobsbawm und Benedict Anderson ein Gemeinplatz für die Mehrheit der Geschichts- und Sozialwissenschaften geworden ist⁴³, stellt dies für den Topos der Gesellschaft in der Geschichtswissenschaft noch eine Ausnahme dar.⁴⁴ Das soll nicht bedeuten, dass die Gesellschaft in der deutschen Historiographie keine Aufmerksamkeit erhalten hätte. So
Zum Konzept von „Letztbegriffen“ vgl. Clemens Albrecht: Die Bundesrepublik Deutschland als „Gesellschaft“: Letztbegriffe kollektiver Selbstdeutung, in: Herfried Münkler und Jens Hacke (Hrsg.): Wege in die neue Bundesrepublik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989, Frankfurt a. M. 2009, S. 83 – 113, hier S. 83 – 84. Vgl. hierzu beispielsweise Mark Bevir: A theory of governance, Berkeley 2013, S. 71. Erste Ansätze finden sich bei Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte?, in: IASL, 36/2011, S. 159 – 172, hier S. 160 – 161. Benedict Anderson: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, überarbeitete Aufl., London 2006; Eric J. Hobsbawm: Introduction, in: Eric J. Hobsbawm und Terence Ranger (Hrsg.): The invention of tradition, Cambridge 1983, S. 1– 14; Eric J. Hobsbawm: Nations and nationalism since 1780. Programme, myth, reality, 2. Aufl., Cambridge 1992. Obgleich das Konzept der Gesellschaft in der deutschen, aber auch anglo-amerikanischen Soziologie schon länger hinterfragt worden war und als Konsequenz deutlich weniger als Analysekategorie verwendet wurde. Die wohl deutlichste Kritik wurde dabei von Friedrich Tenbruck bereits im Jahr 1981 vorgenommen.Vgl. Friedrich H. Tenbruck: Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie 10/1981, S. 333 – 350; Thorsten Bonacker: Gesellschaft: Warum die Einheit der Gesellschaft aufgeschoben wird, in: Stephan Moebius und Andreas Reckwitz (Hrsg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 2008, S. 27– 42, hier S. 27.
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hat allein Hans Ulrich Wehlers monumentale Gesellschaftsgeschichte der Analyse der deutschen Gesellschaft fünf Bände gewidmet.⁴⁵ Dieses Projekt ist die jüngste und möglicherweise prominenteste Auskopplung der deutschen Sozialgeschichte, die sich mit der Analyse von die Gesellschaft prägenden Gruppen, Ständen, Schichten oder Klassen beschäftigte. Obgleich ihre Geschichte viel Aufmerksamkeit erfahren hat, wurde die dahinterstehende Idee der Gesellschaft mit weniger Aufmerksamkeit bedacht. Denn die Sozialhistoriker untersuchten zwar die unterschiedlichen Gruppen und Themen, die die Geschichte von Gesellschaften ausmachten, verwendeten aber die Vorstellung, dass es Gesellschaften gebe, weiterhin unhinterfragt als den Ausgangspunkt und Rahmen ihrer Analyse. Diese Form des „methodischen Nationalismus“ verstärkt jedoch letztlich das, was sie zu untersuchen ansetzt: die Gesellschaft, die in der Regel als Nationalgesellschaft verstanden wird.⁴⁶ Zur Historisierung der Vorstellungen von Gesellschaft, Nation oder Empire ist es jedoch notwendig, sie als eine von mehreren Möglichkeiten zu betrachten, das Soziale zu denken und zum Gegenstand der Analyse zu erheben – ein Vorhaben, das Paul Nolte für das Konzept der Gesellschaft als eine „Geschichte der sozialen Selbstbeschreibung“ bezeichnet hat.⁴⁷ Dies geht am besten, wenn man sie als soziale Ordnung begreift. Nimmt man jedoch nur diese eine Ordnungsvorstellung als Gegenstand, besteht die Gefahr, in eben jenen methodischen Nationalismus zurückzufallen. Dies kann vermieden werden, wenn man soziale Ordnung mit Cornelius Castoriadis und, darauf aufbauend, Charles Taylor als „soziales Ima-
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1. Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära: 1700 – 1815, München 2008; HansUlrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen Deutschen Doppelrevolution: 1815 – 1845/49, München 2008; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3.Von der Deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges: 1849 – 1914, München 2008; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten: 1914– 1949, München 2008; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5. Bundesrepublik und DDR: 1949 – 1990, München 2008. Anthony Smith brachte dies bereits 1979 auf den Punkt: „The study of ‚society‘ today is, almost without question, equated with the analysis of nation-states; the principle of ‚methodological nationalism‘ operates at every level in the sociology, politics, economics and history of mankind in the modern era. […] In this way, the world nation-state system has become an enduring and stable component of our whole cognitive outlook, quite apart from the psychological satisfaction it confers.“ Anthony D. Smith: Nationalism in the Twentieth century, Oxford 1979, S. 191. Leider verbleibt auch Nolte in einem weitgehend nationalen Blickrahmen: Er analysiert zwar die unterschiedlichen Konzeptionen von Gesellschaft, ordnet diese aber nicht in konkurrierende Ordnungsmuster ein.Vgl. Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 12.
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ginäres“ versteht. Die zentrale Annahme ist, dass das soziale Imaginäre nicht allein das Bild einer wie auch immer gelagerten „Gesellschaft“ oder „Nation“ darstellt, sondern am besten als komplexes soziales Ordnungsgefüge umschrieben werden kann, das die Wahrnehmung der Umwelt und die Verortung des Individuums in dieser bestimmt: als eine Art „gedachte Ordnung“ mit einer eigenen Geographie.⁴⁸ Der Begriff „Gesellschaft“, von Akteuren für eine spezifische soziale Organisationsform einer größeren Menschengruppe verwendet, betrifft nur einen Teilaspekt dieses Ordnungsgefüges und muss daher als Quellenbegriff behandelt werden. Dieses soziale Ordnungsgefüge wirkt sinnstiftend für das Individuum, indem es die Lebenswelt des Einzelnen strukturiert und mit Sinn ausstattet, ist aber in der Praxis nur als Kollektivbegriff, als soziale Lebenswelt für eine Gruppe von Personen denkbar. Das social imaginary wirkt deskriptiv und normativ zugleich: In ihm ist angelegt, wie die Gesellschaftsordnung im Normalfall aussieht, aber auch, wie sie aussehen sollte.⁴⁹ Das soziale Imaginäre stellt dabei immer eine Mehrheitsordnung dar, in der der Zusammenhang von strukturellen Prozessen und ihrer intellektuellen Verarbeitung deutlich wird: Wandel tritt nach Taylor dann auf, wenn entweder durch die Veränderungen von Praktiken oder die Veränderung ihrer Bedeutung ein neues soziales Imaginäres in langsamen Schritten gebildet wird.⁵⁰ Treten also Entwicklungen auf, die grundlegende Pfeiler der Gesellschaftsordnung in Frage stellen, entsteht in der Regel Diskussionsbedarf, woraufhin die Gesellschaftsordnung, das soziale Imaginäre, neu verhandelt wird. Dabei stellen die Konzepte von „Nation“, „Gesellschaft“ oder auch „Empire“ nicht allein eine Form von Wissen dar, wie Philip Sarasin für den Gesellschaftsbegriff postuliert hat⁵¹: Die Besonderheit des Konzepts des social imaginary ist, dass nicht nur die reine Vorstellung einer konsensual hergestellten Ordnung mit ihm beschrieben werden kann, sondern über den Ansatz Taylors hinausgehend gleichzeitig auch das mit ihr verflochtene materielle und institutionelle Gefüge, die Wirtschafts- und Industrieordnung. Charles Maier hat dies als Zusammenwirken von Territorium, Staatsmacht, Sozial- und Industriestruktur mit dem
Vgl. Charles Taylor: Modern social imaginaries, Durham, N. C. 2004, S. 2; Cornelius Castoriadis: The imaginary institution of society, Cambridge 1987, S. 146 – 149. Vgl. Taylor: Modern social imaginaries S. 24. Vgl. ebd., S. 30. „Ich will vielmehr darauf hinaus, dass das gesamte Feld des Wissens, dass sich auf diese Weise aufspannt, und mit all den verschiedenen Rollen und Personen, die in diesem Feld agieren, eine brauchbare Beschreibung dessen abgeben kann, was wir ‚Gesellschaft‘ nennen, wie wir sie früher von ihren angeblich objektiven sozioökonomischen Daten ausgehend analysiert haben.“ Sarasin: Was ist Wissensgeschichte, S. 170.
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Prinzip der Territorialität beschrieben, dessen Hochphase von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre gedauert habe.⁵² Das soziale Imaginäre ist damit nicht gleichzusetzen mit einer Ordnungskategorie wie der Nationalgesellschaft, dem Nationalstaat, der Union zwischen Schottland, Wales und England oder dem Empire. Zwar gilt es als Ziel von Nationalbewegungen, die Grenzen von Nation, Staat und Gesellschaft in Kongruenz zu bringen – oder in den Worten Maiers, „decision space“ und „identity space“ deckungsgleich zu machen.⁵³ Staat, Nation, Union und Empire sind für sich Kategorien räumlicher und soziopolitischer Ordnung, deren Zusammenspiel gerade erst die jeweilige Ausprägung des social imaginary hervorbrachte und die durchaus in sich widersprüchlich sein konnten. Die einzelnen Kategorien bezeichneten damit jeweils sozialräumliche Ordnungsvorstellungen, die sich je nach Akteur und Kontext in Größe, Ausprägung und Reichweite deutlich unterscheiden, aber durchaus auch überlappen konnten. Die von Maier beschriebene nationalstaatliche Ordnung ist damit nur eine Art eines sozialräumlichen Ordnungsarrangements. Ähnlich verhält es sich für Kategorien wie soziale Klassen oder Ethnien: Auch sie werden als Begriffe betrachtet, deren Bedeutung jeweils ausgehandelt wurde und die in einer gewissen Reichweite evident erschienen. Versteht man das Konzept der „Gesellschaft“ daher als eine spezifische Ordnungsvorstellung, die in andere Ordnungsvorstellungen eingehangen ist, kann nicht nur die ordnungsstiftende Wirkung dieser Konzepte besser verstanden werden, sondern auch wie sie miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig bedingen.⁵⁴ Wird im Text ein Begriff sozialräumlicher Ordnung wie Nation, Union, Gesellschaft, aber auch britisch, Großbritannien oder Vereinigtes Königreich verwendet, wird er daher immer als Quellenbegriff betrachtet, ohne dass jeweils gesondert darauf hingewiesen wird. Anführungszeichen werden nur in ausgewählten Fällen zur besonderen Betonung gesetzt. Entsprechend dazu werden englische Fachbegriffe in Anführungszeichen und recte gesetzt, wenn sie als Konzepte thematisiert werden. Werden sie in ihrer zeitgenössischen Bedeutung verwendet, so stehen sie kursiv und ohne Anführungszeichen. Die soziale Ordnung, die bis in die 1970er Jahre in Großbritannien dominant war und durch die frühe Britishness-Historiographie affirmiert wurde, beruhte
Vgl. Maier: Consigning the Twentieth Century; Maier: Transformations of territoriality, S. 37. Maier: Transformations of territoriality, S. 35. Saskia Sassens und Manfred Stegers Hinweis darauf, dass das Globale und das Nationale sich gegenseitig bedingen, unterstützt diesen Ansatz. Vgl. Saskia Sassen: Territory, authority, rights. From medieval to global assemblages, Princeton, N. J. 2006, S. 402; Manfred B. Steger: The rise of the global imaginary. Political ideologies from the French Revolution to the global war on terror, Oxford 2008, S. 12.
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daher, so die These, auf einem fragilen Gleichgewicht der unterschiedlichen Ordnungskonzepte von Nation, Union, Empire und Klassengesellschaft. Diese waren für einen jeweils spezifischen sozialen und geographischen Raum gültig; ihre Deutungskraft beruhte auf einem historisch gewachsenen Gleichgewicht. So ist Großbritannien verfassungsrechtlich Teil des Vereinigten Königreichs – der volle Titel lautet nicht umsonst United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland – und war zudem die Metropole eines großen Kolonialreichs, wurde aber in der Regel als Nationalstaat im kontinentaleuropäischen Sinn verstanden. Und obwohl das Empire nach dem heutigen Forschungsstand eine wichtige Rolle in der britischen Nationalstaatsbildung spielte, wurde Großbritannien mehrheitlich als Staat verstanden, der ein Empire hatte – und nicht eines war. In diesem Nationalstaat lebten zwar sich mitunter selbst als Nationen definierende Schotten, Engländer und Waliser; jedoch bildeten sie nur in ihrer Gesamtheit die „britische Nation“, die wiederum als Klassengesellschaft gedacht wurde. Diese Vorstellung beruhte dementsprechend auf einer Reihe von Leerstellen: Die deutlichste war wohl die Position Irlands, gefolgt von der Stellung Englands in diesem Beziehungsgeflecht. Sie war in sich geographisch gegliedert und reflektierte eine südostenglische Sichtweise, die sich auch in den politischen Machtstrukturen in der Zeit vor der Devolution widerspiegelte. Die Arbeit geht davon aus, dass das Zusammenspiel der industriellen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse dieses sorgsam austarierte Gleichgewicht vorgestellter Zugehörigkeiten störte und unterschiedlich gelagerte Aushandlungsprozesse in Gang setzte, die bis heute andauern und sich in den eingangs genannten Debatten widerspiegeln. Das soll nicht bedeuten, dass das soziale Imaginäre nicht schon zuvor durch Spannungen gekennzeichnet gewesen wäre. Aber die neue Qualität und der grundlegende Charakter der Debatten, die damit einhergehenden Niedergangsängste, ihre Dauer und Intensität lassen darauf schließen, dass die Entwicklungen für die Akteure einschneidenden Charakter hatten. Diese normalisierte und naturalisierte gedachte Ordnung geriet, so die These, aufgrund der tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozesse seit den 1960er Jahren ins Wanken. Die einzelnen, miteinander verbundenen Bestandteile des sozialen Imaginären verloren an Evidenz und mussten neu verhandelt werden. Das soziale Imaginäre rückt auf diese Weise in das Zentrum der Arbeit: Die Aushandlung der Idee Großbritanniens und dessen, was als britisch verstanden wird, bildet in ihren Verflechtungen ins Kleine – Nation, Nationalgesellschaft, community – wie ins Große – United Kingdom, Empire – die Ordnungsvorstellungen, die den Gegenstand der Analyse stellen. Die Untersuchung der Britishness-Debatte konzentriert sich daher auf die britische Geschichte, betrachtet sie jedoch in ihren transnationalen und imperialen Verflechtungen.
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Um das soziale Imaginäre analysieren zu können, müssen jedoch andere Begriffe gefunden werden als die, die bisher zur Untersuchung von Sozialformationen und Sozialstrukturen verwendet wurden, da diese Gefahr laufen, bestehende Interpretationen zu reproduzieren. Daher wird in dieser Arbeit der Blick auf die Regeln gerichtet, die das jeweilige soziale Imaginäre bestimmen, sei es in der Form von rechtlich verankerten Gesetzen oder kulturellen Normen. Durch den Blick auf die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, die die Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Bereichen beschränkten, oder die mit dem Begriff „britisch“ belegt wurden, wird das soziale Imaginäre sichtbar. Indem man daher Diskurse von Zugehörigkeit untersucht, kann man wie in einem Profilschnitt die Verfasstheit des sozialen Imaginären sichtbar machen, seine dominanten Ordnungsmuster sowie zugleich alternative Konzeptionen, die in unterschiedlichen soziokulturellen Milieus verwurzelt waren.⁵⁵ Die Studie verfolgt daher einen in der neuen Ideengeschichte verankerten Ansatz. Es geht nicht nur darum zu analysieren, wie Vorstellungen von Sozialordnung verhandelt wurden, sondern auch darum, die wissenschaftlichen Konzepte, mit denen dies vorgenommen wurde, in ihren historischen Entstehungskontext einzuordnen.⁵⁶ Die vielen Ansätze der neuen Ideengeschichte verbindet, dass sie abseits vom vielgescholtenen Höhenkamm das komplexe Beziehungsgefüge zwischen Ideenwelt und sozialer Welt in den Blick nehmen wollen. Ziel ist es, die komplexen Wechselwirkungen zwischen sozialer Situation, materiellen Bedingungen und lebensweltlichen Konstellationen einerseits und generalisierungsfähigen und generalisierten Gedankensystemen, Diskursen und Denkgebäuden andererseits aufzuzeigen.⁵⁷ Denken und Handeln stehen dabei in einem engen Austausch: Ideen beeinflussen das Handeln von Akteuren, während das
Diese miteinander verbundenen und einander bedingenden Ordnungsvorstellungen lassen sich mit Saskia Sassen als jeweils unterschiedliche „Assemblagen“ von Territorium, Macht und Rechten verstehen, die als voneinander abhängige Aspekte jeweils das Produkt eines sozialen Aushandlungsprozesses seien. Mithilfe von Sassens Komponenten wird die Formation analysierbar, die Charles Maier das Zusammenfallen von politischem und kulturellen Raum genannt hat: „effective territories were units where decision space, the writ of effective legislation, shared the same boundaries with identity space, the extended turf that claimed citizens’ loyalites.“ Vgl. Sassen: Territory, authority, rights, S. 4– 5; Maier: Transformations of territoriality, S. 35. Zur Gegenüberstellung von „alter“ und „neuer“ Ideengeschichte vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): Ideengeschichte, Stuttgart 2010, S. 7– 42, hier S. 7– 8. Vgl. Lutz Raphael: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogrammes, in: Lutz Raphael und Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit, München 2006, S. 11– 27, hier S. 12.
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Handeln der Akteure wiederum die dahinter liegenden Vorstellungen und Denksysteme offenbart, die ihrerseits Ideen und Konzepte prägen. Ziel ist es daher, den Zusammenhang von Denken und Handeln in den Blick zu nehmen. Ideen, Denkkonzepte und Ordnungsvorstellungen sollen daher in ihren spezifischen Zeitkontext eingeordnet werden: Sie werden in der neuen Ideengeschichte nicht als überzeitliche Entitäten betrachtet, sondern als zeitlich und räumlich abhängige individuelle oder kollektive Vorstellungen, die damit historisch erforschbar sind. Die neue Ideengeschichte baut damit auf die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung seit den 1970er Jahren auf.⁵⁸ Bei der Untersuchung der Britishness-Debatte als Symptom einer öffentlichen Auseinandersetzung mit sozialen Ordnungsmustern in Großbritannien sollte nicht vergessen werden, dass die Konturen dieser Ordnung zwar auf industriellen, politischen oder wirtschaftlichen Pfeilern ruhten, sie aber vor allem durch die Sozialwissenschaften mit entsprechenden Begriffen belegt und im öffentlichen Diskurs verfestigt wurden. Dies beruht einerseits auf dem Prozess, den Lutz Raphael als die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ im 20. Jahrhundert bezeichnet hat, nämlich der Präsenz des Einflusses von Sozialwissenschaftlern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.⁵⁹ Zugleich muss aber auch beachtet werden, was Kim Priemel und Rüdiger Graf die „wirklichkeitskonstituierende Funktion der Sozialwissenschaften“ genannt haben.⁶⁰ Denn in den Analysen der Sozialwissenschaftler werde Wirklichkeit vorstrukturiert. Während es Graf und Priemel darum geht, diese erkenntnistheoretischen Vorannahmen in die historiographische Analyse einzubeziehen, vermag ihr Hinweis auch zur weiteren Präzisierung des methodischen Zugriffs der vorliegenden Arbeit beizutragen. Dies wird besonders deutlich am Fokus auf Sprache, der eine zentrale Rolle in der neuen Ideengeschichte zukommt. Aufbauend auf diskursanalytischen und begriffsgeschichtlichen Ansätzen stellt Sprache den Mechanismus dar, durch den Ideen, Konzepte oder Ordnungsvorstellungen erst untersucht werden können. In ihr werden sozialer Wandel wie auch sich verändernde sprachliche Konventionen
Vgl. ebd. Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22/1996, S. 165 – 193, hier S. 166. Kim Christian Priemel und Rüdiger Graf: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59/2011, S. 479 – 508, hier S. 482. Zur weiteren Diskussion von Priemels und Grafs Ansatz vgl. Jenny Pleinen und Lutz Raphael: Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften, in: VfZ 62/2014, S. 173 – 196.
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ebenso wie Machtverhältnisse sichtbar.⁶¹ Mit Jakob Vogel werden „Inhalte, Formen und soziale Reichweite des Wissens […] immer [als] Teil von komplexen Macht- und Aushandlungsprozessen“ verstanden, „deren genaues Zusammenspiel stets im konkreten historischen Fall zu bestimmen ist“.⁶² Für die vorliegende Arbeit ist vor allem der Begriff der „Identität“ von Interesse, der besonders in der Kollektivform der „nationalen Identität“ grundlegend für die Britishness-Debatte war und auf diese Weise auch seinen Platz in den britischen Geschichts- und Sozialwissenschaften zementieren konnte.⁶³ Um die Debatte über Inhalt und Reichweite einer britischen nationalen Identität historisieren zu können, ist es darüber hinaus notwendig, zum einen den Blick auf die sozialwissenschaftlichen Theorien zu richten, die hinter der Diagnose einer destabilisierten britischen Sozialordnung standen, und zum anderen, gleichsam auf einer Meta-Ebene, die analytischen Vorannahmen mit einzubeziehen, die hinter dieser seit den ausgehenden 1980er Jahren geführten Auseinandersetzung standen. Die BritishnessDebatte wurde davon getragen, dass das Konzept der nationalen Identität das Prisma der Forschung bildete. Zu ihrer Historisierung ist deshalb notwendig, nicht nur die strukturellen, politischen und sozialen Entwicklungen in ihren Entstehungskontext einzuordnen, sondern auch das Vokabular und die Konzepte, mit denen Ordnungsvorstellungen in dieser öffentlichen Auseinandersetzung artikuliert wurden und die – so die These – eng mit den zu untersuchenden Entwicklungen verbunden waren. „Nationale Identität“ muss dazu von einer Analysekategorie in einen Forschungsgegenstand überführt werden – ein Unterfangen, welches zwar schon in Betracht gezogen⁶⁴, aber bisher nur in Ansätzen durchgeführt worden ist.⁶⁵ Der Blick auf die sprachlichen Formen der Beschreibung von Zugehörigkeit erlaubt nicht nur Rückschlüsse darauf, welche Konzepte jeweils angelegt wurden, sondern auch auf die dahinterstehenden sozialen Ordnungsvorstellungen, gleichsam als „Zugehörigkeitswissen“.⁶⁶
Vgl. hierzu exemplarisch Martina Steber: Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, 1945 – 1980, Berlin 2017. Jakob Vogel: Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Fü r eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: GG 30/2004, S. 639 – 660, hier S. 651. Siehe Teil II. Vgl. Peter Mandler: What is „national identity“? Definitions and applications in modern British historiography, in: Modern Intellectual History 3/2006, S. 271– 297, hier S. 197. Vgl. hierzu beispielsweise Frederick Cooper: Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive, Frankfurt a. M. 2012, S. 109 – 159; Ingrid Jungwirth: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften. Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman, Bielefeld 2007. Eine detaillierte Analyse des von Peter Mandler 2006 beschriebenen schleichenden Übergangs von der Verwendung des Begriffes des „national character“ zu dem der „national identity“
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Quellen Neben „klassischen“ Quellen kulturwissenschaftlich inspirierter Politikgeschichte (Parlamentsprotokolle, Regierungsunterlagen, Tagebücher, Reden, Artikel in Zeitungen und Zeitschriften) wertet die Arbeit daher sozial- und geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur aus und verortet sie in ihrem jeweiligen historischen Kontext. Das oft genannte Problem eines jeden Zeithistorikers ist der Umgang mit dieser Literatur, die zwar im Sinne einer Quelle gelesen werden will, deren Erkenntnisse zugleich jedoch oft die eigene analytische ‚Brille‘ prägen. Der Nutzen sozialwissenschaftlicher Fachliteratur liegt darin, dass sie nicht nur wissenschaftliche Selbstbeschreibung liefert, sondern dass sie aus der Rückschau auch als Seismograph für Problemkontexte der Zeit gelesen werden kann.⁶⁷ An dieser Stelle ist es jedoch geboten, nicht nur die Gegenwartsdeutungen auszuwerten, sondern auch die wissenschaftlichen Vorannahmen, die hinter jeder Generierung sozialwissenschaftlicher Daten stehen, kritisch zu reflektieren – seien sie nun politologischer, wirtschaftswissenschaftlicher, soziologischer oder psychologischer Natur. Geschieht dies nicht, läuft die Analyse die Gefahr, zeitgebundene Deutungsmuster zu reproduzieren, anstatt sie zu historisieren.⁶⁸ Wenn dies aufgrund der Gefahr, sozialwissenschaftliche Forschungsdaten unkritisch zu verwenden, bisher vor allem für die sozialwissenschaftlichen Publikationen der Zeit stark gemacht worden ist, so gilt es nicht weniger für die zeitgenössische geschichtswissenschaftliche Forschung. Aus diesem Grund richtet sich der Blick der Arbeit nicht nur auf die Themen, die angesprochen wurden, sondern auch auf die analytischen Vorannahmen, die hinter ihrer sozialwissenschaftlichen und historiographischen Erforschung standen. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Ansatz der Identitätsforschung, der in Großbritannien seit den 1980er Jahren einen festen Platz in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung gefunden hatte. Auf diese Weise kann ein Beitrag zu der jüngst vermehrt geäußerten Forderung geleistet werden, das sozial- und geisteswissenschaftliche Vokabular aus dem Kontext der Transformationsprozesse der 1970er und 1980er Jahre heraus zu erklären.⁶⁹
im Zuge der erweiterten Britishness-Debatte verspricht daher nicht nur Aufschluss über die Konzepte von Zugehörigkeit, sondern der damit verbundenen Sozialordnung an sich. Vgl. Mandler: The English national character, S. 196. Vgl. Doering-Manteuffel und Raphael: Nach dem Boom (2010), S. 76 – 78. Vgl. hierzu auch Priemel und Graf: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Eine Forderung, die nicht zuletzt von Daniel T. Rodgers aufgestellt, aber von ihm nur begrenzt eingelöst wurde: Rodgers wirft in seinem „Age of Fracture“ zwar die Frage nach dem Wandel wissenschaftlicher Konzepte seit den 1970ern auf, beantwortet aber nicht abschließend, warum
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Aufbau der Arbeit Die Britishness-Debatte bildet den Ausgangs- und Fluchtpunkt für den Aufbau der Arbeit. Dabei verfolgt sie einen konzeptionellen Dreischritt, dessen Ziel die Historisierung dieser Debatte ist. Das Vorgehen ist chronologisch. Zunächst werden mit dem Umgang mit postkolonialer Einwanderung und den Diskussionen um Verfassungsreform und Devolution für Schottland und Wales die dominanten Einzelstränge der Auseinandersetzung um Britishness in ihren historischen Wurzeln der 1960er bis 1980er Jahre untersucht (Teil I und II): Im Kern des ersten Teils steht die Analyse der Debatten in Folge der Unruhen in Brixton und einer Reihe weiterer englischer Städte im Frühjahr und Sommer des Jahres 1981 sowie die Diskussion um die Reform der Staatsbürgerschaftsgesetzgebung im selben Jahr. Die Auseinandersetzungen verdeutlichen teils miteinander in Konflikt stehende Vorstellungen staatlicher und gesellschaftlicher Zugehörigkeit im britischen Nationalstaat, besonders in Bezug auf die zweite Generation von Migranten aus den Ländern des sogenannten „New Commonwealth“ in der Karibik und in Südasien. Im Kern des zweiten Teils stehen hingegen die politischen Diskussionen um die Reform der Verfassung und die Einführung von Parlamenten in Schottland und Wales seit den ausgehenden 1960er Jahren bis ins Jahr 1978. Durch die Analyse der Narrative, mit denen das Aufkommen von schottischem und walisischem Nationalismus zeitgenössisch und historiographisch erklärt wurde, kann gezeigt werden, dass die Vorstellung einer britischen Nation eng an eine bestimmte Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialordnung gekoppelt war und die Existenz konkurrierender Nationsvorstellungen nicht ausschloss. Die unterschiedlich gelagerten Auseinandersetzungen über soziale Zugehörigkeit seit den späten 1960er Jahren müssen als Indikatoren, als „Mikrobrüche“ gelesen werden, die ihrer Unübersichtlichkeit zum Trotz in der Gesamtheit auf eine größere Verschiebung in den Kategorien sozialer Ordnung verwiesen.⁷⁰ Die Analyse dieser Debatten dient daher zugleich dazu, die dominanten Vorstellun-
sich diese verändern. Diese Forderung wurde kürzlich von Wenke Meeting und Ariane Leendertz aufgegriffen. Vgl. Daniel T. Rodgers: Age of fracture, Cambridge, Mass./London 2011, S. 5 – 6; Ariane Leendertz und Wencke Meteling: Bezeichnungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik: Zur Einleitung, in: Ariane Leendertz und Wencke Meteling (Hrsg.): Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren, Frankfurt a. M. 2016, S. 13 – 33, hier S. 17– 18. Zum Topos der (Mikro‐)Brüche vgl. Stuart Hall: „What is important are the significant breaks – where old lines of thought are disrupted, older constellations displaced, and elements, old and new, are regrouped around a different set of premises and themes.“ Vgl. Stuart Hall: Cultural Studies. Two Paradigms, in: Media, Culture and Society, 2/1980, S. 57– 72, hier S. 57.
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gen britischer Sozialordnung, des sozialen Imaginären, im Moment seiner Infragestellung zu konturieren (Zwischenfazit). In einem zweiten Schritt wird der sozial- und geschichtswissenschaftliche Umgang mit den Veränderungsprozessen der Zeit analysiert (Teil IV): Die Britishness-Debatte war nicht ohne den wissenschaftlichen Begriff der „nationalen Identität“ denk- und artikulierbar. Dass dieser Begriff jedoch in der Leitwissenschaft der Debatte, der Geschichtswissenschaft, eine solche Bedeutung erlangen konnte, hing mit der Entwicklung des Faches zusammen, das seit den 1960er Jahren im Austausch mit benachbarten Disziplinen sowohl inhaltliche als auch methodische und epistemologische Neuerungen erfahren hatte. Die Beobachtung von und der wissenschaftliche Umgang mit den krisenhaften Erfahrungen, die in Großbritannien seit den 1960er Jahren in Parlament und Öffentlichkeit diskutiert wurden, waren dabei grundlegend für den Versuch vor allem sozialwissenschaftlicher Forscher, die neue Realität zu analysieren. Bis in die 1970er Jahre gültige sozialwissenschaftliche Kategorien von Sozialordnung wie Klasse, aber auch Konzepte politischer Ideologie wie Nationalismus wurden angesichts der sozialen und strukturellen Veränderungen besonders innerhalb der Neuen Linken, aber auch in der britischen Soziologie hinterfragt und alternative Kategorien wie „race“ propagiert. Der Aufstieg der Kategorie der (nationalen) Identität zur Schlüsselkategorie der Geschichts- und Sozialwissenschaften ist im Kontext dieser Debatten über Klasse und Nationalismus vor dem Hintergrund „neuer“ Nationalismen in Schottland und Wales und Diskussionen über britischen Patriotismus zu verorten. Zusammen genommen bildeten diese Debatten die thematischen und intellektuellen Grundlagen der politischen Auseinandersetzung über britische Identität der 1990er und 2000er Jahre: Legten die separaten Diskussionen anlässlich der Ausschreitungen 1981, der Nationality Bill oder der Pläne zur Einrichtung von Regionalparlamenten in Schottland und Wales die Themen und Probleme offen, anhand derer Zugehörigkeit zu Gesellschaft, Nation und Staat diskutiert wurde, lieferten diese wissenschaftlichen Neuerungen die Begriffe, anhand derer die Auseinandersetzung um Britishness geführt wurde. Der abschließende Teil behandelt daher die politische Debatte um Britishness in den 1990er und 2000er Jahren (Teil V). Die Auseinandersetzung stellte die politische Fortführung der öffentlichen und politischen Aushandlung sozialer Ordnung dar, die durch das New Labour-Projekt der Regierungen Tony Blairs, aber vor allem Gordon Browns maßgeblich beeinflusst wurde. Anhand von Begriffen wie „Staatsbürgerschaft“, der Reform britischer Institutionen und des Verhältnisses unterschiedlicher nationaler Identitäten zueinander wurden die Folgen von Migration oder des zunehmenden schottischen und walisischen Nationalismus für den britischen Staat oder die britische „Gesellschaft“ verhandelt. Die politi-
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sche Diskussion über Britishness wurde damit zu einem vorläufigen Höhepunkt in der andauernden Neuverhandlung sozialer Ordnung; sie war allerdings nicht ohne die öffentlichen und politischen Debatten anhand der „Mikrobrüche“ der 1970er und 1980er Jahre sowie die parallel laufenden, teils überlappenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen denkbar. Die Frage nach der Rolle des Vereinigten Königreichs in Europa und der Welt war in diese Auseinandersetzungen am Schnittpunkt gesellschaftlicher, staatlicher und nationaler Zugehörigkeit eingeflochten. Auch wenn die Verhandlungen über den Eintritt des Vereinigten Königreichs in die Europäischen Gemeinschaften seit den 1960er Jahren ein heftig diskutiertes Thema waren, wurde die europäische Integration erst seit den ausgehenden 1980er Jahren von einer zunehmenden Anzahl von Personen als nationales Problem gelesen. Dass die Frage nach „Europa“ in der Britishness-Debatte eine wichtige Rolle spielt, ist unbenommen.⁷¹ Da sie als Debattenpunkt jedoch erst in den 1990er und 2000er Jahren voll durchschlug, wird sie nicht in einem eigenständigen Teil der Arbeit behandelt, sondern als Aspekt in den unterschiedlichen Kapiteln aufgegriffen. Ähnlich verhält es sich mit der Frage Nordirlands. Die Alterisierung Nordirlands ist in der kulturhistorischen Literatur ein weit bekannter Topos und findet sich auch in den Debatten der 1990er und 2000er Jahre.⁷² Da jedoch der nordirische Landesteil in den unterschiedlichen Diskussionen als wichtige, wenn auch durchgehend als fremd erachtete Vergleichsfolie herangezogen wurde, wird die irische Dimension in den einzelnen Teilen der Arbeit deutlich herausgearbeitet werden, aber kein eigenes Kapitel erhalten.
So identifizieren die Politologen Andrew Gamble und Tony Wright die europäische Integration dezidiert als Faktor der Britishness-Debatte. Vgl. Andrew Gamble und Tony Wright: Introduction. The Britishness question, in: The Political Quarterly 78/2007, S. 1– 9, hier S. 2. Vgl. hierzu auch die Art und Weise, wie sich sowohl Linda Colley als auch Keith Robins betont nicht mit der Rolle Irlands beschäftigen.
I 1981: Soziale Zugehörigkeit zwischen Nation, Gesellschaft und Empire The crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new is yet to be born. And in the interregnum, a great variety of morbid symptoms appear. ¹ (Antonio Gramsci) Britain is an „old country“ with a reputedly stable constitutional system, but a weak notion of citizenship and a confused definition of nationality. ² (David Cesarani, Mary Fulbrook)
Am Abend des 10. April 1981 eskalierte eine routinemäßige Polizeikontrolle im Londoner Stadtteil Brixton in ein Wochenende mit heftigen Ausschreitungen.³ Häufige Kontrollen der schwarzen Bevölkerung Brixtons waren die Regel und hatten regelmäßig zu Spannungen geführt, die seit Wochen in dem Bezirk im Süden Londons geschwelt hatten.⁴ Alleine am Samstagabend wurden 279 Polizisten und 45 Zivilpersonen verletzt, zahlreiche Polizeiwagen sowie 28 Gebäude wurden durch Feuer beschädigt oder zerstört.⁵ Wenige Monate später, im Juli, brachen Unruhen zunächst im Londoner Stadtteil Southall aus, die von Ausschreitungen in anderen Teilen der Hauptstadt und weiteren Städten Englands gefolgt wurden und sich bis nach Birmingham, Liverpool, Manchester und Leeds ausdehnten. Englands Städte erlebten einen „short, hot summer“.⁶ Die Unruhen im April unterschieden sich von denen im Juli nicht nur im Umfang, sondern auch in den beteiligten Akteuren sowie den Umständen, die sie hervorriefen: Die Gewalt war im Juli nicht mehr auf die schwarze Bevölkerung beschränkt, sondern umfasste auch Jugendliche südasiatischer Herkunft sowie der weißen Arbeiterklasse. Während die Auseinandersetzungen in Southall zwischen British Asians
Antonio Gramsci: Selections from the prison notebooks of Antonio Gramsci, herausgegeben und übersetzt von Quintin Hoare u. Geoffrey Nowell Smith, New York 1971, S. 275 – 276. David Cesarani und Mary Fulbrook: Introduction, in: David Cesarani und Mary Fulbrook (Hrsg.): Citizenship, nationality and migration in Europe, London/New York 1996, S. 1– 14, hier S. 5. Für den offiziellen Ablauf des Unruhen vgl. Leslie G. Scarman: The Scarman Report. The Brixton disorders 10 – 12 April 1981, Harmondsworth 1986, S. 38 – 41. Zur Häufigkeit der Kontrol len gerade aus der Perspektive eines außenstehenden Reporters vgl. Geschockt wie nie, in: Der Spiegel, 17/1981, S. 141– 142. Vgl. Scarman: The Scarman Report, S. 14. Laurence Marks: Riot Britain. Our short hot summer of discontent, Observer, 12. 8.1981, S. 13, 16; Martin Kettle und Lucy Hodges: Uprising! The police, the people, and the riots in Britain’s cities, London 1982, S. 155. https://doi.org/10.1515/9783110627671-002
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und Skinheads ausbrachen⁷, fanden die Konfrontationen in Toxteth – oder in der Sprache der Bewohner, Liverpool 8 – in einer Gegend statt, in der es seit dem frühen 20. Jahrhundert eine eingesessene black community gab.⁸ Dort wurde zum ersten Mal Tränengas auf dem britischen ‚Festland‘ verwendet (das heißt, außerhalb von Nordirland)⁹, und dort war der Ort des ersten Todesopfers, ein Zuschauer, der von einem Polizeiwagen überfahren wurde. In der öffentlichen Diskussion wurde nun auch das weitflächige Plündern von Geschäften verstärkt thematisiert und rief weithin Empörung hervor – ein Thema, das im April noch als Nebenschauplatz gegolten hatte. Die Suche nach Ursachen begann unmittelbar nach den Unruhen. Die gesellschaftlichen Konsequenzen von Migration, die konfliktbehaftete Beziehung der Polizei zu den sogenannten Einwanderergemeinden¹⁰, der Verfall der Innenstädte¹¹ und das verstärkte Aufkommen von Rassismus als ernstzunehmendes politisches Problem¹² wurden nun als wichtige Faktoren für den Ausbruch der Ausschreitungen genannt. Die öffentliche Suche nach Ursachen und Verantwortlichen für die Unruhen führte zu einer Auseinandersetzung über gesellschaftliche Zugehörigkeit der oftmals jugendlichen Randalierer und gleichzeitig
Vgl. The tops of the volcanoes, Economist, 11.7.1981, S. 19 – 20, 22. Toxteth hatte bereits in den Jahrzehnten zuvor eine deutliche schwarze Minderheit, die jedoch nach dem Ersten Weltkrieg signifikant angestiegen war. Vgl. Peter Fryer: Staying power. The history of black people in Britain, 6. Aufl., London 1992, S. 299 f. Vgl. Rob Rohrer: Riots. Police open fire on civilians, New Statesman, 17.7.1981, S. 6 – 8; Rob Rohrer: CS gas cover-up. Evidence that police fired directly at individuals in Toxteth last July, New Statesman, 22.10.1982, S. 12. Vgl. Brixton burns, Economist, 18.4.1981, S. 11– 12; Police off Brixton’s map, Economist, 18.4. 1981, S. 22– 23; Backing up Scarman, Economist, 13.6.1981, S. 20; Amrit Wilson: Immigration policy and the police state, New Statesman, 11.7.1980, S. 38, 40; Francis Wheen: Living in a state of siege. Police harrassment in London, New Statesman, 30.1.1981, S. 10; Bob Forde: Routine racism of the Met, New Statesman, 27. 3.1981, S. 13; Rob Rohrer und David Massey: The Toxteth family who would take no more, New Statesman, 10.7.1981, S. 3; Mike Phillips und Crispin Aubrey: Riots. Rage that shattered Thatcher, New Statesman, 17.7.1981, S. 8 – 9; Rob Rohrer: „You black bastard, you jungle bunny“. Growing evidence of brutal „reprisal policing“ on Merseyside, New Statesman, 24.7.1981, S. 3 – 4; o. A.: The „riots“, in: Race & Class 23/1981, S. 223 – 232. Vgl. Britain’s inner cities. Apocalypse then?, Economist, 18.7.1981, S. 34– 36; Lee Bridges: Keeping the lid on: British urban social policy, 1975 – 81, in: Race & Class 23/1981, S. 171– 185; ‚Bad housing contributed to riots, says GLC housing chief‘, GLC Public Relations Branch News Service, London Metropolitan Archives, London, GLC/DG/PRB/35 Vol. 37, 21.7.1981; Roy Hattersley: Disturbances (Southall and Liverpool). Hansard, HC Deb 06 July 1981 vol 8 cc22. Vgl. What next in Britain’s inner cities?, Economist, 22.5.1982, S. 39 – 40; The devil’s work, Economist, 27.6.1981, S. 23; Amrit Wilson: City on fire. Coventry, where racist violence is now a fact of life, New Statesman, 12.6.1981, S. 11– 12; Editorial, in: Race & Class 23/1981, S. i–ii.
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zu einer Verständigung darüber, welche Werte nach Ansicht der Diskutanten grundlegend für die britische Gesellschaft waren. Die riots waren 1981 nicht der einzige Anlass, weshalb sich britische Politiker mit dem umstrittenen Thema der Zugehörigkeit unterschiedlicher sozialer Gruppen zu Großbritannien beschäftigen mussten. Im Januar des Jahres wurde nach ausgedehnter ministerialer Vorarbeit dem House of Commons ein Gesetz präsentiert und am 30. Oktober 1981 von Elizabeth II. ratifiziert, das nicht weniger versuchte, als die Grenzen britischer Staatsbürgerschaft neu zu definieren. Zu dieser juristischen und politischen Herkulesarbeit hatte William Whitelaw nach dem konservativen Wahlsieg gleich im Sommer 1979 als frisch eingesetzter Innenminister angesetzt. Bereits seine Vorgänger im Innenministerium hatten vergeblich versucht, das als heillos veraltet angesehene britische Nationality Law auf eine neue Grundlage zu stellen. Grundlegender Kern des Problems war für die Politiker der bis dahin gültige British Nationality Act von 1948. Dessen auf die damaligen Grenzen des Empire ausgedehnte Konzeption von staatlicher Zugehörigkeit hatte 800 000 000 imperialen subjects das Recht verliehen, in das Vereinigte Königreich einzureisen und sich dort niederzulassen, zu arbeiten, das aktive und passive Wahlrecht auszuüben und für die britische Regierung zu arbeiten.¹³ Mehr noch: Die Bewohner ehemals kolonialer, nun souveräner Staaten genossen als Commonwealth citizens im Vereinigten Königreich dieselben Rechte – ein Faktor, der möglicherweise dazu beigetragen hat, weswegen die Arbeitsmigranten aus dem „New Commonwealth“ auf besondere Ablehnung in der britischen Bevölkerung stießen, also aus den Teilen des Empire, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs unabhängig geworden waren.¹⁴ Diese Bindung von bürgerlichen Rechten an die juristische Staatsangehörigkeit war jedoch nicht zwangsläufig gegeben: Die britische Nationalität, bis 1981 offiziell durch den 1948 verabschiedeten British Nationality Act definiert, garantierte nicht automatisch den Genuss staatsbürgerlicher Rechte, obgleich in der politischen Debatte bürgerliche Rechte als Privilegien verstanden wurden, die der gesamten Nation der Briten zustünden – deren territoriale und kulturelle Grenzen jedoch je nach Gesprächspartner deutlich variierten. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Zugehörigkeit zum britischen Staat, zum britischen Gemeinweisen und der Nation bilden ein Spannungsverhältnis, das sowohl durch die imperiale Vergangenheit Großbritanniens, als auch durch die Tatsache, dass Nation und citizenship Kon-
Vgl. Christian Joppke: Immigration and the nation-state. The United States, Germany, and Great Britain, Oxford 1999, S. 101. Vgl. Dieter Gosewinkel: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 434– 435.
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zepte waren, die für sich genommen universale Gültigkeit beanspruchten, verschärft wurde. Dass die rechtliche Definition staatlicher Zugehörigkeit in der Debatte um die Reform des British Nationality Act sowie die öffentliche Bestimmung der gesellschaftlichen Zugehörigkeit in der Debatte nach den Unruhen mit dem fortschreitenden Verlust britischer Kolonien zum Thema wurde, stellt in diesem Zusammenhang keinen Zufall dar. Im Jahr 1981 waren nicht einmal 15 Jahre vergangen, seit mit der Unabhängigkeit von Mauritius und Swasiland im Jahre 1968 der politische Dekolonisationsprozess, der am 15. August 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens formal angefangen hatte, für Großbritannien weitgehend abgeschlossen war.¹⁵ Im Jahre 1981 verblieben nur eine Handvoll Territorien, allen voran Gibraltar, Hong Kong oder die Falklandinseln. Christoph Kalters und Martin Rempes begriffliche Unterscheidung zwischen den beiden Prozessen der Dekolonisation und Dekolonisierung erweist sich hier als nützliche Hilfe, um die zeitlich unterschiedlichen Prozesse zu differenzieren.¹⁶ Denn wie Bill Schwarz bereits deutlich gemacht hat, unterscheidet sich die metropolitane Zeit der „inneren“ Dekolonisierung deutlich von dem eher raschen Ablauf der „äußeren“, politischen Dekolonisation.¹⁷ Im Zuge des strukturellen Ablösungsprozesses der Dekolonisation wanderte eine bis zu diesem Zeitpunkt ungekannte Zahl kolonialer und ehemals kolonialer Bürger als Arbeitsmigranten nach Großbritannien ein und ließen sich vor allem in den größeren Städten Englands nieder. Die Neuformulierung des britischen Nationalitätengesetzes hingegen wurde explizit als Beitrag zur inneren Dekolonisierung verstanden, nämlich als Weg, um mit weiterhin bestehenden, jetzt als Anomalien betrachteten imperialen Überresten aufzuräumen. Timothy Raison, Under-Secretary of State im Home Office, verdeutlichte im Zusammenhang mit der Gesetzesnovelle auf dem Parteitag der Konservativen im Jahr 1980: „We have finally to dispose of the lingering notion that Britain is somehow a haven for all those whose countries we once ruled.“¹⁸ Im Ringen um die Definition von staatlicher und gesellschaftlicher Zugehörigkeit zeigt sich, wie die Vorstellungen staatlich grundierter Gemeinschaftskonzeptionen aufeinander trafen, in der sich eben jene Spannung imperialer Ver-
Allein Rhodesien verblieb bis 1980 als Sorgenkind, dessen lange ungeklärter Status die prekäre internationale Rolle der ehemaligen Kolonialmacht unterstrich. Christoph Kalter und Martin Rempe: La Re´publique de´colonise´e. Wie die Dekolonisierung Frankreich verändert hat, in: GG 37/2011, S. 157– 197, hier S. 166. Vgl. Bill Schwarz: Claudia Jones and the West Indian Gazette, in: Twentieth Century British History 14/2003, S. 264– 285, hier S. 265 – 266. Zit. nach Charles Blake: Citizenship, law and the state: the British Nationality Act 1981, in: The Modern Law Review 45/1982, S. 179 – 197, hier S. 182.
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flechtungen und nationaler Vorstellungen widerspiegelte.¹⁹ Ein grundlegender Wandel des Gleichgewichts staatlicher Strukturen und Zugehörigkeitsdefinitionen wie im Falle der Dekolonisation musste, so die Vermutung, zumindest übergangsweise zu administrativen wie politischen Problemen führen. Im folgenden Kapitel sollen die regierungsinternen, parlamentarischen und öffentlichen Debatten in Folge der Unruhen und um die Reform des britischen Nationality Law im Jahr 1981 jedoch nicht nur als Teil der inneren Dekolonisierung Großbritanniens verstanden werden: 1981 wurden im British Nationality Act die offizielle Definition britischer Nationalität kodifiziert und in der Debatte nach den Unruhen gesellschaftliche Trennungslinien abermals gezogen. Damit wurden zugleich die Grenzen der sozialen und politischen sozialen Imaginären neu justiert. Die Debatten in Folge der Unruhen und um die Reform der Staatsbürgerschaftsgesetzgebung bieten den Schlüssel zum Verständnis des Denkens über die Grenzen der politischen und sozialen Imaginären Großbritanniens. Innerhalb derer lassen sich mehrere Ebenen unterscheiden: die juristische Ebene der Gesetzestexte und deren fachwissenschaftlicher Auslegung, die außenpolitische Ebene, die sich vor allem auf den Umgang mit den verbleibenden und ehemaligen Kolonien sowie den Stellenwert des Empire in der öffentlichen Debatte bezieht, sowie die der Öffentlichkeit, wobei hier besonders die Machtstrukturen, die mit einer auf medialem Zugang basierenden Öffentlichkeit einhergehen, mitgedacht werden müssen.²⁰ Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Begriffe gelegt, die zur Beschreibung staatlicher und gesellschaftlicher Zugehörigkeit verwendet werden, und auf die Vorstellungen sozialer Zugehörigkeit, die sich aus den Debatten herauslesen lassen. Auf diese Weise können die zeitliche Verortung dieser Konzepte und der inhaltliche Wandel der verwendeten Begriffe in den Blick genommen sowie Verschiebungen in der Art, wie das dazugehörige soziale Imaginäre vorgestellt wurde, herausgearbeitet werden.
Als Beispiel für Staatsbürgerschaftskonzeptionen um die Jahrhundertwende vgl. Frank Trentman: After the nation-state: citizenship, Empire and global coordination in the new internationalism, 1914– 1930, in: Kevin Grant, Philippa Levine und Frank Trentman (Hrsg.): Beyond sovereignty: Britain, Empire and transnationalism, c.1880 – 1950, Houndmills, Basingstoke 2007. Vgl. Nancy Fraser: Die Transnationalisierung der Öffentlichkeit. Legitimität und Effektivität der öffentlichen Meinung in einer postwestfälischen Welt, in: Peter Niesen und Benjamin Herborth (Hrsg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, Frankfurt a. M. 2007, S. 224– 253, hier S. 231.
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1 Die Unruhen von 1981: Verhandlung gesellschaftlicher Zugehörigkeit Nur wenige Tage nach Ende der Unruhen wurde von Seiten der Regierung eine Official Enquiry unter der Leitung von Lord Scarman eingesetzt, die die Ursachen für die Ausschreitungen finden sollte. Untersuchungskommissionen sind in Großbritannien eine etablierte Methode, um mit politischen Problemen von der Art der riots von 1981 umzugehen. Official oder Public Enquiries, wie die öffentlichen Untersuchungen im englischen Original genannt werden, werden im britischen System dann einberufen, wenn es Vorwürfe des Fehlverhaltens oder Unzulänglichkeiten im rechtsstaatlichen Prozess gibt, oder im Anschluss an größere Ereignisse.²¹ Ziel dieser Untersuchungen ist, Probleme zu identifizieren, Verantwortlichkeiten zu verteilen und Lösungen vorzuschlagen; ihre Vorsitzenden haben daher vorzugsweise Berufe, die einen unparteiischen Ruf genießen: Sie sind in der Regel Anwälte oder Richter, denen professionelle „Experten“ zur Seite gestellt werden. Im Gegensatz zu den längerfristigen und inhaltlich breiter angelegten Royal Commissions kann die Public Enquiry Beweismittel und Anhörungen in einem öffentlichen Forum annehmen und durchführen. Kommissionen dieser Art sind Teil des britischen Staats- und Politikapparats, neben ihrer investigativen Funktion verfügen sie über politisch wichtigen Symbolcharakter. Denn durch das Einsetzen einer Expertenkommission kann der Anschein von schnellem Regierungshandeln erweckt werden, ohne dass tatsächlich viel gehandelt würde – eine Verzögerungstaktik, die ohne Zweifel auch für die Regierung Thatcher eine Rolle spielte, durch die Unruhen im Juli desselben Jahres aber zunichte gemacht wurde.²² Als Lord Leslie Scarman zwei Tage nach Ende der Ausschreitungen in Brixton von der konservativen Regierung mit der Durchführung der offiziellen Untersuchung betraut wurde, war der als liberal bekannte High Court judge bereits Vorsitzender einer Reihe öffentlichkeitswirksamer Untersuchungen gewesen, zuletzt der zum Streik an den Grunwick Film Processing Laboratories im Norden Londons im Jahre 1977. Gerade diese Erfahrung im Umgang mit politisch sensiblen Themen
Zu der Zusammensetzung und Funktion der Official Enquiries vgl. Phil Scraton: From deceit to disclosure: the politics of official inquiries in the United Kingdom, in: George P. Gilligan und John Pratt (Hrsg.): Crime, truth and justice. Official inquiry, discourse, knowledge, Oxford 2004, S. 46 – 70, hier S. 38 f. Kritiker verweisen zudem darauf, dass die unabhängigen Experten häufig nicht so unabhängig sind, wie sie vorgeben, da sie ja im bestehenden System ihren professionellen Weg erfolgreich bestritten hätten und die vermeintliche Überparteilichkeit des Vorsitzenden auf diese Weise Vorwand für politische Projekte werden könne. Vgl. ebd., S. 48 f.
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ließ den angesehen Richter prädestiniert für diese Untersuchung erscheinen, und der 69-Jährige war folglich die erste Wahl der Regierung Thatcher, um den Unruhen im Londoner Stadtteil Brixton auf den Grund zu gehen. Im Zentrum des Interesses stand das Verhalten der Polizei: Anschuldigungen von Polizeibrutalität, aber auch Bilder und Berichte von verletzten Polizisten stellten die Rolle der Metropolitan Police, kurz Met, in den Mittelpunkt der öffentlichen Untersuchung – Vorwürfe, die im deutlichen Gegensatz zur etablierten Vorstellung des freundlichen „Bobby“ standen, die lange das öffentliche Bild der Polizei bestimmt hatte.²³ Zur Bewältigung seiner im Detail eher unklar gehaltenen Aufgabenstellung führten Scarman und seine Kollegen 20 Tage lang Interviews, die gegen den Wunsch der Regierung öffentlich abgehalten wurden²⁴; sie sammelten schriftliche Aussagen und Zuschriften und hielten ein sieben Tage andauerndes hearing ab, bevor sieben Monate nach den Unruhen, im November des Jahres 1981, der Bericht unter dem Titel „The Scarman Report: The Brixton Disorders 10 – 12 April 1981“ publiziert wurde. Scarman legte die Befugnisse der Untersuchung breit aus: Sein Bericht umfasste die soziale Lage, das Vorgehen der Polizei sowie Empfehlungen zur Reform des Polizeiapparats, seines gesetzlichen Rahmens und der Sozialpolitik. Lord Scarman und sein Team von Experten waren jedoch nicht die einzigen, die nach den Ursachen der Unruhen von April und Juli suchten. Im Anschluss an die Ausschreitungen in Brixton im April und die England umfassenden Unruhen im Juli entspann sich eine lebhafte Debatte in der britischen Presse, die nach Verantwortlichen suchte. In ihr rangen Journalisten, Politiker, soziologische und kriminologische Experten aus den Universitäten sowie Vertreter der sogenannten ethnic communities um Deutungshoheit der Ereignisse, die gemeinhin als einschneidend erfahren und die von manchen gar als gesellschaftliche Zäsur gehandelt wurden. Politiker wie Innenminister William Whitelaw veröffentlichten Statements, einflussreiche Leitartikel wurden publiziert. Der ehemalige Commissioner der Metropolitan Police, Sir Robert Mark, und Sprecher der betroffenen Einwanderergemeinden präsentierten ihre jeweils eigene Einschätzung der Lage.²⁵ All diese Akteure verstanden die Unruhen als schwerwie-
Robert Reiner: The politics of the police, 4. Aufl., Oxford 2010, S. 67– 68. Einen Umstand, den die Regierung vorhergesehen hatte, wenn auch nicht unbedingt begrüßte. Vgl. Principal Private Secretary: an John Halliday. Brixton: Inquiry, The National Archives, London, PREM 19/484 f241, 13.4.1981. Vgl. Robert Mark: Police are easy scapegoats, Observer, 12.7.1981, S. 14; Robert Mark: Brixton. „Our system of policing and justice is simply not geared to this kind of thing“, Sunday Times, 19.4. 1981, S. 16; Robert Mark: Scarman’s Britain. Pigs in the middle, Observer, 29.11.1981, S. 11– 12.
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gend, manche gingen sogar soweit, sie als beispiellos zu bezeichnen²⁶ – eine Behauptung, die von der nachfolgenden soziologischen Forschung schon bald als haltlos bewiesen wurde: Gewaltsame Unruhen per se sowie deren durch zwischenethnische Spannungen begründete Interpretation traten wiederholt in der Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert auf, nicht zuletzt im Jahre 1976, als der jährliche Notting Hill Carnival in Konfrontationen zwischen Polizei und Jugendlichen geendet hatte.²⁷ Die Berichterstattung der Presse lässt sich grob in zwei Phasen einteilen: in eine erste direkt nach den Unruhen in Brixton im April, und eine zweite ab Juli 1981. In der Berichterstattung zu den Ausschreitungen im April wurden besonders die ethnischen Unterschiede als zentrales Charakteristikum hervorgehoben und die Ausschreitungen als Folge von ‚schlechten Rassenbeziehungen‘ gedeutet. Dieses Deutungsmuster war spätestens seit den Unruhen in Notting Hill des Jahres 1958 etabliert, die von Angriffen weißer Londoner auf die Häuser von Migranten aus der Karibik ausgelöst worden waren.²⁸ Auch wenn nur wenige Kommentatoren die Unruhen als „race riot“ brandmarkten, betrachtete doch die Mehrheit der Journalisten das Verhältnis zwischen schwarzen Jugendlichen und der mehrheitlich weißen Polizei als das Kernproblem des Konflikts.²⁹ Die Ausschreitungen wurden damit zeitgenössisch in direktem Zusammenhang mit Unruhen in Bristol im Jahr zuvor gesetzt, als eine Polizeirazzia in einem illegalen Gasthaus zu Ausschreitungen in einem vorwiegend „schwarzen“ Viertel der Stadt geführt hatte.³⁰ Der Ton der Presse, vor allem der Boulevardzeitungen,veränderte sich während der Unruhen im Juli 1981. Die Reduzierung der Auseinandersetzungen auf ethnische Konfliktlinien in den Städten schien nicht mehr haltbar, da sich zum einen die
Vgl. Backing up Scarman, Economist, 13.6.1981, S. 20; P. J. Waller: The riots in Toxteth, Liverpool. A survey, in: New Community, 9/1981, S. 344– 353; Kettle und Hodges: Uprising!, S. 9. Vgl. Michael Rowe: Race riots in twentieth century Britain, Leicester 1994; John Benyon: Unrest and the political agenda, in: John Benyon und John Solomos (Hrsg.): The roots of urban unrest, Oxford 1987, S. 165 – 179, hier S. 166. Vergleiche hierzu Überschriften wie Black war on police, Daily Mail, 6.7.1981, S. 1. Vgl. beispielsweise Brixton burns, Economist, 18.4.1981, S. 11– 12; Some lessons from Bristol to Brixton, Guardian, 13.4.1981, S. 12. Vgl. beispielsweise Brixton (Disturbances). Hansard, HC Deb 13 April 1981 vol 3 cc29; David P. Waddington und Mike King: Theoretical orientations: lessons of the UK riots of the 1980s and 1990s, in: David P. Waddington, Fabien Jobard und Mike King (Hrsg.): Rioting in the UK and France, Cullompton 2009, S. 13 – 26, hier S. 14; John Benyon und John Solomos: British urban unrest in the 1980s, in: John Benyon und John Solomos (Hrsg.): The roots of urban unrest, Oxford 1987, S. 3 – 21, hier S. 4; Michael Rowe: The racialisation of disorder in twentieth century Britain, Aldershot 1998, S. 7. Interessanterweise wurden die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und schwarzer Bevölkerung in den 1970er Jahren in der Debatte nicht aufgegriffen.
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soziale Situation der einzelnen betroffenen Stadtteile unterschied, zum anderen in Städten wie Manchester, Liverpool und Leeds eine nicht geringe Zahl weißer Jugendlicher an den Ausschreitungen beteiligt war. Die Rolle von Skinheads und asiatischen Jugendlichen – bis zu diesem Zeitpunkt und besonders im Vergleich mit den Einwanderern aus der Karibik als weitgehend friedlich erachtet³¹ – in den Auseinandersetzungen im Londoner Stadtteil Southall untergrub die bis dahin vorherrschende Interpretation eines problematischen Verhältnisses von Polizei und black communities als dominierender Grund für die Unruhen. Die gesellschaftlichen Konsequenzen von Migration, die konfliktbehaftete Beziehung von Polizei zu den sogenannten Einwanderergemeinden³², der Verfall der Innenstädte³³ und das verstärkte Aufkommen von Rassismus als ernstzunehmendes politisches Problem³⁴ wurden nun als wichtige Faktoren für den Ausbruch der Ausschreitungen genannt. Verblieb die Auseinandersetzung im April noch im klassischem „race relations“Ansatz, so drehte sich die Debatte im Juli zunehmend um den generellen sozialen Raum, in dem die Unruhen stattfanden und in dem sich eine Reihe von als problematisch erachteten Entwicklungen bündelten. Hauptstreitpunkt war nun nicht mehr, ob soziale Faktoren ausschlaggebend waren, sondern welche, oder ob die kollektive Gewalt der Jugendlichen nicht doch auf ein kulturelles Verhaltensdefizit zurückgeführt werden müsse. Die öffentliche Suche nach Ursachen und Verantwortlichen für die Unruhen führte zu einer Auseinandersetzung über gesellschaftliche Zugehörigkeit der oftmals jugendlichen Randalierer und gleichzeitig zu einer Verständigung darüber, welche Aspekte nach Ansicht der Diskutanten grundlegend für die britische Gesellschaft waren. Drei unterschiedliche Faktoren lassen sich hier unterscheiden, Für ein zeitgenössisches Beispiel vgl. Richard West: The seeds of hatred, Spectator, 18.4.1981, S. 12– 13. Vgl. Brixton burns, Economist, 18.4.1981, S. 11– 12; Police off Brixton’s map, Economist, 18.4. 1981, S. 22– 23; Backing up Scarman, Economist, 13.6.1981, S. 20; Wilson: Immigration policy and the police state, New Statesman, 11.7.1980, S. 38, 40; Wheen: Living in a state of siege. Police harrassment in London, New Statesman, 30.1.1981, S. 10; Forde: Routine racism of the Met, New Statesman, 27.3. 1981, S. 13; Rohrer und Massey: The Toxteth family who would take no more, New Statesman, 10.7. 1981, S. 3; Phillips und Aubrey: Riots. Rage that shattered Thatcher, New Statesman, 17.7.1981, S. 8– 9; Rohrer: „You black bastard, you jungle bunny“. Growing evidence of brutal „reprisal policing“ on Merseyside, New Statesman, 24.7.1981, S. 3 – 4; o. A.: The „riots“. Vgl. Britain’s inner cities. Apocalypse then?, Economist, 18.7.1981, S. 34– 36; Bridges: Keeping the lid on; ‚Bad housing contributed to riots, says GLC housing chief‘, GLC Public Relations Branch News Service, London Metropolitan Archives, GLC/DG/PRB/35 Vol. 37, 21.7.1981; Hattersley: Disturbances (Southall and Liverpool). Hansard, HC Deb 06 July 1981 vol 8 cc22. Vgl. What next in Britain’s inner cities?, Economist, 22.5.1982, S. 39 – 40; The devil’s work, Economist, 27.6.1981, S. 23; Wilson: City on fire. Coventry, where racist violence is now a fact of life, New Statesman, 12.6.1981, S. 11– 12; Editorial 1981/1982.
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die von unterschiedlichen, aber teils überlappenden Gruppen vertreten wurden: Zugehörigkeit durch Einhaltung gesellschaftlicher Normen und Werte, Zughörigkeit durch Arbeit sowie durch die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur. Diese Aushandlung von Gesellschaftsidealen und -zugehörigkeit wurde dabei nicht separat diskutiert, sondern war Bestandteil in der öffentlichen Debatte über Gründe und Erklärungen: Während Politiker und Journalisten unterschiedlicher politischer Überzeugung versuchten, die Ursachen für die Unruhen festzulegen, verhandelten sie gleichzeitig implizit und explizit die Frage nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit derer, die an den Unruhen beteiligt waren. In der Regel ging es um die Eigenschaften, die die Randalierer von der ‚normalen‘ britischen Gesellschaft unterschieden: So titelte die Boulevardzeitschrift The Sun „To think this is England“ – ein Zitat eines erschöpften Polizisten nach einer „night of rioting and looting in Liverpool“³⁵ und stand damit für eine Vielzahl journalistischer Auseinandersetzung mit den Unruhen.³⁶ Die Innenstädte der traditionellen englischen Industriestädte bilden als lokaler Anker den geographischen Ort der Unruhen und zugleich den nationalen Deutungsund Diskussionsrahmen für Probleme, die die gesamte Gesellschaft betrafen. Die Ausschreitungen katapultierten eng verstrickte Problemfelder in das Zentrum der Öffentlichkeit, die eine einfache politische Lösung unmöglich machten; Polizei und die Einwanderergemeinden bildeten die wahrgenommenen Hauptakteursgruppen. Dass das urbane lokale „Problemkonglomerat“, symbolisiert durch die Unruhen 1981, dennoch als nationale und gesamtgesellschaftliche Problemstellung gedeutet wurde, lag weitestgehend an zwei Faktoren: Zum einen erweckte die geographische Verteilung der Unruhen in einer Reihe von Industriestädten in England – London, Liverpool, Manchester, Birmingham, Leeds – den Anschein eines englandweiten Problems.War es noch möglich, die Ausschreitungen im Londoner Stadtteil Brixton im April des Jahres als lokalen Konflikt zwischen Polizei und Einwanderergemeinde zu deuten, so verhinderte die schiere geographische Verteilung der Unruhen diese Lesart. Zum anderen trug die mediale Darstellung, besonders die vorher genannte Deutung der riots als Wasserscheide, in der gesellschaftliche Zugehörigkeit verhandelt wurde, dazu bei, dass die jeweiligen Unruhen nicht als lokale Konflikte in ihrem jeweiligen Kontext gesehen wurden, sondern als Indikator eines gesamtgesellschaftlichen Problems.³⁷ Die Deutung der Innenstädte als komplexe nationale Problemräume wurde durch die Vorstellung eines ausgeprägten Gegensatzes zwi ‚To think this is England‘, The Sun, 6.7.1981, S. 1. Vgl. auch Rowe: The racialisation of disorder, S. 1 f. Vgl. auch Jaquelin A. Burgess’ Analyse aus dem Jahr 1985. Jacquelin A. Burgess: News from nowhere: the press, the riots and the myth of the inner city, in: Jacquelin A. Burgess und John R. Gold (Hrsg.): Geography, the media and popular culture, London 1985, S. 192– 228, hier S. 206.
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schen Stadt und Land verstärkt. Dieser gehörte spätestens seit den 1930er Jahren in Großbritannien fest zum kulturellen Repertoire.³⁸ Stadt und Land bildeten demnach zwei unterschiedliche Räume, die jeweils mit dezidierten moralischen Deutungen belegt waren: Galt der ländliche Raum als naturverbunden, rein und idyllisch³⁹, so musste der schädliche urbane Einfluss, symbolisiert durch die zunehmende Motorisierung, eingehegt werden.⁴⁰ Es liegt in der Natur solcher diskursiv verbreiteten Bilder, dass ihre Verwendung situationsgebunden ist und zeitlichen Fluktuationen unterliegt. Jedoch lieferte eben dieses kulturell fest verankerte Bild eine Interpretationsfolie, mit der die Unruhen gedeutet und eingehegt werden konnten: Auf diese Weise konnten die Konflikte auf den Raum der Innenstädte lokalisiert werden, und Abstand wurde konstruiert. Nimmt man die kulturhistorische Forderung ernst, den Raum als analytische Kategorie zu verwenden⁴¹ und betrachtet die Innenstadt als imaginierten Raum und geographischen Ort, in dem soziale Veränderungen erfahrbar werden, wird nicht nur die Bedeutung verständlich, die den riots von 1981 zugeschrieben wurde, sondern auch die Reaktion der Regierung auf die Ausschreitungen: Denn in den Innenstädten bündelten sich die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozesse, die aufgrund ihrer Gleichzeitigkeit und gegenseitigen Verschränktheit lokale Verwaltungsorgane und die nationale Regierung in Westminster gleichermaßen herausforderten.
Zugehörigkeit durch Einhaltung gesellschaftlicher Normen und Werte Die Vorstellung, gesellschaftliche Zugehörigkeit werde durch die Einhaltung bestimmter Normen und Werte bestimmt, hier vor allem Respekt vor der Polizei, Einhaltung von Gesetzen und Familiensinn, fand sich in der Debatte nach den riots vor allem bei Premierministerin Margaret Thatcher, ihrem Kabinett, Vertretern der Polizei und bei weiten Teilen der Boulevardpresse. Sie bewerteten die Unruhen im April und Juli aus einer Warte, die von den Kriminologen Michael Rowe und John Benyon als „konservativ“, von den Kulturwissenschaftlern des CCCS als „law and
Vgl. Helen Meller: Towns, plans and society in Modern Britain, Cambridge 1997, S. 55 – 56; Klaus Tenfelde: Die Welt als Stadt? Zur Entwicklung des Stadt-Land-Gegensatzes im 20. Jahrhundert, in: Friedrich Lenger und Klaus Tenfelde (Hrsg.): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 233 – 264. Zur dezidiert englischen Ausprägung dieses Ruralismus vgl. Kenny: The politics of English nationhood, S. 10. Vgl. Meller: Towns, plans and society, S. 56. Vgl. beispielsweise Martina Löw: The sociology of space. Materiality, social structures, and action, New York 2016, S. vii.
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order perspective“ bezeichnet wurde.⁴² Kommentatoren dieser Perspektive betrachteten das Verhalten Einwanderer der zweiten Generation und weißer „Hooligans“ als verantwortlich für die „blinde Gewalt“ („mindless violence“) gegen Polizisten und „respectable society“.⁴³ Diese Erklärungsansätze basierten auf einer Sichtweise, die vorsätzlich deviantes Verhalten einer Gruppe als Grundursache für die Ausschreitungen verstand, nicht die strukturellen Probleme, die viele der eher linksorientierten und liberalen Kommentatoren, Experten und Politiker anführten. Die konservative Regierung kündigte hingegen eine rasche und entschlossene Reaktion auf die Gewalt in den Städten an; sie unterstützte dabei die Polizei in deren Ansatz der Eindämmung der Gewalt, obwohl dieser von vielen als zu brutal kritisiert wurde.⁴⁴ In der law and order-Interpretation der politisch Konservativen wurde die Polizei als sprichwörtliche „thin blue line“⁴⁵ gedeutet, die als alleiniges Bollwerk zwischen dem gesetzlosen Chaos der Innenstädte und der ‚gesitteten‘ Gesellschaft stand, in der Rechtsvorschriften weiterhin galten. In dieser Interpretation wurden besonders Einwanderer als Störfaktor dargestellt, die das traditionelle kulturelle Gesellschaftsgefüge untergruben. Dieser Antagonismus von Unruhe stiftenden Einwanderern und ordnungserhaltender Polizei war jedoch nicht neu, sondern baute auf einem Interpretationsmodell von Einwanderer-Polizeibeziehungen auf, das schon in den Jahren zuvor einflussreich öffentlich diskutiert worden war. Vor allem die zweite Generation karibischer Migranten stand seit den 1970er Jahren in Verbindung mit einer Zunahme der Straßenkriminalität im Kern der öffentlichen Aufmerksamkeit. Während sich die häufig sensationslüsterne Berichterstattung auf die oftmals betagten Opfer dieser als „mugging“ bekannten Delikte konzentrierte, wurden vor allen Dingen junge Männer aus den ehemaligen „West Indies“ mit dieser Form des Verbrechens in Verbindung gebracht⁴⁶; eine Wahrnehmung, die die Berichterstattung der Medien und die Kriminalstatistiken
Vgl. Benyon: Interpretations of civil disorder, in: Benyon, John und Solomos, John (Hrsg.): The roots of urban unrest, Oxford 1987, S. 23 – 41, hier S. 23; Rowe: The racialisation of disorder, S. 2, 5; John Lea und Jock Young: Urban violence and political marginalisation. The riots in Britain 1981, in: Critical Social Policy 1/1981, S. 59 – 69, hier S. 59; Hall, Critcher, Jefferson, Clarke und Roberts: Policing the crisis, S. 323; Solomos, Findlay, Jones und Gilroy: The organic crisis of British capitalism, S. 32. Night of Shame, The Sun, 13.4.1981, S. 2; Help our coppers, The Sun, 6.7.1981, S. 4; Gordon Greig: Crackdown on Hooligans, Daily Mail, 13.7.1981, S. 1; Disturbances (Southall and Liverpool). Hansard, HC Deb 06 July 1981 vol 8 cc23. Vgl. beispielsweise Rohrer: „You black bastard, you jungle bunny“. Growing evidence of brutal „reprisal policing“ on Merseyside, New Statesman, 24.7.1981, S. 3 – 4. Vgl. beispielsweise ‚To think this is England‘, The Sun, 6.7.1981, S. 1. Vgl. Hall, Critcher, Jefferson, Clarke und Roberts: Policing the crisis, S. viii, 3 – 6; Jefferson und Clarke: Down these mean streets.
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unterstützten⁴⁷, deren Validität aber von manchen Soziologen in Zweifel gezogen wurde.⁴⁸ Zur Bekämpfung dieser Verbrechen gebrauchte die Polizei zunehmend ihre Befugnis, Personen auf der Straße zu stoppen und zu durchsuchen, in der englischen Umgangssprache knapp „sus“ genannt, kurz für „stop and search“. Polizisten konnten auf Basis des Abschnitts 4 des Vagrancy Act von 1824 Personen festnehmen, wenn sie einen verdächtigen Eindruck vermittelten (auch wenn sie nicht unbedingt eine Straftat begingen).⁴⁹ Das Verhältnis von Polizei und Einwanderern wurde durch das vermehrte Stoppen von besonders Jugendlichen deutlich belastet, und Vorwürfe von polizeilichem Fehlverhalten sowie institutionellem Rassismus mehrten sich. Am Ende des Jahrzehnts war das Verhältnis zwischen karibischer Einwanderergemeinde und Polizei in weiten Teilen von gegenseitigem Misstrauen und Spannungen geprägt. „Operation Swamp ’81“, ein in ganz London stattfindender Einsatz von Zivilpolizei zur Bekämpfung von Straßenkriminalität, brachte in der Ansicht einiger Kommentatoren die Feindseligkeit zu einem Siedepunkt.⁵⁰ Die normative Kraft dieses Gesellschaftsverständnisses wurde deutlich an dem von der law and order-Fraktion verwendeten Devianzkonzept. Viele der Kommentatoren führten auf diesem Deutungsmuster aufbauend kriminelle Verhaltensweisen auf das Abweichen von als „normal“ erachteten sozialen Werten und Normen zurück. Die Konfrontationen zwischen Polizei und Randalierern sei durch deviantes Verhalten der Jugendlichen begründet, nicht durch polizeiliche Verfehlungen. Indem der Ausbruch der Gewalt als Fehlverhalten von Jugendlichen gedeutet wurde, wurde einerseits die Polizei weitgehend der Schuld enthoben, andererseits war es auf diese Weise möglich, die Beteiligung weißer Jugendlicher zu erklären. Diese wurden in der Regel unter dem Sammelbegriff des „hooliganism“, oder auch vereinzelt „yobbism“, zusammengefasst, der besonders
Vgl. beispielsweise Edward Pearce: Copping out, in malign neglect. The policeman’s lot, in: Encounter 57/1981, S. 45 – 48. Zur soziologischen Kritik vgl. Hall, Critcher, Jefferson, Clarke und Roberts: Policing the crisis, S. 323 – 328; Melanie Phillips: Brixton and crime, New Society, 8.7.1976, S. 65 – 68. Die rechtliche Grundlage für diese Praxis war der Verdacht, gegen Sektion 4 des Vagrancy Act aus dem Jahr 1824 zu verstoßen. In dieser Offensive wurden innerhalb von fünf Tagen 943 Personen angehalten und durchsucht, 118 von ihnen festgenommen und gegen 75 Personen Anklage erhoben. Sie rief heftige Kritik in der linksliberalen Presse hervor, aber auch von Lord Scarman. Vgl. Ferdinand Mount: From Swing to Scarman, Spectator, 28.11.1981, S. 4; Irene Brennan: By the waters of Babylon. Scarman in retrospect, in: Month, 15/1982, S. 77– 80; Nathan Glazer: The Scarman report. An American view, in: The Political Quarterly 53/1982, S. 111– 119, hier S. 113; Scarman: The Scarman Report, S. 110.
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von der Boulevardpresse verwendet wurde.⁵¹ Jegliche Unterscheidungen von Klasse, Bildung, Beruf oder sozialem Status gingen in diesem moralisch konnotierten Kampfbegriff verloren. „Hooliganism“ war als Begriff derart weit und unbestimmt, dass er sowohl die Kinder und Jugendlichen umfasste, die Geschäfte plünderten, als auch den rassistisch motivierten Teil der Skinhead-Kultur, die von vielen Journalisten für die Unruhen in Southall und den Anstieg fremdenfeindlicher Gewalt und Morde im Allgemeinen verantwortlich gezeichnet wurde.⁵² Die Journalisten griffen damit ein Argument auf, das schon in den 1970er Jahren vertreten worden war.⁵³ Mit ihm konnte gesellschaftlich verankerter Rassismus erklärt werden, ohne dass tiefergehende und potentiell unbequeme Fragen nach gesellschaftlicher Verantwortlichkeit gestellt werden mussten. Durch die Brandmarkung als „hooligans“ wurden die an den Unruhen beteiligten weißen Jugendlichen als nicht der „normalen“ Gesellschaft zugehörig gekennzeichnet. Grundlegend für das deviante Verhalten von Migranten und „hooligans“ waren nach Ansicht dieser wertkonservativen Kommentatoren wiederum die unzulänglichen Familienverhältnisse dieser gesellschaftlichen Subgruppen. Eine Reihe von Zeitungsartikeln und Einsendungen zur Scarman Enquiry betrachteten die familiäre Situation vieler karibischer Jugendlicher als wichtigen Faktor ihrer Gewalttätigkeit: Der Anteil alleinerziehender Mütter war in den Einwanderergemeinden aus der Karibik relativ hoch, und für die Jugendlichen schien durch die Arbeitstätigkeit der Eltern und den Einfluss liberaler Lehrer ein gesetzloses Leben auf der Straße nahezu vorgezeichnet. In der Berichterstattung zu den weißen Jugendlichen, die an den Unruhen beteiligt waren, wurde ebenfalls auf die Rolle der Eltern und ihr Versagen abgezielt, ihre Kinder als gesetzesfürchtige Bürger zu erziehen. Besondere Aufmerksamkeit erhielten auch hier die Mütter, die den Eskapaden ihrer Kinder nach Ansicht der Boulevardmedien gleichmütig gegenüberstanden. Allen familiären Deutungsmustern war gemein, dass der Kernfamilie eine Schlüsselrolle zugewiesen und sie als Grundstein für eine funktionierende Gesellschaft dargestellt wurde.
Vgl. hierzu beispielsweise Greig: Crackdown on Hooligans, Daily Mail, 13.7.1981, S. 1; B. Vivekanandan: Riots in Britain. An Analysis, in: India Quarterly 38/1982, S. 51– 63; Brian James: Yobbism rules, Daily Mail, 6.7.1981, S. 7. Für unterschiedliche zeitgenössische Bewertungen der „Operation Swamp“ vgl. Brennan: By the waters of Babylon; Glazer: The Scarman report; Roy Kerridge: In Scarman town, Spectator, 5.12.1981, S. 11– 12; Mount: From Swing to Scarman, Spectator, 28.11.1981, S. 4. No, Mr Powell, no!, The Sun, 13.7.1981, S. 6; James: Yobbism rules, Daily Mail, 6.7.1981, S. 7. Zur Debatte über die Jugendkultur der Sins in den frühen 1970er Jahren vgl. Dominic Sandbrook: State of emergency. The way we were: Britain, 1970 – 1974, London 2010, S. 279 – 281.
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Der Fokus vieler konservativer Beobachter auf die Einhaltung der öffentlichen Ordnung, kurz „law and order“, ging daher mit dem Beschuldigen der sogenannten „permissive society“ einher: Diese von ihnen diagnostizierte Veränderung in der moralischen Verfasstheit der britischen Gesellschaft wurde seit den 1960er, verstärkt jedoch seit den 1970er Jahren diskutiert und galt für viele konservative Kommentatoren als Nährboden für diese Art von kriminellem Verhalten, da sie die moralische Struktur der Gesellschaft untergrabe.⁵⁴ Hinter dem Bild einer permissive society, also einer Gesellschaft, in der Sozialnormen zunehmend liberal werden, stand die Vorstellung, dass seit den späten 1950er und frühen 1960er Jahren traditionelle soziale Normen hinterfragt und Gesetze an diese wahrgenommene Verschiebung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen angepasst wurden.⁵⁵ Von wertkonservativen Kritikern als ideologischer Kampfbegriff verwendet⁵⁶, galt diese Form der Gesellschaft bald als Sinnbild für die Zunahme angenommener moralischer Verfehlungen und stand für einen gesamtgesellschaftlichen Sittenverfall. Der gesetzesmäßig erleichterte Zugang zu Scheidung und Abtreibung und die Legalisierung von Homosexualität trugen zu der Wahrnehmung bei, dass die moralische und sozialkulturelle Struktur Großbritanniens bedroht sei. Der Zusammenhang von gewandelten Wertvorstellungen und dem Anstieg von Kriminalität spitzte sich in der law and order-Debatte zu, die in den 1970er Jahren mit Unterbrechungen geführt wurde. Die steigenden Kriminalitätsraten wurden der sinkenden Charakterstärke der britischen Gesellschaft zugeschrieben, oder, in den Worten des Kriminologen Robert Reiners, „the sinking state of our national moral fibre“.⁵⁷ Die Police Federation, die Polizeigewerkschaft für die unteren polizeilichen Ränge, aber auch der Commissioner der Metropolitan Police, Sir Robert Mark, wirkten durch medial aufgegriffene Äußerungen und Anzeigen am Wahlkampf des Jahres 1978/79 mit, in dem das Thema der öffentlichen Ordnung eine zentrale Rolle einnahm, und bezogen auf diese Weise öffentlich Stellung für die Konservative Partei, auch wenn Jim Jardine, der Vorsitzende der Police Federation, dies zurückwies.⁵⁸
Vgl. hierzu auch Solomos, Findlay, Jones und Gilroy: The organic crisis of British capitalism, S. 22. Vgl. Frank Mort: Capital affairs. London and the making of the permissive society, New Haven/ London 2010, S. 350 – 352. Für eine kritische Diskussion des Begriffes „permissive society“ vgl. Frank Mort: The Ben Pimlott Memorial Lecture 2010. The permissive society revisited, in: Twentieth Century British History 22/2011, S. 269 – 298, hier S. 270 – 271. Reiner: The politics of the police, S. 88. Ebd., S. 89.
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Die law and order-Fraktion stand jedoch nicht alleine mit ihrer Kritik am Werteverfall der britischen Gesellschaft. Auch aus dem Kreis der Migranten fanden sich deutliche Stimmen, die den moralischen Verfall der Kindergeneration verurteilten und ironischerweise britische Institutionen dafür verantwortlich machten. So klagte der Brixton Domino and Social Club in seinem Beitrag zur Scarman Enquiry, dass es den Eltern aufgrund des laxen Schulsystems nicht möglich sei, ihre Kinder respektvoll zu erziehen: From black parents’ point of view they are not able to bring up their children in a respectful way and to teach them discipline. British society does not allow them to do so. Society has broken down with the school, social worker and everybody working against the parents, there is no way that the black parent can instil discipline in his or her child.⁵⁹
Die Unruhen seien damit eine direkte Konsequenz des Zusammenbruchs elterlicher Autorität, die jedoch nicht alleine auf das Versagen der Eltern zurückzuführen sei, sondern auf eine verfehlte Reaktion der Sozialeinrichtungen, die die rebellierenden Jugendlichen in ihrem Verhalten bestärkt hätten: „now the country as a whole is reaping the whirlwind!“⁶⁰ Eine ähnliche Position nahmen die Mission to Westindians in Britain, The Carmel Tabernacle Christian Church, Westindian Concern Limited und Caribbean House Group in ihrem gemeinsamen Statement ein. Auch sie vertraten die Ansicht, dass die Familien unterwandert würden, denn die „erosion of parental control is escalating with the active encouragement of schools, social workers and even the police themselves.“⁶¹ In einer Umkehrung des Werteverfallarguments wird die britische Gesellschaft von Vertretern von Einwanderergemeinden zum Mittäter stilisiert. Allerdings wurde diese Sicht medial kaum aufgegriffen.
Zughörigkeit durch Arbeit In der Sichtweise der von der britischen Regierung und weiteren konservativen Kommentatoren vertretenen law and order-Perspektive liegt die Ursache für das deviante Verhalten der Jugendlichen aus Einwanderer- und Problemvierteln in
Brixton Domino and Social Club: Written submission of evidence to the inquiry, July 1981, The National Archives, London, HO 266/39. Ebd. The Carmel Tabernacle Christian Church Mission to Westindians in Britain, Westindian Concern Limited, and Caribbean House Group: Written submission of evidence to the inquiry, The National Archives, London, HO 266/30.
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ihrer Haltung gegenüber Institutionen wie der Polizei, den britischen Gesetzen und dem Mangel an geordneten Familienverhältnissen begründet. Die Einhaltung von Recht und Ordnung, aber auch traditionelle Familienmodelle sind daher konstitutive Faktoren in dem damit verknüpften Gesellschaftsbild. Anders verhielt es sich bei politisch eher linksgerichteten Kommentatoren der Unruhen vom April und Juni 1981. Hier stand Arbeit häufig im Zentrum gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Die unterschiedlichen Weisen, wie den randalierenden Jugendlichen die Teilhabe daran verwehrt wurde, bildeten das Zentrum dieses Debattenstranges. Während also wertkonservative, auf law and order fokussierte Kommentatoren die Unruhen als den Kulminationspunkt eines gesellschaftlichen Werteverfalls lasen, der zu „mindless violence“ geführt habe, betonten politisch eher linke Kommentatoren vor allem strukturelle Faktoren, die zur Gewalt weißer wie schwarzer Jugendlicher gegen die Polizei geführt hätten. Die Mehrheit der Abgeordneten Labours, ranghohe Vertreter der Kirchen, Persönlichkeiten, die in den Einwanderergemeinden besonderes Ansehen genossen, sowie Teile der Qualitätsmedien, wie der Guardian, betonten die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren für den Ausbruch der Unruhen. Auch wenn keiner dieser Würdenträger und Journalisten die Gewalt gegen Polizisten und Sachgegenstände billigte, verstanden sie die Ausschreitungen als Siedepunkt widriger sozialer Bedingungen⁶², zu der sich Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe gesellte. Die Journalisten, Politiker und Experten betrachteten Gewalt nicht als rein durch das Verhalten des Einzelnen bestimmt, sondern als Produkt einer gesamtgesellschaftlichen Situation, deren Entwicklung hin zu den Unruhen sie nachzuvollziehen versuchten. In den Zusendungen zu der von Lord Scarman geleiteten öffentlichen Untersuchung fanden sich zahlreiche Aussagen, die eine sozio-ökonomische Lesart anlegten und auf Diskriminierung hinwiesen. Lord Scarman fasste daher in seinem Report seine Einschätzung der Lage wie folgt zusammen: Although there is evidence to suggest that the position of the ethnic minority groups has seen some improvement relative to the rest of the population in recent years, overall they suffer from the same deprivations as the ‚host community‘ (i. e. the white population), but much more acutely. Their lives are largely in the poorer and more deprived areas of our great cities. Unemployment and poor housing bear on them heavily: and the educational system has not itself adjusted satisfactorily to their needs. Their difficulties are intensified by the sense they have of a concealed discrimination against them, particularly in relation to job opportunities and housing. Some young black are driven by their despair into feeling that they are rejected by the society of which they rightly believe they are members and in which they would wish to enjoy the same opportunities and to accept the same risks as everyone else. But their ex-
Vgl. beispielsweise Shadow Home Secretary Roy Hattersley im Parlament: Civil Disturbances. Hansard, HC Deb 16 July 1981 vol 8 cc1404.
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perience leads them to believe that their opportunities are less and their risks are greater. Young black people feel neither socially nor economically secure.⁶³
Angesichts des Fokus auf strukturelle Faktoren ist wenig überraschend, dass die Wirtschaftspolitik der konservativen Regierung schnell zur Zielscheibe der Kritik für Vertreter dieser sozio-ökonomischen Lesart wurde, die ihr die Schuld für die andauernd hohe Jugendarbeitslosigkeit gaben: Die beschleunigte Einführung marktliberaler Reformen zur Belebung der britischen Wirtschaft, einer der Eckpfeiler des Wahlprogramms von Premierministerin Margaret Thatcher, stufe die Reduzierung der Arbeitslosenquote als sekundär ein und bekämpfe sie daher nicht ausreichend.⁶⁴ Bedenkt man die Bedeutung, die niedrigen Arbeitslosenzahlen in Großbritannien seit der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre zugeschrieben wurden, musste die Wirtschaftspolitik der Regierung Thatcher als Affront gelten.⁶⁵ Angesichts des wirkmächtigen Niedergangsnarrativs, das die öffentliche und akademische Darstellung britischer Wirtschaftsleistung umwehte, wurde dies zu einem wahlpolitisch besonders heiklen Thema.⁶⁶ Die Methoden, die die konservative Regierung anwandte, und deren Konsequenzen – besonders die steigenden Arbeitslosenzahlen, die das Kabinett als notwendigen Nebeneffekt in Kauf zu nehmen schien – stürzten die Premierministerin und die mit ihr verbundenen politischen Projekte in ein Umfragetief.⁶⁷ Die Frage, ob und inwieweit die hohen Arbeitslosenraten ein Faktor für den Ausbruch der Gewalt auf den Straßen waren, wurde bald kontrovers diskutiert und dabei unterschiedliche und widersprüchliche Ansätze der Wirtschaftspolitik verteidigt. Der Sprecher des
Scarman: The Scarman Report, S. 35. Vgl. Fire over England, Economist, 11.7.1981, S. 14– 15; Rethinking the riots, Economist, 18.7. 1981, S. 13 – 14; Peter Jenkins: They warned her but she just wouldn’t listen, Guardian, 8.7.1981, S. 13; The essential problem: yes or no?, Guardian, 9.7.1981, S. 14. Zur zeitgenössischen Bedeutung der 1930er in der britischen Wirtschaftspolitik vgl. beispielsweise Beatrix Campbell: Wigan Pier revisited. Poverty and politics in the eighties, London 1984, Kapitel 1. Zum Konzept des Declinism vgl. Peter Clarke und Clive Trebilcock (Hrsg.): Understanding decline. Perceptions and realities of British economic performance, Cambridge 1997; English und Kenny: Conclusion; Tomlinson: The politics of decline; Gamble: Theories and explanations of British decline; Henk Overbeek: Globalisation and Britain’s decline, in: Richard English und Michael Kenny (Hrsg.): Rethinking British Decline, Basingstoke 2000, S. 231– 256; Tomlinson: The decline of the Empire. Die Gallup Polls verzeichneten 1981 besonders niedrige Zustimmungswerte für Thatcher als Premierministerin und die Wirtschaftspolitik der Regierung.Vgl. Anthony Stephen King und Robert J. Wybrow: British political opinion, 1937– 2000. The Gallup polls, London 2001, S. 180, 192.
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AREA Youth Committee für Lambeth betonte beispielsweise den destabilisierenden Effekt hoher Arbeitslosenzahlen auf die Jugendlichen der Gegend: Society has not begun to consider seriously the implications for education and for life as whole of permanent lack of demand for the full available work force. Unemployment has been seen as a cyclical phenomenon the downturn of which can be survived with hardship through minimum state support.⁶⁸
Dabei bestand durchaus auch bei Mitgliedern der Regierung ein Bewusstsein über die Auswirkungen widriger sozialer Umstände auf die Innenstädte. Besonders Michael Heseltine, der im Zuge der Ausschreitungen in Liverpool von Premierministerin Thatcher als Sonderbeauftragter für die Region Merseyside eingesetzt worden war, hob im Kabinett die trostlose Situation hervor: The general situation on Merseyside was appalling. The level of unemployment was devastating. […] Many people, both black and white, saw no hope whatever of obtaining a job. The atmosphere was highly demoralising, and the whole situation politically unacceptable.⁶⁹
Heseltines Pläne zu einer breit angelegten Regeneration scheiterten jedoch am einflussreichen Finanzminister Geoffrey Howe und an einer Conservative Party, in der zu hohe Ausgaben für Programme zur Behebung sozialer Probleme in den Innenstädten seit der Thatcherschen Tendenzwende als unwirtschaftlich betrachtet wurden.⁷⁰ Die Kommentatoren betonten in unterschiedlichem Maße die entfremdende Atmosphäre, in der viele Einwanderer lebten, die desolaten Chancen schwarzer wie auch weißer Jugendlicher auf eine Arbeitsstelle, ein heruntergekommenes und ungenügendes Wohnangebot, ein gesellschaftlich akzeptiertes Level an Diskriminierung nach Hautfarbe, den Verfall der Innenstädte, den Mangel an politischer Repräsentation für Minderheiten sowie unnötige Härte in der Polizeiarbeit.⁷¹ So fügte der Runnymede Trust, ein prominenter Think Tank, der sich
AREA Youth Committee for Lambeth und Maurice George Smith: Submission, The National Archives, London, HO 266/34. Private Secretary 10 Downing Street: an David Edmonds, Dep of Environment, The National Archives, London, PREM 19/578. Vgl. Geoffrey Howe: an Prime Minister, The National Archives, London, PREM 19/578; Relating Britain’s races, Economist, 24.4.1982, S. 39 – 40. Vgl. beispielsweise ‚Bad housing contributed to riots, says GLC housing chief‘, GLC Public Relations Branch News Service, London Metropolitan Archives, LMA/GLC/DG/PRB/35 Vol. 37, 21.7. 1981. Viele britische Soziologen teilten diese sozio-ökonomische Analyse, auch wenn sie sich in
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für Gleichberechtigung aller ethnischer Gruppen einsetzte, seinem Statement ein unpubliziertes Memorandum der regierungseigenen Expertenkommission Central Policy Review Staff aus dem Jahr 1973 bei, in dem die Stellung der Einwanderer in Großbritannien mit der der Katholiken in Nordirland verglichen wurde.⁷² Auf diese Weise wurden auch die Verantwortlichkeiten für die Ausschreitungen neu verteilt: So wurde im Gegenzug zur law and order-Position die Polizei nicht der Schuld enthoben, sondern versucht, durch das Nachdenken über unterschiedliche Herangehensweisen an Polizeiarbeit die Konflikte zwischen „community“ und Polizei zu verringern.⁷³ Diese sozio-ökonomischen Erklärungsansätze der Unruhen von 1981 wurden zeitgenössisch im Schlagwort der „deprivation“ verdichtet; eine Lesart, die der soziologischen Forschung entlehnt war und dort fortgeschrieben wurde.⁷⁴ Dieser sozialwissenschaftliche Fachbegriff, der 1966 von Walter G. Runciman in der
der Bewertung der Aspekte unterschieden, die sie für den Ausbruch der Unruhen zur Verantwortung zogen. Vgl. John Benyon: Going through the motions: the political agenda, the 1981 riots and the Scarman Inquiry, in: Parliamentary Affairs 38/1985, S. 409 – 422, hier S. 410; John Rex: Life in the ghetto, in: John Benyon und John Solomos (Hrsg.): The roots of urban unrest, Oxford 1987, S. 103 – 110; Michael Brogden, Tony Jefferson und Sandra Walklate: Introducing policework, London 1988, S. 141; Lea und Young: Urban violence and political marginalisation, S. 69; Stuart Hall: From Scarman to Stephen Lawrence, in: History Workshop Journal 48/1999, S. 187– 197, hier S. 189. Für eine Diskussion der unterschiedlichen Ansätze vgl. David P. Waddington und Mike King: Identifying common causes of UK and French riots occurring since the 1980s, in: The Howard Journal 48/2009, S. 245 – 256, hier S. 248. „There are some uncomfortable parallels between the situation of Britain’s coloured population and that of catholics in Northern Ireland […] we believe that not only for reasons of social justice but also to preserve social stability and order in the longer term, more should now be done to deal with the problems of race relations in this country.“ Runnymede Trust: Submission to the Inquiry into the Brixton Disturbances, The National Archives, London, HO 266/36. Im Zentrum dieser Überlegungen stand die Rückkehr zum sogenannten „community policing“, bei dem das als verloren geglaubte Vertrauensverhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung durch verstärkte Zusammenarbeit auf lokaler Ebene wiederhergestellt werde sollte. Zum zeitgenössischen Konzept des „community policing“ vgl. John C. Alderson: Communal policing, Middlemoor, Exeter 1980, S. 41. John Benyon bündelte 1987 die bis zu diesem Zeitpunkt vorgebrachten sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätze, die die Unruhen vor allem im Zusammenhang mit den darauffolgenden Ausschreitungen in den Jahren 1985 behandelten (und später auch die der 1990er und 2000er Jahre einbezogen): Obgleich das Verhalten der Polizei den kurzfristigen Auslöser (trigger) der Unruhen darstellte, lagen ihnen jedoch längerfristige Ursachen (tinder) zugrunde. Benyon unterschied fünf Faktoren, die den Unruhen von 1981 und 1985 gemein gewesen seien: Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit (racial disadvantage and discrimination), Arbeitslosigkeit, Deprivation, politische Exklusion sowie feindselige Ablehnung der Polizei. Vgl. Benyon: Interpretations of civil disorder, S. 33 – 35.
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Bedeutung der relativen Deprivation entscheidend geprägt worden war, war 1979 von Peter Townsend maßgeblich auf die Armutsforschung angewandt worden.⁷⁵ Er bot strukturorientierten Beobachtern in den frühen 1980er Jahren ein Schlagwort, um die gebündelten Mängel zu beschreiben, denen die Jugendlichen in den Innenstädten ausgesetzt waren: Durch politische Maßnahmen sollten Verbesserungen der sozio-ökonomischen Ausgangslage herbeigeführt werden.⁷⁶ In der Debatte im Zuge der Unruhen von 1981 wurde der Begriff jedoch weitgehend ohne Rückgriff auf seinen wissenschaftlichen Hintergrund verwendet. Er bildete in seiner Grundbedeutung der allgemeinen sozialen Benachteiligung eine Begriffshülse, die mit dem ursprünglich soziologischen Kern des Konzeptes nur noch bedingt etwas zu tun hatte, jedoch in der Debatte als Signalwort fungierte, das auf die Einbettung in den sozioökonomischen Kontext verwies. Der Begriff der Deprivation wurde jedoch nicht nur von politisch im linken Spektrum zu verordnenden Beobachtern verwendet. Auch konservative Kommentatoren verwendeten das Schlagwort. Besonders Keith Joseph hatte in den frühen 1970er Jahren mit der „cycle of deprivation“-These die ‚Vererbarkeit‘ sozialer Missstände zusammengefasst und dabei besonders auf die Verantwortung des Einzelnen zur Verbesserung der sozialen Lage abgehoben.⁷⁷ Bei einer Regierung, die die Eigenverantwortung des Individuums und den Rückzug des Staates aus seiner Wohlfahrtsfunktion zur politischen Ideologie erhoben hatte, nahm diese Auseinandersetzung über die Verantwortlichkeit des einzelnen aufständischen Jugendlichen für seine soziale Lage grundlegenden Charakter an, in der die Grenzen gesellschaftlicher Ausgrenzung neu verhandelt wurden.⁷⁸ Deprivation wurde so allgemein als Endprodukt widriger Sozialumstände verstanden, über deren Ursache bestanden jedoch unterschiedliche Ansichten, die sich nach politischer Ausrichtung unterschieden. Die Diskussion von Entfremdung und Deprivation der beteiligten Jugendlichen verweist auf einen Wandel in der öffentlichen Diskussion von Armut und sozialer Ausgrenzung: Während die klassische, politisch eher linke Lesart des
Vgl. Peter Townsend: Poverty in the United Kingdom. A survey of household resources and standard of living, Harmondsworth 1979; Walter G. Runciman: Relative deprivation and social justice: a study of attitudes to social inequality in twentieth-century England, London 1966. Zur soziologischen Armutsforschung von Townsend vgl. Lucinda Platt: Poverty studies and social research, in: John Holmwood und John Scott (Hrsg.): The Palgrave handbook of sociology in Britain, Houndmills, Basingstoke 2014, S. 30 – 53, hier S. 49 – 52. Vgl. John Welshman: Underclass. A history of the excluded since 1880, London/New York 2006, S. 107. Vgl. hierzu auch Anita Biressi und Heather Nunn: Class and contemporary British culture, Houndmills, Basingstoke 2013, S. 52– 56.
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Konzepts deprivation als gesamtgesellschaftliches Problem betrachtete, dem auch ein Großteil der Verantwortung zugewiesen wurde, sahen Vertreter der law and order-Fraktion die Schuld beim jeweiligen Individuum, das für seine soziale Situation selbst verantwortlich sei. Waren soziale Brennpunkte früher unterprivilegiert, waren sie in dieser Denkart unwürdig („undeserving“) – ein Schlüsselbestandteil des Unterklassediskurses, der in den späten 1980er Jahren an Bedeutung zunehmen sollte.⁷⁹ Diese verschiedenen Denkweisen verweisen auf unterschiedliche und konkurrierende Vorstellungen gesellschaftlicher und individueller Verantwortung. Der Fokus des Diskurses von deprivation richtete sich auf die Innenstädte, in denen sich die sozialen, industriellen und politischen Entwicklungen zu bündeln schienen, die zeitgenössisch als Problem ausgemacht wurden. So bewertete der Birmingham Community Relations Council die Straßenkämpfe als „inevitable and general expression of Frustration, Anger and Disenchantement [sic] with society’s failure“.⁸⁰ Die Gesellschaft habe versagt, den wirtschaftlichen Niedergang der Gegend aufzuhalten, der mit dem Verlust von Arbeitssicherheit und des Sozialgefüges einhergegangen sei. Zudem seien Deprivation und Diskriminierung in den Innenstädten nicht angegangen worden. Für viele Vertreter der law and orderSichtweise hingegen symbolisierten Innenstädte als Ziel vieler Einwanderer den Schauplatz der kulturellen Bedrohung und der angenommenen moralischen Verrohung. So klagte die prominente Kolumnistin der Daily Mail, Lynda LeePotter, angesichts der Unruhen in Liverpool: Our cities are beginning to emulate Belfast, where every troublemaker, every thuggish teenager, every petty criminal has discovered what wonderful fun it is to rally round on a Saturday night to hurl anything he can snatch, and steal anything he can lay his hands on. It’s a regular orgiastic mayhem, in which they feel almost holy exemption from all normal acceptable standards of behaviour.⁸¹
Dass die Innenstädte als Problemkonglomerat gedeutet wurden, war jedoch nicht neu: Der Sozialwissenschaftler John Brown hatte bereits 1977 in seinem Report zum Verhältnis von Einwanderern aus der Karibik und der Polizei in der Art teilnehmender Beobachtung ein düsteres Bild gezeichnet: Impressions of place and people grow into patterns: of abrupt transitions from red-brick affluence to gutted desolation; of street upon street going to seed; of ageing whites, partic-
Welshman: Underclass; Biressi und Nunn: Class and contemporary British culture, S. 52. Birmingahm Community Relations Council: Submission, The National Archives, London, HO 266/29. Lynda Lee-Potter: This false alibi for the enemy within, Daily Mail, 8.7.1981, S. 3.
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ularly old ladies with bowed backs, tired faces, thin shopping bags; of busy Indians, their ladies in smart saris, opening more shops in the Soho Road; of knots of young West Indians against broken fences, shouting abuse and jerking fingers as the panda passes.⁸²
Die Zentren vieler Industriestädte waren seit dem Ende der 1960er Jahre in den Fokus städteplanerischer, aber auch politischer Aufmerksamkeit gerückt.⁸³ Sie galten als Keimzelle und Brutstätte sozialer Probleme und wurden nahezu synonym mit dem Etikett der „Deprivation“ verwendet. Am stärksten waren die Städte im Norden Großbritanniens betroffen sowie das Zentrum von London. Zeitgenössisch wurde dieser Problemkomplex der Innenstädte auf die negativen Folgen der Slum Clearances der 1950er und 1960er zurückgeführt, mit denen Labour wie auch konservative Regierungen versucht hatten, baulich unter der Norm liegende Unterkünfte abzureißen und durch neue, von der Regierung gebaute Häuser zu ersetzen. Die Wohnstätten wurden aus finanziellen Gründen zunehmend als Hochbauten geplant, die schon bald in der Kritik standen, die traditionelle Stadtteilstruktur zu zerstören. Der schon zeitgenössisch identifizierte Trend zur Suburbanisierung führte dazu, dass die Familien, die es sich leisten konnten, in die Vorstädte zogen, sodass häufig nur die sozial Bedürftigen in den Innenstädten blieben und die Einwohnerzahlen der Städte sanken. Die neu gebauten „estates“ lösten daher nicht die Klassenstruktur auf, sondern reproduzierten und verstärkten sie, auch wenn dies nicht der intendierte Effekt der Planer gewesen war.⁸⁴ Dieses soziale Problem des Council Housing wurde durch soziale Brennpunkte in Wohnungen in Privatbesitz ergänzt: Viele Migranten, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Großbritannien einwanderten, erfüllten nicht die Anforderungen, um in die dennoch vergleichsweise attraktiven council houses oder estates zu ziehen und kamen in den verbleibenden Häusern in den Innenstädten unter. Der Zustand dieser privat vermieteten Häuser war oft unterdurchschnittlich, hohe Mieten und Überfüllung waren wiederholt vorgebrachte Klagen. Die Unruhen von 1981 rückten diese doppelte Form unzulänglicher Wohnverhältnisse in die me-
John Brown: Shades of Grey. A report on police-West Indian Relations in Handsworth, The National Archives, HO 266/29. Vgl. Graham M. Lomas: Inner London’s future. Studies and policies, in: The London Journal 4/ 1976, S. 95 – 105; Barry Cullingworth und Vincent Nadin: Town and country planning in the UK, 13. Aufl., London/New York 2002, S. 292– 298; Brian Dobson: Vision and reality: urban social policy, in: Barry Cullingworth (Hrsg.): British planning. 50 years of urban and regional policy, London/New Brunswick 1999, S. 168 – 183, hier S. 170 – 171. Zum negativen Bild der „estates“ in der öffentlichen Wahrnehmung in Großbritannien vgl. Ben Rogaly und Becky Taylor: Moving histories of class and community. Identity, place and belonging in contemporary England, Basingstoke 2009, S. 2– 3.
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diale Aufmerksamkeit, beispielsweise durch einen Besuch Lord Scarmans auf dem Stockwell Estate in Brixton.⁸⁵ Diese städtebaulichen Entwicklungen wurden durch industrielle Wandlungsund wirtschaftliche Krisenerscheinungen verschärft. Der industrielle Wandel wurde in den Industriestädten, die mit dem Aufstieg der traditionellen Industriezweige sowie der Ausweitung der Handelsbeziehungen im 19. Jahrhundert an Größe und Bedeutung gewonnen hatten, deutlich registriert. Hafenstädte wie Liverpool wurden durch das Aufkommen der Containerschifffahrt seit den 1960er Jahren empfindlich getroffen: Die Umstellung auf Container erforderte eine komplett andere Infrastruktur, für die die oftmals in der direkten Nähe der Innenstädte gelegenen Häfen zu klein waren.⁸⁶ Die vermehrte Schließung von Zechen seit Ende des Zweiten Weltkriegs und der sich verschärfende Wettbewerb in der Automobilbranche, symbolisiert beispielsweise durch die ökonomischen Probleme des Automobilherstellers British Leyland, standen für einen tiefgehenden Wandlungsprozess in der Industriestruktur des Vereinigten Königreichs, der zeitgenössisch mit großer Verunsicherung verfolgt wurde.⁸⁷ Diese strukturellen Veränderungen in der britischen Industrie betrafen vor allem die Midlands, den Norden Englands sowie die industriellen Zentren von Wales und Schottland: Gebiete, in denen seit den 1970er Jahren die Armutsraten deutlich stiegen.⁸⁸ In einer Zeit, in der Arbeitslosigkeit zu einem Dauerphänomen zu werden drohte, wurde Erwerbsarbeit weiterhin mehrheitlich als grundlegender Faktor für gesellschaftliche Teilhabe betrachtet. Der Topos der „Arbeitsgesellschaft“ der Geschichts- und Sozialwissenschaft, der davon ausgeht, dass seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Selbstverständnis und die soziale Stellung eines Menschen mehrheitlich durch seine Stellung im Erwerbsleben bestimmt wird, war damit weiterhin von deutlicher Relevanz.⁸⁹ Dabei handelte es sich keineswegs um eine
Vgl. J. W. Murray: an P. J. C. Mawer, The National Archives, London, HO 266/57, 11.9.1981. Zu den Auswirkungen der Containerisierung auf die Hafenstadt Glasgow vgl. beispielsweise Gerstung: Stapellauf für ein neues Zeitalter, S. 155 – 159. Dies stellte jedoch keinen linearen Prozess dar. Jörg Arnold weist beispielsweise darauf hin, dass die Bergarbeiter in den 1970er Jahren politisch stark und nicht von Zechenschließungen bedroht waren. Vgl. Jörg Arnold: Vom Verlierer zum Gewinner – und zurü ck. Der Coal Miner als Schlü sselfigur der britischen Zeitgeschichte, in: GG 42/2016, S. 266 – 297, hier S. 273. Vgl. Jim Tomlinson: De-industrialization not decline. A new meta-narrative for post-war British history, in: Twentieth Century British History 27/2016, S. 76 – 99, hier S. 97. Zum Begriff der Arbeit vgl. beispielsweise Werner Conze: Arbeit, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1972, S. 154– 215, hier S. 154, 167– 174; Jürgen Kocka: Mehr Last als Lust. Arbeit und Arbeitsgesellschaft in der europäischen Geschichte (Reprint), http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/mehr-last-als-lust (2010), zuletzt abgerufen am 16.6. 2016; Peter Burke: Viewpoint. The invention of leisure in early
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neue Entwicklung: Die Tendenz, soziale Zugehörigkeit über Arbeit zu definieren, hatte sich seit den 1880er Jahren deutlich verstärkt.⁹⁰ Dabei war der Begriff der Arbeit diskursiv konstruiert: Sie stand für eine bestimmte Art, Wirtschaft, Politik und soziales Zusammenleben zu gestalten, und galt als Unterscheidungskriterium für „Nicht-Arbeit“ und Arbeit.⁹¹ Arbeit bildete dabei nicht nur die Grundlage für gesellschaftliche Stratifikationsmodelle, sondern wurde zudem nationalisiert: Sebastian Conrad, Elisio Macamo and Bénédicte Zimmermann zeigen am Beispiel der Arbeitslosigkeit, wie die Regulierung von Arbeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Aufgabe von Staaten wurden, die sich als Nationen verstanden.⁹² In Großbritannien galt dies besonders für den Zeitraum nach 1945: Arbeit war nicht nur grundlegend für den Erhalt des Wohlfahrtsstaats (welfare state), sondern für eine Konzeption von Gesellschaft, die durch die Meta-Erzählung des NachkriegsKonsenses seit 1945 beschrieben wurde. Diese bezeichnete eine wirtschaftliche und soziale Ordnung, die auf den Pfeilern der keynesianischen antizyklischen Stabilisierungspolitik mit dem Ziel der Vollbeschäftigung, also einer gelenkten Volkswirtschaft, ruhte, in der der Staat stark in die privatwirtschaftlichen Prozesse eingriff, die über einen Wohlfahrtsstaat verfügte und in der die Gewerkschaften in die gesamtwirtschaftliche Verantwortung eingebunden wurden.⁹³ Der Wille zur Arbeit wurde auf diese Weise zu einem grundlegenden Faktor sozialer Zugehörigkeit, die als gesellschaftliche Zugehörigkeit verstanden wurde⁹⁴ – so auch weiterhin im Großbritannien der frühen 1980er Jahre. Wenn jedoch Arbeitslosigkeit als Konsequenz einer wirtschaftspolitischen Kehrtwende in Kauf genommen wurde, konnten die an den Ausschreitungen beteiligten Jugendlichen gar nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben, und die konservative Regierung stand in der Verantwortung.⁹⁵ Zugleich kamen in den 1980er Jahren neue Konzepte von Arbeit auf. Arne
modern Europe, in: P&P 146/1995, S. 136 – 150, hier S. 149 – 150; Sebastian Conrad, Elisio Macamo und Bénédicte Zimmermann: Die Kodifizierung der Arbeit: Individuum, Gesellschaft, Nation, in: Jürgen Kocka, Claus Offe und Beate Redslob (Hrsg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M. 2000, S. 449 – 475, hier S. 450 – 453. Vgl. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 17. Vgl. Conrad, Macamo und Zimmermann: Die Kodifizierung der Arbeit, S. 453; Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive, 13. bis 21. Jahrhundert, Wien 2014, S. 11– 12. Vgl. Conrad, Macamo und Zimmermann: Die Kodifizierung der Arbeit, S. 462– 463. Vgl. Dominik Geppert: Der Thatcher-Konsens. Der Einsturz der britischen Nachkriegsordnung in den 1970er und 1980er Jahren, in: Journal of Modern European History 9/2011, S. 170 – 192, hier S. 173. Vgl. hierzu auch Conrad: Globalisierung und Nation, S. 17. Die Debatte über die sozialen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit setzte sich damit fort: Beatrix Campbell veröffentlichte 1984 unter dem Titel „Wigan Pier revisited: poverty and politics
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Hordt arbeitet am Beispiel des Bergarbeiterstreiks 1984– 85 heraus, wie neue Vorstellungen von Erwerbsarbeit an Überzeugungskraft gewannen. Er nennt hier vor allem das von der Regierung Thatcher propagierte Konzept der „guten Arbeit“ als individuelle Leistungsfähigkeit sowie das von Gewerkschaftlern, Aktivisten und kritischen Sozialwissenschaftlern entwickelte Bild industrieller Schwerarbeit als „eigensinnige“ und „erhaltenswerte Lebensform“.⁹⁶
Zugehörigkeit durch „Kultur“ Grundlegend für alle diese Interpretationsansätze, sei es nun durch Arbeit oder Wertvorstellungen, war die Auffassung, dass gesellschaftliche Zugehörigkeit kulturell erworben wird. Kulturelle Andersartigkeit wurde zum wichtigsten unterscheidenden Faktor in diesem Gesellschaftsmodell. Die Figur des Migranten nahm im öffentlichen Diskurs seit den ausgehenden 1950er Jahren die Stellung eines kulturellen Signifikanten ein, in deren Abgrenzung gesellschaftlicher Zusammenhalt erfahrbar wurde. Die vornehmlich aus der Karibik und vom indischen Subkontinent stammenden Einwanderer wurden als kulturell und ethnisch derart fremd konnotiert, dass ihre angenommene Differenz von der britischen Gesellschaft praktisch nicht in Frage gestellt wurde.⁹⁷ Dabei unterlag diese Wahrnehmung Konjunkturen: Galten die Migranten aus den West Indies in den 1950er Jahren noch als arbeitsam und angepasst, so hatte sich das öffentliche Bild in den 1970er Jahren fundamental verändert⁹⁸: Besonders die zweite Generation Einwanderer, der die britische race relations-Forscherin Sheila Patterson noch 1963 vollständige Assimilation prognostiziert hatte, stand seit den 1970er Jahren im Mittelpunkt medialer Kritik.⁹⁹ Die Hochphase der postkolonialen Einwanderung, die den Referenzpunkt in der Debatte darstellte, lag jedoch schon zurück: Auf Basis einer statistischen
in the 80s“ eine vielbeachtete Analyse, die vor den sozialen Folgen der hohen Arbeitslosenquoten warnte. Vgl. Campbell: Wigan Pier revisited. Poverty and politics in the eighties. Vgl. Arne Hordt: „He’s in our pit!“ Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion (Dissertation, Universität Tübingen, 2015), S. 93 – 94. Vgl. hierzu Chris Waters: ‚Dark Strangers‘ in our midst. Discourses of race and nation in Britain, 1947– 1963, in: Journal of British Studies 36/1997, S. 207– 238. Zum Wandel in der Hierarchisierung der Einwanderergruppen vgl. beispielsweise Reet Tamme: Von den dark strangers zum „Subproletariat“: Wissenschaftliche Deutungen der multiethnischen Gesellschaft in Großbritannien von den 1950ern bis Anfang der 1970er Jahre, in: Gabriele Metzler (Hrsg.): Das Andere denken: Repräsentationen von Migration in Westeuropa und den USA im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2013, S. 119 – 153, hier S. 126. Sheila Patterson: Dark Strangers. A sociological study of the absorption of a recent West Indian migrant group in Brixton, South London, London 1963, S. 399.
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Untersuchung des House of Commons verzeichnet der Soziologe Zig Layton-Henry den Höhepunkt karibischer Eiwanderung in den Jahren 1955 bis 1957, in denen zwischen 29 800 (1956) und 23 000 (1957) Menschen jährlich aus den karibischen Inseln nach Großbritannien einwanderten. Seit den 1950er Jahren wanderten auch vermehrt Menschen vom indischen Subkontinent im Vereinigten Königreich ein. Layton-Henry verzeichnet relativ stabile Zahlen indischer Einwanderer in den Jahren 1955 bis 1958, in denen jeweils zwischen 5600 Einwanderer minimal (1956) und 6600 Immigranten maximal (1957) nach Großbritannien einreisten. Die Zahlen pakistanischer Einwanderer waren vergleichsweise niedriger, 1958 erreichten auch sie mit 4700 ihren Höhepunkt.¹⁰⁰ Nicht zuletzt die Kategorien der politisch und wissenschaftlich einflussreichen race relations-Forschung bereiteten die geistige Grundlage für diese Deutung: Die soziologische Erforschung von „Rassenbeziehungen“ hatte sich seit den 1950er Jahren in enger Anbindung an die amerikanische Forschung der Chicago School und die Ideen Robert E. Parks sowie des Ökonomen Gunnar Myrdals in Großbritannien entwickelt. Während in den USA dieser Zweig der Soziologie seit den 1930er und 1940er Jahren als Forschungsfeld etabliert war, erschien diese Form der soziologischen Analyse in Großbritannien erst seit den 1950er Jahren notwendig, als die Zahl von Einwanderern öffentlich registriert wurde. Die Unruhen im Londoner Stadtteil Notting Hill im Jahr 1958, in der weiße Londoner die Häuser von Migranten aus der Karibik attackierten, führten dazu, dass das Thema der Rassenbeziehungen als wichtig und förderungswert erachtet wurde.¹⁰¹ Die britischen race-relations Forscher interessierten sich in enger Anlehnung an die Chicago School sehr für den praktischen Nutzen ihrer Arbeit und versuchten, durch ihre Forschung im Sinne eines social engineering die britische Mehrheitsgesellschaft zu beeinflussen.¹⁰² Nicht zuletzt die Praxisorientierung dieses soziologischen Zweigs führte dazu, dass eine Reihe von Fachbegriffen in den öffentlichen Diskurs übernommen wurde, inklusive der mit ihnen einhergehenden Denkmodelle: allen voran der Begriff der „race relations“, aber auch der der „ethnic communities“, der seit den 1960er Jahren verwendet wurde, um den biologischen Essentialismus des „race“-Begriffes zu umgehen und zugleich die
Vgl. Zig Layton-Henry: The politics of immigration. Immigration, ‚race‘ and ‚race‘ relations in post-war Britain, Oxford 1992, S. 13. Zu den Unruhen im Londoner Stadtteil Notting Hill vgl. Sebastian Klöß: „Now we have the problem on our own doorsteps“: Soziale Ordnung und Gewalt in den Notting Hill Riots von 1958, in: Jö rg Baberowski und Gabriele Metzler (Hrsg.): Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2012, S. 205 – 239; Sebastian Klöß: Notting Hill Carnival. Die Aushandlung des Eigenen im multiethnischen Großbritannien seit 1958, Frankfurt a. M. 2014. Vgl. Tamme: Von den dark strangers zum „Subproletariat“, S. 124– 125.
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Multiethnizität der britischen Gesellschaft anzuerkennen. Das Gesellschaftsmodell, das mit dem Begriff der „ethnic communities“ transportiert wurde, beruht allerdings ebenso auf einem essentialistischen Kulturbegriff: Denn das damit transportierte Bild einer „multiethnischen Gesellschaft“ gründete auf der Vorstellung, dass innerhalb dieser pluralen „Gesellschaft“ in sich geschlossene, lokal begrenzte und ethnisch homogene urbane „Einwanderergemeinden“ existierten, die jenseits von institutionellen Verbindungen wenig mit der britischen „Mehrheitsgesellschaft“ teilten. Die Forscher der race relations definierten in Abgrenzung zu früheren biologischen Konzeptionen „race“ als kulturelle Kategorie, gingen aber dennoch von einer grundsätzlichen Differenz unterschiedlicher Rassen aus. Sie legten damit einen normativen Kulturbegriff an, der kulturelle Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen perpetuierte.¹⁰³ Dies bedeutete letztlich, dass Einwanderer aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes niemals wirklich Teil der britischen Gesellschaft werden konnten. Diese kulturelle Begründung ethnischer Differenz, die bereits 1987 von Paul Gilroy¹⁰⁴ analysiert wurde, bildete die Grundlage für Enoch Powells kontroverse Forderungen nach einer Regierungspolitik, die Migranten in ihre Herkunftsländer zurückführen sollte.¹⁰⁵ Auch wenn Powell zur Zeit der Unruhen weithin als Populist bekannt war – seine berühmt-berüchtigte Rede zu den „rivers of blood“ hatte er immerhin schon 1968 gehalten – war die Vorstellung, Einwanderer könnten aus kulturellen Gründen nicht Teil der britischen Gesellschaft werden, weit verbreitet.¹⁰⁶ Sie findet sich auch bei Vertretern von Einwanderergruppen und -vereinen, wie die Unterlagen der Scarman-Enquiry verdeutlichen. So betrachtete eine Gruppe christlicher Vereinigungen die Ausschreitungen als Teil Waters: ‚Dark Strangers‘ in our midst, S. 220. Vgl. Paul Gilroy: There ain’t no black in the Union Jack. The cultural politics of race and nation, London/New York 2002, S. 46. Zu Powells Repatriierungspolitik in der Öffentlichkeit vgl. West: The seeds of hatred, Spectator, 18.4.1981, S. 12– 13; Kerridge: In Scarman town, Spectator, 5.12.1981, S. 11– 12. Vgl. auch Camilla Schofield: Enoch Powell and the making of postcolonial Britain, Cambridge 2013, S. 256. Anlässlich der geplanten Einführung des Race Relations Act von 1968 hielt der konservative MP Enoch Powell beim Treffen der Conservative Association in Birmingham eine Rede, in der er vor den Folgen von Einwanderung aus dem Commonwealth warnte. Die Rede war gespickt mit Endzeitszenarien und rassistischen Typisierungen und wurde als „rivers of blood speech“ bekannt, nach einem Zitat aus Vergil Ägäis, „like the Roman, I seem to see ‚the River Tiber foaming with much blood.‘“. Sie sollte ihm seinen Platz im konservativen Schattenkabinett kosten, brachte ihm aber den Ruf des Verteidigers der sich durch die Einwanderer in Bedrängnis sehenden Arbeiterklasse ein. Zur Rede und ihrer Rezeption vgl. Peter Brooke: India, post-imperialism and the origins of Enoch Powell’s ‚rivers of blood‘ speech, in: HJ 50/2007, S. 669 – 687; Amy Whipple: Revisiting the „Rivers of Blood“ controversy. Letters to Enoch Powell, in: Journal of British Studies 48/2009, S. 717– 735; Bill Schwarz: Memories of Empire. The white man’s world, Oxford 2011, S. 33 – 52.
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eines „clash of cultures“¹⁰⁷, während der Brixton Domino and Social Club zwar stärkeren interkulturellen Unterricht in Schulen forderte, damit aber implizit kulturelle Trennlinien stärkte: The schools ought to realise that black people as an ethnic minority have a separate identity. […] Those that are born here be they black, British or any other description, they are still part of a racial group and they should not have forced upon them values which make them feel inferior. […] For proper appreciation and self-respect, education must contain values which are relevant to each ethnic background. Thus the English children would understand more about Caribbean culture, the Caribbean children would understand about English culture, their own background and the relationship to the present historical and social situation instead of just forcing the child to assimilate English culture.¹⁰⁸
Die Vorstellung grundlegender kultureller Differenz zwischen Einwanderergemeinden und Mehrheitsgesellschaft fand sich auch bei moderaten Beobachtern. Unter dem soziologischen Stichwort der „alienation“ verhandelten sie die Vorstellung, dass soziale Subgruppen, besonders die Einwanderergemeinden, von der Mehrheitsgesellschaft entfremdet seien, ihre Werte ablehnten oder sich von ihr zurückgewiesen fühlten.¹⁰⁹ Nicholas Deakin fasste dies für die Scarman Enquiry wie folgt zusammen: In these conditions a second generation of children born to West Indian parents in this country or brought here at an early age have grown up, sharing the expectations of their white peers but unlikely to see them fully satisfied. Increasingly, symptoms of their alienation from the society that they live in have begun to appear.¹¹⁰
Vertreter der alienation-Theorie führten den Ausbruch der Unruhen auf die Ablehnung gemeingesellschaftlicher Werte zurück, was wiederum keine Folge bewusst nonkonformen Verhaltens oder schlechter Erziehung, sondern eine Konsequenz der Erfahrung multipler Formen von „Deprivation“ und Verfolgung und Schikanen gewesen sei.¹¹¹ Diese Hypothese war kein neues Konzept, sondern Mission to Westindians in Britain: Written submission of evidence to the inquiry, The National Archives, HO 266/30. Club: Written submission of evidence to the inquiry, July 1981, The National Archives, HO 266/30. Vgl. Phillips: Brixton and crime, New Society, 8.7.1976, S. 65 – 68; Wheen: Living in a state of siege. Police harrassment in London, New Statesman, 30.1.1981, S. 10; Fire over England, Economist, 11.7.1981, S. 14– 15. Vgl. auch Disturbances (Southall and Liverpool). Hansard, HC Deb 06 July 1981 vol 8 cc1420. Nicholas Deakin: Submission, The National Archives, London, HO 266/30. Vgl. beispielsweise Roy Kerridge: A letter to Enoch Powell, Spectator, 10.7.1982, S. 13 – 14; Fred Ridley: Will it take an away match to waken Downing Street?, Guardian, 13.7.1981, S. 7.
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bereits seit den späten 1960er Jahren Bestandteil der soziologischen race relations-Forschung¹¹² sowie der politischen Debatte und wurde in diesem Zusammenhang beispielsweise vom schottischen Gewerkschaftler Jimmy Reid in seiner Antrittsrede als ehrenamtlicher Rektor der Universität Glasgow im Jahr 1972 verwendet.¹¹³ In einem deutlichen Fall von kulturellem Essentialismus verwendeten die Politiker, Wissenschaftler, Journalisten, aber auch Repräsentanten der ethnic communities, die die These einer Entfremdung der zweiten Generation Einwanderer und der Mehrheitsgesellschaft vertraten, diese imaginierte kulturelle Differenz sowohl als Ausgangspunkt, von dem aus sie das vor ihnen liegende Problem diskutierten, als auch gleichzeitig als das Ergebnis dieser Überlegungen.¹¹⁴ Politisch zeigte sich dieses Denken sowohl in den Integrationsstrategien Labours und der Konservativen bis in die 1970er Jahre wie auch in lokalpolitischen Reformversuchen. Letztere waren allem mit den Plänen des im Mai 1981 gewählten Leader des Greater London Council (GLC)¹¹⁵, Ken Livingstone, verbunden: Die Führungsspitze des GLC begann ihre Amtszeit mit der Bemühung, die Situation von benachteiligten Gruppen zu verbessern, unter anderem von Frauen, Behinderten, Homosexuellen und ethnischen Minoritäten, die zusammen einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung Londons ausmachten. Die Londoner Labour Party stand damit in der Tradition des Local Government Act von 1966, durch den Lokalbehörden unter Berufung auf Section 11 kleine Summen von Geldmitteln der Zentralregierung für die Linderung von Problemen vor Ort ausgeben konnten, die durch Einwanderung entstanden waren, beispielsweise durch die Einstellung von Personal in Schulen.¹¹⁶ Im Gegensatz dazu sollten sich Vertreter lokaler Ein Vgl. Reet Tamme: „Promoting Racial Harmony“: Race Relations-Forschung und soziale Ungleichheit in Großbritannien in den 1950er bis 1960er Jahren, in: Christiane Reinecke und Thomas Mergel (Hrsg.): Das Soziale ordnen: Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleicheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2012, S. 183 – 217, hier S. 211– 213. Eine gekürzte Fassung der Rede wurde von der New York Times gedruckt. James Reid: Bang the Bell, Jack, I’m on the bus, New York Times, 20.6.1972, S. 39. Schon 1981 war die Grundlage dieses Arguments umstritten: Eine weitere Studie stellte fest, dass die Jugendlichen zwar der Polizei ablehnend gegenüber standen, in anderen Bereichen jedoch Teil der Gesellschaft sein wollten, beispielsweise in Bezug auf Erwerbsarbeit oder Familienleben. Andere Studien betonten den generellen Wunsch der Einwanderer zweiter oder dritter Generation, Teil der britischen Gesellschaft zu sein. Vgl. George Gaskell und Patten Smith: Are young blacks really alienated?, New Society, 14. 5.1981, S. 260 – 261; Marks: Riot Britain. Our short hot summer of discontent, Observer, 12. 8.1981, S. 13, 16; Richard Hill: Black kids: white justice, New Society, 24.1.1980, S. 174– 175. Zwischen 1965 und ihrer Auflösung im Jahr 1986 die oberste Verwaltungsbehörde von Greater London. Vgl. hierzu Kerstin Brückweh: Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin 2015, S. 288.
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wanderergruppen nun bei dem Ethnic Minorities Committee um Zuschüsse bewerben können, das extra zu diesem Zweck neben dem Police Committee, der Gay and Lesbian Working Party und dem Women’s Committee gegründet wurde. Obgleich die Politik Livingstones von konservativen Beobachtern, aber auch dem moderaten Flügel Labours kritisch beäugt wurde, markiert der politische Richtungswechsel Livingstones einen entscheiden Schritt in der Annahme explizit antirassistischer Politiklinien innerhalb der Labour Party.¹¹⁷ Diese Bemühungen innerhalb der Labour Party, stärker auf die Bedürfnisse der Einwanderer einzugehen, bedeuteten jedoch kein grundlegendes Umdenken, sondern ein Fortschreiben von bereits seit den späten 1960er Jahren etablierten Integrationsstrategien. Das harmonische Zusammenleben von Einwanderern und Mehrheitsgesellschaft wurde von gemeinsamer Toleranz abhängig gemacht. Der ehemalige Innenminister Labours definierte Integration 1966 wie folgt: „I define integration not as a flattening process of assimilation but as equal opportunity, accompanied by cultural diversity, in an atmosphere of mutual tolerance.“¹¹⁸ Ein harmonisches Zusammenleben der unterschiedlichen ethnischen Gruppen in Großbritannien sei dabei von der Zahl der Einwanderer abhängig – der grundlegende kulturelle Unterschied bewirke, dass nur eine begrenzte Zahl an Einwanderern aufgenommen werden könne. Dieser essentialistische Kulturbegriff war grundlegend für die Einwanderungs- und Antidiskriminierungsgesetzgebung sowohl von Labour als auch der Konservativen Partei in den 1960er und 1970er Jahren. Politisch schlug sich das Denken in Strategien wie der des „bipartisan approach“ nieder, die die Begrenzung der Einwanderung bei gleichzeitigem Schutz von Minderheiten anstrebte. So war das legislative Gegenstück zu der Begrenzung der Einwanderung trotz des Status vieler prospektiver Migranten als British subject eine Reihe sogenannter Race Relations Acts, die in den Jahren 1965, 1968 und 1976 jeweils von Labour Regierungen verabschiedet wurden. Mit diesen Gesetzen sollte Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe oder ethnischer Abstammung bekämpft
Livingstone wurde besonders von konservativen Beobachtern, die mit der Regierung Thatchers sympathisierten, als Vertreter der sogenannten harten Linken angesehen, die vor allem öffentliche Mittel in der Kommunalpolitik verschwende. Aber auch der moderate Flügel Labours stand Livingstone skeptisch gegenüber, war der neue Bürgermeister Londons doch nicht in der Wahl des GLC als Spitzenkandidat angetreten, sondern hatte einen Tag nach dem Wahlsieg Labours eine von ihm angesetzte Kampfabstimmung gegen den eigentlich gewählten moderaten Andrew McIntosh für sich entscheiden können. Für die Geschichte des Antirassismus in der britischen Labour Party vgl. Sebastian Berg: Antirassismus in der britischen Labour Party. Konzepte und Kontroversen in den achtziger Jahren, Frankfurt a. M. 2000. Zit. nach Sebastian Berg: Der kurze Frühling des britischen Multikulturalismus, in: Gabriele Metzler (Hrsg.): Das Andere denken: Repräsentationen von Migration in Westeuropa und den USA im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2013, S. 35 – 54, hier S. 41.
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werden.Während 1965 lediglich Akte der Diskriminierung geahndet wurden, die an öffentlichen Orten begangen wurden¹¹⁹, war ab 1968 Diskriminierung im Wohnungswesen, am Arbeitsplatz oder in Bezug auf öffentlichen Dienstleistungen aufgrund von „colour, race, ethnic or national origins“ untersagt.¹²⁰ 1976 wurde die Gesetzgebung erneut ausgeweitet, indem eine Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Diskriminierung vorgenommen wurde und die Commission for Racial Equality als Kontrollorgan eingerichtet wurde.¹²¹ Auch wenn auf kommunaler Ebene die frühen 1980er eine Zeit der Minderheitenförderung und des Bemühens um „racial equality“ waren – das zugrundliegende Konzept war häufig weiterhin das der kulturellen Differenz. Sebastian Bergs Bezeichnung für diese Zeit als „de facto Multikulturalismus“¹²² trifft daher den Nagel auf den Kopf: Ethnische Minderheiten wurden von diesen wohlwollenden Betrachtern und Akteuren als Anwohner mit speziellen Bedürfnissen vorgestellt, die Teil der britischen Gesellschaft seien und denen man daher entgegenkommen müsse. Impliziert war dabei, dass die Gruppen, die unter dem Begriff des „Multikulturalismus“ gefasst wurden, an ihrer Hautfarbe als Einwanderer erkennbar, das heißt ethnisch nicht ‚weiß‘ waren.¹²³ Die Einwanderergemeinden wurden auf diese Weise jedoch als kulturell homogene Gruppen imaginiert, deren kultureller Aufbau durch ihr Heimatland prädisponiert war¹²⁴, deren Differenz aber durch ihre räumliche ‚Einhegung‘ in städtische communities handhabbar wurde.¹²⁵
Eric Bleich bezeichnete den Act einprägsam als „truly a wimper of a law, limited in coverage and weak in its enforcement“. Erik Bleich: Race politics in Britain and France. Ideas and policymaking since the 1960’s, Cambridge 2003, S. 61. Race Relations Act, 1968, Chapter 71, §71,71. Vgl. auch Joppke: Immigration and the nationstate, S. 228. Derartiger Schutz von Minderheiten war jedoch nicht unumstritten, vgl. beispielsweise die Debatte um die als „rivers of blood speech“ bekannt gewordene Rede von Enoch Powell. Zur Rede und ihrer Rezeption vgl. Brooke: India, post-imperialism and the origins; Whipple: Revisiting the „Rivers of Blood“ controversy; Schwarz: Memories of Empire, S. 33 – 52. Zur Person und politischen Haltung Powells vgl. Schofield: Enoch Powell. Berg: Der kurze Frühling des britischen Multikulturalismus, S. 38. Die genaue Bedeutung des Begriffs ist umstritten – er wird teilweise deskriptiv als Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustandes verwendet, teilweise als politisches Programm betrachtet, dass darauf zielt, kulturelle Diversität institutionell und damit gesellschaftlich zu verankern. Vgl. David Goodhart: The British dream. Successes and failures of post-war immigration, London 2013, S. 169. Waters: ‚Dark Strangers‘ in our midst, S. 221. Zugleich werden hier die kolonialen Überreste des community-Begriffs deutlich: Der politische Umgang spiegelt in seiner Art, Migranten in communities zu subsumieren, community leaders zu identifizieren, Exkursionen in diese Stadtteile zu unternehmen (wie Lord Scarman oder auch Minister Michael Heseltine in die betroffenen Stadtteile nach den Unruhen) und anschließend
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Wie weit verbreitet diese kulturelle Homogenisierung war, zeigt sich an dem wiederholten Erstaunen von Polizei, Politikern, aber auch Journalisten, dass die Personen, die sie als „leader“ einer „community“ identifiziert hatten, nicht unbedingt den Rückhalt aller Einwohner eines Stadtteils hatten und ausgetauscht wurden.¹²⁶ Gesellschaftliche Zugehörigkeit war für Politiker wie Journalisten unverkennbar ein heikles Thema: Die Zielgruppe vieler Kommentatoren, die auf die kulturelle Andersartigkeit der randalierenden Jugendlichen verwiesen, war häufig eine weiße Bevölkerungsschicht, die im Sozialstratifikationsdenken der Zeit gemeinhin als „Arbeiterklasse“ und „untere Mittelschicht“ bezeichnet wurde. Bedrängt durch wirtschaftliche Schwierigkeiten sahen sie sich entweder in direkter wirtschaftlicher Konkurrenz zu den Einwanderern oder waren durch den kompletten Mangel an Kontakt mit den beteiligten Akteursgruppen besonders anfällig für verallgemeinernde Feindbilder. Diese Voreingenommenheit der Berichterstattung spiegelte sich in den Akteuren der öffentlichen Debatte: Denn im Gegensatz zur Untersuchung Lord Scarmans, die auf eine ausgewogene Beteiligung setzte, verblieben die Versuche der Neuaushandlung britischer Gesellschaftsvorstellungen in der Regel im Rahmen etablierter Zeitungen und Zeitschriften, in denen die Perspektive der Einwanderer oder weißer Jugendlicher – abseits sensationslüsterner Berichterstattung – nur vereinzelt auftauchte.¹²⁷ Die öffentliche Auseinandersetzung ver-
neue Ansätze im Umgang mit diesen Gemeinden zu entwerfen, koloniale Praktiken im Umgang mit Völkern in Afrika. Für das koloniale Vorgehen in Tansania vgl. Hubertus Büschel: Eine Brücke am Mount Meru, in: Hubertus Büschel und Daniel Speich (Hrsg.): Entwicklungswelten: Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 175 – 206, hier S. 186 – 187. Dabei beklagte sich die Association of chief police officers of England, Wales and Northern Ireland über die Schwierigkeit, community leaders zu identifizieren: „It is sometimes difficult for police to identify community leaders and establish with them simple but effective dialogue. In mainly white communities, identifying community representatives is, of course, normally selfevident, as they are usually elected members of either local or national government, or members of a particular action group. But this type of representation is not always such a reliable barometer within multi-racial communities and this has necessitated that a more specialised and localised means of communicating with community opinion has needed to be introduced or found.“ Wales and Northern Ireland Association of chief police officers of England: Evidence to Lord Scarman’s Inquiry, The National Archives, London, HO 266/29. Dies schlug sich auch in der Zeit nieder, in der die randalierenden Jugendlichen in Radio und Fernsehen selbst zu Wort kamen. Howard Tumber zufolge kamen Regierungsmitglieder und Polizisten zwischen dem 14. und 16. Juli 1981 mehr als doppelt so lange zu Wort wie Repräsentanten der Einwanderergemeinden; die Jugendlichen selber kamen für 52 Sekunden zu Wort. Vgl. Graham Murdock: Reporting the riots: images and impacts, in: John Benyon (Hrsg.): Scarman and after. Essays reflecting on Lord Scarman’s Report, the riots, and their aftermath, Oxford 1984, S. 73 – 95, hier S. 78.
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weist vielmehr darauf, dass diskursmächtige Bevölkerungsgruppen die Ordnung der britischen Gesellschaft als bedroht betrachteten.¹²⁸
2 Nationality Bill: Definitionen staatlicher Zugehörigkeit Gesellschaftliche Zugehörigkeit war nicht die einzige Form sozialer Zugehörigkeit, die um 1981 diskutiert wurde. Im Umfeld der Unruhen des Jahres 1981 bezog sich eine Reihe von Kommentatoren, aber auch Bewohner betroffener Stadtteile auf die Pläne der konservativen Regierung, die britische Staatsbürgerschaftsgesetzgebung zu reformieren, also die Kriterien staatlicher Zugehörigkeit neu zu definieren. Nachdem mit der Wahl Robert Mugabes zum Premierminister des neu geformten Staates Zimbabwe im Jahr 1980 das „südrhodesische Problem“ gelöst schien und nur noch eine Handvoll Territorien verblieben waren, wurde diese legislative Reform von der britischen Regierung als weiterer logischer Schritt betrachtet, auch die juristischen Überreste des Empire zu beseitigen. Referenzpunkt der Reformer war die Vorstellung einer auf die geographischen Grenzen des Vereinigten Königreichs bezogenen britischen Nation. Dies spiegelte sich in der Definition britischer Staatsangehörigkeit im 1981 verabschiedeten Gesetzestext: Anstelle der seit 1948 gültigen Großkategorie des Citizen of the United Kingdom and Colonies (CUKC) wurde ein dreigliedriges Staatsbürgerschaftssystem eingeführt: British citizen, British dependent territories citizen (BDTC) und British overseas citizen (BOC). Der Staatsbürgerschaftsbegriff war im Vereinigten Königreich begrifflich mehrdeutig: Wie Frederic Cooper jüngst betont hat, zielt Staatsbürgerschaft allgemein auf die Beziehung von Individuum und Staat und definiert diese in zweierlei Hinsicht¹²⁹: Sie umfasst zunächst die juristische Definition von Staatsangehörigkeit und bezeichnet damit die offizielle Definition der Mitgliedschaft in einem politischen System, definiert damit aber auch, wer nicht Teil des sozialen Imaginären ist. Darüber hinaus legt sie jedoch auch die Rechte und Pflichten eines Individuums in Bezug auf den Staat fest.¹³⁰ Diese wurden von Dieter Gosewinkel als Staatsbürgerschaft im engeren Sinne bezeichnet.¹³¹ Die Definition bürgerlicher Rechte, in
Vgl. hierzu auch Solomos, Findlay, Jones und Gilroy: The organic crisis of British capitalism, S. 27; Paul: Whitewashing Britain, S. 121. Daher ist die einseitige Engführung auf den Begriff der Staatsangehörigkeit nicht hilfreich, vgl. Ingo von Münch: Die deutsche Staatsangehörigkeit. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, Berlin 2007, S. 17– 19. Vgl. Frederick Cooper: Citizenship between Empire and nation. Remaking France and French Africa, 1945 – 1960, Princeton 2014, S. 4. Vgl. Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 18.
2 Nationality Bill: Definitionen staatlicher Zugehörigkeit
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Anlehnung an T. H. Marshall auch als bürgerliche, politische und soziale Rechte bezeichnet, veränderten sich im Verlauf der Zeit.¹³² Da der Fokus des Kapitels auf der Definition von Staatsangehörigkeit als Kriterium staatlicher Zugehörigkeit liegt, werden sie nur in Betracht gezogen, wenn bürgerliche Rechte in den hier untersuchten Debatten als Argument verwendet werden. Aufgrund des ehemaligen Kolonialreichs war das Verhältnis von Individuum zum Staat im Vereinigten Königreich im Besonderen mit einer Reihe von unterschiedlichen Konzepten verknüpft, die ein kurzer Blick in die teils nebeneinander existierenden Begrifflichkeiten verdeutlicht. So ist die Begriffswahl zur rechtlichen Beschreibung der Beziehung von Individuum und Staat aufschlussreich. Im Vereinigten Königreich wird dazu der Begriff des Nationality Law verwendet, nicht der Begriff der citizenship, der beispielsweise in den USA üblich war. Nationalität bezeichnete in dieser Terminologie den rechtlichen Status, der die Mitgliedschaft eines Individuums im britischen Staat beschrieb, nicht eine biologisch, sprachlich oder kulturell gedachte Zugehörigkeit zu einer „Nation“.¹³³ Jedoch wurde seit 1948 zur Bezeichnung der britischen Staatsangehörigkeit der Begriff des citizen verwendet, der schrittweise den traditionellen des monarchischen und imperialen subjects sowohl juristisch als auch in der politischen Debatte ersetzte. Die Diskrepanz der Begriffe von Nationalität und Staatsbürgerschaft stellt dabei in der Literatur zum britischen Staatsbürgerschaftsrecht einen unumstrittenen Fakt dar. Bereits Ann Dummett und Andrew Nicol haben auf den Mangel einer eindeutigen juristischen Definition von Nationalität hingewiesen und das Fehlen einer schriftlich kodifizierten Verfassung, die bürgerliche Rechte fest verankere.¹³⁴ Auch David Cesarani analysierte die widersprüchliche Verwendung der Konzepte und stellte dabei fest, dass das Konzept der Staatsbürgerschaft eine „notoriously weak presence“ in der englischen Geschichte einnehme.¹³⁵ Jedoch soll in diesem Kapitel nicht die Diskrepanz zwischen Nationalität, „citizenship“ und „subjecthood“ als Selbstzweck und politische Aufgabe im Mittelpunkt stehen, sondern die Aussagen über die Vorstellungen, Reichweite und Grenzen des Begriffs „britisch“ innerhalb des social imaginary, die sich aus dem politischen Aushandlungsprozess im Umfeld der juristischen Neuregelung von 1981 herauslesen lassen. Denn eine Analyse der unterschiedlichen zeitgenössischen Konzepte von Staats-
Vgl. ebd., S. 19. Vgl. hierzu auch Mycock: British citizenship and the legacy, S. 341. Vgl. Ann Dummett und Andrew Nicol: Subjects, citizens, aliens and others. Nationality and immigration law, London 1990, S. 2. Vgl. David Cesarani: The changing character of citizenship and nationality in Britain, in: David Cesarani und Mary Fulbrook (Hrsg.): Citizenship, nationality and migration in Europe London/New York 1996, S. 57– 73, hier S. 58.
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angehörigkeit (citizen und subject) im Wechselspiel von Staatsbürgerschaft und Nationalität erlaubt Rückschlüsse auf die Vorstellungen von Gesellschaft und Staat, die daran geknüpft sind. Die Frage nach der Zugehörigkeit zu eben jener politischen Gemeinschaft trifft auf den Kern des Denkens über die innere Verfasstheit eines Staates und enthüllt die unterschiedlich geformten Vorstellungen sozialer Ordnung im Staat. Zuletzt hat Duncan Bell dies eindrucksvoll am Beispiel der Vorstellung eines „Greater Britain“ für die Periode von 1860 – 1900 gezeigt.¹³⁶ Dies bedeutet auch, von einem eindimensionalen, nationalstaatlichen Staatsbegriff Abstand zu nehmen und gerade die Verflechtung und unterschiedliche Ausprägung staatlicher Ordnung im social imaginary ernst zu nehmen. Denn besonders in den letzten Jahren wurde die Ausbildung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert nicht mehr allein als innereuropäischen Phänomen, sondern als Produkt vielfältiger politischer, wirtschaftlicher und persönlicher Interaktionsprozesse in globalem Maßstab gedeutet.¹³⁷ Imperiale Strukturen, mit denen immer auch ein Denken innerhalb dieser einherging, bildeten ein Spannungsfeld mit nationalen Strukturen und Denken: Sie waren nicht hermetisch voneinander getrennt, sondern bedingten sich gegenseitig und standen in regem Austausch. Während also aus traditioneller verfassungsrechtlicher Perspektive die Begriffe „Empire“ und „Nation“ unterschiedliche Staatsformen implizieren – die des Vielvölkerstaats und des Nationalstaates – sind sie im politischen Denken Großbritanniens spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verflochten. Dieser Zustand liegt nicht zuletzt daran, dass es keine in einem einzigen Dokument kodifizierte Verfassung gibt, sondern der Staat nur als die Summe der Institutionen und Bestimmungen verstanden werden kann, die die Regierung und Verwaltung des Gemeinwesens regeln.¹³⁸ Diese ideelle Verschränktheit schlug sich daher auch in den institutionellen und legislativen Ausformungen des britischen Staates nieder. Begreift man das Denken über die staatliche Ordnung Großbritanniens nicht als eine Wahl zwischen binären Ordnungsstrukturen von „Nation“ und „Empire“, sondern mit Charles Taylor als ein vielschichtiges soziales Imaginäres, kann gerade der Facettenreichtum staatlichen Denkens in den Blick genommen werden.¹³⁹ Denn gerade ein komplexes, durch Reform geprägtes Staatengebilde wie das des Vereinigten Königreichs lässt sich
Duncan Bell: The idea of Greater Britain. Empire and the future of world order, 1860 – 1900, Princeton 2007. Vgl. hierzu beispielsweise Conrad: Globalisierung und Nation, S. 7– 12; Hall und Rose (Hrsg.): At home with the empire; Etienne Balibar: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie, in: Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein (Hrsg.): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1990, S. 107– 130. Vgl. hierzu auch Anthony King: The British Constitution, Oxford 2007, S. 5. Vgl. Taylor: Modern social imaginaries S. 23 – 24; Steger: The rise of the global imaginary, S. 6.
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nicht unter verfassungsrechtlichen Idealtypen einordnen. Das politische Denken wie die institutionelle Verankerung changieren vielmehr innerhalb dieser begrifflichen Pole. Die Begriffe „Nation“ und „Empire“ werden daher nicht als Labels zur präzisen Kategorisierung einer Staatsform verwendet, sondern werden schlussendlich als Begriffe verstanden, die einander nicht ausschließen, eine Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen zulassen und zugleich in der politischen Auseinandersetzung für unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert werden konnten.¹⁴⁰ In diesem Zusammenhang muss auch der Begriff der „Nationalität“ in einem Land, in dem die Mitgliedschaft in der staatlichen Gemeinschaft mit der „allegiance“ zum Monarchen beschrieben wurde, mit der gebührenden Vorsicht behandelt werden.¹⁴¹ Der Blick nicht nur auf die juristische Verankerung von Staatsangehörigkeit, sondern auch auf die verflochtenen Debatten von Staatsbürgerschaft kann daher Aufschluss über die diversen Vorstellungen von staatlicher wie auch gesellschaftlicher Zugehörigkeit in Großbritannien geben, die im Kräftefeld der Konzepte von Nation, Empire und Staat gedacht wurden. Staatsbürgerschaft soll dabei jedoch nicht vereinfachend als rein imperial verstanden werden. Gerade die Verschränktheit von imperialen Konzepten mit nationalen Vorstellungen kennzeichnet, so die These, das britische Nationality Law und muss als solche ernst genommen werden. Auf diese Weise soll der aus den Reihen der „New Imperial History“ formulierten Forderung nachgekommen werden, die Nation als analytischen Rahmen abzulösen und sie anstelle dessen nicht nur als etwas historisch Gewordenes, sondern die Zuschreibungen, mit denen der Begriff der Nation versehen wurde, ernsthaft als Gegenstand historischer Forschung zu begreifen.¹⁴²
Für einen ähnlichen Ansatz vgl. Cooper: Citizenship, S. IX. „It is a book about citizenship, nation, empire, state, and sovereignty, but it is not a book about political theory in the formal sense. It is about how these concepts were deployed – and queried and transformed– in the course of political action.“ An dieser Stelle soll jedoch nicht in die bekannte Dichotomie zwischen der liberal-demokratischen Metropole und der in Teilen autokratischen Regierungsform im Empire aufgebaut werden; ein Argument, das von Stuart Weir und David Beetham vertreten wird. Vgl. Stuart Weir und David Beetham: Political power and democratic control in Britain. The democratic audit of the United Kingdom, London 1999, siehe Kapitel 2; Stephen Howe: Internal decolonization? British politics since Thatcher as post-colonial trauma, in: Twentieth Century British History 14/2003, S. 286 – 304, hier S. 295 – 296. Antoinette Burton spitzte diese Kritik 2003 zu, als sie in Anlehnung an Étienne Balibar und Dipesh Chakrabarty in einem 2003 von ihr herausgegebenen Sammelband fragte, ob es möglich sei, die Nation als Analysekategorie zu entthronen. Burton greift mit ihrem Sammelband die in den vergangenen Jahren häufig vorgebrachte Forderung auf, die Nation als Analysekategorie abzulösen und durch alternative Modelle zu ersetzen, wie beispielsweise dem der lokalen Mi-
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Die Debatte um die Nationality Bill ist dementsprechend in zwei unterschiedliche historiographische Traditionen eingebettet: erstens in die Debatte über die allgemeine innere Dekolonisierung Großbritanniens sowie zweitens in die über staatsbürgerliche Rechte in Großbritannien. Beide verfügen über erhebliche politische Sprengkraft, die sich zum Teil in historiographischen Auseinandersetzungen entlud. Denn dass das Thema der inneren Dekolonisierung Großbritanniens historiographisch umstritten ist, zeigt sich in der heftig geführten Auseinandersetzung um den Stellenwert des britischen Empire für die britische Gesellschaft.¹⁴³ Ausgangspunkt der Debatte war ein Essay des Historikers P. J. Marshall, der im Jahr 1993 ein gemischtes Urteil fällte: Over a long period, the history of empire is likely to appear less as an exotic and transient aberration in the development of Britain and more as an integral part of fit. Empire cannot therefore be assigned to the exclusive possession of the self-confessed “imperialists”; many different sections of British society laid claim to it at different times. […] The length of the commitment to empire means that attempts to treat it as an exogenous element in British history, and to isolate the “imperial factor” on to which to pin part of the blame for our present discontents, becomes very much more difficult to sustain.¹⁴⁴
Aus einer Reihe von Beispielen entwickelte Marshall die These, dass das Empire zwar als Katalysator für wichtige Entwicklungen in der britischen Geschichte gewirkt habe, jedoch nur selten als dominanter Faktor aufgetreten sei.¹⁴⁵ Marshalls nuanciertes Argument wurde von einer Reihe von kulturwissenschaftlich arbeitenden Historikern kritisiert, die gerade den Einfluss des Empire als konstitutiv für die Geschichte der britischen Gesellschaft erachteten.¹⁴⁶ Die Publika-
krostudie oder der Verflechtungsgeschichte. Antoinette Burton: Introduction: on the inadequacy and the indispensability of the nation, in: Antoinette M. Burton (Hrsg.): After the imperial turn, Durham 2003, S. 1– 23, hier S. 8; Michael Werner und Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: GG 28/2002, S. 607– 636. Zur politischen Bedeutung von Debatten über das britische Empire für die britische, aber auch die amerikanische Öffentlichkeit vgl. Dane Kennedy: The imperial history wars. Debating the British Empire, London 2018, S. 131– 147. P. J. Marshall: No fatal impact? The elusive history of imperial Britain, The Times Literary Supplement, 12. 3.1993, S. 8 – 10. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. Bill Schwarz: Introduction: the expansion and contraction of England, in: Bill Schwarz (Hrsg.): The expansion of England. Race, ethnicity and cultural history, London 1996, S. 1– 8, hier S. 1; Catherine Hall: Histories, empires and the post-colonial moment, in: Iain Chambers und Lidia Curti (Hrsg.): The postcolonial question. Common skies, divided horizons, London 1995, S. 65 – 77; Antoinette Burton: Introduction: on the inadequacy and indispensability of the nation, in: An-
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tion von Bernard Porters „Absent-minded imperialists“ mit dem provokativem Untertitel „What the British really thought about empire“ im Jahre 2004 führte diese Grundsatzdebatte über den Einfluss und die Bedeutung des „imperial factor“ in der britischen Gesellschaft fort.¹⁴⁷ Porter rechnete in seinem Buch besonders mit den Thesen John MacKenzies und Edward Saids ab, deren Publikationen „Propaganda and Empire“ (1984) und „Culture and imperialism“ (1993) einen deutlichen Einfluss des Empire auf das britische Alltagsleben und Kultur attestierten. MacKenzie und Said hatten jeweils deutliche Forschungsrichtungen geprägt, die unter dem Begriff der „New Imperial History“ auf unterschiedliche Weise versuchten, traditionelle Perspektiven der Trennung von Zentrum von Periphere zu durchbrechen, koloniale Hierarchien zu demontieren und neue Akteure und Themen in den Blick zu nehmen.¹⁴⁸ Deren Auswüchse beklagte Porter als methodisch unsauber, deskriptiv und mit intellektuellen Scheuklappen versehen, die den Blick einseitig auf eben jenen imperialen Blickwinkel richteten.¹⁴⁹ Porter strebte nach eigener Aussage hingegen ein differenzierteres Bild an, in dem die verschiedenen Klassen und Bevölkerungsgruppen jeweils unterschiedlich vom Empire und Imperialismus betroffen waren, und in dem dieser Einfluss in der Regel indirekt war. Zum Fortbestand des Empire habe die Indifferenz eines Großteils der Bevölkerung gereicht, class, nicht race, sei die imperialistische Kategorie sozialer Differenzierung gewesen.¹⁵⁰ Porter befand sich mit seinen Thesen in Übereinstimmung mit David Cannadine, der bereits 2002 mit „Ornamentalism: how the British saw their Empire“ für eine klassenbasiertes Verständnis der imperialen Erfahrung plädiert hatte.¹⁵¹ Die Debatte, die Porters und Cannadines Kritik an der kulturwissenschaftlich inspirierten Lesart der imperialen Erfahrung in Großbritannien auslöste, verdeutlicht die methodischen Spannungen, die innerhalb der historischen Zunft herrschen.¹⁵² Sie ist aber auch Zeugnis davon, wie umstritten Großbritanniens imperiale Vergangenheit noch in den 2000er Jahren war und bis heute ist. Mehr noch: Die Debatte an sich ist Teil der Auseinandersetzung mit der eigenen imperialen Vergangenheit mancher toinette Burton (Hrsg.): After the imperial turn: Thinking with and through the nation, Durham, N. C. 2003, S. 1– 23, hier S. 4. Porter: The absent-minded imperialists, S. ix. So gab es beispielsweise seit den 1980er Jahren eine von MacKenzie herausgegebene Schriftenreihen zu „Culture and Imperialism“ bei Manchester University Press. Für eine ausgewogen kritische Diskussion der „New Imperial History“ vgl. Richard Price: One big thing. Britain, its Empire, and their imperial culture, in: The Journal of British Studies 45/2012, S. 602– 627. Vgl. Porter: The absent-minded imperialists. Vgl. ebd., S. 307– 311. Vgl. David Cannadine: Ornamentalism. How the British saw their Empire, Oxford 2002, S. xix. Vgl. hierzu auch Thompson: The empire strikes back?, S. 1– 2.
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Autoren, in der Personen mit unterschiedlichen biographischen Hintergründen aufeinandertrafen.¹⁵³ So ordnete Bernard Porter seinen biographischen Hintergrund „closer to Cannadine’s than to [Catherine] Hall’s or [Edward] Said’s (class, type of schooling, dullness)“, der sich auch in deutlich unterschiedlichen Erfahrungen bezüglich des Empire widerspiegelte: what struck me most on reading his account was how different were our experiences of the empire, including vicarious ones, when we were young. He remembers many such experiences; I can recall none. This is despite the fact that I am older than him [Said, Anm. d. Verf.], so the empire when I was a boy was still (just) a going concern. None of my relatives, so far as I know, emigrated to the colonies; none served there in the armed forces; we had no imperial books of any obvious kind on my parents’ or grandparents’ bookshelves; and I do not remember the empire ever being discussed or even mentioned at home as a child. My (Methodist) church was clearly not as keen on missionary work as Hall’s (Baptist) one was. At school I studied no imperial history whatsoever. I can be pretty certain of this because I have checked in my old exercise books, which my mother kept.¹⁵⁴
Die Debatte über den Stellenwert des Empire in der britischen Gesellschaft erlangt so eine deutliche biographische Note, die zu dem zum Teil emotionalen Ton der Auseinandersetzung beitrug. Obgleich seit den 1990er Jahren über den Stellenwert des Empire in der britischen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert gestritten wurde, wird die Frage der inneren Dekolonisierung der britischen Gesellschaft und des Staates, also den politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen, die dem graduellen Wegfall des Empire folgten, weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Denn während zahlreiche Studien die diplomatischen, strategischen und politischen Aspekte des Dekolonisationsprozesses untersuchen, haben sich bisher nur wenige Arbeiten aus ideenhistorischer Perspektive direkt mit dem Prozess der inneren Dekolonisierung der Metropole befasst.¹⁵⁵ Neben Pionierstudien wie der
Porter berief sich damit auf die in den Kulturwissenschaften übliche Praxis der Standortvergewisserung. Vgl. Porter: The absent-minded imperialists, S. x. Ebd. Vgl. beispielsweise David George Boyce: Decolonisation and the British Empire, 1775 – 1997, Houndmills, Basingstoke 1999; Judith M. Brown und William Roger Louis (Hrsg.): The Oxford history of the British Empire. Bd. IV. The twentieth century, Oxford 2001; Muriel Evelyn Chamberlain: The Longman companion to European decolonisation in the twentieth century, London/New York 1998; Rafael Cox-Alomar: Revisiting the transatlantic triangle. The decolonisation of the British Caribbean in light of the Anglo-American special relationship, in: Diplomacy & Statecraft 15/2004, S. 353 – 373; John Darwin: Britain and decolonisation. The retreat from Empire in the post-war world, London 1988; John Darwin: The end of the British empire. The historical debate, Oxford 1991; John Darwin: Decolonization and the end of Empire, in: Robin William Winks und William Roger Louis (Hrsg.): The
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Freiburger Dissertationsschrift Gerhard Altmanns, der sich mit den Auswirkungen des Dekolonisationsprozesses auf die britische Presse zwischen 1945 und 1985 beschäftigt hat¹⁵⁶, Jordanna Bailkins Studie zur ‚gelebten‘ inneren Dekolonisierung im Bereich des Wohlfahrtsstaates¹⁵⁷ oder Sarah Stockwells Studie zu den Auswirkungen von Dekolonisierung auf britischen Institutionen¹⁵⁸ hat sich die oftmals polemisch geführte Auseinandersetzung um den Einfluss des Empire auf die Metropole nur in wenigen Darstellungen zum Prozess der inneren Dekolonisierung nach den 1960er Jahren niedergeschlagen, die jenseits der etablierten Konfliktlinien lagen.¹⁵⁹ Stephen Howe beklagte dies bereits im Jahr 2003, unter Rückgriff auf Bill Schwarz mahnte er allerdings, dass Dekolonisierung nur eine von vielen unvollständigen Geschichten des postkolonialen Großbritannien sei.¹⁶⁰ Aufbauend auf der Forderung Howes, von absoluten Aussagen Abstand zu nehmen, wird die innere Dekolonisierung Großbritanniens hier weniger in Bezug auf generalisierende Aussagen zu Kultur und Gesellschaft analysiert. Ausgehend von der Fallstudie des Nationality Law soll mit einem nicht deterministischen Blick untersucht werden, wie das Denken über staatliche Zugehörigkeit mit Vorstellungen von Empire, Nation und Gesellschaft verflochten ist. Die bisherige Forschung zum Thema der Staatsangehörigkeit hat das Thema vor allem im
Oxford history of the British Empire. Bd. V, Oxford 1999, S. 541– 557; John Darwin: British Decolonization since 1945: a pattern or a puzzle?, in: Martin Thomas (Hrsg.): European decolonization, Aldershot 2007, S. 87– 109; Roy Douglas: Liquidation of Empire. The decline of the British Empire, London 2001; Jost Dülffer und Marc Frey: Elites and decolonization in the twentieth century, Basingstoke 2011; Andreas Eckert: Spätkoloniale Herrschaft, Dekolonisation und internationale Ordnung. Einführende Bemerkungen, in: AfS 48/2008, S. 3 – 20; Richard Faber: A chain of cities. Diplomacy at the end of Empire, London; Graham Goodlad: Britain and decolonisation 1945 – 64, in: Modern History Review 16/2005, S. 28 – 32; Frank Heinlein: British government policy and decolonisation, 1945 – 1963. Scrutinising the official mind, London 2002; R. F. Holland: European decolonization, 1918– 1981. An introductory survey, Basingstoke 1985; Hopkins: Rethinking decolonization; Ronald Hyam: Britain’s declining empire. The road to decolonisation, 1918 – 1968, Cambridge 2006; William Roger Louis: The dissolution of the British Empire, in: Judith M. Brown und William Roger Louis (Hrsg.): The Oxford History of the British Empire, Oxford 2001, S. 329– 356; Andrew N. Porter und A. J. Stockwell (Hrsg.): British imperial policy and decolonization, 1938– 64, Houndmills, Basingstoke 1989; Dietmar Rothermund: The Routledge companion to decolonization, London/New York 2006; Martin Thomas (Hrsg.): European decolonization, Aldershot 2007. Gerhard Altmann: Abschied vom Empire. Die innere Dekolonisation Grossbritanniens 1945 – 1985, Göttingen 2005. Jordanna Bailkin: The afterlife of empire, Berkeley 2012. Sarah Stockwell: The British end of the British empire, Cambridge 2018. Als Ausnahmen vgl. beispielsweise Tomlinson: The decline of the Empire; Schwarz: Claudia Jones and the West Indian Gazette. Vgl. Howe: Internal Decolonization, S. 304.
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Kontext von Migration und Einwanderungspolitik mit einem dezidiert juristischen Blick beleuchtet.¹⁶¹ Dieter Gosewinkels 2016 erschienene Monographie „Schutz und Freiheit“ stellt in diesem Kontext die nicht nur in zeitlichem wie geographischem Umfang wohl umfassendste Studie von Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert dar.¹⁶² In dem folgenden Kapitel soll dieser Ansatz nicht nur um eine ideenhistorische Komponente ergänzt werden, sondern mit dem British Nationality Act von 1981 auch auf eine Gesetzesreform der Fokus gelegt werden, die in der Regel nicht im Zentrum der Analyse steht. Spielt die innere Dekolonisierung nur eine untergeordnete Rolle in der britischen Historiographie, so fehlt sie doch nicht in der Erforschung des britischen Staatsangehörigkeitsrechts¹⁶³: Die Historiographie des Nationality Law ist vor allem durch den Aspekt der postkolonialen Integration und der Mechanismen der Inklusion und Exklusion geprägt.¹⁶⁴ Staatliche Kontrollmechanismen und Exklusionsprozesse wurden in den vergangenen 15 Jahren auch in Forschungen zur Einführung des Passsystems analysiert.¹⁶⁵ Der Begriff der citizenship wurde in der historischen Forschung in Bezug auf Großbritannien in den vergangenen Jahren
Vgl. hierzu Ann Dummett: Citizenship and nationality, London 1976; Ann Dummett: Nationality law. General principles, comparisons, alternatives and recommendations, London 1980; Dummett und Nicol: Subjects, citizens, aliens and others; Dieter Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001; Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain; Rieko Karatani: Defining British citizenship. Empire, commonwealth, and modern Britain, London 2003; Derek Robbins: Citizenship and nationhood in Britain. British reflections on Rogers Brubaker’s account of citizenship and nationhood in France and Germany, London 1995; Richard Weight und Abigail Beach: The right to belong. Citizenship and national identity in Britain, 1930 – 1960, London/New York 1998. Gosewinkel: Schutz und Freiheit. Für grundlegende Vergleichsstudien zum preußisch-deutschen Staatsangehörigkeitsrecht, teils mit britischen und französischen Vergleichsfällen, vgl. Rogers Brubaker: Citizenship and nationhood in France and Germany, Cambridge, Mass. 1992; Andreas Fahrmeir: Citizens and aliens. Foreigners and the law in Britain and the German states, 1789 – 1870, New York 2000; Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen; Eli Nathans: The politics of citizenship in Germany. Ethnicity, utility and nationalism, Oxford 2004. Vgl. beispielsweise Dummett: Citizenship and nationality; Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain; Paul: Whitewashing Britain; Adrian Favell: Philosophies of integration. Immigration and the idea of citizenship in France and Britain, Basingstoke 1998, Kapitel 4; Joppke: Immigration and the nation-state, Kapitel 4,7. Vgl. beispielsweise John Torpey: The invention of the passport. Surveillance, citizenship and the state, Cambridge 2000; Jane Caplan und John C. Torpey (Hrsg.): Documenting individual identity. The development of state practices in the modern world, Princeton, N. J. 2001; Prem Poddar: Passports, Empire, subjecthood, in: Graham MacPhee und Prem Poddar (Hrsg.): Empire and after, New York 2007, S. 73 – 86.
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jedoch nicht nur als seit 1948 verwendeter Begriff der Staatsangehörigkeit gebraucht, sondern und vor allem in seiner Bedeutung von staatsbürgerlichen Rechten diskutiert, hier insbesondere in Bezug auf den Wohlfahrtsstaat.¹⁶⁶ Als dieser in den 1980er Jahren durch Reformen der konservativen Regierung Margaret Thatchers bedroht schien, wurde zu seiner Verteidigung das Konzept der Staatsbürgerschaft in seiner Funktion als Garantie wohlfahrtsstaatlicher Rechte herangezogen.¹⁶⁷ Auch wenn der Aspekt der sozialen Rechte ab Mitte der 1980er Jahre überwog, speiste sich die Debatte über citizenship in der Bedeutung bürgerlicher Rechte aus mehreren Strängen: dem eben genannten der Wohlfahrt und citizenship, der sich in der Tradition des einflussreichen britischen Soziologen T. H. Marshalls mit dem Zusammenhang und Auswirkungen von citizenship und social class beschäftigte; einer nordamerikanischen Tradition, die sich vor allem mit dem Verhältnis von Ethnizität und citizenship befasste, sowie einer kontinentaleuropäischen Tradition, die das Verhältnis des Staates zum Staatsbürger und die Aushandlung von Öffentlichem und Privatem in den Mittelpunkt stellte.¹⁶⁸ Der Diskurs bürgerlicher Rechte in Großbritannien bewegte sich innerhalb dieser Bedeutungsfelder, sie bildeten den Hintergrund, vor dem die Debatten über die Verankerung bürgerlicher Rechte in der Gesetzgebung zur Staatsangehörigkeit abliefen. Der Begriff der „imperial citizenship“ hingegen wurde von einer kleinen Gruppe von Politikwissenschaftlern und Historikern untersucht, allerdings mit besonderem Augenmerk auf das späte 19. Jahrhundert.¹⁶⁹ Andreas Fahrmeir verbindet in seiner vergleichend angelegten Studie die Analyse der wandelbaren Auslegung bürgerlicher Rechte mit der sich verändernden legislativen Definition formaler Staatsangehörigkeit.¹⁷⁰ Vgl. hierzu beispielsweise Andreas Fahrmeir: Citizenship. The rise and fall of a modern concept, New Haven 2007; Daniel Gorman: Imperial citizenship. Empire and the question of belonging, Manchester 2006; Jose Harris: Nationality, rights and virtue: some approaches to citizenship in Great Britain, in: Richard Bellamy und Dario Castiglione (Hrsg.): Lineages of European citizenship. Rights, belonging and participation in eleven nation-states, Houndmills, Basingstoke 2004, S. 73 – 91; Derek Heater: Citizenship in Britain. A History, Edinburgh 2006; McGlynn, McAuley und Mycock (Hrsg.): Britishness, identity and citizenship. Vgl. Randall Hansen: Against social solidarity and citizenship. Justifying social provision in Britain and France, in: Jet Bussemaker (Hrsg.): Citizenship and welfare state reform in Europe, London/New York 1999, S. 28 – 41, hier S. 28. Zu den einzelnen Diskurssträngen vgl. auch Bryan S. Turner und Peter Hamilton: General commentary, in: Bryan S. Turner und Peter Hamilton (Hrsg.): Citizenship. Critical concepts, London 1994. Vgl. Duncan Bell: Beyond the sovereign state: Isopolitan citizenship, race and Anglo-American Union, in: Political Studies 62/2014, S. 418 – 434; Gorman: Imperial citizenship; Karatani: Defining British citizenship, Kapitel 1– 3. Vgl. Fahrmeir: Citizenship.
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In diesem Kapitel soll es jedoch nicht allein um die Praktiken der Ein- und Ausbürgerung oder die Ausformulierung und Verankerung bürgerlicher Rechte gehen. Vielmehr soll gerade die Zusammenschau der Debatten über Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft die jeweils dahinterstehenden Vorstellungen sozialer und politischer Zugehörigkeit sichtbar machen, die sich wiederum innerhalb der von den Akteuren bestimmten Ordnungskategorien von Staat, Nation und Empire befanden. Nicht die Mechanismen der Aus- und Eingrenzung stehen im Mittelpunkt – auch wenn sie in der Analyse angesprochen werden – sondern die Vorstellung darüber, wer noch nach dem vorläufigen Ende des formalen Dekolonisationsprozesses Brite war und sein konnte. Ausgangs- und Fluchtpunkt der Analyse bleiben daher die Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts von 1981, das als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses der Grenzen des politischen und sozialen social imaginary Großbritanniens betrachtet wird.¹⁷¹
Nationalität, citizenship und die Begrenzung postkolonialer Immigration, 1948 – 1981 Der British Nationality Act aus dem Jahr 1981 stand am Ende eines langwierigen politischen Prozesses, in dem unterschiedliche Regierungen – sowohl von Labour, wie auch den Konservativen – versucht hatten, die bei der Mehrheit der Bevölkerung vorherrschenden Vorstellungen staatlicher Zugehörigkeit, die das Vereinigte Königreich als mehrheitlich ethnisch weiß imaginierten, mit einer imperial angelegten Staatsbürgerschaft in Einklang zu bringen. Im Kern des Problems stand der bis dahin gültige British Nationality Act aus dem Jahr 1948: Dieses Gesetz hatte staatliche Zugehörigkeit, die bis dahin vor allem auf dem Prinzip der allegiance beruht hatte¹⁷², zum Erhalt des Empire breit ausgelegt, um vor allen Dingen den Forderungen der Dominions nach Selbstbestimmung ihrer jeweiligen juristischen Staatsbürgerschaft entgegenzukommen.¹⁷³ Zur Umstrittenheit von Debatten nationaler Zugehörigkeit vgl. beispielsweise Sven Oliver Müller: Recht und Rasse. Die Ethnisierung von Staatsangehörigkeit und Nationsvorstellungen in Großbritannien im Ersten Weltkrieg, in: GG 30/2004, S. 379 – 403, hier S. 379 – 380. Zum Konzept der allegiance und seinen historischen Wurzeln vgl. Fahrmeir: Citizenship, S. 11; Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 83 – 88; Clive Parry: British nationality, London 1951, S. 7, 17; J. Mervyn Jones: British Nationality Law, überarbeitete Aufl., Oxford 1956, S. 51– 57; Dummett und Nicol: Subjects, citizens, aliens and others, S. 36, 59 – 63. Akut sah sich die von Premierminister Clement Attlee geführte Labour-Regierung mit der erstarkten Unabhängigkeitsbewegung in Indien sowie mit der Gefahr konfrontiert, in einen Bürgerkrieg zwischen Hindus und Muslimen hineingezogen zu werden. Generell hatten die gesteigerte Bedeutung der Dominions im Zweiten Weltkrieg, die Bemühungen der Regierung Irlands
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Dementsprechend gab es innerhalb des British Nationality Act von 1948 fünf Kategorien, die jeweils durch ihr Verhältnis zum Oberbegriff des British subject definiert wurden. Grundlegend war die Unterscheidung zwischen den Citizens of the United Kingdom and Colonies (CUKCs) und den Citizens of the Independent Commonwealth Countries (CICCs). CUKCs wurden nach Ausschlussprinzip als die British subjects definiert, die bis zu diesem Zeitpunkt im Vereinigten Königreich und den abhängigen Kolonien lebten.¹⁷⁴ Den Status eines CICCs hingegen erlangte man allein durch die Staatsbürgerschaft eines unabhängigen Staates im Commonwealth. Die gemeinsame Oberkategorie der Passinhaber dieser Staaten war die eines Commonwealth citizen, der unter dem neuen Gesetz dem des British subject gleichgestellt werden sollte. Welche Bedingungen Personen erfüllen mussten, um die Staatsangehörigkeit eines souveränen Staates des Commonwealth zu erlangen, wurde nun allein von der Gesetzgebung der jeweiligen Staaten bestimmt.¹⁷⁵ Dadurch, dass sowohl CUKCs als auch CICCs gemeinsam unter den Mantel eines British subject/Commonwealth citizen fielen, genossen sie weitestgehend identische Rechte; am bedeutsamsten waren wohl der freie Zutritt zum und das unmittelbare Recht auf Arbeit im Vereinigten Königreich. CICCs konnten
um eine vom Vereinigten Königreich losgelöste Staatsbürgerschaft sowie die zunehmenden Unabhängigkeitsbestrebungen im Empire dazu geführt, dass dieser Unzufriedenheit mit dem Status Quo nach Ende des Zweiten Weltkriegs verstärkt Ausdruck verliehen wurde. Zugleich wurde das britische Kabinett von der amerikanischen Regierung unter Druck gesetzt, die Kolonialherrschaft zu beenden – eine Forderung, die angesichts der hohen Verschuldung Großbritanniens in den USA nach Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus ernst zu nehmen war. In dieser außenpolitisch prekären Lage sah sich Whitehall durch einen Vorstoß der kanadischen Regierung im Jahr 1946 gezwungen, die britische Nationalitätsgesetzgebung zu reformieren. Die Pläne des kanadischen Premierministers Mackenzie King hörten sich zunächst harmlos an: Der liberale Politiker beabsichtigte ein Gesetz zu verabschieden, das die kanadische Staatsbürgerschaft definieren sollte. Entscheidend war, dass Kanadier den bereits vorhandenen imperialen Status eines British subjects nun in Folge ihrer kanadischen Staatsbürgerschaft erhalten sollten und er damit nicht mehr erste Loyalitätsbekundung war. Auch wenn diese Änderung eine Formsache erscheint, rüttelte sie doch an den Grundlagen jahrhundertelanger britischer Loyalitätsdefinition, in der der Status eines Untertans der Krone, eines subjects, jeglichen anderen Zugehörigkeiten vorgeschaltet war. Zum Lend-Lease Agreement vgl. beispielsweise Peter Howlett: British war-time economy, 1939 – 1945, in: Roderick Floud und Paul Johnson (Hrsg.): The Cambridge economic history of modern Britain, Cambridge 2004, S. 1– 26, hier S. 15 – 17; James P. Hubbard: The United States and the end of British colonial rule in Africa, 1941– 1968, Jefferson, N. C. 2011, S. 16 – 17. Zum historischen Hintergrund des British Nationality Act von 1948 vgl. Paul: Whitewashing Britain, S. 9 – 11. Vgl. Laurie Fransman, Adrian Berry und Alison M. A. Harvey: Fransman’s British nationality law, 3. Aufl., Haywards Heath 2011, S. 170. Zunächst galten diese Bestimmungen allein für Kanada, sollten jedoch in Folge auf Neuseeland, die Südafrikanischen Union, Indien, Pakistan, Südrhodesien und Ceylon ausgeweitet werden.
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sich zudem, nachdem sie ein Jahr im UK gelebt hatten, als CUKC registrieren lassen. British subjects verfügten zudem über das aktive und passive Wahlrecht, und durften für die britische Regierung arbeiten.¹⁷⁶ Die Verwendung des Begriffs von citizenship für das Vereinigte Königreich und seine Kolonien stellte dabei eine Neuerung dar, tauchte dieses Konzept doch zum ersten Mal in einem Londoner Gesetzestext zur Definition britischer Nationalität auf.¹⁷⁷ Doch gerade dieses Vorhaben endete, juristisch gesehen, uneindeutig: So urteilte Parry im Jahre 1951, seinerzeit Fellow am Downing College, Cambridge: The short answer to the question in any of these contexts is, however, that though there may be a single concept of Commonwealth citizenship or, as the case may be, of the status of a British subject, there is no concept of a wider nationality, comprehending both that status and also the totality of persons protected by the several countries of the Commonwealth.¹⁷⁸
Iren nahmen eine Sonderstellung ein: Mit der Verabschiedung des Irish Nationality and Citizenship Act hatte die Regierung des irischen Freistaats jedoch bereits 1935 ein deutliches Zeichen gegen die Regierung in Westminster gesetzt und eine eigenständige, von London unabhängige Staatsbürgerschaftsgesetzgebung eingeführt: Alle übrigen British subjects galten von da an im Irish Free State (und ab 1937 in Eire) als Ausländer.¹⁷⁹ Als Vorgriff auf der kurz danach folgende Proklamierung der Republic of Ireland und des Austritts Irlands aus dem Commonwealth im Jahr 1948 entschied die irische Regierung, am British Nationality Act nicht unter denselben Bedingungen wie die übrigen unabhängigen Mitglieder dieses Staatenbundes teilzunehmen. Auf Wunsch der britischen Regierung wurde allerdings eine Sonderklausel eingeführt, die Iren erlaubte, durch einen schriftlichen Antrag ihren Status als British subject wiederzuerlangen. Diese Sonderstel-
Vgl. Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain, S. 46. Generell bereiteten die Konzepte von „nationality“ und „citizenship“ den britischen Verfassungsrechtlern Probleme: Die beiden Begriffe wurden als moderne Konzepte verstanden, die jedoch der britischen Common Law-Tradition fremd seien. Dies erklärt möglicherweise die eigenwillige Weise, mit der die Begriffe in dem Gesetz von 1948 verwendet wurden: Nationalität bezog sich nicht, wie zu dem Zeitpunkt durchaus üblich, auf die Bevölkerung des Nationalstaats, sondern wurde auf die subjects und Schutzpersonen in dem imperialen Territorium bezogen. Die Vorstellung von British subjects hingegen bezog sich intellektuell weiterhin auf das Konzept einer allegiance. Dementsprechend waren diese Experten bemüht, den völkerrechtlichen Terminus mit der bestehenden britischen Rechtstradition in Einklang zu bringen.Vgl. Parry: British nationality, S. 4; Jones: British Nationality Law, S. 1. Clive Parry: Nationality and Citizenship Laws of the Commonwealth and of the Republic of Ireland, London 1957, S. 111. Vgl. Jones: British Nationality Law, S. 173.
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lung der Iren als Drittland mit besonderen Privilegien wurde 1949 im Ireland Act festgeschrieben.¹⁸⁰ Oder, um Kathleen Paul zu zitieren, Iren waren in Folge der beiden Gesetze fortan „neither subjects nor aliens but Irish“.¹⁸¹ Die im British Nationality Act von 1948 deutliche Koppelung von Staatsangehörigkeit an eine imperial definierte Gemeinschaftsvorstellung, von bürgerlichen Rechten jedoch an den übergreifenden Status der subjects, spiegelte die Vorstellung einer internationalen Ordnung wider, in der das Vereinigte Königreich weiterhin die Metropole eines weitreichenden Empire war. Wie wenig diese mit in der britischen Öffentlichkeit verhandelten Vorstellungen „gesellschaftlicher“ Zugehörigkeit übereinstimmte, zeigte sich in den Debatten um die Beschränkung von Migration in das Vereinigte Königreich: Denn einer imperialen Auslegung staatsbürgerlicher Rechte zum Trotz wurde seit den 1950er Jahren eine Begrenzung der Einwanderung in einer zunehmend aufgeheizten politischen Stimmung gefordert, nachdem zuvor britische Unternehmen und Institutionen wie der NHS gezielt in Kolonien Arbeitskräfte angeworben hatten.¹⁸² Die Versuche, Arbeitsmigration mittels einer restriktiven Einwanderungsgesetzgebung zu beschränken, bezogen sich dabei vor allem aus Migranten aus den Ländern des sogenannten „New Commonwealth“. Denn obgleich zwischen 1946 und 1962 jährlich rund 50 000 bis 60 000 irische Einwanderer nach Großbritannien einreisten und zahlenmäßig die größte Gruppe bildeten¹⁸³, bestimmten die Immigranten aus den (ehemaligen) Kolonien die zeitgenössische mediale wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen (zum Vergleich: Das Jahr 1961 verzeichnete deutlich erhöhte Einwanderungszahlen mit 66 300 Einwanderern aus den West Indies, 23 750 aus Indien und 25 100 aus Pakistan; Zahlen, die in den Jahren zuvor deutlich niedriger ausgefallen waren).¹⁸⁴ Das Ergebnis waren eine Vielzahl unterschiedlicher Regelungen, die im deutlichen Gegensatz zu dem besonders in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg konstruierte Selbstbild der Briten stand: Anstelle der propagierten Tradition des
„It is hereby declared that, notwithstanding that the Republic of Ireland is not part of his Majesty’s dominions, the Republic of Ireland is not a foreign country for the purposes of any law in force in any part of the United Kingdom or in any colony, protectorate or United Kingdom trust territory.“ Ireland Act, 1949, §2,1. Paul: Whitewashing Britain, S. 90. Vgl. Karen Schönwälder: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Grossbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001, S. 153 – 156; Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 434– 435. Zur Vorgeschichte der Migrationskontrolle im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Christiane Reinecke: Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Grossbritannien und Deutschland, 1880 – 1930, München 2010. Vgl. Paul: Whitewashing Britain, S. 90; Thompson: The empire strikes back?, S. 216. Vgl. Layton-Henry: The politics of immigration, S. 13.
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Antirassismus wurden in den Gesetzen zunehmend verschärfte Kriterien angelegt, die explizit den Ausschluss „farbiger“ Einwanderer zum Ziel hatten. Ethnische Vorstellungen staatlicher Zugehörigkeit waren also durch die breit angelegte, imperial verstandene Definition des British Nationality Law von 1948 keinesfalls verschwunden. Sie waren viel mehr Teil des Diskurses über staatliche Zugehörigkeit seit dem späten 19. Jahrhundert, der sich zwischen den Polen des imperialen Territorialitätsprinzip und ethnisch begründeter Nationsvorstellungen bewegte.¹⁸⁵ Sie traten jedoch erst dann deutlich zu Tage, als nicht nur die territoriale Ordnung des Empire durch den Prozess der Dekolonisation aufgehoben wurde, sondern auch die kulturelle Ordnung des Vereinigten Königreichs durch die Ankunft von Migranten.¹⁸⁶ Diese zeigten durch ihre als fremd codierte Hautfarbe und zum Teil Kultur und Sprache die Grenzen des vorgestellten britischen kulturellen Imaginären auf. Diese Annahme essentieller kultureller Unterschiede führte dazu, dass „race“, also eben jene sozialwissenschaftliche Grundannahme von „ultimate, irreducible difference between cultures, linguistic groups, or adherents of specific belief systems“¹⁸⁷, die zentrale Kategorie wurde, in der Einwanderung seit den 1950er Jahren diskutiert wurde. Dieser konzeptionelle Grundrahmen zeigte sich auch daran, dass die seit der Unabhängigkeit von Indien und Pakistan im Jahr 1947 aus den Kolonien zurückkehrenden ethnisch weißen Briten mit familiären Wurzeln im Vereinigten Königreich kaum öffentliche (und wissenschaftliche) Aufmerksamkeit erhalten haben, obgleich ihre Gruppe mit rund 560 000 weißen Rückkehrern (Stand Zensus 1991) an Größe mit der in der Karibik oder Pakistan geborenen Einwanderern vergleichbar war.¹⁸⁸ Mit dem Commonwealth Immigration Act aus dem Jahr 1962 wurden, nachdem bilaterale Abkommen in den Jahren zuvor nicht den gewünschten Effekt gezeigt hatten, Einwanderungskontrollen eingeführt. Citizen of the United Kingdom and Colonies durften nur noch ungehindert einreisen, wenn ihr Pass entweder in London oder Dublin ausgestellt worden war oder sie auf dem Territorium des Vereinigten Königreichs vor 1962 geboren worden waren.¹⁸⁹ Erfüllten sie diese
Zur Nationalisierung des Denkens über Staatsangehörigkeit zwischen 1870 und 1914 vgl. Benno Gammerl: Staatsbürger, Untertanen und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867– 1918, Göttingen 2010, S. 217– 243; Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 88 – 97. Vgl. hierzu auch Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 434– 435. Henry Louis Gates, Jr.: Writing „race“ and the difference it makes, in: Critical Inquiry 12/1985, S. 1– 20, hier S. 5. Elizabeth Buettner: Europe after empire. Decolonization, society, and culture, Cambridge 2016, S. 224. Vgl. Commonwealth Immigrants Act, 10&11 Eliz. 2 Ch. 21, United Kingdom 1962, Section 2, a-b.
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Kriterien nicht, mussten sie Berechtigungsscheine aufgrund ihrer beruflichen Fähigkeiten oder direkt durch den Nachweis einer Arbeitsstelle erwerben. Doch auch schon hier war vom Kabinett einkalkuliert, dass diese Einschränkungen vor allem Einwanderer aus den „neuen“ Ländern im Commonwealth betreffen würden.¹⁹⁰ In den Worten Dieter Gosewinkels wurde damit das „Gleichheitsversprechen im Konzept des ‚Commonwealth citizen‘“ ausgehebelt und „zur Fiktion“ gemacht, ethnische Kriterien wurden zur Unterscheidungsgrundlage staatlicher Zugehörigkeit: Die ‚citizens‘ des ‚New Commonwealth‘ hatten nicht mehr gleichermaßen und gleichberechtigten Zugang zu dem ökonomisch und sozial am weitesten entwickelten Kerngebiet, sondern wurden nach Maße ihrer rassischen Herkunft selektiert. Die Einwanderungsgesetzgebung des Vereinigten Königreichs trieb die Absonderung einer nationalen, durch weiße Hautfarbe und Herkunft bestimmte Staatsangehörigkeit voran, ohne dies offenzulegen; denn die Einheitsfiktion des ‚Commonwealth citizen‘ sollte aufrechterhalten werden. Was tatsächlich blieb, war ein weitgehend symbolischer Status des ‚citizen‘, der im Vergleich mit dem Immigrationsstatus sekundär war.¹⁹¹
Diese Beschränkung der Einwanderung aus den Kolonien wurde angesichts der sogenannten „Kenyan Asian crisis“ nur wenige Jahre später verschärft: In dieser Flüchtlingskrise, die von 1967 bis 1968 das Parlament und Medien beschäftigte, sahen sich in Kenia lebende ethnische Asiaten im Zuge der Afrikanisierungspolitik Jomo Kenyattas seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend Repressalien ausgesetzt. Durch ein rechtliches Schlupfloch in der bestehenden Einwanderungsgesetzgebung war es ihnen möglich, trotz der mittlerweile restriktiveren Bestimmungen frei in Großbritannien einzureisen.¹⁹² Um diese zu schließen,
Vgl. Lord Chancellor: Memorandum. Commonwealth migrants, The National Archives, London, CAB 129/105/c67, 26. 5.1961. In internen Kabinettsdiskussionen gab die konservative Regierung als Begründung für diese Maßnahme an, dass die Einwanderung aus dem Commonwealth Probleme beim sozialen Zusammenleben hervorrufe, besonders im Wohnungssektor. Es sei deutlich geworden, dass Großbritannien ‚farbige‘ Einwanderer nicht mehr assimilieren könne, wenn die Einwanderung auf dem bisherigen Niveau weitergehe. Vgl. Secretary of State for the Home Department: Memorandum. Commonwealth Migrants, The National Archives, London, CAB 129/107/c153, 6.10.1961. Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 436. Denn der Commonwealth Immigrants Act sah keine Einwanderungskontrollen für die CUKCs vor, deren Pässe in London (oder Dublin) ausgestellt worden waren. Dies hätte die Asiaten aus Kenia in der Regel ausgeschlossen, die ihren Pass des CUKC ja in Kenia erhalten hatten. Allerdings schloss das Gesetz nicht die Pässe aus, die im Auftrag der Regierung ausgestellt worden waren. In der Zeit, in der Kenia noch britische Kolonie gewesen war, wurden die Pässe vom colonial governor ausgestellt. Nach der Unabhängigkeit Kenias war jedoch nicht mehr der Kolonialgouverneur zuständig, sondern der High Commissioner, der als oberster Diplomat als verlängerte Hand von
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wurde von der Labour Regierung unter Premierminister Harold Wilson die bestehende Gesetzgebung im Commonwealth Immigrants Act von 1968 ergänzt. Ohne Einschränkungen durften nur noch diejenigen Personen einreisen, deren Pass in London oder Dublin ausgestellt worden war, und die – und das stellte die Neuerung dar – darüber hinaus eine personelle Verbindung zum Vereinigten Königreich hatten. Das bedeutete, dass jetzt nur noch Individuen (oder deren Kinder oder Enkel), die im Vereinigten Königreich geboren, eingebürgert oder adoptiert worden waren, einreisen durften. Das bisher gültige ius soli war durch das ius sanguinis aufgeweicht worden. Im 1971 von der konservativen Regierung Edward Heaths verabschiedeten Immigration Act wurden die Kriterien für den ungehinderten Aufenthalt aufbauend auf diesen Regelungen grundlegend umgeschrieben. Im Kern des Gesetzes stand das „right of abode“, das unbegrenzte und bedingungslose Aufenthaltsrecht, das an den Status einer Person als „patrial“ geknüpft war. Nur wer „patriality“ hatte, also diejenigen Citizens of the United Kingdom and Colonies und Commonwealth Citizens, die entweder selbst, deren Eltern oder Großeltern in Großbritannien geboren, adoptiert, registriert oder eingebürgert worden waren, hatten Anrecht auf unbegrenzten Aufenthalt.¹⁹³ Der Immigration Act von 1971 hatte vor allem eine symbolische Bedeutung: Die Einwanderungsbeschränkungen von 1962 und 1968 hatten die Migration aus der Karibik und Südasien bereits – wie intendiert – stark eingeschränkt. Da allerdings bestehende Rechte des Familiennachzugs nicht angetastet wurden, waren weitere Immigranten vor allem vom indischen Subkontinent zu erwarten.¹⁹⁴ Seine Bedeutung bestand daher vielmehr darin, dass die letztendlich ethnische Differenzierungskategorie der „patriality“ in die relativ breite Nationsdefinition des British Nationality Act von 1948 deutlich eingriff. Ian Spencer zog daraus das in der Literatur weit geteilte Fazit: The rights of non-white Commonwealth citizens to migrate to and settle in United Kingdom were finally ended, whereas the rights of white settlers in the Empire/Commonwealth, so long as their settlement overseas had occurred in the last two generations, were strength-
Westminster handelte. Die Pässe der CUKC, die für die Asiaten ohne kenianische Staatsbürgerschaft in Kenia vom High Commissioner in Nairobi ausgestellt wurden, kamen daher von einem Stellvertreter der Regierung und umgingen damit die seit 1962 üblichen Einwanderungskontrollen des Vereinigten Königreichs. Zum Hintergrund der „Kenyan asians crisis“ vgl. Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain, S. 157– 177. Zum Hintergrund des Immigration Act vgl. Karatani: Defining British citizenship, S. 164; Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain, S. 192– 193. Zum Effekt des Immigration Act von 1971 auf die Migrationsstatistik vgl. Ian R. G. Spencer: British immigration policy since 1939. The making of multi-racial Britain, London/New York 1997, S. 143.
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ened. Overall, the Act increased the number of people entitled to enter Britain without restriction, but as these comprised almost entirely people of ‚European extraction‘ who had ‚special ties of blood and kinship‘ this caused no political difficulty.¹⁹⁵
Einwanderung aus dem „alten Commonwealth“ der Siedlerkolonien Australien, Kanada, Neuseeland und Teilen Südafrikas wurde – nicht zuletzt aufgrund der angenommenen kulturellen Nähe – von den politischen Entscheidungsträgern deutlich bevorzugt, was sich eben gerade darin zeigte, dass sie die geforderten familiären Beziehungen zum Vereinigten Königreich häufig nachweisen konnten. Der Anteil von Migranten aus dem „Old Commonwealth“, der 1971 mit 145 250 Bürgern 0,3 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, sollte angesichts der 1 157 170 Einwanderer aus dem „New Commonwealth“, oder rund 2 % der Gesamtbevölkerung, gefördert werden. Iren stellten jedoch weiterhin die größte Einwanderergruppe mit knapp 1 %, oder 720 985 Bürgern.¹⁹⁶ Bedenkt man, dass konservative und Labour-Regierungen zwischen 1946 und 1960 die Auswanderung rund 125 000 britischer Personen jährlich (insgesamt in dieser Zeit rund 1,5 Millionen) aus dem Vereinigten Königreich vor allem nach Australien, Kanada, Neuseeland, Südafrika und Südrhodesien förderten und als Stärkung der Beziehung des Vereinigten Königreichs zu den ehemaligen Siedlerkolonien deuteten, wird die ethnisch verankerte kulturelle Sonderstellung deutlich, die diesen Siedlungskolonien von Regierungsseite über den Prozess der Dekolonisation hinaus zugeschrieben wurde und die sich nicht zuletzt in den Bestimmungen des Immigration Act von 1971 niederschlug.¹⁹⁷ Mit dem Immigration Act der Regierung Heath standen sich 1971 damit in einem vertrackten Beziehungsgeflecht eine von der Mehrheit der Politiker und journalistischen Kommentatoren als überholt erachtete, imperial begründete juristische Definition von Staatsangehörigkeit und eine nationalstaatlich gedachte Einwanderungsgesetzgebung gegenüber, die mit ihren Bestimmungen zudem noch in das Wirken des Nationality Laws eingriff.¹⁹⁸ Laurie Fransman fasste die Konsequenzen der Gesetzeslage treffend zusammen:
Ebd., S. 144. Vgl. hierzu auch Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 437; Paul: Whitewashing Britain, S. 170; Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain, S. 195. Zu dem internationalen Druck, dem sich der konservative Premierminister Edward Heath ausgesetzt sah, den Immigration Act einzuführen, vgl. Callum Williams: Patriality, work permits and the European Economic Community. The Introduction of the 1971 Immigration Act, in: Contemporary British History 29/2015, S. 508 – 538. Vgl. Thompson: The empire strikes back?, S. 218. Vgl. Paul: Whitewashing Britain, S. 25 – 59. Zum komplexen Verhältnis von Nationalität, Ethnizität und „citizenship“ vgl. auch Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 436 – 437.
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Citizenship of the UK and Colonies ceased to be a true nationality in 1962. The legislation of 1962, 1968 and 1971, being immigration legislation, gave the illusion that persons who previously had been CUKC remained CUKCs but in many cases this was a trick of terminology. The guts of the citizenship had been removed, except, generally, in cases where that citizenship had been acquired by virtue of a connection with the UK itself. From any realistic point of view, CUKCs had been split into two new categories: “UK Citizens” and “others”. The 1971 Statute had hesitated to call a spade a spade; what would “others” be if they were not CUKCs?¹⁹⁹
Für die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts konnten Innenminister William Whitelaw und seine Kollegen zum einen auf die jahrelange Vorarbeit besonders des Außen- und des Innenministeriums zurückgreifen, die seit den frühen 1970er Jahren über eine mögliche Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes diskutiert hatten. Bereits 1971 wurden erste Überlegungen angestellt, um diese für Politiker aller Parteien unbefriedigende Gesetzeslage zu beseitigen. Ernsthafte Arbeiten an einer Reform begannen jedoch erst nach dem Wahlsieg Harold Wilsons über den amtierenden Premierminister Edward Heath im Jahre 1974. Nachdem sich die Labour Party in ihrem Wahlprogramm des Jahres 1974 dazu verpflichtet hatte, das Nationality Law zu überarbeiten, setzte die Regierung unter dem Vorsitz des Minister of State am Innenministerium, Alex Lyon, eine Arbeitsgruppe ein, die Reformvorschläge ausarbeiten sollte. Nachdem 1977 von der Labour Regierung James Callaghans ein Green Paper und 1980 von der konservativen Regierung Thatcher ein White Paper veröffentlicht worden war, wurde im Januar 1981 der Gesetzesentwurf publiziert. Im Oktober desselben Jahres wurde der neue Nationality Act verabschiedet, der am 1. Januar 1983 in Kraft trat. In den Bestimmungen des 1981 beschlossenen British Nationality Act wurde die in der Praxis seit 1971 stark eingeschränkte und „ethnisch segregative“²⁰⁰ britische Staatsbürgerschaft nun auch gesetzlich mit den Grenzen des Vereinigten Königreichs in Deckung gebracht: Die Bevölkerung dieses Territoriums war nun auch der Ausgangspunkt für eine ‚nationale‘ Staatsangehörigkeitsgesetzgebung. Anstelle der Großkategorie des Citizen of the United Kingdom and Colonies wurde dementsprechend ein dreigliedriges Staatsbürgerschaftssystem verabschiedet: British citizen, British dependent territories citizen (BDTCs) und British overseas citizen (BOCs). Grundlage für diese Klassifizierung war zum einen die territoriale Unterscheidung des ehemaligen Empire in das Vereinigte Königreich, seine weiterhin bestehenden „dependencies“ sowie die bereits unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien. Zum anderen wurden die familiären Bindungen zum Ver-
Laurie Fransman: Fransman’s British nationality law, neue Aufl., London 1989, S. 139. Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 437.
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einigten Königreich grundlegend für die Einteilung in die unterschiedlichen Kategorien, die bereits im Immigration Act von 1971 als „patriality“ bezeichnet wurden. Somit erhielten alle CUKC, die unter den Einwanderungsbestimmungen von 1971 den Status eines „patrial“ hatten, nun den Status eines British citizen. Nur dieser Status ging mit einem unbeschränkten „right of abode“ einher; die seit 1971 festgeschriebene Bevorzugung des „Old Commonwealth“ gegenüber dem „New Commonwealth“ wurde also beibehalten. Beim Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 1983 betraf dies rund 57 Millionen Personen, von denen der größte Teil in Großbritannien selbst lebte.²⁰¹ Diejenigen CUKC, die vor 1983 nicht den Einwanderungsstatus eine „patrial“ besessen hatten, aber in einem dependent territory geboren, eingebürgert oder registriert waren (oder deren Eltern oder Großeltern), erhielten den Pass eines British dependent territories citizen. Bei der Einführung des Gesetzes gab es rund drei Millionen dieser de facto kolonialen Bürger, wovon 2,5 Millionen in Hong Kong lebten.²⁰² Die restlichen bisherigen CUKC, die weder als „patrials“ einwandern konnten, noch zum Zeitpunkt des Jahres 1983 existenten britischen dependency lebten, erhielten jetzt den Pass eines British overseas citizen. Diese Kategorie verlieh nahezu keine Rechte. Personen, die ausschließlich den Pass eines BOC besaßen, waren damit in den Augen Randall Hansens faktisch staatenlos.²⁰³ Dies betraf vor Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1983 rund 1,5 Millionen Personen, von denen jedoch rund 1,3 Millionen noch eine weitere Staatsbürgerschaft besaßen, was vor allem in Malaysia der Fall war. Die nächstgrößte und sichtbarste Gruppe der BOCs waren Asiaten, die in den ehemaligen britischen Kolonien in Ostafrika lebten, für die jedoch auch nach Verabschiedung des Gesetzes weiterhin feste Einwanderungsquoten vorgesehen waren.²⁰⁴ Die Kategorie des British subject, die unter dem Gesetz von 1948 noch eine zentrale Stellung eingenommen hat, wurde ab 1983 nur noch für die rund 450 000 British subjects without citizenship verwendet, das heißt staatenloser Individuen, die auf den Territorien eines Mitgliedsstaats des Commonwealth lebten; die Irish Citizens, die vor dem 1. Januar 1949 geboren waren und diesen Status behalten wollten sowie für circa 200 Frauen, die nach der Heirat eines British subjects without citizenship auf Basis des Nationality Act von 1965 als British subject registriert wurden.²⁰⁵ Staatsangehörigkeit konnte nun auch über die weibliche Linie wei-
Fransman: British nationality law (1989), S. 1104. Ebd., S. 143. Vgl. Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain, S. 213. Vgl. ebd; Fransman: British nationality law (1989), S. 1104– 1105. Vgl. Fransman: British nationality law (1989), S. 1105; Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain, S. 214.
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tergegeben werden, nicht jedoch die eines BOC: Diese Kategorie sollte mit dem Ableben ihrer Inhaber im Laufe der Zeit verschwinden. Da mit dem British Nationality Act des Jahres 1981 bereits bestehende Vorstellungen und Regelungen „nur“ in gesetzliche Bestimmungen überführt wurden, wird er von Historikern der britischen Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsgesetze häufig bloß als logische Fortentwicklung der Prozesse von 1962 bis 1971 betrachtet und folglich eher nebensächlich behandelt.²⁰⁶ Wenn das Erkenntnisinteresse auf der Analyse und Bewertung des britischen Migrationsregimes²⁰⁷ dieser Zeit liegt, ist diese Haltung sicherlich gerechtfertigt. Interessiert man sich jedoch für die unterschiedlichen Vorstellungen sozialer Ordnung, die über die Gesetzesentwürfe transportiert werden, wird gerade der Weg zum letztlichen Gesetzesentwurf zur aussagekräftigen Fallstudie. Dies gilt umso mehr, da die Reform des Nationality Law als expliziter Schritt des britischen Dekolonisationsprozesses dargestellt wurde. So lässt sich in den internen Unterlagen des Kabinettsausschusses, der sich mit der Gesetzesreform befasst hatte, folgende Absichtserklärung finden: The 1948 scheme reflected the international and, particularly, the Commonwealth situation of its day. Times have changed and the implications for the United Kingdom need review. Domestic and international uncertainty about United Kingdom citizenship law could be removed by a new scheme.²⁰⁸
Man habe 1948 noch nicht absehen können, dass derart viele Menschen aus dem Commonwealth nach Großbritannien einwandern würden. Zudem sei die Geschwindigkeit, mit der koloniale Territorien unabhängig geworden seien, nicht vorhersehbar gewesen. Diese interne Einschätzung der Lage wurde auch öffentlich vertreten: Im 1977 publizierten Green Paper stellte die Labour-Regierung fest, dass Großbritannien keine imperiale Macht mehr und damit eine so umfassende Staatsbürgerschaft auch nicht mehr angemessen sei.²⁰⁹ Die Debatten, die innerhalb und zwischen den beteiligten Ministerien, aber auch mit den Vertretern der dependencies sowie im Parlament und in der Öf-
Die Überschrift des entsprechenden Kapitels in Kathleen Pauls grundlegender Monographie lautet dann auch „Still the same old story“. Paul: Whitewashing Britain, S. 170. Für die exemplarische Untersuchung von Migrationsregimen am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und Belgien vgl. Jenny Pleinen: Die Migrationsregime Belgiens und der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2012. MISC 64(75) 2, Cabinet Group on Nationality Law, Note by the Secretaries, Nationality, The National Archives, London, CAB 130/790, 27.1.1975. Home Office: British Nationality Law. Discussion of possible changes, Cmnd. 6795, London 1977.
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fentlichkeit geführt wurden, verdeutlichen, welch unterschiedliche Vorstellungen staatlicher und kultureller Zugehörigkeit mit dem Begriff „britisch“ belegt wurden – und dies in einer Zeit, in der sich mit dem beschleunigten Wegbrechen des Empire grundlegende Parameter staatlicher Strukturen veränderten. Zentral war dabei die Frage, welche Kategorien von Staatsbürgerschaft den als inadäquat betrachteten Status eines Citizen of the United Kingdom and Colonies ersetzen sollten, und mit welchen Begriffen diese neuen Kategorien bezeichnet werden sollten. Dieser grundlegende Verständigungsprozess steht daher im Mittelpunkt der folgenden Analyse, vermag er doch Einblick in das Denken und die Handlungsräume der beteiligten Politiker zu geben.
Nation ohne Empire? Der British Nationality Act von 1981 Ein von der Labour Regierung 1977 publiziertes Diskussionspapier sah im Gegensatz zu der 1981 verabschiedeten Regelung vor, britische Staatsbürgerschaft in zwei Kategorien einzuteilen. Die zu dem Zeitpunkt geltenden Einwanderungsregeln bildeten die Trennscheide der Kategorien: Die CUKC mit dem Status eines patrials unter dem Immigration Act von 1971 erhielten den Status eines British citizen, während alle übrigen CUKC ohne patriality den Status eines overseas citizen erhalten und folglich Einwanderungsbeschränkungen unterliegen sollten. Das ius soli, also das im Vereinigten Königreich bis dahin verfolgte Prinzip, Staatsbürgerschaft aufgrund der Geburt in einem zugehörigen Territorium zu verleihen, sollte beibehalten werden. Allerdings sollte ihre Weitergabe nach dem Prinzip der Abstammung nur noch für eine Generation möglich sein, das heißt Inhaber der britischen Staatsbürgerschaft sollten diese außerhalb des Vereinigten Königreichs nur noch an ihre Kinder übertragen dürfen, deren Kinder wiederum kämen dafür nicht mehr in Frage. Neu war, dass citizenship nun nicht mehr nur über den Vater, sondern auch durch die Mutter weitergegeben werden sollte. Das Grünbuch der Regierung ließ allerdings offen, welche Prüfungen bei der Einbürgerung angewandt werden sollten, welche Berufungsrechte eingeräumt, wie Staatsbürgerschaft durch Eheschließung sowie die Regelungen zur doppelten Staatsbürgerschaft gehandhabt werden sollten.²¹⁰ Kernelement dieser von der Labour-Regierung entwickelten staatsbürgerschaftlichen Kategorien war die Vorstellung von „ties“, also die Beziehungen, die die jeweiligen Personen an das Vereinigte Königreich banden. Diese beruhten jedoch nicht auf einer eindeutig formulierten Nationsvorstellung. Im Gegenteil:
Vgl. Blake: Citizenship, law and the state, S. 181.
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Dadurch, dass sich die am Kabinettsausschuss beteiligten Politiker an den Bestimmungen der Einwanderungsgesetzgebung und deren unklaren Definitionen orientierten, wurde dieses Problem explizit umgangen. Daher war es für Roy Jenkins als Innenminister auch kein Widerspruch, die Reform des Nationality Law sowohl durch die Notwendigkeit der Einwanderungsbeschränkung als auch mit einer Verbesserung der race relations zu begründen. So erklärte er die Einsetzung des Kabinettsauschusses vor Premierminister Harold Wilson wie folgt: „We are committed (and I am eager) to review that law of nationality so that our immigration policies could be based on citizenship, and in particular to eliminate discrimination on ground of colour.“²¹¹ Der Labour-Politiker, der bereits in den späten 1960er Jahren als Innenminister wegweisende Entscheidungen zur Liberalisierung des Scheidungsrechts, Dekriminalisierung von Homosexualität und Abschaffung der Zensur vorangetrieben hatte, vertrat eine Vorstellung von staatlicher Zugehörigkeit, die von der Vorstellung einer britischen Gesellschaft auf der Basis des Territoriums des Vereinigten Königreichs ausging und stand damit ganz in der seit den späten 1960er Jahren vertretenen Labour-Tradition. Die Idee der gesellschaftlichen Teilhabe auf der Basis staatsbürgerlicher Rechte wurde an dieser Stelle explizit an den Status der juristischen Staatsangehörigkeit gekoppelt. Staatsbürgerliche Teilhabe wurde im Entwurf des Berichts des Ausschusses über eine Teilhabe an Gesellschaft begründet: „the creation of a British citizenship would define much more clearly who could be regarded as members of British society and who can reasonably be expected to identify with this country – in a word, those who belong.“²¹² Im gleichen Atemzug wurden jedoch auch die außenpolitischen Vorteile genannt, die die vorgeschlagene Reform des Nationality Law mit sich bringen würde, nämlich die graduelle Abgabe internationaler Verantwortung für ehemalige koloniale subjects: It [British Citizenship, Anm. d. Verf.] would end much of the confusion created by a unitary citizenship of the United Kingdom and colonies. The creation of a British Overseas Citizenship would admittedly not immediately alter the United Kingdom’s responsibilities to those who are now citizens of the United Kingdom and Colonies but who do not become British Citizens at Royal Assent. It would however provide the means for a gradual reduction of these responsibilities, not least by restricting the number eligible for citizenship.²¹³
Cabinet Group on Nationality Law, Note by the Secretaries, Establishment of the group, The National Archives, London, CAB 130/790, 27.1.1975. W. M. Lee: an J S Dixon. Nationality Review, Draft Report, The National Archives, London, FCO 53/444/31, 3. 3.1976. Ebd.
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Bereits im Vereinigten Königreich lebende Einwanderer aus den (ehemaligen) Kolonien sollten nicht nur Staatsangehörige sein, sondern auch an der Gesellschaft teilhabende Staatsbürger werden. Der Zuzug weiterer Migranten mit dem Status eines British Dependent Territories Citizen (BDTCs) und British Overseas Citizen (BOCs) sollte jedoch gestoppt und auch die Verantwortung für diese längerfristig abgegeben werden. Diese Dichotomie aus Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie der Ausgrenzung derer, die letzten Endes aufgrund von ethnischen Kriterien eben nicht zu dieser Gesellschaft gehörten, wurde bereits im Mai 1976 inoffizielle Regierungslinie. So wurde in einer Anweisung zum Treffen hochrangiger Beamter des Commonwealth formuliert: The scheme formulated aims to create new sense of unity amongst all those entitled to the new British citizenship, irrespective of colour or race. The creation of a British Overseas Citizenship would accurately describe the status of those not qualified to acquire British citizenship.²¹⁴
Labour befand sich mit dieser gleichwohl sehr undeutlichen Definition staatlicher Zugehörigkeit basierend auf der Vorstellung einer territorial begrenzten britischen Gesellschaft fest im zeitgenössischen race relations-und immigration-Diskurs verankert, den sie als regierende Partei in den 1960er Jahren maßgeblich geprägt hatte. Die ideelle Grundlage für die Festlegung dieser gesellschaftlichen Grenzen wurde mit Rückgriff auf das ius soli umgangen, das geplante Gesetz jedoch als Mittel zur Stärkung des Zusammenhalts einer multiethnischen Gesellschaft präsentiert. Das Grünbuch und die ihm zugrundeliegenden Empfehlungen der Working Group on Nationality Law waren im Kabinett nicht unumstritten. Vor allen Dingen Beamte des Foreign and Commonwealth Office äußerten Bedenken: British Overseas Citizenship is likely to be regarded as second class, even though the CUKCs with no right of abode in the UK will not lose their present rights. Most serious are the possible reactions in Hong Kong, where the change might precipitate a crisis of confidence and upset the delicate local balance. Reactions in Gibraltar and the Falkland Islands as well as some other dependent territories.²¹⁵
Commonwealth Senior Officials Meeting, Canberra, 26 – 28 May 1976, Brief by the Cabinet Office, Review of Nationality Law, The National Archives, London, FCO 53/447/126, 17.5.1976. J. S. Dixon: review of Nationality Law, The National Archives, London, FCO 53/444/17, 23. 2. 1976.
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Die möglichen außenpolitischen Verstrickungen ließen sie zu dem Schluss gelangen, dass „the objections from the point of view of the FCO alone outweigh the advantages“.²¹⁶ Diese handfesten Bedenken wurden überlagert von persönlichen Animositäten zwischen dem Vorsitzenden des Kabinettsausschusses und Staatssekretär Alex Lyon sowie dem Außenminister der Labour Regierung von 1974 bis 1976 und späteren Premierminister, James Callaghan. Lyons Ruf als Politiker mit radikalen Ansichten hatte 1968 während der sogenannten „Kenyan Asian crisis“ zum Konflikt mit Callaghan geführt, der als Innenminister die überstürzte Verschärfung der Einwanderungsregeln verantwortete.²¹⁷ Der Einzug James Callaghans in 10 Downing Street bedeutete für Alex Lyon auch den Verlust seines Postens im Innenministerium. Die befürchtete Opposition der britischen „dependencies“ sowie die damit verbundene Opposition des Außenministeriums sollte sich für den Verlauf des Gesetzes als entscheidend erweisen: Die Beamten des FCO lagen richtig in ihrer Einschätzung des zu erwartenden Widerstandes gegen die Pläne der Regierung. Zunächst jedoch sah es nicht danach aus, als würden die Vorschläge des Grünbuchs Gesetzesform finden. Ein schneller Gesetzesvorschlag wurde nicht zuletzt durch den Unwillen der Regierung, übereilt zu handeln, sowie die Eskalation der Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes verhindert.²¹⁸ Im sogenannten „Winter of Discontent“ im Winter 1978 und 1979 beanspruchten langanhaltende Streiks die Regierung und Öffentlichkeit; die Gesetzesreform wurde auf diese Weise an die im Mai 1979 gewählte konservative Regierung unter Führung von Premierministerin Margaret Thatcher vererbt. Das von den Konservativen 1980 publizierte White Paper baute auf die Vorarbeiten der Labour-Regierung auf. In der Erklärung, die Innenminister William Whitelaw dazu im Parlament abgab, rekurrierte er explizit auf das Diskussionspapier der vorhergehenden Labour-Regierung: It has long been recognised that our nationality law is out of date. The previous Government published a Green Paper in 1977. We said in our election manifesto that we would introduce a new British nationality act. I have published today a White Paper which contains our proposals for legislation.²¹⁹
Ebd. Commonwealth Immigrants Bill. Hansard, HC Deb 28 February 1968 vol 759 cc1543 – 603; Commonwealth Immigrants Bill. Hansard, HC Deb 27 February 1968 vol 759 cc1241– 368. So war gar nicht vorgesehen, dem Parlament schnell einen Gesetzesvorschlag vorzulegen; dies wurde auch explizit im Green Paper vermerkt. Vgl. Home Office: British Nationality Law. Discussion of possible changes, Cmnd. 6795. Note. Nationality Law, The National Archives, London, PREM 19/486, 30.7.1980.
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Bedeutendster Unterschied zu den Vorschlägen Labours war, dass die britische Staatsbürgerschaft nicht mehr zweigliedrig sein sollte, sondern in drei Kategorien unterteilt wurde. Die Begründung für die Einteilung unterschied sich zudem von der Labours: Nicht mehr die Zugehörigkeit zur und Teilhabe an der britischen Gesellschaft stand im Zentrum (obgleich Labour in der juristischen Definition auch auf die ethnisch exklusiven Bestimmungen des Immigration Act von 1971 aufbaute), sondern die enge persönliche Beziehung zum Territorium des Vereinigten Königreiches: „the people who should become British Citizens are those Citizens of the United Kingdom and Colonies who have a close personal connection with the United Kingdom.“²²⁰ Diese persönliche Verbindung wurde familiär gedacht; so waren damit die Personen gemeint, die im Vereinigten Königreich geboren, adoptiert, eingebürgert oder registriert worden waren (oder deren Eltern oder Großeltern). Die CUKC, die bereits seit fünf Jahren im UK lebten, sollten auch die volle britische Staatsbürgerschaft erhalten. Nach denselben Prinzipien der persönlichen Verbindung zum Territorium wurden die übrigen Kategorien von Staatsbürgerschaft vergeben. Die vorgeschlagene Aufteilung der von Labour 1977 vorgesehenen British overseas citizenship entlang einer vorgestellten „Nähe“ zum Vereinigten Königreich in Citizenship of the British dependent territories und British overseas citizenship reflektierte die territoriale Ordnung des Vereinigten Königreichs. Nationale Zugehörigkeit wurde aufgrund persönlicher Beziehungen zu einem Territorium gedacht, dessen juristisch-politisches Verhältnis zum Vereinigten Königreich die jeweilige staatsbürgerschaftliche Kategorie bestimmte: Das Kernland des Vereinigten Königreichs verlieh, grob gesprochen, British citizenship; die davon abhängigen Gebiete, die weder eigenständige Staaten noch „normale“ Bestandteile eines Staates waren, verliehen die Citizenship of the British dependent territories und die Personen, die zwar den Pass eines CUKC, aber keinen Bezug zu einem 1981 mit dem UK politisch verbundenen Gebiet hatten, erhielten den Status eines British overseas citizens. Dadurch, dass jedoch die Bestimmungen zur „patriality“ weiterhin die Grundlage für den Status eines British citizen stellten, wurde diese rein territoriale Begründung durch ethnische Kriterien sowie einer Vorstellung kultureller Gemeinsamkeiten getragen. Der Wandel hin zu dieser auf persönlichen wie politischen Kriterien zugleich basierenden Konzeption von Nationalität und Staatsbürgerschaft beruhte auf zwei Faktoren: dem Einfluss des Außenministeriums und der Lobbyarbeit der dependencies. Für die Politiker in Westminster war besonders die Haltung von
Home Office: British Nationality Law. Outline of proposed legislation, Cmnd. 7987, London 1980.
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Gibraltar, der Falklandinseln und Hong Kongs bedeutsam. Diese stellten nicht nur die wichtigsten verbliebenen Kolonien dar, sondern verfügten besonders im Falle von Gibraltar über eine gut organisierte Lobby im politischen London.²²¹ Die Ziele, die die Vertreter dieser Territorien im Namen ihrer Bevölkerung verfolgten, standen durchaus im Konflikt mit den Plänen der Regierung. Politiker aus Gibraltar und von den Falklands forderten nach Bekanntwerden der Pläne der Regierung die Aufnahme in die oberste Kategorie der Staatsbürgerschaft. Hong Kong strebte gleich die vollständige Integration in das britische Staatsgebiet an, während gleichzeitig jedoch durch das baldige Auslaufen des Vertrages mit China die Einwanderung zahlreicher Bürger aus Hong Kong drohte.²²² Die gemeinsame Legitimation dieser Forderungen war das Gefühl, zur Gemeinschaft der Briten zu gehören, auch wenn die jeweiligen Begründungen unterschiedlich ausfielen.²²³ Mit der Haltung der dependencies im Hinterkopf hatten Beamte des Außenministeriums bereits bei der Vorbereitung des Green Paper auf die zu erwartende negative Reaktion aus den überseeischen britischen Territorien hingewiesen. Diese kritische Haltung erhielt neuen Aufschwung durch den konservativen Regierungswechsel 1979, der den Einzug Peter Carringtons, des 6. Baron Carrington, in das Foreign and Commonwealth Office bedeutete. Schon im Juli 1979 formierte sich dort Widerstand gegen das Labour-System einer Staatsbürgerschaft mit zwei Kategorien, das vor allem vom Home Office vertreten wurde. Während das Innenministerium weiterhin den Einwanderungsstatus der CUKC als Unterscheidungsmerkmal anlegen wollte, verbreiteten Beamte des Außenministeriums den Vorschlag einer dreigliedrigen Staatsbürgerschaft als potentielle Lösung für die Proteste der abhängigen Territorien.²²⁴ Besonders Hong Kong bereitete den Funktionären Sorgen: Die Kronkolonie sah sich durch China in seiner Existenz bedroht und drängte auf eine 3-Kategorien-Lösung. So hatte der Gouverneur von Hong Kong diese Lösung dem neuen Staatssekretär des Innenministeriums, Timothy Raison, bereits bei einem Staatsbesuch vorgeschlagen, war allerdings abgewiesen worden.²²⁵ In diesem Kontext konnte ein Forschungspapier des kon-
Vgl. beispielsweise Gibraltar: Nationality, The National Archives, London, FCO 9/3134, 1981; G. A. Duggan: an Mr Smedley. Nationality Law review: Falkland Islands, The National Archives, London, FCO 53/581/23, 21.6.1979; W. Jones: Draft Letter to Lord Hughes, c/o British Delegation to Council of Europe, The National Archives, London, FCO 53/623/6, 19.9.1980. Vgl. Heater: Citizenship in Britain, S. 164. Vgl. beispielweise A. V. E. Gray: Draft. Summary of objections from dependent territories, The National Archives, London, FCO 53/588, 9.7.1979. Vgl. auch Draft. The Number of citizenships, The National Archives, London, FCO 53/588, July 1979; Heater: Citizenship in Britain, S. 164. Vgl. Draft. The Number of citizenships, The National Archives, FCO 53/588, July 1979.
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servativen Think Tanks Bow Group einflussreich werden. Richard Plender, der wenige Jahre später ein Richter am High Court of England and Wales werden sollte, hatte bereits im Juli 1978 den Artikel „Defining a nation‟ über die Denkfabrik publiziert. Plender argumentierte, dass Staatsbürgerschaft auf Territorium basieren solle und im britischen Fall daher am besten dreigliedrig sein müsse. Die Kontrolle von Migrationsbewegungen sei dabei nicht weniger wichtig, solle aber auch an die Zugehörigkeit der jeweiligen Person an das Territorium gekoppelt werden. Auf diese Weise würden staatsbürgerliche Rechte und Territorium logisch miteinander verknüpft.²²⁶ Plenders Vorschläge fanden Anklang im Außenministerium, auch weil sie eine deutliche Definition von Zugehörigkeit zu liefern schienen. So urteilte R. G. Smedley: Dr Plender’s system has an important advantage over that of the Green Paper. Rights and obligations are related to a territory a person belongs to and to his connexion (or lack of it) with the United Kingdom. The British Overseas Citizen of the Green Paper may or may not have rights of entry into a territory and as such he will always be regarded with suspicion by immigration controls throughout the world.²²⁷
Dass sich das Außenministerium im Kabinett letztlich mit der dreigliedrigen Lösung durchsetzte, war auch das Resultat teils unermüdlicher Lobbyarbeit von Vertretern der dependencies. Der Briefwechsel, den das Außenministerium mit den Vertretern der dependencies im Zuge der Reform des Nationality Law führte, verdeutlicht, auf welch unterschiedliche Weise Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Briten imaginiert wurde. Auch wenn niemand in den betroffenen Ministerien schriftlich an dem Zugehörigkeitsgefühl der Einwohner von Gibraltar und der Falklands zweifelte, galten doch die außenpolitischen Abwägungen mehr – denn gäbe man Gibraltar und den Falklands nach, müsse auch den Forderungen Hong Kongs entsprochen werden. Dies war außenpolitisch jedoch weder wünschenswert, noch umsetzbar. Gerade im Hinblick auf den sich nur wenige Monate später entwickelnden Falklandkrieg ist es interessant, dass die sicherheitspolitische Lage der vor der argentinischen Küste gelegenen Inseln zumindest in diesem Kontext nicht als der akute Krisenherd betrachtet wurden, sondern die Rolle und Stellung Hong Kongs
R. G. Smedley: an Mr McLaren, British Nationality Law, The National Archives, London, FCO 53/588, 6.7.1979. Ebd.
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mit Sorge diskutiert wurde.²²⁸ Aller Lobbyarbeit und Argumenten zum Trotz konnten sich die Schutzgebiete mit ihren Forderungen nicht durchsetzen. Gestaltete sich der Umgang mit den bestehenden dependencies im Rahmen außenpolitischer Zwänge, zeigte sich die unterschiedliche Einschätzung des vergangenen Empire in der politischen Metropole und den kolonialen Territorien besonders in der Frage, wie die neu zu vergebenden staatsbürgerschaftlichen Kategorien benannt werden sollten. Zwischen Juli 1979 und Januar 1980 entspann sich zwischen Home Office und Foreign and Commonwealth Office eine lebhafte Diskussion über dieses Thema. Strittig waren vor allem drei Punkte: a) die grundsätzliche Kategorisierung des Status als „subject“ oder „citizen“, b) ob sich die Staatsbürgerschaft auf das Vereinigte Königreich oder Großbritannien beziehen solle und c) mit welchen Begriffen die vom Empire übrig gebliebenen Territorien belegt werden sollten. Während das Innenministerium den Neuanfang in der Regelung des Staatsbürgerschaftsrechts auch mit einer komplett neuen Nomenklatur regeln wollte, waren die Experten des Außenministeriums nicht abgeneigt, bestehende Bezeichnungen wie die eines CUKC oder des British subjects beizubehalten. So wurde im Außenministerium der Vorschlag vertreten und mit Vertretern in Hong Kong besprochen, am Status des CUKC für alle drei Kategorien festzuhalten und jeweils mit dem Territorium, in dem die Person Aufenthaltsrecht (right of abode) besaß, zu ergänzen – ein Plan, der der Forderung des Gouverneurs von Hong Kong sehr entgegen kam, welcher auch die Beibehaltung des bisherigen Status des CUKC anstrebte.²²⁹ Ein anderer Vorschlag aus dem FCO propagierte die Wiedereinführung des Begriffs des subjects als Hauptkategorie britischer Staatsbürgerschaft. So vertrat R. G. Smedley aus dem Nationality and Treaty Department im Juli 1979 die Ansicht, dass eine Rückkehr zum Begriff des British subject als einigende Kategorie nicht auszuschließen sei, denn: though the term CUKC has a necessary place in British nationality law it has not passed into common usage. It is too long to be euphonious and colonies are no longer in fashion. The man in the street prefers to describe himself, inexactly, as a British subject, a term with traditional and monarchical associations. In the popular mind “citizen” still has association with republics.²³⁰
Für ein frühes Beispiel vgl. MISC 64(75) 11th meeting, Cabinet group on nationality law. Minutes of a meeting, The National Archives, London, CAB 130/790/11, 30.10.1975; Maclehose: an Mclaren, Nationality Bill, The National Archives, London, FCO 53/591/44, 25.9.1979. Vgl. Hong Kong Telno 1161. Nationality Law, The National Archives, London, FCO 53/590/40, o. Datum; L. V. W. Figg: an P J Woodfield, The National Archives, London, FCO 53/611/43, 31.8.1979; Maclehose: an Mclaren, Nationality Bill, The National Archives, FCO 53/591/44, 25.9.1979. Nationality Terminology, The National Archives, London, FCO 53/589/28, 18.7.1979.
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Mit diesen Vorschlägen befand sich das Außenministerium im offenen Konflikt mit Vertretern des Innenministeriums, die die Abschaffung des Status des CUKC als erklärtes Ziel der Gesetzesreform betrachteten und den Begriff des British subjects als „archaic and misleading“ betrachteten.²³¹ Auch für die Zugehörigkeitsbekundungen der dependencies hatten sie kein offenes Ohr, denn: „these people will not be British Citizens and we must not use a title which implies that they are.“²³² Während das Innenministerium im Herbst des Jahres 1979 im Falle einer dreigliedrigen Staatsbürgerschaft den Titel der „British colonial citizenship“²³³ bevorzugte, war das Außenministerium zwiegespalten. Im Januar 1980 stellte Außenminister Carrington den Gouverneuren der verbliebenen dependencies in einem Telegramm unterschiedliche Namensvorschläge zur Diskussion und bat um Rückmeldung. In diesen wurden nicht nur unterschiedliche Bezeichnungen für die kolonialen Territorien durchgespielt, sondern auch die Position des einigenden Attributes „British“: Das Home Office favorisiere davon „British colonial citizen“ oder „Citizen of the British colonies“, mit Präferenz für letztere Version. Das FCO hingegen sah wenig Unterschied zwischen den Vorschlägen: Experten bemängelten den Hauch einer minderwertigen Staatsbürgerschaft, den der Favorit des Innenministerium habe, während die übrigen Vorschläge des „Citizen of the British dependent territories“, „Citizen of British dependencies“ und „British dependent territories citizen“ den Vorteil besäßen, den Begriff des Kolonialen zu vermeiden, der teilweise emotionale Reaktionen hervorrufe und zudem nicht mehr für alle Territorien zutreffend sei.²³⁴ Die Reaktion der Gouverneure kam postwendend: Außer den Falklands widersprachen alle der Verwendung des Begriffes „colonial“. Hong Kong zeigte sich mit allen Vorschlägen unzufrieden und pochte auf die Weiterverwendung des Begriffes CUKC, während Gibraltar sich für eine Lösung stark machte, die die Bezeichnung „British citizen“ prominent an den Beginn des Titels setzte.²³⁵ Kleinster gemeinsamer Nenner der abhängigen Territorien schien die Bezeichnung des „British dependent territories
Nationality Bill, The National Archives, London, FCO 53/590/42, o. Datum. Ebd. Ebd. Vgl. Telegramm von FCO an Belmopan, Hamilton Port, Tortola, Grand Cayman, Gibraltar, Hong Kong, Wellington, St Helena, Grand Turk Bridgetown Antigua, Montserrat, Nationality Law, The National Archives, London, FCO 53/610/3, 4.1.1980. Vgl. British Colonial Citizen: Trawl of Governors views (sought in FCO Telno Personal 1 of 4 January), The National Archives, London, FCO 53/610/25.
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citizen“, die auch letztendlich – nach einem erfolgreichen Amendmend im House of Lords – im Gesetzestext verwendet wurde.²³⁶ Die Auseinandersetzung zwischen Home Office, Foreign and Commonwealth Office und Gouverneuren um eine passende Nomenklatur verdeutlicht nicht nur die mühsame Konsensbildung in einem komplexem staatlichem Gebilde wie dem Vereinigten Königreich, sondern auch die unterschiedliche Prägekraft von Begriffen in verschiedenen institutionellen Kontexten. Denn während die Beamten des Innenministeriums sich am deutlichsten von jeglichem imperialen Ballast befreien wollten, waren sie auch weitaus unkritischer in der Verwendung des Begriffes „kolonial“, ohne sich lokaler Sensibilitäten bewusst zu sein. Die Grenzen des Sagbaren verliefen in Westminster unterschiedlich und spiegelten in diesem Falle die jeweilige Nähe der officials zu den Hinterlassenschaften des Empire. Diese imperiale Dimension spielte in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Nationality Bill nur eine untergeordnete Rolle. Generell stieß das Gesetz auf wenig öffentliches Interesse, möglicherweise, weil nur eine geringe Anzahl an Personen in Großbritannien von den Regelungen direkt betroffen war, oder auch, weil bestehende mehrheitsfähige Vorstellungen in Gesetzesform überführt wurden.²³⁷ Mahnende Worte zur Verantwortung Großbritanniens als ehemalige Kolonialmacht sowie zur Langlebigkeit imperialer Stereotype fanden sich eher am Rande der parlamentarischen und journalistischen Auseinandersetzung. In der knapp achtstündigen Debatte vor dem Second Reading der Nationality Bill kritisierten im Januar 1981 eine Handvoll backbenchers der oppositionellen Labour Party die Vergesslichkeit vieler Politiker, was Großbritanniens aus dem Empire entstandene Verantwortung angehe. So tadelte John Wilkinson: Britain has gained from large amounts of immigration over the centuries and has profited vastly from its connections with the Empire […] We cannot cut off our links and dismiss our responsibilities in a purely selfish way. The Government need to recognise that we have responsibilities for people overseas and that this is a multiracial country.²³⁸
Jim Marshall, der für Labour den Sitz in Leicester South hielt, ging noch einen Schritt weiter, indem er die Verbindung von Nationalitätsdefinition und Ein-
Vgl. Humphrey aus FCO an William Whitelaw. British Nationality Bill: Citizens of the British Dependent Territories, The National Archives, London, PREM 19/486, 16.10.1981. Zur Rezeption des Gesetzes in der britischen Öffentlichkeit vgl. Blake: Citizenship, law and the state, S. 179. John Wilkinson: British Nationality Bill. Hansard, HC Deb 28 January 1981 vol 997 cc996.
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wanderungsbeschränkung kritisierte, die seiner Ansicht nach den Grundgedanken des Gesetzesentwurfs bildete: We cannot just throw out of the window the inheritance – perhaps some people consider it an unfortunate inheritance – of Britain’s past empire. […] the Bill falls into the trap to which reference was made in the Green Paper – and which was more explicitly expressed in the White Paper – of mixing citizenship with immigration control. […] The Bill represents the final insult to those groups of people to whom we offered citizenship of the United Kingdom. They accepted that citizenship. By accepting it, they indicated their close relationship with the United Kingdom. They accepted that citizenship when their countries became independent.²³⁹
Diese Forderung nach Übernahme von Verantwortung wurde auch von einigen Kommentatoren in der Presse vertreten, so beispielsweise von dem Juristen Laurence Lustgarten in einem Artikel im Guardian. ²⁴⁰ Unter dem Titel „A new twist to Albion’s perfidy“ argumentiert er von einer moralischen Warte: Die Kategorie des „British overseas citizenship“ sei eine Staatsbürgerschaft dritter Klasse, die rund 250 000 Menschen effektiv staatenlos werden lasse. Die britische Regierung solle entweder den inhumanen Weg gehen und ihnen auch diese Staatsbürgerschaft nehmen, oder die relativ niedrige Anzahl an Personen zu vollen britischen Staatsbürgern erklären, denn es handele sich hierbei um „the flotsam of decolonisation for whose condition Britain is directly responsible“.²⁴¹ Dieser Strang der Debatte wurde jedoch bei Weitem nicht so deutlich vertreten wie der Vorwurf der Diskriminierung und, damit verbunden, die Forderung nach der Inklusion bürgerlicher Rechte in die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung. Denn das Thema guter race relations bildete das dominante Deutungsschema kritischer Stimmen, vor dem das Gesetz bewertet wurde; der Stein des Anstoßes war die wahrgenommene Rassendiskriminierung, die das Nationality Law festschreibe. Diese Interpretation wurde dadurch verstärkt, dass der Gang des Gesetzesentwurfs durch das Parlament von den Unruhen überschattet wurde, die sich im April und Juli des Jahres 1981 in Brixton und einer Reihe von weiteren Innenstadtgebieten in England entzündeten. Diese versahen das Thema des Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer Gruppen mit erneuter Dringlichkeit. Und tatsächlich bezogen sich im Umfeld der Unruhen eine Reihe von Kommentatoren, aber auch Bewohner betroffener Stadtteile auf die Gesetzespläne der konserva-
Jim Marshall: British Nationality Bill. Hansard, HC Deb 28 January 1981 vol 997 cc1013. Vgl. auch Salman Rushdie: The new empire within Britain, New Society, 9.12.1982, S. 417– 420. Laurence Lustgarten: A new twist to Albion’s perfidy, Guardian, 9. 3.1981, S. 11.
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tiven Regierung und die negativen Auswirkungen, die diese haben könnten.²⁴² Maurice George Smith, der sich in der Scarman-Enquiry für das AREA Youth Committee for Lambeth äußerte, wertete die Nationality Bill als Zeichen einer defensiven Einstellung Weißer gegenüber schwarzen Einwanderern, während J. A. Hunte von der West Indian Standing Conference den Gesetzesentwurf in seinem Beitrag für Scarman als diskriminierend und rassistisch bezeichnete.²⁴³ Lustgarten sprach sich in seiner weiteren Kritik daher für eine breite Koalition von Einwanderer- und Bürgerrechtsgruppen, Politikern auf lokaler und nationaler Ebene sowie Vertretern der Kirchen aus, als er im Rest des Artikels die weiteren, seiner Meinung nach im British Nationality Act von 1981 enthaltenen Ungerechtigkeiten ausführte. So wies er auf die unterschiedlichen Fristen der Registrierung für Personen, die legal als CUKC und Commonwealth citizens im Land lebten (zwei Jahre) und für Personen mit patriality, denen eine sechsjährige Frist gewährt werde. Zugleich stellten die vergleichsweise hohen Gebühren für die Einbürgerung vor allem eine Belastung für schwarze Familien der Arbeiterklasse dar. Eine Institution, an die man sich im Falle einer Ablehnung wenden könne, vor allem bei politischen Fällen, fehle ebenso wie eine deutliche Definition bürgerlicher Rechte und Pflichten als Teil des Nationality Act. Mit diesen Punkten befand sich Lustgarten im Mainstream der seit 1977 von Bürgerrechtsorganisationen vorgetragenen Kritik, die 1981 auch die Grundlage für die offizielle Position der Labour Party bildete.²⁴⁴ Diese lehnte nach einem deutlichen, von der Basis ausgehenden Linksruck nach der Wahlniederlage 1979 den Gesetzesentwurf grundlegend ab. Die Neuorientierung der Partei ging sogar so weit, dass Roy Hattersley als Schattenminister für Inneres das Green Paper von 1977 als reines Diskussionspapier abwertete und die inhaltliche Koppelung des Nationality Law an die Einwanderungsgesetzgebung zurückwies – politische Ziele, für die Labour nur wenige Jahre zuvor noch gestanden hatte. In der großen Parlamentsdebatte im Januar 1981 verurteilte Hattersley daher auch den Gesetzesentwurf, da dieser seit Langem etablierte Rechte „britischer Bürger“ mindere oder gar abschaffe.²⁴⁵ Vgl. beispielsweise Brennan: By the waters of Babylon; Rushdie: The new empire within Britain, New Society, 9.12.1982, S. 417– 420; Mike Phillips: It couldn’t happen to the Met, New Statesman, 17.4.1981, S. 3 – 4; Usha Prashar: Scarman’s Britain. Discrimination and racism are still realities, Observer, 29.11.1981, S. 11. Vgl. Lambeth und Smith: Submission, The National Archives, HO 266/34; J. A. Hunte: West Indian Standing Conference. Re: Phase II – Lord Scarman Brixton Enquiry, The National Archives, London, HO 266/38. Zu den Kontinuitäten der seit dem Green Paper von 1977 vorgetragenen Kritik bürgerrechtlicher Organisationen vgl. Black Cultural Archives, London, BCA/RC/RF/3/02. „Long-established rights are being diminished in some cases, and in other cases removed.“ Roy Hattersley: British Nationality Bill. Hansard, HC Deb 28 January 1981 vol 997 cc945.
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Nation und Staatsbürgerschaft zwischen Nationalstaat und Empire In der parlamentarischen Debatte wie auch im journalistischen Kommentar wurde häufig die Entwicklung einer positiven Definition britischer Nationalität und Nation gefordert. Roy Hattersley verlangte dies möglicherweise an prominentester Stelle im Parlament: But what we need, as we redefine nationality, is a positive statement of nationality based upon objectively defined principles, clean of all racial considerations. From that statement of nationality, a non-discriminatory immigration policy could then flow.²⁴⁶
Der Journalist Ronald Butt forderte ebenso eine deutliche Definition britischer Nationalität, wollte diese aber auch als Endpunkt von Migrationsbewegungen nach Großbritannien verstanden wissen.²⁴⁷ Seitdem ab Mitte der 1970er ernsthaft über eine Reform des Nationality Law diskutiert worden war, waren schon ähnliche Forderungen geäußert worden. Vertreter der katholischen Kirche bewerteten 1979 die angedachten Reformen als Chance, die Frage „what does it mean to be British“ affirmativ mit einer „multi-racial society“ zu beantworten²⁴⁸; während Frank Wooldridge im offiziellen Organ der Commission for Racial Equality die Reform des Nationality law begrüßte, da es die Gesetzgebung von 1948 gerade versäume, die britische Nation zu definieren und dies negative Folgen für die Kontrolle von Migration nach sich ziehe.²⁴⁹ Wooldridge war mit dem letztendlichen Gesetzesentwurf nicht einverstanden²⁵⁰, und auch die politische Antwort auf die Forderungen nach eine positiven Definition britischer Nationalität – wie auch immer diese aussehen sollte – blieb aus. Der British Nationality Act aus dem Jahr 1981 ist eher bezeichnend dafür, dass trotz aller Bemühungen um die Definition und Abgrenzung der Kategorien Nationalität und Staatsbürgerschaft der eigentliche Kern der Gesetzgebung, die Nation, eigentümlich unterdefiniert blieb. Der Rechtswissenschaftler Charles Blake ging kurz nach Verabschiedung des Gesetzes
Roy Hattersley: British Nationality Bill. Hansard, HC Deb 28 January 1981 vol 997 cc946. Vgl. Ronald Butt: Rebirth of a nation, The Times, 19. 2.1981, S. 14. Vgl. Concerning the revision of nationality law. A statement by the Roman Catholic Bishops conference of England and Wales, Black Cultural Archives, London, BCA/RC/RF/3/01 Box 18, 19.7. 1979; Catholic Commission for Racial Justice: Nationality and Citizenship. Redefining „British“, April 1979, Notes & Reports No. 4, Black Cultural Archives, London, BCA/RC/RF/3/01 Box 18. Vgl. Frank Wooldridge: The revision of United Kingdom nationality law, in: New Community, 8/1980, S. 61– 75. Vgl. Frank Wooldridge: The British Nationality Bill of 1981, in: New Community, 9/1981, S. 230 – 246; Frank Wooldridge: The British Nationality Act of 1981, in: New Community, 9/1981, S. 487– 490.
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so weit, gerade das Fehlen einer Auseinandersetzung mit der Frage, was eine Nation allgemein und was eine britische Nation im Besonderen sei sowie inwieweit sich „citizenship“ von „Nationalität“ unterscheide, als hervorstechendstes Merkmal der Gesetzgebung zu bezeichnen.²⁵¹ In der Debatte um die Neuformulierung des Nationality Law wird allerdings deutlich, wie sehr die Konzepte Nation und „citizenship“ in den unterschiedlichen Gesetzen je nach politischer Situation und ministerieller Vorprägung mit unterschiedlichen Vorstellungen belegt waren. Tendenziell lässt sich ein Trend zur Lösung von imperialen Kategorien in den juristischen Strukturen feststellen. In den Diskursen über staatliche Zugehörigkeit, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert zwischen dem imperialen Territorialitätsprinzip und ethnischnationalen Vorstellungen bewegten, hatte sich im British Nationality Act von 1948 aus machtpolitischen Gründen eine imperiale Auslegung durchgesetzt.²⁵² Britische Nationalität bezog sich damit nicht auf einen festen Nationalstaat und in Anbetracht des strukturellen Dekolonisationsprozesses nicht auf das gemeinsame Territorium eines Empire, sondern auf eine vorgestellte Gemeinschaft kultureller Merkmale.²⁵³ Die Tatsache, dass Staatsbürger der ehemaligen Siedlerkolonien bevorzugten Zugang sowohl bei der Einreise als auch zu den staatsbürgerlichen Rechten des Vereinigten Königreichs erhielten, verdeutlicht nicht nur die bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkennbare Prägekraft ethnischer Trennlinien.²⁵⁴ Es zeigt auch, dass die vorgestellte kulturelle Gemeinschaft der Briten zumindest für die beteiligten Regierungsbeamten und Politiker bis in die 1980er Jahre nicht mit
Blake: Citizenship, law and the state, S. 179. Zur Nationalisierung des Denkens über Staatsangehörigkeit zwischen 1870 und 1914 vgl. Gammerl: Staatsbürger, Untertanen und Andere, S. 217– 243; Gosewinkel: Schutz und Freiheit, S. 88 – 97. In der klassischen Auslegung von Laurie Fransman bezeichnet der Status eines „British subject“ jedoch keine Nationalität in der Logik eines territorial begrenzten Nationalstaats: Gerade weil der Erhalt der Staatsbürgerschaft des CUKC oder CICC ihr vorgeschaltet war, stelle die Kategorie nur einen „derivative status“ dar. Tatsächlich löste die federführende Labour-Regierung das sich ihnen darbietenden Problem einzelner Partikularnationalismen im Rahmen des Commonwealth, indem sie in einem juristischen Kunstgriff die Vorstellung einer Staatsangehörigkeit von der einer Nationalität entkoppelte. Jedoch verkompliziert sich das Bild bei näherem Hinsehen. Neben dem Status des British subject, der sowohl CUKCs als auch CICCs gemein war, existierte eine zweite Kategorie von „nationals“ unter dem British Nationality Act von 1948, nämlich die der British Protected Persons und der irischen Staatsbürger. Die britische Nationalität war mit dem Verweis auf die Kategorien von British subject und Commonwealth citizen nur unzureichend umschrieben, vielmehr wurde sie auf nahezu alle 1947 zum britischen Empire gehörenden Staaten ausgedehnt. Vgl. Fransman, Berry und Harvey: British nationality law (2011), S. 170; Parry: British nationality, S. 62. Vgl. Fahrmeir: Citizenship, S. 90.
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den Grenzen der britischen Inseln endete, sondern in der Tradition des Greater Britain-Topos des späten 19. Jahrhunderts auch die ehemaligen sogenannten Siedlerkolonien Australien, Kanada, Neuseeland sowie Teile Südafrikas umfasste.²⁵⁵ Der 1948 vorgenommen Kunstgriff einer Trennung von Nationalität und Staatsangehörigkeit ermöglichte hingegen die Isolierung von übergreifender Nationalität vor dem Gesetz, die an eine gemeinsame Staatsbürgerschaft gekoppelt war, deren Rechte jedoch nicht garantiert waren, sondern zunehmend eingeschränkt wurden. Denn während auf gesetzlicher Ebene mit dem Commonwealth Immigrants Act Bürgerrechte explizit von der Staatsangehörigkeit des British subject und der Citizenship of the United Kingdom and Colonies gelöst wurden, wurde sie auf diese Weise den Einwanderern zugestanden, die den Weg nach Großbritannien geschafft hatten. Der Begriff des citizen, der erst seit 1948 verwendet worden war, um die Staatsangehörigkeit zu beschreiben, wurde damit analytisch in die Bestandteile von Staatsangehörigkeit und staatsbürgerlichen Rechten und Teilhabe (Staatsbürgerschaft) getrennt, die jeweils in unterschiedlichen Kontexten verwendet wurden²⁵⁶: bezogen auf das Nationality Law als rein deskriptive Beschreibung einer Staatsangehörigkeit, im Diskurs der race relations in seiner Bedeutung von bürgerlichen Rechten wie beispielsweise dem Aufenthaltsrecht, dem Recht auf Arbeit oder dem Wahlrecht. Dem Prinzip der zunehmenden Ethnisierung bürgerlicher Rechte im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre standen jedoch die Rechte entgegen, die die britische Regierung im Zuge des Beitritts zu den Europäischen Gemeinschaften Bürgern von deren Mitgliedsstaaten gewährte: Parallel zu diesen Debatten über die Grenzen von Staatsangehörigkeit und Nationalität im Jahr 1971 bereitete die konservative Regierung unter Premierminister Edward Heaths den Beitritt Großbritanniens zu den Europäischen Gemeinschaften vor. Im Zuge der Verhandlungen musste die britische Regierung angeben, welche Personen „nationals“ der Vereinigten Königreichs seien, also Teil der staatlichen Gemeinschaft, die mit dem völkerrechtlichen Begriff des „national“ belegt wurden und für die die Bestim-
Zur Vorstellung eines Greater Britain vgl. Bell: The idea of greater Britain; Mark Lee: The story of Greater Britain: what lessons does it teach?, in: National Identities 6/2004, S. 123 – 142. Michael Kenny und Nick Pearce haben dies unter dem etwas breiteren Begriff der „Anglosphere“ diskutiert, vgl. Michael Kenny und Nick Pearce: Shadows of Empire. The Anglosphere in British politics, Cambridge 2018, S. 3. Eine Verwendung der Begriffe, wie sie im deutschen Kontext üblich ist. Vgl. Dieter Gosewinkel: Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit, in: GG 21/1995, S. 533 – 556, hier S. 533 – 534.
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mungen zur Freizügigkeit innerhalb der EG gelten sollten.²⁵⁷ Gerade die komplexen Regelungen zur britischen Staatsangehörigkeit erschwerten dies beträchtlich. Letzten Endes verkündete die konservative Regierung ohne parlamentarischen Beschluss, dass die Personen als „nationals“ für das EG-Recht galten, die im Vereinigten Königreich den Status eines patrial hatten und zudem den Pass eines CUKC, eines British subject without Citizenship oder eines Irish British subjects besaßen. Dies betraf in der Regel Personen, die vor 1949 in der Republik Irland, Indien und Pakistan geboren worden waren und keine Staatsbürgerschaft eines anderen Staates angenommen hatten, oder – wie im Falle der Iren – die nach dem Austritt der Republik Irland aus dem Commonwealth sich um die Wiederherstellung ihres Status als British subject beworben hatten. Ebenso griff der Beschluss der Regierung Heath für die Personen, die (oder deren Väter) den Status eines CUKC in Gibraltar durch Geburt, Einbürgerung oder Registrierung erhalten hatten.²⁵⁸ Die konservative Regierung unter Premierminister Heath griff mit dieser an das Europarecht angepassten Konzeption von Staatsangehörigkeit deutlich in das Wirken des Nationality Law ein und zog den Unmut vieler Parlamentarier auf sich: Denn während Commonwealth citizens wie Ausländer (aliens) behandelt wurden und als non-patrials das Vereinigte Königreich nur für maximal sechs Monate betreten und nur unter Umständen dort arbeiten durften, unterlagen EG nationals nicht diesen Restriktionen. Viele Parlamentarier sahen eine weitere Einschränkung der Rechte von Commonwealth citizens als nicht gerechtfertigt, wenn zugleich einer großen Anzahl ehemaliger Ausländer das Recht zugesprochen wurde, in das Vereinigte Königreich einzureisen und dort zu arbeiten. Allerdings wurde dieser Aspekt nicht im Mainstream der Debatte um den Immigration Act von 1971 registriert.²⁵⁹ Auch wenn eine parteienübergreifende Koalition den Entwurf der Regierung zunächst ablehnte, beschloss das Parlament letztlich im Januar 1973 jedoch eine nur kosmetisch veränderte Version dieser Richtlinien. Mit dem Eintritt des Vereinigten Königreichs in die Europäischen Gemeinschaften war das Einwanderungsregime nachhaltig verändert worden. Während Migration aus dem Commonwealth nach Großbritannien zunehmend
Dies bedeutete nicht, dass diese Personen über volle Staatsbürgerschaftsrechte verfügten. Vgl. Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain, S. 201– 202. Vgl. hierzu auch Williams: Patriality, work permits and the European Economic Community. Vgl. Fransman: British nationality law (1989), S. 134. Der Faktor der Europäischen Gemeinschaften wurde in der Debatte generell wenig reflektiert und das Gesetz auch komplett ohne Erwähnung des anstehenden Beitritts verfasst. Vgl. Dummett und Nicol: Subjects, citizens, aliens and others, S. 215.
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schwieriger wurde, wurde mit der Unterzeichnung der Verträge in Brüssel ein komplett neues Kapitel aufgeschlagen.²⁶⁰ Die umstrittene ministerielle und öffentliche Debatte über die Reform des British Nationality Act hatte jedoch eine folgenschwere Konsequenz: Sie führte dazu, dass die Vorstellung einer britischen Nation zum Thema der politischen und medialen Debatte wurde und ein Bewusstsein dafür entstand, dass gerade kein Konsens darüber bestand, was jene ausmachte. Diese begriffliche Uneindeutigkeit lässt sich am offensichtlichsten feststellen, wenn in der Debatte direkt versucht wurde, Inhalt und Grenzen der britischen Nation zu bestimmen. So verweist beispielsweise die parlamentarische und öffentliche Diskussion um die mögliche Verankerung bürgerlicher Rechte im Gesetzesentwurf zur Reform des Nationality Law auf Verschiebungen im Diskurs zu Nationskonzepten: Denn während die konservative Regierung – auch aus politisch-pragmatischen Gründen – allein das „right of abode“, also das Aufenthaltsrecht, im Gesetzesentwurf verankern wollte und alle übrigen Rechte und Pflichten bereits an anderer Stelle geregelt sah, fordert die parlamentarische und mediale Opposition die explizite Verbindung von Staatsangehörigkeit und Rechten. Staatsbürgerliche Rechte wurden also nicht mehr nur als Teil des gesellschaftlichen Lebens betrachtet, sondern es wurde zunehmend auch gefordert, dass diese gesellschaftliche Verankerung auch Teil der Nationsdefinition werden sollte. Der Regierungsentwurf begriff dagegen Nationalität weiterhin als reine Bezeichnung juristisch definierter Staatsangehörigkeit, während viele Vertreter der Opposition ein Ideal einer Nation vertraten, das im weiteren Sinne die Einheit von Nation, Staat und Gesellschaft als Träger bürgerlicher Rechte anstrebte, obgleich in ihrem Gesetzesvorschlag durch die Übernahme des Prinzips der „patriality“ auch ethnische Kriterien den Zugang zur Staatsangehörigkeit bestimmt hatten.
3 Zusammenfassung und Ausblick Das Ringen um eine Formulierung britischer Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft sowie die Suche nach den Gründen für die Ausschreitungen in einer Reihe englischer Innenstädte verdeutlichte das komplexe Beziehungsgefüge, in dem sich imperiale Strukturen, nationales Denken, gesetzliche Bestimmungen sowie Vorstellungen wie auch immer gearteter gesellschaftlicher „Zugehörigkeit“ befanden. Die Vorstellungen britischer Sozialordnung, das social imaginary, wa-
Zu der Abstimmung 1971 und 1973 vgl. Hansen: Citizenship and immigration in post-war Britain, S. 201– 202.
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ren in dieser Zeit dadurch geprägt, dass miteinander in Konflikt stehende Konzeptionen staatlicher oder gesellschaftlicher Zugehörigkeit auf Basis von gesellschaftlichen, imperialen oder nationalen Beweggründen nebeneinander existierten. Der Ursprung dieses Geflechts lag in der Geschichte des Vereinigten Königreichs als Kolonialmacht begründet sowie in den Anstrengungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Stabilisierung des bröckelnden Empire unternommen worden waren. Die Staatsbürgerschaftsgesetzgebung des Vereinigten Königreichs illustriert dies anschaulich: Während im British Nationality Act von 1948 aus machtpolitischen Gründen und bestehenden ethnischen Nationsvorstellungen zum Trotz eine breit angelegte, im imperialen Geltungsraum verankerte Definition von Staatsangehörigkeit gewählt wurde, haben nicht zuletzt die Debatten über die unterschiedlichen Einwanderungsgesetze zwischen 1962 und 1971 und die letztlichen Gesetzestexte gezeigt, dass in der politischen Debatte in der Regel eine engere, ethnisch weiße Definition staatlicher Zugehörigkeit angelegt wurde. Das Territorium des Vereinigten Königreichs war zwar Ausgangspunkt dieser Definition, allerdings wurden die mehrheitlich weißen Siedlerkolonien in der Praxis in diese kulturelle Klammer einbezogen. Die Migrationsbewegungen der 1950er und 1960er Jahre waren ausschlaggebend, um das im British Nationality Act von 1948 festgeschriebene, auf ethnischer Differenz basierende Gleichgewicht zu hinterfragen. Die öffentliche Auseinandersetzung, die sich auf den ersten Blick um die akzeptable Anzahl hereinkommender Migranten drehte, zeigte damit in ihrer Gesamtheit die Grenzen des social imaginary auf. Der 1981 verabschiedete British Nationality Act war somit einerseits das Ergebnis dieser in den Debatten zwischen 1962 und 1981 deutlich gewordenen Neuaushandlung staatlicher Zugehörigkeit. Die für die Regierung doch unerwartet deutliche parlamentarische Opposition, die Kritik von Bürgerrechtsgruppen sowie nicht zuletzt die inhaltlichen Differenzen zwischen den Befürwortern einer Reform des Gesetzes verdeutlichen andererseits aber auch, wie plural und komplex das Denken über staatliche Zugehörigkeit in einer Zeit war, in der von einem Kolonialreich, in dem die Sonne niemals unterging, nur noch wenig übriggeblieben war. Während Teile Labours Staatsangehörigkeit ausgehend von der Vorstellung einer Nationalgesellschaft mit einem Set von bürgerlichen Rechten und Pflichten imaginierten, setzte sich in den konservativ geführten Ministerien ab 1979 die Vorstellung staatlicher Zugehörigkeit durch, die ausgehend von einer vorgestellten ethnischen Verbindung zum Territorium des Vereinigten Königreichs argumentierte. Wurde in der Debatte über die Reform der Staatsbürgerschaftsgesetzgebung viel über die Kriterien staatlicher Zugehörigkeit diskutiert, die letzten Endes darüber bestimmen sollten, welchen Personen das Recht zugestanden wurde, in das Vereinigte Königreich einzureisen und dort zu leben, legt die Debatte in Folge der Unruhen den gesellschaftlichen Umgang mit Einwanderung offen, besonders
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in Bezug auf die zweite Generation von Migranten. Der Fokus lag, ähnlich wie bei der Debatte um den British Nationality Act, auf den Einwanderern aus dem „New Commonwealth“, insbesondere aus der Karibik. Die Vorstellung ethnisch bedingter kultureller Trennlinien, die die Einwanderer letzten Endes davon abhielten, in den Augen der Mehrzahl der Kommentatoren komplett Teil der britischen Gesellschaft werden zu können, bildete zwar den grundlegenden Deutungshorizont, vor dem die Ursachen der Unruhen gedeutet wurden. Die Auseinandersetzung hat aber ebenso deutlich gemacht, dass gemeinsame Normen und Werte sowie Erwerbsarbeit als grundlegende Faktoren gesellschaftlicher Teilhabe betrachtet wurden. Mit den Stichworten Werteverfall, Arbeitslosigkeit und jugendliche Devianz wurde in der Debatte auf tiefsitzende gesellschaftliche Probleme hingewiesen, die aufdeckten, dass kein gesellschaftlicher Konsens über den angemessenen Umgang mit Einwanderern und den sozialen Konsequenzen steigender Arbeitslosenzahlen bestand. Ebenso mangelte es an einem Verständnis kultureller Gemeinschaft an sich und der Art, wie gesellschaftliche Zugehörigkeit bestimmt werden sollte. Die Beispiele von Nationality Law und der Debatte in Folge der riots verdeutlichen, dass die innere Dekolonisierung Großbritanniens nicht nur ein komplexer, sondern auch kein geradliniger Prozess war. Dies wird deutlich, wenn man auf die Leerstellen der Debatten blickt: Die Stellung Irlands in der britischen Staatsbürgerschaftsgesetzgebung veranschaulicht die Unbedarftheit und die historischen Scheuklappen, mit denen zeitgenössisch auf die imperiale Dimension des britischen Staatsbildungsprozesses geblickt wurde. Die Bedeutung des Eintritts in die neu gegründeten Europäischen Gemeinschaften für die Definition staatlicher Rechte und Pflichten hingegen ist vor allem daher aufschlussreich, weil eben jene Rechte von Bürgern der anderen Mitgliedsstaaten künftig ein heftig umstrittenes Thema werden sollten und nicht zuletzt eine grundlegende Frage in der Debatte um den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU im Jahr 2016 darstellten. Das Thema der „Nation“ blieb bei beiden Debatten unbestimmt im Hintergrund. Bedenkt man jedoch, dass der Begriff „britisch“ in allen Debatten den Referenzpunkt für die unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen von Zugehörigkeit darstellte, wird deutlich, dass die Debatten und die damit zusammenhängenden politischen Reformen, vor allem der British Nationality Act, die zeitgenössisch identifizierten Probleme nicht beseitigten. Sie werden daher besser als ein Aspekt eines längerfristigen Aushandlungsprozesses verstanden. Die Auswirkungen des Falklandkriegs auf das Nationality Law legen Zeugnis davon ab: Entgegen der von der konservativen Regierung angelegten territorialen Prinzipien wurden die Bewohner der Falklandinseln nach Beendigung des Konflikts nun gleichberechtigt mit British citizens behandelt. Hatte die Reform ein Jahr zuvor den Willen der Regierung Thatcher gezeigt, die verblei-
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benden Kolonien durch eine separate Kategorie von Staatsangehörigkeit gerade nicht als Teil des britischen Nationalstaats zu behandeln, wurden die Bewohner der Falklandinseln im Kontext des bewaffneten Konflikts als britisch anerkannt – und zwar in den Augen Margaret Thatchers „in stock and tradition“.²⁶¹ Die durch den British Nationality (Falkland Islands) Act des Jahres 1983 bereits abgeänderte territoriale Aufgliederung von Nationalität war jedoch ohnehin nicht von langer Dauer: Nachdem 1997 Hong Kong an China übergeben worden war und die erwarteten Einwanderungsströme ausgeblieben waren, wurden die verbleibenden Kolonien und ihre Bewohner im British Overseas Territories Act von 2002 gleichgestellt. Unter den Statuten des Gesetzes wurden die British dependent territories offiziell zu British overseas territories umbenannt, die British dependent territories citizenship wurde zu British overseas territories citizenship (BOTC²⁶²). Jeder BOTC erhielt zugleich auch die vollwertige britische Staatsbürgerschaft. Auf diese Weise wurde die 1981 vorgenommene territoriale Engführung britischer Staatsbürgerschaft aufgehoben.²⁶³ Das Thema der Bürgerrechte hingegen wurde vom Kontext der Nationalität entkoppelt in den 1980er Jahren vor allem von linken Intellektuellen in einen Demokratisierungs- und Modernisierungsdiskurs aufgenommen. Der Begriff der citizenship wurde dabei zu einer Vokabel, um die gesellschaftlichen Probleme zu lösen, die beispielsweise während der Unruhen in den Innenstädten der Jahre 1980 und 1981 diagnostiziert worden waren, und um die Inklusion aller Bevölkerungsteile zu erreichen.²⁶⁴ Besonders hervorgetan hat sich an dieser Stelle die Gruppe der Charter 88, die sich als politische Interessengruppe für eine Reform der britischen Verfassung und des Wahlrechts einsetzte und deutlichen Einfluss auf die Modernisierungsbestrebungen innerhalb der Labour Party hatte, die in das New Labour-Projekt der 1990er Jahre mündeten.²⁶⁵ Die gesteigerte politische Bedeutung des Begriffes der citizenship schlug sich auch in einer verstärkten
Margaret Thatcher: Falkland Islands, HC Deb 03 April 1982 vol 21 cc633 – 638. Vgl. hierzu Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs: Partnership for Progress and Prosperity. Britain and the Overseas Territories, Cm 4264, London 1999. Zum British Overseas Territories Act von 2002 vgl. Fransman, Berry und Harvey: British nationality law (2011), S. 286 – 288. Für eine internationale Perspektive auf die citizenship-Debatte vgl. Favell: Philosophies of integration, S. 1– 2. Vgl. hierzu den Journalisten Hugo Young im Jahr 1988: „Something is rotten in the state of Britain, and all the parties know it […] The buzz-word emerging as the salve for this distress is something called citizenship […] Somewhere out there there is an immense unsatisfied demand for it to mean something. But it needs to become much more than a word.“ Zit. nach Heater: Citizenship in Britain, S. 208. Siehe auch Anthony Wright: Citizens and subjects. An essay on British politics, London 1994, S. 126; Mycock: British citizenship and the legacy, S. 340.
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akademischen Betrachtung des Themas nieder.²⁶⁶ Zunächst im Zuge der drohenden Kürzungen des britischen Wohlfahrtsstaates, dann jedoch zunehmend in Bezug auf eine wahrgenommene plurale ethnische Struktur der britischen Gesellschaft wurde citizenship zu einem Konzept, um Zugehörigkeit und Teilhabe an der vorgestellten Gemeinschaft der Briten im nationalgesellschaftlichen Rahmen zu denken.²⁶⁷ Im New Labour-Diskurs wurde Staatsbürgerschaft dann vor allem als Rechte und Pflichten definiert.²⁶⁸ Das etablierte soziale Imaginäre wurde jedoch nicht nur von „außen“ durch Dekolonisation und Migration in Frage gestellt, was sich an der Debatte um Staatsbürgerschaft gezeigt hat, sondern auch von „innen“ durch Forderungen nach „Devolution“ oder gar Unabhängigkeit für Schottland und Wales. Die Sorge vor den potentiellen Auswirkungen dieser als Nationalismen gedeuteten politischen Bestrebungen wurzelte in den späten 1960er Jahren und soll Thema des folgenden Kapitels sein.
Als Beispiel für die verstärkte Aufmerksamkeit für den citizenship-Begriff vgl. Jose Harris (Hrsg.): Civil society in British history. Ideas, identities, institutions, Oxford 2003; Harris: Nationality, rights and virtue; Heater: Citizenship in Britain; Quentin Skinner und Bo Strath (Hrsg.): States and citizens. History, theory, prospects, Cambridge 2003; Wright: Citizens and subjects; Eugenia Low: A tale of two citizenships. Henry Jones, T. H. Marshall and the changing conceptions of citizenship in twentieth-century Britain (Dissertation, University of Oxford, 2000). Vgl. hierzu beispielsweise Lord Goldsmith QC: Citizenship. Our common bond, London 2008; Christian Joppke: Citizenship and immigration, Cambridge 2010; Christian Joppke und Ewa T. Morawska: Toward assimilation and citizenship. Immigrants in liberal nation-states, Basingstoke 2003. Vgl. hierzu auch James Vernon: The local, the imperial and the global. Repositioning Twentieth-century Britain and the brief life of its social democracy, in: Twentieth Century British History 21/2010, S. 404– 418, hier S. 413 – 414; David Morrison: New Labour, citizenship and the discourse of the Third Way, in: Sarah Hale, Will Leggett und Luke Martell (Hrsg.): The Third Way. Criticisms, futures, alternatives, Manchester 2004, S. 167– 185, hier S. 170 – 173.
II Nationalismus in Schottland und Wales: Staat, Union und Nation im Vereinigten Königreich, ca. 1967 – 1979 Schließlich Großbritannien. Es wird gemeinhin mit Frankreich in einem Atemzug als eine der beiden „alten“ Nationen Europas genannt. Anders als Frankreich war es jedoch das Zentrum eines weltumspannenden Großreichs, an dessen Eroberung und Regierung Angehörige der zweitwichtigsten Nation im United Kingdom, die Schotten, überproportional beteiligt waren. Die Machteliten in London pflegten mindestens ebenso sehr imperial-kosmopolitische wie kleinbritische oder gar europäische Identifikationen. Auch wird zu oft übersehen, daß Großbritannien eine der ältesten Nationen Europas, die Iren, in quasi-kolonialer Abhängigkeit hielt. Kurz: Großbritannien war durchaus kein lupenreiner „moderner“ europäischer Nationalstaat. ¹ (Jürgen Osterhammel) The approach we prefer to stress is quite simply that Northern Ireland and Scotland and Wales (and England) are all quite different from one another; we are looking at their diverse problems on intrinsic merit and are seeking to evaluate the case for change not by external considerations of parity but by our judgment of what will best match their particular circumstances and the wishes of their peoples. ² (M. E. Quinlan)
1967 war ein schwieriges Jahr für die britische Labour Party. Nicht nur musste Schatzkanzler James Callaghan trotz vorheriger Versprechungen in dem System fester Wechselkurse das Pfund abwerten. Der Gesichtsverlust der Labour Party wurde darüber hinaus durch den Sieg der Scottish National Party (SNP) in der Nachwahl in Hamilton, einem als sicher betrachteten Wahlbezirk vervollständigt. Winifred Ewing war die erste Abgeordnete, die die SNP seit 1945 nach Westminister schicken konnte.³ Die Ankunft der jungen Glasgower Anwältin in einem Fahrzeug des schottischen Autobauers Linwood in Westminster glich einer Sensation und stellte für viele Beobachter mehr als nur die Rückkehr der Scottish National Party auf die politische Landkarte dar. Auf politischer Ebene im Verei Jürgen Osterhammel: Der europäische Nationalstaat des 20. Jahrhunderts. Eine globalhistorische Annäherung, in: Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, S. 322– 341, hier S. 327– 328. M. E. Quinlan: Brief an R S Faber, The National Archives, London, FCO 49/601/102, 14.11.1975. Ewing war die zweite Abgeordnete der SNP, die einen Sitz im Unterhaus beziehen konnte. Robert McIntyre hatte bereits 1945 einen Sitz in einer Nachwahl gewonnen, verlor diesen jedoch bereits drei Monate später wieder bei der regulären Parlamentswahl. https://doi.org/10.1515/9783110627671-003
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nigten Königreich hatte es zur Folge, dass mit der Devolution, das heißt der Übertragung administrativer oder legislativer Funktionen von Westminster an regionale oder sub-nationale Körperschaften⁴, das verfassungsrechtliche Reformprojekt wieder auf der parlamentarischen Tagesordnung erschien, das seit Ende des 19. Jahrhunderts in unregelmäßigen Abständen die Parlamentarier in Westminster beschäftigt hatte.⁵ Diese Entwicklung war umso mehr überraschend, da schottischer Nationalismus in den frühen 1960er Jahren der Vergangenheit anzugehören schien. Die 1934 aus dem Zusammenschluss zweier Parteien hervorgegangene Scottish National Party hatte bis in die 1950er Jahre mit internen Querelen über die Ausrichtung der Partei zwischen Home Rule, das heißt der Forderung nach Selbstverwaltung innerhalb des Vereinigten Königreichs⁶, und Separatismus zu kämpfen.⁷ Als letztes Lebenszeichen eines politischen Nationalismus hatte in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren die von der Partei unabhängige Organisation Scottish Convenant unter der Führung des nationalistischen Politikers John MacCormicks rund zwei Millionen Unterschriften gesammelt, um der Forderung nach der Errichtung eines Parlaments in Schottland Nachdruck zu verleihen. Angesichts der 5,1 Millionen Einwohner, die im Zensus von 1951 für Schottland verzeichnet wurden, stellte dies eine beachtliche Zahl dar. MacCormick und seine Mitstreiter konnten jedoch keinen nennenswerten Erfolg verbuchen und der Interessenverband verschwand von der politischen Bildfläche.⁸ Die Renaissance des politischen Nationalbewusstseins hätte zeitgenössisch jedoch an den Mitgliederzahlen der SNP ablesbar sein können. Im Verlauf der 1960er Jahre war die Partei von 20 Ortsgruppen im Jahr 1960 auf 470 im Jahr 1969, sowie im selben Zeitraum von 1000 auf 125 000 Mitglieder angewachsen; für den Historiker Thomas Devine Hinweis darauf, dass nationalistische Positionen in Schottland zunehmend als politische Haltung akzeptiert wurden.⁹ Nationalismusforscher reihten dieses Wiederaufleben schottischen Nationalgefühls zeitgenössisch in
Vgl. Charles Hauss: Devolution (government and politics), in: Encyclopædia Britannica, (2016) https://www.britannica.com/topic/devolution-government-and-politics, zuletzt abgerufen am 12.11. 2016. Thomas M. Devine: The Scottish nation. A modern history, London 2012, S. 574; Michael Münter: Verfassungsreform im Einheitsstaat. Die Politik der Dezentralisierung in Grossbritannien, Wiesbaden 2005, S. 147. Vgl. o. A.: Home Rule, in: Encyclopædia Britannica, (2016) https://www.britannica.com/topic/ home-rule-government, zuletzt abgerufen am 12.11. 2016. Vgl. Peter Lynch: SNP. The history of the Scottish National Party, Cardiff 2002, S. 7– 11. Vgl. James Mitchell: Scottish nationalism and demands for devolution, in: Peter Dorey (Hrsg.): The Labour governments, 1964– 1970, London 2006, S. 193 – 208, hier S. 193. Vgl. Devine: The Scottish nation, S. 577.
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eine Reihe von „neo-nationalisms“ ein, die die nationalen Ordnungen in Spanien, Kanada, Belgien und Frankreich in Frage stellten.¹⁰ Die SNP war jedoch nicht die einzige Partei mit einem nationalistischen Programm, die den Einzug in das House of Commons geschafft hatte. Ein Jahr zuvor gewann Gwynfor Evans den Sitz in Carmarthen für die walisisch-nationalistische Partei Plaid Cymru, der durch den Tod der Abgeordneten Megan Lloyd George, der Tochter David Lloyd Georges, frei geworden war. Der Mitte der 1960er Jahre flächenmäßig größte Wahlkreis im Südwesten von Wales, der seit 1956 in der Hand der Labour Party gewesen war, sendete mit ihrem langjährigen Vorsitzenden nun den ersten Abgeordneten der nationalistischen Partei für Wales nach Westminster. Die Wahlsiege von Evans und Ewing wurden zeitgenössisch auch deshalb als bedeutend angesehen, da Mandatsverluste innerhalb einer Legislaturperiode für regierende Parteien zu diesem Zeitpunkt eher unüblich waren und das System des Mehrheitswahlrechts Kandidaten der beiden großen Parteien bevorzugte.¹¹ Als die SNP nur ein Jahr später auch in den Kommunalwahlen des Jahres 1968 auf breite Unterstützung der Wähler stieß, reagierten Labour wie auch Konservative schnell. Oppositionsführer Edward Heath verpflichtete seine Partei auf der jährlichen Konferenz auf das Ziel administrativer Devolution, obgleich er in den Details eher vage blieb.¹² Dieser als „Declaration of Perth“ bekannt gewordenen Erklärung folgte die Einsetzung eines Verfassungsausschusses unter der Leitung des ehemaligen Premierministers Sir Alec Douglas-Home, welcher konkretere Vorschläge erarbeiten sollte. Die regierende Labour Party schlug einen ähnlichen Weg der Verzögerung ein; im Jahre 1969 betraute sie Lord Crowther mit der Leitung der Royal Commission on the Constitution, die die Verfassungsstrukturen des Vereinigten Königreichs untersuchen und Änderungsvorschläge unterbreiten sollte. Obgleich die Kommission unter Sir Alec Douglas-Home bereits 1970 und die Royal Commission im Jahre 1973 ihren Bericht vorlegten, gestaltete sich der darauf folgende Gesetzesprozess umstritten und langwierig. Er endete damit, dass die Vorlagen der Labour Regierung von Premierminister Callaghan in zwei im Jahre 1979 abgehaltenen Referenden im schottischen Fall nicht das notwendige Quorum, im walisischen Fall nicht die Zustimmung der wahlberechtigten Bevölkerung erreichten und somit nicht in Kraft traten.
Vgl. hierzu auch David McCrone: The sociology of nationalism. Tomorrow’s ancestors, London 1998, S. 125. Münter: Verfassungsreform im Einheitsstaat, S. 148. Zur Einordnung der „Deklaration of Perth“ vgl. Gordon Pentland: Edward Heath, the Declaration of Perth and the Scottish Conservative and Unionist Party, 1966 – 70, in: Twentieth Century British History 26/2015, S. 249 – 273.
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Während die von Labour und Konservativen anfänglich verfolgte Verzögerungstaktik durch Kalkül und politische Tradition erklärt werden kann¹³, bleibt die Frage offen, warum gerade die Form des Devolutionsprojektes gewählt wurde, um den Forderungen von SNP und Plaid Cymru zu begegnen. Die Antwort auf diese Fragen, so die These, scheint in dem Verhältnis zwischen den Nationsvorstellungen innerhalb des Vereinigten Königreichs, dem Staatsgebilde des United Kingdom sowie den damit verbundenen Verteilungsstrukturen zu liegen. Das Verhältnis der einzelnen Nationen zueinander und die Frage, ob sich der Status als Nation in separaten politischen Institutionen niederschlagen müsse, bestimmte die durch die Wahlerfolge von SNP und Plaid Cymru hervorgerufene politische Debatte. Denn die Forderungen der nationalistischen Parteien rüttelten an den seit dem Inkrafttreten der Unionsverträge in den Jahren 1707 und 1801 historisch gewachsenen Verwaltungs- und Verfassungsstrukturen. Hatte die Debatte um die Reform des Nationality Law gezeigt, dass auf politischer wie öffentlicher Ebene das Vereinigte Königreich mehrheitlich als Nationalstaat verstanden wurde, der – vereinfacht gesagt – ein Empire hatte, aber keines war, so wurde diese Vorstellung nahezu zeitgleich von außen- und innenpolitischen Entwicklungen wie den Migrationsbewegungen und den Dekolonisierungsbemühungen in Frage gestellt. Schon bevor die Vorbereitungen für diese Reform begonnen hatten, die der Definition britischer Nationalität dienen sollte, wurden die territorialen Grenzen dieser Nation hinterfragt. Denn der politische Erfolg nationalistischer Parteien stellte die Regierung in Westminster vor ein verfassungsrechtliches Problem: Nationalistische Politiker forderten für Schottland und Wales, dass der allgemeinen gesellschaftlichen Anerkennung ihres Status als separate Bevölkerungsgruppen, die sich jeweils selbst als Nation verstanden, auch politische Anerkennung folgen sollte. Grundlage der Forderungen war die fest verankerte Überzeugung, dass Schotten und Waliser separate Nationen mit einer eigenen Sprache, teilweise eigenen administrativen Strukturen und kulturellen Eigenheiten seien; eine Vorstellung, die von den übrigen Landesteilen bereits weitgehend akzeptiert worden war. Bedenkt man jedoch, wie in der nahezu zeitgleich ablaufenden Debatte um die Reform des Nationality Law gerade die Einheit der britischen Nation gegenüber potentiellen und kulturell fremden Ein-
Bei einer Anzahl von 630 Abgeordneten, die das House of Commons zu dieser Zeit umfasste, scheint der Verlust zweier Sitze an nationalistische Parteien zunächst nicht sonderlich dramatisch. In der historiographischen Literatur wurde in diesem Zusammenhang vor allem auf das politische Kalkül der beteiligten Politiker beider großer Parteien im Umgang mit der nationalistischen Herausforderung hingewiesen. Vgl. hierzu beispielsweise ebd.; Mitchell: Scottish nationalism, S. 199; Vernon Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, Oxford 1999, S. 171; Devine: The Scottish nation, S. 576 – 577.
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wanderern betont wurde, ergibt sich eine auf den ersten Blick paradoxale Situation: Innerhalb des Vereinigten Königreichs existierte somit nicht nur die Nation der Briten, sondern zeitgleich kleinere, territorial verwurzelte Nationsformationen. Offensichtlich wurde in der öffentlichen Auseinandersetzung der Begriff der Nation für unterschiedliche Gruppen verwendet: für die Bevölkerung, die jeweils in den schottischen und walisischen Landesteilen lebte, etwas unbestimmter für die Einwohner des nordirischen Landesteils, sowie für die unbestimmte Gruppe von Menschen, die sich selbst mit dem Label „britisch“ klassifizieren wollten. Der unerwartete Wahlerfolg nationalistischer Parteien, die Schottland und Wales als separate politische Räume in der Vorstellungswelt der auf London zentrierten politischen Szene etablierten, bildete dabei nur den Auftakt für das erneute Nachdenken über das Verhältnis eines britischen Nationalbewusstseins zu entsprechenden nationalen Vorstellungen in den unterschiedlichen Landesteilen, die zusammen das Vereinigten Königreich bilden. Daraus ergab sich ein Spiel auf mehreren Ebenen: Während beispielsweise in den Vorbereitungen zur Reform des Nationality Law versucht wurde, die britische Nation zu definieren, wurde diese Vorstellung gerade zu dieser Zeit verstärkt von „außen“ durch Migration und Dekolonisationsprozesse, von „innen“ durch nationalistische Forderungen nach Devolution oder gar Unabhängigkeit für Schottland und Wales in Frage gestellt.¹⁴ Das vermittelnde Glied zwischen diesen unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen war dabei die Verfassung des Vereinigten Königreichs. Ihre „ungeschriebene“ und daher flexible Natur erlaubte einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen, die sich hinter den politischen Konzepten der einzelnen Parteien verbargen. Dieser Ausgleich unterschiedlicher Nationsvorstellungen innerhalb des Vereinigten Königreichs stellt, so die These, einen integralen Bestandteil des dominanten sozialen Imaginären der Zeit dar, das durch die Wahlerfolge der nationalistischen Parteien bedroht wurde. Eine solche Lesart war jedoch nur eine, wenn auch einflussreiche Interpretation staatlicher und nationaler Verfasstheit im Vereinigten Königreich, die letztlich auch politisch maßgeblich war. Die Auseinandersetzung mit den nationalistischen Wahlerfolgen war jedoch noch in ein weiteres verfassungsrechtliches Narrativ eingebettet, in dem die kulturellen und nationalen Besonderheiten von Schotten und Walisern nur eine untergeordnete Rolle spielten und deshalb eine umfassende Reform des gesamten Regierungssystems angestrebt wurde. Denn während das Devolutionsprojekt die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem politischen System der Zeit anerkannte,
Zum Parteiprogramm der SNP und der Forderung nach Unabhängigkeit vgl. Lynch: SNP, S. 7– 10.
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wurde die unteilbare Souveränität des Parlaments in Westminster und die Vorstellung einer grundlegenden nationalen Andersartigkeit der Schotten und Waliser als hinreichende Bedingungen für die verfassungsrechtlich inhärent asymmetrische Lösung gesetzt. In diesem Narrativ der umfassenden Reform des gesamten Systems war vielmehr die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den bestehenden politischen Prozessen Ausgangspunkt der Überlegungen, die als überfällig erachtete Reform des gesamten Regierungsapparates von Westminster bis zum Local Government ihr Zentrum. Dieser Debattenstrang konnte sich aber in der politischen Praxis in den 1970er Jahren nicht durchsetzen. Während das Devolutionsprojekt seit dem späten 19. Jahrhundert in der politischen Debatte verhandelt wurde, war dieses Narrativ im Planungs- und Modernisierungskontext der 1960er Jahre verankert. Durch die Analyse der unterschiedlichen Reformprojekte, die in den zeitgenössischen parlamentarischen und ministerialen Debatten angeführt wurden, können nicht nur zeitgenössische Sinngebungsprozesse identifiziert und kontextualisiert, sondern zugleich die Frage nationaler und staatlicher Zugehörigkeit im sozialen Imaginären der Zeit herausgearbeitet werden. Dabei geht es nicht darum, abschließend zu erklären, welche Phänomene den modernen schottischen und walisischen Nationalismus hervorgebracht haben. Diese Frage beschäftigt seit den 1960er Jahren Historiker, Politologen und Soziologen zugleich.¹⁵ Es geht vielmehr darum, anhand der politischen Debatte die Konturen der sozialen Ordnungsvorstellung deutlicher herauszuarbeiten, die durch die Wahlerfolge nationalistischer Parteien in Gefahr schien. Auf diese Weise kann nicht nur gezeigt werden, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Nationsvorstellungen im Vereinigten Königreich zueinander imaginiert wurden, sondern auch, in welche staatlichen und institutionellen Strukturen diese Nationsvorstellungen eingebettet waren. Dieser Blick auf die hinter der Debatte um eine Verfassungsreform stehenden Konzepte staatlicher Organisation unterscheidet sich insofern
Vgl. beispielsweise Tom Nairn: The break-up of Britain. Crisis and neo-nationalism, London 1977; Charlotte Aull Davies: Welsh nationalism in the Twentieth century. The ethnic option and the modern state, New York 1989; Alan Butt Philip: The Welsh question. Nationalism in Welsh politics 1945 – 1970, Cardiff 1975; A. W. Wade-Evans: The historical basis of Welsh nationalism. A series of lectures, Trenton, NJ 2011; Richard Finlay: Thatcherism, unionism and nationalism: a comparative study of Scotland and Wales, in: Ben Jackson und Robert Saunders (Hrsg.): Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S. 165 – 179; Christopher Harvie: Scotland and nationalism: Scottish society and politics, 1707 to the present, 4. Aufl., New York 2004; Philip Hobsbaum: The start of an auld sang. The Scots and nationalism, in: Encounter 49/1977, S. 71– 79; Roland Sturm: Nationalismus in Schottland und Wales, 1966 – 1980. Eine Analyse seiner Ursachen und Konsequenzen, Bochum 1981; Knut Diekmann: Die nationalistische Bewegung in Wales, Paderborn 1998; Michael Hechter: Internal colonialism. The Celtic fringe in British national development, New Brunswick 1975.
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von der bestehenden historiographischen und politologischen Literatur, als dass sie das Projekt nicht in Parteiideologien einzuordnen versucht¹⁶ oder von der Warte der Reformen New Labours bewertet.¹⁷ Stattdessen wird primär danach gefragt, mit welchen Konzepten und Vorstellungen vor allem beteiligte Politiker und Journalisten versuchten, den Wahlergebnissen und damit in Verbindung gesetzten Prozessen Sinn zu geben und ihre weitere Entwicklung zu beeinflussen. Im Falle des Devolutionsnarrativs wurden besonders die sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse, die die Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur seit den 1960er Jahren zunehmend veränderten, sowie in geringerem Maße der Prozess der Dekolonisierung angeführt. Christopher Harvie und David Powell haben aufbauend auf dieser Deutung die Zeit zwischen den 1920er und 1960er/1970er Jahren, also zwischen dem „Home Rule settlement“ mit Irland und den nationalistischen Wahlerfolgen, als eine Blütezeit des britischen Nationalismus verstanden, in dem ein starker Zentralstaat und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit „co-existed with a degree of political differentiation and a more diversified but still regionally specialised national economy“.¹⁸ Aufbauend auf dieser umfassenden Deutung soll das Devolutionsprojekt im Gegensatz zu Darstellungen, die es als einen relativ hermetisch ablaufenden politischen Prozess
Duncan Tanner verordnet seine Analyse der Anfänge des Devolutionsprojektes dezidiert in den inhaltlichen Traditionen der Labour Party. Labour habe die Diskussionen über das Reformprojekt der Verfassung als Teil eines länger andauernden Interesses an der Reform des Regierungsapparates angestoßen; dies gelte für die 1960er wie die 1990er Jahre. Dabei versteht er das Devolutionsprojekt als ein Produkt der Politik der Labour Party sowie eines nicht näher spezifizierten Drucks aus dem „Celtic Fringe“. Tanners Ansatz, in seiner Analyse des Devolutionsprojekts den Druck einer erstarkenden Nationalbewegung mit dieser inhaltlichen Tradition im politischen Denken Labours in den 1960er Jahren zu verbinden, weist einen wichtigen Weg, um diese oft als unterschiedliche Themen begriffenen Prozesse analytisch zu verbinden. In diesem Kapitel soll das Augenmerk jedoch nicht darauf gelegt werden, welchen – wie auch immer gearteten – Einfluss ein schottisches und walisisches Nationalbewusstsein auf die Formulierung der Politik in Westminster hatte.Vgl. Duncan Tanner: Richard Crossman, Harold Wilson and devolution, 1966 – 70. The making of government policy, in: Twentieth Century British History 17/2006, S. 545 – 578, hier S. 547. Vgl. beispielsweise Münter: Verfassungsreform im Einheitsstaat; Vernon Bogdanor: The new British constitution, Oxford 2009; Russell Deacon und Alan Sandry: Devolution in the United Kingdom, Edinburgh 2007; Münter: Verfassungsreform im Einheitsstaat; Vernon Bogdanor (Hrsg.): The British constitution in the Twentieth century, Oxford 2003; Ann Lyon: Constitutional history of the UK, London 2003; F. N. Forman: Constitutional change in the United Kingdom, London/New York 2002. David Powell: Nationhood and identity. The British state, London 2001, S. 183. Vgl. auch Christopher Harvie: The moment of British nationalism, 1939 – 1970, in: The Political Quarterly 71/ 2000, S. 328 – 340.
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verstehen¹⁹, an dieser Stelle als ein Baustein längerfristiger und tiefgehender Reformen der ungeschriebenen Verfassung verstanden werden, die sich nicht allein durch distinktive schottische oder walisische Bedürfnisse erklären lassen. Der analytische Fokus des Kapitels wird zwischen den Jahren 1966/67 und 1979 liegen, mit dem Wahlsieg Evans’ und Ewings und den gescheiterten Devolutionsreferenden als politische Grenzsteine. Ausgangspunkt der Analyse ist die Untersuchung der von der Labour Regierung eingesetzten Royal Commission on the Constitution. In dieser wurden nicht nur die disparaten Stränge der Debatte um Home Rule, Devolution und breit angelegte Reform des Regierungssystems gebündelt. Die Kommission wurde auch zur Richtschnur für die Debatte der 1970er Jahre: Besonders in der Entwurfsphase des Gesetzes wurde der von ihr verfasste Bericht zu einem Grundpfeiler, an dem sich Journalisten und Politiker abarbeiteten. In der Darstellung wird der schottische Landesteil eine größere Rolle als Wales spielen. Dies liegt daran, dass Schottland in den Debatten der Zeit auch mehr Raum einnahm, da nicht zuletzt die beteiligten Politiker in diesem Landesteil mehr Parlamentssitze bedroht sahen.
1 Nationalismus und die Reform der ungeschriebenen Verfassung Egal welcher verfassungsrechtlichen Lösung Politiker beider großer Parteien zugeneigt waren: Die Forderung von SNP und Plaid Cymru nach nationaler Unabhängigkeit, zumindest aber Devolution, unterschied sich grundlegend von der sowohl von der Labour Party, als auch der Conservative Party vertretenen politischen Vorstellung des Unionism. Diese blieb bis in die 1960er Jahre eine Konstante in der britischen Parteienlandschaft, geriet aber angesichts der Wahlerfolge nationalistischer Parteien deutlich unter Druck.²⁰ Denn obwohl Forderungen nach mehr Mitspracherecht oder sogar Unabhängigkeit gerade im schottischen Fall seit dem 19. Jahrhundert immer wieder geäußert worden waren, hatten Labour wie auch Konservative seit Ende des Zweiten Weltkriegs aktiv eine zentralisierende
Vgl. hierzu beispielsweise Mitchell: Scottish nationalism; Peter Dorey: Welsh nationalism and demands for devolution, in: Peter Dorey (Hrsg.): The Labour governments, 1964– 1970, London 2006, S. 209 – 224. Vgl. Colin Kidd: Union and unionisms. Political thought in Scotland, 1500 – 2000, Cambridge 2008; Ward: Unionism in the United Kingdom, S. 3; Harvie: The moment of British nationalism; Powell: Nationhood and identity, S. 154. Vgl. hierzu auch die damit verwandte Vorstellung eines „British nationalism“, der bis in die 1960er Jahre das Vereinigte Königreich zusammengehalten habe.
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Politik verfolgt, sodass der plötzliche Meinungsumschwung nicht auf eine Veränderung tief sitzender politischer Überzeugungen schließen ließ. Die Conservative Party, die angesichts der irischen Forderungen nach Selbstverwaltung zwischen 1886 und 1906 eine Allianz mit der Liberal Unionist Party eingegangen war und sechs Jahre später mit ihr fusioniert hatte, blickte auf eine bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende zentralstaatliche Tradition zurück. Der Erfolg der SNP und Plaid Cymrus bei den Nachwahlen stellte jedoch besonders für die Labour Party eine politische wie programmatische Herausforderung dar. Politisch, weil die Parteien Sitze in ehemals von Labour gehaltenen Bezirken gewannen, programmatisch, weil sie sich mit ihren Forderungen gegen Grundsätze in der Programmatik der Labour Party wandten: So stellten die beiden Parteien mit ihrem Ziel nationaler Unabhängigkeit, zumindest aber Devolution nicht nur die Überzeugung Labours von zentraler ökonomischer Steuerung in Frage, die aufgrund der Erfahrungen der Wirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre ein wichtiger Bestandteil im Grundsatzprogramm der Partei war.²¹ Die vor allem von der SNP vertretene Vorstellung von Nationalismus als einer klassenübergreifenden Ideologie stand darüber hinaus dem zumindest offiziell ausgeprägten Klassenbewusstsein der Labour Party diametral entgegen.²² Obwohl sich die Labour Party nach ihrer Gründung im frühen 20. Jahrhundert zunächst mit der Forderung von Home Rule identifiziert hatte, hatte das Thema administrativer oder gar legislativer Devolution das Potential, innerhalb der eigenen Reihen für Unmut und Auseinandersetzungen zu sorgen. Ein Umstand, den jeder Premierminister zu vermeiden suchte und den ein als Taktierer bekanntes Regierungsoberhaupt wie Harold Wilson umso mehr scheute. Die Labour Party sah sich darüber hinaus programmatisch weiterhin den Prinzipien des Sozialismus verpflichtet, der mit den Worten des Historikers Duncan Tanners „little place for nationalism“ hatte.²³ Diese im Parteiprogramm verankerte Abneigung wurde durch das Bekenntnis Labours zum Wohlfahrtsstaat sowie die Durchsetzung des Planungsprinzips in der britischen Regierungspolitik, vor allem in der Rolle des Staates in der britischen Wirtschaft, verstärkt.
Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 138; Mitchell: Scottish nationalism, S. 193 – 195. Vgl. Münter: Verfassungsreform im Einheitsstaat, S. 152; Devine: The Scottish nation, S. 577; James Mitchell: From breakthrough to mainstream: the politics of potential and blackmail, in: Gerry Hassan (Hrsg.): The modern SNP. From protest to power, Edinburgh 2009, S. 31– 41, hier S. 32; Michael Keating: The independence of Scotland. Self-government and the shifting politics of union, Oxford 2009, S. 63 – 64. Tanner: The making of government policy, S. 549.
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Trotz einer geringen Anzahl an offen für Devolution eintretenden Parlamentariern war die Union im Denken der beiden großen Parteien stärker als je zuvor verankert.²⁴ Auch die jeweiligen schottischen und walisischen Teilorganisationen Labours unterstützten diese zentralistische Grundausrichtung; der Scottish Council of the Labour Party hatte in den 1950er Jahren sein inhaltliches Engagement für Home Rule effektiv aufgegeben.²⁵ Obgleich im walisischen Flügel der Partei seit den 1960er Jahren Debatten über die Einführung von Devolution in Wales geführt wurden, waren diese Vorschläge innerparteilich heftig umstritten.²⁶ Allerdings gab es einen deutlichen Unterschied zwischen Labours Haltung zum Vereinigten Königreich und dem Unionism der schottischen Konservativen: Wie Michael Keating und David Bleiman gezeigt haben, sahen diese nämlich das United Kingdom als einen Wert, den es an sich zu erhalten galt, während für Labour der Staat eher Mittel zum Zweck darstellte, um die Einheit der Arbeiterklasse zu bewahren.²⁷ Allein die Liberal Party, die ihre dominante Stellung in der britischen Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die im Jahr 1900 gegründete Labour Party hatte abgeben müssen, war weiterhin eng mit dem politischen Ziel der Devolution verbunden und hatte seit 1950 bei jeder Parlamentswahl eigenständige Parlamente für Schottland und Wales gefordert.²⁸ In den späten 1960er Jahren schien daher vor allem die Labour und die Liberal Party in Gefahr durch die schottischen und walisischen Nationalisten, waren doch diese beiden Landesteile Hochburgen beider Parteien. Als nationalistische Forderungen in Form der SNP für Schottland und Plaid Cymru für Wales in den späten 1960er Jahren als ernstzunehmende politische Positionen aufkamen, zeigte sich die regierende Labour Party unter Premierminister Harold Wilson zunächst abwartend. Angesichts der inneren Uneinigkeit Labours wurden verschiedene Möglichkeiten teils heftig diskutiert: das aktive Vorgehen der Regierung gegen die separatistischen Bestrebungen, vor allem die Hervorhebung ihrer potentiell negativen wirtschaftlichen Folgen, eine Reform des
Zur Ideologie des Unionism in den beiden großen Parteien, die sich in den 1920er und 1930er Jahren verfestigte, vgl. Ewen Cameron: Impaled upon a thistle. Scotland since 1880, Edinburgh 2010, S. 163 – 168. Vgl. Deian Hopkin, Duncan Tanner und Chris Williams (Hrsg.): Labour party in Wales 1900 – 2000, Cardiff 2000. Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 162– 163. Vgl. Michael Keating und David Bleiman: Labour and Scottish nationalism, London 1979, S. 16 – 17. Dabei waren sich die Mitglieder der Partei intern aber uneinig, welchen Stellenwert schottische Forderungen nach Devolution haben sollten, strebte die Partei doch programmatisch nach Devolution innerhalb eines rundum föderal organisierten Vereinigten Königreichs an. Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 128 – 129.
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Parlaments, Verwaltungsreformen oder auch verzögernde Maßnahmen wie die Einsetzung einer Untersuchungskommission. Während Richard Crossman, seit 1966 Lord President of the Council und Vorsitzender des Unterhauses, für eine radikale Verfassungsreform plädierte, hielt der Secretary of State für Schottland, Willie Ross, eine direktes Infrage-Stellen nationalistischer Positionen für vielversprechender. Harold Wilson zumindest schien zunächst der Einführung eines Stormont-Systems, also von Devolution in der in Nordirland praktizierten Form, nicht abgeneigt.²⁹ Ein im Februar 1968 einberufenes Komitee sollte sich unter der Führung Crossmans mit den möglichen Folgen von Devolution für das Vereinigte Königreich beschäftigen.³⁰ Staatssekretäre des Scottish Office, des Bildungs- und Wissenschaftsministeriums, des Ministeriums für Housing and Local Government, des Welsh Office und des Innenministeriums befassten sich mit mehreren Optionen: eine föderale Lösung, ein an das in Nordirland bis 1972 praktizierte StormontSystem angelehntes Parlament für Schottland und Wales oder nur ein vollwertiges Parlament für Schottland sowie eine Art gewählter Rat und ein Minister mit erweiterten Befugnissen für Wales. Zudem sollte das Komitee die möglichen Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik der Regierung aufzeigen, potentielle juristische Komplikationen identifizieren sowie mögliche Auswirkungen für die Reform des Local Government herausarbeiten. Nicht zuletzt dadurch, dass mit George Thomas ein Gegner von Devolution Jim Griffiths als Secretary of State for Wales ablöste, erreichte die Kommission keine einheitliche Position, was sich auch in ihrem Abschlussbericht niederschlug.³¹ Die sich in der Opposition befindliche Conservative Party hatte sich, entgegen den Erwartungen vieler Beobachter, schon vor der Labour Party auf Devolution festgelegt. Da ihre parlamentarische Basis seit den 1950er Jahren zunehmend aus englischen Wahlbezirken bestand, liegt es nahe, die als „Declaration of Perth“ bekanntgewordene Rede des Vorsitzenden Edward Heath auf dem Parteitag 1968 als wahltaktisches Manöver zu bewerten. Heath schlug darin die Errichtung einer direkt gewählten schottischen „Assembly“ vor. Ein daraufhin eingesetztes parteiinternes Constitutional Committee unter Leitung des ehemaligen Premierminister Alec Douglas-Home sollte detaillierte Vorschläge ausarbeiten. Der 1970 vorgelegte Report unterstützte Heaths Vorschlag von einer in Edinburgh einzurichtenden Assembly: Ein „Scottish Grand Commitee“ und „Scottish Standing Commitee“ sollte demnach als eine Art dritte Kammer des Parlaments in Westminster alle Gesetzesentwürfe behandeln, die vom Sprecher des Unterhauses als
Vgl. Mitchell: Scottish nationalism, S. 199. Vgl. ebd. Tanner: The making of government policy, S. 568.
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rein schottisch gekennzeichnet würden. Dies sollte als das Äquivalent der zweiten Lesung im Parlament gelten; die Gesetze sollten erst zur dritten Lesung und Verabschiedung durch das House of Lords wieder in Westminster aufgegriffen werden.³² Auch wenn diese Vorschläge von der Parteiführung in das Wahlprogramm aufgenommen wurden, ließen spezifische Gesetzesvorschläge nach dem konservativen Sieg bei den Parlamentswahlen 1970 jedoch auf sich warten.³³ Die Gründe dafür waren vielfältig: Der Politologe und Experte der Verfassungsgeschichte Vernon Bogdanor nennt beispielsweise die von der Regierung angeregte Reform der Kommunalverwaltung, die weiterhin tagende Royal Commission, parteiinternen Widerstand sowie dringendere Probleme wie die Ölkrise oder die Verhandlungen zum Eintritt in die Europäischen Gemeinschaften.³⁴ Neben den regierungsinternen Unstimmigkeiten und der Politik der Conservative Party geriet Wilson von der Parliamentary Labour Party (PLP), der Fraktion der Labour Party im Parlament, im Juli 1968 zunehmend unter Druck. Der Premierminister reagierte darauf mit der Aufforderung an Crossman, zusammen mit Willie Ross und George Thomas, erklärten Gegnern von Devolution, ein gemeinsames Papier zu produzieren.³⁵ Die beiden letzteren lobbyierten zusammen mit Innenminister James Callaghan für die Einsetzung einer Royal Commission, die sich eingehend und umfassend mit der Frage des Regierens der unterschiedlichen Landesteile befassen sollte. Richard Crossman hingegen plädierte zunehmend für eine föderale Lösung und wollte dazu die Ergebnisse der Redcliff-Maud und Wheatley-Kommissionen abwarten, die sich seit 1966 mit der Reform des Local Government in Schottland und England beschäftigten.³⁶ Wirtschaftliche Beweggründe paarten sich mit Umfrageergebnissen, die die Diagnose zu bestätigen schienen, dass die Bevölkerung sich von den Entscheidungen in Westminster zu entfernt fühlte.³⁷ Die letztliche Entscheidung der Regierung, eine Royal Commis-
Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 133 – 134; Pentland: Edward Heath, the Declaration of Perth, S. 251. Vgl. Conservative Party general election manifesto 1970. A better tomorrow, in: Iain Dale (Hrsg.): Conservative Party general election manifestos, 1900 – 1997, London 2000, S. 153 – 179, hier S. 171– 173. Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 136 – 137. Vgl. Mitchell: Scottish nationalism, S. 200. Vgl. 1st meeting, Cabinet, Devolution to Scotland and Wales. Minutes of a meeting on 18.7.1968, The National Archives, London, CAB 130/390, 22.7.68; Cabinet, Devolution to Scotland and Wales, future policy. Minutes of a meeting on 23.10.1968, The National Archives, London, CAB 130/390, 25.10.1968; Secretary of State for the Home Department und Secretary of State for Scotland: Cabinet, Devolution to Scotland and Wales. Proposed commission of inquiry, joint memorandum, The National Archives, London, CAB 130/390, 18.10.1968. Vgl. Tanner: The making of government policy, S. 572.
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sion einzusetzen, stellte somit einen Weg dar, mit den parteiinternen Spannungen zwischen Programm, der Position der Partei in Schottland und den durch die SNP verkörperten Forderungen nach einem größeren Mitspracherecht umzugehen. Denn auch wenn die Sprache der Memoranden und Parlamentsprotokolle Dringlichkeit suggeriert, ist die Einsetzung einer aufwändigen und langwierigen Royal Commission ein Hinweis darauf, dass der Erfolg der nationalistischen Parteien als temporär angesehen wurde und ausgesessen werden sollte. Weder war die Ausgangssituation, noch der Zeitpunkt für die Publikation ihres Berichts für die Kommission ideal. Die Arbeit der Kommission war von Anfang an mit Problemen behaftet: Ihr ursprünglicher Vorsitzender, Lord Crowther, verstarb im April 1972 plötzlich und wurde durch den schottischen Richter Lord Kilbrandon ersetzt. Die Kommission hatte von der Regierung den Auftrag erhalten, sich eingehend mit den Gesetzgebungs- und Regierungsprozessen in Bezug auf die „several countries, nations and regions“ des Vereinigten Königreichs zu beschäftigen.³⁸ Die 16-köpfige Kommission, zwar aus den unterschiedlichen Teilen des Vereinigten Königreichs berufen, aber nicht paritätisch aufgestellt³⁹, sollte nach vorhergehender Analyse dieser Prozesse Schwachstellen identifizieren und Verbesserungsvorschläge unterbreiten.⁴⁰ Nicht zuletzt der Mangel an Präzision in der Aufgabenstellung trug dazu bei, dass sich die heterogene Gruppe in dem insgesamt vier Jahre dauernden Prozess nicht einigen konnte. Allein drei ihrer Mitglieder legten während der Laufzeit der Kommission ihr Mandat nieder. Die Differenzen innerhalb der Kommission gingen sogar so weit, dass sie sich nicht einmal auf einen gemeinsamen Bericht einigen konnte. Als der Report im Oktober 1973 endlich publiziert wurde, umfasste er neben dem Bericht der Mehrheit der Mitglieder auch ein „Memorandum of Dissent“, das von dem Labour Peer Lord Crowther-Hunt sowie Alan T. Peacock, der als Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität York lehrte, unterzeichnet wurde. Wie die Publikation von zwei Berichten schon vermuten ließ, waren die einzelnen Mitglieder der Kommission alles andere als einstimmig in ihren Einschätzungen. Dabei unterschieden sich die Berichte in der Interpretation des zugegebenermaßen vage formulierten Arbeitsauftrags. Legte die Mehrheit der Gruppe die Arbeitsvorgabe eher eng aus und beschränkte sich auf die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Devolution von Regierungsaufgaben, interpretierte eine Minderheit um Lord Crowther-Hunt die Aufgabenstellung als Mandat, ein um Royal Commission on the Constitution, 1969 – 1973. Vol. I. Report, Cmnd. 5460, London 1973, S. 5, §11. Zur Zusammensetzung der Royal Commission vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 174– 175. Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 5, §11.
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fassendes Programm zur Reform der britischen Verfassung zu entwickeln.⁴¹ Angesichts der Tatsache, dass sich die Kommission nicht über die Auslegung des Arbeitsauftrags einigen konnte, verwundert es nicht, dass sich auch die favorisierten Lösungsansätze unterschieden. Allerdings gab es durchaus Punkte, die beide Berichte vertraten: Die Kommission war sich einig darin, dass sie den Separatismus von Schottland und Wales ablehnte und die Einführung einer direkt gewählten Assembly in Schottland empfahl. Ebenso stellten beide die offensichtliche Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem damaligen Regierungssystem fest, obgleich das Memorandum of Dissent auf die Voreingenommenheit der erhobenen Daten zugunsten der Mittelklasse hinwies.⁴² Der Vorwurf der übermäßigen Zentralisierung von Regierungsaufgaben sowie die Sorge über die Schwächung der parlamentarischen Demokratie stellten die übergreifenden Kritikpunkte dar. Diese Themen umfassten ihrerseits eine Vielzahl von detaillierten Beschwerden: So wurden unter dem Rubrum der Zentralisierung beispielsweise die fehlgeleitete Verteilung öffentlicher Mittel, der Mangel an Koordinierung zwischen verschiedenen Ministerien sowie Anpassungsdruck der Regionen an die Zentrale beklagt, während der Mangel an politischer Eigenständigkeit für Parlamentarier sowie der Zuwachs von der Regierung beauftragter Mittlerorganisationen (im englischen als ad hoc bodies oder QUANGOs bekannt), häufig ohne Rechenschaftspflicht, Besorgnis über das demokratische System des Vereinigte Königreichs hervorriefen.⁴³ Die Kommission stützte sich in ihrer Analyse auf die Hilfe von Personen, die durch eigene Erfahrung mit dem Regierungsgeschäft vertraut waren und die aus unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung kamen, sowie Wissenschaftler und Meinungsumfragen. Während die Beschwerde über übermäßige Zentralisierung vor allem von Personen vorgebracht wurde, die auf kommunaler oder regionaler Ebene aktiv waren, wurde die Schwächung der Demokratie vor allem von Akademikern oder anderen „specially qualified groups“⁴⁴ beklagt, die sich mit dem Thema beschäftigten. Dieser gemeinsamen Basis zum Trotz unterschieden sich die Berichte grundlegend in der Analyse der Probleme und ihren Lösungsvorschlägen. Der Mehrheitsbericht ging von einem klassischen Protestwahl-Paradigma aus, nach dem nationalistische Parteien die Unzufriedenheit der schottischen und walisischen Bevölkerung für ihre Zwecke genutzt hätten. Denn nicht nur sei die Unzufriedenheit mit dem Regierungssystem besonders in den am weitesten von Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 171– 172. Vgl. Royal Commission on the Constitution, 1969 – 1973. Vol. II. Memorandum of Dissent, Cmnd. 5460 – 1, London 1973, S. 10, §30 – 32. Vgl. Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 85 – 100, §264– 324. Vgl. ebd., S. 86, §269.
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London entfernten Orten zu spüren gewesen.⁴⁵ Die Wahlerfolge in Hamilton und Carmarthen ließen sich auch durch wirtschaftliche Beweggründe erklären: Die walisische, besonders aber auch die schottische Industrie und Wirtschaftsstruktur sei von den industriellen Wandlungserscheinungen deutlich betroffen⁴⁶, die alten Industriezweige stürben schneller, als neue nachwachsen könnten, sodass Arbeitslosigkeit zu einem Problem werde. Die Gemeinden („communities“), die sich um die alten Industriezweige gebildet hätten, seien in Gefahr, auszusterben; ein Problem, das von einer andauernden Auswanderung nach England verschärft werde. Es bestehe sowohl in Schottland als auch in Wales die Vorstellung, dass sich die Regierung nicht ausreichend um die Probleme der beiden Nationen kümmere.⁴⁷ Die nationalistischen Parteien nutzten diese Unzufriedenheit und versprächen einen Aufschwung, der durch die Kontrolle der Schotten und Waliser über ihre Angelegenheiten erreicht werden solle.⁴⁸ Obgleich in England ähnliche Probleme vorhanden seien⁴⁹, hätten nationalistische Parteien auf dieser wirtschaftlichen Vernachlässigung in Schottland und Wales aufbauen können.⁵⁰ Der grundlegende Fehler liege daher im Regierungsapparat und habe wenig mit Nationalismus zu tun, werde aber von den nationalistischen Parteien ausgenutzt.⁵¹ Angesichts der Unzufriedenheit der Bevölkerung, der nationalen Sonderposition von Schottland und Wales sowie dem Ziel, die politische und wirtschaftliche Einheit des Vereinigten Königreichs zu bewahren, empfahl der Mehrheitsbericht die Einführung von Devolution.⁵² Das Memorandum of Dissent verfasst von Lord Crowther-Hunt, Professor Peacock, Lord Foot und Sir James Steel hingegen betrachtete die Beschwerden Vgl. ebd., S. 3, §1. Diese Deutung zeigt sich auch in der Historiographie zur schottischen Wirtschaft. So identifiziert der Historiker Ewen Cameron drei deutliche Themen in der schottischen Wirtschaftsgeschichte seit Ende des Zweiten Weltkrieges: den Niedergang der Schwerindustrie sowie den Aufstieg des Dienstleistungssektors, die Rolle der Regierung in der schottischen Wirtschaft sowie das Scheitern des schottischen Unternehmergeistes.Vgl. ebd., S. 25, §80; Cameron: Impaled upon a thistle, S. 236. Die Kommission fasste die Situation mit Rückgriff auf einen „distinguished Welshman“ wie folgt zusammen: „there was a feeling that Wales had become the backyard of the United Kingdom“. Der Frust der Waliser darüber, ihre Situation nicht beeinflussen zu können, bilde demnach den Kern der Unterstützung von Plaid Cymru in Wales. Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 3, §3. Vgl. ebd., S. 3, §2– 3. Vgl. ebd., S. 4, §6. Vgl. ebd. Diese Ansicht werde von vielen Schotten geteilt, die nicht die SNP unterstützen, aber stolz auf Schottland seien „and wanted to see its light shining more brightly in the world“. Ebd., S. 4, §2. Vgl. ebd., S. 484, §1541 (1170).
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über das Regierungssystem als den entscheidenden Faktor, der für das gesamte Vereinigte Königreich gelte. Der Mehrheitsbericht habe die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Landesteilen überbewertet und sei daher zu einer verzerrten Sicht auf die Situation gelangt.⁵³ Angesichts des Beitritts des Vereinigten Königreichs zum „Common Market“, der ungleichen Verteilung politischer Rechte und der Mehrbelastung, die durch die Einrichtung von Devolution auf Parlament und Regierung zukämen, lehnten sie die Empfehlungen des Mehrheitsberichtes ab. Anstelle dessen empfahlen sie die Einrichtung von sechs bis sieben gewählten Assemblies, wovon jeweils eine für Schottland und Wales sein sollte. Diese sollten über weitreichende Kompetenzen verfügen, unter anderem dem Recht, Steuern und Abgaben zu erheben.⁵⁴ Der Bericht der Royal Commission wurde zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt publiziert. Denn als der Report, inklusive des Memorandum of Dissent, im Oktober des Jahre 1973 erschien, hatte sich die politische Lage in Großbritannien deutlich verschärft. Im gleichen Monat verursachte die erste Ölkrise eine nachhaltige Erschütterung im westlichen Staaten-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.⁵⁵ Obwohl Großbritanniens Ölversorgung aufgrund der Tatsache, dass die Regierung Israel im Jom-Kippur-Krieg keine militärische Unterstützung gewährt hatte, nach ersten Einschränkungen nicht vom Embargo betroffen war⁵⁶, führte die vorherige Überhitzung der Wirtschaft durch einen von der Regierung initiierten Boom, verbunden mit einem Streik der Bergarbeiter, zu einer handfesten energie- und innenpolitischen Krise. Das Kabinett der konservativen Regierung von Premierminister Edward Heath antwortete auf diese Herausforderung mit dem Ausruf einer Drei-Tage-Woche, das heißt der Rationierung von Energie nach Sektoren auf bestimmte Wochentage ab Januar 1974. Heath verlor allerdings die im Februar 1974 angesetzte Wahl gegen seinen Vorgänger Harold Wilson. Der Nordirlandkonflikt, seit 1968 blutig in den zu Großbritannien gehörigen Teilen Irlands zwischen Nationalisten und Unionisten geführt, verdeutlichte die prekäre politische Lage in dem von London oft vergessenen Landesteil und gleichzeitig die Brisanz der Themenstellung der Commission. Die Prioritäten der konservativen Regierung lagen im Herbst 1973 auf der Stabilisierung der Wirtschaftslage und der
Royal Commission on the Constitution, Vol. II, S. vii, §2(b). Vgl. ebd., S. 84– 87, §210 – 214. Für den Zusammenhang der Ölindustrie mit dem westlichen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem vgl. Rüdiger Graf: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin 2014. „Unlike during the Middle East conflict of 1967, when most of our arms exports to the area went to Israel, in 1973 we had been providing arms to the Arabs and the Israelis in very similar quantities.“ Edward Heath: The course of my life. My autobiography, London 1998, S. 501.
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Beendigung des Bergarbeiterstreiks. Eine großangelegte Reform des Regierungsapparats rückte in diesem Kontext in eine ferne Zukunft. Dass der Bericht der Royal Commission dennoch einflussreich und das politische Projekt der Devolution für die schottischen und walisischen Landesteile nicht begraben wurde, lag an dem Wahlerfolg der SNP und Plaid Cymrus in den beiden Parlamentswahlen des Jahres 1974. Im Februar erreichten die schottischen Nationalisten sieben Sitze, die walisischen Nationalisten zwei Sitze. Im Oktober des Jahres konnte die SNP insgesamt elf Mandate für sich verbuchen, Plaid drei. Alarmierenderweise war die SNP darüber hinaus in 42 Wahlkreisen an zweite Stelle gerückt⁵⁷: Die SNP war erstmals mit einem bewusst sozialdemokratischen Programm in den Wahlkampf gezogen und begab sich damit einmal mehr in direkte Konkurrenz zu Labour in Schottland.⁵⁸ Nach einer Wahl, in der keine der beiden großen Parteien eine Mehrheit für sich verbuchen konnte, erreichte das Thema der Devolution daher verstärkte Aufmerksamkeit. Die Wahlgewinne der SNP im Frühjahr 1974 veranlassten die Labour-Regierung, gegen zum Teil deutlichen Widerstand aus den eigenen Reihen, die Einführung von Devolution zum Regierungsprogramm zu machen. Der Umgang der Londoner Parteizentrale mit dem abtrünnigen Scottish Council of the Labour Party, der Teilorganisation der Labour Party in Schottland, steht hierfür exemplarisch. Denn nach dem Sieg Labours im Februar stimmte der Council nur wenige Wochen später für die Aufnahme von Devolution in das Parteiprogramm. Als jedoch im Juni des Jahres in einer erneuten Abstimmung des Council, die zeitgleich zu einem Spiel der schottischen Fußball-Nationalmannschaft angesetzt worden war, diese Entscheidung wieder rückgängig gemacht wurde, übte die Londoner Parteizentrale erfolgreich Druck aus, diese Entscheidung ihrerseits in einer dritten Abstimmung erneut rückgängig zu machen und am Ziel der Devolution festzuhalten.⁵⁹ Der Gesinnungswandel vieler Abgeordneter der Labour-Partei war in ähnlicher Weise von taktischen Überlegungen motiviert. Es war daher kein Zufall, dass die beiden Berichte der Royal Commission on the Constitution nach dem Wahlsieg Labour 1974 wieder hervorgeholt wurden. Angesichts dieser uneindeutigen Empfehlungen der Kommission, des offensichtlichen Zeitdrucks sowie der unterschiedlichen Ansichten, die innerhalb der Labour Party in Bezug zu Home Rule bestanden, überrascht es zunächst wenig, dass vor allem diejenigen Aspekte des Berichts in der politischen Debatte auf Vgl. Devine: The Scottish nation, S. 575 – 576. Vgl. Stephen Maxwell: Social Justice and the SNP, in: Gerry Hassan (Hrsg.): The modern SNP: from protest to power, Edinburgh 2009, S. 120 – 133, hier S. 121. Allerdings nicht ohne dabei Zugeständnisse an den Scottish Council in der Arbeitsmarktpolitik zu machen. Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 141– 142.
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gegriffen wurden, die dem bestehenden Diskussionsrahmen am ehesten entsprachen. So wurde bereits im Juni des Jahres 1974 von der Regierung Wilson ein Konsultationsdokument publiziert, auf das im September des Jahres – drei Wochen vor der Neuwahl des Parlaments – ein Weißbuch folgte. In ihm legte sich die Regierung auf folgende Grundprinzipien fest: die Einführung von gewählten Versammlungen („assemblies“) in Schottland und in Wales auf Basis eines Mehrheitswahlrechts, wobei die schottische legislative Funktionen, die walisische nur exekutive Befugnisse erhalten sollte. Das Recht, Steuern zu erheben, sollte der Zentralregierung in Westminster vorbehalten bleiben; die Regionalparlamente sollten mithilfe einer Pauschalzuweisung finanziert werden. Die Regierung verpflichtete sich darauf, dass die Anzahl schottischer wie walisischer Abgeordneter im House of Commons nach der Einführung der beiden Unterparlamente nicht gekürzt werden sollte, ebenso würden die Kabinettspositionen der Minister für Schottland und Wales erhalten bleiben. Überlegungen über die Einführung von Devolution für England sollten aufgeschoben, aber nicht aufgehoben und bei passender Gelegenheit debattiert werden.⁶⁰ Labour hatte sich angesichts der Wahlerfolge der nationalistischen Parteien nun deutlich zu dem Projekt der Devolution bekannt, auch wenn breite Teile des Kabinetts dem Projekt mehr als skeptisch gegenüberstanden. Innenminister Roy Jenkins soll angesichts der Leichtfertigkeit, mit der das Thema behandelt wurde, ausgerufen haben: „You cannot break up the United Kingdom in order to win a few seats in an election.“⁶¹ Obgleich unter Zeitdruck verabschiedet, blieben diese Prinzipien im Wesentlichen die Grundlage sowohl für die Devolutionsgesetzgebung von 1978 als auch für den Scotland Act und Government of Wales Act von 1998, in denen die Labour Regierung Tony Blairs sie nur geringfügig abwandeln sollte.⁶² In einem weiteren, im Jahre 1975 veröffentlichten Weißbuch wurden diese Prinzipien zu einem Gesetzesvorschlag ausgearbeitet. Dieser stellte in vielerlei Hinsicht eine Minimallösung dar: Alle größeren wirtschaftlichen, industriellen und finanziellen Befugnisse blieben dem House of Commons vorbehalten. Der Gang der Scotland and Wales Bill durch das Parlament in Westminster gestaltete sich alles andere als glatt.⁶³ Obwohl der Gesetzesentwurf die Abstimmung nach dem Second Reading im Dezember 1976 mit einer überparteilichen Mehrheit von 45 Stimmen noch komfortabel überstand, brachen in der darauf
Vgl. Democracy and devolution. Proposals for Scotland and Wales 1974, Cmnd. 5732, London 1974. Zit. nach Edmund Dell: A hard pounding. Politics and economic crisis 1974– 1976, Oxford 1991, S. 51. Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 179. Zum Gang der Scotland and Wales Bill durch das House of Commons vgl. ebd., S. 179 – 183.
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folgenden Ausschussphase die Differenzen nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb Labours deutlich hervor. Denn als es darum ging, die Diskussionszeit der Bill zu beschränken, hatten sich die Mehrheitsverhältnisse geändert. Die konservativen Befürworter des Gesetzesentwurfs waren wieder in das eigene politische Lager zurückgekehrt, die Liberalen hatten inzwischen ihre Unterstützung zurückgezogen und die Regierung konnte sich nicht auf die Stimmen aller ihrer Abgeordneten verlassen. Allein die nationalistischen Parteien stützten den Regierungskurs. Die Regierung verlor die für den parlamentarischen Erfolg der Bill zentrale Abstimmung im Februar 1977 mit 29 Stimmen: 22 Labour MPs hatten gegen den Antrag gestimmt, 23 sich enthalten. Der Gesetzesentwurf Labours war damit erst einmal gescheitert. Auch wenn die Royal Commission on the Constitution als politischer Notnagel geplant war, sollte sich die groß angelegte Untersuchung der Verfassungs- und Regierungsstruktur des Vereinigten Königreichs als Grundstein für die in den 1970er Jahren in Westminster und Whitehall geführte Debatte über eine Reform des Regierungssystems erweisen. Die Debatte über schottischen und walisischen Nationalismus war dabei fest in mehrere übergreifende Deutungsstränge eingebunden, die sich in den zwei Bänden des Kommissionsberichts spiegelten. Beide Berichte lieferten auf ihre Weise einflussreiche Deutungen des verfassungspolitischen Status quo im Vereinigten Königreich, die auf unterschiedliche Konzeptionen staatlicher Verfasstheit verweisen. Im Folgenden werden die Narrative von Devolution und umfassender Umgestaltung des Regierungsapparates in ihren jeweiligen Debattenkontext eingeordnet, um genauere Aussagen über die verfassungsrechtliche Dimension des britischen sozialen Imaginären treffen zu können.
2 Devolution und das constitutional settlement: Staat, Wirtschaft und die Nationen des Vereinigten Königreichs Die Analyse des Mehrheitsberichts baute auf zwei Faktoren auf: der kulturellen Andersartigkeit der schottischen und walisischen Landesteile des Vereinigten Königreichs sowie dem Zusammenhang von wirtschaftlicher Lage und Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem Regierungsapparat. Ein dritter Faktor wurde eher im Vorbeigehen erwähnt: Mit dem Ende des Empire und der damit einhergehenden reduzierten internationalen Bedeutung des Vereinigten Königreichs entfalle auch die Notwendigkeit für eine „tight union at home as a base for ex-
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ternal expansion“.⁶⁴ Während die Themenbereiche Wirtschaftslage sowie Dekolonisation Veränderungsprozesse ansprechen, die seit den 1950er, besonders aber seit den 1960er Jahren deutliche Auswirkungen auf den britischen Staat und die britische Gesellschaft hatten, verweist der Topos der kulturellen Andersartigkeit von Schotten und Walisern auf die zeitgenössisch vertretenen Nationsvorstellungen sowie deren Verhältnis zu den staatlichen Strukturen des Vereinigten Königreichs. Diese Themen wurden jedoch nicht nur von der Royal Commission diskutiert, sondern verwiesen auf je eigene Diskussionsstränge, die im Folgenden dargelegt werden.
Nationalität als Kennzeichen des sozialen Imaginären Die Vorstellung, Schotten und Waliser verfügten über eine ihnen jeweils eigene nationale Identität, stand im Zentrum des Mehrheitsberichts, aber auch vieler zeitgenössischer Erklärungsansätze: So gründete das im Mehrheitsbericht der Royal Commission on the Constitution vertretene Protestwahl-Argument auf der Annahme eigener Nationalismen in Schottland und Wales.⁶⁵ Auch in den Beratungen der Minister galt die schottische und walisische nationale Eigenständigkeit als unbestritten. Diese Lesart stützte sich damit auf eine etablierte Sichtweise des Verhältnisses der einzelnen Landesteile zueinander; mehr als möglicherweise das Memorandum of Dissent, dessen Vorschläge sich letztlich auch nicht durchsetzen konnten. Dabei wurde in der zeitgenössischen Auseinandersetzung vor allem im Vergleich zu England das Nationalgefühl der Schotten und Waliser hervorgehoben. So argumentierte Peter Shore als neuer Secretary of State for the Environment in einem im Kabinett zirkulierten Entwurfspapier im August 1976, dass sich Schottland und Wales bezüglich ihres Nationalgefühls von England unterschieden: „The sense of nationhood in Scotland and Wales, which in Scotland has been sharpened by North Sea Oil, has no parallel in the English regions whose separate identities and loyalties are different from a sense of nationalism.“⁶⁶ Noch deutlicher formulierte es ein internes Informationspapier, das die Minister auf mögliche Fragen nach der Publikation des Weißbuchs „Our changing
Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 20, §64. Dessen Analyse der Gesetzgebungs- und Regierungsprozesse in Bezug auf die „several countries, nations and regions“ des Vereinigten Königreichs vertrat die Annahme, dass sowohl Schottland als auch Wales eine jeweils eigene nationale Identität besäßen. Vgl. ebd., S. 102 §331, §346. Secretary of State for the Environment: Draft. Devolution and England, The National Archives, London, HO 328/396, 13. 8.1976.
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democracy“ 1975 vorbereiten sollte. So wurde auf die Frage, weswegen die Regierung sich der Reform des Regierungssystems für Schottland und Wales vor der Englands widme, folgende Antwort vorgesehen: There is already a strong sense of separate national identity in Scotland and Wales. Their boundaries are clear; and they already have substantial institutions of government under the Secretaries of State for Scotland and Wales on which we can build. The interests of England will continually be borne in mind.⁶⁷
Der Central Policy Review Staff, Think Tank im Cabinet Office, brachte es in einem internen Entwurf auf den Punkt: „Devolution to Scotland and Wales has a nationalist dimension which is lacking in England (however strong the sense of regional identity may be in some areas).“⁶⁸ Dabei unterschieden sich die Vorstellungen über das schottische und walisische Nationalbewusstsein doch grundlegend. Das walisische Nationalbewusstsein galt zeitgenössisch als kulturell und geographisch auf bestimmte Teile von Wales begrenzt. Alan Butt Philip führte dies 1975 auf die Topographie des Landes zurück, werde Wales doch durch ein Bergmassiv in einen nördlichen und südlichen Teil getrennt, was sich durch den ausgeprägten allgemeinen Gegensatz zwischen Stadt und Land noch verschärfe.⁶⁹ Wales unterscheide sich nicht administrativ, sondern kulturell von England. Bezugspunkt war hierbei die Sprache und eine nonkonformistische Tradition. Der Autor fasste die Ambivalenz, die zeitgenössisch einer spezifisch walisischen Kultur zugesprochen wurde, wie folgt zusammen: The Welsh culture […] is a combination of customs and social institutions, principally expressed in the spheres of literature and religion and frequently articulated through the medium of the Welsh language. […] It could be argued that there is nothing specially Welsh about the features that distinguish Wales from England, and that these features are characteristic of many rural societies in the European world. However, it is in relation to English culture that the distinctiveness of Welsh culture needs to be judged, for it is this contrast with the English culture that gives the Welsh and their culture their dynamism. This arises from the awareness of its separate identity and the need to buttress it in the face of strong, all-pervading competition from England, in particular, and the English-speaking world.⁷⁰
J. L. Bantock: Brief an J M Ross Esq., Briefing for publication of the White Paper, The National Archives, London, FCO 49/601/117, 21.11.1975. Central Policy Review Staff: Draft Brief. Devolution and England, The National Archives, London, BD 108/223/18, 5. 3.1976. Vgl. Philip: The Welsh question, S. 23. Ebd., S. 41.
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Walisische Nationalisten der 1960er und 1970er bezogen sich weiterhin auf die walisische Kultur und Sprache, deren Bewahrung für sie immer noch ein wichtiges Ziel darstellte. Interessenverbände wie die Cymdeithas Yr Iaith Gymraeg, die Welsh Language Society, setzten sich seit den frühen 1960er Jahren für bilinguale Verkehrsschilder, aber auch für soziale Belange ein, beispielsweise preiswerte Mieten im Sozialwohnungswesen.⁷¹ Bevorzugtes Mittel des Protestes war die sogenannte „direct action“, gewaltfreie Protestaktionen wie sit-ins, mit denen die Mitglieder auf ihr Anliegen aufmerksam machen wollten.⁷² Schottische Nationalisten hingegen bezogen sich nicht nur auf die kulturelle Eigenständigkeit Schottlands, sondern auch auf sein unabhängiges Rechts- und Bildungssystem sowie seine Kirche. Im Gegensatz zu Wales, das von der englischen Krone bereits im 13. Jahrhundert annektiert worden war, hatte Schottland nach den Acts of Union des Jahres 1707 ein eigenständiges Rechtssystem behalten. Unter den Bestimmungen der Unionsakte blieben die obersten schottischen Zivilund Strafgerichte, der Court of Session sowie der Court of Justiciary bestehen; ebenso wie das Scots Law, das im Gegensatz zum englischen Common Law stärkere Einflüsse des Römischen Rechts verbuchte und dessen Unterschiede sich vor allem im Eigentums- und Strafrecht sowie im Erb- und Familienrecht zeigten.⁷³ Die schottische Lokalverwaltung unterschied sich deutlich von den Strukturen in England und Wales.⁷⁴ Das Bildungssystem galt seit dem 18. Jahrhundert als eine Stärke Schottlands: Trotz teils gegenteiliger Studien hielt sich dieses Narrativ, das sich auf eine besonders hohe Lesefähigkeit und universitärer Forschung dieser Zeit berief.⁷⁵ Auch die Kirche unterschied sich deutlich von ihrem englischen Nachbarn: Der kulturelle und institutionelle Presbyterianismus, zum Teil verbunden mit antikatholischen Strömungen, war trotz zunehmend säkularer Ten-
Vgl. Janet Davies: The Welsh language. A history, 2. Aufl., Cardiff 2014, S. 120 – 121. Ein weiteres Ziel war die Einrichtung eines walisischsprachigen Fernsehsenders. Dieser wurde schließlich von der Regierung Thatcher im Jahre 1982 nach einer erbitterten Kampagne der Nationalisten als öffentlich-rechtlicher Kanal S4C als Teil von Channel 4 etabliert. Zur Geschichte der Acts of Union vgl. Allan I. MacInnes: The Treaty of Union: Made in England, in: Thomas M. Devine (Hrsg.): Scotland and the Union 1707– 2007, Edinburgh 2008, S. 54– 74. Vgl. King: The British constitution, S. 44. Zum Narrativ der Exzellenz schottischer Bildung vgl. Margaret M. Clark: Education in Scotland: setting the scene, in: Margaret M. Clark und Pamela Munn (Hrsg.): Education in Scotland: policy and practice from pre-school to secondary, London 1997, S. 1– 14, hier S. 3; Lindsay Paterson: Policy-making in Scottish education. A case of pragmatic nationalism, in: Margaret M. Clark und Pamela Munn (Hrsg.): Education in Scotland: policy and practice from pre-school to secondary, London 1997, S. 111– 124; I. D. Whyte: Scotland before the Industrial Revolution: an economic and social history, c1050-c1750, London; New York 1995, S. 244.
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denzen auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch spürbar.⁷⁶ Diese institutionelle Eigenständigkeit wurde von Regierungsmitgliedern, aber auch in der publizistischen Auseinandersetzung als Begründung dafür verwendet, Wales und Schottland politisch unterschiedlich zu behandeln.⁷⁷ Ivor Gowan, Professor der Politikwissenschaften in Aberystwyth, befasste sich in einer Reihe von Leserbriefen in der Tageszeitung The Times mit den Devolutionsplänen für Wales. In einem im Januar 1976 veröffentlichen Beitrag hielt er die Unterschiede der beiden Landesteile fest: Wales, unlike Scotland has never possessed the apparatus of a renaissance or a modern state, i. e. an executive whether monarchical or ministerial, a legislature or a legal system. Politically Wales has no real identity; it is an integral part of the British state. Secondly, Wales has little economic identity. The lines of communication in Wales, by road and rail run from West to East, and not from North to South. In terms of industry, commerce and social organisations the three regions of Wales are far more closely linked with the adjacent regions of England than they are with each other.⁷⁸
Walisische Traditionen, Geschichte und Sprache, die traditionellen Argumente walisischer Nationalisten, seien hingegen auf eine geringe Minderheit in peripheren Regionen begrenzt. Gowan folgerte daraus, dass die Idee, die walisische Bevölkerung bilde eine „nationale Entität“, an der Realität vorbeigehe. Nur ein Drittel alle Waliser spreche die walisische Sprache, drei Viertel der Bevölkerung von Wales könnten mit solchen historischen und kulturellen Argumenten für eine walisische nationale Identität wenig anfangen.⁷⁹ Gowan war sich bewusst, dass seine Ansichten kontrovers aufgenommen werden würden, und tatsächlich hob er sich mit dieser skeptischen Haltung deutlich von der nationalen Position ab, wie sie beispielsweise von dem konservativen Politiker Peter Thomas vertreten wurde, der im Kabinett Edward Heaths den Posten des Secretary of State for Wales bekleidetet. Der Waliser vertrat in einer öffentlichen Rede die Position, dass Wales unzweifelhaft eine Nation sei, denn: „Wales believes itself to be a nation and to have a special identity as a nation; by those very tokens it is a nation.“⁸⁰ Großbritannien müsse als „partnership of three nations“ verstanden werden, die zu-
Vgl. Cameron: Impaled upon a thistle, S. 226 – 231. Vgl. beispielsweise D. Morgan: Minute an Mr Dewar. Advice to the Sovereign, The National Archives, London, BD 108/378, 6.9.1973. Ivor Gowan: Brief an die Herausgeber von The Times, The National Archives, London, BD 56/ 13, 13.1.1976. Ebd. Peter Thomas: Swinton Conference in the Constitution, Address by the Secretary of State, The National Archives, London, BD 108/378, o. Datum, aber vor dem 23. 3.1973.
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sammengekommen seien, um gemeinsam zu leben und zu arbeiten, und dies über die letzten Jahrhunderte zum großen Teil auch getan hätten. ⁸¹ In diesem Verhältnis von Nation zu Staat lag auch der Kern des Konflikts: Es bestanden, wenig verwunderlich, unterschiedliche Auffassungen darüber, in welchem Verhältnis die einzelnen Nationen innerhalb des Staates des Vereinigten Königreichs zueinander standen. Der Mehrheitsbericht der Royal Commission fasst das Dilemma unterschiedlicher Ansichten wie folgt zusammen: Most Englishmen would probably be surprised to hear the United Kingdom spoke of as a multi-nation state. What many Scots and Welshmen consider a partnership of nations, the average Englishman tends to regard as one nation comprising different kinds of people. For him, the United Kingdom is a whole patchwork of communities. […] All have British nationality, and he will not think of a separate Scottish or Welsh nationality except as something belonging to history and having no present-day political significance.⁸²
Stellte das Vereinigte Königreich für schottische und walisische Nationalisten einen Staat basierend auf einer Partnerschaft unterschiedlicher Nationen dar, betrachteten der Kommission zufolge Engländer die britische Nationalität als die bestimmende. Dass die Kommission ihrerseits nicht frei von Scheuklappen war, zeigt sich daran, dass sie Nordirland in dieser Darstellung ausklammerte, das jedoch ebenso wie Schottland und Wales integraler Bestandteil des United Kingdom ist. Jedoch war es von dieser Feststellung der unterschiedlichen Haltungen zum Vereinigten Königreich nur noch ein kleiner Schritt zu der Frage, welchen Stellenwert eine britische nationale Identität in Bezug zu den schottischen oder walisischen nationalen Identitäten hatte. Der Politologe Richard Rose stellte dies bereits 1982 fest: The national identities of the people of the United Kingdom are multiple, not singular. Most English people do not think that there is any difference between being English and being British. But most Scots, Welsh and Ulster people feel a difference between their land and the United Kingdom; they are proud of both their national identity and being British.⁸³
Die Erfolge der nationalistischen Parteien sowie die in Reaktion darauf von Labour und Konservativen ergriffenen Maßnahmen bewirkten jedoch mehr als nur ein Umdenken in der politischen Strategie. Sie führten vielmehr dazu, dass die territoriale Dimension der Regierungspolitik stärker beachtet wurde. Die Politiker von
Vgl. ebd. Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 102 §331. Richard Rose: Understanding the United Kingdom. The territorial dimension in government, London 1982, S. 2.
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Konservativen und Labour standen weniger vor dem Problem, dass es bis dahin keine auf nationalen Begründungen basierenden Partikularinteressen gegeben hätte. Dass Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichem Nationalbewusstsein im UK lebten, stellte für sich genommen nichts Neues dar. Im Gegenteil: Neben dem in Nordirland praktizierten Stormont-System waren die Interessen der Schotten und Waliser bereits durch jeweils eigene Minister abgedeckt worden. Deren Posten waren im schottischen Fall bereits 1885, für Wales erst 1964 eingerichtet worden und verfügten über jeweils unterschiedliche Kompetenzen: Bis zur Schaffung eines eigenen schottischen Parlaments 1999 war das Scottish Office unter der Leitung des Secretary of State for Scotland für die meisten Belange nördlich der Grenze zuständig. Diese hatten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts deutlich ausgeweitet und umfassten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bildung, Rechtswesen, Landwirtschaft,Wirtschaftsförderung, Umwelt, Gesundheitswesen,Wohnungsbau, Planung und Transport.⁸⁴ Während das Scottish Office über breite, historisch gewachsene Kompetenzen verfügte, waren die des Secretary of State for Wales begrenzter. Letzterer hatte anfangs vor allem die Aufgabe, die Arbeit anderer Ministerien zu kommentieren, gewann aber in den darauffolgenden Jahren weitere Befugnisse dazu.⁸⁵ Die Wahlerfolge von Plaid Cymru und der SNP hatten in dieser Sichtweise daher das Potential, dieses über die Jahrzehnte sorgsam austarierte politische Gleichgewicht zu stören, und erforderten daher in der Logik, der die beteiligten Politiker folgten, bestimmte Gegenmaßnahmen.
Wirtschaft und Industrie als Bestandteile des sozialen Imaginären War die kulturell, sozial und institutionell begründete nationale Sonderstellung Schottlands und Wales’ der ideelle Ausgangspunkt des Mehrheitsberichts, stellte der industrielle Strukturwandel und die wirtschaftliche Lage den Faktor dar, der die schottischen und walisischen Ressentiments habe wachsen lassen.⁸⁶ Dabei erfreut sich das Thema der britischen Wirtschaftsleistung und Wirtschaftskraft bis heute auch historiographisch besonderer Beliebtheit.⁸⁷ Sie kann dabei in die
Vgl. Peter Lynch: Scottish government and politics, Edinburgh 2001, S. 28. Vgl. Russell Deacon: Devolution in the United Kingdom, Edinburgh 2012, S. 130. Vgl. Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 25 – 26. Neben der historiographischen Debatte über den „British Decline“, in der das Thema der britischen Wirtschaftsleistung eine zentrale Rolle spielte, zeigt sich das Interesse an wirtschaftlichen Fragestellungen auch in neueren Überblickswerken. In Lawrence Blacks und Hugh Pembertons Sammelband über die 1970er nehmen wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen
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Geschichte des industriellen Strukturwandels eingeordnet werden, der eine Vielzahl von westlichen Ländern vor allem seit den 1960er Jahren betraf.⁸⁸ Der Begriff des „industriellen Strukturwandels“ stand dabei für eine Vielzahl verschränkter Transformationsprozesse, in dem die traditionelle, schwerpunktmäßig auf das produzierende Gewerbe ausgerichtete Industriestruktur nicht nur relativ am britischen Bruttosozialprodukt abnahm, sondern auch absolut als Wirtschaftszweig schrumpfte. So verzeichnete Werner Abelshauser im Zeitraum von 1973 und 1988, dass der prozentuale Anteil von Arbeitern im industriellen Sektor von 42 % auf 30 % aller Arbeitnehmer sank, während ihre absolute Zahl um mehr als ein Drittel abnahm.⁸⁹ Zeitlich etwas versetzt wuchs die Bedeutung des Dienstleistungssektors für die britische Wirtschaft. Hinter dieser Formel verbergen sich regionale Verschiebungen: Denn bereits seit den späten 1950er Jahren waren im Nordosten Englands eine deutliche Anzahl von Zechen geschlossen worden, auch die Textil- und Schiffbauindustrie geriet bereits in dieser Zeit unter Druck. So schrumpfte beispielsweise die Bergbauindustrie im Nordosten Englands zwischen 1959 und 1970 von 163 auf nur noch 50 Betriebe, im gleichen Zeitraum verringerte sich die Zahl der Bergleute von 130 000 auf 48 000.⁹⁰ Um den Wandel in der britischen Industrie, aber auch Gesellschaftsstruktur zu verdeutlichen, hält Andrew Rose in seiner Sozialgeschichte „britischer Lebensweise“ fest, dass im Jahre 1995 die 10 000 indischen Restaurants des Landes mehr Umsatz verzeichneten als die ehemaligen Kernindustrien von Kohle, Stahl und Schiffbau zusammen.⁹¹ Auch wenn sich diese Verschiebungen in der britischen Industriestruktur bereits wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs angekündigt hatte, wurden die Auswirkungen dieser tiefgreifenden Veränderungen erst in den 1970er und 1980er Jahren deutlich. Die Veränderungen in der Weltwirtschaft, im Bereich der Finanzmärkte allen voran durch den Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse von Bretton Woods, die sich daraus ergebenden Verschiebungen im seit 1945 mühevoll austarierten Weltwährungs- und Außenhandelssystems sowie beispielsweise die Hälfte der Beiträge ein. Vgl. Lawrence Black, Hugh Pemberton und Pat Thane: Reassessing 1970s Britain, Manchester 2013. Vgl. beispielsweise Andresen, Bitzegeio und Mittag (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch; Arnold: ‚De-industrialization‘; Marx: Multinationale Unternehmen in Westeuropa. Vgl. Gerold Ambrosius: Ursachen der Deindustrialisierung Westeuropas, in: Werner Abelshauser (Hrsg.): Umweltgeschichte: Umweltverträ gliches Wirtschaften in historischer Perspektive, Göttingen 1994, S. 191– 221, hier S. 194. Vgl. Gerald Wood: Die Umstrukturierung Nordost-Englands. Wirtschaftlicher Wandel, Alltag und Politik in einer Altindustrieregion, Dortmund 1994, S. 138. Vgl. Andrew Rosen: The transformation of British life, 1950 – 2000. A social history, Manchester 2003, S. 20.
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die Folgen der Ölkrisen von 1973 und 1979 führten dazu, dass sich die britischen Betriebe und Produkte neuen Konkurrenzverhältnissen ausgesetzt sahen, die deutlich harscher waren als zuvor.⁹² Nicht alle konnten in diesem Klima des verstärkten Wettbewerbs überleben, und Regierungen von Konservativen wie auch Labour wurden zunehmend unwillig, strauchelnde Betriebe – auch angesichts zunehmenden gewerkschaftlichen Widerstands – finanziell zu unterstützen. Diese Entwicklung gipfelte in der Wahl Margaret Thatchers zur Premierministerin, die mit einem expliziten wirtschaftlichen Erneuerungsprogramm angetreten war, mit dem die britische Wirtschaft nicht nur saniert werden sollte, sondern auch ein grundlegender Umbau der britischen Sozialordnung angestrebt wurde.⁹³ Sozialwissenschaftler prägten für diesen Prozess des industriellen Strukturwandels zeitgenössisch den Begriff der Deindustrialisierung. Die Ökonomen Robert Bacon und Walter Eltis verwendeten den Begriff zunächst in ihrer Analyse der wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens und der Entwicklung ihrer damalig populären Crowding out-Theorie.⁹⁴ Aber schon bald wurde der Begriff zu einem Schlagwort, das den Niedergang einer ehemaligen Industriemacht zu einem Land ohne industrielle Basis und weltpolitischer Bedeutung beschrieb⁹⁵, und somit zum Signum des Diskurses über den „British Decline“.⁹⁶ In diesem Begriff bündelten sich daher nicht nur die Vorhersagen über die weitere Entwicklung der Wirtschaft des Vereinigten Königreichs, sondern auch über deren katastrophale soziale Folgen. „Industrial change“ und „de-industrialisation“ dienten Aktivisten und politischen Akteuren aller Parteien als Deutungsmuster, das ihnen ermöglichte, eigene Handlungsstrategien zu formulieren. Die durch diese Wandlungsprozesse der Industriestruktur verursachten Probleme für den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem des Vereinigten Königreichs waren strukturell und regional gegliedert.Während eine große Anzahl angelernter
Zu den Verschiebungen im internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem vgl. überblicksmäßig Tony Judt: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 509 – 523. Vgl. Dominik Geppert: Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975 – 1979, München 2002, S. 95 – 138; Ian Budge: Relative decline as a political issue: ideological motivations of the politico-economic debate in post-war Britain, in: Contemporary Record 7/1993, S. 1– 23; Robert Saunders: ‚Crisis? What crisis?‘ Thatcherism and the seventies, in: Ben Jackson und Robert Saunders (Hrsg.): Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S. 25 – 42. Vgl. Robert William Bacon und Walter Eltis: Britain’s economic problem: too few producers, London 1976; Kevin Hickson: Economic thought, in: Anthony Seldon und Kevin Hickson (Hrsg.): New Labour, old Labour, London 2004, S. 34– 51, hier S. 38 – 40. Vgl. Arnold: ‚De-industrialization‘, S. 37. Zum Diskurs des Declinism vgl. Gamble: Theories and explanations of British decline; Tomlinson: The politics of decline; Ebke: The party is over; Edgerton: The decline of declinism; Levine: Decline and vitality; English und Kenny: Conclusion.
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und ungelernter Arbeiter in den traditionellen Industrien in den West Midlands, dem Norden Englands und den industriellen Teilen von Wales und Schottland gearbeitet hatten, waren in den zunehmend wachsenden Dienstleistungssektoren wie dem Bankenwesen oder den Hochtechnologiebranchen von Elektrotechnik, Telekommunikation und Pharmazie zunehmend höher qualifizierte Arbeitskräfte gefragt. Die neuen Betriebe siedelten sich zudem vor allem im Südosten Englands an, mit London und East Anglia als die bevorzugten Plätze.⁹⁷ Zudem konnte Wachstum im Dienstleistungssektor nicht den Wegfall der Arbeitsplätze in den traditionellen Industrien ausgleichen.⁹⁸ Der Wandel in der Industriestruktur des United Kingdom führte also zu einer regionalen Umverteilung wirtschaftlicher Leistungskraft, bei der Schottland und Wales sich auf der Verliererseite wiederfanden. Die nordirische Wirtschaft war hingegen nicht nur durch die Transformationen der Industriestruktur, sondern zusätzlich auch durch den seit 1968 blutig geführten Bürgerkrieg geschwächt. Der Schwerpunkt von wirtschaftlichen Rezessionen wie die im Zuge der Ölkrisen 1973 und 1979 konzentrierte sich daher in den sogenannten „keltischen“ Landesteilen sowie im Norden Englands, während der wirtschaftliche Aufschwung zunehmend der City of London sowie dem Dienstleistungssektor zugutekam.⁹⁹ Angesichts dieser regionalen Neuordnung der britischen Wirtschaft ist es nicht verwunderlich, dass im Zusammenhang mit Schottland vor allem von Anfang bis Mitte der 1970er Jahre das Thema der in der Nordsee angesiedelten Ölfelder besondere Aufmerksamkeit erhielt. Deren Förderung versprach immense wirtschaftliche Vorteile; ein Versprechen, das auch die Royal Commission zu folgender Aussage bewog: exploitation of oil will have a significant effect on many aspects of the Scottish economy. It may, for example, transform the position in at least parts of the largest problem area in Scotland – the Highlands and Islands – which covers 47 per cent. of the land but has a population of only about 280 000 and has contributed only about 4 per cent. of the Scottish national income.¹⁰⁰
Seit 1965 wurde Erdgas vor der Küste von East Anglia gefördert, und 1969 wurde ein kommerziell rentables Ölfeld im norwegischen Sektor der Nordsee entdeckt.¹⁰¹
Vgl. Paul Addison: No turning back. The peacetime revolutions of post-war Britain, Oxford 2010, S. 331. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 332. Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 26, §85. Zur Geschichte der Ölförderung in Schottland vgl. Christopher Harvie: Fool’s Gold. The story of North Sea oil, London 1994; Alex Kemp: The official history of North Sea oil and gas, London
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Erste Hochrechnungen sagten eine Förderleistung von rund 12 Millionen t Öl jährlich für das Jahr 1980 vorher, die dann bald auf 158 Millionen t Öl nach oben korrigiert wurden.¹⁰² British Petroleum (BP), ein Ölkonzern, an dem der britische Staat zu diesem Zeitpunkt noch Mehrheitsanteile besaß, war im Jahre 1970 rund 110 Meilen nordöstlich von Aberdeen auf Öl gestoßen. Dieser Ölfund verwies auf ein Ölvorkommen vor den Ufern Schottlands, das als Forties Field bekannt werden sollte. Auch wenn die kommerzielle Förderung von Öl in großem Stil im Vereinigten Königreich noch einige Zeit auf sich warten lassen sollte, da schlicht die Infrastruktur fehlte, wurde die Ressource schon bald Teil der politischen Auseinandersetzung. Die SNP griff das Thema bereits 1971 auf und erhob es zum zentralen Punkt ihrer Wahlkampagnen ab 1972 – gerade in einer Zeit, in der Ölvorkommen und die Ölversorgung durch die sogenannte „Ölkrise“ des Herbstes 1973 mit besonderer Dringlichkeit versehen wurden. Unter dem Slogan „It’s Scotland’s Oil“ forderte die SNP, dass die kompletten Einnahmen aus der Ölförderung Schottland zugutekommen und die Förderung gedrosselt werden sollte, um die Laufzeit dieser lukrativen Einnahmequelle zu verlängern.¹⁰³ Neben diesen finanziellen Aspekten ging es in der Debatte zentral darum, ob und wenn ja, wie viel der Ölvorkommen zu Schottland gehörte. Entscheidend dafür war letztlich die Frage, welcher Maßstab zur Grenzziehung angelegt wurde. Die SNP argumentierte, dass eine Grenze auf 55°50’ nördliche Breite die Nordsee in einen schottischen und einen englischen Teil unterteilte. Rechtliche Legitimierung dieser Trennlinie war für Nationalisten der Continental Shelf Act aus dem Jahr 1964 und die Continental Shelf (Jurisdiction) Order aus dem Jahr 1968. In diesen Gesetzen wurden die Grenze der schottischen und englischen Jurisdiktion in der Nordsee entlang einer Linie festgelegt, die von dem Ort aus, an dem die schottisch-englische Landesgrenze auf die See traf, parallel zum Breitengrad verlängert wurde.¹⁰⁴ Nach dem Willen der SNP sollte Schottland die Kontrolle über alle Mineralvorkommen nördlich dieser Linie übernehmen. Politiker beider großer Parteien bestritten jedoch, dass diese Formalisierung juristischer Geltungsbereiche irgendeine wirtschaftliche oder politische Bedeutung habe. Aber auch wissenschaftlich war diese Festlegung zeitgenössisch umstritten. Der Politologe Geoffrey W. Lee beispielsweise wies bereits im Jahr 1976 darauf hin, dass die
2012; Geoffrey W. Lee: North Sea oil and Scottish nationalism, in: The Political Quarterly 47/1976, S. 307– 317; D. C. Watt: Britain and North Sea oil. Policies past and present, in: The Political Quarterly 47/1976, S. 377– 397; Harvie: Scotland and nationalism, S. 131– 133. Vgl. Harvie: Scotland and nationalism, S. 131. Vgl. Cabinet Office Constitution Unit: Scottish Devolution and North Sea Oil, The National Archives, London, CJ 4/746/4, 4. 2.1975. Vgl. Lee: North Sea Oil, S. 307– 308.
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Ölvorkommen in der Nordsee in internationalen Gewässern lagen. Dies habe schon in der Vergangenheit für Konflikte zwischen Staaten geführt, beispielsweise zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich über den Ärmelkanal.¹⁰⁵ Die Aufteilung des Nordseeöls sollte nach Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Den Haag von 1969 innerhalb der Anrainerstaaten gerecht aufgeteilt werden.¹⁰⁶ Mittel dieser Aufteilung war die Regel der Äquidistanz. Auf diese Weise wird eine Mittellinie durch Markierungspunkte gezogen, die sich in gleicher Entfernung vom nächsten Landpunkt eines jeden Staates befinden. Auch wenn sich der größte Teil des Öls in schottischen Gewässern befand, wurden die Forderungen der SNP jedoch aus Schottland selbst hinterfragt¹⁰⁷: Denn zwei Drittel der Mitte der 1970er Jahre bekannten Ölvorkommen lagen vor der Küste der Shetland-Inseln, die sich wiederum ihres skandinavischen Erbes sehr bewusst waren, politisch eine unionistische Position vertraten und gegen den europäischen Einigungsprozess stimmten.¹⁰⁸ Die Forderungen der Inseln führten die identitätsbasierten wirtschaftlichen Ansprüche ad absurdum, da sich immer kleiner Bevölkerungseinheiten finden ließen, die den wirtschaftlichen Aufschwung für sich beanspruchten.¹⁰⁹ Der Mehrheitsbericht der Kommission ordnete sich mit seiner Lesart in zwei miteinander verbundene Diskurse ein: den des wirtschaftlichen Niedergangs Großbritanniens, der Vorstellung des British decline, sowie den eines politischen und verfassungsrechtlichen Reformdiskurses. Die Sprache war die der politischen Reform mit dem Ziel der Modernisierung britischer Institutionen und schlussendlich der Wirtschaft und Industrie. Harold Wilson hatte dem Willen zur technologischen Modernisierung in der Wahl 1964 ein Gesicht und den Slogan der „white heat“ gegeben. Zwei Jahre zuvor hatte der britische Journalist Anthony Sampson mit seiner Analyse „Anatomy of Britain“ einen Überraschungserfolg
Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 308 – 309. Der Ölboom stellte sich für die schottische Wirtschaft als zweischneidiges Schwert heraus: Die ökonomische Struktur des Nordens und Nordosten Schottlands war weithin agrarisch geprägt mit nur wenig Industrie. Die Bevölkerungsdichte war zudem gering, sodass die durch die Ölförderung gestiegene Nachfrage nicht von lokalen Ressourcen gestillt werden konnte. Im Gegenzug führte jedoch eben jene Anregung der Wirtschaft dazu, dass sich die Lebenshaltungskosten deutlich erhöhten und auf diese Weise deutliche Nachteile für die ansässige Bevölkerung brachten. Zu diesen wirtschaftlichen und industriellen Bedenken gesellten sich naturschützerische Fragen, denn die Förderung der natürlichen Ölvorkommen vor der schottischen Küste waren mit deutlichen Eingriffen in die lokale Flora und Fauna verbunden. Nicht einmal der Schutz des National Trust schien noch ausreichend. Vgl. Harvie: Scotland and nationalism, S. 132. Vgl. Lee: North Sea Oil, S. 310. Vgl. ebd., S. 311.
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erzielt, in dem er das Fortdauern des traditionellen „Establishments“ bestehend aus old-boys-networks sowie gesellschaftlicher Trennlinien entlang Geburt, Klasse und Bildung diagnostizierte. Die Sorge vor der übermäßigen Zentralisierung der Regierungsaufgaben galt in dem Zusammenhang dieses Modernisierungsdiskurses als Hindernis effektiver Regierungsarbeit.Vor diesem Hintergrund ordnete die Kommission durch die Verbindung von wirtschaftlichem Declinism mit verfassungsrechtlichen Reformdebatten den Erfolg des schottischen und walisischen Nationalismus als eine Reaktion auf gebrochene Versprechen der Regierung Wilson ein: Die Wahlerfolge der nationalistischen Parteien wurden auf diese Weise als eine Retourkutsche der Wähler gedeutet. Die Währungskrise und die Abwertung des Pfundes 1967, der Umgang der Labour-Regierung mit den Gewerkschaften sowie eine unsichere Wirtschaftslage führten zu einem Klima, in der der wirtschaftliche Aufschwung und fortdauernde Vollbeschäftigung zunehmend als unsicher angesehen wurden.¹¹⁰
Das Empire als Teil staatlicher Verfasstheit Die Autoren des Mehrheitsberichts erwähnten nahezu im Vorbeigehen einen weiteren Faktor, der die Wahlerfolge nationalistischer Parteien erklären könne: die Dekolonisation.¹¹¹ Verteidigungspolitisch und wirtschaftlich verlasse sich das Land nicht mehr auf sich selbst, sondern suche nun Unterstützung bei internationalen Organisationen. Der Report kommentierte dazu: „These changes have, by an inevitable process, caused people to question what has for so long been taken for granted.“¹¹² Die Kommission sprach damit ein Thema an, das im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre sich als dauerhaftes, wenn auch umstrittenes Interpretament britischer Geschichte nach Ende des Zweiten Weltkriegs etablieren sollte. Die These war dabei weniger wirklich neu, sondern erlangte in dem veränderten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und internationalen Klima neue Prominenz. So hatte bereits Andrew Dewar Gibb, seinerzeit Regius Professor for Law an der Universität Glasgow und Mitglied der SNP, im Jahre 1937 das Argument vertreten, dass „the existence of the Empire […] the most important factor in securing the relationship of Scotland and England in the last three centuries“¹¹³ gewesen sei. Mit den Wahlerfolgen der SNP und dem nahezu abgeschlossen scheinenden
Zur Enttäuschung der Wähler vgl. Mitchell: Scottish nationalism, S. 196. Vgl. Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 20, §64. Ebd. Vgl. Andrew Dewar Gibb: Scottish Empire, London 1937, S. 311.
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Prozess der Dekolonisation in den 1950er und 1960er Jahren erlangte dieses Narrativ wieder verstärkt an Aufmerksamkeit. So bezeichnete die Journalistin Jan Morris die Union denkwürdig als „grubby wreck of old glories“. Denn mit der Dekolonisation nehme auch der Stolz auf das ehemalige Kolonialreich ab, das die Nationen des Vereinigten Königreichs zusammengehalten habe.¹¹⁴ Die vorgebrachten Argumente reichten dabei von unbestimmten und verallgemeinernden Gefühlsbeschreibungen bis hin zur neomarxistischen Gesellschaftsanalyse. So urteilte der Historiker Harold J. Hanham im Jahr 1969: now that the Empire is dead, many Scots feel cramped and restricted at home. They chafe at the provincialism of much of Scottish life and at the slowness of Scottish economic growth, which is related to that provincialism. To give themselves an opening to the wider world, the Scots need some sort of outlet, and the choice appears at the moment to be between emigration and re-creating the Scottish nation at home.¹¹⁵
Der Geschäftsmann Julian Hodge bemerkte in einem Brief an den Secretary des Welsh Council fatalistisch: „Great Britain has lost its empire and the British people any feelings for their proper destiny.“¹¹⁶ Der Politologe Tom Nairn hingegen verstand das Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs nicht nur als die unvermeidliche, sondern notwendige Antwort auf die Krise der Union, die durch den Prozess der Dekolonisation hervorgerufen worden war. Sein Argument beruhte darauf, dass das Empire seit dem Ende des 18. Jahrhunderts für Schottland einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dargestellt habe, ja dass sogar die komplette Industriestruktur des Landes darauf ausgerichtet gewesen sei.¹¹⁷ Er bettete seine These über die Rolle des Empire für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs in eine größere Argumentation ein, in der die Entwicklung des britischen Staates als defizitär verstanden wurde. War der von Tom Nairn beschworene „break up of Britain“ die Zukunftsprognose, so beanspruchte Michael Hechter mit seiner 1975 in den USA erschienen Dissertationsschrift, einen plakativen Erklärungsansatz für die Gegenwart zu liefern: Seine soziologische Untersuchung der These des „internen Kolonialismus“ anhand der schottischen, walisischen und irischen Landesteile spiegelte das im Zuge der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Dekolonisation des britischen Empire aufgekommene Interesse der Forschung, gesellschaftliche Abhängigkeiten unter dem Prisma der
Daily Telegraph, 24. 2.1979, zit. nach Robbins: „This grubby wreck of old glories“, S. 84. Harold John Hanham: Scottish nationalism, London 1969, S. 212. Julian Hodge: Brief an A H H Jones Esq., Devolution for Wales, The National Archives, London, BD 56/13, 8.1.1976. Vgl. beispielsweise Nairn: The break-up of Britain, S. 13.
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Kolonialismuskritik neu zu beleuchten.¹¹⁸ Sowohl der Begriff des „break up“ als auch das Konzept des „internal colonialism“ ordneten sich in den zeitgenössisch prominenten Niedergangsdiskurs ein und konnten als Erklärung wie Zukunftsaussicht zugleich gelesen werden. Möglicherweise gab diese Verbindung aus Abstiegsprognose und Kolonialismuskritik dem Erklärungsansatz die nötige Schlagkraft, um sich zu einem langlebigen und populären Interpretament des schottischen Nationalismus zu entwickeln. Allerdings war diese Sicht schon zeitgenössisch umstritten: Keith Robbins merkte bereits 1980 an, dass zeitliche Korrelation noch keine inhaltliche Verbindung darstellten, da vorher erst der Beleg dafür erbracht werden müsse, dass das Empire ein „vital cement“ dieser Verbindung gewesen sei¹¹⁹; eine These, die der Autor nicht teilte. Robbins sprach in seinem im Jahre 1980 publizierten Aufsatz bereits einen Punkt an, der mehr als 30 Jahre später heftig von Historikern britischer Geschichte diskutiert werden sollte, nämlich die Frage des Stellenwerts des Empire für das Vereinigte Königreich und seine Bewohner. Während Robbins seinerzeit noch die Bedeutung des Empire für die Ausbildung des britischen Staates in Frage stellte, teilen Historiker in der aktuellen Forschung seine Skepsis und betonen den Wert imperialer Absatz- und Arbeitsmärkte für die schottische Mittelschicht. So bestreitet Thomas Devine beispielsweise nicht, dass Veränderungen in den Beziehungen des Vereinigten Königreichs zu den Kolonien auch Veränderungen in den Einstellungen der Schotten hervorgerufen hätten. Devine plädiert auf diese Weise für eine geänderte Chronologie: Denn vor allem die Siedlerkolonien seien für die schottische Mittelschicht als Absatz- und Karrieremöglichkeiten von Bedeutung gewesen; als diese infolge des Statute of Westminster des Jahres 1931 Autonomie erlangten, habe sich auch die Einstellungen vieler Schotten gewandelt. Daher datiert er den Wandel der Einstellungen bereits auf den zeitlichen Abschnitt zwischen den 1920er und 1950er Jahren, wenn auch das Empire zeremoniell weiterhin bedeutsam war.¹²⁰ Paul Ward unterstützt Devines Schlussfolgerung, dass womöglich die konservative Regierung Margaret Thatchers in den 1980er Jahren mehr Einfluss auf die Ausbildung des schottischen Nationalismus hatte als das Ende des Empire.¹²¹ Dass das Empire besonders für die schottische Mittelschicht von Bedeutung war, steht somit außer Frage. Die
Vgl. Hechter: Internal colonialism, S. xiii-xvii. Vgl. Robbins: „This grubby wreck of old glories“, S. 84. Vgl. Thomas M. Devine: The break-up of Britain? Scotland and the end of Empire. The Prothero Lecture, in: TRHS Sixth Series/2006, S. 163 – 180; Devine: The Scottish nation, S. 621– 630. Ward betont im Gegenzug die Multikausalität historischer Ereignisse.Vgl. Devine: The breakup of Britain?, S. 166; Paul Ward: The end of the British Empire and the break-up of Britain. Cause and effect?, in: History Teaching Review Year Book 23/2009, S. 48 – 53, hier S. 15 – 16.
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Debatten über Chronologie und Auswirkungen der inneren Dekolonisierung Schottlands, aber auch Wales verdeutlichen jedoch, dass tiefergehende Forschungen vonnöten sind, um diese Fragen abschließend zu klären.
Die politischen Wurzeln der Devolution: Die Home Rule-Debatte seit den 1880er Jahren Die Verknüpfung von staatlichen Reformdiskursen, ökonomischen Niedergangsdebatten, imperialer Vergangenheitsbewältigung sowie dem Nachdenken über Identitäten im Mehrheitsbericht der Kommission sowie in der Debatte um den Umgang mit schottischem und walisischem Nationalismus verweist darauf, dass die Vorstellungen nationaler Identität nicht nur in engem Zusammenhang mit der Verfassungsordnung des Vereinigten Königreich standen, sondern dass diese auch mit der hochmodernen Industriestruktur und – zumindest für Teile der schottischen Mittelklasse – mit dem wirtschaftlichen Möglichkeitsraum des Empire verbunden waren.¹²² Dieses „constitutional settlement“ stellte einen wichtigen Teil in dem Konsens dar, der das soziale Imaginäre britischer Eliten bestimmt hatte. Der in ihm angelegte Ausgleich unterschiedlicher politischer, aber auch wirtschaftlicher und kultureller Ansprüche wurde jedoch durch die längerfristigen wirtschaftlichen und machtpolitischen Transformationsprozesse untergraben; das, was bis zu diesem Zeitpunkt als die „normale“ Aufteilung der Machtverhältnisse betrachtet worden war, wurde hinterfragt.¹²³ Dazu gehörte auch, aber zunächst noch nahezu unbemerkt, das soziale Ordnungsmuster einer „gesamtbritischen Gesellschaft“. Deren durch die etablierten Parteien weitgehend fortgeschriebene Unterteilung in soziale, durch sozio-ökonomische und kulturelle Faktoren bestimmte Klassen wurde besonders durch die klassenübergreifende Ausrichtung der SNP herausgefordert.¹²⁴ Auf diese Weise wurde das territoriale Fundament dieser Ordnung durch die Wahlerfolge von SNP und Plaid Cymru für die journalistischen und politischen Eliten in Frage gestellt, eine Anpassung der verfassungsrechtlichen Lösung, die das Verhältnis der Teilnationen im Vereinigten Königreich zueinander regelte, schien unausweichlich – das Projekt der
Zum Prinzip der Territorialität vgl. Maier: Transformations of territoriality, S. 35. Die Balance zwischen den Basiskomponenten eines Staates, die Saskia Sassen mit Territorium, Autorität und Rechte bestimmt, muss angesichts der grundlegenden Transformationsprozesse neu ausgehandelt werden. Vgl. Sassen: Territory, authority, rights, S. 4– 6. Zur klassenübergreifenden Ausrichtung der SNP vgl. Münter: Verfassungsreform im Einheitsstaat, S. 152; Devine: The Scottish nation, S. 577; Mitchell: From breakthrough to mainstream, S. 32; Keating: The independence of Scotland, S. 63 – 64.
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Devolution war damit wieder auf der politischen Tagesordnung, die Lesart des Mehrheitsberichtes hatte sich durchgesetzt. Die unmittelbare Annahme von Devolution als politische Lösung für das nationalistische ‚Problem‘ lag jedoch nicht zuletzt an dem seit Ende des 19. Jahrhunderts etablierten Verfassungskonsens, der sowohl die staatliche Verfasstheit des Vereinigten Königreichs als auch das Verhältnis der einzelnen Nationen zueinander prägte. Seine Konturen waren maßgeblich durch die seit den 1880er Jahren geführte Debatte um Home Rule für Irland bestimmt. Der Blick auf das irische Beispiel ist daher aufschlussreich, um nachzuvollziehen, weswegen das verfassungsrechtliche Modell der Devolution ohne länger verfolgte Alternativüberlegungen von der Labour-Regierung, aber auch den Konservativen als das Modell herangezogen wurde, um den nationalistischen Forderungen entgegenzutreten. Denn im Zuge der politischen Debatte um Home Rule wurde nicht nur das Konzept der Devolution als verfassungsrechtliche Antwort auf ein vermeintlich genuin britisches Problem staatlicher Verfasstheit nicht erst in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt. Durch die 1922 in die Praxis umgesetzte Zweistaatenlösung war das Projekt der Devolution bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in das politische Vokabular des Vereinigten Königreichs eingeführt und in der Praxis erprobt worden. Die vor allem in den 1880er Jahren, dann wiederum verstärkt seit dem Ersten Weltkrieg bis 1922 ausgetragenen Debatten um Home Rule und die dazu entwickelten Lösungsansätze hatten die Weichen gestellt, in denen die Fragen unterschiedlicher Nationsvorstellungen innerhalb des Staates des Vereinigten Königreichs seitdem vorgestellt und diskutiert wurden. Als konservative Gegenposition zu der irischen Forderung nach Home Rule hatte sich seit den 1880er Jahren die politische Haltung des Unionism herausgebildet¹²⁵: Eine Ordnungsvorstellung, die nicht nur weite Teile der Konservativen unterschrieben, sondern die auch dazu führte, dass sich der Flügel der Home Rule-Gegner von der Liberal Party abspaltete und später als Liberal Unionists mit der Conservative Party fusionierte.¹²⁶ Zugleich wurden die Grenzen der Debatte um die richtige Verwaltung des Vereinigten Königreichs in Bahnen gelenkt, die bis weit in die 1970er Jahre Bestand haben sollten. „Home Rule all around“, föderale Strukturen, Separatismus und Devolution bildeten das Arsenal politischer Möglichkeiten, die in den in unregelmäßigen Abständen wiederauflebenden Debatten als mögliche verfassungsrechtli Vgl. Kidd: Union and unionisms, S. 12– 13. Ewen Cameron sieht in dieser Auseinandersetzung mit den Forderungen nach Home Rule für Irland den Ursprung der politischen Ideologie des Unionismus, die bis weit in das 20. Jahrhundert einflussreich bleiben sollte und eine politisch effektive schottische Nationalbewegung untergraben habe. Vgl. Cameron: Impaled upon a thistle, S. 76 – 78.
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che Lösungen diskutiert wurden. Der irische Fall diente dabei den Politikern von Labour und Konservativen als politisches Lehrstück, das die Unvereinbarkeit von Partikularnationalismen mit dem Erhalt der Union zu belegen schien. Irland nahm innerhalb des Vereinigten Königreichs eine verfassungsrechtliche Zwitterstellung ein. Unter den Bestimmungen des Act of Union von 1801 wurde Irland scheinbar als gleichberechtigter Bestandteil des United Kingdom anerkannt. Das irische Parlament, das bis zu diesem Zeitpunkt ohnehin nur sporadisch getagt hatte und wenig autonom gewesen war, wurde abgeschafft. Im Gegensatz zu Schottland und Wales blieben – beispielsweise mit dem Viceroy, oder Lord Lieutenant – jedoch dezidiert koloniale Verwaltungsstrukturen über den Act of Union hinaus erhalten und verweisen auf das komplexe Beziehungsgeflecht, in dem sich Irland seither befand.¹²⁷ Dabei kam die Fusion der davor in Personalunion regierten Königreiche Kingdom of Great Britain und Kingdom of Ireland vor dem Hintergrund des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs zustande, der auf ideeller Ebene das britische imperiale Projekt zu diskreditieren drohte.¹²⁸ War ein Kolonialkrieg Ursache für die ambivalente verfassungsrechtliche, aber auch politische Stellung Irlands innerhalb des United Kingdom, so lassen sich die Konsequenzen dieser Lage am besten anhand der vielschichtigen Verflechtungen mit den britischen Übersee-Kolonien nachvollziehen. Obgleich diese abhängigen Gebiete eine lukrative Karriere- und Einnahmequelle für die irische Mittelschicht waren, bargen die vor allem seit Ende des 19. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzungen über verfassungsrechtliche Zugeständnisse an Irland auch imperialen Sprengstoff, wurden die in Westminster geführten Debatten doch auch in weiteren Teilen des Empire, beispielsweise Indien, aufmerksam verfolgt.¹²⁹ Alvin Jackson fasste diese ambivalente Rolle Irlands im Empire wie folgt zusammen: „Ireland was simultaneously a bulwark of the Empire, and a mine within its walls.“¹³⁰ Die Unmöglichkeit, die verfassungsrechtliche Stellung Irlands innerhalb der klaren, wenn auch vereinfachenden Pole Kolonie und gleichberechtigter Teil des Vereinigten Königreichs einzuordnen, hat nicht nur historiographisch für Dis-
Vgl. Alvin Jackson: Ireland, the Union, and the Empire, 1800 – 1960, in: Kevin Kenny (Hrsg.): Ireland and the British Empire. An introduction, Oxford 2004, S. 123 – 153, hier S. 124; Stephen Howe: Ireland and empire. Colonial legacies in Irish history and culture, Oxford 2000, S. 230 – 232. Vgl. Thomas Bartlett: Ireland, Empire, and Union, 1690 – 1801, in: Kevin Kenny (Hrsg.): Ireland and the British Empire. An introduction, Oxford 2004, S. 61– 89, hier S. 74. Vgl. Kevin Kenny: Ireland and the British Empire: an introduction, in: Kevin Kenny (Hrsg.): Ireland and the British Empire, Oxford 2004, S. 1– 25, hier S. 15 – 16; Jackson: Ireland, the Union, and the Empire, S. 142– 143. Jackson: Ireland, the Union, and the Empire, S. 123.
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kussionsstoff gesorgt.¹³¹ Schon zeitgenössisch regte sich Widerstand besonders gegen ökonomisches Missmanagement, der sich besonders an durch die Kartoffelfäule hervorgerufenen Hungersnöten entzündete. Seit den 1860er Jahren wurden die Forderungen, die Kontrolle des britischen Staates über das Territorium Irlands zu verringern und die der irischen, in der Regel protestantischen Landbesitzer zu erweitern, unter dem Begriff des „Home Rule“ subsumiert. Hinter dem Begriff standen im 19. Jahrhundert nicht nur eine Vielzahl politischer Interessen, die den Begriff jeweils für sich in Anspruch nahmen, sondern auch unterschiedliche Vorstellungen, wie eine verfassungsrechtliche Umsetzung dieser Forderung auszusehen habe.¹³² So wurden unter dem Banner des Begriffs des Home Rule die Selbstverwaltung Irlands innerhalb des Vereinigten Königreichs, die Einführung eines föderalen Systems für den britischen Staat, von Republikanern aber auch die uneingeschränkte Unabhängigkeit Irlands vom Vereinigten Königreich gefordert. Als der radikale protestantische Landbesitzer Charles Stuart Parnell im Jahre 1880 den Vorsitz der bis dahin eher moderaten Home Rule League übernahm und sie in eine veritable parlamentarische Kraft im House of Commons verwandelte, verdrängte er dabei Liberale wie Konservative aus der politischen Landschaft Irlands. Die Geschichte der Bewegung kann nicht ohne die Ausweitung der Wählerschaft und die damit einhergehenden Demokratisierungsprozesse im gesamten United Kingdom verstanden werden. Die erste Wahl nach dem Reform Act von 1884, der das Wahlrecht deutlich ausgeweitet hatte, katapultierte das Thema der irischen Home Rule auf die parlamentarische Tagesordnung in Westminster.¹³³ In diesem Zeitraum drohte nicht nur die Erschütterung der Kräfteverhältnisse innerhalb des Vereinigten Königreichs. In den 1880er Jahren häuften sich darüber hinaus die Unruhen im imperialen Einflussgebiet Großbritanniens, beispielsweise in Südafrika, Ägypten oder Afghanistan. Die Gründung des Indian National Congress im Jahre 1885 oder das offizielle Auftreten des deutschen Reiches als Akteur der internationalen Kolonialpolitik im Jahr 1884 waren nur zwei von
Vgl. die Arbeiten von Stephen Howe, der das Kolonialismusnarrativ historisch-kritisch behandelt, Howe: Ireland and empire. Vgl. Alan O’Day: Irish home rule 1867– 1921, Manchester 1998, S. 2, 5. Nun konnten alle Männer wählen, die mindesten zehn Pfund Miete im Jahr zahlten oder Land besaßen, das mindesten zehn Pfund Wert war. Auf diese Weise wurde die Wählerschaft auf ca. 5,5 Mio. Männer ausgeweitet, immer noch weit vom allgemeinen Wahlrecht entfernt. Zum Zusammenhang von Wahlreform und Home Rule-Bewegung vgl. auch Elfie Rembold: „Home Rule all round“: experiments in regionalising Great Britain, in: Peter Catterall, Wolfram Kaiser und Ulrike Walton-Jordan (Hrsg.): Reforming the constitution. Debates in Twentieth-century Britain, London/New York 2000, S. 201– 224, hier S. 202.
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mehreren Faktoren, die den Fortbestand des Empire zu bedrohen schienen.¹³⁴ Das Zusammentreffen der Forderungen irischer Nationalisten mit Unruhen in unterschiedlichen Orten des Kolonialreichs verlieh der parlamentarischen Auseinandersetzung um Home Rule eine zusätzliche, imperiale Dimension, die dadurch unterstrichen wurde, dass in den Debatten die Begriffe „United Kingdom“ und „Empire“ häufig austauschbar verwendet wurden.¹³⁵ Diese Verbindung von irischen und imperialen Unruhen und Problemen führte nach Ansicht Deirdre McMahons zu einer Selbstverständigungsdebatte, in der nicht weniger als ein Themenkomplex aus „ideology, race, national character, religion, the constitution, and history“ verhandelt wurde.¹³⁶ Die Liberal Party unter der Führung von Premierminister William Gladstone bekannte sich vollends dazu, Home Rule für Irland einzuführen, während die konservative Partei versuchte, die irische Wählergunst mit politischen Geschenken wiederzugewinnen, sich aber generell gegen Home Rule aussprach. Gladstone unternahm 1886 wie auch 1893 zwei Versuche, die Verfassungsänderung durch das Parlament zu bringen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Bei den Gegnern herrschte die Furcht vor, dass Home Rule die Iren nicht wie gewünscht durch eine längere Leine stärker an Westminster binden würde, sondern separatistischen Strömungen Aufwind geben könnte. So argumentierte der Verfassungsrechtler A. V. Dicey im Jahr 1887: „Home Rule is the halfway house to separation“.¹³⁷ Man könne die Souveränität des Parlamentes, die „dominant characteristic of our political institutions“, nicht ohne schwere verfassungsrechtliche Konsequenzen beschneiden.¹³⁸ Befürworter von Home Rule gingen jedoch davon aus, dass ein Entgegenkommen Irland stärker an Großbritannien binden werde. Die von Premierminister Gladstone entwickelten Lösungsvorschläge orientierten sich passenderweise auch an einem Beispiel aus dem kolonialen Kontext, Kanada, in dem die Einrichtung eines Parlaments politische Beschwerden erfolgreich gelindert hatten.¹³⁹ Die Debatte um Selbstbestimmung für Irland führte letztendlich auch dazu, dass die Souveränität des Parlamentes und damit verbunden, die „rule of
Vgl. Deirdre McMahon: Ireland, the Empire, and the Commonwealth, in: Kevin Kenny (Hrsg.): Ireland and the British Empire. An introduction, Oxford 2004, S. 182– 219, hier S. 183 – 184. Vgl. ebd., S. 185. Ebd., S. 184. Albert Venn Dicey: Why England maintains the Union. A popular rendering of „England’s case against home rule“, London 1887, S. 61. Albert Venn Dicey: Introduction to the study of the law of the constitution. With an introduction by E. C. S. Wade, 10. Aufl., London/New York 1961, S. 39. Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 24– 28; McMahon: Ireland, the Empire, and the Commonwealth, S. 186 – 187.
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law“ als Prinzipien der Verfassung des Vereinigten Königreichs festgeschrieben wurden. Gladstone berief sich im House of Commons auf Diceys Arbeit, die die absolute Vormachtstellung des Parlamentes hervorgehoben habe¹⁴⁰ – für den Home Rule-Gegner Dicey eine deutliche Bestätigung, die zu der Verabsolutierung seiner Arbeit im britischen Verfassungsrecht beitrug.¹⁴¹ Die uneingeschränkte Souveränität des Parlaments war damit als grundlegendes Prinzip in Verfassungsdenken und -praxis etabliert, das sogenannte „Westminster-Modell“ sollte bis in die 1970er Jahre unhinterfragt bleiben.¹⁴² Jedoch sollte es bis 1914 dauern, bis eine Home Rule-Bill zugunsten Irlands den Gang durch die Houses of Parliament erfolgreich überstehen sollte, und es bedurfte der Abschaffung des uneingeschränkten Vetorechts des House of Lords, um den liberalen Gesetzesentwurf zu verabschieden.¹⁴³ Auch dann wurde das Gesetz jedoch wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht in Kraft gesetzt und auch schon bald von Ereignissen überholt. Der Anglo-Irish Treaty von 1922 unterteilte das Territorium Irlands: Die Mehrzahl der Provinzen Ulsters verblieb als Northern Ireland im Vereinigten Königreich, der geographisch größere Teil im Süden wurde als Irish Free State zum Dominion innerhalb des britischen Empire. Doch die Auseinandersetzungen um Home Rule, die Forderungen irischer Nationalisten und der parlamentarische Umgang in London mit diesem Problem prägten fortan nicht nur den Rahmen, in dem über den verfassungsrechtlichen Umgang mit nationalen Forderungen innerhalb des UK diskutiert wurde. In den Augen der Expertin für Verfassungsrecht Brigid Hadfield war es gerade die Beilegung der „irischen Frage“ durch eine Zwei-Staaten-Lösung, sowie die erfolgreiche Etablierung eines Fremdheitsnarratives für den irischen Fall, die die Debatte über mögliche verfassungsrechtliche Änderungen dieser Art bis in die
Vgl. hierzu William E. Gladstone: Government of Ireland Bill. Motion for leave. Hansard, HC Deb 08 April 1886 vol 304 cc1048. Vgl. J. W. F. Allison: Editor’s introduction to volume one, in: A. V. Dicey (Hrsg.): Lectures introductory to the study of the law of the constitution, Oxford 2013, S. xi–xlvii, hier S. xi. A. V. Dicey hatte bereits 1885 in seinem „Introduction to the study of the law of the constitution“ den Grundsatz festgeschrieben, das Parlament stelle „an absolutely sovereign legislature“ dar mit dem „right to make or unmake any law“. Albert Venn Dicey: Lectures introductory to the study of the law of the constitution, Oxford 2013, S. 27. John Redmonds Irish Parliamentary Party nutzte ihre Position als Königsmacher nach zwei unentschiedenen Wahlen aus, um das Thema des Home Rule erneut in das Parlament zu bringen. Ebenso war die Reform des House of Lords zunächst auch zur Unterstützung der Finanzpolitik der Regierung gedacht, kam aber den Befürwortern des Home Rule zugute. Vgl. auch McMahon: Ireland, the Empire, and the Commonwealth, S. 197.
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1960er Jahre effektiv marginalisieren sollten.¹⁴⁴ Besonders die ursprüngliche Lösung, dass der Irish Free State verfassungsrechtlich das Vereinigte Königreich verließ und den Status eines Dominion erhielt, habe nach Hadfield dazu geführt, dass die potentielle Einführung von Home Rule in allen Landesteilen, inklusive Englands, aus der politischen Debatte verschwunden sei.¹⁴⁵ Es sprechen einige Faktoren für die These, dass im Umgang mit den Forderungen Irlands im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert diskursive Linien gezogen wurden, die bis in die 1970er Jahre hinein überdauerten. So wurden bei der Ausarbeitung der Gesetzesentwürfe in den Ministerien die Erfahrungen des irischen Vorbilds zwar angemahnt, aber immer mit dem Zusatz versehen, dass sich das irische Problem deutlich von der aktuellen Situation in Schottland und Wales unterscheide. So stand in einem im Ministerium für Nordirland entstandenen Entwurf zu den Erfahrungen mit Devolution folgende Einschätzung: Northern Ireland is a special case. History, geography and politics have combined to separate it from the rest of the United Kingdom. The reasons for devolution, past or future, were not and will not be comparable to reasons for devolution to Scotland and Wales.¹⁴⁶
Wenn diese Einschätzung in Bezug auf den seit Ende der 1960er wütenden Bürgerkrieg und die politische Fraktionsbildung auch unbestritten stimmte, so traf sie jedoch nicht auf die verfassungsrechtliche Konstruktion des nordirischen Parlaments im Belfaster Stadtteil Stormont zu, das seit dem Government of Ireland Act aus dem Jahr 1920 ein deutliches Beispiel für Devolution darstellte.¹⁴⁷ Im Gegenteil, gerade die Tatsache, dass Nordirland als „anders“ konnotiert wurde, hing deutlich mit der in diesem Gesetz festgeschriebenen Entscheidung zur Teilung Irlands sowie der schon vorher bestehenden diskursiven politischen und kulturellen Alterisierung des Landes zusammen.¹⁴⁸ Seit den 1960er Jahren wurde Home Rule für Irland jedoch nicht allein als verfassungsrechtliches Problem des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts er-
Vgl. Brigid Hadfield: The United Kingdom as a territorial state, in: Vernon Bogdanor (Hrsg.): The British constitution in the Twentieth century, Oxford 2003, S. 585 – 630, hier S. 604. Vgl. ebd. Draft DS Paper. Devolution: The Northern Ireland Experience, The National Archives, London, CJ 4/1861/8, CJ 4/1861/8. Zur Sonderrolle Irlands vgl. auch Northern Ireland Office: Minute an Sir John Hunt (Cabinet Office). Devolution, The National Archives, London, CJ 4/744/1, 31.10.1974; C. Davenport: Brief an M. E. Quinlan Esq., the Devolution package for Scotland and Wales. Analytical commentary, The National Archives, London, FCO 49/599/42, 25.9.1975; Quinlan: Brief an R S Faber, The National Archives, FCO 49/601/102, 14.11.1975. Vgl. hierzu auch Hadfield: The United Kingdom as a territorial state, S. 594.
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innert. Die durch die Lösung aus dem Jahre 1920 verfestigten Konfliktlinien hatten sich unter dem Einfluss der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der andauernden Diskriminierung der katholischen Minderheit in Nordirland zu einem veritablen Bürgerkrieg ausgeweitet, in dem sich protestantische „Unionisten“ und katholische „Nationalisten“ feindlich gegenüberstanden.¹⁴⁹ Dieser setzte damit dem seit 1921 bestehenden separaten nordirischen Staatswesen ein Ende. 1972 löste die konservative Regierung Edward Heaths den Stormont, das nordirische Parlament, auf. Nordirland wurde fortan mit kleinen Unterbrechungen bis zum Good Friday Agreement des Jahres 1998 direkt von Westminster aus regiert, die politische Bezeichnung dafür war passenderweise „direct rule“.¹⁵⁰ Die Minister und Beamten waren sich im Jahre 1974 daher deutlich der Folgen bewusst, die die Devolution von legislativen Befugnissen auf gewählte Körperschaften in Schottland und Wales für den nordirischen Landesteil nach sich ziehen könnte. So schrieb Merlyn Rees, Labours Minister für Nordirland, an Edward Short, Lord President of the Council, im Juni 1975: The claims of the Loyalists will, however, be much strengthened if, before the report is issued, the Government has declared its intention of introducing in Scotland a system of government which has all the essential features of the pre-1972 Stormont government […] it will also add to the strains in bipartisanship – particularly on the question of the level of Northern Ireland’s representations at Westminster.¹⁵¹
Zur Geschichte des Nordirlandkonflikts vgl. beispielsweise Paul Bew, Peter Gibbon und Henry Patterson: Northern Ireland 1921– 2001. Political forces and social classes, überarbeitete Aufl., London 2002; Simon Prince: Northern Ireland’s ’68. Civil rights, global revolt and the origins of the Troubles, Dublin 2007. Zu „direct Rule“ vgl. Marc Mulholland: The longest war. Northern Ireland’s troubled history, Oxford 2002, S. 104– 121. Eine dieser Unterbrechungen kam durch das 1973 beschlossene Sunningdale Agreement zustande. Die Bestimmungen dieses Abkommens sahen vor, dass Unionisten und Nationalisten gemeinsam eine überkonfessionelle und überparteiliche Regierung bilden sollten, die der neu gegründeten Northern Ireland Assembly vorstehen sollte. Zugleich sollte mit dem Council of Ireland ein Rat eingerichtet werden, dessen Mitglieder aus der Republik Irland und aus Nordirland stammen sollten. Die Maßnahmen des Abkommens hatte nicht lange Bestand: Die frisch gewählte nordirische Regierung fiel nicht zuletzt aufgrund eines Generalstreiks, der von dem unionistischen Ulster Workers’ Council ausgerufen worden war. Signifikant war der Zeitpunkt, an dem der Versuch des „power sharings“ und der Beendigung des Nordirlandkonfliktes scheiterte: Am 14. Mai 1974 wurde der Streik ausgerufen, am 28. Mai 1974 trat Brian Faulkner als Chief Executive der Northern Ireland Assembly zurück – zu der Zeit, in der die Regierung Harold Wilsons auf die Unterstützung von SNP und Plaid Cymru als Minderheitsregierung angewiesen war. Merlyn Rees: Brief an Lord President of the Council. Devolution to Scotland and Wales, The National Archives, London, FCO 49/599/72, 12.6.1975.
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In einem Kommentar aus dem Foreign and Commonwealth Office zu den Devolutionsplänen der Regierung von September 1975 wurde noch deutlicher auf die möglichen Konsequenzen für die politische Situation Nordirlands hingewiesen: The intention not to place constraints on the composition of the Scottish executive will be in vivid contrast to our insistence on power-sharing in Northern Ireland, although to some extent we may be able to defend this by reference to the special historical and religious divisions in Northern Ireland.¹⁵²
Offiziell vertrat die Regierung eine abwartende Position. In einem zum White Paper vorbereiteten Briefing Paper für Minister wurde festgeschrieben, dass es sich bei Schottland und Wales um eine grundsätzlich andere Situation als Nordirland handele. Daher unterscheide sich auch, welche Lösungen am besten für jeden Landesteil geeignet seien. Generell wurde jedoch versucht, den konstitutionellen Prozess der Befriedung Nordirlands von der verfassungsrechtlichen Reform im Rest des Vereinigten Königreichs zu lösen.¹⁵³ Interne Entwürfe äußerten sich noch deutlicher. So vertraten Beamte des FCO die Position, dass die unterschiedlichen Wahlsysteme in Irland sowie Schottland und Wales an den Zustand der jeweiligen „Gesellschaft“ des Landesteils gekoppelt werden sollten. Sie wollten diese Position auch gegenüber der Regierung der Republik Irland vertreten, die vorab Einsicht in das White Paper von Herbst 1975 erhalten sollte.¹⁵⁴ So formulierte R. S. Faber für das FCO: A similar concern that whatever legislature Ulster has should be representative of the people of Northern Ireland as a whole has led HMG to opt for proportional representation for elections in Northern Ireland, whereas in Scotland, which is not in the same way a divided society, they have decided that elections to the Assembly should use the same system as in UK elections.¹⁵⁵
Ein Vertreter des Cabinet Office stimmte zwar zu, dass die Regierung der Republik Irland Einsicht erhalten könne, widersprach aber der allzu deutlichen Festlegung: The approach we prefer to stress is quite simply that Northern Ireland and Scotland and Wales (and England) are all quite different from one another; we are looking at their diverse
Davenport: Brief an M. E. Quinlan Esq., the Devolution package for Scotland and Wales. Analytical commentary, The National Archives, FCO 49/599/42, 25.9.1975. Vgl. Bantock: Brief an J M Ross Esq., Briefing for publication of the White Paper, The National Archives, FCO 49/601/117, 21.11.1975. Vgl. R. S. Faber: Brief an M. E. Quinlan. Devolution: the Irish dimension, The National Archives, London, FCO 49/599/72, 21.10.1975. Ebd.
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problems on intrinsic merit and are seeking to evaluate the case for change not by external considerations of parity but by our judgment of what will best match their particular circumstances and the wishes of their peoples.¹⁵⁶
Politiker, Journalisten, aber auch Historiker und Politologen führten die allgemeine Unzufriedenheit mit dem britischen Regierungsapparat, die schwächelnde Wirtschaftsleistung und den industriellen Strukturwandel sowie die Dekolonisation als unterschiedliche Erklärungen für die Wahlerfolge nationalistischer Parteien an; eine Lesart, die sich kondensiert im Mehrheitsbericht der Royal Commission fand. Dabei schlossen sich die einzelnen Ansätze nicht aus: Wenngleich das Interpretament der vereinenden Kraft des Empire größere Strahlkraft in wissenschaftlichen Diskussionen entfaltete – möglicherweise, da es als umfassenderes Erklärungsmodell für ein wissenschaftliches Publikum attraktiver war und wirtschaftliche Elemente inkorporierte –, spielte das wirtschaftliche Argument eine wichtige Rolle in allen Erklärungsansätzen. Grundlegend jedoch war, dass Schottland und Wales als national separate Teile des Vereinigte Königreichs gedeutet wurden. Daraus leiteten sich grundlegende Prinzipien staatlicher Verfasstheit ab: Dieser Lesart nach basierte Staatlichkeit im Vereinigten Königreich auf dem Ausgleich unterschiedlicher Nationsvorstellungen und der Idee, dass das Parlament in Westminster der oberste Souverän sei – eine Vorstellung, die Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich durch die Debatten um das irische Home Rule etabliert und in der verfassungsrechtlichen Literatur als „Westminster-Modell“ bekannt wurde.¹⁵⁷ Das Projekt der Devolution wird damit zum Versuch, mit diesen unterschiedlichen, teils im Konflikt stehenden Nationsvorstellungen innerhalb eines Staates umzugehen. Die britische Nation, symbolisiert durch die Houses of Parliament, blieb weiterhin die bestimmende, während die sich auf den Nationsstatus berufenden Forderungen von Politikern aus Schottland, Wales und Irland faktisch regionalisiert wurden.
3 Die Reform des Zentralstaats: Modernisierung und die umfassende Neuordnung des Regierungssystems Das Projekt der Devolution wurde, auch durch den irischen Präzedenzfall, zur naheliegenden Lösung des verfassungsrechtlichen Problems, das die Wahlerfolge der nationalistischen Parteien SNP und Plaid Cymru aufwarfen. Jedoch stellte es
Quinlan: Brief an R S Faber, The National Archives, FCO 49/601/102, 14.11.1975. Vgl. beispielsweise Mark Bevir: The Westminster model, governance and judicial reform, in: Parliamentary Affairs 61/2008, S. 559 – 577, hier S. 560 – 564.
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nicht die einzige Möglichkeit dar, wie eine Reform der Verfassung zeitgenössisch vorgestellt wurde, wie die Publikation des Memorandum of Dissent deutlich gemacht hat. Der Minderheitsbericht ging dabei vom Regierungssystem als Ganzes aus: Neben der Exekutive und der Legislative in Whitehall und Westminster zogen sie die Lokalverwaltung, die in Großbritannien bezeichnenderweise Local Government genannt wird, sowie die von der Regierung beauftragten Mittlerorganisationen mit ein (im Englischen als ad hoc bodies oder QUANGOs bekannt). Eine Reform der Verfassung müsse daher diese Ebenen und die damit verbundenen Kompetenzen in Betracht ziehen. Denn nicht nur habe die Regierung besonders seit Ende des Zweiten Weltkriegs Kompetenzen gebündelt, sondern das Parlament habe entsprechend an Macht verloren. Auch das Local Government habe durch diesen Trend zur Zentralisierung an Befugnissen eingebüßt, in dem Fall vor allem an QUANGOs.¹⁵⁸ Diese unterwanderten die demokratische Legitimität des Regierungsprozesses, der sich zunehmend von der Bevölkerung entferne; ein Trend, der durch den Beitritt des Vereinigten Königreichs in die Europäischen Gemeinschaften verstärkt werde.¹⁵⁹ Durch die Einrichtung von sechs bis sieben demokratisch gewählten Assemblies mit weitreichenden Kompetenzen sollte dieser Missstand beseitigt werden. Der Minderheitsbericht ordnete sich in einen Debattenkontext politischer Reformen ein, in dem die Frage der Verfassungsreform in der ministerialen und parlamentarischen Auseinandersetzung eng mit der Frage verbunden wurde, auf welche Weise ein Zentralstaat am besten regiert und verwaltet werden könne. Die Frage nach der Reform des parlamentarischen Regierungssystems überschnitt sich daher mit Fragen der Kommunalreform, die seit den 1960er Jahren für Schottland in der Royal Commission on Local Government in Scotland, oder nach ihrem Leiter auch Wheatley Commission genannt, und der Royal Commission on Local Government in England (Redcliffe-Maud Commission) diskutiert wurden. Dies wurde in den 1960er Jahren in Großbritannien besonders unter der Vorgabe der Steigerung staatlicher Effizienz debattiert¹⁶⁰; zu diesem Zweck wurden Föderalismus und Regionalismus als alternative Modelle herangezogen. Die Debatte um die Reform des Local Government zeigt aber auch, wie sehr die unterschiedlichen Konzepte von Devolution für Schottland und Wales und die Reform staatlicher Institutionen im gesamten Vereinigten Königreich in der Praxis verknüpft waren. Im folgenden Kapitel soll daher eben jenes, im Memorandum of Vgl. Royal Commission on the Constitution, Vol. II, S. xii–xiii, §2– 7. Vgl. ebd., S. xiii–xiv, §9 – 11. Dieser Diskurs der Effizienzsteigerung des Regierungsapparats stellte einen wichtigen verwandten Debattenstrang dar, der auch im Bericht der Royal Commission on the Constitution erwähnt wurde. Vgl. beispielsweise Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 85 – 86.
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Dissent verdichtete Narrativ staatlicher Reform im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Die Verknüpfung von Reformbemühungen der Verfassungsstrukturen und der Reform der Lokalverwaltung war dabei keineswegs neu. Folgt man David Powell, so umfasste bereits die Home Rule Debatte der 1880er Jahre zwei Aspekte: zum einen, wie mit den Forderungen der irischen Nationalisten umgegangen werden sollte und ob die Union haltbar sei, zum anderen, auf welche Weise das Vereinigte Königreich am effektivsten regiert werde könne.¹⁶¹ Die Debatte um Home Rule sei Teil eines größeren Demokratisierungsschubs gewesen, zu dem die Ausweitung des Wahlrechts durch den Representation of the People Act 1884 (auch Third Reform Act) und die Reform der Lokalverwaltung durch den Local Government Act 1888 und 1894 in England und Wales (1898 in Irland) gehörten. Der zunehmende Druck, die Macht des House of Lords einzuschränken, habe ebenso dazu gehört; eine Forderung, die letztlich 1911 umgesetzt wurde.¹⁶² Diese Verschränkung von lokalen Verwaltungsstrukturen und nationalen Souveränitätsvorstellungen spiegelt die umfangreichen Zuständigkeiten, über die die Kommunen in England und Wales, aber auch in Schottland traditionell verfügten.¹⁶³ Im späten 19. Jahrhundert ging der britische Verfassungsrechtler Edward Jenks sogar so weit, die Lokalverwaltung als Kernstück des britischen Staates zu beschreiben.¹⁶⁴ Staatliche Aufgaben wurden ohne eine mittlere Ebene zwischen lokalen Körperschaften und der Zentralregierung aufgeteilt; eine Aufteilung, die bis in das 19. Jahrhundert hinein eher der Erfüllung notwendiger Aufgaben als dezidierter staatlicher Planung entsprach.¹⁶⁵ Es überrascht daher nicht, dass neben dem Modell des „state“ als politische Ordnung in Großbritannien die verwandte, auf die institutionelle Praxis bezogene Vorstellung des Regierens verbreitet war, mit government als wissenschaftlichem Leitbegriff.¹⁶⁶
Vgl. Powell: Nationhood and identity, S. 69 – 70. Vgl. ebd., S. 70. Vgl. Martin Minogue: Documents on contemporary British government. Bd. 2: Local Government in Britain, Cambridge 1977, S. 1. Vgl. Edward Jenks: An outline of English local government, 5., überarbeitete Aufl., London 1921, S. 9. Vgl. Kai Barkowsky: Reform der Kommunalverwaltung in England und Deutschland. New Public Management zwischen Reformrhetorik und Reformergebnissen, Wiesbaden 2014, S. 86. Vgl. hierzu beispielsweise die Definition von Staat, die die S. J. D. Green und R. C. Whiting in der Einleitung ihres Sammelbands über „The boundaries of the state in modern Britain“ anlegen: „One of the defining characteristics of twentieth century British history has ben the rise of the state. That we take to mean the transformation of the executive branch of government from a limited system of force into an extensive network of services, at once literally bigger […] and altogether more intrusive […] into the lives of its citizens than ever before.“ S. J D. Green und
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Trotz erster Reformen im Umfeld des Reform Act von 1832 und dem Municipal Reform Act aus dem Jahre 1835 dauerte es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis aus dem System von einem einzigen Zweck dienenden (single purpose) Organisationen ein zweistufiges Kommunalsystem geschaffen wurde. So wurden 1888 county councils eingerichtet, gewählte Vertretungsorgane, die in den Grafschaften (shires) die Aufgaben der vormals von der Krone ernannten Friedensrichter übernahmen. 1894 wurden districts eingeführt, lokale Verwaltungseinheiten, die zwischen den counties und den Städten beziehungsweise Gemeinden angesiedelt waren. Auch diese verfügten über eine gewählte Vertretung, den district councils. ¹⁶⁷ Ein ähnliches System wurde mit dem Local Government (Scotland) Act von 1894 in Schottland eingeführt, das ein Local Government Board for Scotland und das System der parish councils einsetzte. Auf diese Weise war im Vereinigten Königreich ein zweigliedriges System geschaffen worden, das zwar nicht für alle Landesteile einheitlich war und ältere Strukturen weiterhin umfasste, aber in groben Zügen bis in die 1970er Jahre Bestand haben sollte. Lediglich die Befugnisse änderten sich im Laufe der Zeit: Viele der single purpose authorities wurden schrittweise in die Kommunalverwaltung integriert, deren Aufgabenbereiche im Gegenzug Stück für Stück ausgeweitet wurden. Den Höhepunkt seiner Kompetenzen und Bedeutung erreichte das Local Government in den 1930er Jahren, als Schulbildung, Polizei, Gesundheitsversorgung, Krankenhäuser, Kinderfürsorge, Straßenbau, Wasser- und Abwasserversorgung, Öffentliche Verkehrsmittel, Gasund Stromversorgung sowie öffentliche Bibliotheken in seinen Zuständigkeitsbereich fielen.¹⁶⁸ Im Zuge der Errichtung des Wohlfahrtsstaats beschnitt die Regierung des Labour-Premierministers Clement Attlee die Kompetenzen des Local Government deutlich. Zuständigkeiten wie die der Sozialhilfe, der Wasser- und Energieversorgung sowie des Gesundheitswesens wurden neu gegründeten und zentral kontrollierten Körperschaften übertragen, beispielsweise dem National Health Service (NHS) oder dem National Assistance Board. Im Gegenzug erhielten die Kommunen neue Aufgaben, beispielsweise die des sozialen Wohnungsbaus, der im Vereinigten Königreich besonders die Wohnungsnot in den Städten beseitigen sollte.¹⁶⁹
R. C. Whiting: Introduction: the shifting boundaries of the state in modern Britain, in: S. J. D. Green und R. C. Whiting (Hrsg.): The Boundaries of the state in modern Britain, Cambridge 1996, S. 1– 11, hier S. 1. Vgl. Hellmut Wollmann: Reformen in Kommunalpolitik und -verwaltung. England, Schweden, Frankreich und Deutschland im Vergleich, Wiesbaden 2008, S. 30. Vgl. Barkowsky: Reform der Kommunalverwaltung in England und Deutschland, S. 86; Wollmann: Reformen in Kommunalpolitik und -verwaltung, S. 30. Vgl. Wollmann: Reformen in Kommunalpolitik und -verwaltung, S. 31.
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Dieser Demokratisierungsschub kann allerdings auch als Ausweitung staatlicher Funktionen gedeutet werden, der gerade dann vonstattenging, als nationalistische Forderungen den Zentralstaat in Frage stellten. Dies zeigte sich nicht nur in der Zentralisierung von Kompetenzen nach 1945, sondern bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert und fiel mit der Debatte um Home Rule für Irland zusammen.¹⁷⁰ Denn in der Zeit, als in Dublin und Westminster erbittert über die Verfassung des Vereinigten Königreichs gestritten wurde und sich Unruhen im imperialen Einflussgebiet Großbritanniens häuften, wurde das politische System durch die Ausweitung des Wahlrechts demokratischer; der Staat weitete jedoch gleichzeitig seinen Zugriff auf die Bevölkerung aus. Dies wird besonders am schottischen Beispiel deutlich. In der Zeit, in der Home Rule für Irland in Westminister diskutiert wurde, wurden auch die Grundlagen der für den Landesteil separaten Verwaltungsstrukturen gelegt, die im Kern bis in die 1990er Jahre Bestand hatten. Denn im Gegensatz zu Irland hatte es bei den schottischen Wahlberechtigten bis 1886 keine nennenswerten Forderungen nach Home Rule gegeben. Organisationen wie die Scottish Home Rule Association sowie die Scottish Rights Association hatten vielmehr eine effizientere Union gefordert.¹⁷¹ Die Klage, Schottlands Interessen seien mit nur 58 MPs gerade im Vergleich zu Irlands 100 nur unzureichend repräsentiert, hatte damit in Schottland Anhänger gefunden. Die Liberal Party unter Gladstone, die zu dieser Zeit dominante Partei in Schottland, nahm sich dieses Anliegens an. Unter der Planung von Lord Rosebery wurde 1885 das Scottish Office eingerichtet, allerdings mit Sitz in London. Dieses war zwar schlecht ausgestattet und verfügte bei Weitem noch nicht über die Kompetenzen, die es rund 100 Jahre später innehaben sollte; es stellte aber die erste Regierungsbehörde da, die sich rein um schottische Belange kümmern und dafür in London eintreten sollte. Die in den 1880er und 1890er Jahren durchgeführte Reformen der Lokalverwaltung waren bei den schottischen Wahlberechtigten wenig umstritten, blieb sie doch weitestgehend in schottischer Hand. In Zusammenhang mit der Reform des Local Government lässt sich diese Regionalisierung der Verwaltungsstrukturen als Teil eines staatlichen Durchdringungsprozesses verstehen, mit denen liberale und konservative Regierungen in Westminster auf die Spannungen im imperialen Einflussbereich und im zunehmend national verstandenen Staat des Vereinigten Königreichs reagierten. Bemerkenswert ist jedoch, dass nicht eine Lösung für das gesamte Gebiet des Vereinigten Königreichs gefunden wurde, sondern dass die
Zum Zusammenhang der Reform des Local Government mit einer größer angelegten Verfassungsreform Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Rembold: „Home Rule all round“, S. 203. Vgl. Cameron: Impaled upon a thistle, S. 63; Rembold: „Home Rule all round“, S. 211.
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die Reform durchführenden Politiker die institutionellen Besonderheiten in den einzelnen Landesteilen in Kauf nahmen. Der separate Status von Schottland wurde durch einen eigens eingesetzten Minister darüber hinaus unterstrichen.¹⁷² Die Reform der Lokalverwaltung und die Übertragung von Regierungskompetenzen an Vertreter der schottischen und walisischen Landesteile wurden zwar als separate Prozesse wahrgenommen, betrafen aber jeweils Regierungsfunktionen des britischen Staates. Diese Trennung wurde auch nicht aufgehoben, als die Debatte um die Einführung von Devolution in Schottland und Wales seit den späten 1960er Jahren erneut geführt wurde. Dies lag daran, dass die beiden politischen Projekte weiterhin in unterschiedliche Diskurse eingebettet waren: War die Reform des Local Government ein Teil der Forderungen Labours, den britischen Zentralstaat zu modernisieren, so waren die Forderungen nach administrativer und parlamentarischer Devolution spätestens seit der Petition des Scottish Convenant im Jahre 1949 eng mit nationalistischen Forderungen verbunden. Die Pläne zur Reform des Parlaments und der Lokalverwaltung waren zur Regierungszeit Harold Wilsons in den 1960er und 1970er Jahren vor allem mit der Person Richard Crossmans verknüpft. Dieser interessierte sich als Attorney General in den späten 1960er Jahren weniger für Devolution, als vielmehr für eine allgemeine Dezentralisierung und stand damit den Verfassern des Memorandum of Dissent geistig nahe. Als dezidierter Gegner von Nationalismen verschiedener Ausprägung¹⁷³ favorisierte er ein Modell der Regionalisierung, das auf dem gesamten Gebiet des Vereinigten Königreichs angewandt werden sollte.¹⁷⁴ Die Reform der Londoner Stadtverwaltung sowie das Einsetzen der Redcliffe-Maud sowie der Wheatley Commission zur Vorbereitung einer Reform in England und Schottland legen Zeugnis von diesen Bemühungen ab. Dass sich die Forderungen der Nationalisten und die Reform des Regierungssystems auf unterschiedliche Diskurse bezogen, zeigte sich auch daran, dass die Regierung von Premierminister Wilson nicht vorsah, dass sich die Royal Commission on the Constitution mit den bis 1969 tagenden Wheatley und Redcliffe-Maud Commissions absprechen sollte, die sich mit der Reform des Local Government in Schottland und England beschäftigten. Während die Debatte um Devolution auf der expliziten Anerken-
Vgl. hierzu Cameron: Impaled upon a thistle, S. 62– 63. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass er Enoch Powells Popularität nach seiner von ethnischen Typisierungen durchzogenen und als rassistisch gebrandmarkten „Rivers of Blood“Rede mit den Kampagnen der schottischen Nationalisten in Verbindung setzte. Beides sei Ausdruck einer Nation, die sich im Niedergang befinde – und dieser sei letztlich auf Unzufriedenheit mit dem Regieren (governance) zurückzuführen, die von den Nationalisten ausgenutzt werde.Vgl. Tanner: The making of government policy, S. 557. Ebd., S. 555.
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nung nationaler Differenzen innerhalb eines Zentralstaats beruhte, war die Debatte um die Neugestaltung der Kommunen eng in einen auf gesamtgesellschaftlicher Basis geführten Reformdiskurs eingebunden. Dies bedeutete nicht, dass hier die Vorstellung, dass Schottland,Wales und England separate kulturelle Entitäten darstellten, keine Rolle spielte; dieser Aspekt des social imaginary wurde vielmehr gemeinhin nicht als Auslöser der Umgestaltung betrachtet. Trotz dieser unterschiedlichen Debattentraditionen überschnitten sich die verschiedenen Reformstränge von Local Government und Devolution auch in den 1970er Jahren inhaltlich. Vermittelndes ideelles und politisches Scharnier war der Versuch der Regierung Wilsons, ab 1964 mittels „Regionalismus“ die „Modernisierung“ Großbritanniens voranzutreiben.¹⁷⁵ Regionalismus wurde jedoch in den 1960er Jahren vor allem im ökonomischen Kontext diskutiert, dabei verband sich das Ziel staatlicher Effizienzsteigerung, das seit Beginn dieses Jahrzehnts fest im politischen Diskurs etabliert war, mit der Steigerung der britischen Wirtschaftsleistung.¹⁷⁶ Obwohl das Ziel deutlich als ein nationales formuliert war, wurde der Weg zur Behebung der strukturellen Probleme britischer Industrie und Wirtschaft von Premierminister Wilson und George Brown, Minister des Department of Economic Affairs, über eine regionale Planung angesehen. Denn gerade die ungleiche Verteilung industrieller Zweige, das ungleiche Wirtschaftswachstum in den einzelnen Landesteilen und Regionen sowie die demographischen Verschiebungen von Norden Richtung Süden des UK waren zunehmend als Probleme identifiziert worden.¹⁷⁷ Die bestehenden Strukturen des Local Government wurden dabei von Labour als Teil des Problems verstanden. Der Ruf nach einer grundlegenden Reform der lokalen Verwaltungsstrukturen reichte dabei schon in die 1930er Jahre zurück und wurde dadurch verstärkt, dass ihre Funktionen durch die Planungsanstrengungen während des Zweiten Weltkriegs in den Fokus der Politiker sowohl von Labour als auch den Konservativen geraten waren.¹⁷⁸ Im Kern der Kritik standen die Strukturen, die ein effizientes Arbeiten zu verhindern schienen: So war das britische Local Government traditionell in shire und borough
Zum parlamentarischen Modernisierungsdiskurs der 1960er Jahre vgl. Donald Shell: Parliamentary reform, in: Peter Dorey (Hrsg.): The Labour governments, 1964– 1970, London 2006, S. 168 – 192. Zur Einbettung des Regionalismus-Modells in den Kontext der Wirtschaftsförderung vgl. Peter Dorey: The Labour Party and constitutional reform. A history of constitutional conservatism, Basingstoke 2008, S. 368. Vgl. Janet Mather: English regional policy, in: Peter Dorey (Hrsg.): The Labour governments, 1964– 1970, London 2006, S. 225 – 246, hier S. 225. Vgl. ebd., S. 228; Martin Loughlin: The demise of Local Government, in: Vernon Bogdanor (Hrsg.): The British constitution in the Twentieth century, Oxford 2003, S. 521– 556, hier S. 534.
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unterteilt, was zu einem System geführt habe, in dem Trennlinien zwischen Stadt und Land auch administrativ verstärkt worden seien. Entwicklungen wie fortschreitende Urbanisierung und Industrialisierung hätten im 19. Jahrhundert zu einem Ungleichgewicht innerhalb dieser dualen Verwaltungsstruktur geführt, das nicht nur die Effizienz des Systems, sondern auch dessen demokratische Legitimität eingeschränkt habe.¹⁷⁹ Erste Ansätze, regionalistische Prinzipien in der britischen Politik anzuwenden, gingen ebenfalls auf den Zweiten Weltkrieg zurück. Zur effektiveren Verwaltung wurde Großbritannien in dieser Zeit in zwölf Regionen eingeteilt, denen jeweils ein Beauftragter des Zivilschutzes vorstand.¹⁸⁰ Der von Wilsons Department for Economic Affairs im Jahr 1965 entwickelte National Plan errichtete wiederum regional economic planning councils sowie regional economic planning boards. Die Mitglieder dieser Gremien wurden ernannt und setzten sich aus Repräsentanten der Kommunalverwaltung, Vertretern lokaler Wirtschaft und Gewerkschaften sowie weiteren Personen, beispielsweise Akademikern, zusammen. Allerdings handelte es sich hier eher um Papiertiger als um eine schlagkräftige Regionalpolitik: Denn die neu gegründeten Körperschaften verfügten weder über eigene finanzielle Mittel, noch über Kompetenzen, die über Ratschläge bei Planungsfragen hinausgingen, und wurden nicht zuletzt deswegen nach dem konservativen Regierungswechsel im Jahr 1979 abgeschafft.¹⁸¹ Die Labour Party nahm die Empfehlungen des Redcliffe-Maud-Reports an, die bestehenden Strukturen durch einstufige Verwaltungsstrukturen zu ersetzen, außer in den Metropolregionen Merseyside, Greater Manchester und West Midlands. Letztendlich konnten sie die Empfehlungen jedoch nicht mehr vor dem konservativen Wahlsieg im Jahr 1970 umsetzen. Deshalb fiel es der konservativen Regierung unter Edward Heath zu, die Reform der Lokalverwaltung durchzuführen. Ähnlich wie die Labour-Regierung Harold Wilsons verfolgte die Regierung Heath das Ziel, die Effizienz der Kommunen zu steigern, behielt jedoch die bestehende zweigliedrige Struktur bei.¹⁸² Dennoch griff der Local Government Act, der 1972 im Parlament verabschiedet wurde, massiv in die Struktur der Lokalverwaltung ein: Auch wenn die duale Struktur beibehalten wurde, beinhaltete das Gesetz eine territoriale Neuorganisation der Verwaltungsstrukturen. Unter den Bestimmungen des Gesetzes wurde in England die Anzahl der Kommunen deutlich reduziert. Außerhalb von London, das seit 1963 vom Greater London Council verwaltet wurde, wurde das Territorium in sechs metropolitan counties in den Ballungsräumen und 39 non-metropolitan counties für die ländlichen Gebiete
Vgl. Loughlin: The demise of Local Government, S. 533 – 535. Vgl. Deacon: Devolution in the United Kingdom (2012), S. 27. Vgl. ebd., S. 28. Vgl. Wollmann: Reformen in Kommunalpolitik und -verwaltung, S. 31.
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eingeteilt. Diese vereinten unter sich 369 district councils. In England und Wales wurden mit den Reformen der frühen 1970er Jahre etwa 1300 district und borough authorities abgeschafft und die 59 county councils auf 47 reduziert. Die traditionelle Struktur der parishes außerhalb der großen Städte blieb als nachgeordnete Ebene erhalten und war nun für Aufgaben von vergleichsweise geringer Bedeutung, beispielsweise der Instandhaltung öffentlicher Uhren oder Toiletten, zuständig.¹⁸³ Auf diese Weise stieg die Einwohnerzahl, für die eine Lokalbehörde zuständig war, für die Gebiete außerhalb von London von durchschnittlich 36 200 auf 107 500 Einwohner.¹⁸⁴ Gerade im Vergleich zu anderen Ländern waren die Lokalbehörden damit für eine weitaus größere Anzahl an Personen verantwortlich.¹⁸⁵ Die Regierung Thatcher führte die Zentralisierung des Local Government fort: Mit dem Government, Planning and Land Act 1980 regelte die Regierung die finanziellen Zuweisungen der Zentralregierung an die Kommunen neu. Die einschneidendste Neuerung war jedoch die Abschaffung der Stadträte Londons (Greater London Council) und weiterer sechs Großstädte (metropolitan county councils).¹⁸⁶ Dennoch wurde das Ziel der Regierung Thatcher, auf diese Weise die Ausgaben der Kommunen zu senken, letztlich nicht erreicht.¹⁸⁷
4 Devolution, Regionalismus oder Status quo? Die Rolle Englands und die West Lothian Question Das Kräfteverhältnis der unterschiedlichen Reformnarrative wurde anhand der Frage sichtbar, welche Rolle England in dem verfassungsrechtlichen Reformprojekt zukommen sollte. Die Regierung ging davon aus, dass ihre Pläne, parlamentarische Strukturen in Schottland und Wales einzurichten, Unruhe und Un-
Vgl. Barkowsky: Reform der Kommunalverwaltung in England und Deutschland, S. 88. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. Hilaire Barnett: Constitutional and administrative law, 4. Aufl., London 2002, S. 403. Zu den Reformen der Regierung Thatcher im Kommunalsektor vgl. Barkowsky: Reform der Kommunalverwaltung in England und Deutschland, S. 99 – 100. In den 1990er Jahren erlebte die Regionalpolitik eine Renaissance, auch unter Einfluss des Strukturfonds der EU. So enthielt das konservative Wahlprogramm – nach den Reformen der Regierung Thatcher in den 1980er Jahren unerwarteterweise – das Versprechen, Regionalbüros in den englischen Regionen zu errichten. Vgl. Deacon: Devolution in the United Kingdom (2012), S. 20.
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zufriedenheit in England auslösen würden.¹⁸⁸ Und tatsächlich entwickelte sich die Frage, welche Rolle England in den Plänen zur Einführung von Devolution einnehmen sollte, im Laufe der 1970er Jahre zum kontrovers diskutierten Thema. Zur Lösung dieses Problems wurden trotz der frühen Engführung der Debatte auf die Devolutionslösung innerhalb der Ministerien weiterhin Fragen von Local Government und Regionalismus diskutiert, nun auch explizit im Kontext der Nationalismen in Schottland und Wales. Dass die regionalen Prinzipien des Memorandum of Dissent zumindest in der ministerialen Debatte nicht sofort verworfen wurden, zeigte sich daran, dass Lord Crowther-Hunt im Sommer 1974 als Berater der Regierung in verfassungsrechtlichen Fragen berufen wurde und danach bis 1976 als Minister of State für Education and Science arbeitete. An der Stellung Englands kondensierten daher Fragen nach der Rolle, die Kommunen im britischen Staat spielen sollten, nach der Durchführbarkeit und Attraktivität föderaler Strukturen auf dem Gebiet des gesamten Vereinigten Königreichs sowie nach der Legitimität staatlicher Regierungsformen. Auf die Regierung wurde von mehreren Seiten Druck ausgeübt: Die Forderungen, neue administrative oder gar politische Strukturen auf regionaler Ebene einzuführen, waren mit der Einführung des Local Government Act der Regierung Heath nicht verstummt. Im Gegenteil, in der auf ministerialer Ebene angesiedelten „England Group“ innerhalb der sogenannten Constitution Unit im Privy Council Office wurde das Thema der Reform des Local Government beziehungsweise der Einführung regionalistischer Strukturen auch in England vor und nach der Publikation des Grünbuchs „Devolution: The English Dimension“ im Jahr 1976 deutlich diskutiert. Dabei teilten radikale und moderate Vertreter die Diagnose, dass sich die Regierung zu stark von der Bevölkerung entfernt habe.¹⁸⁹ Aber auch die von den konservativen Reformen betroffenen Lokalbehörden sahen gerade in der Devolutionsdebatte die Chance, durch den Local Government Act von 1972 verloren gegangene Kompetenzen zurückzugewinnen. So bemerkte ein Beamter des Ministeriums für Housing and Local Government: In reacting to the Kilbrandon proposals local authorities have tended to put their own interest and preoccupations first, often by dressing up old ideas in a regional context. […] the proposals of Durham and Cumbria county councils for the establishment of ‚indirectly elected‘ regional bodies is essentially a means of securing the return to local government
Vgl. beispielsweise Secretary of State for the Environment: DS (75) 22, Ministerial Steering Committee on Devolution. Memorandum: Devolution and England, The National Archives, London, CAB 134/3735/22, 21.5.1975. Vgl. Note for the file: Debate on regional government at the Labour Party Local Government conference, The National Archives, London, HLG 120/2284, 16.1.1975.
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control of health, water and sewerage, gas and electricity functions, the loss of which since the war has been much resented by local government.¹⁹⁰
In der Labour Party fanden diese Forderungen der Städte und Counties durchaus Zuspruch¹⁹¹, gerade auch bei den Politikern, die weiterhin für eine Lösung der ökonomischen Probleme Englands auf regionaler Ebene plädierten. So räumte Anthony Crosland, von 1974 bis 1976 Secretary of State for the Environment, in einem Memorandum an den ministeriellen Lenkungsausschuss zu Devolution ein, dass sich sein Ministerium in der Frage der Lokalregierung gespalten zeige. Argumentiere die eine Fraktion deutlich gegen jede weitere Umorganisation, fordere die andere Fraktion genau dies, da auf diese Weise öffentliche Dienstleistungen auf rationalere und demokratischere Weise organisiert werden könnten. Crosland selbst empfahl, zunächst keine weiteren Reformen der Lokalverwaltung anzugehen, aber in Bezug auf England im Geheimen auf regionaler Ebene Reformen vorzubereiten, um die wirtschaftlichen Probleme der englischen Regionen anzugehen.¹⁹² Dennoch stießen die Vorschläge, regionale Strukturen in England einzuführen, gerade im Welsh Office auf deutlichen Widerstand, das darin eine Konkurrenz für walisische Bedürfnisse sah.¹⁹³ Der Fall Englands verdeutlicht nicht nur das Fortbestehen des Reformdiskurses der 1960er Jahre, sondern auch die teils im Konflikt stehenden nationalstaatlichen Ordnungsvorstellungen, die hinter den unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Lösungsvorschlägen standen. Die Asymmetrie des Devolutionsprojektes wurde an der Frage deutlich, ob die Abgeordneten aus Schottland,Wales und Nordirland im House of Commons über Belange abstimmen dürften, die ausschließlich England beträfen, während englische Abgeordnete nach Einführung von Unterparlamenten über die Angelegenheiten dieser Landesteile keine Mitsprache mehr gehabt hätten. 1977 im House of Commons von Tam Dalyell, einem prominenten Abgeordneten, der für Gladstones altem Wahlkreis West Lothian im Parlament saß, in einer Parlamentsdebatte formuliert, wurde diese Frage von Enoch Powell aufgegriffen und auf den griffigen Nenner
Chris Braun: Comments of local authorities in the Northern Region in the consultative document, The National Archives, London, HLG 120/2284, vor dem 15.11.1974. Vgl. Note for the file: Debate on regional government at the Labour Party Local Government conference, The National Archives, HLG 120/2284, 16.1.1975. Vgl. Environment: DS (75) 22, Ministerial Steering Committee on Devolution. Memorandum: Devolution and England, The National Archives, CAB 134/3735/22, 21. 5.1975. Vgl. I. S. Dewar: Devolution and England (DS(75)22), The National Archives, London, BD 108/ 198/30, 23.5.1975.
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der „West Lothian Question“ gebracht.¹⁹⁴ Im Kern dieser Frage stand der Konflikt, der dadurch entstand, dass als politische Lösung für den schottischen Nationalismus ein Weg ausgewählt wurde, der das zentralstaatlich gedachte Prinzip der ungeteilten Souveränität des britischen Parlaments mit regionalen, auf distinkten Territorien beruhenden Nationalismen in Einklang bringen sollte. Die Konstruktion von Devolution zielte letztendlich darauf, die Souveränität in den Houses of Parliament in London zu belassen. Hinter der Forderung, Schottland und Wales als eigenständige Nation zu verstehen und zu behandeln, verbirgt sich jedoch gerade auch die Forderung nach eigener Souveränität. Die von Dalyell formuliert Frage war dabei keineswegs neu. Sie hatte einen Kernpunkt der Debatten um Home Rule im 19. Jahrhundert gebildet, nur dass in diesem Zeitraum entsprechend die Stellung irischer Abgeordneter heftig diskutiert worden war. Verfassungsrechtliche Lösung des von der „West Lothian Question“ aufgedeckten politischen Problems hätte, zumindest theoretisch, die Einführung föderaler Strukturen sein können. „Home rule all around“, also die Einbindung einer Lösung für die irische Forderung nach Home Rule in eine das gesamte Vereinigte Königreich betreffende Reform der Verfassungsstruktur, wurde schon zu Zeiten Gladstones diskutiert, aber aufgrund mangelnden Zuspruchs nicht umgesetzt.¹⁹⁵ Im Zuge der Debatten im Jahre 1920 wurde die „Home Rule all round“-Variante mit Parlamenten in allen vier Landesteilen erneut diskutiert, aber wieder fallen gelassen.¹⁹⁶ Der damalige Premierminister David Lloyd George schlug den heute bekannten Weg ein, in Dublin und Belfast jeweils eigene Parlamente einzurichten. Mit der vorläufigen Lösung des ‚irischen Problems‘ verschwanden auch die Vorschläge zur Einsetzung eines Parlamentes in England von der Tagesordnung.¹⁹⁷ Dabei waren „Home rule all around“, Föderalismus und Devolution alles andere als deutlich definiert, sie fungierten mehr als Sammelbegriffe, unter denen sich unterschiedliche Vorstellungen verbargen.¹⁹⁸ Die Reform des Local Government Ende des 19. Jahrhunderts muss hingegen im Kontext
Vgl. Enoch Powell: Scotland Bill. Hansard, HC Deb 14 November 1977 vol 939 cc91. Vgl. Peter Catterall: „Efficiency with freedom?“ Debates about the British constitution in the Twentieth century, in: Peter Catterall, Wolfram Kaiser und Ulrike Walton-Jordan (Hrsg.): Reforming the constitution. Debates in Twentieth-century Britain, London/New York 2000, S. 1– 42, hier S. 15 – 16; Rembold: „Home Rule all round“, S. 212– 213. Anscheinend hatte sich Premierminister H. H. Asquith zu Winston Churchills Plänen, sieben, nach Regionen unterteilte Assemblies einzurichten, mit den Worten „we could not go back to the Heptarchy“ geäußert und damit die Stimmung innerhalb des Kabinetts auf den Punkt gebracht. Zit. nach Catterall: „Efficiency with freedom?“, S. 15. Vgl. Deacon: Devolution in the United Kingdom (2012), S. 24. Vgl. Rembold: „Home Rule all round“, S. 213.
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II Nationalismus in Schottland und Wales
auf der von den Home Rule-Forderungen hervorgerufenen Debatte gesehen werden.¹⁹⁹ Die „West Lothian Question“ und die sich daran anschließende parlamentarische Debatte verdeutlichen, welche Verfassungsprinzipen als unerschütterlich galten und welche Nationskonzepte hinter den unterschiedlichen Projekten zur Reform der ungeschriebenen britischen Verfassung standen: Während die Reform des Local Government zwar in nahezu allen Landesteilen vorgenommen wurde, wurde dieses Thema zeitgenössisch mehrheitlich eben nicht als nationales, sondern lokales begriffen. Die Debatte um die Kommunalreform war im parlamentarischen Reform- und Modernisierungsdiskurs angesiedelt, in dem Nationalität zunächst keine Rolle zu spielen schien. Dennoch stand dahinter die Vorstellung eines britischen Nationalstaats, waren die Reformen der Kommunen doch einerseits zunehmend mit den Debatten über die Reform des in Westminster angesiedelten Parlaments verflochten, galt das Local Government andererseits seit dem 19. Jahrhundert doch als Kernelement des britischen Staats- und Regierungswesens. Devolution hingegen, ein politisches Projekt, das seine Existenz einem durch das Wiedererstarken regionaler Nationalismen hervorgerufenem Problem verdankte, baute dagegen auf einer Denkweise auf, die die einzelnen Landesteile als jeweils eigene Nationen verstand. Dahinter stand jedoch die Vorstellung, dass die im Staat des Vereinigten Königreichs verankerte britische Nationalität, symbolisiert durch die unteilbare Souveränität der Houses of Parliament, diesen regionalen Nationalitäten von Schottland, Wales und Irland übergeordnet sei. Diese unterschiedliche nationale Codierung verdeutlicht beispielsweise ein Entwurf eines Informationspapiers über das Thema „Devolution and England“ vom kabinettsinternen Think Tank Central Policy Review Staff, welches im März 1975 zirkuliert wurde. Die Autoren verwiesen dort auf den entscheidenden Unterschied zwischen der Reorganisation des Local Government und dem Projekt der Devolution, nämlich „devolution implies passing down powers from the centre – it is in principle quite different from a debate about the organisation of local government.“²⁰⁰ Als Begründung dafür wird der in Schottland und Wales verbreitete Nationalismus angegeben, der in England – trotz vorhandener, teils starker regionaler Identität in manchen Gegenden – nicht vorhanden sei, ebenso wenig wie klar definierte Grenzen und staatliche Institutionen.²⁰¹ Die Stoßrichtung ist deutlich: Auch hier wurde durch das Devolutionsprojekt der separate Nationsstatus bestätigt, während die Äußerungen der Regierung zu England – wenn Vgl. ebd., S. 203. Central Policy Review Staff: Draft Brief. Devolution and England, The National Archives, BD 108/223/18, 5. 3.1976. Ebd.
4 Devolution, Regionalismus oder Status quo?
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gleich vor allem aus politischem Kalkül – unbestimmt blieben.²⁰² Die „West Lothian Question“ wurde in dem Briefing Paper dann auch mit Verweis auf ihre Undurchführbarkeit fallengelassen: The Kilbrandon report pointed out that it is impracticable to have MPs moving in and out of the voting according to the type of business being discussed. It is virtually impossible to define ‚English‘ business satisfactorily. A government’s majority could be affected by changes in the numbers entitled to vote. And in any case, whatever is decided for 83 % of the population (England) is almost bound to affect the remainder, who ought therefore to have a say in it.²⁰³
Die „West Lothian Question“ zielte auf diesen Zusammenhang von regionaler und übergreifender britischer Nationalität sowie parlamentarischer Souveränität. Sie legte offen, dass Devolution asymmetrisch gedacht wurde: Da nationales Bewusstsein als Bedingung der politischen Lösung angelegt wurde und dieses in England im Vergleich zu Schottland und Wales nur gering ausgeprägt gewesen sei, wurde für diesen Landesteil kein Regionalparlament vorgesehen. Der gleichberechtigte Zugang von vier Nationen jeweils zu Regionalparlamenten und einem übergreifenden nationalen, das heißt britischen Parlament war somit nicht vorgesehen. Die von Dalyell formulierte Frage verweist auf die verfassungslogischen Brüche im Projekt der Devolution. Durch das Scheitern des Scotland Act und des Wales Act von 1979 wurden die in ihr angesprochenen Probleme, nämlich die Entwicklung englischer Ressentiments aufgrund einer bevorzugten Behandlung von Schottland und Wales, erst einmal vertagt. Sie tauchten jedoch nahezu unverändert in der unter Tony Blair verabschiedeten Devolutionsgesetzgebung von 1998 wieder auf.²⁰⁴ Während Devolution und regionalistische Lösungen für England innerhalb des Constitution Unit ernsthaft debattiert wurden, wurde die Einführung genuin föderaler Strukturen im gesamten United Kingdom nie ernsthaft in Betracht gezogen. Zu groß war der Widerstand von Beamten und Politikern: So sei Föderalismus „legalistic and foreign to our traditions“.²⁰⁵ Kein Staat habe je freiwillig von einem zentralstaatlichen System auf ein föderales gewechselt, so eine Sicht aus der Constitution Unit. ²⁰⁶ Ein zentralstaatliches System passe nicht nur auf die
Vgl. Bantock: Brief an J M Ross Esq., Briefing for publication of the White Paper, The National Archives, FCO 49/601/117, 21.11.1975. Ebd. Siehe Kapitel V.2. J. L. Bantock: Brief an J M Ross Esq. Devolution: Briefing for Ministers, The National Archives, London, FCO 49/603/141, 16.12.1975. Vgl. ebd.
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wirtschaftlichen Bedürfnisse des Landes, England würde außerdem zu dominant sein.²⁰⁷ Obgleich diese kompromisslose Position nicht von allen Mitgliedern der Constitution Unit geteilt wurden und die Liberal Party seit der Nachkriegszeit konstant dafür geworben hatte, konnten sich die Vorstellungen föderaler Staatsorganisation auch auf der Ebene der Experten nicht durchsetzen, nachdem sich schon die Regierung im 1975 erschienenen Weißbuch „Our changing democracy: devolution to Scotland and Wales“ dagegen ausgesprochen hatte.²⁰⁸ Auch wenn das Prinzip der Regionalisierung des gesamten UK mit Lord Crowther-Hunt einen prominenten Befürworter hatte: Es waren vor allem die Vorschläge zur Einrichtung von Parlamenten in Schottland und Wales, die aus den Berichten der Kommission in die parlamentarische und ministeriale Debatte übernommen wurden. Der Mehrheitsbericht stellte sich in der politischen Praxis als die dominante Lesart heraus, die bestehenden Deutungsmustern entgegenkam. Vertrautheit mit dem Lösungsansatz politischer Devolution, der verfassungsrechtliche Umgang mit der irischen Frage sowie dem Nordirlandkonflikt, die Einschätzung der Wirtschaftslage und die Traditionen ökonomischer Steuerung sowie die auf Umfragen basierenden Einschätzungen nationaler Zugehörigkeitsgefühle in den einzelnen Landesteilen trugen alle dazu bei, dass in der im Parlament und Medien geführten Debatte zwar über die Einführung von Parlamenten auf regionaler Basis diskutiert wurde, ihre Einführung aber nie ernsthaft in Betracht gezogen wurde. Devolution, nicht Regionalismus oder Föderalismus wurde von Beginn an als die einzig durchführbare Lösung gehandelt, auch wenn diese beiden Modelle in Bezug auf England weiterhin diskutiert wurden.
5 Zusammenfassung und Ausblick Nachdem der erste Gesetzesvorschlag der Labour-Regierung unter der Führung von Premierminister James Callaghan zur Einführung eines schottischen und walisischen Parlaments im Februar 1977 im Unterhaus gescheitert war, nahm die Regierung wenige Monate darauf einen neuen Anlauf. Angesichts der Bedenken walisischer Abgeordneter sah die Labour-Regierung zwei Gesetze vor, die sich jeweils separat mit den einzelnen Landesteilen befassten. Der vorherige Misser-
Vgl. ebd. Für weitere Positionen vgl. I. S. Dewar: Brief an J L Bantock. Devolution: Briefing for Ministers, The National Archives, London, FCO 49/603/146, 29.12.1975; J. M. Ross: Brief an J L Bantock. Devolution, Briefing for Ministers: Federalism, The National Archives, London, FCO 49/603/ 148, 30.12.1975; A. D. Landsdown: Brief an an Mr Jarman. German Federalism, The National Archives, London, BD 108/290, 30.6.1976.
5 Zusammenfassung und Ausblick
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folg bedeutete, dass, als die Gesetzesentwürfe zur Abstimmung im Parlament standen, besonders die Abgeordneten Labours die Zukunft der Regierung mit dem Erfolg der Gesetzesentwürfe verknüpften und wider besseren Wissens aus politischem Kalkül für eine Verfassungsreform stimmten.²⁰⁹ Trotzdem konnte die Regierung die Verabschiedung von Amendments nicht verhindern. Eines war von grundlegender verfassungsrechtlicher Bedeutung: Das von George Cunningham, einem in England lebenden schottischen Labour MP eingebrachte Amendment sah vor, dass 40 % der registrierten Wähler in einem Referendum für das Gesetz stimmen mussten, damit es in Kraft treten konnte. Cunnigham begründete seinen Eingriff damit, dass es im Vereinigten Königreich keine besonderen Bestimmungen bei so einschneidenden Verfassungsänderungen wie dem der Devolution gebe. Er traf damit offensichtlich einen Nerv: In der Burns’ Night des Januar 1978 wurde für den Paragraphen gestimmt, der das Projekt der Devolution zu Fall bringen sollte. Dadurch wurde er auch zum Anlass für das von der SNP eingebrachte erfolgreiche Misstrauensvotum gegen die Regierung Callaghan, das die Wahl Margaret Thatchers zur Premierministerin zur Folge hatte.²¹⁰ Das Projekt der Devolution, das britische Parlamentarier und Presse seit den späten 1960er Jahren beschäftigt hatte, verschwand damit wieder im politischem Abseits. Dennoch verweist die Verknüpfung der Frage nach Devolution mit der Debatte über eine umfassende Reform des Regierungssystems nach regionalen oder föderalen Prinzipien darauf, dass seit den 1960er Jahren das, was Saskia Sassen mit „territory, authority and rights“ beschreibt, im öffentlichen Raum neu verhandelt wurde²¹¹: Die bis dahin als „normal“ gesetzte Bündelung von Regierungsbefugnissen im sich als national verstehenden Zentralstaat wurde dadurch gestört, dass konkurrierende Ansprüche aus Schottland und Wales zu Stimmengewinnen nationalistischer Parteien geführt hatte. Diese setzten eine Phase der Neudefinition in Gang, die allerdings durch die Referenden des Jahres 1979 vorläufig gestoppt wurde. Doch stellte dies nur eine vorübergehende Unterbrechung des Neudefinitionsprozesses dar, wie die Geschichte der 1990er Jahre und der jüngsten Vergangenheit zeigt, deren vorläufige Höhepunkte der Scotland Act und der Government of Wales Act von 1998 sowie das schottische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 darstellten. Auch wenn die Reform der ungeschriebenen Verfassung des Vereinigten Königreichs in den 1970er Jahren scheiterte, verdeutlicht die vor allem in Parlament und Ministerien geführte Debatte das Verhältnis von Verfassung, etablierten
Vgl. Bogdanor: Devolution in the United Kingdom, S. 184– 185. Vgl. hierzu auch ebd., S. 187– 191. Vgl. Sassen: Territory, authority, rights, S. 4– 5.
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Nationsvorstellungen und eher kurzfristig taktierendem politischem Kalkül. Die verfassungsrechtliche Ordnung des Vereinigten Königreichs, das constitutional settlement, zeichnete sich dabei nicht nur durch einen Ausgleich unterschiedlicher politischer, aber auch wirtschaftlicher und kultureller Ansprüche aus, sondern verschränkte auch verschiedene Nationsvorstellungen. Diese verweisen wiederum auf unterschiedliche Konzeptionen von Zugehörigkeit im Verhältnis zum Staat Vereinigtes Königreich und damit letztlich auch auf die dem sozialen Imaginären inhärente Konflikthaftigkeit. So verdeutlichte das Devolutions-Narrativ, welch fundamentale Stellung die Souveränität des Parlaments in Westminster seit dem späten 19. Jahrhundert im verfassungsrechtlichen Denken der Zeit hatte. Kern des Narrativs war die Wahrnehmung britischer Politiker, dass die staatlichen Strukturen des Vereinigten Königreichs zwar auf einen Zentralstaat angelegt waren, der national verstanden wurde, separate Bevölkerungsteile sich jedoch zunehmend selbst als Nationen verstanden und auf dieser Basis Forderungen der Selbstverwaltung stellten. Ende des 19. Jahrhunderts hatte dies vor allem Irland betroffen; die an diesem Beispiel diskutierten Lösungsansätze etablierten das Konzept der Devolution als verfassungsrechtliche Antwort auf die Forderung von Home Rule. Auf diese Weise wurden nicht nur die staatlichen Strukturen geprägt, die bis in die 1960er und 1970er Jahre als adäquat betrachtet werde sollten, sondern auch die diskursiven Grenzen gesetzt, in denen staatliche und nationale Zugehörigkeit gedacht und verhandelt werden konnten. So wurde Nordirland in der Devolutions-Debatte auch wegen des andauernden Bürgerkriegs und wegen der in der Home Rule-Auseinandersetzung der 1880er Jahre gesetzten Debattenkultur herausdefiniert. Die Stellung Englands hingegen verweist auf die in der Verfassung des Vereinigten Königreichs inhärente Asymmetrie, die durch die unterschiedlichen Nationsvorstellungen und deren Verankerung innerhalb des Staatswesens des Vereinigten Königreichs gegeben ist. Diese Lesart, die im Mehrheitsbericht der Royal Commission verdichtet dargestellt wurde, hatte deutlichen Rückhalt in Wissenschaft und Politik. Das im Memorandum of Dissent zugespitzte Narrativ der umfassenden Reform des Regierungsapparates nach regionalen Prinzipien konnte sich auch deshalb politisch nicht durchsetzen. Dies war möglicherweise nicht nur wegen bestehender Pfadabhängigkeiten der Fall, sondern auch, weil die Negierung des Nationsgedankens für Schottland und Wales an den politischen Diskursen der Zeit vorbeiging: Die 1970er Jahre waren nicht nur die Zeit verfassungspolitischer Projekte, sondern auch eine Periode, in der der Grundstein dafür gelegt wurde, dass mit dem Begriff der „nationalen Identität“ sozialwissenschaftliche Fachbegriffe den Weg über den Atlantik antreten konnten und es so möglich werden sollte, überlappende Nati-
5 Zusammenfassung und Ausblick
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onsvorstellungen analytisch zu fassen.²¹² Die Narrative verdeutlichen allerdings auch, wie Ordnungsvorstellungen mit einem materiellen und institutionellen Gefüge verknüpft waren. Dies zeigt sich besonders am Devolutions-Narrativ, in dem die Wahlerfolge nationalistischer Parteien in Zusammenhang mit dem industriellen Wandel und dem Prozess der Dekolonisation gesetzt wurden. War die ungeteilte parlamentarische Souveränität grundlegender und dominanter Gedanke der Devolutionsdebatte der 1970er Jahre, wurde sie in den 1990er Jahren zu einem umstrittenen Thema. Allerdings ging es zu diesem Zeitpunkt nicht nur um den Umgang mit regionalen Nationalismen im Vereinigten Königreich, sondern auch um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Der europäische Integrationsprozess wurde von Kritikern als Bedrohung fundamentaler Verfassungsprinzipien betrachtet, allen voran der Souveränität des Parlaments in Westminster. Dieses Argument war bereits in den 1970er Jahren vertreten worden, allerdings vor allem von parlamentarischen Querdenkern wie Tony Benn oder Enoch Powell.²¹³ Dies spiegelte sich auch in den Berichten wider: Während der Mehrheitsbericht nicht davon ausging, dass der Beitritt des Vereinigten Königreichs deutliche verfassungsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen werde, stellte dies eine wichtige Prämisse für die Autoren des Memorandum of Dissent dar.²¹⁴
Vgl. hierzu Teil IV. Vgl. beispielsweise Tony Benn: The people must decide, in: Tony Benn und Joan Bodington (Hrsg.): Speeches, Nottingham 1974, S. 103 – 113; Tony Benn: A grave breach of the constitution, in: Tony Benn und Joan Bodington (Hrsg.): Speeches, Nottingham 1974, S. 113 – 116; Enoch Powell und Richard Ritchie: A nation or no nation? Six years in British politics, London 1978, S. 35; Enoch Powell: The spectre of a Britain that has lost its claim to be a nation, Guardian, 9.11.1981, S. 14. Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 127, §413; Royal Commission on the Constitution, Vol. II, S. xiv, §11.
III Zwischenfazit: Sozialordnung in der Krise Die parlamentarischen, kabinettsinternen und medialen Debatten, die sich an die Unruhen in englischen Städten im Jahr 1981, an die Bemühungen um die Reform des Nationality Law und an das Devolutionsprojekt anschlossen, verdeutlichen, dass das, was zeitgenössisch als die „normale“ Ordnung der Dinge verstanden wurde, durch eine Reihe von als krisenhaft empfundenen Prozessen in Frage gestellt wurde. Die öffentliche Debatte in Folge der Unruhen hat gezeigt, dass die Einwanderungsbewegungen vor allem aus der Karibik und vom indischen Subkontinent in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Bedrohung für das kulturelle Fundament der britischen Gesellschaft betrachtet wurden. Kommentatoren aus dem konservativen Lager machten schon im Verlauf der 1970er Jahre vor allem die männlichen Jugendlichen der zweiten Generation als Gefahrenquelle aus. Sie beklagten ebenso den Verfall gesellschaftlicher Werte und das Aufkommen der sogenannten „permissive society“ seit den 1960er Jahren. Eher sozioökonomisch argumentierende Beobachter hoben hingegen die Folgen der wirtschaftlichen Krisen der 1970er Jahre hervor, allen voran die Jugendarbeitslosigkeit, die zusammen mit der wiederholten Erfahrung von Rassismus die primären Ursachen der Ausschreitungen dargestellt hätten. Die Ereignisse in den englischen Städten im Frühjahr und Sommer 1981 wurden von Journalisten, Politikern und Kommentatoren zugleich als derart einschneidend und die damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen als derart schwerwiegend empfunden, dass die Ausschreitungen als veritable „gesellschaftliche Krise“ gedeutet wurden. Die Migrationsbewegungen hatten auch Folgen juristischer Art: die Reform des Nationality Law. Sie wurden von den an der Reform beteiligten Politikern als Folge des Dekolonisationsprozesses betrachtet, der endlich abgeschlosse n werden müsse. Auch hier spielten Deutungen der britischen Wirtschaftslage eine Rolle, allerdings eher, um der Reform vorhergehende Einschränkungen der Einwanderungsgesetze zu legitimieren. In der parlamentarischen und politischen Debatte um den Umgang mit schottischen und walisischen Nationalismen hingegen wurden von der Mehrheit der Mitglieder der Royal Commission on the Constitution, zeitgenössischen Kommentatoren und historischen Retrospektiven vor allem drei Aspekte angeführt, die das Aufkommen dieser Nationalismen begünstigt haben sollen: die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung, deren ungleichmäßige regionale Verteilung besonders in Schottland den Eindruck entstehen ließ, übervorteilt zu werden (vor allem in Bezug auf Ölförderung), ein Demokratiedefizit staatlicher Strukturen sowie die Auswirkungen des Prozesses der Dekolonisation auf die schottische Bevölkerung, für die mit dem Verlust des https://doi.org/10.1515/9783110627671-004
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Empire und seiner Karrieremöglichkeiten ein wichtiges legitimatorisches Moment der Union abhandengekommen sei. Diese zeitgenössisch identifizierten Transformationsprozesse wurden in der Regel als nationale Veränderungen verstanden, auch wenn die heutige Forschung Abläufe wie Migration oder die Veränderungen in der Industrie- und Wirtschaftsstruktur als trans- beziehungsweise internationale Prozesse versteht. Die Debatte in Folge der Unruhen, aber auch die Reformversuche der Labour- wie auch konservativen Regierungen sind Beispiele dafür, wie in Politik und Öffentlichkeit versucht wurde, diese Veränderungen mit Sinn auszustatten und politisch zu gestalten. Dabei blieben jedoch die grundlegenden Strukturen der britischen Sozialordnung, also das, was in Politik und in London ansässigen Medien als der Normalzustand gesellschaftlichen Lebens und staatlicher Ordnung betrachtet wurde, weiter bestehen. Die Reformen und Veränderungen, ob sie die Polizeiarbeit oder das Nationality Law betrafen, stellen dabei eher die Anpassung der Gesetzeslage an bereits gängige Vorstellungen dar, während einschneidendere Projekte wie das der Verfassungsreform zunächst scheiterten. Dennoch lassen sich in den 1980er Jahren bereits leichte Veränderungen in Diskursen, Grenzen und Beschaffenheit des social imaginary feststellen, beispielsweise die graduelle, von lokalpolitischer Ebene wie der Politik des Greater London Council unter der Führung Ken Livingstones ausgehende Übernahme der ursprünglich im kanadischen Kontext entstandene Idee des Multikulturalismus. Doch auch wenn sich die Konturen der britischen Sozialordnung zunächst nicht grundlegend veränderten, werden sie doch gerade in der Zusammenschau der einzelnen Debatten sichtbar. So verdeutlichte die Diskussion um die Unruhen von 1981 die ethnische Grundierung britischer Gesellschaftsvorstellungen und die unterschiedliche territoriale Verankerung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Briten. Zugehörigkeit zur Nationalgesellschaft wurde – je nachdem, wen man fragte – durch familiäre Werte, Arbeit oder Moralvorstellungen bestimmt – alles Faktoren, die in Gefahr schienen, was die Unruhen von 1981 noch einmal schmerzlich zu illustrieren schienen. Anhand der Debatte um die Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes wurde deutlich, dass durch den Prozess der Dekolonisation und die damit zusammenhängenden Migrationsbewegungen das Gleichgewicht zwischen Nation und Empire gestört worden war, auf dem die britische Nationalitätengesetzgebung bis in die 1960er Jahre geruht hatte. Die öffentliche Auseinandersetzung über Einwanderung in das Vereinigte Königreich verdeutlichte, dass die britischen Nationsvorstellungen ethnisch weiß und national codiert, aber dennoch rechtlich mit Vorstellungen eines globalen Empire verflochten waren. Zu Problemen führte das besonders dann, wenn die Einwanderer, die auf der Basis des imperial gedachten Nationality Law in das Vereinigte Königreich einreisten, als ethnisch oder kulturell fremd angesehen wurden (das
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III Zwischenfazit: Sozialordnung in der Krise
heißt, keine Bewohner der klassischen Siedlerkolonien wie beispielsweise Australien und Kanada waren). Die Debatte nach den Wahlerfolgen von SNP und Plaid Cymru und während des Devolutionsprojektes hingegen verdeutlichte, wie sehr das Parlament zeitgenössisch als Angelpunkt des Staates und als über den einzelnen Nationen des Vereinigten Königreichs stehend gesehen wurde. Die soziale Ordnung, die bis in die 1970er Jahre in Großbritannien etabliert war, beruhte daher auf einem fragilen Gleichgewicht der unterschiedlichen Ordnungskonzepte von Nation, Union, Empire und Gesellschaft. Großbritannien war verfassungsrechtlich Teil des Vereinigten Königreichs – der volle Titel lautet nicht umsonst United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland – und zudem ehemalige Metropole eines großen Kolonialreichs, wurde aber in der Regel als Nationalstaat im kontinentaleuropäischen Sinn verstanden, der bis in die jüngste Vergangenheit als ethnisch weiß imaginiert wurde. Dabei wurde Großbritannien mehrheitlich als Staat gesehen, der ein Empire hatte – und nicht eines war. In diesem Nationalstaat lebten zwar sich mitunter selbst als Nationen definierende Schotten, Engländer und Waliser; jedoch bildeten sie nur in ihrer Gesamtheit die britische Nation, die wiederum als demokratische, in Klassen strukturierte Gesellschaft gedacht wurde. Die Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs leistete einen Ausgleich zwischen den einzelnen Nationen, wurde aber dadurch, dass es gerade in Abgrenzung nach außen als Nationalgesellschaft verstanden wurde, ihrerseits national gedacht. Sie beruhte – ebenso wie die Vorstellungen von Gesellschaft und Nation – auf einem Wirtschafts- und Industriegefüge, das seit den 1960er Jahren sichtbar von Veränderungen betroffen war. Dieses soziale Imaginäre wies dementsprechend eine Reihe von Leerstellen auf, deren deutlichste wohl die Position Nordirlands und die erweiterten politischen Rechte waren, die Bürger der Republik Irland weiterhin im Vereinigten Königreich genossen. Es folgte die Stellung Englands in diesem Beziehungsgeflecht, dessen Status als „Nation“ in den Debatten der 1970er deutlich unterdefiniert blieb, ebenso wie die Ansprüche der Einwanderer aus ehemaligen Kolonien, zu der vorgestellten Gemeinschaft der Briten dazuzugehören. Diese Vorstellungen waren für einen jeweils spezifischen sozialen und geographischen Raum gültig und unterschieden sich zum Teil deutlich nach sozialer und nach politischer Position. Ihre Deutungsmacht beruhte auf einem historisch gewachsenen gesellschaftlichen Gleichgewicht. Sie waren allerdings in sich geographisch gegliedert und reflektierten eine süd-ostenglische Sichtweise, die sich auch in den politischen Machtstrukturen in der Zeit vor der Devolution widerspiegelte. Die Europäischen Gemeinschaften wurden zu dieser Zeit weitestgehend noch nicht als Problem angesehen. Reformen der Verfassung, seit den 1990er Jahren oft als Versuch aus Brüssel verstanden, die Souveränität des britischen Parlamentes zu beschneiden,
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wurden noch als rein nationale Angelegenheit betrachtet.¹ Das soziale Imaginäre stellte dabei nur den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, ein Set von grundlegenden Überzeugungen, die die Sicht auf die Welt strukturierten. Aus der Zusammenschau der unterschiedlichen Debatten über nationale, gesellschaftliche oder staatliche Zugehörigkeit lassen sich darüber hinaus Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Zeitschichten ziehen, aus denen die einzelnen Bestandteile des sozialen Imaginären herrührten. Das Verfassungsdenken, das den politischen Teil des sozialen Ordnungsdenkens prägte, stammte in seinen Grundzügen aus dem späten 19. Jahrhundert; ebenso wie die Industrieordnung, die jedoch durch die Verstaatlichungspolitik nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal eine neue, national geprägte Note erhalten hatte. Die Reform des Nationality Law und die Debatte im Zuge der Unruhen von 1981 verweisen hingegen auf ein Nationsdenken, das in seiner zeitlichen Einordnung mehrdeutig ist: Es vereint ältere, rassistische Exklusionsmechanismen mit der Betonung nachkolonialer britischer Nationalität. An dieser Stelle von einem „moment of British nationalism“ zu sprechen, der entweder mit dem Einsetzen des Zweiten Weltkriegs² oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen habe³, greift daher zu kurz. Anstelle dessen scheint es sinnvoller, von einer sozialen Ordnung mit unterschiedlichen zeitlichen Wurzeln zu sprechen. Doch versuchten nicht nur Politiker und Journalisten, die Veränderungsprozesse ihrer Gegenwart zu deuten. Die Krisen- und Kontingenzerfahrungen der Zeit bildeten auch den Hintergrund, vor dem Historiker, Sozial- und Kulturwissenschaftler kritisch über die Zukunft ihrer Fächer nachdachten und grundlegende wissenschaftliche Parameter neu gesetzt wurden. Diese Entwicklungen sollen Gegenstand des folgenden Kapitels sein.
Zu den tiefgreifenden Veränderungen in der britischen Verfassung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vgl. King: The British constitution, S. 2. Harvie: The moment of British nationalism. Vgl. Edgerton: Rise and fall of the British nation, S. 26 – 27.
IV Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“ in den britischen Geschichts- und Sozialwissenschaften The great social collectivities which used to stabilize our identities – the great stable collectivities of class, race, gender and nation – have been, in our times, deeply undermined by social and political developments.¹ (Stuart Hall) For us, living in the immediate slipstream of these intellectual events, in the ragged turbulence of argument and conviction they left behind, the question historians have asked for other, more distant times and places takes on a closer importance: how it was that a vocabulary of social thought unexpectedly became outmoded and passé, and another way of thinking, for an era, made claim to its place. ² (Daniel T. Rodgers) The British nation and the British state are clearly entering a process of dissolution, into Europe or the mid-Atlantic or a post-imperial fog. Britain has begun its long march out of history. ³ (Gwyn A. Williams)
Die Verschiebungen im sozialen Imaginären, also in dem, was zeitgenössisch als die „normale“ Ordnung der Dinge verstanden wurde, zeigte sich nicht nur in den öffentlichen und politischen Debatten, die sich an die Unruhen in englischen Städten im Jahr 1981, an die Debatte um die Reform des Nationality Law und an das Devolutionsprojekt anschlossen. Sie führten auch dazu, so die These, dass bisher als evident erachtete wissenschaftliche Grundvokabeln der Gesellschaftsbeschreibung und -analyse nicht mehr der beobachteten Realität zu entsprechen schienen und daher in Frage gestellt wurden. Im Vereinigten Königreich war dies vor allem die Vorstellung von „sozialen Klassen“. Historiker, Politologen und Soziologen diskutierten in mehreren, meist unabhängig voneinander geführten Debatten ab den 1960er Jahren über diesen Begriff; Auseinandersetzungen, die ab den 1970er Jahren auch in Politik und Öffentlichkeit aufgegriffen wurden (IV.1). Mit Jenny Pleinen sind die Begriffe, die zur Analyse sozialer Ungleichheit verwendet werden, gleichzeitig auch Bestandteil gesellschaftlicher Selbstbeschrei-
Stuart Hall: Ethnicity: identity and difference, in: Geoffrey Eley und Ronald Grigor Suny (Hrsg.): Becoming national. A reader, Oxford 1996, S. 339 – 349, hier S. 342. Rodgers: Age of fracture, S. 14. Gwyn A. Williams: The Welsh in their history, London 1982, S. 190. https://doi.org/10.1515/9783110627671-005
IV Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“
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bungen; dies gelte besonders für den Klassenbegriff.⁴ Ausgehend von der Frage nach Stellenwert und Bedeutung von sozialen Klassen innerhalb der britischen Soziologie wurden dementsprechend auch andere Metakonzepte der Gesellschaftsanalyse bald von Soziologen, Historikern und den sich ausbildenden Kulturwissenschaften diskutiert. Dabei bildete sich mit den Cultural Studies nicht nur eine Disziplin aus, die sich ab den 1980er Jahren zum transatlantischen Exportschlager entwickeln sollte, sondern es wurden auch die Theorien „poststrukturalistischer“ und „postmoderner“ Denker rezipiert und auf diese Weise einem britischen Publikum zugänglich gemacht. Die gesellschaftliche Analysekategorie der „Klasse“ wurde jedoch auch von Historikern in neuem (kulturhistorischen) Licht betrachtet, die im Austausch mit der britischen Soziologie und den sich entwickelnden Kulturwissenschaften standen.⁵ Innerhalb der marxistischen Neuen Linken wurde ab Mitte der 1970er Jahre ebenfalls über die Bedeutung von „Klassen“ und „Klassenkampf“, diesmal jedoch in der marxistischen Theoriebildung diskutiert. Anlass war eine Wiederauflage der innermarxistischen Debatte um die Bewertung von Nationalismus.⁶ Ging es in den Auseinandersetzungen der 1960er Jahre vor allem um die zeitliche Verortung von Nation und Nationalismus, beschäftigte sich eine einflussreiche Gruppe von Wissenschaftlern, allen voran Eric Hobsbawm und Benedict Anderson, seit den späten 1970er und frühen 1980er Jahren besonders mit der Frage, warum Menschen überhaupt Nationalismus anhingen. Diese grundlegende Veränderung der Forschungsperspektive führte dazu, dass der Nationalismusbegriff neu konzeptioniert wurde. Zugleich wurde damit der Weg für die Aufnahme der Kategorie der „nationalen Identität“ in das begrifflich-methodisches Arsenal der an kulturhistorischen Fragen interessierten angloamerikanischen Geschichts- und Sozialwissenschaften bereitet (IV.2).⁷
Vgl. Jenny Pleinen: Klasse. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/ pleinen_klasse_v1_de_2015 (10. 3. 2015), zuletzt abgerufen am 1.6. 2018. Diesen kam laut Dennis Dworkin in Großbritannien eine zentrale Rolle dabei zu, dass die kritische Hinterfragung fachlicher Prämissen mit dem Rubrum „Kultur“ vorangetrieben wurde. Vgl. Dennis Dworkin: Class struggles, Harlow 2006, S. 64. Zur Luxemburg-Lenin-Debatte innerhalb der Zweiten Internationalen vgl. William David Jones: The lost debate. German socialist intellectuals and totalitarianism, Urbana 1999, S. 28 – 29; Ephraim Nimni: Marxism and nationalism. Theoretical origins of a political crisis, London 1991, S. 44– 69. Der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall stellte 1996 fest, dass es in den Jahren zuvor eine regelrechte diskursive Explosion um den Begriff der Identität gegeben habe. Soziologen debattierten die Auswirkungen der Globalisierung auf die menschliche Identität, so beispielsweise Anthony Giddens oder Manuel Castells in einflussreichen Studien. Vgl. Stuart Hall: Introduction: who needs identity?, in: Stuart Hall und Paul Du Gay (Hrsg.): Questions of cultural identity,
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IV Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“
Die Wende zur „Identität“ in Politik, aber auch in Wissenschaft ist häufig als Konsequenz des industriellen und gesellschaftlichen Wandels seit den 1960er Jahren verstanden worden, im Zuge dessen bisherige, auf traditionellen Strukturen aufbauende Kategorien sozialer Ordnung wie „Klasse“ und „Nation“ von „Identität“ abgelöst worden seien.⁸ Zwar füllte der Begriff der „nationalen Identität“ die intellektuelle Lücke, die durch die Hinterfragung der Konzepte von „Klasse“ und „Nation“ entstanden war und baute durch die Betonung des Subjekts besonders auf der Veränderung in der Analyseperspektive in der Nationalismusforschung auf. Bisher ist jedoch nur ansatzweise untersucht worden, auf welche Weise das Konzept in der britischen Geschichts- und Sozialwissenschaft Fuß gefasst hat: Vor allem die sozialwissenschaftlichen Ursprünge des Konzepts der „Identität“ in den USA der 1950er bis in die 1970er Jahre haben Beachtung gefunden.⁹ Mehr Raum hat die – durchaus berechtigte – Kritik an der ungenauen Verwendung und dem essentialistischen Charakter des Konzeptes seit den frühen 2000er Jahren erhalten.¹⁰ Peter Mandler kombiniert diese beiden Ansätze und
London 1996, S. 1– 17, hier S. 1; Manuel Castells: Das Informationszeitalter 2. Die Macht der Identität, Opladen 2003; Anthony Giddens: Modernity and self-identity. Self and society in the late modern age, Cambridge 1991. So beispielsweise Eric Hobsbawm, der sich dabei auf Daniel Bell beruft. Vgl. Eric J. Hobsbawm: Identity politics and the Left, in: New Left Review 217/1996, S. 38 – 47, hier S. 40. Philip Gleason führte sie bereits 1983 in einem wegweisenden Aufsatz auf die Entwicklungspsychologie Erik Eriksons in den 1950er Jahren zurück, dessen Konzept der adoleszenten „Identitätskrise“ die Psychologie der 1960er Jahre deutlich geprägt habe. Gleason stellt die Entwicklung des Identitätsbegriffs als eine Erfolgsgeschichte seiner immer weiteren Verbreitung im wissenschaftlichen und politischen Diskurs der USA dar. Folgende Faktoren seien dabei besonders bedeutend gewesen: Das seit dem Zweiten Weltkrieg gestiegenen Prestige und die Autorität der Sozialwissenschaften, die umfassenden Krise, in der sich die amerikanische Gesellschaft in den 1960er Jahren befunden habe, sowie der Kontext der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Der Aufstieg des Konzepts der Identität sei demnach in einem dezidierten Kontext der Krise geschehen, in dem die Krisenwahrnehmung zunächst in einem intellektuellen Milieu, später auf der Ebene der Gesellschaft verortet wurde. Auch Ingrid Jungwirth legt in ihrer 2007 erschienenen Habilitationsschrift „Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften“ den Schwerpunkt auf die „Diskursivierung“ personaler und kollektiver Identitätsbegriffe in den amerikanischen Sozialwissenschaften der Nachkriegsjahrzehnte. Vgl. Philip Gleason: Identitfying identity. A semantic history, in: Journal of American History 69/1984, S. 910 – 931, hier S. 927– 929; Jungwirth: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften, S. 10. So stellten Frederick Cooper und Rogers Brubaker im Jahre 2000 die These auf, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften vor dem Begriff der Identität kapituliert hätten. In seiner konstruktivistischen Verbreitung habe der Begriff an analytischem Gewicht verloren – eine These, die auch der Sozialwissenschaftler Mervyn Bendle zwei Jahre später unterstützte. Obgleich das Konzept von Identität im Kern vieler soziologischer Analysen stehe, werde es häufig ohne die nötige theoretische Fundierung verwendet. Auch wenn diese Autoren mit ihrer Kritik explizit auf
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kritisiert eine unreflektierte und von der aktuellen sozialpsychologischen Forschung losgelöste Verwendung des Konzeptes in der britischen Geschichtswissenschaft¹¹; der Begriff selbst sei aus den (amerikanischen) Sozialwissenschaften entlehnt. Dieser Transferprozess habe besonders im Zuge der Neuerungen des Cultural Turn stattgefunden, mit denen es nun nicht mehr als ausreichend erachtet wurde, politische Ideologien wie die des Nationalismus zu beschreiben, sondern zunehmend gefordert wurde nachzuvollziehen, was – polemisch gesagt – in den Köpfen historischer Subjekte vorging.¹² Mandlers Methodenkritik spricht wichtige Punkte an; der politisch-historische Kontext, in dem die Adaption des Konzeptes der „nationalen Identität“, aber auch die Diskussion von „social class“ und die Neubewertung von Nationalismus
die Verwendung des Konzeptes im Kontext jener Entwicklungen verweisen, die seit den 1990er Jahren mit dem Begriff der Globalisierung belegt werden, so ist sie doch nicht neu. Im amerikanischen Kontext bemängelte Phillip Gleason bereits im Jahr 1983 die verbreitete Verwendung des Konzepts: „identity is a new term, as well as being an elusive and ubiquitious one“, während der Politologe William Mackenzie schon 1978 davon gesprochen hatte, das Konzept der Identität sei „driven out of its wits by over-use“. Vgl. Cooper: Kolonialismus denken, S. 109; Mervyn F. Bendle: The crisis of ‚identity‘ in high modernity, in: The British Journal of Sociology 53/2002, S. 1– 18, hier S. 1; Gleason: Identitfying identity, S. 910. Mackenzies Buch basiert auf einem bereits 1974 gehaltenen Vortrag.Vgl. W J. M. Mackenzie: Political identity, Manchester 1978, S. 11. Auch im deutschen akademischen Kontext hatte das Konzept Fuß gefasst, mit Lutz Niethammer und Dieter Langewiesche hatte es auch hier prominente Kritiker.Vgl. hierzu beispielsweise Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000; Dieter Langewiesche: Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland – ein Sonderweg? Die deutsche Nation im europäischen Vergleich, in: Ulrike von Hirschhausen und Jörn Leonhard (Hrsg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 49 – 67, hier S. 60. Vgl. auch Heinz Abels: Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, 4. Aufl., Wiesbaden 2007; Heinz Abels: Identität, 2., überarbeitete Aufl.,Wiesbaden 2010; Helmut Berding: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a. M. 1994; Christian Geulen: Die Metamorphose der Identität. Zur „Langlebigkeit“ des Nationalismus, Frankfurt a. M. 1998; Robert Hettlage (Hrsg.): Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Religion, Nation, Europa, Opladen 1997; Katharina Liebsch: Identität und Habitus, in: Hermann Korte und Bernhard Schäfer (Hrsg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Wiesbaden 2008, S. 69 – 86; Peter Wagner: Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität, in: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hrsg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität, Frankfurt a. M. 1998, S. 44– 72. Mandler zufolge rezipierten Historiker jedoch nicht die neusten sozialpsychologischen Studien zur Bildung kollektiver Identitäten, sondern hätten einen innerfachlichen Konsens etabliert, der zwar den traditionellen Stärken historiographischer Arbeitsweisen entgegenkomme, jedoch wenig mit dem aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschungsstand zu tun habe: Geschichtswissenschaftliche Fragen richteten sich vor allem auf die Kontexte der Identitätsbildung, nicht auf den sozialpsychologischen Prozess an sich. Vgl. Mandler: What is „national identity“, S. 272. Vgl. ebd.
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abliefen, bleibt jedoch offen – doch gerade dieser ist für die vorliegende Arbeit zentral: Der Zusammenhang von kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, zeitgenössischem Krisenbewusstsein und wissenschaftlicher (Selbst‐)Reflexion über die Leerstellen der bisherigen Großbritannienforschung bildet, so die These, den Schlüssel, um nicht nur die daraus resultierende Debatte über Ursprung und Zustand britischer nationaler Identität in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, sondern auch den Erfolg nationaler Identität als Analysekategorie in der britischen Geschichtswissenschaft erklären zu können. Dazu ist es notwendig, „nationale Identität“ – ebenso wie „soziale Klasse“ und „Nationalismus“ – nicht als Analysekategorie, sondern als Quellenbegriff zu behandeln. Denn die Adaption von „nationaler Identität“ ist eng mit der historiographischen Debatte über Britishness in dieser Zeit verbunden, die sich wiederum im Kontext der öffentlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung über Patriotismus und Nationalismus im Zuge des Falklandkonflikts im Jahr 1982 sowie den Stellenwert nationaler Vergangenheit im Zuge der „heritage“-Debatte entwickelt hat (IV.3).
1 Class als Analysekategorie der britischen Sozialforschung Class und die britische Soziologie Die von den späten 1960er bis in die frühen 1980er Jahre geführten öffentlichen und parlamentarischen Debatten über den Zustand der britischen „Gesellschaft“, über die Folgen von Migration und des sogenannten „keltischen Nationalismus“ haben deutlich gemacht, dass die Nationalgesellschaft bis in die 1970er Jahre hinein einen Grundpfeiler des britischen sozialen Imaginären darstellte. Die zentrale Kategorie für deren Binnenunterteilung war die der „social class“. Diese Vorstellung einer national verstandenen Klassengesellschaft zeigte sich paradigmatisch in der britischen Soziologie: So war das Thema sozialer Ungleichheit eine der ersten Fragen, mit der sie sich seit ihren Anfangstagen im 19. Jahrhundert beschäftigt hatte.¹³ Der Einfluss der reformpolitischen Strömung des „Fabianism“ auf die frühe britische Soziologie hatte dazu geführt, dass Fragen von struktureller sozialer Ungleichheit in ihr einen deutlichen Platz einnahmen, die entlang der Kategorie der „Klasse“ diskutiert wurden.¹⁴ Der nationale Rahmen dieser Forschung wurde durch den nicht nur der britischen Soziologie inhärenten metho-
Vgl. Hermann Korte: Einführung in die Geschichte der Soziologie, 9., durchges. Aufl., Wiesbaden 2011, S. 15. Vgl. Rosemary Crompton: Class and stratification, 3. Aufl., Cambridge 2008, S. 36.
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dischen Nationalismus gestützt. Denn die Mehrheit der Soziologen verstand den Begriff der Klasse bis in die 1960er Jahre nicht nur als eine mit der Existenz einer britischen Gesellschaft einhergehende sozioökonomische Einheit, sondern setzte in der Analyse auch einen nationalen Rahmen voraus. Diese Sichtweise kann nicht zuletzt auf das zeitgenössisch weit verbreitete Narrativ der wirtschaftlichen und industriellen Modernisierung im 19. Jahrhundert zurückgeführt werden, die als nationale Entwicklung gedacht wurde und die auf sozialer Ebene die Herausbildung sozioökonomischer Klassen zur Folge gehabt habe.¹⁵ Grundlegend für die soziologische Beschäftigung mit sozialen Klassen war die Einteilung, die der britische Staat zur Klassifikation seiner Bürger vornahm¹⁶: Das General Register Office, zuständig für den alle zehn Jahre durchgeführten Zensus, verwendete von 1921 bis 1991 ein Modell, das sich an Berufsgruppen orientierte, die RegistrarGeneral’s Social Classes (RGSC). Diese unterschieden zwischen „upper and middle classes“, „skilled workmen“ und „unskilled labourers“ sowie Zwischenstufen innerhalb dieser Einteilung.¹⁷ Diese Klassifikation war auch in der britischen Konsumforschung standardsetzend, die wiederum oft in politischen und öffentlichen Debatten zitiert wurde: Die National Readership Survey des Institute of Practitioners in Advertising, dem Handelsorgan der britischen Werbe- und Medienindustrie, stellte im Jahr 1964 die Überarbeitung seiner Leserumfragen vor, die sich zum grundlegenden Klassifikationsmodell der staatlichen Umfrageforschung entwickelt sollte. Auch dieses lehnte sich an die Einteilung des Zensus an; die an den Umfragen teilnehmenden Haushalte wurden in die Klassen A, B, C1, C2, D oder E eingeordnet. Grundlage war auch hier die Klassifikation nach Berufsfeld, die um Angaben von Einkommen und Beruf ergänzt wurde.¹⁸ Diese „social grades“ wurden in Einführungsheften für unterschiedliche Benutzer ab den 1970er Jahren erläutert: Die Beschreibungen, die bis 1985 weitgehend unverändert blieb, ordneten die Kategorie A der „upper middle class“ zu, damit waren Fachkräfte oder Regierungsräte angesprochen; B stand für „middle class“ – gut situiert, aber nicht in Führungspositionen, C1 „lower middle class“, womit Gewerbetreibende und Büroangestellte in untergeordneten Positionen angesprochen waren. C2 „skilled manual workers“ waren Handwerker mit Aus-
Zum Zusammenhang von Klassenbildungs- und Nationsbildungsprozessen vgl. Robert Fine und Daniel Chernilo: Classes and nations in recent historical sociology, in: Gerard Delanty und Engin F. Isin (Hrsg.): Handbook of historical sociology, London/Thousand Oaks/New Delhi 2003, S. 235 – 249. Zu Maßnahmen staatlicher Klassifikation und Simplifizierung vgl. James C. Scott: Seeing like a state. How certain schemes to improve the human condition have failed, New Haven 1998, S. 81. Vgl. Brückweh: Menschen zählen, S. 157. Vgl. ebd., S. 169 – 173.
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bildung, D „semi-skilled and unskilled working class“ umfasste ungelernte Arbeiter, während Kategorie E für die am „lowest level of substistence“ lebenden Haushalte gedacht war, womit in der Regel Rentner, Witwen und Personen klassifiziert wurden, die entweder in unregelmäßigen Arbeitsverhältnissen standen oder auf staatliche Hilfe angewiesen waren.¹⁹ Die Bedeutung des Konzepts der „social class“ in dieser Zeit für Teile der britischen Soziologie zeigte sich paradoxerweise daran, dass soziologische Studien zu class in Großbritannien in den 1950er und 1960er Jahren nicht en vogue waren²⁰: Zwar argumentierten Soziologen mit Klassen und schrieben über Klassen, jedoch reflektierten sie weniger darüber, was eine Klasse war und wie sie verwendet werden konnte. So beschäftigte sich die britische Soziologie in den 1950er Jahren schwerpunktmäßig mit „working class communities“, eine bedeutende Studie war beispielsweise Michael Youngs und Peter Willmotts „Family and Kinship in East London“ (1957), das sich mit der Arbeitergemeinde im Londoner Stadtteil Bethnal Green beschäftigte.²¹ In den 1950er und 1960er Jahren wurden auch grundlegende Studien wie T. H. Marshalls „Citizenship and Social Class and Other Essays“ (1950), Richard Titmuss’ „Income Distribution and Social Change“ (1962), aber auch W. G. Runcimans „Relative Deprivation and Social Justice“ (1966) publiziert, die die Vorstellung sozialer Klassen – freilich in teils unterschiedlichen Konzeptionen – zum Ausgangspunkt nahmen.²² Der relative Mangel an Studien zur Klassengesellschaft in Großbritannien zu dieser Zeit verweist gerade auf die Stärke des Klassenbegriffs: Denn solange dieser weitgehend unhinterfragt als die adäquate Kategorie galt, um gesellschaftliche Ungleichheiten zu beschreiben, musste er nicht diskutiert werden. Zugleich führte die methodische Ausrichtung vieler soziologischer Arbeiten, die sich am Funktionalismus meist amerikanischer Provenienz orientierten, dazu, dass konflikttheoretische Vorstellungen von Klassen weniger Aufmerksamkeit erhielten. In den 1950er und 1960er Jahren lag das erklärte Zentrum der Soziologie
Vgl. ebd., S. 174– 175. Vgl. Dworkin: Class struggles, S. 36 – 37. Vgl. Michael D. Young und Peter Willmott: Family and kinship in East London, Berkeley 1957; Hew Beynon: Engaging Labour: British sociology 1945 – 2010, in: Global Labour Journal 2/2011, S. 5 – 26, hier S. 6. Diese Studien entstanden jedoch nicht alle an Universitäten; Peter Willmott und Michael Young schrieben beispielsweise als Angehörige des Institute of Community Studies, eines Think Tanks in London. Vgl. T. H. Marshall: Citizenship and social class, and other essays, Cambridge 1950; Richard M. Titmuss: Income distribution and social change. A study in criticism, London 1962; Runciman: Relative deprivation.
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in den USA und die bevorzugte Methode war quantitativ-empirisch.²³ Besonders die Theorien des Strukturfunktionalismus fielen in Großbritannien auf fruchtbaren Boden. In diesen vor allem von den Soziologen Talcott Parsons, Robert K. Merton und Edward Shils vertretenen²⁴ Theorien wurde die menschliche Gesellschaft als System konzeptioniert, in dem die einzelnen Teile zum Erhalt des Systems zusammenarbeiten: Gesellschaft wurde als Sozialsystem verstanden, das die Tendenz habe, durch einen Prozess normativer Integration immer weiter zusammenzuwachsen. Die makrosoziologisch-funktionalistische Betonung der Stabilität von Gesellschaften hatte wenig Platz für die häufig konflikttheoretisch gedachte Vorstellung sozialer Klassen.²⁵ Unter Einfluss der dominanten USamerikanischen Soziologie wurde vielmehr das darin reflektierte Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft universalisiert. Ein Einfluss, der dadurch verstärkt wurde, da die anhaltende wirtschaftliche Boomphase bis Mitte der 1960er Jahre diese modernisierungstheoretisch unterlegte und fortschrittsorientierte Gesellschaftsvorstellung zu bestätigen schien.²⁶ Diese Forschungsperspektive wurde bereits seit den späten 1950er Jahren kritisiert. Ralf Dahrendorfs zunächst auf Deutsch erschienene Habilitationsschrift „Class and class conflict in industrial society“ (1959) war beispielsweise als dezidierter Versuch angelegt, mit dem Begriff der „class“ eine konflikttheoretische Kritik am funktionalistischen Konsensgedanken zu üben.²⁷ Ende der 1950er Jahre wurde dann auch nicht der Klassenbegriff an sich, sondern der Zusammenhang von sozialstrukturellem Wandel und sozialen Klassen diskutiert. Dies kann als Hinweis darauf gelten, dass die bis dahin mehrheitlich akzeptierte, in der britischen Soziologie verankerte Vorstellung gesellschaftlicher Ordnung, die das Verhältnis von sozioökonomischer Verteilung und gesellschaftlicher Stratifikation bestimmt hatte, angesichts der wirtschaftlichen Lage der Nachkriegszeit aus dem Gleichgewicht gekommen war und neu bestimmt werden musste. Bekanntestes Beispiel dafür war die sogenannte Em-
Vgl. A. H. Halsey: A history of sociology in Britain. Science, literature, and society, Oxford 2004, S. 119. Über den Einfluss Parsons herrscht in der britischen Soziologiegeschichte Uneinigkeit. Während Bryan Turner die These vertrat, dass Parsons Schriften nur eine marginale Rolle im soziologischen Diskurs einnahmen, betont Mike Savage gerade die Bedeutung des Professors aus Harvard für die britische Soziologie. Vgl. Bryan S. Turner: British sociology and public intellectuals. Consumer society and imperial decline, in: British Journal of Sociology 57/2006, S. 169 – 188, hier S. 178; Michael Savage: Identities and social change in Britain since 1940. The politics of method, Oxford 2010, S. 107. Vgl. Dworkin: Class struggles, S. 38. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. Ralf Dahrendorf: Class and class conflict in industrial society, Stanford 1959, S. xi–xii.
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bourgeoisement-These als Antwort auf die Frage, welche Folgen wachsender materieller Wohlstand auf die Arbeiterklasse habe. Vertreter dieser These argumentierten in den 1950er Jahren, dass mit steigendem materiellem Wohlstand die Arbeiter Werte und Lebensstile der Mittelklasse annähmen, also im marxistischen Jargon bourgeois würden.²⁸ Industrieller Fortschritt wurde in dieser Lesart zum deutlichen Marker sozialer Mobilität. Die Debatte war jedoch nicht neu. Die Vorstellung, dass materieller Wohlstand Klassenkonflikte abschwächen könne, lässt sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen und wurde erstmals von dem Sozialisten Eduard Bernstein geäußert.²⁹ Die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft wurde vor allem in der amerikanischen Soziologie weiterentwickelt, in der dieser Zustand angesichts der vergleichsweise hohen Löhne der Arbeiterklasse, ihres vergleichsweise niedrigen Klassenbewusstseins und der im Vergleich als einschneidender bewerteten Rassenkonflikte erreichbar schien.³⁰ Die Debatte zu classlessness beziehungsweise Embourgeoisement fand ihren Weg über die stark von den USA geprägte Soziologie nach Großbritannien.³¹ Diese soziologische Fachdebatte zog in Großbritannien weitere Kreise in benachbarte Wissenschaften und Politik: Richard Hoggarts 1957 erschienene Studie „The uses of literacy“ analysierte den kulturellen Wandel, der sich durch die Amerikanisierung der Populärkultur und der sich ausbildenden Massenkultur vollziehe und die traditionellen Arbeitergemeinden aufbrechen lasse.³² Hoggarts Beitrag zur Debatte um die Zukunft der Arbeiterklasse war zugleich einer der Grundlagentexte der Kulturwissenschaften in Großbritannien. Aber auch politisch wurde die Zukunft der Arbeiterklasse angesichts ihres neuen Wohlstands diskutiert. Besonders in der Labour Party wurde dies zu einem deutlichen Thema, um das in den 1950er Jahren ein Richtungskampf entbrannte. Das 1956 publizierte Buch des späteren Umwelt- und Außenministers Anthony Crosland „The future of socialism“ griff als dezidierter Debattenbeitrag zur zukünftigen programmati-
Als zeitgenössisches Beispiel vgl. Rita Hinden: Conclusion, in: Mark Abrams und Richard Rose (Hrsg.): Must Labour lose? With a commentary by Rita Hinden, Harmondsworth 1960, S. 119 – 121, hier S. 119. Zur von Bernstein angestoßenen Revisionismusdebatte innerhalb der Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Sven Papcke: Der Revisionismusstreit und die politische Theorie der Reform. Fragen und Vergleiche, Stuttgart 1979. Zur intellektuellen Strömung des Konsensliberalismus in den USA vgl. Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003, S. 60 – 71; Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 75 – 77. Vgl. Dworkin: Class struggles, S. 39. Vgl. Richard Hoggart: The uses of literacy, London 1957, S. ix.
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schen Ausrichtung der Labour Party die Fragen auf, die in der EmbourgeoisementThese diskutiert wurden.³³ Auch wenn in der Debatte die Parameter neu gezogen wurden, in der Klassenzugehörigkeit gedacht wurde und die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung der „Arbeiterklasse“ zur Diskussion stand, wurde doch die Existenz einer „Klassengesellschaft“ an sich nicht in Frage gestellt. Dies zeigte sich deutlich in der Studie, die die Embourgeoisement-Debatte in den 1960er Jahren beenden sollte: John Goldthorpe, David Lockwood, Jennifer Platt und Frank Bechhofer publizierten 1969 ihre dreibändige Arbeit „The affluent worker“. Goldthorpe und seine Kollegen stellten auf Basis von Interviews mit Arbeitern und Angestellten in den Automobilwerken und Chemiefabriken in der englischen Stadt Luton fest, dass zwar viele Arbeiter angesichts ihres Einkommens und Konsums auf dem Weg in die oder schon auf dem Stand der Mittelklasse waren. Dieser relative Wohlstand kam jedoch um den Preis geringer betrieblicher Aufstiegschancen und Arbeitsmotivation. Arbeit sei Mittel zum Zweck.³⁴ Zudem blieben die Arbeiter (blue collar workers) in der Freizeit unter sich; anstelle der Gesellschaft von Angestellten (white collar workers) zogen sie es vor, ihre Freizeit zu Hause im Kreis der Familie zu verbringen. Auch sahen die Autoren die Implikation der EmbourgeoisementThese nicht bestätigt, dass mit zunehmenden materiellem Wohlstand die Unterstützung der Labour Party abnehme – eine Sorge, die Reformer wie Crosland in den 1950er Jahren umgetrieben hatte.³⁵ Wenngleich die Studie Goldthorpes und seiner Kollegen in der jüngeren soziologischen Forschung aufgrund der angewandten Methoden kritisch diskutiert wird³⁶, stellt sie eine wichtige Wegmarke in der Debatte über die Kategorie der Klasse in der soziologischen Gesellschaftsanalyse dar. Dabei kam es den Autoren weniger in den Sinn, den Begriff der Klasse neu zu konzeptionieren – sie verblieben in einem weitgehend von Max Weber inspiriertem Modell. Wichtiger war vielmehr die Tatsache, dass sie sich in ihrer Betonung der Klassengegensätze dem funktionalistischen und integrativen soziologischen Geist der Zeit widersetzten.³⁷ Die Popularisierung des Klassenbegriffs im Zuge der soziologischen Embourgeoisement-Debatte ging mit der Konsolidierung des bis dahin institutionell
Vgl. Florence Sutcliffe-Braithwaite: Class, community and individualism in English politics and society, 1969 – 2000 (Dissertation, University of Cambridge, 2014), S. 13 – 14. Vgl. John Goldthorpe, Frank Bechhofer, David Lockwood und Jennifer Platt: The affluent worker in the class structure, London 1969, S. 157. Vgl. John Harry Goldthorpe, Frank Bechhofer, David Lockwood und Jennifer Platt: The affluent worker. Political attitudes and behaviour, London 1968, S. 73. Vgl. beispielsweise Savage: Identities and social change in Britain, S. 2– 3. Vgl. Dworkin: Class struggles, S. 37.
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nur wenig verankerten Faches in den 1960er Jahren sowie mit ersten kritischen Auseinandersetzungen mit dem funktionalistischen Theorieimport aus den USA einher.³⁸ Die 1960er Jahre stellten daher eine einschneidende Zäsur in der Geschichte der Soziologie in Großbritannien dar. Das Jahrzehnt markiert die Professionalisierung des Faches, während gleichzeitig die imperialen Verflechtungen der Anfangstage gekappt oder vergessen wurden.³⁹ Den Anfang machte die Gründung der Zeitschrift New Society, die für Mike Savage den „moment of sociology“ in Großbritannien markiert: Das Fach breitete sich von den drei isolierten Zentren London, Liverpool und Leicester in der britischen Wissenschaftslandschaft aus. Die generelle Bildungsexpansion in Folge des Robbins-Reports des Jahres 1963 und der Errichtung des British Social Science Research Council im Zuge des Heyworth-Berichts aus dem Jahr 1965 schafften ein dafür förderliches Umfeld. Die Expansion des Faches stand im Zusammenhang mit einer stark organisierten Labour Bewegung und deren Glauben an die Planbarkeit von gesellschaftlichem Fortschritt. Das Fach der Soziologie leistete damit einen wichtigen Beitrag zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“⁴⁰ und lieferte die notwendigen Daten für Premierminister Harold Wilsons Projekte in seinen reformorientierten Amtszeiten Mitte der 1960er Jahre.⁴¹ Dass die neu gegründete Zeitschrift New Society dezidiert auch politische Entscheidungsträger ansprach, verdeutlicht einmal mehr die
In den 1950er Jahren war die Soziologie in Großbritannien institutionell nur schwach etabliert. Obgleich der erste Lehrstuhl für Soziologie 1907 an der London School of Economics (LSE) eingerichtet und mit The Sociological Review im Jahr 1908 die erste wissenschaftliche Fachzeitschrift gegründet worden war, blieb das Fach in den 1950er Jahren mit der LSE und den Universitäten Liverpool und Leicester auf drei isolierte Zentren beschränkt: Während die Einrichtung des ersten Lehrstuhls im europäischen und amerikanischen Vergleich nicht weiter auffällig war – Émile Durkheim wurde 1887 Lehrbeauftragter für Soziologie und Pädagogik in Frankreich, Leopold von Wiese bekleidete ab 1919 den ersten Lehrstuhl für Soziologie in Deutschland – blieb es in Großbritannien bis nach dem Zweiten Weltkrieg dabei. Das britische Empire bot vielen Wissenschaftlern, die sich mit soziologischen Fragen beschäftigten, vor allem in der Zeit zwischen den 1940er und 1960er Jahren Forschungsgegenstand und Anstellung. Wichtige Strömungen der britischen Soziologie wie die der race relations-Forschung waren durch Forscher aus den Siedlerkolonien und deren Perspektive beeinflusst, britische Sozialanthropologen wie Edward E. Evans-Pritchard oder Alfred Radcliffe-Brown erforschten teils im Auftrag des Colonial Office ferne Völker und wurden von Soziologen im British Journal of Sociology zitiert. Vgl. Savage: Identities and social change in Britain, S. 107. Vgl. Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen. Das Fach der Soziologie verkörperte den meritokratischen Tenor der neuen Mittelklasse sowie das Vertrauen in die rationale Planung des gesellschaftlichen Fortschritts. Vgl. George Steinmetz: British Sociology in the Metropole and the Colonies, 1940s–60s, in: John Holmwood und John Scott (Hrsg.): Palgrave Handbook of Sociology in Britain, Houndmills, Basingstoke 2014, S. 302– 337, hier S. 303.
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anwendungsorientierte Ausrichtung der neuen Soziologie⁴², in der Professoren wie A. H. Halsey Zwischenstopps als ministerielle Berater einlegten und deutlich Einfluss auf die Politik nahmen, in diesem Fall auf den Schulsektor.⁴³ Die Soziologie der New Society präsentierte sich modern, objektiv und neutral – und mit geschärften disziplinären Konturen. Nachdem in den 1950er und 1960er Jahren das Thema der Klassen und Klassenanalyse im öffentlichen wie auch im soziologischen Diskurs nicht im Zentrum des Interesses gestanden hatte, änderte sich dies grundlegend seit den ausgehenden 1960er Jahren. Den Kern der öffentlichen Debatte bildeten nun Konflikte zwischen der Regierung und den Gewerkschaften. Diese traten seit den späten 1960er Jahren vermehrt auf und kulminierten in nationalen Streikwellen in den Jahren 1972, 1973/74 und 1978/79. Die zugrundeliegenden Konflikte waren sowohl wirtschaftlich als auch politisch begründet: Das Verhältnis von Gewerkschaften, Unternehmen und Regierung in Großbritannien basierte auf einem austarierten, wenn auch bis Margaret Thatchers Gewerkschaftsreformen Mitte der 1980er gesetzlich nur wenig verankerten System, das bei beständigem Wirtschaftswachstum gut, in andauernden wirtschaftlichen Krisenzeiten jedoch nur eingeschränkt funktionierte. Die Gewerkschaften genossen seit dem Trade Disputes Act von 1906 weitgehende Immunität gegenüber Schadensersatz- und Haftungsansprüchen von Seiten der Arbeitgeber. Die Beziehungen zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Staat waren darüber hinaus jedoch nicht gesetzlich geregelt; es herrschte das System des Free Collective Bargaining, also der Tarifautonomie basierend auf individuellen Absprachen der einzelnen Gewerkschaft mit dem jeweiligen Betrieb. Die Beziehungen zwischen Regierung und Gewerkschaften wurden dadurch verkompliziert, dass der Staat seit der Nationalisierung von Kernindustrien wie dem Kohlebergbau selbst ein wichtiger Arbeitgeber geworden war. Die Stellung der Arbeitnehmervertretungen wurde nach 1945 zusätzlich dadurch gestärkt, dass sie in der keynesianischen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung der Nachkriegszeit eine immer bedeutendere Position einnahmen und sich auf diese Weise zu einer ernstzunehmenden wirtschaftlichen
Zur Anwendungsorientierung der New Society vgl. Savage: Identities and social change in Britain, S. 112– 113; Beynon: Engaging Labour: British sociology 1945 – 2010, S. 8; Turner: British sociology and public intellectuals, S. 179. Savage hingegen betont die Rolle des Militärapparats bei der Ausbildung der Soziologie als akademisches Fach in Großbritannien. Er richtet sich mit dieser Interpretation gegen die konventionelle Sichtweise, dass der Aufstieg der Soziologie in Großbritannien vor allem mit der Einrichtung des Wohlfahrtsstaats zusammenhänge, die vor allem von A. H. Halsey vertreten wurde. Vgl. Savage: Identities and social change in Britain, S. 67; Halsey: A history of sociology in Britain, S. 10 – 11, 41– 42, 97.
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und politischen Kraft entwickelten. Das in vielen traditionellen Betrieben praktizierte System des closed shops, in dem alle Arbeitnehmer eines Betriebs verpflichtet waren, Mitglied der dort vertretenen Gewerkschaft zu sein⁴⁴, unterstützte diese politische Stellung. Zugleich gerieten viele Industriezweige im Zuge zunehmender internationaler Konkurrenz unter Produktivitätsdruck, was die angespannte Lage verschärfte. Die wachsende Zahl teils ‚wilder‘ Streiks, die rechtliche Immunität der Streikenden, das Fehlen einer allgemeinen staatlichen Regelung der Tarifbeziehungen und -verhandlungen sowie die schier unüberschaubaren Anzahl teils kleinster Gewerkschaften⁴⁵ erweckte seit Ende der 1960er Jahre sowohl in der Bevölkerung als auch bei Politikern den Eindruck einer destruktiven Rolle der Arbeitnehmerverbände.⁴⁶ Im Jahr 1973 erreichte der Konflikt zwischen Regierung und den Gewerkschaften im Kontext der Ölkrise einen vorläufigen Höhepunkt. Im Zentrum stand die National Union of Mineworkers (NUM): Kohle stellte noch immer die wichtigste Energiequelle Großbritanniens dar; Streiks mussten daher angesichts des Unvermögens der Regierung, die daraus entstehenden Versorgungsausfälle mit preiswertem Öl abzufangen, umso effektiver sein. Die globalen wirtschaftlichen Entwicklungen stießen auf diese Weise innenpolitische Prozesse an, die sich zu einer veritablen politischen Krise ausweiteten. Die konservative Regierung sah sich als Notfallmaßnahme dazu gezwungen, der britischen Industrie und Wirtschaft eine energiepolitische Drei-Tage-Woche zu verordnen und verlor nur wenige Monate nach Beginn des Konflikts eine unter dem Vorzeichen dieses Konflikts geführte Parlamentswahl.⁴⁷ Für die Gewerkschaften bedeutet der knappe Wahlsieg Labours eine signifikante politische Aufwertung, wurden ihnen doch von der neuen Regierung unter Premierminister Harold Wilson deutliche Zugeständnisse gemacht. Im Herzen der Politik Labours stand der sogenannte „Social Contract“, ein informelles Abkommen zwischen Labour und dem Trade Union Congress, in dem die Gewerkschaften für die Außerkraftsetzung des ungeliebten Industrial Relations Act, Subventionen für Grundnahrungsmittel und ein Einfrieren der Mietraten im Gegenzug freiwillige Zurückhaltung bei zukünftigen
Vgl. Thomas Mergel: Großbritannien seit 1945, Göttingen 2005, S. 52. Die Gewerkschaften waren in Großbritannien nicht nach Branchen, sondern Berufsgruppen organisiert, weshalb in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften operieren konnten. Vgl. George Lurcy Bernstein: The myth of decline. The rise of Britain since 1945, London 2004, S. 210. Zur Drei-Tage-Woche vgl. Andy Beckett: When the lights went out. Britain in the seventies, London 2009, S. 126.
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Lohnverhandlungen versprachen.⁴⁸ Dass diese Zugeständnisse jedoch nicht das Grundproblem des Verhältnisses zwischen Gewerkschaften und den unterschiedlichen Regierungen lösten, zeigte unter anderem der Generalstreik im Herbst und Winter 1978/79, der als shakespearianischer „winter of discontent“ in die öffentliche Debatte einging. Der ein Jahr andauernde Bergarbeiterstreik von 1984/85 bot schließlich der konservativen Regierung Margaret Thatchers den Anlass für eine deutliche Beschneidung der Befugnisse der Gewerkschaften. Während die Rhetorik des Klassenkampfs in der Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Regierung seit den späten 1960er Jahren wiederbelebt wurde, gewann das Thema der Klassengesellschaft auch innerhalb der Labour Party an Bedeutung. Besonders die Auswirkungen, die der demographische und industrielle Wandel auf ihre Wählerbasis hatte, beschäftigte Parteiführung wie -basis und nahestehende Wissenschaftler. Florence Sutcliffe-Braithwaite sieht Eric Hobsbawm und den Politikwissenschaftler Ivor Crewe im Zentrum dieser programmatischen Debatte in linken politisch-intellektuellen Zirkeln.⁴⁹ Besonders Hobsbawm, der sich nicht nur als Historiker, sondern auch als marxistischlinker Publizist einen Namen gemacht hatte, beeinflusste die Debatte maßgeblich: 1978 hielt er die von der Marx Memorial Library in London organisierte Marx Memorial Lecture mit dem Titel „The forward march of Labour halted?“, die im gleichen Jahr in dem von der Kommunistischen Partei herausgegebenen intellektuellen Magazin Marxism Today veröffentlicht wurde. Hobsbawm argumentierte, dass sich die Arbeiterklasse und die Arbeiterbewegung in einer Periode der Krise befänden. Das Klassenbewusstsein der britischen Arbeiterbewegung habe seine Basis in den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern der Schwerindustrie. Der Anteil der Arbeitnehmer in diesem Sektor habe jedoch nach Ende des Zweiten Weltkriegs stark abgenommen, sodass die Wählerbasis der Labour Party zunehmend schrumpfe. Hobsbawm diagnostizierte zudem Veränderungen im britischen kapitalistischen System, die im Zuge der Nationalisierung von Industriezweigen und der daraus folgenden starken Präsenz des öffentlichen Sektors auf dem Arbeitsmarkt, der verstärkten Erwerbstätigkeit von Frauen und der Einwanderungsbewegungen aufgetreten seien. Das habe dazu geführt, dass sich sektionale Unterschiede innerhalb der Arbeiterklasse verstärkt hätten. Die Militanz der Gewerkschaften der 1960er und 1970er Jahre, die sich rein auf wirtschaftliche Gesichtspunkte beschränke, habe den drohenden Mangel an Solida Vgl. Woodward: The management of the British economy, S. 143; Harold Wilson: Leader’s speech. London, http://www.britishpoliticalspeech.org/speech-archive.htm?speech=172, zuletzt abgerufen am 12.11. 2010. Vgl. Florence Sutcliffe-Braithwaite: „Class“ in the development of British Labour Party ideology, 1983 – 1997, in: AfS 53/2013, S. 327– 361, hier S. 336 – 338.
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rität noch verstärkt und dazu geführt, dass die britische Arbeiterbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs in eine Krise geraten sei.Wolle die Arbeiterbewegung relevant bleiben, müsse sie neue Antworten auf diese Krise und die damit einhergehenden Herausforderungen finden.⁵⁰ Hobsbawms Analyse löste eine Debatte innerhalb der Linken aus, die durch den Streik des öffentlichen Sektors im Herbst und Winter 1978/79 und die Wahlniederlage der Labour Party im kommenden Jahr an Dringlichkeit gewann.⁵¹ Kritiker von Seiten der Linken warfen Hobsbawm vor, den politischen Ausverkauf der Arbeiterbewegung durch den „Social Contract“ zu unterschlagen, andere betonten wiederum die Notwendigkeit und Überfälligkeit seiner Analyse.⁵² Besonders nach der desaströsen Wahlniederlage Labours gegen die Conservative Party im Jahr 1983 fanden sich innerhalb Labours eine deutliche Zahl an Mitgliedern, die für eine „Modernisierung“ der Partei argumentierten. Auch hier standen die politischen Auswirkungen des industriellen und damit verbundenen perzipierten Wandels in der Sozialstruktur im Mittelpunkt der Debatte. Ivor Crewes und Bob Särlviks noch im selben Jahr publizierte Analyse der Parlamentswahl und der vorherigen Wahlniederlage des Jahres 1979 konnte in diesem Kontext einflussreich werden. Im Kern seiner Argumentation stand die Diagnose einer Abnahme von Parteiidentifikation, auf Englisch „dealignment“. Der eng mit Labour verbundene Politologe Crewe hatte seine These bereits seit den späten 1970ern entwickelt.⁵³ Särlvik und Crewe fassten 1983 zusammen: It now appears that the most crucial feature of the 1970s is the shrinkage of the Labour Party’s electoral base. It certainly was one of the most significant features of the two 1974 elections, and it would have been even more apparent if it had not coincided with a widespread sense of dissatisfaction with the 1970 – 4 Conservative Government. […] It is among the working class that the Labour Party has lost ground, and that is where it’s voting support has become the most vulnerable to electoral volatility.⁵⁴
Zur Rede und dem darauf aufbauenden Artikel vgl. Eric J. Hobsbawm: The forward march of Labour halted?, in: Marxism Today, September 1978, S. 279 – 286. Hobsbawm sah seine Analyse durch die Wahl bestätigt, vgl. Eric J. Hobsbawm: The forward march of Labour halted? – A response, in: Marxism Today, September 1979, S. 265 – 267, hier S. 265. Zur Debatte innerhalb Marxism Today vgl. beispielsweise Ken Gill: Discussion. The forward march of Labour halted?, in: Marxism Today, Dezember 1978, S. 395 – 398; Pete Carter: Discussion. The forward march of Labour halted?, in: Marxism Today, Januar 1979, S. 27– 31; Roger Murray: Discussion. The forward march of Labour halted?, in: Marxism Today, März 1979, S. 93 – 94. Bo Särlvik und Ivor Crewe: Decade of dealignment. The Conservative victory of 1979 and electoral trends in the 1970s, Cambridge 1983. Ebd., S. 331– 332.
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Dieser Prozess der sinkenden Identifikation der Wähler mit einer bestimmten Partei sei für alle drei großen Parteien erkennbar gewesen, stelle aber letztlich für die Labour Party das gravierendste Problem dar, wie der Wahlausgang im Jahr 1979 gezeigt habe.⁵⁵ Hinter dem Problem der schwindenden Parteiidentifikation stand für die Autoren auch ein Wandel in der britischen Gesellschaftsstruktur, in der der Teil der Arbeiterklasse abnehme, der sein Geld mit manuellen Tätigkeiten verdiene, und die Zahl der gut ausgebildeten und vergleichsweise wohlhabenden Angestellten zunehme, die wiederum häufig gewerkschaftlich nicht organisiert waren.⁵⁶ Die von Hobsbawm angestoßene und von Crewe und weiteren Wissenschaftlern fortgeführte Debatte über die Zukunft der Labour Party gibt nicht nur einen Einblick in die programmatische Auseinandersetzung, die in Labour-nahen Kreisen geführt wurde. Sie verdeutlicht auch die Art und Weise, wie gesellschaftlicher und industrieller Wandel innerhalb der Labour Party mit Sinn ausgestattet wurde. Die Vorstellung von sozioökonomisch bedingten sozialen Klassen stellte dabei weiterhin die Parameter bereit, nach denen gesellschaftliche Stratifikation und politische Orientierung innerhalb Großbritanniens gedacht wurde; auch, weil auf ganz Großbritannien anwendbare Alternativen fehlten. Crewe und Särlvik definierten dies wie folgt: the importance of social class arises partly from the absence of any competing social class basis for the electorate’s party loyalties. Language and culture are an alternative in rural Wales; national identity in Scotland; race and religion in a few major cities. But none of these can form a basis of party loyalties across Great Britain as a whole.⁵⁷
Für die Autoren bezeichnete der Begriff der „social class“ lediglich als eine Kategorie der Gesellschaft, die durch einen ähnliche Menge an Geld, Status und Macht gekennzeichnet war – eine an Max Weber angelehnte Definition, die seit Goldthorpe und Lockwood den orthodoxen Rahmen soziologischer Analyse gebildet hatte.⁵⁸ Dennoch blieb die Vorstellung von auf Klassen basierender gesellschaftlicher Differenz, wenn auch nicht ihre genaue Einteilung, weiterhin prägend für die Modernisierer der Labour Party um Neil Kinnock, John Smith, Tony Blair und Gordon Brown.⁵⁹ Ebd., S. 337. Vgl. hierzu auch Sutcliffe-Braithwaite: „Class“ in the development of British Labour Party ideology, S. 338. Särlvik und Crewe: Decade of dealignment, S. 74– 75. Vgl. Dworkin: Class struggles, S. 44. Vgl. Sutcliffe-Braithwaite: „Class“ in the development of British Labour Party ideology, S. 360 – 361.
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Doch nicht nur im politischen Diskurs wurde in den 1970er Jahren verstärkt die Rhetorik von class bemüht. Seit Goldthorpes und Lockwoods Untersuchung wurden Klassenstudien auch in der britischen Soziologie verstärkt durchgeführt, soziale Ungleichheiten rückten etwa in Studien von Peter Townsend oder Ken Coates in das Zentrum der Aufmerksamkeit.⁶⁰ In soziologischen Fachzeitschriften wurden in den 1970er Jahren vermehrt Artikel publiziert, die das Konzept der sozialen Klasse als Analysekategorie verwendeten.⁶¹ Der britische Soziologe Ivan Reid konnte 1981 sogar feststellen, dass Klasse das zentrale Konzept der britischen Soziologie darstelle.⁶² In gewisser Weise schrieb diese wissenschaftlichpolitische Auseinandersetzung die Embourgeoisement-Debatte der 1950er Jahre fort, indem sie sie auf die Ebene der Parteipolitik übertrug. Sowohl die Diagnose des soziostrukturellen Wandels als auch die bevorzugte sozioökonomische, seit Goldthorpe und Lockwood deutlich durch Weber inspirierte Lesart von Klasse blieb weiterhin bestehen. Hatte die Soziologie im Laufe der 1960er Jahre begonnen, den Zusammenhang von sozialstrukturellem Wandel und sozialen Klassen zu diskutieren, wurde die Debatte nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Militanz britischer Gewerkschaften und der Wahlniederlage 1979 in der Labour Party aufgegriffen und fortgeführt. Die generelle Eignung des Konzeptes der „Klasse“, um als vermeintlich objektive Größe auf sozioökonomischer Differenz basierende Ungleichheiten zu beschreiben, wurde jedoch auch von den an dieser Debatte beteiligten Wissenschaftlern nicht in Frage gestellt. Die verstärkte Thematisierung des Paradigmas der Klasse in der britischen Soziologie und, mit zeitlicher Verzögerung, in der Politik, ließ jedoch die bislang weitgehend unhinterfragt angenommene „nationale Klassengesellschaft“ als zentralen Pfeiler des etablierten social imaginary in den Blick der Wissenschaft treten. Damit wurde das Klassenkonzept als dominante Kategorie zur Analyse „gesellschaftlicher Ungleichheit“ angreifbar, auch
Vgl. Townsend: Poverty in the United Kingdom; Ken Coates: Poverty. The forgotten Englishmen, London 1970. Vgl. beispielsweise Trevor Noble: Social mobility and class relations in Britain, in: British Journal of Sociology 23/1972, S. 422– 436; Aubrey Weinberg und Frank Lyons: Class. Theory and practice, in: British Journal of Sociology 23/1972, S. 51– 65; John C. Goyder: A note on the declining relation between subjective and objective class measures, in: British Journal of Sociology 26/1975, S. 102– 109; Frank Bechhofer, Brian Elliott und David McCrone: Structure, consciousness and action: a sociological profile of the British middle class, in: British Journal of Sociology 28/1978, S. 410 – 436; Duncan Gallie: Social radicalism in the French and British working classes. Some points of comparison, in: British Journal of Sociology, 30/1979 S. 500 – 524; John D. Stephens: Class formation and class consciousness. A theoretical and empirical analysis with reference to Britain and Sweden, in: British Journal of Sociology 30/1979, S. 389 – 415. Vgl. Ivan Reid: Social class differences in Britain, 2. Aufl., London 1981, S. 2.
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wenn die damit verbundenen und beschriebenen sozialen Ungleichheiten weiter fortbestanden. Forscher aus dem Bereich der Cultural Studies sollten schon bald seine Erklärungskraft in der bisherigen Verwendung in Zweifel ziehen und entwickelten alternative Kategorien. Diese Herausforderung der traditionellen Sicht auf die Klassengesellschaft soll Gegenstand des nächsten Kapitels sein.⁶³
Die Neue Linke, class, race und das Centre for Contemporary Cultural Studies Eine weitere kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept sozialer Klassen kam aus dem Feld der „neuen Linken“. Die britische neue Linke bildete den Raum, in dem neue Ideen diskutiert und gesellschaftliche Kritik artikuliert werden konnten. Sie stellte das Milieu dar, in dem Wissenschaftler aus der Geschichts- und Kulturwissenschaft, aber auch der Soziologie, sozialisiert wurden, die bestehende wissenschaftliche Meinungen kritisch prüften.⁶⁴ Innerhalb der frühen oder „ersten“ neuen Linken in den späten 1950er Jahren in Großbritannien gab es zwei größere Gruppen, die aus unterschiedlichen Milieus stammten: Die eine setzte sich aus ehemaligen Mitgliedern der Kommunistischen Partei zusammen. Unter ihnen waren der Historiker E. P. Thompson und seine Frau Dorothy sowie John Saville, allesamt Mitglieder der Oxforder Communist Party Historians Group und Mitbegründer der Zeitschrift The Reasoner, welche nach ihrem Austritt aus der Communist Party ab Mai 1957 als The New Reasoner publiziert wurde. Die andere Gruppe bestand aus jüngeren Intellektuellen, die als Studenten an der Universität Oxford das Journal The Universities and Left Review (ULR) gegründet hatten, unter ihnen Stuart Hall, Gabriel Pearson und Alan Hall, aber auch der Historiker Raphael Samuel, der Soziologe Norman Birnbaum und der Philosoph Charles Taylor. Gerade durch den Altersunterschied war der politische und intellektuelle Hintergrund der beiden Gruppen sehr verschieden: Die ältere Gruppe der Neuen Linken war mehrheitlich im politischen Umfeld des Kommunismus der 1930er und 1940er Jahre geprägt worden. Für sie mussten die 1950er Jahre als politische Niederlage erscheinen; als eine Zeit, in der die Politik der Conservative Party an den Wahlurnen Erfolg hatte und die Arbeiterbewegung zum Erliegen gekommen schien.⁶⁵ Aus dem inneren Kreis der Neuen Linken blieb allein Eric Hobsbawm
Zur Entwicklung der soziologischen Klassenforschung vgl. Sutcliffe-Braithwaite: Class, community and individualism, S. 18; Ivan Reid: Class in Britain, Cambridge 1998, S. xix. Für einen kurzen Abriss der Geschichte der britischen Neuen Linken vgl. Wade Matthews: The new left, national identity, and the break-up of Britain, Leiden/Boston 2013, S. 1– 25. Vgl. Dennis Dworkin: Cultural marxism in postwar Britain. History, the new left, and the origins of cultural studies, Durham, NC 1997, S. 45.
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aktiv; ein einflussreicher und überaus produktiver Historiker von späteren Werken wie „The age of Empire“, „The age of capital“, „The age of extremes“ oder „Nations and nationalisms since 1780“⁶⁶, und auch nach 1956 Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB).⁶⁷ Die zweite Gruppe hingegen entstammte dem studentischen Milieu Oxfords und war weitaus kosmopolitischer geprägt: Stuart Hall kam aus Jamaica, Pearson und Samuel hatten einen britisch-jüdischen Hintergrund, Birnbaum stammte aus den USA und Taylor hatte einen franko-kanadischen Hintergrund.⁶⁸ Auch die Mitglieder dieser zweiten Gruppe beschäftigten sich mit marxistischem Gedankengut, hatten jedoch einen eklektischeren Ansatz. Charles Taylor beispielsweise war in den Worten Stuart Halls „a sort of Catholic Marxist“.⁶⁹ Weder hatten sie – wie Hoggart oder Williams – einen familiären Hintergrund in der britischen Arbeiterklasse, noch hatten sie die Wirtschaftskrisen der 1930er um die Große Depression oder den Zweiten Weltkrieg persönlich erfahren. Die Unterschiede waren jedoch auch programmatischer Art: Während die New Reasoner-Gruppe die Theorien des Marxismus nicht als solche problematisch fand, sondern eher das, was aus ihnen in der Sowjetunion gemacht worden war, hinterfragte die Gruppe um die ULR die generelle Eignung des Marxismus dafür, die Komplexitäten zeitgenössischer Gesellschaft zu verstehen.⁷⁰ Die Neue Linke erschöpfte sich jedoch nicht in den Gruppen unmittelbar um die Zeitschriften ULR, New Reasoner und später New Left Review: Man sollte sie eher als breites Milieu verstehen, das dazu beitrug, die Regeln des politischen Diskurses zu verändern.⁷¹ Im Jahr 1960 fusionierten die Zeitschriften Universities and Left Review und New Reasoner zur New Left Review, die bis 1961 von Stuart Hall und ab 1962 von Perry Anderson herausgegeben wurde – ein einheitliches Forum der Neuen Linken war geboren.⁷²
Eric J. Hobsbawm: The age of revolution. Europe 1789 – 1848, London 1962; Eric J. Hobsbawm: The age of capital, 1848 – 1875, London 1975; Eric J. Hobsbawm: The age of Empire, 1875 – 1914, London 1987; Eric J. Hobsbawm: Age of extremes. The short twentieth century, 1914– 1991, London 1994. Vgl. Dworkin: Cultural Marxism in postwar Britain, S. 50. Vgl. Stuart Hall: Life and times of the first New Left, in: New Left Review 61/2010, S. 177– 196, hier S. 182. Vgl. ebd. Vgl. Dworkin: Cultural Marxism in postwar Britain, S. 62. Eine Charakterisierung, die zuerst von Dorothy Thompson vorgenommen wurde. Vgl. hierzu Paul Blackledge: The New Left: beyond Stalinism and social democracy?, in: Evan Smith und Matthew Worley (Hrsg.): Against the grain: The British far left from 1956, Manchester 2014, S. 45 – 61, hier S. 46. Anderson übernahm nicht nur die inhaltliche, sondern auch die finanzielle Kontrolle über die Zeitschrift: Mit 9000 Pfund Sterling kam er nicht nur für die Schulden des Blattes auf, sondern
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Die Zeitschrift wurde zum Diskussionsforum einer diversen und informellen politischen Bewegung. Veteranen der Gewerkschaften und des linken Flügels der Labour Party zählten sich zu ihren Lesern, ebenso wie radikale Akademiker, Studenten, Künstler und dissidente Kommunisten. Die New Left Review und das intellektuelle Magazin der Kommunistischen Partei in Großbritannien, Marxism Today, welches seit 1977 bis zu seiner Einstellung 1991 von Martin Jacques herausgegeben wurde, wurden die beiden wichtigsten Organe, in denen innerhalb der Neuen Linken über politische Themen diskutiert wurde. Das 1964 zur Erforschung zeitgenössischer kultureller Fragestellungen gegründete Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) an der University of Birmingham kann als Paradebeispiel dafür gelten, welche Gestalt die im intellektuellen Umfeld der Neuen Linken verwurzelte wissenschaftliche Gesellschaftsanalyse mit politisch-kritischem Impetus annehmen konnte.⁷³ Institutionell zwar an der Fakultät für Anglistik verankert, wurde das Centre bald zum beispiellosen interdisziplinären Diskussionsraum. Gesellschaftliche Probleme wurden dort unter Rückgriff auf breit gefächertes Theoriematerial kritisch diskutiert. Aus dieser Position der linken, politisch engagierten Intellektuellen heraus versuchten Wissenschaftler und Studenten des Birminghamer Zentrums unter der Leitung von Stuart Hall denjenigen Zustand zu analysieren, den sie als die „organic crisis of the British state“ bezeichneten. In dieser Krise sahen sie die Ursache und Rechtfertigung für jene neue Form des „authoritarian populism“, die in ihren Augen durch Enoch Powell und Margaret Thatcher verkörpert wurde. Diese Variante des Populismus zeichnete sich für sie unter anderem durch eine neue Form eines kulturell basierten Rassismus aus, der sich von früheren, rein biologischen Varianten unterscheide.⁷⁴ Diese These bildete die Grundlage für eine Reihe einflussreicher Studien, beispielsweise „Policing the crisis“ (1978), „The Empire strikes back“ (1982) oder „The great moving right show“ (1983).⁷⁵ In den
setzte im selben Zug auch das Redaktionskomitee ab – ein Schritt, der ihn in offenen Konflikt mit E. P. Thompson bringen sollte, da dieser nun seines Einflusses in dem zentralen Organ der Neuen Linken beraubt war. Vgl. Dworkin: Cultural Marxism in postwar Britain, S. 75 – 76. Vgl. Centre for Contemporary Cultural Studies: Scope of research. First report, September 1964, in: Ann Gray, Jan Campbell, Mark Erickson, Stuart Hansen und Helen Wood (Hrsg.): CCCS selected working papers Bd. 1, London/New York 2007, S. 25 – 29, hier S. 25. Vgl. hierzu beispielsweise Errol Lawrence: Just plain common sense: the ‚roots‘ of racism, in: Centre for Contemporary Cultural Studies (Hrsg.): The Empire strikes back, Nachdruck, London 1986, S. 47– 94, hier S. 47. Hall, Critcher, Jefferson, Clarke und Roberts: Policing the crisis; Stuart Hall: The great moving right show, in: Stuart Hall und Martin Jacques (Hrsg.): The politics of Thatcherism, London 1983; Centre for Contemporary Cultural Studies (Hrsg.): The Empire strikes back. Race and racism in 70s Britain, Nachdruck, London 1986.
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Arbeiten des CCCS wurde nicht nur eine konstruktivistische Lesart gesellschaftlicher Phänomene artikuliert.⁷⁶ Das Centre leistete zugleich einen wichtigen Beitrag dazu, die gesellschaftliche Analysekategorie von „class“ angesichts der veränderten Wahrnehmung sozialer Realität neu zu fassen und daneben „race“ als ernstzunehmende Analysekategorie zu etablieren. Für die Diskussion dieser Themen zogen seine Mitglieder strukturalistische und poststrukturalistische Denker heran. Die britischen Kulturwissenschaften schufen damit ein Forum, innerhalb dessen die als krisenhaft empfundenen Entwicklungen der 1970er und 1980er Jahre gedeutet werden konnten. Diese Auseinandersetzung führte zu einer Neuformulierung und Neuetablierung gesellschaftlicher Analysekategorien über die Kulturwissenschaften hinaus, die sich wiederum in dieser Zeit als Fach etablierten. Zunächst jedoch wurde class auch am Centre for Contemporary Cultural Studies als objektive Größe verstanden. Besonders in der Anfangszeit sollte mit den Mitteln und Methoden der Literaturwissenschaft die Populär- und Massenkultur analysiert werden. Der Ansatz war betont interdisziplinär angelegt, mit bewussten Anleihen bei der Geschichtswissenschaft und der Soziologie. Richard Hoggart und Raymond Williams, die zusammen mit dem Historiker E. P. Thompson als die Gründerväter der angloamerikanischen Cultural Studies gelten, waren ausgebildete Literaturwissenschaftler und als solche vertraut mit der traditionellen, auf Hochkultur fokussierten Sichtweise.⁷⁷ Beeinflusst von dem in Cambridge lehrenden Literaturkritiker F. R. Leavis, der Kultur als einen untrennbaren Teil des Lebens verstand, setzte Richard Hoggart in seinem Hauptwerk „The uses of literacy“ dazu an, die britische Arbeiterkultur zu rehabilitieren. Seine Perspektive war allerdings die eines Kulturpessimisten, der die traditionelle britische Arbeiterkultur von der standardisierten amerikanischen Massenkultur bedroht sah⁷⁸: Der ehemalige „scholarship boy“ aus bescheidenen Verhältnissen, der den Sozialaufstieg durch Bildung geschafft hatte, deutete Arbeiterkultur als ein bewahrenswertes Gut. Diese war es für ihn wert, mit literaturwissenschaftlichen Analyseinstrumentarien untersucht zu werden, die bis dahin für Werke der „Hochkultur“ reserviert gewesen waren.⁷⁹ Auch Raymond Williams, der wie
Vgl. beispielsweise Stuart Halls Aussage in seiner erstmals im Januar 1979 publizierten Analyse der neuen Rechten: „these new elements do not ‚emerge‘, they have to be constructed“, vgl. Hall: The great moving right show, S. 23. Zu den Gründungsvätern der Cultural Studies vgl. Hall: Cultural Studies, S. 57– 58; Oliver Marchart: Cultural Studies, Konstanz 2008, S. 49 – 55. Vgl. Marchart: Cultural Studies, S. 50 – 51. Vgl. Hoggart: The uses of literacy, S. ix, 4– 5.
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Hoggart selbst aus der Arbeiterklasse stammte, nahm in seinen Werken „Culture and society, 1780 – 1950“ (1958) und „The long revolution“ (1961) eine ähnliche Perspektive ein und etablierte damit das Thema der sozialen Klasse fest im kulturwissenschaftlichen Themenfeld. Hoggart verstand dies als ein Mittel, die zeitgenössische Gesellschaft besser verstehen zu können. Denn „English, once again and finally, has to do with language exploring human experience“ und sei daher „always in an active relation with its age“, wie der erste Direktor des CCCS in seiner Antrittsvorlesung 1964 zusammenfasste.⁸⁰ Auch der britische Historiker E. P. Thompson hatte sich der Analyse der britischen Arbeiterkultur angenommen. Der streitbare Wissenschaftler kritisierte jedoch eine Romantisierung der Arbeiterklasse, die er bei Hoggart und Williams zu entdecken glaubte, sowie deren in seinen Augen impressionistische Methode und ihren holistischen Ansatz, die umfassende Lebensweise der Arbeiter in den Blick zu nehmen. Anstelle dessen sollten Klassenkonflikte im Kulturbegriff verankert werden.⁸¹ Deutliches Beispiel für Thompsons Ansatz war sein im Jahre 1963 publiziertes Hauptwerk „The making of the English working class“. Thompson verstand Klasse als historisch gewordene Kategorie, die sich aus den Beziehungen der Menschen zueinander ergebe: And class happens when some men, as a result of common experiences (inherited or shared), feel and articulate the identity of their interests as between themselves, and as against other men whose interests are different from (and usually opposed to) theirs. The class experience is largely determined by the productive relations into which men are born – or enter involuntarily.⁸²
Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die Soziologen der 1960er Jahre, deren Klassenbegriff er als deskriptiv verstand, als Analysekategorie, die auf menschliche Beziehungen aufgestülpt werde⁸³; er kritisierte aber ebenso deutlich die marxistische Klassenanalyse und den ökonomischen Determinismus des rigiden Basis-Überbau-Modells.⁸⁴ Ein zentraler Aspekt bei der Untersuchung von Klassen müsse hingegen die Kategorie des historischen Bewusstseins sein:
Richard Hoggart: Schools of English and contemporary society, in: Ann Gray, Jan Campbell, Mark Erickson, Stuart Hanson und Helen Wood (Hrsg.): CCCS selected working papers, Bd. 1, London/New York 2007, S. 17– 24, hier S. 24. Vgl. Marchart: Cultural Studies, S. 54– 55. Vgl. E. P. Thompson: Making of the English working class, New York 1963, S. 9. Vgl. ebd., S. 10 – 11. Vgl. Donald M. MacRaild und Avram Taylor: Social theory and social history, Basingstoke 2004, S. 24.
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Class-consciousness is the way in which these experiences are handled in cultural terms: embodied in traditions, value-systems, ideas, and institutional forms. If the experience appears as determined, class-consciousness does not.⁸⁵
Diese kulturalistische Lesart des Klassenbegriffs des ehemaligen Kommunisten Thompson war wegweisend nicht nur für die Ausbildung der Cultural Studies, sondern auch für die Geschichtswissenschaft und beeinflusste die Etablierung der Sozialgeschichte in Großbritannien.⁸⁶ „Class“ wurde im CCCS besonders ab dem Moment hinterfragt, als mit einem veränderten Direktorium und einer neuen, ethnisch heterogenen Studentenkohorte die Arbeiten des Centre auf einen als zunehmend autoritär begriffenen öffentlich-politischen Diskurs reagierten. Nach dem Weggang Richard Hoggarts zur UNESCO hatte Stuart Hall 1969 die Leitung des Instituts übernommen, der die pluralistische Grundhaltung und den kollektiven Arbeitsgeist des CCCS weiter förderte.⁸⁷ In der Historiographie des Centre, die deutlich durch die Protagonisten selbst geprägt ist, wird die Geschichte dieses konzeptionellen Wandels aus der Dynamik unterschiedlicher Persönlichkeiten, deren politisch-sozialer Weltsicht und der daraus resultierenden Interessenkonflikte erklärt.⁸⁸ Dies zeigte sich zunächst im Umgang mit der feministischen Kritik, die Studentinnen des Centre an der Leitung und der Ausrichtung der Forschungseinrichtung übten.⁸⁹ Feministische Studentinnen, die zum großen Teil auch in der Women’s Liberation Front aktiv waren, sahen sich in den bestehenden Strukturen des Centre nicht repräsentiert. Die kollektive Arbeit am CCCS war um eine Reihe von Arbeitsgruppen, sub-groups, organisiert: 1974 wurde die Women’s Studies Group gegründet, 1976 setzten Studentinnen durch, dass eine Arbeitsgruppe rein für Frauen gegründet werden sollte. Diese Erweiterung des Themenspektrums verlief nicht konfliktfrei: Die feministische Bewegung hatte sich in den Worten Stuart Halls wie ein „thief in the night“ eingeschlichen und störte die Arbeit am Centre, „interrupted, made an
Vgl. Thompson: Making of the English working class, S. 10. Vgl. Patrick Curry: Towards a post-marxist social history: Thompson, Clark and beyond, in: Adrian Wilson (Hrsg.): Rethinking social history: English society 1570 – 1920 and its interpretation, Manchester 1993, S. 158 – 200, hier S. 164– 167. Zu den Arbeitstechniken im Centre vgl. Kieran Connell und Matthew Hilton: The working practices of Birmingham’s Centre for Contemporary Cultural Studies, in: Social History 40/2015, S. 287– 311. Zur Selbsthistorisierung des Centre vgl. ebd., S. 288. Vgl. Stuart Hall: Cultural studies and its theoretical legacies, in: Stuart Hall, David Morley und Kuan-Hsing Chen (Hrsg.): Stuart Hall. Critical dialogues in cultural studies, London 1996, S. 261– 274, hier S. 268.
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unseemly noise, seized the time, crapped on the table of cultural studies“.⁹⁰ Die politische Stoßkraft, die mit dem feministischen Projekt einherging, war unumstritten. Die seinerzeit als Studentin beteiligte Charlotte Brunsdon bezeichnete die Arbeit ihrer Gruppe aus der Rückschau als „Brückenkopf“ der identity politics der 1980er und 1990er Jahre.⁹¹ Die politische Stoßkraft machte auch die Machtstrukturen innerhalb des Centre sichtbar. Stuart Hall sprach davon, dass er durch das feministische Projekt „the gendered nature of power“ entdeckt habe⁹²; während ein internes, von den Mitarbeitern Hall, Michael Green und Richard Johnson verfasstes Positionspapier den Konflikt als eine Auseinandersetzung zwischen „being working class and male […] as opposed to being female, middle class and feminist“ verstand – und damit den Konflikt im etablierten Paradigma des sozialen Klassenkonflikts deutete.⁹³ Für den konzeptionellen Wandel des Centre in den 1970er Jahren wurden jedoch besonders das Thema der Rassismusforschung und die Etablierung von race als alternative Forschungskategorie neben class entscheidend. Auch diese Neuerung auf der wissenschaftlichen Agenda kam im CCCS nicht ohne Konflikte zustande. Stuart Hall erinnert sich an die teils heftig geführten Diskussionen, die der Publikation von „Policing the crisis: mugging, the state and law and order“ (1978) und „The Empire strikes back: race and racism in 70s Britain“ (1982) vorangegangen waren: Actually getting cultural studies to put on its own agenda the critical questions of race, the politics of race, the resistance to racism, the critical questions of cultural politics, was itself a profound theoretical struggle, a struggle of which Policing the Crisis, was, curiously, the first and very late example. […] Paul Gilroy and the group of people who produced the book found it extremely difficult to create the necessary theoretical and political space in the Centre in which to work on the project.⁹⁴
In der Wendung zu race als wissenschaftliche Analysekategorie gesellschaftlicher Ungleichheiten fielen mehrere Faktoren zusammen: die Wahrnehmung eines verschärft autoritären politischen Diskurses, die (teils persönlich erfahrene) Diskriminierung ethnischer Minderheiten, sowie die neue Zugänglichkeit (post‐) strukturalistischer und postmoderner Theoretiker durch Übersetzungen und
Ebd. Zu Brunsdons Einschätzung vgl. Charlotte Brunsdon: A thief in the night: stories of feminism in the 1970s at CCCS, in: Stuart Hall, David Morley und Kuan-Hsing Chen (Hrsg.): Stuart Hall. Critical dialogues in cultural studies, London 1996, S. 275 – 285. Hall: Cultural studies and its theoretical legacies, S. 269. Zit. nach Connell und Hilton: Working practices, S. 300. Hall: Cultural studies and its theoretical legacies, S. 269.
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Neuerscheinungen. So waren ebenso wie beim Thema des Feminismus politische Probleme Ausgangspunkt, um die Kategorie „race“ aus dem etablierten soziologischen Kontext der „race relations“ zu lösen und kritisch zu überdenken. Während es in der entsprechenden soziologischen Forschung vor allem darum gegangen war, die Beziehungen unterschiedlicher ethnisches Gruppen – races – zu analysieren, um die bestmögliche Form des Zusammenlebens zu finden, griffen die Analysen des CCCS und verwandter Forscher die Kategorie „race“ an sich an.⁹⁵ Die Vertreter der race relations-Forschung wurden kritisiert, bestehende Ungleichheiten noch zu verstärken, indem sie in einem methodischen Vorgriff unterschiedliche Gruppen als ethnisch separat konzeptionierten.⁹⁶ Konsequenterweise nahmen beide von Hall genannte Werke eine politische Krise zum Ausgangspunkt: War es in „Policing the Crisis“ die mediale Konstruktion einer „moral panic“, die angesichts eines vermeintlich neuartigen Phänomens von mehrheitlich von Schwarzen verübten Überfällen („mugging“) ausgebrochen sei, so war die Grundlage für „The Empire strikes back“ die bereits genannte These, dass der britische Staat sich in einer umfassenden Krise befinde („organic crisis“). Diese sei das Resultat einer Reihe interagierender wirtschaftlicher, politischer, ideologischer und kultureller Prozesse.⁹⁷ Die Politik von law and order, das Nachdenken über Gewalt und die Verwendung von race als soziale und kulturelle Differenzkategorie sei seit den 1960er Jahren eng verknüpft; der Staat nehme bei der Etablierung von ethnisch-kulturellen Differenzen eine zentrale Rolle ein.⁹⁸ So argumentierte Errol Lawrence beispielsweise, dass der Umgang mit der in seinen Augen „gesellschaftlichen Krise“ Großbritanniens durch eine neue Form des kulturellen Rassismus geprägt sei – ein Deutungsmuster, das nur wenige Monate nach den Unruhen der Jahre 1980 und 1981 vor allem in konservativen Medien erkennbar war: „the fear that society is falling apart at the seams has prompted the elaboration of theories about race which turn towards particular notions of culture.“⁹⁹
Zur soziologischen „race relations“-Forschung vgl. Tamme: „Promoting Racial Harmony“; Berg: Der kurze Frühling des britischen Multikulturalismus; Tamme: Von den dark strangers zum „Subproletariat“. Zur „race relations“-Forschung siehe auch Kapitel I.1. Vgl. Errol Lawrence: In the abundance of water the fool is thirsty: sociology and black ‚pathology‘, in: Centre for Contemporary Cultural Studies (Hrsg.): The Empire strikes back. Race and racism in 70s Britain, London 1986, S. 95 – 142, hier S. 95. Vgl. Hall, Critcher, Jefferson, Clarke und Roberts: Policing the crisis; Solomos, Findlay, Jones und Gilroy: The organic crisis of British capitalism. Vgl. Solomos, Findlay, Jones und Gilroy: The organic crisis of British capitalism, S. 11, 17. Lawrence: Just plain common sense, S. 47.
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Die Mitarbeiter und Studenten des CCCS rezipierten und analysierten die Entwicklungen jedoch nicht nur aus wissenschaftlicher Distanz, sondern wirkten aktiv politisch gegen die von ihnen identifizierten Missstände: Paul Gilroy, der 1978 als Promotionsstudent an das Centre gekommen war, arbeitete nach Auslaufen seiner Finanzierung für den Greater London Council (GLC) als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Police Committee und wirkte dort an Untersuchungen mit, die der Reform der Metropolitan Police dienen sollten.¹⁰⁰ Gilroy war darüber hinaus Mitglied des West Midlands County Council Panel, das einen alternativen Bericht zu den Unruhen erarbeitete, die 1985 im Birminghamer Stadtteil Handsworth stattgefunden hatten.¹⁰¹ Die persönlichen Erfahrungen der Wissenschaftler dürften auch eine Rolle in der Etablierung eines kritischen race-Begriffs gespielt haben. Eine große Anzahl der Studenten, die in den (späten) 1970er Jahren in das CCCS strömten, besaß zwar wie Stuart Hall einen familiären Hintergrund in einer ehemaligen britischen Kolonie, in der Regel der Karibik, war jedoch anders als Hall bereits in Großbritannien geboren, zum Teil mit einem „britischen“, das heißt ethnisch weißen Elternteil. So begründet die am Buchprojekt „The Empire strikes back“ beteiligte Kulturwissenschaftlerin Hazel Carby ihre Motivation deutlich aus dem politischen Kontext ihrer Zeit und der Tatsache heraus, dass sie als Kind eines karibischen Vaters und einer weißen Mutter in ihrem Leben Rassismus am eigenen Leib verspürt habe: I arrived at the Centre, an obnoxiously self-righteous, anti-racist activist […] With me came the historical baggage of those years: a politics of the classroom forged in defence of the tenets and practices of progressive education against the insidious incursions of the Department of Education under ‚Maggie Thatcher the Milk Snatcher‘; and a politics of the street honed in anti-racist battles waged against fascist gangs and their racist cousins in police uniform who patrolled our neighbourhood. While I learnt much from each of those struggles they cost me little. However, I riffed upon them brazenly, elaborating them as ‚street cred‘ to disguise how terrified and insecure I actually felt about being back and black in graduate school.¹⁰²
Vgl. Paul Gilroy, Tony Bunyan, Claire Demuth und Louise Christian: A new police authority for London. A consultation paper on democratic control of the police in London, GLC police committee discussion paper no. 1, London Metropolitan Archive, London, LMA/GLC/DG/PUB/01/116/ 1317a. Diese Reform war nicht zuletzt nach der teils unrühmlichen Rolle der Polizei in den Unruhen des Jahres 1981 in den Augen vieler Kommentatoren notwendig geworden, vgl. Kapitel I.1. Vgl. Review Panel: A different reality. An account of black people’s experiences and their grievances before and after the Handsworth rebellion of September 1985, Birmingham 1986. Hazel Carby: Introduction to section 5, in: Ann Gray, Jan Campbell, Mark Erickson, Stuart Hanson und Helen Wood (Hrsg.): CCCS selected working papers. Bd. 2, 2. Aufl., London/New York 2007, S. 563 – 570, hier S. 563.
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IV Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“
Birmingham wurde in dieser Lesart zu dem geographischen Ort und mentalen Raum, in dem Lösungen für die Probleme, die sie zu dieser Zeit bewegten, gefunden werden konnten. So betrachtete Carby die Mitglieder des CCCS bereits bevor sie sie getroffen hatte als Verbündete im Kampf gegen die zunehmend autoritären und konservativen Kräfte, die gegen die Armen, die Arbeiterklasse, die Schwarzen und die Einwanderer mobilisiert würden: „in short, against everyone in my world“.¹⁰³ Der Fokus auf race wurde im Gegensatz zur feministischen Kritik im Centre als dezidiert theorieaffines Projekt verstanden¹⁰⁴: Hall bezeichnete ihn als einen „decisive turn in my own theoretical and intellectual work, as well as in that of the Centre“.¹⁰⁵ Mit der Erforschung der sozialen und kulturellen Konstruktion ethnischer Differenz betraten die Forscher am Birminghamer Zentrum auch methodisch Neuland: Die Erweiterung des bisherigen klassen- und medienorientierten Fokus erforderte neue ‚Denkwerkzeuge‘. Um race als Konstrukt zu verstehen, bedurfte es über eine reine Erweiterung der Forschungsperspektive hinaus eines neuen Vokabulars. Dabei ging es nicht darum, die marxistische und soziologische Analyse von Klasse zu entthronen. Vielmehr schienen die etablierten Ansätze keine befriedigenden Antworten auf die Fragen sozialer Ungleichheit zu liefern, die im Centre seit den ausgehenden 1970er Jahren gestellt wurden. Auf diese Weise wurde der Kulturbegriff, der durch die frühe Inklusion von Populärkultur in den Forschungen des CCCS der 1960er Jahre bereits erweitert worden war, einmal mehr umgedeutet und zu dem aus der heutigen kulturwissenschaftlichen Forschung bekannten Konzept. Die Studierenden und Wissenschaftler des CCCS verfolgten dabei einen breiten Ansatz: Neben Debatten in benachbarten Fächern, wie beispielsweise Adrian Mellors Forschungsbericht zum Stand der soziologischen Sozialstrukturanalyse von 1979 zeigt¹⁰⁶, waren es vor allem der Linken zugerechnete, (neo‐) marxistische Theoretiker kontinentaler Couleur, die den Weg in das 1966 gegründete Birminghamer Theorie-Seminar fanden und die die theoretischen Fun-
Ebd., S. 564. Zur Einschätzung des Einflusses des feministischen Projekts auf die Arbeit im Centre vgl. Brunsdon: A thief in the night; Janice Winship: Introduction, in: Ann Gray, Jan Campbell, Mark Erickson, Stuart Hanson und Helen Wood (Hrsg.): CCCS selected working papers: Bd. 2, London/ New York 2007, S. 417– 433. Hall: Cultural Studies and its theoretical legacies, S. 283. Vgl. Adrian Mellor: Theories of social stratification. Key concepts and recent developments. CCCS Stencilled Occasional Paper, Birmingham 1972.
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damente des kulturwissenschaftlichen Projektes legen sollten¹⁰⁷: Die Arbeiten von Marxisten, Strukturalisten und Poststrukturalisten wie Georg Lukács, Lucien Goldmann, Roland Barthes, Claude Levi-Strauss, Jean-Paul Sartre, Antonio Gramsci, Louis Althusser, Theodor W. Adorno,Walther Benjamin, und später Juliet Mitchell, Julia Kristeva, Jacques Lacan und Michel Foucault wurden gelesen¹⁰⁸; auch die Überlegungen Peter Bergers und Thomas Luckmanns zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit wurden rezipiert.¹⁰⁹ Daraus ergab sich jedoch kein zentrumsweiter Theoriekonsens, sondern die Arbeitsatmosphäre war von lebhaften, teils heftig geführten Diskussionen geprägt. Der intellektuelle Austausch mit der New Left Review, die sich unter Perry Anderson zunehmend der marxistisch-strukturalistischen Theorie französischer Prägung zugewandt hatte, war ein weiterer wichtiger Faktor in der Theorierezeption des Centre. Insgesamt hatte die theoretische Ausrichtung der Zeitschrift unter Andersons Herausgeberschaft im Vergleich zu den Jahren zuvor zugenommen und die Interessen waren internationaler geworden.¹¹⁰ Dies spiegelte sich auch in der zunehmenden Verfügbarkeit von euromarxistischen, strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorietexten in englischer Übersetzung¹¹¹: 1969 erschien Louis Althussers „For Marx“, 1971 Antonio Gramscis Auswahl der „Prison notebooks“ und Georg Lukács’ „History and class consciousness and the theory of the novel“; 1972 erschien Theodor W. Adornos und Max Horkheimers „Dialectic of enlightenment“ und 1973 Barthes’ „Mythologies“.¹¹² Das CCCS, aber
Vgl. Lawrence Grossberg: Introduction: CCCS and the detour through theory, in: Ann Gray, Jan Campbell, Mark Erickson, Stuart Hanson und Helen Wood (Hrsg.): CCCS selected working papers. Bd. 1, 2. Aufl., London/New York 2007, S. 33 – 47, hier S. 33. Vgl. Stuart Hall: Preface, in: Ann Gray, Jan Campbell, Mark Erickson, Stuart Hanson und Helen Wood (Hrsg.): CCCS selected working papers, Bd. 1, London/New York 2007, S. ix–xiv, hier S. xiii. Vgl. Dworkin: Cultural Marxism in postwar Britain, S. 122 – 123. Vgl. Marchart: Cultural Studies, S. 67. Dabei war das Label der „Poststrukturalisten“ eine Fremdzuschreibung, die an amerikanischen Universitäten entstanden war. Vgl. Mark Poster: Critical theory and poststructuralism. In search of a context, Ithaca, N. Y. 1989, S. 6. Vgl. Ann Gray: Formations of cultural studies, in: Ann Gray, Jan Campbell, Mark Erickson, Stuart Hanson und Helen Wood (Hrsg.): CCCS selected working papers. Bd. 2, 2. Aufl., London/ New York 2007, S. 1– 14, hier S. 8. Die ersten Werke waren im französischen Original in den 1960er Jahren publiziert worden: Gilles Deleuzes „Nietzsche und die Philosophie“ 1962, Jacques Derridas „Die Schrift und die Differenz“ im Jahr 1967, und „Grammatologie“ 1968; Michel Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft“ erschien 1961, „Die Ordnung der Dinge“ 1966, Julia Kristevas „Semeiotiké“ erschien im Jahr 1969. Waren die Proteste und Unruhen des Mai 1968 ein wichtiger Katalysator, um die intellektuelle Arbeit dieser disparaten Gruppen von Wissenschaftlern mit einer politischen Botschaft zu verbreiten, so waren Teile von dem, was heute als poststrukturalistisches Gedankengut gilt, zu dieser Zeit bereits
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auch die New Left Review griffen damit philosophische Debatten über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit auf, die vor allem in Frankreich geführt wurden, wo sich Philosophen, Literaturkritiker, Soziologen und Psychoanalytiker seit den 1960er Jahren mit der sprachlichen Produktion von Wissen beschäftigen.¹¹³ Diese internationalen Theoretiker lieferten das Vokabular und die Konzepte, die es den Wissenschaftlern und Studenten in Birmingham ermöglichten, die von ihnen identifizierten Probleme analytisch zu greifen. Es handelte sich hier aber weder um eine reine Adaption, noch bestand am CCCS Konsens über eine Auslegung oder Anwendung dieser Theorien.¹¹⁴ Im Gegenteil, gerade die kritische Auseinandersetzung der in der Regel politisch engagierten Intellektuellen mit den Arbeiten der französischen, amerikanischen, deutschen, aber auch italienischen Wissenschaftler führte zu einer schrittweisen Ausbildung eines spezifisch kulturwissenschaftlichen Begriffs- und Methodenarsenals, das in den 1980er Jahren zunehmend Schule machen sollte und seinerseits wiederum international rezipiert wurde.¹¹⁵ Durch die Ideen poststrukturalistischer und sozialkonstruktivistischer Denker war es möglich geworden, „Fakten“ als Konstruktion zu verstehen; die hegemonietheoretischen Studien Antonio Gramscis erlaubten es, deren Verstetigung in „common sense“-Praktiken analysieren zu können.¹¹⁶ Zugleich wurde dem soziologischen Konzept von „class“ mit „race“ ein für Teile der wissenschaftlichen Community wichtiges wissenschaftliches Konzept gegenübergestellt, das in Zukunft, vor allem zusammen mit dem seit den 1990er Jahren wichtigen Konzept von gender, grundlegend für kulturwissenschaftliche Gesellschaftsanalyse wurde. ¹¹⁷
verfasst. Vgl. James D. Marshall: Introduction, in: James D. Marshall (Hrsg.): Poststructuralism, philosophy, pedagogy, Dordrecht/Boston/London 2010, S. xiii–xxvi, hier S. xviii; James D. Marshall: French philosophy and education: World War II–1968, in: James D. Marshall (Hrsg.): Poststructuralism, philosophy, pedagogy, Dordrecht/Boston/London 2010, S. 1– 25. Vgl. Catherine Belsey: Poststructuralism. A very short introduction, Oxford 2002, S. 5. „An intellectual heterogeneity was written into the heart of the Centre’s working practices almost from the very beginning“; eine Arbeitsweise, die durch die diverse Theorierezeption gefördert wurde. Vgl. Connell und Hilton: Working practices, S. 291. Vgl. Andreas Hepp, Friedrich Krotz und Tanja Thomas: Einleitung, in: Andreas Hepp, Friedrich Krotz und Tanja Thomas (Hrsg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies, Wiesbaden 2009, S. 7– 17, hier S. 7. Als Beispiel für diesen Ansatz vgl. Lawrence: Just plain common sense. Hier waren allerdings die amerikanischen Geschichts- und Kulturwissenschaften wegweisend, vgl. Joan Wallach Scott: Gender. A useful category of historical analysis, in: AHR 91/1986, S. 1053 – 1075; Joan Wallach Scott: Gender and the politics of history, New York 1988; Judith Butler: Gender trouble. Feminism and the subversion of identity, London/New York 1990.
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Die Debatten am CCCS fanden in einem Kontext statt, der von Wade Matthews als „radical public sphere“, von Perry Anderson aus der Rückschau als „the liveliest republic of letters in European socialism“ bezeichnet worden war.¹¹⁸ Obgleich das Centre sich auch um den Austausch mit anderen Wissenschaftlern an britischen Universitäten bemühte, die nicht direkt aus dem Kontext der Neuen Linken stammten, stellten letztlich die hegemoniekritischen und sprachphilosophischen Debatten strukturalistischer und poststrukturalistischer Denker eine wichtige Inspirationsquelle der Birminghamer Wissenschaftler dar, die damit die Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten in Großbritannien kritisch aufrollten. Denn während das Verhältnis des CCCS zur klassischen Soziologie, gerade auch an der University of Birmingham, schwierig war und blieb, funktionierte der Austausch mit anderen, dem politischen Projekt des CCCS näherstehenden Wissenschaftlern umso besser.¹¹⁹ So besuchte im Mai 1981 Edward Said, der wenige Jahre zuvor sein für die Herausbildung der Postcolonial Studies grundlegendes Werk „Orientalism“ veröffentlicht hatte, das Centre und wurde vor seinem Vortrag mit Tee und Toast zum Frühstück empfangen.¹²⁰ Dieser erweiterte Diskussionsraum der Neuen Linken war zugleich ein Hort des Widerstandes gegen die Politik des Thatcherismus. Die dazugehörigen politischen Debatten fanden sich seit Übernahme der Herausgeberschaft durch Martin Jacques 1977 zunehmend auf den Seiten des theoretischen Journals der CPGB, Marxism Today, das sich in den 1980er Jahren als Marktplatz kontroverser Ideen einer politisch heterogenen Leserschaft erfreute, zu der unter anderem auch Tony Blair gehörte.¹²¹ Nachdem es in den 1960er und frühen 1970er Jahren eine Renaissance erlebt hatte, wurde das Konzept der Klasse in der britischen Soziologie im weiteren Verlauf der 1970er und 1980er Jahre aus dem Mainstream der Forschung verdrängt. Dies hing zum einen mit der Rezeption US-amerikanischer und kontinentaleuropäischer Debatten über den Wandel westlicher Gesellschaften hin zu „postindustriellen“ Gesellschaften zusammen. In Werken wie Daniel Bells 1973 publiziertem „The coming of the post-industrial society“ wurde nicht nur eine neue, post-industrielle Gesellschaft proklamiert.¹²² Die Diagnose des bevorste-
Matthews: The new left, S. 23; Perry Anderson: English questions, London 1992, S. 197. Vgl. Connell und Hilton: Working practices, S. 299. Agenda week commencing 25th May 1981, CCCS Archive, Cadbury Library, USS 78/317. Vgl. hierzu beispielsweise Hall und Jacques (Hrsg.): The politics of Thatcherism, London 1983. Vgl. beispielsweise Daniel Bell: The coming of post-industrial society. A venture in social forecasting, New York 1973; Fredric Jameson: Postmodernism, or, the cultural logic of late capitalism, London 1991; Frederic Jameson: Postmodernism, or, the cultural logic of late capitalism,
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IV Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“
henden Endes der westlichen Klassengesellschaften stellte zugleich einen wichtigen Pfeiler der Analyse dar.¹²³ Diese These war wiederum an Arbeiten Ivor Crewes und Eric Hobsbawms zur Zukunft der Labour Party anschlussfähig, die angesichts eines „gesellschaftlichen“ Wandels in Großbritannien den Verlust der Wählerbasis der Labour Party prognostizierten.¹²⁴ Die staatlichen Behörden, allen voran das General Register Office, hielten am Konzept der „social class“ fest, differenzierten jedoch die entsprechenden Kategorien aus, um dem gesellschaftlichen Wandel gerecht zu werden: Blieb die Einteilung der „skilled occupations“ von 1921 bis 1971 stabil, wurde ab dann innerhalb dieser zwischen „non-manual“ und „manual“ unterschieden.¹²⁵ Auch die privatwirtschaftliche Konsumforschung, die in ihren Anfängen nach 1945 ebenfalls auf das Modell sozialer Klassen und ab 1964 auf das Modell der „social grades“ A, B, C1, C2, D und E zurückgegriffen hatte, bewertete ab den frühen 1980er Jahren die Kategorien ihrer Studien neu. Wie Kerstin Brückweh dargelegt hat, wurde in dem Versuch, die sich verändernde Gesellschaft abzubilden, das Konzept der „geodemographics“ entwickelt und 1979 erstmals vorgestellt. Zunächst im öffentlichen Sektor vom Centre for Environmental Studies in London entwickelt, basierte es auf einer räumlichen Clusteranalyse, in der mithilfe von computergestützten Methoden Zensusdaten durch das kleinräumliche britische Postleitzahlensystem auf einer Landkarte räumlich sichtbar gemacht werden konnten. Damit boten sich neue Gruppierungsmöglichkeiten nach dem Prinzip der Nachbarschaft.¹²⁶ Intellektuelle Grundlage war der individuelle Konsument, der durch diese Studien ebenso sehr abgebildet wie produziert wurde.¹²⁷ Anstelle anonymer Klassifikationen nach Buchstaben oder Zahlen erschienen Großkategorien jetzt oft im Gewand von fiktiven Charakteren, bei denen nicht nur Beruf und Einkommen, sondern Wohnsituation und Konsumverhalten zählten: Statt abstrakter sozialer Klassen wurden in einer Studie des Unternehmens MOSAIC im Jahr 2006 beispielsweise „Darren und Joanne“ verwendet, die sich auf ihre Karriere, ihre Familie und ihr Zuhause konzentrierten, Wert auf materiellen Besitz legten und diesen zur Not auch auf Kredit finanzierten. Sie standen für die Gruppe der „Happy Families“, die zu diesem Zeitpunkt 6,43 % der Haushalte in Groß-
in: New Left Review 146/1984, S. 53 – 92; André Gorz: Farewell to the working class. An essay on post-industrial socialism, London 1982. Vgl. hierzu auch Dworkin: Class struggles, S. 71– 72. Vgl. Sutcliffe-Braithwaite: Class, community and individualism, S. 14– 15. Vgl. Brückweh: Menschen zählen, S. 159. Vgl. ebd., S. 179 – 183. Vgl. ebd., S. 184– 185; Florence Sutcliffe-Braithwaite: Class, politics, and the decline of deference in England, 1968 – 2000, Oxford 2018, S. 181.
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britannien ausmachte.¹²⁸ Diese neuartige Form der Konsumentenforschung war nicht nur einflussreich im privatwirtschaftlichen Sektor, sondern hielt auch Einzug in die Meinungsforschung der Parteien. Modernisierer innerhalb der Labour Party, die seit der desaströsen Wahlniederlage von 1983 mit den traditionellen Umfragemethoden zunehmend unzufrieden waren, griffen beispielsweise seit den späten 1980er Jahren zunehmend auf diese Methoden zurück, um neue Wählerschichten zu erschließen.¹²⁹ Diese wissenschaftliche Rezeption ging einher mit einer grundsätzlichen Kritik an den Fundamenten des Faches Soziologie, mit der in der Regel die starke strukturfunktionalistische Strömung innerhalb der Disziplin gemeint war. Diese wurde sowohl in den USA, aber auch unter leicht veränderten Vorzeichen in Großbritannien seit den 1960er Jahren kritisch diskutiert. Einer der Kerntexte dieser Bewegung in den USA war A. W. Gouldners 1970 publizierte Monographie „The coming crises of Western sociology“, in dem – unter Einfluss sozialkonstruktivistischer Debatten – nicht nur der Objektivitätsanspruch einer strukturfunktionalistisch ausgerichteten Soziologie in Frage gestellt wurde, sondern auch die epistemischen Grundlagen des Faches insgesamt.¹³⁰ In Großbritannien richtete sich die Kritik am Funktionalismus mehr gegen die sozialanthropologische Tradition der britischen Soziologie und kann daher als Teil der Professionalisierungsbewegung des Faches verstanden werden.¹³¹ Zugleich nahm diese Kritik die wachsende Beschäftigung mit sozialer Klasse in den 1960er und 1970er Jahren vorweg. Besonders John Rex 1961 veröffentliche Monographie „Key problems of sociological theory“ wurde zum zentralen Text, in dem der konflikthafte Charakter sozialer Beziehungen betont wurde.¹³² Damit war es möglich geworden, soziale Ungleichheiten wie class, oder für den race relations-Forscher Rex besonders bedeutsam, race, analytisch besser zu greifen.¹³³ Zugleich war darin die soziologische Auseinandersetzung über das Verhältnis von Akteur und Struktur angelegt, das von Forschern wie Anthony Giddens in den darauffolgenden Jahren weiter diskutiert wurde.¹³⁴ Anders als in Frankreich oder Deutschland wurde die
Vgl. Brückweh: Menschen zählen, S. 185. Vgl. Sutcliffe-Braithwaite: Class, politics, and the decline of deference, S. 181. Vgl. Alvin Ward Gouldner: The coming crisis of Western sociology, New York 1970, S. 14. Anthony Giddens zog 1976 ein vorläufiges Fazit über diese Debatte um den angloamerikanischen „Funktionalismus“, der er einen gewissen ermüdenden Charakter attestierte. Vgl. Anthony Giddens: Functionalism. Après la lutte, in: Social Research 43/1976, S. 325 – 366. Vgl. beispielsweise John Rex: Key problems of sociological theory, London 1998, S. 44. Vgl. hierzu auch Turner: British sociology and public intellectuals, S. 180. Vgl. hierzu auch Giddens: Functionalism; Anthony Giddens: The constitution of society. Outline of the theory of structuration, Cambridge 1984.
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Nationalgesellschaft als dominante Kategorie gesellschaftlicher Analyse in der Soziologie jedoch zunächst nicht hinterfragt.¹³⁵ Auch in der Geschichtswissenschaft führte die Frage nach der angemessenen wissenschaftlichen Behandlung sozialer Klassen zur Rezeption der Debatten, die in verwandten internationalen Geisteswissenschaften um die Rolle von Sprache geführt wurden. Diese konzeptionelle Neuerung betraf vor allem den Zweig der Sozialgeschichte. Gareth Stedman Jones’ 1983 publizierte kritische Auseinandersetzung mit der Bewegung der Chartisten wird an dieser Stelle in der Regel als grundlegende Publikation genannt („Languages of class: studies in English working class history, 1832– 1982“).¹³⁶ Der Blick auf Sprache erlaubte Stedman Jones, die bisherigen Vorannahmen der Sozialgeschichte zu hinterfragen und sich kritisch mit dem übermächtigen Einfluss E. P. Thompsons zu befassen. Dieser hatte in seiner 1963 publizierten Monographie „Making of the English working class“ die Rolle des Klassenbewusstseins in das Zentrum der Analyse gestellt und auf diese Weise eine grundlegend neue Perspektive in die historische Klassenforschung gebracht. ¹³⁷ Aller Kritik zum Trotz schrieb sich Stedman Jones in die von E. P. Thompson und der Historians Group der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) begründete Forschungsperspektive „from below“ ein, das heißt, die Perspektive der allgemeinen Bevölkerung sollte in der historischen Forschung ernst genommen werden.¹³⁸ Denn Stedman Jones war eng verbunden mit dem History Workshop Movement am Ruskin College an der University of Oxford, einer historiographischen Bewegung, die sich im Kontext der Neuen Linken bewegte und mit einem dezidiert offenen Geschichtsverständnis eine antielitäre Historiographie anstrebte. Menschen sollten ihre eigene Geschichte schreiben, „people’s history“ im wahrsten Sinne des Wortes.¹³⁹ Stedman Jones konnte in seiner Kritik auch auf die Arbeiten seiner Cambridger Kollegen Quentin Skinner und J. G. A. Pocock zurückgreifen, die die Analyse von Sprache durch die mit der Bielefelder Begriffsgeschichte verwandte Konzeptgeschichte etablierten.¹⁴⁰ Der Fokus der dadurch hervorgerufenen historiographischen Debatte
Die wohl deutlichste Kritik am Konzept der Gesellschaft im deutschen Raum wurde bereits 1981 von dem Tübinger Soziologen Friedrich Tenbruck vorgetragen. Vgl. Tenbruck: Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie. Gareth Stedman Jones: Languages of class. Studies in English working class history, 1832– 1982, Cambridge 1983, S. 90 – 178. Vgl. Thompson: Making of the English working class, S. 9. Vgl. Dworkin: Class struggles, S. 51; Dworkin: Cultural Marxism in postwar Britain, S. 10 – 11. Vgl. Matthews: The new left, S. 20 – 21. Vgl. Donald R. Kelley: Frontiers of history. Historical inquiry in the Twentieth century, New Haven 2006, S. 181– 182.
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richtetet sich vor allem auf den Stellenwert von Sprache und wurde nur von einem Teil der Historikern rezipiert, die sich jedoch in den folgenden Jahren mit Fragen beschäftigten, die zur Etablierung der Perspektive der Kulturgeschichte im britischen Raum führen sollten.¹⁴¹
2 Nationale Identität: die Neue Linke und das Problem des Nationalismus Die linke Kritik am Konzept der „Klasse“ und der Klassengesellschaft entzündete sich nicht nur am Begriff von „race“. Kritik am Klassenbegriff war auch Teil einer innerhalb der britischen Neuen Linken geführten Auseinandersetzung um den Stellenwert und die Bedeutung von Nationalismus. Konkret ging es um ein erneutes Aufflammen der seit Ende des 19. Jahrhunderts geführten Debatte um das Verhältnis von Nationalismus und Marxismus. Anlass war eine Reihe von Essays, die der schottische Politologe Tom Nairn zwischen 1970 und 1976 in der New Left Review veröffentlicht hatte. In diesen wurde anlässlich des politischen Erfolgs des schottischen und – in geringerem Maße – des walisischen Nationalismus nicht nur die Geschichte des britischen Staates und der britischen Gesellschaft zur Erklärung des schottischen Nationalismus herangezogen, sondern zugleich auch der Stellenwert von Nationalismus in der marxistischen Theoriebildung kritisch diskutiert. In der Geschichtsschreibung der Nationalismusforschung werden die fachlichen Debatten nach Ende des Zweiten Weltkriegs in zwei distinkte Phasen unterteilt: Der Historiker Paul Lawrence hat die Zeit von den 1950er bis in die 1970er Jahre als Periode des modernist turn bezeichnet. Er griff damit den Forschungskonsens auf, der sich als Antwort auf die Frage der zeitlichen Verortung von Nationalismus und Nation etabliert hatte, nämlich Nationalismus als politische Ideologie und Nation als politische Gemeinschaft zu verstehen, die an
Die teils erbittert geführte Auseinandersetzung über den Stellenwert von „Wahrheit“ und „Fakten“ in der Geschichte und die Auseinandersetzung mit sogenannten „postmodernen“ Positionen sollten erst in den 1990er Jahren an Fahrt gewinnen und vor allem mit der Person Patrick Joyces verbunden sein. Allerdings fasste postmodernes Gedankengut in der britischen Geschichtswissenschaft weniger Fuß als in anderen Ländern. Vgl. Michael Bentley: British historical writing, in: Axel Schneider und Daniel Woolf (Hrsg.): Historical writing since 1945, Oxford 2011, S. 291– 310, hier S. 293; Richard J. Evans: In defence of history, neue Aufl., London 2000, S. 1– 14.
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die Epoche der Moderne geknüpft waren.¹⁴² Diese Sichtweise wurde in den 1960er Jahren breitenwirksam von Elie Kedourie und Ernest Gellner vertreten¹⁴³, hatte jedoch ihre Wurzeln in Forschungen der Zeit direkt vor und während des Zweiten Weltkriegs.¹⁴⁴ In dieser Zeit wurde zunehmend die These diskutiert, dass Nationen zwar eine lange Geschichte haben, Nationalismus jedoch eine relativ junge „politische Doktrin“ darstelle. Nationalismus wurde konzeptionell mit dem gesellschaftlichen Zustand der Modernität verknüpft: Besonders Ernest Gellner verstand ihn als politische Ideologie, die Teil der strukturellen Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Der in Paris geborene, in Prag aufgewachsene und während der Zeit des Nationalsozialismus als Jugendlicher nach Großbritannien geflohene Polyglott sah Nationalismus jedoch nicht nur als Gesellschaften einigende Kraft: Gerade durch den ungleichmäßigen Verlauf von Industrialisierungs- und Modernisierungsprozessen entstandene soziale Ungleichheiten hätten dazu geführt, dass Konflikte um Ressourcen im Falle ausreichender kultureller Differenz innerhalb sozialer Gruppen durch Nationalismus verschärft worden seien. Auf diese Weise habe beispielsweise Hautfarbe zum wichtigen Exklusionskriterium werden können.¹⁴⁵
Zu den Gruppierungen vgl. Paul Lawrence: Nationalism. History and theory, Harlow 2005, S. 182– 184; Umut Ö zkirimli: Theories of nationalism. A critical introduction, 2. Aufl., Basingstoke 2010, S. 143 – 168. Vgl. Elie Kedourie: Nationalism, 2., überarbeitete Auflage, London 1961, S. 9. Die frühe Nationalismusforschung der Nachkriegszeit hingegen war unter dem Einfluss der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs besonders an Typenbildung interessiert, die oft mit einer moralischen Wertung verbunden war. Aufbauend auf Studien der in den USA lehrenden Historiker Carlton Hayes und Hans Kohn betrachteten Nationalismusforscher in den 1950er und 1960er Jahren Nationalismus als eine dezidiert „moderne“ politische Idee und Doktrin. Vgl. Carlton J. H. Hayes: The historical evolution of modern nationalism, 4. Aufl., New York 1951, S. vi, 1– 2, 13; Hans Kohn: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1962, S. 6, 555 – 561. Obgleich das Fach der Soziologe und auch politikwissenschaftliche Forschungen in den USA bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts fest etabliert waren, gehörte Nationalismus nicht zu ihren präferierten Forschungsthemen. Charles King erklärt den Widerwillen amerikanischer Politologen, sich mit dem Thema des Nationalismus zu befassen, auch aus der Fachtradition heraus, die sich vor allem in den 1970er Jahren von der mehr historisch arbeitenden britischen Politikwissenschaft unterschieden habe. Doch auch in Großbritannien waren es nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Historiker, die sich der Erforschung von Nationalismen widmeten. Vgl. Charles King: Nations and nationalism in British political studies, in: Brian Barry, Archie Brown und Jack Ernest Shalom Hayward (Hrsg.): The British study of politics in the Twentieth century, Oxford 1999, S. 323 – 344, hier S. 319; Lawrence: Nationalism, S. 59 – 106; Ö zkirimli: Theories of nationalism, S. 31– 39. Vgl. Ernest Gellner: Thought and change, London 1964, S. 166 – 167.
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Interessierten sich die Forscher zunächst für die zeitliche Verortung der Konzepte von Nationalismus und Nation, bahnte sich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ein elementarer Wandel der wissenschaftlichen Perspektive an. Eingeleitet von Tom Nairn und weitergeführt von Eric Hobsbawm und Benedict Anderson wurde nun zunehmend die Frage gestellt, warum Menschen überhaupt Nationalismus anhingen. Lawrence’ Benennung der darauffolgenden Phase als constructivist turn ist allerdings irreführend: Zwar wird damit die seit den ausgehenden 1980er Jahren von einer wachsenden Anzahl von Wissenschaftlern vertretene Auffassung beschrieben, die Nation zunehmend als soziales Konstrukt zu verstehen und im Zuge dessen auch den Begriff selbst neu zu bewerten. Allerdings ging der Glaube an den Konstruktionscharakter der Nation nicht bei allen Vertretern so weit, auch einen fluiden, beständig neu verhandelten Nationsbegriff zu vertreten. Bedeutender erscheint vielmehr der häufig damit einhergehende Wechsel der Forschungsperspektive, der im Falle Andersons auch und gerade das Nationalbewusstsein von Individuen und Gruppen in das Zentrum der Analyse rückte. Nationalismus wurde auf diese Weise ein veränderter Stellenwert jenseits einer politischen Ideologie eingeräumt. In diesem Zusammenhang wurde „nationale Identität“ zunehmend zu einem wichtigen wissenschaftlichen Konzept, da mit diesem die Ebene des Individuums untersuchbar gemacht werden konnte. Die Debatte, die sich anhand von Nairns Aufsätzen in der New Left Review entfachte (die 1977 in der Monographie „The Break-up of Britain: crisis and neo-nationalism“ zusammengefasst worden war), zog damit nicht nur eine Standortbestimmung innerhalb der Neuen Linken und einer Debatte über die Zukunft des Vereinigten Königreichs, sondern auch einen Paradigmenwechsel in der angloamerikanischen Nationalismusforschung nach sich. In der folgenden Darstellung wird daher das Rubrum des modernist turn übernommen, das des constructivist turn jedoch durch eine auf das Konzept der nationalen Identität konzentrierte Analyse ersetzt. Im Kern steht daher der Blick der Wissenschaftler auf das Phänomen des Nationalismus. Wie wurde Nationalismus erklärt und bewertet? Die inhaltlichen und konzeptionellen Debatten, die im interdisziplinären Feld der Nationalismusforschung seit den 1960er Jahren geführt wurden, waren, so die These, eng an die Beobachtung der politischen Lage sowie an den Austausch mit wissensphilosophischen Debatten angelehnt, die in den einzelnen Fächern abliefen und zum Teil den Gegenstand des vorherigen Kapitels gebildet haben. Die Beobachtung „neuer“ Nationalismen trug dazu bei, dass sich die wissenschaftliche Debatte über Ursprung und Beschaffenheit von Nation und Nationalismus nicht nur von Fragen der Periodisierung löste, sondern die Phänomene auch wissenschafts-
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theoretisch zu greifen versuchte.¹⁴⁶ Der seit den 1960er Jahren wahrgenommene gesteigerte schottische Nationalismus wurde in dieser neuen Nationalismusforschung häufig zu den sogenannten „Neo-Nationalismen“ in Katalonien und dem Baskenland, Flandern, der Bretagne und Okzitanien sowie Quebec hinzugerechnet.¹⁴⁷ Sie galten deswegen als neu, weil diese Formen von Nationalismus für die zeitgenössischen Beobachter häufig unerwartet auftraten und mit den etablierten Nationalismustheorien nicht erklärt werden konnten.¹⁴⁸ Aber auch Nationalismen, die in nicht-westlichen Ländern beobachtet wurden, gerieten zunehmend in den Blick der Forscher, am bekanntesten bei Benedict Anderson, der seine Nationalismustheorie anhand des Konflikts zwischen Vietnam und Kambodscha entwickelte.¹⁴⁹ Im Zuge der Auseinandersetzung mit den „neuen“ Nationalismen anglisierte sich das Feld der Nationalismusforschung in den 1970er Jahren sowohl sprachlich als auch geographisch: Wegweisende Studien wurden in den 1970ern von Politologen, Soziologen und Historikern verfasst, die ihre institutionelle oder kulturelle Heimat in Großbritannien hatten. Die öffentlichen und politischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre bereiteten in Großbritannien jedoch auch das Umfeld dafür, dass der von Anderson und Hobsbawm initiierte Perspektivwechsel in der Nationalismusforschung rezipiert und weiterentwickelt werdend konnte. Die 1970er und 1980er Jahre wurden damit zu einer Art goldenem Zeitalter für die sozialwissenschaftliche und historische Nationalismusforschung, aber auch zu einer Zeit, in der der von Gellner begründete modernistische Konsens von unterschiedlichen Seiten hinterfragt wurde. Paul Lawrence grenzt diese Periode mit Blick auf die Arbeit Eric Hobsbawms auf die Jahre 1977 bis 1985 ein und nimmt so die Konferenz zum Ausgangspunkt, auf deren Basis im Jahr 1983 der Sammelband „The invention of tradition“ publiziert wurde. Den Endpunkt bilden für ihn Hobsbawms Wiley Lectures aus dem Jahr 1985, die 1991 als „Nations and nationalism since 1780: programme, myth, reality“ publiziert wurden.¹⁵⁰ In dieser produktiven wie innovativen Zeitspanne hatte Nationalismus nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den übrigen Ländern Westeuropas als politisches Problem sichtbar an Gewicht zugenommen und schien auch Triebkraft für Kon-
Zur Verbindung politischer Debatten über die Zukunft des Vereinigten Königreichs mit der Nationalismusforschung vgl. King: Nations and Nationalism, S. 323. King äußert sich jedoch nicht darüber, wie sich diese Debatten auf das Wissenschaftsverständnis des britischen Feldes der Nationalismusforschung auswirkte. McCrone: The sociology of nationalism, S. 125. Vgl. ebd. Vgl. Anderson: Imagined communities, S. 1– 2. Vgl. Lawrence: Nationalism, S. 160.
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flikte innerhalb von „Entwicklungsländern“ zu sein. Die Ausweitung des Bildungssektors innerhalb Großbritanniens, der von der Etablierung und Ausdehnung der Sozialwissenschaften begleitet war, bot gute institutionelle Bedingungen für die wissenschaftliche Erforschung dieses politischen Problems. Diese Blütezeit der Nationalismusforschung fand ihren Höhepunkt 1983: In diesem Jahr wurde nicht nur der erwähnte Sammelband Eric Hobsbawms und Terence Rangers herausgegeben, sondern es erschienen auch Monographien von Anthony D. Smith, Immanuel Wallerstein, Benedict Anderson und Ernest Gellner, der seine Theorie weiter ausbaute.¹⁵¹ Diese Blütezeit der Nationalismusforschung war jedoch nicht nur ein Produkt institutioneller Entwicklungen. Sie hing, so die These, eng mit Debatten zusammen, in denen zunächst vor allem das Problem des schottischen Nationalismus, im weiteren Verlauf aber andere europäische und, in geringerem Ausmaß, außereuropäische Nationalismen erörtert wurden. Der politische Nationalismus in Europa und in Entwicklungsländern förderte das öffentliche, aber auch wissenschaftliche Interesse an diesem Forschungsthema: Die Ausprägungen und mögliche Folgen dieser neuen Nationalismen wurden sowohl in den gehobenen Tageszeitungen wie dem Guardian, der Times oder dem Daily Telegraph debattiert als auch in Zeitschriften, die wie die New Society dezidiert wissenschaftliche Debatten einem breiteren Publikum darlegen wollten oder wie die New Left Review ein Forum der neuen Linken bildeten.¹⁵² In Zuge der Debatte wurde auch die britische Nation Thema öffentlicher und politischer Auseinandersetzung: Im Zusammenhang mit der Devolutionsdebatte wurde die Bewertung regionaler Nationalismen in Schottland und Wales sowie ihr Verhältnis zu der durch die Regierung in Westminster symbolisierten britischen Nation zum Thema. Zugleich wurde angesichts der öffentlichen und parlamentarischen Debatte um die Reform des Nationality Law die Zugehörigkeit zu eben jener Nation diskutiert. Nationen und Nationalismus waren in den 1970er Jahren Themen der öffentlichen Auseinandersetzung: Sie wurden zunehmend als Phänomene ver-
Ernest Gellner: Nations and nationalism, 2. Aufl., Oxford 1983; Anthony D. Smith: Nationalism and classical social theory, in: British Journal of Sociology 34/1983, S. 19 – 38; Immanuel Wallerstein: Nationalism and the world transition to socialism. Is there a crisis?, in: Third World Quarterly 5/1983, S. 95 – 102; Anderson: Imagined communities. So fanden sich im Daily Telegraph Artikel, die schottischen Nationalismus erklären sollten und die BBC produzierte Rundfunkbeiträge, die sich mit dem Phänomen in allgemeinerer Perspektive beschäftigten und im Anschluss im hauseigenen Magazin The Listener abgedruckt wurden. Vgl. R. D. Lobban: The many roots of Scottish nationalism, Daily Telegraph, 16. 3.1974, S. 16; Hugh Mellor: On nationalism, Listener, 5.7.1979, S. 13; Theodore Zeldin: Can nations change their spots?, Listener, 1.6.1978, S. 686 – 688.
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standen, die diskutiert werden mussten. Besonders die Autoren Tom Nairn und Michael Hechter widmeten sich der Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren in der Entwicklung von Nationalismus und setzten sich mit Gellners These der ungleichmäßigen Entwicklung auseinander: Nairn nahm, zusammen mit Perry Anderson, eine prominente Rolle als marxistischer Intellektueller innerhalb der Neuen Linken ein. Der politisch engagierte Politologe unterrichtete in den 1960er Jahren an der University of Birmingham und am Hornes College of Art (HCA), in den 1970er Jahren wirkte er am Transnational Institute, Amsterdam, nachdem er seine Stellung am HCA aufgrund seiner Teilnahme an den Studentenunruhen von 1968 verloren hatte. In seiner Monographie „The break-up of Britain“ verfolgte Nairn zwei Ziele: die Sonderstellung des schottischen Nationalismus zu erklären sowie auf einer allgemeinen theoretischen Ebene die Stellung des Nationalismus innerhalb der marxistischen Theoriedebatten zu kritisieren. Ausgangspunkt der Betrachtung war für ihn, dass eine Theorie des Nationalismus nur vergleichend aufgestellt werden könne, da ansonsten dessen Grundannahmen reproduziert würden – letztlich eine noch nicht explizit benannte Warnung vor dem in der britischen Soziologie häufig praktizierten methodischen Nationalismus.¹⁵³ Sein erklärtes Ziel war, die von ihm diagnostizierte verspätete Entwicklung eines modernen, politischen Nationalismus zu erklären, der in Schottland erst seit den 1920er Jahren zu beobachten war. Nairn verstand Nationalismus ebenso wie Gellner als Folge eines ungleichmäßigen Modernisierungsprozesses, da nationalistische Positionen lokalen Eliten die Mittel gaben, um sich gegen den verbreitenden Kapitalismus zur Wehr zu setzen. In einer Art marxistisch-deterministischer Sonderwegsthese ging Nairn davon aus, dass Schottland im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern in einer speziellen Lage gewesen sei, da es vor dem europäischen Zeitalter des Nationalismus des 19. Jahrhunderts eine bürgerliche Gesellschaft ausgebildet habe. Schottland habe daher kulturell vor allen anderen Ländern und Regionen bereits im 18. Jahrhundert so große Fortschritte gemacht, dass es den erst im 19. Jahrhundert entstandenen politischen und kulturellen Nationalismus nicht ‚benötigt‘ habe. Schottland habe demnach eine Entwicklungsstufe „übersprungen“ und daher im Zuge der wirtschaftlichen und industriellen Modernisierung im 19. Jahrhundert keinen politischen Nationalismus ausbilden „müssen“.¹⁵⁴ Nairn nahm jedoch auch eine allgemeine Kritik des Nationalismusbegriffs in der marxistischen Theoriebildung vor. Der klassische Marxismus halte Klassenkampf für wichtiger als Nationalismus: Klassenkampf werde für den Motor des
Vgl. Nairn: The break-up of Britain, S. 93 – 94. Vgl. ebd., S. 116 – 117.
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Fortschritts gehalten, nicht Nationalität.¹⁵⁵ Im Gegensatz dazu argumentiert der Politologe und überzeugte schottische Nationalist, dass die auf Nationalbewusstsein zurückgehenden Loyalitäten im Zweifelsfall stärker seien als die der Klasse, deren gesellschaftliche Bedeutung häufig überschätzt werde. Daran zeige sich auch der Eurozentrismus der klassischen marxistischen Theoriebildung, die zwar für Europa, nicht jedoch für Entwicklungsländer der Dritten Welt gelte.¹⁵⁶ In diesem Kontext diskutierte Nairn die Bedeutung von „Fortschritt“ und „Modernisierung“ als Faktoren in der Ausbildung von Nationalismus kritisch. Dass gerade die Frage nach der Modernität von Nationen und Nationalismus bereits von Kedourie und Gellner als der Rahmen gewählt wurde, in dem über diese Phänomene diskutiert wurde und der als solcher auch von Nairn thematisiert wurde, ist dabei nicht unerheblich: Das Konzept der Modernisierung hatte vor allem in den amerikanischen Sozialwissenschaften einen wichtigen theoretischen Eckpunkt dargestellt, der die explizite und implizite analytische Grundlage für viele Untersuchungen der 1950er und 1960er Jahre gebildet hatte. Von wirtschaftswissenschaftlicher Seite waren dies beispielsweise die inhaltlich verwandten Theorien der Modernisierung von Walt W. Rostow („The stages of economic growth: a non-communist manifesto“, 1960) und der „Vorteilhaftigkeit der Rückständigkeit“ von Alexander Gerschenkron („Economic backwardness in historical perspective“, 1962) gewesen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass auf diese Weise zu eben jener Zeit eine historische Epoche als analytischer Rahmen gewählt wurde, als deren strukturelle Rahmenbedingungen, die ihren Deutungskontext bildeten, im Wandel waren. Die Strukturbedingungen der Moderne wurden umso besser konturiert, als sie zu schwinden schienen: Die soziale, wirtschaftliche und politische Ordnung wurde erst in ihrer Gefährdung immer sicht- und greifbarer. Das bevorstehende Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs verstand Nairn als die unvermeidliche und notwendige Antwort auf eine durch den Dekolonisationsprozess hervorgerufene Krise der Union. Sein Argument beruhte darauf, dass das Empire seit dem Ende des 18. Jahrhunderts für Schottland einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dargestellt habe, ja dass sogar die komplette Industriestruktur des Landes darauf ausgerichtet gewesen sei.¹⁵⁷ Der amerikanische Soziologe Michael Hechter nahm in seiner 1975 publizierten Studie mit dem Titel „Internal colonialism“ ebenfalls eine imperialismuskritische Warte ein.¹⁵⁸ Im Gegensatz zu Nairn, der das Empire eher als Faktor von strukturellen Moderni-
Vgl. Tom Nairn: The modern Janus, in: New Left Review 94/1975, S. 3 – 29, hier S. 7– 9. Vgl. ebd., S. 8 – 9. Vgl. beispielsweise Nairn: The break-up of Britain, S. 13. Hechter: Internal colonialism.
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sierungsprozessen behandelte, sah Hechter die Schotten und Waliser vor allem als Opfer von Kolonialismus.¹⁵⁹ Er argumentierte in seiner Arbeit, die vor dem Hintergrund der amerikanischen Rassenunruhen verfasst worden war, dass es anhand der Landesteile des Vereinigten Königreichs möglich sei, „Assimilation“ und „Nationalismus“ zu untersuchen, die unterschiedliche und allgemein anwendbare Strategien zur „Befreiung“ („liberation“) unterdrückter Minderheiten darstellten.¹⁶⁰ Auch Hechter war der Ansicht, dass durch die Prozesse der Modernisierung wirtschaftliche Ungleichheiten in Staatsterritorien entstanden seien: Durch die frühe Modernisierung des Zentrums sei eine wirtschaftliche und politische Dominanz und „cultural division of labour“ entstanden, was bedeute, dass die attraktiven Arbeitsstellen dem Zentrum vorbehalten blieben und dessen Dominanz institutionell verankert werde. Entlang dieser, durch materielle Entwicklungen vorangetriebenen Trennlinie entwickle sich eine jeweils deutliche ethnische Identifikation der einzelnen Gruppen. Zur Analyse dieser Abhängigkeiten schlug Hechter das von Lenin verwendete und über Gramsci vermittelte Konzept des „internen Kolonialismus“ vor.¹⁶¹ Hechter griff damit populäre Beschwerden über wirtschaftliche Vernachlässigung auf, die zur Erklärung der Wahlerfolge der Scottish National Party seit den ausgehenden 1960er Jahren herangezogen wurden, und schrieb sich gleichzeitig in ein zeitgenössisches Narrativ ein, das England die Rolle des Kolonisierers zuschob.¹⁶² Michael Hechters und Tom Nairns Thesen wurden in den 1970er Jahren kontrovers diskutiert. Während Gellner selbst Nairns Argumente weitgehend überzeugend fand, gerieten die Autoren vor allem aufgrund der historischen Komponente ihrer Analyse in die Kritik.¹⁶³ Zentraler Streitpunkt war jedoch auch die normative Bewertung von Nationalismus. Während der erklärte schottische Nationalist Nairn Nationalismus an sich nicht abweisend gegenüber stand, lehnte der Kosmopolit Hobsbawm Nationalismus grundsätzlich ab – politische Positionen, die aus den unterschiedlichen biographischen und generationellen Unterschieden zwischen dem 1917 geborenen und auf Umwegen während der turbulenten 1930er Jahre in das Vereinigte Königreich eingewanderten Hobsbawm und dem 1932 in Schottland geborenen und aufgewachsenen Nairn erklärt werden können. Die Diskussion über eine materialistische und ökonomische Lesart führte damit zu einem erneutem Aufflackern der Auseinandersetzung über den Stel-
Vgl. ebd., S. 342. Vgl. ebd., S. xvii. Zum Modell des „internal colonialism“ vgl. ebd., S. 8 – 10. Vgl. dazu Kapitel II.2. Vgl. beispielsweise Eric J. Hobsbawm: Some reactions on ‚The Break-Up of Britan‘, in: New Left Review 105/1977, S. 3 – 23, hier S. 4; Ö zkirimli: Theories of nationalism, S. 102.
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lenwert des Nationalismus innerhalb der marxistischen Theorie, die bereits in der Internationalismus-Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Lenin zwischen 1903 und 1918 Thema gewesen war.¹⁶⁴ Angesichts der hochpolitisierten Debatte über die Stellung der Gewerkschaften und der Devolutionspläne für Schottland und Wales gewann diese Diskussion nun einmal mehr an Bedeutung.¹⁶⁵ Im Zuge dieser Auseinandersetzung rückte immer mehr die Frage in den Mittelpunkt, warum Menschen in den Kategorien von Nationalismus dachten. Die von Nairn angeregte Debatte wurde vor allem Eric Hobsbawm und Benedict Anderson geprägt. Der Historiker Hobsbawm zog zur Beantwortung der Frage politische Gründe heran; Benedict Anderson, Professor für International Studies an der Cornell University, ausgewiesener Südostasienexperte und Bruder Perry Andersons, anthropologische. So vertrat Eric Hobsbawm im Jahr 1983 in dem zusammen mit Terence Ranger publizierten Sammelband „The invention of tradition“ die These, dass Traditionen, die vermeintlich bereits seit langer Zeit existierten, tatsächliche eine „Erfindung“ jüngeren Datums seien. Für den Sammelband verfasste Hobsbawm eine programmatische Einleitung, in der er die Kernpunkte seiner These der „erfundenen Traditionen“ erläuterte: Er definierte „invented tradition“ als „set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviours by repetition, which automatically implies continuity with the past“.¹⁶⁶ In Zeiten schnellen sozialen Wandels wie im 18. und im 19. Jahrhundert seien die alten traditionellen Formen der Sinnstiftung nicht flexibel genug gewesen, um soziale Ordnung zu bewahren; daher seien neue Formen von Ordnung aufgekommen, unter anderem Nationalismus. Zur Legitimierung dieser Ordnungsformen sei es notwendig gewesen, eine historische Kontinuität zu „erfinden“.¹⁶⁷ Diese These wurde in Aufsätzen einer Reihe anerkannter Wissenschaftler ausgeführt, so steuerten neben Hobsbawm und Ranger selbst unter anderem Hugh Trevor Roper und David Cannadine Beiträge bei. Hobsbawms Ansatz der Konstruktion von Nationalismus sowohl durch Handlungen von Regierungen und Eliten „von oben“, als auch „von unten“ durch das Zusammenfallen von Politik, Moderni-
Vgl. hierzu Michael Löwy: Marxists and the national question, in: New Left Review 96/1976, S. 81– 100; Jones: The lost debate. German socialist intellectuals and totalitarianism, S. 28 – 29; Nimni: Marxism and nationalism, S. 44– 69. Vgl. hierzu auch Hobsbawm: Some reactions on ‚The Break-Up‘; Löwy: Marxists and the national question; Nairn: The modern Janus. Hobsbawm: Introduction, S. 1. Vgl. ebd.
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sierung und Populärkultur wurde in der 1991 erschienen Monographie „Nations and Nationalisms“ weiter ausgeführt.¹⁶⁸ Auch Benedict Anderson ging in seiner ebenfalls im Jahr 1983 publizierten Monographie davon aus, dass Nationen vorgestellte Gemeinschaften, „imagined communities“ seien – „imagined as both inherently limited and sovereign“.¹⁶⁹ Ausgehend von den bewaffneten Konflikten der Jahre 1978 – 79 in Indochina ging es ihm darum, der Frage nachzugehen, warum Menschen Nationalismus anhängen. Anderson wählte einen vergleichenden Ansatz und wies kulturellen Faktoren einen größeren Stellenwert zu. Seine Neuerung bestand in der Art und Weise, wie er Nationen und Nationalismus konzeptionalisierte. Anders als Kedourie und Gellner verstand Anderson die Phänomene nicht als explizite politische Ideologie, sondern als kulturelle Systeme, als „cultural artifacts of a particular kind“.¹⁷⁰ Die Nation stellt für ihn somit eine neue Form sozialer Beziehungen dar, die Ende des 18. Jahrhunderts durch ein Zusammenfallen bestimmter historischer Entwicklungen gebildet wurde und die in den Bedeutungsverlust von Religion und absolutistischen Monarchien eingebettet war.¹⁷¹ Der Nationalismus selbst ähnle in seiner Funktionsweise und Beschaffenheit eher einer Religion; eine Engführung auf eine politische Ideologie werde dem Phänomen nicht gerecht. Jedoch stellen Nationen ebenso wie bei Hobsbawm, Gellner und Nairn auch bei Anderson inhärent moderne Phänomene dar, die nicht ohne eine Veränderung in der Wahrnehmung von Zeit denkbar seien, auch wenn er die ausschlaggebenden Entwicklungen zeitlich vor dem 18. und 19. Jahrhundert ansetzt. An dieser Stelle zeigte sich der Einfluss der Theoriedebatten der Neuen Linken in Großbritannien besonders: Anderson gab in seiner Autobiographie an, dass sein Werk stark von seinem Bruder Perry und der jahrelangen Lektüre der New Left Review beeinflusst gewesen sei; hier besonders von den Schriften Walter Benjamins.¹⁷² Die kognitive Voraussetzung für die Entstehung nationaler Identitäten sah Anderson daher in einem Wandel der Zeitvorstellungen im 18. Jahrhundert: Denn erst als die religiös strukturierte Zeit durch säkulare Konzeption von Zeit ersetzt wurde, war die Nation denkbar und die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft in unmittelbarer Gegenwart möglich geworden.¹⁷³ Anderson ordnete den Prozess der Nationsbildung jedoch auch in strukturelle Bedingungen ein, nämlich die Erfindung
Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2005. Anderson: Imagined communities, S. 6. Ebd., S. 4. Vgl. ebd. Vgl. Benedict Anderson: A life beyond boundaries. A memoir, London 2016, S. 120. Vgl. Anderson: Imagined communities, S. 36.
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des Buchdrucks, die Ausbildung des Kapitalismus sowie die Normierung von Sprachen, die durch den Druck unterschiedlicher Volkssprachen im Zuge der Ausbildung des Printkapitalismus vorgenommen wurde.¹⁷⁴ Anderson verstand „Imagined communities“ als polemischen Debattenbeitrag gegen eine Nationalismusforschung, die auf London, Oxford und Cambridge bezogen und die – ungeachtet politischer Differenzen – durch einen gemeinsamen jüdischen Hintergrund geprägt gewesen sei. Durch die Erfahrung von Migration und Vertreibung hätten Forscher wie Elie Kedourie, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm, aber auch der in London geborene Schüler Gellners, Anthony Smith dem Vereinigten Königreich grundlegend positiv gegenüber gestanden; eine Gruppe, die er kurzum mit „UK intelligentsia“ umschrieb.¹⁷⁵ Im Gegensatz dazu hielt der seit 1958 in den USA lebende Anderson fest, dass ihn die Kritik Nairns am Vereinigten Königreich als Ire mit Genugtuung erfüllt habe; „Imagined communities“ sollte Nairns Thesen stützen und ausweiten.¹⁷⁶ Dieter Langewiesche hat kritisiert, dass Andersons und Hobsbawms Betonung des Konstruktionscharakters der Nation keine Neuerung darstellte, da bereits Otto Bauer, Karl Renner und nicht zuletzt Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Nation als Vorstellung und gedachte Ordnung verstanden hätten.¹⁷⁷ Das ist zwar aus der Perspektive der Nationalismusforschung gerechtfertigt. Die Bedeutung von Andersons, aber auch von Hobsbawms und Nairns Publikationen ergibt sich jedoch weniger aus der völligen Neuartigkeit ihrer Thesen oder Argumentationen, sondern aus dem zeitlichen Kontext, der ihnen erlaubte, eine herausgehobene Position innerhalb der Nationalismusforschung zu erreichen. Während Nairns Thesen zwar themenbildend für die wissenschaftliche Debatte über die Zukunft des Vereinigten Königreichs wurden, insbesondere durch die von ihm geprägte Wendung des „break-up of Britain“, war seine Argumentation für ein internationales Publikum zu sehr auf das Vereinigte Königreich bezogen und an innermarxistischen Problemen orientiert. Andersons „imagined communities“ hingegen war nicht nur einprägsam genug, um in den britischen Geschichts- und Sozialwissenschaften breit rezipiert zu werden, sondern ab den späten 1980er Jahren eine nahezu globale Karriere hinzulegen.¹⁷⁸ Die
Vgl. ebd., S. 46. Obwohl Anderson sich nicht explizit auf Karl Deutsch bezieht, werden hier zumindest Anklänge deutlich. Vgl. Anderson: A life beyond boundaries, S. 124– 125. Vgl. ebd. Vgl. Dieter Langewiesche: Was heißt „Erfindung der Nation“? Nationalgeschichte als Artefakt – oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: HZ 277/2003, S. 593 – 617, hier S. 598 – 600. Vgl. hierzu die unterschiedlichen Sprachen, in die das Buch seit den 1980er Jahren übersetzt wurde, Anderson: Imagined communities, S. 207– 226.
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Stärke des Andersonschen Ansatzes lag darin, die Verbreitung neuer Gemeinschaftsformen in den kulturellen Eliten erklären zu können.¹⁷⁹ Sein anthropologischer Ansatz der Gemeinschaftsbildung mit der besonderen Betonung von Schriftzeugnissen zeigte sich kompatibel zu den Methoden der Historiker, denen der Umgang mit historischen Texten sehr entgegenkam.¹⁸⁰ Hobsbawms „invented traditions“ wurden von Historikern in Großbritannien, aber auch international breit rezipiert: Er richtete den Blick auf ritualisierte Praktiken mit Bezug auf die Vergangenheit, was die Untersuchung von Symbolen wie Flaggen für die Geschichtswissenschaft ermöglichte.¹⁸¹ Es verwundert daher nicht, dass sowohl die konstruktivistische Theorie des Historikers Hobsbawms als auch die des anthropologisch arbeitenden Politologen Benedict Anderson einen starken Einfluss auf die britischen Geschichtswissenschaften haben sollte, in der zu diesem Zeitpunkt – auch durch die Publikationen Hobsbawms und Andersons – die kulturgeschichtliche Wende an Dynamik gewann. Nairn, Hobsbawm und Anderson waren beileibe nicht die einzigen Wissenschaftler, die die „neuen“ Nationalbewegungen zum Anlass nahmen, über Nationalismus generell nachzudenken. John Breuilly richtete beispielsweise den Fokus auf den Staat und warf die Frage auf, warum Nationalismus politisch bedeutsam werden konnte, während Anthony D. Smith Nationalismus als Reaktion auf ein Demokratiedefizit verstand.¹⁸² Besondere Plausibilität erlangten Nairn,
Vgl. Christian Jansen und Henning Borggräfe: Nation, Nationalität, Nationalismus, Frankfurt a. M. 2007, S. 98. Vgl. hierzu auch Breuillys Kritik, John Breuilly: Historians and the nation, in: Peter Burke (Hrsg.): History and historians in the Twentieth century, Oxford 2002, S. 55 – 87, hier S. 80. Vgl. Hobsbawm: Introduction, S. 3. Vgl. John Breuilly: Nationalism and the state, Manchester 1982, S. 1– 3; Smith: Nationalism in the Twentieth century, S. 151– 152. Zur Lesart des Demokratiedefizits vgl. Kapitel II.3. Smith, dessen Doktorarbeit von Ernest Gellner betreut worden war, hatte sich im Verlauf der 1970er Jahre von dessen modernistischer Sichtweise gelöst. Stattdessen entwickelte er einen Ansatz, der als Ethnosymbolismus bekannt werden sollte: Smith verstand Nationen nicht als komplett moderne Phänomene. Anstelle dessen habe eine Nation in der Regel einen vormodernen, „ethnischen“ Kern. Diese im Verlauf der 1980er Jahre entwickelte Theorie wurde zur einflussreichen Kritik der modernistischen Sichtweise Gellners. Smith befand sich mit seiner Kritik der zeitlichen Verortung der Entstehung der Nation im 19. Jahrhundert nicht alleine. Besonders in den USA mehrte sich in den ausgehenden 1970er und frühen 1980er Jahren Kritik am modernistischen Paradigma. Eine Gruppe von Forschern, vor allem Anthropologen, die unter dem Etikett der Primordialisten zusammengefasst wurden, vertraten die psychologisch inspirierte These, dass Menschen die natürliche Eigenschaft besäßen, andere Menschen mit gleicher Ethnizität zu bevorzugen. John Armstrong transportierte diese These mit der Publikation seiner Monographie „Nations before Nationalism“ im Jahr 1982 in die Nationalismusforschung. Vgl. John Armstrong: Nations before nationalism, Chapel Hill 1982.
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Hobsbawm und Anderson jedoch nicht zuletzt daher, da ihr Ansatz dazu beitragen konnte, die Geschichte von Nationalismus innerhalb des Vereinigten Königreichs zu analysieren.
Nationale Identität in den britischen Geschichts- und Sozialwissenschaften Indem sich die Debatte innerhalb der britischen Marxisten und zunehmend auch innerhalb der breiteren Nationalismusforschung auf die Gründe richtete, warum Menschen nationalistische Haltungen vertraten, rückte die psychologische Komponente von Nationalismus und damit einhergehend, das Individuum als Akteur zunehmend in den Fokus der Wissenschaftler. Der Begriff der „nationalen Identität“ wurde im Zuge dessen umgedeutet: Wurde er zunächst vor allem deskriptiv als Unterkategorie zur Beschreibung nationaler Andersartigkeit verwendet, entwickelte er sich im Zuge des Auftretens sogenannter neuer Nationalismen und des wissenschaftlichen Umgangs mit ihnen in den britischen Geschichts- und Sozialwissenschaften zu einem zunehmend konstruktivistisch verstandenen Begriff, der vor allem am Ende der 1980er Jahre in den Rang einer analytischen Kategorie aufgestiegen war, wie die Britishness-Debatte verdeutlicht. So verwendet Eric Hobsbawm 1983 Identität wie selbstverständlich weiterhin im Sinne von vergleichsweise unreflektierter Identifikation¹⁸³; er stand damit im Mainstream des politischen und wissenschaftlichen Diskurses, in dem das Konzept noch eine rein beschreibende Funktion einnahm und in dem ihm in der Regel kein großer analytischer Stellenwert beigemessen wurde. Auch in der nur wenige Jahre zuvor geführten Auseinandersetzung über die Einführung politischer Devolution wurde der Begriff der nationalen Identität in selbstverständlicher Weise dazu verwendet, die kulturelle Andersartigkeit von Schotten und Walisern zu betonen, stellte jedoch nicht die primäre Analysekategorie dar.¹⁸⁴ Dies änderte sich im Verlauf der 1970er Jahre: Bereits Tom Nairn hatte von der Fähigkeit von Nationalismus gesprochen, auf individuelle psychologische Bedürfnisse einzugehen¹⁸⁵, während Anderson die Konstruktion von nationalen Narrativen als analogen Prozess zur personalen Identitätsbildung verstand.¹⁸⁶ Auch Anthony D. Smith berücksichtigte „nationale Identität“ in seiner 1979 publizierten Monographie „Nationalism in the Twentieth century“ mit einem Kapitel zu „colour, race and national identity“. Das Kapitel behandelt aber vor allem das Verhältnis von
Vgl. beispielsweise Hobsbawm: Mass-producing traditions: Europe, 1870 – 1914, S. 263. Vgl. hierzu beispielsweise Royal Commission on the Constitution, Vol. I, S. 27, §86. Vgl. Nairn: The modern Janus, S. 7. Vgl. Anderson: Imagined communities, S. 204– 205.
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Nationalismus und Rassismus, ohne dass Identität eine entscheidende Rolle in der Analyse gespielt hätte.¹⁸⁷ Allerdings publizierte Smith 1991 eine Monographie rein zum Konzept der nationalen Identität, in der der Kategorie eine zentrale Rolle in der Nationalismusforschung zugeschrieben und in der sie konstruktivistisch verstanden wurde.¹⁸⁸ Zugleich verwendeten Teile der Sozial- und Literaturwissenschaften sowie der Soziologie das Konzept der „personalen Identität“, um mit den zunehmend behandelten Themen von race, Migration und ethnischen Gruppen umzugehen. So publizierte Anthony Giddens, der in den 1970er Jahren dazu angesetzt hatte, die funktionalistische Prägung der britischen Soziologie zu überwinden, im Jahr 1991 „Modernity and self identity: self and society in late modern age“, das von der Konstruktion von personaler Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts handelte¹⁸⁹; Charles Taylor, Mitglied im studentischen Umfeld der ersten Neuen Linken, publizierte im Jahr 1989 eine Studie, in der er die Quellen „moderner Identität“ zu entschlüsseln versuchte.¹⁹⁰ In der Koppelung vor allem des Konzepts personaler Identität mit der Kategorie von race fand sich ein Anknüpfungspunkt an die kulturwissenschaftlichen Debatten der 1980er und 1990er Jahre. Die britischen Kulturwissenschaften wandten sich vermehrt der Erforschung von auf ethnischen Trennlinien basierenden kulturellen Unterschieden und politischen Verhaltensweisen zu. Identität bildete für sie das passende Vehikel, um die Fragmentierung kultureller Erfahrung in der Diaspora zu erklären. Paul Gilroys 1987 publizierte Studie „There ain’t no black in the Union Jack“ kann als Meilenstein dieses Ansatzes gelten.¹⁹¹ Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung in Folge der Ausschreitungen von 1981 das Problem unterschiedlicher Zugehörigkeitskonzepte zwar sichtbar geworden, „nationale“ Identität jedoch noch nicht als Kategorie zur Beschreibung dieser kulturellen Zugehörigkeitskonzeptionen herangezogen worden war. Ähnliche Fragen wurden in den vor allem aus Indien und den USA stammenden Diskussionen der Postcolonial Studies gestellt. Diese Form imperialismuskritischer kulturwissenschaftlicher Analyse hatte ihren Ursprung in Indien in der subaltern study group um den Historiker Ranajit Guha sowie in den Arbeiten Edward Saids. Die von den Cultural und Postcolonial Studies vertretenen Ansätze ähnelten sich, und zumindest in Birmingham wurden entsprechende Studien vor allem seit den
Vgl. Smith: Nationalism in the twentieth century, S. 86 – 114. Vgl. Anthony D. Smith: National identity, London 1991, besonders Kapitel 1. Vgl. Giddens: Modernity and self-identity. Vgl. Charles Taylor: Sources of the self. The making of the modern identity, Cambridge, Mass. 1989. Vgl. Gilroy: There ain’t no black (2002).
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ausgehenden 1970er Jahren zunehmend rezipiert. Die Interaktion dieser in unterschiedlichen nationalen Kontexten verwurzelten Wissenschaftler zeigt sich am Forschungsansatz der Hybridität, der seit den frühen 1990er Jahren von Forschern wie Stuart Hall, Homi Bhaba, Gayatri Spivak oder Paul Gilroy diskutiert wurde.¹⁹² Ein dort häufig verwendetes Konzept, dass auch bei der Untersuchung von nationalen Identitäten einflussreich wurde, war die Vorstellung des „Anderen“ („other“), mit dem sich Ausgrenzungsprozesse erklären ließen.¹⁹³ „Race“, „class“ und seit den 1990er Jahren zunehmend auch „gender“ wurden damit in den Kulturwissenschaften die Kategorien, entlang derer Identität konstruiert wurde. Paul Gilroy stellte 1987 fest: Races are not, then, simple expressions of either biological or cultural sameness. They are imagined – socially and politically constructed – and the contingent processes from which they emerge may be tied to equally uneven patterns of class formation to which they, in turn, contribute. Thus ideas about race may articulate political and economic relations in a particular society that go beyond the distinct experiences or interests of racial groups to symbolize wider identities and conflicts.¹⁹⁴
Dies galt auch für die Kollektivform der nationalen Identität, auch wenn es keinen Konsens über das genaue Verhältnis dieser unterschiedlichen Parameter von Identität zueinander gab: Anthony Smith hierarchisierte beispielsweise die unterschiedlichen Formen kollektiver Identität stärker als Gilroy, indem er der nationalen die stärkste Prägekraft unterstellte: „Other types of collective identity – class, gender, race, religion – may overlap or combine with national identity but they rarely succeed in undermining its hold, though they may influence its direction.“¹⁹⁵ Die Kollektivform der „nationalen Identität“ erwies sich als hochgradig anschlussfähig an historisch arbeitende Sozialwissenschaftler sowie an die Geschichtswissenschaft.¹⁹⁶ In der britischen Historiographie, in der angesichts von Gareth Stedman Jones’ Monographie über die Chartisten spätestens seit 1983 über den Stellenwert von Sprache diskutiert wurde, konnte das Konzept der „nationalen Identität“ zum einen die Lücke füllen, die durch die Debatten über die Tragfähigkeit des Konzeptes der sozialen Klasse aufgegangen war und kam
Als Schlüsseltexte hierzu vgl. Homi K. Bhabha: The location of culture, London/New York 1994; Homi K. Bhabha: Introduction: narrating the nation, in: Homi K. Bhabha (Hrsg.): Nation and narration, London/New York 1990, S. 1– 7. Vgl. beispielsweise Hall: Ethnicity: identity and difference, S. 345. Paul Gilroy: One nation under a groove. The cultural politics of “race” and racism in Britain, Oxford 1996, S. 353. Smith: National identity, S. 143. Vgl. Mandler: What is „national identity“, S. 272.
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zugleich den veränderten Forschungsinteressen mancher Historiker entgegen, die mit einer kulturhistorischen Perspektive auf die britische Nationalgeschichte blickten und verstärkt auf die Bruchlinien in der britischen Nationalstaatsbildung achteten. Mit dem Begriff der „nationalen Identität“ war es möglich geworden, das Problem der sozialen Zugehörigkeit, das in allem politischen Debatten der Zeit aufgekommen war, auf wissenschaftlicher wie öffentlicher Ebene handhabbar zu machen – eben jene Frage, die die Grundlage der historiographischen Debatte um die Ursprünge und Entwicklung von Britishness bildete. Linda Colley und Keith Robbins gebührt der Verdienst, den von Gareth Stedmann Jones popularisierten kulturwissenschaftlichen Ansatz auf die Frage nach dem, was die britische Nation zusammenhalte, gerichtet zu haben.¹⁹⁷ Denn indem Linda Colley die Konstruktion der britischen Nation zum Thema ihres 1992 erschienenen Buches „Britons“ machte – doppeldeutig als „forging of the British nation“ bezeichnet – legte sie damit einen entscheidenden Grundstein für die programmatische Ausrichtung der Debatte über britische nationale Identität in den folgenden Jahren.¹⁹⁸ Dabei wurde die zu untersuchende Nation als das Produkt eines Konstruktionsprozesses verstanden; das Konzept einer nationalen Identität bildete die Analysekategorie, mit der dieser untersucht werden sollte. Dass auch hier Prozesse der Gemeinschaftsbildung durch „othering“ im Fokus standen, verdeutlicht den kulturwissenschaftlichen Einfluss. Theoretische Grundlage für Colley bildete ein 1969 vom norwegischen Sozialanthropologen Fredrik Barth herausgegebener Sammelband, in dem das Konzept der Konstruktion des „Anderen“ zwar noch nicht beim Namen benannt, aber als Teil eines Aushandlungsprozesses ethnischer Gruppenbildung verstanden wurde.¹⁹⁹ Colleys Publikation stellte damit einen wissensgeschichtlichen Meilenstein dar: „Britons“ war das Ergebnis eines Transferprozesses, in dem die analytische Kategorie der nationalen Identität den Weg aus der US-amerikanischen Entwicklungspsychologie in das Feld der britischen Geschichtswissenschaft gefunden hatte. Lieferte das Konzept der „nationalen Identität“ das methodische Rüstzeug, um nationale Zugehörigkeit und Nationalstaatsbildung in einem multinationalen Staat mit einem übergeordneten, „offiziellen“ Nationalismus denken zu können, so fand dies in einem politischen und öffentlichen Umfeld statt, in dem die britische Nation, ihre Vergangenheit und Zukunft seit den frühen 1980er Jahren
Vgl. hierzu Linda Colley: Britishness and otherness: an argument, in: Journal of British Studies 31/1992, S. 309 – 329; Colley: Britons; Robbins: Nineteenth-century Britain; Robbins: „This grubby wreck of old glories“. Colley: Britons, S. 1. Fredrik Barth: Introduction, in: Fredrik Barth (Hrsg.): Ethnic groups and boundaries: the social organization of culture difference, London 1969.
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verstärkt thematisiert wurde. Dies lag nicht zuletzt am Falklandkrieg, den die Regierung Thatcher im Frühjahr 1982 gegen die argentinische Regierung führte, aber auch an der seit den 1970er Jahren laufenden Debatte über den Stellenwert britischer Kulturgüter, die die britischen Historiker zum Teil direkt zum Nachdenken über Nation, Nationalstaat und Nationalismus anregte.
3 Britishness und Decline: Nationalismus im Fokus der Geschichtswissenschaft Der britischen Nation wurde in den 1980er Jahren verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Dies geschah zum einen im Rahmen der Debatte um die Reform des britischen Nationality Law, zum anderen im Zuge der wesentlich breiter diskutierten öffentlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Umfeld des Falklandkrieges. Hatte die Debatte um die Reform des Nationality Act gezeigt, dass politisch gerade kein Konsens darüber bestand, welche Eigenschaften die britische Nation ausmachten, so brachte der wenige Monate ausbrechende Falklandkrieg einen im Gewand von Patriotismus auftretenden britischen Nationalismus zu Tage, der vor allem für linke Historiker und Sozialwissenschaftler ein intellektuelles Problem darstellte.
Jingoism: Der Falklandkrieg 1982 Vor Ausbruch des Konfliktes war die Inselgruppe im südlichen Atlantik im öffentlichen Leben des Vereinigten Königreichs weitgehend in Vergessenheit geraten – 1833 von britischen Truppen erobert, gehörte sie zu den letzten territorialen Überresten des britischen Empire. Argentinien hingegen hatte seine Ansprüche auf die dort als Malvinas bezeichneten Inseln nie aufgegeben und seit 1945 verstärkt versucht, die Inseln wieder zu erlangen; unter anderem mit erfolgreichen UN-Resolutionen 1965 und 1973. Für die britische Regierung spielten die Inseln bis zum Frühjahr 1982 nur eine untergeordnete Rolle: Das Territorium war abgelegen, 8000 Meilen entfernt und hatte geringen strategischen Wert für das Vereinigte Königreich. Noch im Jahr 1980 hatte Nicholas Ridley als Staatsminister im Außenministerium einen Plan für einen sogenannten „Lease-Back“ entwickelt, die Verantwortung der britischen Regierung für die Inseln langfristig abzuwickeln: Nach einem Treffen mit seinem argentinischen Kollegen hatte er ein Arrangement vorgeschlagen, nach dem die Regierung die Oberhoheit über die Inseln zurückerhalten und das Vereinigte Königreich die Inseln im Gegenzug für 99 Jahre pachten sollte, um den rund 1800 Bewohnern genügend Zeit für die Umgewöh-
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nung zu geben – ein Plan, der von den Bewohnern der Falklands umgehend abgelehnt wurde.²⁰⁰ Die Pläne der konservativen Regierung zur Revitalisierung der britischen Wirtschaft und Überarbeitung des Einwanderungsgesetzes sendeten zudem Signale an die argentinische Regierung, die als nachlassende Verteidigungsbereitschaft ausgelegt werden konnten. Dazu gehörte die Schließung der arktischen Forschungsstation auf South Georgia, einer zu den Falklands gehörenden Insel; Einschnitte im Verteidigungsbudget, denen die HMS Endurance, die die Gewässer um die Falklands patrouillierte, zum Opfer fallen sollte, sowie die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 1981, im Zuge derer die Bewohner der Falklands trotz intensiver Lobbyarbeit nicht in die Kategorie der British Citizens eingruppiert wurden, sondern mit der als zweitrangig empfundenen Kategorie der British Dependent Territories Citizens vorlieb nehmen mussten.²⁰¹ Die militärische Antwort der konservativen Regierung auf die Invasion argentinischer Truppen am 2. April 1982 in Port Stanley zog einen veritablen Pressekrieg nach sich, in dem der britische Patriotismus zur politischen Trennlinie erhoben wurde. Gerhard Altmann zufolge bildeten sich in der ersten Woche nach der Invasion drei publizistische Lager heraus, die in gewissem Maße die innenpolitische Polarisierung seit dem Machtantritt Margaret Thatchers widerspiegelten²⁰²: Linke Blätter wie der Guardian, die Tribune, der Daily Mirror oder der Observer kritisierten das Vorgehen der Regierung Thatcher zum Teil scharf. Neben Vorwürfen der Doppelmoral und der Verschwendung finanzieller Ressourcen fand sich bei ihnen auch der Vorwurf imperialer Verhaltensweisen, die sie in den militärischen Maßnahmen der britischen Regierung erkennen wollten. So kritisierte der Observer beispielsweise die „Orgie imperialer Nostalgie“, die das Blatt in der Falklandaffäre sah.²⁰³ Die verbleibenden beiden Lager der Presse unterstützen beide den militärischen Kurs der Regierung, unterschieden sich jedoch im Ton der Berichterstattung deutlich. Während das gemäßigte konservative Spektrum der Times, des Spectator, des Economist und der Sunday Times patriotische
Vgl. Lawrence Freedman: The official history of the Falklands Campaign, Bd. I. The Origins of the Falklands War, London 2005, S. 107– 114. Vgl. Altmann: Abschied vom Empire, S. 372. Zum British Nationality Act 1981 vgl. Kapitel I.2. Für Altmanns eingehende Diskussion der Presseberichterstattung vgl. ebd., S. 377– 386. Zur Medienberichterstattung vgl. auch Valerie Adams: The media and the Falklands campaign, Basingstoke 1986; Susan L. Carruthers: The media at war, 2. Aufl., Basingstoke 2011, S. 119 – 125; Robert Harris: Gotcha! The media, the government and the Falklands crisis, London 1983; Matthew Leggett: The Falklands conflict: media coverage, propaganda, jingoism or journalism?, in: Carine Berbéri und Monia O’Brien Castro (Hrsg.): 30 years after. Issues and representations of the Falklands War, London 2017, S. 15 – 22; Derrik Mercer, Geoff Mungham und Kevin Williams: The fog of war. The media on the battlefield, London 1987, S. 104– 139. Zit. nach Altmann: Abschied vom Empire, S. 378.
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Töne anschlugen, aber von persönlichen Attacken weitestgehend absahen, wurden in den Boulevardblättern Daily Express, Daily Mail oder der Sun Kampagnen gegen die Labour-Abgeordneten geführt, die sich wie Alexander Lyon oder Tony Benn gegen den Krieg aussprachen, und generell nationalistische Töne angeschlagen. In der zeitgenössischen öffentlichen und nachfolgenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Falklandkrieg nahm das Thema des britischen Nationalismus eine zentrale und umkämpfte Stellung ein. Überzogener außenpolitischer Nationalismus, auf Englisch jingoism, war ein Vorwurf, den vornehmlich linke Kommentatoren an die Regierung Thatcher und ihr wohlwollende Medien richteten.²⁰⁴ Besonders die Sun stach durch triumphalistische und fremdenfeindliche Titel hervor, der bekannteste war die später zurückgezogene Schlagzeile „GOTCHA“ angesichts des Untergangs des Kreuzers General Belgrano am 2. Mai 1982, bei dem 368 Argentinier ihr Leben verloren.²⁰⁵ Im Gegenzug verwendeten konservative Kommentatoren den Begriff von Patriotismus für ein Nationsverständnis, dem die Kraft zugeschrieben wurde, die öffentliche und politische, gar die wirtschaftliche Entwicklung des Vereinigten Königreichs zum positiven zu wenden. So diagnostizierte der Daily Telegraph ein Ansteigen des Nationalbewusstseins als positiven Nebeneffekt des Kriegs.²⁰⁶ Auf die politische Landschaft bezogen bedeutete dies zunächst, dass die konservative Partei sich einmal mehr als die patriotische Partei profilieren konnte, „patriotischer“ Äußerungen Labours im Parlament zum Trotz.²⁰⁷ Das zeigte sich beispielsweise in den Umfragewerten der Premierministerin und der Konservativen Partei: Vor Beginn des Krieges auf einem historischen Tief, verzeichneten beide gerade zu Beginn des Konfliktes einen deutlichen Zuwachs in den Umfragewerten.²⁰⁸ Die Zustimmungsrate der Labour Party sank hingegen von 40 % auf 26 %, stieg dann
Dieser Vorwurf lässt sich auch in der Sekundärliteratur finden, vgl. beispielsweise Carruthers: The media at war, S. 121; Adams: The media and the Falklands campaign, S. 89, 144. GOTCHA. Our lads sink gunboat and hole cruiser, The Sun, 4. 5.1982, S. 1. Zum Hintergrund der Presseberichterstattung zum Untergang der Belgrano vgl. Adams: The media and the Falklands campaign, S. 89 – 93. Vgl. hierzu Altmann: Abschied vom Empire, S. 386. Vgl. hierzu beispielsweise Michael Foot: Falkland Islands, HC Deb 03 April 1982 vol 21 cc638 – 642. Die Umfragen des Unternehmens Market and Opinion Research International (MORI) verzeichneten, dass die Zustimmung für Margaret Thatchers Antwort auf die argentinische Invasion zum 1. Mai des Jahres 1982 76 % der Bevölkerung erreicht habe und die Zustimmung für die konservative Regierung um 6 % gestiegen sei. Für Diskussion der im Economist abgedruckten Umfragewerte während des Konfliktes vgl. D. George Boyce: The Falklands War, Basingstoke 2005, S. 167 ff.
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jedoch wieder auf 37 % an.²⁰⁹ Damit ging die Erkenntnis für die Linke im Vereinigten Königreich einher, dass Patriotismus und Nationalismus nicht allein von den Konservativen vertreten wurde, sondern, wie Krisenereignisse wie der Falklandkrieg zeigten, das Potential hatten, breite Bevölkerungsschichten über politische Konfliktlinien hinweg zu mobilisieren. Das war besonders bemerkenswert, da die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Thatcher im Ruf stand, auf dem Rücken der Arbeiterklasse eine ideologisch motivierte Kehrtwende zu vollziehen – eine Deutung, die schon zeitgenössisch unter dem Begriff des „Thatcherism“ bekannt und kontrovers diskutiert wurde.²¹⁰ Angesichts des Falklandkrieges bemerkte Peter Jenkins, Kolumnist im linksliberalen Guardian: „patriotism has worked its old magic with the working class and trade unionists“, Arbeiter und Jugendliche hätten sich unter der Nationalflagge um die Conservative Party versammelt. Die Nachwirkungen werde man auch nach Ende der Kampfhandlungen weiter spüren: „Patriotic instincts have been aroused and they potentially transcend the dividing lines of class and ideology. […] A spirit of nationalism has been aroused and it will linger on beyond the quieting of the guns.“²¹¹ Auch Tom Nairn resümierte 1983: „The real England is irredeemably Tory. This is the message of the South Atlantic War.“²¹² Im Gegenzug ist diese Betonung nationaler Größe durch Politiker und Presse jedoch nicht ohne die Erzählungen des nationalen Niedergangs denkbar: Die Affirmation britischer Größe wirkte als machtvolles Gegennarrativ zu den Erzählungen des „British Decline“ der 1960er und 1970er Jahre. Gerade die Einbettung der Ereignisse in vergangene Erfolgsgeschichten wie dem Mythos des „standing alone“ gegen die Truppen des Dritten Reichs unterstreicht die Bedeutung, die dem Falkland-Konflikt als Ereignis nationaler Erneuerung zugesprochen wurde. Margaret Thatchers Rede auf dem Parteitag der Konservativen in Cheltenham im Juli 1982 ist möglicherweise das treffendste Beispiel für diese Form von Triumphalismus. In der oft zitierten Rede beschreibt sie ein Großbritannien, das Zweiflern („waverers and the fainthearts“) zum Trotz triumphiert: The people who thought we could no longer do the great things which we once did. Those who believed that our decline was irreversible – that we could never again be what we were. There were those who would not admit it […] they too had their secret fears that it was true: that Britain was no longer the nation that had built an Empire and ruled a quarter
Vgl. Peter Jenkins: Patriotism has worked its old magic, Guardian, 16.6.1982, S. 12. Zur Prägung und kritischen Diskussion des Begriffes vgl. Hall: The great moving right show, S. 30 – 34. Jenkins: Patriotism has worked its old magic, Guardian, 16.6.1982, S. 12. Tom Nairn: Britain’s living legacy, in: Stuart Hall und Martin Jacques (Hrsg.): The politics of Thatcherism, London 1983, S. 281– 288, hier S. 288.
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of the world. Well they were wrong. The lesson of the Falklands is that Britain has not changed and that this nation still has those sterling qualities which shine through our history.
Die Premierministerin wollte die Entschlossenheit des Falklandkrieges auch in der Friedenszeit nutzen: „We have ceased to be a nation in retreat.We have instead a new-found confidence – born in the economic battles at home and tested and found true 8000 miles away.“²¹³ Die Schmach der Suezkrise von 1956 war damit für die Premierministerin überwunden, aber auch die negativen Folgen der Freizügigkeit seit den 1960er Jahren, die sie für eine Reihe gesellschaftlicher Probleme verantwortlich zeichnete und die nicht zuletzt auch in der Debatte nach den Unruhen ein knappes Jahr zuvor eine Rolle gespielt hatten²¹⁴: Großbritannien habe sich im Südatlantik wiedergefunden. Der auf allen Seiten des politischen Spektrums zu beobachtende Patriotismus stellte für die Linke innerhalb und außerhalb der Labour Party ein intellektuelles Problem dar. Hatte die seit Mitte der 1970er Jahre andauernde Debatte um Tom Nairns „Break-up of Britain“-These die intellektuellen Konflikte innerhalb der marxistisch geprägten Neuen Linken um das Thema Nationalismus aufgezeigt, erhielten diese Verwerfungen im Zuge des Falklandkrieges neue Dringlichkeit. Gerade die Tatsache, dass mit Michael Foot nicht nur der Vorsitzende der Labour Party, sondern auch ein ausgewiesener Parteilinker unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker den Falklandkrieg unterstützte, rief Diskussionen hervor.²¹⁵ In einem Essay in der einflussreichen Zeitschrift Marxism Today kritisierte Eric Hobsbawm dieses Argument: In den Falklands sei es nicht um das Selbstbestimmungsrecht der Inseln gegangen, sondern allein um den Umgang mit dem wahrgenommenen nationalen Niedergang: „Jingoism today is particularly strong because it acts as a sort of compensation for the feelings of decline,
Margaret Thatcher: Speech to Conservative Rally at Cheltenham, Thatcher MSS, Churchill Archive Centre, Cambridge, CCOPR/486/82, 3.7.1982. Vgl. auch Boyce: The Falklands War, S. 171; Lawrence Freedman: The official history of the Falklands Campaign, Bd. II. War and Diplomacy, London 2005, S. 622. Zu den Unruhen in Brixton und einer Reihe weiterer englischer Städte vgl. Kapitel I.1. Zum Topos der Überwindung der Suez-Krise vgl. Thatchers Autobiographie: „The significance of the Falklands War was enormous, both for Britain’s self-confidence and for our standing in the world. Since the Suez fiasco in 1956, British foreign policy had been one long retreat. […] Victory in the Falklands changed that.“ Margaret Thatcher: The Downing Street years, London 1993, S. 173. Zum Stellenwert der Suez-Krise und des Zweiten Weltkriegs in der Debatte um die Falklandskampagne vgl. Richard Vinen: Thatcher’s Britain: the politics and social upheaval of the Thatcher era, London 2010, S. 145. Vgl. Anthony Barnett: Iron Britannia, in: New Left Review 134/1982, S. 5 – 96, hier S. 9 – 10.
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demoralization and inferiority, which most people in this country feel, including a lot of workers. This feeling is intensified by economic crisis.“²¹⁶ Denn im Falklandkrieg sei es nicht um die Falkländer gegangen, sondern um Großbritannien. Er erklärt das Anschwellen britischen Nationalgefühls hingegen aus marxistischer Perspektive mit der Krise des britischen Kapitalismus.²¹⁷ Hobsbawm betont einmal mehr, dass sich die britische Linke mit Patriotismus befassen müsse, auch wenn sie es aufgrund des Primats des Klassendenkens oft nicht wolle – letzten Endes das Argument, das bereits Tom Nairn 1975 in seinem Aufsatz „The modern Janus“ gemacht hatte.²¹⁸ Auch der Historiker Robert Gray forderte eine verstärkte Beschäftigung mit Fragen „nationaler Identität“ und – auf konkreter politischer Warte – nationaler Interessen: [T]he left must begin to think more concretely and creatively about national identity and national interests. What for example constitute the legitimate interests of a Britain engaged in progressive democratic changes along the road to socialism? What sort of military forces should be needed to protect those interests?²¹⁹
Möglicherweise passend für ein Mitglied der CPGB sah Gray die Linke anderenfalls nicht in der Lage, eine Führungsrolle in der Gesellschaft einzunehmen.²²⁰ Unter Linken innerhalb und außerhalb der Labour Party wurden Nationalismus und Patriotismus zu Themen, deren Status in Programm und politischer Praxis umstrittenen waren und die zur Introspektion einluden; einmal mehr in einem politischen Klima seit den 1970er Jahren, in dem die britische Nation zunehmend als bewahrenswertes und möglicherweise bedrohtes Gut angesehen wurde.
Eric J. Hobsbawm: Falklands Fallout, in: Stuart Hall und Martin Jacques (Hrsg.): The politics of Thatcherism, London 1983, S. 257– 270, hier S. 269. „Now this upsurge of feeling had nothing to do with the Falklands as such. […] the Falklands were simply a far-away territory swathed in mists off Cape Horn, about which we knew nothing and cared less. It has everything to do with the history of this country since 1945 and the visible acceleration of the crisis of British capitalism since the late 1960s and in particular the slump of the late 70s and early 80s.“ Ebd., S. 259. Vgl. ebd., S. 265. Robert Gray: The Falklands factor, in: Stuart Hall und Martin Jacques (Hrsg.): The politics of Thatcherism, London 1983, S. 271– 280, hier S. 279. Ebd.
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Die Nation in Gefahr: „Heritage“ und der „Niedergang Großbritanniens“ Die Debatte um den Falkland-Konflikt war nicht das einzige Thema, anhand dessen in den 1980er Jahren die britische Nation als solche im politischen und öffentlichen Fokus stand.²²¹ Vor allem seit Mitte der 1970er Jahre wurde besonders in der Debatte über das britische Kulturerbe, kurz „heritage“, vor allem in den Feuilletons über den Stellenwert „nationaler Artefakte“ diskutiert.²²² Die Auseinandersetzung um heritage bezog sich zunächst vor allem auf England, vor allem auf die Mittelklasse im Süden des Landes und spitzte sich in der Auseinandersetzung um die Landsitze adliger Familien, country houses oder auch stately homes zu, die in der Populärkultur der 1980er und 1990er Jahre zu einem Symbol nationaler Identität wurden – auch wenn nicht immer deutlich wurde, ob damit die „englische“ oder „britische“ Nation gemeint war.²²³ Im Gegensatz zur nahezu gleichzeitig ablaufenden Auseinandersetzung um die Einführung von Devolution, in der vor allem das Verhältnis unterschiedlicher Nationen in einem Staat Thema war, ging es hier genuin um die britische Nation als vorgestellte Einheit. Die Debatte ordnete sich in ein länderübergreifendes Nachdenken über den Stellenwert der Vergangenheit für die Gegenwart ein. 1975 wurde vom Europarat das „Europäische Jahr des Architekturerbes“ ausgerufen, das im Deutschen auch unter der Bezeichnung „Europäisches Denkmalschutzjahr“ bekannt wurde.²²⁴ Die Bewahrung von historischen Artefakten wurde ab 1979 auch verstärkt in Westminster aufgegriffen, zwei National Heritage Acts in den Jahren 1980 und 1983 legen Zeugnis davon ab.²²⁵ Öffentliche Museen und Immobilien des National Trust verzeichneten seit Mitte der 1970er Jahre stark ansteigende Besucherzahlen.²²⁶ Im
Rodney Harrison fasst dies wie folgt zusammen: „various changes in the public’s relationship with the past and its material traces, including processes of rapid technological change, deindustrialisation, the restructuring of the tourist gaze, reconfigurations in civic governance, and the widespread commercialisation of the past as ‚experience‘, led to an expansion of public interest in the past as heritage.“ Rodney Harrison: Heritage. Critical approaches, Abingdon/New York 2013, S. 69. Dabei kam die Mehrdeutigkeit des Begriffes „heritage“ einer breit angelegten Auseinandersetzung entgegen, denn er kann neben Gebäuden, Denkmälern und Gedenkstätten auch Liedgut, Festspiele und Dialekte umfassen. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. Peter Mandler: The fall and rise of the stately home, New Haven 1997, S. 411. Zur Begrifflichkeit des „Europäischen Denkmalschutzjahres“ vgl. Kerstin Odendahl: Kulturgüterschutz. Entwicklung, Struktur und Dogmatik eines ebenenübergreifenden Normensystems, Tübingen 2005, S. 395. Vgl. Emma Waterton: Politics, policy and the discourses of heritage in Britain, Basingstoke 2010, S. 72, 83. Vgl. Harrison: Heritage, S. 72.
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Vereinigten Königreich, den USA und Deutschland wurde zeitgleich eine inhaltlich verwandte öffentliche Debatte über das Phänomen der „Nostalgie“ geführt, der vor allem von Seiten der Linken der Vorwurf gemacht wurde, politisch konservativ bis reaktionär zu sein.²²⁷ Linke Kritiker betrachteten „heritage“ als konservativen Spielball, mit dem die weltanschauliche Komponente des Thatcherism in der Gesellschaft verankert werden sollte.²²⁸ Auch auf wissenschaftlicher Ebene entwickelte sich die Vorstellung von „memory“ und Erinnerungskulturen seit den 1980er Jahren zu einem boomenden Forschungsfeld. Nach der Wiederentdeckung von Maurice Halbwachs’ Konzept des kollektiven Gedächtnisses publizierte Pierre Nora in den 1980er und 1990er Jahren ein grundlegendes mehrbändiges Werk zu „Erinnerungsorten“.²²⁹ Das Konzept wurde in unterschiedlichen nationalen Zusammenhängen aufgegriffen und adaptiert, so beispielsweise von Etienne François und Hagen Schulze für den deutschen Kontext.²³⁰ Tatsächlich wurde anhand des Themas von „heritage“ zeitgenössisch versucht, den nationalen Niedergang Großbritanniens zu erklären, der in der Wirtschaftskrise der frühen 1980er und dem beschleunigten Industriesterben in Folge der Politik der Regierung Thatcher einmal mehr ablesbar schien.²³¹ Der Historiker
Vgl. Tobias Becker: Rü ckkehr der Geschichte? Die „Nostalgie-Welle“ in den 1970er und 1980er Jahren, in: Fernando Esposito (Hrsg.): Zeitenwandel: Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017, S. 93 – 117, hier S. 102– 103. Die Popularität, die beispielsweise Martin Wieners Thesen in konservativen Kreisen um Thatcher hatten, gab dieser Sorge eine gewisse Legitimität. Vgl. Stefan Berger (Hrsg.): The past as history. National identity and historical consciousness in Modern Europe. Unter Mitwirkung von Christoph Conrad, Houndmills, Basingstoke 2015. Keith Joseph, der als die intellektuelle Triebkraft des Thatcherismus angesehen wird, soll sogar jedem Minister im Kabinett ein Exemplar von Wieners Buch überreicht haben. Diese Anekdote wurde emblematisch verwendet, um die ideologische Ausrichtung von Thatchers frühem Zirkel zu beschreiben und wurde so in einer Reihe von Einführungswerken aufgegriffen, vgl. beispielsweise David Gange: The Victorians. A beginner’s guide, London, S. 183. Pierre Nora: Les lieux de mémoire. 3 Bde., Paris 1984– 1992. Etienne François und Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, München 2001. Zwei Bücher haben die Debatte über den Umgang mit Artfakten nationaler Vergangenheit in Großbritannien popularisiert: Robert Hewisons „Heritage Industry“ (1987) und Patrick Wrights Buch „On living in an old country“ (1986). Wright stellt in dem Band die grundlegende Frage, warum im Großbritannien der frühen 1980er Jahre Alltagsobjekte zu Schlüsseln nationaler Geschichte erhoben worden waren und „heritage“ innerhalb weniger Jahre zu einem prominenten politischen Thema aufsteigen konnte. Wright ordnete die neue Geschichtsversessenheit in die Geschichte der ersten beiden Legislaturperioden der Regierung Thatcher ein: In der Form von „heritage“ sei Geschichte präsentistisch geworden. Diese Umdeutung von Geschichte verstand Wright als Ausdruck einer Krise der Moderne, die er in das Narrativ des seit den 1970er Jahren ablaufenden British Decline einordnete. Diese Erfahrung der Krise habe eine Sehnsucht nach Authentizität und unproblematischer Individualität gefördert, die die Vorstellung von „heritage“
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David Lowenthal, einer der Protagonisten der Debatten, erklärte die Bedeutung von Kulturgütern unter Rückgriff auf psychologische Kategorien wie folgt: What makes heritage so crucial in a world beset by poverty and hunger, enmity and strife? We seek comfort in past bequests partly to allay these griefs. In recoiling from grievers loss or fending off a fearsome future, people the world over revert to ancestral legacies. As hopes of progress fade, heritage consoles us with tradition.²³²
Vertreter der Neuen Linken hatten seit dieser Zeit die Popularität besonders der ländlichen und „gentlemanly past“ vor allem in der Mittelklasse im Süden Englands beklagt.²³³ Aber auch innerhalb der neuen Rechten wurde die Vorstellung von „gentlemany capitalism“ kritisiert. Dieser Erklärungsstrang innerhalb des populären Narrativs des British Decline fand sich kondensiert in Martin Wieners 1981 veröffentlichtem „English culture and the decline of the industrial spirit: 1850 – 1980“.²³⁴ Der Amerikaner zeichnete eine tief in der britischen Kultur verankerte Industriefeindlichkeit verantwortlich dafür, dass Großbritannien zwar die Wiege der industriellen Revolution gewesen, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert jedoch zunehmend hinter andere westliche Ländern zurückgefallen sei. Besonderes Augenmerk legte Wiener auf die damit aufsteigende bürgerlich-kapitalistische Elite, die sich in ihrem Lebensstil an der adligen Oberschicht orientierte.²³⁵ Wiener stützte sein Argument auf eine von Tom Nairn und Perry Anderson in den 1960er Jahren entwickelte These, die die Entwicklung des britischen
geleistet habe. Thatcher und ihre Anhänger machten sich diese Unsicherheit zu Nutze, um das Sozialgefüge der britischen Klassengesellschaft zu zementieren, die Macht und den Einfluss der Mittelklasse zu erhalten und letztlich ihre wirtschaftsliberale Politik zu sichern. Heritage wird in dieser Lesart zu einem Vehikel der konservativen Trendwende.Vgl. Patrick Wright: On living in an old country. The national past in contemporary Britain, London 1985, Kapitel 1. David Lowenthal: The heritage crusade and the spoils of history, London 1996, S. xiii. Mandler: The English national character, S. 233. Ähnlich deklinistisch argumentierte der Militärhistoriker Corelli Barnett: Der industrielle Abstieg Großbritanniens sei schon im Zweiten Weltkrieg angelegt gewesen. Denn trotz auf den ersten Blick beeindruckender Ergebnisse sei die Arbeitsweise durch schlechtes Management, veraltete Ausrüstung und unzureichend ausgebildete und qualifizierte Arbeitskräfte gekennzeichnet gewesen. Durch die politischen Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs und der Verpflichtung der Regierung zum Aufbau und Ausbau des Wohlfahrtsstaats seien sehr viele Ressourcen in den Sozialstaat geflossen, was einer dringend notwendigen Erneuerung der britischen Industrie im Weg gestanden habe.Vgl. Correlli Barnett: The audit of war. The illusion and reality of Britain as a great nation, Nachdruck, London 2001, S. xi. Vgl. Martin J. Wiener: English culture and the decline of the industrial spirit, 1850 – 1980, Cambridge 1981, S. 3 – 10; Martin J. Wiener: Conservatism, economic growth and English culture, in: Parliamentary Affairs 34/1981, S. 409 – 421.
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Kapitalismus als eine Art Sonderweg deutete, durch den die englische Gesellschaft durch ein Modernisierungsdefizit geprägt gewesen sei²³⁶: Sie sei zwar seit dem 17. Jahrhundert industriell und wirtschaftlich modernisiert worden, durch den verfrühten Charakter dieser Entwicklung sei eine gesellschaftliche Modernisierung jedoch ausgeblieben. Adlige Eliten hätten sich in weiterhin in Machtpositionen halten können. Der im Zuge dessen entstandene „pseudo-feudale“ Konservatismus habe die kulturelle, aber auch wissenschaftliche Entwicklung verzögert.²³⁷ Vorbereitet durch die Debatten um das kulturelle Erbe Großbritanniens und zugespitzt durch die Auseinandersetzung im Zuge des Falklandkriegs rückte nicht nur die britische Nation als solche zunehmend in das Zentrum des akademischen Interesses, sondern stellte eine neue Variante des Niedergangsnarrativs in den frühen 1980er Jahren dar. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Vorstellungen britischen Niedergangs vor allem durch eine wirtschaftliche und machtpolitische Ausrichtung sowie durch die Sorge um den Zusammenhalt des britischen Staates angesichts von Nationalismen in Schottland und Wales gekennzeichnet gewesen. Die Vorstellung, dass Großbritannien wirtschaftlich und machtpolitisch gegenüber anderen Ländern an Wettbewerbsfähigkeit verliere, kann in den Äußerungen von Politikern, Wissenschaftlern und Kommentatoren seit Ende des 19. Jahrhunderts gefunden werden. War die Mehrzahl der Autoren zu diesem Zeitpunkt noch von der Überlegenheit des britischen Wirtschafts- und Regierungssystems überzeugt und der Ansicht, den drohenden Niedergang durch politische Maßnahmen abwenden zu können, unterschied sich die Vorstellung vom Niedergang Großbritanniens seit den 1960er Jahren deutlich davon.²³⁸ Der Topos des „Decline“ hatte sich seit dieser Zeit zum Kern eines umfassenden Narrativs entwickelt, mit dem wirtschaftliche, politische, industrielle und kulturelle Veränderungen im Vereinigten Königreich erklärt werden konnten. Ausgangspunkt war nun jedoch, dass – je nach Autor – unterschiedliche Aspekte des britischen Wirtschafts- und Regierungssystems, aber auch im Bildungswesen gegenüber den europäischen Staaten defizitär seien. Besonders die Daten, die durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ermittelt wurden, ließen in den Augen von Politiken beider Parteien bald die im europäischen Ver-
Zur Sonderwegsdeutung vgl. Dominik Nagl: Edward P. Thompson, die Neue Linke und die Krise im britischen Marxismus der 1960er und 70er Jahre, in: AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hrsg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft, Münster 2015, S. 85 – 101. Vgl. Perry Anderson: Origins of the Present Crisis, in: New Left Review 23/1964, S. 26 – 53. Vgl. Tomlinson: The politics of decline, S. 49.
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gleich niedrigeren Wachstumsraten als Problem erscheinen.²³⁹ In den 1960er Jahren waren es vor allem linke Kritiker, die sich in diesem Kontext einen Namen machten. Anthony Sampsons „The anatomy of Britain“, erstmals 1962 und seitdem in vier weiteren Ausgaben veröffentlicht, stellt ein Musterbeispiel für dieses neue Genre von journalistischem Kommentar, der die grundlegenden Ursachen für die Malaise der ehemaligen Großmacht suchte.²⁴⁰ Während Sampson besonders auf die Mängel der Führungsschicht sowie die politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen einging, analysierten nachfolgende Publikationen die imperiale Expansion anhand der Theorie des „imperial overstretch“, kulturelle Faktoren wie beispielsweise die angenommene industriefeindliche Haltung britischer Eliten sowie ökonomische Einflüsse wie Fehler des Managements.²⁴¹ Das Narrativ vom Niedergang Großbritanniens fungierte als wirkmächtige Ideologie, als eine Interpretation der jüngeren britischen Geschichte, die einflussreiche Parameter innerhalb wissenschaftlicher, journalistischer und politischer Eliten setzte und von den Autoren, dies sich dieses Topos’ bedienten, als historische Tatsache behandelt wurde.²⁴² Ab den 1970er Jahren wurde Nationalismus vermehrt als Faktor in deklinistischen Analyse angeführt: Maßgebliche Impulse erhielt diese neue und einflussreiche Variante des „Decline“-Diskurses durch die von Tom Nairn popularisierte Vorstellung, dass das Vereinigte Königreich vor dem Auseinanderbrechen stehe.²⁴³ Nairn verknüpfte in seiner Erklärung den Prozess der Dekolonisation mit einer Analyse der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung und des „kel-
Vgl. Tomlinson: Inventing ‚decline‘, S. 735. Anthony Sampson: Anatomy of Britain, London 1962. Für weitere Beispiele vgl. Barnett: The audit of war; Samuel H. Beer: Britain against itself. The political contradictions of collectivisms, London 1982; Edward Goldsmith: Can Britain survive?, London 1971; Patrick Hutber (Hrsg.): What’s wrong with Britain?, London 1978; Isaac Kramnick (Hrsg.): Is Britain dying? Perspectives on the current crisis, Ithaca 1979; Overbeek: Globalisation and Britain’s decline; Wiener: English culture. Für eine konzise Zusammenfassung der unterschiedlichen Argumente, die vor allem in den 1970er Jahren vorgebracht wurden, vgl. Andrew Gamble: Britain in decline. Economic policy, political strategy and the British state, 4. Aufl., London 1994, S. 26 ff. Zum hier verwendeten Konzept der „Ideologie“ vgl. Michael Freeden: Ideologies and political theory. A conceptual approach, Oxford 1998, S. 3. Erst in den 1990er Jahren wurde die Vorstellung, Großbritannien befinde sich im Niedergang, weniger als politische und historische Wirklichkeit denn als kulturelles Konstrukt, Narrativ oder Ideologie betrachtet. Jim Tomlinson hat in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet. Vgl. Tomlinson: Inventing ‚decline‘; Tomlinson: The politics of decline; Tomlinson: The decline of the Empire; Jim Tomlinson: Economic „decline“ in post-war Britain, in: Paul Addison (Hrsg.): A companion to contemporary Britain 1939 – 2000, Malden, Mass. 2007, S. 164– 179. Zum kulturellen Konstrukt von „Declinism“ vgl. auch Ebke: The party is over; English und Kenny: Conclusion; Levine: Decline and vitality, S. 398 – 400. Vgl. Nairn: The break-up of Britain.
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IV Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“
tischen“ Nationalismus. Obwohl die Einheit des britischen Nationalstaats nach dem Scheitern des Devolutionsprojektes und der Abwahl der Labour-Regierung 1979 in den frühen 1980er Jahren vorerst gesichert schien, fanden Nairns Ideen – jedoch aus ihrem engen marxistischen Kontext gelöst – unter dem prägnanten Titel des „break-up of Britain“ Eingang in den politischen Diskurs und entwickelten sich in den 1980er Jahren zum verbreiteten akademischen Narrativ. Zugleich wurde auch über die Zukunft der britischen Nation als solche diskutiert. Politisch zeigte sich das vor allem in Äußerungen konservativer Kommentatoren, die – dem Falklandkrieg zum Trotz – den kulturellen Kern der britischen Nation durch eine Reihe unterschiedlicher Faktoren bedroht sahen. Der Journalist Peregrine Worsthorne beklagte beispielsweise in einem 1986 im Sunday Telegraph publizierten Artikel, dass Großbritannien nicht wiederzukennen sei; außer mancher Relikte wie der Monarchie, den Universitäten Oxford und Cambridge, Freunden oder Kollegen und während der kurzen Zeit des Falklandkrieges hätten er und Großbritannien keine Gemeinsamkeiten mehr. Worsthornes Klage wurde von Boulevardzeitung The Sun in einem gekürzten Nachdruck weiterverbreitet; der Sunday Telegraph erhielt 178 unterstützende Leserbriefe, nur fünf Zuschriften äußerten Kritik.²⁴⁴
Britishness historiographisch: Historiker und die britische Nation in den 1980er Jahren Ab Mitte der 1980er Jahre diskutierten auch britische Historiker verstärkt über Nationalismus sowie die Zukunft und Vergangenheit der britischen Nation. Besonders sich als „links“ identifizierende Geschichtswissenschaftler sahen sich durch ihre eigene Reaktion auf den Falklandkrieg gezwungen, die Themen von Nationalismus und Patriotismus kritisch zu überdenken, während die intellektuelle Debatte um den „Break-up of Britain“ auch von Historikern rezipiert wurde und sowohl Themen als auch Methoden zur Erforschung nationaler Zugehörigkeit lieferte. Überrascht von der Stärke des Nationalismus und Patriotismus im Zuge des Falklandkriegs im Jahr 1982 organisierte das der Neuen Linken nahestehende History Workshop Movement unter Leitung von Raphael Samuel mehrere große Symposien, die sich mit dem Phänomen des Patriotismus befassten. In der Arbeit an den daraus hervorgehenden Sammelbänden stießen die Autoren auf die Fragen, die einen bedeutenden Teil der Forschung in den kommenden Jahren be-
Vgl. Jones: A nation at ease with itself?, S. 1– 2.
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schäftigen sollten.²⁴⁵ Samuel erinnerte sich im Vorwort zum ersten Band daran, dass er und seine Kollegen und Kolleginnen bei der Arbeit an den Büchern mit ihren eigenen Vorannahmen konfrontiert worden seien. Diese seien bei Weitem nicht so anti-national gewesen, wie sie als linke, bewusst antielitäre Historiker des History Workshop Movement angenommen hatten: „As the supposed bearers of the enlightenment standing far above the madding crowd, we were unwillig to acknowledge the force of irrational attachment in ourselves, or the depths of the national appeal.“²⁴⁶ Ebenso seien sie auf ihren unreflektierten Gebrauch der Nationsbezeichnungen „englisch“ und „britisch“ gestoßen: Samuel gab an, dass die Autoren mit dem Adjektiv „englisch“ eine positivere, folkloristische und mildere Assoziationen verbanden als mit „britisch“, das mit dem Nationalstaat, Politik und Verwaltung gleichgesetzt und eher als abstrakter Begriff verstanden wurde: „It is a political identity which derives its legitimacy from the expansion of the nation-state.“²⁴⁷ Gerade diese Ferne von Kultur erlaube jedoch ein pluralistischeres Verständnis von Nation, weswegen „britisch“ dann auch letztlich als die übergreifende Nationsbezeichnung für die Publikation gewählt wurde. Die Frage von nationaler Identität wurde damit zur zentralen Angelegenheit der Forscher – denn, wie Samuel in der Einleitung festhielt, „nationality no longer belongs to the realm of the taken-for granted.“²⁴⁸ Dies wurde umso mehr zum Thema, da ein Teil der Beiträge auf einen Vorstoß des konservativen Historikers und Beraters der konservativen Regierung einging; Hugh Thomas, der im Sommer 1983 einen patriotischeren Geschichtsunterricht gefordert hatte und dafür die Unterstützung sowohl von Bildungsminister und thatcheristischen Vordenker Keith Joseph sowie von der Premierministerin selbst erhalten hatte.²⁴⁹ So fragte Christopher Hill
Vgl. Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. I. History and politics, London 1989; Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. II. Minorities and outsiders, London 1989; Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. III. National fictions, London 1989. Raphael Samuel: Preface, in: Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. I. History and politics, London 1989, S. x–xvii, hier S. xi. Ebd., S. xii. Raphael Samuel: Introduction: exciting to be English, in: Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. I. History and politics London 1989, S. xviii–lxvii, hier S. xix. Vgl. Samuel: Continuous national history, in: Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. I. History and politics, London 1989, S. 9 – 17, hier S. 9. Zur Geschichte des Geschichtsunterrichts in England in den 1980er Jahren vgl. David Cannadine, Jenny Keating und Nicola Sheldon: The right kind of history. Teaching the past in twentieth-century England, Basingstoke 2011, S. 140 – 180.
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„what do we mean by patriotism? And indeed by British?“, eine Frage, die auch der Historiker Alan Hawkins stellte: „Firstly we should look at what is meant by a ‚nation‘ and, by implication, by the notion of national.“²⁵⁰ Nationale Identität wurde jedoch nicht nur zum Gegenstand, sondern auch zur analytischen Kategorie der Forscher. So verwendete der spätere Direktor des Think Tanks Charter 88, Anthony Barnett, in seinem Beitrag den Begriff der „Britishness“ wie selbstverständlich in seiner Kritik von Nationalismus, um britische nationale Identität zu beschreiben.²⁵¹ Die Themen der britischen Nation und des Nationalismus beschäftigten nicht nur Historiker, die mit dem sich abseits vom historiographischen Mainstream positionierenden History Workshop Movement assoziiert waren, sondern wurden zunehmend von der breiteren britischen Historikerschaft diskutiert. Das Aufgreifen des Konzepts der nationalen Identität war eng verbunden mit dem Aufkommen eines als „New British History“ bekannt gewordenen Ansatzes.²⁵² Die „New British History“ verdankt ihr Entstehen vor allem den Ideen von Historikern, die von der Peripherie auf die Geschichte der britischen Inseln blickten: So war das von Samuel angesprochene Verhältnis der unterschiedlichen Landesteile zueinander bereits 1975 von dem neuseeländischen Historiker J. G. A. Pocock in das Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt worden. Im Kontext der neuseeländischen Debatte um den britischen Beitritt zum europäischen Projekt forderte Pocock eine neue Art britischer Geschichtsschreibung, in der Schottland, Wales, England und Irland nicht mehr als separate Einheiten betrachtet werden sollten, sondern als „plural history of a group of cultures situated along an Anglo-Celtic frontier and marked by an increasing English political and cultural domination“.²⁵³ Der Historiker schlug einen veränderten Blick auf die britische Geschichte vor, die ausgehend von den geographischen Gegebenheiten die Verflechtungen der einzelnen Landesteile in das Zentrum stellen sollte. Um irischen Sensibilitäten entgegen zu kommen, empfahl Pocock die Einführung des Begriffes „Atlantic archipelago“: Dieser sollte nicht auf die Inseln Großbritannien und Irland be Christopher Hill: History and patriotism, in: Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. I. History and politics, London 1989, S. 3 – 17, hier S. 3; Alun Howkins: A defence of national history, in: Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. I. History and politics, London 1989, S. 18 – 25, hier S. 21. Vgl. Anthony Barnett: After nationalism, in: Raphael Samuel (Hrsg.): Patriotism. The making and unmaking of British national identity. Bd. I. History and politics, London 1989, S. 140 – 155, hier S. 145. Vgl. hierzu auch Howe: Internal Decolonization, S. 293 – 294. J. G. A. Pocock: British history. A plea for a new subject, in: JModH 47/1975, S. 601– 621, hier S. 605.
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schränkt bleiben, sondern auch deren imperiale Verflechtungen in den Blick nehmen.²⁵⁴ Sein Ansatz, der in seiner Konzeption als Vorform des „spatial turn“²⁵⁵ gelesen werden kann, war jedoch nicht vor zeitgenössischem Alarmismus gefeit: So schloss er ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs angesichts des Bürgerkriegs in Irland nicht aus.²⁵⁶ Pococks Forderung, die Geschichte der unterschiedlichen Völker im „atlantischen Archipelago“ in der Zusammenschau mit der britischen transatlantischen Welt für das 19. und 20. Jahrhundert dann auch mit den imperialen Verflechtungen zu analysieren, begründete eine einflussreiche Forschungsrichtung in der britischen Historiographie, die dazu ansetzte, den inhärenten methodischen Nationalismus zu überwinden.²⁵⁷ Lieferte Pocock das Programm, gebührt Hugh Kearney der Verdienst, eine solche Geschichte erfasst zu haben. In seiner 1989 zum ersten Mal erschienen Gesamtdarstellung „The British Isles: a history of four nations“ gab Kearney dann auch an, keine nationale Geschichte schreiben zu wollen, sondern die Geschichte unterschiedlicher Kulturen. Kearney setzte damit einen einflussreichen Trend, dem profilierte Historiker wie Norman Davies oder Jeremy Black folgen sollten.²⁵⁸ Diese Historiker reagierten damit auf das bis in die 1960er und 1970er zu findende Metanarrativ der „Whig Interpretation of History“.²⁵⁹ Diese einflussreiche historiographische Perspektive, erstmals im Jahr 1931 von Herbert Butterfield als solche benannt, verstand Geschichte als einen teleologischen Fortschritt zu immer größerer Freiheit und Aufklärung, die schließlich in den englischen Liberalismus und die konstitutionellen Monarchie gemündet sei; ihr verfassungsrechtliches Äquivalent fand sich im Westminster-Modell.²⁶⁰ England wurde auf diese Weise eine grundlegende Sonderstellung im Verhältnis zu den übrigen Landesteilen zugestanden. Diese auf England zentrierte Sichtweise war jedoch nicht nur bei Historikern in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein-
Vgl. ebd., S. 619. Zum „spatial turn“ vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 4. Aufl., Reinbek 2010, S. 284– 328; Matthias Middell und Katja Naumann: Global history and the spatial turn. From the impact of area studies to the study of critical junctures of globalization, in: Journal of Global History 5/2010, S. 149 – 170. Vgl. Pocock: British History, S. 602– 603. Einen ähnlichen Ansatz hatte bereits 1975 der Amerikaner Michael Hechter verfolgt, dessen Monographie „Internal Colonialism“ eine neue, wenn auch nicht unumstrittene Sichtweise auf das Phänomen des „keltischen“ Nationalismus vorgelegt hatte.Vgl. Hechter: Internal colonialism. Vgl. Jeremy Black: A history of the British Isles, New York 1996; Norman Davies: The Isles. A history, überarbeitete Aufl., London 2000. Vgl. hierzu auch Cannadine: Making history now and then, S. 172– 176. Herbert Butterfield: The Whig interpretation of history, London 1931. Zum Westminster-Modell vgl. Kapitel II.2.
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IV Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“
flussreich, sondern Überreste fanden sich noch im historischen Denken Margaret Thatchers oder bei bekannten Historikern wie A. J. P. Taylor.²⁶¹ Seinen 1965 erschienenen Band „English history 1914– 1945“, der Abschluss der „Oxford History of England“, traf dieser Vorwurf im Kern²⁶²; und auch seine Reaktion auf Pococks Artikel ließ wenig Raum für Interpretation: As long as the various peoples lumped together under the heading “English” accept this, let us use it. When they start to object we call them Irish or even Scotch. It really does not matter. Everyone knows what we mean whether we call our subject English history or British history. It is a fuss over names, not over things.²⁶³
Der historiographische Anglozentrismus war zu dieser Zeit jedoch bereits seit den ausgehenden 1960er Jahren durch die stärkere Beachtung von Schottland, Wales und Irland als Orte separater Geschichte in Frage gestellt worden. Während die Bildungsexpansion der 1960er Jahre die institutionellen Voraussetzungen schuf, lieferten politische Ereignisse wie der Ausbruch des Bürgerkriegs in Nordirland sowie die Wahlerfolge von SNP und Plaid Cymru in Schottland und Wales den Anlass, die bisher historiographisch wenig beachteten Landesteile stärker in das Zentrum zu rücken. T. W. Moody, J. C. Beckett und F. S. L. Lyons publizierten zu Irland, Rosalind Mitchison und Gordon Donaldson zu Schottland, und Glanmor Williams und Gwyn A. Williams veröffentlichen einflussreiche Studien zu Wales.²⁶⁴ Diese Autoren und Autorinnen verstanden dabei die jeweiligen Landesteile wie selbstverständlich als eigenständige Nationen.²⁶⁵ Die inhaltlichen Debatten waren eingebettet in ein Nachdenken über die Zukunft des Faches angesichts von Kürzungen im Bildungssektor und den Vorwürfen der Engstirnigkeit und Provinzialität. David Cannadine setzte 1987 auf den Seiten von Past and Present zu einer Debatte über die grundlegende Ausrichtung des Faches an, im Zuge derer er auch eine inhaltliche Erneuerung der britischen Geschichtswissenschaft forder-
Vgl. Bentley: British historical writing, S. 302; Cannadine: Making history now and then, S. 177. A. J. P. Taylor: English History, 1914– 1945, Oxford 1965. A. J. P. Taylor: British history. A plea for a new subject: comments, in: JModH 47/1975, S. 622– 623. Vgl. beispielsweise T. W. Moody: The course of Irish history, o. O. 1967; J. C. Beckett: The making of modern Ireland, 1603 – 1923, London 1966; F. S. L. Lyons: Ireland since the famine, London 1971; Rosalind Mitchison und George Mackie: A history of Scotland, London 1970; Gordon Donaldson: Scotland. The shaping of a nation, Newton Abbot 1974; Glanmor Williams: Religion, language and nationality in Wales. Historical essays, Cardiff 1979; Williams: The Welsh in their history; Gwyn A. Williams: When was Wales? A history of the Welsh, London 1985. Vgl. hierzu auch Cannadine: Making history now and then, S. 181– 182.
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te.²⁶⁶ Auch wenn Cannadines Untergangsstimmung verbreitende Analyse nicht von allen Historikern geteilt wurde, hatte er den Finger doch am Puls der Zeit. Nicht nur wurde der Anglozentrismus britischer Geschichtsschreibung zunehmend hinterfragt. Wie die Kapitel zu den zeitgenössischen Forschungen zu Klasse und Nation bereits gezeigt haben, waren die frühen 1980er Jahre auch methodisch eine Zeit des Neuanfangs. Sie markierten die Anfänge der kulturalistischen Wende in der britischen Geschichtswissenschaft, in deren Rahmen zunehmend poststrukturalistische Theorien, besonders Diskurstheorien französischer Provenienz, rezipiert wurden.²⁶⁷ Die Idee einer „New British History“ wurde durch die Publikation von Linda Colleys „Britons“ und Keith Robbins Ford Lectures zu „Nineteenth century Britain: integration and diversity“ im Jahr 1988 weiter angeheizt.²⁶⁸ Wie Pocock kritisierten Colley und Robbins, dass in der bisherigen Forschung England häufig mit Großbritannien gleichgesetzt worden sei, wodurch schottische, walisische oder irische Aspekte der Geschichte verloren gegangen seien. Robbins mahnte in der Einleitung seiner Ford Lectures: British writers, with rare exceptions, have not been seriously interested in interpreting Britain. It may well be that the emphasis at Oxford and Cambridge upon English history, narrowly conceived, has stood in the way of a comprehensive grappling with the dimensions of ‚Britishness‘. English history is central to the history of Britain, but is not synonymous with it.²⁶⁹
Sowohl Colley als auch Robbins verstanden nationale Identität als ein Produkt menschlicher Aktivität. Keith Robbins stellte das sogenannte „blending“ von
Vgl. David Cannadine: British history: past, present – and future?, in: P&P 116/1987, S. 169 – 191; P. R. Coss, William Lamont und Neil Evans: British history. Past, present – and future?, in: P&P 117/1988, S. 171– 203. Allerdings trat in der britischen Geschichtswissenschaft die kulturalistische Wende später als in den britischen Kulturwissenschaften und der Soziologie ein. Die britische Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit war bis zu diesem Zeitpunkt durch den Einfluss der amerikanischen Sozialwissenschaften, den Konflikt zwischen narrativer und betont analytischer historischer Methode sowie den zahlenmäßig begrenzten, doch einflussreichen marxistischen Flügel der Historikerschaft bestimmt. Nun wirkte sich die Blütezeit der amerikanischen Sozialwissenschaften in den 1950er und 1960er Jahren auch auf die anglo-amerikanischen und, etwas verzögert, deutschen Geschichtswissenschaften aus. Diese Blütezeit fiel mit einer Ausweitung der Universitäten in vielen europäischen Ländern zusammen, in denen die Zahl der Geschichtsfakultäten, aber auch der sozialwissenschaftlichen Einrichtungen deutlich erweitert wurde. Vgl. Dworkin: Class struggles, S. 64. Colley: Britons; Robbins: Nineteenth-century Britain. Robbins: Nineteenth-century Britain, S. 1.
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Kulturen in den Vordergrund. In seinem bereits 1988 publizierten Werk verstand er britische nationale Identität als das Resultat einer Mischung von weiterbestehenden lokalen und ethnischen Identitäten, der Ausbildung übergreifender Institutionen, der historischen Entwicklung der Idee von „Britain“ und der Beziehungen Großbritanniens mit der weiteren Welt.²⁷⁰ Diese „Amalgamierung“ der Kulturen habe sich im 19. Jahrhundert durch die technische und infrastrukturelle Durchdringung des Landes beschleunigt. Colley hingegen verstand Britishness als eine übergreifende Identität, die über eine Reihe älterer „attachments und loyalties“ gelegt wurde. Diese konnten regional, religiös oder untergeordnete nationale Identitäten sein. Dieser Prozess der Identitätskonstruktion – im englischen Original doppeldeutig als „forging“ charakterisiert – lief Colley zufolge zwischen dem Act of Union zwischen England und Schottland im Jahr 1707 und der Thronbesteigung Königin Victorias im Jahr 1837 ab. Grundlegend sei dabei vor allem in Abgrenzung gegen ein als fremd charakterisiertes „other“ gewesen, im Falle von Großbritannien vor allem gegen das katholische Frankreich. Ein einigendes Moment hätten die Kriege gegen das Nachbarland dargestellt, während die gemeinsame Erfahrung des Protestantismus den positiven Hintergrund gebildet habe, der die in Großbritannien lebenden Menschen zu „Briten“ zusammengeschweißt habe.²⁷¹ Beide Autoren deuteten die Geschichte der britischen nationalen Identität als Verlustgeschichte: Anstelle der Wirtschaftsleistung oder der politisch-militärischen Macht war nun „Britishness“ das Gut, das bedroht schien. Diese deklinistische Perspektive zeigte sich vor allem in der Art, wie die Autoren ihre Studien begründeten und welche Zukunftsaussichten sie der britischen Nation einräumten. So bezog sich Linda Colley explizit auf den schottischen, walisischen und irischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den sie als direkte Folge eines britischen „Identitätsverlustes“ interpretierte.²⁷² Denn durch den schwindenden Protestantismus der britischen Bevölkerung, die ausgedehnte Friedenszeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs und wegen der Dekolonisation seien die Säulen, die Britishness ausgemacht hätten, nach und nach weggefallen und damit auch das „other“, von dem sich die Bevölkerung abgegrenzt habe²⁷³: now that so many of the components of Britishness have faded, there have been predictable calls for a revival of other, older loyalties – a return to Englishness, or Scottishness, or Welshness. The Scots, in particular, […] are now increasingly inclined to see partial or com-
Vgl. ebd., Kapitel 1. Vgl. Colley: Britons, S. 369. Vgl. Colley: Britishness and Otherness, S. 328. Vgl. ebd; Colley: Britons, S. 364– 375.
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plete independence plus membership of a federal Europe as the most profitable strategy for the future.²⁷⁴
Colley fasste daher in der Einleitung zusammen: „the manner in which Great Britain was made out of that remarkable succession of wars with France in the past is a root cause of its uncertain identity in the present, and may well be the means of its unmaking in the future.“²⁷⁵ Auch Robbins verweist in seiner Einleitung auf die zeitgenössische Frage nach Britishness. So hätten das Ende des Empire und die Herausbildung regionaler Nationalismen britische Identität zum Thema werden lassen. Er verwehrt sich jedoch gegen allzu simple Kausalitätsketten: It is, in my view, too simple to explain the ‚crisis of the British state‘, which some detected in the 1960s and 1970s, as a direct consequence of the post-1945 loss of empire. Nevertheless, after centuries in which conquest or settlement overseas had been a common British activity, it became pertinent to ask again what Britishness was supposed to mean. Whether or not ‚devolution‘ reappears on the political agenda, now both integrity and diversity are to be maintained is a fundamental aspect of contemporary life in Britain.²⁷⁶
Während sich Keith Robbins mit direkten politischen Äußerungen zurückhielt, verwies er 1988 auf die „issues of multi-ethnicities and multilingualism“, die Ende des 20. Jahrhunderts wieder aufgetreten seien. Obgleich die Balance zwischen Integration und Diversität von jeder Generation neu ausgehandelt werden müsse, stelle dies am Ende des 20. Jahrhunderts eine besondere Herausforderung dar: „‚the matter of Britain‘, both domestically and internationally, has become far more problematic as the twenty-first century approaches“.²⁷⁷ Colley bezog sich damit auf aktuelle Debatten innerhalb der sich entwickelnden Kulturwissenschaften und popularisierte diese wiederum in der britischen Geschichtswissenschaft: Peter Mandler führt die von ihr verwendete historische Methode des „othering“ auf die Studie zu „social organisation of cultural difference“ des norwegischen Sozialanthropologen Fredrik Barth zurück, die durch die Arbeit postmoderner und postkolonialer Theoretiker und deren Schwerpunkt auf Konstruktion von Bedeutung durch „difference“ weitergeschrieben wurde.²⁷⁸ Colley hingegen bezog sich in der Darstellung des Empire als other explizit auf Said und belegte, ähnlich wie Said, die Konstruktion von Dif
Colley: Britons, S. 374– 375. Ebd., S. 7. Robbins: Nineteenth-century Britain, S. 3. Ebd., S. 185 – 186. Vgl. Mandler: What is „national identity“, S. 273.
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ferenz durch die Analyse einer breit gestreuten kulturhistorischen Quellenbasis, die unter anderem Egodokumente und literarische Werke berücksichtigte.²⁷⁹ Ebenso deutlich war der Einfluss von Benedict Anderson, aber auch Eric Hobsbawm bei dem Ansatz, nationale Identität als Konstruktion zu begreifen.²⁸⁰ Die Publikationen von Colley und Robbins schrieben damit nicht nur den neuen, stärker kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Erforschung der Geschichte der britischen Nation weiter fort, sondern erhoben mit der britischen Identität gerade das, was zeitgenössisch als besonders gefährdet erachtet wurde, zum Gegenstand und Ausgangspunkt ihrer Forschung. Indem in diesen Debatten vor allem „Britishness“ in Bezug auf das Vereinigte Königreich in den Blick genommen wurde, zeigte sich der insulare Charakter der wissenschaftlichen, aber auch der danach folgenden politischen Nutzbarmachung des Begriffes. Ähnliche Debatten über nationale Identität, die in Kanada und Australien im Kontext des Dekolonisationsprozesses und des britischen Beitritts zu den Europäischen Gemeinschaften seit den 1960er Jahren unter dem Stichwort von „Britishness“ geführt wurden, wurden nicht reflektiert.²⁸¹ Dementsprechend war es auch zunächst weniger der im Kontext dieser Debatten von Pocock geforderte „Four-Nations“-Ansatz, den Colley explizit als potentiell „incomplete and anachronistic“ ablehnte, sondern der Unteraspekt der britischen nationalen Identität, der zum dem Prisma wurde, mit dem Nationalgeschichte zunehmend geschrieben wurde.²⁸² Damit wurde der Weg für die Untersuchung der britischen, aber auch von schottischen, walisischen, englischen und irischen Identitäten bereitet, die sich vor allem in den 1990er und 2000er Jahren zu einem bedeutenden Forschungszweig entwickeln sollte.
4 Zusammenfassung und Ausblick Mit dem Begriff der „Klasse“ wurde seit den 1960er Jahren eine wissenschaftliche Grundvokabel vermehrt diskutiert und hinterfragt, die die im Vereinigten Königreich zentrale Ordnungskategorie der „nationalen Klassengesellschaft“ ausgemacht hatte. Die Verschiebungen im sozialen Imaginären, also in dem, was zeitgenössisch als die „normale“ Ordnung der Dinge verstanden wurde, zeigten
Vgl. Colley: Britishness and Otherness, S. 324– 325. Colley verweist beispielsweise explizit auf Anderson in ihrer Einleitung, vgl. Colley: Britons, S. 5. Zu den Debatten über Britishness in Kanada und Australien in den 1960er Jahren vgl. Hopkins: Rethinking decolonization, S. 215; Curran und Ward: The unknown nation, S. 16 – 25. Vgl. Colley: Britishness and Otherness, S. 314.
4 Zusammenfassung und Ausblick
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sich damit nicht nur in den öffentlichen und politischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre. Sie führten auch dazu, dass bisher als evident erachtete wissenschaftliche Grundvokabeln der Gesellschaftsbeschreibung und -analyse nicht mehr der beobachteten Realität zu entsprechen schienen und daher in Frage gestellt wurden. Dies war Ausdruck sich wandelnder Ordnungsvorstellungen, die auch auf wissenschaftlicher Ebene eine Neujustierung notwendig machten. Das Konzept der sozialen Klasse, das bis in die 1970er Jahre hinein eine grundlegende Kategorie der soziologischen Analyse gebildet hatte, wurde angesichts der veränderten politischen Situation und längerfristigen demographischen Entwicklung in Großbritannien nun zum Thema soziologischer, aber auch historischer Forschung. Doch nicht nur innerhalb dieser beiden Disziplinen geriet das Konzept in die Kritik: Das im Debattenkontext der Neuen Linken verortete Feld der Kulturwissenschaften hinterfragte hergebrachte soziologische Klassenmodelle und entwickelte alternative Konzepte zu Analyse sozialer Ungleichheit, hier besonders die Kategorie „race“. Das kulturwissenschaftliche Zentrum in Birmingham nahm in der Rezeption der poststrukturalistischen und postmodernen Debatten eine wichtige Scharnierfunktion ein. Zum einen lieferten die Arbeiten französischer, amerikanischer, deutscher, aber auch italienischer Wissenschaftler das Vokabular und die Konzepte, die es den Wissenschaftlern und Studenten in Birmingham ermöglichten, die von ihnen identifizierten Probleme analytisch zu greifen. Das soll aber nicht implizieren, dass es sich dabei um reine Adaption gehandelt habe. Im Gegenteil, gerade die kritische Auseinandersetzung der in der Regel politisch engagierten Intellektuellen mit diesen internationalen Theoretikern führte zum anderen zu einer schrittweisen Ausbildung des kulturwissenschaftlichen Methodenarsenals, das in den 1980er Jahren zunehmend Schule machen sollte. Auch wenn die Wissenschaftler aus Birmingham sicherlich nicht die einzigen waren, die diese Debatten rezipierten – allein schon Perry Anderson und Tom Nairn von der New Left Review seien hier genannt²⁸³ – ihre Stellung als politisch engagierte und produktive Wissenschaftler führte dazu, dass ihre Forschungsperspektive die soziologische und historische Klassenanalyse, Nationalismus- und Identitätsforschung ab den 1980er Jahren nachhaltig beeinflusste. Die innerhalb der marxistischen Neuen Linken geführten Debatten über den Stellenwert von Klassen und Klassengesellschaft gegenüber Nationalismus im marxistischen Theoriekontext führten nicht nur zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nationalbewegungen in „multinationalen“ Staaten, hier
Zur Rezeption des Poststrukturalismus in der Soziologie vgl. Antony Easthope: British poststructuralism since 1968, London 1988, S. 81– 95.
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IV Die Neuverhandlung der Begriffe: class, race und „nationale Identität“
vor allem in Schottland und Wales. Die Themen und Schlagwörter der Debatte – „break-up of Britain“, „invented traditions“ und „imagined communities“ – prägten auch das Feld der angloamerikanischen Nationalismusforschung. Zugleich leisteten sie durch eine Verschiebung der Perspektive auf die Motivationen individueller Akteure der Einführung der Kategorie der „nationalen Identität“ in den britischen Geschichts- und Sozialwissenschaften Vorschub, hier besonders bei denjenigen Historikern, die an kulturgeschichtlichen Fragen interessiert waren. Diese seit Mitte der 1970er Jahre geführte Auseinandersetzung um die Bewertung von Nationalismus fiel vor allem bei denjenigen (linken) Historikern auf fruchtbaren Boden, die durch die politische und öffentliche Debatte im Zuge des Falklandkonfliktes im Frühjahr 1982 ihre Haltung zum Stellenwert von britischem Nationalismus im öffentlichen Leben und die eigenen Grundüberzeugungen überdenken mussten. In einem Kontext, in dem der nationale Niedergang Großbritanniens nicht nur wirtschaftlich und machtpolitisch, sondern auch in Bezug auf vergangene nationale Größe und das drohende Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs formuliert wurde, rückte die nationale Verfasstheit der britischen Nation in den Blick interessierter Historiker. In diesem Kontext sollte nationale Identität nicht nur zu einer wissenschaftlichen Kernvokabel der 1990er Jahre werden, sondern auch den Rahmen für die wissenschaftliche und öffentliche Debatte über nationale Identität der 1990er und 2000er Jahre bilden.²⁸⁴
Zum Identitätskonzept in Stuart Halls und Martin Jacques „New Times“-Projekt der frühen 1990er Jahren vgl. Dworkin: Class struggles, S. 73 – 74.
V Britishness und New Labour, ca. 1997 – 2007/2008 As long as the various peoples lumped together under the heading „English“ accept this, lets use it. When they start to object we call them Irish or even Scotch. It really does not matter. Everyone knows what we mean whether we call our subject English history or British history. It is a fuss over names, not over things. ¹ (A. J. P. Taylor)
Das Nachdenken darüber, was die britische Nation ausmache und wie ihre Zukunft aussehe, war in den 1990er und 2000er Jahren weit verbreitet. Neben der historiographischen Debatte, die seit Ende der 1980er Jahre unter dem Label „Britishness“ explizit über Ursprung und Gestalt britischer nationaler Identität geführt wurde, fanden sich seit Mitte der 1990er Jahre entsprechende Referenzen in Politik wie Populärkultur. Die Musik des Britpop war gespickt mit unverhohlen nationalen Anspielungen, seien es Alben wie Blurs Parklife oder die vermehrte Verwendung des Union Jack als Muster für Kleidungsstücke, Gitarren oder einfach als Bühnenhintergrund.² Obgleich auf der Ebene der Parteipolitik traditionell die Konservativen Patriotismus für sich beanspruchten³, kleidete sich jetzt gerade das Reformprojekt der Labour Party in dezidiert nationale Gewänder. Der darin kommunizierte Wille zum politischen Aufbruch wurde schon bald mit dem Slogan „Cool Britannia“ assoziiert.⁴ In den 2000er Jahren intensivierte und verdichtete sich dieser Diskurs vor dem Hintergrund von Debatten über Multikulturalität und des „war on terror“ in politischen Initiativen, beispielsweise Gordon Browns Vorschlag, zur Förderung des nationalen Zusammenhalts einen Britishness Day einzurichten. Dieses oder ähnliche Projekte zur dezidierten Gestaltung von Britishness fielen jedoch der Finanzkrise 2007/2008 zum Opfer. Eine breitere historiographische Einordnung der Debatte steht bisher aus.⁵ Bisher haben vor allem die politischen Rahmenbedingungen der 1990er Aufmerksamkeit erfahren; hier besonders die Bedeutung politischer Kommunikation
Taylor: British History, S. 622. Vgl. Bill Osgersby:Youth culture, in: Paul Addison (Hrsg.): A companion to contemporary Britain 1939 – 2000, Malden, Mass. 2007, S. 127– 144, hier S. 141. Vgl. Ward: Britishness since 1870, S. 93 – 96. Der Ursprung des Begriffes ist jedoch prosaischer, bezog er sich doch auf eine Sorte des Eiscremeproduzenten Ben & Jerry’s, die durch einen Wettbewerb im Jahr 1996 ermittelt wurde. Zur zeitgenössischen Verwendung des Begriffes vgl. Osgersby: Youth culture, S. 127, 141. Siehe Einleitung. https://doi.org/10.1515/9783110627671-006
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V Britishness und New Labour, ca. 1997 – 2007/2008
der ersten Regierung Tony Blairs⁶, oder auch das in den 1990ern angegangene konstitutionelle Reformprojekt⁷, oder die oft in Sammelbänden zusammengefasste programmatische und personelle Transition von Labour zu „New Labour“ seit den späten 1980er Jahren.⁸ Die gezielte Verwendung von und Bemühungen um britische nationale Identität sowohl von Tony Blair als auch Gordon Brown wurden aus politologischer Sicht vor allem als Teil einer Wahlkampf- oder innerparteilichen Machtstrategie gedeutet, so beispielsweise von Gerry Hassan oder Simon Lee.⁹ Die Breite der Britishness-Debatte wurde bisher nur von der Politologin Pauline Schnapper analysiert, die sich allerdings auf die Funktion von Britishness als rhetorisches Mittel der Parteien in dieser Zeit beschränkt.¹⁰ Schnapper verwendet jedoch weiterhin das Paradigma der „nationalen Identität“ und damit auch von „Britishness“ als Analysekategorie. Um die Debatte nicht nur politisch, sondern auch wissenshistorisch einordnen zu können, muss der Begriff der Britishness jedoch selbst als Quellenbegriff betrachtet werden. Dieser hat nicht nur eine eigene
Vgl. beispielsweise Polly Toynbee und David Walker: New Labour, in: Raymond Plant, Matt Beech und Kevin Hickson (Hrsg.): The struggle for Labour’s soul: understanding Labour’s political thought since 1945, London 2004, S. 268 – 270; Norman Fairclough: New labour, new language?, London 2000; Emilie L’Hô te: Identity, narrative and metaphor. A corpus-based cognitive analysis of new labour discourse, Basingstoke 2014. Vgl. beispielsweise Bevir: Westminster model, governance and judicial reform; Mark Evans: Constitution-making and the Labour Party, Basingstoke/New York 2003; Andrew Gamble: The constitutional revolution in the United Kingdom, in: Publius 31/2006, S. 19 – 35; Robert Hazell (Hrsg.): Constitutional futures revisited. Britain’s Constitution to 2020, Basingstoke 2008; Charlie Jeffery: Devolution and Local Government, in: Publius 31/2006, S. 57– 73; Charlie Jeffery: Devolution in the United Kingdom. Problems of a piecemeal approach to constitutional change, in: Publius 39/ 2009, S. 289 – 313; Charlie Jeffery und Daniel Wincott: Devolution in the United Kingdom. Statehood and citizenship in transition, in: Publius 36/2006, S. 3 – 18; Andrew McDonald (Hrsg.): Reinventing Britain. Constitutional change under New Labour, Berkeley/Los Angeles 2007; James Mitchell: Territorial politics and change in Britain, in: Peter Catterall, Wolfram Kaiser und Ulrike WaltonJordan (Hrsg.): Reforming the constitution: debates in Twentieth-century Britain, London/New York 2000, S. 225 – 254; Michael O’Neill (Hrsg.): Devolution and British politics, Harlow 2004. Vgl. beispielsweise Brian Brivati und Tim Bale (Hrsg.): New Labour in power. Precedents and prospects, London 1997; David Coates: Prolonged labour. The slow birth of New Labour Britain, Basingstoke 2005; Steven Fielding: The Labour Party. Continuity and change in the making of ‚New‘ Labour, Basingstoke 2003; Anthony F. Heath, Roger Jowell und John Curtice: The rise of New Labour. Party policies and voter choices, Oxford 2001; Richard Heffernan: New Labour and Thatcherism. Political change in Britain, Basingstoke 2001; Steve Ludlam und Martin J. Smith (Hrsg.): Governing as New Labour. Policy and politics under Blair, Houndmills, Basingstoke 2004. Hassan: Don’t mess with the missionary man, S. 97; Simon Lee: Best for Britain? The politics and legacy of Gordon Brown, Oxford 2007; Pitcher: The politics of multiculturalism, S. 46. Vgl. Schnapper: British political parties.
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Geschichte, sondern fungierte auch als Oberbegriff, unter dem unterschiedlichste Konzeptionen nationaler Zugehörigkeit gebündelt werden konnten: War er bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts vereinzelt in Zeitungsartikeln nachweisbar, wurde er bis in die späten 1980er Jahre vor allem im Kontext von territorialen Streitigkeiten wie zur Bezeichnung einer nicht näher definierten kulturellen Zugehörigkeit verwendet, bevor er in den 1990er Jahren Einzug in einen breiteren politischen Diskurs hielt.¹¹ Zunächst vor allem im wissenschaftlichen Kontext als Synonym für den Begriff von „britischer nationaler Identität“ gebraucht, rückte besonders in der politischen Verwendung der 2000er Jahre mit der Frage nach spezifisch britischen Werten der „Inhalt“ nationaler Identität und die Möglichkeit ihrer aktiven Förderung in den Mittelpunkt und entwickelte sich zu einer ausgewachsenen und politisch gesteuerten Debatte. „Britishness“ wurde damit zu einem Begriff, durch den unterschiedliche Konzeptionen von Zugehörigkeit zur britischen Nation verständigt werden konnten. Hinter dieser Auseinandersetzung mit dem Nationalen und nationaler Zugehörigkeit stand jedoch die gesamte Breite der Neuaushandlung von sozialer Ordnung: Die britische Nation wurde in ihr als ein Teil des sozialen Imaginären in enger, jedoch teils indirekter Auseinandersetzung mit alternativen Ordnungskategorien wie Gesellschaft oder Empire für den öffentlich-politischen, aber auch den kulturellen Bereich neu vermessen. Im Kontext des Themas britischer nationaler Identität wurden daher bereits länger diskutierte Fragen sozialer Zugehörigkeit ausgehandelt. Die verschiedenen, teils lokalisierten Debatten, die seit den 1960er Jahren unterschiedliche Aspekte des sozialen Imaginären in Frage gestellt hatten, liefen in der Britishness-Debatte der Historiker und in New Labour, dem Reformprojekt der Labour Party, zusammen: Politische Projekte wie das der Devolution oder des Multikulturalismus, die zeitgenössisch angestoßen worden waren, um letztlich Institutionen und Ordnungen an eine veränderte Realität anzupassen, wurden im Reformprogramm von New Labour aufgegriffen. Unter dem Schlagwort „Britishness“ bündelten sich die Fragen, die anhand unterschiedlicher Aspekte seit den 1960er Jahren gestellt wurden: Wie können unterschiedliche Ethnien in einer Nationalgesellschaft leben? Auf welche Weise können unterschiedliche Nationen auf die beste Weise in einem bis dahin weitgehend zentral organisierten Nationalstaat leben? Wie sieht die „britische“ Gesellschaft aus?
In den 1960er Jahren wurde der Begriff bevorzugt im Zusammenhang mit den ehemaligen Dominions verwendet, beispielsweise Kanada – auch hier in der Regel als ein Gut, das angesichts kanadischer Unabhängigkeitstendenzen bedroht sei. Vgl. beispielsweise Hilaire Bridgestocke: Monarchy as a divisive force in the old dominions, The Times, 5.4.1967, S. 13; Serrell Hillmann: Toronto seeks an identity, The Times, 26. 2.1968, S. VII. Zur Verwendungsgeschichte vgl. Pitcher: The politics of multiculturalism.
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Sei es nun um Bezug auf die Verfassungsreform oder im Umgang mit einer multikulturellen Gesellschaft darauf, Britishness wurde zur Vokabel, um die unterschiedlichen und teils im Konflikt stehenden Konzeptionen von sozialer Zugehörigkeit denken zu können. Sie rückte die Nation an sich in das Blickfeld der Auseinandersetzung. Es ist daher symptomatisch, dass in der öffentlichen Debatte durchaus Uneinigkeit darüber bestand, wofür Großbritannien denn stehen solle. Eine von der Tageszeitung Guardian im Jahr 1999 durchgeführte Umfrage unter bekannten Kommentatoren, Akademikern und Politikern verdeutlichte die Bandbreite an Möglichkeiten: Die Antworten reichten von ländlicher Idylle über Innovationen, die berühmte „stiff upper lip“, kulturelle Grundgüter wie Marks & Spencer oder Marmite, dem Cenotaph in Glasgow bis hin zu parlamentarischen Institutionen.¹² Genau diese Unsicherheit darüber, was „britisch“ ausmache, trifft den Kern des Problems. Die Prägekraft von sozialen Großkonzepten wie dem der Nation beruht darauf, dass sie von einer möglichst großen Anzahl an Personen als evident erachtet werden und damit nicht thematisiert werden müssen, oder vielmehr: thematisiert werden können, da die Konzepte ja gerade dadurch, dass sie den dominanten Denkrahmen stellen, unhintergehbar sind.¹³ Dass dies im Fall der britischen Nationsvorstellung in den 1990er und 2000er Jahren offensichtlich nicht der Fall war, lässt die Britishness-Debatte daher als einen Prozess der Aushandlung sozialer Zugehörigkeit anhand des Nationalen sichtbar werden. Die bewussten Referenzen der einzelnen Politiker auf die britische Nation und die mit ihr verbundenen Werte, die Suche der Historiker nach den Ursprüngen nationaler Identität, die Verwendung als genuin „britisch“ erachteter Artefakte in Medien und Öffentlichkeit werden daher als Versuche verstanden, die Nation in einer Art von „Mikroakten“ zu definieren. Die Maßnahmen der New Labour-Regierung und die unvorhergesehenen politischen Entwicklungen der frühen 2000er Jahren führten allerdings dazu, dass sich die politisch bewusste Verwendung von Britishness in der politischen Rhetorik zu einer ausgewiesenen nationalen Selbstvergewisserungsdebatte entwickelte. In Worte gefasst wurde diese Neudefinition des Britisch-Nationalen durch das Konzept der „nationalen Identität“, das ja gerade durch den wissenschaftlichen Umgang mit der veränderten sozialen Realität den Weg in die britische Geschichts- und Sozialwissenschaft gefunden hatte.¹⁴ Die Debatte war daher nicht ohne das sozialwissenschaftliche Vokabular artikulierbar, das in der Auseinan Vgl. Who do we think we are?, Guardian, 20.1.1999, S. 2. Bezogen auf politische Ideologien hat der britische Politologe Michael Freeden für diesen Prozess den Begriff der „decontestation“ geprägt, vgl. Freeden: Ideologies and political theory, S. 5 – 6. Siehe Kapitel IV.3.
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dersetzung mit den sozialen Veränderungen seit den 1960er Jahren entwickelt worden war. Gleichzeitig dienten die Historiker, die sich mit der Erforschung von britischer nationaler Identität beschäftigen, als wichtige Referenzgrößen und nahmen aktiv an der Debatte teil. Anhand der unterschiedlichen Stränge und politischer Ereignisse, anhand derer über die Zukunft der britischen Nation diskutiert wird, kann daher untersucht werden, wie soziale Zugehörigkeit innerhalb der Topoi von Nation, Staat und Gesellschaft imaginiert wurde. Der Zusammenhang von wissenschaftlicher Deutung, politischem Reformwillen und dem Nachdenken über Britishness steht daher im Fokus dieses Kapitels.
1 Britishness politisch: New Labour und die Reform von Staat und Gesellschaft Mitte der 1990er Jahre war Großbritannien als Marke en vogue. Symbolisiert durch die Flagge des Vereinigten Königreichs, umgangssprachlich als Union Jack bekannt, fanden sich nationale Referenzen in der Populärkultur, sei es nun als Muster des Bodysuits des Spice Girl Geri Halliwell oder als Bühnenaccessoire von Musikern der Band Oasis oder des Sängers Morrissey, bei Letzerem allerdings problematischerweise nahezu anbiedernd vor einer Gruppe Skinheads.¹⁵ Die Allgegenwärtigkeit der britischen Flagge in der britischen Musikindustrie in den 1990er Jahren veranlasste den Journalisten Pat Kane zu der Bemerkung: „the pop art is as nationalist as the pop commerce.“¹⁶ Seit Mitte der 1990er Jahre hatte sich die britische Wirtschaftslage verbessert und die in der Popkultur und Wirtschaft verkörperte Aufbruchsstimmung spiegelte sich im Bereich der Politik: Nach 18 Jahren Opposition begann die Labour-Regierung ihre Amtszeit im Jahr 1997 mit einem ambitionierten Reformprogramm. Ausgehend von der politischen Marginalisierung der Labour Party seit den frühen 1980er Jahren hatten Neil Kinnock und John Smith seit den 1980er Jahren, dann aber vor allem Tony Blair, Gordon Brown und eine Reihe verbündeter Parteifunktionäre seit Mitte der 1990er Jahre versucht, zunächst die Labour Party, dann das Vereinigte Königreich zu reformieren. Das Reformprojekt wurde seit 1994 unter dem Rubrum „New Labour“ gebündelt, einem Marketingslogan, der zwischen 1997 und 2010 für die inhaltliche Neuausrichtung der Labour Party im Positiven wie Negativen stehen sollte.¹⁷ Vgl. Alwyn W. Turner: A classless society. Britain in the 1990s, London 2013, S. 305. Pat Kane: Pop goes the future in a blur of sound, Guardian, 17.8.1995, S. 15. Vgl. auch Matt Beech: New Labour, in: Raymond Plant, Matt Beech und Kevin Hickson (Hrsg.): The struggle for Labour’s soul: Understanding Labour’s political thought since 1945, London 2004, S. 86 – 102, hier S. 86.
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Ausgangspunkt war die Vorstellung eines „Dritten Weges“ zwischen der klassischen, in Großbritannien weiterhin zumindest programmatisch sozialistischen Prinzipien verpflichteten Linken und Vorstellungen neoliberaler Marktwirtschaft, die besonders der Conservative Party Margaret Thatchers angelastet wurde; Vordenker war der Labour nahestehende Soziologe Anthony Giddens.¹⁸ Die ideologischen Verwerfungen, die die Parteiengeschichte der 1980er geprägt hatten, verringerten sich mit diesem grundsatzpolitischen Spagat in der Grundausrichtung der Labour Party. Besonders die Abschaffung von Clause IV der Labour Party Constitution, die die jeweilige Parteiführung zu einer Nationalisierungspolitik verpflichtet hatte, war für die politische Ausrichtung der Partei revolutionär.¹⁹ Die traditionelle Arbeiterklasse rückte so aus dem Fokus der Labour Party: Blair, der sich gerade in der Anfangszeit gerne mit Musikern wie Noel Gallagher von der Band Oasis umgab²⁰, zielte anstelle dessen darauf, die Mitglieder der (unteren) Mittelklasse für sich gewinnen zu können, die ansonsten traditionell konservativ wählten – eine soziopolitische Gruppe, die seit Margaret Thatcher unter dem Begriff „Middle England“ Einzug in das politische Vokabular gefunden hatte und unter Tony Blair zu „Middle Britain“ umgedeutet wurde.²¹ Labours umfassendes politisches Reformprojekt kann damit als Versuch gesehen werden, die seit Ende der 1970er Jahre geführte Debatte um die Zukunft der Partei angesichts des demographischen und industriellen Wandels aufzugreifen.²² Dies schlug sich auch in der politischen Sprache wieder. Im Gegensatz zu den 1980er Jahren, in denen
Die Philosophie des sogenannten „Dritten Wegs“ kommt in diesem Kontext ursprünglich aus dem politischen Denken der durch Bill Clinton geprägten Demokraten, kann aber auch in anderen westlichen Ländern gefunden werden. Daher existieren eine Reihe unterschiedlicher Auffassungen darüber, welche politischen Projekte damit bezeichnet werden können und aus welchen (partei‐)philosophischen Strömungen sich die hinter dem Schlagwort verbergenden Reformprojekte genau speisen. Vgl. Armando Barrientos und Martin Powell: The route map of the Third Way, in: Sarah Hale, Will Leggett und Luke Martell (Hrsg.): The Third Way. Criticisms, futures, alternatives, Manchester 2004, S. 9 – 26, hier S. 9 – 10. Vgl. Tudor Jones: Remaking the Labour Party. From Gaitskell to Blair, London 1996, S. 103– 110. Alastair Campbell, Kommunikationsdirekter der Regierung Blair, verzeichnete in seinem Tagebuch einen Besuch Noel Gallaghers in 10 Downing Street im Juli 1997, der nach einem Treffen Campbells mit Alan McGhee und Tony Saunders von Gallaghers Plattenfirma Creation Records stattgefunden hatte. Siehe Alastair Campbell: The Blair years. Extracts from the Alastair Campbell diaries, London 2007, S. 137, 224– 225. Zum Ursprung des Begriffs „Middle England“ siehe David Cannadine: Class in Britain, London 2000, S. 183. Zur Umdeutung und Verwendung unter New Labour siehe Andrew August: The British working class, 1832– 1940, Harlow 2007, S. 249; Heath, Jowell und Curtice: Rise of New Labour, S. 122; Lawrence James: The middle class. A history, London 2006, S. 468 – 470. Vgl. Arthur Aughey: Nationalism, devolution and the challenge to the United Kingdom state, London 2001, S. 98 – 99.
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„change“ mehrheitlich innerhalb der Labour Party im Kontext von industriellem Wandel verstanden wurde, dem die Arbeiter ausgesetzt waren, wurde der Begriff „Wandel“ seit den ausgehenden 1980er Jahren als gestaltbar wahrgenommen und ab Mitte der 1990er Jahre mit dem Begriff der „Globalisierung“ belegt. „Change“ traf die Menschen in der Rhetorik Labours nicht mehr passiv, sondern Globalisierung konnte aktiv gestaltet werden.²³ Ein Versuch, der zumindest mittelfristig erfolgreich war, denn Labour gewann die Wahl 1997 mit einer Mehrheit von 179 Sitzen und deutlichem Wählerzuwachs in der Mittelschicht; ein Ergebnis, das in den Wahlen 2001 und 2005 nur mit geringen Einbußen gehalten werden konnte. Die Ausrichtung der Labour Party änderte sich auch rhetorisch. Die Partei, die unter der Regierung Blair vor allem durch die geschickte Handhabung und Beeinflussung der Medien bekannt wurde, unternahm deutliche Anstrengungen, mit ihrem reformierten politischen Programm eine möglichst breite Wählerschaft anzusprechen. New Labour trat mit dem Anspruch auf, eine Partei für das gesamte Vereinigte Königreich zu sein – Schottland, Wales, Irland und England, aber auch für eine multikulturelle britische Gesellschaft. Das hatte Konsequenzen für die von der Partei vertretene Politik: Zum einen wurde dadurch das Thema der Verfassungsreform ein prominentes Wahlkampfthema und ein bestimmendes Element der ersten von Labour gestellten Regierung seit 1979. Tony Blair und sein Kabinett griffen damit einen Reformdiskurs auf, der sowohl Elemente des Devolutionsdenkens als auch der generellen Effizienzsteigerung und Demokratisierung umfasste und der vor allem seit den 1980er Jahren der zentralstaatlich ausgerichteten konservativen Politik diametral entgegenstand. Zum anderen wurde die während der konservativen Regierungszeit weitgehend marginalisierte Vorstellung einer multiethnischen britischen Gesellschaft eines der Themen, mit dem sich die Labour-Regierung beschäftigte – und angesichts von Unruhen in Oldham und Bradford im Jahr 2001 und der von britischen Muslimen verübten Londoner Anschläge im Sommer 2005 auch musste. Wie sah nun das Programm der Regierung aus? Labour belegte sein Reformprogramm mit dem Begriff der „Modernisierung“, einem Begriff, den die frisch gewählte Regierung breit auslegte: Neben marktfreundlichen und EU-politischen Maßnahmen wie der Abgabe der operativen Kontrolle über die Geldpolitik an die Bank of England entsprechend des Vertrages von Maastricht erhöhte die Regierung Blair deutlich die Sozialausgaben und führte einen Mindestlohn Zur Analyse der Sprache der Labour Party vgl. Emilie L’Hôte: New Labour and globalization. Globalist discourse with a twist?, in: Discourse & Society 21/2010, S. 355 – 376; L’Hô te: Identity, narrative and metaphor, S. 169 – 177. Zum Machbarkeitsdiskurs der Labour Party bezüglich der Globalisierung vgl. Holger Rossow: Globalismus und New Labour. Zur diskursiven Konstruktion von Globalisierungsprozessen im Grossbritannien der Blair-Ära, Bielefeld 2011, S. 11– 13.
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ein.²⁴ Modernisierung sollte jedoch die auch Demokratisierung und Reform der ungeschriebenen Verfassung bedeuten. Die Partei griff damit den 1979 gescheiterten Strang der Verfassungsreform wieder auf und nahm nach dem deutlichen Wahlsieg 1997 eine Reihe umfassender Eingriffe in die verfassungsrechtliche Ordnung des Vereinigten Königreichs, das „constitutional settlement“, vor: Neben einer Reform des House of Lords wurde nach dem Wahlsieg Labours die Dezentralisierung von Machtbefugnissen nach Schottland und Wales nach erfolgreichen Referenden in den jeweiligen Landesteilen in die Tat umgesetzt.²⁵ Auch das Local Government war von den Reformen betroffen: Nach einem Referendum wurde im Jahr 2000 die Greater London Authority eingerichtet und das Amt des Mayor of London zur Wahl gestellt, nachdem die konservative Regierung Margaret Thatchers diese Regierungsebene erst 1986 abgeschafft hatte. Im 1998 verabschiedeten Human Rights Act wurde die Europäische Menschenrechtskonvention Teil des innerstaatlichen Rechts; ein entscheidender Schritt, der EU-Recht deutlich stärker in den britischen Kontext einbettete, aber vor allem ab den 2000er Jahren von euroskeptischer Seite deutlich kritisiert werden sollte.²⁶ Das Projekt der Verfassungsreform stieß jedoch auf deutliche Kritik besonders in konservativen Kreisen, die sie als zu weitgehend ansahen²⁷; anderen ging das Reformprojekt nicht weit genug oder war nicht kohärent genug.²⁸ Eingebettet war dieses Reformprojekt in eine Rhetorik der Erneuerung nationaler Identität als jung, vorwärtsgewandt und multikulturell.²⁹ In einer Rede vor dem Parteitag der Labour Party forderte Tony Blair 1995 „I want us to be a young country again“ – wobei jung synonym für ehrgeizig, ambitioniert und aufstiegsorientiert verstanden wurde. Großbritannien solle nicht rückwärts-, sondern vorwärtsgewandt sein; ein Gegenentwurf zu den nostalgischen Erzäh-
Zur Abgabe der Kontrolle über den Leitzins an die Bank of England vgl. McDonald (Hrsg.): Reinventing Britain. Constitutional change under New Labour, S. 6. Zu Reformdiskurs der Regierung Blair vgl. Catterall: „Efficiency with freedom?“, S. 1– 2. Zur Geschichte und Bedeutung des Human Rights Act für das Verfassungsgefüge des Vereinigten Königreichs vgl. King: The British constitution, S. 127– 135; Gerrit Schäfer: The Labour Party and the Human Rights Act, in: Thomas W. Clark (Hrsg.): Aufklärung, Konstitutionalismus, Atlantische Welt. Eine Festschrift für Horst Dippel, Kassel 2009, S. 77– 111. Vgl. beispielsweise die Monographien des Journalisten Peter Hitchens und des konservativen Politikers John Redwood. Peter Hitchens: The abolition of Britain. The British cultural revolution from Lady Chatterley to Tony Blair, London 2008 [1999], S. 343; John Redwood: The death of Britain? The UK’s constitutional crisis, Basingstoke 1999. Vgl. beispielsweise Dorey: Labour Party and constitutional reform, S. 1– 3. Zu einer linguistischen Analyse des Topos von Wandel und Neuheit vgl. L’Hô te: Identity, narrative and metaphor, S. 121– 170.
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lungen der Merchant Ivory-Filme der 1980er und frühen 1990er Jahre.³⁰ Nachdem Britishness in den rund 30 Jahren zuvor in der britischen Presse im Kontext von territorialen Streitigkeiten wie im Fall der Falklands oder Gibraltars zur Bezeichnung einer nicht näher definierten kulturellen Zugehörigkeit verwendet wurde, richtete sich der Begriff nun auf die britischen Inseln an sich.³¹ Britishness wurde zu einem politischen Projekt, das besonders von Schatzkanzler Gordon Brown gefördert wurde. Demos, ein in den späten 1990er Jahren der Labour Party nahestehender Think Tank, veröffentlichte im Wahljahr 1997 einen Band, der sich explizit mit der Erneuerung britischer nationaler Identität beschäftigte.³² Aufbauend auf der Arbeit Linda Colleys diagnostizierte der verantwortliche Autor Mark Leonard, dass sich die britische Identität in einer Übergangsphase befinde und daher politischer Steuerung bedürfe: The key priority is to define a shared ethos, and shared stories, to reflect the best of what Britain has become in the late 1990s. I suggest what some of these stories might be, emphasising Britain’s place as a hub, an importer and exporter of ideas, goods and services, people and cultures; Britain’s history as a hybrid nation; our traditions of creativity and nonconformism; our role as a silent revolutionary creating new models of organisation; our readiness to do business; and the ethos of fair play and voluntary commitment.³³
Bestehende Stereotype wurden dabei ins Positive umgedeutet: Wie Peter Mandler aufgezeigt hat, wurden in dem Demos-Bericht aus Empire und Zivilisierungsmission die Auffassung von Großbritannien als Zentrum des globalen Handels; traditionelle Vorstellungen von englischem Individualismus wurden in „Kreativität“ umgedeutet, die „mongrel people“ von Daniel Defoe wurden zum multikulturellen Großbritannien, die „nation of shopkeepers“ wurde im Sinne eines Vertrauens in britisches Unternehmertum umgedeutet; und aus sozialer Demokratie und dem Wohlfahrtsstaat wurde „fair play“.³⁴ Leonard verband diesen politischen Arbeitsauftrag mit den rosigen Aussichten der Globalisierung³⁵, nämlich der „vision of Britain as a global island, uniquely well placed to thrive in the more interconnected world of the next century“.³⁶ Diese Pläne sollen durch eine Steuerungsgruppe um den Premierminister, die Professionalisierung der Kampagne durch die Errichtung einer „Promoting Britain Unit“ sowie Veränderungen in der Einstellungs- und Arbeitskultur bri-
Tony Blair: New Britain. My vision of a young country, London 1996, S. 65. Pitcher: The politics of multiculturalism, S. 42. Vgl. Mark Leonard: Britain TM. Renewing our identity, London 1997. Ebd., S. 3. Vgl. Mandler: The English national character, S. 235. Vgl. dazu auch Rossow: Globalismus und New Labour, S. 137. Leonard: Britain TM, S. 3.
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tischer Institutionen zur Steigerung des Unternehmergeistes und der Diversität umgesetzt werden. Nationale Identität wurde in dieser Sichtweise zu einer politisch formbaren Masse, die der Regeneration der britischen Wirtschaft dienen konnte und sollte, bot zugleich aber auch das Rohmaterial einer nationalen Erfolgsgeschichte nach Jahren des wahrgenommen Niedergangs.³⁷ Die Rhetorik von Britishness hatte als Teil eines parteipolitischen Projektes die Aufgabe, die politische und kulturelle Aufbruchsstimmung für die Labour Party nutzbar zu machen. Ziel war, der Conservative Party den Titel als die ‚patriotische‘ Partei streitig zu machen, als die sie nach dem britischen Sieg im Falklandkrieg einmal mehr betrachtet wurde.³⁸ Der spätere Secretary of State for Northern Ireland und einer der Architekten von New Labour, Peter Mandelson, hatte sich beispielsweise im Vorfeld der Wahl 1997 mit einer Bulldogge ablichten lassen, dem vor allem mit Winston Churchill assoziierten Nationalsymbol anglo-britischer Beharrlichkeit.³⁹ So erfolgreich wie Labour nationale Vorstellungen verwendete, so deutlich schienen die Konservativen ihr Gespür für nationale Symbole verloren zu haben. Hatten Mitglieder der Conservative Party in den 1990er Jahren versucht, nationale Bilder politisch nutzbar zu machen, hatte dies meist im Spott der Presse geendet. Nichts verdeutlichte dies mehr als der vom konservativen Politiker Norman Tebbit vorgeschlagene Cricket-Test, der im Jahr 1990 die Unterstützung des englischen Teams zum Indikator für eine gelungene Integration in die britische Gesellschaft erhob⁴⁰, oder die Rede, die Premierminister John
Vgl. ebd., S. 32– 35. Die Labour Party hatte sich traditionell schwer mit britischem Patriotismus getan, teils aus ideologischen Gründen, teils, weil dies als das natürliche Terrain der Conservative Party galt. Siehe Barry Jones und Michael Keating: Labour and the British state, Oxford 1985, S. 194. Zur konservativen Partei als die „nationale“ Partei vgl. Philip Lynch: The politics of nationhood. Sovereignty, Britishness, and Conservative politics, Basingstoke 1999, S. 154. Zum Erfolg der Labour Party in diesem Kontext vgl. Philip Lynch: Nationhood and identity in Conservative politics, in: Mark Garnett und Philip Lynch (Hrsg.): The Conservatives in crisis: the Tories after 1997, Manchester 2003, S. 182– 197. Eric Hobsbawm hatte in Vorfeld auf die Zentralität des Themas von Nationalismus im Wahlkampf 1997 hingewiesen: „We may win the next general election that way and I hope we will, though the Tories will not fight the election campaign primarily on taxes, but on British Unionism, English nationalism, xenophobia and the Union Jack, and in doing so will catch us off balance.Will those who have elected us really believe we shall make much difference? And what will we do if they merely elect us, shrugging their shoulders as they do so?“ Hobsbawm: Identity politics and the Left, S. 47. Vgl. Patrick Wintour: Labour tries to reclaim the flag, Guardian, 28. 3. 2000, S. 12; Gary Younge: A decade of Blair has left society more segregated, fearful and divided, Guardian, 28. 3. 2007, S. 25. Zum Identitätskonzept John Majors siehe Michael Billig: Banal nationalism, London 1995, S. 102; Krishan Kumar: The making of English national identity, Nachdruck, Cambridge 2005, S. 227.
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Major vor der Conservative Group for Europe am St. George’s Day im April 1993 hielt: Obwohl das Thema der Rede war, dass die nationale Besonderheit nicht durch den europäischen Einigungsprozess in Gefahr sei, blieb vor allem die frei an George Orwell angelehnte Schlusspassage in Erinnerung: Fifty years from now Britain will still be the country of long shadows on county grounds, warm beer, invincible green suburbs, dog lovers and pools fillers and – as George Orwell said – “old maids bicycling to Holy Communion through the morning mist” and if we get our way – Shakespeare still read even in school. Britain will survive unamendable in all essentials.⁴¹
Auch wenn Major dazu ansetzte, ein kulturelles Bild von Großbritannien zu zeichnen, wurde ihm schon bald der Vorwurf gemacht, England mit Großbritannien zu verwechseln und mit seiner nostalgischen Lesart Großbritannien am Ende des 20. Jahrhunderts zu verkennen.⁴² Im Gegensatz dazu zeigt der Umgang mit Presse und Öffentlichkeit nach dem Tod von Diana, Princess of Wales, im August 1997, wie der neu gewählte Premierminister Tony Blair einen Moment nationaler Aufmerksamkeit zu nutzen wusste.⁴³ Jedoch waren nicht alle Prestigeprojekte Labours erfolgreich, die mit dem britischen Nationalgefühl spielten, allen voran das Projekt des Millennium Dome. Ursprünglich von der Regierung John Majors als deutlich kleineres Projekt geplant, wurde sowohl die Konstruktion der Ausstellungshalle wie auch die Ausstellung an sich auf der Greenwich Peninsula im Süden Londons von kontroversen Diskussionen begleitet. Nicht nur blieb die ein Jahr dauernde Ausstellung „Millennium Experience“ weit hinter den vorgesehenen Besucherzahlen zurück, sondern die Inhalte der Ausstellung wurden in einem Leitartikel der New York Times mit dem Worten verrissen: „We have seen the future and it is trivial“.⁴⁴
Community, citizenship und society im Denken New Labours Das politische Projekt New Labour baute jedoch nicht nur auf einer verstärkt nationalen politischen Rhetorik auf, sondern auch auf einer veränderten Vorstellung von Gesellschaft und des Verhältnisses von Individuen zu dieser. In der Neuausrichtung war die Frage zentral, wie die Labour Party ideologisch mit dem John Major: John Major. The autobiography, London 2000, S. 376. Zur vorgebrachten Kritik und Rechtfertigung Majors vgl. Okri: Who do we think we are?, Guardian, 20.1.1999, S. 2; Major: John Major. The autobiography, S. 376. Vgl. Mandler: The English national character, S. 236. Tony Blair’s Millennium Dome, New York Times, 5. 3.1998, S. 28.
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Erbe des Thatcherismus umgehen sollte. Die Wunden aus den 1980er Jahren waren tief; die Reformer waren der Ansicht, dass auch die Wünsche der Bevölkerung, gerade was persönliche Aspirationen und Konsum anging, in dieser Zeit nicht gesehen worden waren. Innerhalb der Linken gab es daher Debatten, ob es einen „Dritten Weg“ zwischen dem Kollektivismus und Sozialismus der traditionellen Labour Party und dem rationalen, moralisierenden Individualismus der Conservative Party unter Margaret Thatcher geben könne. In den späten 1970er und 1980er Jahren hatte es bereits Ansätze dazu gegeben: Die 1978/1979 innerhalb der New Left Review geführte Debatte um die Zukunft der Klassengesellschaft anlässlich Eric Hobsbawms „The forward march of Labour halted“ war grundlegend für das Denken des „Dritten Weges“. Aber vor allem das New Times-Projekt des eurokommunistisch eingestellten, jedoch über Parteigrenzen hinweg rezipierten Journals Marxism Today war einflussreich für die Debatten innerhalb der Labour Party. Neben dem Herausgeber Martin Jacques war vor allem der ehemalige Direktor des CCCS, Stuart Hall, bedeutend. Artikel, die die Opposition der traditionellen Linken zum Konsumdenken, ihre Haltung gegenüber der Regierung Thatcher und zur traditionellen Industrie und ihr Klassendenken thematisierten und kritisierten, legten die Grundlage für eine Auseinandersetzung der Linken innerhalb und außerhalb der Labour Party über ihre politische Zukunft. Der Begriff des Thatcherism für das mit Margaret Thatcher assoziierte politische Projekt wurde auf diesen Seiten geprägt.⁴⁵ In einem Themenheft 1988 wurden die Veränderungen innerhalb Großbritanniens wie folgt zusammengefasst: Mass production, the mass consumer, the big city, big-brother state, the sprawling housing estate, and the nation-state are in decline: flexibility, diversity, differentiation, mobility, communication, decentralisation and internationalisation are in the ascendant. In the process our own identities, our sense of self, our own subjectivities are being transformed. We are in transition to a new era.⁴⁶
Diese Vorstellung vom Wandel der industriellen und gesellschaftlichen Basis und damit zusammenhängend, individuellen Aspirationen, wurde von den Reformern innerhalb der Labour Party rezipiert; zu diesem Zeitpunkt war dies noch Neil Kinnock, später jedoch vor allem Tony Blair, der ebenso wie Gordon Brown in der Wahl 1983 seinen ersten Parlamentssitz gewonnen hatte. Diese Debatten über die Zukunft der Industriegesellschaft und des damit zusammenhängenden Gesellschaftsmodells fanden sich – unter jeweils anderen politischen Vorzeichen und Traditionen – auch in einer Reihe anderer westlicher
Vgl. Hall: The great moving right show, S. 25. New Times, Marxism Today, Oktober 1988, S. 1.
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Länder, allen voran in den USA bei den Demokraten unter Bill Clinton. Innerhalb des Vereinigten Königreichs wurden unterschiedliche Konzepte in den 1990er Jahren diskutiert. Eines der zentralen Modelle war das der „stakeholder society“, das zum einen verdeutlicht, wie Labour nahestehende Reformer versuchten, mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erbe der 1980er Jahre umgehen, zum anderen aber als Beispiel dafür gelten kann, wie selektiv solche Modelle Einzug in das Programm und die politische Rhetorik der Labour Party fanden. Das Konzept der „stakeholder society“ ging zurück auf den Journalisten Will Hutton. In Abgrenzung zum neoliberal konnotierten Begriff des „shareholders“ hatte Hutton dieses Konzept 1995 als Teil seiner Kritik am neoliberalen Wirtschaftsmodell der Thatcher-Ära entwickelt. Im Zentrum standen Reformen des Finanz- und Wirtschaftssystems, durch die kurzfristiges Profitdenken durch längerfristige Investitionen ersetzt werden sollten; so forderte unter anderem engere Vorgaben für Übernahmen. Politisch am einflussreichsten war sein Modell der „stakeholder economy“, mit der Wirtschaftsabläufe demokratisiert werden sollten: Die „stakeholder“ einer Firma, die in diesem Fall nicht nur aus dem Management und den Aktionären, sondern auch aus den Angestellten, Kunden, den Zulieferern sowie der lokalen Bevölkerung bestanden, sollten in einem institutionellen Rahmen verankert werden. Zentral ist Huttons Konzeption von Gesellschaft: Denn die stakeholder economy funktioniere nur, wenn sie in eine „stakeholder society“ eingebunden sei; das heißt eine Gesellschaft, in der einer drohenden Fragmentierung durch eine „common social citizenship“ entgegengewirkt werde, die den Willen zum individuellen Aufstieg anerkenne und durch eine schriftlich kodifizierte Verfassung demokratisch legitimiert sei: „Britain needs to acquire a republican attitude – not in terms of abolishing the monarchy, but rather in reclaiming the idea that government is a matter for the public, not a secretive elite.“⁴⁷ Das Modell hatte zum Ziel, mit Hilfe eines starken und interventionsfreudigen Staats die Macht des britischen Finanzkapitals zu demokratisieren – eine Absicht, die die unternehmerfreundliche Labour Führung um die Modernisierer Blair und Brown nur bedingt teilte.⁴⁸ Der Begriff des „stakeholding“, gerade in Verbindung mit „Gesellschaft“, stellte jedoch eine attraktive Kombination dar, die als aussagekräftiges Bild in politischen Debatten verwendet wurde. So konnte die Kombination „stakeholder capitalism“, „stakeholder government“, „stakeholder Europe“, „stakeholder society“ oder „stakeholder economy“ gefunden werden.⁴⁹ Will Hutton: The stakeholder society, in: David Marquand und Anthony Seldon (Hrsg.): The ideas that shaped post-war Britain, London 1996, S. 290 – 308, hier S. 301. Zu Huttons Konzept des „stakeholder capitalism“ vgl. Will Hutton: The state we’re in, London 1995, S. 298 – 318. Vgl. Rajiv Prabhakar: Stakeholding and New Labour, Basingstoke 2003, S. ix, 2, 16 – 17. Vgl. ebd., S. 17.
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Aufgrund seiner Popularität beim linksliberalen Publikum fand das Konzept Eingang in das Vokabular von New Labour, allerdings ohne die Kritik Huttons an den Arbeitspraktiken des britischen Finanzmarktes und weitgehend inhaltsleer: Der Begriff wurde nun verwendet, um individuelle Aspirationen in den Mittelpunkt zu stellen.⁵⁰ Zentral für das Reformdenken war damit die Frage, in welchem Verhältnis Individuum und Gesellschaft stehen sollten. Dazu nahm die Labour-Führung Anleihen an der Kommunitarismusphilosophie. Diese in den frühen 1980er Jahren in den USA in Opposition zur liberalen Philosophie John Rawls’ entwickelte politische Theorie begreift den Menschen als soziales Wesen, das von Kultur und Tradition seines Gemeinwesens geprägt ist. Der (US-amerikanische) Liberalismus steht in dieser Sichtweise für eine schädliche ökonomische Nutzenmaximierung und Überbetonung des Individuellen; anstelle dessen sei eine gemeinwohlorientierte Politik notwendig. Hierfür seien mehr bürgerliches Engagement, die Stärkung der Zivilgesellschaft und die Rückbesinnung auf Bürgertugenden des Republikanismus vonnöten. Vertreter dieser Richtung waren der schottischamerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre, der US-amerikanische Sozial- und Moralphilosoph Michael Walzer, der Politologe Benjamin R. Barber, der mit der britischen Neuen Linken verbundene Philosoph Charles Taylor, der Philosoph Michael Sandel und der Politikwissenschaftler Amitai Etzioni.⁵¹ Der Einfluss der Kommunitarismusphilosophie zeigt sich vor allem in der in der Rhetorik Labours, weniger programmatisch oder in der politischen Praxis⁵²: Gerade Tony Blairs Reden als Anführer der Opposition sind daher aufschlussreich für die von der
Zu Huttons Konzept der „stakeholder society“ und der Adaption New Labours vgl. Scott Newton: The reinvention of Britain 1960 – 2016. A political and economic history, Abingdon 2018, S. 297– 208. Zur komplexen theoretischen und politischen Einordnung der Kommunitarismusforscher vgl. Simon Prideaux: Not so New Labour. A sociological critique of New Labour’s policy and practice, Bristol 2005. Vgl. Sarah Hale: Blair’s community. Communitarian thought and New Labour, Manchester 2006, S. 155; Sarah Hale: The communitarian „philosophy“ of New Labour, in: Sarah Hale, Will Leggett und Luke Martell (Hrsg.): The Third Way. Criticisms, futures, alternatives, Manchester 2004, S. 87– 107; Eunice Goes: The Third Way and the politics of community, in: Sarah Hale, Will Leggett und Luke Martell (Hrsg.): The Third Way. Criticisms, futures, alternatives, Manchester 2004, S. 108 – 127. Zur Kommunitarismusforschung vgl. auch Stephen Mulhall und Adam Swift: Liberals and communitarians, 2. Aufl., Oxford 1996; Simon Prideaux: From organisational theory to the Third Way: Continuities and contradictions underpinning Amitai Etzioni’s communitarian influence on New Labour, in: Sarah Hale, Will Leggett und Luke Martell (Hrsg.): The Third Way and beyond. Criticisms, futures, alternatives, Manchester 2004, S. 128 – 145.
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Labour Party vertretenen Gesellschaftskonzepte. In einer Rede in der Southwark Cathedral in London im Januar 1996 fasste Blair seine Vision wie folgt zusammen: The question for today is whether we can achieve a new relationship between individual and society, in which the individual acknowledges that, in certain key respects, it is only by working together in a community of people that the individual’s interests can be advanced. That means going beyond the traditional boundaries of Left and Right, breaking new ground by escaping from sterile debates that have polarized our politics for too long.⁵³
Dazu sei es nötig, wieder wie „one nation“ und „one community“ zu denken und zu handeln und eine Gesellschaft auf der Basis geteilter Rechte und Pflichten zu erschaffen, die er als moderne Form von sozialer Gerechtigkeit verstand: „We accept our duty as a society to give each person a stake in its future. And in return each person accepts responsibility to respond, to work to improve themselves.“⁵⁴ Analog zu den soziologischen Debatten über die Tragfähigkeit von „social class“ als Analysebegriff in den 1970er und 1980er Jahren ersetzen die Konzepte von „civil society“, „citizenship“ und „stakeholder society“ die von Klasse und Klassenkonflikt; anstelle von Armut sprachen die Reformer von „social exclusion“⁵⁵ – sie vermieden also Begriffe, die vor allem mit „Old Labour“ und dem Konzept der industriellen Klassengesellschaft in Verbindung gesetzt worden waren.⁵⁶ Die Wahlmöglichkeiten von Verbrauchern und die Sprache der „ordinary working families“ ersetzte die klassische Rhetorik der Klasseninteressen. Blair führte damit den von John Major vertretenen Ansatz der „classlessness“ fort, wollte aber trotz seines Fokus auf „Middle Britain“ und die „ordinary working people“, die die Rhetorik der „working class“ und „middle class“ ersetzt hatten, soziale Ungleichheit und Armut bekämpfen, wobei er an dieser Stelle häufig eine moralisierende Sprache verwendete.⁵⁷ Blairs Konzeption vom Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft baute nicht nur auf den Debatten der New Times auf, auch wenn diese eine wichtige Rolle spielten. Unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft, „community“ und „citizenship“ waren bereits seit den 1980er Jahren diskutiert worden und waren in spezifischen politischen Kontexten verortet. Dazu gehörte das mit Margaret Thatcher verbundene Gesellschaftsdenken, die Verwendung des Community-Begriffs in den 1980er Jahren sowie die Debatten über die Ausweitung des Konzeptes von Staats-
Blair: New Britain, S. 298. Ebd. Vgl. Sutcliffe-Braithwaite: Class, politics, and the decline of deference, S. 182– 191. Siehe Kapitel IV.1. Zum Konzept der „classlessness“ bei Major und Blair vgl. Cannadine: Class in Britain, S. 180 – 184. Vgl. auch Sutcliffe-Braithwaite: Class, politics, and the decline of deference, S. 182– 191.
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bürgerschaft, die im Kontext der Auseinandersetzungen über die Reform der britischen Verfassung in den 1980er Jahren diskutiert worden waren. Die Reformer um Tony Blair setzten sich zunächst besonders von einem Verständnis von Gesellschaft ab, das mit der Person Margaret Thatchers verbunden wurde. Die damalige Premierministerin hatte 1987 in einem Interview deren Existenz geleugnet: They are casting their problems on society and who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first. It is our duty to look after ourselves and then also to help look after our neighbour and life is a reciprocal business.⁵⁸
Thatcher bezog den Begriff der „society“ auf den britischen Wohlfahrtsstaat und die von ihr diagnostizierte Kultur der Abhängigkeit, die in ihren Augen die Labour Party politisch vertrat.⁵⁹ Die Premierministerin befürchtete, dass der britische Wohlfahrtsstaat die von ihr propagierten Werte von Eigenständigkeit und Individualismus unterwandere – eine Ansicht, die sie schon länger vertrat, wie nicht verwendete Notizen für eine Rede aus dem Jahr 1979 belegen. Dort hielt sie handschriftlich fest, dass es „no such thing as a collective conscience, collective kindness, collective gentleness, collective freedom“ gebe.⁶⁰ Thatchers Diktum „there’s no such thing as society“ aus dem Jahr 1987 sollte daher besser als Debattenbeitrag innerhalb einer politisch-ideologischen Auseinandersetzung denn als adäquate Umschreibung des mehrheitlich akzeptierten britischen Gesellschaftskonzeptes verstanden werden. Ihr Beitrag dürfte angesichts ihrer Auseinandersetzung mit den sogenannten wets, also Abgeordneten innerhalb der Conservative Party, die seit dem konservativen Wahlsieg die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Thatcher-Zirkels ablehnten, auch innerparteilich nicht unumstritten gewesen sein.⁶¹ Sie bot jedoch eine einflussreiche
Margaret Thatcher: Interview for Woman’s Own, 27.9.1987, COI transcript, Thatcher Archive, Churchill Archives, Cambridge, http://www.margaretthatcher.org/document/106689. Vgl. auch Alexander Petring: Die Gute Gesellschaft oder der gute Staat?, in: Christian Kellermann und Henning Meyer (Hrsg.): Die Gute Gesellschaft. Soziale und demokratische Politik im 21. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 84– 99, hier S. 91. Margaret Thatcher: notes for conference speech („Thoughts on the Moral Case I“), Thatcher MSS, Churchill Archive Centre, Cambridge, THCR/5/1/4/4, 3.10.1979. Der Begriff der „wets“ stellt hierbei einen von der innerparteilichen Opposition verwendeten Kampfbegriff dar, der für Politiker wie Jim Prior, Peter Walker oder Ian Gilmour verwendet wurde, aber auch Michael Heseltine oder Lord Carrington. Vgl. hierzu Eric J. Evans: Thatcher and Thatcherism, London/New York 1997, S. 49 – 51; Anthony Seldon und Daniel Collings: Britain under Thatcher, Harlow 2000, S. 14– 20; Timothy Heppell: The Tories. From Winston Churchill to David Cameron, London, S. 100 – 101; Vinen: Thatcher’s Britain: the politics and social upheaval of the
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Folie, gegen die sich die Modernisierer innerhalb der Labour Party absetzen konnten. Im Zuge dieser innerhalb der Labour Party geführten Diskussionen um den Stellenwert des Individuums, des Staats und der Gesellschaft wurden die Begriffe von „community“ und „citizenship“ zum Teil aus ihren traditionellen Kontexten gelöst und umgedeutet: Bis in die 1980er Jahre wurde der im Deutschen je nach Kontext mit Gemeinde oder Gemeinschaft übersetzbare Begriff der „community“ innerhalb der britischen Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vor allem zur sozialräumlichen Beschreibung der Arbeiterklasse („working class communities“) gebraucht, popularisiert durch medienwirksame und einflussreiche Studien wie Michael Youngs und Peter Wilmotts 1957 publiziertes Werk „Family and kinship in East London“ oder auch Richard Hoggarts „The uses of literacy“.⁶² Diese bezogen sich auf die vor allem in den USA verbreiteten soziologischen community studies. „Gemeinden“ wurden in dieser Tradition als eine der Grundformen von Gesellschaft angesehen, ihr bekanntestes Beispiel sind die Middletown-Studien des Ehepaars Lynd aus den 1920er Jahren.⁶³ Parallel dazu wurde der Begriff der community auch im kolonialen Kontext, besonders in Afrika, verwendet: Mit dem Ziel, die Rückkehr zu solidarischen, friedfertigen Gemeinschaften zu erreichen, wurde seit den 1940er Jahren von community development gesprochen. Dahinter stand die Idee, dass sich die Dorfgemeinschaft aus sich selbst heraus entwickeln sollte, unter der Führung von Afrikanern aus dem Dorf
Thatcher era, S. 117– 118; Mark Garnett und Kevin Hickson: Conservative thinkers. The key contributors to the political thought of the modern Conservative Party, Manchester 2009, S. 121– 139. Michael Young und Peter Wilmott: Family and Kinship in East London, Nachdruck, Hoboken 2012; Hoggart: The uses of literacy. Vgl. Hartmut Häußermann, Walter Siebel und Jens Wurtzbacher: Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2004, S. 79; Robert Staughton Lynd und Helen Merrell Lynd: Middletown in transition. A study in cultural conflicts, New York 1937; Robert Staughton Lynd, Helen Merrell Lynd und Clark Wissler: Middletown. A study in American culture, New York 1929. Neben dem Ansatz der Gemeindestudien war der Topos der community in der britischen Soziologie vor allem im Kontext der 1887 von Ferdinand Tönnies vorgenommenen Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, community und society, bekannt, auf den sich die Gemeindestudien indirekt bezogen. Während erstere dabei als eher altruistisch verstanden wurde, nämlich in dem Sinne, dass Personen sich zu einem Kollektivwohl zusammenschließen, definierte Tönnies letztere eher als Zweckgemeinschaft zur Erlangung individueller Absichten und Güter. Die Begriffe waren dabei evolutionstheoretisch unterlegt und normativ aufgeladen, denn nach Tönnies entwickelte sich die Gesellschaft aus der Gemeinschaft, auf Tradition folgte die Moderne. Für die unterschiedlichen Einflüsse auf die Community Studies vgl. Graham Crow: The sociology of community, in: John Holmwood und John Scott (Hrsg.): The Palgrave handbook of sociology in Britain, Houndmills, Basingstoke 2014, S. 374– 395, hier S. 381– 383; Ferdinand Tönnies und Klaus Lichtblau: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, Wiesbaden 2012, S. 9.
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selbst. Afrikaner sollten dazu gebracht werden, ihre eigenen Probleme zu erkennen, Lösungen zu überlegen und in die Tat umzusetzen; ein Mechanismus, den Hubertus Büschel mit dem Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ in Verbindung setzt.⁶⁴ Ähnlich wie in der Gemeindesoziologie wurde auch hier die community als Kern für eine größere Gemeinschaftsbildung verstanden, hier vor allem der Nation.⁶⁵ Seit den späten 1950er Jahren fand der Begriff der „ethnic community“ Eingang in den britischen Sprachgebrauch. Die Unruhen im Londoner Stadtteil Notting Hill im Sommer 1958 gelten historiographisch als der Moment, in dem in der britischen Öffentlichkeit ein Bewusstsein darüber entstand, in einer multiethnischen Gesellschaft zu leben.⁶⁶ In der britischen Soziologie jedoch schien der Begriff der community in den 1970er Jahren zunächst in Vergessenheit zu geraten. Philip Abrams, Herausgeber der Zeitschrift Sociology und mit den Trends des Faches vertraut, fasste 1978 zusammen, dass das Konzept der community langsam aus der britischen Soziologie vertrieben werde, obgleich es in der Empirie noch zu finden sei: „the coexistence of a body of theory which constantly predicts the collapse of community and a body of empirical studies which finds community alive and well.“⁶⁷ Seit Ende der 1970er Jahre wurde der Begriff jedoch wieder verstärkt in der soziologischen Forschung verwendet, nun jedoch mit heterogeneren Methoden, breiteren analytischen Ansätzen und der stärkeren Beachtung von Faktoren wie „race“.⁶⁸ In den frühen 1980er Jahren wurde der Begriff der community im öffentlichpolitischen Sprachgebrauch vor allem dazu verwendet, um gesellschaftliche Probleme anzugehen. Zum einen bezeichnete er allgemein die soziale Gemeinschaft im städtischen Raum, die in einem beschränkten, aber nicht klar abgegrenzten Gebiet lebt und über ein nicht näher definiertes Zusammengehörigkeitsgefühl verfügt. Verbreiteter war allerdings der Unterbegriff der „ethnic community“, der die urbanen Viertel, in denen vor allem Migranten lebten, als Einwanderergemeinden fasste. Das Beispiel der Unruhen von 1981 ist dabei aufschlussreich: Angesichts der Probleme der „ethnic communities“ mit der Polizei hatte John Alderson, Chief Constable von Devon und Cornwall, seit den frühen 1970er Jahren das Konzept von „community policing“ entwickelt. Die sozio-strukturellen Entwicklungen seit Ende des
Hubertus Büschel: Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960 – 1975, Frankfurt a. M. 2014, S. 164– 166; Büschel: Eine Brücke am Mount Meru, S. 185 – 188. Vgl. Büschel: Hilfe zur Selbsthilfe, S. 166.Vgl. hierzu auch Goodhart: The British dream, S. 133. Tamme: Von den dark strangers zum „Subproletariat“, S. 133. Zit. nach Crow: Sociology of community, S. 374. Seit Ende der 1970er Jahre wird der Begriff jedoch wieder verstärkt in der soziologischen Forschung verwendet, nun jedoch mit diverseren Methoden, breiteren analytischen Ansätzen und der stärkeren Beachtung von Faktoren wie race und gender. Vgl. ebd., S. 389 – 390.
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Zweiten Weltkriegs hätten die britische Gesellschaft grundlegend von einer „authoritarian“ zu einer „free, permissive, participatory society“⁶⁹ verändert, die Polizei als Organisation an ihre physischen und ideellen Grenzen gebracht. Community policing Aldersonscher Lesart wollte die einzelnen lokalen Gemeinden beeinflussen, um Sozialdisziplin und Vertrauen zur Polizei zu fördern. Falls in den urbanen Zentren keine Gemeinden mehr vorhanden seien, sollten diese durch die Polizei wieder gegründet werden.⁷⁰ Der politische Umgang mit den sogenannten Einwanderergemeinden vor allem in London und den urbanen Zentren im Norden Englands war in diesem Kontext zentral. Das Gesellschaftsmodell, das mit dem Begriff der „ethnic communities“ transportiert wurde, beruhte auf einem essentialistischen Kulturbegriff: Denn das damit einhergehende Bild einer „multiethnischen Gesellschaft“ gründete auf der Vorstellung, dass innerhalb dieser pluralen „Gesellschaft“ in sich geschlossene, lokal begrenzte und ethnisch homogene urbane „Einwanderergemeinden“ existierten, die jenseits von institutionellen Verbindungen wenig mit der britischen „Mehrheitsgesellschaft“ teilten. Die gehäufte Verwendung des Begriffs der „community“, gerade im Kontext der Unruhen von 1981, verweist auf eine bewusste Neuverortung politischer Handlungsräume, die den Machbarkeitsdiskurs der Reformer innerhalb der Labour Party in den 1990er Jahren vorgriff: Die Probleme von Armut, Kriminalität, aber auch der zunehmenden Einwanderung wurden als nationale Probleme verstanden, die eines gesamtgesellschaftlichen Lösungsansatzes bedurften. Die konkrete Umsetzung entsprechender Vorschläge wurde jedoch zunehmend, wie im Falle des community policing, auf lokaler Ebene in Städten und Stadtteilen gesehen und auf diese Weise auf eine kleinere Einheit sozialer Organisation relokalisiert. Für die zeitgenössischen Akteure bedeutete dies, dass die Komplexität von Problemzusammenhängen, die auf nationaler Ebene schier unlösbar schienen, auf ein verständliches und handhabbares Maß heruntergebrochen wurde. Im Verlauf der 1980er Jahre wurden diese Debatten über die unterschiedliche Konzeptionierung von Gesellschaft, gerade auch in ihrem Verhältnis zur lokalen Form der Gemeinschaft, weitergeführt, allerdings in einem veränderten Kontext: Gesellschaft und Gemeinschaft, community und society, wurden zu Kernvokabeln des Demokratisierungs- und Inklusionsdiskurses, der beispielsweise von der Gruppe der Charter 88 vertreten wurde, einer Reformbewegung, die ihren Auftakt in einem 1988 im New Statesman publizierten und von 348 Personen unterzeichneten Ma-
Alderson: Communal policing, S. 40. Ebd., S. 31.
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nifest hatte.⁷¹ Besonders der Begriff der „community“ wurde von Modernisierern innerhalb der Labour Party gerne und häufig verwendet – von David Blunkett bereits 1984.⁷² Innerhalb der britischen Industriekultur bestand der Begriff weiterhin fort und wurde durch den Bergarbeiterstreik in seiner Bedeutung als Bollwerk sozialer Stabilität in der öffentlichen Debatte neu verankert. Ein populärer Slogan des Streiks war beispielsweise „Close a pit: close a community“.⁷³ Im Vergleich zu den Diskursen der 1970er und frühen 1980er Jahre verwendete die politische Sprache New Labours in den 1990er Jahren die Begriffe in deutlich veränderter Form: community stand nun nicht mehr für eine soziale Gemeinschaft, die in einem beschränkten, aber nicht klar abgegrenzten Gebiet lebte und durch ethnische (ethnic community) oder sozio-kulturelle Gemeinsamkeiten (working class community) geprägt war. Anstelle dessen wurde sie zu einem Begriff, der räumlich sowohl die kleinräumigen Gemeinschaften der 1980er Jahre als auch die gesamte britische Bevölkerung im Vereinigten Königreich umfassen konnte und für ein Gemeinschaftsdenken stand, in dem die vorherige Sorge um „Gleichheit aller“ („equality“) gegen eine Vorstellung ausgetauscht wurde, die die Gleichheit der Chancen betonte.⁷⁴ Der Begriff der „community“ wurde dabei, wie Florence Sutcliffe-Braithwaite herausgearbeitet hat, seit den späten 1980er Jahren als räumliche Vokabel anstelle des Klassenbegriffs mit dem Ziel verwendet, soziale Ungleichheit und Klassengegensätze zu überwinden. Er ordnete sich damit in die Auseinandersetzung der Labour Party mit den von ihnen diagnostizierten sozialen Veränderungen ein.⁷⁵ Damit übernahm die Partei auch rhetorisch das Erbe Thatchers, für gesellschaftlichen Individualismus zu stehen: Während in den während der Unruhen von 1981 deutlich gewordenen Gesellschaftsvorstellungen viele Randalierer aufgrund von Ethnizität oder einem auf Regierungsversagen zurückgeführten Mangel an Arbeit nicht Teil der Gesellschaft sein konnten, wurde es jetzt zur bewussten Entscheidung des Individuums, Chancen zu ergreifen.⁷⁶ Voraussetzung für diese intellektuelle Wende war jedoch die Anerkennung von
Charter 88 war ein 1988 von vornehmlich liberalen und sozialdemokratischen Intellektuellen und Aktivisten gegründeter Interessenverband, der sich für Wahl- und Verfassungsreformen in Großbritannien einsetzte. Vgl. hierzu Sutcliffe-Braithwaite: „Class“ in the development of British Labour Party ideology, S. 359. Zur kulturellen Bedeutung des community-Begriffs während des Bergarbeiterstreiks vgl. vor allem Katy Shaw: Mining the meaning. Cultural representations of the 1984– 5 UK miners’ strike, Newcastle 2012, S. 45 – 50. Goes: The Third Way and the politics of community, S. 112. Sutcliffe-Braithwaite: „Class“ in the development of British Labour Party ideology, S. 359 – 360. Vgl. Kapitel I.1.
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gesellschaftlicher Diversität, die einer der grundlegenden Pfeiler im New LabourProgramm war. Bezeichnete community in der Sprache New Labours die unterschiedlichen Gemeinschaftsformen, an denen ein Individuum teilhaben konnte, führte der Weg dorthin über citizenship. Der Begriff der citizenship, der in seiner Bedeutung als Bezeichnung bürgerlicher Rechte bis in die 1970er Jahre hinein vor allem im Kontext des Wohlfahrtsstaats⁷⁷ und nur sporadisch in Verbindung mit Reformen der Staatsangehörigkeit diskutiert worden war, wurde seit den 1980er Jahren vor allem von linken Intellektuellen in einen Demokratisierungs- und Modernisierungsdiskurs aufgenommen. Mit dem Argument, dass die Rechte von Staatsbürgern nicht von einer schriftlichen Verfassung garantiert seien, sondern vom Parlament abhingen, das sie immer wieder mit einem einfachen Gesetz ändern könne, rückte der Begriff der Staatsbürgerschaft in den 1980er Jahren in den Kern der Debatten um eine schriftlich kodifizierte Verfassung des Vereinigten Königreichs⁷⁸: Denn eben jener Mangel an rechtlicher Definition von Rechten und Pflichten wurde nun mit einem Mangel an demokratischer Legitimierung gleichgesetzt und von Gruppen wie Charter 88 in das verfassungsrechtliche Reformnarrativ eingeschrieben.⁷⁹ Citizenship wurde damit zu einem Sammelbegriff für die politische Unzufriedenheit mit der Legitimierung des und den Teilhabemöglichkeiten an dem demokratischen System des Vereinigten Königreichs.⁸⁰ Die Tatsache, dass das Reformprogramm Labours in den 1990er Jahren mit der Rhetorik von Britishness beworben wurde, verdeutlicht nicht nur den nationalen Rahmen des politischen Denkens führender Politiker der Labour Party. Es zeigt auch, wie sehr New Labour nicht nur als Lösung gesellschaftlicher Probleme angelegt, sondern auch Teil eines länger dauernden Aushandlungsprozesses sozialer und nationaler Ordnung war. Durch die Betonung von citizenship und community in der Sprache von Britishness sollte der soziale Zusammenhalt gesichert werden, der durch soziale Exklusion und ethnische wie nationale Fragmentierung bedroht schien – zwei Probleme, die bereits in der Debatte um die
Hier vor allem im Bezug auf T. H. Marshalls 1950 publizierte Vorlesung zu „Citizenship and social class“. Eugenia Low: The concept of citizenship in Twentieth-century Britain: analysing contexts of development, in: Peter Catterall, Wolfram Kaiser und Ulrike Walton-Jordan (Hrsg.): Reforming the constitution. Debates in Twentieth-Century Britain, London/New York 2000, S. 179 – 200, hier S. 180 – 181. Vgl. Low: A tale of two citizenships, S. 249 – 252; Leslie G. Scarman: Why Britain needs a written constitution, in: Commonwealth Law Bulletin 19/1992, S. 317– 323. Vgl. Wright: Citizens and subjects, S. 126 – 127.
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Unruhen von 1981 eine große Rolle gespielt hatten.⁸¹ Der Politologe Arthur Aughey brachte die politische Funktion des „Rebranding Britain“-Projekts auf den Punkt: „Rebranding Britain is New Labour’s attempt to provide the answer to the question: Why is Britain?“⁸²
2 Devolution im Vereinigten Königreich: Nationalismus, Englishness und der „Break-up of Britain“ Die wohl sichtbarste und einschneidendste Veränderung, die von der Labour-Regierung nach ihrem Amtsantritt 1997 angestoßen wurde, war die Reform des britischen Staats- und Regierungssystems. Tony Blairs Regierung läutete in den Worten des Politologen und Verfassungsexperten Vernon Bogdanor eine mehrjährige „unprecedented period of constitutional change“ ein.⁸³ Das Reformprogramm der ersten Amtsperiode hat jedoch in der Fachliteratur ein gemischtes Zeugnis erhalten.⁸⁴ Der Politologe Peter Dorey bewertet beispielsweise die Verfassungsreformen Labours als „theorielos“ und unsystematisch⁸⁵, was auf die mäßigende Tradition des Fabianismus sowie den vorherrschenden Anti-Intellektualismus zurückzuführen sei.⁸⁶ Sucht man nach symmetrischer Planung anhand politologischer Modelle, mögen die unterschiedlichen Reformprojekte der Labour-Regierung unsystematisch erscheinen. Im Gegenzug ist gerade ihr Mangel an Systematik aussagekräftig für die vorherrschenden Diskurse über Staat, Nation und Gesellschaft, in die sich die Regierung einschrieb: Sie verfolgte weiterhin das Devolutionsnarrativ und erkannte damit die politischen Forderungen innerhalb des Westminster-Systems an; sie ordnete sich zugleich aber auch in den schon in den 1960er und 1970er Jahren vorhandenen politischen Diskurs ein, der eine umfassende Reform des Regierungsapparates anstrebte. Die Reformen markierten damit einen Meilenstein in der Verfassungsgeschichte des Vereinigten Königreichs, die ihren Beginn in den 1960er Jahren hatte und zusammen mit dem Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften im Jahr 1973 dazu geführt hat, die Strukturen der alten ungeschrieben Verfassung
Zum Kampf New Labours gegen „social exclusion“ in den 1990er Jahren vgl. Goes: The Third Way and the politics of community, S. 116. Aughey stellte dies im Zusammenhang mit den Herausforderungen des schottischen und walisischen Nationalismus fest, vgl. Aughey: Nationalism, devolution and the challenge, S. 101. Bogdanor: The new British constitution, S. xi. Für eine Diskussion unterschiedlicher Urteile vgl. Aughey: Nationalism, devolution and the challenge, S. 99 – 100. Vgl. Dorey: Labour Party and constitutional reform, S. 1– 3. Vgl. ebd., S. 4, 12.
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des Vereinigten Königreichs grundlegend zu verändern.⁸⁷ Die Verfassungsreformen der Labour-Regierung umfassten viele Bereiche, neben der Einführung des Human Rights Act wurde beispielsweise auch das House of Lords reformiert. Im Folgenden soll es jedoch vor allem um die Einrichtung von Parlamenten in Schottland und Wales gehen. Diese stellen nicht nur den Kern der Reformbemühungen dar, sondern illustrieren auch zentrale Fragen bezüglich des Verhältnisses von Staat, Nation und Regierungssystem und lösten eine Debatte über die Zukunft britischer Identität in Politik und Presse aus. Die Labour-Regierung versuchte mit dem Projekt der Devolution als Teil von weiteren, weitreichenden Verfassungsreformen das Problem von schottischem und walisischem Nationalismus anzugehen, das von Politikern, Akademikern und Journalisten seit den 1960er Jahren erkannt worden war. Die gefundenen Lösungen – ein Parlament für Schottland und eine Assembly mit geringeren Befugnissen für Wales – hatten jedoch nicht nur weitreichende Folgen für das Staats- und Regierungssystem des Vereinigten Königreichs, sondern auch Auswirkungen auf die Debatte über die unterschiedlichen Zugehörigkeiten und Loyalitäten innerhalb des Vereinigten Königreichs. 1979 schien das Projekt der Devolution nach der Niederlage in den Referenden, die im März des Jahres in Schottland und Wales über die Devolutionsgesetzgebung abgehaltenen worden waren, und einem Misstrauensvotum gegen die Regierung James Callaghans von der politischen Bildfläche verschwunden. Dass das Projekt wieder aus der Versenkung hervortreten konnte, lag zunächst jedoch an der Politik Margaret Thatchers, die für die regionale Dimension des politischen Prozesses im Vereinigten Königreich nur wenig Verständnis hatte.⁸⁸ Zugleich legte die konservative Regierung im Umgang mit Schottland zunehmend weniger politisches Feingefühl an den Tag. Sichtbarstes und durchaus politisch schädlichstes Beispiel war die Einführung der „community charge“, der sogenannten „poll tax“, einer Kopfsteuer, die nicht mehr Immobilienbesitz als Besteuerungsgrundlage nahm, sondern die Zahl der Bewohner. Sie sah zwar Ermäßigungen für einkommensschwache Bürger vor, wurde aber aufgrund einer unzureichenden Staffelung nach sozialen Gesichtspunkten als unsozial verurteilt. Die Einführung der Steuer rief landesweit Proteste hervor, hatte aber besonders deutliche Auswirkungen in Schottland, in der die Steuer zu Testzwecken ein Jahr früher als in den anderen
Zum Verfassungskonsens der 1950er bis 1970er Jahre siehe Bogdanor: The new British constitution, S. xi; Anthony King: Who governs Britain?, London 2015, S. 3. So hielt Thatcher in ihren Memoiren über das Scottish Office fest: „The pride of the Scottish Office – whose very structure added a layer of bureaucracy, standing in the way of the reforms which were paying dividends in England – was that public expenditure per head in Scotland was far higher than in England.“ Thatcher: The Downing Street years, S. 619.
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Landesteilen eingeführt werden sollte. Das Vorgehen der Regierung rief in Schottland daher besondere Empörung hervor; der politische Nationalismus gewann im Zuge dessen wieder verstärkt an Zulauf.⁸⁹ Die SNP hatte nach dem Verlust von neun Unterhaussitzen in der Wahl 1979 eine Phase innerer Ausrichtungskämpfe durchlaufen und präsentierte sich Ende der 1980er Jahre als eine pro-europäische, zunehmend sozialdemokratische Partei. Die SNP hatte eine robuste Kampagne gegen die Kopfsteuer geführt und konnte in der Wahl 1992 zwar nicht die Anzahl der Sitze im Unterhaus vergrößern, die konstant bei drei blieb, aber den Anteil der schottischen Stimmen von 14 % auf 21,5 % erhöhen.⁹⁰ Damit kehrte auch Home Rule und das politische Projekt der Devolution wieder auf die politische Tagesordnung zurück. Besonders der Sieg der SNP in der Nachwahl des Unterhaussitzes für den Wahlbezirk Govan führte dazu, dass Devolution auch in der Labour Party wieder ernsthaft diskutiert wurde. Zum anderen ordnete sich das Projekt in die Reformdiskurse ein, die eine Neuordnung der Verfassung als wichtige Voraussetzung für das wirtschaftliche Fortkommen des Vereinigten Königreichs betrachteten. Das britische Staats- und Regierungssystem war seit den 1960er Jahren als modernisierungsbedürftig angesehen worden, einmal mehr, als Ende der 1960er Jahre und 1974 nationalistische Parteien in den Unterhauswahlen erfolgreich waren. Die zunehmend nahezu unlösbar wirkenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Vereinigten Königreichs lösten nicht nur eine Debatte unter Politikern, Akademikern und Journalisten über die richtige Wirtschaftspolitik aus, sondern auch darüber, ob die Institutionen, gar die Verfassung den Herausforderungen gewachsen seien.⁹¹ David Marquand und Will Hutton waren die vielleicht die einflussreichsten Kritiker der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, die die Wiederbelebung der britischen Wirtschaft unter anderem von der Reform der Verfassung abhängig machten. Marquand, Politologe und von 1966 bis 1977 MP der Labour Party, argumentierte 1988, dass das Westminster-Modell staatlicher Strukturen und Institutionen reformiert werden müsse, denn diese verlören offensichtlich zunehmend an Autorität.⁹² Hutton ging weiter und forderte eine schriftlich kodifizierte Verfassung, da die bisherige „halb moderne“ staatliche Verfassung im Zentrum der wirtschaft-
Zu den Auswirkungen der „Poll Tax“ auf die Zustimmungswerte für Devolution in Schottland und Wales siehe Bogdanor: The new British constitution, S. 91. Zur Erneuerungsbewegung der SNP in den 1980er Jahren vgl. Mitchell: Territorial politics and change in Britain, S. 242– 243. Siehe Howe: Internal Decolonization, S. 295; Bogdanor: The new British constitution, S. 4. Vgl. David Marquand: The unprincipled society. New demands and old politics, London 1988, S. 241.
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lichen und sozialen Probleme stehe.⁹³ Sie waren jedoch bei weitem nicht die einzigen Kritiker. In einem Debattenfeld, in der die meisten Kommentatoren dem linksliberalen Spektrum zuzuordnen waren, hatten sich vor allem in den 1970er Jahren auch konservative Kritiker geäußert. Der bekannteste war Quintin Hogg, Lord Hailsham, dessen Diagnose der „elective dictatorship“ 1978 eine durch das Mehrheitswahlsystem begünstigte Übermacht der Exekutive feststellte und zudem die Verschriftlichung der Verfassung angesichts der Einführung föderaler Strukturen in Wales, Schottland und Nordirland für notwendig erachtete.⁹⁴ Auch Lord Scarman, der den einflussreichen Bericht zu den Unruhen in Brixton von April 1981 verfasst hatte, schaltete sich 1992 in die Debatte ein und forderte eine schriftlich kodifizierte Verfassung zur Sicherung demokratischer Freiheitsrechte gegenüber potentieller Willkür von Regierungen – ein Einwand, der verdeutlicht, wie umstritten die verfassungsrechtliche Rolle der Regierung Margaret Thatchers nach 13 Jahren Regierungszeit war.⁹⁵ Der maßgeblichste Einfluss sollte jedoch von Charter 88 kommen. Die mehrheitlich aus linksliberalen und sozialdemokratischen Reihen stammende Kritik forderte in Abgrenzung zur konservativen Verfassungs- und Zentralisierungspolitik eine schriftlich kodifizierte Verfassung, eine „Bill of Rights“, die Einführung des Verhältniswahlrechts sowie die Abschaffung des Erblichkeitsprinzips im Oberhaus, Dezentralisierung, Informationsfreiheit, die Beschränkung der Exekutive und die Stärkung der Judikative sowie Devolution für Schottland und Wales. Die Kampagne von Charter 88 hatte maßgeblichen Einfluss auf die Labour Party, auch wenn nicht alle Forderungen umgesetzt wurden.⁹⁶ Innerhalb der Partei waren es vor allem Tony Blairs Vorgänger John Smith, der während der Regierung von Labour-Premierminister James Callaghan in den 1970er Jahren Staatssekretär für Devolution gewesen war, der spätere First Minister of Scotland
Vgl. Hutton: The state we’re in, S. xi–xii, 3, 25. Vgl. Lord Hailsham: The dilemma of democracy. Diagnosis and prescription, London 1978, S. 130 – 132, 139. Hogg hatte den von Giuseppe Garibaldi stammenden Begriff erstmals in der Richard Dimbleby Lecture von BBC im Jahr 1976 ausgeführt, aber bereits Ende der 1960er Jahre erstmals verwendet. Der konservative Politiker änderte seine Meinung allerdings nach seiner Amtszeit als Lord Chancellor, vgl. Lord Hailsham: On the constitution, London 1992. Siehe hierzu auch King: The British constitution, S. 87– 88; Martin Loughlin: The British constitution. A very short introduction, Oxford 2013, S. 2. Vgl. Scarman: Why Britain needs a written constitution, S. 317. Zum Reformprojekt von Charter 88 vgl. Howe: Internal Decolonization, S. 296 – 297; Michael Foley: The politics of the British constitution, Manchester 1999, S. 13; Christopher Moores: Civil liberties and human rights in Twentieth-century Britain, Cambridge 2017, S. 252; David Erdos: Charter 88 and the Constitutional Reform Movement. A Retrospective, in: Parliamentary Affairs 62/2009, S. 537– 551.
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Donald Dewar und der spätere Secretary of State for Wales, Ron Davies, die das Projekt der Devolution verfolgten.⁹⁷ Als Smith 1994 überraschenderweise verstarb, gab es schon Pläne zu Devolution in Schottland, wenn auch nicht für Wales: Pläne, deren Ausarbeitung Iain McLean zufolge Dewar und Davies überlassen wurde. Der neue Parteivorsitzende Blair galt als uninteressiert am Thema der Verfassungsreform und habe erst 1997 angefangen, sich mit dem Thema von Devolution zu befassen.⁹⁸ Letzten Endes erhielt das Vereinigte Königreich jedoch keine schriftlich kodifizierte Verfassung nach europäischem Vorbild. Mit dem Devolutionsprojekt der Labour Party setzten sich die etablierten verfassungsrechtlichen Debattentraditionen fort, die bereits in den 1970er Jahren sichtbar waren, wurden aber in einen größeren Reformkontext eingebettet.⁹⁹ Nach zwei erfolgreichen Referenden wurden durch den Scotland Act 1998 und den Government of Wales Act 1998 ein Parlament in Schottland und eine Assembly in Wales eingerichtet.¹⁰⁰ Auch Nordirlands Parlament wurde als Teil des Friedensprozesses durch den Northern Ireland Act 1998 wieder eingesetzt, nachdem es im Zuge des Nordirlandkonflikts 1972 außer Kraft gesetzt worden war: Devolution wurde hier als ein integraler Bestandteil des Friedensprozesses verstanden und war auch an ein erfolgreiches Referendum gebunden. Die jeweiligen Bestimmungen der verfassungsrechtlichen Änderungen unterschieden sich innerhalb der drei Fälle. Das Devolutionssystem blieb, wie schon in den Plänen der 1970er Jahre, asymmetrisch. Die Kompetenzen über Verfassung, internationale Beziehungen und Verteidigung, nationale Sicherheit, Einwanderung und Staatsbürgerschaft, Nuklearenergie, Rundfunk, das allgemeine Steuersystem, Arbeit und Sozialversicherung blieben dem Parlament in Westminster vorbehalten. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass die Zuständigkeit für die Bereiche des Gesundheits- und Sozialsystems, Aus- und Weiterbildung, Lokalverwaltung und Wohnungsbau, Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei,
Zu den Debatten über Devolution in den 1980er Jahren vgl. Peter Riddell: Labour’s conversion to constitutional reform, in: Andrew McDonald (Hrsg.): Reinventing Britain: constitutional change under New Labour, Berkeley 2007, S. 31– 54, hier S. 37– 39. Vgl. Iain McLean: The national question, in: Anthony Seldon (Hrsg.): Blair’s Britain, 1997– 2007, Cambridge 2007, S. 487– 508, hier S. 488, 491. Anthony führt dies darauf zurück, dass die Verfechter eines ganzheitlichen Reformansatzes es versäumt hätten, eine Koalition für ihre Reform zu bilden, während es Einzelthemen wie beispielsweise das der Devolution geschafft hätten, eine Basis zu bilden. Vgl. King: The British constitution, S. 89. Das politische Mittel des Referendums, in den 1970er Jahren noch eine Besonderheit, entwickelte sich unter New Labour zu einem vergleichsweise häufig verwendeten politischen Instrument. Siehe Bogdanor: The new British constitution, S. 7.
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Tourismus, Sport und Denkmalschutz, Wirtschaftsentwicklung und Transport im Allgemeinen auf die Institutionen der Landesteile übertragen wurden. Im Detail lassen sich jedoch deutliche Unterschiede erkennen: Das schottische Parlament kann beispielsweise über Strafrecht und Polizeiarbeit entscheiden und verfügt im Gegensatz zu Wales und Nordirland über beschränkte Steuerkompetenzen, während der Stormont in Belfast über die Prägung von Münzen entscheiden kann.¹⁰¹ Finanziert werden alle drei Institutionen mit einer Zuweisung aus Westminster, die zu weiten Teilen nach der sogenannten Barnett-Formel berechnet wird. Diese Konvention, die von Joel Barnett 1978 als kurzfristige Lösung entwickelt wurde, teilt die Zuwendungen aus Westminster nach Bevölkerungszahl der einzelnen Landesteile auf. Erhöht oder reduziert die britische Regierung das Budget für ein Ministerium, wird die Barnett-Formel angewandt, um die Zu- oder Abnahme der Zuweisungen in die jeweiligen Landesteile zu berechnen. Das System führte dazu, dass ohne zusätzliche Regierungszuweisungen Schottland die größten Zuwendungen erhält, auch wenn argumentiert werden könnte, dass Wales höhere Bedürftigkeitsraten hat.¹⁰² Angesichts der Reformen im britischen Verfassungssystem ergaben sich einige Streitpunkte in der britischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Innerhalb der Politikwissenschaft gewann die seit den späten 1970er Jahren laufende Debatte über den passenden Begriff für das Staatssystem des Vereinigten Königreichs an Boden. Zu diesem Zeitpunkt war darüber diskutiert worden, ob das Vereinigte Königreich als Zentral- oder Einheitsstaat (unitary state) bezeichnet werden könne, dessen Teile angesichts der Vormachtstellung des Parlaments in Westminster gleichbehandelt würden (so beispielsweise Vernon Bogdanor), oder ob aufgrund der institutionellen Unterschiede innerhalb der unterschiedlichen Territorien alternative Begriffe zutreffender seien.¹⁰³ So argumentierten die Politologen James Mitchell und Gerry Hassan, dass zur Charakterisierung des Verhältnisses des Vereinigten Königreichs zu seinen Teilnationen nach den Devolutionsgesetzen der aus der Staatsbildungs-
Zu den einzelnen Kompetenzen der Regionalparlamente und der Assembly in Wales vgl. Helen Holden: The UK devolved legislatures. Some comparisons between their powers and work, House of Commons standard note, SN/PC/04505 (London 9.11. 2007). Zur Barnett-Formel vgl. Colin Pilkington: Devolution in Britain today, Manchester 2002, S. 113 – 114. Vgl. hierzu auch Aileen McHarg und James Mitchell: Brexit and Scotland, in: The British Journal of Politics and International Relations 19/2017, S. 512– 526, hier S. 514; Christopher McCorkindale: Scotland and Brexit: The State of the Union and the Union State, in: King’s Law Journal 27/2016, S. 354– 365.
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theorie stammende Begriff des „union state“ nun besser geeignet sei.¹⁰⁴ Verfassungsexperte Vernon Bogdanor sprach hingegen davon, dass der Dezentralisierungsprozess das Vereinigte Königreich von einem Zentralstaat zu einem „quasifederal state“ verändert habe.¹⁰⁵ Der Kern der verfassungsrechtlichen Debatte jedoch lag wie in den 1970er Jahren in der Frage der parlamentarischen Souveränität. Grundsätzlich stellte sich auch hier wieder die Frage, in welcher Institution sie zu verorten sei, das heißt allein im Parlament in Westminster oder (auch) in den Regionalparlamenten. Darüber hinaus wurde diskutiert, ob sie teilbar sei oder nur als Ganzes in einer Institution liegen könne, das heißt dem in Westminster¹⁰⁶ praktizierten System der Crown-in-Parliament. Die Souveränitätsfrage hatte bereits die Debatte um die Einführung von Devolution seit den 1970er Jahren bestimmt. In den Gesetzesentwürfen der 1970er Jahre war die Souveränität von der Labour-Regierung gemäß der vor allem von A. V. Dicey kodifizierten Verfassungstradition noch fest im Parlament in Westminster verankert worden. Dieser Konsens war erstmals in den 1980er Jahren brüchig geworden: Ab dann hatten Forderungen nach Devolution auf der Basis einer schottischen Volkssouveränität medienwirksame Unterstützung von Politikern der Labour Party erlangt. Denn während der Gesetzesentwurf in den 1970er Jahren sich die Souveränität des Parlaments in Westminister zum Ausgangspunkt genommen hatte, forderte die von der parteiübergreifende Campaign for a Scottish Assembly eingesetzte Scottish Constitutional Convention eine schottische Regierung auf der Basis der Souveränität des schottischen Volkes: We, gathered as the Scottish Constitutional Convention, do hereby acknowledge the sovereign right of the Scottish people to determine the form of Government best suited to their needs, and do hereby declare and pledge that in all our actions and deliberations their interests shall be paramount.¹⁰⁷
Siehe Mitchell: Territorial politics and change in Britain, S. 230 – 235; James Mitchell: Devolution in the UK, Manchester 2009, S. 5 – 6; Hassan: Don’t mess with the missionary man, S. 92. Zur Vorstellung des „unitary state“ siehe auch King: Who governs Britain?, S. 5. Bogdanor: The new British constitution, S. 89. Das im britischen Verfassungsdenken besonders von A. V. Dicey verankerte Konzept der Crown-in-Parliament beschreibt die Rolle der Monarchie im legislativen Prozess, die vom Rat und der Zustimmung der beiden Kammern (die zusammen das Parlament bilden) abhängig ist. Vgl. David Feldman: Constitutional Conventions, in: Matt Qvortrup (Hrsg.): The British constitution. Continuity and change. A Festschrift for Vernon Bogdanor, Oxford 2013, S. 93 – 119, hier S. 93. Sarah Priddy: Claim of right for Scotland. House of Commons library pack, Number 2016 – 0158 (London, 2.9. 2016).
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Die Unterzeichnenden verpflichten sich unter anderem, die Einrichtung einer Versammlung oder eines Parlaments zu unterstützen. Zudem sollte das Verhältniswahlrecht eingeführt werden, erstmals im Gesetzesentwurf Labour zu Devolution 1987.¹⁰⁸ Mit John Smith unterzeichnete ein späterer Vorsitzender der Labour Party das Dokument und bereitete so den Weg für das Devolutionsprojekt innerhalb der Labour Party. In der schließlich von der Regierung Blair entworfenen Devolutionsgesetzgebung wurde die Souveränität jedoch wieder im Parlament in Westminster verankert, allerdings nicht ohne Diskussionen. In der Unterhausdebatte über den Scotland Act vom 28. Januar 1998 vertrat Tam Dalyell, der bereits in den 1970er Jahren durch die Formulierung der „West Lothian Question“ als Gegner von Devolution Profil gewonnen hatte, weiterhin die Position der unteilbaren Souveränität des Parlaments in Westminster: Let us pretend no longer that when the Bill becomes law, Westminster will remain sovereign; it will not. Westminster is – it is better to be very candid about this – effectively stripped of sovereignty. […] the integrity of the United Kingdom may not be possible, given this Bill. How can the House of Commons bestow legislative responsibility on another institution without diminishing its own powers.¹⁰⁹
Jim Wallace, Mitglied des Unterhauses für die 1988 aus der Liberal Party und Social Democratic Party fusionierten Liberal Democrats, vertrat hingegen die Vorstellung einer teilbaren Souveränität, die sich deutlich von der Dalyells unterschied: The proposition of Westminster’s sovereignty was very much an English one. The workings of Professor Dicey. […] I am prepared to concede that many people think that Westminster is sovereign, but we must deal with that reality – we cannot wish it away. It is obvious from comments such as those of the right hon. Gentleman that the notion of Westminster’s sovereignty is so ingrained that it is a political reality, which we must face. I do not believe that, as he claims, it has any legal substance, and I think that its political substance will diminish.¹¹⁰
Wallace vertrat hingegen die Position, dass Souveränität teilbar sei. Dies werde am Beispiel des europäischen Integrationsprozesses deutlich – ein Faktor, der der Debatte um die Rolle der EU in der britischen Politik zehn Jahre später deutlich vorgriff.¹¹¹
Vgl. Mitchell: Territorial politics and change in Britain, S. 245. Tam Dalyell: The Scottish parliament. Hansard, HC Deb 28 January 1998 vol 305 cc366. Jim Wallace: The Scottish parliament. Hansard, HC Deb 28 January 1998 vol 305 cc368 – 369. Jim Wallace: The Scottish parliament. Hansard, HC Deb 28 January 1998 vol 305 cc370.
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Schottischer und walisischer Nationalismus, Englishness und der „Break-up of Britain“ Labours Versuche, auf Nationsbewusstsein basierenden Forderungen nach Selbstverwaltung politisch entgegenzukommen, verdeutlichten nicht nur die politischen und institutionellen Traditionen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die Anstrengungen der Regierung speisten sich auch aus der Sorge, das Vereinigte Königreich könne, falls diesen Forderungen nicht bis zu einem gewissen Grad entsprochen würde, politisch auseinanderbrechen. Ironischerweise war die Sorge vor dem „Break-up of Britain“ jedoch nicht nur der Ausgangspunkt, sondern auch das Resultat der Maßnahmen: Denn diese hatten zur Folge, dass in Politik und Medien nun verstärkt über Großbritannien als Nation sowie den Platz von England und Schottland, verhaltener auch von Wales und Nordirland innerhalb des Vereinigten Königreichs diskutiert wurde. Im Vergleich zu den 1970er und 1980er Jahren wurde die Debatte nun von einer größeren Anzahl von Kommentatoren, Politikern, Historikern und Sozialwissenschaftlern aufgegriffen. Im Kern standen vor allem die politischen Folgen, die die Einführung von Regionalparlamenten in Schottland und Wales nach sich ziehen könnte: Während die Labour Party die Position vertrat, dass Devolution die separaten Nationalismen eindämmen und damit das Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs verhindern werde, sahen Gegner darin einen ersten Schritt zur Unabhängigkeit von Schottland und Wales.¹¹² Der Liberaldemokrat Jim Wallace gehörte definitiv zum ersten Lager. In der Unterhausdebatte über den Scotland Act vom 28. Januar 1998 führte er aus: „[T]he swiftest road to breaking up the United Kingdom would have been to deny the people of Scotland the legitimate aspirations that they have expressed time and again for more say over our domestic agenda.“¹¹³ Noel Dolan, schottischer Journalist mit Verbindungen zur SNP, prophezeite hingegen 1998 im in Glasgow erscheinenden Herald das Ende von Britishness durch die von Labour eingeschlagenen Verfassungsreformen: The constitutional changes which the present Government has set in train, particularly the creation of a Scottish Parliament, will hasten the demise of Britishness. As Scots look more towards their own Parliament, it will merely enhance the already blossoming sense of a separate Scottish identity and make Britishness seem a mere construct out of place and out of date.¹¹⁴
Vgl. Aughey: What is Britain for; Bogdanor: The new British constitution, S. 94. Wallace: The Scottish parliament. Hansard, HC Deb 28 January 1998 vol 305 cc368. Dolan stützte seine These auf Umfragewerte, die Labour und die SNP vor den Wahlen des schottischen Parlaments im August 1997 mit 39 % und 38 % Zustimmung ein Kopf an Kopf-Rennen prophezeiten – Zahlen, an die die SNP in den Wahlen 1999 mit 28,7 % nicht heranreichen
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Hinter dieser Auseinandersetzung stand die größere Frage, in welchem Verhältnis nationale Identitäten zu den Institutionen und Regierungssystem des Vereinigten Königreich standen und wie sie sich angesichts der grundlegenden Veränderungen in diesem System entwickeln würden. Noch 2005 resümierte der Journalist Mario Basini in der walisischen Western Mail, dass innerhalb der Nationalitäten des Vereinigten Königreichs nicht weniger als ein „seismic shift in the balance of power“ ablaufe. Dies zeige sich anhand der Debatte um „Britishness“ sowie anhand des Selbstbewusstseins, das Waliser, Schotten und Iren in ihre Identitäten legten.¹¹⁵ Dahinter stand die Grundannahme, dass es eine Verbindung zwischen Identität, Wahlverhalten und damit dem Erfolg separatistischer Parteien gebe: Eine starke britische Identität garantiere das Fortbestehen der Union, erstarkende schottische oder walisische Identitäten hingegen gefährdeten den Zusammenhalt der Union. Nationale Identität wurde damit zu einem potentiellen politischen Problem, das von Wissenschaftlern analysiert, von Politikern angegangen und in der Populärkultur verhandelt wurde. Die Meinungsforschung spielte eine zentrale Rolle in der Untersuchung und Beobachtung nationaler Identitäten: Die Vermessung der angenommenen Veränderung von Identitäten wurde zu einem Thema, das durch eine zunehmende Anzahl an Umfragen erfasst werden sollte. In diesem Zusammenhang war die seit 1983 von der gemeinnützigen Organisation National Centre Social Research durchgeführte British Social Attitudes Survey (BSA) zentral. In den Interviews, die jährlich mit inzwischen rund 3300 Haushalten geführt werden, wurden neben Themen wie Zeitungslektüre, Vertrauen in politische Parteien, öffentliche Ausgaben, Sozialleistungen, Arbeitsumgebung, Bildung oder Transport auch die Einstellung der Bevölkerung zur Devolution und die Bedeutung nationaler Identitäten untersucht. Seit 1999 wurde als separates Projekt vom National Centre Social Research auch die Scottish Social Attitudes Survey durchgeführt. Die Auswirkungen der Verfassungsänderungen auf die unterschiedlichen „nationalen Identitäten“ im Vereinigten Königreich, vor allem aber auf die englische, interessierte die Forscher seit den späten 1990er Jahren. Mithilfe unterschiedlicher Verfahren wurde versucht, nationale Identität zu objektivieren.¹¹⁶ Bekanntestes Beispiel und fester Bestandteil der BSA ist in dieser Hinsicht wohl die MorenoFrage: Diese Frage nach Selbstidentifikation durch die Hierarchisierung von
konnte, während Labour bei 38,8 % blieb. Vgl. Noel Dolan: Demise of the nation as a whole, The Herald (Glasgow), 23. 5. 1998, S. 15. Mario Basini: Being British swings both ways, The Western Mail, 3.12. 2005, S. 26. Für ein Anwendungsbeispiel vgl. Richard Kiely, Frank Bechhofer, Robert Stewart und David McCrone: The markers and rules of Scottish national identity, in: The Sociological Review 49/2001, S. 33 – 55.
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Identitäten wurde im Jahr 1986 von dem spanischen Sozialwissenschaftler Luis Moreno im Rahmen seiner Doktorarbeit eingeführt. Bei der sogenannten MorenoFrage werden Personen darum gebeten, ihre Identitäten in eine hierarchische Reihenfolge zu bringen. Im Fall von Schottland, für das Moreno seine Frage ursprünglich entwickelt hatte, bestand die Auswahl aus folgenden Kategorien: schottisch, nicht britisch; mehr schottisch als britisch, gleichermaßen schottisch und britisch, mehr britisch als schottisch; britisch, nicht schottisch. Die Ergebnisse dieser quantitativen Untersuchungen können zwar zwischen Identitäten nuancieren. Sie sind aber dadurch, dass sie das Ergebnis durch die Auswahlmöglichkeiten vorgeben, notwendigerweise schematisch und sagen weniger über die Charakteristika und Eigenschaften aus, die mit den Identitäten jeweils verbunden werden. In der British Social Attitudes Survey wurden sie daher mit Entscheidungsfragen und zum Teil mit qualitativen Interviews ergänzt.¹¹⁷ In Nordirland wurde nach Identität mit anderen Begriffen gefragt; beispielsweise fragte die Northern Ireland Life and Times Survey, ob sich die nordirische Bevölkerung England und den Engländern oder Irland und den Iren verbunden fühlte.¹¹⁸ Aber auch Historiker und Sozialwissenschaftler untersuchten nun verstärkt die Genese und Entwicklung von Scottishness, Welshness und Irishness, die nun vermehrt als eigenständige Begriffe verwendet wurden. Die unterschiedlichen Landesteile des Vereinigten Königreichs waren – aufschlussreicherweise – in den frühen Publikationen über die historische Entwicklung von Britishness abwesend gewesen. Sowohl Linda Colley als auch Keith Robbins definierten Irland aus ihren Analysen heraus und schrieben damit die schon in der Home Rule-Debatte und Devolutionsfrage deutlich werdenden und im Kern aus dem 19. Jahrhunderts stammenden Diskurse kultureller Alterisierung fort.¹¹⁹ Colley bezog sich dabei auf die These, dass Iren schon aus religiösen Gründen niemals in einem solchen Ausmaß Anteil an der britischen nationalen Identität gehabt hätten¹²⁰, während Robbins das Fehlen
Diesen Ansatz wählte beispielsweise Lindsay Paterson, der sich in der Untersuchung der Frage, welchen Auswirkungen Devolution in den 1990er Jahren auf schottische Identität hatte, auf die British Social Attitudes Survey bezog. Vgl. Lindsay Paterson, Alice Brown, John Curtice, Kerstin Hinds, David McCrone, Alison Park, Kelly Sproston und Paula Surridge: New Scotland, new politics?, Edinburgh 2001, S. 4. Die Northern Ireland Life and Times Survey löste in den frühen 2000er Jahren die Northern Ireland Social Attitudes (NISA) ab. Zur Auswertung vgl. Katrina Lloyd, Paula Devine, Ann Marie Gray und Deirdre Heenan: Introduction, in: Katrina Lloyd, Paula Devine, Ann Marie Gray und Deirdre Heenan (Hrsg.): Social attitudes in Northern Ireland. The ninth report, London/Sterling, VA 2004, S. 1– 4, hier S. 1. Vgl. hierzu Kapitel II.2. Vgl. hierzu schon Colley: Britishness and Otherness, S. 314. Da die gemeinschaftsbildende Erfahrung des Protestantismus einen wichtigen Baustein in Colleys These bildet, erscheint diese
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Nordirlands in seiner Analyse mit der kulturellen Andersartigkeit seiner Bewohner begründete.¹²¹ Der in den 1990er Jahren wieder in Fahrt gekommene Friedensprozess und das Nachdenken über die unterschiedlichen nationalen Identitäten im Zuge der Verfassungsreformen der Regierung Tony Blairs führten dazu, dass neben Irishness auch Scottishness und Welshness in ihrem Verhältnis zu Großbritannien in den Fokus von Geschichts- und Sozialwissenschaftlern rückte.¹²² Schottische und walisische nationale Identität wurde häufig zusammen mit dem politischen Nationalismus der Landesteile betrachtet und reflektierte damit einen neuen Trend in der Nationalismusforschung.¹²³ Dies war jedoch nicht unbedingt unproblematisch: Denn nun stellte sich verstärkt die Frage, wie entsprechende Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts inhaltlich gestaltet werden sollten, ohne dabei in Stereotype oder Allgemeinplätze zu verfallen. Der Historiker Murray Pittock bemängelte im Jahr 2001 beispielsweise, dass schottische Identität an der Jahrtausendwende zwar passioniert, jedoch unscharf sei. Es mangele an öffentlichem Interesse an der Vergangenheit und dem Willen, Scottishness kreativ neu zu interpretieren; anstelle dessen werde bedeutungsloser Populismus verfolgt. Die Sektion zum 20. Jahrhundert im Museum of Scotland zeige dies: A jumble of contemporary items chosen by celebrities (including a Saab convertible!) do not symbolize ‚Scotland‘ any more or less than they would ‚Coventry‘: and if there is no ‚Scotland‘ to imagine or interpret, why have an iconic ‚museum‘ of this non-existent ‚it‘
Auslassung aus der Argumentationslogik heraus sinnvoll. Doch wurde eben jene Aussage der „protestant nation“ in den Rezensionen kritisiert. Wer davon nicht überzeugt war, bemängelte das Fehlen von Irland im Buch. Vgl. Steven Pincus: Review. Britons. Forging the nation, 1707– 1837 by Linda Colley, in: JModH 67/1995, S. 132– 136, hier S. 134; Eliga H. Gould: Review. Britons. Forging the nation, 1707– 1837 by Linda Colley, in: The William and Mary Quarterly 50/1993, S. 822– 825, hier S. 824; Marc Baer: Review. Britons. Forging the nation, 1707– 1837 by Linda Colley, in: AHR 98/ 1993, S. 119 – 121; Trevor Lloyd: Review. Britons. Forging the nation, 1707– 1837 by Linda Colley, in: Eighteenth-Century Studies 29/1995, S. 118 – 119, hier S. 118. „[A]lthough there remains an Irish dimension (of a kind) within the United Kingdom and a British identity (of a kind) within Northern Ireland, the island of Ireland did not become ‚West Britain‘. Our concern is therefore with the blending of ‚the English‘, ‚the Scots‘, and ‚the Welsh‘ to produce ‚the British‘.“ Das Verhältnis von Irland zu Großbritannien verlange dagegen nach einem eigenen Buch. Robbins: Nineteenth-century Britain, S. 2. Vgl. hierzu beispielsweise Peter Gray (Hrsg.): Victoria’s Ireland? Irishness and Britishness, 1837– 1901, Dublin 2004; Brocklehurst und Phillips (Hrsg.): History. Ein Vorläufer dieser Geschichtsschreibung war das 1986 publizierte „When was Wales?“ von Gwyn A. Williams, das jedoch noch einen „harten“ Identitätsbegriff anlegte. Vgl. Williams: When was Wales. Vgl. David McCrone: Understanding Scotland. The sociology of a stateless nation, London 1992; Murray Pittock: Scottish nationality, Houndmills, Basingstoke 2001; Murray Pittock: Celtic identity and the British image, Manchester 1999.
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at all? Poor levels of cultural intellectualization and a lack of confidence in Scotland the brand are, if not ubiquitous, still widely evident north of the Border.¹²⁴
Dennoch gab es durchaus Angebote von Scottishness, die sich auf unterschiedliche kulturelle Stereotype beriefen und sich dabei gerade in Abgrenzung von England definierten: Dies verdeutlichen zwei Filme, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die Hollywoodproduktion Braveheart (1995) und Danny Boyle’s Trainspotting (1996). In Braveheart, der Dramatisierung des Lebens des schottischen Nationalhelden William Wallace, sind die Rollen klar verteilt, die Authentizität der Schotten wird mit der Inauthentizität der Engländer kontrastiert. Der Scotsman kritisierte dementsprechend die Dämonisierung aller Engländer, denn „every Englishman is either completely evil or homosexual, and speaks with a Home Counties accent […] Scots are all kindly, rough hewn souls, mixing courage and humor.“¹²⁵ Das positiv gedeutete Stereotyp des gutmütigen Raufbolds wurde nicht zuletzt dadurch, dass die SNP den Film guthieß, auf eine national-politische Ebene gehoben.¹²⁶ In Filmdrama Trainspotting, das sich um das Leben einer von Heroin abhängigen Clique in Edinburgh dreht, handelte es sich um die Verfilmung des zum Teil im schottischen Dialekt verfassten Romans Irvine Welshs von 1993. Das Verhältnis von Schottland zu England wurde auch hier direkt thematisiert und das Kolonisierungsnarrativ Schottlands aufgegriffen, das sich seit den 1970er Jahren an Popularität erfreute.¹²⁷ Renton, Protagonist und Teil der Edinburgher Gruppe, liefert seine Schmährede auf Schottland ironischerweise vor dem Hintergrund einer Berglandschaft, einem Sinnbild traditioneller Scottishness¹²⁸: It’s shite being Scottish! We’re the lowest of the low. The scum of the fucking Earth! The most wretched, miserable, servile, pathetic trash that was ever shat into civilization. Some people hate the English. I don’t. They’re just wankers. We, on the other hand, are
Pittock: Scottish nationality, S. 13. Ewen MacAskill: No Oscar for SNP over Braveheart, Scotsman, 12.9.1995, S. 11. Vgl. hierzu auch Tim Edensor: National identity, popular culture and everyday life, Oxford 2002, S. 153– 154; Tim Edensor: Reading Braveheart. Representing and contesting Scottish identity, in: Scottish Affairs, 21/1997, S. 135 – 158. Silke Meyer: Heldenmythen. Inszenierung von Geschichte im Spielfilm, in: Andreas Hartmann, Silke Meyer und Ruth Mohrmann (Hrsg.): Historizität.Vom Umgang mit Geschichte, Münster 2007, S. 69 – 84, hier S. 77. Vgl. Kapitel II.2. Interessanterweise wurde Trainspotting international als britischer Film beworben. Er gilt inzwischen aber pikanterweise als Grundstein einer wiederbelebten britischen Filmindustrie und wird zugleich als genresetzend für das „New Scottish Cinema“ der 1990er Jahre betrachtet. Vgl. Sarah Street: New Scottish cinema as trans-national cinema, in: Jonathan Murray, Fidelma Farley und Rod Stoneman (Hrsg.): Scottish cinema now, Newcastle 2009, S. 139 – 152, hier S. 140.
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colonized by wankers. Can’t even find a decent culture to be colonized by. We’re ruled by effete assholes. It’s a shite state of affairs to be in, Tommy, and all the fresh air in the world won’t make any fucking difference!¹²⁹
Auch walisische Identität nahm verstärkt Einzug in die britische Populärkultur, wenn auch weniger prominent: Bands wie die Manic Street Preachers und Stereophonics betonten ihre Herkunft und kulturelle Prägung in Auftreten und Interviews; die Gruppe Catatonia sang 1998 in einem mehrheitlich auf walisisch gesungenen Lied „everyday when I wake up I thank the Lord I’m Welsh“.¹³⁰ Galt walisische Identität oft als provinziell und nicht als unmittelbare Gefahr für die Einheit des britischen Staates und zog dementsprechend weniger öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, weckte die Entwicklung englischer Identität besonderes Interesse in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu Britishness, das als betont offen und vielschichtig, und Scottishness, das betont als zivilgesellschaftlich reimaginiert wurde, wurde Englishness in der Ansicht vieler Kommentatoren dadurch gekennzeichnet, dass sie nur unzureichend ausgeprägt sei.¹³¹ Diese Unbestimmtheit englischer Identität wurde in Zeiten, in der die vorgestellten Eigenschaften Großbritanniens und der übrigen Teilnationen des Vereinigten Königreichs, allen voran Schottlands, zunehmend zum Thema wurden, als Defizit betrachtet. Nick Hornby beschrieb beispielsweise 1992 die Inhaltsleere von Englishness: Wir weißen Südengländer aus der Mittelschicht sind die wurzellosesten Kreaturen auf diesem Planeten; wir wären lieber Teil irgendeiner anderen Gemeinschaft, egal welcher. Leute aus Yorkshire, aus Lancashire, aus Schottland, aus Irland, Reiche, Arme, sogar Amerikaner oder Australier haben etwas gemeinsam, worüber sie in Pubs oder Bars heulen können […] wir aber haben nichts, jedenfalls nicht das, was wir wollen.¹³²
Die Vorstellung, englische Identität sei unterdefiniert, gar abwesend, ist jedoch eine jüngere Sichtweise: Peter Mandler hat darauf hingewiesen, dass diese kollektive Amnesie Perioden angestrengter Introspektion über den englischen Nationalcharakter in den letzten 200 Jahren vergesse.¹³³ Wissenschaftlich wurde
Danny Boyle: Trainspotting, Channel Four Films (1996). Catatonia: International Velvet, in: International Velvet, Blanco y Negro (1998). Vgl. auch Ward: Britishness since 1870, S. 156. Vgl. hierzu beispielsweise Ben Wellings: English nationalism and euroscepticism. Losing the peace, Oxford 2012, S. 11. Nick Hornby: Fever Pitch. Ballfieber – Die Geschichte eines Fans, Köln 2015 [1992], S. 69. Vgl. Mandler: The English national character, S. 229.
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dieses Narrativ besonders durch Tom Nairn geprägt, dessen 1977 publizierte Analyse „The break-up of Britain: crisis and neo-nationalism“ englischen Nationalismus als defizitär und damit letzten Endes als Bedrohung des Einheit des Vereinigten Königreichs deutete.¹³⁴ Vor allem in linksliberalen Kreisen und auch innerhalb der Labour Party bestand in Anlehnung an Nairn die Sorge, dass sich englische Identität, wenn sie sich denn entwickele, als ethnisch exklusiv und potentiell fremdenfeindlich entpuppen würde. Englischer Nationalismus wurde gegen Ende der 1990er Jahre vor allem mit Fußball – die in England ausgetragene Europameisterschaft 1996 hatte den Absatz der St. Georgs-Flagge vervielfacht – und Euroskeptizismus in Verbindung gesetzt.¹³⁵ Gerade Euroskeptizismus wurde seit den 1990er Jahren nicht nur zunehmend als konservative, sondern auch dezidiert als englische Position betrachtet. Zunächst hatte vor allem die Labour Party dem europäischen Projekt kritisch gegenübergestanden; das Referendum, das 1975 von LabourPremierminister Harold Wilson über den Verbleib in der EU angesetzt (und gewonnen) wurde, hatte nicht zuletzt auch das Ziel gehabt, die Einheit der über das Europa-Thema zerstrittenen Partei wiederherzustellen.¹³⁶ Seit den späten 1980er und frühen 1990er Jahren änderte sich sowohl innerhalb der Konservativen als auch innerhalb der Labour Party die Haltung zu Europa: Während Labour sich Europa annäherte, distanzierten sich die Konservativen zunehmend vom europäischen Einigungsprozess. Dies hatte nicht nur eine programmatische Veränderung zur Folge, sondern fiel auch mit größeren Verschiebungen innerhalb der britischen Parteienlandschaft zusammen: SNP und Plaid Cymru traten spätestens seit den 1980er Jahren als pro-europäische Kräfte auf und auch die Labour Party gerierte sich nicht zuletzt unter Tony Blair als dezidiert pro-europäisch, obgleich auch Blair die Integrität des britischen Nationalstaates mehrfach betonte.¹³⁷ Dieser Trend wurde dadurch verstärkt, dass die Conservative Party zunehmend an Sitzen in Schottland und Wales verlor¹³⁸: Hatten die schottischen Konservativen
Vgl. Kenny: The politics of English nationhood, S. 52– 56; Michael Kenny: The Return of ‚Englishness‘ in British Political Culture – The End of the Unions?, in: JCMS: Journal of Common Market Studies 53/2015, S. 35 – 51, hier S. 39. Zur Bedeutung der EM 1996 für die Entwicklung von englischer Identität vgl. Kenny: The politics of English nationhood, S. 42. Vgl. Robert Saunders: Yes to Europe! The 1975 referendum and seventies Britain, Cambridge 2018, S. 2. Vgl. hierzu auch Anthony Barnett: This time. Our constitutional revolution, London 1997, S. 292. Dieser Nexus von Euroskeptizismus, Konservatismus und englischem Nationalismus ist von Ben Wellings, und darauf aufbauend, Michael Kenny herausgearbeitet worden. Vgl. Kenny: The politics of English nationhood; Kenny: The Return of ‚Englishness‘; Wellings: English nationalism.
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1992 noch elf von 72 möglichen Sitzen erreicht, gewannen sie keinen in der Unterhauswahl 1997 und zwischen 2001 und 2015 nur jeweils einen Sitz.¹³⁹ Margaret Thatcher im Besonderen wird eine grundlegende Rolle in der Entwicklung von konservativem Euroskeptizismus zugesprochen, der wiederum eng an das Thema staatlicher Souveränität geknüpft war. Nachdem die finanziellen Anliegen der britischen Regierung 1984 in einen Rabatt der Beitragszahlungen (dem sogenannten „Britenrabatt“) beigelegt wurden, hatte die Premierministerin mit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) eine bis dahin unvorhergesehene Ausweitung der Kompetenzen der EG unterzeichnet; dabei wurden wohl auch die europapolitischen Ziele der konservativen Regierung erreicht.¹⁴⁰ Eine weitere Einschränkung staatlicher Souveränität lehnte sie ab. Zentral war in diesem Zusammenhang ihre Rede vor dem Europakolleg in Brügge im Jahr 1988: willing and active cooperation between independent sovereign states is the best way to build a successful European Community. To try to suppress nationhood and concentrate power at the centre of a European conglomerate would be highly damaging and would jeopardise the objectives we seek to achieve. […] We have not successfully rolled back the frontiers of the state in Britain, only to see them re-imposed at a European level with a European super-state exercising a new dominance from Brussels. Certainly we want to see Europe more united and with a greater sense of common purpose. But it must be in a way which preserves the different traditions, parliamentary powers and sense of national pride in one’s own country; for these have been the source of Europe’s vitality through the centuries.¹⁴¹
Das Verhältnis der Konservativen zur EG wurde fortan zu einem Streitthema innerhalb der Partei, das nicht nur Thatcher isolieren, sondern auch ihren Nachfolger John Major zahlreiche innenpolitische Schwierigkeiten bereiten sollte. Der am 7. Februar 1992 unterzeichnete Vertrag von Maastricht stellte in dieser Hinsicht einen wichtigen Wendepunkt dar. Zwar hatte sich die konservative Regierung in den Verhandlungen in Bezug auf Fragen der Sozialpolitik (die Sozialcharta wurde nicht Teil des offiziellen Vertrags) und der Währungsunion (das Vereinigte Königreich wurde nicht automatisch Mitglied) durchsetzen können. Dennoch entwickelte sich die letztliche Ratifizierung des Vertrags zu einem innerparteilich
2017 erreichten die Konservativen jedoch wieder 13 von nunmehr 59 möglichen Sitzen; die Zahl der schottischen Wahlkreise war zur Wahl 2005 von 72 auf 59 verringert worden. Vgl. Michael Melcher: Awkwardness and reliability. Die britische Europapolitik von 1997 bis 2013, Marburg 2014, S. 115 – 116. Margaret Thatcher: Speech to the College of Europe, Thatcher Archive, Churchill Archive Centre, Cambridge, https://www.margaretthatcher.org/document/107332, 20.9.1988.
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heftig umkämpften Thema, in dem Vorstellungen staatlicher Souveränität inhaltlich eng an politischen Euroskeptizismus gekoppelt wurden. Die Auseinandersetzung um den Maastricht-Vertrag bildete damit eine Blaupause für die durch die 1990er und 2000er Jahre andauernden konservativen Auseinandersetzungen. Auch der Begriff des „Euroskeptizismus“ stammte aus diesem Debattenkontext; er wurde 1992 auf den Seiten des Economist geprägt.¹⁴² In diesen Debatten wurde ein grundlegender Kontrast zwischen dem „Kontinent“ und der vorgestellten nationalen Gemeinschaft vorausgesetzt – auch wenn in vielen Publikationen bezeichnenderweise nur bedingt zwischen „britisch“ und „englisch“ unterschieden wurde. Der Journalist Peter Hitchens hielt beispielsweise 1999 fest: From its attitudes to sex and marriage to its literature and its coinage, its food and the shape of its cities, Britain had chosen different solutions from those favored across the Channel and beyond the Rhine, ones which were more individual and self-reliant, which depended more upon individual conscience and liberty, and less upon imposed authority.¹⁴³
Der in der konservativen Partei, aber auch in Medien ablesbare Euroskeptizismus speiste sich jedoch auch aus längerfristigen kulturellen Bildern. Menno Spiering betont beispielsweise, dass sich der Euroskeptizismus zuletzt durch die Weltkriege entwickelt habe, aber auch durch religiöse Unterschiede zum imaginierten „katholischen“ Europa und der Vorstellung, auf einer kulturell homogenen, vom europäischen Kontinent separaten Insel zu leben, historisch bedingt sei.¹⁴⁴ Neben der Definition ex negativo durch Abgrenzung von Europa dienten besonders nostalgische Bilder zur Vermittlung eines positiven konservativen Selbstbilds von Englishness. Seine Eigenschaften wurden oft in Form von Listen weitergegeben, in der die Landschaft symbolisch aufgeladen wurde.¹⁴⁵ Am bekanntesten war die George Orwells, der 1941 englische Kultur mit „solid breakfasts and gloomy Sundays, small towns and winding roads, green fields and red pillar boxes“ umschrieben hatte, während John Betjeman „the Church of England, eccentric incumbents, oil-lit churches, Women’s Institutes, modest village inns, arguments about cow parsley on the altar, the noise of mowing machines on Saturday afternoon, local newspapers, local auctions, the poetry of Tennyson,
Obgleich die Bezeichnung „eurosceptic“ bereits 1990 verwendet wurde, vgl. Changing tracks with Mr Major, Economist, 8.12.1990, S. 29. Hitchens: The abolition of Britain, S. 313 – 314. Menno Spiering: A cultural history of British Euroscepticism, Houndmills, Basingstoke 2015. Zur Bedeutung von Listen als Ausdruck kultureller Englishness vgl. Kenny: The politics of English nationhood, S. 9 – 10.
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Crabbe, Hardy and Matthew Arnold“ nannte.¹⁴⁶ Diese Form nostalgischer Englishness war auch politisch: So verwendete beispielsweise die konservative Countryside Alliance seit Ende der 1990er Jahre die Vorstellungen ländlicher Idylle in ihrer Kampagne gegen das Verbot von Fuchsjagden, mit der urbanen und global denkenden Labour Regierung als Feindbild.¹⁴⁷ Roger Scruton, konservativer Philosoph und selber passionierter Jäger, vertrat diese Form nostalgischer, auf die englische Landschaft zentrierte Englishness: „when war or other crises forces the english into consciousness of their historic ties, it was the country that was the object of their intensest feelings of community.“¹⁴⁸ Seit den späten 1990er Jahren erschienen eine Reihe populärer Monographien, die sich der Identität Englands in einer realen oder imaginären Entdeckungsreise zu nähern versuchten, allen voran Jeremy Paxmans „The English“ (1999).¹⁴⁹ Während der Historiker Michael Wood in seinem „In search of England“ in das frühe Mittelalter zurückging, um aus der Geschichte die englische Identität über nationale Mythen zu erläutern, wählte Kate Fox in „Watching the English“ einen populäranthropologische Ansatz, um sich der englischen Identität zu nähern. Fox kam zu dem Schluss, dass im Kern von Englishness eine Tendenz zur Klage, ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein sowie ein Unwohlsein in sozialen Situationen stünden.¹⁵⁰ Das Narrativ des Niedergangs nationaler Identität durchzog einen Teil dieser Werke – nur war es dieses Mal die englische Identität, die durch eine übergreifende britische bedroht schien.¹⁵¹ Auch wissenschaftlich rückte die Erforschung englischer Identität in das Interesse von Historikern und Sozialwissenschaftlern. Bis in die frühen 1990er waren nur zwei einschlägige Bücher veröffentlicht worden: Gerald Newman hatte 1987 für Aufsehen gesorgt, als er in einer Zeit, in der England zunehmend nicht mehr mit Großbritannien gleichgesetzt wurde, den Zeitraum nach 1740 als eine Periode des spezifisch englischen Nationalismus betrachtete.¹⁵² Der von Robert
Vgl. ebd. Kenny: The Return of ‚Englishness‘, S. 41– 42. Roger Scruton: England. An elegy, London 2000, S. 234. Jeremy Paxman: The English. A portrait of a people, London 1999. Vgl. Kate Fox: Watching the English. The hidden rules of English behaviour, London 2004; Michael Wood: In search of England. Journeys into the English past, London 1999.Vgl. auch Julian Barnes: England, England, London 1998. Vgl. hierzu auch John Cook: Relocating Britishness and the break-up of Britain, in: Stephen Caunce, Ewa Mazierska, Susan Sydney-Smith und John K. Walton (Hrsg.): Relocating Britishness, Manchester 2004, S. 17– 37, hier S. 18. Vgl. Gerald Newman: The rise of English nationalism. A cultural history, 1740 – 1830, überarbeitete Aufl., Basingstoke 1997. Allerdings wurde Newman dafür kritisiert, eben nicht zwischen
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Colls und Philip Dodd im Jahr 1986 herausgegebene Sammelband „Englishness: politics and culture 1880 – 1920“, widmete sich in einer Reihe von Beiträgen der Konstruktion von Englishness und schrieb explizit gegen das Narrativ eines Mangels englischer Identität an.¹⁵³ In den 1990er Jahren rückte regionale Diversität zunehmend in das Zentrum des Interesses. Philip Dodd betonte beispielsweise 1995, dass es keine „reine“ englische Identität gebe; auch ethnisch stelle sie das Produkt vieler unterschiedlicher Einflüsse dar: Zum einen sei mit der Artikulation von Identitäten immer auch eine Abgrenzung gegen das andere verbunden. Zum anderen gebe es deutliche regionale Unterschiede mit jeweils eigenen kulturellen Lesarten. Besonders der Norden Englands steche heraus: And, in any case, as we northerners are wont to say; which Northernness are we to choose? Is it the Northernness captured in the ‚gritty films‘ of the 60s, the outcome of a miscegenated relationship between northern scholarship boys and gay southern filmmakers? Or the north of historians such as EP Thompson who have sung of its radical settledness? Or is it the northernness that broke into visibility in the early 60s, as Thompson published his book, a northernness with an appetite for the new, nourished both by the music scene for which the Beatles will do as shorthand and by the dirty dealings of John Poulson and T Dan Smith who imagined a new Newcastle?¹⁵⁴
Wird Englishness in diesem Publikationen zum Gegenstand der Analyse, so erschienen ab Mitte der 2000er erste Monographien, die gerade dieses wissenschaftliche und öffentliche Interesse an englischer Identität zu erklären versuchten.¹⁵⁵ Diese Publikationen setzen nicht nur dazu an, die durch die „englische Frage“ deutlich gewordenen Asymmetrien im Regierungssystem zu erklären, sondern zeigen auch, wie nationale Identitäten eng mit politischen Strukturen verbunden waren. So argumentierte Robert Colls knapp 15 Jahre nach dem ursprünglichen Sammelband zu Englishness in seiner Monographie „Identity of England“: The state was British and dominated by England, but the Scots, Welsh, and Irish were not over-much expected to convert into English or even into something synthetic called British […] The English sought Union for reasons of security, the Scots for economic advantage,
englischem und britischem Nationalismus zu unterscheiden. Zur Rezeption von Gerald Newmans Monographie vgl. Hardwick: Historians and ‚Britishness‘. Vgl. Robert Colls und Philip Dodd (Hrsg.): Englishness. Politics and culture, 1880 – 1920, New York 1986; Robert Colls und Philip Dodd: Editor’s preface, in: Robert Colls und Philip Dodd (Hrsg.): Englishness. Politics and culture, 1880 – 1920, New York 1986. Philip Dodd: The battle over Britain, London 1995, S. 33. Vgl. hierzu Arthur Aughey: The politics of Englishness, Manchester 2007; Kumar: The making of English national identity; Mandler: The English national character; Mandler: What is „national identity“; Kenny: The politics of English nationhood.
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some Irish tarried with it in the hope that it might yield to them what it had yielded to others. The Welsh were not consulted.¹⁵⁶
Diese kulturelle und wissenschaftliche Beschäftigung ging einher mit politischen Forderungen, englische nationale Identität stärker zu zelebrieren. Von konservativer Seite hatte Raymond Tong bereits im Jahr 1994 in der konservativen Salisbury Review dazu aufgerufen, dass für die Engländer keine Notwendigkeit bestehe, aufgrund ihrer Nationalität zurückhaltend zu sein: „They have, among other things, a long and remarkable history, a magnificent literature, and distinctive institutions expressing their Englishness.“¹⁵⁷ Aber auch auf linker Seite fanden sich Stimmen, die Englishness gerade im Vergleich zu Britishness als attraktiver empfanden. Der Songwriter Billy Bragg forderte in seinem Lied „Take down the Union Jack“ (2002) die Abkehr von Großbritannien: Britain isn’t cool you know, it’s really not that great It’s not a proper country, it doesn’t even have a patron saint It’s just an economic union that’s passed its sell-by date Take down the Union Jack, it clashes with the sunset And ask our Scottish neighbours if independence looks any good ’Cos they just might understand how to take an abstract notion.¹⁵⁸
In Politik und Presse wurde dagegen mit Sorge darüber diskutiert, auf welche Weise die Bevölkerung in England auf die veränderten Regierungsstrukturen reagieren würde – denn letzten Endes betraf Devolution nur rund 15 % der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs¹⁵⁹: John Curtice und Anthony Heath stellten zwar in der BSA des Jahres 2000 fest, dass die Bewohner Englands sich angesichts der Verfassungsänderungen bewusster als „englisch“ (im Gegensatz zu „britisch“) sahen, betrachteten dies aber nicht als Bedrohung der Einheit des Vereinigten Königreichs. Dennoch sorgten sich Kommentatoren darüber, dass die Sonderregelungen der Devolution vor allem für Schotten und Waliser in England Ressentiments wecken könnten¹⁶⁰: Die „englische Frage“ war geboren. Dies wa-
Colls: Identity of England, S. 377. Zit. nach Kumar: The making of English national identity, S. 266. Billy Bragg: Take down the Union Jack, in: England, half English, BMG Music Publishing (2002). John Curtice und Anthony Heath: Is the English lion about to roar? National identity after devolution, in: Roger Jowell, John Curtice, Alison Park, Katarina Thomson, Lindsey Jarvis, Catherine Bromley und Nina Stratford (Hrsg.): British social attitudes. Focusing on diversity. The 17th report, Aldershot 2000, S. 155 – 174, hier S. 155 – 156. Andrew Marr: The day Britain died, London 2000, S. 89 – 94.
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ren nicht allein Sorgen der Konservativen: David Hayes sprach beispielsweise im linksliberalen New Statesman von England als dem „dark shadow of the constitutional debate“.¹⁶¹ Dieses Problem war bereits 1982 von dem Politologen Richard Rose erkannt worden, der die Engländer als „indifferent Unionists“ bezeichnet hatte, die die Union als selbstverständlich ansahen und emotional nicht an sie gebunden waren.¹⁶² Was passieren würde, wenn die englische Wählerschaft sich darüber bewusst würde, schien den Kommentatoren ungewiss. Tom Nairn, der den akademischen Diskurs über den „break up of Britain“ seit den 1970er Jahren maßgeblich geprägt hatte, schrieb im Jahr 2000: Now as then [in den späten 1970er Jahren, Anm. d. Verf.], what happens after Britain must depend very largely upon a redefinition of that majority identity – upon the people who, in the famous phrase, ‚have not spoken yet‘ or even acknowledged the need to do so as a separate political entity.¹⁶³
Die „English Question“ war dabei eng verknüpft mit der von Tam Dalyell in den 1970er Jahren formulierten „West Lothian Question“, also der Frage, ob MPs aus Sitzen in Nordirland, Schottland und Wales das Recht haben sollten, im House of Commons über Themen abzustimmen, die allein England betreffen, während MPs aus England nicht über die Themen abstimmen können, die an die Assemblies in Nordirland und Wales sowie das schottische Parlament übertragen wurden. Zeigte die West Lothian Question die Inkonsistenzen im Regierungssystem des Vereinigten Königreichs auf, zielte die „englische Frage“ auf das breitere Problem, wie England post-Devolution regiert werden sollte.¹⁶⁴ Mehrere Optionen wurden diskutiert: Die politische Lobbygruppe der Campaign for an English Parliament forderte auf nationalistischer Basis ein eigenes Parlament mit gesetzgeberischen Befugnissen für England. Die Unterstützung in der englischen Bevölkerung mit rund 16 % im Jahr 2003 war allerdings gering¹⁶⁵, während sich im selben Jahr 24 % für eine Assembly mit Kompetenzen für Bereiche wie Gesundheit aussprachen, 55 % jedoch die Beibehaltung des Status quo
David Hayes: England, which England?, New Statesman, 22. 8.1997, S. 20. Rose: Understanding the United Kingdom, S. 214. Tom Nairn: After Britain. New Labour and the return of Scotland, London 2000, S. 15. Vgl. Robert Hazell: Introduction: what is the English question?, in: Robert Hazell (Hrsg.): The English question, Manchester 2006, S. 1– 21, hier S. 1; Robert Hazell: The English question, in: Publius 31/2006, S. 37– 56. Vgl. auch Kapitel II.4. In einer Meinungsumfrage 2003 sprachen sich nur 15 % dafür aus, vgl. Hazell: The English question, S. 41.
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favorisierten.¹⁶⁶ Die Labour Party hingegen hatte in ihrem Wahlprogramm 1997 „devolution not federation“ versprochen und sah dementsprechend für England kein eigenes Nationalparlament vor. Anstelle dessen griff die Regierung auf die Tradition des Regionalismus zurück und schlugen die Einführung mehrerer Regionalversammlungen vor, die jedoch vorher durch ein Referendum bestätigt werden sollten.¹⁶⁷ Diesem Vorsatz wurde im November 2004 in einer Postabstimmung über die als Labour-Hochburg geltende Region North East England nachgekommen. Die Regierungspläne wurden jedoch mit nur rund 22 % Zustimmung deutlich abgelehnt. Regionale Versammlungen in England verschwanden damit von der politischen Agenda. Die konservative Partei fand eine andere Antwort auf die die englische Frage. Die Partei, die sowohl in Wahlergebnissen als auch programmatisch in den 1990er Jahren immer mehr zu einer rein englischen Partei wurde, war 1998 erstmals mit der Forderung „English votes for English law“, kurz EVEL, aufgetreten.¹⁶⁸ Ziel war ein System, in dem allein aus englischen Wahlbezirken gewählte Parlamentarier über englische Themen abstimmen dürften. Konkret schlug ein im Juli 2008 publiziertes Paper der Conservative Party Democracy Taskforce vor, dass alle Gesetzesvorschläge, die als „englisch“ identifiziert wurden, den normalen Gesetzesprozess im Unterhaus gehen sollten, die Ausschussphase nach dem Second Reading aber allein von MPs aus englischen Wahlkreisen bestritten werden sollte; diese sollten auch in der Beratungsphase zwischen Ausschuss und dritter Lesung allein über eventuelle Änderungen abstimmen dürfen. Erst in der dritten Lesung des Gesetzentwurfs, in der keine Änderungsanträge mehr möglich seien, sollte das gesamte Unterhaus wieder abstimmen dürfen.¹⁶⁹ Politische Schärfe erlangte
John Curtice bezieht sich dabei auf die Daten der British Social Attitudes Survey, die die Einstellung der Bevölkerung zur Devolution seit 1999 erfasste. Vgl. John Curtice: What the people say – if anything, in: Robert Hazell (Hrsg.): The English question, Manchester 2006, S. 119 – 140, hier S. 121. The Labour Party general election manifesto 1997. New Labour: because Britain deserves better, in: Iain Dale (Hrsg.): Labour Party General election manifestos, 1900 – 1997, London 2000, S. 345 – 382, hier S. 375 – 377. Während die Labour Party und die Liberal Democrats in den 1990er und 2000er Jahren in allen Teilen des UK Sitze gewinnen konnten, wurden die Konservativen mehr und mehr zur „English party“. Dieser Stimmenverlust ist schon deshalb interessant, da Schottland noch 1955 rund 50 % der konservativen Stimmen für sich verbuchen konnte und die Konservativem lange als die Partei der Union gegolten hatten. 1979 waren es weiterhin mehr als ein Drittel. Vgl. Richard Rose und Ian McAllister: United Kingdom facts, London 1982, S. 92. Für eine Zusammenfassung der konservativen Vorschläge vgl. House of Commons Justice Committee: Devolution. A decade on. Fifth Report of Session 2008 – 09. Vol. I, HC 529–I, London 2009, S. 55 – 56.
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der Vorschlag dadurch, dass die Mehrheit der Wahlsitze in Schottland und Wales zu diesem Zeitpunkt an Labour fiel.¹⁷⁰ Neben diesen politischen Gründen wurden die Vorschläge von Verfassungsexperten aus technischen und grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Gründen kritisiert. Vernon Bogdanor wurde in einem Bericht des Justice Committee des Unterhauses mit der Aussage zitiert, dass EVEL „profoundly dangerous to the future of the United Kingdom“ sei; während der Politologe Robert Hazell prophezeite, dass diese Änderungen de facto zu einem englischen Parlament führen würden.¹⁷¹ Letzten Endes zeigten die Umfragewerte der British Social Attitudes Survey bis 2008 wenig Belege für einen „English backlash“. Die Forscher konnten darüber hinaus keinen Trend zu einem gestärkten englischen Nationalbewusstsein im Verhältnis zum britischen feststellen – auch wenn die Autoren einräumten, dass mögliche Differenzen dadurch verdeckt wurden, dass in Westmister seit 1997 durchgehend die Labour Party regierte. Erst mit einer schottischen Minderheitsregierung durch die SNP und einer Koalition der Labour Party mit Plaid Cymru in der walisischen Assembly seien seit 2007 politische Differenzen wieder deutlicher zu Tage getreten.¹⁷² Ab 2009 stellten die Meinungsforscher jedoch in der englischen Bevölkerung stärkere Ressentiments besonders finanzieller Art gegenüber Schottland fest; rund eine von drei Personen sei demnach der Ansicht gewesen, dass Schottland mehr als seinen fairen Anteil an Staatsausgaben erhalte.¹⁷³ Das Thema „English votes for English laws“ blieb dementsprechend strittig und wurde auch von der konservativ-liberaldemokratischen Koalitionsregierung ab 2010 weiter verfolgt, unter anderem durch die 2012 eingesetzte Commission on the consequences of devolution for the House of Commons, kurz McKay Commission. In Anbetracht von Studien, die seit 2009 eine deutlich gestiegene Unzufriedenheit von Engländern gerade in Bezug auf den Einfluss schottischer MPs auf den Gesetzesprozess anzeigten, empfahl die Kommission, dass die zukünftige Gesetzgebung, die England, aber nicht die übrigen Teile des Vereinigten Königreichs
Siehe Hazell: The English question, S. 44. Committee: Devolution. A decade on. Fifth Report of Session 2008 – 09.Vol. I, HC 529–I, S. 57. Für die Antwort der Regierung siehe auch Lord Chancellor and Secretary of State for Justice: Devolution. A decade on. Government Response, Cm 7687, London 2009, §30 – 35. Vgl. John Curtice: Is there an English backlash? Reactions to devolution, in: Alison Park, John Curtice, Katarina Thomson, Miranda Phillips und Elizabeth Clery (Hrsg.): British social attitudes. The 25th report, Los Angeles/London 2009, S. 1– 23, hier S. 1– 2, 19. An dieser Stelle ist – wie so häufig – die Formulierung der Frage zentral für das Ergebnis. Curtice hält fest, dass kommerzielle Umfragen in der Regel nicht die Frage nach dem gerechten Anteil stellten, sondern die Umfrage mit der Bemerkung einleiteten, dass die staatlichen Ausgaben in Schottland 120 % derer in England betrügen. Daher verzeichneten diese Umfragen höhere Unzufriedenheitswerte. Vgl. ebd., S. 12.
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betreffe, über die Unterstützung der Mehrheit der amtierenden Abgeordnete aus englischen Wahlkreisen verfügen solle.¹⁷⁴ Nach dem konservativen Wahlsieg 2015 wurde letzten Endes MPs aus englischen Wahlkreisen durch eine Änderung der parlamentarischen Geschäftsordnung in einem komplexen Prozess ein Vetorecht für England betreffende Gesetzgebung eingeräumt. Die Debatte über die Rolle Englands innerhalb der Regierungsstrukturen post-Devolution verdeutlich jedoch, dass das nationale Prinzip im Denken der beteiligten Politiker vorherrschte.¹⁷⁵ Erhielten Schottland, Wales und Nordirland ein Parlament oder eine Assembly auf der Basis einer deutlich erkennbaren, separaten nationalen Identität, war dies im Fall von England nicht möglich: Äußerungen zu englischer Identität waren gerade durch die Verschränkung von englischer und britischer Nationsvorstellungen mit dem Parlament in Westminster gekennzeichnet – Westminster war in dieser Lesart das anglo-britische Parlament. Neben Argumenten einer potentiellen englischen Dominanz, die das Verfassungsgefüge nachhaltig destabilisieren könnte, erschien Devolution in England entweder unnötig oder unmöglich.¹⁷⁶
3 Britishness als Programm: Multikulturalismus und der Zusammenhalt der britischen Nation Ging es in der öffentlichen Debatte um Britishness zunächst vor allem um die Zukunft der Union und das Verhältnis der einzelnen Teilnationen innerhalb des Vereinigten Königreichs zueinander, richtete sie sich ab den frühen 2000er Jahren auf die Symbole und Werte, die eine britische Identität bestimmten. Werte hatten zuletzt vor allem im Kontext von Margaret Thatchers Forderung, zu sogenannten „viktorianischen Werten“ wie wirtschaftlicher Unabhängigkeit, Eigenverantwortung, Wirtschaftlichkeit oder moralischer Standhaftigkeit zurückzukehren, größere politische Aufmerksamkeit erhalten.¹⁷⁷ Im Kern der Auseinandersetzung in den frühen 2000er Jahren stand jedoch zunächst die Frage, wie britische Identität in einer multikulturellen Gesellschaft aussehen könne. Ein fiktionaler Brief-
Siehe Report of the Commission on the Consequences of Devolution for the House of Commons (The McKay Commission), London 2013. In den Worten Charles Maiers versucht das Prinzip der Territorialität, das den Nationalstaaten zugrunde liegt, die Grenzen von Nation, Staat und Gesellschaft in Kongruenz zu bringen: „decision space“ und „identity space“; siehe Maier: Transformations of territoriality, S. 35. Vgl. Hazell: The English question, S. 45. Vgl. Raphael Samuel: Mrs. Thatcher’s return to victorian values, in: Proceedings of the British Academy 78/1992, S. 9 – 29.
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wechsel zwischen Peregrine Worsthorne, konservativer Journalist des Daily Telegraph, und Darcus Howe, Aktivist und Journalist, anlässlich einer gemeinsamen Fernsehdokumentation verdeutlicht dabei die Extremform, in der sich eine auf England fokussierende, kulturell exklusive Nationsvorstellung mit dem Anspruch auf Umdeutung von Britishness zusammenprallte. Besonders die Briefe Worsthornes sind aufschlussreich: Er charakterisiert den Einwanderer Howe als rechtlich britisch: „Trinidad, where you were born and brought up, was a British colony and, as an immigrant to Britain, you became a British citizen with a British passport.“ Entscheidend für ihn ist jedoch die kulturelle Prägung, in deren Beschreibung allerdings „englisch“ und „britisch“ überlagert werden: Your Trinidadian father, you told me, was a Church of England minister; you had an English education – mercifully in the pre-Cool Britannia days; learnt English history, glorying in British victories; read English classics; sang English hymns; played cricket; imbibed the English gentlemanly virtues of fair play, good manners and moral courage; even, I dare say, ate roast beef on Sundays and bacon and eggs for breakfast. So you are not only English legally but also culturally and emotionally, down to the very marrow of your being.¹⁷⁸
Eben diese gemeinsame Kultur und Werte machten Howe in den Augen Worsthornes zum Briten – Eigenschaften, über die jedoch nicht alle Einwanderer verfügten, denn: „Not all Commonwealth immigrants are English in quite this profound sense. Those from the Indian subcontinent, for example, with different religions and different cultures, obviously have rather more difficulty in fitting in.“¹⁷⁹ Howe hingegen erklärte seinen Willen, britische Identität neu zu definieren, aus seinem Verständnis von nationaler Identität als historische Größe, die auch die Erfahrungen von Migranten aus den unterschiedlichen Teilen des Empire reflektieren müsse.¹⁸⁰ Der Briefwechsel zwischen Howe und Worsthorne steht als Beispiel für den bereits angesprochenen Gegensatz zwischen Konzeptionen von Britishness, die Identität unter Rückgriff auf mit englischer Vergangenheit assoziierten Bildern kulturell eng definierten, und den bewusst offenen Vorstellungen, die politisch vor allem in den Anfangsjahren von New Labour vertreten wurden. Philip Dodds 1995 publizierter Bericht für den Think Tank Demos fasste diese Sichtweise einflussreich in Worte, wenn er von Großbritannien in Anlehnung an Daniel Defoe als einem „mongrel island“ sprach.¹⁸¹ Dodds Absage an ethnisch und kulturell Darcus Howe und Peregrine Worsthorne: What is a true Brit?, Guardian, 25.4.1998, S. 2. Ebd. Ebd. „This is a mongrel island and the people who make up the populations of the countries here have historically been mongrels.“ Dodd: The battle over Britain, S. 33.
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„reine“ Vorstellungen von Identität bezog sich sowohl auf den Umgang mit Einwanderern als auch auf die Identitäten, die den einzelnen Landesteilen und Regionen zugeschrieben wurden. Sie wurde zu einer einflussreichen Intervention, die eine Verschiebung im Denken über britische Identität verdeutlicht: Ging es in den früheren Publikationen um die Frage, wie Schotten, Waliser und Engländer dazu kamen, sich Briten zu nennen und in welchem Verhältnis diese Identitäten zueinander standen, wurde nun auch Einwanderern zugestanden, „britisch“ zu sein – obgleich damit der Inhalt eben jener Identität verstärkt in den öffentlichen und politischen Fokus trat. Denn in den Augen Worsthornes wurde Howe zum Briten, indem er zunächst in einer britischen Kolonie, dann im Mutterland in Ausbildung und Erziehung Anteil an der Kultur hatte, die von der englischen Metropole ausging – eine Sichtweise, der Howe vehement widersprach und darauf hinwies, britische Kultur an sich umformen zu wollen, damit sie den Erfahrungen und Erwartungen der Briten aus den ehemaligen Kolonien entspreche.¹⁸² Dies ist insofern bemerkenswert, als dass noch 1981 sowohl in der Debatte über die Unruhen in den englischen Städten, als auch in der Neuauflage des British Nationality Act die überwiegend in London ansässigen und arbeitenden Medien und Politiker kulturelle Grenzziehungen mehrheitlich entlang ethnischer Trennlinien verstanden hatten. Gegen Ende der 1990er Jahre stellte sich eine grundlegend veränderte Situation dar: Kommentatoren, die aus den Einwanderergemeinden stammten oder ihnen wohlgesinnt waren, forderten, „britisch“ als Nationsbeschreibung neu zu definieren. Auch New Labour setzte im Wahlkampf 1997 auf soziale Gerechtigkeit für ethnische Minderheiten. Im Zuge dessen gab die neu gewählte Regierung eine Reihe einflussreicher Untersuchungen und Berichte in Auftrag, allen voran über die Polizeiarbeit anlässlich des Mordes an dem Jugendlichen Stephen Lawrence. Die Ermittlungen der Polizei waren in der Aufklärung des 1993 begangenen Verbrechens stark kritisiert worden. Die im Frühjahr 1999 publizierte Untersuchung diagnostizierte institutionellen Rassismus in der Metropolitan Police – ein Vorwurf, vor dem Lord Scarman 1981 noch zurückgescheut hatte. Die Labour Regierung weitete im Zuge dessen die seit 1976 bestehende Antidiskriminierungsgesetzgebung im Race Relations (Amendment) Act im Jahr 2000 aus, der unter anderem vorsah, dass öffentliche Einrichtungen sich um Chancengleichheit und gute Beziehungen zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen bemühen sollten.¹⁸³ Aber auch wahlpolitische Überlegungen spielten eine Rolle: Ab den 1980er Jahren wurden zum Teil gezielt „schwarze“
Howe und Worsthorne: What is a true Brit?, Guardian, 25.4.1998, S. 2. Vgl. Liza Schuster und John Solomos: Race, immigration and asylum. New Labour’s agenda and its consequences, in: Ethnicities, 4/2004, S. 267– 300, hier S. 272.
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Politiker gefördert und im Zweifelsfall auch angeführt, um Labours Einsatz zur Verbesserung der „race relations“ nachzuweisen.¹⁸⁴ Grundlage für dieses Denken war die Annahme von Multikulturalismus im Umgang mit Einwanderern innerhalb des Vereinigten Königreichs. Diese Politik war auf lokaler Ebene bereits seit den frühen 1980er Jahren verbreitet; Ken Livingstone war dazu vielleicht das prominenteste Beispiel, der als Vorsitzender des Greater London Council nicht zuletzt im Zuge der Unruhen von 1981 bewusste Minderheitenförderung eingeführt hatte.¹⁸⁵ Die Conservative Party hingegen hatte seit den 1980er Jahren eine Rhetorik der „Farbenblindheit“ vertreten. Bekanntestes Beispiel für diesen Ansatz war ein Wahlplakat, das 1983 einen jungen Schwarzen mit der Unterschrift zeigte: „Labour says he’s Black. Tories say he’s British“.¹⁸⁶ Die Hochphase der Bemühungen New Labours um Multikulturalismus auf nationaler Ebene stellte der 1997 von Innenminister Jack Straw beauftragte und 2000 publizierte Bericht der Commission on the future of multi-ethnic Britain dar. Einige der profiliertesten „schwarzen“ und asiatischen Intellektuellen waren Teil der Kommission, unter anderem der Kulturtheoretiker Stuart Hall, der Soziologe und Politologe Tariq Modood, die Schriftstellerin Yasmin Alibhai-Brown oder der spätere Vorsitzende der Commission for Racial Equality, Trevor Phillips; aber auch „weiße“ Akademiker und Experten wie Sally Tomlinson, Bob Hepple oder Peter Newsam. Die Kommission unter der Leitung des aus Indien stammenden britischen Politikwissenschaftlers und Politikers der Labour Party Bhikhu Parekh hatte dabei folgendes Ziel verfolgt: „to analyse the current state of multi-ethnic Britain and to propose ways of countering racial discrimination and disadvantage and making Britain a confident and vibrant multicultural society at ease with its rich diversity.“¹⁸⁷ Der Bericht stellte ebenso wie schon Philip Dodd zuvor die Vorstellung in Frage, dass Großbritannien jemals kulturell und ethnisch homogen gewesen sei. Anstelle dessen verstand die Kommission Großbritannien als eine Ansammlung unterschiedlicher Gruppen, „communities“. Diese seien jedoch John Solomos und Les Back: Race, politics, and social change, London/New York 1995, S. 77– 79. Vgl. Kapitel I.1. Wie Nira Yuval-Davis hervorgehoben hat, konnten sich die Konservativen dadurch von auf Hautfarbe basierten Rassismus von rechts abgrenzen. Dagegen betonte Paul Gilroy die subtilen Nuancen des Plakats, mit dem Einwanderer aufgefordert werden, ihre kulturellen Besonderheiten zugunsten einer Assimilation an nicht näher genannte britische Kultur aufzugeben. Vgl. Nira Yuval-Davis: Belonging and the politics of belonging, in: Patterns of Prejudice 40/2006, S. 197– 214, hier S. 210; Gilroy: There ain’t no black (2002), S. 63 – 65. Commission on the Future of Multi-Ethnic Britain: The future of multi-ethnic Britain, Nachdruck, London 2000, S. viii.
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nicht statisch, sondern unterschieden sich in- und voneinander in Bezug auf Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Religion und Sprache. „Britisch“ wurde hier zur Bindestrich-Identität: Kulturelle Zugehörigkeiten wurden wandelbar und veränderten sich konstant. Der Bericht spricht daher nicht nur von „Geordies“, „Mancunians“ und „Liverpudlians“, sondern auch von „Welsh Europeans, Pakistani Yorkshirewomen, Glaswegian Muslims, English Jews and black British“. Großbritanniens „communities“ befänden sich an einem Wendepunkt: „they could become narrow and inward looking, with rifts between themselves and among their regions and communities, or they could develop as a community of citizens and communities.“¹⁸⁸ Eine Reihe von Maßnahmen sollte sicherstellen, dass die attraktivere zweite Variante erreicht werde. Unter anderem solle das bisherige nationale Narrativ sowie die nationale Identität überdacht werden.¹⁸⁹ Denn die Vorstellung einer einzelnen nationalen Kultur werde nicht der Vielfalt der Bürger gerecht. Daher müsse diese Verschiedenartigkeit in Betracht gezogen und gefördert werden, zugleich aber auch Wege gefunden werden, ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl und eine gemeinsame Identität unter den Mitgliedern der Gesellschaft zu fördern. Eine „Kultur der Menschenrechte“ sollte dafür sowohl die rechtliche wie auch ethische Grundlage bilden.¹⁹⁰ Die Autoren des Reports sahen dabei die Werte von Gleichheit und Diversität, Freiheit und Solidarität im Kern einer funktionierenden „community of communities“.¹⁹¹ Die Kommission brach öffentlichkeitswirksam mit binären Zuschreibungen und reflektierte damit die Forschungen, die unter anderem am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) an der University of Birmingham seit den späten 1970er Jahren zur kulturellen Konstruktion der Kategorien von „race“ und „class“ durchgeführt worden waren – wenig überraschend, war doch dessen ehemaliger Leiter Stuart Hall Mitglied der Kommission. Allerdings war es eben jene Analyse britischer Gesellschaft durch die Kategorie von „race“, die sich als besonders umstritten entpuppen sollte. Denn der Bericht wurde war allem durch die These bekannt, dass britische nationale Identität für viele Menschen ethnisch weiß Ebd., S. xiii. „[S]ome of the dominant stories in Britain need to be changed – stories about the past, the present and the future. […] we have recalled a range of myths: that the history of Britain goes back many centuries […] that there is a single true version of the national story; that until recently Britain was culturally homogeneous […] These myths feed the imaginations of millions of people. As long as they are dominant in British recollections of the past the country cannot be a just and inclusive society in the present, for from these myths large numbers of people and many experiences are omitted.“ Commission on the Future of Multi-Ethnic Britain: The future of multi-ethnic Britain, S. 103. Vgl. ebd., S. viii, 106 – 107. Ebd., S. 105.
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imaginiert werde, damit also „racially coded“ sei.¹⁹² Ein weiterer Kritikpunkt stellte die Formulierung der „community of communities“ dar.¹⁹³ Der konservative Daily Telegraph titelte „Straw wants to rewrite our history“ und nahm Anstoß an der Formulierung „community of communities“ anstelle von „Nation“, eine Aussage, die vom linksliberalen Guardian mit dem Hinweis kritisiert wurde, das „our“ des Daily Telegraph sei „essentially white, English and nationalistic“.¹⁹⁴ Die Debatte entwickelte sich schnell zu einer generellen Bestandsaufnahme von Multikulturalismus im Vereinigten Königreich, in der Werte eine zentrale Rolle spielten. So wurde der konservative Politiker Michael Ancram in der Boulevardzeitung Daily Mail mit den Worten zitiert, dass der Report aus einer Reihe von „mainly illjudged and damaging recommendations“ bestehe. Ein inklusives Großbritannien hingegen beruhe auf der „British tradition of tolerance, of respecting people for their character rather than their colour, not an approach based on patronising and politically correct nonsense“.¹⁹⁵ Innenminister Jack Straw distanzierte sich dementsprechend bald von dem Report.¹⁹⁶ Zuspruch erhielt die Kommission jedoch von irischer Seite. Die in Dublin ansässige Irish Times zitierte beispielsweise den Vorsitzenden der Action Group For Irish Youth und Mitglied der Commission on the Future of Multi-Ethnic Britain, Seamus Taylor: „In some ways the Irish dimension is a unique feature of this report […] an understanding of the Irish experience in Britain illuminates Britishness in a way that the experience of black people illuminates whiteness.“¹⁹⁷ Die Verbindung von Britishness und „Multikulturalismus“, die vor allem von der Labour-Regierung seit 1997 gefördert worden war, war umstritten – und dabei nicht nur von konservativer Seite. Im Kontext des „war on terror“ änderten sich in den frühen 2000er Jahren die Parameter grundlegend, in denen „Multikulturalismus“ in Politik und Medien diskutiert wurde, und damit auch, wie in dieser Zeit Britishness imaginiert wurde. War die erste Legislaturperiode der Regierung Blair dadurch gekennzeichnet gewesen, dass Ungleichheiten innerhalb unterschiedli-
Alan Travis: British tag is ‚coded racism‘, Guardian, 11.10. 2000, S. 1. Ebd., S. 105. Philip Johnston: Straw wants to rewrite our history, https://www.telegraph.co.uk/news/uk news/1369663/Straw-wants-to-rewrite-our-history.html (10.10. 2000), zuletzt abgerufen am 12.6. 2018; Gary Younge: The Runnymede Report. Celebrate, don’t tolerate, minorities, Guardian, 11.10. 2000, S. 7. Steve Doughty: Racism slur on the word ‚British‘, Daily Mail, 11.10. 2000, S. 7. Philip Johnston: Straw beats a very British retreat over race report, https://www.telegraph.co. uk/news/uknews/1370024/Straw-beats-a-very-British-retreat-over-race-report.html (12.10. 2000), zuletzt abgerufen am 12.6. 2018. Rachel Donnelly: Multiracial society a challenge to simply being British, Irish Times, 12.10. 2000, S. 10.
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cher Ethnien beseitigt werden und eine multi-ethnische Gesellschaft gestaltet werden sollte, war die zweite Legislaturperiode durch eine verschärfte öffentliche Debatte über Fragen von gesellschaftlicher und nationaler Zugehörigkeit geprägt.¹⁹⁸ Die öffentliche Kritik an einer simplifizierenden Politik von Multikulturalismus mehrte sich angesichts der Anschläge am 11. September 2001 in New York und am 7. Juli 2005 in London, öffentlicher Ausschreitungen und Diskussionen über Asylzahlen; Trevor Philips, Chair der Equalities and Human Rights Commission, sowie der Herausgeber des Magazins Prospect, David Goodhart, waren zwei prominente Vertreter.¹⁹⁹ In dieser Zeit wurde deutlich, dass sich die Vorstellung des kulturell Anderen vom ethnischen ins ethnisch-religiöse verschoben hatte: Waren es in den frühen 1980er Jahren vor allem die karibischstämmigen Migranten der zweiten Generation gewesen, wurden die kulturellen Trennlinien innerhalb der Gesellschaft in den frühen 2000er Jahren besonders zu den vor allem aus Bangladesch und Pakistan stammenden Muslimen gezogen, während Migration im Allgemeinen im Kontext des „war on terror“ zunehmend als Sicherheitsproblem betrachtet wurde. Erste Anzeichen für die Alterisierung von Muslimen waren die Reaktionen auf die Demonstrationen angesichts der Kontroverse um Salman Rushdies „Satanische Verse“ in den Jahren 1988 und 1989. Der Autor wurde durch eine Fatwa des iranischen Ayatollah Ruhollah Khomeini zum Tode verurteilt; ein Urteil, das von einem Teil der britischen Muslime unterstützt wurde. Anlässlich großer Demonstrationen gegen Rushdie wurden unter anderem Abbildungen des Autors mit durchtrennter Kehle gezeigt und vor allem im Norden Englands auch Kopien seines Buches verbrannt.²⁰⁰ Die Demonstrationen hatten auch Auswirkungen auf die muslimischen Gemeinden und die Vorstellungen eines politischen Islams in Großbritannien. Wie Tariq Modood zeigt, waren die Proteste ein Umschlagpunkt, ab dem Muslime abseits traditionell „schwarzer“ Aktivisten politisiert wurden: „Political blackness was, therefore, unravelling at a grassroots level at the very time when it was becoming hegemonic as a minority discourse in British public life.“²⁰¹ Vgl. Schuster und Solomos: Race, immigration and asylum, S. 274. Vgl. beispielsweise David Goodhart: Too diverse?, Prospect, https://www.prospectmagazine. co.uk/magazine/too-diverse-david-goodhart-multiculturalism-britain-immigration-globalisation (Februar 2004), zuletzt abgerufen am 30. 5. 2018. Daniel Pipes fasste die Bedeutung der Kontroverse wie folgt zusammen: „the Rushdie controversy raised imposant questions about the many millions of Muslims now living in the West and their relationship to the civilization around them.“ Daniel Pipes: The Rushdie Affair. The Novel, the Ayatollah and the West, 3. Aufl., Abingdon 2017, S. 16. Tariq Modood: British Muslims and the politics of multiculturalism, in: Tariq Modood, Anna Triandafyllidou und Ricard Zapata-Barrero (Hrsg.): Multiculturalism, Muslims and citizenship: a European approach, London 2006, S. 37– 56, hier S. 41.
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In das Zentrum der Debatte rückten Bedenken gegenüber Muslimen im Zuge der Attentate in den Vereinigten Staaten am 11. September 2001 und der Selbstmordanschläge in London am 7. Juli 2005. Den Anfang machten jedoch die Zusammenstöße in den nordenglischen Städten Oldham, Bradford und Burnley im Sommer 2001 zwischen weißen und jungen, vornehmlich muslimischen Briten mit Wurzeln in Pakistan und Bangladesch. Innenminister David Blunkett, der Nachfolger Jack Straws, gab angesichts der Unruhen eine Untersuchung in Auftrag (Independent Review Team unter Vorsitz von Ted Cantle), die für die britische Regierung beunruhigende Ergebnisse zu Tage brachte. Der Cantle-Report zeigte sich besorgt über die Existenz von Parallelgesellschaften, die durch gegenseitige Ignoranz und wenig Interaktion gekennzeichnet seien. Er mahnte dabei ebenso wie der Parekh-Report die Notwendigkeit an, deutlich umrissene Werte zu entwickeln: In such a climate, there has been little attempt to develop clear values which focus on what it means to be a citizen of a modern multi-racial Britain and many still look backwards to some supposedly halcyon days of a mono-cultural society, or alternatively look to their country of origin for some form of identity.²⁰²
Die Unterschiede zur Debatte nach den Unruhen von 1981 sind deutlich: Während die „ethnic communities“ zu dieser Zeit aufgrund ihrer angenommenen grundlegenden kulturellen Differenz nicht Teil der britischen Gesellschaft sein konnten, stellten die Autoren des Berichts das Konzept der „community cohesion“ in das Zentrum ihrer Empfehlungen.²⁰³ Angesichts der Herausforderungen der Globalisierung sei es notwendiger denn je, einen Konsens über das Konzept von „cultural pluralism“ zu entwickeln: „an acceptance, and even a celebration, of our diversity and that within the concept of citizenship, different cultures can thrive, adding to the richness and experience of our nationality“.²⁰⁴ Dazu sei eine von der Regierung geführte Debatte vonnöten, die Rechte und Pflichten jeder „community“ festlege. Eine gemeinsame Vorstellung von „nationhood“ sei dabei essentiell. Der Bericht nannte an dieser Stelle Sprache oder Gesetzgebung.²⁰⁵ Die Zughörigkeit zur britischen Gesellschaft hing nun vom Willen der einzelnen „communities“ ab; nimmt man den Report ernst, waren sie dazu als britische Staatsbürger sogar verpflichtet.
Home Office: Community cohesion. A report of the Independent Review Team chaired by Ted Cantle (London 2001). Vgl. beispielsweise ebd., S. 10, §12.12, 18, §15.11.11. Ebd., S. 18, §15.11.14. Siehe ebd., S. 19, §15.11.15 – 15.11.17.
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Sei es die „community of communities“ des Parekh-Berichts oder die Sorge um „community cohesion“ des Cantle-Reports: Die Vorstellung, dass sich nationaler Zusammenhalt über einen Wertekanon erreichen ließe, schien für die Labour-Regierung in einem multikulturellen Großbritannien eine zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Zugehörigkeit in einem Nationalstaat. Ethnischessentialistische Nationsvorstellungen wirkten im politischen Kontext der Zeit überholt, multikulturelle Entwürfe allerdings bargen jedoch eigene Probleme.²⁰⁶ An dieser Stelle zeigt sich eine klare Schwerpunktverschiebung in der Verwendung des community-Begriffes in den frühen 2000er Jahren innerhalb der Politik Labours: Er wird zwar weiterhin in Bezug auf die britische Gesellschaft verwendet, nun aber stärker national verstanden. Das Innenministerium reagierte dementsprechend auf den Cantle-Bericht mit dem Weißbuch „Secure borders, safe haven: integration with diversity in modern Britain“, in dem Blunkett zu einer offenen Debatte über „citizenship, civic identity and shared values“ aufrief.²⁰⁷ Das Problem der „community cohesion“ wurde in dem Regierungsdokument in die Themen Einwanderungsbestimmungen und Staatsangehörigkeit sowie in die kontrovers diskutierte Frage des Asylrechts eingebettet.²⁰⁸ In Anbetracht der Sorge um „community cohesion“ rückte das Thema der Staatsbürgerschaft einmal mehr in das Interesse der Regierung. Dem Konzept einer multikulturellen Gesellschaft wurde angesichts der Radikalisierung muslimischer Briten vorgeworfen, durch Wegschauen den gesellschaftlichen Nährboden für extremistisches Gedankengut geboten zu haben. Anstelle dessen sollte es in der Tradition New Labours durch eine robuste Neuformulierung der mit britischer Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte und Pflichten ersetzt werden. „Community“ und „citizenship“, die bereits im Zuge der Unruhen des Jahres 2001 verstärkte Aufmerksamkeit erhalten hatten, wurden damit zu Kernbegriffen, mit denen soziale Zugehörigkeit verhandelt wurde. Im Weißbuch „Secure borders, safe haven“ hatte Innenminister Blunkett die Notwendigkeit eines klaren Verständnisses von Staatsbürgerschaft betont, in dem nicht nur territorial gedachte Staatsangehörigkeit, sondern auch damit einhergehende gesellschaftliche Rechte und Pflichten verankert werden sollten:
Das bedeutet allerdings nicht, dass ethnisch-essentialistische Formen von nationaler Identität nicht mehr vorhanden seien, wie die Existenz der British National Party oder UKIP belegt. Home Office: Secure borders, safe haven. Integration with diversity in modern Britain, CM 5387, London 2002. David Blunkett: The Blunkett tapes. My life in the bear pit, London 2006, S. 347.
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To ensure social integration and cohesion in the UK, we need to develop a stronger understanding of what citizenship really means. Historically, the UK has had a relatively weak sense of what active citizenship should entail. Our values of individual freedom, the protection of liberty and respect for difference, have not been accompanied by a strong, shared understanding of the civic realm. The acquisition of British nationality is a bureaucratic exercise, with almost no effort made to engage new members of the community with the fundamentals of our democracy and society.²⁰⁹
Blunketts Argumentationsgrundlage war die eines klassischen Nationalstaats, jedoch mit einem an die gesellschaftliche Realität angepassten, auf Diversität beruhenden Gesellschaftsbild. Citizenship garantierte damit die politische und kulturelle Inklusion in die Gemeinschaft (community) der Briten bei gleichzeitiger Anerkennung ethnisch oder national begründeter kultureller Differenz. Mittel dazu war die Vorstellung genuin britischer Werte. Dieser Nexus zeigte sich nicht zuletzt im 2002 verabschiedeten Nationality, Immigration and Asylum Act, der den Fokus der Staatsbürgerschaftsgesetzgebung erstmals explizit auf den Inhalt der britischen Nationalität richtete. Hatte sich die Neuformulierung des British Nationality Act im Jahr 1981 vor allem dadurch ausgezeichnet, dass gerade nicht definiert wurde, wofür britisch stehen sollte, wurden die Charakteristika britischer Nationalität und Identität nun explizit betont: So wurden zwar keine direkten Inhalte festgeschrieben, aber affirmative Akte wie citizenship ceremonies eingeführt, die Notwendigkeit des Spracherwerbs von Englisch (oder auch Walisisch oder des in Schottland gesprochenen Gälisch) sowie eines bereits bei der Einführung umstrittenen Einbürgerungstests festgesetzt, bei dem in 24 Fragen britische Werte, Traditionen, Kultur und Alltagsleben abgefragt werden sollten. Die Labour-Regierung schloss sich damit zunächst dem amerikanischen Modell an, in dem ein solcher Einbürgerungstest schon länger Praxis war. Ein weiteres Mittel, ein solches zivilgesellschaftliches Verständnis von Staatsbürgerschaft zu fördern, sah die Labour-Regierung unter anderem in den Schulen. Im Jahr 2002 wurden auf Empfehlung des Crick-Reports citizenship studies Teil des offiziellen, in allen staatlichen Schulen Englands verfolgten Lehrplans. Der 1998 publizierte Bericht der Advisory Group on Citizenship unter Vorsitz von Bernard Crick verfolgte dabei eine dreifache Konzeption von citizenship, die die Stränge politischer Rechte und Pflichten aufgriff: Firstly, children learning from the very beginning self-confidence and socially and morally responsible behaviour both in and beyond the classroom, both towards those in authority and towards each other. […] Secondly, learning about and becoming helpfully involved in
Home Office: Secure borders, safe haven. Integration with diversity in modern Britain, CM 5387.
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the life and concerns of their communities, including learning through community involvement and service to the community. […] Thirdly, pupils learning about and how to make themselves effective in public life through knowledge, skills and values.²¹⁰
Diese Debatte lief vor dem Hintergrund deutlich angestiegener Einwanderungszahlen ab: Zwischen 1997 und 1998 stieg die Zahl der Nettoeinwanderung von 48 000 auf 140 000; 2004 stieg sie auf 268 000 an und blieb bis 2010 ungefähr auf diesem Level. Obgleich die Zahlen der Nettoeinwanderung auch zurückkehrende Staatsbürger des Vereinigten Königreichs, der EU, internationale Studenten sowie Personen auf kurzfristigen Arbeitsvisa umfassten, ist der Anstieg dennoch deutlich. Das ständige Aufenthaltsrecht, das von den 1970er bis in die 1990er Jahre an rund 50 000 Personen pro Jahr vergeben wurde, stieg 2013 auf 150 000 pro Jahr.²¹¹ Während in der ersten Einwanderungsphase des 20. Jahrhunderts, von 1948 bis 1962, die Einwanderer vor allem aus dem (post‐)kolonialen Kontext stammten, stellten Osteuropäer eine große Minderheit unter den Einwanderern der zweiten Einwanderungswelle dar. Die Einwanderungsgeschichte unter New Labour ist dabei in zwei Phasen unterteilbar: Bis 2001 kann der Anstieg vor allem durch eine steigende Zahl von Asylsuchenden erklärt werden. Drei Regierungsentscheidungen waren für diese Phase zentral: Die Abschaffung der „primary purpose rule“ im Jahr 1997, die ausländischen Staatsangehörigen, die mit einem British citizen verheiratet waren, vorschrieb nachzuweisen, dass das Ziel ihrer Ehe nicht das Erlangen von Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich gewesen war, und somit den Familiennachzug begrenzt hatte; die Einführung des Human Rights Act und eine aktivere Judikative, die die Möglichkeit boten, Entscheidungen des Innenministeriums anzufechten, sowie die Liberalisierung von Studentenvisa und Arbeitserlaubnissen, die nicht zuletzt die Ausweitung des Bildungssektors unterstützen sollte.²¹² Die größte Veränderung in der Zuwanderungspolitik erfolgte jedoch seit dem Jahr 2001: Mit dem Weißbuch „Secure borders, safe haven“ und dem darauf folgenden Nationality, Immigration and Asylum Act von 2002 wurde die Vorstellung vertreten, dass Migration zum wirtschaftlichen Vorteil des Landes „gemanaged“ werden könne. Dazu wurde ein auf dem australischen Punktesystem basierendes Programm für hoch qualifizierte Zuwanderer (Highly Skilled Migrant Program, HSMP) eingeführt. In den Jahren darauf wurde dieses Punkte-
Education for citizenship and the teaching of democracy in schools. Final report of the Advisory Group on Citizenship 22 September 1998, https://web.archive.org/web/20090327021218/ http://www.qca.org.uk/libraryAssets/media/6123_crick_report_1998.pdf (1998), zuletzt abgerufen am 6.12. 2016. Vgl. Goodhart: The British dream, S. 210 – 211. Vgl. ebd., S. 214– 215.
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system weiter ausgebaut und die Grenzkontrollen verstärkt. Zentral war auch die Entscheidung, den britischen Arbeitsmarkt schon 2004 für die Bewohner der Länder der EU-Osterweiterung zu öffnen, während die meisten anderen EU-Mitgliedsstaaten (außer Schweden und Irland) ein bis zu sieben Jahre dauerndes Moratorium anlegten. Hintergrund war die Vorstellung der Labour-Regierung, dass im Zeitalter der Globalisierung Einwanderung zum wirtschaftlichen Vorteil des Vereinigten Königreichs verwaltet werden könne. Einwanderung wurde jedoch im Zuge dessen eines der Themen, die britischen Bürgern die meisten Sorgen bereiteten: Der MORI-Poll von 2007 gab an, dass in nahezu jedem Monat seit 2003 das Thema von Integration und Einwanderung als eines der drei wichtigsten Themen des Monats eingestuft wurde.²¹³ Insgesamt lässt sich die Politik der Labour-Regierung zwischen 1997 und 2007 mit der Liberalisierung und Steuerung des Systems von Wirtschaftsmigration beschreiben; ebenso der zunehmenden Einschränkung des Asylrechts, der stärkeren Kontrolle von illegaler Einwanderung durch bessere Sicherung der Grenzen sowie eines verstärkten Fokus auf die Kriterien, die Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt möglich machen sollten.²¹⁴ Dass „community cohesion“ in den Rahmen der Migrationskontrolle und Definitionshoheit staatlicher Zugehörigkeit eingebettet wurde, verdeutlicht, wie sehr die Vorstellung eines britischen Nationalstaats auf Grundlage der Grenzen des Vereinigten Königreichs das dahinterstehende Denken prägte: In Ermangelung einer schriftlich kodifizierten Verfassung wurden Solidarität und Loyalität zum britischen (National‐) Staat zur Grenzmarke von sozialer Zugehörigkeit. Die inhaltliche Füllung dieser Loyalität sollte sich jedoch aus noch auszuhandelnden nationalen und gesellschaftlichen Werten speisen.²¹⁵ Britishness wurde in diesem Kontext zu der Vokabel, anhand derer diese Werte artikuliert wurden. Zugleich wurden dadurch, dass britische Identität in einem Kontext von Migration im Allgemeinen und Asyl im Besonderen verankert wurde, Fragen gesellschaftlichen und nationalen Zusammenhalts in Politik und Medien zunehmend als Sicherheitsproblem eines souveränen Staats gedeutet.²¹⁶ Die Bemühungen des Innenministeriums um „community cohesion“ führten daher letzten Endes zu einer Stärkung der Kompetenzen des britischen Staats.
Vgl. Will Somerville: Immigration under New Labour, Bristol 2007, S. 1. Vgl. hierzu auch ebd., S. 3 – 4. Vgl. Yuval-Davis: Belonging and the politics of belonging, S. 211. Vgl. Schuster und Solomos: Race, immigration and asylum; Vicki Squire: The exclusionary politics of asylum, Basingstoke 2009, S. 5 – 6; Gabriella Lazaridis und Khursheed Wadia: Introduction, in: Gabriella Lazaridis und Khursheed Wadia (Hrsg.): The securitisation of migration in the EU. Debates since 9/11, Houndmills, Basingstoke 2015, S. 1– 16, hier S. 1– 2.
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Britishness staatlich verordnet: Gordon Brown, 2006 – 2008 Die Labour-Regierung führte ihr Projekt, den Zusammenhalt innerhalb des Vereinigten Königreichs zu stärken, unter Premierminister Gordon Brown verstärkt fort, der 2007 das Amt von Tony Blair übernommen hatte. Browns Intervention in die Britishness-Debatte stellte sowohl den Höhe- als auch vorläufigen Endpunkt der Auseinandersetzung unter dem Schlagwort von „Britishness“ dar. Der Schotte hatte sich bereits in den 1990er Jahren mit britischer Identität beschäftigt und war einer der Hauptakteure der Bemühungen New Labours um Britishness gewesen. Angesichts von Umfragen und Studien wie der British Social Attitudes Survey (BSA), die das Schwinden einer gemeinsamen britischen Identität diagnostizierten und damit einen Indikator dafür lieferten, dass der Zusammenhalt der britischen Nation gefährdet sei, forderte Brown die aktive Konstruktion eines öffentlichen Narrativs, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken sollte. Britische Identität solle sich nicht an Institutionen oder Ethnizität gebunden sein, sondern an Werte: „a committment to tolerance, liberty, fair play and social responsibility“.²¹⁷ Browns Initiative füllte die Debatte um Britishness im Allgemeinen und britische Werte im Besonderen mit neuem Leben. Im Kern stand ein ganzheitlicher Ansatz, der die Entwicklung einer inklusiven britischen Identität entlang betont zivilgesellschaftlicher Werte als grundlegende Aufgabe zur Reform des britischen Staats- und Regierungssystems verstand. In einer Rede vor der Neujahrskonferenz zum Thema „Who do we want to be? The future of Britishness“ der Fabian Society passte er seine Forderung der Neuaushandlung des Nationalen, des „Britischen“, in den Appell für ein erneutes politisches und verfassungsrechtliches Reformprogramm ein: if we are clear about what underlies our Britishness and if we are clear that shared values – not colour, nor unchanging and unchangeable institutions – define what it means to be British in the modern world, we can be far more ambitious in defining for our time the responsibilities of citizenship; far more ambitious in forging a new and contemporary settlement of the relationship between state, community and individual; and it is also easier to address difficult issues that sometimes come under the heading ‚multiculturalism‘ – essentially how diverse cultures, which inevitably contain differences, can find the essential common purpose without which no society can flourish.²¹⁸
Die Konferenz, die zusammen mit der Tageszeitung The Guardian veranstaltet wurde, hatte zur Aufgabe, zukunftsweisende Konzepte britischer Identität mit den
So Brown aus der Rückschau in seinen Memoiren, vgl. Gordon Brown: My life, our times, London 2017, S. 395. Brown: Speech to the Fabian New Year Conference.
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rund 800 Delegierten und 50 Rednern zu diskutieren; neben Gordon Brown sprachen unter anderem der Abgeordnete John Denham, der Soziologe Tariq Modood, der Historiker Timothy Garton Ash, der spätere Erziehungsminister Ed Balls, die Kulturwissenschaftlerin Yasmin Alibhai-Brown, Tom Nairn und der Journalist David Goodhart. Die Themen waren breit aufgestellt und reflektieren nicht nur die unterschiedliche Bedeutung, die die Sprecher britischer Identität beimaßen, sondern auch die Verknüpfung des eher vagen Themas mit konkreten Politikfeldern: Während der Generalsekretär der Fabian Society, Sunder Katwala, die Debatte um Britishness eng im Kontext der Herausforderungen von Multikulturalismus und von Fragen gesellschaftlicher Integration verortete, sprachen andere Redner unter anderem die Rolle des Empire im britischen Geschichtsunterricht, soziale Ausgrenzung und die Grenzen von Toleranz an.²¹⁹ Katwalas Vorschlag zu einer „Charter for a new Britain“ war dementsprechend breit aufgestellt: Sie umfasste Forderungen nach einer schriftlich fixierten Verfassung, nach der Erneuerung nationaler Symbole zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls, eines Freiwilligendienstes für Jugendliche und der Gleichstellung aller Religionen in einem Religious Equality Act. Darüber hinaus wurden soziale Themen wie das Ende von Kinderarmut und ethnische Diskriminierung am Arbeitsplatz angesprochen; ebenso forderte Katwala eine von Statistiken unabhängige Einwanderungsdebatte, „Investitionen“ in die muslimischen Gemeinden sowie einen Geschichtsunterricht, der die „globale“ Geschichte Großbritanniens thematisiert.²²⁰ Trotz des offensichtlichen politischen und medialen Interesses am Thema britischer Identität wurde Browns 2006 gestartete Kampagne gerade zu Beginn als politischer Schachzug kritisiert, um seine Eignung als Schotte für das Amt des Premierministers in einem dezentralen Königreich unter Beweis zu stellen.²²¹ Parteiinterne Überlegungen wie die zunehmende Ungeduld Browns, den Parteivorsitz zu übernehmen, spielten sicherlich eine Rolle. Journalisten, die sich näher mit Brown befassten, beglaubigten jedoch zunehmend sein aufrichtiges Interesse an diesem Thema und gingen zum Teil sogar so weit, es als Teil seiner politischen
Vgl. Sunder Katwala: What must be done?, https://www.theguardian.com/politics/2005/dec/ 21/thinktanks.immigrationpolicy (21.12. 2005), zuletzt abgerufen am 17. 5. 2018; Who are we and what do we want to be?, https://www.theguardian.com/politics/2006/jan/13/thinktanks.uk (13.1. 2006), zuletzt abgerufen am 18. 5. 2018. Sunder Katwala: Charter for a new Britain, https://www.theguardian.com/politics/2005/dec/ 21/thinktanks.immigrationpolicy1 (21.12. 2005), zuletzt abgerufen am 18. 5. 2018. In Anlehnung an die „West-Lothian-Question“ wurde diese Frage von Simon Lee auch die Kirkcaldy-Frage genannt. Vgl. Lee: Best for Britain, S. 140.
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Philosophie zu bezeichnen.²²² Als Premierminister führte Brown dementsprechend seine Bemühungen um die Wiederbelebung britischer Identität fort; sein übergreifender Ansatz zeigte sich in der Publikation des Grünbuchs „The Governance of Britain“, das in der ersten Woche nach seinem Amtsantritt im Juli 2007 gegen die Empfehlung seiner Berater publiziert wurde.²²³ Kernziel des Grünbuchs war, die Kompetenzen des Parlaments zu stärken; eine Tatsache, die schon seit den 1980er Jahren von Verfassungsreformern gefordert wurde. Im Detail waren die angedachten Reformen vorsichtig; so sollten unter anderem die Kompetenzen der Exekutive eingeschränkt werden, Truppen im Ausland einzusetzen, internationale Verträge ohne Entscheidung des Parlamentes zu ratifizieren, Richter zu ernennen oder Bischöfe einzusetzen. In Bezug auf ihre Bemühungen um britische Werte versprach die Regierung eine landesweite Debatte, um ein Dokument zu erarbeiten, das britische Werte festschreibe (ein sogenanntes „British statement of values“), sowie die Regelungen zum Hissen der Nationalflagge auf Regierungsgebäuden und dem Parlament in Westminster zu überprüfen.²²⁴ Die Regierung Gordon Browns führte den seit den frühen 2000er Jahren absehbaren Trend fort, britische nationale Identität nicht nur in spezifischen Werten, sondern auch als integralen Bestandteil von Staatsbürgerschaft verankert sehen zu wollen. Das Grünbuch kündigte daher neben dem Lancieren einer Youth Citizenship Commission an, dass Attorney General Lord Goldsmith die bestehenden Bestimmungen zur britischen Staatsbürgerschaft grundlegend überprüfen solle.²²⁵ Der 2008 publizierte Bericht des Attorney General reflektierte dieses Umdenken in Regierungskreisen: Goldsmith verfolgte den Ansatz, „citizenship“ als ein Kompositum der Bestandteile Staatsangehörigkeit und staatsbürgerlicher Rechte zu sehen. Er betonte die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, die er in diesem Konzept verankern wollte²²⁶ – eine Kombination,
Vgl. Matthew D’Ancona: Editor’s preface, in: Matthew D’Ancona und Gordon Brown (Hrsg.): Being British: The search for the values that bind the nation, Edinburgh 2009, S. 19 – 23, hier S. 19 – 20; Martha Kearney: Brown seeks out ‚British values‘, BBC Newsnight, http://news.bbc.co. uk/2/hi/programmes/newsnight/4347369.stm (14. 3. 2005), zuletzt abgerufen am 28. 3. 2018. Vgl. Anthony Seldon und Guy Lodge: Brown at 10, London 2010, S. 17. Vgl. Secretary of State for Justice und Lord Chancellor: The Governance of Britain, CM 7170, London 2007. Zur Einschätzung der Vorschläge vgl. Seldon und Lodge: Brown at 10, S. 17– 18; o. A.: Gordon Brown and the Constitution, Monitor: The Constitution Unit Newsletter, https://www.ucl. ac.uk/constitution-unit/publications/tabs/monitor-newsletter/monitor-37 (37/2007), zuletzt abgerufen am 18. 5. 2018. Vgl. Secretary of State for Justice und Lord Chancellor: The Governance of Britain, CM 7170. Wobei Kritiker hervorheben, dass weniger die Rechte, sondern die Pflichten von Citizenship im Zentrum des politischen Denkens New Labours standen. Vgl. Morrison: New Labour, S. 170.
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die in der britischen Rechts- und Debattentradition nur in Ansätzen fixiert war, hatten die British Nationality Acts von 1948 und 1981 doch bewusst nur Fragen der Staatsangehörigkeit, nicht der bürgerlichen Rechte (und Pflichten) festgelegt.²²⁷ War es in der Reform des British Nationality Law von 1981 darum gegangen, die offizielle Definition von Staatsangehörigkeit an nationalstaatliche Ideen anzupassen, die das Territorium des Vereinigten Königreich als Bezugspunkt hatten, ging Goldsmith damit, dass gesellschaftliche Rechte und Pflichten an die staatliche Zugehörigkeit gekoppelt werden sollten, einen Schritt weiter. Der Attorney General schlug zu diesem Zweck auch vor, dass die Regelungen des British Nationality Law überarbeitet werden sollten. Goldsmith bezog sich dabei darauf, dass es nicht zuletzt seit der letzten Reform die Situation entstanden sei, dass ein britischer Pass nicht die freie Einreise in das Vereinigte Königreich garantiere: In effect, the history of legislation on citizenship and nationality has led to a complex scheme lacking in overall coherence or any clear and self-contained statement of the rights and responsibilities of citizens. There remain six different categories of citizenship, whose differences and whose rights and privileges can only be discovered by a close and careful analysis of a patchwork of legislation. If citizenship should be seen, I would argue, as the package of rights and responsibilities which demonstrate the tie between a person and a country, the present scheme falls short of that ideal.²²⁸
In der Presse wurden die Vorschläge Goldsmiths jedoch eher kritisch diskutiert. Kommentatoren kritisierten seinen Vorschlag, „citizenship ceremonies“ nicht nur für Neubürger, sondern für alle Jugendlichen einzuführen, ebenso wie Pläne zur Einführung eines Nationalfeiertags.²²⁹ Das britische Empire, dessen legislative und institutionelle ‚Überreste‘ die Debatte und letztendlichen gesetzlichen Regelungen des British Nationality Act von 1981 so geprägt hatten, war in diesen Diskussionen um die Neuausrichtung britischer Citizenship bezeichnenderweise weitestgehend abwesend. Dies mag zum einen daran gelegen haben, dass im 2002 verabschiedeten British Overseas Territories Act noch bestehenden Unzufriedenheiten in den verbleibenden Dependencies entgegengekommen worden war. Unter den Bestimmungen des Gesetzes, das zunächst allerdings nicht sonderlich hoch auf der Agenda der ersten
Siehe Kapitel I.2. Lord Goldsmith QC: Citizenship. Zu den Vorschlägen vgl. ebd., S. 93 – 98. Zur Kritik vgl. Britishness: Citizen Goldsmith, Guardian, 12. 3. 2008, S. 38; Steve Doughty: The good citizens’ guide, Daily Mail, 12. 3. 2008, S. 8; Anthony Browne: Yes, there’s a crisis in our national identity but an oath of allegiance won’t change that, Daily Mail, 12. 3. 2008, S. 14; Paul Donovan: Is this ‚Britishness‘?, Morning Star, 28.8. 2008.
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Legislaturperiode gestanden hatte, wurde die Kategorie der British Dependent Territories Citizenship in British Overseas Territories Citizenship umgewandelt, die dem Status eines British Citizens gleichgestellt war: British Overseas Territories Citizens hatten mit der British Citizenship effektiv eine doppelte Staatsbürgerschaft.²³⁰ Analog dazu wurden die British Dependent Territories auf eigenen Wunsch in British Overseas Territories umbenannt. Zum Zeitpunkt des Gesetzes betraf diese Regelung die Gebiete Anguilla, Bermuda, British Antarctic Territory, British Indian Ocean Territory, British Virgin Islands, Cayman Islands, Falkland Islands, Gibraltar, Montserrat, Pitcairn Islands, Saint Helena, Ascension und Tristan da Cunha, South Georgia und die South Sandwich Islands sowie die Turks und Caicos Islands. Hongkong war 1997 in das Hoheitsgebiet Chinas übergegangen, daher betraf diese Regelungen nur rund 186 000 Personen; auch, da nicht alle Bewohner britischer Dependencies Staatsbürger waren und damit für diese Regelung in Frage kamen.²³¹ Anlass für diese Reform war ein Vulkanausbruch auf der Karibikinsel Montserrat im Juni 1995 gewesen. Während des Krisenmanagements war deutlich geworden, dass das Verhältnis von Metropole und Dependency in den Augen der Labour-Regierung nur unzureichend bestimmt war; die Reform des Nationality Law war eine Konsequenz aus dem Versuch der Labour-Regierung, gegenseitige Rechte und Pflichten auch in diesem Bereich einzuführen.²³² Zugleich wurden die nicht zuletzt seit der Änderung des Nationality Act im Zuge des Falklandkrieges schwelende Unzufriedenheit vieler Bewohner von Dependent Territories wie Bermuda beendet, die die Bevorteilung ethnisch weißer Bewohner unter den Regelungen des „right of abode“ bemängelt hatten.²³³ Das bedeutet aber nicht, dass das Empire in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren politisch unumstritten gewesen wäre. Historiographisch hatte sich zuerst an der Neuauflage der Oxford History of the British Empire, dann an David Cannadines „Ornamentalism“ eine Kontroverse über die angemessene Interpretation des britischen Kolonialreichs entfacht. Dieser Auseinandersetzung folgte kurz darauf ein historiographischer Grundsatzstreit über den Einfluss des Empire auf die britische Gesellschaft anlässlich der Publikation von Bernard Porters’ „Absent-minded imperialists“, in der nicht nur über die Rolle und den Stellenwert des Empire, sondern auch über methodische Grundfragen gestritten wurde.²³⁴ Im
Fransman, Berry und Harvey: British nationality law (2011), S. 287. Peter Clegg: The UK Caribbean overseas territories, New Labour, and the strengthening of metropolitan control, in: Caribbean Studies 34/2006, S. 131– 161, hier S. 143. Ebd., S. 140. David Usborne: The end of an empire? Not quite, Independent, 27. 5.1997, S. 14. Vgl. hierzu beispielsweise Porter: The absent-minded imperialists; Paul Gilroy: After empire. Melancholia or convivial culture?, Abingdon 2004; Antoinette M. Burton (Hrsg.): After the imperial
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Zuge der Britishness-Debatte erinnerte David Marquand an die „ugly side of Britishness“ und mahnte: „a conversation on Britishness that ignored the dark side of empire would be a travesty.“²³⁵ Eine Entschuldigung für die Verbrechen der Vorfahren helfe aber nicht, sondern führe im schlimmsten Fall dazu, dass sich die Trennlinien in einer bereits fragmentierten multikulturellen Gesellschaft weiter vertieften. Dennoch sei eine offene und ehrliche Debatte über Britishness nur möglich, wenn sich auch mit diesem beschämenden Aspekt britischer Geschichte auseinandergesetzt werde.²³⁶ Marquands Ansichten standen im deutlichen Gegensatz sowohl zur offiziellen Position von Tony Blair wie auch seines Nachfolgers Gordon Brown. Brown wurde vorgeworfen, im besten Fall das Thema des Empire in seinen Reden zu Britishness zu umgehen, im schlimmsten Fall der Verantwortung aus dem Weg zu gehen.²³⁷ Der damalige Finanzminister äußerte sich im BBC Programm Newsnight anlässlich eines Besuchs in Tanzania im Jahr 2005 wie folgt: I think the days of Britain having to apologise for our history are over. I think we should move forward. I think we should celebrate much of our past rather than apologise for it and we should talk, rightly so, about British values.²³⁸
Bezüglich der rechtlichen und kulturellen Definition von britischer Nationalität von Seiten der Regierung ergibt sich hier ein interessantes Bild: Rechtlich wurden die Überreste des Empire immer enger an die ehemalige Metropole angeschlossen, während seit den frühen 2000er Jahren verstärkt auf kulturellen Zusam-
turn. Thinking with and through the nation, Durham 2003; Hall und Rose (Hrsg.): At home with the empire; L. J. Butler: Britain and Empire. Adjusting to a post-imperial World, London 2002; Ward (Hrsg.): British culture; Elizabeth Buettner: Empire families. Britons and late imperial India, Oxford 2004; John MacKenzie: The Empire of nature. Hunting, conservation, and British imperialism, Manchester 1988; Bill Schwarz: The end of Empire, in: Paul Addison (Hrsg.): A companion to contemporary Britain 1939 – 2000, Malden, Mass. 2007, S. 482– 498; Wendy Webster: Englishness and Empire, 1939 – 1965, New York 2005; Hall: Histories, empires and the post-colonial moment; Anne McClintock: Imperial leather. Race, gender, and sexuality in the colonial contest, New York 1995; Catherine Hall und Sonya O. Rose: Introduction: being at home with the Empire, in: Catherine Hall und Sonya O. Rose (Hrsg.): At home with the Empire. Metropolitan culture and the imperial world, Cambridge 2006, S. 1– 31; MacKenzie: The popular culture of Empire; MacKenzie: Propaganda and empire. Vgl. außerdem Kapitel I.2. David Marquand: „Bursting with skeletons“. Britishness after Empire, in: The Political Quarterly 78/2007, S. 10 – 20, hier S. 15. Vgl. ebd. Vgl. hierzu beispielsweise Hassan: Don’t mess with the missionary man, S. 95; Lee: Best for Britain, S. 144; Pitcher: The politics of multiculturalism, S. 53 – 56. Kearney: Brown seeks out ‚British values‘, BBC Newsnight.
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menhalt über gemeinsame und universale Werte geachtet wurde. Die 1981 so wichtige Vorstellung, dass das Territorium des Vereinigten Königreichs die Grundlage und die Grenzen der britischen Staatsbürgerschaft bilden sollte, wurde dafür aufgehoben – auch wenn diese Idee nach der Übergabe Hong Kongs an China natürlich nur noch eine vergleichsweise geringe Anzahl an Fällen betraf. Dennoch zeigt sich an diesen Regelungen, dass nicht nur in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit über Ursprung und Inhalt von britischer Identität diskutiert wurde, sondern dass auch die damit verbundenen rechtlichen Größen wie Nationalität neu definiert wurden. Die Britishness-Debatte stellte damit effektiv eine Neuaushandlung des nationalstaatlichen Prinzips im Vereinigten Königreich dar. Die Multikulturalität der britischen Gesellschaft wurde zwar zunehmend als gegebene Tatsache angesehen, geriet gleichzeitig jedoch als politisches Konzept in die Kritik. Die Verantwortung für das Empire wurde jedoch nur in Teilen anerkannt; ein Umstand, der sich auch daran zeigte, dass 2007 in Politik und Öffentlichkeit über die angemessene Behandlung des britischen Kolonialreichs im Geschichtsunterricht gestritten wurde.²³⁹ Die Initiativen Browns zu Staatsbürgerschaft, nationaler Identität und britischen Werten waren umstritten. Kritik kam von unterschiedlichen Seiten und wurde an unterschiedlichen Stellen geübt. Zentral waren dabei die Erfolge, die die SNP bei den Wahlen des schottischen Parlaments im Mai 2007 verbuchen konnte: Nicht nur stellte die Partei mit Alex Salmond den First Minister einer Minderheitsregierung und übernahm zum ersten Mal Regierungsverantwortung, sondern der Wahlerfolg der SNP wies auch darauf hin, dass die nach den Verfassungsreformen der 1990er Jahre und nach der Einführung von Devolution gefundene konstitutionelle Regelung möglicherweise doch Einfluss auf den politischen Nationalismus in Schottland und Wales haben könnte.²⁴⁰ In der am selben Tag gewählten walisischen Assembly konnte Plaid Cymru ebenso Sitze auf Kosten der
Zur umstrittenen Stellung des Empire im Geschichtsunterricht vgl. Susanne Grindel und Lars Müller: Schule und Empire. Das neue englische Geschichtscurriculum, in: Eckert. Das Bulletin. 2013, S. 26 – 29; Carsten Mish: Die Dekolonisation des Empire in britischen Geschichtsbü chern seit 1947, in: Internationale Schulbuchforschung 30/2008, S. 741– 762. Zum Geschichtsunterricht in England seit den 1980er Jahren im Allgemeinen vgl. Cannadine, Keating und Sheldon: The right kind of history, S. 181– 202. Die Labour Party gewann 46, die SNP 47 von 129 möglichen Sitzen; was einen klaren Zuwachs von 20 Sitzen für die SNP bedeutete. Die Konservativen kamen auf 17, die Liberal Democrats auf 16 Sitze. Vgl. Chris Robinson: Electoral systems and voting in the United Kingdom, Edinburgh 2010, S. 148.
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Labour Party gewinnen; die Parteien gingen im Anschluss eine Regierungskoalition ein.²⁴¹ In diesem Kontext wurden die Vorschläge Browns von einem Teil der Kommentatoren als zu anglozentrisch kritisiert. Michael Fry hielt anlässlich der Publikation des Grünbuchs „The Governance of Britain“ in der Zeitschrift Prospect fest: The question of British values is bedevilled, like so many others, by the inability of the English to distinguish between England and Britain. When the English make up 80 per cent of the British, this may not seem to them important. When they are trying to keep the other 20 per cent on board, it is. Ask an Englishman to define English values, and he will no doubt say fair play, decency, that sort of thing. Ask him to define British values, and he will no doubt say exactly the same.²⁴²
Der Politologe Simon Lee teilte diese Einschätzung; Brown verwende Beispiele aus der englischen Geschichte wie die Magna Charta oder die Bill of Rights zur Beschreibung von Großbritannien und den Briten; dies stelle den größten Fehler seines Programms dar.²⁴³ David Cameron hingegen kritisierte als Oppositionsführer, dass die von Gordon Brown an unterschiedlicher Stellen formulierten Werte von „tolerance, liberty, fair play and social responsibility“²⁴⁴ nicht britisch, sondern universal und damit austauschbar seien: He talks about values but Britishness isn’t just about values – liberty, fair play, openness – are general, unspecific, almost universal. They are virtues which could be as easily associated with Denmark, say, or Holland. Britishness is also about institutions, attachment to our monarchy, admiration for our armed forces, understanding of our history, recognising that our liberty is rooted in the rule of law and respect for parliament.²⁴⁵
Es mehrte sich jedoch auch eine generelle Kritik am Britishness-Projekt Gordon Browns. Michael White, Journalist des linksliberalen Guardian, stellte bereits 2006 die Frage, ob die Vision eines weltoffenen Großbritanniens, das sich globalen Herausforderungen stelle, angesichts der Kritiker aus dem linken und
Labour gewann 26 von 60 möglichen Sitzen und verlor dabei vier; Plaid Cymru gewann 15, drei mehr als in der Wahl zuvor, während die Konservativen zwölf Sitze gewannen, einen Sitz mehr als in der Wahl 2003. Vgl. ebd. Michael Fry: In search of British values, Prospect, https://www.prospectmagazine.co.uk/ magazine/insearchofbritishvalues1 (27.10. 2007), zuletzt abgerufen am 12.6. 2018. Lee: Best for Britain, S. 145. So Brown aus der Rückschau in seinen Memoiren, vgl. Brown: My life, our times, S. 395. David Cameron: Our union held firm by the people, for the people, Birmingham Post, 11.12. 2007, S. 10.
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rechten Spektrum bestehen könne, die im konservativen Fall dem Empire hinterhertrauerten und Europa hassten, im linken Spektrum den USA ablehnend gegenüber standen.²⁴⁶ Akademiker, die sich vor allem mittels Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen in die Debatte einschalteten, bewerteten sie oft als fehlgeleitet. Gerade Historiker, die sich so früh mit dem Thema nationaler Identität und Britishness beschäftig hatten, übten Kritik: Der Historiker Timothy Garton Ash bemängelte beispielsweise, dass in der Debatte Begriffe wie Staatsbürgerschaft, Werte und Identität nicht trennscharf verwendet würden, jedoch vor allem die genaue Definition von Rechten und Pflichten britischer Staatsbürgerschaft notwendig sei.²⁴⁷ Tom Devine, ebenfalls Historiker, äußerte sich deutlicher auf den Seiten des Prospect Magazine: Die Zähigkeit, mit der Brown das Thema britischer Werte verfolge, sei an sich Hinweis darauf, dass es unmöglich sei, eine weithin akzeptierte Version zu finden und dass die Debatte wenig Eindruck auf die Öffentlichkeit mache. Das grundlegende Problem der Kampagne bestehe jedoch darin, dass Britishness als eine Identität, die sich im 18. Jahrhundert als Ideologie eines aggressiven Empire gebildet habe, nun vor dem Zerfall stehe, da sich die gemeinsame Basis von Protestantismus, imperialem Projekt und Feindschaft zu Frankreich und später Deutschland erledigt habe. Devine rezitiert damit im Kern das Argument Linda Colleys; seine Empfehlung war, dass Britishness eine neue, föderale Basis benötige, die aber die Vorteile der Union betone. Colley selbst, die bereits im Jahr 1999 eine von mehreren Millennium Lectures in No 10 Downing Street gehalten hatte²⁴⁸, kuratierte eine 2008 eröffnete Ausstellung in der British Library, die unter dem Titel „Taking Liberties“ einen kritischen Blick auf die Geschichte und Bedeutung von Bürgerrechten im Vereinigten Königreich warf.²⁴⁹ Aber auch aus anderen Disziplinen erfolgte Kritik: Verfassungsexperte Vernon Bogdanor ging so weit zu sagen, dass die neue „Ideologie“ von Britishness wenig Substanz habe, während Anthony Giddens im House of Lords Britishness aufgrund der Tatsache kritisierte, dass sie eine essentialistische Kategorie darstelle.²⁵⁰
Vgl. Michael White: In search of Britishness, Guardian, 10.11. 2006, S. 15. Timothy Garton Ash: In search of British values, Prospect, https://www.prospectmagazine. co.uk/magazine/insearchofbritishvalues1 (27.10. 2007), zuletzt abgerufen am 12.6. 2018. Vgl. Bryant: The British question. Vgl. hierzu die beiden Begleitbände zur Ausstellung sowie ein Interview im Times Higher Education Supplement zur Ausstellungseröffnung, Michael Ashley: Taking liberties. The struggle for Britain’s freedoms and rights, London 2008; Linda Colley: Taking stock of Taking Liberties. A personal view, London 2008; Matthew Reisz: Citizenship papers, Times Higher Education Supplement, 23.10. 2008, S. 38. Vgl. Vernon Bogdanor: Apocalyptic visions, in: Tom Nairn (Hrsg.): Gordon Brown ‚Bard of Britishness‘, Cardiff 2006, S. 56 – 60, hier S. 56; Ian Cruse: Debate on 19th June. Britishness, House of Lords library note, LLN 2008/015 (London 16.6. 2008).
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Kritisiert wurde auch der insuläre Charakter der Debatte um staatsbürgerliche Rechte: In Zeiten der Globalisierung verblieb die Diskussion in nationalgesellschaftlichen Grenzen, ja verstärkte diese gerade dadurch, dass sie nach dem einigenden Moment des Nationalen fragte. Catherine McGlynn, Andrew Mycock und James W. McAuley beschrieben dieses Phänomen wie folgt: One of the most notable aspects of this debate has for us been the astonishing amount of introspection on display. On the surface, discussions about defining the legal and cultural bonds between citizens in the twenty-first century United Kingdom are inherently enmeshed within international forces, as globalization has through the increased movement of information, capital and people, challenged the sovereignty of states and offered ways of creating and sustaining community memberships that stretch mentally and physically beyond borders.²⁵¹
Angesichts der kontroversen Debatte erscheint es nicht überraschend, dass die von Brown, aber auch von Politikern wie Liam Byrne vorgebrachten Vorschläge zu einem Nationalfeiertag scheiterten, für den der Remembrance Day am 11. November, aber auch die gesetzlichen Feiertage im Mai und August ins Spiel gebracht worden waren.²⁵² Letzten Endes verliefen die von Gordon Brown und der Labour Party angestoßene Debatte zur Belebung von Britishness im Sande. Die mehrheitlich günstige Wirtschaftslage, die das New Labour-Projekt in den späten 1990er und durch die 2000er Jahre getragen hatte, ging mit der aufkommenden Finanzkrise im Jahr 2007 und 2008 an ihr Ende; nahezu analog dazu geriet die Debatte über britische nationale Identität in das Hintertreffen. Die Themen und Problemstellungen blieben weiterhin bestehen, kehrten jedoch in veränderter Form auf die politische Bild- und Debattenfläche zurück: Migration und Großbritanniens Rolle in der EU sollten bald die Auseinandersetzung über britische Identität bestimmen. Ein Vergleich der British Social Attitudes Survey mit früheren wissenschaftlichen Untersuchungen verdeutlicht, wie sich die wissenschaftliche Konzeption der Erforschung nationaler Identitäten für Großbritannien seit den 1990er Jahren verändert hat: In der Analyse unterschiedlicher nationaler Identitäten innerhalb des Vereinigten Königreichs wurden diese häufig als ‚feste‘ Identitäten angese-
Catherine McGlynn, Andrew Mycock und James W. McAuley: Introduction – Britishness, identity and citizenship: the view from abroad, in: Catherine McGlynn, Andrew Mycock und James W. McAuley (Hrsg.): Britishness, identity and citizenship. The view from abroad, Oxford 2011, S. 1– 8, hier S. 2. Vgl. hierzu Rachelle Money: Brown waves flag for Britain day … but will the idea fly?, Sunday Herald, 15.1. 2006, S. 10; Alan Cochrane: A Britishness day is not the British way, Daily Telegraph, 4.6. 2008, S. 22.
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hen, während Britishness als die fragile und letztlich gefährdete Identität behandelt wurde. Diese Herangehensweise lässt sich bereits bei Linda Colley und Keith Robbins feststellen: Durch die Einordnung in das Break up of Britain-Narrativ wird Britishness als fest umrissene Größe konzeptioniert, die gerade in Konkurrenz mit anderen nationalen Identitäten zu- oder abnehmen konnte. Diese konzeptionelle Veränderung von Identitätskonzepten zeigte sich auch in Labournahen politischen Studien: Verwendete Mark Leonard in seinem Demos-Bericht ein statisches Identitätskonzept, das politisch „gemanaged“ werden konnte, ging der Parekh-Report von der Pluralität von Identitäten aus: People today are constantly juggling different, not always wholly compatible, identities. South Asians and African-Caribbeans support India, Pakistan and the West Indies against England but England against Australia, especially when the English team includes Asian and black players.²⁵³
Anthony Heath, Jean Martin und Gabriella Elgenius debattieren in der British Social Attitudes Survey des Jahres 2007 hingegen nationale Identitäten als eine von mehreren möglichen sozialen Identitäten, worunter auch Klasse, politische Orientierung und Religion gezählt wurden.²⁵⁴ Auf Basis der Ergebnisse der British Social Attitude Surveys ab 1983 und der British Election Studies ab 1964 ging es den Autoren darum, veränderte Formen von Gruppenmitgliedschaft in einer „postindustrial society“ zu analysieren. Die Ausgangsfrage war, ob die traditionellen Identitäten von Klasse, Partei, Religion und Britishness wirklich abgenommen hätten. Die Autoren unternahmen damit eine kritische Überprüfung der Thesen, die viele der frühen Forscher der Britishness-Debatte wie beispielsweise Linda Colley oder auch Richard Weight vertreten hatten. Letzten Endes ging es um die Frage, ob eine Abnahme von sozialer Identität mit einer Abnahme von Werten korrelierte.²⁵⁵ In Bezug auf nationale Identitäten – das heißt in diesem Fall in Bezug auf Schottland, Wales, England und Großbritannien – hielten die Autoren fest, dass eine Abnahme von Britishness seit 1997 weniger in Schottland und Wales und mehr in England erkennbar sei: „In England the proportion who say they are British fell from 59 per cent in 1997 to just 44 per cent in 1999, and this
Commission on the Future of Multi-Ethnic Britain: The future of multi-ethnic Britain, S. 36 – 37. Vgl. Anthony Heath, Jean Martin und Gabriella Elgenius: Who do we think we are? The decline of traditional social identities, in: Alison Park, John Curtice, Katarina Thomson, Miranda Phillips und Mark Johnson (Hrsg.): British social attitudes. The 23rd report. Perspectives on a changing society, London/Thousand Oaks/New Delhi 2007, S. 1– 34. Ebd., S. 2– 3.
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figure has subsequently recovered to no more than 48 per cent“; obgleich Britishness in Schottland bereits seit den 1970er bis in die 1990er Jahre deutlich abgenommen habe.²⁵⁶ Bezüglich der Entwicklung der unterschiedlichen sozialen Identitäten hielten die Autoren widersprüchliche Ergebnisse fest. In Bezug auf religiöse Identitäten verzeichnete sie den deutlichsten Abstieg, während die britische nationale Identität zwar bei Weitem nicht so stark abgenommen habe. Eine deutliche Bindung dieser Identität an Werte lasse sich nicht feststellen.²⁵⁷ Die Klassen- und Parteienzugehörigkeit falle in die Mitte dieser beiden Pole: There has been little, if any, decline in class identity […] differences in class values are relatively small compared with differences in religious values – and appear to have declined quite considerably over the past two decades. While people may still think of themselves as belonging to a particular class, social classes do not seem to act as distinctive normative references groups in the way that they once did.²⁵⁸
Die Einbettung von nationaler Identität im Forschungsdesign in andere, gleichberechtigter Faktoren von sozialer Identität markiert ein grundlegend anderes Verständnis: Sie wird zu einem unter mehreren Faktoren, nicht mehr unbedingt zum bestimmenden Aspekt.²⁵⁹ Diese Verschiebung zeigte sich auch im weiteren Feld der britischen Geschichts- und Sozialwissenschaften: Eine kulturwissenschaftlich inspirierte, flexible, fluide und anpassungsfähige Konzeption von Britishness erlangte in den 2000er Jahren verstärkte Aufmerksamkeit. Dies zeigte sich beispielsweise im Werk von Paul Ward, dessen Forschungen zu „Britishness since 1870“ gerade die Anpassungsfähigkeit des Konzepts betonen.²⁶⁰ Auch im politischen Kontext war die Hervorhebung der Multiplizität von Identitäten zum Allgemeinplatz geworden: Besonders die Erfolge der SNP in den schottischen Parlamentswahlen führten dazu, dass nicht nur Gordon Brown als Schotte die Kompatibilität von schottischer mit britischer Identität betonte, sondern ebenso David Cameron.²⁶¹ Der Autor Ian Rankin fasste diese konzeptionelle Verschach-
Ebd., S. 11– 12. Vgl. ebd., S. 27– 28. Ebd., S. 28. Passend dazu interessierten sich die Autoren auch nicht für die „objektive“ Klassenzugehörigkeit, sondern den subjektiven Zuschreibungen. Vgl. ebd., S. 6. Ward: Britishness since 1870. Diese pluralistischere und inklusivere Art, britische nationale Identität zu denken, ist auf einer normativen Ebene zu begrüßen, wurde von Peter Mandler allerdings zu Recht dafür kritisiert, dass sie sich weit von der relevanten sozialpsychologischen Forschung entfernt habe und auf „common sense“-Urteilen beruhe. Vgl. Mandler: What is „national identity“, S. 272. Vgl. beispielsweise Cameron: Our union held firm by the people, for the people, Birmingham Post, 11.12. 2007, S. 10.
4 Zusammenfassung und Ausblick
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telung unterschiedlicher Identitäten einprägsam in der umfangreichen Adresse zusammen, die er als Kind in sein Tagebuch geschrieben hatte: Ian Rankin 17 Craignmead Terrace Bowhill Cardenden Fife Scotland Great Britain United Kingdom Europe The World The Universe.²⁶²
4 Zusammenfassung und Ausblick Die Banken- und Finanzkrise des Jahres 2007/2008 und die darauf folgende „Eurokrise“ ab dem Jahr 2010 führten zwar dazu, dass die „offizielle“, von der Regierung Gordon Browns initiierte Debatte über Britishness an Fahrt verlor und spätestens mit dem Regierungswechsel 2010 versandete. Das Nachdenken über Zugehörigkeit und Identität hat seitdem jedoch nicht an Brisanz verloren. Dies zeigte sich zunächst an der Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands im September 2014, die von 55,3 % der Schotten in einem Volksentscheid abgelehnt wurde. Aber auch das Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU knapp zwei Jahre später gab Fragen von Identität Aufwind. Dies zeigte sich besonders an der Argumentation der Kampagnen für den Austritt: Während die in der überparteilichen Organisation Vote Leave organisierten Befürworter des Austritts den Schwerpunkt auf Wirtschaft und staatliche Souveränität legten, setzte die von der europakritischen und populistischen UK Independence Party (UKIP) unterstützte Leave.EU auf das Thema Einwanderung.²⁶³ Auch die Einheit des Vereinigten Königreichs scheint nach der Zustimmung zum Austritt aus der EU einmal mehr in Gefahr, unterscheiden sich doch die Ergebnisse innerhalb der einzelnen Landesteile deutlich: Die erfolgreiche Mehrheit der Austrittsbefürwor-
Ian Rankin: Worlds within worlds, in: Matthew D’Ancona (Hrsg.): Being British. The search for the values that bind the nation, Edinburgh 2009, S. 35 – 36, hier S. 35. Vgl. Vernon Bogdanor: Brexit, the constitution and the alternatives, in: King’s Law Journal 27/ 2016, S. 314– 322, hier S. 315; Geoffrey Evans und Anand Menon: Brexit and British politics, Cambridge 2017, S. 52– 53.
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ter saß in England und Wales. Schottland, Nordirland (und Gibraltar) stimmten für den Verbleib in der EU.²⁶⁴ Obgleich die Kampagnen von Leave und Remain den Fokus auf unterschiedliche Themenfelder legten, stand die Frage, an welchem Bezugspunkt sich das Vereinigte Königreich im 21. Jahrhundert orientieren sollte, im Mittelpunkt aller Argumentationen – je nach politischer Ausrichtung wurde dabei die Europäische Union, die „Anglosphäre“ englischsprachiger Staaten oder auch die Vorstellungen eines „globalen“ Großbritanniens genannt.²⁶⁵ Die Auseinandersetzung über den „Brexit“ verdeutlicht jedoch nicht nur das Fortdauern der Debatte um Identität und Zugehörigkeit, sondern konturiert als eindringliche Gegenfolie die Besonderheit der seit Mitte der 1990er bis circa 2007/ 08 geführten Diskussion über Britishness. Zwei Phasen werden dabei deutlich: Eine erste, die eng mit dem politischen Projekt New Labours und der Devolutionsgesetzgebung zusammenhing und eine zweite, die ab ungefähr 2001 im Kontext von Terrorismus, Asyl und Migration stärker über die Inhalte und mit britischer Identität verbundenen Werte sprach. Besonders die zweite Phase wurde von verstärkten politischen Bemühungen von Teilen der Labour-Regierung um eine explizite Auseinandersetzung mit den Inhalten und Charakteristika britischer Identität flankiert. Beide Teile dieser Geschichte des Nachdenkens und Sprechens über die britische Nation sind von einem engen Zusammenhang zwischen Politik, Medien und der Rezeption von Meinungsumfragen gekennzeichnet; ebenso durch bemerkenswerte wirtschaftliche Stabilität, dem Glauben an die positiven Folgen von Globalisierung und der Abwesenheit von „class“ als nennenswertem sozialpolitischen Streitpunkt. Vor allem letztere stellen Faktoren dar, deren Wahrnehmung sich in der Brexit-Debatte grundlegend gewandelt hatte.²⁶⁶
Auf das gesamte Vereinigte Königreich bezogen stimmten 51,9 % der Wahlbeteiligten für den Austritt und 48,1 % für den Verbleib bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 %. Die Lager von Brexit und Remain nach dem Referendum lassen sich geographisch jedoch klar abgrenzen: Der Brexit ist ausschließlich ein englisch-walisisches Unternehmen, in Schottland stimmte mit 62 % eine deutliche Mehrheit für den Verbleib, auch in Nordirland mit 55,8 %. Zu den potentiellen Auswirkungen des Brexit-Votums auf die unterschiedlichen Landesteile vgl. McHarg und Mitchell: Brexit and Scotland; Ailsa Henderson, Charlie Jeffery, Dan Wincott und Richard Wyn Jones: How Brexit was made in England, in: The British Journal of Politics and International Relations 19/2017, S. 631– 646; Cathy Gormley-Heenan und Arthur Aughey: Northern Ireland and Brexit. Three effects on ‚the border in the mind‘, in: The British Journal of Politics and International Relations 19/2017, S. 497– 511. Vgl. Kenny und Pearce: Shadows of Empire. The Anglosphere in British politics, S. 152– 161. Philip Murphy: The Empire’s new clothes. The myth of the Commonwealth, London 2018, S. 225 – 232. Zu den in der Debatte verhandelten Themen vgl. Helen Thompson: Inevitability and contingency. The political economy of Brexit, in: The British Journal of Politics and International
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In der ersten Phase der Britishness-Debatte ab Mitte der 1990er Jahre wurden Großbritannien und britische nationale Identität als positiv besetztes Vermarktungsinstrument in Politik und Populärkultur verstanden. Nach Jahren des relativen wirtschaftlichen und machtpolitischen Niedergangs reflektierten nationale Symbole die Aufbruchsstimmung in Kultur und Politik. Die Reformer innerhalb der Labour Party bedienten sich im Wahlkampf 1997 erfolgreich dieser nationalen Symbole und einer nationalen Rhetorik. Das Ziel der neu gewählten Labour-Regierung, als Teil eines breit angelegten Reformprojekts den sozialen Zusammenhalt der britischen Bevölkerung durch die Betonung von citizenship und community zu stärken, wurde ebenfalls in der Sprache von Britishness kommuniziert: Identität wurde zum formbaren Gut. Jedoch nicht zuletzt durch die von der Regierung Blair verabschiedeten verfassungspolitischen Maßnahmen wurde Britishness in Teilen der politischen und öffentlichen Wahrnehmung gegen Ende der 1990er Jahre zu einem Problem, für das es Lösungen zu finden galt. Besonders durch die Einführung von Devolution in Schottland und Wales wurden Ängste geschürt, dass das Vereinigte Königreich auseinanderbrechen könnte. Bei Journalisten wie Politikern bestand die Sorge, dass die neuen politischen Strukturen den walisischen, vor allem aber den schottischen Separatismus fördern könnten – der „break-up of Britain“-Diskurs war wieder auf der politischen Tagesordnung. Statt der relativ unbeschwerten Verwendung von britischen Nationalsymbolen wurde nun in Wissenschaft und Politik verstärkt darüber nachgedacht, welchen Einfluss die neue Verfassungsregelung auf die Entwicklung der unterschiedlichen Identitäten im Vereinigten Königreich haben könnte; besondere Sorge galt dem englischen Landesteil. „Britishness“ war somit mehr als ein rein politisches Projekt – es entwickelte sich zu einer ausgewachsenen, breit in den Medien diskutierten Selbstvergewisserungsdebatte, die jedoch auf der gestiegenen Präsenz der Frage nach der „britischen Nation“ in Medien, Politik und Wissenschaft seit den 1980er Jahren aufbaute, in den 1990er Jahre jedoch auch zunehmend Fragen von Scottishness, Welshness, Irishness und Englishness verhandelte.²⁶⁷ Relations 19/2017, S. 434– 449, hier S. 446; Matthew Goodwin und Caitlin Milazzo: Taking back control? Investigating the role of immigration in the 2016 vote for Brexit, in: The British Journal of Politics and International Relations 19/2017, S. 450 – 464; David Goodhart: The road to somewhere. The populist revolt and the future of politics, London 2017, S.vii, 1– 6, 19 – 25; Thomas L. Friedman: Thank you for being late. An optimist’s guide to thriving in the age of accelerations, New York 2016, S. 578 – 583; Evans und Menon: Brexit and British politics, S. 24– 28; Anthony Barnett: The lure of greatness. England’s Brexit & America’s Trump, London 2017, S. 98; Lorenza Antonucci, Laszlo Horvath, Yordan Kutiyski und André Krouwel: The malaise of the squeezed middle: Challenging the narrative of the ‚left behind‘ Brexiter, in: Competition & Change 21/2017, S. 211– 229. Zur Interpretation von „Britishness“ als politisches Projekt vgl. beispielsweise Pitcher: The politics of multiculturalism, S. 46. Gerry Hassan verortet das Aufkommen von „Britishness“ im
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Nach dem Jahr 2001 änderte sich die Debatte. Sorgen über zu große ethnische Diversität im Allgemeinen und die gesellschaftliche Integration von muslimischen Gemeinden im Besonderen weiteten sich unter Eindruck von Ausschreitungen und Terroranschlägen in den Jahren 2001 und 2005 zu einer ausgewachsenen medialen und politischen Debatte über Britishness aus. Ab diesem Zeitpunkt wurde im Kontext von Britishness nicht mehr allein über die Zukunft des Vereinigten Königreichs, sondern explizit über den Inhalt von britischer Identität diskutiert. Vor allem eine Verständigung über gemeinsame, genuin „britische“ Werte wurde vom späteren Premierminister Gordon Brown gefordert und gefördert. Diese „offizielle“ Britishness-Debatte war in diesem Zusammenhang sowohl Ausdruck politischer Unsicherheit, als auch der wahrgenommenen Notwendigkeit, angesichts der kulturellen „Bedrohung“ der britischen Nationalgesellschaft durch Asyl, Migration und Terrorismus über die kulturelle Basis sozialen Zusammenhalts nachzudenken. Sie reflektierte zugleich den verstärkten internationalen Fokus auf Demokratie und Menschenrechte, der im Zuge der britischen Beteiligung an den Kriegen im Kosovo, Afghanistan und Irak deutlichen Einfluss auf die politische Rhetorik der Regierung genommen hatte.²⁶⁸ Die Britishness-Debatte der 1990er und 2000er Jahre muss als Teil eines längeren Sinngebungsprozesses verstanden werden, dessen Wurzeln bis in die 1960er Jahre zurückreichen. Die Frage, wer oder was ein Brite ist, war eng mit politischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen verflochten. Die einzelnen „Pfeiler“ des sozialen Imaginären, des gedachten Koordinatensystems, in dem Großbritannien verortet wurde, waren bedingt durch Faktoren wie Dekolonisation, (post‐)koloniale Einwanderung und wirtschaftlichem Wandel seit den 1960er Jahren in Bewegung geraten. Die Auseinandersetzung mit Britishness in den 1990er und 2000er Jahren stellte einen Höhepunkt des längerfristigen Aushandlungsprozesses sozialer Ordnung innerhalb des Vereinigten Königreichs dar, auch wenn das Zentrum dieser Auseinandersetzung bei den in London ansässigen Medien und Politiker lag. Das Reformprojekt New Labours stellte damit eine Konsequenz dieser seit den späten 1960er Jahren ablaufenden Aushandlungsprozesse dar. Indem die Regierung Blair versuchte, ambitionierte Lösungen für seit Jahrzehnten bestehende politische Probleme zu finden, führte sie diese Prozesse fort. Mit der Verfassungsreform wurde beispielsweise mit der Einführung von Devolution und der Umgestaltung des House of Lords – zumindest auf rhetorischer Ebene – versucht, das in den 1970er Jahren identifizierte Demokratie-
politischen Diskurs aus der Krise der britischen Sozialdemokratie; eine Sicht, die ebenso zu kurz greift. Hassan: Don’t mess with the missionary man, S. 97. Vgl. Yuval-Davis: Belonging and the politics of belonging, S. 211– 212.
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defizit auszugleichen; das Projekt eines multikulturellen Großbritanniens mit gestärkten nationalstaatlichen Kompetenzen und definierten Rechten und Pflichten eines jeden Staatsbürgers sollte eine Gesellschaft einen, die sich aufgrund kultureller Differenzen zu fragmentieren schien. Hatten die Debatten der 1970er und 1980er Jahre gezeigt, dass das britische soziale Imaginäre unter Druck geraten war, so stellen die wissenschaftlichen, politischen und öffentlichen Diskussionen und Projekte der 1990er und 2000er Jahre zum Teil explizite Versuche dar, das soziale Imaginäre neu zu kalibrieren. Angebote zur Orientierung waren unter anderem Großbritannien als multikultureller Nationalstaat und das Vereinigte Königreich als Heimat von vier gleichberechtigten Nationen unter dem Dach einer britischen Nation. Veränderungen im sozialen Imaginären zeigten sich vor allem in der Art und Weise, wie und anhand welcher Konzepte über soziale Zugehörigkeit diskutiert wurde, in diesem Fall ausgedrückt durch die Kategorie der „britischen nationalen Identität“. So verdeutlicht die Neuvermessung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft sowie die grundsätzliche Anerkennung ethnischer Diversität im New LabourDiskurs, wie sich die Grundparameter im Denken über soziale Zugehörigkeit nicht nur innerhalb der Labour Party änderten. Die Auseinandersetzung um Britishness, vor allem in Bezug auf die multikulturelle Gesellschaft des Vereinigten Königreichs, bedeutete jedoch nicht, dass mit dem imperialen Erbe des Vereinigten Königreichs abgeschlossen worden wäre: Das Empire und die politische Verantwortung dafür blieben weiterhin ein strittiger Punkt in der politischen Öffentlichkeit.
Fazit Entsprechend der oft zitierten Worte Dean Achesons hatte Großbritannien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Empire verloren und noch keine neue Rolle gefunden.¹ Der amerikanische Außenminister hatte sich 1962 auf die außenpolitische Situation des Vereinigten Königreichs bezogen. Die Debatte um britische nationale Identität legt Zeugnis davon ab, dass dieses Suchen nach einem neuen Selbstbild ebenso die Auseinandersetzungen innerhalb des Vereinigten Königreichs prägte. Während Acheson aus der Perspektive eines amerikanischen Amtsträgers noch wie selbstverständlich von Großbritannien als Nationalstaat gesprochen hatte, wurde nun öffentlich über den Inhalt eben jener Vorstellung debattiert – eine Diskussion, die sich seit den späten 1980er Jahren auf den Begriff von „Britishness“ zuspitzte und die ihre Hochphase in den späten 1990er Jahren bis zum Einsetzen der Finanzkrise 2007/08 hatte. Ziel dieser Arbeit war es, diese Debatte um Britishness zu historisieren. In der Einordnung der Auseinandersetzung um britische nationale Identität in ihren zeitgenössischen Kontext hat sich gezeigt, wie unterschiedliche, teils miteinander im Konflikt stehende Vorstellungen nationaler, aber auch staatlicher und gesellschaftlicher Zugehörigkeit den Kern der Debatte bildeten. Ab den 1960er Jahren stellten die Diskussionen um Nationalismus und Devolution sowie Einwanderung, gesellschaftliche Integration und Staatsbürgerschaft den Kern der Auseinandersetzung dar. Ab den 1980er Jahren spitzte sich die Debatte zunehmend auf das Thema der britischen Nation zu; der Begriff der „Britishness“ bündelte die Debatte auf die Analysekategorie der „nationalen Identität“. Die unterschiedlichen Diskussionen über nationale, staatliche und gesellschaftliche Zugehörigkeit – die seit den 1960er Jahren geführten Auseinandersetzungen um Nationalismus und Devolution, die in den 1970er Jahren erneut aufflackernde Debatte um die gesellschaftliche Integration von Einwanderern sowie die Reform der britischen Staatsbürgerschaft – verdeutlichen das komplexe Verhältnis der unterschiedlichen, teils miteinander im Konflikt stehenden Vorstellungen sozialer Zugehörigkeit. Diese bezogen sich zum Teil – je nach Bereich – nicht nur auf unterschiedliche Konzepte von „Nation“, „Staat“, „Empire“ oder „Gesellschaft“, sondern waren auch nur für einen bestimmten Kreis von Personen oder Gruppen gültig: So stand der British Nationality Act aus dem Jahr 1981 am Ende eines langwierigen politischen Prozesses, in dem unterschiedliche Regierungen beider Parteien versucht hatten, die bei der Mehr-
Zum Hintergrund der Rede vgl. Douglas Brinkley: Communication. Dean Acheson and the ‚special relationship‘: the West Point speech of December 1962, in: HJ 33/1990, S. 599 – 608, hier S. 599 – 608. https://doi.org/10.1515/9783110627671-007
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heit der Bevölkerung vorherrschenden Vorstellungen staatlicher Zugehörigkeit, die das Vereinigte Königreich als mehrheitlich ethnisch weiß imaginierten, mit einer imperial angelegten Staatsbürgerschaft in Einklang zu bringen. Während im British Nationality Act von 1948 aus machtpolitischen Gründen und bestehenden ethnischen Nationsvorstellungen zum Trotz eine breit angelegte, im imperialen Raum verankerte Definition von Staatsangehörigkeit gewählt wurde, haben nicht zuletzt die Debatten über die unterschiedlichen Einwanderungsgesetze zwischen 1962 und 1971 angesichts der Migrationsbewegungen der 1950er und 1960er Jahre gezeigt, dass in der politischen Auseinandersetzung in der Regel eine engere, ethnisch weiße Definition staatlicher Zugehörigkeit angelegt wurde. Mit dem British Nationality Act wurde 1981 letzten Endes ein dreigliedriges Staatsbürgerschaftssystem verabschiedet, das die Kategorien British citizen, British dependent territories citizen (BDTCs) und British overseas citizen (BOCs) vorsah. Grundlage für diese Klassifizierung war zum einen die territoriale Unterscheidung des ehemaligen Empire in das Vereinigte Königreich, seine weiterhin bestehenden „dependencies“ sowie die bereits unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien. Zum anderen wurden familiären Bindungen zum Vereinigten Königreich zur Grundlage für die Einteilung in die unterschiedlichen Kategorien, die bereits im Immigration Act von 1971 als „patriality“ bezeichnet wurden. War in der Debatte über die Reform der Staatsbürgerschaftsgesetzgebung Ende der 1970er Jahre bis Anfang der 1980er Jahre viel über die rechtlichen Kriterien staatlicher Zugehörigkeit diskutiert worden, legt die Debatte in Folge der Unruhen im Frühjahr und Sommer 1981 den gesellschaftlichen Umgang mit Einwanderung aus dem sogenannten New Commonwealth offen. Die Auseinandersetzung bezog sich besonders auf die zweite Generation von Migranten aus den ehemaligen Kolonien in der Karibik und aus Südasien. Die Vorstellung ethnisch bedingter kultureller Trennlinien, die die Einwanderer letzten Endes davon abhielten, in den Augen der Mehrzahl der Kommentatoren komplett Teil der britischen Gesellschaft werden zu können, bildete den grundlegenden Deutungshorizont, vor dem die Ursachen der Unruhen bewertet wurden. Die Auseinandersetzung hat aber ebenso deutlich gemacht, dass gemeinsame Normen und Werte sowie Erwerbsarbeit als grundlegende Faktoren gesellschaftlicher Teilhabe betrachtet wurden. Mit den Stichworten „Werteverfall“, „Arbeitslosigkeit“ und „jugendliche Devianz“ wurde in der Debatte auf tiefsitzende gesellschaftliche Probleme hingewiesen, die aufdeckten, dass kein Konsens über den angemessenen Umgang mit Einwanderern und die sozialen Konsequenzen steigender Arbeitslosenzahlen bestand. Ebenso mangelte es an einem Verständnis kultureller Gemeinschaft an sich und an einer klaren Vorstellung davon, wie gesellschaftliche Zugehörigkeit bestimmt werden sollte. Die Beispiele von Natio-
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nality Law und der Debatte in Folge der riots verdeutlichen, dass die innere Dekolonisierung Großbritanniens kein geradliniger Prozess war. Im Gegensatz dazu hatte die politische Debatte um das Devolutionsprojekt in den 1970er Jahren gezeigt, dass die verfassungsrechtliche Ordnung des Vereinigten Königreichs, das constitutional settlement, nicht nur durch einen Ausgleich unterschiedlicher politischer, aber auch wirtschaftlicher und kultureller Ansprüche geprägt war, sondern darüber hinaus unterschiedliche Nationsvorstellungen verschränkte. Die zwei Lösungsansätze, die von der Royal Commission on the Constitution in ihrem Bericht vorgelegt wurden, verweisen auf unterschiedliche Konzeptionen von Zugehörigkeit im Verhältnis zum britischen Staat. So verdeutlichte das Devolutionsnarrativ die fundamentale Stellung, die die Vorstellung der Souveränität des Parlaments in Westminster seit dem späten 19. Jahrhundert im verfassungsrechtlichen Denken hatte. In ihm wurden unterschiedliche Nationsvorstellungen innerhalb eines machtpolitisch zentral organisierten Staates in Einklang gebracht. Das Vereinigte Königreich wurde in dieser Sichtweise als Nationalstaat der „Briten“ verstanden, in dem wiederum separate Bevölkerungsteile lebten, die sich selbst als Nationen verstanden und auf dieser Basis Forderungen nach Selbstverwaltung stellten. Diese Lesart, die im Mehrheitsbericht der Royal Commission verdichtet dargestellt wurde, hatte deutlichen Rückhalt in Wissenschaft und Politik. Das im Memorandum of Dissent des Abschlussberichts der Royal Commission on the Constitution zugespitzte Narrativ der umfassenden Reform des Regierungsapparates nach regionalen Prinzipien konnte sich auch deshalb politisch nicht durchsetzen; möglicherweise auch, weil die Negierung des Nationsgedankens für Schottland und Wales an den politischen Diskursen der Zeit vorbeiging, in denen schottischer und walisischer Nationalismus nicht nur gesteigerte öffentliche, sondern auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit genoss. Beide hier dargestellten Debattenstränge setzten sich mit als grundlegend empfundenen Veränderungsprozessen auseinander: Waren es in der Diskussion um die Unruhen und die Ausschreitungen im Jahr 1981 demographische Veränderungen, aber auch das rauere wirtschaftliche Klima, dem Politiker und Kommentatoren die britische Gesellschaft ausgesetzt sahen, wurde im Rahmen von Devolution ebenso über eine schwächelnde Wirtschaftsleistung und industriellen Strukturwandel, aber auch über den Prozess der Dekolonisation diskutiert. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, industriellen und politischen Veränderungsprozesse waren daher häufig der Anlass, weswegen über Zugehörigkeit zur britischen Nation, Staat oder Gesellschaft nachgedacht wurde und bildeten den Hintergrund, vor dem Wissenschaftler, Politiker und Kommentatoren die sich daraus ergebenden politischen Herausforderungen kommentierten beziehungsweise Lösungen dafür suchten.
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Die öffentlichen und politischen Debatten, die sich an die Unruhen in englischen Städten im Jahr 1981, an die Bemühungen um die Reform des Nationality Law und an das Devolutionsprojekt anschlossen, verdeutlichen nicht nur, dass die Debatte über britische Nationalität der 1990er und 2000er Jahre Wurzeln hatte, die bis in die 1960er Jahre zurückreichten. Sie trugen auch dazu bei, dass bisher als evident erachtete wissenschaftliche Kategorien der Gesellschaftsanalyse nicht mehr der beobachteten Realität zu entsprechen schienen und daher in Zweifel gezogen wurden. Das betraf besonders die Vorstellung einer national begrenzten und in Klassen untergliederten Gesellschaft. Der dafür zentrale Begriff der „Klasse“ wurde in mehreren, weitgehend unabhängigen Debattensträngen seit den 1960er Jahren vermehrt thematisiert, seit den 1970er Jahren in Frage gestellt. Die damit verwandte Debatte zur Neubewertung des Nations- und Nationalismusbegriffes innerhalb der angloamerikanischen Geschichts- und Sozialwissenschaften führte dazu, dass die Kategorie der „nationalen Identität“ aus dem amerikanischen Kontext psychologischer Forschung in das begrifflich-methodische Arsenal der britischen Geschichtswissenschaft, aber auch der Sozialwissenschaften adaptiert wurde. Dabei war eine Veränderung der Forschungsperspektive grundlegend: Hatten sich die Nationalismusforscher seit den 1960er Jahren zunächst für die Ursprünge und damit die zeitliche Verortung von Nation und Nationalismus interessiert, bahnte sich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ein grundlegender Wandel des Ansatzes an: Nun beschäftigte sich eine einflussreiche Gruppe von Wissenschaftlern, allen voran Eric Hobsbawm und Benedict Anderson, besonders mit der Frage, warum Menschen überhaupt nationalistischen Überzeugungen anhingen. Sie setzten damit die wissenschaftlichen Leitlinien für die Auseinandersetzung mit britischer nationaler Identität in den 1980er Jahren, die wiederum – gerade durch die Publikationen Linda Colleys – deutlichen Einfluss auf die politische Debatte der 1990er und 2000er Jahre haben sollten. Ab Mitte der 1980er Jahre wurde nationale Zugehörigkeit unter dem Begriff der „Britishness“ verhandelt, zunächst vor allem im wissenschaftlichen Rahmen. Besonders kulturhistorisch arbeitende Historiker wie Linda Colley oder Keith Robbins, aber auch Kultur- und Sozialwissenschaftler wie Paul Gilroy, untersuchten „Britishness“ und britische Identität in ihren Arbeiten. Die Sorge um die Zukunft des Vereinigten Königreichs beziehungsweise die Vorstellung, dass „Britishness“ durch je nach Autor unterschiedlich identifizierte Faktoren bedroht sei, bildete die zeitgenössische Grundannahme für viele dieser Studien. Der unmittelbare Anlass, über den gesellschaftlichen Stellenwert und die historische Genese von britischem Nationalismus sowie die eigene Haltung dazu nachzudenken, waren jedoch für viele Wissenschaftler die Äußerungen von Politikern und Presse anlässlich des Falklandkrieges im Frühjahr 1982.
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Die weitestgehend politische Verwendung des Begriffs der Britishness in den 1990er Jahren baute auf ähnlichen Fragestellungen und Überlegungen auf, war aber zunächst eng an New Labour, das Reformprojekt der Labour Party um Tony Blair und Gordon Brown gebunden. Die Reformer innerhalb der Labour Party verstanden Bilder von Großbritannien und britische nationale Identität als positiv besetzte Vermarktungsinstrumente in Politik und Populärkultur. Nationale Symbole reflektierten nach Jahren des angenommenen relativen wirtschaftlichen und machtpolitischen Niedergangs die Aufbruchsstimmung in Kultur und Politik und wurden im Wahlkampf der Labour Party im Jahr 1997 erfolgreich eingesetzt. Das Ziel der neu gewählten Regierung, als Teil eines breit angelegten Reformprojekts den sozialen Zusammenhalt der britischen Bevölkerung durch die Betonung von citizenship und community zu stärken, wurde ebenfalls in der Sprache von Britishness kommuniziert: Identität wurde in der Perspektive der Labour-Führung zum formbaren Gut. Nicht zuletzt die Einführung von Devolution in Schottland und Wales schürte jedoch in Politik und Medien Ängste, dass das Vereinigte Königreich auseinanderbrechen könnte. Britishness galt Ende der 1990er Jahre über Parteigrenzen hinweg für einen Teil der politischen und öffentlichen Wahrnehmung als bedroht. Journalisten wie Politiker behandelten britische nationale Identität zunehmend als ein Problem, für das Lösungen gefunden werden sollten. Es bestand die Sorge, dass die neuen politischen Strukturen den walisischen, vor allem aber den schottischen Separatismus fördern könnten – der „break-up of Britain“-Diskurs war wieder auf die politische Tagesordnung zurückgekehrt. Statt der relativ unbeschwerten Verwendung von britischen Nationalsymbolen wurde nun in Wissenschaft und Politik verstärkt darüber nachgedacht, welchen Einfluss die neue Verfassungsregelung auf die unterschiedlichen Identitäten im Vereinigten Königreich haben könnte. Besondere Sorge galt der zukünftigen Entwicklung von „Englishness“ mit nicht absehbaren politischen Folgen, falls nun auf der Basis englischer Identität ein englisches Nationalparlament gefordert werde. „Britishness“ war somit mehr als ein rein politisches Projekt – es entwickelte sich zu einer ausgewachsenen, breit in den Medien diskutierten Selbstvergewisserungsdebatte, die jedoch auf der gestiegenen Präsenz der Frage nach der „britischen Nation“ in Medien, Politik und Wissenschaft seit den 1980er Jahren aufbaute. Die Auseinandersetzung mit britischer Identität war damit sowohl Ausdruck der Verunsicherung, die mit der Infragestellung sozialer Ordnungsinstanzen einherging, als auch Mechanismus, um mit diesen Veränderungen umzugehen. Sie diente nicht nur dazu, sich über Ursprung und Gestalt einer britischen nationalen Identität zu verständigen, sondern auch der Selbstvergewisserung in einer Realität, die einem beständigen und tiefgreifenden Wandel ausgesetzt schien. Britishness wurde so zu einer Chiffre für die Auseinandersetzung mit Transformationsprozessen, denen zeitgenössische Akteure
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grundlegendes gesellschaftliches Veränderungspotential beimaßen. Diese Tendenz zeigt sich verstärkte ab den frühen 2000er Jahren. Unter dem Eindruck von Ausschreitungen und Terroranschlägen in den Jahren 2001 und 2005 weiteten sich Sorgen über zu große ethnische Diversität im Allgemeinen und die gesellschaftliche Integration von muslimischen Gemeinden im Besonderen zu einer breiten medialen und politischen Debatte über Britishness aus. Angesichts der kulturellen „Bedrohung“ der britischen Nationalgesellschaft durch Asyl, Migration und Terrorismus forderten Politiker beider Parteien, über die kulturelle Basis sozialen Zusammenhalts nachzudenken. Eine Verständigung über gemeinsame, genuin „britische“ Werte wurde vor allem vom späteren Premierminister Gordon Brown gefordert; während zugleich von Regierungsseite dazu angesetzt wurde, nicht nur die Kompetenzen des britischen Nationalstaats zu stärken, sondern bürgerliche Rechte und Pflichten in der Definition britischer Staatsbürgerschaft zu verankern. Diese Gegenüberstellung der Debatten und behandelten Themen verdeutlicht, dass sich das „britische“ soziale Imaginäre seit den späten 1960er Jahren, also seit der Zeit, in der industrielle, wirtschaftliche und „gesellschaftliche“ Wandlungsprozesse erstmals bemerkt wurden, verändert hatte. Die soziale Ordnung, die bis in die 1970er und frühen 1980er Jahre in Großbritannien dominant gewesen war, hatte daher auf einem fragilen Gleichgewicht der unterschiedlichen Ordnungskonzepte von Nation, Union, Empire und Gesellschaft beruht. Großbritannien war verfassungsrechtlich Teil des Vereinigten Königreichs und ehemalige Metropole eines großen Kolonialreichs, wurde jedoch in der Regel als Nationalstaat im kontinentaleuropäischen Sinn verstanden, der ein Empire hatte – und nicht eines war. Schotten und Waliser, weniger jedoch Engländer, sahen sich in der Regel selbst als Nationen. Die territorialen Grenzen der dominanten britischen Nationsvorstellung überspannten jedoch die gesamten britischen Inseln und damit auch die schottischen und walisischen Landesteile. Die Stellung Nordirlands blieb hingegen – nicht zuletzt seit den Home Rule-Debatten des 19. Jahrhunderts – unbestimmt. Die Verfassungsordnung wurde dadurch, dass das Vereinigte Königreich gerade in Abgrenzung nach außen als Nationalgesellschaft verstanden wurde, ihrerseits national gedacht. Sie beruhte – ebenso wie „Gesellschaft“ und „Nation“ – auf einem Wirtschafts- und Industriegefüge, das seit den 1960er Jahren sichtbar von Veränderungen betroffen war, jedoch seinerseits dazu beigetragen hatte, die britische „Gesellschaft“ als in Klassen unterteilt zu denken. Diese Vorstellungen waren für einen jeweils spezifischen sozialen und geographischen Raum gültig und unterschieden sich zum Teil deutlich nach sozialer und politischer Position ihrer Träger. Ihre Deutungsmacht beruhte auf einem historisch gewachsenen sozialen Gleichgewicht, das jedoch eine südostenglische Sichtweise reflektierte: Das in Politik und Medien dominante soziale
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Imaginäre spiegelte sich in den politischen Machtstrukturen des Regierungssystems in Westminster, aber auch in der Presselandschaft wieder. In den politischen und öffentlichen Debatten gab es daher immer auch konkurrierende Vorstellungen „gesellschaftlicher“, „nationaler“ sowie „staatlicher“ Zugehörigkeit, die sich jedoch zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht durchsetzen konnten. Innere Widersprüche innerhalb sozialer Ordnungsvorstellungen stellen dabei keine britische Besonderheit dar. Zu dem Zeitpunkt jedoch, als diese Widersprüche brüchig, sichtbar und Gegenstand öffentlicher Debatte werden, wird das soziale Imaginäre im Prozess seiner Veränderung und Anpassung an neue Gegebenheiten sichtbar. In den 1990er und 2000er Jahren präsentierte sich dementsprechend ein anderes Bild britischer Sozialordnung: Vorher marginalisierte Ansprüche von Einwanderern auf gesellschaftliche Teilhabe auf Basis einer gemeinsamen, in Kolonie und Metropole vorhandenen „britischen“ Kultur wurden zunehmend politisch wirksam. Seit den 1990er Jahren wurden sie explizit als Teil eines offiziellen Multikulturalismusdiskurses anerkannt, der sich auch in der politischen Sprache niederschlug („black British“, „British Asian“). Dies hatte zur Folge, dass sich die „offizielle“ Vorstellung einer britischen Nation wandelte; eine Veränderung, die durch die Reform des Nationality Law im Rahmen des 2002 verabschiedeten British Overseas Territories Act der Regierung Blair unterstützt wurde. Zugleich wurde mit der Einführung von Devolution der Status von Schottland und Wales als separate Nationen nicht mehr nur kulturell, sondern auch rechtlich-politisch anerkannt, was wiederum die verfassungsrechtliche Ordnung grundlegend veränderte, mit bisher nicht abzusehenden Folgen. Durch die Wiedereinsetzung des Stormont im Zuge des Friedensprozesses in Nordirland wurde auch dort bestehenden Ansprüchen auf parlamentarische Repräsentation wieder stattgegeben. Die 1980er Jahre werden somit zu einer Zeit, in der die Kombination teils als abrupt empfundener Erfahrungen sozialen Wandels seit den 1960er Jahren den öffentlichen Konsens über die britische Sozialordnung, das soziale Imaginäre, brüchig werden ließ. Durch den Begriff der „Britishness“ wurden diese disparaten Diskussionen gebündelt, wieder aufgegriffen und auf das Thema der britischen Nation und der Frage nationaler Zugehörigkeit zugespitzt. Im Gegensatz zu früheren Debatten drehte sich die Diskussion nun weniger um rechtliche Fragen, sondern Zugehörigkeit wurde verstärkt kulturell verstanden: Zentral wurde nun die Frage nach der kulturellen Basis der britischen Nation, das heißt nach den Kriterien und Zuschreibungen, anhand derer sich die Bewohner des Vereinigten Königreichs mit ihr identifizierten. Dieser Trend hin zur Diskussion der Binde- und Überzeugungskraft vom Kollektivbegriff der britischen Nation zeigte sich nicht nur darin, dass jetzt der Begriff der „nationalen Identität“ angelegt wurde, um die seit den 1960er Jahren immer wieder geführten Debatten über soziale Zugehö-
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rigkeit neu zu verhandeln. Er zeigte sich auch in der Art, wie Themen, die bereits in den separaten Debatten über Staatsbürgerschaft, Einwanderung und Devolution der 1970er und frühen 1980er Jahre verhandelt worden waren, in der Auseinandersetzung um Britishness in den 1990er und 2000er Jahren wieder aufgegriffen wurden. Die Vorstellung von Multikulturalität, staatsbürgerlichen Rechten und die Reformbedürftigkeit der britischen Regierungsstrukturen war in den 1970er und 1980er Jahren ebenso Themen gewesen wie die Vorstellung parlamentarischer Souveränität und die Sprache von „community“. Jedoch unterschieden sich die Bedeutungen, mit denen die einzelnen Begriffe belegt, und die Narrative, in die sie eingeordnet wurden, im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert teils deutlich von früheren Debatten. Aus dem „de facto“-Multikulturalismus früherer Labour-Regierungen war ein politisch-programmatischer geworden, der jedoch seit den frühen 2000er Jahren angesichts terroristischer Anschläge in Politik und Öffentlichkeit kritisch diskutiert wurde. Nach der Reform des British Nationality Act im Jahr 1981 galt das Problem der juristischen Definition von Staatsangehörigkeit, das bisher für diese und ähnliche Fragen den Referenzrahmen gebildet hatte, weitestgehend als gelöst und verlor an Bedeutung. Die in den 1970er Jahren noch getrennt geführten Debatten über die mit Staatsbürgerschaft einhergehenden politischen Rechte wurden nun explizit im Kontext verfassungsrechtlicher Reformen und der Verantwortung des Individuums gegenüber der Gesellschaft verstanden. Diese Verantwortung wurde rhetorisch mit dem kleinteiligeren Begriff der „community“ vermittelt, der in den 1970er und 1980er Jahren eher zur Identifizierung und sprachlichen Einhegung von Einwanderern oder Industriearbeitern als „ethnic“ oder „working class communities“ gedient hatte. Die Debatten der 1960er und 1970er Jahre, aber auch die explizit unter dem Begriff Britishness geführte politische Auseinandersetzung der 1990er und 2000er Jahre verdeutlichen, dass der Wandel dominanter sozialer Ordnungsvorstellungen nicht als klarer Bruch zu verstehen ist. Er beruhte vielmehr auf einer Reihe von zeitlich versetzten Mikrobrüchen, die erst im Sprechen über Zugehörigkeit in ihrem Zusammenspiel sichtbar geworden sind: Sie wurden und werden immer noch, das zeigt das Reden über Britishness, erst schrittweise, in langwierigen Aushandlungsprozessen umgedeutet, ergänzt und ersetzt. Das relativ abrupte Ende politischer Bemühungen um die Förderung von britischer nationale Identität mit der Finanzkrise 2007/08 bedeutet nicht, dass der Aushandlungsprozess des britischen sozialen Imaginären heute abgeschlossen wäre. Das Empire und die politische Verantwortung dafür bleiben weiterhin ein strittiger Punkt in der politischen Öffentlichkeit. In jüngerer Zeit hat sich jedoch vor allem die Rolle Europas als das Feld erwiesen, auf dem über nationale, staatliche und gesellschaftliche Zugehörigkeit diskutiert wird. Mit dem Einset-
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zen der Finanzkrise im Jahr 2007/08 und der Wahrnehmung einer mangelnden wirtschaftlichen Steuerungskompetenz der Labour-Regierung angesichts dieser Krise geriet zwar „Britishness“ als genuines Projekt der Labour Party und des Premierministers Gordon Brown aus dem Blickfeld. Doch gerade die jüngsten Referenden über den Austritt Großbritanniens aus der EU im Jahr 2016 und über die Unabhängigkeit Schottlands im Jahr 2014 sowie die dazugehörigen Debatten verdeutlichen, dass der Aushandlungsprozess weiterhin im vollen Gange ist und sich nur die Austragungsorte und -themen verlagert haben: Anstelle von Britishness werden soziale Ordnungsvorstellungen nun über die „EU“ sowie die Rolle Englands sowohl im Bezug zu den anderen Teilnationen des Vereinigten Königreichs als auch im Bezug zu Europa verhandelt. In diesem Kontext hat die Conservative Party unter der Leitung David Camerons eine maßgebliche Rolle eingenommen, in der das Thema der EU seit den späten 1980er und frühen 1990er Jahren zu heftigen Debatten geführt hatte. Die Neuaushandlung des sozialen Imaginären im Vereinigten Königreich ist damit ein fortdauernder Prozess, in dem sich Krisenwahrnehmung und politische Steuerungsversuche mit den zeitgenössisch identifizierten Veränderungsprozessen sowie der wissenschaftlichen Reflexion darüber bündelten: Britishness wurde zu einem Problem, das gelöst werden musste, sei es historiographisch durch die Erforschung von Ursprüngen, Gestalt und historischer Entwicklung; oder politisch durch die Einbettung in das New Labour-Projekt. Gerade die politische Debatte um Britishness verdeutlicht jedoch, dass der ihr zugrundeliegende Wunsch nach einer klaren Definition nationaler und gesellschaftlicher Zugehörigkeit auf kultureller Ebene ins Leere läuft. Auch wenn Politiker und Institutionen um Gordon Brown versuchten, eine „Lösung“ des „Problems“ von Britishness zu finden – es lag in der Natur der Debatte, dass dieser Versuch scheiterte.
Abkürzungsverzeichnis BBC BOC BOTC BP BSA CCCS CICC CPGB CUKC EEA EG EVEL FCO GLC HCA HMG HSMP MORI MP NHS NUM PLP RGSC SNP UKIP ULR UNESCO
British Broadcasting Corporation British Overseas Citizen British Overseas Territories Citizenship British Petroleum British Social Attitudes Survey Centre for Contemporary Cultural Studies Citizens of the Independent Commonwealth Countries Communist Party of Great Britain Citizens of the United Kingdom and Colonies Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaften English votes for English law Foreign and Commonwealth Office Greater London Council Hornes College of Art Her Majesty’s Government Highly Skilled Migrant Program Ipsos MORI, Umfrageforschungsinstitut Member of Parliament National Health Service National Union of Mineworkers Parliamentary Labour Party Registrar-General’s Social Classes Scottish National Party UK Independence Party The Universities and Left Review United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
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Register Abrams, Philip 254 Adorno, Theodor W. 193 Alderson, John 254 Alibhai-Brown, Yasmin 284, 294 alienation-These 55 Althusser, Louis 193 Ancram, Michael 286 Anderson, Benedict 15, 167, 201 – 203, 207 – 211, 234, 313 Anderson, Perry 184, 193, 195, 204, 207, 223, 235 Anglosphäre 95 Asquith, H. H. 155 Attlee, Clement 71, 147 Balls, Ed 294 Barber, Benjamin R. 250 Barnett, Anthony 228 Barnett, Joel 263 Barth, Fredrik 214, 233 Barthes, Roland 193 Basini, Mario 267 Bauer, Otto 209 Bechhofer, Frank 175 Beckett, J. C. 230 Bell, Daniel 168, 195 Benjamin, Walter 193, 208 Benn, Tony 161, 217 Bergarbeiterstreik 1984/85 Siehe Gewerkschaften: Streiks Berger, Peter 193 Bernstein, Eduard 174 Betjeman, John 274 Bhaba, Homi 213 Bill of Rights 261, 300 Birnbaum, Norman 183 f. Black, Jeremy 229 Blair, Tony 3, 25, 119, 157, 181, 195, 238, 241 – 244, 247 – 252, 258, 261 f., 265, 269, 272, 286, 293, 298, 314 Blake, Charles 94 Blunkett, David 256, 288 – 290 Blur 237
Bow Group 87 Boyle, Danny 270 Bragg, Billy 277 Braveheart 270 Bretton Woods, System von 127 Breuilly, John 210 Brexit 306 f. British Decline 3 f., 7 f., 44, 126, 128, 131, 149, 218, 222 – 225, 236, 246, 307, 314 – Break up of Britain-Narrativ 4, 8, 134, 224 f., 236 – und Heritage-Debatte 4, 221 f. British Social Attitudes Survey 267 f., 279 f., 293, 303 Britishness – Debatte in Kanada und Australien 5, 234 – Britishness und Geschichtswissenschaft Siehe Geschichtswissenschaft und Britishness – Britishness und Labour Party Siehe: Labour Party: New Labour und Britishness Britishness Day 2, 237, 296, 302 Britpop 237 Brown, George 150 Brown, Gordon 1 – 3, 10, 25, 181, 237 f., 241, 249, 293 – 295, 298 – 302, 305, 308, 314 f., 318 Brown, John 48 Brunsdon, Charlotte 189 Butt, Ronald 93 Butt Philip, Alan 122 Butterfield, Herbert 229 Byrne, Liam 302 Callaghan, James 78, 84, 102, 104, 113, 158 f., 259, 261 Cannadine, David 207, 230 f. Cantle, Ted 288 Carby, Hazel 191 f. Carington, Peter, 6. Baron Carrington 87, 89, 252 Catatonia 271
Register
CCCS – Umgang mit feministischer Kritik 188 – und die Neue Linke 185 – und Theorie 192 – 194 CCCS und class Siehe class: im CCCS CCCS und race Siehe race: im CCCS Charter 88 100, 228, 255 – 257, 261 Churchill, Winston 155, 246 citizenship – und New Labour 251, 253, 257, 289 f., 295 f. citizenship ceremonies 290, 296 citizenship, Reformdebatte Siehe Nationality Law: Reformdebatte citizenship und bürgerliche Rechte Siehe Staatsangehörigkeit und bürgerliche Rechte citizenship vs. nationality Siehe Nationality Law: vs. citizenship class 169 – 171, 182, 197 f., 213, 251, 307 – Embourgeoisement/classlessness 174 f., 251 – im CCCS 183, 186, 188 f., 194, 285 – Kategorie der Konsumforschung 171 – Kategorie des Zensus 171, 196 – Konzept der geodemographics 196 – sozialwissenschaftliche Debatten 170, 172 – 175, 181 – Umformulierung durch E. P. Thompson 187 f. – Wandel soziologischer Verwendung des Begriffs 182 f. Clinton, Bill 242, 249 Coates, Ken 182 Colley, Linda 3 f., 214, 231 – 234, 245, 268, 301, 303, 313 Colls, Robert 276 Common Market Siehe Europäische Gemeinschaften community 46, 251, 253 – 256, 284 – 286, 288 f., 307 – black community 28 – ethnic community 33, 54, 254 f., 288, 317 – und New Labour 256 f., 286, 288 – 290, 292, 314, 317 – working class communities 172, 253, 317 Community policing Siehe Polizei
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Conservative Party 6, 10, 45, 180, 183, 218, 242, 246, 248 – und Devolution 105, 109 f., 112 f., 136, 272, 279 – und die Reform des Nationality Law 70, 85, 87 – 90 – und die Unruhen von 1981 37 f. – und Einwanderungspolitik 75 f., 78, 284 – und Euroskeptizismus 272 – 274, 318 – wets 252 Cool Britannia 237, 282 Crewe, Ivor 179 – 181, 196 Crick, Bernard 290 Crick-Report 290 Cricket-Test 2, 246 Crosland, Anthony 154, 174 f. Crossman, Richard 112 f., 149 Crown-in-Parliament 264 Crowther, Geoffrey, Baron Crowther 104, 114 Crowther Hunt, Norman, Baron CrowtherHunt 114, 116, 153, 158 Cultural Studies 167, 183, 186, 188 f. Cultural Turns 169, 210, 231 Cunningham, George 159 Curtice, John 277, 279 Dahrendorf, Ralf 173 Dalyell, Tam 154 f., 157, 265, 278 Davies, Norman 229 Davies, Ron 262 Declinism 4, 44, 128, 132, 225 Defoe, Daniel 245, 282 Dekolonisation 14, 30 f., 66 f., 70, 74, 78, 80, 94, 101, 106, 121, 132 f., 144, 161 – 163, 205, 225, 232, 234, 308, 312 Dekolonisierung 5, 30 f., 64, 66 – 68, 99, 105, 108, 135, 312 Deleuze, Gilles 193 Denham, John 294 Deprivationsthese 46 – 48 Derrida, Jacques 193 Devine, Thomas M. 103, 134, 301 Devolution 6, 8, 101, 103 – 114, 116 – 120, 136, 144 f., 153, 156 – 162, 164, 166, 203,
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Register
207, 211, 221, 226, 239, 243, 258 – 268, 277, 299, 306 f., 309 f., 312 – 314, 316 f. – Andersartigkeit von Schottland und Wales 122, 125, 144, 157 – Nordirland als Präzedenzfall 112, 137, 141 – und die Debatte um Home Rule 103, 110 f., 135 – 141, 146, 155 – und die ‚englische Frage‘ 277 – 281 – und die Reform des Local Government 145 f., 148 – 151 – West Lothian Question 154 – 157, 278 Diana, Princess of Wales 247 Dicey, A. V. 139 f., 264 f. Dodd, Philip 276, 282, 284 Dolan, Noel 266 Donaldson, Gordon 230 Douglas-Home, Alec 104, 112 Drei-Tage-Woche 117, 178 Einwanderung 6 f., 9, 11 f., 28, 35, 53, 57 f., 68, 73 – 77, 86 f., 93, 97 – 101, 105 f., 162 f., 170, 179, 255, 262, 287, 291 f., 294, 302, 306, 308, 310 f., 315, 317 Einwanderungspolitik 1, 6, 57, 68, 73, 75 f., 78 – 82, 84, 87, 91, 93 f., 97 f., 162, 216, 289, 291 f., 311 – Prinzip der patriality 76, 79, 81, 86, 92, 96 f., 311 – right of abode 76, 79, 88, 97, 297 Elgenius, Gabriella 303 Elizabeth II. 29 Empire – als Teil staatlicher Verfasstheit 62 f., 132 – 134 – Auswirkungen auf Gesellschaft 64 f. – politische Verantwortung 296 – 298 Englishness 232, 271, 274 – 277, 308, 314 Etzioni, Amitai 250 Europäische Gemeinschaften 11, 96, 273 – Rabatt der Beitragszahlungen (‚Britenrabatt’) 273 – Vertrag von Maastricht 243, 273 f. Europäische Union 99, 152, 243 f., 265, 272, 291 f., 302, 305 f., 318 Evans, Gwynfor 104, 109 Ewing, Winifred 102, 104, 109
Faber, R. S. 143 Fabianismus 170, 258 Falklandkrieg 88, 100, 215, 217 – 220, 224, 226, 246, 297, 313 Finanzkrise 2007/2008 9, 237, 302, 305, 310, 317 f. Föderalismus Siehe Verfassung, Reform der Foot, John Mackintosh, Baron Foot 116 Foot, Michael 219 Foucault, Michel 193 Fox, Kate 275 Fry, Michael 300 Gallagher, Noel 242 Garton Ash, Timothy 294, 301 Gellner, Ernest 200, 202 – 206, 208 – 210 Gemeinde Siehe community Gemeinschaft Siehe community Geschichtswissenschaft – Communist Party Historians Group 183, 198 – Debatte über britischen Nationalismus 226, 228 – Debatte über New Imperial History 64 f., 297 – History Workshop Movement 198, 227 – kulturgeschichtliche Wende 199 – New British history 228 – und Britishness 231 – 233, 301 – und Scottishnes, Welshness, Englishness und Irishness 268 f., 275 – Whig interpretation of history 229 Gesellschaft, Konzepte von 8, 15 – 19, 29, 31, 35 – 43, 50 – 52, 54, 58, 62, 82, 84, 98 f., 163 f., 170, 173 f., 182, 234, 239, 243, 247 – 255, 310 f., 313, 315 Gewerkschaften 51, 84, 132, 151, 177 – 179, 182, 185, 207 – Streiks 32, 85, 117 f., 177 f., 180 – Bergarbeiterstreik 1984/85 52, 179, 256 – System des closed shop 178 – System des Free Collective Bargaining 177 – ‚Winter of Discontent‘ 85, 179 Gibb, Andrew Dewar 132 Giddens, Anthony 167, 197, 212, 242, 301
Register
Gilroy, Paul 54, 189, 191, 212 f., 284, 313 Gladstone, William Ewart 139 f., 148, 154 f. Globalisierung 167, 169, 243, 245, 288, 292, 302, 307 Goldmann, Lucien 193 Goldsmith, Peter, Baron Goldsmith, QC 295 f. Goldthorpe, John 175, 181 f. Goodhart, David 287, 294 Gouldner, Alvin Ward 197 Gowan, Ivor 124 Gramsci, Antonio 12, 27, 193 f., 206 Gray, Robert 220 Greater Britain-Diskurs 62, 95 Green, Michael 189 Griffiths, Jim 112 Guha, Ranajit 212 Hall, Alan 183 Hall, Catherine 66 Hall, Stuart 166 f., 183 – 185, 188 – 192, 213, 248, 284 f. Halliwell, Geri 241 Halsey, A. H. 177 Hanham, Harold J. 133 Hawkins, Alan 228 Hazell, Robert 280 Heath, Anthony 277, 303 Heath, Edward 76 – 78, 96, 104, 112, 117, 124, 142, 151 Hechter, Michael 133, 204 – 206 Hepple, Bob 284 heritage-Debatte Siehe British Decline Heseltine, Michael 45, 59, 252 Heyworth-Report 176 Hill, Christopher 227 Hitchens, Peter 274 Hobsbawm, Eric 15, 167 f., 179 – 181, 184, 196, 201 – 203, 206 – 211, 219 f., 246, 248, 313 Hodge, Julian 133 Hogg, Quintin (Lord Hailsham) 261 Hoggart, Richard 174, 184, 186 – 188, 253 Home Rule Siehe Devolution Hooliganismus 38 – 40 Horkheimer, Max 193 Hornby, Nick 271
359
Howe, Darcus 282 f. Howe, Geoffrey 45 Hunte, J. A. 92 Hutton, Will 249 f., 260 identity politics 189 Innenstädte 1, 28, 35 – 38, 45, 47 – 50, 92, 98, 100 Irishness 268 f., 308 ius sanguinis 6, 76 ius soli 76, 81, 84 Jacques, Martin 185, 195, 248 Jenkins, Peter 218 Jenkins, Roy 82, 119 Jenks, Edward 146 Jingoismus 215, 217, 219 Johnson, Richard 189 Joseph, Keith 47, 222, 227 Kane, Pat 241 Katwala, Sunder 294 Kearney, Hugh 229 Kedourie, Elie 200, 205, 208 f. Kenyatta, Jomo 76 Khomeini, Ayatollah Ruhollah 287 Kinnock, Neil 181, 241, 248 Klasse Siehe class Kristeva, Julia 193 Labour Party – New Labour 101, 238, 241, 243, 247, 252 f., 256 f., 308 – und Britishness 2, 10, 240, 245 f., 257, 266, 282, 292 – 295, 299 f., 302, 306 f. – und der ‚dritte Weg‘ 242, 248 – und Kommunitarismus 250 – und die stakeholder society 249 – und Multikulturalismus 239, 284, 286, 289, 309 – und Clause IV 242 – und Devolution 6, 102, 104 f., 109 – 111, 113, 118 – 120, 137, 150 f., 154, 158 f., 239, 243 f., 258 – 262, 265 f., 279, 306 – und die Debatte um Zukunft der Klassengesellschaft 174 f., 179 – 182, 196
360
Register
– und die Reform des Nationality Law 6, 70, 78, 81 f., 93, 290 f., 296 f. – und die Unruhen von 1981 43, 56 – und Einwanderungspolitik 56 – 58, 76 f., 286, 288 f., 291 f. – und Europa 243, 272 – und Patriotismus 10, 217, 219 f., 237, 246 – und race relations 82 f., 284 Lacan, Jacques 193 law and order-Politik 38 f., 41 – 43, 46, 48, 190 Lawrence, Errol 190 Leavis, F. R. 186 Lee, Geoffrey W. 130 Lee-Potter, Lynda 48 Lenin, Wladimir Iljitsch 206 f. Leonard, Mark 245, 303 Levi-Strauss, Claude 193 Liberal Party 111, 136, 139, 148, 158, 265 Liberal Unionist Party 110 Livingstone, Ken 56 f., 163, 284 Lloyd George, David 104, 155 Lloyd George, Megan 104 Lockwood, David 175, 181 f. Lowenthal, David 223 Luckmann, Thomas 193 Lukács, Georg 193 Lustgarten, Laurence 91 f. Luxemburg, Rosa 207 Lynd, Helen M. 253 Lynd, Robert S. 253 Lyon, Alex 78, 84, 217 Lyons, F. S. L. 230 MacCormick, John 103 MacIntyre, Alasdair 250 Magna Charta 300 Major, John 2, 247, 251, 273 Mandelson, Peter 246 Manic Street Preachers 271 Mark, Sir Robert 33, 41 Marquand, David 260, 298 Marshall, Jim 91 Marshall, T. H. 61, 69, 172, 257 Martin, Jean 303 Marxismus 133, 167, 184, 187, 193, 199, 204 f., 207, 220, 226, 235
Merton, Robert K. 173 Middle Britain 242, 251 Middle England 242 Millennium Dome 247 Mitchell, Juliet 193 Mitchison, Rosalind 230 Modood, Tariq 284, 287, 294 Moody, T. W. 230 Moreno, Luis 268 Moreno-Frage 267 f. Morrissey, Steven Patrick 241 Multikulturalismus 58, 163, 284, 286 f., 294, 316 f. Myrdal, Gunnar 53 Nairn, Tom 133, 199, 201, 204 – 211, 218 – 220, 223, 225 f., 235, 272, 278, 294 Nairn-Anderson-These 224 nationale Identität 2, 22, 231 f. – als sozialwissenschaftlicher Fachbegriff 170, 201, 211 – 214, 228 – Wandel des Begriffs von deskriptiv zu konstruktivistisch 234, 267, 303 f. – britische Siehe Britishness – englische Siehe Englishness – irische Siehe Irishness – schottische Siehe Scottishness – walisische Siehe Welshness Nationalismus – britischer Nationalismus 10, 108, 214 f., 217, 226 – 228, 236, 313 – englischer Nationalismus 12, 272, 275 – irischer Nationalismus 232 – schottischer Nationalismus 12, 103, 107, 110, 120, 132, 134, 155 f., 170, 199, 226, 232, 259 f., 269, 299, 310, 312 – walisischer Nationalismus 12, 107, 120, 132, 156, 170, 199, 226, 232, 259, 269, 299, 310, 312 Nationalismusforschung 3, 103, 167 – 170, 199 – 212, 235 f., 269, 313 Nationality Law – British Nationality Act 1948 6, 29, 70 f., 73 – British Nationality Act 1981 70, 79 – 81 – British Nationality (Falkland Islands) Act 1983 100
Register
– EC-national 96 – Reformdebatte 6, 9, 29 – 31, 81 – 94, 105 f., 215 Siehe auch Labour Party und die Reform des Nationality Law – vs. citizenship 61 Neue Linke 10, 167, 183 – 185, 195, 198 f., 201, 203 f., 208, 212, 219, 223, 226, 235, 250 New Commonwealth 24, 29, 73, 75, 77, 99, 311 – vs. Old Commonwealth 79 New Labour Siehe Labour Party New Times-Projekt 236, 248, 251 Newman, Gerald 275 f. Newsam, Peter 284 Nordirlandkonflikt 11, 117, 129, 141 f., 158, 160, 229 f., 262 Nordseeöl 129 – 131 Notting Hill Unruhen 34, 53, 254 Oasis 241 f. Ölkrise 113, 117, 128 – 130, 178 Ordnung Siehe Social Imaginary Orwell, George 2, 247, 274 Parekh, Bhikhu 284 Park, Robert E. 53 Parnell, Charles Stuart 138 Parsons, Talcott 173 Paxman, Jeremy 275 Peacock, Alan T. 114, 116 Pearson, Gabriel 183 f. permissive society 41, 162 Phillips, Trevor 284 Pittock, Murray 269 Plaid Cymru 104 f., 109, 111, 116, 118, 126, 135, 142, 144, 164, 230, 280, 300 – und Europa 272 Platt, Jennifer 175 Plender, Richard 87 Pocock, J. G. A. 198, 228 – 231, 234 Polizei – community policing 254 f. – Fehlverhalten 33, 38, 45, 283 – Verhältnis zu Einwanderergemeinden 28, 34 f. poll tax, Einführung der 259
361
Postcolonial Studies 3, 195, 212 Powell, Enoch 54, 58, 149, 154, 161, 185 Primrose, Archibald, 5th Earl of Rosebery 148 race – als Begriff der race relations-Forschung 54, 197 – als Kategorie gesellschaftlicher Differenz 74 – im CCCS 186, 189 – 192, 194, 285 race relations-Forschung Siehe race als Begriff der race relations-Forschung race relations-Gesetzgebung Siehe Labour Party und race relations Raison, Timothy 30, 87 Ranger, Terence 203, 207 Rankin, Ian 305 Rawls, John 250 Rees, Merlyn 142 Referendum – Austritt aus Europäischer Union 2016 305 – Devolution 159, 262 – Devolution für North East England 2004 279 – Greater London Authority 1998 244 – Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften 1975 272 – schottische Unabhängigkeit 2014 159, 305 Regionalismus Siehe Verfassung, Reform der Reid, Ivan 182 Reid, James 56 Renner, Karl 209 Rex, John 197 Ridley, Nicholas 215 riots Siehe Unruhen Robbins, Keith 4, 9, 134, 214, 231, 233 f., 268, 303, 313 Rose, Richard 125, 278 Ross, William 112 f. Royal Commission on the Constitution – Entscheidung zur Einsetzung 104, 113 f. – Mehrheitsbericht 114 – 116, 120 f., 126, 131 f., 135, 144, 160
362
Register
– Memorandum of Dissent 114 – 116, 120, 145, 153, 160 – Zusammensetzung 114 Runciman, Walter G. 46, 172 Rushdie, Salman 287 Rushdie-Kontroverse 287 Said, Edward 65 f., 195, 212, 233 Salmond, Alex 299 Sampson, Anthony 131, 225 Samuel, Raphael 183 f., 226 – 228 Sandel, Michael 250 Särlvik, Bob 180 f. Sartre, Jean-Paul 193 Saville, John 183 Scarman, Leslie, Baron Scarman 32 f., 39, 43, 50, 59, 261, 283 schottischer Nationalismus Siehe Nationalismus: schottischer Nationalismus Scots Law, Unterscheidung zu Common Law 123 Scottish National Party 103, 206 – Misstrauensvotum gegen Regierung Callaghan 159 – Mitgliederzahlen 103 – Programm 118, 130, 260 – und Europa 272 – und Nationalismus 110 – und Nordseeöl 130 f. – Wahlerfolge 102, 104, 118, 299 Scottishness 232, 268 – 271, 308 Scruton, Roger 275 Shaw, Charles, Baron Kilbrandon 114, 153, 157 Shils, Edward 173 Shore, Peter 121 Skinner, Quentin 198 Smith, Anthony D. 16, 203, 209 – 213 Smith, John 181, 241, 261 f., 265 Smith, Maurice George 92 Social Imaginary – Ansatz 17 – 20 – 1990er und 2000er Jahre 308 f., 316 f. – 1970er und frühe 1980er Jahre 163 – 165, 315 Souveränität, parlamentarische 107, 139 f., 146, 155 – 157, 160 f., 264 f., 312, 317
Souveränität, staatliche 273 f., 305 Soziologie – Geschichte 172, 175, 177 – Methodenkritik 197 Soziologie, class Siehe class: sozialwissenschaftliche Debatten Soziologie, race relations Siehe race als Begriff der race relations-Forschung Spice Girls 241 Spivak, Gayatri 213 Staatsangehörigkeit – und bürgerliche Rechte 29, 61, 69, 91, 97, 289, 295 – vs. Staatsbürgerschaft 60, 95 Staatsangehörigkeit Siehe auch Nationality Law Statute of Westminster 134 Stedman Jones, Gareth 198, 213 f. Steel, Sir James 116 Stereophonics 271 Straw, Jack 284, 286, 288 Strukturwandel, industrieller 13, 126 – 128, 144, 312 Taylor, A. J. P. 230, 237 Taylor, Charles 16 f., 63, 183 f., 212, 250 Taylor, Seamus 286 Tebbit, Norman 2, 246 Territorialität 18, 74, 94 Thatcher, Margaret 10, 37, 44 f., 69, 85, 100, 128, 134, 159, 177, 179, 185, 191, 216, 218, 230, 242, 244, 248 f., 251 f., 256, 259, 261, 273, 281 Thatcherismus – als weltanschauliches Projekt 218, 222 – Begriffsbildung 248 – und die Neue Linke 195 Thatcherismus und New Labour Siehe Labour Party: New Labour und der ‚dritte Weg‘ Thomas, George 112 f. Thomas, Hugh 227 Thomas, Peter 124 Thompson, Dorothy 183 f. Thompson, E. P. 183, 185 – 188, 198, 276 Titmuss, Richard 172 Tomlinson, Sally 284
Register
Tong, Raymond 277 Townsend, Peter 47, 182 Trainspotting 270 Trevor Roper, Hugh 207 UK Independence Party 305 Unionismus 109, 111, 136 Unruhen – 1981 27 f., 34 – Untersuchung durch Lord Scarman 42 f., 55 – 2001 243, 288 Unruhen 1981: Polizei Siehe Polizei
32 f.,
Verfassung, Reform der – Debatte 120, 145 f., 149, 260, 262 – Föderalismus 145, 155, 157 – Forderung nach einer written constitution 260 f. – ‚home rule all around’ 155 – Lokalverwaltung 145 – 154, 156 – Regionalismus 145, 149 – 151, 153 f. – Devolution Siehe Devolution walisischer Nationalismus Siehe Nationalismus: walisischer Nationalismus Wallace, James 265 f.
363
Wallace, William 270 Wallerstein, Immanuel 203 Walzer, Michael 250 Weber, Max 175, 181 f., 209 Weight, Richard 303 Welsh, Irvine 270 Welshness 232, 269, 271, 308 Westminster-Modell 140, 144, 229, 260 White, Michael 300 Whitelaw, William 29, 33, 78, 85 Wiener, Martin 222 f. Wilkinson, John 91 Williams, Glanmor 230 Williams, Gwyn A. 166, 230, 269 Williams, Raymond 184, 186 f. Willmott, Peter 172, 253 Wilson, Harold 76, 78, 82, 110 – 113, 117, 131, 149 – 151, 176, 178, 272 ‚Winter of Discontent‘ Siehe Gewerkschaften Women’s Liberation Front 188 Wood, Michael 275 Wooldridge, Frank 93 f. Worsthorne, Peregrine 226, 282 f. Young, Hugo 101 Young, Michael 172, 253
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Florian Meinel und Lutz Raphael. Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: ––
vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern,
––
gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen,
––
den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen.
Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: ––
den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika,
––
die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern,
––
die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert,
––
die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.
Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: ––
Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politi-
––
Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen
schen Kontexten. Gesellschaften. ––
Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet.
––
Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.
366
Ordnungssysteme
Band 1:
Band 6:
Michael Hochgeschwender
Jin-Sung Chun
Freiheit in der Offensive?
Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit
Der Kongreß für kulturelle Freiheit und
Die westdeutsche „Strukturgeschichte“
die Deutschen
im Spannungsfeld von Modernitätskritik
1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2
und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962
Band 2:
2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6
Thomas Sauer Westorientierung im deutschen
Band 7:
Protestantismus?
Frank Becker
Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger
Bilder von Krieg und Nation
Kreises
Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffent-
1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9
lichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil
Band 3:
ISBN 978-3-486-56545-4
Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags
Band 8:
Journalismus zwischen westlichenWerten
Martin Sabrow
und deutschen Denktraditionen
Das Diktat des Konsenses
1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6
Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969
Band 4:
2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1
Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika
Band 9:
Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft
Thomas Etzemüller
der 50er Jahre
Sozialgeschichte als politische Geschichte
1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3
Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft
Band 5:
nach 1945
Rainer Lindner
2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2
Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in
Band 10:
Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert
Martina Winkler
1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6
Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8
Ordnungssysteme
367
Band 11:
Band 16:
Susanne Schattenberg
Ewald Grothe
Stalins Ingenieure
Zwischen Geschichte und Recht
Lebenswelten zwischen Technik und Terror in
Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung
den 1930er Jahren
1900–1970
2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9
2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6
Band 12:
Band 17:
Torsten Rüting
Anuschka Albertz
Pavlov und der Neue Mensch
Exemplarisches Heldentum
Diskurse über Disziplinierung in
Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den
Sowjetrussland
Thermopylen von der Antike bis
2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6
zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb.
Band 13:
ISBN 978-3-486-57985-7
Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie
Band 18:
Die Westernisierung von SPD und DGB
Volker Depkat
2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5
Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des
Band 14:
20. Jahrhunderts
Christoph Weischer
2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3
Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘
Band 19:
Strukturen, Praktiken und Leitbilder der
Lorenz Erren
Sozialforschung in der Bundesrepublik
„Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis
Deutschland
Kommunikation und Herrschaft unter Stalin
2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1
(1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1
Band 15: Frieder Günther
Band 20:
Denken vom Staat her
Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.)
Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre
Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft
zwischen Dezision und Integration
im Europa der Neuzeit
1949–1970
Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte
2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9
2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0
368
Ordnungssysteme
Band 21:
Band 26:
Thomas Großbölting
Ruth Rosenberger
„Im Reich der Arbeit“
Experten für Humankapital
Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung
Die Entdeckung des Personalmanagements in
in den deutschen Industrie- und Gewerbeaus-
der Bundesrepublik Deutschland
stellungen 1790–1914
2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6
2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7
Band 27: Désirée Schauz
Band 22:
Strafen als moralische Besserung
Wolfgang Hardtwig (Hrsg.)
Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge
Ordnungen in der Krise
1777–1933
Zur politischen Kulturgeschichte
2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3
Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5
Band 28: Morten Reitmayer
Band 23:
Elite
Marcus M. Payk
Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftli-
Der Geist der Demokratie
chen Idee in der frühen Bundesrepublik
Intellektuelle Orientierungsversuche im
2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6
Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn
Band 29:
2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3
Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus
Band 24:
Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943)
Rüdiger Graf
2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9
Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutsch-
Band 30:
land 1918–1933
Klaus Gestwa
2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4
Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus
Band 25:
Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte,
Jörn Leonhard
1948–1967
Bellizismus und Nation
2010. 660 S., 18 Abb.
Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in
ISBN 978-3-486-58963-4
Europa und den Vereinigten Staaten 1750– 1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2
Ordnungssysteme
Band 31:
Band 36:
Susanne Stein
Claudia Kemper
Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt
Das „Gewissen“ 1919–1925
Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen
Kommunikation und Vernetzung
China, 1949–1957
der Jungkonservativen
2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abb.
2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9
369
ISBN 978-3-486-59809-4 Band 37: Band 32:
Daniela Saxer
Fernando Esposito
Die Schärfung des Quellenblicks
Mythische Moderne
Forschungspraktiken in der
Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach
Geschichtswissenschaft 1840–1914
Ordnung in Deutschland und Italien
2014. 459 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3
2011. 476 Seiten, 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0
Band 38: Johannes Grützmacher
Band 33:
Die Baikal-Amur-Magistrale
Silke Mende
Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungs-
„Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“
projekt unter Brežnev
Eine Geschichte der Gründungsgrünen
2012. IX, 503 S., 9 Abb.
2011. XII, 541 Seiten, 6 Abb.
ISBN 978-3-486-70494-5
ISBN 978-3-486-59811-7 Band 39: Band 34:
Stephanie Kleiner
Wiebke Wiede
Staatsaktion im Wunderland
Rasse im Buch
Oper und Festspiel als Medien politischer
Antisemitische und rassistische Publikationen
Repräsentation (1890–1930)
in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik
2013. 588 S., 38 Abb.
2011. VIII, 328 S., 7 Abb.
ISBN 978-3-486-70648-2
ISBN 978-3-486-59828-5 Band 40: Band 35:
Patricia Hertel
Rüdiger Bergien
Der erinnerte Halbmond
Die bellizistische Republik
Islam und Nationalismus auf der Iberischen
Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“
Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert
in Deutschland 1918–1933
2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0
2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1
370
Ordnungssysteme
Band 41:
Band 47:
Till Kössler
Gregor Feindt
Kinder der Demokratie
Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft
Religiöse Erziehung und urbane Moderne in
Oppositionelles Denken zur Nation im ostmit-
Spanien, 1890–1936
teleuropäischen Samizdat 1976–1992
2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1
2015. XII, 403 S. ISBN 978-3-11-034611-4
Band 42:
Band 48:
Daniel Menning
Juri Auderset
Standesgemäße Ordnung in der Moderne
Transatlantischer Föderalismus
Adlige Familienstrategien und
Zur politischen Sprache des Föderalismus im
Gesellschaftsentwürfe in Deutschland
Zeitalter der Revolution, 1787–1848
1840–1945
2016. XI, 525 S., 3 Abb.
2014. 470 S., 8 Abb. ISBN 978-3-486-78143-4
ISBN 978-3-11-045266-2
Band 43:
Band 49:
Malte Rolf
Silke Martini
Imperiale Herrschaft im Weichselland
Postimperiales Asien
Das Königreich Polen im Russischen
Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglo-
Imperium (1864–1915)
phonen Weltöffentlichkeit 1919–1939
2015. 537 S., 31 Abb. ISBN 978-3-486-78142-7
2017. XI, 492 S. ISBN 978-3-11-046217-3
Band 44:
Band 50:
Sabine Witt
Sebastian Weinert
Nationalistische Intellektuelle
Der Körper im Blick
in der Slowakei 1918–1945
Gesundheitsausstellungen vom späten
Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung
Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus
und Säkularisierung
2017. X, 448 S., 14 Abb.
2015. 412 S. ISBN 978-3-11-035930-5
ISBN 978-3-11-046677-5
Band 45:
Band 51:
Stefan Guth
D. Timothy Goering
Geschichte als Politik
Friedrich Gogarten (1887-1967)
Der deutsch-polnische Historikerdialog
Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege
im 20. Jahrhundert
2017. XI, 513 S., 5 Abb.
2015. VII, 520 S. ISBN 978-3-11-034611-4
ISBN 978-3-11-051730-9
Ordnungssysteme
371
Band 52:
Band 54:
Andrés Antolín Hofrichter
Anselm Doering_Manteuffel
Fremde Moderne
Konturen von Ordnung
Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft
Ideengeschichtliche Zugänge zum 20. Jahr-
und nationale Narrative unter dem Franco-
hundert
Regime, 1939-1964
2019. XVI, 452 S. ISBN 978-3-11-063008-4
2018. X, 418 S. ISBN 978-3-11-052996-8 Band 55: Band 53:
Almuth Ebke
Fabian Thunemann
Britishness
Verschwörungsdenken und Machtkalkül
Die Debatte über nationale Identität in Groß-
Herrschaft in Russland, 1866-1953
britannien, 1967 bis 2008
2019. X, 260 S. ISBN 978-3-11-061647-7
2019. X, 372 S. ISBN 978-3-11-062405-2