Briefe und Begegnungen [Reprint 2021 ed.] 9783112569405, 9783112569399


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Briefe und Begegnungen [Reprint 2021 ed.]
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Christoph Martin Wieland — Sophie Brentano Briefe und Begegnungen

Christoph Martin Wieland Sophie Brentano

Briefe und Begegnungen Herausgegeben von Otto Drude

Akademie-Verlag Berlin 1989

ISBN: 3-05-001040-1 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3—4, Berlin - DDR, 1086 © VCH Verlagsgesellschaft, D - 6940 Weinheim (Bundesrepublik Deutschland) 1989 Lizenznummer: 202 • 100/223/89 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: VEB Druckerei „G. W. Leibniz", Gräfenhainichen - DDR, 4450 • 7324 Schutzumschlag und Einbandgestaltung: Ralf Michaelis L S V : 8023 Bestellnummer: 7551950 (9292) 02800

Inhalt

Zur Edition

7

Erster Teil Wielands Jugend — Das erste Zusammentreffen mit Sophie Gutermann — Die Jahre in der Schweiz

13

Wieland in Biberach — Wiedersehen mit Sophie — Heirat mit Dorothea von Hillenbrand — Berufung nach Erfurt — Treffen mit Sophie La Roche in ThalEhrenbreitstein 21 Wieland in Weimar — Maximiliane La Roche heiratet Peter Anton Brentano — Geburt und Kindheit von Sophie Brentano — Tod der Maximiliane Brentano 29 Kindheit und Jugend von Sophie Brentano — Die Reise nach Wien

. . .

35

Sophie von La Roches und Sophie Brentanos Reise nach Oßmannstedt — Erste Begegnung zwischen Wieland und Sophie Brentano

45

Sophie Brentano in Oßmannstedt

53

Zweiter Teil Briefwechsel zwischen Christoph Martin Wieland und Sophie Brentano Wieland an Sophie Brentano, ohne Datum Sophie Brentano an Wieland, 10. Oktober 1799 5

61 64

Wieland an Sophie Brentano, Sophie Brentano an Wieland, Wieland an Sophie Brentano, Sophie Brentano an Wieland, Wieland an Sophie Brentano, Wieland an Sophie Brentano, Sophie Brentano an Wieland, Wieland an Sophie Brentano, Sophie Brentano an Wieland, Wieland an Sophie Brentano, Sophie Brentano an Wieland, Sophie Brentano an Wieland, Sophie Brentano an Wieland, Wieland an Sophie Brentano, Sophie Brentano an Wieland,

11. Oktober 1799 17. Oktober 1799 21. Oktober 1799 15. November 1799 27. November 1799 ohne Datum 18. Januar 1800 5. Februar 1800 7. März 1800 16. April 1800 9. Mai 1800 27. Juni 1800 4. Juli 1800 11. Juli 1800 17. Juli 1800

65 66 68 69 73 80 82 91 95 101 107 109 111 112 114

Dritter Teil Sophie Brentanos zweiter Besuch bei Wieland — Ihr Tod in Oßmannstedt Wieland nach dem Tode Sophie Brentanos — Arbeit am Aristipp seiner Frau Dorothea

.

— Tod

Das letzte Jahrzehnt — Abschied von Oßmannstedt — Wielands Tod . . . Die Gräber im Park von Oßmannstedt nach Wielands Tod

Anmerkungen Abgekürzt zitierte Literatur Literatur Register

6

119

133 151 173

Zur Edition

Die fast zwei Dutzend Briefe, die der sechsundsechzigjährige Christoph Martin Wieland und die dreiundzwanzigjährige Sophie Brentano vom Herbst 1799 bis in den Sommer 1800 miteinander wechselten, fanden bisher nur geringe Beachtung, vor allem weil sie an schwer zugänglichen Stellen veröffentlicht wurden. Ende des vorigen Jahrhunderts edierte Bernhard Seuffert Sophie Brentanos Briefe in der Deutschen Kundschau\ Damals galten die Gegenbriefe Wielands als verschollen. Erst in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts entdeckte Siegfried Sudhof sie im Nachlaß Karl von Savignys in Münster und gab sie heraus2. Dabei kündigte er eine Ausgabe des Briefwechsels an. Seine Absicht konnte jedoch erst postum verwirklicht werden; die Edition erschien limitiert und war im öffentlichen Handel nicht erhältlich3. Sophie Brentano (1776—1800), die Schwester von Clemens und Bettine Brentano und Schwägerin von Sophie Mereau, hat während ihres kurzen Lebens eine ausgedehnte Korrespondenz geführt. Jugendbriefe von ihr bewahren das Freie Deutsche Hochstift und die Universitätsbibliothek in Mainz auf4. Ihr Briefwechsel mit Wielands Sohn Ludwig liegt in der Universitätsbibliothek Münster und soll demnächst herausgegeben werden. Bis vor wenigen Jahren konnten nur einzelne Briefe ediert werden, zum Teil in Auszügen, andere wurden an verschiedenen Stellen erwähnt5. Um so wichtiger erwies sich die Veröffentlichung ihrer Briefe an Henriette von Arnstein, die vor einigen Jahren erschien6. Sophie Brentano schrieb diese Briefe an ihre Wiener Freundin in den letzten Jahren vor ihrer Begegnung mit Wieland im Sommer 1799 in Oßmannstedt und in den Monaten des folgenden Jahres bis zu ihrem frühen Tod im September 1800. Sie sind eine wichtige und erläuternde Ergänzung ihrer Korrespondenz mit Wieland. Wenn man Sophies Briefe an Henriette von Arnstein mit denen vergleichend liest, die sie zur 7

selben Zeit an Wieland schrieb, erkennt man die große sprachliche und gedankliche Spannweite, über die sie schon als junges Mädchen verfügte. Ihre Briefe an die sechs Jahre jüngere Freundin sind lebendige, oft gefühlvolle und anrührende Mitteilungen über ihre Sorgen und Sehnsüchte. Die Briefe an Wieland hingegen besitzen poetischen Reiz und strahlen einen sprachlichen Zauber aus, der uns bedauern läßt, daß es von Sophie Brentano außer diesen Briefen kaum andere sprachliche Zeugnisse gibt7. Sie war ein echtes Kind der Brentano-Familie, aber ihr früher Tod ließ eine Begabung verstummen, die in ihren Briefen an Wieland sich so reich erweist. Auch in ihrem persönlichen Umgang muß Sophie diesen Zauber besessen haben. Schilderungen aus der Zeit ihres Besuches in Oßmannstedt, die wir kennen, lassen etwas davon spüren, vor allem jedoch sind die Briefe Wielands an sie ein deutliches Zeugnis. Zunächst war nur eine Edition der Briefe in ihrer zeitlichen Abfolge geplant. Zusätzlich sollten erklärende Texte und Dokumente der Zeit, vor allem aus der Weimarer Gesellschaft, die näheren Umstände des Besuchs und der Begegnung erläutern. Während der vorbereitenden Arbeiten wurde erkennbar, daß die Begegnung Wielands mit Sophie deutlicher werden mußte, wenn die Vorgeschichte dieser Begegnung mit einbezogen würde, die bereits ein halbes Jahrhundert zuvor mit einer anderen Sophie begonnen hatte: mit Sophie Gutermann, mit der sich Wieland 1750 verlobte, die dann aber 1753 Michael La Roche heiratete. Ihre älteste Tochter Maximiliane wurde die zweite Frau des Peter Anton Brentano, und beider erste Tochter war jene Sophie, der Wieland 1799 in Oßmannstedt begegnete. Es erschien daher dienlich, die frühe Begegnung Wielands mit Sophie Gutermann vom Jahr 1750 an in ihrer Entwicklung zu verfolgen, denn diese frühe Liebe — „Du schöner Irrtum schöner Seelen"8 — sollte die Jahrzehnte überdauern. In einer behutsamen Wertung des „Sophien-Erlebnisses" liegt der Schlüssel zum Verständnis der Oßmannstedter Begegnungen 1799 und 1800 und auch der folgenden Jahre Wielands. Aus diesem Grund wurde der Edition der Briefe ein knapper Abriß der Beziehungen Wielands zu Sophie von La Roche vorangestellt, der auch Einzelheiten zum Leben von Sophie von La Roches erster Tochter Maximiliane Brentano und zur Biographie von Sophie Brentano bis zu ihren Besuchen in Oßmannstedt nachzeichnet. In gleicher Weise wurde dem Einfluß nachgegangen, den die Begegnung mit Sophie Brentano in Wielands Leben, vor allem in seinem Werk nach 1800, hinterließ. 8

In der Textgestalt folgt der Abdruck der Briefe den Handschriften, die in Weimar und Münster aufbewahrt werden. Dem Goethe-Schiller-Archiv in Weimar und der Universitätsbibliothek in Münster sei an dieser Stelle besonders gedankt, daß sie Kopien der Handschriften zur Verfügung stellten.

9

Wielands Jugend - Das erste Zusammentreffen mit Sophie Gutermann - Die Jahre in der Schweiz

Im Sommer des Jahres 1799, am 15. Juli, fuhr eine Kutsche, auf dem W e g von Weimar kommend, zu dem zehn bis zwölf Kilometer nordöstlich gelegenen Dorf Oßmannstedt, an dessen Ortseingang das Herrenhaus des Gutes gelegen war. Dort angekommen, entstiegen dem Gefährt zwei Damen: eine ältere, weit in den Sechzigern stehende — es war die in weiten Teilen Deutschlands bekannte Schriftstellerin Sophie von La Roche — und eine jüngere — ihre Enkelin Sophie Brentano, ein junges Mädchen von beinahe dreiundzwanzig Jahren, die ältere Schwester von Clemens Brentano. Vor dem Herrenhaus erwartete sie der Besitzer des Gutes Oßmannstedt, Christoph Martin Wieland, zusammen mit seiner Frau Dorothea, seinen Kindern und Enkelkindern. Beide, Sophie von La Roche und Wieland, hatten sich seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Vor einem halben Jahrhundert waren sie miteinander verlobt gewesen, aber zu einer Heirat war es nicht gekommen. Christoph Martin Wieland wurde 1733 in der Nähe von Biberach geboren. „Ich war sehr frühzeitig", sagte er später einmal von sich selbst1. Bereits mit acht Jahren las er die Lebensbeschreibungen des Cornelius Nepos, mit zehn Jahren begann er, in lateinischen Versen zu dichten, und mit dreizehn Jahren schätzte er Horaz und Vergil mehr als seine Lehrer. Sein Vater, Pfarrer in Biberach, schickte ihn zur Vorbereitung späterer Studien 1747 auf die angesehene Internatsschule von Kloster Berge in der Nähe von Magdeburg. Zwei Jahre blieb er in Kloster Berge, wo er im pietistischen Geist erzogen wurde. Im Frühjahr 1749, noch keine sechzehn Jahre alt, verließ er das Internat und schrieb sich an der katholischen Universität von Erfurt ein, einer der ältesten Hochschulen Deutschlands, die 1378 gegründet worden war. Jahrzehnte später — 1769 — sollte er eine Berufung an diese Hochschule erhalten. 13

Im Jahr darauf reiste er in seine Heimatstadt Biberach zurück. Aus Briefen seiner Mutter hatte er von einer Cousine erfahren, die zu dieser Zeit im Haus seiner Eltern lebte; es war die nur wenige Jahre ältere Sophie Gutermann, älteste Tochter des Arztes und Dekans des medizinischen Collegiums in Augsburg, Georg Friedrich Gutermann. Ihr Vater hatte sie in einer zu jener Zeit unüblichen Weise erzogen: schon mit drei Jahren lernte sie lesen, mit zwölf Jahren kannte sie sich in der Bibliothek des Vaters aus und wurde auch in den Natur- und Geschichtswissenschaften unterrichtet2. Das vielseitig gebildete junge Mädchen gefiel in der Gesellschaft, und bald stellte sich ein ernsthafter Bewerber um ihre Hand ein: ein Kollege ihres Vaters, der Leibarzt des Fürstbischofs von Augsburg, Gian Ludovico Bianconi, ein dreißigjähriger italienischer Mediziner. Er versuchte die bisherige Erziehung Sophiens zu erweitern, sie erhielt Unterricht im Klavierspiel, lernte Italienisch und Mathematik und wurde mit der Geschichte des Altertums und der Entwicklung der Künste bekanntgemacht. Gutermann strebte nach dem Tode seiner Frau im Jahr 1748 eine baldige Eheschließung seiner Tochter an, zumal er selbst wieder heiraten wollte. Er konnte sich jedoch mit Bianconi nicht über die Erziehung der Kinder einigen, und die Verlobung wurde gelöst. Bianconi versuchte den Streit durch eine Entführung zu lösen, aber Sophie unterwarf sich ihrem Vater, der verlangte, daß sie alles, was sie an ihren Verlobten erinnern könnte, zurückgeben und vernichten müsse. Das tief verwundete Mädchen schickte er nach Biberach zu seinem Vater, dem Senator und Spitalmeister Johann Adam Gutermann. Nach dessen Tod zog sie in das Haus der Familie des Pfarrers Wieland, mit der sie verwandt war. „Stilles Lesen und Leben wurde mein L o o s " , so beschrieb sie später diese Tage 3 . Als Wieland aus Erfurt zurückkehrte, traf er die ihm bisher unbekannte Cousine in seinem Elternhaus. Das Zusammentreffen der beiden jungen Menschen machte Epoche in ihrem Leben. Und wenn auch die Gefühle der Liebe und der Freundschaft sich in den Jahren und Jahrzehnten wandelten, milderten und herabstimmten, so vergaßen beide den beglückenden Beginn nie. Noch im hohen Alter schrieb Wieland Sophie zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag: „Mit Rührung und Dank gegen die unsichtbare Hand, die unsere Schicksale lenkt, erinnere ich mich der seligen Tage, die ich, ewig theure Sophie, in den Jahren 1750, 51 und 52, mit Ihnen lebte, und des wunderbaren, und wo nicht beyspiellosen, doch gewiß höchst seltenen, und mir durch die Folgen so wohlthätigen Zaubers, den Sie mit dem ersten 14

Blick auf mein ganzes Wesen warfen. Damals kannte ich freilich weder Sie, noch mich selbst; ich hatte keinen Begriff davon, daß es möglich sey, nicht mit Ihnen und für Sie zu leben. Aber es war eine idealistische, eine wahre Zauberwelt, in der ich lebte, und selbst die Sophie, die ich so innig und doch so schwärmerisch liebte, war nicht die wahre Sophie Gutermann, sondern die Idee der Vollkommenheit, die sich in ihr verkörpert darstellte, mit ihr sich identifizierte, und also ganz natürlich diese seltsame, wunderbare Platonische Liebe hervorbringen mußte, wovon ich späterhin im Agatbon und mehrern andern meiner Werke einige Schattenbilder zu entwerfen versuchte, und deren süße Täuschungen einen so mächtigen Einfluß auf meine ganze innere und äußere Existenz gehabt haben." 4 Dieser Zauber, den der alte Wieland in seinem Brief beschwor, ist verständlich. Zwei junge Menschen begegneten sich, die im Augenblick des Kennenlernens wie füreinander geschaffen schienen. Die etwa zwei Jahre ältere Sophie kam aus ihm bis dahin unbekannten städtischen und großzügigen Verhältnissen. Für ihn war Sophie nicht nur ein reizvolles junges Mädchen, das sich ihm zuneigte, für ihn war sie eine junge, schöne, verstehende und liebende Seele, die ihn aus seiner Vereinsamung lösen wollte und konnte. Sie war gebildet genug, um seine geistigen Ansprüche zu verstehen, aber auch schon frauenhaft-erfahren, um ihm das Erlebnis einer ersten Liebe zu schenken. Und er war kein Mann, der sie nach seinen Ansichten bilden und besitzen wollte, er war ein schwärmerischer Jüngling mit Kenntnissen und geistigen Erfahrungen, die ihr bisher unbekannt geblieben waren. „Ein Liebhaber, der Sie um ihrer Seele willen liebte, war ihr etwas neues, und das was sie sich immer gewünscht hatte. " 5 Wielands Vater hatte sich damit abgefunden, daß sein Sohn kein Theologe werden wollte. Aber er forderte ein Studium der Rechte und so die andere Möglichkeit für einen Bürgerlichen, Karriere zu machen. Zum Wintersemester ging Wieland nach Tübingen und lebte dort einsam, zurückgezogen und ohne Freunde. Um sein Studium kümmerte er sich nicht viel. „Wieland ... lebte äusserst einsam u. unbekannt, und beschäftigte sich hauptsächlich, die ersten Poetischen (vel quasi) Werkgen, womit sein Herz damals seinen Kopf ingravidierte, nach und nach ans Licht zu fördern. Das erste (in der 2ten Woche des November 1751 vollendet) war das Lehrgedicht über die Natur der Dinge. Diesem folgten die zwölf Moralischen Briefe, die Moralischen Erzählungen in reimfreien Jamben, der Antiovid, zwei Hymnen an den Früh15

ling u. an die Liebe, u. s. w. " 6 Die Natur der Dinge sandte er, ohne seinen Namen und ohne die näheren Umstände zu nennen, an den Hallenser Philosophen Professor Georg Friedrich Meier, der von diesem Werk so beeindruckt war, daß er es mit einer eigenen Vorrede im Herbst 1751 drucken ließ. In gleicher Weise wandte Wieland sich an den Zürcher Literaturprofessor Jacob Bodmer und schickte ihm sein vaterländisches Epos Hermann in der Hoffnung, daß ihn Bodmer nach Zürich rufen würde. Endlich erreichte ihn 1752 die sehnlichst erwartete Einladung, aber seine Abreise verzögerte sich bis in den Herbst hinein, denn er wollte noch einmal Sophie sehen und sprechen, die inzwischen wieder bei ihrem Vater in Augsburg lebte. Anfang Oktober kam sie nach Biberach, beide versicherten sich ihrer gegenseitigen Liebe und Treue, dann reiste Wieland nach Zürich. Seine Reise war eine Flucht. Er floh vor dem Druck seiner Familie, die ihn zu einer Brotkarriere drängte, und er floh vor Sophie. Für ihn waren ihre Liebe und ihr Verlöbnis im Geistig-Empfindsamen angesiedelt, an eine Verwirklichung wagte er nicht zu denken. Sophie aber war mit ihren zweiundzwanzig Jahren und ihren Erfahrungen ein Mädchen, das den Schwärmereien Wielands gern entgegenkam, da sie so die Erlebnisse der Vergangenheit schnell zu vergessen glaubte; aber sie wußte auch, wie sie ihre Zukunft gestalten wollte. Acht Jahre blieb Wieland in der Schweiz, und während dieser Zeit sahen sich die Verlobten nicht. Es wurden Wielands Lehrjahre oder seine „Education sentimentale" 7 . Bodmer stellte an den jungen Poeten hohe Anforderungen, und Wieland entsprach mit seiner sprachlichen und poetischen Begabung und seiner unermüdlichen Arbeitsleistung ganz den Wünschen Bodmers, der ihm dafür einen sorgenfreien Aufenthalt in seinem Haus und an seinem Tisch bot. Den jugendlichen Verfasser der Moralischen Briefe und der Erzählungen umgab eine frühe Berühmtheit; vor allem waren es die Damen der Zürcher Gesellschaft, die ihn bewunderten. Mit Sophie wechselte er zahlreiche Briefe, in denen er ihr von seinen Arbeiten und seinem Leben in der Schweiz berichtete, aber im Sommer des folgenden Jahres 1753 kam es zu Mißverständnissen. Sophiens Vater hatte wieder geheiratet und drang darauf, daß seine ältesten Töchter aus dem Haus kamen. Sophie zog wieder nach Biberach und lebte im Wielandschen Haus. Doktor Gutermann war neben seinen Ämtern in Augsburg auch Hochgräflicher Stadionscher Leib- und Landmedicus, und somit war eine Verbindung zu dem wenige Kilometer nördlich von Biberach gelegenen Stadionschen Schloß Warthausen gegeben. Graf Stadion, Großhofmeister 16

des Kurfürsten von Mainz, weilte von Zeit zu Zeit auf seinem Schloß, und bei ihm war stets sein 1720 geborener natürlicher Sohn Georg Michael La Roche, der ihm als Privatsekretär diente. Auch Sophie wurde nach Warthausen eingeladen und lernte dort La Roche kennen. Der Vater unterstützte und förderte die Bekanntschaft, denn er war von Beginn an gegen die Verlobung seiner Tochter mit Wieland gewesen. Auch Wielands Eltern hatten diese Verbindung nie gern gesehen, lediglich die Mutter unterstützte zunächst die Neigung der jungen Leute. Doch jetzt fand sie Sophiens Benehmen für eine Braut untragbar. Vorwürfe folgten und kleine Streitereien, schließlich schrieb sie einen langen Brief nach Zürich an Bodmer, der in dem Vorwurf gipfelte: „wan mein Sohn das Mensch zu seiner Frau bekomt, so ist er sein lebtag ein armer Mann und Märtherer, er möchte so viel ein kommen haben als er wollte, so würde sie vor her allemal verliederlichen, als er ein zu nehmen hätte." 8 Sophie verließ das Pfarrhaus und kehrte nach Augsburg zurück. Inzwischen hatte La Roche bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten und Zustimmung für seinen Antrag gefunden. Schließlich nahm auch Sophie die Bewerbung La Roches an, und am 27. Dezember 1753 schlössen beide in Warthausen die Ehe. Erst kurz vorher erfuhr Wieland von dem Entschluß seiner Verlobten. Er war über die für ihn unfaßbare Entscheidung bestürzt, bat sie jedoch, ihm ihre Freundschaft zu bewahren 9 . In Zürich versuchte Wieland, sich von Bodmer zu lösen. Er verließ dessen Haus und nahm sich eine eigene Wohnung. Seinen Unterhalt bestritt er durch die Unterrichtung von Söhnen aus der Zürcher Bürgergesellschaft. Die wichtigste Bekanntschaft dieser Jahre wurde für ihn der fünf Jahre ältere Arzt Johann Georg Zimmermann (1728—1795). Bald standen beide in einem engen Briefwechsel, der weit über literarische Themen hinausging„Ich will Ihnen ganz naiv sagen wie ich es mit den Weibern habe", bekannte Wieland im Januar 1757 dem Freunde." „Sie wissen, daß ich überhaupt ein Bewunderer und Verehrer des schönen Geschlechts bin. Vielleicht (unter uns gesagt) wäre ich es weniger, wenn ich viele Frauen-Zimmer durch mich selbst kennen gelernt hätte. Dazu habe ich nie Zeit genug gehabt. Ich liebte einmal eine sehr außerordentliche 2

Drude

17

Person mit der zärtlichsten und heftigsten Leidenschaft, ohne daß mein Verstand viel Schaden davon lidte ... Sie ist meine Base, und wurde zuletzt meine Geliebte, u: Braut. Unsere Geschichte hat viel sonderbares. Durch sie habe ich alle Leiden u: alle möglichen Glückseligkeiten der Liebe kennen gelernt, diejenigen ausgenommen, die der völlige Besitz gewährt... Sie ist verheurathet, und nicht sehr glückl. — Genug hievon... Junge Mädchen sind mir meistens verächtlich, oder höchstens so hoch geachtet als Papillons. Affectation, Prüderie, Coquetterie u : dergl. kan ich nicht leiden; ein ehrliches arbeitsames Bauer-Mensch ist in meinen Augen eine vortrefflichere Creatur als eine brillante Coquette; Zum Umgang aber wünsche ich mir die letzte so wenig als die erstre. Die wenigen Damen mit denen ich hier einigen Umgang habe, sind alle über 40 Jahre . . . " , 0 Das „Sophien-Trauma" hatte Wieland tief berührt: alle Veränderungen, aller Wechsel und alle Wandlungen der Zeit sollten es nicht auslöschen können. Immer wieder versuchte er, mit Sophie in Verbindung zu treten, die mit -ihrem Mann und ihren Kindern zumeist in der Hofhaltung des Grafen Stadion in Mainz oder Tauberbischofsheim lebte. Im Mai 1756 wurde ihre Tochter Maximiliane geboren, im Jahr darauf der Sohn Fritz und 1759 die zweite Tochter Louise. Im Juni dieses Jahres schrieb sie an Wieland aus Mainz: sie bedauerte ihr gegenwärtiges Leben und beklagte die Mißverständnisse des Jahres 175311. Wieland verließ Zürich im Juni 1759 und zog nach Bern; dort übernahm er zunächst eine Stellung als Hauslehrer. War in Zürich ein enges, pietistisch ausgerichtetes Bürgertum tonangebend gewesen, so zeigte sich ihm in Bern eine offene, fast aristokratisch anmutende Gesellschaft. Hier lernte er neue Menschen kennen, das entscheidende Erlebnis jedoch war seine Begegnung mit Julie Bondeli. Die fast gleichaltrige Julie galt als eine ungewöhnlich gebildete und kenntnisreiche Frau und war trotz ihrer Jugend Mittelpunkt des geistigen Lebens der Berner Gesellschaft. „ E s sind einige Damen die mich sehen wollen", schrieb Wieland im Juni 1759 seinem Freunde Zimmermann. „ D i e merkwürdigste ist eine Mselle Bondeli." 1 2 Nach den ersten Begegnungen war er noch sehr skeptisch, dann wandelte sich seine Einstellung, und bereits Anfang September gestand er dem Freund: „Ich liebe Julie und mich dünkt die äusserliche Schönheit ausgenommen, vereinige sie alle schönen und guten Qualitäten in sich, die ich an meinen übrigen Freundinnen vertheilt bewundert habe. Sie ist nicht so 18

schön als Mad. la Roche, sie ist, wenn man will, gar nicht schön; aber sie ist alles was man seyn m u ß um zu gefallen. " 1 3 Er verlobte sich mit Julie, und es war wieder die typische Wielandsche Verlobung, die nur in seinen Träumen wirklich war. Die Hauslehrerstelle kündigte er auf, weil sie ihm nicht mehr zusagte. „Von meinen Arbeiten?" schrieb er am Beginn des Jahres 1760 an Bodmer. „Sie gleichen den Herkulischen Arbeiten eines Träumenden, von denen beym Erwachen nichts als die E r m ü d u n g übrig bleibt. " 14 Und er erwähnte, daß verschiedene Umstände seine Gegenwart in Biberach erforderten. Die Familie und Freunde hatten erreicht, daß eine freigewordene Stelle im Rat der Stadt für ihn offengehalten wurde. Im Mai 1760 verließ er Bern und seine Verlobte, reiste nach Biberach und kehrte, fast siebenundzwanzig Jahre alt, nach acht Schweizer Jahren in seine Heimatstadt zurück. Wieland hatte gelernt, auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu leben; zunächst machte es ihm noch Schwierigkeiten, später sollte er diese Lebensform artistisch meistern. Er war nicht nur der verstiegene seraphische Schwärmer, er war ein junger Mann und bei aller Zartheit des Körpers und des Geistes gesund und gehörte zu denen, „welche durch die Feinheit und Lebhaftigkeit ihres Gefühls eben so geschickt gemacht werden, v o n den physikalischen, als durch die Zärtlichkeit ihres Herzens, oder durch ihren innerlichen Sinn für das sittlich Schöne, von den moralischen Vergnügungen der Liebe zu urteilen" 15 , wie er es seinem Agathon zuschrieb, in dem doch zuweilen er selbst sichtbar wird.

2'

19

Wieland in Biberach - Wiedersehen mit Sophie Heirat mit Dorothea von Hillenbrand Berufung nach Erfurt Treffen mit Sophie La Roche in Thal-Ehrenbreitstein

Die Bemühungen der Familie und der Freunde hatten nicht nur die Wahl zum Ratsmitglied in Biberach ermöglicht, nach seiner Rückkehr wurde Wieland auch Kanzleiverwalter, das heißt, er war für den amtlichen Schriftverkehr der Stadt verantwortlich. Zwischen den Ratsparteien, die verschiedenen Konfessionen angehörten, kam es zum Streit über die Rechtmäßigkeit seiner Berufung. Er dauerte Jahre an und ging bis vor das Hofgericht in Wien, das 1764 für Wieland entschied. Sein Gehalt wurde ihm vorenthalten, und bisweilen stand er vor dem finanziellen Ruin. Dazu brachten ihn verschiedene Liebesverhältnisse in Bedrängnis. In diesen Schwierigkeiten half ihm eine Freundin, die er nach fast einem Jahrzehnt wieder in Biberach traf: Sophie La Roche. Sie hatte in den zurückliegenden Jahren mit ihrem Mann und ihren Kindern in Mainz in der Hofhaltung des Grafen Stadion gelebt. Als dieser sich 1761 im Alter von siebzig Jahren auf seinen Besitz Schloß Warthausen bei Biberach zurückzog, blieb Michael La Roche mit seiner Familie bei ihm. In den langen Jahren ihrer Trennung hatten sich Sophie und Wieland nie ganz aus dem Gedächtnis und Sinn verloren, sie hatten in Abständen Briefe gewechselt und über Dritte von den Lebensumständen des anderen erfahren. Nach seiner Rückkehr schrieb Wieland an Sophie, die noch in Mainz lebte, lange Briefe. Sie antwortete und berichtete ihm, daß sie im folgenden Jahr nach Warthausen kommen werde. Wieland warnte sie, sie würde ihn sehr verändert finden: „Ich habe nämlich während dieser acht Jahre, die wir nun getrennt sind, so viele Veränderungen durchgemacht, daß wir einen Umgang von vielleicht mehreren Monaten nötig hätten, daß Sie mich wieder kennen würden oder vielmehr daß Sie sich ein wahres und deutliches Bild von meinem Charakter machen könnten ... Ich stelle mir vor, daß 21

Sie, meine liebe Schwester, sich in dem selben Fall befinden, und das läßt mich, vereint mit dem Bedürfnis nach Umgang mit jemandem, der fähig ist, mich zu verstehen, mit Ungeduld den Augenblick herbeiwünschen, in dem wir uns wieder sehen werden." 16 In dieser rokokohaft-galanten Tonart fuhr er fort und wünschte, sie möge einigermaßen häßlich geworden sein, da er sonst nicht für sich einstehen könne, die Zeit, da er ein Platoniker gewesen, sei nun endgültig vorbei. Sophie nahm diesen Ton sofort auf: „Ich bin sogar mehr entzückt darüber, als Sie vielleicht denken. Ich werde Sie öfters sehen, denn ich zweifle nicht daran, daß Sie diese hübsche Laune, in der Sie mir diesen Brief geschrieben haben, von Zeit zu Zeit wieder packt, und in diesen Momenten werden Sie den Geist von Warthausen lieben." 17 Im darauffolgenden Jahr zog Graf Stadion für den Rest seines Lebens mit seiner kleinen Hofhaltung nach Warthausen, und Wieland gehörte bald zu den bevorzugten Gästen im Schloß. Man schätzte seine Dichtungen, er las vor, woran er schrieb, und zahlreiche Werke, die in Biberach entstanden, wurden für den „Geist von Warthausen" verfaßt. In der hervorragenden Bibliothek des Schlosses fand Wieland viele Anregungen, man half ihm in schwierigen Angelegenheiten, die diplomatischen Verbindungen des Grafen erwiesen sich wiederholt als nützlich, und immer wieder war es Sophie, die vermittelte und ihm beistand. In den Biberacher Jahren hatte Wieland sich ein riesiges Arbeitspensum vorgenommen. Neben seiner amtlichen Tätigkeit, die viele Stunden beanspruchte, begann er 1761 Shakespeare zu übersetzen. Bis 1766 veröffentlichte er in acht Bänden die Übersetzungen von 22 Dramen18. Im Winter 1763 auf 1764 schrieb er seinen ersten Roman, dessen Titel das Programm seines gegenwärtigen Lebens war: Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Kosalva19. Das schwierigste, aber auch wichtigste Unternehmen wurde der Beginn eines weiteren Romans. „Dem allen ungeachtet habe ich vor etlichen Monathen einen Roman angefangen, welchen ich die Geschichte des Agathon nenne; Ich schildre darinn mich selbst, wie ich in den Umständen Agathons gewesen zu seyn mir einbilde, und mache ihn am Ende so glücklich als ich zu seyn wünschte", kündigte er sein Vorhaben am Beginn des Jahres 1762 dem Freunde Zimmermann an20. Nach der Beilegung des Rechtsstreites hatte sich seine wirtschaftliche und finanzielle Situation geordnet und gefestigt. 22

„Nun geht mir von den Bedürfnissen des menschlichen Lebens nichts ab als ein Weib", gestand er seinem Zürcher Verleger Salomon Geßner, „und da ich durch den Tod meines Bruders die Ehre habe, der einzige von meiner Familie zu seyn, so werde ich von meinen lieben alten Eltern über diesen Punct so sehr in die Enge getrieben, daß ich bald genöthigt seyn werde, in die ganze Welt um ein Weib auszuschreiben. Hier finde ich keine vor mich; denn ich sollte eine hübsche, gescheidte, muntre und wo möglich eine reiche Frau haben, und die drey oder vier Jungfrauen, welche hier, stands halber, ein Recht an mich haben könnten, sind entweder schön und dumm, oder dumm und häßlich dazu." 21 Weihnachten 1764 erhielt Sophie La Roche einen langen Brief Wielands, in dem er in galanter Weise um die Hand ihrer erst achtjährigen Tochter Maximiliane anhielt. Er führte seinen Wunsch in allen Einzelheiten aus, versprach, eine schickliche Zeit auf alle Ansprüche eines Gatten zu warten, nur wolle er sich schon jetzt ihrer Tochter versichern. Natürlich war der Brief eine versteckte Huldigung an die Mutter, aber Sophie verstand den indirekt ausgesprochenen Wunsch ihres ehemaligen Verlobten, und sie nutzte ihre Beziehungen nach Augsburg und fand in der jungen Anna Dorothea von Hillenbrand (geb. 1776) eine Frau für ihn. Wieland reiste nach Augsburg, stimmte zu, und im Oktober 1765 traute Wielands Vater seinen Sohn und dessen junge Frau. „Ich habe inzwischen an der Fortsetzung dieses Werks gearbeitet", schrieb er wenige Wochen nach der Hochzeit an den Verleger seines Agathon, „ich bin aber durch eine Vorfallenheit unterbrochen worden, welche ich hätte ausbedingen sollen, als ich Ihnen Hofnung machte, die Ganze Geschichte des Agathon biß auf nächste Ostermesse zu liefern. Ich habe — eine sottise gemacht, nicht wahr? — Vielleicht; wenigstens in so fern wir das in der grossen Welt fast durchgehends angenommene Principium, daß ein Philosoph und Dichter frey seyn solle, gelten lassen — Dem sey nun wie ihm wolle, ich habe ein Weib genommen, oder eigentlicher zu reden, ein Weibchen, den es ist ein kleines, wiewohl in meinen Augen ganz artiges und liebenswürdiges Geschöpf, das ich mir, ich weiß selbst nicht recht wie, von meinen Eltern und guten Freunden habe beylegen lassen." 22 Wenige Wochen später ^langen seine Worte wesentlich zufriedener und selbstbewußter: „Meine junge Frau (weil Sie doch so gütig sind und mehr von ihr wissen wollen)", berich23

tete er Geßner, „ist aus einem augsburgischen Kaufmannshause... Sie hat noch neun Geschwister, und ist also nicht reich, ob sie gleich mit der Zeit von ihren Eltern so viel zu erwarten haben mag, als sie nöthig haben könnte, wenn sie Wittfrau würde. Das, warum es mir zu thun war, ist ihre Person; sie hat wenig oder nichts von den schimmernden Eigenschaften, auf welche ich (vermuthlich weil ich Anlässe gehabt habe, ihrer satt zu werden) bey der Wahl einer Ehegattin nicht gesehen habe. Sie ist... gewählt für mein Herz und meinen Wünschen gleich — ein unschuldiges, von der Welt unangestecktes, sanftes, fröhliches, gefälliges Geschöpf; die bloße Natur ..," 23 In Dorothea von Hillenbrand hatte Wieland die Frau gefunden, die er bei aller „Schwärmerei" wohl immer gesucht hatte, und wenige Monate später gestand er dem Freunde Zimmermann: „Sie wissen, mein Freund, daß ich eine Frau habe, aber Sie wissen noch nicht, daß ich glücklich genug gewesen bin, vielleicht die Einzige in der Welt zu bekommen, welche in allen Stücken dazu taugte, meine Frau (notes, que je ne dis pas, ma Maitreße) zu seyn. Ich habe sie so herzlich lieb als jemals ein ehrlicher Mann sein Weib lieb gehabt hat — Sie macht mich in der That glücklich, ob sie gleich kein idealisches Mädchen ist. Ich sehe sie zuweilen mit Augen an, wie ohngefehr Horaz dem guten Mädchen mag verliehen haben, zu der er sagt: age nunc, meorum finis amorum —. « 2 4 Er schloß die erste Fassung der Geschichte des A.gatbon (1766/67) ab, die Comischen Erzählungen erschienen 1765, rokokohaft-galante und leicht gewagte Verserzählungen im Stil des „Geistes von Warthausen". Weit bekannt und beliebt — auch im Norden Deutschlands — wurde er mit dem Gedicht in drei Büchern Musarion, oder die Philosophie der Grazien (1768). Im Oktober des Jahres 1768 wurde Wielands erste Tochter geboren, die in der Taufe den Namen Sophie erhielt. Wenige Monate zuvor hatte Sophie La Roche — sie war jetzt 38 Jahre alt — einem Sohn, Franz Wilhelm, das Leben geschenkt. Als im Herbst des Jahres Graf Stadion verstarb, änderte sein Tod das Leben der Familie: La Roche erhielt die Amtmannstelle des Stadionschen Besitzes Bönnigheim als Erbe zugesprochen und mußte Warthausen verlassen. Nur Sophie blieb zurück, ihre Töchter Maximiliane und Louise kamen in ein Pensionat. 24

Auch Wieland suchte Biberach zu verlassen. Er hatte noch über den Grafen Stadion Verbindungen mit der Universität E r f u r t aufgenommen, die zu dieser Zeit zum Kurfürstentum Mainz gehörte, und erhielt 1769 eine Berufung zum Professor der Philosophie. Im Mai reiste er mit seiner Frau und seiner Tochter nach Erfurt. Zur Reisegesellschaft gehörte auch der zwölfjährige Sohn Sophiens, Fritz, dessen Erziehung Wieland in den nächsten Jahren übernehmen wollte. Mit Sophie blieb er in einem regelmäßigen Briefkontakt und erfuhr, daß sie sich die einsamen Tage in Warthausen mit dem Schreiben eines Romans in Briefen vertrieb. Sie schickte ihm das Manuskript, und Wieland korrigierte, verbesserte und fand auch einen Verleger, so daß die Geschichte des Fräuleins von Sternheim 1771 erscheinen konnte. Inzwischen hatte sich Sophies Situation sehr verändert. La Roche hatte eine ehrenvolle Stellung am Hofe des Kurfürsten v o n Trier erhalten und war mit seiner Familie im Frühjahr 1771 nach Koblenz gereist, u m in Thal-Ehrenbreitstein ein eigenes geräumiges Haus zu beziehen. Die Kinder konnten wieder zu den Eltern zurückkehren: die jetzt fünfzehnjährige Maximiliane mit ihrer Schwester und zwei Brüdern; nur der vierzehnjährige Fritz lebte noch in Erfurt bei Wieland. Bereits wenige Wochen nach dem Umzug lud Sophie zu einem Besuch nach Ehrenbreitstein ein, und im Mai traf Wieland vor dem Haus der La Roches ein. In einem Brief von Friedrich Heinrich Jacobi (1743—1819) besitzen wir eine ausführliche und bewegende Schilderung des Zusammentreffens von Sophie und Wieland. „Die Frau von La Roche ist eine schöne vortrefflich gewachsene Dame, von mehr als mittler Größe, dem Ansehen nach im Alter von 30. Jahren, ob sie gleich in der That bereits 40. zurückgelegt hat... Der freymüthige heuchellose Wieland, dem der Himmel zu der Leyer des Apollo auch das erhabene Wohlwollen dieses Gottes gab, ist seiner äußeren Gestalt nach, ein zarter hagerer Mann von mittelmäßiger Größe. Beym ersten Anblicke scheint seine Physionomie nicht sehr bedeutend, denn seine Augen sind klein, und etwas trübe, und die Menge v o n Blatter-Narben, womit seine Haut überdeckt ist, machen daß seine Z ü g e nicht genug hervorstechen, um sich gehörig auszeichnen zu können." Jacobi schildert dann seine und seines Bruders Ankunft, das Treffen mit anderen Gästen und das Warten auf die Ankunft Wielands. „ K u r z hierauf hörten wir einen Wagen rollen, wir sahen zum Fenster hinaus — er war es selbst. Der Herr La Roche lief die Treppe hinunter ihm ent25

gegen; ich ungeduldig, ihm nach; und wir empfingen unsern Freund unter der Hausthüre. Wieland war bewegt und etwas betäubt. Während dem, daß wir ihn bewillkommten, kam die Frau La Roche die Treppe herunter. Wieland hatte eben mit einer Art von Unruhe sich nach ihr erkundigt, und schien äußerst ungeduldig sie zu sehen: Auf einmahl erblickte er sie — ich sah ihn ganz deutlich zurückschauern ... Drauf kehrte er sich zur Seite; warf mit einer zitternden und zugleich heftigen Bewegung seinen Hut hinter sich auf die Erde, und schwanckte zu Sophien hin. Alles dieses war von einem so außerordentlichen Ausdrucke in Wielands ganzer Person begleitet, daß ich mich in allen Nerven davon erschüttert fühlte. — Sophie gieng ihrem Freunde mit ausgebreiteten Armen entgegen; er aber, anstatt ihre Umarmung anzunehmen, ergriff ihre Hände, und bückte sich um sein Gesicht darein zu verbergen: Sophie neigte mit einer himmlischen Miene sich über ihn, und sagte mit einem Tone, den kein Clairon, und keine Dubois nachzuahmen fähig sind: Wieland — Wieland — O ja — sie sind es — sie sind noch immer mein lieber Wieland. Wieland, von dieser rührenden Stimme geweckt, richtete sich etwas in die Höhe; blickte in die weinenden Augen seiner Freundin, und ließ dann sein Gesicht auf ihren Arm zurück sincken. — Keiner von den umstehenden konnte sich der Thränen enthalten; mir strömten sie die Wangen hinunter; ich schluchste; ich war außer mir, und ich wüßte bis auf den heutigen Tag noch nicht zu sagen, wie sich diese Scene geendigt, und wie wir zusammen wieder hinauf in den Saal gekommen sind." 25 Wieland wurde vom Kurfürsten von Trier, Clemens Wenzeslaus, empfangen und verbrachte die Tage mit der Familie La Roche und ihren Gästen. Dann reiste er weiter nach Mainz. Überall wurde er als der berühmte und große Mann aufgenommen. Es waren anstrengende, aber auch beglückende Wochen, und nach fünfunddreißig Tagen kehrte er zurück nach Erfurt, rechtzeitig, um seine dritte Tochter, Regina Dorothea, in den Arm zu nehmen. Inzwischen war der erste Teil der Geschichte des Fräuleins von Sternbeim erschienen, ohne Nennung der Autorin, jedoch mit dem Vermerk: „Von einer Freundin derselben aus Orginal-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen. Herausgegeben von C. M. Wieland." 26 Der Erfolg war größer, als alle es erwartet hatten, Sophie gewann mit dem Thema und ihrer Schreibart nicht nur ihre Generation, sondern auch die Jüngeren, die Stürmer 26

und Dränger. Alle Kritiken lobten das Buch. Herder schrieb im Sommer an seine Braut Karoline Flachsland: „Das schönste, schönste Stück u. was auf mich den meisten Eindruck gemacht ist die Fräulein Sternheim, die Wieland herausgegeben. Vielleicht können sie mir historische Nachrichten geben, wer dies Stück geschrieben hat, ob würklich seine Freundin, wie ich fast glaube, oder Er, in den Zeiten, da er noch ernsthafter u. feierlicher dachte; aber sei Verfasser, wer wolle, für mich hat das durchgehende Däm* mernde, Dunkle und Moralischrührende eine Würde, eine Hoheit, die ich lange, lange nicht gefunden. " 27 Die Sternbeim wurde begeistert gelobt, doch zahlreiche Kritiker wandten sich gegen Wieland, gegen seine E i n f ü h r u n g und seine Anmerkungen. Es war vor allem die junge literarische Generation, die ihn kritisch treffen wollte. Und Sophie tat nichts, um diese Angriffe abzuwehren, der späte Ruhm war ihr wichtiger geworden als ihre Bindung an Wieland. Das Zusammentreffen in Ehrenbreitstein war ein Wendepunkt in ihrem Verhältnis zueinander geworden: „Allerdings, meine liebste Freundin", schrieb Wieland wenige Wochen nach seinem Besuch an Sophie, „liegt der G r u n d der Verschiedenheit in unseren Begriffen und in unserer Art zu empfinden (in so fern wir nämlich verschieden sind) in der ganzen Summe aller Verschiedenheiten unserer Umstände. Aber lassen Sie sich nicht dadurch beunruhigen. Ich sehe gar nicht, warum die Natur zwey gleichgestimmte Instrumente aus uns hätte machen sollen ... Freilich ist es sehr angenehm, mit Personen die man liebt, auch in Kleinigkeiten zu harmoniren; aber vielleicht sah die Natur vorher, was uns das Schicksal für Streiche spielen würde, und glaubte für meine Ruhe zu sorgen, indem sie die Saamen dieser Ungleichheiten in unsere Seelen legte — ..." 28 Anfang O k t o b e r 1771 erschien der zweite Teil der Geschichte des Fräuleins von Sternheim, die Aufnahme blieb gleich: Sophie, deren Verfasserschaft sich herumgesprochen hatte, wurde gelobt, Wieland getadelt. Darüber hinaus war E r f u r t ihm von Jahr zu Jahr mehr verleidet worden, und bei seinen Plänen für eine neue Stellung hatte er auch Weimar ins Kalkül gezogen, wo ,man einen Erzieher für den jungen Erbprinzen Carl August suchte. Bereits im August 1772 konnte er Sophie seinen Entschluß mitteilen : 27

„Es ist hohe Zeit, meine theure Freundin, daß ich Sie an demjenigen Antheil nehmen lasse, was mir in diesen Tagen begegnet ist.... Ich gehe als Hofrath und Instructor des Erbprinzen in Weimarische Dienste, mit 1000 Thaler Gehalt, so lange mein Dienst währt, und mit 600 Thalern lebenslänglicher Pension, wenn er zu Ende ist, das ist, von dem Tage an, da der Erbprinz die Regierung antritt." Und da dies in drei Jahren der Fall sein würde, versäumte er nicht, den Brief zu beschließen: „Auf die nächsten drey Jahre werden wir nun leider geschieden bleiben. Aber im vierten sehen wir uns unfehlbar, oder ich müßte nicht mehr in der Welt seyn." 29 Der neue, distanzierte Ton ist unüberhörbar. Ihr Verhältnis war in eine neue Phase getreten. Es war nicht nur der Erfolg der Sternheim, nicht nur, daß Sophie mit seinen ärgsten Kritikern in freundschaftlichem Briefwechsel stand, Wieland spürte, daß sie sich nach verschiedenen Richtungen auseinandergelebt hatten, und er wußte, daß es nicht mehr zu ändern war, ja, daß er es nicht mehr ändern wollte. So schob er mit großer Vorsicht eine Dreijahresfrist ein, während der man sich nicht sehen würde, aber aus diesen drei Jahren sollten fast drei Jahrzehnte werden.

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Wieland in Weimar Maximiliane La Roche heiratet Peter Anton Brentano Geburt und Kindheit von Sophie Brentano Tod der Maximiliane Brentano

Im September 1772 zog Wieland mit seiner Familie nach Weimar. Es war nur eine kurze Strecke von knapp 30 Kilometern in östlicher Richtung, aber er zog von einem Land in ein anderes. Erfurt gehörte damals zum Kurfürstentum Mainz, und Weimar war die Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar, in dem zu dieser Zeit etwa 110000 Menschen lebten; Weimar hatte um die 6000 Bewohner. Die Regentschaft führte die Herzoginwitwe Anna Amalia, Tochter des Braunschweigischen Herzogpaares und Nichte Friedrichs des Großen. Sie hatte sich 1756, knapp achtzehnjährig, mit dem nur zwei Jahre älteren Ernst August Constantin, Herzog von Sachsen-Weimar, vermählt. Im September des folgenden Jahres wurde der Erbprinz Carl August geboren, und 1757 folgte ein zweiter Sohn, Constantin, dessen Geburt der Vater nicht mehr erlebte, denn bereits im Mai des Jahres war der Herzog verstorben. Anna Amalia mußte mit neunzehn Jahren die Regierung des kleinen Herzogtums übernehmen. Als Wieland 1772 als Erzieher des Erbprinzen in Weimar eintraf, war sie dreiunddreißig Jahre alt, der Erbprinz zählte fünfzehn und sein Bruder Constantin vierzehn Jahre. Wieland stand mit fast vierzig Jahren in der Mitte seines Lebens. Neben seiner Erziehertätigkeit arbeitete er an einer veränderten Ausgabe des Agathon, die 1773 in vier Teilen erschien. Die Hauptarbeit dieser Zeit und der folgenden Jahre war jedoch die Planung und Herausgabe der Zeitschrift Der Teutsche Merkur, die zunächst vierteljährlich und ab 1775 monatlich erschien. Im Januar des Jahres 1774 heiratete, oder besser gesagt, wurde Sophies Tochter Maximiliane, knapp achtzehnjährig, an den zwanzig Jahre älteren Frankfurter Kaufmann Peter Anton Brentano verheiratet. Eine zunächst geplante Verlobung war kurz zuvor unter peinlichen Umständen nicht 29

zustande g e k o m m e n , und guter Rat war teuer gewesen. D a half ein F r e u n d der Familie, der in Frankfurt lebende D e c h a n t Dumeiz. S o p h i e erinnerte sich später an die U m s t ä n d e : „ D u m e i z w u r d e u m Hilfe gefleht. D e r spricht v o n einem liebenswerten, viel reichern Mann. Alle N e g o z i a n t e n w e i b e r in F r a n k f u r t sind glücklich, sagten wir, und gaben unsere M a x e d e m Brent a n o . " 3 0 Peter A n t o n Brentano entstammte einer Familie aus d e m oberitalienischen Seengebiet. E i n i g e ihrer Mitglieder hatten sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Handelsleute in Mainz und später in Frankfurt am Main niedergelassen. Schon in jungen J a h r e n hatte sich Peter A n t o n selbständig gemacht und eine H a n d l u n g mit Gewürzen, Lebensmitteln, T e e , K a f f e e und auch K o h l e n gegründet. Sein G e s c h ä f t florierte, sein A n sehen wuchs, und er konnte ein großes repräsentatives H a u s in der G r o ß e n S a n d g a s s e in Frankfurt erwerben, den „ G o l d e n e n K o p f " . A u s seiner ersten E h e brachte er f ü n f K i n d e r mit. Maximiliane war nicht gern nach Frankfurt gezogen. A u s d e m g r o ß z ü g i g e n und offenen Haus der Eltern in ThalEhrenbreitstein, in d e m sich H o f l e u t e mit Schriftstellern und Gelehrten der verschiedensten Richtungen und K o n f e s s i o n e n trafen, in d e m vorgelesen, diskutiert und musiziert wurde, k a m sie nun in das Handelshaus, das in weiten Teilen auch als L a g e r und Stapelplatz diente, und sollte, fast n o c h ein K i n d , die schwierigen A u f g a b e n einer H a u s f r a u übernehmen. I m Jahr darauf schenkte sie einem Sohn das L e b e n — Sophie war G r o ß m u t t e r geworden, aber vielleicht noch wichtiger für sie war, daß sie sich jetzt S o p h i e v o n L a R o c h e nennen konnte, denn ihr M a n n war 1775 nobilitiert worden. A u c h für Wieland war 1775 ein wichtiges Jahr. D i e Großjährigkeit des E r b p r i n z e n beendete seine Tätigkeit als Erzieher, und mit zweiundvierzig J a h r e n schied er aus seinem A m t . Bis an sein L e b e n s e n d e erhielt er die vereinbarte Pension v o n 600 Thalern jährlich. I m S o m m e r des folgenden J a h r e s beklagte sich S o p h i e bei ihm, daß sie keine Briefe v o n ihm erhielt. „ W a s kann ich Ihnen, liebe Freundin, zu Rechtfertigung oder Entschuld i g u n g v o n meinem ... Stillschweigen s a g e n ? E s ist Schicksal! In solcher E n t f e r n u n g , wie sollten wir einander in diesem unendlichen J a h r m a r k t des menschlichen L e b e n s nicht o f t auf lange Zeit aus dem Gesichte verlieren? A u s d e m Herzen niemals, niemals! U n d was können wir einander schreiben? D a s Interessanteste ist immer gerade das, was sich nicht schreiben läßt." 3 1

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Im Sommer kam Maximiliane, die in diesen Wochen zu ihren Eltern nach Thal-Ehrenbreitstein gefahren war, mit ihrem zweiten Kind, einer Tochter, nieder. Sie wurde auf den Namen ihrer Großmutter, Sophie, getauft und wuchs zu dem jungen Mädchen heran, das zwei Jahrzehnte später Wieland in Oßmannstedt begegnen sollte. Frei von seiner bisherigen Amtstätigkeit konnte sich Wieland seinem Hauptgeschäft widmen, der Redaktion und Herausgabe der Zeitschrift Der Teutscbe Merkur. In ihr erschienen die zahlreichen Verserzählungen, die in diesen Jahren entstanden, und der Roman Die Abderitett. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte. Im Sommer 1777 beendete er die Arbeit an einem Singspiel, Rosamund, zu dem Anton Schweitzer die Musik komponierte. Anfang 1778 sollte es in Mannheim aufgeführt werden, und Wieland wollte dazu nach Frankfurt und Mannheim reisen. „Ich komme auf Weihnachten nach Frankfurt, und werde da wenigstens Ihre Max sehen", schrieb er an Sophie. „Von da gehe ich nach Mannheim, um Schweizers Rosamunde zu hören, Sie wissen, daß bey einer Oper der Text nicht in Anschlag kommt." 32 Und am gleichen Tag meldete er sich bei Goethes Mutter zu einem Besuch im Winter in Frankfurt an33. Im November und Dezember wurde in Mannheim die Aufführung der Oper vorbereitet, bei der auch der einundzwanzigjährige Mozart einige Proben leitete. Die für Anfang Januar geplante Aufführung mußte jedoch verschoben werden, da der bayerische Kurfürst Max Joseph schwer erkrankt war. „Aber werden wir uns auch sehen, Sophie?... Wird aus unserm gehofften Wiedersehen nichts, so muß ich glauben es sey Schicksal; aber ich gestehe Ihnen, ungern, sehr ungern würde ich der Freude entsagen, Sie einmal wieder zu sehen. Und doch, liebe Sophie, nach allem, was seit einigen Jahren vorgegangen, könnt' es reine Freude seyn? Aber diese Betrachtung soll Sie nicht abhalten, wenn Sie kommen können und wollen." Das war deutlich gesprochen. Beide sahen sich nicht, aber mit Sophies Tochter Maximiliane traf Wieland zusammen. „M(aximiliane) hat durch wunderbare momentane Aehnlichkeit, die sie in Gesicht und Ton der Stimme mit einer Dame hat, die im Jahre 1750, 51 und 52, die Dame meiner Gedanken war, Reminiscenzen in mir 31

erweckt, die mir in der ersten Minute außerordentlich wohl thaten. Ich konnte mich nicht enthalten zu wünschen, daß wir an Einem Orte beysammen leben möchten, bloß um dieser angenehmen Täuschung, so oft als das Herz mir's sagen würde, genießen zu können. Ob das in die Länge gut thun würde, weiß ich nicht. "34 Aufschlußreicher hätte er nicht schreiben können, und Sophie wird diesen Brief nie vergessen haben. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten berührten sich ihre Lebenskreise kaum noch. Sophie versuchte, an den Erfolg ihrer Sternheim anknüpfend, sich als Schriftstellerin durchzusetzen, aber ihre späteren Bücher konnten den ersten Erfolg nicht wiederholen. Für Wieland blieb die zeitraubendste Arbeit der Teutsche Merkur. „Ich bin Hausvater, und habe inclusive sieben liebe holde Kinder, wovon das älteste wenig über zehn Jahre, und das jüngste sieben Wochen alt ist, täglich sechzehn Mäuler und Mägen zu versorgen. Bey einem solchen Amte darf man wahrlich die Hände nicht in den Sack stecken, und der ehrliche Merkur spielt, wie Sie denken können, dabey keine ganz entbehrliche Rolle", schrieb er an den befreundeten Heinrich Voß am Beginn des Jahres 177935. Ein Jahr zuvor hatte Michael von La Roche in Koblenz seinen Abschied nehmen müssen, er verlor sein Haus und den größten Teil seiner Bezüge. Mit Sophie zog er zunächst nach Speyer, wo sie in eingeschränkten Verhältnissen leben mußten. Immer wieder plante Sophie einen Besuch bei Wieland in Weimar, und stets antwortete Wieland mit einer Fülle von Vorbehalten, vor allem bat er sie, sich doch zumindest ein oder zwei Wochen vorher anzumelden, und mit einer gewissen Dringlichkeit schloß er: „Also, liebste Base, schreiben sie mir nächstens etwas näheres über die Sache, und entsagen Sie der Idee einer agreablen surprise, wovon ich in Sachen, wobey das Herz interessirt ist, kein Freund bin." 36 Am Ende des Jahres 1786 zogen Sophie von La Roche und ihr Mann nach Offenbach in ein eigenes Haus, das sie mit Hilfe ihres Schwiegersohnes Peter Anton Brentano erworben hatten. Doch schon zwei Jahre darauf starb Michael von La Roche und ließ Sophie in schwierigen äußeren Verhältnissen, aber doch in der immer erhofften und ersehnten Unabhängigkeit zurück: jetzt konnte sie tun, was sie sich schon immer gewünscht hatte, sie konnte reisen. Im Hause der Brentanos in Frankfurt wuchs die Kinderschar von Jahr zu Jahr. Von den zahlreichen Geschwistern stand Sophie der nur zwei Jahre 32

jüngere Bruder Clemens am nächsten, mit dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit, zumeist bei Verwandten oder in einem Pensionat, getrennt von der Mutter verbrachte. Mit vier Jahren hatte sie ihr linkes Auge verloren. Der Verlust entstellte sie nicht, aber zeit ihres Lebens litt sie an Kopfschmerzen, und sie mußte das verbliebene rechte Auge stets vor Überanstrengung schützen. Mit zwölf Jahren kam sie mit dem Bruder in eine Pension nach Zabern, und erst drei Jahre später, 1791, kehrte sie in den „Goldenen K o p f " nach Frankfurt zurück. Zwischen Sophie von La Roche und Wieland waren in diesen Jahren nur noch wenige Briefe gewechselt worden, und 1793 entschuldigte sich Wieland bei der Freundin für sein langes Schweigen: „Freylich hätte ich in dieser langen Zeit auch an Sie schreiben können — aber, Nehmen Sie es nicht ungnädig, ich habe eine Menge billiger Entschuldigungen, die Sie nicht haben. Denn primo habe ich unstreitig viel mehr zu thun und zu schicken (wie man in diesem Lande sagt) als Sie, da ich zu gleicher Zeit, a) ein Journal herauszugeben, b) Eine Ausgabe meiner sämmtlichen Werke in 40 Bänden zu besorgen, c) den Aristófanes zu übersetzen und d) einem Hauswesen von 10 Kindern (mit Einschluß 2 junger Wittwen, die bey mir wohnen) und 4 Kindskindern vorzustehen habe; unzähliger Zerstreuungen und Zerstücklungen meiner Zeit nicht zu gedenken, denen mich meine Lage und Verhältnisse, nebst der leidigen Celebritaet unterwerfen ... Wenn Sie, liebe Sophie, Gelegenheit finden (doch, wo denk' ich hin? Diese haben Sie ja wohl sehr oft) so sagen Sie doch Ihrer Tochter Brentano recht viel schönes in Meinem u. meiner Frau Nahmen. Sie ist mir von meinen Auserwählten ich kenne nichts liebenswürdigers ... Und nun, adieu, Meine Freundin von Alters her! Leben Sie wohl, und behalten uns lieb. Alle Meinigen danken Ihnen für Ihr freundliches Angedenken und empfehlen sich Ihnen bestens. Ewig Ihr getreuer Freund W. " 3 7 Die „Tochter Brentano" war Maximiliane. Sie hatte im Mai 1793 ihrem zwölften Kind das Leben geschenkt, mußte es aber Anfang September wieder hergeben. Im Sommer noch hatte sie Wieland besucht, aber im November starb sie, 37 Jahre alt. „Gütige, geliebte Fürstin Elise! Ich kann nicht viel schreiben, aber meine zerrissene Seele sucht den Trost Ihrer edlen Teilnahme", schrieb Sophie von La Roche wenige Tage nach dem Tod an die Fürstin zu Solms-Laubach. „Meine Tochter Brentano ist den 19. 3

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gestorben, und sieben ihrer Kinderl sind trostlos um mich. Die liebenswerte Märtyrin ist glücklich bei Gott, leidet nicht mehr, weder an Leib noch Seele, kann nicht geplagt werden. Segen auf ihren Staub und Tugend ihren Kindern." 38

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Kindheit und Jugend von Sophie Brentano Die Reise nach Wien

Im März 1794 erfuhr man in Weimar von Plänen Sophie von La Roches, der Kriegsgefahr wegen nach Weimar überzusiedeln. Goethe hatte seiner Mutter aus Sorge schon mehrfach eine Reise nach Weimar vorgeschlagen, die diese jedoch stets ablehnte. „Sie hatte ihr Bleiben an Ort und Stelle entschieden ausgesprochen", vermerkte Goethe in seinen Tag- und Jabresbeften, „als Frau von La Roche sich bei Wieland anmeldete, und ihn dadurch in die größte Verlegenheit setzte. Hier waren wir nun in dem Fall, ihm und uns einen Freundschaftsdienst zu erweisen. Angst und Sorge hatten wir schon genug, dazu aber noch obendrein die Wehklage zu erdulden schien ganz unmöglich. Gewandt in solchen Dingen wußte meine Mutter, selbst so vieles ertragend, auch ihre Freundin zu beschwichtigen und sich dadurch unsern größten Dank zu verdienen."39 Bereits am 1. April 1794 hatte die Frau Rat, Goethes Mutter, an ihren Sohn geschrieben. „Die Bürgerkrone wäre nun verdient! Madame la Roche kommt nicht zu Euch." Und sie schilderte ausführlich ihr Gespräch mit Sophies Tochter Louise, der sie eindringlich erzählt hatte, daß Wieland mit Arbeit „überhäuft" sei, so daß man ihn nicht stören dürfe, und daß es gut wäre, wenn Sophie mit irgendeiner Begründung ihren Plan fallen lassen würde40. Und am 5. Mai versicherte sie noch einmal in einem Brief: „Zu Euerer nochmahligen Beruhigung gebe ich Euch mein Ehrenwort, daß Mama la Roche gantz gewiß nicht kommt. Sie ist sehr kranck geweßen und ist es zum theil noch, das mag die Ursach ihres nichtschreibens geweßen seyn — über den Punct Seyd also völlig ruhig. "41 Im Sommer des Jahres 1795 heiratete Peter Anton Brentano, nun sechzig Jahre alt, zum drittenmal, und zwar die vierundzwanzigjährige Friederike von Rottenhof, die im Familienkreis „Fritze" genannt wurde. Im Juli des folgenden Jahres schenkte Fritze einem Jungen das Leben, der aber schon nach wenigen Tagen verstarb. 3»

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Sophie lebte im Frankfurter Haus zusammen mit ihren jüngeren Schwestern, bisweilen besuchte sie die Großmutter in Offenbach. Ihr Bruder Clemens weilte zu dieser Zeit bei seinem Onkel Carl La Roche in Schönebeck bei Magdeburg, um sich dort auf ein Studium der Bergwissenschaften vorzubereiten. Von dort schrieb er oft an seine Schwester in Frankfurt. Auf einen dieser Briefe42 hat sich eine Antwort von Sophie erhalten, die zeigt, wie sprachlich sicher und beweglich das junge Mädchen schon damals war. „Du Bruder von denen, die nicht viel taugen! Die große Schwester, und die breite Schwester, und die kleine Schwester, deren Du sämmtlich nicht werth bist, haben Deinen Brief empfangen, der Deiner wert ist. — Der liebe Himmel hat uns gemacht, vielleicht nicht in der besten Laune; aber jemand anders, den der Himmel auch gemacht hat, als er nicht ganz couleur de rose war, der jemand soll über uns weder raisoniren noch kritisiren, noch fantasiren. Ein jeder fege vor seiner Thür, sagt ein Sprücheigen, und ich bin schon vor mancher Thür gestolpert weil's nicht sauber gefegt war. — Doch nichts für ungut, eine Ehre ist der andern werth, und wie man in den Wald schreit, so schallt es wieder heraus. — Du hast mehr Glück als recht nach allem, was ich von Deinem Aufenthalt höre. Mache nur, daß die Perlen nicht vor die Schweine geworfen sind, denn bei Dir ist alles vergänglich außer der Vergänglichkeit. Doch Zeit bringt Rosen, wer weiß wie viele noch durch Dich und für dich blühen werden; aber man muß das Eisen schmieden so lang es warm ist, und die Gelegenheit bei ihren drei Haaren fassen, denn die Tage folgen und gleichen sich nicht. — Franz ist ganz entzückt von dem Zirkel worin Du lebst, und obschon eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, so gilt mir doch sein Zeugniß so gut als tausende. Ich beneide Dich recht darum; aber wer das Glück hat führt die Braut heim, und Du bist immer obenan während ich zu kurz komme. Der Vater war unterdessen sehr krank an einem hitzigen Gallenfieber, doch ist er jetzt wieder so wohl, daß er einige Stunden am Tage außer Bett sein kann, nur die Seelenspeise Geduld ist ihm ein wenig fremd, und was Hänsgen nicht lernte wird Hans nicht lernen. Er hat viele Langeweile, da müssen denn meine Unterhaltungstalente ihre Rolle spielen; aber wer gern tanzt, dem ist leicht gepfiffen, der Vater macht aus der Noth eine Tugend und nimmt den Willen für die That. — Der Doctor ist noch zu Wetzlar. Hoffen und Harren macht manchen zum Narren. Halb und halb ist es ihm in Erfüllung gegangen. — 36

Der Georg verdient sein Brod im Schweiße seines Angesichts; aber Undank ist der Welt Lohn, das wird er erfahren. Das Wetter führt das Symbolum : auf Sonnenschein folgt Regen, auf Regen folget Sonnenschein, und die Gundel hat sich dem gemächlichen kömmst du heut nicht so kömmst du morgen ergeben. Was ein Haken werden will krümmt sich bei Zeiten, dies beweist uns Christian, und weil Eigenlob nicht gut riecht so hörst Du nichts von mir. — Was der Clemens von mir spricht, das acht ich nicht, so sagen gewisse Personen, und da sie nicht gleiches mit gleichem vergelten, so wünschen sie dir alles ersinnliche Gute. Auch unterscheiden sie sehr gut Unkraut von dem Waizen und hüten sich sehr das letzte mit ins Feuer zu werfen, wenn sie das erste verbrennen, so daß du gewiß unpartheiisch von ihnen beurtheilt wirst. — On n'est pas cheval pour avoir loge à l'écurie, und man ist drum kein Engel weil man einen in der Nachbarschaft hat, doch möchte es der beinahe der Fall sein, auch muß ich Dir die Entscheidung überlassen, denn eine Krähe hackt der anderen die Augen nicht aus. Aus den Augen aus dem Sinn ist bei uns keine Sitte, drum wird noch sehr oft von Dir gesprochen, aber Hoffahrt kömmt vor dem Fall, drum thue Dir nicht allzu viel drauf zu Gute. — Der eine hat den Beutel der andere hat das Geld, so geht es manchem, auch der bekannte Ritterspieß hat bisher nur den Beutel gehabt; aber ein blindes Huhn findet auch als ein Korn und so manchem kömmt das Glück im Schlafe, jetzt hat obbesagter Ritter auch Geld im Beutel und eine schöne junge Frau obendrein. — Doch nun muß ich schließen, End gut alles gut, und meine letzte Nachricht war doch die närrischste. — Dem guten Onkel und der liebenswürdigen Tante lege mich zu Füßen, adieu! Kurz und gut, ich bin Deine treue Sophie." Und es folgte noch ein Postscriptum: „Das edle Fräulein läßt Gnade für Recht ergehen und grüßt Dich. Der Himmel hat mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, dann über neun und neunzig Gerechte die der Buße nicht bedürfen, dies wird Dein Schicksal in puncto der Artigkeit sein, wenn es Dir je einfällt Dich hierin zu bekehren. Früh gesattelt und spät geritten, dies ist das Schicksal meines Briefs. Die Schwestern wollten Dir auch schreiben; aber versprechen ist ehrlich und halten schwerlich, und sie haben es beim Versprechen gelassen. Nun warte ich auch nicht länger auf sie. — Adieu, was lang währt wird gut; aber das wird an meiner Antwort zu Schanden, doch ein Schelm giebt mehr als er hat, ich bin eine ehrliche Seele." 4 3 37

Anfang März 1797 starb Peter Anton Brentano in Frankfurt, Sophie schrieb an Clemens, der noch in Schönebeck weilte: „Du weißt jetzt, armer Schelm, daß wir Waisen sind. O hättest Du den guten Vater in seinen letzten Tagen gesehen, doppelt schmerzlich würde Dir sein Verlust sein. So gut, so gelassen, so erkenntlich habe ich noch niemand gesehen." Sie schilderte ihm die Umstände beim Tod, daß seine Frau, die ihr zweites Kind erwartete, zu Bette lag, daß sein ältester Sohn Franz abwesend war, daß sie und Georg für großjährig erklärt wurden und daß sie sich freue, daß er die Hilfe des Onkels in Schönebeck zu schätzen wußte. „Wem das Gute so schön ist, der wird es sich auch eigen machen, und wenn du bleibst was du jetzt scheinst wie will ich stolz auf dich seyn, es thut mir so wohl daß du mir gut bist, laß mich immer drauf rechnen, und baue auf jedes Gefühl meines Herzens wenn es dir der Mühe wehrt scheint." 44 Der Nachlaß Brentanos war nicht unbeträchtlich, aber es gab noch Forderungen von Verwandten aus der Brentano-Linie, und erst 1801 konnten in einem gerichtlichen Teilungsurteil die Nachkommen bedacht werden 40 . Seit Jahren suchte Wieland für sich und seine große Familie eine neue Wohnung, die nicht mehr in Weimar, sondern auf dem Lande liegen sollte. Ende März teilte er seinem Schwiegersohn Heinrich Geßner in Zürich mit, daß er am 25. März „der Gemeinde zu Osmannstädt, den wichtigsten Theil des dasigen Rittergutes ... um 22.000 Rthlr. abgehandelt" 46 . Am 1. Mai 1797 zog Wieland mit seiner Familie nach Oßmannstedt, etwa zwölf Kilometer in östlicher Richtung von Weimar entfernt. Nach dem Tod Peter Anton Brentanos hatte sein jetzt zweiunddreißigjähriger Sohn Franz die Leitung der Geschäfte übernommen. Er hatte die Absicht, die siebzehnjährige Antonia von Birkenstock, die er in Wien kennengelernt hatte, zu heiraten. Im Sommer 1797 bat er seine Stiefschwester Sophie und seine noch junge Stiefmutter um eine Reise nach Wien und um Vermittlung bei seinen Wünschen. Am 6. September 1797 fuhren die beiden Frauen mit dem kleinen, wenige Monate alten August von Frankfurt nach Wien ab. Friederike war siebenundzwanzig Jahre alt und Sophie hatte wenige Wochen zuvor ihren 21. Geburtstag begehen können. Sophie war eine junge Frau, die sich selbst ein wenig ironisch so sah: „21 Jahre, gewaltig klein desto breiter, dunkele Haare im entstehen, regard depareille. Komt überall zu kurz, se tire d'affair comme elle peut, und hat sich einige Gönner erworben. Hat hier die réputation einer sehr melodischen Stimme; ... Auch gibt man ihr den Namen Lieblichkeit, très à tort." 47 Ihr Leben in den letzten Jahren war nicht leicht 38

gewesen, sie hatte den Verlust der Mutter nie überwinden können. „ S i e war meine einzige Freundin, meine einzige Vertraute, ich kannte n i e m a n d ausser ihr, ich lebte nur f ü r sie, ich bethete sie an, und d o c h mußte sie uns v e r l a s s e n . " 4 8 E s g a b die eine oder andere Bekanntschaft, v o r drei oder vier J a h r e n hatte sie sich in einen französischen E m i g r a n t e n verliebt, verschiedene Männer hatten u m sie g e w o r b e n — so der Lehrer ihres älteren S t i e f b r u d e r s D o m i n i k u s , ein Freiherr v o n Steigentesch, der aber schon weit über die F ü n f z i g war, und am B e g i n n des J a h r e s hatte der z u m zweitenmal v e r w i t w e t e Frankfurter Bankier und Freund des H a u s e s , der siebenundvierzigjährige J o h a n n J a k o b Willemer ihr einen Heiratsantrag g e m a c h t , den sie aber ablehnte 4 9 . Sie m u ß eine j u n g e Frau v o n besonderem Reiz gewesen sein. D a s fehlende A u g e entstellte ihr Gesicht nicht, die Unregelmäßigkeit der Z ü g e erhöhte eher den anziehenden Charme. D i e wenigen Bilder, die v o n ihr erhalten sind, zeigen sie nur im Profil 5 0 . O f t war sie krank; migräneartige K o p f s c h m e r z e n , N e r v e n e n t z ü n d u n g e n verlangten R u h e u n d Z u r ü c k g e z o g e n h e i t . Wir besitzen leider nur wenige Z e u g n i s s e über ihr L e b e n in diesen J a h r e n . Sie wohnte im Brentanoschen H a u s e , hatte d o r t ihr Z i m m e r , u n d hier fanden sich o f t G ä s t e ein, so daß m a n v o n einem kleinen Salon sprechen k o n n t e o d e r , wie man es zu der Zeit nannte, einem bureau d'esprit. Ihr B r u d e r C l e m e n s hat im ersten Teil seines kurz nach ihrem T o d veröffentlichten R o m a n s Godwi oder das Steinerne Bild der Mutter eine B e s c h r e i b u n g dieses kleinen Salons g e g e b e n und seine Schwester S o p h i e dort als die „ B r ü n e t t e " gezeichnet 3 1 . „ D i e B r ü n e t t e . . ist mir gefährlich. Sie läßt fast jede Unterhaltung eines erhabenen T o d e s sterben, und spielt das Schicksal dabei; d o c h blüht a u f ihren wohltätigen Wink gleich ein ganzer Frühling v o n B l u m e n u m den Rosmarin eines solchen G r a b e s , und jeder solcher H ü g e l wird d u r c h sie ein B e r g , v o n d e m du eine fröhliche Weinlese u n d E r n d t e übersiehst. D i e g a n z e g e g e n w ä r t i g e Gesellschaft fällt dann über die K r ä n z e her, u n d das G e s p r ä c h winkt in einzelnen Blumen v o n Busen, L o c k e n , L i p p e n und B l u m e n k r ü g e n dir entgegen, sie selbst aber nahm einen kleinen R o s m a r i n z w e i g u n d hält ihn a u f m e r k s a m v o r ihr einziges großes A u g e , und zieht eine L i n i e in die E w i g k e i t . " 5 2 E s gibt noch weitere Hinweise auf sie im R o m a n , wie d a ß die Brünette krank a m Nervenfieber ist 5 3 und ein inniges Verhältnis zur verstorbenen Mutter unterhält 5 4 . D e r j u n g e J o s e p h G ö r r e s , der im Brentanoschen H a u s verkehrte, s a g t e v o n ihr: „ S o p h i e : A u f h e b u n g des K a m p f e s zwischen K o p f und H e r z durch gänzliche U n t e r o r d n u n g des letztern unter den erstem."55 39

Auf ihrer Reise nach Wien waren Sophie Brentano und ihre Stiefmutter fast 2wei Wochen unterwegs, ehe sie am 22. September dort eintrafen. Die beiden Frauen lebten in den ersten Wochen zunächst sehr zurückgezogen, Sophie war erkrankt, sie hatte starke Augenschmerzen, und man sah lediglich die Familie Birkenstock. Ende November schrieb Sophie an ihre Freundin Charlotte Serviere in Frankfurt einen langen und ausführlichen Brief, in dem sie ihr von dem Haus-Arnstein erzählt, in das sie eingeführt worden waren. Ein Bekannter der Familie aus Frankfurt, der junge Moritz Bethmann, hatte die Verbindung vermittelt. Das Haus Arnstein am Graben gehörte zu den glänzendsten der Wiener Gesellschaft. 1776 hatte der Wiener Adam Isaak Arnstein die siebzehnjährige Tochter Fanny des Berliner Hofbankiers Daniel Itzig geheiratet. In Wien fand die junge Frau ein vermögendes Haus, und bald traf sich bei ihr, was in der Donaucapitale Rang und Namen hatte: der Adel, die höhere Beamtenschaft, Künstler und Gelehrte. „... es ist eine jüdische Familie, die Mutter eine Itzig aus Berlin hat den ruf eines gescheuten, liebenswürdigen Weibes, und die Tochter von 17 Jahren ist Muster hier. Dieses Haus steht jedem offen von eilf uhr morgens bis Mitternacht; indessen ist der Ton so eingerichtet daß Alltagsmenschen ihn nicht gut vertragen und man nur auserwählte da trifft. Lange wehrten wir uns gegen Bethmanns Vorschlag; aber er nahm keine Ausrede an, annoncierte uns, und höhlte uns den abend ab. Wir wurden vortrefflich aufgenommen und gefielen uns sehr gut", schrieb Sophie56. Von Beginn an freundeten sich Sophie und die Tochter des Hauses, Henriette, an. „17 Jahre, nicht groß, etwas dick, sehr hübsch, weiß, frisch, schöne Augen, niedliche Züge ... ist gebildet und voll Talent, ein bisgen eitel, aber nicht coquette, natürlich und freundschaftlich, gefällt allgemein", so beschrieb Sophie ihre junge Freundin in den Charakteristiken, die sie in diesem Winter von ihren Wiener Freunden und Bekannten zeichnete57. Das Haus Arnstein war eine neue Welt für Sophie. Auch in Frankfurt hatte sie Gesellschaften und Empfänge kennengelernt, viele bekannte Familien waren vermögend genug, um ein „Haus" zu führen, aber mit den Wiener Salons waren sie nicht zu vergleichen. „Sie sind Schülerinnen Musarions: ihr Umgang ist so belehrend und geschmackvoll, als reizend; in ihren Häusern vergähnt man die Abende nicht mit elendem Kartengeblätter. Kleine Musiken, vertrauliches Freundschaftsgeplauder, litterarische Neuheiten, Räsonements über Bücher, Reisen, Kunstwerke, Theater; die Vorfälle des Tages, und interessante Neuigkeiten mit Salz erzählt, beurtheilt, beleuchtet, machen die Unterhaltung aus, und kürzen dem vertrauten Zirkel die längen Winter40

abende. Man lernt dort die meisten einheimischen, und die fremden, gelegentlich durch Wien reisenden Gelehrten kennen." 58 So beschrieb sie Johann Pezzl, und so war das Bureau d'Esprit der Fanny von Arnstein. Keine Frage, daß sich Sophie hier sehr wohl fühlte, fand sie doch in diesem Haus und seiner Gesellschaft einen Rahmen, in dem sie sich bewegen konnte. Hier konnte sie ihre Kenntnisse leicht und ohne Prätention aussprechen, hier wurde sie geschätzt, hofiert und umworben. Sie beeindruckte viele: „So klang noch keine menschliche Stimme in mein Ohr — so sah ich noch keinen Mund lächeln — nie ein Mädchen mit diesem holden Liebreiz und dieser süßen Anmuth geschmückt! Der Geist, das Zartgefühl, der edle, reine Sinn für das Gute und Schöne, die schnelle treffende Beurtheilung, der durch manigfache Lecture gebildete Verstand, die heitere Gemüthsstimmung — alles das ist eigenthümlich nur hier so beysammen; für mich noch nie so vorhanden gewesen." 59 In diesen Wintermonaten 1797/98 war Sophie im Hause Arnstein Mittelpunkt der kleinen und großen Geselligkeiten, als Freundin der Tochter des Hauses war sie „persona grata", und zahlreiche junge und auch ältere Männer umwarben sie. Sophie genoß diese Stellung, man entschloß sich, weiterhin in Wien zu bleiben, bis Franz zu seiner Hochzeit im Sommer nach Wien kommen würde. Im April 1798 erfuhr das gesellschaftliche Leben eine Unterbrechung. Fanny Arnstein fuhr mit ihrer Tochter Henriette nach Berlin, um Verwandte zu besuchen, und sie wollten erst Ende Mai wieder zurückkommen. Im Hause Arnstein hatte Sophie zahlreiche Bekanntschaften gemacht, eine von ihnen gewann größere Bedeutung. Es war Graf von Herberstein, zweiundvierzig Jahre alt und Kammer- und Hofrat bei der k.k. Hofkammer, den Sophie in ihren Aufzeichnungen schilderte: „... etliche 40 Jahr, mittlere Größe, de l'embonpoint, sehr blond, süße blaue Augen, weiße Wimpern, groß frisierte Augenbrauen, sehr angenehmer Mund, la voix creuse, nicht wortreich, ziemlich liebenswürdig, nicht leer, ein bisgen fet, wird recherchiert." 60 Herberstein konnte Sophie in einer Rechtsangelegenheit behilflich sein, die sie im Frankfurter Auftrag zu besorgen hatte. Beide kamen sich näher und spürten eine wechselseitige Neigung. Sophie fühlte sich von Herberstein beeindruckt. „... erlaube mir den Grafen ein wenig zu lieben", schrieb sie Ende Mai an ihre Freundin Charlotte in Frankfurt, „denn wahrlich ich kann nicht anders. Es ist ja meine Schuld nicht, daß mein Feind der Zufall gerade ihm so manches verlieh, was ich bis jetzt vergeblich in allen Männern suchte, die sich mir näherten. Du kennst meinen bizarren Geschmack. 41

Sonderbarkeiten, Eigensinn, Strenge, Güte, Großmuth, und Zärtlichkeit; solch ein Gemisch hatte immer Reiz für mich, und dem Grafen fehlt keiner dieser Züge." 6 1 Beide hatten ein gemeinsames Gebiet, für das sie sich interessierten, es war die Botanik, und Sophie schrieb ihrer Freundin, daß sie sich diesen Studien besonders widmen wolle. Ihre Neigung zueinander war keine verzehrende Leidenschaft. „Ich bin gelassen und ruhig, und mag mein Gefühl nicht einmal Liebe nennen", gestand Sophie in demselben Brief. „Denn war es dies, so würde ich heute toben, und in einiger Zeit das Ganze vergessen haben; aber ich überlege beynah kalt, und handle nicht thörigt. Schelte mich also nicht verliebt; werfe mir kein kindisches, schwaches Wesen vor sondern glaube daß ich den Grafen achte, daß er mir wohl gefält, daß ich ihn allen Männern vorziehe, und daß ich ihn, und seine Liebe und meine Thränen um ihn, lange nicht vergessen werde." 6 2 Sophie war sich nicht im klaren, ob eine Bindung an den wesentlich älteren Mann für sie möglich sei, und Herberstein prüfte sich in einem langen Brief, ob er Sophie seine Hand reichen dürfe. Er wußte, daß er älter war, zählte seine Fehler auf, wies auf seine Lage, ohne Vermögen bei einigen Schulden, und auf seinen mangelnden Sinn für O r d n u n g und Wirtschaftlichkeit hin. Er wußte, daß Sophie Ansprüche stellen durfte, sie war ein Leben im städtischen und großbürgerlichen Stil gewohnt. Doch der entscheidende Punkt war der Standesunterschied. Er selbst hatte keine Vorurteile, aber seine Verwandten, insbesondere seine Mutter würden seinen Schritt nie gutheißen können. Und so schilderte er Sophie seine Liebe und Neigung und malte ihr gleichzeitig die Hindernisse und Schwierigkeiten aus, die sich einer Verbindung entgegenstellen würden 6 3 . Herberstein suchte sich von Freunden beraten zu lassen, und Sophie wandte sieh an Charlotte um Hilfe, die sie aber warnte und von einer Verbindung dringend abriet. Es war ein kompliziertes und unglückliches Verhältnis und nicht dazu angetan, Sophie die kommenden Wochen und Monate zu erleichtern. Anfang Juli traf Franz Brentano in Wien ein, und auch Henriette kehrte mit ihrer Mutter aus Berlin zurück. Ende des Monats heirateten Franz und Antonia von Birkenstock, und am 31. Juli fuhren sie mit Sophie und „Fritze" aus Wien ab. Die Reise war anstrengend, zweimal schlug der Wagen um, am 19. August waren sie endlich in Frankfurt. In den folgenden Wochen und Monaten schrieben Sophie und Henriette sich viele Briefe, und aus ihnen erfahren wir, welches Leben Sophie in dieser Zeit in Frankfurt führte. Sie empfing Besucher, die sie aus Wien kannte, machte gegenüber Henriette vorsichtige Andeutungen über ihr Verhältnis zu Herberstein und die viel42

fachen Schwierigkeiten. Sie erzählte von ihren Beschäftigungen, vor allem von ihrer Lektüre, daß sie italienische und englische Bücher lese, danach treibe sie botanische Studien und Kräuterkunde und vernachlässige auch nicht Geschichte, Poesie, Romane und Philosophie. „Wenn Montaigne mir tausend gute Dinge gesagt hat, glaube ich, daß sie in mich eingegangen sind, daß sie mich besser gemacht haben; ich verspüre mehr Geduld, mehr Kraft. Dennoch habe ich nur den äußeren Anschein davon, und wenn ich meinen Büchern den Rücken gekehrt habe, werde ich ärgerlich, lasse die Flügel sinken, und schließlich bin ich da, wo ich war." 6 4 Sophie und Herberstein hatten sich nicht öffentlich verlobt, doch sie fühlten sich einander versprochen. In ihren Briefen sprachen sie von ihrer Neigung, aber auch von den Schwierigkeiten einer zukünftigen Bindung. Sophies Leben im „Goldenen Kopf" war nicht einfach, ihr Verhältnis zu Tony, der Frau ihres Stiefbruders Franz, der nun dem Handelshaus Brentano vorstand, war in manchem belastet: „Viele Neckerey und üble La"une, wenig Gefälligkeit, gar kein Vertrauen, wo dies alles fehlt oder zu viel ist, da sieht es mißlich um die Annehmlichkeiten des Umgangs aus", schrieb sie an Henriette. „Zum Glücke spiele ich die Schneckenrolle bei der Geschichte; In das Innerste meines Häußgen zurück gezogen, spüre ich nur dann und wann ein bisgen mit meinen Fühlhörnern herum, und ist ein einziger Stein des Anstoßes im Wege, so bringt mich eine schnelle und vorsichtige Bewegung zurück in meine Schaale, und das auf lange." 6 5 In dem ausführlichen Brief berichtete sie der Wiener Freundin von ihrem Leben in Frankfurt, von den Besuchen bei ihrer Großmutter Sophie von La Roche, bei der in Offenbach drei ihrer jüngeren Schwestern lebten. Sie erzählte von ihrer verstorbenen Mutter: „So erkläre ich mir es, warum ich das ganze Jahr an meine gute Mutter denke, mit Wehmuth zwar, mit schmerzlicher Sehnsucht um sie, aber ohne meine Laune darunter zu vergraben, ohne allem was mich umgiebt, durch vergebliche Klagen lästig zu werden." 6 6 Die Wochen vergingen mit Einladungen, kleinen Gesellschaften, mit Reisen und Besuchen und mit der täglichen Arbeit im Hause für sich und die Geschwister. Anfang des Jahres 1799 reiste Sophie nach Wetzlar und blieb dort mehrere Wochen. Im Februar schrieb sie einen Brief an Henriette, in dem sie ihr langes Schweigen entschuldigte: „Als ich mein allzutheures Wien verließ, das Herz voll aufgeregter Gefühle, den Kopf voll schwärmerischer Bilder, da hätte mich meine Einsamkeit hier zu Grunde gerichtet, wenn ich mich meinen Träumereyen überlassen hätte. Ein guter Genius gab mir ein, Beschäftigung zu suchen, und diese nicht willkürlich von mir selbst, sondern bestimmt fest 43

von eingeführter Ordnung, abhängen zu lassen. So habe ich mich selbst um meinen Tag gebracht, und es sollte mich bis itzt nicht reuen, wenn nicht der strenge Mann in Wien, noch alle übrigen Augenblicke wegnähme." 6 7 Ende Februar fuhr sie nach Frankfurt zurück. Ihr Bruder Clemens hatte sich Mitte des vergangenen Jahres in Jena immatrikuliert, um Medizin zu studieren. Hier lernte der nun Zwanzigjährige die acht Jahre ältere Sophie, Gattin des Professors Friedrich Ernst Karl Mereau, kennen und leidenschaftlich lieben. Ende Januar 1799 schrieb er seiner Schwester, mit der er noch immer in einem besonderen Vertrauensverhältnis stand: „Vielleicht, liebe Sophie, werde ich Dir näher sein, wenn ich Ostern nach Hause komme, und diese Hoffnung Deinem Herzen näher zu kommen, macht mir die Reise meiner Gedanken von itzt bis zu Ostern so weit", und er erzählte von seinem Leben in Jena: „Das war etwas von meinem Leben, von Deinem Leben weiß ich nichts, und ob Du mir anvertrauen willst, ob Du bald den Schritt zu den Pflichten bis ans Grab unter glücklichen Auspizien thun wirst, weiß ich nicht. Du denkst anders wie ich und hast unter andern Umständen fühlen gelernt, Du hast eine andere Welt außer Deinem Herzen und eine andere Welt in ihm. Du wirst in der Ehe immer die kleine angebetete Gottheit spielen und hast die Wahl des Priesters vor Dir, der Dir seinen Weihrauch streuen soll. ~ " 6 8

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Sophie von La Roches und Sophie Brentanos Reise nach Oßmannstedt Erste Begegnung ¡zwischen Wieland und Sophie Brentano

In Oßmannstedt hatte Wieland Mitte Februar 1799 das Manuskript seines Romans Agathodämon beendet. Er fühlte sich gesundheitlich nicht sehr wohl, der harte Winter hatte ihm sehr zugesetzt. U n d Sophie v o n L a Roche hatte ihm geschrieben, daß sie ihren Sohn in Schönebeck bei M a g d e b u r g besuchen wolle; so blieb ihm nicht viel anderes übrig, als sie nach Oßmannstedt einzuladen. Goethes Mutter hatte davon erfahren und umgehend ihrem Sohn geschrieben: „Aber O ! W e h e ! ! Madame la Roche geht doch zum Gevatter Wieland — der Vetteran hat Ihr die Einladessten Briefe geschrieben — und ich wette E r langweilt sich wenn Sie 1/2 T a g bey Ihm ist — vermuthlich wird Sie alle große und E d l e Menschen in und u m Weimar mit E m p f i n d s a m k e i t in Contiportion setzen, wobey du gewiß obenan stehst — Faße deine Seele in Gedult — oder gehe im May / : den da k ö m t Sie zu E u c h :/ nach J e n a — doch du wirst es schon einrichten." 6 9 A u s einem Brief, den Sophie v o n L a Roche an Sophie Mereau am 2. April 1799 schrieb, geht gleichfalls hervor, daß schon zu dieser Zeit eine Reise nach Weimar und Oßmannstedt geplant war, die durch die Krankheit der Enkelin verschoben werden mußte 7 0 . N o c h einmal verzögerte sich die Abreise durch die Krankheit Louises, der Tochter der Sophie von L a Roche, die zusammen mit ihrer Mutter in O f f e n bach lebte. Inzwischen war das Gerücht der Reise bis nach Weimar gedrungen, nur wußte man nicht, wann sie genau kommen würde. So fragte Schiller bei Goethe in einem Brief v o m 4. J u n i : „Schreiben Sie uns doch, o b die L a Roche in Oßmannstedt angelangt ist? Auch meiner Frau liegt an dieser N a c h r i c h t . " 7 1 Goethe konnte am nächsten T a g nur berichten: „ F r a u v o n la R o c h e ist 45

noch nicht angekommen, verschiebt auch, soviel man vernimmt, ihre Reise. Vielleicht verzieht sich das Gewitter. . . . " ' 2 Am 10. Juni fuhr Goethe zu seinem Gut Ober-Roßla in der Nähe von Weimar und besuchte auf der Rückreise Wieland in Oßmannstedt. Auch hier dürfte man über den anstehenden Besuch gesprochen haben 73 . Inzwischen waren in Offenbach die Vorbereitungen so weit gediehen, daß an die Abreise gedacht werden konnte. Ende Juni schrieb Sophie an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach, sie habe sich eine Überraschung für ihren alten Freund Wieland ausgedacht: „denn nun ist es endlich entschieden, daß ich ... abreise, vielleicht den zweiten Teil zu der Geschichte der ,Drei Heymannskinder' liefere, weil die Frage ist, daß Sophie von Schwarzkopf und meine Enkelin Sophie mich nach Weimar bringen wollen. Heymannskinder waren auf einem Pferd, drei Sophien in einer Kutsche zum Zauberer Wieland. Soll ich diesen Vorschlag nicht als einen fortdauernden wunderlichen Zug meines Schicksals betrachten, welches mir Hang zu Einsamkeit und Ernst gab und mich immer in romantisches Gebiet führt." 7 4 Sophie wußte, daß sie bei Wieland nicht mehr die Gefühle wie vor einem halben Jahrhundert wachrufen konnte, auch würde das Wiedersehen anders verlaufen als vor drei Jahrzehnten in Thal-Ehrenbreitstein. Und so sollten die beiden anderen Sophien nicht nur eine Reisebegleitung, sondern ein jugendlicher Rahmen für sie beim Eintreffen in Oßmannstedt sein. Sie konnte ihr Vorhaben nicht vollständig ausführen, denn Sophie von Schwarzkopf mußte absagen. „Den I l t e n July begann meine Reise gewiß unter dem Einfluß eines gesegneten und selten erscheinenden Gestirns: denn meine älteste Enkelin Sophie Brentano, Ebenbild ihrer an Geist, Güte und Gestalt so liebenswerthen Mutter, begleitete mich, wie ein, durch den Genius der kindlichen Liebe, zu meiner Stütze und meiner Erheiterung bestimmtes Wesen." 7 5 Auch Wieland wurde von der genauen Abreise unterrichtet, und er bemühte sich um einige Flaschen guter Liköre und Weine, „womit Sophie von La Roche aufgefrischt werden sollte" 76 . Beide Frauen fuhren mit ihrer Kutsche auf schlechten Wegen über Berka, an der Wartburg vorbei nach Eisenach und von dort über Erfurt, Weimar bis nach Oßmannstedt. „Den 15ten July, nach beynahe 30 Jahren gedauerter Trennung, sah ich ihn wieder, den guten würdigen Freund meiner Jugend. — Ich umarmte ihn, seine unschätzbare Gattin und vier seiner 6 Töchter — und er lernte eine meiner 6 Enkelinnen kennen — ich war in seinem Hause! — O wer wollte diese Gefühle und die Bilder der Erinnerung beschreiben, welche 46

da meine Seele überwältigten! Was war seit 1750, da wir uns zum erstenmal sahen, in uns, in unserm Schicksal, und auch bey unsern Freunden vorgegangen." 7 7 Goethe meldete Schiller, daß „Madame la Roche" in Oßmannstedt angekommen war 78 . Am Abend desselben Tages traf er Wieland und dessen Besuch bei der Herzoginwitwe in Tiefurt, die für den Abend in ihr Landhaus eingeladen hatte 79 . Dann kam Goethe, der sein Landgut Oberroßla besucht hatte, nach Oßmannstedt. „Wenige Tage nachher kam Göthe freundlich die Mittagsuppe mit uns zu theilen — mir war äußerst schätzbar, ihn und Wieland, wie zwey verbündete Genies, ohne Prunk oder Erwartung, mit dem traulichen Du der großen Alten sprechen zu hören ...", notierte Sophie von La Roche in ihren Erinnerungen 80 . Schiller hatte auf die Nachricht von der Ankunft Sophies schon von seiner Furcht geschrieben: „Mir ist bei dieser Nähe der betagten Freundin schlecht zumute, da ich für alles, was drückt und einengt, gerade jetzt sehr empfindlich bin." 8 1 Am Donnerstag, dem 25. Juli, war der Höhepunkt der Besuche, Goethe hatte Sophie und ihre Enkelin „zu Tische" geladen. Am Tag zuvor hatte er an Schiller geschrieben: „Frau von la Roche habe ich zweimal, erst in Tiefurt, dann in Oßmannstedt gesehen und sie eben gerade wie vor zwanzig Jahren gefunden. Sie gehört zu den nivellierenden Naturen, sie hebt das Gemeine herauf und zieht das Vorzügliche herunter und richtet das Ganze alsdenn mit ihrer Sauce zu beliebigem Genuß an; übrigens möchte man sagen, daß ihre Unterhaltung interessante Stellen hat." 8 2 Sophie genoß die Einladung: „Der Eintritt in das Eßzimmer schien mir eine Art Zuruf: ,Alte Bau eis! dein scherzender Traum ... steht nun als Wahrheit vor dir — du dachtest in Weimar ein Göttermahl nur von der Thürschwelle eines Tempels zu sehen, und bekommst nun selbst einen Antheil von Ambrosia' — denn die mit Blumen und Früchten aller Art so niedlich verzierte Tafel war gar nicht nach dem gewöhnlichen Geschmack der Gastmahle, und die Gegenwart der Verfasserin der reizenden Agnes von Lilien, die Dichterin der Gesänge von Lesbos, Wieland und Göthe, lauter Lieblinge des Apolls, konnten diese Vermuthung rechtfertigen. Eine aus dem Garten zwischen den schönen Gewächsen ertönende Musik und die Erscheinung eines Amorino dienten zum Beweis, daß ich bey einer Art von Götterfest zugelassen war." 8 3 Charlotte von Stein, die mit zu den Gästen gehörte, berichtete Schillers Frau: „Gestern aß ich mit der Laroche bei Goethe, es war ein empfindsames Diner; wir mußten uns jedes nach 47

unseren Namen auf dem Couvert setzen, und Nachbarn oder vis ä vis, eines oder das andere, waren am schicklichsten zur Unterhaltung ausgesucht." 8 4 Wenige Tage zuvor war Clemens mit Sophie Mereau von Jena her zu einem Besuch nach Oßmannstedt gekommen 83 . Und aus Frankfurt trafen Sophies Schwester Gunda, Susette Gontard und deren Schwägerin am 26. Juli in Weimar ein. Für den folgenden Tag hatte man eine Fahrt nach Jena und einen Besuch bei Schiller geplant. „Heute drohet Ihnen, wie ich höre, ein Besuch der la Rochischen Nachkommenschaft", warnte ihn Goethe. „Ich bin neugierig, wie es damit abläuft." 8 6 Susette berichtete in einem ausführlichen Brief an Hölderlin den Reiseverlauf und das Eintreffen in Weimar. „... wir wollten von dort gleich nach dem Landguth von Wieland fahren um mit der la Roche und ihrer Encelinn zusammenzukommen hörten aber daß sie alle in der Stadt wären, wir schrieben ein Billet, unsere Ankunft zu melden, und gleich darauf kam Sophie Brentano, uns alle zu bitten mit zu kommen in ihre Wohnung, wo alle merkwürdigen Gelehrten von dort, versammelt wären, wir kleideten uns geschwinde an, und gingen mit ihr, die alte la Roche kam uns sehr freundlich entgegen sehr ungezwungen froh und äusserst lebendig machte uns mit der Gesellschaft bekannt, Wieland, Herderl (Göthe fehlte) und noch einige andere weniger bedeutende Männer. Meine Schwägerinn, nahm gleich im Gespräch den W . . . gefangen, ich hatte aufträge von Tischbein an Herder, und so verging die erste halbe Stunde, bey'm Thee dauerte immer das Gespräch von W . . . fort, ich mischte wohlbedächtlich nur einige wohlüberlegte Worte mit ein, bey'm Abschied, reichte mir W . . . sehr herzlich die Hand und sagte, die wenigen Worte welche sie gesagt haben machen mich wünschen sie öfter zu sehen. Das freute mich um Deinetwillen, und auf dem Rückwege dachte ich nur an Dich, den andern Tag fragte Wieland, Sophien, welche von uns beyden sie sich wohl zum Umgang wählen würde nachdem er meine Schwägerin besonders gelobt, sie wählte mich, und W . . . antwortete ihr kurtz, (Dafür verdienst Du Mädgen, daß man Dir die Hand küsse) verzeihe mir die Eitelkeit daß ich Dir dieses wieder erzähle, ich sage es ja nur Dir, und wenn es gefehlt ist, darf ich es Dir nicht verbergen, daß es mich stolz machte. Den andern Morgen fuhren wir nach Jena, mit einem empfehlungs Brief an die Merau, wir gingen gleich zu ihr, und bathen sie, durch ein Billiet an Schiller, ihn um eine Stunde für uns zu 48

bitten, sie benahm uns gleich alle Hoffnung, weil er ganz eingezogen lebte, und selten Freunde zu sich ließe, Die Andern gaben den Plaan ihn zu sehen, willig auf außer Sophie und ich beschlossen alles zu wagen um zu ihn zu kommen." 87Der Wunsch der beiden wurde erfüllt, am Nachmittag wurden sie zu einem Besuch gebeten, „ich hatte nicht das Herz ein Wort zu sprechen, und bat Sophiechen ganz das Wort zu führen. Wir ließen uns anmelden und blieben indessen in der Garten Tühre stehen, erblickten seine edle Gestalt am Ende einer langen Allee, seine Frau begleitete ihn und 2 muntre Knaben sprangen im Grase herum. Wir entschuldigten unsere Zudringlichkeit er führte uns in eine schattige Laube, wir setzten uns neben seine Frau, und er blieb in majestätischer Stellung vor uns stehen, er sprach viel mit der Encelinn, der la Roche, von ihr und Wieland und ich hatte Zeit ihn recht in's Auge zu fassen. Wir mußten wegen den zurückgebliebenen sehr eilen ,.." 88 Der älteste Sohn Schillers brachte beide Damen zum Gasthof, wo die anderen warteten, und man fuhr nach Weimar zurück. Sophie Mereau notierte in ihr Tagebuch: „Ueberraschung von d. B. und noch andern Freunden. Sonderbarer Nachmittag. Angenehmer Eindruck der B." 89 Auch Schiller war von dem Besuch nicht enttäuscht. „Die zwei Damen haben mich neulich wirklich besucht und für sie zu Hause gefunden", schrieb er am 30. Juli an Goethe. „Die kleine hat eine sehr angenehme Bildung, die selbst durch ihren Fehler am Aug nicht ganz verstellt werden konnte. Sie gaben mir den Trost, daß ... die alte Großmutter wohl von der Herreise abschrecken würde. Von dem eleganten Diner bei Ihnen wußten sie viel zu erzählen." 90 Sophie gab ihren Bericht von dem Besuch bei Schiller erst später in einem Brief an Henriette von Arnstein, dem sie einige getrocknete Rosenblätter beilegte. „Was denkst du wohl von diesen vertrockneten, unansehnlichen Blättern?" schrieb sie aus Oßmannstedt am 8. August. „Sie sind aus Schillers Garten, in seiner Lieblingslaube, von seiner liebenswürdigen Frau, für dich gepflückt. Hab' ich das recht gemacht? Niemals, Liebe, hast du wohl lebendiger und wohlthuender um mich geschwebt, als da mir dein Abgott erschien; ich dachte meine Wünsche müßten dich herbey führen, du müßtest mit mir diesen merkwürdigen Menschen von Angesicht zu Angesicht sehen; seine ganz eigene Sprache hören, und in jedem Augenblick eines seiner idealischen Geschöpfe 4

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seine Flügel über ihn ausbreiten sehen; denn so ward mir in seiner Gegenwart. Ich kann dir sein Äusseres nicht gut beschreiben; genug er führt ein Heer Geister in seinem Gefolge, die ihn mit einer seltsamen Magie umgeben. So ungefähr wirkte seine lange, hagere Gestalt, sein blasses, überirdisches Gesicht, und sein ernstes, stilles Wesen auf mich." In diesem Brief erzählte sie der Freundin von ihren weiteren Begegnungen in Weimar: „Goethes Umgang allein, thut einem nicht wohl; er ist kalt und trocken für Menschen die ihm gleichgültig sind, und um ihm mehr als dies zu seyn, dazu gehöret viel." Sie sprach von Herder, dem sie begegnet war, von Jean Paul Richter und Frau von Wolzogen. Auch Wieland erwähnte sie in ihrem Brief: „Vor allen hat Wieland mein Herz gewonnen. Der Gelehrte, der Dichter, der berühmteste Mann in Teutschland, alles ist vergessen, seitdem ich den Menschen kenne; doch darüber läßt sich nicht viel reden; ich wünsche dir aus inniger Liebe, du mögtest ihn nur einmal wie ich, im Innern seines häußlichen Lebens sehen, gewiß würdest du auch wie ich, seine Hand mit zärtlicher Verehrung an deine Lippen legen, und auf das Haupt dieses liebenswürdigen Greißes, Frieden und Seegen erbitten." 9 1 Vier Wochen blieben Großmutter und Enkelin bei Wieland und seiner Familie in Oßmannstedt. Der eine und andere Besuch in Weimar und in der Umgebung unterbrach den Aufenthalt auf dem Gut. Für Wieland wurde es von Woche zu Woche schwieriger, die alte Freundin zu unterhalten, und so suchte sie sich Beschäftigung in seiner großen Bibliothek 9 2 , spazierte auf den Wegen durch die Gärten des Gutes und freute sich über die Gäste, die hin und wieder eintrafen. Ein Besucher, der in diesen Wochen oft nach Oßmannstedt kam, war Samuel Christoph Lütkemüller. Der fast Dreißigjährige lebte seit einigen Jahren als Wielands Sekretär in Weimar. Er half ihm bei seinen literarischen Geschäften, vor allem bei der Vorbereitung der Werkausgabe. Ende Juli lud ihn Wieland zum Besuch nach Oßmannstedt ein, damit er Sophie von La Roche kennen lerne 93 . In seinen Erinnerungen an Wieland berichtet Lütkemüller ausführlich über diese Tage, und obwohl er in seinen Urteilen vorsichtig und zurückhaltend war, so zeigen sie doch, wie schwierig die Tage und Wochen für Wieland waren: „Wieland war in den Unterhaltungen, wovon ich Zeuge war, eben so heiter als geistreich, und bewies eben so viel Feinheit als Lebhaftigkeit, eben so viel Zartsinn als Scharfsinn, so daß ich nicht umhin konnte, in dem Wesen der Frau von La Roche einen Mißklang 50

damit zu empfinden. Diese sprach nämlich meistentheils in einem etwas feierlichen, oder zu gewichtigen Ton, und zuweilen mit einer Empfindsamkeit, die das richtige Gefühl zu verfehlen oder zu überbieten schien. — Niemand konnte dies besser bemerken als Wieland; aber wie reizbar er sonst auch bei Verletzungen der Natur und Wahrheit zu seyn pflegte, bei seiner alten Freundin hielt er sich in immer zarter Fassung. Das Aeußerste, was er dann und wann sich erlaubte, war, daß er ein wenig in sich gekehrt schwieg und das Gespräch auf andere Gegenstände lenkte." 94 Das Verhalten der alten Freundin machte die Tage nicht leichter, und als Wieland erfuhr, daß man sagte, Sophie von La Roche „spricht blos die Canzleisprache, aber nie die Cabinetsprache des Herzens", fragte er in einem Brief an Carl August Böttiger, der ihn schon seit Jahren bei der Herausgabe des Merkur unterstützte: „Können ... Sie mir nicht sub rosa rosissima entdecken, wer der wahre Urheber des sinnreichen Urtheils über die unsrer alten Freundin zur andern Natur gewordnen Herfens Sprache ist? ... Die Macht der Gewohnheit geht bey dieser sonst in einem seltnen Grade liebenswürdigen, guten, und (in einem sehr verdienstlichen Sinne des Wbrts) einzigen Frau so weit, daß sie selbst in Augenblicken der ungeheuchelsten Rührung, bey überwallendem Herzen und überfließenden Augen, jenes leidigen Kanzleystils der Empfindsamkeit sich nicht enthalten kann. Dies ist mediocribus Ulis ex vitiis unum, welches ihr jeder Freund ... leicht zu gute hält." 95 Ende Juli kam Friedrich Karl von Savigny auf einer Reise nach Oßmannstedt, um Wieland aufzusuchen. Er traf nur Sophie von La Roche an, und sie vermittelte einen Kennenlernen Savignys mit ihrem Enkelsohn Clemens Brentano 96 . Anfang August lud Wieland die Herzoginwitwe Anna Amalia nach Oßmannstedt ein. „Neu verherrlicht wurde ein Tag in Osmanstädt, als die Herzogin Amalia mit aller ihrer Leutseligkeit den ganzen Garten an Wielands Seite durchwandelte", erinnerte sich Sophie von La Roche. „Herder und seine Frau vermehrten in meinem Herzen den Werth der großen Lindenallee auf Wielands Guth ... Den nämlichen Tag lernte ich den von ganz Deutschland für ein außerordentliches Wesen anerkan nten Jean Paul Richter, als einen guten, einfachen, aber auch sehr lebhaften, von Wieland sehr geliebten Mann kennen." 97 Die Tage vergingen mit kleinen Spaziergängen, Unterhaltungen und gelegentlichen Vorlesungen. Wieland konnte 4'

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sich nicht immer seinen Gästen widmen, dann mußte die Familie an seine Stelle treten. Goethes Mutter hatte richtig vermutet, als sie im Frühjahr ihrem Sohn geschrieben hatte, daß Wieland sich bereits langweilen würde, wenn Sophie nur einen halben Tag bei ihm wäre. Mit mühsam bewahrter Höflichkeit überstand er die Wochen.

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Sophie Brentano in Oßmannstedt

Ganz anders verlief Wielands Begegnung mit der zweiundzwanzigjährigen Sophie Brentano. Hatte er zunächst die zarte Andeutung erkannt, die in dem Wunsch der alten Freundin lag, ihm in der jungen Sophie noch einmal die Erinnerung an die Zeit vor fünfzig Jahren zurückzurufen, so wurde das bemühte Bild schnell überdeckt vom Erinnern an Sophies früh verstorbene Mutter Maximiliane, der sie nicht nur im Aussehen sehr ähnlich war. Die älteste Tochter der La Roche, Maximiliane, geboren im Mai 1756, hatte Wieland in Biberach und Warthausen als kleines sechsjähriges Mädchen kennengelernt. Von Beginn an fühlte er eine starke Zuneigung, und er hatte sich in vielem um ihre Erziehung gekümmert. Als sie gerade acht Jahre alt war, hatte er bei der Mutter in einem galanten Schreiben, das einem rokokohaften Vexierspiel glich, um ihre Hand geworben 9 8 . Doch unaufrichtig war sein Brief nicht gewesen. Jahre danach sah er Maximiliane bei seinem Besuch in Thal-Ehrenbreitstein wieder: ein blühendes und liebreizendes junges Mädchen von fünfzehn Jahren, das drei Jahre später nach Frankfurt an den wesentlich älteren Peter Anton Brentano verheiratet wurde. Diese übereilte Eheschließung hat Wieland seiner Freundin nie verziehen. Als er 1777 nach Frankfurt und Darmstadt reiste, wich er einer Begegnung mit ihr aus, traf aber Maximiliane, und noch im Jahr ihres frühen Todes hatte sie Wieland in Weimar besucht". Und nun stand ihre älteste Tochter vor ihm, der Kreis schien sich zu schließen: das Bild der Mutter und doch ganz sie selbst, eine junge Frau mit mädchenhaftem Charme, das Profil vom fehlenden A u g e gezeichnet, aber nicht entstellt; lieblich und frauenhaft zugleich: es war wie ein Zauber. Beide spazierten oft in den Gärten des Gutes, in der Lindenallee und zu den bis an die Ilm herunterreichenden Wiesen. Wieland zeigte ihr die Stallungen und Gebäude und sprach von seinen Plänen über Pflanzungen und 53

seinen Geschäften als Landmann. In diesen Gesprächen war ihm Sophie eine gute Partnerin, denn schon seit langem beschäftigte sie sich mit botanischen Studien und hatte sich Bücher über Kräuter, Blumen und Pflanzen angeschafft. Und immer führte Wieland das Gespräch zu dem, was ihn in diesen Wochen und Monaten zumeist beschäftigte, zu seinem neuen Roman um den griechischen Philosophen Aristipp, an dem er seit dem Frühjahr 1798 arbeitete. Er habe ihn nie lebhafter gesehen, berichtete Lütkemüller, als zu dieser Zeit, da er an dem Briefroman schrieb. „ , E s war endlich einmal Zeit', sprach er, ,daß ich ein solches Werk begann. Eigentlich habe ich die Personen und Sachen, die darin vorkommen, schon von meiner Jugend an in der Seele getragen, und zum Theil auch mehr oder minder historisch, zum Besten gegeben. Aber was ich früherhin auch that, und späterhin bald so und bald anders zu thun gedachte — ich wollte einmal auch die Geschichte der Sokratischen Philosophie schreiben — nun erst ist es für mich die rechte Zeit, das classische Griechenthum in einer seiner anziehendsten und inhaltreichsten Perioden zu überschauen und zu behandeln.' Und er berichtete, wie er sich sein Werk dachte und auch davon, daß die Hetäre Lais eine besondere Rolle darin spielen werde, und daß sich die Sittenrichter darüber aufregen werden." Im Sommer 1799 war das erste Buch des Romans im Manuskript fertiggestellt und der weitere Verlauf geplant und teilweise skizziert. Bei Sophie Brentano spürte Wieland ihr feines Verständnis und ihre verwandte künstlerische Gestimmtheit, sie war eine ideale Zuhörerin für das, was er von Aristipp, Lais und ihren Zeitgenossen erzählen konnte. Er las ihr die einzelnen, bereits fertigen Briefe vor und bat um ihr Urteil und ihre frauliche Kritik, und beide fühlten sich in diesen Stunden der Welt weit entrückt, die Wiesen an der Ilm wandelten sich in einen griechischen Hain. Für Augenblicke schienen sie Aristipp und Lais zu sein. Sophie war mit großen Erwartungen nach Weimar gekommen und hatte die Einladung der Großmutter zur Reise mit Freude angenommen. In Frankfurt hatte sie nichts gehalten, das häusliche Leben war beengt und nicht ohne Schwierigkeiten gewesen und Wien blieb fern. So versprachen Weimar und danach Schönebeck Abwechslung. Und wenn für die Großmutter neben dem Wiedersehen mit Wieland die zahlreichen „Begegnungen" mit den Großen in Weimar schon für das geplante Buch über die Reise vorgesehen waren, so freute sich Sophie der Möglichkeiten, die Dichter und Schriftsteller von Angesicht zu Angesicht zu erleben, deren Bücher sie gelesen hatte, denri bei der Großmutter in Offenbach war an Literatur kein Mangel gewesen. 54

Aus ihren Briefen an Henriette von Arnstein wissen wir von ihrer weitgefächerten Lektüre. So machte sie die Freundin auf den soeben erschienenen Roman von Friedrich Schlegel Lucitide aufmerksam, zitierte aus den Essais von Montaigne und sprach von italienischen und englischen Büchern. Mit Sicherheit waren ihr viele Werke Wielands vertraut, Agathon, auch Musarion und Oberon, sie las den Merkur und wußte von der Großmutter viel über seine Arbeiten. Auch wenn sie ihn bisher noch nie gesehen hatte, Wieland war für Sophie Brentano kein Unbekannter. In Oßmannstedt erlebte sie ihn inmitten seiner Familie: seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern. Sie erlebte den Gutsherrn, der sich um sein Land und sein Vieh sorgte, und gleichzeitig saß sie neben dem berühmten Dichter und plauderte mit ihm — beides war nicht voneinander zu trennen, und das eine schloß das andere nicht aus. Er erschien ihr so, wie Aristipp einmal den Sokrates in einem Brief der Lais beschrieb: „der seltenste, oder soll ich sagen seltsamste, Hermaphrodit von Vernunft und Schwärmerei, den die menschliche Natur vielleicht jemals hervorgebracht hat!" 100 Sophie empfand, wie sie der Wiener Freundin gestand, eine „zärtliche Verehrung" für ihren Vater Wieland, der ihr eine neue Einsicht gab, was ein Mensch und ein Mann sein konnte. Am 10. August kam dann Sophies Sohn Carl La Roche, Bergrat in preußischen Diensten, mit seiner sechsjährigen Tochter Bertha und holte Mutter und Nichte in einer vierspännigen Kutsche ab. Auf teilweise sehr schlechten Wegen ging die Reise über Eisleben nach Schönebeck, südlich von Magdeburg, wo Carl seit Jahren mit seiner Familie lebte. Es wurde noch kein endgültiger Abschied: „Wieland und andere gütige Personen in Weimar wünschten, daß wir erst bey dem Rückwege nach Offenbach Abschied nehmen möchten, und dieses war uns ein sehr willkommner Aufschub schmerzhafter Gefühle des Loßreißens angenehmer Bande." 101 In Schönebeck angelangt, meldete Sophie von La Roche ihr Eintreffen, und am 22. August antwortete Wieland": „Theuerste Freundin und Schwester! Die Ungewißheit und Langsamkeit der Schneckenpost zwischen Weimar und dem Osmantio ist Schuld, daß wir das Evangelium von ihrer glücklichen Ankunft zu Schönebeck erst am 21sten d. vernommen haben, wiewohl Ihr Briefchen vermuthlich schon am 19ten zu Weimar angelangt war." 102 Und er freue sich schon auf den Tag, da sie mit ihrer Enkelin wieder zurückkommen werde. In Schönebeck konnte Sophie Brentano ihren 23. Geburtstag feiern. Einige Tage danach, am 20. August, hatte sie ihrem Bruder Clemens nach Jena geschrieben, daß sie mit der Großmutter von Schönebeck zunächst 55

nach Oßmannstedt und Weimar zurückkommen wollte, um dann zusammen mit ihm nach Frankfurt und Offenbach zu reisen: „Was mir in Jena lieb ist, das grüße recht freundlich, sage, daß meine Teilnahme, meine wahre Zuneigung und Liebe kein flüchtiger Eindruck des Augenblicks war, sondern ein dauerndes Gefühl meines Herzens bleiben wird." 103 Da Clemens noch nichts von dem genauen Termin der Weiterreise nach Schönebeck wußte, war er nach Oßmannstedt geritten, um die Schwester zu treffen. „Dich nicht mehr in Osm(annstädt) zu finden, würde mich nicht so sehr gekränkt haben, wenn ich je hingekommen wäre, Dich zu besuchen und nicht immer Dich zu suchen", schrieb er ihr am 28. August aus Jena. „Ich ritt schneller als ich mein Lebtage geritten bin, ich flog als könnte ich eine Narbe für meine offnen Wunden, die ein Kind der Zeit sein wird, ein spätes — im Räume ereilen. Vom Regen triefend trat ich ins Haus und — sie sind alle fort! Ich weinte heftig und fand keinen Trost als die mitleidigen Augen der Liebeskind. So ritt ich wieder zurück." 104 Auch Tony, die Frau ihres Stiefbruders Franz, hatte an Sophie geschrieben und sich beklagt, daß sie von Sophie keine Nachrichten habe. Sie wußte von Einzelheiten des Aufenthalts aus den Erzählungen von Gunda nach deren Rückkehr aus Weimar, auch von der Weiterreise nach Schönebeck, und sie fragte an: „Gehst du mit nach Schönebeck? Doch was frage ich, du antwortest ja doch nicht ,.." 105 In diesen Augustwochen mußte sich Wieland mit der Zukunft seines jetzt zweiundzwanzigjährigen Sohnes Ludwig beschäftigen, der verschiedene Studien in Kiel, Jena und Erlangen begonnen, aber zu keinem Abschluß gebracht hatte. „Ein Hauptgegenstand unsrer nächsten persönlichen Zusammenkunft wird mein Sohn Louis seyn", schrieb Wieland am 18. August an Böttiger, „der von dem letzten Gaul oder Esel, auf den er sich geworfen hatte, abermahls abgesprungen oder abgeworfen worden ist, und sich nun (zur bösen Stunde wie ich besorge) ziemlich fest in den Kopf gesetzt hat, ein Buchhändler zu werden." 106 In gleicher Weise schrieb er an die ihm bekannten Verleger Göschen und Vieweg und erbat Auskünfte 107 . Und noch eine andere Affäre belastete und bedrängte Wieland in diesen Augustwochen neben seiner Arbeit am Aristipp-. Sein Verhältnis zu den Brüdern August und Friedrich Schlegel hatte sich sehr zum Schlechteren gewendet, und Mitte August erschienen im vierten und letzten Heft der Zeitschrift Athenäum zwei heftige und schon sehr bösartige Angriffe gegen Wieland. Die Supplementbände seiner großen Werkausgabe, die zusätzlich erscheinen sollten, wurden satirisch angezeigt, und in einer „Citatio edictalis" wurde er des Plagiats an zahlreichen Schriftstellern, so des 56

Horaz, Cervantes, Voltaire und anderer beschuldigt 108 . Sein Verleger Göschen machte ihn auf das Heft aufmerksam und erbat eine Reaktion. Wieland wandte sich an Böttiger: „Ich ersuche sie also, 1. B. mir, ohne alle Schonung meiner sensibilité physique, candide zu referieren, wie ich zu der Ehre komme, daß so feine Herren wie die besagten Gebrüder sind, gerade gegen mich grob werden"? 109 Böttiger sandte ihm das Athenäumheft, aber Wieland schaute nicht hinein, er wollte sich seine frohe Laune an diesem Tag nicht verderben lassen: „Liebster Böttiger, Ein paar Briefchen, die ich soeben an die beyden Sophien zu Schönebeck geschrieben habe, haben mein Gemüth in eine so glückliche Stimmung gesetzt, daß es unverzeihliche Sünde wäre, wenn ich sie durch Rabengekreisch u. Unkengeheul unterbrechen lassen wollte." 110 Den einen dieser Briefe, den an Sophie von La Roche, hatte Wieland am 22. August an die Freundin geschrieben, um sich für den Bericht ihrer Ankunft in Schönebeck zu bedanken. Auch Sophie Brentano hatte sich aus Schönebeck gemeldet — leider ist ihr Brief bisher nicht aufgefunden worden —, und auch ihr schrieb Wieland am gleichen Tag, am 22. August. Es könnte der folgende sein, der uns ohne Datum überliefert ist.

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Briefwechsel zwischen Christoph Martin Wieland und Sophie Brentano Wieland an Sophie Brentanoux An Sophie Brentano. Beynahe, meine liebe liebe Seelentochter Sophie, sollte ich glauben, daß Sie mir, wie Sie sagen, den besten Theil Ihres reinen Ichs in Oßmannstätt zurückgelassen hätten. Denn wirklich und ohne alle poetische Übertreibung däucht mich zuweilen, ich sehe Ihr liebliches Engelsköpfchen, mit einem Paar der schönsten Taubenflügeln, über mir schweben, und in den ersten zwey oder drey Tagen nach Ihrer Entfernung von uns, ging es gar so weit, daß ich Sie leibhaftig und mit allem Zubehör bey Tisch an meiner linken Seite sitzen sehen sah (sie!), und meiner ganzen Weisheit aufbieten mußte, um in meinen wackern Tischgenossen keinen Argwohn zu erwecken, unsre allgemein geliebte Sophie möchte wohl gar mit dem Bißchen Vernunft ihres guten alten Papas davon gegangen seyn. Dazu soll es nun aber, und dazu wird es auch nicht kommen so lange mir das besagte Cherubins-Köpfchen bleibt, womit ich, weil es nun doch vor der Hand nicht anders seyn kann, vollkommen zufrieden bin; zumahl da sich mir in dem holdseligsten aller Augen nicht nur der ganze Geist, sondern auch das ganze, mit jenem im reinsten Unisono des schönsten Engelsblicks zusammenfließende Herz des lieben Mädchens offenbart, das in seiner anspruchslosen Bescheidenheit so gar nichts davon zu ahnen scheint, wie stolz es mich dadurch macht, daß es sich mit so wahrer Herzlichkeit meine Tochter zu nenen liebt. Sie sehen 1. Sophie, die Götter sind mir hold und senden mir (was der weise Epiktet für eine ihrer größten Gunstbezeugungen hielt) liebliche herzerhöhende Erscheinungen zu. Aber, da auch ich noch mit dem Fuß auf der Erde klebe, so werden Sie es hoffentlich verzeihlich finden, wenn ich mich jener geistgen Entschädigung ungeachtet, in aller Stille nach dem Augenblick sehne, da meine geliebte Tochter mir wieder in 61

leibhafter irdischer Gestalt erscheinen wird, da ich Sie wieder an meiner Seite sitzen sehen, ihre Hand in der meinigen halten, die Musik ihrer lieblichen Stimme wieder hören und mit Einem Worte, die reine Wonne, die Ihre Gegenwart über alles um sie her verbreitet, mit allen äussern und innern Sinnen meines reinen Ichs wieder in mich ziehen werde. Wieland. Mit dem Hinweis auf das „liebliche Engelsköpfchen, mit einem Paar der schönsten Taubenflügeln" am Beginn seines Briefes bezog sich Wieland auf ein Briefgespräch in seinem Aristipp zwischen Lais und Aristipp, das er endgültig erst in den zweiten Band aufnahm. Dort erzählt Aristipp der Lais von den Gedanken eines Weiterlebens der Seele nach dem Tode und den Möglichkeiten, wie diese Seele weiterleben kann. Und Lais antwortet in ihrem Brief: „Ich bin eine zu große Liebhaberin vom Leben, mein lieber Aristipp, als daß ich mich nicht gern überreden lassen sollte, daß ich immer leben werde." 112 Sie könne sich aus diesem Grunde auch ein Weiterleben der Seele mit einem geringen Teil des Körpers vorstellen: „Kurz, ich sehe nicht, was vonunsrer jetzigen Organisation übrig bleiben könnte, als der Kopf, an welchen etwa noch ein paar Flügel gesetzt werden könnten, die ihm zugleich zur Bewegung und zur "Einhüllung dienen würden. Wirklich gefällt mir diese Idee immer besser je mehr ich ihr nachdenke, und mir ist ich würde mich an eine so leichte geistige Existenz in Gesellschaft guter und schöner Köpfe sehr bald gewöhnen können." 113 In seinem Antwortbrief zeigt sich Aristipp von der Idee der „Flügelköpfe" sehr eingenommen, und er beschließt seinen Brief mit einer Bitte: „Wenn ich dir nur ein wenig lieb bin, beste Laiska, so erinnre dich, daß du mir schon mehr als einmahl dein Bild versprochen hast. Ich bitte bloß um deinen Kopf — wohl zu merken, kein BrustbildI Ja, ich würde schon mit einem deiner Augen zufrieden seyn, wenn ein Mahler in der Welt wäre, der den Blick hinein oder vielmehr heraus mahlen könnte ... 1,114 Auf ihren Spaziergängen in der Lindenallee in Oßmannstedt erzählte Wieland Sophie immer wieder ausführlich von seinem neuen Roman, da er in ihr eine Zuhörerin fand, die seine Gedanken und Überlegungen nachempfinden und verstehen konnte. Sie kannte den Inhalt des ersten Bandes, der schon fast fertig im Manuskript vorlag, und auch seine Weiterführung. Sophie von La Roche hat später gesagt, Wieland habe seine Lais nach ihrer Enkelin Sophie gezeichnet. Das ist unrichtig, denn die Gestalt der Lais und 62

zahlreiche ihrer Schicksale waren schon weitgehend konzipiert, bevor Wieland Sophie Brentano begegnete. Es schließt jedoch nicht aus, daß er in dem Gewebe seines Romanes später den einen oder anderen Faden so geknüpft hat, als hätte Sophie dafür das Muster gegeben. So zum Beispiel das Zitat im Brief des Aristipp an Lais, daß er schon mit einem Auge zufrieden wäre. Ende September verließen Großmutter und Enkelin Schönebeck und reisten über Leipzig nach Oßmannstedt zurück. Von Leipzig an begleitete sie der junge Ernst Moritz Arndt, und am 26. September trafen sie wieder bei Wieland und seiner Familie ein. Ihre Rückkunft war in Weimar nicht allgemein bekannt, man glaubte, sie würden von Schönebeck direkt nach Frankfurt zurückkehren. So hatte Goethe bereits Ende August seinem Schwager Johann Georg Schlosser nach Frankfurt geschrieben: „Ich wünsche daß die gute Laroche gesund und ohne physischen Unfall nach Hause kommen möge! alsdann ist es für ihr Alter wirklich eine schöne Expedition die sie zurückgelegt hat. Ihr Verhältnis zu Wieland ist einzig, und sich nach so viel Jahren, bei noch ziemlich bestehenden Geistes- und Leibeskräften wieder zu sehen, ist ein sonderbarer und angenehmer Fall. So wie man sagen kann daß es auch zwei einzige Naturen sind. Ich glaube nicht daß es, unter bedeutenden Menschen, ein schuldloseres Paar geben kann." 115 Das klingt versöhnlicher und verständnisvoller als die Bemerkung in den Tag- tmd. Jabresbeften für das Jahr 1798 (sie!): „Eine wunderbare Erscheinung war in diesem Sommer Frau von La Roche, mit der Wieland eigentlich niemals übereingestimmt hatte, jetzt aber mit ihr im vollkommenen Widerspruch sich befand. Freilich war eine gutmütige Sentimentalität, die allenfalls vor dreißig Jahren, zur Zeit wechselseitiger Schonung, noch ertragen werden konnte, nunmehr ganz außer der Jahreszeit, und einem Manne wie Wieland unerträglich. Ihre Enkelin, Sophie Brentano, hatte sie begleitet und spielte eine entgegengesetzte, nicht minder wunderliche Rolle." 116 Clemens, der die Begleitung auf der Rückreise nach Frankfurt übernehmen sollte, meldete sich und zeigte sich bereit mitzufahren. Anfang Oktober verließen Sophie von La Roche und Sophie Brentano Oßmannstedt und reisten nach Weimar, wo sie sich noch einige Tage aufhielten. Wieland hatte über den Besuch seiner in Zürich mit Heinrich Geßner verheirateten Tochter Charlotte geschrieben: „Diesen Sommer hatte ich einen Besuch von meiner alten Freundin La Koche und ihrer Enkelin Brentano, einem der liebenswürdigsten, und sogar, ungeachtet sie schon als Kind um ihr linkes Auge gekommen, der schönsten Mädchen, die ich je gesehen habe. Sie blieben 63

vier Wochen lang bey uns, und reiseten dann zu Herrn Bergrath von La Rpche ins Magdeburgische, von wannen sie in wenigen Tagen wieder kommen, und nach einem kurzen Aufenthalt bey uns, ihre Rückreise nach Offenburg antreten werden." 117 Am 11. Oktober traf Clemens in Weimar ein, einen Tag zuvor hatte Sophie Brentano noch von Weimar aus an Wieland geschrieben. Sophie Brentano an Wielandn% Weimar, den 10ten 8 bre 1799 Lieber Vater! Zehnmal schon hab' ich die Feder ergriffen, weil mein Herz so voll ist, und weil mir deucht, bey Ihnen allein könnte ich es ergießen; aber dann fehlen mir Worte, und ich fühle am Ende, daß ich nur Ihre Hand fassen, und Sie um Ihren Segen bitten mögte, dann wäre mir wohl. Bin ich nicht wie Tantalus? So nahe bey dem was mir fehlt, ohne es zu erreichen. Wollen Sie gütig mit mir seyn, mein Vater, recht sehr gütig, so erfüllen Sie eine Bitte, deren Kühnheit ich gerne mildern mögte. Sie allein wissen, daß mich in Frankfurt viele bittere Stunden erwarten; wollen Sie mir Muth und Trost geben, wollen Sie mich für alles schadlos halten, so lassen Sie mich dort eine einzige Zeile von Ihrer Hand finden; nur irgend eines der freundlichen Worte, womit Sie mich in O ß : begrüßten, oder was Sie sonst wollen. Wenn ich mich hierauf freuen darf, so will ich vergessen, wie die ganze übrige Welt mich behandelt, und den thörigten Menschen im Stillen Trotz biethen, mich unglücklich zu machen. — Ich weiß wohl, und Sie fühlen es auch, daß ich noch tausend Dinge zu sagen hätte, von Dank und Verehrung und Liebe; aber wenn noch irgend Jemand in O ß : einer Betheurung hierüber bedarf, so soll man mich lieber vergessen. Ich küsse und herze noch einmal Groß und Klein, und scheide gerührt von Allen. Leben Sie wohl, mein liebenswürdiger Vater. Meine kindlichen Gefühle für Sie, sind mir über den Kopf gewachsen, ich bin darinn versunken und verloren. Der Fall ist mir neu; aber die Wirkung konnte wohl ohne die Ursache nicht hervor gebracht werden, und ich fühle mich glückselig dabey. — Sophie. 64

vier Wochen lang bey uns, und reiseten dann zu Herrn Bergrath von La Rpche ins Magdeburgische, von wannen sie in wenigen Tagen wieder kommen, und nach einem kurzen Aufenthalt bey uns, ihre Rückreise nach Offenburg antreten werden." 117 Am 11. Oktober traf Clemens in Weimar ein, einen Tag zuvor hatte Sophie Brentano noch von Weimar aus an Wieland geschrieben. Sophie Brentano an Wielandn% Weimar, den 10ten 8 bre 1799 Lieber Vater! Zehnmal schon hab' ich die Feder ergriffen, weil mein Herz so voll ist, und weil mir deucht, bey Ihnen allein könnte ich es ergießen; aber dann fehlen mir Worte, und ich fühle am Ende, daß ich nur Ihre Hand fassen, und Sie um Ihren Segen bitten mögte, dann wäre mir wohl. Bin ich nicht wie Tantalus? So nahe bey dem was mir fehlt, ohne es zu erreichen. Wollen Sie gütig mit mir seyn, mein Vater, recht sehr gütig, so erfüllen Sie eine Bitte, deren Kühnheit ich gerne mildern mögte. Sie allein wissen, daß mich in Frankfurt viele bittere Stunden erwarten; wollen Sie mir Muth und Trost geben, wollen Sie mich für alles schadlos halten, so lassen Sie mich dort eine einzige Zeile von Ihrer Hand finden; nur irgend eines der freundlichen Worte, womit Sie mich in O ß : begrüßten, oder was Sie sonst wollen. Wenn ich mich hierauf freuen darf, so will ich vergessen, wie die ganze übrige Welt mich behandelt, und den thörigten Menschen im Stillen Trotz biethen, mich unglücklich zu machen. — Ich weiß wohl, und Sie fühlen es auch, daß ich noch tausend Dinge zu sagen hätte, von Dank und Verehrung und Liebe; aber wenn noch irgend Jemand in O ß : einer Betheurung hierüber bedarf, so soll man mich lieber vergessen. Ich küsse und herze noch einmal Groß und Klein, und scheide gerührt von Allen. Leben Sie wohl, mein liebenswürdiger Vater. Meine kindlichen Gefühle für Sie, sind mir über den Kopf gewachsen, ich bin darinn versunken und verloren. Der Fall ist mir neu; aber die Wirkung konnte wohl ohne die Ursache nicht hervor gebracht werden, und ich fühle mich glückselig dabey. — Sophie. 64

Dieser kurze Brief offenbart, besonders in seinem letzten Absatz, die Verwirrung der Gefühle, die Sophie wohl schon seit den Tagen der Rückkehr aus Schönebeck spürte. Beiden, Wieland und Sophie, hatte die kurze Trennung gezeigt, daß ihr Verhältnis zueinander mehr war als nur eine freundschaftliche und liebenswürdige Begegnung. Die Briefe der kommenden Wochen und Monate verraten deutlich, bisweilen nur zwischen den Zeilen, was beide fühlten. Noch am letzten Morgen in Oßmannstedt hatten sie ein langes Gespräch. Die sonst selbstsichere und ruhige Sophie gestand Wieland ihre Furcht und Angst vor den zukünftigen „bitteren Stunden" in Frankfurt, denn sie wußte, daß sie sich in ihrem Verhältnis zu Herberstein entscheiden mußte. Sie verschwieg nichts, und Wieland konnte „den Grund ihrer Seele" schauen. Er hatte viele Situationen dieser Art als Mensch und Dichter kennengelernt und versuchte sie zu überzeugen, daß sie ihren eigenen Stolz erkennen und sich auf ihr sonst so selbstsicheres und harmonisches Wesen stützen müsse. Dann kam der Abschied, Sophie spürte die Güte und wußte sich zum erstenmal von einem Mann begriffen und verstanden, einem Mann, der den Jahren nach ihr Vater hätte sein können. Der „Fall war ihr neu", ihre Gefühle waren ihr „über den Kopf gewachsen". Schon am nächsten Tag antwortete Wieländ und nahm an, daß seine Zeilen sie erst in Frankfurt erreichen würden. Doch Sophie erhielt seinen Brief noch vor ihrer Abreise in Weimar.

Wieland an Sophie Brentano119 O. den ll t e n Oktober 1799. Liebste Tochter meines Geistes und Herzens. Sie wünschen bey Ihrer Ankunft in Frankfurt nur Eine Zeile von mir zu finden, und eine Zeile sollen Sie finden, wenn anders dieses Blat, das ich sogleich nach Empfang Ihres lieben lieben Briefchens schreibe und auf die Post schicke, nicht später ankommt als Sie. Und o möchte ich in diese einzige Zeile alles legen können, was für Dich, gutes Mädchen, edles, reines, unverfälschtes Engelsgeschöpf, in meinem Herzen schlägt, und schlagen wird, bis es stille stehtll Alle Liebe die ein Vater für sein Kind fühlen, alles Wohlgefallen, so er an ihm haben, und allen Segen, den er auf dasselbe vom Himmel herab bitten kannül Ich habe izt nur Augenblicke, aber künftig sollen Sie oft lange Briefe 5

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Dieser kurze Brief offenbart, besonders in seinem letzten Absatz, die Verwirrung der Gefühle, die Sophie wohl schon seit den Tagen der Rückkehr aus Schönebeck spürte. Beiden, Wieland und Sophie, hatte die kurze Trennung gezeigt, daß ihr Verhältnis zueinander mehr war als nur eine freundschaftliche und liebenswürdige Begegnung. Die Briefe der kommenden Wochen und Monate verraten deutlich, bisweilen nur zwischen den Zeilen, was beide fühlten. Noch am letzten Morgen in Oßmannstedt hatten sie ein langes Gespräch. Die sonst selbstsichere und ruhige Sophie gestand Wieland ihre Furcht und Angst vor den zukünftigen „bitteren Stunden" in Frankfurt, denn sie wußte, daß sie sich in ihrem Verhältnis zu Herberstein entscheiden mußte. Sie verschwieg nichts, und Wieland konnte „den Grund ihrer Seele" schauen. Er hatte viele Situationen dieser Art als Mensch und Dichter kennengelernt und versuchte sie zu überzeugen, daß sie ihren eigenen Stolz erkennen und sich auf ihr sonst so selbstsicheres und harmonisches Wesen stützen müsse. Dann kam der Abschied, Sophie spürte die Güte und wußte sich zum erstenmal von einem Mann begriffen und verstanden, einem Mann, der den Jahren nach ihr Vater hätte sein können. Der „Fall war ihr neu", ihre Gefühle waren ihr „über den Kopf gewachsen". Schon am nächsten Tag antwortete Wieländ und nahm an, daß seine Zeilen sie erst in Frankfurt erreichen würden. Doch Sophie erhielt seinen Brief noch vor ihrer Abreise in Weimar.

Wieland an Sophie Brentano119 O. den ll t e n Oktober 1799. Liebste Tochter meines Geistes und Herzens. Sie wünschen bey Ihrer Ankunft in Frankfurt nur Eine Zeile von mir zu finden, und eine Zeile sollen Sie finden, wenn anders dieses Blat, das ich sogleich nach Empfang Ihres lieben lieben Briefchens schreibe und auf die Post schicke, nicht später ankommt als Sie. Und o möchte ich in diese einzige Zeile alles legen können, was für Dich, gutes Mädchen, edles, reines, unverfälschtes Engelsgeschöpf, in meinem Herzen schlägt, und schlagen wird, bis es stille stehtll Alle Liebe die ein Vater für sein Kind fühlen, alles Wohlgefallen, so er an ihm haben, und allen Segen, den er auf dasselbe vom Himmel herab bitten kannül Ich habe izt nur Augenblicke, aber künftig sollen Sie oft lange Briefe 5

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von mir erhalten. Schreiben Sie mir sobald Sie angekommen sind, nur drey Worte um mir zu melden, daß Ihre Reise glücklich war. Sagen Sie Ihrer Großmama recht viel schönes u freundliches von uns allen. Ich und meine gute Dorothea wären in den verwichenen Tagen so gern noch einmal nach W. gekommen, um uns, beste Sofie, noch einmahl an Ihrem Anschauen zu letzen: aber es wollte sich nicht thun lassen. Leben Sie wohl Liebe! Nichts was Ihre schöne Seele trüben kan, dörfe sich Ihnen nahen! Hüllen Sie Sich in Sich selbst, in Ihr eignes reines Bewußtseyn, in die Liebe aller, die Sinn und Herz genug haben, Ihren Werth zu erkennen, und vor allem in die Freundschaft Ihres H... und Ihres Wieland. Am 12. Oktober 1799 verließen Sophie von La Roche, Sophie und Clemens Brentano Weimar. Wieland war zum Abschied nicht mehr nach Weimar gekommen. Er wollte wohl den Abschiedsschmerz bei Sophie Brentano und sich selbst nicht noch größer werden lassen. Die Geschwister begleiteten die Großmutter zunächst nach Offenbach und fuhren dann weiter nach Frankfurt zum Haus der Brentanos, dem „Goldenen Kopf". Am folgenden Morgen schrieb Sophie einen kurzen Brief an Wieland, um ihre Ankunft zu melden.

Sophie Brentano an Wieland120 Frankfurt den 17tcn 8 bre 1799 Lieber Vater! Drey Worte nur verlangen Sie, in den liebevollen Zeilen, die mein Talisman geworden sind, und meine erste Sorge ist Ihnen zu gehorchen. Seit gestern Abend sind wir hier; ich verließ meine Großmutter wohl und munter in Offenbach; aber sie erhält heute eine Nachricht die ihr sehr empfindlich seyn muß. Schlosser, auf den sie sich so sehr gefreut hatte, starb vor einer Stunde an einer Brustkrankheit. Übrigens sieht man hier lauter verschobene Gesichter; die sonderbare Katastrofe in unserm ganzen Stand, wirkt mehr oder weniger auf alles was dazu gehört; aber auch meine Miene paßt unter diese sorgenvolle, unruhige Menschen; denn mich erfüllen Erinnerungen und 66

von mir erhalten. Schreiben Sie mir sobald Sie angekommen sind, nur drey Worte um mir zu melden, daß Ihre Reise glücklich war. Sagen Sie Ihrer Großmama recht viel schönes u freundliches von uns allen. Ich und meine gute Dorothea wären in den verwichenen Tagen so gern noch einmal nach W. gekommen, um uns, beste Sofie, noch einmahl an Ihrem Anschauen zu letzen: aber es wollte sich nicht thun lassen. Leben Sie wohl Liebe! Nichts was Ihre schöne Seele trüben kan, dörfe sich Ihnen nahen! Hüllen Sie Sich in Sich selbst, in Ihr eignes reines Bewußtseyn, in die Liebe aller, die Sinn und Herz genug haben, Ihren Werth zu erkennen, und vor allem in die Freundschaft Ihres H... und Ihres Wieland. Am 12. Oktober 1799 verließen Sophie von La Roche, Sophie und Clemens Brentano Weimar. Wieland war zum Abschied nicht mehr nach Weimar gekommen. Er wollte wohl den Abschiedsschmerz bei Sophie Brentano und sich selbst nicht noch größer werden lassen. Die Geschwister begleiteten die Großmutter zunächst nach Offenbach und fuhren dann weiter nach Frankfurt zum Haus der Brentanos, dem „Goldenen Kopf". Am folgenden Morgen schrieb Sophie einen kurzen Brief an Wieland, um ihre Ankunft zu melden.

Sophie Brentano an Wieland120 Frankfurt den 17tcn 8 bre 1799 Lieber Vater! Drey Worte nur verlangen Sie, in den liebevollen Zeilen, die mein Talisman geworden sind, und meine erste Sorge ist Ihnen zu gehorchen. Seit gestern Abend sind wir hier; ich verließ meine Großmutter wohl und munter in Offenbach; aber sie erhält heute eine Nachricht die ihr sehr empfindlich seyn muß. Schlosser, auf den sie sich so sehr gefreut hatte, starb vor einer Stunde an einer Brustkrankheit. Übrigens sieht man hier lauter verschobene Gesichter; die sonderbare Katastrofe in unserm ganzen Stand, wirkt mehr oder weniger auf alles was dazu gehört; aber auch meine Miene paßt unter diese sorgenvolle, unruhige Menschen; denn mich erfüllen Erinnerungen und 66

Sehnsüchte, und ich habe Mühe ein gewisses Gleichgewicht in mir herzustellen, welches doch sonst den ganzen Reichthum meiner Seele ausmachte. So viel, lieber Vater, um die drey Worte nicht zu verschieben. Ich küße in inniger Verehrung und Liebe die Hand, die mir Trost und Segen gesendet hat. Ganz Oßmannstädt haußt in meinem Herzen, und ich datire die merkwürdigste Epoche meines Lebens von dort aus. — Darf ich sobald der Lärm um mich nachgelassen hat wieder schreiben ? — Johann Georg Schlosser, Goethes Schwager, hatte als Vierunddreißigjähriger im November 1773 Goethes Schwester Cornelia geheiratet, die bereits nach vierjähriger Ehe im Sommer 1777 verstarb und ihren Mann und zwei kleine Kinder zurückließ. Um den Kindern eine neue Mutter zu geben, heiratete Schlosser im Jahr darauf Johanna Fahimer. Goethe hatte an ihn noch im August über den Besuch der Sophie von La Roche geschrieben121. Die „Katastrofe" betraf die zwei bekannten Handelshäuser J. G. d'Orville und P. Bernard in Frankfurt, die wegen Fehlspekulationen Bankrott machten. Selbst Goethes Mutter ließ ihrem Sohn sofort diese Nachricht zukommen: „Weil du schon lange aus allen hießigen Connexion bist; so schreibe dir selten Neuigkeiten — denn ich fürchte sie Intreßiren dich nicht — aber daß Bernhardt und Dorville von Offenbach falirt haben das mußt du doch wissen — weil du das Hauß in seinem größten Flohr gekandt hast —."122 Sophie von La Roche hatte sofort nach ihrer Rückkehr an die Gräfin zu Solms-Laubach geschrieben und ihr mitgeteilt, daß sie deren letzten Brief Wieland gezeigt habe, „welcher sich freute, diese Seele Ihres Standes zu kennen und ihr Wert zu sein. Er dankt mit Verehrung und Freude für dies was ihn betraf. Von ihm kann (ich), da (ich) gestern sehr müde von dem schrecklichen Gelnhausener Wagen anlangte, nicht viel von dem wundervollen Weimar und meinen lieben Kindern in Schönebeck sagen. Mein Hirn ist noch zu sehr erschüttert, aber mein Herz ist durch nichts gestört worden. Alle seine Gefühle sind noch unverrückt, nichts von der alten Stelle, nichts an den Platz des Älteren gekommen" 123 . Am 21. Oktober hatte Wieland noch keine Nachricht aus Offenbach und Frankfurt, und in Sorge schrieb er an Sophie von La Roche: „Alle Ihre im Osmantino zurückgebliebenen Freunde, theuerste Sophie, sehen mit Sehnsucht der Bestätigung unsrer Hoffnung, daß Sie und Ihre liebe Reisegefährtin glücklich in Frankfurt und Offenbach angekommen, entgegen." Er bat sie, daß man sich künftig mehr in Briefen mitteile als in der vergangenen Zeit. „Ich kann, wenn dieser 5*

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Brief nicht liegen bleiben soll, die Post, die mir vielleicht von Ihnen oder S** B** Briefe bringt, nicht abwarten. Möge meine Hoffnung nicht getäucht werden." 124 Am selben Tag schrieb er auch an Sophie Brentano.

Wieland an Sophie Brentano125 Oßmantinum, den 21. Oktob. 1799. Vielleicht, meine liebenswürdige u ewig liebe Tochter Sophie, bringt mir die heutige Post ein Briefchen, worin Sie mir sagen, daß Sie mit ihrer guten Großmutter glücklich in Ffurt wieder angekommen sind — ich bin nicht ganz ruhig, bis ich dies weiß — aber abwarten kann ichs nicht, wenn ich nicht Sie länger als recht ist, auf ein Paar Zeilen von mir harren lassen will. Das Briefchen, das Sie bey Ihrer Ankunft in Ffurt finden sollten, hat Sie (gegen meine Absich) noch in Weimar gefunden, von wannen ich Sie schon abgereist glaubte. Es war aber so auch recht, und kommt am Ende auf Eins hinaus. Seit Sie, liebe Sophie, das Osmantinum (denn was geht uns das Dorf Oßmannstätt an?) verlassen haben, ist alles trüb, kalt und freudenleer bey uns. Es ist als ob uns alle freundlichen Götter mit Ihnen den Rücken zugekehrt hätten. Das darf nicht so bleiben, Liebe! Es giebt nur einen einzigen Sterblichen, dem ich Sie abtrete. Meine besten aufrichtigsten Wünsche sind für ihn. Sollte ihm aber das Schicksal noch länger entgegen seyn, so kehren Sie mit der ersten Nachtigall wieder zu Ihrem guten Vater und einer Mutter zurück, die Ihnen zwar die verlorne nicht ersetzen kann (das kann keine andre in der Welt) von der Sie aber gewiß so herzlich und mütterlich geliebt werden als ihre gute unverfälschte Seele lieben kann. Adieu, Engel! Leben Sie glücklich im Bewußtseyn Ihrer Selbst und der Liebe aller edeln Menschen, und der reinen unvergänglichen Zärtlichkeit Ihres Vaters Wieland. Diese Zeilen erreichten Sophie in Frankfurt in höchst unruhigen und verworrenen Verhältnissen. In einem Brief von Anfang November 126 68

Brief nicht liegen bleiben soll, die Post, die mir vielleicht von Ihnen oder S** B** Briefe bringt, nicht abwarten. Möge meine Hoffnung nicht getäucht werden." 124 Am selben Tag schrieb er auch an Sophie Brentano.

Wieland an Sophie Brentano125 Oßmantinum, den 21. Oktob. 1799. Vielleicht, meine liebenswürdige u ewig liebe Tochter Sophie, bringt mir die heutige Post ein Briefchen, worin Sie mir sagen, daß Sie mit ihrer guten Großmutter glücklich in Ffurt wieder angekommen sind — ich bin nicht ganz ruhig, bis ich dies weiß — aber abwarten kann ichs nicht, wenn ich nicht Sie länger als recht ist, auf ein Paar Zeilen von mir harren lassen will. Das Briefchen, das Sie bey Ihrer Ankunft in Ffurt finden sollten, hat Sie (gegen meine Absich) noch in Weimar gefunden, von wannen ich Sie schon abgereist glaubte. Es war aber so auch recht, und kommt am Ende auf Eins hinaus. Seit Sie, liebe Sophie, das Osmantinum (denn was geht uns das Dorf Oßmannstätt an?) verlassen haben, ist alles trüb, kalt und freudenleer bey uns. Es ist als ob uns alle freundlichen Götter mit Ihnen den Rücken zugekehrt hätten. Das darf nicht so bleiben, Liebe! Es giebt nur einen einzigen Sterblichen, dem ich Sie abtrete. Meine besten aufrichtigsten Wünsche sind für ihn. Sollte ihm aber das Schicksal noch länger entgegen seyn, so kehren Sie mit der ersten Nachtigall wieder zu Ihrem guten Vater und einer Mutter zurück, die Ihnen zwar die verlorne nicht ersetzen kann (das kann keine andre in der Welt) von der Sie aber gewiß so herzlich und mütterlich geliebt werden als ihre gute unverfälschte Seele lieben kann. Adieu, Engel! Leben Sie glücklich im Bewußtseyn Ihrer Selbst und der Liebe aller edeln Menschen, und der reinen unvergänglichen Zärtlichkeit Ihres Vaters Wieland. Diese Zeilen erreichten Sophie in Frankfurt in höchst unruhigen und verworrenen Verhältnissen. In einem Brief von Anfang November 126 68

erzählte sie ihrer Wiener Freundin Henriette von Arnstein, daß Fritze, seit zwei Jahren wieder verheiratet, mit ihrem Mann und ihren Kindern zu einem längeren Besuch im Hause Brentano weile. Sie schloß den Brief aber nicht ab, da sie nach Koblenz zu ihrer Freundin Katharina Lassaulx fuhr, ja, fast flüchtete, denn sie hoffte, dort Ruhe zu finden, um Klarheit in ihr bedrücktes und verworrenes Leben zu bringen. An eine Heirat mit Herberstein in Wien wollte sie nicht mehr glauben, seine Briefe wiesen keinen Weg, umschrieben die bekannten Schwierigkeiten und versuchten lediglich, sie mit zärtlichen Worten zu trösten. Darüber hinaus war alles noch komplizierter geworden, weil ein anderer, jüngerer Mann in ihr Leben getreten war: Simon Moritz Bethmann, 1768 geboren, acht Jahre älter als Sophie, jetzt einunddreißig Jahre alt. Er gehörte dem Handels- und Bankhaus an, das sein Vater zusammen mit seinem Onkel in der Mitte des Jahrhunderts in Frankfurt gegründet hatte. Die Firma „Gebrüder Bethmann" war in wenigen Jahrzehnten ein führendes Bankhaus geworden, zu dessen Klientel Fürstlichkeiten vieler Länder gehörten. Zwischen den Familien Bethmann und Brentano, aber auch mit anderen Frankfurter Familien bestanden enge und freundschaftliche Kontakte. Simon Moritz war ein gutaussehender, gewandter und erfolgreicher junger Finanzmann127. Vor zwei Jahren hatte er in Wien Sophie und Fritze in das Haus Arnstein eingeführt. Wann sich sein Verhältnis zu Sophie enger gestaltete, läßt sich nur vermuten. Wahrscheinlich waren sich beide schon vor der Reise Sophies nach Weimar nähergekommen. Jetzt, nach ihrer Rückkehr, war sie vor Entscheidungen gestellt, über die sie in Koblenz nachdenken wollte. Den begonnenen Brief an Henriette nahm sie mit, aber vor ihrer Abreise schrieb sie noch ausführlich an Wieland.

Sophie Brentano an Wieland128 Frankfurt den 15tcn November 1799 Schon längst, mein gütiger Vater, ist Ihr freundliches Briefgen in meinen Händen, und der wärmste Dank dafür in meiner Brust, aber Trübsinn und Mißmuth hatten meine Feder so fest gebannt, daß ich, trotz jeder Aufforderung meines Herzens, nicht vermogte, mich Ihnen zu nähern. Erst jetzt gelingt es mir meine Fittige zu schwingen; alles Drückende, Peinliche, Irdische schütle ich herab, und schwebe hinüber zu meinem 69

erzählte sie ihrer Wiener Freundin Henriette von Arnstein, daß Fritze, seit zwei Jahren wieder verheiratet, mit ihrem Mann und ihren Kindern zu einem längeren Besuch im Hause Brentano weile. Sie schloß den Brief aber nicht ab, da sie nach Koblenz zu ihrer Freundin Katharina Lassaulx fuhr, ja, fast flüchtete, denn sie hoffte, dort Ruhe zu finden, um Klarheit in ihr bedrücktes und verworrenes Leben zu bringen. An eine Heirat mit Herberstein in Wien wollte sie nicht mehr glauben, seine Briefe wiesen keinen Weg, umschrieben die bekannten Schwierigkeiten und versuchten lediglich, sie mit zärtlichen Worten zu trösten. Darüber hinaus war alles noch komplizierter geworden, weil ein anderer, jüngerer Mann in ihr Leben getreten war: Simon Moritz Bethmann, 1768 geboren, acht Jahre älter als Sophie, jetzt einunddreißig Jahre alt. Er gehörte dem Handels- und Bankhaus an, das sein Vater zusammen mit seinem Onkel in der Mitte des Jahrhunderts in Frankfurt gegründet hatte. Die Firma „Gebrüder Bethmann" war in wenigen Jahrzehnten ein führendes Bankhaus geworden, zu dessen Klientel Fürstlichkeiten vieler Länder gehörten. Zwischen den Familien Bethmann und Brentano, aber auch mit anderen Frankfurter Familien bestanden enge und freundschaftliche Kontakte. Simon Moritz war ein gutaussehender, gewandter und erfolgreicher junger Finanzmann127. Vor zwei Jahren hatte er in Wien Sophie und Fritze in das Haus Arnstein eingeführt. Wann sich sein Verhältnis zu Sophie enger gestaltete, läßt sich nur vermuten. Wahrscheinlich waren sich beide schon vor der Reise Sophies nach Weimar nähergekommen. Jetzt, nach ihrer Rückkehr, war sie vor Entscheidungen gestellt, über die sie in Koblenz nachdenken wollte. Den begonnenen Brief an Henriette nahm sie mit, aber vor ihrer Abreise schrieb sie noch ausführlich an Wieland.

Sophie Brentano an Wieland128 Frankfurt den 15tcn November 1799 Schon längst, mein gütiger Vater, ist Ihr freundliches Briefgen in meinen Händen, und der wärmste Dank dafür in meiner Brust, aber Trübsinn und Mißmuth hatten meine Feder so fest gebannt, daß ich, trotz jeder Aufforderung meines Herzens, nicht vermogte, mich Ihnen zu nähern. Erst jetzt gelingt es mir meine Fittige zu schwingen; alles Drückende, Peinliche, Irdische schütle ich herab, und schwebe hinüber zu meinem 69

Vater, zu meinem höchsten Stolz, zu meiner süßesten Freude. Ist es recht so? Und darf ich mir die Aufnahme träumen? Wird die kleine Sofie, vielleicht oft schon der Saumseeligkeit und des Undanks angeklagt, dennoch mit freundlichen Blicken empfangen werden? Ruft ihr mein Vater ein gütiges Wort zu, und winkt ihr die theure Hand die mich gesegnet hat? — Ol Entziehen Sie mir keine dieser Wohlthaten, sie sind mir alle tausendfach nothwendig geworden. Es war einmal ein weiser Mann, lieber Vater, der sagte: Hüte dich das Bessere kennen zu lernen, wenn du mit dem Guten vorlieb nehmen sollst! — Ich habe das Beste gekannt, und was mir bleibt ist nicht immer gut; aber jener weise Mann war doch ein Thor, wenn er nicht verstund seine Erinnerungen auf die Gegenwart überzutragen, und das was ihm bleibt, mit dem was er besaß, so künstlich auszuschmücken, daß die lieblichste Täuschung daraus entstehen muß. Mir ist diese Kunst sehr geläufig geworden seitdem ich das theure Osmantinum verlassen habe. Umgeben von Menschen, wovon keiner die Sprache redet, die so hell und deutlich in meinem Innern anschlug, wo Niemand mir Antwort zu geben wüßte, wenn ich um klüger oder besser zu werden auch nur eine Frage wagen solte, versetzen mich meine süße Träumereyen hundertmal im Tage, an die Seite meines Vaters, in den Kreiß seiner Lieben. Alles was ich dort sah und hörte, die Bilder des Friedens, der Mäßigkeit, der sanften Weißheit, erfüllen dann wohlthätig meine unruhige Seele. Ich hole mir Stärke und Ergebung in dieser stillen Schwärmerey, und verdanke Ihnen so, auch in der Ferne, alle die besseren Stunden meiner Tage. Lieber Vater, ich bin in diesem Augenblick nicht glücklich. Die Ufer der Donau sind mit finstern Wolken überzogen; Sturm und Donner werden über mich kommen. Auch ganz in meiner Nähe ist Unruhe und Kummer, die theils eigenes Interesse, theils freundschaftliche Theilnahme, mich schmerzlich fühlen lassen. Zum Glück haben die Götter keinen leidenschaftlichen Zug in mein Gemüth gelegt; Ruhe und Gelassenheit ist in allen meinen Empfindungen, und ich kann unerschrocken meinen Weg fortsetzen, wann auch Gefahren, Verwirrung und Hindernisse einen wilden Chaos vor meinen Blicken bilden. Nun sagen die Menschen welche mich beobachten, ich sey kalt. Ist Dies wahr, lieber Vater? Kann mein Herz nicht tief fühlen ohne eben laut zu seyn? Und trägt mein gemäßigter Ton, meine gleichmüthige Laune das Gepräge des Egoismus? — Trösten Sie mich über diese 70

Anklage, mein Vater, wenn Sie es anders mit Wahrheit können, und vergeben Sie, daß ich nach einem solangen Schweigen, nur von mir, und immer von mir rede; aber an dem letzten Morgen den ich bey Ihnen verlebte, als Ihre theilnehmende Güte Sie so liebreich für mich gestimmt hatte, als jedes Ihrer Worte für mich zum Segen wurde, und ich Sie mit der Überzeugung verließ, daß diese Stunde mich zu einem bessern, selbstständigern, harmonischem Wesen gebildet haben müßte, da gelobte ich Ihnen im Stillen für immer das unbegränzteste Vertrauen, die kindlichste Hingebung, und das feurigste Bestreben Ihrer Freundschaft werth zu seyn. Sehen Sie alles was von mir zu Ihnen kömmt als eine Folge davon an, und vergessen Sie nie, mein Vater, daß wenn ich die Schätze berechne, die mir das Schicksal verheißt, so steht Ihre väterliche Liebe so groß und mächtig oben an, daß das Meiste daneben versinken muß. Sie sind doch wohl und heiter, lieber Vater? Und alles um Sie her recht glücklich? Liebt mich meine gütige Mutter noch, und gedenkt man meiner oft und liebreich? Tausend Fragen mögte ich noch an diese reihen, wenn ich meines Vaters Mißbilligung nicht scheute. So zum Beyspiel giebt es einen interessanten verführerischen Sterblichen, an dem mein ganzes Herz hängt; wolten Sie mir sagen was aus ihm und seiner reizenden Freundin wird? Ob sie meinem Vater noch Freude geben, und ob sie mir immer so theuer bleiben werden? — Was schreibt jetzt Wieland? ruft mir hier Mancher entgegen, der sich einbildet dies sey die schicklichste Frage, die man mir jetzt in den Weg werfen könnte; aber bis jetzt hat noch keiner die Antwort verdient. Irgend eine alberne Gegenfrage, oder auch nur sonst ein halbes Wort, ist alles was ich darauf zu erwiedern weiß, und der Nahmen meines schönen Freundes ist noch nicht über meine Lippen gekommen. — Stolzes Mädchen! nannten Sie mich einmal; ja mein Vater, ich bin stolz. Stolz auf alles, was ich bin, weil man alles gut seyn kann, und weil mein Wille mir bürgt, daß ich in allem besser seyn werde. So bin ich ein stolzes Weib, eine stolze Freundin, und die sehr stolze Tochter meines gütigen Vaters. — Wie wolten Sie es anfangen, um mir dieses zu verbiethen? Ich habe mich durch dieses Stüridgen mit Ihnen verlebt, so sehr erheitert, daß ich in Laune und Fröhligkeit die Hand meines Vaters zu meinen Lippen führe, und ihn recht ernstlich ersuche mich ein bisgen lieb zu behalten. Sofie. 71

In dem langen und ausführlichen Bericht dieses Briefes zeichnete Sophie ihre qualvolle Seelenlage, ohne Namen zu nennen. Für Herberstein genügte der Hinweis auf die Ufer der Donau. Ob sie in Oßmannstedt mit Wieland schon über Bethmann gesprochen hatte, bleibt ungewiß, lediglich die Bemerkung über Kummer und Unruhe in ihrer Nähe könnte darauf hinweisen. In ihren Zeilen an Wieländ versuchte Sophie sich selbst zu finden und den Weg zu entdecken, der sie aus dem „Chaos" führen könnte. Sie hoffte, daß ihr die Erinnerung an die letzten Stunden in Oßmannstedt helfen würde. Bisher hatte sie versucht, gelassen und gemäßigt zu reagieren und jeder Leidenschaftlichkeit auszuweichen, auch auf den Vorwurf hin, sie sei egoistisch und Jcalt. Sie öffnete Wieland ihr ganzes Selbst und vertraute auf sein Verstehen und auf seine Hilfe. Mit dem Brief fühlte sie sich wieder in Oßmannstedt, in der Landschaft des Gartens und der Wiesen, in der Lindenallee, und sie erinnerte sich an den „interessanten, verführerischen Sterblichen", an Aristipp — oder ist Sokrates gemeint? — und an dessen Freundin Lais. Im Bewußtsein ihres Stolzes, den Wieland in ihr geweckt hat, in der Sicherheit ihres eigenen Ichs hoffte sie alle Schwierigkeiten zu bestehen. Die Therapie ihrer Briefbeichte ging so weit, daß sie sich am Ende doch heiter und fröhlich fühlte. Ihre Abreise nach Koblenz erfolgte plötzlich, auch Bethmann wußte nichts davon. Erst bei einem Besuch im Theater erfuhr er davon und ritt sofort nach Koblenz, um Sophie zu sehen und zu sprechen. Im Dezember kehrte Sophie zusammen mit ihrer Freundin Katharina Lassaulx in den „Goldenen K o p f " nach Frankfurt zurück. Noch in Koblenz hatte sie ihren Brief an Henriette von Arnstein beendet und ihr von ihrer Lektüre dieser Wochen berichtet: „Sage, Liebe, hast du in Schillers Almanach für 1800, das herrliche Gedicht: die Schwestern von Lesbos! mit derselben Freude gelesen wie deine Muthe? — Mich hat es entzückt. Kann etwas zarteres, edleres, weiblicheres aus der Feder eines Mädchens fließen? — Kennst du auch (.wir sind ja alte, erfahrne Personen.) das Werk eines dieser Schlegel: Luzinde? — Ist es dir nicht bekannt, so will ich es nicht empfohlen haben; aber wenn du es gelesen hast, so laß mich dein Urtheil darüber hören. Es wird das Meinige berichtigen, wenn wir zusammen darüber reden; so wie überhaupt mir nichts so interessant ist, als die verschiedenen Eindrücke zu sammeln, die derselbe auffallende Gegenstand, auf Menschen von K o p f macht. Bey uns Frauen ist dies noch merkwürdiger, weil wir selten, wie die Männer, nach Überlegung ürtheilen, sondern meistens durch die erste Aufwallung unsers 72

Gefühls zu einer Meynung bestimmt werden. Plaudere also ein wenig mit mir über die neue, kühne Theorie dieser verwegenen Männer! _" 129 Nicht ohne Grund empfahl Sophie die Idylle Die Schwestern von Lesbos von der gleichaltrigen Amalia Freiin von Imhoff ihrer Freundin Henriette, war doch das Thema eine Art Umkehrung ihrer eigenen Situation: ein junger Mann steht zwischen zwei Frauen, zwischen zwei Schwestern. Bezeichnender aber ist ihr Hinweis auf Friedrich Schlegels Romanfragment Lucinde, ein kleines, nicht sehr umfangreiches Buch, das im Herbst in Berlin erschienen war und für großes Aufsehen sorgte. „Die Bekenntnisse eines Ungeschickten", so der ironisch verfremdende Untertitel des Buches, galten als frivol und enthüllend und als Schlüsselroman des Schlegelkreises. Sophie las das Buch, diese „neue, kühne Theorie dieser verwegenen Männer", auf dem Hintergrund ihrer Beziehung zu Simon Moritz Bethmann, und da mußten sie schon die verschiedenen Kapitelüberschriften der Lucinde reizen: „Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation" — „Allegorie von der Frechheit" — „Treue und Scherz" — „Lehrjahre der Männlichkeit". Henriette in Wien war sicher nicht der richtige Partner, um über die Lucinde zu diskutieren — in ihrem Antwortbrief schrieb sie auch, daß sie das Buch nicht gelesen habe: „Die Luzinde Liebe habe ich nicht gelesen, und werde sie auch nicht lesen. Ich bin nicht prüde und lache über eine unheilige Idee wie du dich wohl erinnern wirst, aber ich lese dergleichen Sachen nicht gern, ich mag meine Einbildungskraft nicht verunreinigen." 130 Mit Wieland konnte sie nicht darüber reden, denn sein Verhältnis zu den „Schlegels", gerade in diesen Monaten, war ihr nicht unbekannt geblieben. Er hatte ihr gleich nach Empfang ihres Briefes vom 15. November lang und ausführlich geschrieben, und Sophie hatte seinen Brief wohl noch in Koblenz erhalten.

Wieland an Sophie Brentano131 Oßmannstätt den 27s,cn Novemb. 1799. Nein, liebste Tochter meines Herzens, nie wird die kleine Sofie von dem Manne, den das Ihrige zu ihrem Vater erwählt hat, der Saumseligkeit und des Undanks beschuldigt werden, und wenn sie es auch drey u vier Mahl länger anstehen ließe, ihn durch einen schriftlichen Besuch zu erfreuen. Es ist wahr, mit jedem Frankfurt. Posttage (deren zu Weimar 73

Gefühls zu einer Meynung bestimmt werden. Plaudere also ein wenig mit mir über die neue, kühne Theorie dieser verwegenen Männer! _" 129 Nicht ohne Grund empfahl Sophie die Idylle Die Schwestern von Lesbos von der gleichaltrigen Amalia Freiin von Imhoff ihrer Freundin Henriette, war doch das Thema eine Art Umkehrung ihrer eigenen Situation: ein junger Mann steht zwischen zwei Frauen, zwischen zwei Schwestern. Bezeichnender aber ist ihr Hinweis auf Friedrich Schlegels Romanfragment Lucinde, ein kleines, nicht sehr umfangreiches Buch, das im Herbst in Berlin erschienen war und für großes Aufsehen sorgte. „Die Bekenntnisse eines Ungeschickten", so der ironisch verfremdende Untertitel des Buches, galten als frivol und enthüllend und als Schlüsselroman des Schlegelkreises. Sophie las das Buch, diese „neue, kühne Theorie dieser verwegenen Männer", auf dem Hintergrund ihrer Beziehung zu Simon Moritz Bethmann, und da mußten sie schon die verschiedenen Kapitelüberschriften der Lucinde reizen: „Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation" — „Allegorie von der Frechheit" — „Treue und Scherz" — „Lehrjahre der Männlichkeit". Henriette in Wien war sicher nicht der richtige Partner, um über die Lucinde zu diskutieren — in ihrem Antwortbrief schrieb sie auch, daß sie das Buch nicht gelesen habe: „Die Luzinde Liebe habe ich nicht gelesen, und werde sie auch nicht lesen. Ich bin nicht prüde und lache über eine unheilige Idee wie du dich wohl erinnern wirst, aber ich lese dergleichen Sachen nicht gern, ich mag meine Einbildungskraft nicht verunreinigen." 130 Mit Wieland konnte sie nicht darüber reden, denn sein Verhältnis zu den „Schlegels", gerade in diesen Monaten, war ihr nicht unbekannt geblieben. Er hatte ihr gleich nach Empfang ihres Briefes vom 15. November lang und ausführlich geschrieben, und Sophie hatte seinen Brief wohl noch in Koblenz erhalten.

Wieland an Sophie Brentano131 Oßmannstätt den 27s,cn Novemb. 1799. Nein, liebste Tochter meines Herzens, nie wird die kleine Sofie von dem Manne, den das Ihrige zu ihrem Vater erwählt hat, der Saumseligkeit und des Undanks beschuldigt werden, und wenn sie es auch drey u vier Mahl länger anstehen ließe, ihn durch einen schriftlichen Besuch zu erfreuen. Es ist wahr, mit jedem Frankfurt. Posttage (deren zu Weimar 73

wöchentlich vier sind) sah ich einem Briefchen entgegen; aber jedes Mahl, da ich meine Hoffnung getäuscht fand, hatte ich auch sogleich eine Menge von Entschuldigungen bey der Hand, und eher könnte ich glauben daß ein Stück vom Kristallhimmel oder ein apokalyptischer Stern auf die gute Stadt Frankfurt herabgefallen sey, als daß der Liebling meiner Seele ihren alten sie so wahrhaft väterlich liebenden Freund vergessen oder vernachläßigen könnte. Wollte mich in solchen Fällen auch eine kleine Ungeduld anwandeln, so tröste ich mich mit dem Gedanken, daß wenigstens in der Zeit, da Sie mir nicht geschrieben haben, Ihr schönes Auge, das mir mehr als meine eigenen, am Herzen liegt, vielleicht Ruhe gehabt, und doch um etwas weniger angestrengt worden — denn Sie haben Sich, wie es Scheint, an eine so kleine (wiewohl eben so deutliche als niedliche) Handschrift gewöhnt, daß ich mir beynah ein Gewissen daraus mache, Sie dadurch, daß ich Ihnen sage wie unbeschreiblich glücklich Sie mich durch Ihre Briefe machen, in Versuchung zu führen, mir recht oft und viel zu schreiben. Sie sagen mir, liebe Sofie, mit der Ihnen eigenen Grazie des Ausdrucks soviel Schönes über Ihren leider! nur gar zu schnell vorüber geschlüpften Aufenthalt im Osmantinum, daß ich nothwendig glauben muß, er habe Ihnen wohlgethan — denn ich schmeichle mir, oder bin viel mehr gewiß, daß ich in den Grund Ihrer Seele gesehen habe und mich nicht irren kann, wenn ich glaube, daß Lauterkeit, Wahrheit und Unschuld Tbeile Ihres Wesens sind — Sie waren also bey Ihrem guten Vater und Ihrer Sie inniglich liebenden und schätzenden Mutter Wieland glücklich, und sind es in F f . nicht — Denn, wiewohl alles, was Sie mir von ihrer, an sich sehr lobenswürdigen Geschicklichkeit sich selbst zu täuschen, und von der Gelassenheit und Ruhe, womit Ihre schöne Seele Widerwärtigkeiten, Gefahren und fernher drohende Stürme zu ertragen weiß, sagen, recht schön und gut ist, so kann ich mir doch selbst nicht verbergen, daß Sie alles das noch besser u leichter ertragen, und, wo nicht glücklich, doch viel weniger Nicbtgläcklicb seyn würden, wenn Sie bey Ihrem Vater Wieland lebten. Freylich stünd' es nicht in seiner Macht, die finstern Wolken vom Ufer der Donau zu vertreiben — aber — Sie kennen doch den Wundertrank Nepenthes, wovon die schöne Helena in der Odyssee dem wehmüthig trauernden Telemach eine Schale voll reicht? — Ihr guter Vater besitzt ein ähnliches schmerzstillendes Arcanum, wie Sie wissen; und er ist ganz gewiß, daß Sie bey 74

und mit ihm, ihres Leids öfter vergessen, und der unversiegbaren Quellen von Zufriedenheit und Lebensfreude, die in Ihrer eignen Seele fließen, ungestörter und reichlicher genießen würden, als da wo Sie sind. Ziehen Sie nun das Resultat aus diesem allen Selbst, liebe Sofie. Alles ist möglich, wenn wir ernstlich wollen. Sollten Sie die Erfüllung meines sehnlichsten Wunsches nicht möglich, und wenn sie möglich ist, nicht wirklich machen können? - Im Osmantino sind seit kurzem allerley Veränderungen und Transposizionen vorgenommen worden. Was ehmahls mein Zimmer war, ist nun der Frau des Hauses eingeräumt; die ehmahlige Bibliothek ist in ein schönes Gesellschaftszimmer verwandelt, die Bücher hingegen in die — Eckstube (wo Sie, armes Kind! so unbequem u unlieblich schlafen mußten) und in das kleine boudoir, wo die gute Großmutter — nicht schlief, transportiert worden. N u n liegt zwischen dem dermahligen in den Garten sehenden Gesellschaftszimmer und der Frauen Stube ein recht artiges hinlänglich geräumiges Zimmerchen in der Mitte. Das sollte das Ihrige seyn, liebstes Kind! — wenigstens so lange bis ein paar Zimmer für Sie in dem andern pavillon fertig gemacht wären. Sie würden uns, bey diesem arrangement, nicht im geringsten beschwerlich seyn, und Sie selbst befänden sich wenigstens sehr leidlich, und ohne alle Vergleichung besser als da Sie diesen Sommer bey uns waren. Ihre Mutter Wieland spricht öfters mit mir davon, und fühlt es eben eben so stark und innig, welch ein Zuwachs an Glückseligkeit mir und ihr dadurch zugehen würde. Meine ganze Familie theilt diese Gesinnungen mit uns. Sie würden unter lauter gutartigen, kunst- und anspruchlosen, unverbildeten, größtent e i l s frohsinnigen Kindern der Natur leben, im Schoos einer zahlreichen Familie die vielleicht die einzige dieser Art in der Welt ist; sie würden wie ein guter Engel, wie eine Nymfe des Himmels unter uns seyn, von Allen mehr als ein Kind, mehr als eine Schwester geliebt — und Ihres Vater Wielands letzte Jahre u Tage würden durch Sie, durch Sie, liebe liebe Sofie, die frohesten seines ganzen Lebens und ein wahres Vor-Elysium werden!! Überdenken Sie das alles, Liebe, und das, was Ihnen das Herz querst eingeben wird, ist sicherlich die Stimme Ihres guten Genius. Es sey ihr Orakel!! Ich kann mir keine Schwierigkeiten denken, die nicht, sogar ohne große Anstrengung, zu besiegen seyn sollten. Man kann Alles, was man will, so bald man's ernstlich will! Dabey bleibts!

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Ich wag' es kaum, meine liebe Tochter, Sie um nähere Nachrichten von Ihrem Freund in W. und um deutlichem Bericht über das an den Ufern der Donau sich aufziehende Gewitter zu bitten. Ich möchte viel lieber Alles schmerzliche von Ihrer zarten Seele entfernen — Und doch — Ist irgend etwas Drückendes, das durch trauliche Niederlegung in den Schoos eines Väterlichen Freundes, leichter zu tragen würde, so erleichtern Sie Sich dessen, in den meinigen. Herzlicher kan weder Engel noch Mensch Antheil an Ihnen nehmen als ich und das andre Ich an meiner Seite. Möchten wir nur etwas zum Beweise dessen, was wir für Sie empfinden, für Sie thun können! Warum sind die, die den besten Willen haben, immer die unvermögendsten? — würde Ihre Großmutter fragen, die gute Frau, die sich in ihrem 69 Jahre noch über Alles verwundert wie ein Mädchen von 15 — Mir ist alles menschliche sehr klar, und ich weiß recht gut warum\ Nur hilfts mir wenig mehr als wenn ichs nicht wüßte. A propos der lieben Großmama will ich Ihnen nicht verhalten, daß ich gleich nach ihrer Abreise von Weimar einen Brief von einer ganzen Oktavseite, weitläufig geschrieben, von ihr erhielt, worin sie sehr darüber wehklagt, daß ich weiß nicht welch ein feindseliges Geschick oder mißgünstiger Dämon ihr während ihres Aufenthalts zu Oßmanst. sie nicht zu der so sehnlich gewünschten Satisfakzion habe gelangen lassen, mir den Schlüssel zur ganzen Geschichte ihres Lebens zu geben, ihre ganze Seele vor mir aufzudecken, und dadurch die Vorurtbeile, die ich gegen sie gefaßt hätte, zu zerstreuen, welches doch die Hauptabsicht ihres Besuchs gewesen sey. Ich antwortete ihr hierauf mit meiner gewohnten Aufrichtigkeit umständlich und ernst, doch freundlich, schonend und sogar ein wenig liebkosend, um der etwas bittern Arzney soviel möglich den widrigen Geschmack zu benehmen. Sie hatte reichlichen Stoff zum Antworten und beynahe jede andere hätte sich zu einer Antwort auf einen Brief, wie der meinige war, gedrungen gefunden; aber sie that, was sie in ihrem ganzen Leben bey solchen Anläßen, vermöge eines besondern, ihr sehr bequemen Grundsatzes, immer gethan hat, — sie schwieg und verstummte wie ein Lamm vor seinem Scherer. Inzwischen hat sie sich mit dem guten Lütkemüller in Korrespondenz gesetzt, der, soviel ich weiß, schon ein Paar webklagende Briefe von ihr erhalten hat, worin sie mit der Vorsehung (an welche sie doch so stark 76

glaubt) ein wenig zu hadern scheint, daß Schlosser nicht unsterblich war, daß das Haus Dorville zu Frankfurt, weil es nicht länger stehen konnte, gefallen ist, und daß eine von ihr (vermuthlich mehr mit dem Herzen als mit dem Kopf) gestiftete Ehe nicht besser als ein Paar andere, wobey sie ebenfalls die Juno pronuba war, zu gerathen das Ansehen habe. Ich weiß alles, 1. Sofie, was Sie mir hierüber, als eine Pflichtvolle Enkelin zu Rechtfertigung und Entschuldigung der guten alten Dame sagen können; ich kann mich leicht an den Platz der leztern setzen, und ihr dreyfacher sehr gerechter Schmerz würde mir zu Herzen gehen, wenn sie, anstatt die Vorsehung mit ihren ewigen Warums zu behelligen, das ihr auferlegte Päckchen Leiden geduldig und wie einer gesetzten verständigen Matrone geziemt, ertrüge. Aber seit dem letzten Briefchen, worin sie mir die Freude, sie einige Wochen bey mir gehabt zu haben, so häßlich verpfeffert hat, bin ich, ich gesteh es offenherzig, noch mehr als sonst geneigt, es ein wenig scharf mit ihr zu nehmen, und michs sehr verdrießen zu lassen, daß ich sie, nach einer so langen Trennung, in einem so nah an 70 vorgerückten Alter, nicht um ein Atom weiser gefunden habe, als sie im 20sten war. Wozu alles dies Ihnen, meine liebe Tochter? Erstens, weil ich gewiß bin, daß alles was ich Ihnen von u über ihre GM. sagen u schreiben kann, ihr nicht das Allergeringste von den Gesinnungen, so Sie für selbige hegen und so Sie ihr zum Theil schuldig sind, entziehen kann, so daß ich also keinen Beweggrund sehe, warum ich meine Seele nicht ein wenig gegen einen so guten Engel, wie meine kleine Sofie ist, erleichtern sollte; u zweytens, weil ich wünsche, sie möchten ein wenig Mitleiden mit mir haben, daß ich die alte Freundin und erste Liebe meiner Jugend nicht so von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebhaben kann, wie ich wünschte. Es ist klar, daß sie das merken mußte, und gemerkt bat: warum also, zumahl ihr (wie sie sagt) so gar viel an meinen Gedanken von ihr gelegen ist, warum ließ sie 5 Wochen die wir unter Einem Dache zubrachten, vorbeygehen, ohne mir (nach ihrem Ausdruck) ihre Seele zu geigen? Waren wir einander etwa nicht nahe genug? Hatten wir nicht überflüssig Zeit dazu? Legte ich selbst es ihr nicht mehrmals nahe genug? Wozu also hinter drein die ungereimte Wehklage über ein selbstgemachtes Übel? Solche Verkehrtheiten an Personen, die ich so gern lieben und also hochachten möchte, sind mir penibel, und Sie, Sofie! sollen Mitleiden mit mir haben: denn ich leide wahrscheinlich mehr 77

dabey als die alte Dame, der es zu ihrer Existenz nöthig zu seyn scheint, daß sie immer etwas mit dem lieben Gott zu hadern und zu protzen habe. Jedermann findet. Me L. R. habe ein ungemein glückliches Mittel gefunden, die Hälfte des zweiten Theils ihres Schreibtisches unendlich interessant zu machen; nur sind 9/10 von ihren Leserinnen in Deutschland sehr unzufrieden, daß sie, aus Mangel an genügsamer Kenntniß der französ. Sprache, leer dabey ausgehen. Niemand will einer so geübten und berühmten Schriftstellerin die kahle Entschuldigung, warum sie die Briefe nicht übersetzt habe, gelten lassen. Denn in der That giebt es nur Einen gültigen Grund, sie deßwegen zu entschuldigen; aber vermöge dessen hätte sie auch den Schreibtisch ungeschrieben lassen und überhaupt keine Schriftstellerin werden sollen. Wie wär' es, 1. Sofie, wenn Sie sich das Verdienst um ihre ächtdeutschen Landsmänninen machten, und alle diese deliziösen Briefe der Julie Bondely diesen Winter durch in aller Stille übersetzten? Es ist unsäglich welche Freude Sie mir dadurch machen würden. Sie schickten sie mir dann zu, ich revidierte sie allenfalls, wo es etwa nöthig seyn möchte, und ließe sie dann recht zierlich drucken, und es sollte ein Geheimniß zwischen uns bleiben ewiglich, oder wenigstens so lange bis Sie es selbst verriethen. Qu'en dites-vous, mon petit Ange? Der gefährliche Mensch u seine reitzende Freundin, nach denen Sie sich zu erkundigen die Gütehaben, befindet sich on ne peut pas mieux, et leur amitié ne fait que croître et embellir. Sie haben seitdem Ossmannstätt wieder zu einem gemeinen Dorf herabgesunken ist, ziemlich viele Briefe mit einander gewechselt, worunter mehr als einer ist, der vermuthlich Interesse für meine Sofie haben würde. Aber um der schönen Laiska über ihr portefeuille zu kommen, ist kein ander Mittel, meine Liebe, als — das kleine Zimmer zwischen No 1 u 3 im Osmantino zu beziehen — und so hätten Sie denn einen Beweggrund mehr, den ersten meiner Wünsche zu beschleunigen. Aber habe ich denn gar kein Mitleiden mit dem schönsten und liebenswürdigsten aller Augen? — Weg mit der heillosen gritzelnden Feder! Wiewohl ich eben sehe, daß ich Ihnen, mit allem meinen Gekritzel dennoch auf eine Frage nicht geantwortet habe. Es gehört aber auch eigentlich keine Antwort darauf, denn sie beantwortet sich selbst, und nur der aller ausgemachteste Egoist kann eine Seele wie meine 78

Tochter Sofie ist, des Egoism beschuldigen, weil alle ihre Bewegungen sanft u harmonisch sind, weil sie nie flammt u flacht und braust und schäumt, und zu weise ist, sich immer zum Opfer des Egoism der wirklichen Icbler zu machen. Und nun danken Sie dem Himmel, daß ich aufhöre, da ich mich doch schämen müßte, das dritte Blat zu nehmen, und auf diesem kaum noch so viel Raum übrig ist um einen väterlichen segnenden Kuß auf Ihre Stirne zu drücken und Ihnen Lebewohl zu sagen. V. Wieland. Dieser erste lange Brief, den Wieland an Sophie schrieb, sollte ein Gespräch ersetzen. Aus Sophies Zeilen wußte er, daß sie in Frankfurt unglücklich war, und er lud sie ein, jederzeit nach Oßmannstedt zu kommen. Er nutzte dieses „Briefgespräch", um Sophie seine eigene Stellung gegenüber ihrer Großmutter zu erläutern. Sie hatte während der Wochen in Oßmannstedt die Spannungen zwischen den ehemaligen Verlobten bemerkt und sicher auch die teilweise recht deutliche Reserviertheit der Weimarer Gesellschaft. Während des Aufenthalts hatte Wieland mit Sophie Brentano nicht darüber sprechen wollen, jetzt aber, da sie ihm nicht gegenüberstand und antworten mußte, äußerte er sich frei über sein in den Jahrzehnten geändertes Verhältnis zu Sophie von La Roche; auch sollte die Enkelin spüren, daß er ihr mit diesen heiklen Mitteilungen besonderes Vertrauen schenken wollte. Von diesem Thema war dann der Schritt leicht zu seinem Vorschlag einer Art „Schreib-Therapie". Sophie von La Roche hatte 1799 ein neues Buch, Mein Scbreibetisch, auf den Markt gebracht, in dem sie einen fiktiven Freund die Bitte aussprechen ließ, ihm alles genau zu schildern, was sich auf ihrem Schreibtisch angesammelt hatte: Bücher, Zettel, Zeitschriften, Exzerpte und Briefe. Diese Bitte nahm sie zum Vorwand, um über ihre Lektüre, bevorzugte Autoren und Briefpartner zu schreiben, manches zu empfehlen und anderes zu kritisieren. Das Ganze war eher ein Sammelsurium, und den zweiten Band füllte sie auf fast 250 Seiten mit einer Auswahl der Briefe, die ihr Julie Bondely vor Jahrzehnten geschrieben hatte, jene Schweizerin, mit der Wieland auch einmal „fast" verlobt gewesen war. Sophie von La Roche hatte ihre Briefe gesammelt und veröffentlichte nun eine Auswahl, und mit der einführenden Bemerkung: „Ich werde Ihnen Juliens Ideen alle in der Orginalsprache mittheilen, weil ich es als Entheiligung ansehen würde, sie übersetzen zu wollen. Und wer kann Grazie und eigentliches Denken in einer Uebersetzung darstellen? —111132 79

ersparte sie sich die Übertragung. Wieland schlug nun Sophie vor, diese Briefe, die er „deliziös" nannte, zu übersetzen. Wenige Tage danach sandte Wieland ein kleines Billet an Sophie, mit dem er ihr die bevorstehende Hochzeit seiner Tochter Julie anzeigte. Die jetzt Siebzehnjährige — sie hatte ihren Namen in Erinnerung an Julie Bondely erhalten — sollte Anfang Dezember dem Weimarischen Kammersekretär Carl Wilhelm Constantin Stichling angetraut werden.

Wieland an Sophie Brentano133 Julie bittet ihre geliebteste Sofie künftigen Montag den Ztca Dec: mittags um 12 Uhr ein heil. V. U. und ein paar Ave Maria für sie zu beten. Warum werden Sie leicht errathen. Sie wünscht herzlich Ihnen dieses Christliche Liebeswerk recht bald bey einem gleichen Anlaß zu erwiedern. Er beließ es bei diesen etwas formellen Zeilen, sie sollten Sophie nur unterrichten und vielleicht ermuntern, recht bald auf seinen letzten Brief zu antworten. Nach Sophie Brentanos Besuch hatte Wieland das Manuskript des ersten Bandes seines Aristipp wieder vorgenommen und fertiggestellt. Dabei änderte er wahrscheinlich das eine und andere, auch formulierte er bereits Teile des zweiten Bandes. Lütkemüller hat in seinen Erinnerungen berichtet, welche Arbeit sich Wieland mit Korrekturen, Neuformulierungen und Abschreiben machte. So erzählt er, daß Wieland den Oberon viermal eigenhändig abgeschrieben hat. Und zu den Ergänzungen des Agatbon läßt er ihn berichten: „Züweilen noch Correktur über Correktur. Würde ein anderer Abschreiber Alles recht zusammen finden können? Aber gesetzt auch, es fände sich ein solcher: ich würde mich seiner doch nicht bedienen. Er schriebe nur ab, was dasteht, und das ist mir nicht genug. Mein Abschreiben ist Durchkosten, Ausbilden, Vollenden, und daher ein Geschäft, welches mich ganz in Anspruch nimmt. Totus in hoc sum. Jetzt erst finde ich das Rechte, die expression unique, wie die Franzosen sagen, das volle Licht des Gedankens, die angemessenste Schattirung, die oft desto bedeutender ist, je kleiner sie zu seyn scheint. Was von den wenigsten Lesern bemerkt wird, das ist oft das, was guten Schriftstellern die meiste Mühe machte, und die meiste Ehre machen sollte ... Es ist unbegreiflich, was Einem beim ersten Hinschreiben entschlüpfen kann. Ich erschrecke oder lächle darüber. Doch, 80

ersparte sie sich die Übertragung. Wieland schlug nun Sophie vor, diese Briefe, die er „deliziös" nannte, zu übersetzen. Wenige Tage danach sandte Wieland ein kleines Billet an Sophie, mit dem er ihr die bevorstehende Hochzeit seiner Tochter Julie anzeigte. Die jetzt Siebzehnjährige — sie hatte ihren Namen in Erinnerung an Julie Bondely erhalten — sollte Anfang Dezember dem Weimarischen Kammersekretär Carl Wilhelm Constantin Stichling angetraut werden.

Wieland an Sophie Brentano133 Julie bittet ihre geliebteste Sofie künftigen Montag den Ztca Dec: mittags um 12 Uhr ein heil. V. U. und ein paar Ave Maria für sie zu beten. Warum werden Sie leicht errathen. Sie wünscht herzlich Ihnen dieses Christliche Liebeswerk recht bald bey einem gleichen Anlaß zu erwiedern. Er beließ es bei diesen etwas formellen Zeilen, sie sollten Sophie nur unterrichten und vielleicht ermuntern, recht bald auf seinen letzten Brief zu antworten. Nach Sophie Brentanos Besuch hatte Wieland das Manuskript des ersten Bandes seines Aristipp wieder vorgenommen und fertiggestellt. Dabei änderte er wahrscheinlich das eine und andere, auch formulierte er bereits Teile des zweiten Bandes. Lütkemüller hat in seinen Erinnerungen berichtet, welche Arbeit sich Wieland mit Korrekturen, Neuformulierungen und Abschreiben machte. So erzählt er, daß Wieland den Oberon viermal eigenhändig abgeschrieben hat. Und zu den Ergänzungen des Agatbon läßt er ihn berichten: „Züweilen noch Correktur über Correktur. Würde ein anderer Abschreiber Alles recht zusammen finden können? Aber gesetzt auch, es fände sich ein solcher: ich würde mich seiner doch nicht bedienen. Er schriebe nur ab, was dasteht, und das ist mir nicht genug. Mein Abschreiben ist Durchkosten, Ausbilden, Vollenden, und daher ein Geschäft, welches mich ganz in Anspruch nimmt. Totus in hoc sum. Jetzt erst finde ich das Rechte, die expression unique, wie die Franzosen sagen, das volle Licht des Gedankens, die angemessenste Schattirung, die oft desto bedeutender ist, je kleiner sie zu seyn scheint. Was von den wenigsten Lesern bemerkt wird, das ist oft das, was guten Schriftstellern die meiste Mühe machte, und die meiste Ehre machen sollte ... Es ist unbegreiflich, was Einem beim ersten Hinschreiben entschlüpfen kann. Ich erschrecke oder lächle darüber. Doch, 80

es läßt sich so ziemlich begreifen. Man ist zu voll; ein Gedanke jagt den andern, und die Seele schielt, so zu sagen, schon vorweg auf das Folgende. Da läßt's nicht immer klar sehen und richtig urtheilen." 134 Bei diesem „Ausbilden" verbarg Wieland in den einzelnen Briefen Hinweise und Anspielungen, von denen wir annehmen können, daß er hoffte, Sophie möge sie erkennen. Die Figur und das Bild der Lais hat er dabei nicht verändert, nur hier und da hat er die reizenden Züge dieser Frauengestalt ins Anmutsvolle spielen lassen — vielleicht dachte er dann an Sophie Brentano? Während der weiteren Arbeit im November und Dezember quälte ihn die Frage, ob sein Verleger Göschen geneigt sein würde, den Aristipp zu verlegen. „Wet soll Aristipp in die Welt schicken? Göschen kann nicht und mag nicht und gleichwohl hat er durch unsern Kontrakt ein ausschließliches Recht, und ich darf mein Werk keinem andern geben", beklagte er sich Mitte Dezember bei Böttiger135. Doch schon am 2. Januar 1800 versprach Göschen ihm den Druck des Aristipp auf feinem Papier für die Herbstmesse136. Wieland machte sich weiter an die Arbeit, Mitte Januar schrieb er bereits am dritten Buch und sandte dem Verleger am 19. Januar das Manuskript der Briefe des ersten Buches137. Für Sophie wurden die Umstände in Frankfurt zunehmend schwieriger. In den Wochen des November und Dezember war das Verhältnis zwischen ihr und Simon Moritz Bethmann enger und vertrauter geworden, Bethmann zeigte offen seine Neigung, und beide sahen sich im Haus der Brentanos oder bei Gesellschaften in anderen Frankfurter Familien. Andererseits trafen aus Wien regelmäßig Briefe von Herberstein ein, der Sophie seiner Neigung und Liebe versicherte, aber eingehend die Schwierigkeiten beschrieb, die sich einer offiziellen Verbindung entgegenstellten. Vom ersten Tag des neuen Jahres an führte Sophie drei Wochen lang ein Tagebuch, das sie „Mein Jahr 1800" nannte und das eindrucksvoll die Zerrissenheit ihrer Seele offenbart. Moritz Bethmann besuchte sie fast täglich, und sie glaubte sich von ihm geliebt. „B ... war gestern beynah zärtlich" — „Nein länger kann ich nicht zweiflen! B. liebt mich ... konnte sein Blick beredter seyn?" — „Ach! wäre er nie erschienen, dieser gefährliche Moment, wo ich mit schmerzlicher Gewißheit fühlte, was B. mir seyn könnte." 138 Zwischen diesen Höhepunkten einer vermeintlichen Liebesgewißheit empfing sie Briefe von Herberstein aus Wien, der versuchte, sie zu einer Eheschließung zu überreden, und gleichzeitig gestehen mußte, daß seine Familie und seine Freunde dagegen waren. Sophie wollte ihr Versprechen 6

Drude

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ihm gegenüber halten, aber sie sagte sich täglich in ihren Aufzeichnungen, daß die Haltung Herbersteins inkonsequent, unüberlegt und widerspruchsvoll war, und fragte sich, „kann dies meine Zukunft sichern?" 139 Dabei klagte sie sich immer wieder an, daß sie Herberstein verrate, und mußte im nächsten Satz gestehen, daß sie leidenschaftliche Gefühle für Moritz Bethmann nicht verleugnen konnte. Sie hatte Herberstein im Januar im Sinn einer Absage geschrieben und seine verzweifelte Antwort erhalten. Am 12. Januar schrieb sie in ihr Tagebuch: „... ahndet B. wohl den Zustand meiner Seele? — Ich hab ihn gestern nicht gesehen und es war mir beynah lieb. Ich hätte H' Verzweiflung doppelt gefühlt bey seinem Anblick. — In diesen Tagen gedenke ich wohl recht sehnsuchtsvoll meiner guten Mutter. Könnten sie meine Thränen jetzt zurückrufen ..." 140 Eine Woche später brach alles zusammen. Bethmann mußte ihr zu verstehen gegeben haben, daß von seiner Seite aus nur Verliebtheit im Spiel gewesen war und daß er an eine Heirat niemals gedacht habe. „B. liebt mich nicht. — Mich erschüttert dieser Gedanke; aber bald wird es nun besser werden. Ich werde nun ruhiger seyn, sein Kommen und Gehen mir weniger Eindruck machen, sein Bild wird verbleichen, meine Sehnsucht, meine Wünsche, meine heimlichen Träume werden schwinden, Ruhe und Frieden werden in meine Brust zurückkehren, ich werde freier handien." 141 Mit diesen Zeilen brechen die Aufzeichnungen ab, die zeigen, in welcher Krise sich Sophie in diesen Wochen befand. Am Tag vor dem Abschluß ihres „Jahres 1800" schrieb sie an Wieland.

Sophie Brentano an Wieland142 Frankfurt den 18tcn Jenner 1800 Die kleine Sofie war krank zum Sterben, und ist unglücklich wie die Steine; aber wenn Gott und die Welt sie verlassen, so bleibt ihr ein Kleinod, das Allem das Gegengewicht halten wird. Ich küsse hundertmal das theure Papier, ein kostbares Pfand Ihres Wohlwollens, Ihrer väterlichen Liebe, und jeder Blick darauf hebt und adelt mich. Lieber Vater! Ich habe in einer Stunde der Kraft, oder der Verzweiflung, wie Simson die Säulen meiner Luftschlösser ergriffen, und sie über meinem Haupt zusammen gestürzt; glücklich wenn die Trümmer mich auch begraben hätten! Aber da sitze ich einsam und hülflos, übersehe den ungeheuren Schutt, und jammere. — Vieles, vieles liegt 82

ihm gegenüber halten, aber sie sagte sich täglich in ihren Aufzeichnungen, daß die Haltung Herbersteins inkonsequent, unüberlegt und widerspruchsvoll war, und fragte sich, „kann dies meine Zukunft sichern?" 139 Dabei klagte sie sich immer wieder an, daß sie Herberstein verrate, und mußte im nächsten Satz gestehen, daß sie leidenschaftliche Gefühle für Moritz Bethmann nicht verleugnen konnte. Sie hatte Herberstein im Januar im Sinn einer Absage geschrieben und seine verzweifelte Antwort erhalten. Am 12. Januar schrieb sie in ihr Tagebuch: „... ahndet B. wohl den Zustand meiner Seele? — Ich hab ihn gestern nicht gesehen und es war mir beynah lieb. Ich hätte H' Verzweiflung doppelt gefühlt bey seinem Anblick. — In diesen Tagen gedenke ich wohl recht sehnsuchtsvoll meiner guten Mutter. Könnten sie meine Thränen jetzt zurückrufen ..." 140 Eine Woche später brach alles zusammen. Bethmann mußte ihr zu verstehen gegeben haben, daß von seiner Seite aus nur Verliebtheit im Spiel gewesen war und daß er an eine Heirat niemals gedacht habe. „B. liebt mich nicht. — Mich erschüttert dieser Gedanke; aber bald wird es nun besser werden. Ich werde nun ruhiger seyn, sein Kommen und Gehen mir weniger Eindruck machen, sein Bild wird verbleichen, meine Sehnsucht, meine Wünsche, meine heimlichen Träume werden schwinden, Ruhe und Frieden werden in meine Brust zurückkehren, ich werde freier handien." 141 Mit diesen Zeilen brechen die Aufzeichnungen ab, die zeigen, in welcher Krise sich Sophie in diesen Wochen befand. Am Tag vor dem Abschluß ihres „Jahres 1800" schrieb sie an Wieland.

Sophie Brentano an Wieland142 Frankfurt den 18tcn Jenner 1800 Die kleine Sofie war krank zum Sterben, und ist unglücklich wie die Steine; aber wenn Gott und die Welt sie verlassen, so bleibt ihr ein Kleinod, das Allem das Gegengewicht halten wird. Ich küsse hundertmal das theure Papier, ein kostbares Pfand Ihres Wohlwollens, Ihrer väterlichen Liebe, und jeder Blick darauf hebt und adelt mich. Lieber Vater! Ich habe in einer Stunde der Kraft, oder der Verzweiflung, wie Simson die Säulen meiner Luftschlösser ergriffen, und sie über meinem Haupt zusammen gestürzt; glücklich wenn die Trümmer mich auch begraben hätten! Aber da sitze ich einsam und hülflos, übersehe den ungeheuren Schutt, und jammere. — Vieles, vieles liegt 82

2erstört. Jede Aussicht auf die lieblichen Ufer der Donau, bleibt mir auf immer verdeckt. Mein Freund ist künftig nur mein Freund; Hoffnungen, Wünsche, Pläne, alle holde, lachende Träume eines gerührten Herzens, Alles, alles liegt als Opfer zu den Füßen des unerbittlichen Schicksals; ich bin recht arm geworden. — Und doch lieber Vater, ist es nur mein eigenes Werk; aber auf Ihren Beyfall habe ich gerechnet, als ich es zu beginnen wagte. Eines Tages werden Sie gütig meine Rechtfertigung anhören, dann wird mir ein leiser Wink der Billigung, Entschädigung und Lohn seyn für so manche bittere Stunde. Und so wäre er denn ausgelöscht aus der Zahl der Lebenden, der Einzige Sterbliche dem Sie mich gönnen wolten, und ich gehörte nur noch meinem Vater. Wird er diesen gütigen Vertrag noch bestätigen wollen? — Ach! ich komme, ich komme! Mit der ersten Nachtigall, wie Sie selbst einst sagten, ist die kleine Sofie an den Pforten des theuren Osmantinums, ein froher Sprung versetzte mich dann zwischen No 1 und 3, und ich hoffe mein Vater soll mich nie mehr daraus verweisen. — Wie wohlthuend lächelt mir diese Aussicht zu! — Dort wird keine Sorge, keine Reue, keine traurige Erinnerung mich mehr erreichen, ich werde zum erstenmal recht glücklich seyn. Lieber Vater! Wie herzlich freue ich mich darauf! Wissen Sie aber auch wie gütig Sie mich behandlen? Wie sehr mich Ihr großer, prächtiger Brief beglückt hat? Sie sprachen so väterlich vertraut und liebreich mit mir; mein ganzes Herz floß über, als ich die Theuren Blätter erhielt. Es war auf einer kleinen Reise in die große Republik, und dies allein hielt meine Antwort zurück. Umgeben von Bösewichter, Thoren und ihren unglücklichen Opfern, konnte keine heitere Stimmung bey mir währen, jeder fröhliche Ton erstarb auf den Lippen. Gleich nach meiner Zurückkunft ward ich so krank ... Doch dies alles ist vorüber. Mit dem Jahre versenkte ich alle seine Stürme und Wiederwärtigkeiten in die Meerestiefen der Zeit, und die noch übrige so trübe Wintertage, erhelle ich durch die herrliche Frühlingssonne, die ich schon recht künstlich herüber strahlen lasse. Ich bin verlegen, mein Vater, um Ihnen über eine Stelle Ihres Briefes zu reden. Wie kömmt es mir zu, etwas zu verweigern, was Sie mir mit so vieler Güte vorschlagen? Und doch würde der Entschluß dazu, mir unendlich viele Mühe kosten. Eine Arbeit für Sie, für Sie allein, wäre das süßeste Geschäft meines Lebens; aber für alle Welt ... und den Stoff einem halben Diebstahl verdanken ... nein, dazu fehlt mir der 6*

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Muth, selbst wenn Sie mich dazu ermuntern, und dies ist doch warlich! die gefährlichste Probe, auf welche meine Eigenliebe konnte gestellt werden! — Einst, unter Ihren Augen, begeistert durch die heilige Stätte auf der ich wandlen werde, aufgefodert durch ein überströmendes Herz, durch eine freundlich erregte Einbildungskraft, durch die heitere Gesprächigkeit einer ruhigen, glücklichen Laune, einst werde ich Sie bitten über meine müßige Stunden zu schalten, und die unsichere, schwache Versuche einer so ungeübten Mädchen-Feder durch einige Leitung zu erheben. Nichts soll außer den Mauern des Osmantinums kommen; aber ich fühle, daß ich einmal, wann? wo? und wie? ich weiß es nicht, daß ich einmal alle die lebendigen Bilder die so mächtig in meiner Brust haußen, mir selbst anschaulich machen muß, wenn ihre Fülle mir nicht peinlich werden soll. Doch ich will nicht voreilig und vermessen seyn; einst, mein Vater, einst\ ... Noch einen großen Theil Ihres ewig theuren Briefes laß ich unbeantwortet. Ich fühle mich durch Ihr Vertrauen hoch geehrt; aber ich würde desselben unwerth scheinen, wenn ich mir erlaubte auch nur eine Sylbe hinzu zufügen. Sie kennen die Menschen und das Weib; Eine seltene Ausnahme kann sie wohl augenblicklich stutzig machen; aber Sie wissen dann alles sogleich zu würdigen, und jedes steht an seiner Stelle. Ich habe mich recht sehr gefreut, über die Nachrichten von der schönen Laiska; aber ein Bekenntniß muß ich bey dieser Gelegenheit ablegen; und dies ist, daß ich mir nicht denke, wie in ihrem ganzen glänzenden und interessenreichen Leben, noch eine Situation so tief und so lieblich auf mich wirken könnte, als es ihr Verhältniß zu Sokrates gethan hat. — Zarter, feiner, überirdischer, und doch auch menschlicher, kann es nichts geben als diese Schilderung. Mein Vater, wer hat das tausendfädige Gewebe eines weiblichen Herzens so klar und plan vor Ihren Augen ausgebreitet, daß es scheint als hätte es nur einiger flüchtigen Züge Ihrer Feder bedurft, um eine so herrliche Erscheinung wie Lais, mit allen Schattirungen auszumahlen — ? Mir bleibt dies ewig ein Räthsel. — Wer das Glück hat Ihren Umgang zu genießen, für den tragen Sie das Gepräge einer hohen, himmlischen Einfachheit; Ihre Seele scheint sich zart und friedlich nur in sich selbst zu hüllen, Ihr Geist scheint in eigene Glorie versenkt. Alles fremde, kleine, irdische Leben und Weben, scheint nur in der Entfernung an Ihnen vorüber zu ziehen, ohne Spuren zurück zu lassen, und was ja so nahe kömmt daß 84

Ihre Hände es fassen, das schaffen Ihre Blicke um, und theilen ihm Glanz und Würde mit. So wenigstens deuchte mir es; aber Ihre Werke zeugen anders, und Lais vor allem fordert mich auf davon zu reden. Jedes andere Weib von Ihrer Feder geschildert ist mir begreiflicher; die Züge liegen bestimmter am Tage, die Farbenmischung ist einfacher, das Ganze ist leichter zu durchschauen; aber Lais, die feine, liebliche, edle und doch so mädchenhafte Coquette, das große, liebenswürdige Weib, Ihre Lais, so in jeder Grazie nachzumahlen, so auf jeder weiblichen Kunst zu ertappen, so in jedem geheimsten Zug zu erspähen, so mit jenem nahmenlosen Reitz zu schmücken, den man sonst nur fühlen kann, und dem Sie Form und Ton verleihen, das sind tiefe, tiefe Blicke ins menschliche geheimste, verborgendste Leben, und dies mein Vater, ist mir der sicherste Beweis, daß höhere Mächte mit Ihnen in vertrauter Verbindung stehen, und daß Sie in Stunden der Weihe Erscheinungen haben, wie sie die Götter ihren Lieblingen senden. Doch ich stutze selbst über mein kühnes Geplauder. Wie wird es mein Vater aufnehmen, daß ich so vertraut und zuversichtlich von Ihm zu Ihm rede? — Lassen Sie mich ein Wort noch hinzusetzen. Fürsten, Helden und Dichter, hundert tausend große und kleine Männer haben den Wunsch gestillt ihre Empfindungen für Wielanden zu äussern; auch edle Frauen haben ihre Stimmen erhoben, und Vieles und Mancherley hat mein Vater gehöret. Geist und Witz und Scharfsinn werden dabey aufgebothen; Vieles erhöhet wahres Gefühl, überall geht die Bewunderung voran. Aber so in ungeschminkter Herzenseinfalt, so aus kindlich liebendem Sinn, so in wahrer Ergießung kann 'Niemand zu Ihnen sprechen, wie die kleine Sofie, und mein Vater kann dies nicht verschmähen. Ich hätte längst schon an Madame Julie geschrieben, wenn ich nicht wüßte, daß während der Flitterwochen der Brief einer Freundin in einen Abgrund fällt, in welchen ihn die Zeit bedeckt. Doch ich zähle an den Fingern; vom 2 ten Dec: bis zum 2 ten Hornung, sechzig Tage, ja: dann kann ich es wagen, und ich hoffe dann freundlich gehöret zu werden. Meiner gütigen, gütigen Mutter, die mich so liebreich auf und annehmen will, empfiehlt sich kindlichtreu ihre Tochter Sofie; alle Bewohner des theuren Osmantinums grüße ich mit schwesterlichem Herzen, und harre ungeduldig des frohen Wiedersehens. Und Sie mein 85

Vater, empfangen Sie Dank und Segenswünsche, und jeden Ausdruck der liebevollsten Verehrung, in tausend Küssen auf Ihre Väterliche Hand. Sofie. Einen so außerordentlichen Brief hatte Wieland nur selten erhalten. Wir staunen, daß Sophie in den Krisentagen des Januar 1800, über die wir unterrichtet sind, sich zu dieser Sprache aufschwingen konnte. In ihrer ausweglosen Lage hoffte sie, bei Wieland und in seinem Osmantino Trost und Hilfe zu finden. Kein Wort und keine Andeutung fielen über Moritz Bethmann, und die Frage bleibt, ob Wieland zu dieser Zeit etwas von den Gründen ihrer seelischen Zerrissenheit wußte. Nach ihren Worten mußte sie für eine kurze Zeit, wahrscheinlich von Koblenz aus, in Frankreich, in der „großen Republik", gewesen sein, vielleicht in Geschäften des Hauses Brentano. Wielands Vorschlag, die Briefe der Julie Bondely zu übersetzen, lehnte sie behutsam ab. Sie kannte diese Briefe, doch ihr Mittler für ein großes Lesepublikum wollte sie nicht sein. Ihr wichtigstes Anliegen jedoch waren die „Nachrichten von der schönen Laiska", und hier stellt sich die Frage: bezog Sophie diese „Nachrichten" noch auf die Tage in Oßmannstedt oder hatte Wieland ihr in der Zwischenzeit Teile des Manuskriptes in Abschrift zugeschickt. Aus den uns bekannten Briefen ist dazu nichts zu entnehmen, aber Sophies Worte lassen darauf schließen, daß ihr die Briefe, in denen Lais ihre Begegnung mit Sokrates beschreibt, nicht nur vom Vorlesen in Oßmannstedt bekannt waren. Sie bezieht sich in ihren Zeilen an Wieland ausdrücklich auf „Nachrichten von der schönen Laiska". Das könnte auch bedeuten, daß sie diese erhalten hatte. Einen Hinweis gibt uns Lütkemüller, der berichtet, er habe im April 1800 einen Brief von Sophie bekommen, in dem sie u. a. schrieb, sie schaue in „Vater Wieland's Papiere" 143 . Eine weitere Möglichkeit ist, daß Sophie bei ihrem Aufenthalt in Oßmannstedt sich diese Stellen aus dem Manuskript abgeschrieben hatte, um sie für sich zu haben. Wie immer es auch gewesen sein mag, Sophie hat Lais in ihrer Gestalt und ihrem fraulichen Charakter so verstanden, wie Wieland es wollte, und niemand hat dieses „liebende" Verstehen so eindringlich und sprachlich vollendet ausgedrückt wie Sophie in den Zeilen ihres Briefes, die sich im Duktus der Sprachmelodie den Briefen aus dem Aristipp angleichen und ihr Brio aufnehmen. Dieser Zusammenklang wird besonders deutlich, wenn man die Briefe der Lais im Aristipp quasi interlinear mitliest. 86

Im ersten Buch des Wielandschen Romans erzählt Aristipp von seinem Aufenthalt in Athen und seinen Begegnungen mit Sokrates. Daraufhin beschließt auch Lais, nach Athen zu reisen. Und sie berichtet von ihrem Aufenthalt: „Ich säume also nicht, lieber Aristipp, dir vor allen Dingen begreiflich zu machen, wie ich unter den großen Ahorn am Quell des Ilissus gerathen bin. ... Es wird eingepackt, angespannt, ich setze mich ... in den Wagen und rolle davon, von drei wohlbewehrten Dienern zu Pferde begleitet." 144 Kurz vor Athen macht sie Rast und trifft einen alten und einen jungen Mann und kommt mit ihnen in ein Gespräch über Schönheit und Liebe. Dann besteigt sie ihren Wagen und fährt weiter nach Athen „und ließ meine beiden Bewunderer, vermutlich sehr ungewiß, was sie aus mir machen sollten, bald so weit hinter mir, daß ich sie völlig aus den Augen verlor". Von Beginn an wußte sie, wer ihr begegnet war, und sie bleibt in Athen. Täglich trifft sie mit Sokrates zusammen und diskutiert mit ihm und seinen Freunden bis in die Nacht hinein. Um ihr Inkognito zu wahren, hat sie sich als eine Verwandte des Aristipp ausgegeben. „Mein geheimes Liebesverständnis mit dem alten Spötter", schreibt sie an Aristipp, „(denn bis zu Erklärungen über einen so zarten und unaussprechlichen Gegenstand ist es zwischen uns noch nicht gekommen) geht noch immer seinen Gang, und ich schließe aus dem Vergnügen, das ich an seinem Umgang finde, daß ihm der meinige wenigstens ebenso angenehm seyn müsse. Wiewohl er eine Aspasia gekannt hat, glaube ich doch etwas Neues für ihn zu sein; und bei aller seiner anscheinenden Beschränktheit hat vielleicht kein Sterblicher jemals eine allgemeinere Empfänglichkeit und einen reinem Sinn für alles Menschliche gehabt als er." 145 Bei einem Ausflug, den sie mit Sokrates auf die Burg von Athen macht, sprechen sie über die Zeit, da Sokrates noch als Bildhauer arbeitete. Lais wünscht, sie könne die Grazien sehen, an denen er in seiner Jugend gearbeitet hat. „Sie sind es nicht wert von dir gesehen zu werden, versetzte er; ich bin nie mit ihnen zufrieden gewesen; aber seitdem ich deine Grazien kenne, würde ich die meinigen noch zehnmahl steifer und steinerner finden als sonst. — Meine Grazien? sagte ich verwundert: es sind allerdings drei liebliche Mädchen; aber doch — ,Ich rede nicht von deinen Aufwärterinnen, schöne Anaximandra; ich meine deine eigenen Grazien.' — Mache mich nicht stolz, Sokrates; ich dachte nicht, daß du auch schmeicheln könntest. — ,Zum Beweise, daß ich weder schmeichle noch scherze, will ich mich näher erklären. Ich habe, seitdem ich dich kenne, drei Dinge an dir bemerkt, die dich aus allen Schönen, die mir jemahls vorgekommen, auszeichnen, und dir 87

gerade das sind, was der Liebesgöttin die Grazien. Das erste ist ein dir eignes, kaum sichtbares, deinen Mund, deine Augen, dein ganzes Gesicht sanft umfließendes Lächeln, das nie verschwindet, es sey, daß du sprichst oder einem andern zuhörst, auch sogar dann nicht, wenn du etwas mißfälliges siehest oder hörest, zu trauern oder zu zürnen scheinst: das zweite, eine unnachahmlich zierliche Leichtigkeit im Gang und in allen Bewegungen und Stellungen des Körpers, die dir, wenn du gehest, etwas schwebendes, und wenn du in Ruhe bist, das Ansehen giebt, als ob du, ehe man sichs versehe, davon fliegen werdest; eine Leichtigkeit, die niemahls weder an sich selbst vergessende Lässigkeit noch an Leichtfertigkeit streift, und immer mit dem edelsten Anstand und mit anspruchsloser angeborener Würde verbunden ist.' — Eine plötzliche Schamröte ergoß sich, wie er dies mit so viel anscheinender Treuherzigkeit sagte, über mein ganzes Gesicht, bei dem Gedanken, daß ich mit einem so guten und ehrwürdigen Manne am Ende doch nur Komödie spiele. — Gut, rief er, da haben wir deine dritte Grazie! diese holde Schamröte, die Tochter des zartesten Gefühls, die dem Adel deiner Gesichtsbildung und dem Ausdruck des Selbstbewußtseins nichts benimmt, und sich dadurch so wesentlich vom Erröten der kindischen oder bäurischen Verlegenheit unterscheidet. Ein Bildhauer, der Genie und Kunst genug besäße, dieses Uicheln, diese Leichtigkeit und dieses Erröten zu verkörpern und in Gestalt dreier lieblicher Nymfen darzustellen, hätte uns die Grazien dargestellt. Gestehe, Aristipp, daß es keine sehr leichte Sache war, in diesem Augenblicke nicht ein wenig aus meiner Rolle zu kommen. Aber Sokrates selbst half mir ohne sein Wissen wieder hinein. Ich sage dir dies, fuhr er fort, weder um deine Eigenliebe zu kitzeln, noch weil es mir im geringsten schwer gewesen wäre, meine Bemerkungen für mich zu behalten; sondern, weil ich diese Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen möchte, ohne dir die hohe Bestimmung zu Gemüte zu führen, um deretwillen die Götter so viel Schönheit und Würde mit so viel Reiz und Anmut in dir vereinigt haben." 146 Beide setzen sich unter einen Ölbaum vor dem Tempel der Athene Polias, und Sokrates spricht lange in „nicht gewöhnlicher Begeisterung" von Schönheit und Liebe. Lais ist so bewegt, daß sie ihm ihren wahren Namen gesteht. „Sokrates, du siehst Anaximandren jetzt zum letzten Mal, und sie könnte sich nicht verzeihen, dich länger zu täuschen. Ich selbst bin diese Lais, die du unter einem andern Nahmen liebenswürdig gefunden hast, und die dir in diesem Augenblick des Scheidens gesteht, daß sie dich allen Männern 88

vorzieht, die sie jemahls gesehen hat. Sokrates. Deine Aufrichtigkeit, schöne Lais, ist der Erwiederung wert: D u sagst mir nichts neues; schon diesen Morgen wußte ich wer du warst. D u glaubtest ich schwärme; jetzt begreifst du, daß ich bei ruhigem Mute war. Lebe wohl, und erinnere dich zuweilen an den Ölbaum der Po/iasl — Ich konnte mich nicht erwehren, meinen M u n d auf seine Hand zu bücken, und, so wahr mir Urania gnädig sei, eine Träne, glaube ich, fiel auf sie herab. Er drückte die meinige und entfernte sich." 1 4 7 Sophie muß gespürt haben, daß Wieland diese Briefe für sie geschrieben hatte und daß sie gemeint war. Bereits Bernhard Seuffert hatte dies bei seiner Edition der Briefe der Sophie erkannt. Er zitierte Teile dieser Stelle des Aristipp und bemerkte dazu: „ D a s sind poetische Abbilder v o n Scenen aus dem ersten Zusammenleben im O s m a n t i n u m . " 1 4 8 Nach Sophies T o d äußerte sich Wieland anläßlich einer Besprechung des Aristipp in den „Göttinger Gelehrten A n z e i g e n " von Friedrich Bouterwek dazu. Der Rezensent hatte die Frage gestellt, ob der Dichter seine Lais und die anderen Frauengestalten aus der wirklichen Welt genommen oder aus Büchern abstrahiert habe. „Wie schade, daß Sophie Brentano nicht mehr i s t ! " schrieb Wieland an Böttiger. „ D a ß ich ihr diese possierliche Stelle nicht vorlesen konnte! Wie würde sie über den guten Butterweck gelacht, und wie viel Feines und Geistvolles über meine aus der Bücherwelt abstrahierte Lais gesagt haben! E n parenthesi gesagt, aus den Briefen, die ich v o n Sophien habe, ließe sich eine Recension der Lais ausziehen, bei deren L e s u n g Hr. Butterweck ein paar A u g e n machen würde c o m m e un fondeur des cloches, wie die Franzosen sagen. Wie gänzlich könnte ich den ehrlichen armen Wicht niederschlagen, wenn ich ihm das vollgültige Z e u g niß eines so außerordentlichen Mädchens wie Sophie Brentano war, vor die A u g e n stellen k ö n n t e . " 1 4 9 In diesen Januarwochen versuchte Sophie, sich in die neuen, für sie schmerzhaften Verhältnisse ihres Lebens zu finden. Sie schrieb ihrem Bruder Clemens, der seit Dezember wieder in J e n a war, und sie schrieb auch an Wielands Sohn L u d w i g , oder Louis, wie er in der Familie genannt wurde, der auch in J e n a studierte, aber immer wieder T a g e in Oßmannstedt verbrachte. Großmutter L a Roche hätte es gern gesehen, wenn zwischen ihrer Enkelin und dem Sohn Wielands ihre eigene Beziehung zu Wieland sich wiederholt hätte. 89

Anfang der neunziger Jahre war in Frankfurt eine Schauspielgesellschaft auf Aktien gegründet worden, an der sich auch der Kaufmann Johann Jakob Willemer beteiligt hatte. Im Januar 1800 versuchte er, den bekannten Theaterschriftsteller August von Kotzebue für Frankfurt zu interessieren. Seinem Brief an Kotzebue fügte Sophie, die Kotzebue und seine Frau Christel in Weimar getroffen hatte, eine Nachschrift an: „Die liebenswürdige Sophie steht, trotz ihren neu-erweckten Talenten, ein bißchen albern da. Was bleibt mir zu sagen übrig? — Sie schreiben verständig und freundlich über die Sache, W. handelt vorsichtig und gut, ich mach im Stillen fromme Wünsche, und so müßten wir denn abwarten, was da kommen wird? — Vor allen dingen müssen die Aktionärs sich über ihr Vorhaben erklären; geben diese die Sache auf, dann wird W. seinen Entschluß fassen, und hat dieser sich bestimmt (wozu ich ohne Skrupel das meinige beitragen werde), dann reichen Sie sich die Hände, und ich singe ein Tedeum dazu. — Rechnen Sie darauf, daß Sie alsdann eine durchaus wahre Ansicht der Dinge erhalten sollen. W. hat verkehrte Launen und malt dann alles schwarz; ich habe Augenblicke einer seligen Verblendung und sehe dann alles rosenrot; Kotzebue hat einen Schatz an Welt- und Menschenkenntnis und wird schon wissen, was man von beiden muß gelten lassen. W. spricht klug über ihre Reise; wenn ich davon reden sollte, so würde die Freundschaft mich bestechen; indessen muß sich dies bald entscheiden; auch im März kann man Feste feiern. Leben Sie bis dahin recht wohl, und lassen Sie mich der lieben, guten Christel empfohlen sein; Träume und Gurkensalat stehen bei mir in der allerlebhaftesten Erinnerung. Sophie Nota Bene Ihr Opfertod hat mir neulich beinahe das Leben gekostet. Wenn er in der ganzen Welt auch nur zehn Menschen so gestimmt hat wie mich, so freuen Sie sich, daß er geschrieben ist; denn wabrlicb\ ich werde an keinem blassen Gesicht mehr vorübergehen, ohne zu fragen: Bist du ein Maxwell? - " , 5 0 Kotzebue hatte sein Stück Der Opfertod 1798 veröffentlicht, und die Frankfurter Premiere war am 18. Januar 1800 gewesen. Es war ein rühr90

seliges Melodram in drei Akten, wie Kotzebue und andere Autoren der Zeit es vielfach schrieben. Ein Londoner Kaufmann, Robert Maxwell, wird durch den Bankrott eines anderen in bitterste Armut gestürzt und sieht sich und seine Familie dem Hunger preisgegeben. So beschließt er den eigenen „Opfertod" und stürzt sich in die Themse, um seiner Frau eine neue Verbindung mit einem reichen Kaufmann zu ermöglichen, der schon vor ihrer Ehe mit Maxwell um sie geworben hatte. Er wird aus dem Wasser gerettet, und ein reicher Weinhändler, der wenige Tage zuvor seinen einzigen Sohn durch einen Unfall verloren hat, ist von der Opfertat Maxwells so erschüttert, daß er ihn an Sohnesstatt annimmt, und damit steht einem glücklichen Ende nichts mehr entgegen 151 . Von dem Geschehen und der Handlung dieses Schauspiels fühlte sich Sophie in ihrer Situation stark betroffen. Die Entscheidung Robert Maxwells, mit seinem Tod das Lebensglück derer zu garantieren, die er liebte, hatte sie so „gestimmt", daß sie Parallelen zu ihrem Verzicht auf Herberstein, zur Täuschung durch Bethmann verspürte. In den ersten Februartagen antwortete Wieland auf Sophies langen und bedeutungsvollen Brief. Seine Worte wirkten wie eine Arznei, versprachen sie doch Liebe, Geborgenheit und Ruhe.

Wieland an Sophie Brentano^1 (Oßmannstedt, den 5. Februar 1800) Wie reichlich, liebste Sophie, haben Sie mich für ein Stillschweigen, das meiner Ungeduld fast zu lange werden wollte, durch Ihren Lieben Brief vom 18ten Jenner entschädiget! Aber wie schwer an Inhalt ist er auch, dieser Brief, und welch ein Buch müßte ich Ihnen zurück schreiben, wenn ich mich aller Gefühle und Gedanken entledigen wollte, womit er mein so innig an Ihnen theilnehmendes Herz überladen hat!! Sie sind krank, sehr krank gewesen, meine liebste Tochter, und ich wußte nichts davon, ahnete nichts davon; so sehr läßt sich der wunderbare Genius, dessen verzärtelter Zögling ich bin, angelegen seyn, mich zu schonen — denn in der That weiß ich nicht, wie ich die Zeit zwischen einer Nachricht, daß der Liebling meiner Seele dem Tode nahe sey, und der Gewißheit, daß die Gefahr glücklich vorüber sey, ausgehalten hätte. 91

seliges Melodram in drei Akten, wie Kotzebue und andere Autoren der Zeit es vielfach schrieben. Ein Londoner Kaufmann, Robert Maxwell, wird durch den Bankrott eines anderen in bitterste Armut gestürzt und sieht sich und seine Familie dem Hunger preisgegeben. So beschließt er den eigenen „Opfertod" und stürzt sich in die Themse, um seiner Frau eine neue Verbindung mit einem reichen Kaufmann zu ermöglichen, der schon vor ihrer Ehe mit Maxwell um sie geworben hatte. Er wird aus dem Wasser gerettet, und ein reicher Weinhändler, der wenige Tage zuvor seinen einzigen Sohn durch einen Unfall verloren hat, ist von der Opfertat Maxwells so erschüttert, daß er ihn an Sohnesstatt annimmt, und damit steht einem glücklichen Ende nichts mehr entgegen 151 . Von dem Geschehen und der Handlung dieses Schauspiels fühlte sich Sophie in ihrer Situation stark betroffen. Die Entscheidung Robert Maxwells, mit seinem Tod das Lebensglück derer zu garantieren, die er liebte, hatte sie so „gestimmt", daß sie Parallelen zu ihrem Verzicht auf Herberstein, zur Täuschung durch Bethmann verspürte. In den ersten Februartagen antwortete Wieland auf Sophies langen und bedeutungsvollen Brief. Seine Worte wirkten wie eine Arznei, versprachen sie doch Liebe, Geborgenheit und Ruhe.

Wieland an Sophie Brentano^1 (Oßmannstedt, den 5. Februar 1800) Wie reichlich, liebste Sophie, haben Sie mich für ein Stillschweigen, das meiner Ungeduld fast zu lange werden wollte, durch Ihren Lieben Brief vom 18ten Jenner entschädiget! Aber wie schwer an Inhalt ist er auch, dieser Brief, und welch ein Buch müßte ich Ihnen zurück schreiben, wenn ich mich aller Gefühle und Gedanken entledigen wollte, womit er mein so innig an Ihnen theilnehmendes Herz überladen hat!! Sie sind krank, sehr krank gewesen, meine liebste Tochter, und ich wußte nichts davon, ahnete nichts davon; so sehr läßt sich der wunderbare Genius, dessen verzärtelter Zögling ich bin, angelegen seyn, mich zu schonen — denn in der That weiß ich nicht, wie ich die Zeit zwischen einer Nachricht, daß der Liebling meiner Seele dem Tode nahe sey, und der Gewißheit, daß die Gefahr glücklich vorüber sey, ausgehalten hätte. 91

Ich erschrecke vor dem bloßen Gedanken; und noch izt, da mich Ihr Brief glauben heißt, daß Sie Sich, dem Leibe nach wenigstens, wieder wohl befinden, ist mir doch, ich könne u dürfe nicht eher ganz ruhig seyn, bis ich Sie wieder unmittelbar unter meinen Augen habe. Und dazu, beste Sophie, machen Sie mir nicht nur Hoffnung, sie reden sogar davon als von einer ausgemachten Sache. Wolle der Himmel nicht, daß es bloß in einem kleinen Anfall von Schwärmerey geschehen sey! Liebes, liebes Kind! Ich fürchte, Sie wissen nicht, wie schmerzlich es mir seyn würde, mir die Erfüllung meines angelegensten Wunsches — und eine so nahe Erfüllung — als gewiß vorzustellen, und mich dann getäuscht zu sehen. Versprechen Sie mir nichts, lieber Engel, als was Sie gewiß, völlig gewiß sind, halten zu können. Doch nein! wenn es Ihnen wohl thut, sich als eine Bewohnerin des armen einsamen Oßmantins zu denken, wenn die Vorstellung unter den Augen eines liebenden Vaters, einer zärtlichen Mutter, in einer Familie guter anspruchsloser Kinder der Natur zu leben, und, wenigstens so lang es Bedürfniß für Ihr Herz seyn kann, die Welt in unsrer ländlichen Abgeschiedenheitt zu vergessen, wenn in dieser Vorstellung auch nur einige Heilkraft für die Wunden Ihres Herzens ist, so überlassen Sie Sich ihr ganz, ohne Rücksicht auf mich. Denn für mich hat die Natur selbst schon durch den Unglauben gesorgt, womit sie mich beynahe zu reichlich ausgestattet hat. Die Vorstellung, daß Sie diesen nächsten Frühling wieder zu uns kommen, bey uns wohnen, mit uns leben, und durch Ihre Gegenwart unser bäurisches Oßmantinum in ein Tempe, in ein Elysium verwandeln werden, ist der schönste, lieblichste, süßeste Traum, den meine Seele je geträumt hat; ich ergötze mich an ihm, ich hänge ihm nach, schlafe mit ihm ein und erwache wieder mit ihm, rede mit Dorotheen täglich davon als von einer nahe bevorstehenden Sache, und doch — liebste Sophie, doch glaube ich kein Wort davon, und werde es nicht eher glauben bis ich Sie, bey völliger Gewißheit daß ich wache, mit meinen Augen gesehen, die so sanft über mein Ohr hingleitende Musik Ihrer Stimme gehört, und Sie mit beiden Armen an mein Herz gedrückt haben werde. Denn auch dies ist nöthig, damit ich nicht alles andre für eine bloße Erscheinung halte. Aber in vollem Ernst, meine holde Freundin! Sollte es wirklich in Ihrer Gewalt seyn, einen so schönen Traum wahr zu machen? Werden Ihnen keine abschreckenden Hindernisse in den Weg gelegt werden? Werden Sie, um Sich, da wo Sie sind, los zu machen, kein Band wider Ihren Willen zerreissen müssen? 92

Haben Sie alles überlegt! Kommt es wirklich bloß auf Ihren Willen an?—Weil ich, allem meinem Sankt Thomasmäßigen Unglauben (zum Trotz) 153 , doch im Innersten meines Herzens ein immer reges unauslöschliches Verlangen hege, den Glauben (wie man zu sagen pflegt) in die Hand zu bekommen, so will ich Ihnen nur (wiewohl ganz leise) gestehen, daß ich nichts eifriger wünsche, als in Ihrem nächsten Briefe eine förmliche Bestätigung davon zu finden, daß Sie gewiß kommen werden; und habe ich diese erst, dann, liebstes Töchterchen, wollen wir uns fest in den Kopf setzen es werde geschehen, und wollen mit Ernst auf die kleinen Anstalten denken, die wir, um doch auch das Unsrige dabey zu thun, zu machen haben werden. Also izt nur noch Eins. Wenn der Paradiesische Traum — kein Traum ist, wenn unsre so innig geliebte Sophie leibhaftig mitten unter uns seyn wird, so betrachten wir, ich und Dorothea, sie als meinen guten Engel, der mit Beybehaltung seiner eigenen Gestalt, sein ätherisches Wesen nur mit so viel irdischen Stoff legiert hat, daß er uns sichtbar, hörbar und fühlbar werden kann, und gekommen ist, mir durch die schönsten, reinsten und zartesten Verhältnisse, worin jemahls zwey geistige Wesen mit einander gestanden, ein Vorgefühl des höhern Lebens, dem ich immer näher rücke, zu geben, und mich noch im spätesten Herbst dieses Erdenlebens so glücklich zu machen, als ich es zu seyn fähig bin. Aber dies alles, Beste Sophie, soll Sie zu nichts verbinden. Sie sollen sich immer als frey betrachten, und der holde Engel soll, sobald es ihm beliebt, seine goldnen Fittige ausspannen und davon fliegen dürfen, ohne sich darum zu bekümmern, wie uns dabey zu Muthe sey. Kurz, Sie bleiben ewig bey uns, wenn Sie bleiben bis wir wünschen daß Sie uns verlassen möchten: aber Sie sollen, ohne allen, selbst den leisesten Zwang, kommen und gehen und wiederkommen und wiedergehen dürfen, wie Ihr liebes Herz es Ihnen eingiebt, und das Glück, so Sie uns gewähren, soll Ihnen nie keinen Augenblick Reue kosten. — Und nun, noch einmahl, Liebe Sophie; lassen Sie sehen, was Sie können, und ob man Ihnen freye Macht und Gewalt lassen wird, die schönste That Ihres Lebens zu thun, indem Sie etliche Hundert Paradiesische Tage zu dem Leben Ihres alten adoptiven Vaters hinzuthun wollen. So viel für diesmahl von unserm — Traum. Ich habe noch nicht den Muth, den wichtigsten, unerwartesten und schmerzlichsten Theil Ihres Briefes zu berühren. Alles was ich Ihnen izt davon sagen kann, ist: auch dies ist mir nur wie ein böser Traum: mir 93

ist immer es könne nicht wahr seyn und müsse noch anders werden — Und dennoch — Aber, wie gesagt, es muß noch mehr Zeit verflossen seyn, bis ich Ihnen sagen darf, wie sehr ich Sie bewundere, und Ihn bedaure. Es ist zuviel! — Wie schön, edel und groß die Tochter meines Herzens jemahls in irgend einer Lage, irgend einer Kollision von Verhältnissen und Pflichten handeln wird, nie wird es mehr sein, als ich ihr zutraue. Von dieser Seite kann sie mich nie überraschen. Eine Stelle von 6 Zeilen ist in Ihrem Briefe, um derentwillen ich in Gedanken vor Ihnen knie. Wenn Sie nicht ein wirklicher Engel im eigentlichen Wortverstand, sondern ein wirkliches weibliches Mädchen sind, was für eine hohe, alle meine bisherigen Ideale übertreffende Idee geben Sie mir von dem Zartgefühl und der sittlichen Grazie, die diesseits des Mondes nur einer weiblichen Seele eigen seyn können! Von Aristipp und Laiska ein ander Mahl, da es mir izt an Zeit gebricht. Ich habe Ihnen viel Neues vorzulesen, aber der Hauptpunkt ist, daß ich mich mit Ihnen über Etwas sehr wesentliches zu berathen habe: denn ich befinde mich mit dieser wundervollen Laiska in einem Labyrinth, woraus Sie allein mich glücklich herausführen können. Ein Beweggrund mehr, warum Sie mit der ersten Nachtigall, wo möglich, kommen sollten! Denn sehr lange läßt sich die Sache nicht aufhalten. Aber wissen Sie auch, liebes Kind, daß ich von allen den schönen Sachen, die Sie mir aus Gelegenheit dieser L. sagen, ein wenig, ich besorge sogar nicht wenig, aufgeblasen bin? — Möchte ich nur um 10 Jahre jünger seyn; das Verlangen einem Geist wie der Ihrige genug zu thun, und die Magie Ihrer Seele über die Meinige, sollten noch Wunder thun! Ich muß die Feder nieder legen. Leben Sie wohl, liebste beste Tochter! Beruhigen Sie mich bald über Ihre Gesundheit. Möchte jede meiner Empfindungen für Sie, jeder meiner Wünsche für Ihre Ruhe u Zufriedenheit ein Genius werden, der Sie unter seine Flügel nähme, und nichts widriges sich meinem Liebling nahen ließe! Wieland.

Osmantin. 5 Februar 1800.

Künftig etwas über Louis, den Sie, wenn er noch in O. seyn sollte, merklich zu seinem Vortheil verändert finden würden. Izt nur ein 94

Wort des Danks für den schönen herrlichen Brief, den er vor kurzem von seiner guten u weisen Schwester empfangen hat. Seit Dezember 1799 lebte der einundzwanzigjährige Clemens wieder in Jena. Sein Verhältnis zu Sophie Mereau war schwierig geblieben, er fühlte sich krank, und Ende Februar 1800 schrieb er an die Schwester in Frankfurt: „Man spricht hier und in Weimar häufig davon, daß Du zum alten Wieland gehen würdest, und bald. Warum schreibst Du mir keine Silbe von dem? Der alte Wieland muß nicht mehr recht schweigen können, denn der junge Bertuch hat mir auf dem Markte gesagt, Du heuratest den Grafen nicht, die Leute wissen so viel, was mich nichts und sie nichts angeht." 1 5 4 Sophie sehnte sich, Frankfurt zu verlassen, und hoffte, bei Wieland in Oßmannstedt Ruhe und Geborgenheit zu finden. Anfang März schrieb sie ihm:

Sophie Brentano an WielandX5S Frankfurt den l m Merz 1800. Nicht einen Ton des Entzückens, nicht eine Sylbe des Danks wird mein Vater hören, über die herrlichen Blätter die mich so reich, so unendlich reich gemacht haben; aber mein Herz hat sich daraus einen Himmel gebaut, in dem allein es künftig seine Heymath finden wird. — Lieber, lieber Vater! Nie hat es ein dankbareres, zärtlicheres Herz gegeben, als das Ihrer Tochter Sofie; nie ist Ihre Güte in einem weicheren, empfänglicheren Gemüthe aufgenommen worden; nie haben Sie irgend ein Wesen so angezogen, so erfüllet. — Glauben Sie nicht daß ich zu beklagen sey: wie viel ich auch verloren haben mag; wie manches ich auch künftig, nach der Meynung des großen Haufens, entbehren werde, so ruht dennoch Segen auf mir, der mich beneidenswerth macht. Ein jedes Wort aus Ihrem Munde, mein Vater, erneuert ihn, und ich biethe der weiten Schöpfung Troz, ein Wesen aufzuweisen, daß sein Looß so hoch achtet, als ich. Ob ich kommen werde? So fragt mein Vater, meine gütige Mutter. Würde ich es wohl gewagt haben, so zuversichtlich um die B e s t ä t i gung Ihrer Erlaubniß zu bitten, wenn ich nicht in dem Falle wäre sie ohne Anstand benutzen zu können? — Ich weiß es, mein Vater würde 95

Wort des Danks für den schönen herrlichen Brief, den er vor kurzem von seiner guten u weisen Schwester empfangen hat. Seit Dezember 1799 lebte der einundzwanzigjährige Clemens wieder in Jena. Sein Verhältnis zu Sophie Mereau war schwierig geblieben, er fühlte sich krank, und Ende Februar 1800 schrieb er an die Schwester in Frankfurt: „Man spricht hier und in Weimar häufig davon, daß Du zum alten Wieland gehen würdest, und bald. Warum schreibst Du mir keine Silbe von dem? Der alte Wieland muß nicht mehr recht schweigen können, denn der junge Bertuch hat mir auf dem Markte gesagt, Du heuratest den Grafen nicht, die Leute wissen so viel, was mich nichts und sie nichts angeht." 1 5 4 Sophie sehnte sich, Frankfurt zu verlassen, und hoffte, bei Wieland in Oßmannstedt Ruhe und Geborgenheit zu finden. Anfang März schrieb sie ihm:

Sophie Brentano an WielandX5S Frankfurt den l m Merz 1800. Nicht einen Ton des Entzückens, nicht eine Sylbe des Danks wird mein Vater hören, über die herrlichen Blätter die mich so reich, so unendlich reich gemacht haben; aber mein Herz hat sich daraus einen Himmel gebaut, in dem allein es künftig seine Heymath finden wird. — Lieber, lieber Vater! Nie hat es ein dankbareres, zärtlicheres Herz gegeben, als das Ihrer Tochter Sofie; nie ist Ihre Güte in einem weicheren, empfänglicheren Gemüthe aufgenommen worden; nie haben Sie irgend ein Wesen so angezogen, so erfüllet. — Glauben Sie nicht daß ich zu beklagen sey: wie viel ich auch verloren haben mag; wie manches ich auch künftig, nach der Meynung des großen Haufens, entbehren werde, so ruht dennoch Segen auf mir, der mich beneidenswerth macht. Ein jedes Wort aus Ihrem Munde, mein Vater, erneuert ihn, und ich biethe der weiten Schöpfung Troz, ein Wesen aufzuweisen, daß sein Looß so hoch achtet, als ich. Ob ich kommen werde? So fragt mein Vater, meine gütige Mutter. Würde ich es wohl gewagt haben, so zuversichtlich um die B e s t ä t i gung Ihrer Erlaubniß zu bitten, wenn ich nicht in dem Falle wäre sie ohne Anstand benutzen zu können? — Ich weiß es, mein Vater würde 95

mir nicht vergeben, wenn ich um des schönsten Genusses willen, irgend eine Pflicht auch nur zum Schein verletzte; aber meine Verhältniße sind so sonderbar gelößt und verworren, daß mein ewiges Gehen und Kommen, wenn es ja wirkt, nur Gutes wirken kann. Ich lasse hier nur ein Wesen zurück, das mir mit wahrer Trauer nach sehen wird, und dies ist meine jüngere Schwester, dieselbe die Sie auf einen Augenblick in Weimar sahen. Sie allein wird meine Abwesenheit fühlen, und um ihretwillen allein werde ich im Osmantinum keinen festen Fuß haben. Kann mein Vater dies mißbilligen? — Nun fühle ich wohl auch, daß ich fragen sollte: Wann darf ich kommen? — Aber dies allein hängt nicht von meiner Willkühr ab. — Sie wissen, mein Vater, uns armen Weibern die keines Mannes sind, werden auf Weg und Steg sehr scharfe Blicke nachgeschickt, und wenn auch das Ziel einer Wanderung ein Osmantinum ist, so muß doch auch der Zwischenraum auf eine solche Art zurück gelegt werden, daß der allezeit rege Spott diesen Weg zu meinem Himmel nicht mit einer irrenden Ritterschaft vergleichen könnte. Ich erwarte also vom guten Geschick und meiner Sorgfalt eine passende Begleitung, und sobald diese ausgefunden ist, so werde ich in der Freude meines Herzens fragen: Darf ich nun? — Daß dies alles sobald als möglich geschehen möge, dazu fordert mich jetzt mehr als jemals der Gedanke auf, daß die kleine Sofie gewürdigt ist, von und über die schöne Laiska zu sprechen. Lieber Vater, schrieben Sie wirklich ohne Sorgen die prächtigen Zeilen hin, die Ihrer Feder bey meinen Äusserungen über dies Werk entfloßen sind? — Winkte Ihnen nicht mein Genius zu: Sie wird schwindeln, sie wird fallen? — In der That glich meine freudige Rührung darüber einem Rausch; aber es war der lieblichste, wohlthuendste der je eines Sterblichen Kopf und Herz verwirret hat. Ich fühlte mich so geehrt, so beglückt, so gesegnet aber mitten in diesem stolzen Selbstgefühl, erwachte schnell und mächtig der Gedanke: Wird mein Vater immer so denken? — Wie ein Talisman wird diese ernste Frage mich überall begleiten, und weh mir! wenn ihre Wiederholung mit einmal peinlich werden könnte! Nein: bey der Güte mit der Sie Ihre Tochter überhäufen, habe ich es gelobt, ich will gut bleiben, und besser werden, und trefe ich auf diesem Wege Mängel und Übel, so wird ein Blick auf Ihre Zeilen mich zur Heldin zaubern. So wirken Ihre Worte auf mich, mein Vater, und wenn einst, wo? und wie? es auch seyn mag, irgend eine höhere Macht mit Ihnen rechtet, 96

so wird der stille, wunderbare Einfluß den Sie auf mich haben, ein lichter Punkt in der Waagschale seyn. — Ich gestatte mir nicht zu schwärmen, über mein Kommen zu Ihnen, zu meiner gütigen Mutter, und allen Lieben in Oßmannstädt. Auch mir scheint es oft ein Traum. Nicht weil es keine Wahrheit seyn mögte, sondern weil diese Wahrheit zu schön und glänzend ist, als daß es mir möglich wäre sie wirklich zu fassen. Und doch wird es so seyn, Lieber Vater 1 An Ihrer Seite, unter Ihren Blicken, von Ihren Worten werde ich leben, ein doppeltes, zehnfaches Leben für alle Zeiten meines Daseyns. Ja: ich fühle das reine, zarte, himmlische dieses Verhältnisses, wie Sie sagen; ich verstehe es, und alles was mir fehlt um dessen werth zu seyn, das wird es selbst mir geben. Ich breche ab, mein Vater, weil kalte Worte mich erstarren, wann meine Empfindungen einmal die Linie überfließen, die ich ihnen nicht ohne Kampf und Mühe vorgezeichnet habe. Mein Schicksal steht in einem sonderbaren Mißverhältniß zu meinem eigenthümlichen Wesen, und mein Bestreben eines nach dem andern zu bilden übersteigt bisweilen meine Kräfte. Daher die verschiedene Ansichten die meine Handlungsweise biethet; daher der seltsame Vorwurf der Kälte und der Selbstsucht, den selbst Louis mir nicht schenken konnte. Sie allein, mein Vater, o! gesegnet sey diese Fügung! Sie allein sahen tiefer als Alle. Soll ich nicht jubeln? Ich habe einen Brief gelesen, den Sie meiner Großmutter schrieben, als mein Schweigen mich in Ihren Augen verdammen mußte. Alles was Sie damals für mich sagten, ist jetzt berichtigt, und ich erwähne dieses Briefes nur, um Ihnen die Güte meiner Großmutter zu rühmen, die wohl weiß, welchen Werth jeder Zug Ihrer Feder für mich hat. Mir dünkt ich muß hinzusetzen, daß es mir nicht möglich ist, dieses Vertrauen, so sehr es mich gerührt hat, zu erwiedern. Ist es Stolz, ist es Geiz, ist es Demuth, ich kann Ihre Briefe nicht mittheilen. Nur wenige, kaum mehr als Zwey, erlangen Blicke hinein; ich kann Ihre Güte vor Zeugen nicht ertragen. Ist Juli zufrieden und glücklich? Werde ich alle finden, wie meine Freundschaft es wünscht? — Wird meine Mutter mich immer fort lieben, und nennt mein Vater mich manchmal noch, die Tochter seines Herzens? - So frage ich wohl oft im Stillen, und jetzt da meine Feder es ausplaudert, wird eine tröstliche Antwort mich beruhigen? — Leben Sie wohl, mein Vater, mein Stolz, meine Freude! Giebt es 7

Drude

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den keinen Genius, keinen Sylfen, keinen Engel, der meine Wünsche, meinen Dank, meine Segnungen bis zu Ihnen trüge? .. — Dieser Brief spiegelt deutlich Sophies verworrene Seelenlage. Sie verströmte ihr ganzes Gefühl in den Zeilen und erschrak dann über ihre eigenen Worte, die ihr plötzlich fremd und kalt erschienen. Sie fühlte sich von ihrer Umgebung mißverstanden, nur bei Wieland spürte sie Sicherheit, er wußte, daß ihre vermeintliche Kühle und Distanz ein letzter Versuch waren, sich vor weiteren Verwundungen ihres Inneren zu schützen. Ihr Brief war ein einziges Auf und Ab, sie war glücklich in dem Gedanken, bald in Oßmannstedt zu sein, dann wieder fürchtete sie, dem Anspruch Wielands nicht zu genügen. Frankfurt hielt sie nicht mehr. Aber irgendwie hoffte sie wohl immer noch auf eine Wende im Verhalten von Moritz Bethmann und ersehnte ein Zeichen, das ihr sagen würde, daß er sie liebte. Im Februar hatte sie an Clemens in Jena geschrieben, er antwortete in einem langen Brief, in dem er versuchte, das Wesen der Schwester zu verstehen. Nur zwei Jahre jünger, war er ihr in vielen Zügen sehr ähnlich. Beide hatten lange Jahre der Kindheit zusammen verbracht. Clemens liebte die Schwester, und mit nur leicht verhüllter Eifersucht wachte er darüber, daß ihm niemand diese Liebe streitig machte. „Liebe Sophie", schrieb er ihr im März. „Wenn sich aus unsrer Liebe oder Freundschaft ein Wesen bilden könnte, und wäre es auch nur ein mythologisches, so wäre es sicher das vollkommenste. Wir sind Wesen von der Art, die am weitesten entfernt sind, ich möchte sagen, wir stehn an den zwei Enden des Lebens und werden nie ganz glücklich sein. Du nimmst alles in Dich, und ich gebe alles hin. Du wirst von dem Leben durchströmt, und ich durchströme es." Sophie hatte ihm in einem kurzen Brief im Februar seine Launenhaftigkeit vorgeworfen. Er versuchte, ihr sein Wesen zu erklären: „Liebe Sophie, meine Launen sind eigentlich weit unter mir und dadurch leider ganz außer aller Acht und Zucht meines Herzens. Es ist mir bis itzt oft sehr schmerzhaft gewesen, daß Menschen, denen ich mein Herz wundersam unschuldig entfaltet habe, mit einer sonderbaren Ängstlichkeit um meine Launen herumspazierten; und so lange Du daran Dich stoßest, so lange waltet mir von Deiner Seite kein glückliche* Augur über unsrer Freundschaft. Du bist ein vortreffliches Mädchen, aber ich glaube, der müßte vor Deinen Augen ertrinken, den Du nicht retten könntest, ohne Dein 98

weißes Röckchen bis übers Knie in die Höhe zu heben." Dann erzählte er ihr von Sophie Mereau und von sich selbst. Und immer wieder versuchte er, die Schwester verstehend zu sehen. „Mein Verhältnis mit Dir ist in seinem innern Zusammenhange eben so doppelt, so freudig und so schmerzlich für mich . . . . Du bist in Dir, in Deiner Seele, in Deiner Einzelheit so vollendet abgeschlossen, daß der Begriff von Dir der Begriff eines Ideals im einzelnen wird. So stehe ich denn vor Dir als einem schönen Kunstwerke, einer möglichen Vollendung der rohen, fremden Natur, die, unbeseelt und unerschaffen, nur wenn das Aug des Menschen sie mit seinen schöpferischen Strahlen zu stiller Rührung und sanfter Freude belebt, zu uns spricht. Wie vor einem Kunstwerk, in dem die Natur glücklich und rein in die Form unsrer Aehnlichkeit getragen ist, stehe ich vor Dir und liebe Dich so heftig, wie ich die Schönheit heftig liebe." Er berichtete ihr, daß er kürzlich in Oßmannstedt gewesen war und mit Louis die Plätze tauschen wollte. Wielands Sohn würde seine Stube in Jena beziehen, und er derweilen in Oßmannstedt wohnen. Und dann nahm er ihre Mitteilung auf, daß sie sich entschlossen habe, Frankfurt zu verlassen, um nach Oßmannstedt zu gehen. „Deine Idee zu Wieland zu gehen, ist recht gut. Hier, dies ist das erste Mal, daß ich von Dir begehre, nicht compromittiert zu werden. Ich kenne die fast übertriebene Heimlichkeit mit allem, was Du schreibst, Dein Vertrauen liegt hinter Schlosserkunststücken vergraben. Wie kannst Du einem der schwächsten Männer eine Menge Dinge vertrauen, die Deiner stolzen Jungfräulichkeit wichtige Zeitgenossen und seinem kindischen Alter Kindergeheimnisse sind. Oder ist Dir Dein Sinn nicht mehr so incognito, und soll man vieles wissen? Uebrigens, Sophie, wollte ich Dir handgreiflich beweisen, daß Du bei Deinen Kenntnissen und Deinem Geiste die größte Schwärmerin bist, ich möchte gerne alles, wie es sein sollte, und sehe es, wie es ist, Du aber siehst alles ganz anders an, als es ist. Ich verehre den alten Wieland sehr als Erscheinung mit allen Tugenden und Sünden eines Dichters auf einem einzigen Punkt. Aber wirklich, Liebe, Du mußt geblendet sein; denn was izt ein Herz und eine Seele bedarf, das kann er nicht geben, denn er ist am Zeitbedürfnis gescheitert. 7*

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Und doch bin ich innig an den freundlichen, guten Greis gezogen, neben dem ich mit einem wundersamen Gemische von Bewunderung und Mitleid stehe. Ich hoffe viel von ihm zu lernen, und am mehrsten von der Bibliothek. Für Louis ist es äußerst nötig von Haus zu kommen, damit ihm gleichsam der Knoten bricht. Dieser Mensch, der die Gabe nicht hat, sich so mitzuteilen, daß er seine Meinung leise hinüberspinnt, stößt seinen Vater ewig vor den Kopf, dieser versteht ihn nicht und behandelt ihn dann nach gewohnter alter Biederkeit etwas massiv, dies kränkt den Sohn, und er wird täglich verstockter. In Jena in dem Zirkel, der jetzt um mich lebt, wird ihm sicher geholfen. Ich bitte Dich innig, Sophie, lasse Dir nicht Deine Geistesbildung je durch Wieland allein bestimmen, du kömmst höchstens zu einer selbstzufriedenen Einseitigkeit, und wem wie Dir nur so wenig von der Liebe wird, der muß mit dem Kopfe leben. Etwas habe ich von Herberstein gehört, und darum verdient er Dich nie zum Weib. Er liebt Göthen, Schiller nicht, aber Wielanden grenzenlos, pfui! das ist schrecklich, Herr Graf!.... Auf Dein kleines Zettelchen, in dem nichts steht, und das mich unendlich glücklich gemacht hat, hast Du nun zwei lange Briefe, die Du vermutlich wegwirfst, von einem Menschen, der Dich richtiger beurteilt als alle die liebenswürdigen, die um Dich stehen, und der Dich mehr liebt als Deiner Liebe bedarf, weil sie fast nie ein Genuß werden kann. Was Du an Louis geschrieben hast, ist mir gestohlen. Mir nichts, und diesem Fremdling, der Dich höchstens für eitel hält, schreibst Du Ermahnungen und einige allgemeine Ideen vom weiblichen Geschlechte, von dem er nichts als das männliche unterscheiden kann. Ich finde in Deinem Briefe an Louis etwas sehr Unnötiges, liebe Sophie, und etwas, was seine Idee von Dir sinken macht und Dir gewiß nicht lieb ist, es ist Dein kalter Hofmeisterton. Louis läuft mit den Augen höchsten durch Deine Briefe, wie ein Seelen-Hypochonder über eine Nelkensammlung etwas erfrischt sehen kann, aber wenn die Nelken ihn hofmeistern wollten, wenn die Lippen der Blumen trockne kalte Sentenzen von sich hören lassen, dann sind sie verwelkt; denn der Geist der Rose ist, daß sie blüht, und die einzige ausgesprochen so genannte Weisheit der Blume ist das Memento mori des Verwelkens. Drum läßt es Dir sehr unnatürlich. Auch wirst Du Louis wohl nicht bessren können, denn er glaubt Dich zu übersehen Wenn es möglich ist, Sophie, so komme nach Oßmannstädt, Du weißt nicht, wie glücklich ich sein würde, einmal die lange Allee herunter100

zugehen und über Dich zu weinen, wenn Du mich verhöhnt hast. Gott was bin ich für ein undeutlicher Mensch! ich lese die vorhergehenden Zeilen und sehe, daß Du sie als eine Beleidigung aufnehmen könntest, nein, es soll nur heißen, daß ich doch recht glücklich sein würde, wenn ich auch weinen müßte, daß Du pädagogische Experimente mit mir machen willst, der der Erde nur zu sehr entwachsen ist." 156 Am 29. März antwortete Sophie ihrem Bruder, konnte jedoch erst am 8. April ihren Brief beenden und mit den Worten als „seine treue zärtliche liebevolle Schwester, die kalte engherzige egoistische Sophie" unterzeichnen 157 . Inzwischen war Clemens nach Oßmannstedt gekommen. Er und Wielands Sohn Louis hatten sich in Jena kennengelernt und beschlossen, für eine Weile die Wohnungen zu tauschen. Wieland stimmte dem Vorschlag der beiden, wenn auch zurückhaltend, zu, und Clemens traf am letzten Wochenende des März in Oßmannstedt ein. Mit seinen Papieren hatte er auch das Manuskript des Godrvi mitgebracht, eines Romans, an dem er seit fast zwei Jahren schrieb. Zu dieser Zeit hatte sich der Bremer Verleger Friedrich Wilmans wiederholt an Wieland um Beiträge für sein Taschenbuch gewandt. Wieland dankte ihm, konnte ihm aber zur Zeit kein Manuskript offerieren. So bot er dem Verleger den Roman von Clemens an. Sein Brief vom 3. April an Friedrich Wilmans ist, so wurde festgestellt, nicht von ihm selbst, sondern von Clemens Brentano geschrieben worden, Wieland hat ihn lediglich unterzeichnet 158 . Diese Eigenmächtigkeit, die Wieland zu spät bemerkte, und das weitere Verhalten von Clemens führten schnell zum Bruch. Am 5. April, dem Samstag vor Palmsonntag fuhr Wieland nach Weimar und ließ Clemens wissen, daß er ihn bei seiner Rückkehr nicht mehr in Oßmannstedt vorfinden wolle. Bis zum Osterfest blieb Wieland in Weimar. Bei seiner Rückkehr war Clemens nicht mehr im Hause, und in den Tagen danach schrieb Wieland an Sophie.

Wieland an Sopbie\Brentano159 Osmanngtätt den 16ten April 1800. Das Einzige, meine liebenswürdige Freundin, was mein langes Stillschweigen ganz unverzeihlich machen könnte, wäre, wenn ich Ihnen 101

zugehen und über Dich zu weinen, wenn Du mich verhöhnt hast. Gott was bin ich für ein undeutlicher Mensch! ich lese die vorhergehenden Zeilen und sehe, daß Du sie als eine Beleidigung aufnehmen könntest, nein, es soll nur heißen, daß ich doch recht glücklich sein würde, wenn ich auch weinen müßte, daß Du pädagogische Experimente mit mir machen willst, der der Erde nur zu sehr entwachsen ist." 156 Am 29. März antwortete Sophie ihrem Bruder, konnte jedoch erst am 8. April ihren Brief beenden und mit den Worten als „seine treue zärtliche liebevolle Schwester, die kalte engherzige egoistische Sophie" unterzeichnen 157 . Inzwischen war Clemens nach Oßmannstedt gekommen. Er und Wielands Sohn Louis hatten sich in Jena kennengelernt und beschlossen, für eine Weile die Wohnungen zu tauschen. Wieland stimmte dem Vorschlag der beiden, wenn auch zurückhaltend, zu, und Clemens traf am letzten Wochenende des März in Oßmannstedt ein. Mit seinen Papieren hatte er auch das Manuskript des Godrvi mitgebracht, eines Romans, an dem er seit fast zwei Jahren schrieb. Zu dieser Zeit hatte sich der Bremer Verleger Friedrich Wilmans wiederholt an Wieland um Beiträge für sein Taschenbuch gewandt. Wieland dankte ihm, konnte ihm aber zur Zeit kein Manuskript offerieren. So bot er dem Verleger den Roman von Clemens an. Sein Brief vom 3. April an Friedrich Wilmans ist, so wurde festgestellt, nicht von ihm selbst, sondern von Clemens Brentano geschrieben worden, Wieland hat ihn lediglich unterzeichnet 158 . Diese Eigenmächtigkeit, die Wieland zu spät bemerkte, und das weitere Verhalten von Clemens führten schnell zum Bruch. Am 5. April, dem Samstag vor Palmsonntag fuhr Wieland nach Weimar und ließ Clemens wissen, daß er ihn bei seiner Rückkehr nicht mehr in Oßmannstedt vorfinden wolle. Bis zum Osterfest blieb Wieland in Weimar. Bei seiner Rückkehr war Clemens nicht mehr im Hause, und in den Tagen danach schrieb Wieland an Sophie.

Wieland an Sopbie\Brentano159 Osmanngtätt den 16ten April 1800. Das Einzige, meine liebenswürdige Freundin, was mein langes Stillschweigen ganz unverzeihlich machen könnte, wäre, wenn ich Ihnen 101

noch mit einer umständlichen Apologie und Erzählung alles dessen was mich am Schreiben verhindert hat, Langweile machen wollte. Lieber will ich es gänzlich darauf ankommen lassen, daß Ihre Güte, von welcher ich Verzeihung hoffe, mir auch zugleich alles, was zu meiner Entschuldigung dienen kann, aus eigener Bewegung zu Statten kommen lasse. Der lieblichste Fühling ist, nach einem beynahe Ißländischen März, mit dem ersten April vom mildesten Himmel zu uns herabgestiegen; Alles grünt und keimt und lebt und webt um uns her: mit jedem Augenblick entfalten sich tausend, Knospen, die Gebüsche belauben sich zusehends und das kleine Birkenhölzchen giebt mit seinem zarten durchsichtigen Laub in der Morgen und Abendsonne einen elysischen Anblick. O Meine geliebte Tochter! Warum können Sie nicht izt schon bey uns seyn? Warum bringen nicht freundliche Zefyrn Sie wie einst die schöne Psyche, Ihre Schwester, zu uns herübergetragen? Warum muß sich alles, was in dieser sublunarischen Welt zu Stande kommt, auf eine so prosaische Art machen? Wir sehen nun gar zu wohl ein, daß es nicht bloß auf Ihren guten Willen, uns je bälder je lieber durch Ihre Erscheinung unter uns glücklich zu machen, ankommt; sie müssen eine schickliche Begleitung haben, und wie lange wird vielleicht eine solche noch auf sich warten lassen? Ihr Bruder Clemens sagt, er hätte sich erboten Sie abzuhohlen, aber Sie wollten seiner nicht. Warum begreife ich nur gar zu wohl, und bin daher weit entfernt ihre Weigerung zu mißbilligen. Aber sollte sich nicht vielleicht der gefällige Freund, durch welchen Sie dieses Briefchen erhalten, (der Rath Kraus) desto besser schicken, wo nicht die Stelle eines Beschützers, wenigstens die ehrwürdige Stelle eines Vaters oder Oheims bey einer reisenden jungen Dame zu vertreten? Ich glaube nicht zu irren wenn ich sage, daß er dieses Glück, und das Zutrauen, womit Sie ihn durch die Annahme seines Anerbietens beehren würden, durch seine freundschaftliche Anhänglichkeit an Ihre Frau Großmutter, an Sie Selbst und an mich verdient. Möchten Sie, liebe Sofie, eben so günstig von ihm denken, und sich überreden können, daß er gerade der Begleiter sey, den Sie von dem günstigen Geschick ertvarten\ Die Gelegenheiten sind so selten, daß Sie, wenn Sie es mit der skrupulösen Göttin Konvenien% und dem leidigen Schwätzer que dirat'on gar zu genau nehmen wollten, leicht Gefahr laufen könnten, die schöne Hoffnung, auf deren Erfüllung wir uns schon so lange 102

freuen, für diesen Sommer wenigstens, gänzlich vereitelt zu sehen. Nein! ein solches Übergewicht über die schönsten Gefühle Ihres eigenen Herzens kann und wird meine Sofie, die auserwählte Tochter meines Geistes u Herzens, der Furcht dem schalen Spott hirnleerer Perükenköpfe und Haubenstöcke nicht gestatten! Ich hoffe also und nehme es für so gewiß, als man menschliche Dinge überhaupt nehmen darf, daß es dem Hm R. Kraus gelingen werde Sie zu bewegen, über seinen Stand eines grauen Junggesellen hinaus zu gehen, und Sich einzubilden, daß Mein guter Genius, in einer seiner fröhlichen Launen, diese Gestalt angenommen habe, um Sie Ihrem guten adoptierten Vater zuzuführen, der Ihnen gewiß die kleinen Aufopferungen, die diese Gefälligkeit Ihnen etwa kosten möchte, unendlich Mahl höher anrechnen wird, als der Werth ist, den Sie Selbst darauf legen. Die Götter haben in den letzten 14 Tagen vor Ostern einen wunderlichen Spaß mit mir getrieben. Ich weiß nicht wie und warum Ihrem Bruder Clemens, der Aufenthalt in Jena auf einmahl so zuwider wurde, daß er mit Louis überein kam, dieser sollte an seiner Statt nach Jena ziehen, und er wollte dafür seine Stelle in Oßmanstätt vertreten. Des leidigen, besonders unsern neuesten jungen Filosofen u Ästhetikern sehr verhaßten Wohlstands wegen, wurde auch ich zulezt um meine Einwilligung angegangen und ertheilte sie mit gebührender Gefälligkeit. Die jungen Herren vertauschten also ihre Plätze und das Clementinische Ich zog mit seiner Guitarre am Arm im Triumf in das Osmantinische Nicht-Ich ein. In den ersten vier bis fünf Tagen ging alles ziemlich gut, so lange nehmlich, als beide Theile das bekannte Spiel der Katze des Montaigne mit einander trieben, oder, genauso zu reden, so lange Herr Clemens seinen Spaß so mit uns trieb, daß wir selbst Spaß davon hatten. Aber länger hielt er es mit so ungebildeten oder so verbildeten Wesen, wie wir alle, seiner Theorie zu folge, sind, nicht aus; sein Ich fing nun an sich der Überlegenheit, die ihm Eigendünkel, Ungezogenheit, Verachtung alles Conventionellen so wie aller natürlichen u. gesellschaftlichen Verhältnisse, über uns gab, auf eine so tyrannische Weise zu bedienen, daß die Rolle, die er 8 Tage lang in meinem Hause u an meinem Tische spielte, höchstwahrscheinlicher Weise, ohne Beyspiel, und die Gelassenheit, womit ich seine Avanien und Insolenzen duldete, ein Wunder in meinen eigenen Augen ist; ein Wunder, das ich mir durch nichts erklären kann, als daß dieses trancendental-Ästhetische Ungethüm die unverdiente Ehre hat, ein Bruder eben dieser Sofie zu seyn, von welcher er sich 103

beynahe tagtäglich beeiferte mir die verkehrtesten und verhaßtesten Begriffe bey2ubringen, wiewohl er sie zugleicher Zeit unendlich zu lieben vorgab. Wahrscheinlich ist Ihnen selbst dies Alles schon lange nichts ungewohntes; aber mir ging doch zulezt die Geduld aus, und ich zweifle sehr, ob irgend ein Anderer Sterblicher an meinem Platz so lange ausgehalten hätte. Ich begab mich also am Sonnabend vor dem Palmensonntage auf einige Tage nach Weimar, während ich den jungen Herrn durch seinen Freund Louis verständigen ließ, daß ich ihn bey meiner Zurükkunft nach Oßmannstätt nicht mehr anzutreffen hoffte: E r zog also mit seiner Guitarre und einem unermeßlichen Porte-feuille voll aller Arten v o n neumodischen Exkrezionen seines Witzes und seiner Laune nach Jena zurück, und Louis (der sich seit geraumer Zeit in vielem zu seinem Vortheil geändert hat) kam v o n Jena mit Vergnügen wieder zu uns. Indessen wird Signor d e m e n t e , wie ich höre, nicht zu Jena bleiben, sondern gedenkt sich zu Ober-Weimar niederzulassen, vermuthlich um Ihnen näher zu seyn. Denn, da er noch darauf rechnete, daß einem Bruder Sofiens alles über mich erlaubt sey, hatte er das feine Projekt gemacht, sich den ganzen Sommer über in meinem kleinen Gartenhäuschen zu etablieren, in der Absicht Ihnen u. mir unser Beysammenseyn aus allen seinen Kräften zu verkümmeren, und w o möglich das schöne Verhältniß zwischen uns, welches er mit offenbar scheelen u. eifersüchtigen Augen ansieht, gänzlich zu zerstören. Da ihm aber dieser Plan mißlungen ist und da er schwerlich den Gedanken haben kann jemahls wieder über meine Schwelle zu kommen, so ist er nun, wie es scheint, mit einem neuen Anschlag beschäftigt, nehmlich, Sie, meine 1. Tochter, direkt oder indirekt dahin zu bringen, sich in Weimar ein Abstiegquartier zu miethen und sich öfters da aufzuhalten, wo er Ihnen dann (weil Oberweimar nur eine Viertelstunde von der Stadt entfernt ist) nahe genug zu seyn hoft, um ein so liebenswürdiges Nicht-Ich zum Stoff einer interessanten Beschäftigung für sein allgewaltiges Ich zu machen. In wie fern nun dieses Arrangement mit dem Ihrigen Zusammentrift, weiß ich zwar nicht; doch zweifle ich daran, und habe es daher für schicklich gehalten Ihnen vorläufig einen Wink davon zu geben, und dies ist die eigentliche Ursache, warum ich Sie mit einer kleinen Skizze der guten Art, wie der mehrbesagte junge Herr sich unter meinem Dache betragen hat, nicht wohl verschonen konnte. Daß er Ihr Bruder ist, ist ihm so lange, als es nur immer möglich war, bey mir zu Statten 104

gekommen, und dieses Verhältniß stellt ihn natürlicher Weise auch bey einer so guten Schwester in ein milderndes Licht. Indessen könnte es doch in mehr als Einer Rücksicht nachtheilig seyn, sich über den Karakter dieses jungen Mannes zu täuschen. Der entschiedenste, hoffärtigste und insolenteste Egoism ist der Hauptzug desselben; das Übel ist, meiner Überzeugung nach, unheilbar, und muß unvermeidlich auf die eine oder andere Art zulezt einen Ausgang nehmen, auf welchen vorbreitet zu seyn eine nöthige Vorsicht ist. Er affektiert oft und mit großer Kälte von den Maßregeln zu reden, die er genommen habe, um sobald es ihm gefällig seyn werde aus der Welt zu gehen: Aber dafür ist mir keinen Augenblick bang; das Einzige was ich für ihn befürchte, ist ein Zustand, dem er, selbst in seinen hellesten Augenblicken so nahe ist, daß seine Seele gleichsam mit den äussersten Schwingfedern immer daran anstreift; und dies ist völlige Verrücktheit. Dieser Gedanke hat mich oft wehmüthig und traurig gemacht, und dies um so mehr, da Herr Clemens Stunden hat, worin er sehr angenehm und liebenswürdig seyn kann, und da die Natur so viel für ihn gethan hat, daß man Mühe haben würde, einen jungen Menschen zu finden, der ihn an Genie, Witz, Lebhaftigkeit des Geistes und Anlagen aller Art überträfe. Aber der unselige Egoism, der einen Erzengel zum Erzteufel machte, hat ihn auf eine so fatale Art in sich selbst verschroben, daß — wofer(n) nicht etwa die hiebe ein Wunder an ihm thun sollte — ich keine andre Kraft kenne, die ihn wieder zu einem natürlichen gesunden Menschen zu machen vermöchte. Doch genug und schon mehr als zu viel von einem so unfröhlichen Gegenstande! Aristipp ist nun bereits über die Hälfte herangewachsen, und ich werde Ihnen viel Neues vorzulesen haben. Die arme Laiska erwartet ihr Schicksal aus Ihrer Hand; dabey bleibts. Ich kann es in keine sanftere stellen; auch glaube ich mit ziemlicher Gewißheit Sie werden sie, mit allen ihren Abweichungen von dem Kanon einer Ehe und tugendsamen Jungfrau und weisen Matrone, noch immer würdig finden, ein nicht ganz unbarmherziges Gericht über sie ergehen zu lassen. den 18Ka April Länger als drey Wochen dürfen Sie nicht ausbleiben, 1. Sofie, wenn Sie meinen Garten in voller Blüthe sehen wollen. Sie kennen ihn bereits und wissen also, daß ich Sie in ein bloßes, ziemlich bäurisches 105

Sabinum einlade; auch verhalten sich unsre Weimarischen Gegenden zu den reitzvollen und mit dem ganzen Füllhorn des Überflusses überschütteten Ufern des Rheins u Mayns wie das alte Sabinerland zu dem Paradisischen Kampanien. Aber die Natur ist überall sich selbst ähnlich, und ich schmeichle mir, daß das arme Osmantinum einen Reiz für Sie haben werde, der alle seine Mängel u Gebrechen bedecken wird. Für mich wird es durch Ihre Gegenwart Tempe und Elysium seyn. Ich schwebe nun zwischen Furcht und Hoffnung, ob Sie den Antrag des R. Kraus, die Reise zu uns mit ihm zu machen, annehmbar finden werden, oder nicht. Im erstem Fall würden Sie mich unendlich verbinden, wenn Sie, sobald Sie Selbst entschlossen sind, mir Nachricht davon geben wollten; sollte sie auch nur in den vier Worten bestehen: ich komme mit Kraus. Sollten Sie aber indessen eine andere, Ihnen angenehmere Gelegenheit ausfindig gemacht haben, desto besser! Auf alle Fälle ist Freund Kraus der Mann, dem ich Sie, wenn Sie meine leibliche einzige Tochter wären, anvertrauen würde; falle es auch um eine Reise nach Konstantinopel zu thun wäre. Die Mamma u. unsre ganze häusliche Sippschaft trägt mir auf Sie zärtlichst zu grüßen und Ihnen unser allgemeines Verlangen nach dem seligen Tage, der Sie wieder zu einem Mitglied unsrer Familie machen wird, recht nachdrücklich ans Herz zu legen. Aber wie könnte und dürfte ich das, wenn Sie nicht durch Ihre eigene freye Neigung zu uns gezogen würden? Was können wir Ihnen geben als unsre Liebe? Und würde diese, ohne die Ihrige zu uns einen Werth in Ihren Augen haben? W. Noch vor dem Erhalt dieses Briefes hatte Sophie von Frankfurt aus an Lütkemüller geschrieben: „Melden Sie mir doch, und zwar ein wenig umständlich, wie Alles in Osmantinum lebt und webt. Ich weiß zwar ziemlich Bescheid, und schaue sogar in Vater Wieland's Papiere; aber — doch, ich will Ihnen die Sache lieber gerade heraussagen. Was meinen Sie, wenn ich bald wieder käme, und einen ganzen Frühling und Sommer in Osmantinum verweilte? Würde ich und mein so langer Aufenthalt auch in keiner Rücksicht unwillkommen seyn? Sie äußerten sich im vorigen Sommer oft mit unbefangener Wahrheitsliebe; sie allein ist es, die ich ein wenig in Anspruch nehme. Und daß ich mir dieses erlaube, ist, wie mich dünkt, auch bei meiner kindlichen Liebe und Ergebenheit gegen Wieland verzeihlich." 160 106

Um diese Zeit oder wenig danach traf Georg Melchior Kraus in seiner Vaterstadt Frankfurt ein und brachte Sophie den ausführlichen Brief Wielands und konnte sich selbst als Begleiter für eine Reise nach Oßmannstedt empfehlen. Kraus war im gleichen Alter wie Wieland, seit 1775 lebte er in Weimar und war dort Direktor der Zeichenschule. Aber Sophie konnte seine Begleitung nicht annehmen, da sie die Reise nach Oßmannstedt verschieben mußte. Ihre Stiefmutter Friederike, mit der sie vor zwei Jahren in Wien gewesen war, hatte nach dem Tode Brentanos wieder geheiratet und lebte mit ihrem Mann, Christoph Franz von Stein zum Altenstein, in Pfaffendorf in der Nähe von Coburg. Schon seit längerem hatte sie Sophie und deren Schwestern eingeladen, sie zu besuchen, und Sophie konnte sich der Einladung nicht entziehen. So schrieb sie an Wieland: Sophie Brentano an Wielandxbx Frankfurt den 9 ten May 1800. Lieber Vater! Ich bin kein gutes Kind; denn immer noch kann ich Ihren Befehlen nicht gehorchen. Anstatt mit Herrn Rath Krauße meine Reise zu Ihnen anzutreten, gehe ich in acht Tagen einen ganz andern Weg. Ob dies mir so recht ist, davon ist keine Rede; denn mein Vater selbst hat mir gebothen keine Pflicht meinem Vergnügen zu opfern, und eben nun stehe ich auf dieser Probe. Längst schon hatten wir meiner Stiefmutter (die jetzt in Coburg wieder verheurathet ist) versprochen, einen Frühling bey ihr zu zubringen; alle meine Schwestern gehen nun hin, und ich kann nicht versagen, auf kurze Zeit wenigstens, dabey zu seyn. Indessen bin ich dort nur zehn Meilen von meinem Osmantinum, und kann, wenn es mir geöffnet bleibt, bey jedem schönen Morgen dort eintreffen. Darf ich hoffen, daß mein Vater sich all seine Güte nicht gereuen läßt, und mich auch nach dieser Verzögerung für seine Tochter erkennt? Ich bin beschämt daß ich zu handien scheine um ein Gut, das mir der Himmel nur in einer sehr großmüthigen Laune zuweisen konnte; aber wer kann die Umstände leiten? Lieber Vater, ich berühre mit keiner Sylbe, den höchst unfröhlichen Inhalt Ihres Briefes. Könnte ich etwas wieder gut machen, so würde ich dieser Angelegenheit mein Leben weihen; aber ich m u ß diesen wahren Kummer im Stillen mit allen Übrigen tragen, und kann nur bethen, daß irgend eine gnädige Gottheit sich zu Wundern herab 107

Um diese Zeit oder wenig danach traf Georg Melchior Kraus in seiner Vaterstadt Frankfurt ein und brachte Sophie den ausführlichen Brief Wielands und konnte sich selbst als Begleiter für eine Reise nach Oßmannstedt empfehlen. Kraus war im gleichen Alter wie Wieland, seit 1775 lebte er in Weimar und war dort Direktor der Zeichenschule. Aber Sophie konnte seine Begleitung nicht annehmen, da sie die Reise nach Oßmannstedt verschieben mußte. Ihre Stiefmutter Friederike, mit der sie vor zwei Jahren in Wien gewesen war, hatte nach dem Tode Brentanos wieder geheiratet und lebte mit ihrem Mann, Christoph Franz von Stein zum Altenstein, in Pfaffendorf in der Nähe von Coburg. Schon seit längerem hatte sie Sophie und deren Schwestern eingeladen, sie zu besuchen, und Sophie konnte sich der Einladung nicht entziehen. So schrieb sie an Wieland: Sophie Brentano an Wielandxbx Frankfurt den 9 ten May 1800. Lieber Vater! Ich bin kein gutes Kind; denn immer noch kann ich Ihren Befehlen nicht gehorchen. Anstatt mit Herrn Rath Krauße meine Reise zu Ihnen anzutreten, gehe ich in acht Tagen einen ganz andern Weg. Ob dies mir so recht ist, davon ist keine Rede; denn mein Vater selbst hat mir gebothen keine Pflicht meinem Vergnügen zu opfern, und eben nun stehe ich auf dieser Probe. Längst schon hatten wir meiner Stiefmutter (die jetzt in Coburg wieder verheurathet ist) versprochen, einen Frühling bey ihr zu zubringen; alle meine Schwestern gehen nun hin, und ich kann nicht versagen, auf kurze Zeit wenigstens, dabey zu seyn. Indessen bin ich dort nur zehn Meilen von meinem Osmantinum, und kann, wenn es mir geöffnet bleibt, bey jedem schönen Morgen dort eintreffen. Darf ich hoffen, daß mein Vater sich all seine Güte nicht gereuen läßt, und mich auch nach dieser Verzögerung für seine Tochter erkennt? Ich bin beschämt daß ich zu handien scheine um ein Gut, das mir der Himmel nur in einer sehr großmüthigen Laune zuweisen konnte; aber wer kann die Umstände leiten? Lieber Vater, ich berühre mit keiner Sylbe, den höchst unfröhlichen Inhalt Ihres Briefes. Könnte ich etwas wieder gut machen, so würde ich dieser Angelegenheit mein Leben weihen; aber ich m u ß diesen wahren Kummer im Stillen mit allen Übrigen tragen, und kann nur bethen, daß irgend eine gnädige Gottheit sich zu Wundern herab 107

lassen m ö g e . Den Gedanken an diese Nachbarschaft trage ich nicht ohne eine gewisse Furcht vor ihren Folgen, und immer noch h o f f e ich einen veränderten Standpunkt, ehe ich in die Nähe komme. Ich darf also lieber Vater, von C. aus schreiben daß, und wann ich k o m m e ? Und Sie und die gütige M a m m a nehmen mich immer noch auf und an? A c h ! wie wohl, wie wohl wird mir seyn unter den prächtigen Linden! So lange schon wandle ich in einer heißen Zone, ohne daß irgend ein Schatten mich erquickt. Ich bin in dieser Zeit der Prüfung um zwanzig Jahre älter geworden, mein Vater wird sich weiden an meinem Ernst und meiner Weißheit. Vergeben Sie die Eile mit welcher dies alles dahin geschrieben ist; die letzten T a g e meines Aufenthalts hier sind um so unruhiger, da ich mich so bald nicht aus meinem Paradies werde weisen lassen, wann ich einmal heimisch darin bin. Was sagt mein Vater zu diesem Übermuth? — Und nun tausend K ü s s e im Voraus auf die theure Hand, die es nicht verschmähet hat, Glück und Segen für mich niederzuschreiben. M ö g t e ich es verdienen, daß alles in Erfüllung gieng! U m Ihrer Güte werth zu seyn, wünsche ich es. — Sophie Sophie fuhr also mit ihren Schwestern nach Pfaffendorf bei C o b u r g zu ihrer früheren Stiefmutter Friederike. D o r t erhielt sie im Juni einen Brief ihres Bruders G e o r g , der ihr seine eigenen Ansichten über Moritz Bethmann mitteilte: „dabei kömt mir M. Betragen immer weniger delicat, weniger schonend, und herzlich egoistisch v o r ; ... Ambition ist ohne Zweifel in M. Charakter der predominanteste Z u g ... ich läugne nicht, daß Zärtlichkeit für dich einen harten K a m p f mit seiner Ambition aushielt, vielleicht war sie in Augenblicken Siegerin, allein sie mußte weichen, und wie mir scheint bleibt der überwundenen nichts als die Achtung des Überwinders. ... N u r liebe Sophie ... nähre keinen Keim zur H o f f n u n g . " 1 6 2 Sophie erfuhr somit v o n ihrem Bruder, was sie selbst bereits empfunden hatte, was sie aber immer wieder versucht hatte, zu ihren Gunsten umzudeuten. In Pfaffendorf schrieb sie nach langer Zeit wieder an Henriette von Arnstein. In ihrem Brief versuchte sie der Freundin zu erklären, warum sie vieles nicht erzählen konnte, nahm zu ihrem Verhältnis zu Herberstein Stellung und berichtete, daß sie in einigen Tagen nach Weimar Weiterreisen werde:

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„Ich gehe ... zu meinem guten Vater Wieland, dort bleibe ich vielleicht bis in den Herbst. ... Ich lebe dort so einsam; Wielands Bibliothek und eine große Lindenallee in seinem Garten, sind die zwey einzigen Orte auf die man sich freuen kann; aber sein Umgang dabey, und der Kreiß seiner Familie, lauter natürliche, herzliche Menschen, machen mir meinen Aufenthalt dort über alles lieb." 163 Ende Juni hoffte Sophie, endlich nach Oßmannstedt abreisen zu können, und meldete ihre baldige Ankunft.

Sophie Brentano an WielandXM Pfaffendorf bey Coburg. Den 27tcn Juny 1800. Lieber Vater! Ich bin nicht tod, nicht verloren; nicht undankbar, nicht nachläßig, nicht strafbar; ich bin nur gehindert, gebunden, und von einem Tag zu dem andern vertröstet worden. Immer hofte ich, Sie mit Bestimmtheit, um die Erlaubniß zu meiner Ankunft, bitten zu können, und immer wieder mußte ich meine Abreise von hier, weiter hinaus schieben. Jetzt erst habe ich die Gewißheit, zu Ende der nächsten Woche frey zu seyn, und darf ich dann, nach allem Zögern und Verschieben, doch noch anklopfen an die Pforte des freundlichen Osmantinums! — Wer wird mir dies beantworten, da die Stimme meines gütigen Vaters nicht bis zu mir reicht? Soll ich meinem Herzen glauben, welches ich so gerne bereden mögte, ich könnte nichts von meinen alten Rechten verlieren? — J a : ich wage es! Ein Blick wird mich belehren, ob mein Vater zürnt, und dann bleibt mir ja die Flucht um Ihn zu versöhnen. — In acht bis zehn Tagen also, wird Ihre glückliche Tochter Sie sehen. Lieber Vater, ich werde Sie sehen! Mehr sag ich mir nicht in meiner freudigen Erwartung, und immer noch dünkt mich diese Vorstellung ein zu schöner Traum. Aber ich komme nicht allein, ich sündige auf die Güte meiner lieben Mutter, und bringe einen Gast mit, dem sie die Aufnahme nicht versagen darf. Auch kann ich ihn, als den Besten seiner Art empfehlen; Fromm und stille und gehorsam wie seine Gebietherin, auch treu und dankbar wie sie, dies sind die Hauptzüge eines alten Dieners von dem ich mich nicht leicht mehr trennen kann. Zwölf Jahre eines mühseligen 109

„Ich gehe ... zu meinem guten Vater Wieland, dort bleibe ich vielleicht bis in den Herbst. ... Ich lebe dort so einsam; Wielands Bibliothek und eine große Lindenallee in seinem Garten, sind die zwey einzigen Orte auf die man sich freuen kann; aber sein Umgang dabey, und der Kreiß seiner Familie, lauter natürliche, herzliche Menschen, machen mir meinen Aufenthalt dort über alles lieb." 163 Ende Juni hoffte Sophie, endlich nach Oßmannstedt abreisen zu können, und meldete ihre baldige Ankunft.

Sophie Brentano an WielandXM Pfaffendorf bey Coburg. Den 27tcn Juny 1800. Lieber Vater! Ich bin nicht tod, nicht verloren; nicht undankbar, nicht nachläßig, nicht strafbar; ich bin nur gehindert, gebunden, und von einem Tag zu dem andern vertröstet worden. Immer hofte ich, Sie mit Bestimmtheit, um die Erlaubniß zu meiner Ankunft, bitten zu können, und immer wieder mußte ich meine Abreise von hier, weiter hinaus schieben. Jetzt erst habe ich die Gewißheit, zu Ende der nächsten Woche frey zu seyn, und darf ich dann, nach allem Zögern und Verschieben, doch noch anklopfen an die Pforte des freundlichen Osmantinums! — Wer wird mir dies beantworten, da die Stimme meines gütigen Vaters nicht bis zu mir reicht? Soll ich meinem Herzen glauben, welches ich so gerne bereden mögte, ich könnte nichts von meinen alten Rechten verlieren? — J a : ich wage es! Ein Blick wird mich belehren, ob mein Vater zürnt, und dann bleibt mir ja die Flucht um Ihn zu versöhnen. — In acht bis zehn Tagen also, wird Ihre glückliche Tochter Sie sehen. Lieber Vater, ich werde Sie sehen! Mehr sag ich mir nicht in meiner freudigen Erwartung, und immer noch dünkt mich diese Vorstellung ein zu schöner Traum. Aber ich komme nicht allein, ich sündige auf die Güte meiner lieben Mutter, und bringe einen Gast mit, dem sie die Aufnahme nicht versagen darf. Auch kann ich ihn, als den Besten seiner Art empfehlen; Fromm und stille und gehorsam wie seine Gebietherin, auch treu und dankbar wie sie, dies sind die Hauptzüge eines alten Dieners von dem ich mich nicht leicht mehr trennen kann. Zwölf Jahre eines mühseligen 109

Lebens haben seine Haare gebleicht; sein Feuer ist erloschen, alle Reize seiner Jugend sind dahin, und mit ihnen alle Freunde und Gönner, die ihm seine Schönheit und Geschicklichkeit zugezogen hatten. Jetzt bin ich seine einzige Stüze, wäre es nicht grausam ihn zu verlassen? Auch mögte ich wohl wissen, ob ich unter meines Vaters Linden, nicht so recht schäfermäßig werde haußen dürfen? Die Städterin mit all ihrer Zierlichkeit, habe ich ohnehin bey meiner Abreise von Frankfurt in den Mayn geworfen, um ja in Arkadien einer ächten Philis nachzuahmen. Und welches Möbel ist hierzu wohl unentbehrlicher, da ich unter Karls Heerde mein Lamm schon habe, als ein getreuer Hund? Von meinem Presto also ist die Rede; er ist mir bis hierher gefolgt, und schwört mir tausendmal durch Lecken und Wedeln, daß er mich nimmermehr verlassen könnte. — Hab ich ihn noch nicht genug Ihrer Huld versichert, so mag er selbst das Übrige thun, es kann ihm nur gelingen; denn hundert von meinen kleinen Schmeichelkünsten hab ich ihm abgelernt, er ist Meister darinnen. — Ach! lieber Vater! Wie abgeschmackt ist all dies Geplauder einer albernen Feder, wann ich denke, daß ich Sie bald sehen und hören, und immer sehen und immer hören soll! Ich bin so kindisch ... aber ich gebiethe mir Schweigen bis dorthin, wo Sie und jeder Bewohner von Oßmannstädt keiner Worte mehr bedürfen wird, um meine Freude zu entziffern. Tausendmal küsse ich Ihre Hand, und meiner lieben Mutter ihre, und umarme Groß und Klein, und kann es kaum erwarten, bis all dies keine Täuschung mehr ist. — Sofie. — Nur eine Woche später mußte Sophie eine erneute Verzögerung melden. Die Hochzeit ihrer Schwester aus der ersten Ehe ihres Vaters, der jetzt dreißigjährigen Paula Walburga, im Familienkreis Pauline genannt, sollte in den letzten Julitagen auf Schloß Hassenberg in der Nähe von Coburg stattfinden, und Sophie konnte dabei nicht fehlen. Pauline heiratete den Herrn auf Hassenberg, Johann Wilhelm Wasmer. Und so schrieb sie an Wieland nach Oßmannstedt:

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Sophie Brentano an Wieland165 Pfaffendorf den 4 ,en Julius 1800. Bis itzt, lieber Vater, habe ich immer geglaubt, alle himmlischen Mächte ruhten in Ihrer Hand; ein Heer freundlicher Geister umschwebte Sie, so oft ich meine Blicke zu Ihnen erhob, und ich fand es so ganz natürlich, daß Ihre Winke allem Sichtbaren und Unsichtbaren Gesetze geben müßten. Warum denn, mein Vater, gestatten Sie einem schadenfrohen Dämon, mich zu peinigen? Warum darf dieser mir, meiner Sehnsucht zu spotten, Berge und Riesen in meinen Weg streuen? Und sind diese bekämpft und jene erstiegen, warum gelingt es ihm einen so mächtigen Bundesgenossen zu erlangen, der mich plötzlich, am Ziel meiner Wünsche, wieder Meilen weit zurück wirft? Ist es eine Probe, die Sie meiner Beharrlichkeit auferlegen? O! Dann ermüde ich Ihre geübteste Plagegeister. Ist es, weil Sie mich Ihrer Nähe nicht mehr würdigen? Nein, nein: ein Wort hätte mehr gefruchtet, als alle diese Hindernisse, die mich wohl quälen und kümmern; aber nicht irre machen können. Ich weiß nicht da heraus zu finden, und es bleibt mir nichts übrig, als Geduld und Unterwürfigkeit. Ja, mein Vater, Ihr Vasall und Lehnsmann, Amor das Kind oder der Gott, je nachdem Sie es gewolt haben, der ist es der mich neckt, der sich gegen mich verschworen hat, der mich wird für Ungeduld sterben lassen. Einen Fuß schon im Wagen, das letzte Lebewohl auf den Lippen, so stund ich, und hatte in Gedanken Oßmannstädt erreicht, meines Vaters Hand gefaßt, seinen freundlichen Gruß vernommen ... als plötzlich durch ein unerhörtes Hexenwerk meine älteste Schwester Pauline, ihr Herz verliert, ihre Hand verspricht, und nun beym nächsten schönen Sommertag ihren Nahmen vertauschen will. Geht dies wohl mit rechten Dingen zu? — Ich armer Schelm werde nicht gefragt; da soll ich bleiben, den Hochzeitskranz flechten, die Braut schmücken, den Segen sprechen, und Gott weiß! welches heilbringende Gestirn bey der ganzen Sache vorstellen. — Ich wehre mich so viel ich kann: ich verstehe nichts vom Heurathen: ich werde durch schimpfliche Thränen, die ganzeCeremonie verderben; alles verkehrt machen, durchgehen; hilft alles nicht. Sophie muß da seyn, Sophie muß mit reden, Sophie muß mit wählen, Sophie muß mit heurathen ... Lieber Gott! Wie werde ich mich retten? 111

Und ist dies nicht Ihr Werk, lieber Vater? Stehen nicht die Liebesgötter in Ihrem Sold? Haben Sie selbst sie nicht gegen mich angestiftet? Wie grausam, wie hart! Da weiß ich jetzt nicht loßzukommen, vor den nächsten vierzehn Tagen giebt man mich nicht frey, und bis dahin sterbe ich zehnmal für Verdruß und Sehnsucht. Dies Schicksal haben Sie Ihrer armen Tochter bereitet; aber ich bestehe die Prüfung, und küsse mit kindlicher Zärtlichkeit, die theure Hand, die mir diese Strafen herbey winkt. Ist es recht so, mein Vater? Liebe Mutter! Beklagen Sie mich, und sagen Sie Ihrem Sohn, meinem Freund Louis, im Fall Briefe für mich eingelaufen wären, so mögte er mir sie in einem Paket zu schicken. Ich hauße: Cbe^ Madame la Baronne d' Altenstein nee Baronne de Kottenhoff ä Pfaffendorf pres de Coburg. Es wäre recht brüderlich von Louis mir diesen Dienst zu erzeigen, und ich hätte vielleicht den Vortheil dabey, eine Zeile von seiner eigenen Hand zu erblicken, worauf er mich immer viel zu lang warten läßt. Verzeihen Sie, liebe Mutter, die Kühnheit dieser Bitte, und erlangen Sie von meinem Vater, daß er die kleinen Götter, die hier so buntes Wesen treiben, wieder einfängt, und der armen Sophie endlich einmal freyen Paß gestattet; dann sollen Sie sehen ob ich dankbar und zärtlich bin, und Ihre Güte verdiene. Alle guten Oßmannstädter sollen für mich bitten, ich will ja gerne diese Schuld wieder abtragen. — Etwa am 10. Juli erhielt Wieland Sophies Brief, und er sandte ihr sofort eine Antwort nach Pfaffendorf.

Wieland an Sophie Brentano166 Oßmannstätt den ll t e n Julii 1800. Schon der erste Brief, womit Sie, liebe Sophie, uns alle von Pfaffendorf aus erfreut haben, würde (wie Sie mir hoffentlich zutrauen) nicht ohne Antwort geblieben seyn, wenn Sie uns schon damahls Ihre Addresse gegeben hätten. Sie unterließen es, weil Sie in wenigen Tagen selbst bey uns zu seyn gedachten; und wir, die wir uns traulich und starkglaubig darauf verließen, erwarteten Sie demnach schon an verwichnen Sonnabend. Als wir uns in dieser Erwartung getäuscht sahen, nahmen wir {ich wenigstens, denn die weisere Mama pflegt in solchen Dingen 112

Und ist dies nicht Ihr Werk, lieber Vater? Stehen nicht die Liebesgötter in Ihrem Sold? Haben Sie selbst sie nicht gegen mich angestiftet? Wie grausam, wie hart! Da weiß ich jetzt nicht loßzukommen, vor den nächsten vierzehn Tagen giebt man mich nicht frey, und bis dahin sterbe ich zehnmal für Verdruß und Sehnsucht. Dies Schicksal haben Sie Ihrer armen Tochter bereitet; aber ich bestehe die Prüfung, und küsse mit kindlicher Zärtlichkeit, die theure Hand, die mir diese Strafen herbey winkt. Ist es recht so, mein Vater? Liebe Mutter! Beklagen Sie mich, und sagen Sie Ihrem Sohn, meinem Freund Louis, im Fall Briefe für mich eingelaufen wären, so mögte er mir sie in einem Paket zu schicken. Ich hauße: Cbe^ Madame la Baronne d' Altenstein nee Baronne de Kottenhoff ä Pfaffendorf pres de Coburg. Es wäre recht brüderlich von Louis mir diesen Dienst zu erzeigen, und ich hätte vielleicht den Vortheil dabey, eine Zeile von seiner eigenen Hand zu erblicken, worauf er mich immer viel zu lang warten läßt. Verzeihen Sie, liebe Mutter, die Kühnheit dieser Bitte, und erlangen Sie von meinem Vater, daß er die kleinen Götter, die hier so buntes Wesen treiben, wieder einfängt, und der armen Sophie endlich einmal freyen Paß gestattet; dann sollen Sie sehen ob ich dankbar und zärtlich bin, und Ihre Güte verdiene. Alle guten Oßmannstädter sollen für mich bitten, ich will ja gerne diese Schuld wieder abtragen. — Etwa am 10. Juli erhielt Wieland Sophies Brief, und er sandte ihr sofort eine Antwort nach Pfaffendorf.

Wieland an Sophie Brentano166 Oßmannstätt den ll t e n Julii 1800. Schon der erste Brief, womit Sie, liebe Sophie, uns alle von Pfaffendorf aus erfreut haben, würde (wie Sie mir hoffentlich zutrauen) nicht ohne Antwort geblieben seyn, wenn Sie uns schon damahls Ihre Addresse gegeben hätten. Sie unterließen es, weil Sie in wenigen Tagen selbst bey uns zu seyn gedachten; und wir, die wir uns traulich und starkglaubig darauf verließen, erwarteten Sie demnach schon an verwichnen Sonnabend. Als wir uns in dieser Erwartung getäuscht sahen, nahmen wir {ich wenigstens, denn die weisere Mama pflegt in solchen Dingen 112

immer die unvorgesehene mögliche Zufälle mit in Rechnung zu bringen) für desto gewisser, daß Sie am Sonntag oder doch unfehlbar am Montag eintreffen würden. Da aber auch diese H o f f n u n g zu Wasser wurde, fieng meine Imaginazion an zu arbeiten, und der erste böse Gedanke, den mir die Angst meiner Seele eingab, war, Sie möchten von irgend einem fahrenden Ritter aus Neustrien oder Austrien unterwegs aufgefangen und davon geführt worden seyn. Ich war schon im Begriff alle meine Reisigen (d. i. Karl u Wilhelm, und die reisigen Knechte Gottlieb u Zacharias) aufsitzen zu lassen, um die Spur Ihrer Räuber nach allen vier Hauptwinden zu verfolgen, als mir glücklicher Weise einfiel, daß in so wohl poliziirten Landen wie die Sächsischen eine E n t f ü h r u n g ohne den guten Willen der Heldin unter die u n m ö g lichen Dinge gehöre. Durch diesen Gedanken beruhigt und mit tausend Möglichkeiten von Vorgefallenen Hindernissen mich selbst tauschend, brachte ich unter dem tröstlichen Zuspruch der guten Mama den Dienstag und Mitwoch so ziemlich leidlich zu. Aber bey allem dem war es hohe Zeit, daß mir Lütkemüller gestern Abend, keuchend und v o m Regen wohl durchnäßt, Ihren zweyten Brief v o m 4ten dieses Monats überbrachte; denn die Besorgniß, daß Ihnen auf der Reise von K o b u r g nach Oßmannstätt ein widriger Zufall, von ernsthafterer A r t als ein romantisches Abenteuer, zugestoßen seyn könnte, würde in die Länge schwer zu ertragen gewesen seyn. Sogar der finstre Gedanke, daß Sie am Ende wohl gar nicht kommen würden, fieng bereits an, sich mir wider Willen aufzudringen — kurz, es war hohe Zeit; daß Sie meiner Schwachheit zu Hülfe kamen — auch war die Freude u W o n n e allgemein, da Ihr Brief, indem er uns die Ursachen Ihres Aus bleibens begreiflich machte, uns von neuem die positive unbedingte Versicherung gab daß wir, v o m 5 ten Julii an gerechnet, längstens in 16 Tagen (zwey davon gehen nehmlich auf die Reise von K o b u r g hieher) den seligen Tag endlich erlebt haben werden, der die geliebte Tochter meines Herzens in die Arme Ihres Selbsterwählten Vaters bringen wird. Aber nun, liebe Sophie, keine neue Hindernisse noch Aufzüglichkeiten! Was der Götter und der Menschen Herrscher Amor gesündigt hat, mag er bey seinem guten Bruder Hymen verantworten. Sie, liebe Tochter, erfüllen eine respektable u angenehme Pflicht — eine so fröhliche Familien Begebenheit würde ohne Ihre unmittelbare Theilnehmung ihres schönsten Glanzes ermangeln — und daß Sie die Ceremonie nicht „durch schimpfliche Thränen verderben" werden, dafür 8

Drude

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bürgt mir die scherzende Laune Ihres Briefes. Auch für diese sey den Göttern Dank gesagt! Denn eine solche Laune oder fröhliche Seelenstimmung ist dermahlen mein größtes Bedürfniß. Alles also, warum ich meine liebens würdige Tochter Sophie izt bitte, ist nicht zu vergessen, über all den Hochzeitlichen Freuden und Scherzen, die Sie während der Vierzehn Tage, die man ihnen (wie billig) zugesteht, umschwärmen werden, nicht zu vergessen, daß, an dem Tage da ich dieses schreibe, bereits 10, schreibe Zehn Tage, von diesen 14 verflossen sind, und daß Sie folglich am 20sten oder längstens am 21sten dieses laufenden Monats Julius an der Pforte des weimarischen Sabinums alias Osmantinum, erwarten wird Ihr guter alter Vater W. Wieland hatte den Brief am Freitag, dem 11. Juli, geschrieben und rechnete danach mit Sophies Eintreffen für das übernächste Wochenende, den 19. bis 20. Juli. Am Sonnabend, dem 12. Juli, besuchte ihn der Hallenser Professor Karl Simon Morgenstern. Über den zu erwartenden Besuch Sophies notierte dieser in seinem Tagebuch: „Von der ungemein schönen und geistvollen Mlle Brentano aus Frankfurt, die aber leider! nur ein Auge hat. .Sonst würde sie die Welt entzünden', sagt Wieland."167 Eine knappe Woche später hatte Sophie auf Schloß Hassenberg Wielands Brief noch nicht erhalten, aber es drängte sie zur Abreise, und sie schrieb noch einmal nach Oßmannstedt. Sophie Brentano an

Wieland^ Auf dem Schloß Hassenberg den 17Kn July 1800.

Pauline ist getraut, in alle ihre Würden eingesetzt, und in ihren Eheherrn gar sehr verliebt. Lauter Umstände, wobey nun die Schwester mehr als überflüssig ist. Diese arme, hintangesetzte, fragt also nun zum Letzenmal: Darf ich kommen? — Nächsten Sonntag, oder Mondtag, oder Dienstag könnte ich abreisen, doch wünschte ich vorher eine einzige Zeile von meinem Vater, oder Louis zu erhalten. Hat Letzterer mir etwas geschrieben, wie ich ihn gebethen hatte, so bestimmt dies mein 114

bürgt mir die scherzende Laune Ihres Briefes. Auch für diese sey den Göttern Dank gesagt! Denn eine solche Laune oder fröhliche Seelenstimmung ist dermahlen mein größtes Bedürfniß. Alles also, warum ich meine liebens würdige Tochter Sophie izt bitte, ist nicht zu vergessen, über all den Hochzeitlichen Freuden und Scherzen, die Sie während der Vierzehn Tage, die man ihnen (wie billig) zugesteht, umschwärmen werden, nicht zu vergessen, daß, an dem Tage da ich dieses schreibe, bereits 10, schreibe Zehn Tage, von diesen 14 verflossen sind, und daß Sie folglich am 20sten oder längstens am 21sten dieses laufenden Monats Julius an der Pforte des weimarischen Sabinums alias Osmantinum, erwarten wird Ihr guter alter Vater W. Wieland hatte den Brief am Freitag, dem 11. Juli, geschrieben und rechnete danach mit Sophies Eintreffen für das übernächste Wochenende, den 19. bis 20. Juli. Am Sonnabend, dem 12. Juli, besuchte ihn der Hallenser Professor Karl Simon Morgenstern. Über den zu erwartenden Besuch Sophies notierte dieser in seinem Tagebuch: „Von der ungemein schönen und geistvollen Mlle Brentano aus Frankfurt, die aber leider! nur ein Auge hat. .Sonst würde sie die Welt entzünden', sagt Wieland."167 Eine knappe Woche später hatte Sophie auf Schloß Hassenberg Wielands Brief noch nicht erhalten, aber es drängte sie zur Abreise, und sie schrieb noch einmal nach Oßmannstedt. Sophie Brentano an

Wieland^ Auf dem Schloß Hassenberg den 17Kn July 1800.

Pauline ist getraut, in alle ihre Würden eingesetzt, und in ihren Eheherrn gar sehr verliebt. Lauter Umstände, wobey nun die Schwester mehr als überflüssig ist. Diese arme, hintangesetzte, fragt also nun zum Letzenmal: Darf ich kommen? — Nächsten Sonntag, oder Mondtag, oder Dienstag könnte ich abreisen, doch wünschte ich vorher eine einzige Zeile von meinem Vater, oder Louis zu erhalten. Hat Letzterer mir etwas geschrieben, wie ich ihn gebethen hatte, so bestimmt dies mein 114

Schicksal; ist dies aber nicht, so erneuere ich jetzt meine Bitte, und erwarte Ihren Wink. So lange, lange schon habe ich die theure Handschrift meines Vaters nicht gesehen; ich weiß nicht ob er mich noch lieb hat, ob er mich noch sehen will; ich wage es nicht ohne erneuerte Erlaubniß meine alten Rechte geltend zu machen. — Nur so viel, lieber Vater. - Ist mir endlich das Glück bescheert Sie wirklich zu sehen, so darf ja wohl die zärtliche Tochter ihr ganzes Herz vor ihrem Vater ergießen. Jetzt sehne ich mich viel zu lebhaft nach diesem Genuß, als daß diese trockne Schreiberey mir genügen könnte. — Eilig, eilig hasche ich die theure Hand, und drücke sie hundertmal an meine Lippen. Ol Lieber Vater 1 Ich habe ein recht kindliches, treues, warmes, gutes Herz. Sophie. Voller Unruhe hatte Sophie Nachricht von Louis erwartet, den sie gebeten hatte, an sie gerichtete Post nachzusenden. Wahrscheinlich fuhr sie am Dienstag, dem 22. Juli, auf Schloß Hassenberg ab, durchquerte den Thüringer Wald und traf am Donnerstag, dem 25. Juli, in Oßmannstedt ein. Am folgenden Tag war Jean Paul bei Wieland zu Gast, und er schrieb über diesen Besuch an Böttiger: „Gestern war ich bei dem alten OberonsBarden; und war - ob ich gleich wider Vermuthen Dlle Brentano fand — doch recht froh alda. Heute ist W bei der Herzogin."169 Es könnte sein, daß Wieland Sophie zu dem Besuch bei der Herzogin mitgenommen hat.



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Sophie Brentanos zweiter Besuch bei Wieland Ihr Tod in Oßmannstedt

Sophie war wieder in Oßmannstedt. Nach Jahresfrist lebte sie also wieder in dem Haus und in der Umgebung, die ihr vertraut waren. Sie fand die Menschen, die ihr wohlwollten: sie war wieder bei Wieland, dessen alles verstehende Liebe sie in den vergangenen Monaten entbehrt hatte. Ein schönes und bequemes Zimmer erwartete sie in diesem Jahr. Die Wiesen, der Park, die Lindenallee, alles war ihr vertraut: alles schien ihr wie eine Heimkehr, und sie, hoffte, daß sie nun die Ruhe finden würde, nach der sie sich sehnte, denn das vergangene Jahr war schwer und belastend für sie gewesen. Ihre Gesundheit war angegriffen, Kopfschmerzen und Depressionen quälten sie, und ihre Widerstandskraft hatte spürbar nachgelassen. Überall in den letzten Wochen war sie nur Gast für Tage und Wochen gewesen, sah Zufriedenheit und kleines Glück bei den anderen und für sich selbst nur Mühe und Helfen. Müde, kränkelnd, unruhig, mit einer tiefen Sehnsucht nach Ruhe und Stille traf sie in Oßmannstedt ein. Wieland, seine Frau Dorothea und die Kinder bemühten sich, ihr friedliche und schöne Stunden zu bieten. Aber sie konnte sich von der Vergangenheit nicht lösen. Fast täglich empfing sie Briefe aus Frankfurt und Wien und schrieb selbst an Herberstein, Moritz Bethmann, die Großmutter, Jakob Willemer, vor allem aber an die Schwester Gunda, an Tony, die Frau ihres Bruders Franz, und an die Freundin Charlotte Serviere 170 . Wenige Tage nach der Ankunft im „Osmantino" klagte sie Charlotte: „So wie ich die Feder ergreife, entsinkt mir alles Leben: ich verliere mich in Träume, schwärme durch die Stunden meiner Vergangenheit, beneide Euch um die Gegenwart, und vergehe zuletzt in Wehmuth." 1 7 1 Sie gestand ihr, daß sie in Oßmannstedt recht glücklich sein könnte, 119

alle würden freundlich zu ihr sein, aber: „Ach Gott! Was ist aus mir geworden! Die ganze Welt ist mir fremd, ich bin losgerissen von allem; so arm, so elend." Aber es gab auch Stunden und Tage, da sie sich von ihrer Apathie lösen konnte «und ihre frühere Leichtigkeit und Heiterkeit für kurze Zeit wiedergewann. In einem Tagebuch notierte Carl Bertuch: „Sie war die ersten Wochen wohl und heiter. Die Lebensweise war folgende: des morgens schrieb sie viel Briefe. Dann kam sie zum Frühstück in den kleinen Gartensalon, wo Wieland mit der ganzen Familie versammelt war. Man empfing den lieben Gast zusammen, und Heiterkeit herrschte. Des mittags aß man zusammen. War die Witterung günstig, so versammelte man sich gegen Abend im Garten, die Mädchen saßen gewöhnlich im Kreise selbst auf der Erde umher, und Sophie in der Mitte, und erzählte die schönsten Märchen mit einer Anmut, daß alles gern zuhörte, selbst Vater Wieland. Dann schweifte sie oft stundenlang durch die Felder." 1 7 2 Schon in den ersten Augusttagen versuchte sie, ihren Bruder Clemens zu erreichen, der ihr sofort aus Jena antwortete: „Liebe Sophie! Es liegt mir unendlich viel daran, Dich zu sprechen, nur wie? In Weimar ist es nicht möglich, in Osmannstädt auch nicht, Du weißt, daß ich mir mein Verhältnis dort verdorben habe ... Wenn Du Dich nicht entschließen kannst, mit mir in Kötschau im Wirtshause oder in Kapellendorf bei dem Amtmanne, wohin Dich Louis begleiten könnte, zu sprechen, so will ich Dich in Osmannstädt besuchen. ... O tue es um Gotteswillen, tue es, du tust dann viel. Schreibe gleich! Dein armer Bruder." 1 7 3 So trafen sich Bruder und Schwester in dem kleinen Ort, wenige Kilometer östlich von Oßmannstedt, zum letztenmal 174 . Am gleichen Tag schrieb Sophie an Charlotte Serviere und dankte für Briefe aus Frankfurt, bat aber, daß ihre Briefe keinem gezeigt werden sollten, vor allem nicht Moritz Bethmann: „Ich kann Euch nicht ausführlich antworten, alles verwundet und schmerzt mich. ... Meine Brust ist so voll, so voll, daß ich bisweilen in das einsamste Gebüsch im Garten laufe, die Bäume umfasse und laut auf schreye wie elend ich bin. Dies ist mein Leben, und ich soll ruhig werden? Wie?!! - Wißt Ihr mir zu sagen: Wie? - Wißt Ihr eine Aus120

sieht für mich, einen Trost? Zurück kommen, zu Euch? Was kann dies helfen, wenn es nicht um der Kinder willen geschieht? Ist M. nicht da, so ist mir alles unerträglich; und ist er da; so sehe ich der Verwirrung kein Ende. Nein: ich muß weg bleiben, ich mögte noch weiter fliehen, ich mögte sterben! ..." 175 Sophie erhielt zahlreiche Briefe ihrer zwanzigjährigen Schwester Gunda, die ihr aus Frankfurt und von Moritz Bethmann berichtete, der oft zu Besuchen in den „Goldenen Kopf" kam. Sophie sollte vielleicht den Eindruck gewinnen, daß Bethmann sich auch um ihre jüngere Schwester bemühte. Gunda schrieb, Bethmann habe ihr gestanden, er sei ein Mensch, der Glück habe und dem bisher fast alle Wünsche erfüllt worden seien, er habe sich nie um etwas bemüht und besäße nur, was man ihm freiwillig gäbe. Auch habe er ihr, Gunda, den Rat erteilt, zu heiraten, auch wenn es nur aus Vernunftgründen sei, denn er seinerseits glaube nicht, daß Liebesheiraten die glücklichsten seien176. Auch die Großmutter, Sophie von La Roche, schrieb ihrer Enkelin nach Oßmannstedt und berichtete, daß die Schwestern Bettine, Lulu und Meline bei ihr in Offenbach weilten und daß sich Clemens nun stark seiner Schwester Bettine zugewandt habe, „qu'il imbibe de ses prineipes, je l'avoue, a mon grand chacrin" 177 . Diese Nachrichten, zu denen sicher noch andere von Bethmann selbst und auch von Herberstein kamen, zogen Sophie tiefer und tiefer in einen Strudel von Angst und Zerrissenheit, aus dem sie sich nur schwer, und wenn, dann nur für kurze Zeiten befreien konnte. Sie führte in diesen Wochen eine Art Doppelleben: sie war unglücklich und wünschte sich, wieder in Frankfurt zu sein; dann aber verlor sie sich in Träumen und suchte in der Vergangenheit nach den Stunden, in denen sie geglaubt hatte, glücklich zu sein. Es gab Tage, da sie dies alles verbergen konnte, und Wieland, seine Frau und die Kinder dachten, Sophie würde nun ruhiger und zufriedener. Oft spazierte sie mit Wieland durch den Park. Sie erzählte ihm nach und nach alles, was sie quälte und unglücklich machte, und das, was sie nicht aussprach, konnte Wieland aus ihrem Auge lesen. Er hatte wie sie ihre Rückkehr nach Oßmannstedt herbeigesehnt und wollte nun das tun, was er in seinen Briefen so oft geschrieben hatte, er wollte ihr vorlesen, was er in den zurückliegenden Monaten an seinem Aristipp weitergeschrieben hatte. Nach dem Abschluß des ersten und zweiten Buches war nun für ihn das dritte Buch wichtig, in dem das Schicksal der Lais den Weg gehen sollte, den Sophie bestimmen würde. 121

Die Tage und Wochen im August 1800, die Sophie in Oßmannstedt verlebte, kennen wir in ihrem äußeren und in ihrem inneren Verlauf aus verschiedenen Quellen. Es sind zum einen die Briefe, die Sophie zumeist aus Frankfurt empfing, und es sind die, welche sie selbst in dieser Zeit schrieb. Und es gibt eine weitere Quelle für das, was in diesen Wochen geschah: die Erinnerungen von Wielands Sekretär Lütkemüller. Über ein Vierteljahrhundert später veröffentlichte er 1826 in einer Berliner Zeitschrift eine Artikelfolge über „Wielands's Privatleben" und schilderte dort auch den ersten Besuch der beiden Sophien im Sommer 1799 bei Wieland, und in einem eigenen Kapitel „Sophie Brentano" berichtet er von den Tagen und Wochen, die Sophie bis zu ihrem Tode in Oßmannstedt verbrachte. „Eines Nachmittags erblickte ich", so erinnerte sich Lütkemüller, „beim Gange im Lustgehölz, an einem offenen mittlem Rasenplatz, Wieland und Sophie auf einer Bank, von Birkengezweige überhängt. Er las aus einer Handschrift des .Aristipp' ihr vor. Ich wich zurück, um nicht zu stören, glaubte nicht bemerkt worden zu seyn, und setzte mich auf eine Rasenbank unter säuselnden Fichten. Nicht lange, so kamen Beide zu mir hergegangen. Ich stand auf und erwartete sie. ,Ei!' redete Wieland mich an, ,Sie haben uns vorhin belauscht. Warum kamen Sie nicht zu uns?' — ,Ich konnte nicht!' antwortete ich. — ,Sie konnten nicht? Und warum nicht?' — ,Sie lasen vor, und mir war, als wäre um Sie ein heiliger Kreis gezogen, der mich nicht durchlassen wollte.' — .Empfanden Sie das wirklich so?' fragte Sophie. - ,Ja', erwiederte ich, ,und was ich empfand, das war auch wirklich. Wenn Apoll mit allen Musen und Grazien da vor mir erschienen wäre, ich würde kaum mit so großer Ehrfurcht zurück gewichen seyn, als vorhin.' — ,Nun', sprach Wieland, .Ihres poetischen Gefühls wegen will ich Ihnen verzeihen, wenn's auch ein wenig zu stark gewesen seyn sollte!' — Indem wir hierbei in den Lindengang traten, sprach Sophie: ,Es dürfte auch wohl ganz erlaubt seyn, sich hier so poetisch zu befinden, als man nur wollte.' — ,Ei wohl!' erwiederte Wieland. ,Aber fast möchte ich doch fragen, in wiefern Sie dieses für ganz erlaubt halten?' — ,Wie poetisch auch die berühmtesten Oerter und Zeiten des Alterthums, in der langen, weiten Perspektive vor, oder vielmehr hinter uns, uns erscheinen mögen', sprach Sophie, ,so möcht' ich doch wohl wissen, was sie vor Wieland's Osmantinum und vor der wirklichen Gegenwart, worin wir hier leben, Sonderliches voraus haben könnten!' - ,Sie haben recht', fiel ich ein; ,was sollte 122

zum Beispiel der Wald des Akademus und der Sokratische Ilissus vor diesen Schattengängen und vor der Ilm, von Weimar bis hierher, voraus haben? Und die Weisheits-, Dichtungs-, Kunst- und Huldgöttinnen sind dort nie sichtbarer und heimischer gewesen als hier.' — , 0 ! ' rief Wieland, ,Sie helfen einander vortrefflich! Nur nicht gar zu arg, wenn ich bitten darf!' — ,In allem Ernst, lieber Vater!' fuhr Sophie fort, ,das, wodurch ein Ort empfängliche Gemüther poetisch macht, ist doch immer mehr, als was in die Augen fällt. Möge ein Athen, ein Tibur oder Sabinum immerhin in Griechenland und Italien liegen, und mit noch so schönen Gegenständen der Natur und Kunst in die Augen fallen: ohne die großen und schönen Geister der Vorzeit, die dort lebten und wirkten, würden solche Oerter nicht in poetische Stimmung versetzen, oder nicht das zu seyn scheinen, was sie durch die Erinnerungen, die sie erwecken, und durch die Gefühle, womit sie beseelen, einzig und allein werden.' - .Zugegeben!' erwiederte Wieland. ,Aber mich dünkt, Sie wollten vorhin nicht sowohl von der Vergangenheit und den sie umschwebenden und verklärenden Erinnerungen reden, sondern vielmehr von der Gegenwart und ihren unmittelbaren Eindrücken.' — ,Freilich', sagte Sophie; ,aber ich habe für diese nun Alles gewonnen, was ihr gebührt. Oder was fehlt denn unserm Weimar und Ihrem Osmantinum, daß es nicht mit Athen und Tibur für alle empfänglichen Seelen wetteifern könnte? Was mich betrifft, so vermisse ich hier nichts davon; im Gegentheil, die wirkliche Gegenwart beut mir dessen noch mehr, als die Vorzeit mit seinen berühmtesten Stätten mir bieten könnte. Und das sollte nicht poetisch machen dürfen? Ich kann mich jedoch nur in Prosa ausdrücken.' Wieland küßte sie auf die Stirn und sprach: ,Ihre Prosa sagt mir weit mehr, als ich hören sollte. Meinem Glücke fehlt nichts, wenn meine holde Tochter Sophie sich bei mir und den Meinigen so befindet, daß sie sich nicht angetrieben fühlt, von uns hinweg zu eilen.' — Es entstand hier ein gefühlvolles Schweigen." 178 Und wir besitzen noch eine weitere Quelle, die über diese Wochen berichtet: es ist das dritte Buch des Aristipp. In die Texte dieses Buches hat Wieland vieles einfließen lassen, was er in den Tagen des Hochsommers mit Sophie gesprochen und erlebt hat. Sein Zusammensein mit der jungen Freundin, ihre Erlebnisse des vergangenen Jahres und seine vielen Versuche, ihr zu helfen, fanden in den Briefen der Lais und des Aristipp ihren verborgenen Niederschlag. Wieland hat wahrscheinlich während Sophies 123

Besuch den einen und anderen Brief geändert, neu formuliert oder auch konzipiert: es sind Passagen, die Sophie auf sich beziehen konnte und auch sollte. So besucht im Roman Aristipp nach vielen Jahren der Trennung Lais und schreibt über dieses Treffen einem Freunde: „Sie schien in diesen glücklichen Tagen beinahe für mich allein da zu sein, und ich? — du kennst meine Weise — alles Gute (und wahrlich auch das Angenehme ist gut) dankbar anzunehmen und zu genießen, ohne zu fragen, oder mir Kummer darüber zu machen, wie lang' es dauern werde. Aber wenn ich sage, daß in einer einzigen Dekade wie diese mehr Lebensgenuß ist, als in neunzig Jahren, wie man gewöhnlich zu leben pflegt, so glaube ich keinen übermäßigen Wert auf sie gelegt zu haben." 179 Während des Besuches findet man sich zu einem „symposischen Gespräch" zusammen, um über die Arten der Liebe und der Begier zu diskutieren und zu philosophieren. Der Dialog, der sich unter den Freunden anspinnt, ist wie ein Versuch Wielands, Sophie zu helfen, sich über das klar zu werden, was ihr als Liebe erscheint. „Der Vorwurf des Praxagoras würde mich treffen, wofern ich sagte, ich kenne einen Menschen, der ein schönes Weib, oder auch nur eine schöne Bildsäule, einen schönen Wagen mit zwei milchweißen thrazischen Pferden, oder irgend ein schönes Ding in der Welt, sein Lebenlang vor sich sehen könnte, ohne jemals von der leisesten Begierde es zu besitzen angewandelt zu werden. Gewiß gibt es schwerlich einen solchen Sterblichen. Aber darauf wird bei der Unterscheidung der hiebe von der Begier keine Rücksicht genommen; denn da ist es bloß darum zu tun, jedem das seinige zu geben, dem Eros was der Liebe, dem Potbos was der Begierde zukommt. Daß es etwas zwar nicht unmögliches, aber gewiß sehr seltenes unter den Sterblichen ist, jenen ohne diesen zu sehen, geb' ich nicht nur zu, sondern find' es der Natur sehr gemäß. Indessen ist doch eben so wenig zu leugnen, daß es von jeher unter Blutsverwandten, unter Freunden, ja sogar unter Liebenden in der engern Bedeutung des Worts, an Beispielen reiner uneigennütziger Liebe, selbst an solchen, wo der Freund dem Freunde, der Liebende dem Geliebten die größten Opfer ohne alle Rücksicht auf eigenen Vor124

teil oder Lohn zu bringen willig ist, nie gefehlt hat noch künftig fehlen wird: und wer so weit gehen wollte, das innerliche Vergnügen, das von dergleichen Gesinnungen und Handlungen unzertrennlich ist, für das geheime eigennützige Triebrad derselben zu erklären, da es ihm doch ewig unmöglich wäre, sein Vorgeben nach der Schärfe zu beweisen, würde mit ungleich besserm Fug zu tadeln sein, als Plato, wenn er die Begriffe des Schönen, Wahren, Rechten u.s.f. durch Abscheidung von allem Fremdartigen zum höchsten Grade der Feinheit zu treiben sucht." 180 Mit diesen Worten, die Wieland der Freundin sicher vorlas oder die er im Gespräch mit ihr benutzte, versuchte er, ihr die Ruhe zu geben, die sie nur erlangen würde, wenn sie sich über ihre Gefühle klar werden könnte. In der Geborgenheit des Osmantinums sollte sie sich selbst finden und sich selbst sehen lernen. Später einmal schildert Lais Aristipp einen Traum, in dem sie sich wieder als „geflügelter Kopf" (siehe dazu Wielands Brief an Sophie Brentano vom 22. August 1799, S. 61) fühlte und in dem sie für sich das Liebesgeschehen von Psyche und Amor bis zum bitteren Ende nachträumt, da Amor sie verlassen muß. „Was sagst du zu diesem Traum, Aristipp? Ist er nicht seltsam? Und wie komme ich zu einem solchen Traume? Bin ich abergläubig, wenn ich ihn für etwas mehr als ein bloßes Spiel der Fantasie halte? Ist es Ahnung oder Warnung von meinem guten Genius? Wenn das, was der Flügelkopf, der mir in diesem Traum mein leb gestohlen hat, für den Sohn Cytherens fühlte, Liebe ist, so hab' ich nie geliebt; und wahrlich, nachdem ich mich meiner selbst wieder bemächtigt habe, wünsch' ich wachend nie etwas ähnliches zu erfahren." 181 Wieland spürte und wußte, daß es nicht leicht sein würde, Sophie zu raten, welchen Weg sie gehen sollte. „Überhaupt ist es immer schwer, öfters mißlich und nicht selten unmöglich, einzelnen Personen, die über den Weg, den sie im Leben einschlagen sollen, noch ungewiß sind, mit Zuverlässigkeit zu sagen was ihre Bestimmung sei. Die Natur schickt uns, wie es scheint, mit lauter unbestimmten Anlagen in die Welt, und was daraus werden soll, 125

hängt größtenteils von äußerlichen Umständen ab, über welche wir, in den Jahren wo ihr Einfluß gerade am meisten entscheidet, die wenigste Gewalt haben. Indessen würde doch, glaube ich, ein Gott, der das ganze, uns unsichtbare Gewebe der innern Anlagen eines Menschen zu durchschauen vermöchte, das, wozu ihn diese Anlagen vor allem andern bestimmen, unfehlbar entdecken; denn in der Natur gibt es nichts wirklich unbestimmtes. Je lebendiger also das Selbstgefühl bei einer Person ist, desto mehr ist zu vermuten, daß sie, wenn die äußern Umstände ihr völlige Freiheit lassen, sich selbst für diejenige Lebensweise bestimmen werde, zu welcher sie durch ihre ganze Naturanlage vor allen andern geschickt gemacht ist." 182 Vielleicht gab es Tage, an denen Sophiesich frei genug fühlte, die Botschaft dieser Worte als erste zu verstehen, die ihr nichts anderes sagen wollten als: versuche doch zu ergründen, wer du bist, suche deine Bestimmung und handle danach. Im Romangeschehen des Aristipp lebt Lais in Korinth, wo ihr eines Tages — sie zählt nun fast vierzig Jahre — ein junger Mann, Pausanias, von zwanzig Jahren begegnet, in den sie sich leidenschaftlich verliebt. Aristipp erfährt, was sich in Korinth abspielt. Zum erstenmal ist Lais nicht mehr die Herrin ihrer selbst, sie kann ihrer Leidenschaft nicht entfliehen: „Denn, da der schöne Pausanias weit entfernt ist den Grausamen gegen sie zu machen, so wäre gute Hoffnung, daß der Genuß das Feuer dämpfen, und die verliebte Raserei von kurzer Dauer sein würde. Aber, zu ihrem Unglück, hat die Fantasie ungleich mehr Anteil an ihrer Leidenschaft als die Sinnlichkeit. Ihre Liebe ist das Ideal der reinsten, höchsten, treuesten und beständigsten Anhänglichkeit, und so wie Sie selbst liebt, will sie auch wieder geliebt sein. Sie verlangt von ihm, was er ihr nicht geben kann, ein Herz, das nur für Sie schlägt, eine ganz von ihr ausgefüllte Seele." 183 Und mit der gleichen Klarheit über den Zustand der Lais-Sophie schließt der Brief. „Das schlimmste bei allem diesem ist ohne Zweifel, daß die arme Lais, — wie ich, aller ihrer Bemühungen es mir zu verbergen ungeachtet, nur gar zu deutlich sehe — nicht glücklich ist. — Sollte dir nicht auch schon begegnet sein, was mir mehr als Einmal geschah, daß du imTraum träumen wähntest? Ich weiß den Zustand, worin Lais sich dermalen befindet, durch kein passenderes Bild zu bezeichnen. Sie sieht zu hell, um nicht zu sehen, daß sie ihr ganzes 126

Glück in eine bloße Täuschung setzt; aber sie will getäuscht sein, und so ist sie es denn auch wirklieb, und träumt, es träume ihr daß sie glücklich sei. Möge nur das völlige Erwachen nicht gar zu schmerzhaft sein!" Später wird Wieland noch die Schlußworte des Briefes angefügt haben, die er schon früher erahnte: „Ob noch ein Mittel sie zu retten übrig ist, weiß ich nicht; mir wenigstens sind alle Versuche, die ich gemacht habe, fehl geschlagen." 184 Aus Briefen, die sie aus Frankfurt erreichten, mußte Sophie erfahren, daß man dort und vor allem bei der Großmutter in Offenbach überlegte, ob es nicht die beste Lösung aller Schwierigkeiten für sie wäre, wenn sich ein akzeptabler Ehepartner finden würde. Sie war verärgert, daß man in Frankfurt Heiratspläne schmiedete, ohne sie zu fragen. „Ich dächte doch wir wären alle alt und erfahren genug", schrieb sie der Freundin Charlotte, „um in alle Ewigkeit allen nichtigen Plänen und Aussichten, und Spekulazionen zu entsagen; mich lassen künftig alle Burgen und Philosophen und Männer unangefochten, ich erlaube mir auch nicht die unbedeutendsten Träume mehr, und glaube dies wird am Ende der einzige Weg seyn, auf dem noch Ruhe zu finden ist. Die Großmutter macht mich sehr ungeduldig mit ihren Mährgen. Es ist doch auch nicht ein wahres Wort daran." 185 Der August hatte noch viele sommerlich schöne Tage, in denen Sophie im Garten und in den Wiesen an der Ilm allein spazierenging oder mit Wieland im Gespräch zusammentraf. „An der hintern Gartenmauer", erinnerte sich Lütkemüller, „fand sich eine Rasenbank unter hohen pyramidenförmigen Fichten; in deren Gesäusel sich ein Geplätscher mischte, womit die Ilm jenseits der Mauer hinfloß. Hier traf ich Sophien an einem schönen SommerAbend allein. Sie war so in Gedanken verloren, daß sie mich erst bemerkte, als ich bis auf wenige Schritte genaht war. Ich hatte Briefe von Frankfurt und Wien an sie abzugeben, die ich über ihr Ansehen vergaß." Wenig später stieß Wieland zu ihnen. „Wir gingen ihm entgegen. — ,Es wäre unverantwortlich', sprach er, .eines so schönen Abends nicht zu genießen. Ich lasse Sie nicht länger allein, weil ich mich seiner mit Ihnen erfreuen möchte.' — 127

, A c h ! ' erwiederte Sophie, .wissen Sie, was ich wohl m ö c h t e ? Bis an meinen T o d bei Ihnen bleiben!' — ,Bis an Ihren T o d ? ' entgegnete Wieland etwas entrüstet. , D a s ist weit mehr, als ich verlange. O d e r glauben Sie etwa, daß ich Methusalems Alter erreichen w e r d e ? D a würden Sie bei mir am E n d e freilich v o r L a s t u n d Langeweile sterben.' — S o p h i e faßte sich mit einer K r a f t , w o m i t sie nach meinem G e f ü h l e sich G e w a l t anthat, u n d sprach wie leichthin: , M a n sagt zuweilen leicht, was man nicht sagen wollte; oder es weht auch, m a n weiß nicht woher, ein L ü f t c h e n in die Aeolsharfe unsrer Seele, u n d erweckt wunderbare A n k l ä n g e . D a s kann auch an einem schönen A b e n d geschehen.' — , E i w o h l ! ' bemerkte Wieland, ,und ich erfuhr vorhin etwas Aehnliches. Als ich in die Lindenschatten trat, war mir auf einmal, als wandelte ich in Delphi's heiligen Hainen, mit aller Sehnsucht meine Psyche suchend.' - ,Sie scherzen, lieber V a t e r ! ' sagte S o p h i e lachend. - , U n d w a r u m d e n n ? ' entgegnete Wieland.,Meinen Sie vielleicht, ich wäre der E m p f i n d u n g e n und E i n b i l d u n g e n A g a t h o n s gar nicht mehr f ä h i g ? Ich versichere Sie, in allen verschiedenen Perioden meines L e b e n s überfiel mich zuweilen eine Sehnsucht nach den delphischen Hainen; sie wehte auch, ich weiß nicht woher, wie ein L ü f t c h e n in die A e o l s h a r f e meiner Seele, und erweckte darin wunderbare A n k l ä n g e . ' — , D a s glaube ich gern', sprach ich. ,Was in A g a t h o n s G e m ü t h lag, u n d was er selbst als sein Innerstes empfand, das war auch — wie soll ich s a g e n ? etwas so H o h e s u n d Schönes, daß dessen Verlust durch nichts Anderes in der Welt ersetzt werden konnte. V o n d e m wahrhaft weisen Archytas selbst w u r d e dieses, d ü n k t mich, anerkannt.' — ,Aber was sagt Aristipp d a z u ? ' fragte Sophie. — ,Ich weiß nicht', antwortete Wieland, ,ob Aristipp weiser ist als Archytas; ich zweifle daran. Oder meinen Sie, ich müßte in aller Rücksicht so aristippisch seyn, als ich den Aristipp in seinen Briefen darzustellen h a b e ? ' — ,Aber schwärmen können Sie doch nicht m e h r ! ' erwiederte Sophie. - , 0 ! ' entgegnete Wieland, ,wenn mich auch nichts als L i e b e für die Menschheit beseelte, so könnte ich dabei doch zuweilen schwärmen. U n d das habe ich gethan, das thue ich noch, und das werde ich thun bis z u m letzten H a u c h meines L e b e n s ! ' — .... E i n Gewitter g i n g in diesen heißen A u g u s t t a g e n nieder, aber wie es g e k o m m e n , so war es auch v o r b e i . — .... ,Sehen S i e ! ' sprach S o p h i e ; ,ich weiß nicht, was das Alles sagt und andeutet. W ä r e meine Seele auch noch so g r o ß und noch so voll K r a f t zu vernehmen, der Anblick und Geist der N a t u r bliebe ihr doch uner128

schöpflich.' - .Unser Herz faßt das Beste in unaussprechlichen Gefühlen!' erwiederte ich. — Hier trat Wieland herbei. .Sagen Sie was Sie wollen', sprach Sophie mit plötzlicher Lebhaftigkeit; .unser Erdenleben ist am Ende wie ein Gewitter; wenn's vorüber ist, so scheint uns eine schönere himmlische Sonne, und unsre Seele fühlt sich erquickt, wie diese Blumen hier!' — .Recht schön!' entgegnete Wieland. ,Es thut mir jedoch leid, daß meine Sophie, die so fähig ist, guten Menschen dieses Leben zu verschönern, sich so leicht davon abwendet.'" 186 Wieland erkannte in diesen Tagen das volle Ausmaß der unglücklichen Beziehung Sophies zu Moritz Bethmann, und er suchte immer wieder nach einer Möglichkeit, ihr zu erklären, wie sie dieses Verhältnis ansehen sollte. Da kam ihm ein kleiner Umstand zu Hilfe. „Nun muß ich Euch aber auch etwas erzählen, welches mir einen wunderbaren Eindruck gemacht hat", schrieb Sophie ihrer Freundin Charlotte. „Auf dem kleinen Portefeuille von M. ist ein Medaillon mit einer sehr mittelmäßigen Mahlerey. W. der alles ergründen muß, studierte lange über die Bedeutung der Zeichnung, auf einmal rief er ganz begeistert aus: Aha nun weiß ich's! Das ist Titus der sagt zurBerennice: Madame, Sie gefallen mir zwar sehr wohl, und ich habe sie auch lieb; aber meine Krone ist mir doch noch mehr werth, und ich kann Ihnen also meine Hand nicht reichen. Gehen Sie in Gottes Nahmen, ich will ihr guter Freund bleiben! — Wieland hatte während dieser Rede seine Augen auf mich gerichtet und lächelte sehr fein, ich wurde roth und lachte auch, er küßte mich und sagte: Peut-on donner une chose plus parlante?"187 Sophie hatte sofort verstanden, was Wieland ihr mit diesem Vergleich sagen wollte. Sie kannte die Liebeslegende des Altertums und wahrscheinlich auch, wie Wieland, die Tragödie von Jean Racine, Berenice, in der der römische Kaiser Titus Berenice aus Gründen der Staatsraison verbannen muß188. Sie gestand in ihrem Brief, daß sie nun ihr Verhältnis zu Moritz Bethmann in einer Klarheit sehe, die sie vorher nicht besessen habe: „So bin ich auf einmal, wie durch einen Zauberschlag, ins Gleichgewicht gekommen, und ich bin überzeugt daß selbst seine Gegenwart mir es nicht mehr rauben wird." 189 Mit diesem Geständnis überschätzte sie jedoch sich und ihre Kräfte. Auf 9

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einen Brief Charlottens, die ihr Neuigkeiten aus Frankfurt berichtete, antwortete sie in den letzten Tagen des August. „Meine Eroberung zu machen, und den Triumpf dann unter dem Nahmen Freundschaft zu genießen, dies waren seine Pläne. Sie sind ihm nur zu gut gelungen, und meine Ruhe war das Opfer davon." 190 Am meisten Sorgen machten ihr die jüngeren Geschwister. „Ich würde nicht gerne den Winter hier bleiben ... Mein Aufenthalt in Ffurt ist mir gar nicht mehr fürchterlich. Ich versichere Euch, ein Gott hat mich angehaucht." 191 Ende August teilte ihr die Schwester Gunda in einem langen Brief mit, daß es für Sophie besser sei, wenn sie nicht nach Frankfurt zurückkäme. Im Haus sei nur Mißgunst und Neid. Moritz Bethmann habe ihren Brief erhalten. Es war der, in dem Sophie ihm schrieb, daß sie nun Klarheit über ihr Verhältnis gewonnen habe. „Er konnte sich nicht denken, daß du dich je erholen würdest, er macht Pläne dein ganzes schönes Gebäu von Ruhe daß dich so viel gekostet wieder zusammen zu werfen. Da du nun vorbereitet bist wird er hoffentlich seinen Zweck verfehlen." Dann teilte Gunda ihr noch mit, daß Bethmann sie sicherlich in Oßmannstedt besuchen wolle, und nach vielen anderen Nachrichten drang sie noch einmal in die Schwester, sie solle auf keinen Fall nach Frankfurt kommen 192 . Sophie konnte die Briefe nicht mehr beantworten. Am 3. September 1800 legte sie sich krank zu Bett. „Als aber diese Leidenschaft, deren Sie selbst sich immer für unfähig gehalten hatte, endlich doch noch Meister über die Widerspenstige ward, war nichts anders zu erwarten, als daß das Seelenfieber (wenn ich es so nennen kann) wovon sie begleitet ist, von der heftigsten Art sein würde." So Aristipp über Lais 193 . Wieland benachrichtigte die Familie Brentano in Frankfurt, und Gunda und Georg fuhren sofort nach Oßmannstedt. Auch Charlotte Serviere kam und schließlich ein Freund von Clemens, der zwanzigjährige Medizinstudent Stephan August Winkelmann, der dem Arzt, Wilhelm Gottfried Herder, dem ältesten Sohn Johann Gottfried Herders, bei der Behandlung half. Eine eindeutige Diagnose der Krankheit wurde nicht bekannt. In den Briefen und Berichten wird stets von einer Nervenkrankheit oder einem Nervenfieber gesprochen. Vielleicht war das auslösende Moment eine Infektion. Typhus wurde vermutet, auch eine Lungenentzündung wäre möglich gewesen, als Folge einer Erkältung, die sich Sophie bei den abend130

liehen Spaziergängen in den feuchten Wiesen an der Ilm zugezogen haben könnte. Daraus hatte sich dann vielleicht eine Gehirnhautentzündung entwickelt (bakterielle Meningitis), die durch die jahrzehntealte Kopfkrankheit infolge des Verlustes des einen Auges noch begünstigt worden sein könnte. Zu jener Zeit waren Antibiotika noch nicht bekannt, so daß den Fieberanfällen nur schwer zu begegnen war. Und die Krankheit traf auf einen psychisch geschwächten Körper. Sophie fühlte in sich keine Kraft mehr, zu gesunden, ja, sie wollte es vermutlich gar nicht mehr. Sie hatte sich in den letzten Wochen in ihrem Fühlen und Denken mehr und mehr dem Sterben genähert, so daß sie vor dem letzten Weg nicht mehr zurückschreckte. Die Schwester, die Freundin, Wieland und seine Familie standen ihr zur Seite, aber sie mußten mitansehen, wie Sophie von Tag zu Tag schwächer wurde. In der Mitternacht vom 19. zum 20. September starb Sophie Brentano in Oßmannstedt, einen Monat nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag. Auch in Weimar sprach man von ihrer Erkrankung, Herders Frau schrieb am 10. September an Karl Ludwig Knebel: „Der Doctor ist so eben in Ossmannstädt, die Mademoiselle Brentano, eine Enckelin der Frau von Laroche ist seit einigen Monathen dort, u. ist jetzt mit einer fatalen Hysterischen Krankheit befallen. Ihr Bruder, der Verfasser der Satyren Maria ist auch hysterisch im Kopf." 194 Noch Tage nach ihrem Tode wußte man in Frankfurt nichts von dem Geschehen. Im Kirchenbuch der Gemeinde Oßmannstedt findet sich die Eintragung: „... den 20. Sept. 1800 starb allhier die Wohlgeborene De Moisell Sophia Brentano von Frankfurt am Mayn ... an einem hitzigen Fieber und wurde auf Befehl d. H. P. Oberkonsistorial-Collegio in Herrn Hofraths Wieland Garten des Nachts auf feyerlichste beerdigt am 21. Septbr. (Ärzte:) Die Herrn Dr. Herder und Hofrath Starcken von Jena." Wieland hatte als Grabstätte einen Platz in seinem Garten, nahe den Wiesen, die zur Ilm führen, vorgesehen und sich umgehend über Herder an das Fürstliche Oberkonsistorium gewandt, um die Erlaubnis dafür zu erhalten. Herder hatte sich sofort mit einem Schreiben für den Freund verwandt: „Pro meo voto dürfte die Congreßion per rescriptum ad Pastorem ohne üble Folgen seyn, da sie eine Fremde ist; das salvis juribus stolae — Ob gratis oder urientgeldlich überlaße ich der Meinung des hohen Collegii. Die Beerdigung ist in Beiseyn Pastoris sehr ehrbar angeordnet." Die anderen Mitglieder des Konsistoriums stimmten zu, einer von ihnen vermerkte dazu: „accedo u. könnte nach meinem Dafürhalten gratis dispensirt werden." 196 Sophie fand ihre letzte Ruhestätte dort, wo sie die glücklichsten Stunden der letzten 9»

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Tage und Wochen ihres Lebens verbracht hatte: im Garten an der Ilm in Oßmannstedt. Mit der Ansprache des Pfarrers war Wieland sehr unzufrieden. Es gibt eine Notiz von Böttiger: „Der Pfarrer in Osmannstädt ist ihm [Wieland] ein Pfahl im Fleische. Seine Rede bei der Beerdigung von Sophie Brentano. Gartengeschichte: Sündenfall, blutiger Schweiß, Auferstehung." 197 Wenn Wieland an ihrem Grabe gesprochen hätte, würde er vielleicht die Worte gewählt haben, die Aristipp an den Freund Eurybates in Athen schreibt, nachdem er von diesem die Nachricht des wahrscheinlichen Todes der Lais erfahren hatte: „Vielleicht hätten wir weniger schonend mit ihr umgehen sollen, da sie noch glücklich war? — Diesen Vorwurf habe ich mir selbst schon mehr als Einmal gemacht, und kann jedesmal nicht umhin, mir selbst zu antworten: es würde vergeblich gewesen sein ... Ob wir gleich wohl tun, uns unaufhörlich zu sagen, es hange immer von unserm Willen ab, recht zu handeln oder nicht: so scheint doch — wenn wir den Menschen betrachten, so wie er, in unzähligen, ihm selbst größten Teils unsichtbaren Ketten und Fäden Piatons großer Spindel der Anangke hangend, von eben so unsichtbaren Händen in das unermeßliche und unauflösliche Gewebe der Natur eingewoben wird — so scheint, sage ich, nichts gewisser zu sein, als ,daß ein Jedes ist was es sein kann, und daß es unter allen den Bedingungen, unter welchen es ist, nicht anders hätte sein können'." Und Aristipp beschließt seinen Brief: „In solchen Augenblicken möcht' ich mit dem Schicksal hadern, daß es einen so düstern Schatten auf das herrliche Götterbild fallen ließ, und die vom Herzen bestochne Einbildungskraft spiegelt mir eine trügerische Möglichkeit vor, wie alles anders hätte gehen können, bis endlich die Vernunft das gefällige Duft gebilde wieder zerstreut, und mich, wiewohl ungern, zu gestehen nötigt: es habe dennoch so gehen müssen, und, wie unbegreiflich uns auch die Verkettung unsrer Freiheit mit dem allgemeinen Zusammenhange der Ursachen und Erfolge sein möge, immer bleibt das Gewisseste, daß das ewige, mit der schärfsten Genauigkeit in die Natur der Dinge eingreifende Räderwerk des Schicksals nie unrichtig gehen kann." 198

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Wieland nach dem Tode Sophie Brentanos Arbeit am Aristipp Tod seiner Frau Dorothea

Wieland teilte die schmerzliche Nachricht umgehend Sophie von La Roche und Moritz Bethmann mit. Seinem Verleger Göschen sandte er Ende September einen Brief: „Ich und meine Familie haben in diesem zu Ende gehenden Monat einen harten Stand gehabt. Sophie Brentano, das liebenswürdigste und interessanteste Mädchen von 24 Jahren, das vielleicht der Erdboden trug, wurde, nachdem sie uns, durch ihren Aufenthalt bei uns, eine Reihe paradiesische Tage geschenkt hatte, am 3. September von einer der sonderbarsten und verwickeisten Nervenkrankheiten befallen, die sich in wenig Tagen als gefährlich ankündigte, mit jedem Tage trostlosere Symptome zeigte, und ungeachtet aller ersinnlichen angewandten Hilfe der vorzüglich in solchen "Fällen leider! wenig vermögenden Heilkunst, in der Mitternachtsstunde des 19. Sept. in Gegenwart ihrer Schwester Gunda und ihres Bruders Georg {nicht Clemens) Brentano mit dem Tode endigte. Was wir in diesen trübseligen 16 Tagen erfahren und gelitten, möge Ihnen Ihre eigene Einbildungskraft und Ihr eigenes Herz sagen. — Die Hülse, die der entfliehende Engel zurückließ, ruht nun in einem stillen Plätzchen meines durch sie geheiligten Gartens. — Dies, und die traurige Gewißheit, daß Sie, wenn es auch möglich gewesen wäre, Ihr Leben noch einige Zeit zu fristen, doch nie wieder zu der schönen Klarheit ihres Verstandes, die ihr einen so großen Vorzug vor den meisten ihres Geschlechts gab, hätte gelangen können, ist der einzige Trost,, womit ich mich nun behelfen muß, bis die wohlthätige Zeit ihre Wirkung gethan haben, und den Gedanken, das holde Geschöpf mir als einen über ihrem so lieben Osmantinum schwebenden Schutzengel vorzustellen, mir zu Gewohnheit gemacht haben wird." 199 Sophie von La Roche sandte die schmerzliche Nachricht an die Gräfin Elise zu Solms-Laubach: „Sie vergeben, gnädigste Frau, daß ich davon spreche, aber ich bin Großmutter und verliere in ihr meine Maximiiiana 133

noch einmal. Sie starb bei Wieland an Nervenzuständen, welche durch Briefe noch gereizt wurden und in dem Haus des größten Poeten nicht abgespannt werden konnten. Geist, Grazie, Güte und Talente schützen nicht gegen Schmerzen der Seele, welche meine holde Sophie Brentano mit 24 Jahren dahinnahmen. Wohl ihr in der besseren Welt." Wochen später konnte sie der Fürstin mitteilen, daß Sophies Tod ihr ein Erbteil zusicherte: „Ich lege einen Brief von Wieland an mich bei und bin sicher, die edle, gütevolle Fürstin Elise hört gerne, daß mir nach den Gesetzen der Stadt Frankfurt ein Erbteil von meiner Enkelin zukommt. Ach, aus dem frühen Grab sproßt Hilfe und Erleichterung auf meine alten Tage, als ich mit Angst meinen siebzigsten Geburtstag, dem neu entstehenden Krieg und dem Verlust des Kostgeldes von dem jungen Bethmann entgegenblickte." 200 In ihrem Haus in Offenbach hatte Sophie den Sohn der Elisabeth von Bethmann zusammen mit seinem Hofmeister als zahlenden Gast aufgenommen und damit ihre Mittel etwas aufgebessert. Die 1753 geborene Elisabeth war eine enge Freundin von Goethes Schwester Cornelia gewesen und eine Cousine von Moritz Bethmann, dessen Anteil am Schicksal Sophies die Großmutter nur zu gut kannte. In einem Brief, den sie am 11. Oktober an Wieland richtete, kam sie darauf zu sprechen: „Haben Sie Dank, mein Freund! für die Tränen der Wehmut und Dankbarkeit, welche ich bei Ihrem Brief weinte; ich fühle eine Art Glück bei der Überzeugung, daß Wieland mich bedaurte. Es ist herb, mein Schicksal, seit Jahren nahm es mir ein Gutes nach dem andern und nun auch in Sophie den Ersatz, in welchem mein Herz sich schadlos gehalten achtete. Was machte es aus der Erinnerung meiner Reise, aus dem Namen Bethmann, welcher so oft in meinem Hause tönt ... Dank, Segen sei Ihnen, mein ältester Freund! meine teure Freundin Wieland! und allen Ihren Kindern für alles, was Sie alle für Sophie waren, welcher ich den 16. Mai, als sie Abschied bei mir nahm, noch unter meiner Haustür Grüße an die Lindenallee und an die einsame, so schöne Stellen des Birkenwäldchens gab, wo ich mit so vieler Rührung an meinen Franz dachte. War es nicht Ahndung? O Wieland! Ich kann noch nicht viel, noch nicht lang von meinem Weh sagen, es ist groß und unsterblich. Gott sei Dank, daß ich den 6. Dezember 70 Jahr alt werde, also nicht mehr lange zu tragen habe. Gott erhalte Sie lange, und lohne Sie mit edlem Glück für dies, was Sie Sophien waren. Er hat die Großmutter arm werden lassen." 201 Clemens war nicht nach Oßmannstedt gekommen, er hatte in Frankfurt die Nachricht vom Tode der geliebten Schwester erhalten. „Unsern Verlust kennen Sie", schrieb er an Savigny. „Sie wissen, daß Sophie bei Wieland 134

im Wahnsinn gestorben ist. Winkelmann hat sich edel betragen, er hat Tag und Nacht bei ihr gewacht. Als von ihrer ganz gefahrlosen Krankheit geschrieben wurde, eilte Kunigunde hin, dann Georg. Sie haben sich Schmerz auf 6 Wochen und einen Reiz auf lange geholt. Ich ahndete ihren Tod und bereitete die Zurückgebliebenen ruhig drauf vor, aber ich hieß der Phantast, und da sie tot war, sah man mich nicht an. Diese Leute haben alles verloren und Kunigunde ist sehr krank zurück, doch wieder besser. Ich habe das einzige Weib verloren, das ich liebte und das mich nicht mißhandelte, und ich bin erschrocken, daß nur ein Schmerz in mir möglich ist, der um die Mereau, ich glaubte um Sophien zu weinen und weinte um die Mereau, diese Wunde schließt sich nie in mir." 202 In seinem Roman Godwi oder das steinerne Bild der Mutter, der erst nach Neujahr 1801 erschien und der sich in den September- und Oktoberwochen im Druck befand, hat er, in der diesem Buch eigenen bilderreichen Sprache, die Schwester Sophie an vielen Stellen beschrieben und gezeichnet, vor allem im ersten Teil unter dem Namen der „Brünetten". — „Ihr Leben war bestimmt, zum Himmel, zu der Kunst, zur unendlichen Liebe hinzuströmen, aber sie ward aufgefangen zum Strome, sie ward von dürftigen Ufern eingefaßt, und ergoß sich aus Mitleid rauschend, nährend und spiegelnd durch das arme Leben andrer; viele ganz taugliche, schiffbare Flüsse, einige fischreiche Bächlein, und viele Waldströme und wilde Schneegewässer rannen gierig in sie hinein, um sich vergrößert und auf der Landcharte in ihr geehrt zu fühlen. Schweigend nimmt sie alle auf, die sich ihre Freunde nennen, und führt sie weiter; durch diesen Zufluß ist sie aufgehalten zu vergehen, sie muß langsam die trüben Wellen abwärts wälzen, und ihre Freunde merken es nicht, daß sie sie aufreiben — über ihr steht die Sonne und saugt sie gierig hinauf, schon an der Quelle dort strahlt sie dankend der Sonne Bild zurück, und sie wird wohl bald versiegt seyn, und im Gedanken leben, wenn das zusammengeflossene Gewässer ihrer Freunde den Strom allein ausmacht, den man Sophie nennt. — Sie ward umfasst, und sollte alles gelinde umfassen, und wenn ich sie ansehe, ist mir als sey sie nur noch die Form ihres Lebens, und zerbricht diese, so werden die, die sie so fest zusammenpackten, mit den Köpfen zusammenstoßen, und weinen, daß sie nun auf ihren eignen Füßen stehen müssen." 203 Im zweiten Teil des Romans steht im elften Kapitel die Hymne „An S.", die Brentano später in seine Gesammelten Schriften unter der Überschrift „An Sophie Brentano, seine Schwester (Gestorben in Weimar 1800)" aufnahm. „Ich dachte an dich, die mich erwartet, wo bist du Geliebte? sprach ich 135

die so zu mir strebt, die in Waldschatten athmet, und von dem Himmel mit goldenen Fäden mein Herz umspinnt — wo bist du? die mich küßt im kühlen Abendwinde — soll ich nimmer zu dir und mit dir seyn? wie der Abend, in dem ich deiner gedenke — ach Alles sprach mit mir! auch die Brünette drängte sich leise an mein Herz, und sagte — ich bin nun wie dir ist — da sprach ich die folgenden Worte zu ihr:

An S. Wie war dein Leben So voller Glanz. Wie war dein Morgen So kindlich Lächlen, Wie haben sich alle Um dich geliebt, Wie kam dein Abend So betend zu dir, Und alle beteten An deinem Abend. Wie bist du verstummt In freundlichen Worten, Und wie dein Aug brach In sehnenden Thränen, Ach da schwiegen alle Worte Und alle Thränen Gingen mit ihr. Wol ging ich einsam, Wie ich jetzt gehe, Und dachte deiner, Mit Liebe und Treue — Da warst du noch da Und sprachst lächlend: Sehne dich nimmer nach mir, Da der Lenz noch so freudig ist Und die Sonne noch scheint — 136

Am stillen Abend, Wenn die Rosen nicht mehr glühen Und die Töne stumm werden, Will ich bey dir seyn In traulicher Liebe, Und dir sagen, Wie mir am Tage war. Aber mich schmerzte tief, Daß ich so einsam sey, Und vieles im Herzen. O warum bist du nicht bey mir! Sprach ich, und siehst mich Und liebst mich, Denn mich haben manche verschmäht, Und ich vergesse nimmer, Wie sie falsch waren Und ich so treu und ein Kind. Da lächeltest du des Kindes Im einsamen Wege, Und sprachst: harre zum Abend, Da bist du ruhig Und ich bey dir in Ruhe. Dein Herz wie war es da, Daß du nicht trautest, Viel Schmerzen waren in dir, Aber du wärest größer als Schmerzen, Wie die Liebe, die süßer ist, Als all ihr Schmerz. Und die Armuth, der du gabst, War all dein Trost, Und die Liebe, die du freundlich Anderen pflegtest, War all deine Liebe. 137

Einsam ging ich nicht mehr, Du warst mir begegnet Und blicktest mich an — Scherzend war dein Aug Und deine Lippe so tröstend — Dein Herz lag gereift In der liebenden Brust. Freundlich sprachst du: Nun ist bald Abend, Gehe, vollende, Daß wir dann ruhen, Und sprechen vom Tage. Wie ich mich wendete — Ach der Weg war so schwer! Langsam schritt ich, Und jeder Schritt wollte wurzeln, Ich wollte werden wie ein Baum, All meine Arme, Blüthen und Blätter, Sehnend dir neigen. Oft blickte ich rückwärts Hin, wo du warst, Da lagen noch Stralen, Da war noch Sonne Und die hohen Bäume glänzten Im ernsten Garten, W o du gingst. Ach der Abend wird nicht kommen Und die Ruhe nicht, A u f Erden ist keine Ruhe. Nun ist es Abend, Aber wo bist du? Daß ich dir sage, Wie der Tag war. 138

Warum hörtest du mich nicht, Als du noch da warst? Nun bin ich einsam, Und denke deiner Liebend und treu. Die Sonne scheint nicht, Und die Rosen glühen nicht, Stumm sind die Töne — O! warum kömmst du nicht, Willst du nicht halten, Was du versprachst? Willst du nicht hören, Soll ich nicht hören, Wie der Tag war? Wie war dein Leben, So voller Glanz, Wie war dein Morgen So kindlich Lächlen, Wie habe ich immer Um dich mich geliebt, Wie kömmt dein Abend So betend zu mir, Und wie bete ich An deinem Abend.

Am Tage hörtest du mich nicht, Denn du warst der Tag, Du kamst nicht am Abend, Denn du bist der Abend geworden. Wie ist der Tag verstummt In freundlichen Worten, Wie ist sein Aug gebrochen In sehnenden Thränen, Ach da schweigen alle meine Worte, Und meine Sehnsucht zieht mit dir." 2 0 4 139

Später schrieb Clemens seiner Schwester Gunda, die in Frankfurt Sophies Tod noch immer nicht verwunden hatte, über Winkelmann, der mit ihr zusammen die sterbende Sophie in Oßmannstedt über Wochen gepflegt hatte. Er „ist Dir so gut, daß er oft weint, wenn ich von Deinem Zustand mit ihm spreche. Gestern sagte er mir, wenn Du nicht wieder zurechte kämst, so würden wir beide es nicht verschmerzen; Sophie hätten wir zur Poesie verarbeitet und ihr Tod sei nur traurig gewesen, weil sie jung war, aber sonst habe sie den Tod verdient und der Tod sie ..." 205 Diese doch erstaunliche Bemerkung Winkelmanns, dessen Verhältnis zu Clemens sich sehr verändert hatte, bezieht sich auf die zahlreichen „Verarbeitungen" Sophies im Godwi. In Wien hatte man erst im September von Sophies Krankheit erfahren und auch, daß Gunda zu ihr nach Oßmannstedt gereist war. Umgehend schrieb Henriette von Arnstein am 1. Oktober an Gunda — also Wochen nach dem Tode — und bat dringlich um nähere Nachrichten; sie wollte auch einen kenntnisreichen Arzt vermitteln 206 . Ihr Brief traf erst am 15. Oktober nach Gundas Abreise in Oßmannstedt ein, und Wieland sandte ihn umgehend an Gunda: Theure Freundin, Henriette Arnstein, die Geliebteste unter den Freundinnen unsrer verklärten Sophie, schickte das inliegende Briefchen unterm 1. Sept.207 unverschlossen unter meiner Addresse an Sie, in der Meinung daß S. noch lebe, und Sie Selbst Sich noch zu Osmannst. befänden. Ich erhielt diesen Brief aber erst am 15tcn d. Abends. Ich eile nun Ihnen solchen mit der ersten hier abgehenden Post zu übersenden — weil es mir nicht erlaubt ist ihn zurückzuhalten, wiewohl er die ohnehin noch frische Wunde Ihres gefühlvollen Schwesterherzens von neuem schmerzlich aufreissen wird — und ich wage es daher nicht irgend etwas von meinen eigenen Gefühlen, denen die Zeit noch nichts anhaben kann, hinzuzusetzen. Da mein Sohn Luis abwesend ist, so habe ich der Mad. Lea Salomon (einer liebenswürdigen Cousine der Henriette A.) die den Brief der letztern an Sie mit einem von ihr selbst an meinen Sohn begleitete, an seiner Statt mit heutiger Post selber geantwortet. Ihr mir sehr theuer gewordener Bruder Georg hat die Güte gehabt mir ihre glückliche Zurückkunft nach Frankfurt und ihre gehoffte gänzliche Wiederher140

Stellung von den natürlichen Folgen alles dessen was sie in der zweyten Hälfte des für uns so traurigen Septembers an Seele und Körper gelitten, zu unser aller Beruhigung zu berichten. Ich bitte Sie, liebenswürdige Gunda, Ihm in meinem Nahmen dafür herzl. zu danken, und mich Ihm und Ihrem würdigen edeln Bruder Franz bestens zu empfehlen. Wie angenehm es mir seyn würde von der Lieblingsschwester Meiner ewigtheuren S. Selbst durch ein Paar Zeilen über Ihr dermahliges Befinden beruhigt zu werden, sagt Ihnen, wie ich hoffe, Ihr eigenes Herz, das Sie, nach der Offenheit, womit ich Ihnen an dem trauervollen Morgen des 21stcn Septemb. das Meinige gezeigt habe, keinen Augenblick an meiner innigsten Theilnehmung, Achtung und Ergebenheit zweifeln lassen wird. Oßmannstätt, den 17 tm Octob. 1800

C. M. Wieland.

Sie werden von allen den Meinigen, aufs zärtlichste gegrüßt. Mögen Sie Sich unser aller immer mit Wohlwollen erinnern, so wie Sie hinwieder uns allen theuer u unvergeßlich bleiben werden 208 . Auf den Brief an Lea Salomon, den Wieland erwähnt, antwortete diese zusammen mit ihrer Kusine Henriette von Arnstein am 29. Oktober. Wien, den 29ten Oktober 1800 Obgleich ich ganz die Unbescheidenheit fühle, Sie mit Briefen einer gleichgültigen Unbekannten zu belästigen, so ist mein Herz zu sehr von Dankbarkeit u. Rührung erfüllt, um Ihnen nicht durch diese Zeilen meine tiefe Verehrung u. innige Erkenntlichkeit zu beweisen. Schon vor einigen Wochen erfuhr meine arme cousine den Tod ihrer angebeteten Freundin Sophie; gefaßter, ruhiger, doch nicht weniger trauernd u. wehmütig fanden sie die näheren Nachrichten, die Sie, verehrter Herr Hofrath! mir mit so unendlich vieler Güte gegeben. Es gewährt ihr den süßesten Trost, die Liebe eines zärtlichen Vaters mit ihrer eignen Klage vereinen zu können, u. über den seltnen Werth des herrlichen verklärten Mädchens mit dem edelsten, ehrwürdigsten Manne übereinzustimmen. Die reinste, zarteste Verbindung unter Unbekannten ist das gleiche Gefühl fremder Vollkommenheit, u. So141

phieens Enthusiasmus für Henrietten bürgt Ihnen dafür, daß sie Ihrer Theilnahme würdig ist. Zwei so schöne weibliche Seelen verdienten sich zu begegnen; das Glück führte sie zusammen, u. jenes wechselseitige Erraten, jenes frohe Ahnden der seltensten Geistes- u. Herzensgaben verband sie schnell u. innig. Nur durch Henriettens Liebe lernte ich Sophien kennen; seit diesen Morgen bewundere u. schätze ich sie auch durch Sie, u. nie, nie wird mein Bedauern aufhören, diese liebliche Gestalt, dies holde, zarte, weibliche Wesen voll Geist u. Grazie - Wielands Psyche mit einem Wort — nicht gesehen zu haben. O! trotz dem tiefen, ewigen Schmerz meiner Henriette tauschte ich gern ihren schönen Gewinn von Sophiens Freundschaft, die köstliche, einzige Empfindung mit der sie ihre Brust bereichert hat! Es war der freundlichste Punkt meines künftigen Lebens, der Lieblingsgedanke meiner Seele, wenn ich Sophien finden u. durch Henrietten ihr bei der ersten Bekanntschaft gleich Freundin sein würde! Verzeihen Sie den unwillkürlichen Ausbruch meiner Empfindung; doch bei Ihnen hat die Sprache des Herzens u. der freie Ausdruck des Wohlwollens nichts zu fürchten. Die reine, unverkennbare Güte Ihrer Worte, die zarte Theilnahme, der sanfte, unwiderstehliche Zauber Ihres mich so beglückenden Briefs haben mir ein wahrhaft kindliches Vertrauen, eine unbegrenzte Achtung u. Ehrfurcht eingeflößt, die ein schönes Gemüth auch in dem unbedeutendsten Wesen zu erwecken nicht verschmäht. Mir bleibt noch eine liebe Hoffnung; die, Sie in Gesellschaft meiner cousine u. ihrer Mutter nächsten Frühling zu sehen. Werden Sie die Fremdlinge die Ihnen durch ein Gefühl so nah verwandt sind, willig aufnehmen? Werden Sie sie würdig halten, sie zu der heiligen Ruhestätte Ihres verklärten Lieblings zu führen? Wie bang u. wehmutsvoll, wie heiter u. froh verlangt mein Herz nach diesem, nach Ihrem Anblick! Die gute Zeit, das Erwachen der Natur haben alsdann auch Sie getröstet u. beruhigt, u. die Erinnerung an Sophiens Tugenden von Ihren Lippen sollen die Freundinnen ermuntern ihrem Bilde ähnlich zu werden! Ihre Ihnen ewig dankbare Lea Salomon. Gestatten Sie ehrwürdiger innig verehrter Mann! daß auch ich Ihnen meinen Dank für Ihren gütigen, mich beglückenden Brief sage. Wüßten Sie wie er mich getröstet hat, wie mich das Bewußtseyn von Sophien 142

geliebt zu seyn mich erhebt und stärkt. Ich bin nur ein sehr einfaches, unbedeutendes Geschöpf und nur Sophiens Güte konnte mir Ihre Liebe gewinnen. Ihr Andenken, die Erinnerung an ihre Tugenden, an ihre Leiden, sollen mich ermuntern ihrem Beispiel zu folgen — — ihr gleichen kann niemand. Erhalten Sie sich Ihren Freunden und der Welt schätzbarer Mann, und denken Sie daß es Sophie schmerzen würde wüßte sie daß Sie um sie leiden. — Sollte ich so glücklich seyn mit meiner Freundin und meiner Mutter künftiges Frühjahr nach Weimar zu kommen, so werde ich zu Sophiens Grab wallfahrten, werden Sie mir auch erlauben Sie zu besuchen und Ihnen mündlich zu sagen wie sehr ich Ihnen für Ihre Güte dankbar bin? Mit kindlicher Ehrfurcht und inniger Verehrung drücke ich Ihre Hand an mein Herz und empfehle Sophiens Freundinnen Ihrer Nachsicht und Ihrer Liebe. Ihre ergebene Henriette Arnstein 209 Die im März 1777 geborene Lea Salomon war eine Tochter des in Berlin lebenden Jacob Levin Salomon und seiner Frau Bella, geborene Itzig. Lea hatte sich, zum großen Teil durch eigene Studien, eine umfassende Bildung verschafft und beherrschte mehrere Sprachen; den Homer konnte sie im Original lesen. Schon in jungen Jahren führte sie eine ausgedehnte Korrespondenz, unter anderem auch mit dem Schriftsteller und Journalisten Garlieb Merkel, der, 1769 geboren, im letzten Jahr des Jahrhunderts in Weimar lebte. An ihn hatte Lea Ende August 1799 geschrieben. Durch ihre Kusine hatte sie von deren Freundschaft mit Sophie Brentano erfahren, hatte deren Briefe gelesen und wußte auch, daß sie in diesen Wochen in Weimar und Oßmannstedt zusammen mit ihrer Großmutter bei Wieland zu Besuch war. Nun wollte sie von Merkel Näheres über Sophie erfahren. „Ich beneide Sie recht eigentlich um das Glück, Wielanden so nahe zu sein. Als ich kürzlich seinen prächtigen Agathodämon las, ist mir's von Neuem recht fühlbar geworden. Welch ein beneidenswerthes Vorrecht, nach einem so ruhmvollen Leben diese Thätigkeit und Geistesstärke im Alter übrig zu behalten, und sich auch in den spätesten Werken gleich trefflich zu erhalten! Ich habe mich ungemein gefreut, als ich neulich erfuhr, dass er mit dieser ewigblühenden Jugendlichkeit der Phantasie auch die beseligende Wärme 143

des Herzens und das innige Gefühl für's Schöne noch vereinige. E r hat der liebenswürdigen Sophie Brentano ein ebenso feines als seelenvolles und lieblich ausgedrücktes. Kompliment gemacht. — Sie müssen diesen Engel aber nothwendig kennen, und würden mich durch Nachrichten von ihr überaus glücklich machen. Ich habe sie nie gesehen, und liebe sie doch bis zur Anbetung. Aus Beschreibungen ihrer und meiner Freundin Henriette und aus Briefen kenne ich sie. Man pflegt das Talent des Briefschreibens allen Frauenzimmern beizulegen: aber wenn Leichtigkeit den Meisten diesen Lobspruch zugezogen hat, so giebt's noch gar viele Abstufungen und schönere Eigentümlichkeiten, die Sophie im höchsten Grade besitzt. Diese himmlische Zartheit der Empfindung, dieser feingebildete Geist, dies liebevolle Hingeben und die unnachahmliche Grazie des Ausdrucks habe ich noch nie so vollkommen vereinigt gesehn: sie ist einzig und unübertrefflich. Ebenso hinreissend und bezaubernd soll sie im Gespräch und Umgang sein; Seele, Witz, Gefühl, Liebenswürdigkeit, Bildung und Reiz, nichts hat die gütige Natur bei dem seltenen Geschöpf vergessen. Wie ich nach ihrem Anblick sehnlichst verlange, wie mich das nähere Anschauen so vieler göttlicher Eigenschaften entzücken würde, das kann ich nicht beschreiben. Sollte sie noch in Weimar sein, so rufen sie mich ihr ins Gedächtnis zurück und vermögen Sie sie hierherzukommen. Die Reise ist ja so klein, und ihre Grossmutter würde wenigstens einen Gegenstand ihres Interesses hier finden — die Gräfin Genlis, von der sie unglaublich eingenommen ist. Die Genlis wohnt nah an unserm Garten, wir sehen sie täglich, und es gäbe schon einen hübschen Vereinigungspunkt! Welchen Enthusiasmus für Sophie hat mir meine liebe Henriette eingeflösst! Sie war vor Bewunderung, Freude und Rührung ausser sich, wenn sie von ihr erzählte, und gewiss war diese Liebe keine blinde, mädchenhafte Zuneigung, sondern die klarste Ueberzeugung einer schönen Natur, eines herlichen Charakters und veredelten Verstandes. Sie müssen mir recht, recht viel von ihr erzählen, ich bitte, ich beschwöre Sie darum. Ich kann Ihnen das Interesse für sie nicht lebhaft genug schildern, und wenn Sie sie kennen, theilen Sie gewiss meine anbetungsvolle Schwärmerei." 2 1 0 Man muß bedauern, daß sich Lea Salomon und Sophie Brentano nicht gesehen und kennengelernt haben. Die beiden jungen Frauen wären nach ihrer Art, ihrer Bildung und ihren Interessen sicher mehr als nur freundschaftlich verbunden gewesen. Leas prägnantes Urteil über Sophies Briefschreibetalent beweist dies. Wenige Jahre später heiratete Lea Abraham, den zweiten Sohn von Moses Mendelssohn. Sie gebar ihm eine Tochter Fanny und 1809 144

den Sohn Felix, der — protestantisch erzogen - den Zunamen Bartholdy annahm wie sein Onkel, der Bruder seiner Mutter Lea. Der Tod Sophies war ein tiefer Einschnitt im Leben Wielands. Um sich zu fassen, besuchte er in den letzten Septembertagen die Herzogin Anna Amalia in Tiefurt. Wenige Tage darauf kehrte er nach Oßmannstedt zurück, sah das Grab Sophiens wieder und schrieb dem Freunde Böttiger: „Noch immer 1. B. kann ich den Verlust des Lieblings meiner Seele nicht verschmerzen. Was ich an diesem Engel verlohren habe ist unersetzlich, desto theurer ist mir nun was ich noch habe, und was mir noch unersetzlicher wäre. — Wer hätte vor 5 Wochen einen solchen Ausgang ahnen können? skias onar anthropoi [in griechischen Buchstaben] - leider! leider! Darf ich Sie, liebster Freund an das Wort erinnern, das Ihnen am vorletzten Sonntag wegen eines Denkmahls auf das Grab der liebenswürdigen Unglücklichen entfiel! Haben Sie die Güte mir Ihre Gedanken mitzutheilen. Ich bedarf Ihres Beystandes; denn noch ist es mir nicht möglich meine Aufmerksamkeit länger als einzelne Augenblicke auf diesen allzutraurigen Gegenstand zu fixieren. Der Platz, wo die Hülse der schönsten weiblichen Seele, die jemahls auf Erden erschien, verborgen liegt, soll soviel möglich abgesondert, geheiligt und dem stillen süßen Schmerz der Erinnerung, aber auch zugleich dem herzerhebenden Vorgefühl der besten Zukunft gewidmet werden. Was die Natur in unsren rauhen und unbeständigen Klima nur immer diesem Zweck vermag, soll dazu aufgeboten werden. Es sollte, wenn ich meine Idee ausführen könnte, das heimlichste, aber das anziehendste Plätzchen meines Gartens werden. - Wollte Gott ich könnt' es so anmuthig machen, daß es ihren Geist selbst anlocken könnte, es in Feierstunden der untergehenden Sonne oder stillheiterer Mondnächte zu besuchen und seine liebliche gegenwart durch ein sanftes Säuseln unter den Silberpappeln zu offenbaren. Ich lege einige, ich weiß nicht von wem, mir zugeschickte Sonnette bey, welche etwa zur Auffüllung einer Lücke im Merkur dienen könnten. Sobald uns die herbstliche Hora wieder freundlich anblicken wird, 10

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kehre ich zur Herzogin nach Tiefurt zurück, wo ich vielleicht das Vergnügen habe Sie zu sehen. Leben Sie wohl. I. d. I. W. Oßmannst. den

3tcn

Octob.

1800.211

In diesen Tagen erhielt Wieland die ersten Exemplare des ersten Bandes seines Aristipp und sandte ein Exemplar an Gleim nach Halberstadt. Seinen Begleitbrief schloß er mit den Worten: „O, mein Gleim, hätten Sie Sophie Brentano gekannt! Doch Gottlob, daß Sie den Engel nicht gekannt haben! Ihr Verlust würde Ihr Herz gar zu tief verwundet haben. Sie ist, nach großem Leiden, am 19. vorigen Monaths zu den himmlischen Wesen übergegangen, denen sie hier schon so ähnlich war, und die Hülse des davongeflogenen Engels ruht nun in dem heiligsten Plätzchen meines Gartens!" 212 Kurz zuvor hatte er Böttiger unterrichten können, daß ihm Moritz Bethmann geschrieben habe: „Ich habe einen merkwürdigen Brief (en riposte nehmlich) von H. Moritz Bethmann erhalten, den Sie, falls Sie zu uns kommen, lesen sollten." 213 Ende Oktober sandte er der Herzogin-Mutter als Geschenk zum Geburtstag ein besonders schön gebundenes Exemplar des Aristipp und erhielt kurz darauf eine Zuschrift des Hoffräuleins Luise von Göchhausen: „Meiner guten Fürstin, lese ich jetzt Ihren ,Aristipp' vor — Gottlob für dieses Manna ist uns der Geschmack noch nicht ausgegangen! Großer, lieber, edler Mann! — Doch keine Worte; Sophie Brentano hat würdig zu Ihnen über , Aristipp' gesprochen, und ihr nachzusprechen, wage ich nicht." 214 Er hatte der Herzogin und dem Fräulein von Göchhausen von Sophies Urteil über den Aristipp erzählt und wahrscheinlich auch aus ihren Briefen die eine oder andere Stelle angeführt. In diesen Wochen bemühte er sich, wahrscheinlich in Briefen nach Frankfurt an die Familie Brentano, irgendein Erinnerungsstück an Sophie aus ihren persönlichen Habseligkeiten zu erhalten 215 . Wann immer er es vermochte, arbeitete er weiter am Aristipp, an den Briefen des dritten Buches, und versuchte daneben, den Merkur mit Beiträgen zu unterstützen. Sein Sohn Ludwig, der seine Studien in Jena nicht fortsetzen wollte, reiste nach Frankfurt, um sich mit Clemens Brentano zu treffen und danach in die Schweiz weiterzureisen. Ende November schrieb Wieland an seine alte Freundin Sophie von La Roche nach Offenbach:

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Oßmannstätt, den 28. November 1800. Liebe, theure Freundin! Seitdem mein letzter Schmerzensbrief an Sie abging, hab ich drey Briefchen von Ihnen erhalten, auf welche ich Ihnen lieber mündlich als schriftlich antworten möchte. Der erste, von dem angenehmen Geschenke Ihrer Schattenrisse begleitet, kam dem meinigen noch zuvor, und ging mir desto schärfer durch die Seele, weil er noch Hoffnung athmete, und ich ihn erhielt, da schon ein Grabhügel auf der Hülle der schönsten Seele lag, die je in Engelsgestalt unter den Menschen wandelte. Ach! sie war zu schön, zu gut, zu zart, zu sanft für eine Welt, wie diese!! Sie ist nun, was sie in diesem Leben nie, nie wieder hätte werden können, wofern es auch der Arzneikunst möglich gewesen wäre, sie diesmal zu erhalten — Sie istgläcklicb\ — Auch trauren wir nicht um sie! Wir beklagen uns selbst, und wer, der sie gekannt hat und zu schätzen fähig war, kann uns deswegen tadeln? — Was ich an ihr verloren habe, wird mir nie ersetzt werden. — Werden wir sie wieder sehen, wie Frau A. von S** Sie, meine Freundin, hoffen heißt? — Das wolle der Himmel! Und warum nicht? Sehe ich ?ie doch öfters in Träumen. Noch in dieser letzt verwichenen Nacht sah ich sie, so schön, so liebenswürdig und holdselig, so gefühlvoll und fröhlich, wie ich sie im Leben nur in ihren glücklichsten Augenblicken sah. Es war eine wahre visión beatifique für mich — und wie sie (als ob sie von einer weiten langen Reise wieder käme) auf mich zuflog, ich sie in meine Arme schloß und nun, indem ich sie zu wiederholten malen an mein Herz drückte, mit innigster Gewißheit zu mir selbst sagen konnte: Sie lebt, die du todtgeglaubt hattest, sie lebt, — in einem Wonnegefühl, wofür kein Bild noch Ausdruck ist. Im Gefühl einer Seligkeit, die ich noch nie empfunden hatte, stürzte ich auf meine Knie und dankte mit freudethränenden Augen und ausgebreiteten Armen zum Himmel empor, dafür, daß sie noch lebe — und erwachte wenige Augenblicke darauf. — Das Sonderbare dabey ist, daß ich an dem Abend, in dessen Nacht ich dieses selige Traumgesicht sah, aus Veranlassung eines Blicks auf das (hier zurückfolgende) Blatt der Frau v. S., und die Worte Wiedersehen etc., in ziemlich ungläubige Gedanken verfiel, und noch vor dem Einschlafen zu mir selbst sagte: „Wenn Sophie noch lebte, warum sollte es nicht in ihrer Gewalt seyn, mir irgend ein Zeichen, daß sie sich meiner noch erinnere und Antheil an mir nehme, zu geben? Und würde sie es 10*

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nicht thun, wenn sie könnte?" Wäre es — einem andern wenigstens als mir - nicht zu verzeihen, wenn er in Rücksicht dieses Umstandes ein wenig abergläubig wäre, und den Traum für eine unmittelbare Folge einer Annäherung und Einwirkung der Seele Sophiens in die meinige halten würde? Was meinen Sie, liebe Freundin? Empfangen Sie meinen besten Dank für die gütige, freundschaftliche und nachsichtsvolle Art, wie Sie das Andenken Ihrer, in meinem bäurischen Sabino mit mir verlebten wenigen Tage in Ihrem interessanten Reise-Journal haben aufbewahren wollen. Warum muß das Vollbringen des Guten immer so weit hinter dem Wollen zurückbleiben? Auch für Ihre gütige Gesinnung gegen ** [seinen Sohn Ludwig] danke ich Ihnen herzlich. Seine Reise nach Frankfurt ist zwar nicht mein, sondern sein eigen Werk; doch konnte und wollte ich ihn nicht zurück halten, da ein längeres Verweilen zu Oßmannstedt] oder J.[ena] ihm eher schädlich als zuträglich gewesen wäre, und diese Reise vielleicht Gelegenheit geben kann, ihm auf die eine oder andere Art einen Ausweg zu einer bestimmten Beschäftigung, und zu einer wenigstens leidlichen Existenz zu eröffnen. Leben Sie wohl, theure, verehrungswürdige Freundin. Behalten Sie uns lieb, und bleiben Sie unsers unwandelbaren Attachements auf immer gewiß. Alle die Meinigen empfehlen sich Ihrer Liebe und Ihrem Andenken. Dies thut auch Ihr treu ergebener und verbundenster, alter Freund. 216 Was er in diesem Brief schwärmerisch als Möglichkeit beschrieb, eine visión beatifique, eine in Träumen mögliche Begegnung mit dem geliebten Wesen, das wird er nur wenige Jahre später, nach dem Tod seiner Frau, in Euthanasia. Drey Gespräche über das Leben nach dem Tode nach Vernunftgründen ablehnen. Aber auch dort gibt er die tröstliche Einschränkung: „Zwar sehe ich nicht, warum wir, in schwächern Augenblicken, nicht befugt seyn sollten, ... den süßen Träumereyen des Herzens und der Fantasie nachzuhängen ,.." 217 Mitte Dezember konnte er seinem Verleger Göschen mitteilen, daß die Arbeit am dritten Buch des Aristipp so gut wie beendet war. Eine besondere Freude war für ihn, daß ihm die Familie Brentano aus Frankfurt eine goldene Medaille übersandte, die Sophie gehört hatte 218 . Die Prägung auf dieser 148

Medaille brachte ihn auf die Idee, eine neue Medaille als Denkmal für Sophie entwerfen zu lassen, und er verfolgte diesen Gedanken in Gesprächen und Briefen mit Böttiger und dem befreundeten Kraus. Anfang Januar 1801 schrieb er an Böttiger: Oßmannstätt den 6. Januar 1801. Der diesmahlige Aufenthalt zu Weimar ist mir so wohl bekommen, 1. B., daß ich, wenn Ifigenia in den nächsten 14 Tagen wiedergegeben werden sollte, der Versuchung, sie zum zweyten Mahle zu hören, schwerlich widerstehen werde. Ich schicke Ihnen hier das Blat, so ich letzthin mitzubringen vergessen hatte. Sagen Sie mir Ihre Meinung darüber unverhohlen. Die letzte Idee zum Basrelief, worüber Sie mit Freund Kraus einig worden sind (die in jungfräulicher Gestalt himmelan schwebende Psyche mit dem aus einer Wolke sie bewillkommenden und ihr den Weg zu den Inseln der Seligen oder zum Empyreum zeigenden eros uranios [griechische Buchstaben]) gefällt mir immer mehr, und ich wünsche sie in der Größe, wie Klauer sie ausführen soll, gezeichnet zu sehen. Wenn wir doch nur ein Profil, oder einen Schattenriß von Sofien dazu hätten! Ich hoffe Göthe befindet sich wieder besser, als ich ihn verwichenen Sonntag fand. Melden Sie mir doch ein Wort davon; ingleichen was man für Nachrichten von der Erbprinzessin von Gotha hat, für deren Erhaltung sich sehr interessiert Euer Liebden treu ergebener Freund W. 219 Im Januar konnte Wieland fast das gesamte Manuskript für das dritte Buch des Aristipp an den Verlag senden, im März begann dann die Arbeit am vierten Buch. Immer wieder beschäftigte er sich mit der Medaille aus dem Nachlaß von Sophie Brentano, leider war die Inschrift nicht zu entziffern, so daß der bildliche Inhalt der Prägung verborgen blieb 220 . Täglich erinnerte ihn die Grabstelle im Garten an seinen Verlust, und er gestand der alten Freundin in Offenbach: „Die Wiederkehr der schönen Jahreszeit giebt nun auch der geistigen Gemeinschaft, die bisher zwischen unsrer S. B. und mir ziemlich unun149

terbrochen fortgedauert hat, neues Leben; denn allemeine Spaziergänge führen zu ihrem Grabe, und meine liebsten .Ruheplätze sind nur wenige Schritte davon entfernt, und der Gedanke, daß uns nur noch ein kleiner Sund trennt, wird unvermerkt zu einem still fortdauernden Gefühl, das meinem Aufenthalt im Garten ein ganz eigenes melancholisch süßes Interesse giebt. Weil es indessen gut ist, daß ich noch, so lange als möglich, für meine Kinder lebe, so helfen Sie mir, theure Freundin, Gott für die Erhaltung meiner bessern Hälfte bitten, deren zeither abnehmende und noch immer schwankende Gesundheit mich nur zu oft beym Blick auf Sophiens Ruhestätte mit Trübsinn und herzerdrückenden Ahnungen erfüllt! Noch hoffen wir, was wir so sehnlich wünschen, daß die immer näher kommende schöne und milde Jahreszeit das beste bey ihr thun, und uns eine Gattin und Mutter, die so wenige ihres gleichen hat, und die uns so unentbehrlich ist, auf lange Zeit wieder schenken werde." 2 2 1 Die „schwankende Gesundheit" von Wielands Frau festigte sich nicht mehr. Nach ihrem fünfundfünfzigsten Geburtstag im Juli 1801 verschlechterte sich ihr Zustand von Monat zu Monat, Anfang November wurde sie von ihren Leiden erlöst. Im Kirchbuch von Oßmannstedt steht verzeichnet: „... den 8. Nov. starb die hochwohlgeborene Frau, Frau Anna Dorothea Wieland, des hochwohlgeborenen und hochgelehrten Herrn, Hr. Hofraths Wielands Frau Gemahlin an der Auszehrung und wurde mit gnädiger Ober-Konsistorial Erlaubniß den I l t e n in Ihrem Garten begraben ,.." 222 Wieland gab seiner Frau die letzte Ruhestätte im Garten an der Ilm, neben dem Grab von Sophie Brentano, und bat für sich, einstmals auch an dieser Stelle begraben zu werden. Er war zutiefst getroffen und erschüttert, im Verlauf von nur einem Jahr waren ihm zwei Menschen genommen worden, die alles für ihn gewesen waren.

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Das letzte Jahrzehnt Abschied von Oßmannstedt Wielands Tod

Am letzten Tag des Jahres 1801 schrieb Wieland seinem Verleger Göschen: „Mit mir geht es — wie es kann; leidlich wenigstens; ich arbeite viel, aber es ist als ob mir die Schwungfedern gestutzt seyen: sonst arbeite ich mit Freude, mit Munterkeit; izt mühsam, entgeistert, schwerfällig. Möglich, daß auch die trübselige, immer veränderliche und gar nicht wintermäßige Witterung etwas dazu beiträgt. Gewiß aber ist, daß ein Herkules, der mir meine Alceste, nur mit so viel Gesundheit, als sie noch vor drei Jahren besaß, aus dem Elysium zurückbringen könnte, auf einmal einen ganz andern Menschen aus mir machen würde." 223 Wenige Wochen darauf reiste Wielands Sohn Karl zu Göschen und brachte ihm einen Brief seines Vaters: „Er wird Ihnen sagen, daß ich zur Verwunderung aller Menschen, in Betracht der Umstände, ziemlich gut bisher durch den Winter gekommen bin. Daß die Engelsseele, die nun meinen körperlichen Augen unsichtbar geworden, mir geistiger Weise immer gegenwärtig ist, und daß ich mich nach und nach an diese rein geistige Art von Liebe und Freundschaft gewöhne, trägt ohne Zweifel das Meiste dazu bei, daß ich mich noch so wohl, d. h. nicht viel schlimmer befinde. Daß ich bis zu meinem 70sten Jahr nur noch 6 Monate habe, ist für mich auch ein glücklicher Umstand — ,"224 Andere sahen ihn anders. Clemens Brentano schrieb am ersten Tag des Jahres aus Weimar an Friedrich Karl von Savigny: „Dem alten armen Wieland sein Weib ist tot, er hat sie zu Sophien gelegt und will auch bald sich dazu legen, er weint immer allein in seiner Kammer um seinen Ruhm und seine Liebe. Wenn man so die Sonne untergehn sieht und ist nicht grade besoffen, sollte man da nicht bescheiden und ruhig werden? ... Ich beneide den alten Wieland um diesen stummen Schwanengesang mehr als um sein Leben; denn mit den Tränen ist es ziemlich aus in mir ..."22S In seinen Briefen erwähnte Wieland immer nur ein Gefühl geistiger Nähe 151

zu seiner verstorbenen Frau Dorothea, er sprach nie v o n Sophie Brentano. Wahrscheinlich scheute er sich, Sophie von La Roche und anderen Freunden davon zu erzählen. Aber in seinen Gedanken und Erinnerungen war auch sie in seiner Nähe, und über sie ließ er Aristipp sprechen, der einem Freunde schreibt, nachdem ihm der Tod der Lais zur Gewißheit geworden war. „ D u siehest, guter Eurybates, wie ich bei diesem traurigen Ereignis mein Gefühl zu beschwichtigen suche. Aber die Natur behauptet ihr Recht darum nicht weniger, es kommen Augenblicke, da ich, ... eine Art von Trost darin finde meinem Schmerz nachzuhängen;, Augenblicke, da die schöne Unglückliche in aller ihrer Liebenswürdigkeit vor mir steht, und einen Glanz um sich her wirft, worin jede Schuld verschwindet und Flecken selbst zu Reizen werden. In solchen Augenblicken möcht' ich mit dem Schicksal hadern, daß es einen so düstern Schatten auf das herrliche Götterbild fallen ließ, und die von Herzen bestochene Einbildungskraft spiegelt mir eine trügerische Möglichkeit vor, wie alles anders hätte gehen können; bis endlich die Vernunft das gefällige Duftgebilde wieder zerstreut, und mich, wiewohl ungern, zu gestehen nötigt: es habe dennoch so gehen müssen, und, wie unbegreiflich uns auch die Verkettung unsrer Freiheit mit dem allgemeinen Zusammenhange der Ursachen und Erfolge sein möge, immer bleibt das Gewisseste, daß das ewige, mit der schärfsten Genauigkeit in die Natur der Dinge eingreifende Räderwerk des Schicksals nie unrichtig gehen kann." 2 2 6 Im Frühjahr des folgenden Jahres 1802 schrieb Wieland an seinen Schwiegersohn Reinhold nach Kiel: „In meiner Lage waren strenge, ununterbrochne, meinen ganzen Kopf beschäftigende Arbeiten das Einzige, was mich erhalten und zwischen zwey gleich gefährlichen Klippen, einer gänzlichen Despondenz, und einer an stillen Wahnsinn grenzenden Schwärmerey, unbeschädigt durchbringen konnte Was indessen ... wohl das Meiste beytrug, daß ich so leicht und schnell durch diesen Winter kam, war das fast immerwährende, bald leisere bald lebhaftere Gefühl der unsichtbaren Gegenwart meiner geliebten Unnennbaren ... So oft ich die Feder niederlegte, stand Sie vor mir, irgend eine süße herzerhebende Erinnerung aus den 36 größtentheils so selig mit Ihr verlebten Jahren in meiner Seele erweckend, aber bald mit dem Ihr eignen holdseligen Lächeln ihrer Augen - mich aufmunternd, in meiner Arbeit fortzufahren." 2 2 7

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Sechsunddreißig Jahre hatte er mit seiner Frau zusammengelebt, mit nur wenigen Unterbrechungen waren sie nie voneinander getrennt gewesen. Später gab er sich in den Gesprächen der Eutbanasia Rechenschaft über seinen Gemütszustand: „Was ich mir also überhaupt von meinem damahligen Gemüthszustand am deutlichsten bewußt bin, ist, daß über ein Jahr lang eine Art von innigem Gefühl, daß Sie lebe und mir nahe s e j , mich nie verließ; auch dann nicht, wenn ich mit Arbeiten beschäftigt war, wobey die Seele ganz in sich selbst gesammelt seyn muß, um alle ihre Kräfte desto freyer und harmonischer zusammenspielen zu lassen. Dieses Gefühl war sehr verschieden von demjenigen, was uns die körperliche Gegenwart einer geliebten Person, mit welcher wir lange gelebt haben, aller Orten wo wir sie zu sehen gewohnt waren, eine mehr oder weniger lange Zeit, lebhaft vermissen macht. Dieses letztere Gefühl ist immer schmerzlich; jenes hingegen gewährte mir das einzige Vergnügen, dessen ich damahls fähig war. Es war mit keiner mir bemerklichen Täuschung der Einbildung verbunden: ich glaubte nicht, Sie zu sehen oder zu hören; aber mir war, Sie sehe und höre mich. Ich fühlte ihre Nähe in meinem Innern, und kein Dogmatiker noch Skeptiker hätte mir die Gewißheit, daß Sie lebe und Antheil an mir nehme, wegvernünfteln können. Sobald ich allein war, unterhielt ich mich mit Ihr, ohne des ewigen Monodrama's jemahls müde zu werden. Sogar unter den litterarischen Arbeiten, die mich im ersten halben Jahr den größten Theil des Tages über beschäftigten, wurde Sie so oft apostrofiert, als ich die Feder auf einen Augenblick niederlegte, ohne daß ich in der vorhabenden Arbeit im geringsten dadurch gestört wurde. Im Gegentheil, dieses Gefühl Ihrer geistigen Nähe hatte die Wirkung auf mich, welche die Griechischen Dichter dem Anhauch einer Muse zuschrieben; es belebte meine Lebensgeister, und stärkte meinen Kopf, nicht weniger als mein Herz, kräftiger als das beste Kordial; ja ich bin überzeugt, daß ich ohne dasselbe damahls nicht nur nichts erträgliches hervorbringen, sondern das Daseyn selbst schwerlich hätte ertragen können." 228 Sophies Sterben und Dorotheas Tod hatten den Zauber und Reiz der Idylle, die Oßmannstedt ihm lange Jahre gewährt hatten, verlöschen lassen. Auch war die Bewirtschaftung von Jahr zu Jahr schwieriger und kostspieliger geworden. So beschloß Wieland, das Abenteuer des poetischen Landjunkers und Gutsherrn zu beenden. Die Suche nach einem Käufer begann. Aber es war nicht leicht, einen zu finden, der einen Preis zahlen wollte, bei dem Wieland sich ohne Verlust von seinem Gut trennen konnte. 153

Wenn die Leere in Oßmannstedt zu bedrückend wurde, konnte er nach Tiefurt gehen. Dort hatte ihm die Herzoginmutter eine kleine Wohnung eingerichtet, in der er arbeiten und leben konnte. Anna Amalias kleiner Hofstaat half ihm in diesen Wochen und Monaten mit seiner bescheidenen Geselligkeit über die langen und dunklen Schatten der Einsamkeit hinweg. „In dieser gefälligen und auf mancherley Art interessanten Gesellschaft schlürfe ich dann unvermerkt einige Tropfen von jenem Homerischen Nepenthes ein, der wenigstens auf einige Stunden des Tages seine Wirkung thut. Die Herzogin hat mir in der Wohnung ihres Gärtners ein Paar ganz bequeme stille Zimmerchen zurichten lassen, worin ich Herr u. Meister bin. Die Vormittage und ein paar Nachmittagsstunden sind gänzlich zu meinem beliebigen Gebrauch, und ich bin also so wenig als nur möglich dadurch geniert, daß ich der Commensal einer Fürstin bin." 229 Die wichtigsten Arbeiten dieser Zeit waren verschiedene Übersetzungen aus dem Griechischen des Xenophon, Euripides und Aristophanes, daneben die Märchen, Erzählungen und Novellen, die später unter dem Titel Das Hexameron von Rosenhain zusammengefaßt wurden, und die beiden kleinen Briefromane Menander und Glycerion und Krates und Hipparchia in Fortsetzung des Aristipp. Wieland lebte in dieser Zeit mehr und mehr wie im „Banne der Sophie", um hier eine äußerst treffende und einfühlsame Formulierung von Wolfgang Paulsen zu variieren 230 . In seinen Tagträumen 231 , die ihm zur Dichtung wurden, hatte ihn die „Tochter seines Herzens" nicht verlassen. Die Themen der Arbeiten lagen in seinem Fundus, das Material war vorhanden, es mußte nur noch gestaltet werden. In kurzer Zeit schrieb er in Oßmannstedt und in Tiefurt das Hexameron und die beiden kleinen Briefromane: im Grunde Variationen über das Thema Liebe und Verliebtheit, leidenschaftliche Liebe und Liebe ohne Leidenschaft. Er spielte an seinem Schreibtisch die Möglichkeiten durch, die er als Handelnder und Betroffener, als Zuschauer und Zuhörer mitgelebt hatte. In fast allen Geschichten finden sich mehr oder weniger deutlich, versteckt und verwoben, Hinweise auf Erlebnisse zurückliegender Jahre, und immer wieder taucht die Gestalt Sophie Brentanos auf: als eine Erinnerung, wie sie wirklich gewesen war, oder als Gebilde seiner Tagträume, wie sie hätte sein können. In der vorletzten Erzählung des Hexameron mit dem Titel Freundschaft 154

und Liebe auf der Probe läßt sich ein solcher Bezug sehen. Zwei in Freundschaft verbundene junge Frauen, Sehnde und Klarisse, verschieden in Art und Aussehen, heiraten zwei Freunde. Nach kurzer Zeit glauben die Männer, daß sie die jeweils falsche Frau gewählt haben, und sie beschließen den Tausch und die Probe der „Wahlverwandtschaft", um bald einzusehen, daß der erste Bund doch der rechte war. Dabei wird Klarisse so vorgestellt: „Ihr Ernst hat nichts düsteres, ihr gesetztes Wesen nichts schwerfälliges und drückendes; Heiterkeit und Frohsinn ist immer über ihr liebliches Gesicht, wie Sonnenschein über ein anmutiges Tal, ausgebreitet, und allgemeines Wohlwollen scheint das Element zu sein, worin sie atmet. Dies ist meine Freundin Klarisse, und wenn anders Aristipps Briefe mir einen richtigen Begriff von dem, was Sokrates war, gegeben haben, so müßt ich mich sehr irren, wenn der Name eines weiblichen Sokrates, womit sie von Seiinden im Scherz geneckt wird, ihr nicht im vollen Ernst zukommen sollte." 232 Und am Schluß der Erzählung wird von Klarisse gesagt, daß sie zu gesunden Kopfes sei, „um eine Empfindlerin, und zu reinen Herzens, um weder eine wahre noch eine geheuchelte Spröde zu sein" 233. In Menander und Glycerion verliebt sich der Komödiendichter Menander in die junge Glycerion, und beider Verliebtheit währt fast sechs Jahre. In den zweiundvierzig Briefen des Romans fand Wieland viele Gelegenheiten, sich an Sophie zu erinnern. Sophie von La Roche, die von Wielands Arbeiten erfahren hatte, schrieb an Böttiger: „Die Briefe, welche Wieland in Glycerion schrieb, werden meine Enkelin betrefen — ich freue mich darauf." 234 Doch erst im zweiten Roman, Kraies und Hipparchia, suchte Wieland Wege, die Vergangenheit einzuholen. Dieser Roman einer unmöglichen Liebe stand ganz im „Banne der Sophie", ließ Wieland sich erinnern, was zwischen ihnen geschehen war, und träumen, was er wünschte, es wäre geschehen. Eine der Formen, die Wieland wie keine andere beherrschte, war die Ironie. Mit ihr verbarg und verfremdete er seine Tagträume, vertauschte Protagonisten und erfand neue Konstellationen. Er erreichte so Ebenen, in denen er seine eigenste Geschichte ausbreiten und durchspielen konnte, ohne sich vor anderen preiszugeben. Dieses subtile Spiel hatte er sein Leben lang gespielt — überall in seinen Büchern schaut er zwischen den Zeilen hervor —, und jetzt wagte er es noch einmal. Er erzählte die Geschichte des Cynikers Krates und der Hipparchia. Sie ist die Tochter eines begüterten Bürgers in Athen, der sich um die standesgemäße Verbindung seiner Tochter sorgt, hat sie doch bisher jeden Bewerber ausgeschlagen. Als man ihr Vorwürfe macht und ihr prophezeit, 155

sie werde schließlich wie die „berüchtigte Lais von Korinth" denken und keine Scheu vor dem Hetärenstande haben, entgegnet sie: „Vermuthlich hast du mir nur einen beilsamen Schrecken einjagen wollen, indem du mir das Beispiel der schönen Lais zu Gemüthe führst, die von eben denselben Grundsätzen über die Rechte unsers Geschlechts ausging, wie ich, aber zu einem schlechten Ende von ihnen geführt wurde. Wirklich entsetzte ich mich selbst ein wenig über die Ähnlichkeit, als mir unlängst die Abschrift eines Briefes in die Hände fiel, den der berühmte Aristipp, über seine Zusammenkunft mit der schönen Lais zu Ägina, geschrieben haben soll." 235 Vater und Tante haben ihr einen gutaussehenden und begüterten jungen Mann zugedacht. Doch Hipparchia findet an dem jungen Gecken wenig Gefallen und gesteht ihrer Freundin, daß es ihr der fast häßlich zu nennende Cyniker Krates angetan habe. Ihrem Bruder gesteht sie schließlich: „Ich bin (wenn ich mich anders recht kenne) eben so wenig einer scbwindlichten Leidenschaft fähig als Krates. Was meine Freundin Melanippe meine Liebe zu ihm nennt, könnte wohl eben so richtig Freundschaft heißen, wenn dieses Wort, durch den gemeinen Gebrauch, der seit den Zeiten von Theseus und Peirithous, Pylades und Orestes, Achilleus und Patroklus, davon gemacht worden, nicht eine gewisse Kälte bei sich führte, die es zu Bezeichnung meines Verhältnisses gegen Krates untauglich macht. Immerhin mag es also Liebe heißen; gewiß ist es eine Art Liebe, die ich der Weisheit selbst ohne erröthen gestehen dürfte." 236 Und sie fährt fort: „Ich sage nicht, Krates ist ein schöner Mann; ich sage bloß: gerade so, wie er ist, gefällt er mir besser, als der schönste, den ich je gesehen habe; ich wünsche ihn mir nicht anders, und gäbe kein Triobolon darum, daß seine Schulter um einen Zoll niedriger wäre. Das Wahre ist, ich liebe ihn um der Schönheit seiner Seele, um der Würde seines Karakters, um der Grazien seines Umgangs und Betragens willen, die für mich der Abglanz von jenen Himmlischen ist, ohne welche, wie Vindar singt, kein weiser und edler Mann als das erscheint was er ist. Seine Denkart, die Grundsätze, die er im Leben befolgt, seine Gesinnungen, sein Geschmack, sind dieselben, wovon die Natur die Anlagen und Keime in mein Wesen gelegt hat. Je heitrer mein Kopf, je freier und ruhiger mein Gemüth ist, desto inniger fühle ich den sanften und immer gleich starken Zug dieser innern Verwandtschaft ..." 237 Das sind Worte, die in einem Brief von Sophie Brentano hätten stehen können. Und noch deutlicher ist das, was Hipparchia an Krates schreibt, erinnert es doch bis in Einzelheiten an Sophies Tage in Oßmannstedt. „Von Baumgruppen und Gebüsch umschlossen saß ich auf einer Rasenbank des 156

kleinen Hains, den mein Vater auf dem Gute, wo ich izt wohne, der Artemis geheiligt hat, in Gedanken vertieft, die sich unvermerkt in ein Gewirre von Empfindungen verloren. Auf einmal wurde mir's, als stehe ich vor mir selbst, und schaue in mein Inneres wie in einen klaren tiefen See hinab. Ich sah nichts, fühlte aber mein verborgenstes Ich mit einem leisen zarten wunderbaren Weben und Streben, ohne mir eines Gegenstandes bewußt zu sein, erfüllt, und von einer unbekannten Kraft in ein uferloses unbeschreiblich reines Licht hineingezogen, worin meine Seele, von den göttlichen Urbildern alles Schönen und Guten angestrahlt, wie ein einzelner Thautropfen im Ocean, zu schwimmen schien. Plötzlich war mir als ob ich in diesem Meer von Schönheit und Liebe untersinke; alle meine Gedanken zerflossen in einander; alle Gegenstände waren verschwunden; eine süße Betäubung ließ mir nur noch das einzige Gefühl, als ob mein ganzes Wesen im Unendlichen aufgelößt wäre." 238 Und sie beschließt diesen Brief: „Laß es sein, daß ein feindseliges Gestirn uns noch Jahre lang, uns sogar auf immer getrennt halte: wo ist das Wesen in der Natur, das uns verhindern könnte, das uns verbieten dürfte, uns auch getrennt zu lieben? auch getrennt uns einander mitzuteilen?, einander, wo nicht Alles, doch so viel zu sein, als unter unsern Umständen möglich ist?" 239 Hipparchia weiß, daß sie in der Verbindung mit Krates ein völlig anderes Leben erwartet. Doch sie hat alles bedacht und gesteht der Freundin: „Mir ist — aber freilich, dir so recht eigentlich zu beschreiben, wie mir ist, darin eben liegt die Schwierigkeit — Ich denke, so muß einem im Hause ausgebrüteten und immer gefangen gehaltenen Vögelchen zu Muthe sein, wenn es, unverhofft seinem Käficht entronnen, frank und frei in seinem angestammten Luftreich umherschweift; oder einem an's Ufer ausgeworfnen halbzerlechzten Fische, wenn er sich seinem Element zurückgegeben fühlt. Eine süße Stille, gleich der Stille des Meers in den halcyonischen Tagen, ruht auf meinem Innern. Alle meine Wünsche sind befriedigt .... Es war, denk' ich, eine bloße Übereilung der Natur, daß ein Weib aus mir geworden ist." 240 Im Frühjahr 1803 nahm Wieland Abschied von Haus und Garten in Oßmannstedt. Er hatte das Gut verkaufen können. Sein Schwiegersohn Karl Stichling, der Mann seiner Tochter Julie, schloß zu Beginn des Jahres 1803 den Handel mit dem Hamburger Kaufmann Christian Kühne zu sehr günstigen Bedingungen für Wieland ab. „Ich hatte vor 40 Jahren den poetischen Landjunker belacht. Nun 157

ward ich's selbst", erinnerte er sich gegenüber Böttiger, der ihn begleitete. „Die Passivschulden und die bey einer Wirtschaft gar nicht in voraus zu berechnenden Fehlschlagungen drückten mich zu sehr. Ich mußte mehr schreiben, als gut war, blos um den Ausfall in meiner Einnahme zu decken. Nun hab' ich dies alles abgestreift, und kann von nun an ruhig leben. Ich weiß wie viel ich habe, und worauf ich mit Sicherheit zählen kann." Und auf einen Einwand Böttigers hin gesteht Wieland: „Sie haben Recht, ich habe diesem Osmannstädt doch auch viele seelige Stunden zu verdanken. Die ersten zwey Jahre 1797, 98, war ich im Genüsse aller Art. Dieser reinen Natur- und Genuß-Fülle entkeimte die schönste Blüthe meines Alters, mein Aristipp, der ohne diesen stillen Selbstgenuß, ohne dies heitere Land- und Gartenleben nie empfangen und geboren worden wäre. Er ist mein Liebling, ja er ist mir mehr, als Agathon ... Mit dem Jahre 1800 welkte mir manche Blume in diesem frischen Lebens-Garten. Da starb Sophie Brentano. Schon diesen Tod hätte ich nicht ausgehalten, wenn mir die gute Fürstinn nicht in ihrem Tiefurt einen Frey-Hafen eröffnet hätte. Im Herbst 1801 verließ mich der Engel, mit dem ich 33 Jahre gelebt hatte. Von nun an hörte aller Genuß des Ortes für mich auf, wo jeder Schritt mir ihr Bild hervorrief. Ich rechnete darauf, daß mein guter Genius, der mir schon oft in der Zeit der Noth erschien, mir auch diesmal helfen würde. Er thats, und schickte mir den wackern Hamburger, der ungehandelt sogleich gab, was ich selbst gegeben hatte." Böttiger schildert, wie sie durch den Garten gehen. „Wir kamen an das Lustgehölze und Haselstauden-Gebüsch, wo die Gräber der Sophie Brentano und seiner Gattinn, mit jungen Rosenstöcken umkleidet, sich zeigten. Diese zu verlassen, sie in fremden Händen zu lassen, kostete den guten Alten manchen schweren Kampf. Eine seiner verwitweten Töchter, die in Führung der Wirtschaft und Leitung des Hauswesens an die Stelle der Mutter getreten war, stand auch mit nassen Augen davor. Ich traue es, sagte Wieland nach einigem Schweigen, dem wackern Käufer meines Gutes zu, daß ihm die Stätte, wo auch ich einst neben meiner Gattinn begraben zu seyn wünsche, stets heilig und unantastbar seyn werde! Wir besahen noch manches wohlbekannte und durch mannichfaltige Erinnerungen, die daran geknüpft waren, geheiligte Plätzchen. Hier hing die jüngere Sophie Brentano, diese holde Ophelie, ihrer Schwermuth nach, sagte er, indem wir an einer, hart an der Garten-Mauer stehenden, 158

Bank vorübergingen, wo wir von draußen das Plätschern der geschwätzigen Ilm-Najade hören konnten." 2 4 1 In Frankfurt hatte man von dem Verkauf erfahren, und die Familie Brentano fragte sich, was aus der Grabstätte Sophies werden würde, nachdem sie in fremde Hände übergegangen war. Es wurde überlegt, ob Sophie nicht auf den Friedhof in Weimar umgebettet werden könnte. Man setzte sich mit Wieland in Verbindung, der die Korrespondenz jedoch an Böttiger und Sophie von La Roche weitergab, die daraufhin Anfang Mai an Böttiger schrieb: Höchstschätzbarer Freund! Der Anblik Ihrer Handschrift machte mir doppelte Freude — weil es ein Brief von Ihnen war — u. weil ich rriir so gern sagte — Wieland ist doch nicht böße über dich — weil er Böttger den Auftrag gab — dir die Antwort an Brentano zu melden denn ich war nichts als die Person, die der Familie die Sorge abnehmen mußte Herrn Wieland zu mißfallen und ich bitte Sie zu glauben — daß ich gewiß niemand auf Erde damit geplagt hätte aber eine idee überdäubte mich gegen öftere Erfahrungen, da ich dachte — Wieland weiß, wie sehr Catoliken auf die Erde eines Kirchhofs halten — und wird den gut Catolischen Vormünder und Bruder v o n Sophie Brentano nicht übel nehmen, daß die erste Trauer über das Begraben in einem Garten wieder erwachte, als man ihre Überreste in einer ganz neuen Gewalt sah. Ich habe Ihre Erklärung H. Brentano mitgetheilt — Er ist ganz zufrieden und bittet Sie einen Stein ausarbeiten zu lassen, wie Sie es gut finden — Er wolle nach Pf Zieht und Liebe gern die Kosten tragen und ihrem Andenken ein Merkmal weyhen, thun Sie es — ich bitte Sie recht sehr ... Ich kenne den Ton und den Gang des Unmuts von Wielands genius seit 53 Jahren, er konnte mit mir zürnen, als Er mich jung sah — wie sollte er es nicht, da ich alt binn ..." Sie beschloß den Brief mit einem Hinweis auf die Reise ihres Neffen Gerning nach Weimar: „Gernings Reiße verdient mit Vergnügen geleßen zu werden. E r sagte mir, gan% Weimar habe über die idee der Brentano gelacht, die ich meldete, Sophiens Sarg auf den Friedhof zu bringen." 2 4 2 Im Mai zog Wieland endgültig nach Weimar. „Ich bewohne in dem Hause des hiesigen Stadtsyndikus Stötzer das nehmliche Quartier, worin ehemals der ... Legationsrath Albrechts wohnte, und in verschiedenen Rücksichten 159

hätte ich in ganz Weimar kein mir anständigeres finden können. Denn seine Umgebungen haben ein ländliches Ansehen, und ich bin von der Herzogin Amalie kaum dritthalb Hundert Schritte und vom Komödienhause nur 50 bis 60 entfernt", schrieb er später Mitte März 1806 an Reinhold nach Kiel 243 . Die Familie Brentano versuchte weiterhin, einen ihrer Meinung nach würdigeren Platz für Sophie zu finden. Im Frühjahr 1803 weilte Clemens Brentano in Weimar und wartete auf Nachrichten aus Frankfurt. Ende Juni schrieb er an den Freund Karl von Savigny in Marburg: „Wunderlich kömmt es mir vor, daß ich den Namen Sophie Brentano wieder hervorbringen werde, während ich hier sitze und einen Brief von Haus erwarte, der mich bevollmächtige, der seligen Sophie Grab in Wielands Garten zu erbrechen und sie aus dem Ackerfeld eines dummen Hamburgers, der sie nebst dem Gute von Wieland gekauft hat, auf dem naheliegenden Kirchhof begraben zu lassen. Stellen Sie sich vor, die zärtliche traurige Familie hat ihr noch nicht einmal einen Stein setzen lassen, aber ich werde es tun." 2 4 4 Clemens konnte das Vorhaben jedoch nicht ausführen und so blieb zunächst alles wie bisher. Auch im folgenden Jahr ließ sich die Frage der Grabstelle nicht lösen. Beim Verkauf seines Gutes hatte Wieland sich nicht ausdrücklich das Recht vorbehalten, über die Gräber im Garten selbst zu verfügen. Er vertraute darauf, daß der neue Besitzer ihm jederzeit den Besuch der Gräber gestatten und ihm auch dann einen Platz zwischen Sophie und Dorothea gewähren würde. Hofrat Kühne und seine Familie waren dazu bereit, aber in Frankfurt sah man die Lage anders, und im Sommer des folgenden Jahres 1804 übernahm es Moritz Bethmann, die Frage im Sinn der Familie Brentano zu lösen. Bethmann — jetzt sechsunddreißig Jahre alt — war ein sehr erfolgreicher Kaufmann, Bankier und Diplomat geworden. 1802 hatte ihn der Zar zum Russisch-Kaiserlichen Hofrath und Consul ernannt, im gleichen Jahr bemühte er sich mit Erfolg in Paris und Regensburg bei den Teilungsverhandlungen, Güter der Stadt Frankfurt vor dem Zugriff französischer Behörden zu retten 245 . In Frankfurt waren die Familien Goethe und Bethmann seit Jahrzehnten gut bekannt 246 . Schon im Dezember 1796 war Moritz Bethmann mit Goethe in Leipzig zusammengetroffen, und im Jahr darauf vermerkt Goethes Tagebuch wiederholt Besuche und Begegnungen 2 4 7 . Im August des Jahres 1804 reiste Bethmann mit seinem zwei Jahre älteren Vetter Joachim von Schwarzkopf nach Weimar, und beide wurden am 9. 160

August von Goethe empfangen 248 . Man traf mit dem neuen Besitzer von Oßmannstedt, Christian Kühne, zusammen. Obwohl dieser anbot, daß er für die Gräber sorgen wolle, wenn ihm die dabei anfallenden Kosten erstattet würden, wählte Bethmann den Weg eines förmlichen Verkaufs. Man einigte sich: am 11. August 1804 wurde zwischen beiden, „dem Herrn Doctor Chr. Joh. Martin Kühne zu Weimar - Verkäufer eines und dem Rußisch Kaiserlichen Hofrath und Consul Herrn Moritz von Bethmann, zu Frankfurt am Main, Abkäufer anderenteils", ein ausführlicher Vertrag geschlossen, der unter anderem besagte, daß „Eingangs gedachter Herr Doctor Kühne, von der ihm zuständigen zu dem vormaligen Wielandischen Lehnguth zu Oßmannstedt gehörigen, zwischen den Guthsgebäuden und der Ilm gelegenen Garten, dasjenige Theil, worin sich die Grabstätten der verstorbenen Frau Hofräthin Wieland und der Demoiselle Brentano befinden vier revisionsmäßig Weimarische Quadrat Ruthen groß, welches in der Form eines regulairen Vierecks dergestalt bestimmt ist: daß es von einer Seite an die jetzige Gartenmauer des Herrn Verkäufers, welche derselbe, so weit sie an dem verkauften Stück hinläuft, dem Herrn Abkäufer ebenfals zu seinem Eigenthum überläßt, aufstößt, auf den übrigen 3. Seiten aber, die gedachten Grabstätten in gleichen Entfernungen umschließt, auf genannten Herrn Hofrath von Bethmann, unter folgenden Bedingungen ..." In sieben Punkten werden nun Rechte und Pflichten formuliert. So muß der Käufer ein „Kaufpretium von Zwanzig Stück alte Louisd'or" zahlen, aber der Verkäufer wird dieses Geld nicht zu seinem Nutzen verwenden, sondern es einer milden Stiftung spenden. Weiterhin wird dem neuen Besitzer untersagt, den Platz für weitere Begräbnisse zu nutzen, „ausgenommen die einzige, zu deren Beerdigung auf das verkaufte Gartentheil, wenn sie dereinst beliebt werden sollte, er in einem unterm heutigen Dato ausgestellten Revers ausdrücklich Erlaubniß gegeben hat". Dies bezog sich auf den Platz, den Wieland für sich als letzte Ruhestätte erwählt hatte. Des weiteren wird eine Einfassung des Platzes vorgesehen, zu der auch der Teil der verkauften Gartenmauer gehören soll. Darüber hinaus soll es dem Abkäufer freistehen, von der Außenseite einen Zugang zu schaffen, zusätzlich wird ihm ein zweiter Eingang von der Gartenseite zugestanden. Für diesen zweiten Zugang soll jedoch der Schlüssel „für immer auf H. Verkäufers Guth aufbewahret werden, von woher er ihn selbst oder denen Personen, welche er besonders dazu autorisiren wird, abgegeben werden soll". Der Käufer selbst sowie von ihm bestimmte Personen dürfen den Durchgang durch den Garten benutzen, alle anderen werden auf den äußeren Eingang 11 Drude

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verwiesen. Der Verkäufer wird auch den Durchgang für die Arbeiten zur Einfriedigung durch seinen Garten gestatten, „jedoch unter der Bedingung daß ein solcher Bau entweder im Frühjahr, oder Herbst vorgenommen werde, damit dem Garten und den Früchten so wenig als möglich Schade geschehe". Nach weiteren üblichen Formalien heißt es abschließend: „Urkundlich ist gegenwärtiges Document in Duplo ausgefärtigt, und von beiden Theilen eigenhändig unterschrieben und besiegelt worden. So geschehen Weimar den ll t e n August 1804. C. J. M. Kühne als Verkäufer Moritz Bethmann als Käufer." 249 Nach der Unterzeichnung des Vertrages bemühte sich Bethmann um einen Besuch bei Wieland, zu dem es jedoch nicht kam. Tiefurt den 21ten August 1804. Ich würde über die Unmöglichkeit, worin ich mich befand, Ihren mir zugedachten Besuch anzunehmen, untröstlich seyn, wenn ich nicht hoffen dürfte, daß vielleicht eine zweite Wahlfahrth zu dem Grabe der Unvergeßlichen mir wiedergeben könnte, was ich damahls ohne meine Schuld verlieren mußte. Und doch, sollte es vielleicht aus Schonung gegen uns Beide so seyn, da schon Ihre mir durch Hrn. GR. Bertucb eingehändigte Zuschrift so viele und so schmerzliche Gefühle in mir aufgeregt haben, daß sie auszusprechen, wenn ich es auch vermöchte, unverzeihliche Grausamkeit wäre. Sie wißen vermuthlich, daß auch meine am 8ten Novemb. 1801 verewigte Gattin unmittelbar neben ihrer so zärtlich geliebten und schmertzlich beweinten Sophie eingesenkt worden. Ich wußte der über alles theuren Freundin meines Herzens keine würdigere Ruhestätte zu geben als an der Seite derjenigen von welcher sie als eine Mutter geliebt worden war; und deren trauriges Schicksal, nur zu wahrscheinlich, ihr Herz unheilbar gebrochen hatte; und ich fühlte einigen Trost in dem Gedanken, daß auch meine Gebeine dereinst neben den ihrigen ruhen sollten. Als ich im Jahr 1803 durch gebieterische Bewegursachen gedrungen das Gütchen zu Oßmannstätt dem Hrn. Kiibne käuflich überließ, geschah 162

es unter der ausdrücklichen Bedingung, daß jener kleine Platz des Gartens, wo ich auch mir selbst meine künftige Grabstätte neben meinen Geliebtesten vorbehielt, auf immer abgesondert bleiben und heilig gehalten werden sollte. Ich weiß nicht welche Dumpfheit des Sinnes mir damahls die Möglichkeit verbarg, daß ich mir diesen kleinen Platz als ein ausschlüßliches und unveräusserliches Eigenthum vorbehalten könnte. Genug, dieser Gedanke war Ihnen aufbewahrt; er ist Ihres Herzens würdig, und ich fühle mich um so stärker aufgefordert an der Ausführung desselben Theil zu nehmen, je mehr ich mich durch die gütigen Gesinnungen, so Sie mir in Ihrer Zuschrift zeigen, dazu berechtigt sehe. Mein Freund Bertucb hat es auf sich genommen, Ihnen meine vorläufige Gedanken über diesen Gegenstand zu eröfnen, und ich gewärtige Ihre fernere und nähere Willensmeinung, mit der Versicherung, daß sie mir in Allem was diese gemeinschaftliche Angelegenheit unsrer Herzen betrift, immer zur unbedingten Richtschnur dienen soll. Wieland 250 Für Wieland war es eine schwierige Antwort gewesen, und am Beginn des Briefes ist sein wahres Gefühl gegenüber diesem Mann, der im Leben seiner Sophie eine so unheilvolle Rolle gespielt hatte, zwischen den Zeilen deutlich zu spüren. Dann aber geht er zu einer kühlen Verbindlichkeit über, wohl wissend, daß Bethmann zunächst der Eigentümer des Platzes ist. Bethmann hatte den Platz jedoch nicht für sich erworben, er gab ihn später an die Familie Brentano in Frankfurt weiter. Seine Verhandlungen waren schnell bekannt geworden, und auch Sophie von La Roche wußte die näheren Einzelheiten, die sie Anfang Oktober ihrer Schwiegertochter Elsy, der Frau ihres Sohnes Fritz, aus ihrer Sicht mitteilte: „Ich muß Ihnen eine sonderbare Geschichte vom Schicksal der verstorbenen Sophie Brentano erzählen, die, wie Sie wissen, in Wielands Garten beigesetzt wurde. Ein Jahr später beerdigte er seine Frau an der Seite Sophies und ließ, sorglich bedacht, einen Platz zwischen den beiden; im Jahr darauf verkaufte er seinen Garten mit den Gräbern seiner Lieben ... Dornengebüsch wuchert dort ... Moritz Bethmann, 11»

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hatte durch falsche Hoffnungen Sophie Brentano an seine Liebe und seine Hand glauben lassen, in ihrem Fieberwahn sprach sie immer davon, Moritz Bethmann reist nach Weimar, besichtigt den Platz, an dem sein Opfer beigesetzt wurde, kauft die Stelle, läßt sie mit einem Gitter einzäunen und will ein Denkstein zu Sophiens Ehren errichten. Wieland soll eine Inschrift verfassen und erhielt die Grabstelle zum andenken an Sophie Brentano geschenkt. Früher nannte man dies: die Seelen der Abgeschiedenen trösten." 2 5 1 Die Fama hatte auf dem Weg bis Frankfurt doch einiges verändert, aber in den Besprechungen mit Wielands Bevollmächtigtem Bertuch war sicherlich über die Gestaltung der Grabstelle gesprochen worden, und Wieland wird von sich aus die Planung der Errichtung eines Gedenksteines mit einer Inschrift eingebracht haben. Elsy L a Roche war über die Einzelheiten des Todes von Sophie Brentano nicht so informiert, wie ihre Schwiegermutter angenommen hatte, und bat in ihrem Antwortbrief um nähere Einzelheiten. Am 22. April 1805 schrieb ihr Sophie von L a Roche erneut und teilte Details mit: „Sie möchten etwas von der verstorbenen Sophie Brentano wissen. Mit ihrer Schwiegermutter, die einen Prozeß führen mußte, reiste sie nach Wien. Dort wollte ein Graf sie heiraten, er war ein Schöngeist, der Geld brauchte und glaubte, sie wäre reich. Als er erfuhr, daß sie nur 60 m. florins besaß, verließ er sie. — Sogleich erschien Moritz Bethmann und ließ sie hoffen, er würde sie heiraten. In dieser Überzeugung reiste sie zu ihrer Schwiegermutter, die sich wieder verheiratet hatte und zu Wieland nach Weimar und glaubte, daß Bethmann die Romanze mit einer Trauung beenden würde. Diese Lösung scheiterte. Das Leid darüber führte sie in ein Nervenfieber oder tiefe Umnachtung; sie sprach verwirrt und endete mit 23 Jahren im fortwährenden Wahnsinn im Verlauf von zwei Monaten. Wieland ließ sie in seinem Garten beerdigen und behielt sich einen Platz für sich und seine Frau vor, denn er wollte zwischen ihr und Sophie, die er leidenschaftlich verehrte, seine letzte Stelle haben. Zwei Jahre später verkaufte er seinen Garten und die Gebeine seiner Lieben mit der Empfehlung, man möge ihre Gräber ehren. Doch man muß sehen, daß sie von Dornengebüsch überwuchert sind. Die Brentanos wollten ihre Schwester ausgraben lassen, aber man machte Schwierigkeiten und Moritz Bethmann reiste nach 164

Weimar, ließ sich das Grab seines Opfers zeigen und kaufte den Teil des Gartens; er will einen Denkstein errichten lassen und hat den Platz Wieland vermacht, der dafür die Grabschrift fertigen soll, aber noch ist nichts begonnen ..."252 In der ihr eigenen Art mischte Sophie von La Roche Wahres und Vermutetes und versuchte durch eine verkürzende Perspektive den Geschehnissen um Sophie Brentano das Gewicht zu geben, das sie für richtig hielt. Aber so einfach, wie sie die Vergangenheit in ihren Briefen schilderte, war diese nicht, und Wielands einmal gegenüber Sophie Brentano geäußerte Bedenken über ihre Großmutter waren nur zu berechtigt. In Oßmannstedt veränderte sich zunächst nicht viel. Bethmann hatte wahrscheinlich noch die im Vertrag erwähnten Arbeiten der Einfriedung veranlaßt, alles weitere ruhte. Wieland selbst war mit seinen letzten Arbeiten beschäftigt. Im Herbst meldete er seinem Verleger Göschen, daß er an dem Dialog Eutbanasia schriebe, der dann im Jahr 1805 zusammen mit den Erzählungen des Hexameron in den Sämmtlicben Werken erschien. Das Jahr 1806 begann mit der Last der Einquartierung der preußischen Truppen, die die Vorräte der Stadt fast aufbrauchten. Von Sophie von La Roche erfuhr Wieland, daß sie ein neues Buch beendet habe, und erklärte sich bereit, die Herausgabe zu übernehmen. Am 5. September vermerkte Carl Bertuch in seinem Tagebuch: „Wielands 74. Geburtstag im Club gefeyert. 31 Personen. Sehr vergnügt das Ganze ... Vater Wieland war sehr heiter. Er genoß die allgemeine Achtung, die er so sehr verdient — Den Abend brachte er im Kreis seiner Familie zu. Seine Enkel als Fischer, und als Ährenleserinn und Blumenmädchen hatten ihn am Morgen überrascht."253 Nur wenige Wochen später brach die Katastrophe über die Stadt Weimar herein. Am 14. Oktober erlitten die preußischen und russischen Truppen bei Jena eine vernichtende Niederlage. Die Franzosen besetzten und plünderten die Stadt, Wieland kam mit dem Schrecken davon. Wenige Wochen danach begann er seine letzte große Arbeit, die Übersetzung der Briefe des Marcus Tullius Cicero. Seit früher Jugend kannte er dessen Schriften, hatte seine Werke und Briefe gelesen. Bei aller Distanz und Bescheidenheit fühlte er sich in seinen hohen Jahren hin und wider als alter ego des verehrten Römers. In den vergangenen Jahren war bei ihm von Zeit zu Zeit der Gedanke aufgetaucht, das eigene Leben zu beschreiben, immer wieder hatten ihn jedoch andere Arbeiten gehindert. Jetzt spürte er in den Briefen Ciceros Lebenssituationen, die seinen eigenen entsprachen, und 165

in der Vorrede zum ersten Band ging er ausführlich darauf ein: „ohne es zu wollen oder nur zu ahnden, läßt er uns in die innersten Falten seines Herzens sehen, und deckt uns besonders seine schwache Seite, — seine Eitelkeit und Ruhmsucht, seine häufigen (wiewohl meist nur momentanen) Widersprüche mit sich selbst; seine raschen Uebergänge von der muthigsten Zuversicht im Glück, zu zaghafter Unentschlossenheit in Gefahr, und gänzlicher Muthlosigkeit im Unglück; sein Unvermögen denen zu widerstehen, die sich seiner Zuneigung bemächtigt oder durch imponirende Vorzüge Gewalt über ihn bekommen hatten, kurz alle seine individuellen Menschlichkeiten, so treuherzig und unbefangen auf ..." 2 5 4 Die Übersetzungsarbeit an den Cicero-Briefen wirkte sich günstig aus. Wieland nahm durchaus wahr, was um ihn herum geschah. Er kümmerte sich erneut um die Grabstelle im Park von Oßmannstedt, vor allem um den Gedenkstein, der möglichst bald aufgestellt werden sollte. Im Dezember verfaßte er die Inschrift, ein Distichon: Liebe und Freundschaft umschlang die verwandten Seelen im Leben Und ihr Sterbliches deckt dieser gemeinsame Stein. Die von ihm sorgsam aufbewahrten Briefe Sophies hatte er der befreundeten Frau des Kammerherrn von Schardt zur Einsicht und Lektüre überlassen. Sophie von Schardt las sie mit tiefer Rührung und sandte sie mit Worten zarter Empfindung wieder zurück. Dankbar für ihr Verstehen, antwortete ihr Wieland: „Ich habe gerade nur einen Augenblick, meine sehr verehrte Gönnerin und Freundin, um Ihnen für das grosse Vergnügen zu danken, das mir der liebliche Abdruck Ihrer schönen Seele gemacht hat, den Sie den Reliquien der theuren Sophie Brentano beigelegt haben. Alles, was ich Ihnen darüber sagen kann, ist, dass ich dieses Billet unter eben dieselbe Enveloppe, welche diese Reliquien einschliesst, legen und als ein mir nicht weniger theures Heiligthum aufbewahren werde." 2 5 5 Man hatte sich für den geplanten Gedenkstein auf eine dreiseitige Pyramide geeinigt, die aus Seeberger Sandstein von dem Weimarischen Hofbildhauer Carl Gottlob Weisser gefertigt werden sollte, aber die Ereignisse des Herbstes 1806 verzögerten die Ausführung. Im Jahr 1807 konnte das Monument endlich im Garten in Oßmannstedt aufgestellt werden. Jede der drei Seiten war einem der Gräber gewidmet. Die für Sophie vorgesehene Seite trägt als Emblem einen Rosenkranz und in ihm einen Falter als Symbol der 166

Psyche. Darunter stehen die Worte: SOPHIE. BRENTANO. GEB. AM XV. AUG. MDCCLXXVI. G E S T . AM XX. SEPT. MDCCC. LIEBE UND FREUNDSCHAFT

UMSCHLANG

Dorotheas Seite trägt als Emblem einen Eichenkranz, der zwei verschlungene Hände umschließt. Darunter die Worte:

ANNA. DOROTHEA WIELAND GEB. H I L L E N B R A N D GEB. AM VIII. JUL. MDCCXLVI. G E S T . AM IX. NOVBR. MDCCCI. DIE VERWANDTEN

S E E L E N IM

LEBEN

An der Seite, die Wieland für sich vorsah, wenn er, wie er es nannte, seine „Pilgerschaft" beendet habe, standen zunächst nur die W o r t e : UND IHR STERBLICHES DIESER GEMEINSAME

DECKT STEIN

denen erst 1813 Wielands Name und seine Lebensdaten hinzugefügt wurden 2 5 6 . Der Beginn des Jahres 1807 brachte Wieland zwei schmerzliche Ereignisse. Ende Januar erhielt er einen letzten Brief von Sophie von La Roche, in dem sie sich für seine Arbeit an ihrem Buch bedankte. Sie schloß mit den W o r t e n : „Adieu Wieland mögen Sie Nestor werden und daß Gute Neu in Allem sehen. Ihren Kindern — und Kinds-Kindern viel liebes, und freundschaftliches von alt Sophie Gutermann L. R." 257 Am 18. Februar starb sie in Offenbach. Der „schöne Irrtum schöner Seelen" war endgültig Vergangenheit geworden 2 5 8 . Wieland suchte seinen Schmerz in der täglichen Arbeit zu vergessen. D a n n 167

starb in den ersten Apriltagen die Herzogin Anna Amalia. „Sie wissen nun vermuthlich bereits, daß unsre geliebte Fürstin ... ihre ... Augen bereits auf immer geschlossen hat", schrieb er an Böttiger. „Sie entschlief am 10. Nachmittags zwischen 3—4 Uhr sanft und schmerzenfrei an einem Nervenschlage ... Beklagen Sie mich, der nach und nach beinahe Alle überlebt, die er liebte ,.." 259 Ende April reisten Sophies Schwestern Bettine und Lulu Brentano nach Weimar und Bettine besuchte Wieland, um sich von ihm einen Empfehlungsbrief für Goethe geben zu lassen. „Bettina Brentano, Sopbiens Schwester, Maximilianens Tochter, Sophie La Kochens Enkelin wünscht Dich zu sehen, 1. Br., und gibt vor, sie fürchte sich vor Dir, und ein Zettelchen, das ich ihr mitgebe, würde ein Talisman sein, der ihr Mut gäbe. Wiewohl ich ziemlich gewiß bin, daß sie nur ihren Spaß mit mir treibt, so m u ß ich doch tun, was sie haben will, und es soll mich wundern, wenn Dir's nicht ebenso wie mir geht. W." 2 6 0

Den 23. April 1807

Die folgende Zeit war mit der Übersetzungsarbeit an den Briefen Ciceros ausgefüllt. Im Frühjahr 1808 konnten bereits die beiden ersten Bände erscheinen. Im Mai sprach Wieland mit Carl Bertuch über die Grabstätte in Oßmannstedt, und Bertuch vermerkte in seinem Tagebuch: „Nachmittag ... nach Osmanstädt gefahren, u . a . Werther dem Gärtner die Decoration v Brentanos Monument aufgetragen." 2 6 1 Man sorgte von Zeit zu Zeit für die Gräber, wenn es auch keinen Hinweis gibt, daß Wieland selbst Oßmannstedt besucht hat. Wahrscheinlich fürchtete er bei einem Wiedersehen mit dem Haus, dem Garten und den Gräbern die Macht der Erinnerungen. Am 5. September 1808 wurde im Schloß zu Belvedere, in dem Wieland in diesem und im vergangenen Jahr den Sommer verbracht hatte, sein 75. Geburtstag gefeiert. 1809 erschien der dritte Band und zwei Jahre darauf bereits Band vier der Cicero-Übersetzung. Z u Beginn des Jahres 1812 schrieb Wieland an Böttiger: „Zwanzig Bogen vom 5. Bande sind nun fertig und 14 bereits abgedruckt und könnten Ihnen, falls es nicht schon geschehen ist, zugeschickt werden." 2 6 2 Mit dem 21. Bogen begann im fünften Band das zwölfte Buch und mit ihm die Briefe, die Cicero nach dem Tode seiner über alles geliebten Tochter Tullia schrieb. Sie war unerwartet Mitte Februar des Jahres 45 v . C h r auf Tusculanum, dem Gut ihres Vaters, gestorben, erst vierunddreißig Jahre alt. In diesen Briefen erkannte Wieland Situationen und Geschehnisse wieder, die ihm nicht fremd waren. Der Tod Tullias f ü h r t e seine Erinnerungen über 168

ein Jahrzehnt zu der Zeit zurück, da er den Tod der geliebten Tochter seines Herzens, den Tod Sophie Brentanos, beklagen mußte. In der Einleitung des fünften Bandes versuchte Wieland, Cicero in seiner Trauer zu verstehen: „Wie wenig Anlage er auch sonst zu religiöser Schwärmerei hatte, so war er doch nicht ohne Anlage zur poetischen; und diese kann bei einer solchen Veranlassung in einem lebhaften Gemüth, wie das seinige, sonderbare Erscheinungen hervorbringen." Er kannte sich in diesen Gefühlen aus, auch er hatte in sich die Anlage zur „poetischen" Schwärmerei ein Leben lang verspürt. „Alles dies finde ich so natürlich, daß ich in einem ähnlichen Falle, an seinem Platz, und mit seinen Mitteln, das Nähmliche gethan haben würde." 263 Für ihn waren Ciceros Briefe aus dieser Zeit wie ein Gang durch eine Galerie, deren Bilder ihm seit langer Zeit vertraut waren. Cicero schreibt z. B. im März an den Freund Atticus: „Ich lebe in dieser Einöde ohne alle menschliche Gesellschaft, und wenn ich mich früh Morgens in den dichten struppichen Wald (der an meine Wohnung stößt) vertieft habe, komme ich nicht eher als Abends wieder heraus. Nächst dir ist mir nichts wohlthätiger als die Einsamkeit. Dort, sind meine Bücher meine einzige Unterhaltung: aber auch diese wird öfters durch- Weinen unterbrochen. Ich thue mein Möglichstes dagegen zu kämpfen, aber noch ist der Schmerz stärker als ich." In einer Anmerkung fügte Wieland hinzu: „Bei mir wenigstens verliert Cicero nichts dadurch, daß der große Mann sich dieser Zeichen menschlicher Schwäche nicht schämt." 264 Seinen nächsten Brief — auch an Atticus — beschließt Cicero: „me scriptio et littarae non leniunt sed obturbant" („Mir verschafft Schreiben und Lesen keine Linderung, aber es betäubt mich wenigstens"). 265 Ende März schreibt Cicero wiederum an Atticus Worte, die von Wieland selbst hätten sein können: „Mein Bewußtsein ist mir mehr, als was die ganze Welt von mir reden mag. Daß ich bei meinen Büchern und Ausarbeitungen Trost gesucht habe, gereuet mich nicht, wenn ich auch nicht viel damit ausgerichtet hätte. Ich verminderte dadurch wenigstens meine Traurigkeit-, meinen Schmer% könnt' ich nicht mindern, und wenn ich's könnte, so wollt' ich nicht." 266 Die Arbeit an den Briefen Ciceros ließ auch ein altes Vorhaben wieder ans Licht treten, nämlich das eigene Leben zu schildern. Jetzt plante er, „sein Leben in Briefform an seine Freunde" zu schreiben 267 . Es wäre vielleicht ein Wieland und einige seiner Zeitgenossen geworden, und wir können nur bedauern, daß ihm die Zeit dafür nicht mehr blieb. 169

Mitte des Jahres erschien der fünfte Band von Ciceros Briefen, und im September konnte Wieland seinen 79. Geburtstag feiern. Doch es waren ihm nur noch wenige Monate vergönnt. Im Januar des folgenden Jahres 1813 meldet das Totenbuch der Stadtkirche Weimar: „Mittwochs den 20. Januar 1813, Nachts 12Uhr, starb Se. Wohlgeboren Herr Christoph Martin Wieland, herzogl. Sächs. Hofrath ... in einem Alter von 79 Jahren, 4 Monaten, 16 Tagen an Entkräftung und Schlagfluß." 268 Am 25. Januar wurde sein Leichnam nach Oßmannstedt überführt und im Park neben seiner Frau Dorothea und Sophie Brentano beerdigt. Für Goethe hatte dessen Sohn August an dem Begräbnis teilgenommen. „Aus seinem Munde vernahmen wir sogleich die näheren Umstände dieser Bestattung. Goethe lobte die getroffenen Einrichtungen; besonders auch, daß einige von der Regierung, andere von der Kammer, gleichsam aus der Mitte beider Collegien, bei dieser Feierlichkeit zugegen gewesen waren. ,Es ist die letzte Ehre', fügte er hinzu, ,die wir ihm und uns selbst zu erzeigen imstande sind. Allemal zeugt es von einem würdigen Sinne, wenn man solche Anlässe gehörig benutzt; und wenn sonst nichts, so legen wir dadurch vor der Welt wenigstens ein Zeugnis ab, daß wir nicht unwert sind, ein so seltenes Talent eine lange Reihe von Jahren hindurch in unsrer Mitte besessen zu haben.' Sein Sohn mußte ihm darauf die Begräbnisstelle, den Ort im Garten, den Stein, alles aufs genauste bezeichnen. Auch vernahm er es nicht ungern, daß über fünfhundert Menschen aus den umliegenden Dörfern sich heute unaufgefordert bei Wielands Grabe eingefunden hatten." 2 6 9 N u n erhielt auch die letzte Seite der Pyramide ihre Inschrift. Unter dem Emblem der Lyra stehen die Worte: CHRISTOPH MARTIN WIELAND G E B . AM V. S E P T . M D C C X X X I I I . G E S T . AM X X . IAN. MDCCCXIII. Am 18. Februar hielt Goethe vor der Loge Amalia, zu der Wieland seit einigen Jahren gehört hatte, seine Rede Zu brüderlichem Andenken Wielands. In ihr gedachte er auch des Aufenthaltes von Wieland in Oßmannstedt und der trauervollen Umstände in den Jahren 1800 und 1801: „So m u ß ich nur kurz und theilnehmend gedenken, wie diese ländliche Heiterkeit durch das Hinscheiden einer theuern mitwohnenden Freundin und dann durch den T o d seiner werthen sorgsamen Lebensgefährtin getrübt worden. Er legt diese theueren Reste auf eignem Grund und Boden nieder, und indem er 170

sich entschließt, die für ihn allzusehr verflochtene landwirtschaftliche Besorgung aufzugeben, und sich des einige Jahre froh genossenen Grundbesitzes zu entäußern, so behält er sich doch den Platz, den Raum zwischen beiden Geliebten vor, um dort auch seine ruhige Stätte zu finden. Und dorthin haben denn die verehrten Brüder ihn begleitet, ja gebracht, und dadurch seinen schörien und anmuthigen Willen erfüllt, daß die Nachkommen seinen Grabhügel in einem lebendigen Haine besuchen und heiter verehren sollten." 270

171

Die Gräber im Park von Oßmannstedt nach Wielands Tod

Nach Wielands Tod sorgte sich kaum jemand um die Gräber im Park von Oßmannstedt. Bethmanns vertragliche Lösung war die ungünstigste Form gewesen. Er hatte das von ihm erworbene Eigentum an die Familie Brentano weitergegeben, ohne jedoch irgend jemanden in Weimar, insbesondere die Familie des Hofrats Kühne, zu informieren. In der Familie Brentano fühlte sich niemand verantwortlich für den Platz, so daß alles verfallen und überwuchert worden wäre, wenn der Hofrat Kühne nicht das Allernotwendigste unternommen hätte. Es gibt Belege und Rechnungen aus dem Jahre 1817 für Garten- und Pflanzarbeiten, die er veranlaßt hatte. Schließlich wandte sich sein Schwiegersohn, Dr. Bartholomäi, der für ihn die Geschäfte führte, in einem langen Schreiben vom 14. Februar 1821 an den „Consul Herrn Moritz von Bethmann zu Frankfurt", da er annehmen mußte, daß dieser noch der Eigentümer der Stelle war. Er faßte die Ereignisse seit dem Verkauf im Jahre 1804 noch einmal kurz zusammen, erwähnte die Beerdigung Wielands 1813, wies dann darauf hin, daß das Gut bis etwa 1817 unbewohnt gewesen sei und die verschiedenen Heereszüge mancherlei Verwüstungen gebracht hätten. Die Familie Kühne habe jedoch einen Gärtner beauftragt, nach dem Rechten zu sehen, und er fuhr fort: „Obschon in dem ursprünglichen Vertrage vom 11. Aug. 1804 dem Gartenbesitzer überall keine Dispositionsbefugniß rücksichtlich jenes Fleckes gelaßen oder eingeräumt ist, so entschuldigte uns doch einestheils die Entfernung des Eigenthümers, anderentheils die wenigstens scheinbare Gleichgültigkeit der Wielandschen Familie, welche bis jetzt dem Orte weder besondere Aufmerksamkeit noch seiner Erhaltung irgend Mittel gewidmet." Dann erwähnte er einen Artikel im Morgenblatt von 1819, der ohne genaue Kenntnisse der wirklichen Verhältnisse den gegenwärtigen Besitzer des Gutes für den schlechten Zustand der Grabstätte verantwortlich machte: „Durch jene Vorwürfe und diese 173

Nothwendigkeit, daß allerdings etwas mehreres gethan werden müßte, mögen Ew. Hochwohlgeb. mich gerechtfertigt halten, indem ich durch gegenwärtige Darstellung Ihre Eigenthumsrechte in Anspruch nehme. Denn, weit entfernt, dasjenige in Anschlag zu bringen, was zeither für den Zweck der Sicherung, Erhaltung und Herstellung jener Grabstätte und Umgebung von meinem Schwiegervater und mir geschehen ist, fühle ich mich — wenn es selbst nicht als Anmaßlichkeit von meiner Seite erschien — doch ebenso gewiß außer Stand und Mitteln, die nothwendigen, geschweige solche Verrichtungen zu machen, welche dem Zwecke ganz entsprechen, auch zur Verschönerung dienen oder vollends alle gespannten Erwartungen besuchender tadelsüchtiger Reisender befriedigen zu können." Anschließend machte er verschiedene Vorschläge, wie die Gräber ordentlich herzurichten wären. Die zur Zeit „mangelnde Einfaßung" könnte die Grabstätte nicht vor denen schützen, die sie beschädigen. Ein Geländer oder eine andere Art Befestigung wären daher unentbehrlich. Außerdem führte die Ilm in den Jahren 1818 und 1819 Hochwasser und „so drang das Wasser durch die Mauer und stand 2 Fuß hoch über den Gräbern. Hätte Wieland selbst dergleichen erlebt, so zweifele ich, daß er diese, und nicht vielmehr eine davon befindliche höhere Stelle des Gartens gewählt haben möchte". Weiterhin müßte ein geeigneter Mann zur Aufsicht bestellt werden. Er bat Bethmann, alles zu prüfen und ihm Nachricht darüber zu geben, es sei denn, „daß nicht vielleicht eine gelegentliche Reise uns die Ehre verschaffen sollte, Ew. Hochwohlgeb. selbst in Oßmannstedt zu sehen". Und er wies noch darauf hin, daß Herr Landesdirektionsrath Hufeland oder auch Herr Legationsrath Bertuch sowie dessen Schwiegersohn Herr Obermedizinalrath D . von Froriep hinzugezogen werden könnten 2 7 '. Es kann vermutet werden, daß Bartholomäi diesen Brief in Abstimmung und auf Vorschlag Goethes geschrieben hatte, denn wenige Tage darauf wurde er von ihm zu einem Gespräch empfangen 2 7 2 . Der 1790 geborene Karl Friedrich Bartholomäi war ein Schulfreund von Goethes Sohn August. 1815 hatte er sich mit der Tochter des Hofrats Kühne, Antoinette, verheiratet. Am 24. Februar 1821 traf Goethe mit der Schwester Moritz Bethmanns, Frau Susanne Bethmann-Hollweg, zusammen und sprach mit ihr über Oßmannstedt 273 . Wenige Tage danach schrieb er ihr: „Nach unserer Verabredung, verehrte Freundin, habe sogleich Herrn Doctor Bartholomäi gesprochen, es ist derselbe, der an Herrn von Bethmann geschrieben hat, Schwiegersohn des Oßmannstedter Gutsbesitzers. Dies Familie wünscht frey lieh sehr, daß nach früherem Plane, der ehrwürdige Raum möge einge174

hegt und vor aller Unbill verwahrt werden. Ist dieß geschehen, und man will zur Erhaltung und Verpflichtung eines Custoden irgend eine Summe stiften, so würde für deren Verwendung gewiß von oben herein treulich gesorgt werden. Es entstand vorläufig die Frage: ob man diese werthen Gräber nicht dadurch am besten schützte, daß man ein kleines Capellchen darüber baute? ohngefähr wie beyliegende Skizze andeutet; so wäre diese Stelle auf viele Jahre gesichert, da eine hölzerne Einhegung wandelbar und eine eiserne immer angreifisch wäre. Doctor Bartholomäi erwartet geneigte Entschließung und ist, als thätiger junger Mann, bey einer Angelegenheit sehr gern wirksam, die ihn so nahe betrifft: denn freylich sind die Besitzer des Gutes und Gartens von Fremden bisher manchmal übel angesehen worden wegen Vernachlässigung dieses Platzes. Lassen Sie mich und die Meinigen Sich und den theuren Ihrigen bestens empfohlen seyn." 274 In Frankfurt hatte Moritz Bethmann das Schreiben Bartholomäis umgehend an die Familie Brentano weitergegeben, und zwar an Franz Brentano als Oberhaupt der Familie. Man entschloß sich, an Goethe zu schreiben; den Brief verfaßte Franz Brentanos Frau Antonia. 1812 hatte Antonia Brentano Goethe in Karlsbad kennengelernt. Von ihrem Vater hatte sie eine große Kunstsammlung geerbt, die Goethe sich bei seinem Aufenthalten in Frankfurt 1814 und 1815 angeschaut hatte, und es kam danach zu einer Korrespondenz 275 . In ihrem Br\ef vom 6. März erklärte sie Goethe die Eigentumsverhältnisse so, als hätte der Hofrat Kühne der Familie Brentano den Grabplatz übertragen, sie erwähnte die Beerdigung Wielands, das Monument und „alles ruhte dort in Frieden, bis uns vor wenigen Tagen Dr. Bartholomäi, Kühnes Schwiegersohn meldet, daß die von Fremden häufig besuchten Gräber des Dichters von ungeweihten Händen und Füßen kaum zu schützen, und durch den Zahn der Zeit und die Lage des Ortes Beschädigung und Mißstaltung erlitten, die Mauer hergestellt, und besondere Rücksicht auf Hemmung des Wasserandranges genommen, kurz in mancherley Hinsicht geholfen werden müßte. Gern zollt Geschwisterliebe und Achtung für den gepriesenen Dichter, für den Freund des Haußes Laroche den Tribut der Erhaltung und Herstellung des Platzes." Aber wegen der großen Entfernung könne man die Lage nicht richtig beurteilen, und so bitte sie um Goethes Ansicht und Mitwirkung. Nach Meinung der Familie genüge eine bescheidene Einfassung und eine Ausbesserung der Mauer, der Vorschlag des Dr. Bartholomäi gehe 175

aber dahin, die Mauer zur Hälfte abzutragen, ein eisernes Geländer zu errichten, um damit Aussicht auf die Ilm und die Wiesen zu gewinnen, und dies alles „deutet auf kostspielige Verwendung". Und sie führte weiter aus, daß Sophies Grab die neugierige Menge nicht locken würde und eine einfache Mauer die „theure Hülle schützen" könnte, alle anderen aber, die „die Grabstätte des gefeyerten Sängers suchen, sich öffentlich darüber aussprechen, dürfte vielleicht der fürstliche Verehrer der Dichter — dieser - vielbesuchten Stätte eine Auszeichnung durch Verschönerung zu geben geneigt sein, und es wäre dann von hoher Behörde ein Verwahrer und Aufseher dieser Stelle anzuweisen rathsam, auch eine Eingangsthüre von außen anzubringen um den Eigenthümer des Gartens nicht zu beschweren". Mit gewisser Dringlichkeit erbat sie von Goethe eine baldige Mitteilung und schlug vor, eventuell Herrn Bertuch hinzuzuziehen, „der sich früher schon der Besorgung des Grabes unterzog, und uns wohl abermahls gütig willfahren will" 276. Wenige Tage danach schrieb Bartholomäi an Goethe, schickte ihm die Abschrift seines Briefes an Bethmann und stellte zum Schluß fest, daß der jetzige Eigentümer, Hofrat Kühne, die Erhaltung der Grabstelle als persönliche Pflicht ansehen würde, wenn ihm Herr von Bethmann sein Eigentum an dem Platz wieder zurückgeben würde 2 7 7 . Goethe führte daraufhin am 12. März ein Gespräch mit dem Obermedizinalrat Froriep und empfing am 10. April Bartholomäi zu einer Unterredung 2 7 8 . Wenige Tage danach schrieb er an Antonia Brentano einen kurzen Brief, erwähnte darin seine Unterredung mit Bartholomäi und daß er bis jetzt noch keine Lösung gefunden hätte. „Auch komme ich, wie ich jetzt wohl sehe, nicht zum Entschluß, bis ich an Ort und Stelle gewesen bin, da der Fall, so einfach er scheint, doch sonder complicirt ist." 279 Bereit^ am 6. April hatte Goethe ein wesentlich längeres Schreiben diktiert, das dann aber nicht abgeschickt worden war. Darin ist die gesamte Situation, wie sie sich im Frühjahr 1821 darstellte, zusammengefaßt: „Sie entschuldigen, verehrte Freundin, gewiß mein Zaudern, in einer so complicirten, schwer zu entwirrenden Sache. Um das Verhältniß einigermaßen aufzuklären setz ich Folgendes auseinander: Der Entfernte hört von einer Gartenmauer und denkt sich also einen eingeschlossenen Bezirk, dieses ist aber der sogenannte Garten keineswegs; es ist ein großes von seinem früheren, gräflichen Besitzer freylich zum Garten bestimmtes, nachher aber ganz zum Feldbau benutztes Grundstück, welches vom Schlosse herunter, bis nahe an das Wasser reicht; nun ist die einzige 176

schmale Seite gegen die Ilm zu, von Alters her mit einer Mauer begränzt, an welcher auch die Gräber situirt sind, die man sich aber deshalb keineswegs geschützt denken darf, indem die langen Seiten des Raumes, sowohl gegen die Straße, als gegen die Nachbar-Felder, entweder keine, oder theilweis' in Ruin zerfallene Mauern haben, welche dem gegenwärtigen Besitzer bey seinem Feldbau gleichgültig bleibt. Daher ist also ersichtlich, daß jedermann in diese offenen Räume so gut als auf jeden anderen Acker her eintreten, die Gräber besuchen, seinen Namen anschreiben und mehr oder weniger schonend dabey verfahren kann. Wollte man also die Gräber schützen, so müßten noch drey Seiten dieser vier Quadratruthen eingeschlossen und auf irgend eine Weise befriedigt werden. Nun ist es freilich ein eigenes, vielleicht nie wieder vorkommendes Verhältniß, daß eine Familie in fremdem Lande, innerhalb des Besitzes eines andern, ein kleines frommes Fleckchen besitze, wohin sie niemals kommt, was sie nicht hegen und pflegen kann. Daher dürfte man wohl voraussagen, daß von Zeit zu Zeit immer einige Mißverständnisse sich wiederholen werden. Sollte man denn aber wohl eine Impietät begehen? wenn man das Eigenthumsrecht an dieser Stelle aufgäbe, und dem Hauptbesitzer wieder überließe. Die Kühnische Familie ist wohlhabend und ehrenvoll, der Schwiegersohn Doctor Bartholomäi, einer unsrer vorzüglichsten Sachwalter von besonderer Thätigkeit; er hat schon erklärt, daß die Kühnische Familie von allen Anforderungen gern abstrahiren und die Erhaltung jener Grabstätte sich zur eignen Pflicht machen werde, sobald man von dorther jede Eigenthums- und Dispositionsbefugnisse aufgeben und dem Gutseigenthümer abtreten wolle. Können sich die werthen Verwandten der guten Sophie hiezu entschließen, so träte alsdann sogleich der Fall ein, dessen Sie gedenken; der Gutsbesitzer erklärte sodann: er werde diese fromme Stätte auf ein schickliche und angemessene Weise zu sichern und zu ehren suchen; wollten jedoch Freunde der geliebten und geschätzten Verstorbenen, die hier ruhen, auch nach Belieben einen Beytrag thun, so könnte man schon an weitere Plane denken und auch hiesige Freunde, so wie den Fürsten selbst zur Theilnahme aufrufen. Weshalb ich nunmehr die Entschließung überlasse, indem ich kein anderes Mittel sehe, diese Sache auf einen glücklichen und zum Ziel führenden Weg zu leiten, die unbefugten Sprecher, die sich so gern in alles mischen, ein für allemal zu beschämen. Sollen die lieben Todten gesegnet seyn, die mir ein Lebenszeichen trefflicher und geliebter Freunde so ganz unvermuthet verschaffen konnten." 280 Es bleibt ungeklärt, warum Goethe diesen ausführlichen Brief, der alles 12

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Zukünftige vorschlug, zurückhielt und sich vorerst mit dem kurzen unverbindlichen Brief begnügte. Im Juni schrieb er noch einmal an Antonia und entschuldigte sich, daß er selbst wegen des unfreundlichen Wetters Oßmannstedt noch nicht aufgesucht habe. Da aber Susanne Bethmann-Hollweg sich an Ort und Stelle informiert habe, könnte sie auch die besten Ratschläge geben. Sein Rat wäre, man sollte die Grabstelle dem ursprünglichen Eigentümer zurückgeben. „Sie würden sich, wie sie schon gegen mich erklärt, zur Pflicht machen, diesen durch Freundschaft geweihten Platz schicklich und würdig zu behandeln und sowohl sich selbst als die entfernten Verwandten und Wohlwollenden vor allen Ansprüchen und Mißverhältnissen zu bewahren." 281 Daraufhin geschah zunächst nichts, und Bartholomäi wandte sich noch einmal nach Frankfurt an Moritz Bethmann, denn er hielt diesen immer noch für den eigentlichen Eigentümer des Grabplatzes. Am 10. August antwortete ihm Susanne Bethmann-Hollweg: „Frankfurt, den 10 August 1821 — Der Wunsch Ihnen über die Oßmannstädter Angelegenheit etwas entscheidendes mitzutheilen, hat bis jetzt meine Antwort verzögert. Sie wissen bereits, daß mein Bruder den Begräbnisplatz der Familie Brentano abgetreten hat, und folglich auch hierin nichts mehr bestimmen kann. Ich habe derhalben Ihren Brief sogleich Hrn Georg Brentano mitgetheilt, welchen ich schon bey meiner Zurückkunft mündlich von den Verhältnissen unterrichtet hatte. Allein auch er kann nicht darüber entscheiden, sondern er muß sich mit den Geschwistern berathen. Mehrere derselben sind abwesend, und sie haben sich noch nicht geäußert. Hr. Brentano wird so bald er Antwort von den Abwesenden erhalten hat, Ihnen das Resultat mittheilen. Genehmigen Sie indessen die Versicherungen der vollkommensten Hochachtung. S. Bethmann Hollweg." 2 8 2 Mitte August wandte sich Franz Brentano an Goethe und bat ihn, „die Herstellung einer Mauer gütigst veraccordiren zu lassen" 283. Doch Goethe wollte mit dem kleinlichen Hin und Her nichts mehr zu tun haben und ließ dies Brentano auch aus Jena wissen: „Bey meiner Entfernung von Weimar, ja sogar wenn ich daselbst gegenwärtig wäre, bliebe mir nichts übrig als fragliches Geschäft Herrn Bartholomä zu übertragen und ihn um dessen Ausführung zu ersuchen, da mir denn für den ehrenhaften, wohldenkenden Mann freundlicher erscheinen will, wenn Ew. Hochwohlgeboren ihm das verdiente Zutrauen selbst schenken." 284 Auch nach diesen Briefen geschah wenig. Inzwischen verstarb Hofrat Kühne, und Bartholomäi, Erbe des Gutes, hatte 1823 das Amt eines Landrates übernommen. Jahre später wurde der Weimarer Oberbaudirektor Coudray mit Arbeiten 178

zur Wiederherstellung der Gräber betraut 2 8 5 . Eckermann notierte in einem Gespräch vom 5. Juli 1821: „... und Wielands Grab zu Ossmannstedt war ein viel besprochener Gegenstand unserer Unterhaltung. Oberbaudirektor Coudray erzählte, daß er mit einer eisernen Einfassung des Grabes beschäftigt sei. Er gab uns von seiner Intention eine deutliche Idee, indem er die Form des eisernen Gitterwerks auf ein Stück Papier vor unsern Augen hinzeichnete. Als der Kanzler und Coudray gingen, bat Goethe mich, noch ein wenig bei ihm zu bleiben. ,Da ich in Jahrtausenden lebe', sagte er, ,so k o m m t es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumenten höre. Ich kann nicht an eine Bildsäule denken, die einem verdienten Manne gesetzt wird, ohne sie im Geiste schon von künftigen Kriegen umgeworfen und zerschlagen zu sehen. Coudrays Eisenstäbe um das Wielandische Grab sehe ich schon als Hufeisen unter den Pferdefüßen einer künftigen Kavallerie blinken ... Das Wielandische Grab liegt überdies viel zu nahe an der Ilm; der Fluß braucht in seiner raschen Biegung kaum einhundert Jahre am Ufer fort zu zehren, und er wird die Toten erreicht haben.'" 2 8 6 Das Großherzogliche Oberkonsistorium schaltete sich ein, aber eine zufriedenstellende Lösung wurde nicht erreicht. N o c h immer konnten die Eigentumsverhältnisse nicht eindeutig geklärt werden. 1843 wurde ein Kostenvoranschlag für die Einfriedung eingeholt, und es gibt verschiedene Belege, daß in den Jahren 1844 bis 1851 Garten- und Schlosserarbeiten an der Grabstelle ausgeführt wurden. Bartholomäi verstarb 1857. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts scheint man sich in irgendeiner Form in Weimar geeinigt zu haben. Nachschlagewerke und Reiseführer v o m E n d e des Jahrhunderts wiesen bei der Erwähnung von Oßmannstedt stets auf das Grab Wielands hin. Sophie Brentano jedoch war in Vergessenheit geraten, ihre Grabstelle wurde einmal Sophie von La Roche, dann wieder Sophie Mereau zugeschrieben 287 . In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurden die Gräber, da sich sonst niemand darum kümmerte, durch den Ortspfarrer, die Gemeinde und den Heimatverein betreut. Nach 1945 änderte sich vieles. Die „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar" richteten 1956 im Gutshaus in Oßmannstedt zwei Museumsräume ein. 1977 — anläßlich des 200. Geburtstages von Heinrich von Kleist, der im Winter 1802 auf 1803 Gast Wielands auf dessen Gut gewesen war - wurde die Gedenkstätte erweitert. In den achtziger Jahren wurde der Park wieder in den früheren Zustand gebracht. Zunächst setzte man den barocken Gartenteil am Gutshaus wieder instand, danach erneuerte man den Landschaftsgarten im englischen Stil. 12*

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„Um ursprüngliche Sichtbe2iehungen wiederherzustellen und die Wachstumschancen der vorhandenen gesunden Substanz wie der Neupflanzungen zu erhöhen, mußte der Gehölzbestand kräftig ausgelichtet werden. Das Wegenetz, speziell der mehr als 700 Meter lange Rundumweg, der an Wielands Grab vorbeiführt, die schmiedeeiserne klassizistische Umfriedung der Grabstätte und der darauf sich erhebende schlichte Obelisk wurden ebenfalls wiederhergestellt."288 Was Sophie Brentano in ihren letzten Wochen im Sommer 1800 vorausgeahnt hatte, hatte sich erfüllt und war Wirklichkeit geworden: „Wie poetisch auch die berühmtesten Oerter und Zeiten des Alterthums, in der langen, weiten Perspektive vor, oder vielmehr hinter uns, uns erscheinen mögen ... so möcht' ich doch wohl wissen, was sie vor Wieland's Osmantinum und vor der wirklichen Gegenwart, worin wir hier leben, Sonderliches voraus haben könnten! ... Möge ein Athen, ein Tibur oder Sabinum immerhin in Griechenland und Italien liegen, und mit noch so schönen Gegenständen der Natur und Kunst in die Augen fallen: ohne die großen und schönen Geister der Vorzeit, die dort lebten und wirkten, würden solche Oerter nicht in poetische Stimmung versetzen, oder nicht das zu seyn scheinen, was sie durch die Erinnerungen, die sie erwecken, und durch die Gefühle, womit sie beseelen, einzig und allein werden ... Oder was fehlt denn ... Ihrem Osmantinum, daß es nicht mit Athen und Tibur für alle empfänglichen Seelen wetteifern könnte? Was mich betrifft, so vermisse ich hier nichts davon; im Gegentheil, die wirkliche Gegenwart beut mir dessen noch mehr, als die Vorzeit mit seinen berühmtsten Stätten mir bieten könnte. Und das sollte nicht poetisch machen dürfen." Und Lütkemüller, der diese Worte aus der Erinnerung aufgezeichnet hatte, versuchte Sophies Empfindungen noch zu verdeutlichen: „Ich denke mir eine Nachwelt, die von uns ungefähr eben so weit entfernt liegt, als unsere Jetztwelt von dem classischen Alterthum der Griechen und Römer. Auch dann, noch nach Jahrtausenden, werden die gebildetsten und edelsten Menschen nach Weimar und Osmantinum wallfahrten, und in diesem Athen und Tibur der deutschen Vorzeit sich durch Erinnerungen begeistern und mit Gefühlen beseelen, wie unsere Zeitgenossen an den heiligen Orten, wo die größten Geister des Alterthums weilten und wandelten. Und sollten dann etwa von Weimar und Oßmannstädt nur noch Trümmer vorhanden seyn, so schadete das nicht viel. Die Geister, die hier einst lebten und wirkten, haben diese Erdenstätten auf ewig geheiligt und umschweben sie mit ihrer glücklichen Zeit als Genien."289

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Christoph Martin Wieland. Ölgemälde von Georg Oswald May, 1779 (Wieland-Museum, Biberach an der Riß).

Sophie La Roche. Ölgemälde von Langenbeck, um 1762 (Wieland-Museum, Biberach an der Riß).

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Christoph Martin Wieland. Stich von Johann Lindner, 1806, nach einem Gemälde von Ferdinand Jagemann (Wieland-Museum, Biberach an der Riß).

Sophie Brentano. Miniatur eines unbekannten Künstlers (Freies Deutsches Hochstift, Goethemuseum, Frankfurt/M.). © Ursula Edelmann, Frankfurt/M.

Ansicht des Gutes Oßmannstedt.

Grabstein Sophie Brentanos in Oßmannstedt (Nationale Forschungs- und Gedenkstätten, Weimar).

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