Brasilianische Fiktionen: Gegenwart als Pastiche 9783964564412

Die Autorin beschäftigt sich in diesem Buch mit acht exemplarischen Romanen d. bras. Gegenwartsliteratur, die sie in ihr

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German Pages 199 [200] Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Senna x Macunaima
Voilà - Clarice Lispector, Jorge Amado, Antonio Callado...
Die Sternstunde oder "Können Subalterne sprechen?"
Geschichten und Geschichte Jorge Amados Super-Folheto: Viva Teresa
Der Schriftsteller als Theologe, der Anthropologe als Schriftsteller, als Held der Tropen: Quarup und Maira
Babel im Zeitalter der Medien: Null. Prähistorischer Roman
Mimikry, Erinnerung und Gegenwart Silviano Santiagos Pastiche-Roman: Em Liberdade
Bibliographie
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Brasilianische Fiktionen: Gegenwart als Pastiche
 9783964564412

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Ellen Spielmann Brasilianische Fiktionen

Ellen Spielmann

Brasilianische Fiktionen Gegenwart als Pastiche

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Spielmann, Ellen: Brasilianische Fiktionen : Gegenwart als Pastiche / Ellen Spielmann. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1994 ISBN 3-89354-060-1 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1994 Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Linda Cunningham, Typopgraphie Michael Ackermann Printed in Germany: Rosch - Buch, Hallstadt

Inhaltsverzeichnis Seiten

Senna x Macunaima

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Voilà - Clarice Lispector, Jorge Amado, Antonio Callado ...

9

Ciarice Lispector Die Sternstunde oder "Können Subalterne sprechen?"

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Geschichten von der Liebe: Eine Lehre oder das Buch der Lüste

48

Jorge Amado Geschichten und Geschichte Jorge Amados Super-Folheto: Viva Teresa

68

Antonio Callado und Darcy Ribeiro Der Schriftsteller als Theologe, der Anthropologe als Schriftsteller, als Held der Tropen: Quarup und Maira

89

Ignàcio de Loyola Brandäo Babel im Zeitalter der Medien: Null. Prähistorischer Roman

110

Tropische Welt im Science-Fiction Klima: Kein Land wie dieses

138

Silviano Santiago Mimikry, Erinnerung und Gegenwart Silviano Santiagos Pastiche-Roman: Em Liberdade

161

Bibliographie

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Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommersemester 1993 am Fachbereich Neuere Fremdsprachliche Philologien an der Freien Universität Berlin eingereicht habe. Ich danke Prof. Dietrich Briesemeister, Priv. Doz. Victor Betreuung der Arbeit, Prof. Carlos Rincön, Prof. Jean Franco Hans-Hagen Hildebrandt, meinen Kollegen und Kolleginnen am Institut für wesentliche Impulse, Kritik und Ermutigung. Anna für die große Hilfe bei der Erstellung des Skripts gedankt.

Farfas für die und Priv. Doz. LateinamerikaGerstlacher sei

Ich widme diese Arbeit der "Dicken".

Senna x Macunaima

Was Fußball und Karneval kaum mehr fertigbrachten, ganz Brasilien in Trance zu versetzen, hatte der Formel-1-Weltmeister Ayrton Senna erreicht: sich als Nation zu fühlen, ein Wir-Gefühl herzustellen, mitzufiebern, zu leiden, Triumphe zu feiern, bei jedem Start neue Hoffnung zu schöpfen. Hoffnung, das heißt heute in Lateinamerika, mit zur Ersten Welt zu gehören. Senna hat mit seinem "automobilistischen Genie Brasilien auf magische Weise in die Erste Welt hineingefahren". Er hat "den Reichen des Globus die Show gestohlen, unser Können im Zirkus der Millionäre demonstriert". Brasilianer sind sich spätestens mit Sennas Tod am 1. Mai 1994 bewußt geworden, daß sie Mitglieder einer "imaginären Gemeinschaft" - der brasilianischen Nation - sind. Und sie wissen, daß dieser Gemeinsinn auf immer neuen Konstruktionen, auf Traditionen, Erzählungen, Bildern, ganzen symbolischen Systemen basiert, die Bedeutungen und Sinn produzieren. Sie sind sich bewußt, daß die Existenz der "imagined Community" von diesen Vorstellungen und Erfindungen abhängt. Die ganze Nation geriet am 1. Mai in Extase, erlebte unmittelbar körperlich in der Medienhaut, die heute unsere Realität ist, Leben und Tod von Ayrton Senna. Vier Tage und Nächte gab es im brasilianischen Fernsehen nur dieses eine Thema, eine (Selbst)-Inszenierung von Schmerz, Stolz, Glück und Trauer. In der Megalopole Säo Paulo, der Lokomotive der Wirtschaft des 150-Millionen-Staates standen die Geschäfte still, in Brasilia waren das Parlament paralysiert, vergessen die galoppierende Inflation, Korruptionsskandale, die Rangeleien der Präsidentschaftskandidaten im Vorwahlkampf. Auf den Straßen Säo Paulos und auf den Bildschirmen zeigte sich eine weinende, schreiende Masse; frenetischer Applaus, Nationalflaggen, Spruchbänder, bemalte Körper, weiße Gewänder sprachen Ayrton Senna heilig. Die Welle der Emotionen des "poväo" - des Volks auf der Straße - stellte eine Herausforderung an die Improvisationskunst der Bildmedien dar. Die Bilder des zweitgrößten brasilianischen TV-Senders "Manchete" durchkreuzte ein schwarzer Balken als Zeichen der Trauer. Der Mediengigant "Rede Globo" entwickelte eine Ästhetik, die das Klima von der Straße - zwischen Gänsehaut und Euphorie - potenzierte. Weiche Musik unter7

malte die in Zeitlupe gezeigten Höhepunkte der Karriere Sennas: das Siegeslächeln, champagnerüberströmt, das Durchbrechen der Ziellinie, das Licht halb im Rauch, Schnitt, der Helikopter in der Luft stehend und, die Szene des Unfalls in unendlicher Wiederholung. Der amtierende Staatspräsident Itamar Franco verkündete eine dreitägige Staatstrauer und eilte nach Säo Paulo. Mit seiner Präsenz im Bilderreigen der Trauerfeierlichkeiten vollzog er einen politischen Akt, der mehr wiegt als jede populäre Regierungsmaßnahme gegen die Inflation, Korruption oder radikale Haltung gegenüber dem Weltwähmngsfond. Denn zunehmend verlagert sich der Aktions- und Wirkungsradius der kulturell-theatralen Ereignisse, die die politische Praxis ersetzen. Den Schock, den die Brasilianer erlitten, war noch größer als der nach dem Tod des demokratischen Präsidenten Tancredo Neves 1985 dem Hoffhungsträger nach zwanzig Jahren Militärherrschaft. Ein vielleicht vergleichbares, kollektives Trauma erlebte Brasilien 1950 nach der Niederlage im Finale der Fußball-WM gegen Uruguay, in dessen Folge der Trainer Selbstmord beging. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Durch die neuen Bildmedien, ihre Technik und Ästhetik hat sich die öffentliche Sphäre und Dynamik der Kommunikation verändert; es ist eine Kultur des Scheins, der perfekten Simulation von Realität entstanden, mit der sich in zunehmenden Maß gerade Politik und Macht legitimieren. Angesichts der gravierenden Probleme von Arbeitslosigkeit, Lebenshaltungskosten, Menschenrechtsfragen, Gewalt, des extremen regionalen Ungleichgewichts zwischen dem Nordosten und Süden1 ist eine politische Moral und Praxis, die nach den Klischees einer schlechten Telenovela funktionieren, alarmierend. Witze und Anekdoten liefern sehr oft die besten Analysen über den Zustand einer Gesellschaft. Die Tiefe der Krise in der Politik und sarkastische Haltung der Brasilianer gegenüber der Politikerkaste schlägt sich nieder in einem Witz über die Fähigkeiten und Leistungen der letzten drei Regierungshäupter, der in Intellektuellenkreisen kursiert: Mit Sarney hatten wir einen Schriftsteller dritter Klasse als Präsidenten, mit Collor einen Athleten zweiter Klasse und mit Itamar Franco haben wir einen "Foliäo", einen Possenreißer, erster Klasse.

Eine herausragende anthropologische Feldstudie Uber Armut, Hunger, Tod und Krankheit in der Nordostregion gibt Aufschluß liber die politische Ökonomie und Kultur Brasiliens, die Entwicklungstragik der Gegenwart Vgl. N. Scheper-Hughes 1994. Death Without Weeping. Everyday Life in Brazil. Berkeley. 8

Voilà - Clarice Lispector, Jorge Amado, Antonio Callado...

Es geht in diesem Buch um die Frage nach den Repräsentationen der multiplen Stimmen Brasiliens und um die sozio-kulturellen Identitäten in einem Zeitabschnitt signifikativen Wandels der kulturellen Landkarte und der Durchsetzung einer neuen Welt-Macht-Ordnung. Verhandelt wird über den wichtigen Platz, den Brasilien und Lateinamerika in der Weltkultur unter den weiterhin ungleichen Bedingungen in der Aneignung und der Zirkulation kulturellen Kapitals einnimmt. Was unterscheidet heute im Zeitalter internationalisierter Schreibweise brasilianische Literatur vom Westen? Wie kann beim Erstellen einer Kartographie das Problem der Beschreibung Lateinamerikas als absolute Besonderheit vermieden werden? Worin unterscheidet sich der literarische Diskurs (der 60er bis 90er Jahre) von dem der vorherigen Dekaden? Auch wenn wir wissen, daß die verschiedensten Kriterien in der Literatur- und Kulturkritik als eine Art Richtspruch fungieren und das Aufstellen eines Kanons wie ein Schlag ins Wasser ist: Voilà, mit Ciarice Lispector, Jorge Amado, Ignâcio de Loyola Brandäo, Darcy Ribeiro, Antonio Callado und Silviano Santiago haben wir ein Korpus von repräsentativen Stimmen Brasiliens der 60er bis 90er Jahre. Meine These ist, daß die großen Romane der 60er/70er und 80er Jahre eine andere Funktion übernehmen als die Meisterwerke der brasilianischen Literatur der 30er/40er und 50er Jahre. Ich meine weder das Ende der "großen Erzählungen" von Nation und Vergangenheit, noch den endgültig gebrochenen Glauben an den Fortschritt; schon die Avantgardegeneration der 20er und 30er Jahre hatte einen skeptischen Blick auf die Mechanismen und Effekte der Macht und Ideologie geworfen. Entscheidend ist vielmehr der Moment, in dem sich die enunziative Rolle der Schriftsteller - als eine Stimme, die glaubt, für und zu anderen sprechen zu können und müssen - als problematisch erweist. Gilberto Freyre schrieb mit Casa grande e senzala, Graciliano Ramos mit Vidas secas, Jorge Amado mit Cacào, Guimaräes Rosa mit Grande Sertäo veredas Romane, durch die und in denen Brasilianer sich und ihr Land wiedererkennen konnten. Die brasilidade wurde in Sprache, Musik, Poesie, Tanz, Gerüchen, Geschmack, Farben, Exotik, Natur, regionaler Eigenheit, Landschaft, oralem Er9

zählen und Rhythmus hervorgebracht. "Brasilianität", das Zauberwort, das zum Paradigma der großen Romane der 30er bis 50er Jahre wurde, greift heute nicht mehr. Der Orchestrierung der Stimmen lokaler, regionaler Geschichte, dem Beleben und Erfinden der Tradition stehen die Multiplikation und Hybridisierung der Stimmen gegenüber, das Pastiche als adäquate Form der Entzifferung des Zeitgenössischen und der Zeitdiagnostik. Die in diesem Buch vorgestellten Schriftsteller schreiben im Unterschied zur Vorgängergeneration für verschiedene, kleine, isolierte Gruppen. Oder sie gehen von der Unzeitlichkeit der Literatur aus wie Silviano Santiago, und sie schreiben nicht in erster Linie für Zeitgenossen, sondern für die Nachwelt wie vormals Stendhal. Sie wissen um das Ende der Avantgardestellung der Schriftsteller in der Gesellschaft, das Ende der Hegemonie der Literatur als hoher Literatur. Sie sind sich der neuerlichen Konstruiertheit identitätsstiftender Momente, d.h. der Erfindung von Realität, Nation, Tradition bewußt. Nicht zuletzt deshalb ist ihr Selbstverständnis als Schriftsteller ein anderes geworden, unterscheidet sich ihr Schreiben in der Wahl der Themen, in der neu gestellten Frage nach den Beziehungen zwischen Realität und Literatur und der damit verbundenen Frage über die Realität der Literatur. Diese Haltung, die als Krise der Repräsentation in Literatur und Kunst bezeichnet wird, manifestiert sich vor allem im spielerischen Umgang mit den Instanzen der Kunst, dem Markt und in einer unkonventionellen, ja respektlosen Haltung gegenüber den Gattungen. Augenfällig ist einerseits das Aufstreben populärer Gattungen, z.B. des Kriminal- und Spionageromans (Rubem Fonseca), der Science Fiction (Ignäcio de Loyola Brandäo). Das sind Gattungen, die in Lateinamerika nur eine kurze Tradition haben. Andererseits läßt sich ein Wiederaufnehmen traditioneller Genres bemerken, des Melodramas (Jorge Amado, Ciarice Lispector), des historischen Romans (Silviano Santiago, Joäo Ubaldo Ribeiro, Ana Miranda) in Form des Pastiche. Ein weiteres Merkmal ist der inszenierte Rollenwechsel: Der Schriftsteller als Theologe (Antonio Callado), der Anthropologe als Schriftsteller, als Held der Tropen (Darcy Ribeiro). Mediale Botschaften Auffällig ist, daß Brasilien heute in der Weltöffentlichkeit in zwei Registern vorkommt. Erstens sind es spektakuläre Ereignisse, eine politische Kultur mit karnevaleskem Charakter, in der die Politik durch theatrale Performance ersetzt wird, eine Kultur der wechselnden Erscheinungen entsteht, in der die momentane Attraktion zählt: Das "impeachment" (1992) gegen den korrupten Präsi10

denten Fernando Mello de Collor, das auf den Druck der Öffentlichkeit, der Straße zustande kam und zum Modell für andere lateinamerikanische Länder avancierte, um gegen Korruption und Machtmißbrauch der Eliten vorzugehen; der Karneval-Skandal um den Präsidenten Itamar Franco (1994), der Politik/Realität als Ereignis simuliert; der Fall Ayrton Senna. Bemerkenswert ist, daß hier eine neue - durch die Medien-Technologien globalisierte und massiv veränderte - Form von Exotismus aufkommt, der gekoppelt ist an eine Selbstexotisierung in der Darstellung nach innen und außen. Es steht noch aus, dieses Phänomen zu analysieren und zu situieren. Zweitens wird Brasilien heute über Zahlen (Inflationrate, Auslandsverschuldung, Korruptionsfälle, Todesopfer), demographische Daten (Bevölkerungswachstum, ökologische Probleme Luftverschmutzung in den großen Städten, Vernichtung des Regenwaldes) definiert und weniger über Poesie, Musik und Festkultur (wie vor vierzig, fünfzig Jahren) oder über Fußball, der trotz Konjunktur nicht mehr die suggestive Kraft hat (wie in den 50er/60er und 70er Jahren, als Brasilien der große Champion der Weltmeisterschaft war). Oder denken wir an die Zeit Ende der 60er Jahre, als das Kino des "Cinema Novo" eines Glauber Rocha, die "Tropicälia" mit der Müsica Populär Caetano Velosos und Gilberto Gils, die Raum-Körper-Installationen H61io Oiticicas im internationalen Rahmen Zeichen setzten; als Francesco Guamieris "Arena-Theater" und Augusto Boals "Theater der Unterdrückten" die Theaterlandschaft entscheidend veränderten; oder in den 70er Jahren, als die brasilianischen Schriftsteller am Erfolg des Boom der lateinamerikanischen Literatur teilhatten und die Vorläufer des "magischen Realismus", Murilo Rubiäo und Lucio Cardoso, entdeckten; oder in den 80er Jahren, als Brasilien mit dem drittgrößten Fernsehsender der Welt "Rede Globo", dem Exportprodukt Telenovela und Medienstars des Entertainments wie Xuxa und auch auf dem Gebiet von Werbung und Design (z.B. Joäo Baptista da Costa Aguilar) als High-tech Land wahrgenommen wurde. Es sind weniger die Ereignisse, Inhalte, Themen und Botschaften, die die Bilder, Identitäten, Repräsentationen bestimmen, es ist das technologische Medium selbst, das die Perspektive von Kommunikation und Interaktion ausmacht. Das Radio war Sender und Welle, um Bossa Nova Rhythmen zirkulieren zu lassen, so gelangte der brasilianische Fußball über das Aufkommen der Bildmedien ins internationale Geschäft - mit dem Effekt, daß das Bild von Brasilien auf den Kopf gestellt wurde. Das Buch, gedruckte Literatur hat wie bekannt ihre unmittelbare Wirkung und übergreifende identitätsstiftende Rolle verloren, auch wenn sich gleichzeitig paradoxerweise die Buchproduktion weltweit vervielfacht und 11

zudem die Gewichtigkeit von Literatur, die Stimmen der Poesie 2 - wie im Diskurs der Sozialwissenschaften, Philosophie, Anthropologie und Geschichte auszumachen ist - neu erkannt werden. Nicht vom Tod der Literatur soll die Rede sein, viel interessanter ist eine andere Frage: die nach den neuen Formen der Autorschaft, nach Rezeption und Wirkung, die durch die modernen Bild- und Audiomedien entstanden sind. Durch Literaturverfilmungen - Isabel Allendes Geisterhaus ist hier paradigmatisch - erreichen literarische Texte ein weitaus größeres Publikum als in der Gutenberg-Ära. Mit der Perspektive der Audiobooks, die z.Zt. in den USA einen Boom erleben, wird das Blatt neu gespielt. In Brasilien selbst findet eine bisher ungekannte Verbreitung nationaler Literatur via TV statt. Mini-Serien erweitem den Aktionsradius, klassische Romane von Jorge Amado über Guimaräes Rosa, Raquel de Queiroz, Antonio Callado bis zu Rubem Fonseca und Joäo Ubaldo Ribeiro werden zu Fiktionen für alle. Bemerkenswert ist allerdings, daß die Geschichte der Literatur als Mediengeschichte in Brasilien aufgrund der Dominanz oraler Tradition andere Wege gegangen ist. Die Schwellenerfahrungen beim Übergang vom Buchdruck zum telematischen Bild sind andere. Mehr noch: die gewohnte Chronologie der Medien gerät hierbei durcheinander, denn die Gutenberg-Epoche wird jedenfalls von einer großen Gruppe der Beteiligten (1990 liegt die inoffizielle Zahl der Analphabeten bei 40%) übersprungen. Der Schritt von der oralen Performance populären Erzählens - die parallele Lektüre von Bildergeschichten und Comics - führt direkt zur sekundären Oralität, zu den Femseherzählungen der Telenovela. Neue Formen kultureller Heterogenität und gleichzeitig ein Fortwirken kultureller Kontinuität werden in der Telenovela deutlich, in der es zu einem Zusammentreffen zwischen den massenmedial produzierten Bildern und Imaginationen und dem populären Gedächtnis kommt.

Brasilianität, Multikulturalismus und Hybridität Als ein Buch der Entdeckung der Brasilianität par excellance kann Gilberto Freyres Casa grande e senzala (Herrenhaus und Sklavenhütte, 1933) gelten: in der Art der Beschreibung, im Zelebrieren der multikulturellen Gesellschaft, in der Neger, Indianer, Portugiesen maurischer, jüdischer, orientalischer Herkunft zusammenleben und eine Kultur und Tradition der "Tropen" hervorbringen. Das 2

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Es gibt neue Talente, z. B. Joäo Moura Jr„ vgl. die Gedichtbände Páginas amarelas (1988) und Nadando (1994), Säo Paulo.

legt der Kommentar des bedeutenden brasilianischen Pädagogen Anisio Texeira nahe, wenn er schreibt: "Die Größe Gilberto Freyres besteht darin, daß wir alle durch sein Werk brasilianischer geworden sind". Auch die kamevalistische Feier, die Gilberto Freyre anläßlich der Fertigstellung des Manuskripts im Herrenhaus der Zuckermühle inszenierte, zu der die Gäste in Kostümen der Kolonialzeit erschienen, unterstreicht diese Einschätzung. Als weißen Schamanen, als ein Wunder in der Aneignung des Fremden, wie es sonst nur in der Trance eines Mediums passiert, als excellenten Schriftsteller-Anthropologen in der Inkarnation verschiedener Rollen mit Hang zur operettenhaften Ethik und Ästhetik beschreibt ihn Darcy Ribeiro. Und er urteilt weiter: In der Mischung von Identitätssuche und Wissen, das sich auf eine Praxis interkultureller Erfahrung seit der Kindheit stützt, in der Kombinatorik verschiedener theoretischer und methodologischer Kenntnisse, die sich gerade durch Defizite, das Fehlen an Systematik auszeichnen, gelang Gilberto Freyre das Kunststück, brasilianische Kultur in ihrer Komplexität und Hybridität der Lebensstile, Verhaltensweisen, des Geschmacks zu beschreiben. Für Jorge Amado war am erstaunlichsten, daß ein Mann der Elite, der im Ausland studiert hatte, trotzdem an afro-brasilianischen Candomble-Kulten teilnahm, das bahianische Essen und den Zuckerrohrschnaps liebte. Schockierend und empörend für die weiße Elite der damaligen Zeit waren die (Selbst-Beschreibungen sexueller Praktiken und Phantasien, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Zu Recht halten viele Kritiker Gilberto Freyre für politisch reaktionär und erheben den Vorwurf tendenziellen Rassismus, der als Januskopf der idealisierten multikulturellen Gesellschaft erscheint. Warum sind Gilberto Freyres Studien heute erneut von Interesse? Im Zeitalter der Globalisierung und der Hybridität, im Zuge der Migration, des Zusammenprallens der Kulturen, des Endes der Apartheit in Südafrika und der zunächst im Westen aufkommenden Debatten über Multikulturalismus, Nation, Fundamentalismus, gewinnen Freyres Überlegungen zu ethnischem und kulturellem Pluralismus, zu interkulturellem Lernen an Bedeutung. Insbesondere in den USA rief die Rückkehr zu Tradition und Besinnung auf nationale, regionale Kultur und Werte auf der Gegenseite eine Politik separatistischer Identitäten, bzw. einen Chor von Stimmen auf den Plan, der virtuos Multikulturalismus proklamierte. Allerdings verwandelten sich im Rahmen der polemischen Auseinandersetzungen marginale Positionen, radikal-oppositionelle Modelle von Minderheiten in den Händen von Kulturmanagem, Politikern und Institutionen zu einer liberalen Philosophie der Integration.

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Wie verhält es sich nun in Brasilien mit diesen Debatten? Wie läßt sich erklären, daß Multikulturalismus in Brasilien eigentlich kein Thema ist? Die rhetorisch-strategische Antwort, Brasilien praktiziere bereits seit vierhundert Jahren Multikulturalismus, verfehlt sicher seinen Effekt nicht, bleibt aber zu ungenau. Seit den 30er Jahren kommt es in Brasilien immer wieder zu Berührungen zwischen parallel verlaufenden Prozessen der Konzeptualisierung einer multi-, interkulturellen Gesellschaft und Modellen zur Etablierung und Durchsetzung einer modernen Nation auf der Basis einer einheitlichen, sozio-kulturellen Identität und Ordnung. Die soziologisch-historisch-anthropologischen Arbeiten Freyres zu Brasilien als einer multikulturellen Gesellschaft unter Betonung des Austauschs zwischen populärem Traditionalismus und Elitekultur koinzidierten mit dem politischen Projekt der Modernisierung nach westlichem Vorbild des Estado Novo, mit dem die Putschregierung Getülio Vargas 1930 antrat. Unter der Regierung Vargas wurde z.B. die aktive Schwarzenbewegung "Frente Negra Brasileira" massiv unterdrückt. Zu Freyres Erstaunen schlug Vargas ihm vor, das Erziehungsministerium zu übernehmen. In der Person Freyres sind die widerstreitenden Diskurse des populären Traditionalismus und des Strebens nach Modernität vereint. Er schrieb sowohl Beiträge, die für ethnischen und kulturellen Pluralismus plädieren, z.B. "Brasis, Brasil, Brasilia" (1957), als auch zwei Jahre später "Ordern e progresso" (Ordnung und Fortschritt), ein Titel, der die Formel für nationalistisch-autoritäre Politik des Estado militar der 60er und 70er Jahre lieferte. In den 60er Jahren wurde die Schlüsselposition populärer Erfahrung und Kulturwelt in den Strukturen von Herrschaft und Macht erkannt. Intellektuelle und Künstler entwarfen das "projeto nacional populär" als eine Art ästhetisches Moderne-Projekt, als Gegenmodell zur Vereinnahmung der Volkskultur in der Festschreibung von Mythen des Nationalen und der Etablierung einer nationalstaatlichen Identität. Zu Recht wurde der populistische Diskurs der Intellektuellen als exemplarische Form des Autoritarismus kritisiert und auf die Grenzen des politischen Konzepts einer national-populären, Kultur verwiesen, auch wenn sie unter dem Vorzeichen des Fortschritts und der Überwindung der Dependenz gedacht waren. Es zeichnete sich ab, daß das Modell des national-populären, in einer idealisierenden Selbstbestimmung gefangen, entscheidende Veränderungsprozesse, wie das Aufkommen der Massen- und Medienkultur, nicht genügend berücksichtigte. Auch die Betrachtung der Medien als einen ideologischen Apparat des Staates gegen den die authentische "cultura populär" als Widerstandskraft antreten könne, erwies sich als Kurzschluß. Die "cultura-popular" blieb 14

weiterhin auch mit der Übernahme internationaler Konsumgewohnheiten der Massenmedienkultur ein wichtiges Feld der Auseinandersetzung, der Verhandlung und des Austauschs als Raum von "Anpassung und Widerstand" (Marilena Chaui 1989) für Teile der Basis. Doch unterliegt gerade dieser Spielraum des öffentlichen und Privaten einem tiefgreifendem Wandel: verformt durch die durchschlagende Wirksamkeit und Vereinnahmung der neuen Technologien, die nicht als etwas äußeres, fremdes, sondern als als eine zweite Haut - die Medienhaut - erscheint. Die eingangs dargestellten neu aufkommenden Phänomene und Probleme der Mutation politischer Kultur, der zunehmenden Ästhetisierung und Theatralisierung des öffentlichen Raums, der Straße, der Körper stellen heute eine intellektuelle Herausforderung dar. Es gilt das eminent Neue als solches zu erklären, ohne es immer nur als Variante des Alten zu bezeichnen. Im Rahmen der Kulturtheorie und der "cultural studies" tauchte in den letzten Jahren der Begriff des Hybriden als Positiv-Vokabel auf, um das eigene Profil der heutigen lateinamerikanischen Kulturen zu beschreiben. Ausgegangen wurde von der Annahme, daß die lateinamerikanische Kultur von einer Mischbevölkerung produziert wird, deren spanisch/portugiesische Dominanz im Kontakt mit indianischen und afro-amerikanischen Gruppierungen steht. Der kulturtypologische Begriff des Hybriden sollte den alten Terminus "mestizaje" ersetzen, der zur Definition der kulturellen Prozesse untauglich geworden war, vor allem da dieser implizierte, Kulturbildung als natürlichen, biologischen Prozeß anzusehen. Die botanische Metapher des Hybriden hatte den Vorteil, näher am Begriff von Kultur als Kultivierung und Erneuerung zu sein. Zudem erschien er geeigneter, neue Phänomene und Produkte der Überlappungen und Interaktionen von Elitekultur und "cultura popular" fassen zu können. Bei genauerem Hinsehen stellt sich allerdings heraus, daß die Frage der hybriden Kulturen nicht eine ausschließlich lateinamerikanische ist, wenn auch das Phänomen ein Problem für die Diskurse im Westen darstellt: Denn das Hybride - verstanden als Impakt des Lokalen - sperrt sich gegen Vereinnahmung, gegen Integration in ein globales System. 3 Wie läßt sich nun die fehlende Debatte über Multikulturalismus in Brasilien erklären? Eine zweite vorläufige Antwort ist die starke Präsenz, die alltägliche Praxis multikulturellen Lebens, die sich nicht zuletzt in der Tradition multikulturellen Erzählens manifestiert und aus ihr speist. Das geflügelte Wort "Eu tenho um pé na senzala" ("Ich habe einen Fuß in der Sklavenhütte") - das im Prä3

C. Rincón 1994b. La no simultaneidad de lo simultáneo. Globalización, postmodernismo y narraciones latinoamericanas. Bogotá.

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sidentschaftswahlkampf 1994 strategisch eingesetzt wird - unterstreicht das lebendige Bewußtsein einer gemeinsamen Vergangenheit, Erfahrung und Perspektive, das ideologisch und kulturell gleichermaßen produziert und fortgeschrieben wird. In Brasilien scheint das Zur-Schau-Stellen von Differenz unproblematisch, es läßt sich ohne weiteres in ein globales System integrieren. Anstelle der Behauptung konfliktfreien Umgangs im Zusammenleben möchte ich lieber noch eine kleine anekdotische Geschichte aus dem metropolitanen Alltag wiedergeben, die in Varianten von brasilianischen Intellektuellen immer wieder erzählt wird, wenn sie zu Multikulturalismus, Krieg der Kulturen, Fundamentalismus befragt werden: In der Rua de Alfandega im Zentrum von Rio de Janeiro in der Nähe des Hafens, gibt es einen Straßenmarkt mit fliegenden Händlern, in erster Linie Arabern und Juden. In jüngster Zeit, während der Zuspitzung separatistischer Auseinandersetzung im Nahen Osten, gab es auf diesem Markt folgenden Dialog: "Hei Salim, wieviel Geld schickst du deiner Familie im Monat nach Hause? Tausend Dollar! Und Du? Tausend Dollar. Ach ja? Salim! Amigo! Im nächsten Monat schicken wir nichts mehr!" Vielleicht läßt sich dieser undogmatische Umgang miteinander in Brasilien aus einer anderen Erfahrung erklären: hier ist die Unmöglichkeit des zwischenmenschlichen Kontakts noch nicht durchrationalisiert; Kultur erscheint als etwas, das nicht ausschließlich als Theater-Bühne für ideologische Schaukämpfe funktioniert, Kultur als Raum, der nicht streng vom Alltag getrennt ist, der FreiRaum, der eine größere Durchlässigkeit zwischen hegemonialen und subalternen Gruppen ermöglicht. Die Existenz multikultureller Interaktion und Selbstdefinition, die den "Anderen" (den Schwarzen) als inneres Element der sozialen Struktur auffaßt und akzeptiert, kann nicht die Tragödie der Minderheiten vergessen lassen4. Paradoxerweise existiert beides nebeneinander: Multikulturalismus und Rassismus, Austausch und Polarisierung, Integration und Ausgrenzung, d.h. den "Anderen" (den Schwarzen) ständig zu produzieren und zu reproduzieren. Eine entscheidende Frage ist: Welche Rolle spielen das reale und erfundene Schwarzsein, was so unscharf als "Brasilianität", das "Tropisch-hybride", "Multikulturelle" bezeichnet wird? Was die Situation in Brasilien im Vergleich zu den USA in der Frage des Rassenkonflikts so kompliziert und entschieden anders gestaltet, ist die augenscheinliche Offenheit der ganzen Nation gegenüber der Präsenz, dem Einfluß und konstitutiven Beitrag von Afro-Brasilianem in Kultur, Religion, Politik und Geschichte. Mit anderen Worten, es ist die SelbstR. Da Matta 1991. «Some Biased Remarks on Interpretivism: A View from Brazil». Typoskript.

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Verständlichkeit, das Multi-Rassische als etwas natürlich Gewachsenes, als positives Erbe der Kolonialzeit zu betrachten und dieses Selbstbild nach außen zu vermitteln. Brasilien galt z.B. für Nelson Mandela und den African National Congress (ANC) als mögliches Modell für die neue südafrikanische Gesellschaft nach dem Ende der Apartheit. Doch mit einem Besuch in Brasilien änderte sich das positive Bild, denn die Realität des Alltags ist eine andere. Das zeigt z.B. das Phänomen der "arrastöes" in Rio de Janeiro, das Anfang der 90er Jahre aufkam: Jugendliche, vornehmlich Schwarze aus der Nordzone bzw. der Peripherie - Rap und Funk-Fans mit einem stark ritualisierten Gruppenverhalten - belagern sonntags die Strände der Südzone. Die Polizei schreitet ein; Prügel, Festnahmen, Polizeiaufgebote schützen an den folgenden Wochenenden die Territorien der weißen Bourgeoisie - Ipanema und Lebion. Busse mit schwarzen Jugendlichen aus der Nordzone werden umgeleitet bzw. kontrolliert. Jean Francos Einschätzung über die Praktiken der Grenzkontrolle 5 der multikulturellen US-amerikanischen Gesellschaft scheint heute auch im Fall von Brasilien immer mehr zuzutreffen: Der Raum zwischen dem Ghetto und dem "melting pot" wird fast ausschließlich von Fußballstars, Formel-1 Fahrern, Musikern, Medienpersönlichkeiten und Bestseller-Autoren besetzt.

Schwarze Angelegenheiten oder was ist eigentlich schwarze Literatur? Schwarze Literatur und Kultur führen in Brasilien ein Schattendasein am Rand des literarischen Betriebs. Dabei riskiert eine Literaturwissenschaft, die Literatur nicht nur als universell, sondern auch als rassenlos ansieht, Wesentliches auszugrenzen. Durch den einfachen Trick, die Farbskala als eine Palette stufenloser Schattierungen und Übergänge auszugeben, wurde es in Brasilien möglich, eine ambivalente Situation herzustellen, in schwarzen Angelegenheiten etwas zu sagen und es nicht zu sagen, zu verdrängen und sich zu engagieren, zu historisieren und zeitlos zu machen. Gegen diese ideologisch-integrative Tradition politischer Kultur einer vermeintlichen Rassendemokratie formierte sich in den 70er Jahren eine neue radikale Schwarzenbewegung, die mit der Einführung einer kämpferischen Terminologie den Rassismus als Januskopf der multikulturellen, afro-brasilianischen 5

J. Franco 1992. «Border Patrol». In: Travesia. Nr. 2. S. 134-142.

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Gesellschaft aufdeckt: "cultura negra" dient als politischer Kampfbegriff gegen die Ideologie der "Weißwerdung", die Illusion der Nicht-Weißen, teilhaben zu können an einer Gesellschaft von hoher sozialer Mobilität. Zwei Momente sind bei der Konstruktion des "Anderen" (des Schwarzen) immer wieder im Spiel: das Auslöschen der Geschichte und der Versuch der Neutralisierung. Im Rahmen der anti-rassistischen Bewegung wurde für eine umfangreiche Erforschung schwarzer Angelegenheiten plädiert, denn es waren in den 60er Jahren in erster Linie Historiker, Anthropologen und Soziologen, die sich mit Rassenfragen, -beziehungen und Auswirkungen des Rassismus befaßten. Das große Handicap für diese Studien ist bis heute, daß fast keine "hardware", sondern nur "Software" zur Verfügung steht und die Situation der Theoriebildung weiterhin prekär bleibt. Symptomatisch für den Umgang mit der Geschichte der Schwarzen ist die Verbrennung der Dokumente aus der Sklavenzeit, die der große Politiker und Intellektuelle Rui Barbosa anordnete. Die Kontinuität dieser Politik illustrieren demographische Erhebungen seit dem 19. Jahrhundert. Bis 1980 wurde beim Zensus die Frage nach der Hautfarbe ausgegrenzt. Laut UNO-Statistik von 1990 liegt Brasilien, was die Menschen- und Bürgerrechte angeht - damit sind die Ethnien-, Rassen-, und Genderkonflikte gemeint - , an 80. Stelle, neben Thailand, Paraguay, Ecuador, Nordkorea und Albanien. Das Auslöschen von Geschichte findet heute seine Fortsetzung in der Ausgrenzung, der "Unsichtbarkeit" von Schwarzen in den Medien, der öffentlichen Sphäre - mit Ausnahme der Ikonen aus Sport, Musik und Performance. In der Disziplin der Literaturwissenschaft setzte ein verstärktes Interesse für schwarze Angelegenheiten vergleichsweise spät ein. Das scheinbar gesicherte Wissen von Literaturgeschichte, das von der Gültigkeit des traditionellen (weißen) Literaturkanons ausgeht, wurde von schwarzen Autoren in Frage gestellt. Sie publizierten ihre Texte zunächst selbst, bevor sie von weißen Intellektuellen entdeckt wurden und die Disziplin sich auf das Abenteuer einließ, sich in detaillierten Erkundungen schwarzer Literatur zu öffnen. Nur einige der bedeutenden weißen Literaturkritiker übergingen die Rhetorik der Frage: "Sagen Sie mal, [...] was ist schwarze Literatur?" und verschafften schwarzen Stimmen Gehör. Antonio Cändido setzte sich beispielsweise für die Publikation von Oracy Nogueiras Biographie des im 19. Jahrhundert geborenen, heute weitgehend vergessenen schwarzen Arztes und Politikers Alfredo Casemiro da Rocha ein und für Orides Fontelas Poesie "magischer Worte des Post-Symbolismus mit dem Impakt neuester Avantgarde [...] nein dem Finden einer ganz persönlichen

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Sprache". 6 Silviano Santiago veröffentlichte eine bemerkenswerte Studie über den schwarzen Dichter, Literaturwissenschaftler und Jounalisten Adäo Ventura,7 bemerkenswert deshalb, weil er neue Maßstäbe setzt und zeigt, daß das Handwerkszeug der herkömmlichen Literaturwissenschaft zu begrenzt ist, um die Präsenz von Körper und Rhythmus, das Entstehen hybrider, literarischer Formen des schwarzen "testimunhos" adäquat zu fassen. Das Entscheidende an dieser Neuorientierung sind die gesteigerte Aufmerksamkeit für den sozialen und kulturellen Kontext der 70er Jahre und das Überschreiten der tradierten ideologiekritischen Positionen. Neue Phänomene wie Black Rio (die Bewegung jugendlicher Schwarzer aus der Nordzone Rio de Janeiros, die auf der Basis von Soul Rhythmen und Performances einen neuen provozierenden Habitus entwickeln) werden im Rahmen kultureller Wissensvermittlung, als zeitgemäße Antwort auf die veränderte Situation analysiert. Bis in die 70er Jahre dominierte das Denkmuster sozio-historischen Herangehens, Rassismus als Folge und Wirkung rassistischer Politik und Haltung zu beschreiben, das sich im Repertoire der Stereotype von Schwarzen als Opfer oder - in der Umkehrung - als Helden und Befreier zeigt. Haben diese Studien der 70er Jahre trotz ihrer aufklärerischen Ergebnisse den Effekt, die Opferrolle festzuschreiben, Schwarze als autonome Subjekte aber weitgehend auszuklammern, so läßt sich in den 80er Jahren ein Perspektivwechsel in der Forschung der "cultura negra" ausmachen: Es galt nicht länger nach den Wurzeln und dem Ursprung schwarzer authentischer Identität zu suchen. Der seit Ende der 30er Jahre kursierende identitätsstiftende Begriff der Négritude (Aimé Césaire) wurde massiv in Frage gestellt, der afrikanische Philosoph Adotevi bezeichnete ihn in einer provozierenden Formel als black way of being white.^ Wichtig wurde vor allem, das ewige Paradigma von Leid, Protest der Schwarzen aus seiner Zementierung zu lösen. Viel interessanter schien es, zu untersuchen, wie in Brasilien eine schwarze Präsenz, eine schwarze Figur, ein schwarzer Körper konstruiert wurden und welche Funktion diese Erfindung und Vorstellung einnimmt. Und es schloß sich die Frage an, welche Bedeutung und Beiklänge "Schwarzsein" heute hat. In diesem Zuge mußte die Vorstellung korrigiert werden, daß die Nicht-Präsenz von Schwarzen bzw. ihr Erscheinen als dekoratives Element, als Lokalkolorit, als Element des Humors, des Melo°

Vgl. A. Càndido. Vorwort. In: Oracy Noguciras 1992. Negro politico. Politico negro. Säo Paulo; Ders. In: O. Fontela 1988. Trevo. Säo Paulo.

7

Vgl. S. Santiago. In: Adäo Ventura 1980. A cor da pele. Belo Horizonte.

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Vgl. H. L. Gates Jr. 1992. Loose Canons. Notes on the Culture Wars. New York. S. 126.

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dramatischen, des Exotischen, bedeutungslos seien. Es gilt nun zu klären, ob nicht die wichtigsten und faszinierendsten Merkmale der brasilianischen ("weißen") Literatur und die Welt der Bilder - "malandragem", "sacanagem", das Obszöne, die Exotik, das Phantastisch-Spirituelle, Melodramatisch-Hybride, die Karnevalisierung und Fetischisierung, das soziale Engagement, die Thematik der Natur, die "Phantasmatik des Körpers", die Gewalt - die unmittelbaren Antworten sind, die von einer schattenhaften, fortdauernden, beunruhigenden afrikanisch-schwarzen Präsenz zeugen. Für die Vorstellung von Brasilianischsein, für die Erfindung der Nation, der eigenen Traditionen waren der Umgang von Literatur, Film und Theater mit schwarzen Körpern, Stimmen, Symbolen entscheidend. In der Art und Weise, den "Anderen" (Schwarzen) darzustellen, in der Wahl der literarisch-künstlerischen Strategien offenbart sich das Selbstbild der brasilianischen Gesellschaft. Am deutlichsten zeigt sich die Bedeutsamkeit dieser Praxis der Selbstbeschreibung im Fall der Dar- und Vorstellung von Macunaima durch den schwarzen Star Grande Otelo. Er dekonstruiert die Figur, das Bild Macunaima und führt die Aporie der Situation Brasiliens lebhaft vor Augen. Macunaima, die literarische Figur des modernistischen Schriftstellers Mario de Andrade, der wunderbare, sehr obszöne Held populärer, oraler Erzähltraditionen, der "malandro", wird in Joaquim Pedro de Andrades Film Macunaima (1969) zur eigentlichen Schlüsselfigur des "Brasilianischseins". Durch die schwarze Besetzung der Titelfigur Macunaima wird es möglich, die verdrängte aber virulente Frage von Differenzen von "Schwarzsein" und "Weißsein" - auszuagieren. Das schwarze Gesicht, die schwarze Figur, das schwarze Emblem scheint ein Verhalten zulässig zu machen und Imaginationen freizusetzen, die sonst tabu wären, der "Andere" bietet die Möglichkeit, erotische Ängste oder Wünsche zu beschwören, Unterschiede aufzubauen, um absolute Grenzen zwischen Zivilisiertheit und Wildheit zum Ausdruck zu bringen. In seiner allgegenwärtigen Präsenz als Roman- und Filmheld, der außerdem heute auf der Theaterbühne zelebriert wird, avanciert Macunaima - alias Grande Otelo - zum Fetisch der Nation. Transparent wird die Virulenz und Funktion Macunaimas in Jorge Amados Kommentar. "Eine einzige Performance war der umwerfende Auftritt von Grande Otelo nach der Londoner Premiere von Macunaima. Er, im quietschrosaroten Kostüm mit Weste und allem, improvisierte vor dem Publikum. Hielt den Lords und Ladies eine wunderbare Rede, voller Obszönitäten".

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Clarice Lispector Die Sternstunde oder "Können Subalterne sprechen?" Ciarice Lispectors nimmt nicht nur eine avancierte Position in der intellektuellen Topographie Brasiliens ein, sie spielt auch eine tragende Rolle in der Weltliteratur und als Vermittlerin zwischen den Kulturen Lateinamerikas, Europas und den USA. Mir geht es darum, das Exeptionelle von Ciarice Lispectors Textstrategien und Fragestellungen jenseits von gängigen Interpretationen in der brasilianischen und internationalen Rezeption zu bestimmen, die von biographischen Interessen geleitet sind oder westlich avantgardistische Parameter anlegen. Ciarice Lispector wird heute, was die Erneuerung der Erzählprosa und die Auseinandersetzung mit weiblichem Schreiben betrifft, mit Virginia Woolf als die wichtigste Schriftstellerin der Moderne angesehen; allerdings mit dem Unterschied, daß Virginia Woolfs schriftstellerische Praxis übernommen wurde und zum Allgemeingut des literarischen Diskurses geworden ist. Unter den fruchtbaren Lektüren von Ciarice Lispector1 sind aus feministischer Perspektive die Beiträge von Hélène Cixous und Jean Franco hervorzuheben. Hélène Cixous kommt in der "Entdeckung" Ciarice Lispectors eine Vorreiterrolle zu. In ihrem Essay L'approche de Ciarice Lispector (1979) hat sie in einem mimetischen Verfahren einige Texte Ciarice Lispectors "zelebriert" und kam so zu einer abweichenden Annäherung. Sie ist die erste, die in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Ciarice Lispector auf die Andersartigkeit des erzählerischen Diskurs verwiesen hat. In den Ciaricewegen, dem Schreiben für die weibliche Stimme, der Ästhetik der Langsamkeit, dem Aufspüren der Dinge des Alltags, des privaten Raums, sah Cixous eine Praxis der "Wissenschaft vom Anderen". 2 Auf der Basis der Texte und Erzählstrategien - entwickelte Cixous ihre 1

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Vgl. M. do Carmo Campos/N. Peterson (Hrsg.) 1989. «Ciarice Lispector - Le souffle du sens». In: Études françaises. 25, Nr. 1. H. Cixous 1979, «L'approche de Claricc Lispeclor». In : Poétique. Nr. 40. S. 408-19.

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Theorie der "écriture féminine". Ohne Zweifel hat sie durch Offenlegung epistemologischer, ontologischer und logischer Strukturen einer männlichen Bedeutungs-ökonomie zur Horizonterweiterung feministischer Kritik beigetragen. In der Theoretisierung des Binären lieferte sie sich jedoch der Gefahr der Zentralisierung und Marginalisierung aus. Der Vorwurf US-amerikanischer feministischer Kritikerinnen, Cixous vereinnahme Lispector für ihre Theorie, ist meiner Meinung nach nur bedingt haltbar. Vielmehr läßt diese Form der Kritik auf eine Abwehrhaltung schließen, in der es eher um Verteidigung des eigenen Standpunkts geht als um die Lektüre selbst. Denn das "Zelebrieren" der Texte, das von Cixous diskursiv als solches gekennzeichnet ist, wird mißverstanden und als Geste der Aneignung interpretiert: Faisant (Cixous, E.S.) simplement de ces (Lispector, E.S.) textes une gigantesque métaphore du vivant Jean Franco greift in ihrem Essay Going Public!Re-inhabiting the Private (1992) die Politik des Privaten wieder auf und verweist unter Bezug auf das enge Verhältnis zwischen Privatem und öffentlichem in den Texten von Ciarice Lispector auf die tragende Rolle, die die Wiederaneignung des privaten Raums in der Auseinandersetzung um die Repräsentationspolitik der Geschlechter spielt. Von besonderem Interesse ist, daß Jean Franco die Aufmerksamkeit auf die "Ästhetik" der Texte lenkt, die ethische und politische Fragen nicht ausgrenzt. Ich werde ihrer These in der Lektüre der Die Sternstunde folgen. Die "Entdeckung" Ciarice Lispectors durch Cixous ist beispielhaft für den kulturellen Paradigmenwechsel. Ihre Texte werden maßgeblich für die Theoriebildung in den Metropolen. Das Dilemma einer Theoretisierung, die kulturelle und historische Zusammenhänge zu wenig berücksichtigt, besteht darin, selbst einen "epistemologischen Imperialismus" zu betreiben und in einer Geste der - in diesem Fall feministischen - Vereinnahmung, die Politik der Aneignung unter anderen Vorzeichen zu wiederholen. Gayatri Spivak hat dieses Verfahren der Einbeziehung, in das Kulturen, die totalisierende Konzepte in Frage stellen könnten, eingeschlossen werden, als Postkolonialisierung analysiert.4 Die Lektüren von Die Sternstunde und Eine Lehre oder das Buch der Lüste werden zeigen daß Ciarice Lispector in den postkolonialen Dialog eintritt und eine radikale Kritik am westlichen Repräsentationssystem mit seiner Politik der Machtausübung formuliert.

M. do Carmo/N. Peterson 1989. S.7. G. Ch. Spivak 1987. «Feminism and Critical Theory». In dies. In: In Other Worlds. S.l 13.

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Bevor wir zur Lektüre der Sternstunde und der Lehre kommen, erlaube ich mir zwei kritische Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte Ciarice Lispectors in Brasilien und lenke die Aufmerksamkeit auf einige neuralgische Punkte der gegenwärtigen Theoriedebatte. Ciarice Lispector wird von den großen Namen der brasilianischen Kritik zu Lebzeiten weitgehend ausgegrenzt. Antonio Cándido gehört zwar neben Sérgio Milliet zu den Kritikern der ersten Stunde, doch begrenzt sich seine Beschäftigung mit Ciarice Lispector auf eine Arbeit, die in verschiedenen Versionen 1943 - 1970 - 1988 existiert - und das "Beunruhigende", das "Weibliche" der Texte verdrängt. 5 Es ist der Verdienst von Benedito Nunes, den philosophischen Diskurs ins Zentrum seiner Interpretationen gerückt zu haben. Fixiert auf die Parameter der Philosophie der westlichen Moderne - existenzielles Drama, Identitätssuche, Maskenspiel, Verwandlung des Subjekts - findet er in den Texten von Ciarice Lispector diese Frage- und Problemstellungen bestätigt und reiht sie in diese Tradition ein. In einer umfangreichen, literarischen Biographie - Ciarice: A vida que se conta (1994) - riskiert Nádia Gotlib, die Forschung erneut in die Fallstricke des Biographismus zu lenken. Wir schlagen einen anderen Weg ein. Um die Alterität des erzählerischen Diskurses zu markieren, werden die Problematik des Gesellschaftsvertrags, die Frage der Repräsentierbarkeit, bzw. Unrepräsentierbarkeit des Subjekts, die der Differenz und der Dezentrierung als Kategorien der Lektüre dienen.

Die Sternstunde Auf einer der ersten Seiten der Fiktion Die Sternstunde (1977) lesen wir einen beiläufig erscheinenden Erzählerkommentar, der die Austauschbarkeit des Schriftstellers beim Schreiben einer Geschichte unterstreicht. Schriftsteller sind gleiche Individuen und von daher austauschbar. Im gleichen Atemzug werden jedoch die Unterschiede der Geschlechter kommentiert, die sich an Effekten weiblichen Schreibens feststellen lassen: Alias - descubro eu agora - também eu näo fago a menor falta, e até o que escrevo um outro escreveria. Um outro escritor, sim, mas teria que ser homem porque escritora mulher pode lacrimejar piegas.6 5

*>

A. Cändido 1988. «No cornejo era de fato o verbo». In: B. Nunes (Hrsg.) Clarice Lispector. Paixáao segundo G H. Säo Paulo. S.XVÜ-XX. Clarice Lispector 1977/1979. A hora da estrela. Rio de Janeiro. S. 18. Die folgenden Zitate stammen aus dieser Ausgabe. Sie werden im Text mit Seitenzahlen in Klammer gekennzeichnet.

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In Ciarice Lispectors Texten kommt der Problematik des Gesellschaftvertrags eine Schlüsselrolle zu. Bemerkenswert ist, daß die Frage des "Geschlechtervertrags" hier nicht ausgegrenzt bleibt. Wir können davon ausgehen, daß Ciarice Lispector als Autorin, Intellektuelle, Journalistin, Übersetzerin, als Diplomatengattin, Mutter und geschiedene Frau über ein großes Wissen und breites Erfahrungsspektrum verfügt im Umgang mit Gesellschaftsverträgen, mit der "literarischen Öffentlichkeit", den Institutionen der Medien. Unsere These ist, daß Ciarice Lispector bestehende Gesellschaftsverträge und ihre Effekte beschreibt und sie als Ethnien-, Geschlechter- und Klassenverträge ausweist. Von Interesse ist hier auch, die Unterschiede zu unterstreichen, die sich in der Anwendung des im europäisch-westlichen Kontext entstandenen Gesellschaftsvertrags auf die brasilianische Situation ergeben. Entscheidend am Gesellschaftsvertrag ist die Trennung der privaten von der öffentlichen Sphäre, die als Basis insbesondere für die Unterordnung der Frau dient. Jean Franco diskutiert in ihrem Beitrag Going Public! Re-inhabiting the Private, auf Ciarice Lispector bezugnehmend, die Notwendigkeit der WiederAneignung des privaten Raums für die Ästhetik durch die Schriftstellerin. In der Folge Jean Francos soll gezeigt werden, daß Ciarice Lispector mit einer NeuBeschreibung des privaten Feldes das Private öffentlich macht, versucht, Raum zu schaffen für das "Andere", das "Marginalisierte", das "Subalterne". Es handelt sich hierbei nicht um eine Strategie der Umkehrung der Machtfelder oder um den Entwurf eines Gegenmodells, denn Ciarice Lispector schafft keine weiblichen Helden und auch keine weibliche Schrift, wie in der Folge von Hélène Cixous' Lektüre wiederholt, z.B. von Mara Negrön, vorgeschlagen wurde. Vielmehr befaßt sie sich in Die Sternstunde mit der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, das "Subalterne" sprechen zu lassen, wie aufgrund dieser und anderer Interventionen in Die Sternstunde behauptet werden soll: Este livro é uma pergunta. Este livro é um silêncio (S. 21). Ciarice Lispector stellt darüber hinaus die Frage, was ist, wenn das "Subalterne" eine Frau ist. Eine Fragestellung, wie sie Gayatri Spivak in der postkolonialen Theoriedebatte formuliert hat: Can the Subaltern Speak? Im folgenden wird diese Problematik, die als Teil der Diskussion um den Gesellschaftsvertrag zu verstehen ist, auf der Ebene von Text, Diskurs und Gattung behandelt. Es geht in der Arbeit am Text darum, den Subtext, in dem die Frage "subalternen" Sprechens neu formuliert wird, die Gegenreden und -entwürfe zum dominanten Diskurs und das Neu-schreiben der Gattung als Strategie zu ermitteln. In einer doppelten Annäherung der Lektüre wird zum einen der natio24

nale Diskurs Bezugspunkt sein, wie er sich vor allem in der Tradition des "romance do nordeste" manifestiert, und zum anderen Beispiele des literarischen Diskurses der westlichen Moderne. Es wird sich zeigen, daß Ciarice Lispector Wege geht, die sowohl von national-brasilianischen als auch von modernistisch/avantgardistischen Modellen abweichen. Mit Die Sternstunde werden brasilianische und auch europäische Meistererzählungen deplaziert. Um der These von der Schlüsselthematik des Gesellschaftsvertrags als Geschlechtervertrag in Die Sternstunde nachzugehen, ist es notwendig, zunächst die Kategorien zu definieren, in dem Sinn, in dem sie hier fruchtbare Anwendung finden. Gesellschaftsvertrag -

Geschlechtervertrag

Was ist unter einem Geschlechtervertrag zu verstehen? Seine Geschichte beginnt mit der Geschichte der Individuen und der Geschichte der Sklaverei, wie die australische Politologin und Philosophin Carol Pateman in einer historischen Studie The Sexual Contract (1988) bemerkt. Die Idee der gleichen Rechte vor dem Gesetz, wie sie der Gesellschaftsvertrag garantiert, wird in der offiziellen Form des Geschlechtervertrags im Heiratsvertrag nicht erfüllt. Carol Pateman diskutiert diese Problematik anhand von Theorien über Gesellschafts vertrage vom 17. Jh. bis zur Gegenwart. Sie zeigt, daß selbst in modernen Sozialstaatstheorien die Ausgrenzung des Geschlechtervertrags weiterhin funktioniert. Entscheidend an Patemans Studie ist, daß sie auf die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre aufmerksam macht, die als Basis für die Unterordnung der Frau dient. Vor dieser Studie der 80er Jahre war der Gesellschaftsvertrag unter einem anderen Aspekt Gegenstand der Diskussion. Feministische Analysen der 70er Jahre situierten - aus unterschiedlichen Perspektiven - den Gesellschaftsvertrag in einer männlich bestimmten Gemeinschaft als sublimierte Form der Homosexualität, die des Austauschs von Frauen zwischen Männern bedarf. Die Frau als Tauschobjekt, die durch die Institution Ehe als "Gabe" (Gayle Rubin) weitergereicht würde, verstärke und definiere das soziale Band zwischen Männern. Der Austausch von Frauen und Exogamie, dessen Spuren in der gegenwärtigen Institutionalisierung der Heterosexualität zu erkennen sind, avancierte zum Schlüsselthema feministischer Untersuchungen in verschiedenen Disziplinen. Die radikale Änderung der Geschlechterpolitik galt als Hauptforderung.

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Gesellschaftsvertrag als Sprachvertrag Der französischen feministischen Theoretikerin und Schriftstellerin Monique Wittig dient der Gesellschaftsvertrag ebenfalls als kritisches Analysefeld: Sie definiert ihn in erster Linie als "heterosexuellen Vertrag", der mit der Macht des "Benennens" ausgestattet, eine sprachlich-ideologische Form mit realen Effekten repräsentiere. Von Interesse an Wittigs Überlegungen ist die Koppelung von Gesellschafts- und Sprachvertrag einerseits und die Einbeziehung des Feldes der Literatur andererseits. Die Sprache ist nach Wittig das gewaltige Feld der Macht, das "gesellschaftliche Reale" (1985) zu schaffen. Die Literatur hingegen stellt einen Bereich dar, in der durch die Wirkung eines vorgesellschaftlichen, also vorheterosexuellen Vertrags das "Paradies des Gesellschaftsvertrags existiert". Der literarische Text kann sich als Strategie gegen die hierarchische Spaltung der Geschlechtsidentität und gegen die Teilung des Partikularen und Universellen richten. In ihrem Beitrag The Social Contract (1992) bezeichnet Wittig in Anlehnung an Rousseaus Theorie des "contrat social" den "primären Sprachvertrag" als Gesellschaftsvertrag. Der zweite Sprachvertrag beschreibt und definiert den Geschlechtervertrag. Es sei die asymmetrische Struktur der Sprache, die das Individuum, das für das Universelle und als Universelles spräche, mit dem männlichen Wesen gleichsetze, während die weiblichen Individuen als partikular und befangen erschienen. Frauen, Lesbierinnen und Homosexuelle können nach Wittig in einem Sprachsystem, das unter dem Zeichen der Zwangsheterosexualität steht, nicht als Subjekte sprechen. Literatur faßt Wittig als Gegenentwurf, doch nicht ideologisch-dogmatisch, sondern als Experimentierfeld: Es gelte nicht, die Welt zu verweiblichen, sondern die Kategorien des Geschlechts obsolet zu machen. Diese Position und Strategie Wittigs, die in den theoretischen Texten formuliert wird, ist für unser Anliegen von Interesse, da sie einen Versuch darstellt, sowohl die Schemata patriarchalischer Negierung des Femininen aufzuzeigen, als auch die Glorifizierung durch Theorien der radikalen Differenz zu überwinden. Zwei Aspekte in Wittigs Essay zum Gesellschafts- und Geschlechtervertrag erscheinen fruchtbar für die Analyse von Ciarice Lispectors Sternstunde-, einerseits ihre Überlegungen zum Sprachvertrag und andererseits die Auffassung von Literatur als offenem Raum zum Experimentieren. Auf beide Aspekte gehe ich noch näher ein. Gleichzeitig kommt auch ein markanter Unterschied zum Tragen, der die Grenzen der Übertragbarkeit des europäischen Konzepts des "contrat social" anzeigt. Die "gender"-Frage, die sich für die westliche Theorie26

bildung als zentral erwiesen hat, wie wir bei Wittig gesehen haben, überschneidet sich im brasilianischen Feld mit dem Problem von ethnischer Differenz. In Die Sternstunde geht es nicht um die "Andere" als Frau, sondern um die "Andere" als "nordestina". Die "story" der Narration läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Hauptfigur, Macabéa, arbeitet als Stenotypistin, sie lebt in einer heruntergekommenen Pension in der Nähe des Hafens zusammen mit anderen Mädchen, die in den "lojas americanas" einer landesweiten Ladenkette beschäftigt sind. Im Verlauf der Geschichte werden kleine Episoden aus ihrem Leben erzählt: die Kindheit im Hause der streng katholischen Tante oder die Liebelei mit Olímpico, der wie sie aus dem Nordosten stammt, den sie aber an ihre Arbeitskollegin Gloria verliert. Gegen Ende der Geschichte besucht Macabéa eine Wahrsagerin und Kartenlegerin, die ihr eine große Zukunft, die Begegnung mit einem blonden Ausländer, Reichtum und Glück voraussagt. Kurze Zeit später wird sie von einem gelben Mercedes angefahren und stirbt. Die feministischen Lektüren, die in Ciarice Lispectors Texten, vornehmlich die Differenz der Geschlechter problematisiert sehen, erscheinen reduktionistisch. Der These vom "Kampf der Geschlechter" stellen wir entgegen, daß Ciarice Lispector die Kategorien feministischen Denkens, das in der Gegenüberstellung männlich/weiblich gefangenen bleibt, durcheinanderbringt. Im Diskurs über die Frage der Geschlechter ließe sich eher eine Affinität zum Androgynen feststellen, wie sie vergleichsweise bei dem vermeintlich großen Vorbild, Virginia Woolf, vorzufinden ist. Inwieweit ist nun das Androgyne konstitutiv für Ciarice Lispectors Denken und Schreiben? Geschlechtsidentität - Momente der Irritation Ciarice Lispectors Überlegungen zur Geschlechterfrage sind irritierend. Ihre Antwort ist weniger eine Parteilichkeit für "das Weibliche" als vielmehr die Verdeutlichung, daß es sich bei dem Konflikt vor allem um ein Problem auf Seiten der "Männer", d.h. allgemein der männlichen Geschlechtsidentität, und im konkreten Fall männlichen Schreibens handelt. In diese Richtung läßt sich das Einsetzen einer männlichen Erzählerfigur interpretieren, denn es ist ein "männliches" Leiden, das sich in den selbstreflexiven Texten der Moderne artikuliert und das Ciarice Lispector vorführt. Darauf verweisen auch eine Reihe von Textpassagen, in denen das Phänomen "machismo" mit den Mitteln der Glosse thematisiert wird. Ciarice Lispector stellt männliche Machtposen in Form 27

von Statements über öffentliche Fragen vor, die sich als kulturelle Erektionen ausweisen. Die Macht der sozialen und politischen Strukturen über Kultur bewirkt, daß die Statements - die der als "Macho" charakterisierte Olimpico artikuliert - oft das ausdrücken, was national-staatliche Bedeutung hat. Wesentlich an der Beschreibung "machistischer" Effekte ist, daß die weiblichen Figuren des Textes nicht auf ihre Opferrolle festgeschrieben werden. In Ciarice Lispectors Umgang mit der Geschlechterfrage läßt sich - wie erwähnt - eine Affinität für das Androgyne feststellen. In der feministischen Debatte der 70er Jahre kam das Konzept des Androgynen auf. Der androgyne Standpunkt ist als Antwort zu verstehen auf radikale Positionen, die eine matriarchalische Gesellschaft forderten. Vertreterinnen des Androgynats sahen in einer Politik des Ausgleichs, im Einfluß weiblichen Denkens und Wissens auf die patriarchalische Ordnung die intelligentere Lösung angesichts der globalen Krisensituation. Mit der von C.G. Jung beeinflußten psycho-mythologischen Studie Androgyny von June Singer (1989) und Carolyn Heilbrun's Toward a Recognition of Androgyny (1973), die eine literarische Perspektive einnimmt, liegen umfassende und repräsentative Arbeiten über das Thema vor. Virginia Woolfs Überlegungen über das Androgyne sind ausführlich diskutiert worden. Insbesondere in ihrem Roman Orlando wird das androgyne Wesen mit seiner erhöhten Sensibilität zum Idealtypus erhoben. In A Room of One's Own findet sich ein expliziter Kommentar über das Androgyne. Die Interaktion zwischen männlichen und weiblichen Fähigkeiten wird unmittelbar in Beziehung gesetzt, so entsteht kreative Inspiration. Das bedeutet, daß das Kraftfeld des Weiblichen eine unabdingbare Voraussetzung für produktives Verhalten bildet. Schließlich wurde Djuna Barnes' Nightwood als androgyner Roman par excellence gelesen. Steven-Paul Martin hat in einer ästhetischen Studie der Literatur des 20. Jahrhunderts (1988) Standpunkte des Androgynen zelebriert. Ich halte ihm entgegen, daß es sich bei der Sternstunde um keinen androgynen Roman handelt. Vielmehr wird das androgyne Moment gegen die Auffassung vom Geschlechterkampf mobilisiert und gegen jegliche Festschreibung der Geschlechter gerichtet. Wenden wir uns einen Augenblick dem Text zu: aufmerksam gemacht wird auf Impulse des Androgynen bereits zu Beginn des Textes in der Widmung des "Autors". Die Lebenswelt, der er sich zugehörig fühlt, wird als eine von Mischwesen bewohnte Welt beschrieben, in der die "neutralen Farben" von Bachmusik die Atmosphäre bestimmen. Ciarice Lispector nimmt Bezug auf eine 28

Vergangenheit, in der im Denken über Geschlechter das "Ein-Geschlecht-Modell" Gültigkeit hatte und die Geschlechtergrenzen fließend waren. Diese Situation wird in verschiedenen Passagen evoziert, z.B. in der gewünschten Verwandlung des erzählenden Ichs in ein Anderes, eine androgyne Kreatur, das sich im Bild der flauta doce, die von einer Schlingpflanze umwunden ist, manifestiert. Dies Emblem der Kreativität und ästhetischen Balance wird aber weder zum Ideal erhoben, noch als Voraussetzung künstlerischen Schaffens angeführt, wie im Konzept von C.G. Jung oder bei Virginia Woolf. Der androgyne Zustand fungiert vielmehr als Moment der Irritation, um Fixierungen, z.B. auf biologische oder soziale Geschlechtszuschreibungen, aufzulösen. Prägnant wird dies bei der Beschreibung des "idealtypischen weiblichen Charakters": Gloria, die alle Bedingungen für einen Heiratsvertrag erfüllt, weist äußerliche Qualitäten des männlichen Geschlechts auf. Schließlich erscheint Androgynität als menschliche Eigenschaft. Die Figur der Macabea bewegt sich außerhalb normaler Zuschreibungen von Geschlecht. Sie weist androgyne Züge auf: ihrer augenscheinlichen "Geschlechtslosigkeit" steht ein ausgeprägtes imaginiertes Sexualleben gegenüber, das sich in körperlichem Begehren niederschlägt. Ciarice Lispectors Textstrategie ist es, die Dichotomie der Geschlechter zu dekonstruieren. Sie zeigt mit ihrer Referenz auf das "Ein-Geschlecht-Modell" als das Gegenüber des heutigen "Zwei-Geschlecht-Modells", wie das Wesen des Geschlechts nicht einzig das Ergebnis der Biologie, sondern in historische und sozio-kulturelle Vorstellungen eingebunden ist. Sexuelle Heterogenität als mögliche Option ist als eine Kritik an substantiellem und hierarchischem Denken zu verstehen, wie es die Identitätskategorien des Geschlechts prägt. Schreiben als Gesellschaftsvertrag - Der Entwurf des Autors Eine zentrale Frage, die Ciarice Lispector mit Die Sternstunde stellt, läßt sich folgendermaßen formulieren: Welche Art von Gesellschaftsvertrag, d.h. Schreibvertrag, Sprachvertrag würde die Möglichkeit eröffnen, den "Anderen" zu repräsentieren? Oder: Welche Art von Autor-Subjekt würde ein Wissen über den "Anderen" ermöglichen? Aus strategischen Gründen, um diese Fragestellung zum eigentlichen Thema ihrer Erzählung erheben zu können, führt Ciarice Lispector eine Ich-Erzählerfigur ein, die sich narzißtisch und selbstbewußt in Szene setzt: A histöria - determino com falso livre arbitrio - vai ter uns sete personagens e eu sou um dos mais importantes deles, e claro. Eu, Rodrigo S.M. (S. 17). Ciarice Lispector greift damit augenscheinlich einen zen29

tralen Topos der Literatur der Moderne wieder auf - Schreiben als Selbstreflexion. Laurence Sternes Tristram Shandy oder auch Diderots Jacques le fataliste zählen zu den bekanntesten der zahlreichen Beispiele für explizite oder implizite Selbstreflexivität in der Weltliteratur. Auch Machado de Assis' imaginäre Autobiografie Memórias póstumas de Bràs Cubas wird mit der "Neuentdekkung" durch Susan Sontag in diese Tradition gestellt.7 Autoren wie Thomas Mann, James Joyce, André Gide haben das Dilemma des Schriftstellers auf ihre Figuren übertragen und eine Reihe von tragischen, pathetischen SchriftstellerProtagonisten erfunden, die das Schreiben als Verhängnis oder als Heilung erleben, während die eigentlichen Schreiber sich mit ironischen Kommentaren Distanz verschaffen. Bei Ciarice Lispector hingegen handelt es sich - so meine These - nicht um die "klassischen" Fragestellungen, die die Identität und Identitätskrise des Schriftstellers, die Unmöglichkeit zu schreiben, die Unzulänglichkeiten der Sprache betreffen, eine Fragestellung, die letztlich zur Legitimierung des Schreibens dient. Denn Ciarice Lispector verschiebt die Problemstellung, indem nicht mehr gefragt wird, wer bin ich, der Autor, sondern, wer müßte ich, der Autor, sein, um das Leben des "Anderen" schreiben zu können? Anders formuliert, lautet die Frage: Auf welcher Basis können Fragen der Identität, Repräsentation und Artikulation des "subalternen Subjekts" gestellt werden? In Die Sternstunde wird die Autorposition dezentriert und neu zur Disposition gestellt und wird das Schreiben zu einem Experimentierfeld, das weder darauf abzielt, die Welt abzubilden noch das Innere des Menschen auszudrücken. Damit wären die gewichtigen Abweichungen benannt, die sich im erzählerischen Diskurs Ciarice Lispectors im Verhältnis zum dominanten Diskurs der erzählerischen Moderne ermitteln lassen. Wir haben in der Figur des Rodrigo M.S. einen "framed author" (Raymond Federman), der die verschiedenen Rollen der tragischen, pathetischen Schriftsteller-Protagonisten in ihren selbstreflexiven Attitüden - ihrer Fixierung auf den kreativen Prozeß, Problematisierung der Beziehung zu den Figuren und zum Verlauf der Handlung - perfekt vorführt. Die Selbstreflexivität funktioniert wie ein Spiegel im Text, der die Leser zum Zeugen der Beziehung zwischen Autor und Schöpfung macht. Diese Anwendung selbstreflexiver Techniken und voyeuristischer Enthüllung, die darauf zielt, sich als Autor oder das Genre selbst zu etablieren, wird in Die Sternstunde parodiert und dekonstruiert. Durch die EinE. Spielmann 1993a. «Susan Sontag na era dos grandes descobrimenios». In: Jornal da Manhä. Nr.1/1993.

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führung der Erzählerfigur besteht ein Bruch in der direkten Beziehung zwischen Autor, Text und Kommentar. Durch die Verdoppelung des Erzählers werden die Erfahrungen des Schreibens, die von Rodrigo M.S. formuliert werden, enthüllt. Es handelt sich um einen selbstbewußten, öffentlichen Akt des Autors, der darauf abzielt, die Leser in die Privatsphäre des Textes zu ziehen. Hier werden sowohl Tricks vorgeführt als auch Erzählstrategien gespiegelt. In Die Sternstunde wird diese "postmoderne" Erzähltechnik ins Extreme getrieben. Es gilt zu unterstreichen, daß Ciarice Lispector über einen spielerischen Umgang mit der Problematik - der Grenzen von Realität und Fiktion - hinausgeht. Auffällig ist die allgegenwärtige Präsenz eines ethisch-moralischen Diskurses, der die Kritiker herausfordert und verunsichert. Im Text kommt es zu einer Konfrontation zwischen der offiziellen Erzählerstimme und einer Stimme, die sich mal subtil mit ironischen Kommentaren - , mal sarkastisch erhebt. Es handelt sich um eine weibliche Stimme, die mit der offiziellen Erzählerstimme um die Macht der Interpretation ringt. In einer Reihe von Fällen lassen sich die Kommentare als direkte Intervention der Autorin interpretieren. Ciarice Lispector führt hier durch die Maske des Erzählers eine Auseinandersetzung mit der literarischen Öffentlichkeit. Dies gelingt ihr, indem sie eine enge Verbindung zwischen Privatem und öffentlichem konstruiert. Es handelt sich um eine Schreibstrategie, die die Politik des scheinbar Privaten praktiziert. Die Sternstunde ist die letzte, im Jahr ihres Todes fertiggestellte Fiktion, und konsequenterweise kann ich sie - ohne Gefahr zu laufen, eine biographistische Lektüre einzuschlagen - als eine Art resümierende, kritische Stellungnahme lesen. 8 Ciarice Lispector stellt Fragen und liefert zugleich Antworten, die sich in unterschiedliche Richtungen bewegen. Sie fuhrt einen Dialog mit nationalen, westlich-hegemonischen, westlich-feministischen Instanzen, wie wir noch genauer sehen werden. Sprachverträge: philosophischer Diskurs und poetische Erfahrung Wir hatten eingangs die These aufgestellt, daß in Die Sternstunde Gesellschaftsverträge verhandelt werden und des weiteren zwei relevante Momente in Monique Wittigs Diskussion des "contrat social" hervorgehoben. Es gilt nun zu zeigen, wie diese mit Ciarice Lispectors Auffassung korrespondieren. Einerseits In ihrem einzigen TV-Interview (1977) widersetzt sich Ciarice Lispector vehement den Stilisierungsversuchen ihrer Person. Vgl. J. Lerner 1992. «A ultima entrevista de Ciarice Lispector». In: Shalom. Nr. 296. S. 65.

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werden eine Reihe von sozialen Verträgen, die den Schreibprozeß bestimmen, in ihren hierarchisierenden Effekten vorgeführt. Andererseits werden Momente der "idealen Sprechsituation" wirksam; es wird eine Welt ohne vorherrschende Bedeutung evoziert, die sich als Raum poetischer Erfahrung beschreiben läßt. Zunächst einmal geht es um den Vertrag zwischen Gesellschaft - repräsentiert durch die literarische Öffentlichkeit - und Autor. Wir hatten am Anfang eine markante Beschreibung des Vertrags zitiert, der die Gleichheit der Schriftsteller-Individuen betont, eine Egalität, die letztlich dem männlichen Schriftsteller vorbehalten bleibt. In einem anderen Erzählerkommentar wird die Behauptung vom Vertragscharakter, der ausgrenzt, diszipliniert und kontrolliert, prägnant: Der Schreibvertrag wird hier als "Zwangsvertrag" beschrieben, als Vertrag, der mit "freiem falschen Willen" geschlossen wird. Die Anerkennung eines Textes als Literatur ist an bestimmte Konventionen der Sprache, der Rhetorik und Syntax geknüpft: Er muß lesbar sein. Darunter fallen in erster Linie Texte, die an die Wirklichkeit gekettet sind, Texte also, die eine direkte Beziehung zwischen Wort und Ding herstellen. Ciarice Lispectors Texte sind in Brasilien wiederholt als "unlesbar" kritisiert worden, da sie den Konventionen der mimetischen Aneignung von Wirklichkeit nicht entsprechen. Der folgende Erzählerkommentar läßt sich als ambivalente Antwort Ciarice Lispectors auf diese Kritik lesen: Assim é que experimentarei contra os meus hábitos urna historia com comego, meio e "gran finale" seguido de silencio e de chuva caindo (S. 17). Sich einzulassen auf den Vertrag, eine kontinuierliche, kohärente Geschichte zu liefern, zeugt von der Kompromißbereitschaft des Erzählers, die im zweiten Teil des Satzes negiert wird. Hier hingegen wird ein poetisch-philosophisches Konzept vom Schreiben komprimiert formuliert: Schreiben als Schweigen, das Berührungspunkte mit der äußeren Welt meidet und das nicht nach Erkenntnis strebt und Schreiben als eine Bewegung, die sich materialisiert ohne Spuren zu hinterlassen. Das Beispiel zeigt, daß Ciarice Lispectors Überlegungen sich nicht auf den nationalen Rahmen begrenzen. Es geht wohl um die grundsätzliche Revision konventioneller Ideen, die darauf insistieren, daß Schreiben als Derivat des Sprechens, Realität oder gelebte Erfahrung, z.B. sich-selbst darstellende Rede, repräsentiert. Es geht um die Dekonstruktion der mimetischen Annahme, wie sie seit Plato im okzidentalen Diskurs präsent ist (Jacques Derrida) und eine Rolle spielt im nationalen Diskurs des Realismus, der in den brasilianischen Nordostromanen manifest wird. Es ist ein philosophischer Diskurs, den Ciarice Lispector ihren Erzähler über das Schreiben führen läßt (S. 15). Selbstverständlich und scheinbar willkürlich 32

wird über verschiedene Konzepte westlicher Tradition verfügt, werden Metaphern und Aussagen über den kreativen Prozeß bemüht. Die Anspielungen reichen von Piatos Metapher vom "Schreiben in der Seele" und Sokrates' Vorstellung vom Schreiben "als falschem Wissen", über Rousseaus Theorie vom Ursprung der Sprache in der Verbindung von Musik und Rede bis hin zu Anspielungen auf Reflexionen über das Schreiben von Autoren der westlichen Moderne. Die breite Streuung der Andeutungen und der scheinbar ziellose Umgang mit Ideen, Vorstellungen vom Schreiben - als Lust die Welt zu sehen, als puritanischer Akt - verweist darauf, daß es weniger um eine emstzunehmende Suche nach Lösungsmöglichkeiten geht, denn das Problem der Sinnsuche in Verbindung mit Selbstlegitimierung steht für Ciarice Lispector nicht im Mittelpunkt der Debatte. Vielmehr läßt sich das ironische Spiel mit Konzepten, Mitteln und Formen als kritische Antwort, als Grenzziehung und ostentative Zurückweisung westlich-hegemonischer Modelle verstehen. Differente Antworten zu: Dialektik, "Musik und Rede", "A Room for One's Own" Es gilt nun zu verdeutlichen, daß die von Ciarice Lispector geführte Auseinandersetzung mit europäischen Traditionen weniger der Nachahmung oder der Negation dient - wie Debra Castillo (1992) ausgeführt hat - , sondern als Bezugsrahmen, um den eigenen Diskurs zu vermitteln. Paradigmatisch erscheint der Zugriff Ciarice Lispectors auf drei unterschiedliche Modelle: das Konzept dialektischen Denkens, Rousseaus Vorstellung von der "idealen Sprechsituation" und Virginia Woolfs Projekt von "A Room for One's Own". In einem Kommentar wird der Akt des Schreibens, genauer der Einfluß, den die Handlung auf den Erzähler ausübt, als Verwandlung beschrieben. Diese vollzieht sich in einem dialektischen Prozeß. Doch am Ende des Austauschs, bei dem das Objekt zum Subjekt werden soll, steht in der Anwendung Ciarice Lispectors paradoxerweise die Verdinglichung. Der Erzählerkommentar lautet: A agäo desta histöria terä como resultado minha transfiguraqäo em outrem e minha materializaqäo enfim em objeto (S. 26). Wir lesen diese Passage der Beschreibung einer dialektischen Bewegung als ironische Distanzierung von diesem Konzept (das in Intellektuellenkreisen in Brasilien zur führenden Theorie gehörte). Hier wird dialektisches Denken als Versuch interpretiert, die Effekte des Schreibens (und damit der Differenz der Sprache) zu beherrschen, indem sie weggespielt werden in eine geordnete Sequenz von Argumenten (Handlung/ 33

afäo), die zu einer letzten Wahrheit (Ergebnis/resultado) führen, wie der Begriff der Verwandlung (transfigurafäo) zeigt. Mit der ironischen Umkehrung des Ergebnisses - nicht Subjekt-, sondern Objektwerdung - durchkreuzt Ciarice Lispector die Logik dieses Konzepts. In ganz anderer Richtung ist die an diesen Erzählerkommentar direkt anschließende kurze Reflexion zu lesen, in der die Perspektive der "idealen Sprechsituation" imaginiert wird. Die Erzählerstimme kommentiert: Sim, e talvez alcance a flauta doce em que eu me enovelarei em macio cipö (S. 26). Mit der Verwendung der Metapher der Flöte in Verbindung mit dem Bild der Pflanze - als Präsenz tropischer Natur - wird die rousseausche Utopie der "natürlichen" Sprachform aufgerufen: Die Flöte als Medium, das den "paradiesischen Zustand" der "Einheit von Rede und Lied" repräsentiert. Die Flöte als das Instrument der Melodie, in der genuine, passionierte Gefühle zum Ausdruck kommen, bevor - nach Rousseau - mit der Entwicklung der Harmonie dieser Urzustand aufgelöst wird und das Lied seine "ursprüngliche" "kommunikative Macht" verliert, indem zu abstrakten Konventionen gegriffen wird. Eine parallele "katastrophale" Entwicklung vollzieht sich - so Rousseau - in der Geschichte der Sprache im Schritt von der Rede zum Schreiben. Rousseau stellt folgende Diagnose: In dem Maße, wie die Sprache sich vervollkommnete, 'ging' die Melodie, die sich neuen Regeln unterwarf, unmerklich ihrer alten 'Energie verlustig', und die 'Berechnung der Intervalle substituierte sich der Feinheit' der Inflexionen.9 Von Interesse am Umgang mit Rousseaus Diskurs über den "paradiesischen Urzustand der Sprache", die Beziehung von Musik und Rede, ist hier die unterschiedliche Blickrichtung. Während Rousseaus Vorstellungen nostalgisch an die Vergangenheit gekettet sind - die freie und gleiche Rede existiert nur in primitiven Gesellschaften - verweisen die im Erzählerkommentar der Sternstunde formulierten Vorstellungen vom "Geschichtenerzählen" (enovelarei) auf die Zukunft. Wir kommen auf dies für die Situierung des Textes relevante Moment utopischen Denkens zurück. Als letztes Beispiel für die transatlantische Kommunikation, die zu differenten Antworten führt, lesen wir die Passage, die auf Virginia Woolf Bezug nimmt: auf ihre "Entdeckung" und "Erschließung" des "A Room of One's Own" für das weibliche Individuum. Das Buch (1929) gilt als das Projekt, das den Diskurs über weibliches Schreiben vorbereitet und in der Suche nach einer weiblichen Gattung die westliche feministische Kritik maßgeblich bestimmt hat, wie Apud J. Derrida 1983. Grammatologie. Frankfurt. S. 342. 34

Teresa De Lauretis (1984) bemerkt hat. Clarice Lispector läßt ihre Protagonistin - als Höhepunkt des Alltagslebens - in den Genuß eines "Zimmers für sich allein" kommen: Entäo, no dia seguirne, quando as quatro Marias cansadas foram trabalhar, eia teve pela pñmeira vez na vida urna coisa mais preciosa: a solidäo. Tinha um quarto só para eia. Mal acreditava que usufruía o espaço [...] estar sozinha se tornava l-i-v-r-e! [...] Até deu-se ao luxo de ter tèdio - um tèdio até muito distinto (S. 51-52). 10 Einerseits wird hier Virginia Woolfs Freiheitskonzept - das auf das Stillen des geistigen Hungers, die Forderung eines eigenen Bereichs, das Ausbrechen aus der Passivität weiblicher Roilenzuschreibung ausgerichtet ist - zelebriert. Andererseits wird die Nichtübertragbarkeit der Woolfschen Ideen, die auf die Bedingungen des westlichen Kultur zentriert sind, deutlich. Was würde Virginia Woolf einer Macabéa antworten, deren Hunger kein spiritueller, sondern ein physischer ist, deren Problem nicht die Selbstfindung, sondern die Marginalisierung als "subalternes Subjekt" ist, d.h. konkret der Verlust der kollektiven, lokal begründeten Lebenszusammenhänge? Diese Fragen und Differenzen stellt Ciarice Lispector in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen und weist somit Virginia Woolfs Entwurf als Lösungsmöglichkeit zurück. Die brasilianische und internationale Kritik hingegen vertritt in vergleichenden Studien über die Schriftstellerinnen unbeirrt und offenkundig von den Posen und Inszenierungen der Bilder und Photographien Ciarice Lispectors geprägt die These von der Nachahmung des großen Vorbilds Virginia Woolf, ohne die in die Texte eingeschriebene Auseinandersetzung zu berücksichtigen. Unbeachtet bleiben auch die unterschiedlichen Positionen, die Ciarice Lispector und Virginia Woolf zum einen als Schriftstellerinnen/Kritikerinnen, zum anderen als Subjekte einnehmen. Virginia Woolfs Anliegen ist es, sich in einem intellektuellen Prozeß der Wahrheit zu nähern, eine Geschichte zu erzählen, zu erfinden. Ciarice Lispector hingegen setzt weibliche Stimmen und Körper ein, um dieses Konstrukt von Einheit zu dezentrieren. Virginia Woolf ist eine erfolgreich verheiratete Frau, sie schreibt aus einer Situation der persönlichen und sozialen Absicherung und sie kann sich in die Tradition weiblicher Schriftstellerinnen wie Jane Austen, die Brontës stellen, die schon zu Lebzeiten eine tragende Rolle in der literarischen Öffentlichkeit spielten. Ciarice Lispectors Status hingegen ist ein anderer: Sie ist Die intertextuelle Praxis könnte eindeutiger nicht sein. Neben V. Woolf spielt sie vor allem auf Mallarmé an. Vgl. S i Mallarmé 1945. Oeuvres Complètes. Paris. S. 378.

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geschieden, persönlich und sozial nicht abgesichert, und sie kann sich bei ihren Anstrengungen als Intellektuelle und als Schriftstellerin weder auf eine positive Kritik verlassen noch auf eine literarische Tradition stützen. Entgegen den Interpretationen, die in Ciarice Lispector eine brasilianische Virginia Woolf sehen, meine ich, daß Woolfs Überlegungen weniger als Modell zur Übernahme, sondern vielmehr als Bezugssystem dienen, um die eigene Position im Rahmen des transatlantischen Dialogs zu konturieren. Ciarice Lispector grenzt sich in der oben zitierten Passage ab von der Annahme Woolfscher Paradigmen der Selbstbegegnung, Selbstbefragung, Spiegelung des Ich. Diese durch Ironie vermittelte Distanznahme wird auch an anderer Stelle deutlich. Ciarice Lispector nimmt die zentrale Frage des westlichen Feminismus, "Wer bin ich"?, aufs Korn, indem sie die Aufgesetztheit dieser Problematisierung im Hinblick auf die Bedingungen des sozialen Lebens und der von kollektivem Denken geprägten Mentalität der nordestina aufzeigt. Ciarice Lispector formuliert ihre Bedenken gegenüber westlich-feministischen Positionen in Übertragung auf die brasilianische/lateinamerikanische Situation im Unterschied etwa zu Victoria Ocampos brieflicher Widmung an Virginia Woolf (1935) verschlüsselt bzw. implizit. Entgegen der Charakterisierung Ciarice Lispectors literarischer Praxis als Negation sehe ich in ihrem Schreiben eine Strategie der Revision, der Umformung. Markant wird diese Praxis auf der Ebene der Gattung. Ciarice Lispectors Antwort auf den Nordostroman Die Sternstunde läßt sich als neue - unter dem Vorzeichen der massiven Modernisierung, als kritische Version der Nordostromane lesen. Die Neuerung liegt jedoch nicht in der kritischen Selbstreflexion der Rolle des Intellektuellen wie die Kritik, z.B. Nadia Baitela Gotlib (1989) behauptet. Gewichtiger ist vielmehr, daß Ciarice Lispector gegen diese Tradition, die der Konstituierung und Konsolidierung des "nationalen Projekts" dient, anschreibt. Um die Korrespondenzen und Divergenzen zwischen der gewichtigen Literatur aus dem Nordosten und Ciarice Lispectors Neuschreiben der Gattung zu markieren, charakterisiere ich zunächst die sogenannten "romances do nordeste". Sie erzählen die Geschichte von den Plantagen (z.B. die Romanzyklen von José Lins do Rego und Jorge Amado), von Herrenhaus und Sklavenhütte (Gilberto Freyre) oder sie liefern dramatische Darstellungen über die Lebensbedingungen im Sertäo, bzw. die Misere der Zuwanderer aus dem Hinterland in die Städte (Graciliano Ramos). 36

Diese historisch-fiktionalen Berichte stehen in der erzählerischen Tradition des "Realismus", wenn sie sich auch nicht darauf reduzieren lassen. Es handelt sich um vielstimmige, plurale Texte dank der Einbindung populärer Erzähltraditionen, wie Silviano Santiago (1991) in seiner Lektüre modernistischer Texte betont. Das Gemeinsame dieser Literatur läßt sich zwar nicht auf die Beschreibung regionaler Besonderheiten begrenzen, aber es läßt sich eine auf das "nationale Projekt" bauende Darstellung feststellen, bei der die spezifische Problematik der Ethnie, der Rasse und der Geschlechter ausgegrenzt bleibt. Es ist eine heroische Männerwelt, die Welt der Viehtreiber, der "canga^eiros", die durch den literarischen Diskurs repräsentiert wird. Der Raum des Weiblichen ist entweder nicht präsent oder er bleibt peripher, auf das Private, das Häusliche begrenzt. 11 Lediglich Rachel de Queiroz befaßt sich in ihrem Roman Das Jahr 15 mit dem sozialen und psychischen Leben eines Mädchens aus dem Hinterland. Auch ihr Diskurs bewegt sich im "vertrauten" Terrain des Regionalen und des Nationalen: Die Protagonistin bleibt in ihrem Kulturkreis, dem Nordosten, sie ist eine privilegierte, eine alphabetisierte "nordestina". Als Grundschullehrerin repräsentiert sie jenen neuen Typus Frau der Vargas-Ära, der den Raum des Privaten verläßt, um sich in den Dienst des nationalen Projekts, der Modernisierung des Landes, zu stellen. In ihrem jüngsten historischen Roman Memorial de Maria Moura (1992) erzählt Rachel de Queiroz die weibliche Geschichte des "Canga?o", anhand der Lebensgeschichte von Maria Oliveira, einer historischen Figur aus dem 17. Jahrhundert. Ciarice Lispector liefert auf der Ebene von Text und Diskurs eine kritische Antwort auf die national-konstitutive, literarische Tradition. Indem sie eine "nordestina" aus dem untersten sozialen Bereich als Protagonistin ihrer Erzählung wählt, weist sie auf die Ausgrenzungsmechanismen, die Nicht-Präsenz der "subalternen Frau" in der auf das Metropolitane zentrierten Literatur hin. Emir Rodriguez Monegal (1984) hat zu Recht darauf verwiesen, daß die meisten "regionalen" Romane in der Stadt spielen. Die Signifikanz liegt darin, daß Ciarice Lispector ganz bewußt keine "mulata" als literarische Hauptfigur wählt, die mit Jorge Amados Erfolgsromanen über Bahia an der Seite von "Karneval" und "Fußball" zum exotistisch-folkloristischen Exportprodukt avancierte, sondern eben eine Figur, die die "raipa anä" und damit die Kehrseite des exotischen Paradigmas repräsentiert. Diese Politik der Repräsentation wird in einem ErzählerEine Reihe von historischen Studien begegnet dieser Ausgrenzung des Weiblichen im Diskurs über den Nordosten. Vgl. L. G. Ferreira 1989. «Dentro da vida, a margem da história. Matriarcas de Pemambuco». In Papéis avulsos. Nr. 14.

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kommentar explizit formuliert: O que queria dizer que apesar de tudo ela pertencia a uma resistente raga anä teimosa que um dia vai talvez reivindicar o direito ao grito (S. 96). Somit ist es kein Zufall, daß Macabeas "erfolgreiche" Konkurrentin eine "mulata" ist, die aus dem "weißen Süden" kommt (S. 72). Damit lenkt Ciarice Lispector die Aufmerksamkeit auf die Effekte des Gesellschaftsvertrags, die neben der Klassenzugehörigkeit auch durch die ethnisch/rassische/geographische und geschlechtliche Zuschreibung bestimmt sind. Diese konstitutiven Momente blieben blinde Flecken in den genauen historischen Analysen und meisterhaften Darstellungen des Lokalen und Regionalen von Jorge Amado und Graciliano Ramos - den ohne Zweifel sozial und politisch engagierten und von der literarischen Öffentlichkeit hoch geschätzten Autoren. Ciarice Lispector formuliert ihre explizite Kritik an den Meisterwerken mit den Mitteln der Parodie und Ironie. Die Referenz auf Graciliano Ramos berühmten Nordostroman Vidas secas ("Karges Leben") ist hier exemplarisch. Ciarice Lispector parodiert die Schlüsselszene des Romans, in der es um Leben und Tod, um den Kampf zwischen Gut und Böse geht. Es ist die vielzitierte und vor allem durch die Verfilmung - 1963 von Nelson Pereira dos Santos gedreht bekannte Passage, in der "der Sertanejo" "dem Soldaten" gegenübersteht und Graciliano Ramos mit der Erwartungshaltung der Leser spielt: Wird er ihn töten? Ciarice Lispector verlegt diese Szene in die Kinowelt der Melodramen und Spielfilme, die Macabeas Vorstellungswelt bestimmen. Dadurch gelingt es ihr, diese tragische "Urszene" ins Tragik-komische, Chaplineske zu wenden: Devo dizer que ela era doida por soldado? Pois era. Quando via um, pensava com estremecimento de prazer: serä que ele vai me matar? (S. 44). Ciarice Lispector liest Vidas secas als brasilianische Version einer WildWest Geschichte, als Melodrama. Mit dieser neuen Lesart werden die dramatischen Effekte des Romans in ihrem Pathos offengelegt. Die Spannung, die Konflikte werden kommentiert und können in einer Rückkehr zum Lachen ausgelebt werden. Es scheint, als ob Ciarice Lispector sich Shakespeares Diktum - "Das Schlimmste kehrt zum Lachen" - aus dem tragischem Stück, "King Lear" zu eigen gemacht hat. In der 1. Szene des 4. Akts heißt es: the lamentable change is from the best; The worst returns to laughter. Durch das Lachen, das unter der Maske der Tragödie hervorkommt, verliert der Nordostroman in der Version Ciarice Lispectors seine existentielle Substanz. Zudem wird die häufig anzutreffende reduktionistische Lektüre von Vidas secas als sozialkritischem Roman, der den Konflikt mit der Obrigkeit thematisiert, korrigiert. Mit dem Stichwort Melodrama ist eine weitere zentrale Kategorie ge38

liefert für die Diskussion der Gattungsfrage, die sich in und mit Die Sternstunde neu stellt. Eine melodramatische

Gattung

Mit Die Sternstunde wird eine Aufwertung des als vulgär und populär erachteten Genres Melodrama als Form des Erzählens vorgenommen, in ihm ist die Trennung zwischen hoher und populärer Kultur aufgehoben, und es wird Präsenz und Gültigkeit des antiquierten Genres im Zeitalter elektronischer Medien hervorgehoben. Martin Barbero (1987) sieht das Melodrama als eine Gattung, die gegen die Ausgrenzung, das Verdrängen der Repräsentation des "populären Erzählens" gerichtet ist. Was die Geschichte der "nordestina" betrifft, das Verweben von Konflikten und Dramaturgie, Handlung, Narration und Sprache, weist sich Die Sternstunde als Melodrama par excellence aus. Peter Brooks hat in seinem Essay Une Esthétique de l'étonnement: le mélodrame (1974) die geläufige Definition des Melodramas als expressionistische Gattung erweitert und darauf hingewiesen, daß die "dramatischen Effekte", das Affektive, im Bereich der Moral liegen. Ciarice Lispectors Verständnis von Melodrama geht in diese Richtung. In den Untertiteln der Sternstunde und im Text selbst wird explizit auf verschiedene eigenständige Formen der narrativen Gattung verwiesen: z.B. auf die "folhetins" der Zeitungen, die "folhetos" der "literatura de cordel" und die "música popular" Caetano Velosos Neuinterpretation (1968) von Rubens Gerchmanns Bolero Lindonéia - , insbesondere auf die Telenovela als gegenwärtig dominierende Manifestation. Aus der Geschichte der "nordestina", die eng verwandt ist mit einer historia lacrimogénica de cordel - so ein Untertitel - wird eine historia em tecnicolor (S. 72). Als charakteristische Momente der Telenovela finden wir die Überlagerung verschiedener Zeiten und extrem variierende Diskursformen: archaische Erzählmuster, die typisch sind für Fortsetzungsgeschichten seit der Romantik, und Bildergeschichten aus der elektronischen Medienwelt. Traditionelle und moderne Ausdrucksformen schließen sich nicht länger gegenseitig aus, und die Distanz zwischen hoher Kultur, populärer Kultur und Industriekultur als Kategorie der Abgrenzung ist wertlos geworden. Die Wirkung basiert darauf, daß sie eine Beziehung zu tiefen Schichten des kollektiven Imaginären unterhält. Die Selbstwahmehmung in einer Telenovela oder einer Radiosendung hat eine bestimmte psycho-soziale Konstitution zur Voraussetzung: teilzunehmen an einer ursprünglichen vorgängigen Soziabilität, in der Kollektivität, Ursprung, 39

Verwandtschaftsbeziehungen determinierende Faktoren sind, wie Carlos Rincón (1993) bemerkt. Walter J. Ong (1982) hat in seiner Studie über Oralität unter den Bedingungen technologischer Veränderungen in den Medien (Telefon, Radio und TV) den Begriff der "sekundären Oralität" geprägt. Die Kategorie beschreibt, wie durch die Präsenz von Stimme und Körper als Medien, traditionelle Mechanismen der Wahrnehmung und des Fühlens wirksam bleiben. Die Gültigkeit kollektiven, oral begründeten Wissens und Verhaltens wird prägnant in der Darstellung der besonderen Beziehung der "nordestina" zum Radio. Der Radiosender "Rádio relógio", der die Zeit im Minutentakt ansagt, auf "Werbeund Kulturprogramme spezialisiert ist", bestimmt Macabéas räumliche und zeitliche Orientierung in der Welt, er dient als Informations- und Kommunikationsquelle. Und das ist entscheidend: "Rádio relógio" wird als direktes Gegenüber, als "Realität" anerkannt. Ciarice Lispector beschreibt das dramatische Aufeinanderprallen dieser verschiedenen Klassen von Realitäten, der ultramodernen, metropolitanen und der von prä-modemen Momenten geprägten Lebenswelt. Diese Konfrontation manifestiert sich im psycho-sozialen und physischen Zustand des Mädchens. Über die genaue Schilderung, was im Körper und mit dem Körper der weiblichen Figur passiert und wie deren Vorstellungswelt aussieht, gelingt es Ciarice Lispector, die Umformungen im sozialen Feld zu benennen und eine Gegenwartsdiagnose Urbanen Lebens in der Phase massiver Modernisierung in den 70er Jahren zu liefern. Melodramatische

Modernekritik

Ciarice Lispector gibt eine radikale Antwort auf Konzepte der Moderne, wie an ihrem Umgang mit der Sphäre der Großstadt deutlich wird. Sie problematisiert die Präsenz metropolitaner Kultur - Massenmedien, die Produktion internationalisierten Konsumverhaltens und die Nicht-Präsenz, bzw. Marginalisierung des anderen kulturellen Systems der Immigrantin. Ciarice Lispector zeigt vor allem auch, daß die Umformung des sozialen Lebens nicht mehr eine Frage von Peripherie und Zentrum, d.h. "Erster Welt" und "Dritter Welt" ist, da es in der Folge der Transnationalisierung der Wirtschaftssysteme und des Ausbaus der Verkehrs- und Kommunikationsnetze, der elektronischen Medien, zu einer Achsenverschiebung und Pluralisierung von Peripherie und Zentrum gekommen ist. Die Stadt Rio de Janeiro weist Zeichen und Symptome sowohl einer "ErstenWelt-Metropole" als auch einer "Dritten-Welt-Metropole" auf. Im Rio de Janeiro der Sternstunde herrscht die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" 40

bzw. "widersprüchliche Gleichzeitigkeit", d.h. die extrem unterschiedlichen Lebensweisen unterstehen dem Zeichen einer modernen Zeit, der Beschleunigung. Im Text von Ciarice Lispector handelt es sich um eine Großstadt der "Dritten Welt", in der die Durchrationalisierung der Lebenswelt bzw. die Einbindung bestimmter Bevölkerungsschichten noch nicht ganz vollzogen wurde, so daß lokal determinierte "ländliche" Verhaltens- und Wahmehmungsweisen fortbestehen. Ciarice Lispector ermittelt wesentliche Momente, die die grundlegend abweichende Situation der Modernitäten in europäischen und brasilianischen Metropolen bestimmen: die "Entzauberung" der Welt hat nicht in dem umfassenden Maß stattgefunden. Emblematisch für die andere, widersprüchliche Modernität steht Macabéas und Olímpicos sonntägliches "namoro", deren Ort in den Kleinstädten des Nordostens der Stadtpark ist. Die "Liebelei" findet hier unter sechsspurigen Stadtautobahn-Zufahrtsbrücken statt. Die brasilianische Regisseurin Suzana Amaral hat in ihrer Lektüre der Sternstunde diesen Aspekt visuell kongenial umgesetzt, indem sie die Geschichte nicht in Rio de Janeiro, sondern in Säo Paulo spielen läßt, wo Zweimillionen nordestinos leben und die Problematik der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" ins Zeichensystem der Megapolis eingeschrieben ist. Drehort der Begegnungen zwischen Macabéa und Olímpico ist die Brás, das ehemalig traditionelle Viertel italienischer Einwanderer, die von den Immigranten aus dem Nordosten abgelöst wurden, bis die Gebäude Anfang der 70er Jahre dem Abriß zum Opfer fielen. Eine kritische Bemerkung zu Suzana Amarais beeindruckender Verfilmung der Sternstunde (1986) möchte ich anfügen: Sie erzählt die Geschichte der nordestina, läßt aber die gewichtige Problematik, die Thematisierung des Erzählens, die Repräsentierbarkeit bzw. Unrepräsentierbarkeit des "Subalternen" beiseite. Es ist wichtig zu betonen, daß Ciarice Lispector dieser dramatischen Situation des Lebens in der Metropole mit einer humoristischen, ironischen Antwort begegnet und ihre Figuren nicht auf eine Opferrolle festgeschrieben werden. Symptomatisch sind die paradoxen Dialoge zwischen Macabéa und Olímpico, deren Basis Sendungen des oben zitierten "rádio relógio" bilden: Nessa rádio eles dizem essa coisa de "cultura" e palavras difíceis, por exemplo: o que quer dizer "eletrönico"? Silencio. Eu sei mas näo quero dizer [...] O que quer dizer "renda per capita"? Ora, é fácil, é coisa de médico (S. 61). Die Versuche, den internationalen, am westlichen System orientierten - im zitierten Dialog nicht zufällig gewählten ökonomischen Größen - , Informationen 41

und Tatsachen, dem Begriffsapparat der Werbung, die außerhalb ihres Bezugssystems und Wissens liegen, etwas entgegenzusetzen, müssen scheitern. Auch wenn die Antworten Macabeas die perverse Logik westlich kapitalistischer Strategien bloßstellen - die Perspektive, einen Pelzmantel zu besitzen, kommentiert sie spontan: Mas casaco de pele näo se precisa no calor do Rio (S. 93) - bleibt als einziger Weg die Umorientierung. Die Distanz und Fremdheit gegenüber metropolitanen Gewohnheiten bilden den einen, die installierten Wünsche den anderen Pol. Zwischen beiden Polen bewegen sich die Figuren: Die unterernährte Macabea, bei der ein Arzt "Magersucht diagnostiziert", bemüht sich, ihre Ernährung auf "Fast-Food" umzustellen, und sie unterwirft sich aufwendigen Schminkprozeduren, um wie Marylin Monroe auszusehen. Prägnant werden die Ausgrenzung und Marginalisierung der Nordostkultur und ihre Effekte im Mechanismus der Selbstverdrängung der "nordestinos" in folgender Passage: Der Erzähler läßt den Figuren Raum, um den Nordosten in seinen lokalen und regionalen Besonderheiten zu evozieren. Doch Macabea und Olimpico reduzieren ihre Unterhaltungen auf die elementaren Agrarprodukte des Nordostens: [...] farinha, carne de sol, carne seca, rapadura, melado. Welche Textstrategien und ästhetischen Paradigmen Ciarice Lispector entwickelt, um das metropolitane Leben der "Dritten Welt" in seinen Abweichungen zu beschreiben und Gegenwürfe zu entwickeln, soll in einer vergleichenden Lektüre konkretisiert werden. Verschiedene Modernitäten: Das Emblem der Geschwindigkeit Die gesamte Problematik des Aufeinanderprallens verschiedener Modernitäten wird in den Reflexionen über Geschwindigkeit, die in den Schilderungen des tödlichen (Auto-)Unfalls kulminierten, auf den Punkt gebracht. Ciarice Lispector thematisiert hier nicht nur den technologischen Horizont unserer Zeit mit seinen Katastrophen, sondern auch das (Un-)Verhältnis zwischen physischer und mentaler Geschwindigkeit. Es handelt sich also um eine Kritik, die über eine nostalgische und technikfeindliche Perspektive hinausgeht. Die technische, berechenbare Seite, die konkrete Beschreibung des tödlichen Zusammenstoßes ist knapp, wenn auch nicht bedeutungslos. Ciarice Lispector vermittelt die extrem kurze Dauer des Zeitraums, in dem das Unglück geschieht, eindrucksvoll, es gelingt ihr das Erleben von Geschwindigkeit - diese Grunderfahrung modernen Lebens - zu fassen, das Unberechenbare des Augenblicks zu vermitteln. Beschreibungen der Geschwindigkeit - z.B. die häufige Verwendung der Metapher 42

des Pferdes - durchziehen die ganze Geschichte der modernen Literatur, und mit ihnen kündigt sich bereits die Problematik des Maschinenzeitalters an, wie Italo Calvino (1988) ausführt. Geschwindigkeit wird zum Paradigma der Moderne schlechthin. In vielen der Schilderungen geht vom Rausch der Geschwindigkeit, von der Perfektion auf der einen Seite und Unberechenbarkeit der Technik auf der anderen Seite eine Anziehungskraft aus, die das Wissen um die Effekte, die Destruktion, den tödlichen Ausgang sekundär macht. Zu einem der bekanntesten und ersten Beispiele aus der Literatur zählt der Essay The English Mail-Coach (1848) von Thomas De Quincey. Wir können aufgrund des Vergleichs folgender zitierter Textpassagen davon ausgehen, daß Ciarice Lispector den Klassiker der englischen Literatur kannte. Es handelt sich - so meine These - bei der Sternstunde um einen Intertext mit der Tendenz gegen diese literarische Tradition anzuschreiben; denn bei Ciarice Lispector wird diese Faszination der Beschleunigung nicht zelebriert, sondern dekonstruiert: Morreu em um instante. O instante e aquele ätimo de tempo em que o pneu do carro correndo em alta velocidade toca no chäo e depois näo toca mais e depois toca de novo. [...] Eu vos pergunto: - Qual e o peso da luz? (S. 104) Die entsprechende Stelle bei Thomas De Quincey lautet: Glance of the eye, thought of man, wing of angel, which of these had speed enough to sweep between the question and the answer [...] Light does not tread upon the steps oflight more indivisibly. In einer kontrastiven Lektüre der beiden Textstellen und mit Blick auf andere Passagen läßt sich feststellen, daß bei allem Entsetzen über das sich anbahnende Unglück bei De Quincey die Spannungserzeugung, das Sensationelle im Vordergrund steht. Selbst das gewünschte Eingreifen Gottes wird hier funktionalisiert. Ciarice Lispectors Schilderung hingegen bleibt, was den Unfall betrifft, betont unspektakulär. Sie setzt der Präsenz und Faszination technischer Beschleunigung die physische und mentale Geschwindigkeit - Langsamkeit - entgegen. So lesen wir Kommentare aus verschiedenen Perspektiven auf den Moment des Unfalls: Macabea ao cair ainda teve tempo de vern [...] Ficou inerte no canto da rua, talvez descansando das emoqöes (S. 96). Das physisch-mentale Erleben, der Rhythmus des Atmens, die Körperhaltung, die Bewegungen, die Gedanken, Erinnerungen, Vorstellungen und Äußerungen, die beschrieben werden, sind bedeutsam in ihrer Funktion als Gegengewichte, als nicht meßbare Werte. Sie erlauben keine Vergleiche, Wettbewerbe oder Resultate, sie haben 43

keinen praktischen Nutzen. In ihrer Verwendung der Metapher des Pferdes wird dies explizit. Bei Ciarice Lispector wird das Pferd als Bild nutzbar gemachter domestizierter Natur aus seinen Festschreibungen herausgelöst, der Funktion, als positives Bild für die Modernisierung und Technisierung zu repräsentieren: Einmal, wenn sie es als Ikone für den Augenblick des Todes als eine die Phantasie entfesselnde Form einsetzt und dann zur Beschreibung des toten Körpers von Macabea heranzieht: e neste mesmo instante em algum ünico lugar do mundo um cavalo como resposta empinou-se em gargalhada de relincho [...] deitada, morta, era täo grande como um cavalo morto (S. 95, 103). Die hier untersuchte Erzählstrategie Ciarice Lispectors läßt sich als ein Wechseln von Nähe und Distanz beschreiben, die eine einfühlende Kontemplation - eine ästhetisch-genießerische Erfahrung verhindert. Im folgenden sollen die Akzentverschiebungen des ästhetisch-erzählerischen Konzepts Ciarice Lispectors näher bestimmt werden. Ästhetik der Beunruhigung Wir hatten eingangs die These Jean Francos vom Schreiben als Aneignung des privaten Raums und seine Bedeutung für die Ästhetik der Texte von Ciarice Lispector angeführt und betont, daß Ciarice Lispectors Verfahren ethische und politische Fragen nicht ausgrenzt, sondern impliziert werden. Dies Experiment sehen wir bei Ciarice Lispector in der Option für den poetisch-philosophischen Diskurs - wie bereits ausgeführt wurde. Wichtig ist zu unterstreichen, daß es sich nicht um eine bloße Wiederholung modernistisch avantgardistischer Haltungen handelt, denn es geht nicht um experimentelles Schreiben, das durch methodische Schritte - semantische, syntaktische Angriffe - neue Bedeutungen zu schaffen sucht. Die poetische Praxis Ciarice Lispectors begrenzt sich nicht auf die Anwendung poetischer Techniken in der Prosa, wie es James Joyce oder Virginia Woolf innovativ vorgeführt haben, indem sie die Erzählung in poetischen Bildern verschwinden ließen. Es geht Ciarice Lispector anscheinend auch nicht darum, ästhetischen Genuß für erfahrene Lyrikleser zu erbringen. Von Interesse ist eher, von einem ausgelagerten privaten Raum her, eine andere Art ethischer und moralischer Verpflichtung zu formulieren. Ciarice Lispectors ethisch-moralische Haltung, ihre Art und Weise des tastenden Umgangs und ihres Verständnisses von Kunst/Literatur als symbolischen Akt, scheinen mit der des Schönberg-Schülers John Cage zu korrespondieren, wie implizite Hinweise im Text nahelegen. In seinem "Opus 4 33" ließ Cage die Ausführenden die 44

ganze Zeit über stumm vor ihren Instrumenten sitzen und machte so "Stille Musik", mit der er eine Intensität an Interaktion mit dem Publikum erreichte, auf die Ciarice Lispector in der Widmung der Sternstunde anspielt. Seine paradoxe und tiefgründige Äußerung in Lectures on Nothing (1973) - er schreibt dort: Have nothing to sayland I am saying it/and that is poetry - , sind eng verwandt mit den Interventionen, die Ciarice Lispector formuliert: Meditar näo precisa de ter resultados [...] Eu medito sem palavras e sobre o nada (S. 7). In einem Balanceakt läßt Ciarice Lispector ihre Figur eine radikal poetische Erfahrung durchleben, die Mallarmésche Dimensionen erreicht: der poetischen Erfahrung des Nichts steht die Poesie selbst gegenüber. Wir haben mit der Ikone des Pferdes - die die Schnelligkeit, Lebhaftigkeit, Energie, das Leben dieser Sinneswahrnehmung evoziert - bereits ein Beispiel für den Versuch der Umformung, des Anschreibens gegen modernistisch-avangardistische Traditionen angeführt. In weiteren Schlüsselszenen, die zur Untermauerung dieser These zu untersuchen sind, erscheint die Literatur als ein symbolischer Raum, der aus "sichtbaren", "hörbaren", "tastbaren", "schmeckbaren" Wörtern besteht, wie Monique Wittig bemerkt hat. Ciarice Lispector liefert Beschreibungen einer Serie von beunruhigenden körperlichen Zuständen, Gesten und Bewegungen, die das Innen nach außen stülpen. Der weibliche Körper wird hier zelebriert. Aber im Unterschied zu einer Reihe von modernen rebellischen Poeten in der Nachfolge von Baudelaire, die sich gegen die patriarchalische Reise der Aneignung auflehnen - was gängigerweise mit der Bezeichnung "offene Form" und "weibliches Schreiben" gefaßt wird - finden sich bei Ciarice Lispectors Zelebration keine großen Gesten. Im Gegensatz auch zur Poesie Walt Whitmans, der als "Poet der Frauen", als "Poet des Körpers" gilt und dessen poetisch-politische Praxis, was "weibliche Wahrnehmung" und "experimentelle offene Form" betrifft, als für seine Zeit einzigartig zu bezeichnen ist. Whitman setzte - so kommentiert es Steven-Paul Martin (1988) - Maßstäbe für die Rekonstituierung des Worts als physikalische Präsenz, wodurch die Wiederaneignung des Körpers als Bereich signifikanten Wissens möglich wurde. Evident wird sein Zelebrieren des weiblichen Körpers in "Song of myself' und dann in der Eloge auf die physikalischen Energien des weiblichen Körpers - "I sing the body electric". Die Poesie des Köipers der Sternstunde setzt nicht auf die Überhöhung des Weiblichen als Natur, die mythische Macht matriarchalischer Energien, wie eine vergleichende kontrastive Lektüre ergibt. Es finden sich Erzählerkommentare, die sich als direkte, dekon-

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struierende Antwort auf Walt Whitmans Gleichsetzung der "Seele der Natur" mit "weiblichen Energien" in Leaves of Grass (1855) lesen lassen (S. 97). Es ist das Verdienst von Hélène Cixous in einer vergleichenden Lektüre von Ciarice Lispector, Rilke und Rimbaud, die andere Imagination in einen Prozeß weiblicher Wahrnehmung - die dem Alltag, den Dingen, dem Profanen zugewandt ist - zu stellen und als Bruch mit der Ökonomie männlicher Logik zu beschreiben. Doch erhebe ich Einwände gegen ihre Theorie der weiblichen Schrift auf der Basis der Lektüre von Clarice Lispector und auch gegen ihre Annahme, Ciarice Lispector habe die "großen Philosophen" nicht gelesen. Das Exeptionelle bei Ciarice Lispector liegt nicht so sehr im Schaffen einer weiblichen Schrift, sondern eher in den Entwürfen, der Schreibpraxis, in der die Trennung zwischen Ethik, Politik und Ästhetik aufgehoben wird und somit ein abweichender Begriff von Ästhetik zum Tragen kommt. Kennzeichen dieser Ästhetik ist nicht eine Suche nach Balance, Harmonie, Erhabenheit, sondern vielmehr das Befremdliche und Beunruhigende. Eine weitere Annäherung an den Text soll über den Umgang mit Textstrategien hinaus, Ciarice Lispectors Beitrag in seiner Übernahme, Umformung und Zurückweisung der großen Meistererzählungen beschreiben. Noch einmal Melodrama: Der Tod der Macabéa Mit Paul Valéry wissen wir, wie entscheidend die Formen des Beginnens und des Endens eines narrativen Textes sind. Auf das affirmative "Ja" zu Beginn der Erzählung waren wir bereits eingegangen. Daß der Text auch mit einem expliziten "Ja"-Wort schließt, ließe sich zunächst als demonstrative Geste schriftstellerischen Kalküls interpretieren: ein geschlossener Text, der in der Tradition der Fabelkomposition steht. Es geht an dieser Stelle jedoch weder um das Problem des guten Abschließens noch um einen Beitrag bei der Suche nach Kriterien des Abgeschlossenseins des Kunstwerks einerseits und seiner Offenheitswirkung andererseits, wie sie in der Poetikdiskussion und Fiktionstheorie in der Folge von Frank Kermodes berühmtem Buch The Sense of an Ending (1966) geführt wird. Vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf die spezifische Form im Lispectorschen Diskurs, erzählerische Grenzen zu überschreiten, den Versuch, die Wiederholung desselben in der Geschichte in Frage zu stellen und auf das symbolische Erfassen der Welt zu wirken. Im Text eröffnet sich mehrfach, insbesondere aber in der Schlußpassage, eine utopische Dimension. Explizit for-

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muliert durch die Frage "quanto ao futuro", die als dreifaches Echo durch den Textraum zieht. In westlichen, "klassischen" modernen Romanen spielt die Figur des Todes eine tragende Rolle, sie schließen fast alle mit dem Tod des Helden. Laurence Sterne hat dies zum Anlaß genommen, eine Erzähltechnik der Retardierung des Zeitablaufs zu entwickeln. Die Abschweifung ermöglicht es, Tristram Shandys Tod hinauszuzögern. Ein Erzählerkommentar der Sternstunde bezieht sich auf diese Tradition, indem verkündet wird, der Tod sei die Lieblingsfigur (S. 101). Peter Brooks geht bei seinen Überlegungen (1982) zu der Beziehung zwischen Tod und Erzählen - mit psychoanalytischer Ausrichtung - davon aus, daß Erzähl-"plots" ein Ende voraussetzen, wie das Leben den Tod und daß, unter dieser Perspektive des Endens, die Erzählung, als Repräsentation des Lebens, Bedeutung annimmt. Es sei das Begehren nach Bedeutung, das den Leser dazu bewege, sich das Ende herbeizuwünschen. Den Sinn des Endens im Erzählen oder im Leben auszuradieren, käme einem Ausschluß von Bedeutung gleich. In La muerte de Artemio Cruz (1962) beschreibt Carlos Fuentes einen ganzen Roman lang das Sterben mit ironischem Blick auf die Literatur der erschöpften Helden. Ciarice Lispectors Antwort der Sternstunde auf diese großen Meistererzählungen fällt noch etwas anders aus. Macabea stirbt einen melodramatischen Tod. Doch gibt es bei Ciarice Lispector keine "schöne Leiche". Ciarice Lispector schreibt gegen diesen Topos in der Repräsentation von Weiblichkeit in der westlichen Kunst und Literatur an, der die symbolische Opferung der Frau im Bild der "schönen Leiche" wiederaufzuheben trachtet. Es ist eine weibliche Stimme, die mit der männlichen Erzählerstimme um den Tod und die Art des Sterbens ringt. Ciarice Lispector läßt dazu Versionen des Sterbens, wie sie die westliche Literatur, die Theaterbühne, die Kinoleinwand, der Bildschirm liefern, Revue passieren. Durch die Vermischung divergierender Perspektiven und Wahrnehmungen, symbolischen und realen Räumen/Orten, von profanen/realen Bildem/Ikonen aus der religiösen Sphäre, von populär-alltäglicher und avangardistisch-erhabener Repräsentation wirkt die Szene befremdlich und beunruhigend. Der ständige Wechsel zwischen Distanz und Nähe verhindert eine kathartische Wirkung, durchkreuzt mögliche Gefühle der Erhabenheit, die Lektüre wird ungenießbar. Und dennoch sucht Ciarice Lispector die reale Gewaltanwendung zunächst mit mystischem Bann zu belegen, um dann nach dem "Gran Finale" das Publikum mit der ironischen Frage und einer affirmativen, einladenden Geste in die "gemeinsame Wirklichkeit" zu entlassen: O final foi bastante grandiloqüente para a vossa necessidade? [...] Näo esquecer que por enquanto e 47

tempo de morangos. Sim (S. 103). Das Moment der Erinnerung in Bezug zur Gegenwart verweist auf die Zukunft. In diesem Umgang mit Zeit, Raum und Erzählen manifestiert sich ein utopisches Denken, das geschichtsrelevant wird. In den anderen Lektüren wird sich zeigen, ob die hier ermittelte utopische Dimension manifest wird und möglicherweise zu einem Entwurf anderer Geschichtlichkeit beitragen kann.

Geschichten von der Liebe: Eine Lehre oder das Buch der Lüste In der Lektüre der Sternstunde wurde über "civil rights" debattiert, indem die Effekte ethnischer Differenz - die Ausgrenzung bzw. Marginalisierung des "Subalternen" konfiguriert durch die "nordestina" - thematisiert wurden. In Eine Lehre oder das Buch der Lüste12 manifestiert sich diese Auseinandersetzung verstärkt auf der Ebene der Geschlechterdifferenz. Entscheidend ist - das muß wiederholt werden - , wie Ciarice Lispector mit einer Strategie des Neubeschreibens des Privaten die Hierarchisierung und Ausgrenzung, die durch die Trennung und geschlechtliche Zuschreibung der privaten und der öffentlichen Sphäre, des Körperlichen und Seelischen im westlichen Zivilisationsmodell konstituiert ist, angreift. Der Diskurs über Liebe, Begehren, Leidenschaft und die Gattung des Liebes- und Bildungsromans bilden die Hauptfelder der Analyse. Die kritische Hinterfragung westlichen rationalen Denkens, der Übernahme des Projekts der Moderne und deren katastrophalen Auswirkungen auf Brasilien nach 1964, die in der Sternstunde explizit diagnostiziert werden, zeichnet sich schon früher ab in den Erzählbänden: Felicidade clandestina (1971), Onde estiveste de noite (1974), A via crucis do corpo (1974). Ciarice Lispector formuliert in diesem vorletzten Roman eine Ethik der Liebe und gibt damit eine radikale, anti-utopische Antwort auf Konzepte von Moderne und Identität, wie sie in modernen aufklärerisch orientierten wissenschaftlichen Diskursen psychologischer, sozialpädagogischer, soziologischer Ausrichtung repräsentiert werden. Symptomatischerweise findet die Liebeserfahrung zwischen einer Grundschullehrerin aus der Provinz und einem Professor der Philosophie, der sich am Sozialismus ori12

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Deutsch (1981), zitiert wird aus der brasilianischen Ausgabe Uma aprendizagem (1969) mit Seitenzahlen in Klammern.

ou o llvro dos prazeres

entiert, statt. Ciarice Lispector liefert eine konkrete Beschreibung des sozialen Lebens und der Lebensphilosophie der intellektuellen Mittelklasse der 60er Jahre in Rio de Janeiro und nimmt in ihrer Gegenwartsdiagnose wesentliche Aspekte der Kritik an der emanzipatorischen Bewegung der 68er Generation in ihren Effekten als vorantreibende Kraft in der Umformung des sozialen Lebens vorweg. Dies gelingt ihr, indem sie die unmittelbare Wirkung und Bedeutung der neuen sozialen und politischen Praxis auf die weibliche Liebes- und Körpererfahrung - Kontrolle, Verletzung, Entbehrung, Hilflosigkeit - schildert. Gegen diese Effekte modernster Formen des Gesellschaftsvertrags setzt sie in einer Strategie der Verteidigung des Körpers und der Sinne weibliche Körper und Stimmen als Medien der Wahrnehmung und Kommunikation ein. Der weibliche Körper repräsentiert - wie in den Arbeiten der mexikanischen Malerin Frida Kahlo, den Texten von Rosario Castellanos und Elena Poniatowska - Ort und Quelle der Imagination und des imaginären Erlebens. 13 Eine Lehre oder das Buch der Lüste entsteht nach der Passion nach G.H., der meistumstrittenen Fiktion und vor dem von der Kritik "geliebten" kleinen Meisterwerk Die Sternstunde. Diese drei Texte bilden eine Art offener Trilogie, die durch andere Texte erweitert werden kann, z. B. durch die Erzählung Liebe (1966). Eine Lehre oder das Buch der Lüste führt den philosophischen Diskurs über die Konstituierung des (weiblichen) Subjekts der Passion nach G.H. auf einer spezifischen Ebene - der Frau als liebendes Subjekt - fort. Der brasilianische Ciarice Lispector-Spezialist Benedito Nunes hält Eine Lehre oder das Buch der Lüste aufgrund der Betonung des Dialogischen für eine Replik auf die monologische Form der Passion nach G.H. Dagegen ist einzuwenden, daß es sich hier nicht um ein monozentrisches Erzählen handelt: zu Beginn der Passion steht ein Ich, das sich explizit an ein Du - den Leser - richtet und diese Kommunikationssituation, die ein "Wir" impliziert, bleibt im Text durchgängig präsent. Das von Nunes betonte dialogische Moment der Lehre oder das Buch der Lüste kann sich nur auf die Präsenz der beiden Figuren, die ein Paar bilden, stützen, denn der erzählerische Diskurs wird von wenigen Dialogen unterbrochen. Der philosophische Diskurs findet in der Sternstunde seine Fortsetzung. Es handelt sich um einen Diskurs mit verschiedenen Gewichtungen - geschlechtliche und ethnische Differenz - aber nicht um verschiedene Register, wie Nunes (1981) bemerkt und dafür die Thematisierung des Sozialen ins Feld führt. Vgl. J. Borsa 1990. «Frida Kahlo: Marginalization and Critical Female Subject». In: Third Text. Nr. 12. S. 21-40. C. Schäfer 1992. Textured Lives. Women. Art, and Representation in Modern Mexico. Tucson & London.

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Das Schreiben von Eine Lehre oder das Buch der Lüste fällt in die Zeit als Ciarice Lispector journalistisch arbeitete und regelmäßig Chroniken für den Jornai do Brasil verfaßte, eine Gattung, die sie wegen der Hybridität interessierte. Eine Lehre oder das Buch der Lüste läßt sich auch als crònica in Fortsetzung lesen. Die Frage nach der Gattung dient nun, zu ermitteln, ob und auf welche Weise Ciarice Lispector literarische Diskurse ihrer Vorbilder übernimmt bzw. dagegen anschreibt. Geschichten von der Liebe oder "feministischer

Bildungsroman"?

Der Text ist eine Überlagerung der Gattungen des Liebes- und Bildungsromans, wie der Titel evoziert. Erzählmuster, Figuren und Ereignisse der Gattungen werden pastichiert und/oder glossiert. Die Begegnung zwischen Lóri und Ulisses die Namengebung hat immer wieder zu "mythologischen" Lektüren geführt, dabei zeigt Ciarice Lispector hier gerade die Möglichkeit vor, einen abweichenden, eigenen Mythos zu schreiben - ist zufällig. Sie lebt von den monatlichen Wechseln ihres einst sehr reichen Vaters. Ulisses widmet sein Leben der Arbeit an der Universität und verbringt seine Freizeit in den Clubs, Restaurants und Bars der Südzone von Rio de Janeiro. Lóri lebt zurückgezogen. Sie hat nur eine Freundin, die Kartenlegerin. Zum Zeitpunkt ihrer Begegnung mit Ulisses steckt sie in einer Krise. Nach Ablauf eines Jahres, in dem sie sich wöchentlich in den von Ulisses frequentierten Orten zu Gesprächen treffen, verbringen sie die erste Liebesnacht, beschließen zu heiraten und eine Familie zu gründen. Die episodenhaft erzählte Liebesgeschichte, die narrativen Titel und insbesondere das bei der feministischen Kritik umstrittene "Happy-end" verweisen auf die melodramatische Gattung der Fortsetzungsgeschichten, der Radio- und Telenovelas. Doch es geht Ciarice Lispector weder um das Erzählen von Ereignissen und ihren Konsequenzen, noch um die Biographie eines individuellen Schicksals oder die Schilderung des Innenlebens der Protagonisten. Die Leitlinien und die Logik der Handlung zeigen, daß Ciarice Lispector auf die Dramaturgie sowohl der Liebes- als auch der Bildungsromane zurückgreift, wie sie sich in verschiedenen Formen seit der Troubadourlyrik bzw. mit den Romanen des 18. Jahrhunderts entwickelt haben. Ihre Dynamik basiert auf den Geboten, Prüfungen, Gunstbeweisen, wie sie in den allegorischen Erzählungen, den Romanzen und heute in der hybriden Gattung der Telenovela zu finden sind. Doch die Problematik besteht nicht in der Begegnung der Liebenden und der Entwicklung der Liebesgeschichte, der Konstruktion eines Liebesraums oder im 50

Erlernen der Kunst des Liebens. Es geht bei Ciarice Lispector nicht um die Darstellung eines neuen Liebesideals, die Selbstverwirklichung der Frau durch das Schreiben eines weiblichen Bildungsromans mit emanzipatorischer Intention, wie es von Seiten feministischer Kritikerinnen (z.B. von C. Ferreira Pinto und E.K. Labovitz) vorgeschlagen wird. Die Strategie des Textes liegt darin, gegen das Repräsentationssystem westlicher Zivilisation, das das Liebesverlangen der Frau domestiziert, den Körper der Frau künstlich zerlegt und ausgrenzt, anzuschreiben. Ciarice Lispectors Roman ist der Versuch einer Neubetrachtung der Kultur der Liebe, ihrer Bilder und Repräsentationsweisen. "Wer bin ich?" - Ein "Beben" im philosophischen

Diskurs

Es ist ein "meditativ" dialogischer Diskurs, in dem auf literarisch-poetische, philosophische oder theologische Reflexionen, wissenschaftliche Konzepte der Moderne zurückgegriffen wird, um sie zu glossieren oder um sich auf diese zu stützen. Im philosophischen Diskurs von Piaton bis Descartes, Hegel und Kant läßt sich - folgen wir der Analyse Julia Kristevas (1983) der Versuch ablesen, der Liebeserfahrung einen Zugriff auf die Realität zu sichern. Das Irritierende wird reprimiert und das Erleben auf ein "höchstes Gut" reduziert oder auf eine vom "absoluten Geist" bestimmte "initiatorische Reise". Lediglich im mystischen Diskurs findet "heiliger Liebeswahn" Raum, sich zu entfalten. Descartes vertritt 1649 in der "Abhandlung über die Leidenschaft der Seele" die Idee der Vorherrschaft der Vernunft und der Erkenntnis über die Leidenschaft. Pascal hingegen unterstreicht das Ineinandergreifen von Liebe und Vernunft. Für ihn ist Liebe nicht Verblendung, sondern richtige und klare Anschauung der Wahrheit. Gegen beide Diskurse richtet sich Ciarice Lispectors "Liebeslehre" und wider ihre Fortsetzung in Konzepten der Moderne, die in Bildungs- und Entwicklungsromanen, nach der Definition Wilhelm Diltheys, vermittelt werden. Den an Vernunft, Wissen und Realität orientierten Diskurs - die Gewißheit, daß das "Ich" das "Subjekt" des Denkens ist - konfrontiert Ciarice Lispector mit dem Körper als Medium kollektiver Repräsentation. Sie weist den domestizierenden Gedanken in Freuds Theorie vehement zurück, der die Liebe zur "Kur" erhebt, indem die vermittels Sprache freigelegten Liebesverwirrungen, Täuschungen, körperlichen Zustände wieder an die Realität gebunden und zerstört werden. Loris und Ulisses Beziehung läßt sich als die eines Analytikers zu einer Patientin, eines Erwachsenen zu einem Kind, eines Vaters zu seiner Tochter, eines Ehemanns zu seiner Frau beschreiben. Bei ihren wöchentlichen telefonisch ver51

einbarten Treffen "erzählt" sie ihm, "was passiert ist". Er erteilt Ratschläge, die sie zwar gewissenhaft aufnimmt, aber kaum befolgt. Mit dieser Beschreibung skizziert Ciarice Lispector eine Typologie des Geschlechterverhältnisses. Und sie glossiert die pädagogisch-didaktische Intention der Bildungsromane, die im Fall der Frau deren Funktion auf den "Reifungs"-prozeß, die Einübung in Eheund Mutterschaftspflichten beschränkt. Eine Lehre oder das Buch der Lüste ist eine Lehre über "die Frau" in ihrer Andersartigkeit. Wir betonen aber, daß es sich nicht um den Versuch handelt, einen weiblichen Bildungsroman zu schreiben, mit dem Modell einer weiblichen Heldin, die die Voraussetzungen des dynamischen, wandlungsfähigen Protagonisten erfüllt, als Antwort auf den Bildungsroman als explizit männliche Gattung. Die Andersartigkeit der "Frau" manifestiert sich in bestimmten Optionen. Ciarice Lispectors Entwurf wählt ein Register ohne Dichotomien, in dem eine Philosophie des "Vergessens", "Nicht-Wissens", "Nicht-Verstehens", "kosmischen Verstehens" formuliert wird, deren Ordnungsprinzip als eine akzidentielle Ontologie (Foucault) beschrieben werden kann. Paradigmatisch sind die Begegnungen und Dialoge zwischen "Ihr" und "Ihm". Ciarice Lispector verwendet explizit die Geschlechtspronomen, um die Repräsentationsfelder zu markieren. Der Mann als der Wissende erteilt Lektionen in Analysesitzungen, er beherrscht den Diskurs der Erkenntnis, der Wahrheit, der Vernunft, der Realität. Die weibliche Stimme "untergräbt" und glossiert in einer Strategie doppeldeutiger Kommentare die männliche Stimme, diese Instanz der Macht, die über Repräsentationsweisen entscheidet. Prägnant wird dies gleich zu Beginn des Romans. "Er" formuliert die Forderung nach Ich-Identität, nach einem sprechenden Subjekt. Als Antwort erfolgt als Verteidigung der Körperlichkeit und der Sinne eine unmittelbare körperliche Reaktion: ele quería ensinar-lhe [...] quería que ela, ao Ihe perguntarem seu nome, náo respondesse "Lóri" mas que pudesse responder "meu nome é eu", pois teu nome, dissera ele, é um eu [...] entáo do venire mesmo, como um estremecer longínquo de terra que mal se soubesse ser sinal do terremoto, do útero, do coraqáo contraído veio o tremor gigantesco duma forte dor abalada, do corpo todo o abalo (S. 9-10). Das Problemfeld 'klassischer' modemer Literatur, die Frage von Ich-Identität, individuellem Bewußtsein, Enfremdung des Ich in der modernen (bürgerlichen) Gesellschaft, Introspektion des verunsicherten Ich, wird hier aufgerufen. Ganz offensichtlich zeigt sich dies in der wiederholt formulierten Grundfrage: "Wer 52

bin ich?" Konzepte der Identität, wie sie in der soziologischen Diskussion und im philosophischen Denken des Humanismus entwickelt wurden, erfahren eine kritische Hinterfragung, indem sie deplaziert werden. Von Interesse ist, wie sich diese Akzentverschiebung im narrativen Diskurs manifestiert. Die traditionelle Soziologie nimmt für die "Person" einen ontologischen Vorrang in Anspruch gegenüber den Rollen und Funktionen, durch die diese als soziales Ich sichtbar wird. Im philosophischen Denken erscheint das soziale Feld nur äußerlich mit der Definition der Person verbunden, gleichgültig ob diese durch Bewußtsein (Fichte), Sprechfähigkeit (Humboldt, Hegel) moralische Urteilskraft (Kant) strukturiert ist. Die Frage, "Wer bin ich?", die Suche nach der Einswerdung, wird zum neuralgischen Punkt im Diskurs der Liebenden. Zum einen wird die Frage zum Anlaß genommen für ein Frage-Antwortspiel und damit in ihrer Ernsthaftigkeit glossiert. Zum anderen gibt der Umgang mit der Frage den Blick frei auf unterschiedliche Identitätsauffassungen und ihre jeweilige Funktion. Für ihn, den Philosophieprofessor, dient Identität eher als normatives Ideal, während sie, die Grundschullehrerin, die Kategorie als deskriptives Merkmal der Erfahrung auffaßt. In Ulisses' abgezirkeltem Lebens- und Liebesraum wird die Frage, "Wer bin ich?" zum Tabu, das von ihr verletzt wird. Loris Antwort gegen Ende der "Lehre" lautet immer noch nicht "Löri oder Ich", sondern "Wir". Aus einem Impuls heraus, der von "Nicht-Wissen", "Nicht Verstehen", das "Wissen Vergessen", "kosmischem Verstehen", von innerer körperlicher Erfahrung geleitet wird, verändert sie die "verbotene" Frage, indem sie eine abweichende Antwort gibt: - Näo encontro ainda uma resposta quando me pergunto: Mas acho que agora sei: profundamente sou aquela que vida e tambem a tua vida. Eu bebi a nossa vida. - Mas isso näo se pergunta. E a pergunta deve ter outra se faga [...] Eu, que sou mais forte que voce, näo posso "quem eu sou" semficar perdido (S. 176).

quem sou eu? tem a proprio resposta. Näo me perguntar

In der Akzentverschiebung der Basisfragen und dem divergierenden Status des "Ich" im sozialen Feld - das "Ich" steht im engen Verhältnis zum "Du" und es gibt eine Affinität zum "Wir" - wird tendenziell eine andere Erfahrung modernen Lebens beschrieben. Das Interesse der Lektüre orientiert sich weiter an der Frage, was passiert, wenn Regeln, Konventionen, Fragen des modernen (narrativen) Diskurs umgeformt werden.

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Plädoyer für eine sinnliche Philosophie Der Abwesenheit und Verachtung, die dem Körper in der philosophischen Tradition des Okzidents im allgemeinen entgegengebracht wird, 14 begegnet Ciarice Lispector in ihrem philosophischen Diskurs mit der Referenz auf Philosophen, die Ausnahmen bilden, wie Nietzsche und Valéry, und der allgegenwärtigen Präsenz des Körpers. Als symbolischer Schnittpunkt von Privatem und Politischem nimmt der Körper im Diskurs eine besondere Stellung ein. Der Körper ist die fundamentale Quelle für die Motivation und die Stimme wird als Ausstrahlung körperlicher Energien gefaßt. In Paul Ricoeurs "Phänomenologie des Körpers" finden sich Korrespondenzen zu Ciarice Lispectors Überlegungen. Ricoeur hat in seiner Philosophie de la volonté (1950) den Körper als das "Feld der Motive", als "das affektive Medium aller Werte" bezeichnet. Neben der Geschichte ist der Körper die zweite Ebene der Motivation, Geschichte und Körper sind die Wurzeln des 'Nicht-Wollens', beide Ebenen wähle ich nicht selbst. Ricoeur stellt eine Verbindung zwischen kollektiver Repräsentation und dem Körper als Medium her, wenn er soziologische Studien heranzieht, die den Einfluß kollektiver Repräsentation auf abstraktes Denken, Erinnern bis hin zu organischen Bedürfnissen - dem körperlichen Begehren - analysieren. Die Grenzen dieser soziologischen Reflexionen sieht Ricoeur in der Beziehung, die zwischen den betroffenen Gefühlen und ihrer Repräsentation und dem "Wollen" hergestellt wird. "Wollen" als "Einfluß" zu übersetzen - das durch die Repräsentation ausgeübt wird - , die in das Bewußtsein eindringt, führe zu der Auffassung von der Autonomie des Bewußtseins. Ricoeurs Kritik gilt einer Sozialpsychologie, die den Begriff der kollektiven Repräsentation in eine naturalistische Psychologie einschreibt. 15 Ciarice Lispector begibt sich nicht auf diese sozialpsychologische Ebene, in der es zu einer Fusion zwischen dem Sozialen und dem Organischen/Biologischen kommt. Sie artikuliert das affektive Moment kollektiver Repräsentation in der Gefühlssphäre ihrer Figuren. Symptomatisch ist hier die Antwort der weiblichen Figur auf die Forderung nach individuellem Bewußtsein, die wir noch einmal zitieren: Eu bebi a nossa vida (S. 176).

14

N. Onfray 1991. L'art de jouir. Pour un matérialisme hédoniste. Paris.

15

P. Ricoeur 1988. S. 117-119.

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Poetik der Liebe - Wider den modernen Liebesdiskurs Wir hatten einführend auf die Gegenwart zentraler Motive des Liebesromans hingewiesen. An zwei Fällen - Baudelaire und Stendhal - sowie an entscheidenden Momenten in den Liebeserzählungen der Surrealisten und dem international kursierenden Konzept der "freien Liebe" der "68er Generation" soll exemplarisch Ciarice Lispectors Auseinandersetzung mit dem modernen Liebesdiskurs aufgezeigt werden. Ciarice Lispector spielt mit der Präsenz von Liebeserfahrung, wie sie in der Metaphorik und den Metamorphosen Baudelairescher Texte zu finden ist und von Liebesgefühlen, die sich umwandeln in politische Liebe, wie bei Stendhal oder umgekehrt von Freiheitsideen, die mit "Liebe" besetzt werden, wie in den politischen Liebesliedern der 60er Jahre, genauer des Prager Frühlings. Sie wendet sich gegen ein dichotomisches Denken, das sich beispielsweise im Diskurs über die Liebe bei Baudelaire manifestiert. Julia Kristeva hat in ihrer Baudelaire-Lektüre auf zwei Formen von Liebeserfahrung aufmerksam gemacht: als "leibeszerstörende Leidenschaft" oder als "schwärmerische Verehrung eines unerreichbaren Ideals". Zwei Objekte der Liebe durchzögen die Texte Baudelaires, einerseits l'object: femme-nature, andererseits das "Erhabene", eine hauteur idéalisée qui se nomme intellectuellement Dieu,16 Auf dieser binären Logik basiert auch die Liebesphilosophie des Philosophieprofessors, der sich in die okzidentale Geistestradition stellt und bekennt, er wolle Lóri nach seinem Bild entwerfen. 17 Als innovativ gilt Baudelaires poetische Strategie der Metamorphose, in der das Liebesobjekt verschwindet und an dessen Ort eine Objektivierung des Subjekts tritt.18 Lispector zelebriert diesen Vorgang der Metamorphose, der an Freuds "primäre Identifizierung" erinnert, wie Julia Kristeva bemerkt. Auch der Duft, das Liebesmotiv par excellence bei Baudelaire, für Prousts Welt konstitutiv, wird zelebriert. Doch das machtvolle Bild, das die Verschmelzung der Liebenden bei Baudelaire repräsentiert,19 besitzt bei Ciarice Lispector nicht die verei16

J. Kristeva 1983. S. 405-406.

17

C. Lispector 1969. S. 53.

18

Baudelaire erklärt diesen Prozeß: Dein Auge heftet sich auf einen Baum [...] was im Gehirn des Dichters nur ein höchst natürlicher Vergleich wäre, wird in deinem zur Wirklichkeit. Du leihst zunächst einem Baum deine Leidenschaft, deine Begierde oder Melancholie, sein Ächzen und Schwingen wird zu deinem, und bald wirst du der Baum. Ch. Baudelaire 1986. Gesamtwerk. Frankfurt. S. 402.

19

J. Kristeva 1983. S. 378.

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nende Konnotation, es wird nicht funktionalisiert, sondern steht als Botschaft seiner selbst. Es erscheint als akzidentelles Zeichen der Gefühlsintensität, es verweist auf seine eigene Performance. Stendhals "moderner" Liebesdiskurs, sein Essay Über die Liebe (1966), rückt den Blick als ersten Liebesboten wieder ins Zentrum. Die Faszination für das Sichtbare und die Verherrlichung der Brechungen des Blicks, des Trugbilds, begleitet die Beschreibung des Liebeszustands und deutet auf die Stendhalsche Metapher der "Kristallisation". Der visuelle Kult der Liebe 20 entpuppt sich als ein Inbesitznehmen und Unterwerfen der Geliebten. Die Surrealisten haben in ihren experimentellen Arbeiten mit dem Unbewußten versucht, das Unsichtbare, das früher Gott war, sichtbar zu machen; Mythen der Liebe zu klären, indem nicht erreichbare Zonen des Imaginären mobilisiert und das Verdrängte visualisiert werden. 21 In der modernen Liebeserzählung versuchen André Breton und Georges Bataille in einer philosophischen Meditation, eine Ebene zu erreichen, in der das "Erhabene" und das "Verabscheute" in einem Blitz verschmelzen. Benedite Nunes greift das Moment auf und vergleicht Ciarice Lispector in ihrem Herangehen an das Unbewußte, ihrer Faszination "durch die Libido, das Numinose und den Tod" (1981) mit Antonin Artaud und Georges Bataille. Ich meine hingegen, daß sie genau dagegen anschreibt. Mit Freud wurde die Zensur des Begehrens, der Lust, der Liebe aufgehoben. Doch das Benennen der Perversionen, ihre "wissenschaftliche" Beschreibung und künstlerische Visualisierung 22 wird der Maßlosigkeit, der Abgründe der Liebeserfahrung nicht gerecht. Ciarice Lispector wendet sich gegen die künstliche Zerlegung und die Hierarchisierung der Sinne, die sich als gemeinsame Bewegung in den sehr unterschiedlichen Diskursen über die Liebe manifestiert. Wir hatten im Rahmen der Geschichten über die Liebe auf die Bedeutung des "revolutionären" Konzepts der "freien Liebe", das weltweit in der 68er Studentenbewegung postuliert wurde, für das Schreiben der Lehre oder das Buch der Lüste aufmerksam gemacht. Paradigmatisch für die Kritik Ciarice Lispectors an diesen diskursiven Praktiken sind die Dialoge der "Liebenden", die das "revolutionäre" Selbstbild der Grenzüberschreitung und die proklamierte Veränderung des sozialen Feldes korrigieren. Einerseits wird in diesen Gesprächen 20

Jean Starobinskis "StendhaT-Studie (1961) - eine Problemgeschichte der Imagination - trägt den paradigmatischen Titel Das lebende Auge. Vgl. J. Starobinski 1961. L'oeil vivant. Paris.

21

C. Rincón 1989. S. 34.

22

Xavière Gauthier hat in einer Studie über Surrealismus und Sexualität ein Register der Perversionen erstellt Vgl. X. Gauthier 1971. Surréalisme et sexualité. Paris. S. 207-230.

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zwischen Lóri und Ulisses eine typische weibliche Biographie einer an metropolitanen Vorbildern orientierten Frau der Oberschicht entworfen und andererseits die in Konventionen verhaftete Haltung eines sozialistischen Intellektuellen traditioneller Herkunft nachgezeichnet. Mit ironischer Distanz wird in folgendem Zitat die "Unfreiheit" und Hierarchie der Geschlechterbeziehung, die sich aus der Gültigkeit des Gesellschaftsvertrags ableitet und die sich im Diskurs der Kontrolle, in Reglementierung, Unterbrechungen, Agressionen - der Geschlechterpolitik - manifestiert, kommentiert: Com um tergo da fortuna que restara dava para eles viverem corno ricos [...] Näo contara a Ulisses por vergonha: eie era [...] socialista [...] - Por que voce veio para o Rio? - E que eu näo queria [...] näo queria me casar, queria certo tipo de liberdade [...] - Quantos amantes voce teve? interrompeu eie. Eia silenciou [...] Quantos amantes voce teve? perguntou abruptamente. [...] Elafazendo um esforqo sobre si mesma disse ràpido: - Cinco. Eie engoliu a dor e mudou de assunto (S. 49-51). Prägnanter wird die Situation der Geschlechterpolitik noch in der Selbstbeschreibung der modernen Liebeserfahrung. Das Liebeserlebnis wird als eine Simulation beschrieben, da selbst der Körper nicht der eigene ist: E por enquanto eia näo tinha nada a Ihe dar, senäo o proprio corpo. Näo, nem o pròprio corpo talvez: pois com os amantes que tivera eia corno que apenas emprestava o seu corpo a si pròpria para o prazer, era só isso, e mais nada (S. 120). Damit beschreibt Clarice Lispector ein Phänomen, das Jean Baudrillard mit dem Begriff der Simulation belegt hat. Er sieht die Informationsgesellschaft - in der nur noch die glatte Oberfläche der Kommunikation herrscht - durch Verlust der Wirklichkeit, Ende der Innerlichkeit gekennzeichnet. 23 Vgl. J. Baudrillard 1978. Die Agonie des Realen. Berlin. Vgl. auch Manfred Schneiders monumentale Studie über den Liebesdiskurs der abendländischen Kultur Liebe und Betrug. In einer tour de force von Piaton bis Derrida, von Odysseus bis Kinsey erforscht er die Sprache der Liebe - deren Bewegungs- und Erneuerungsprinzip er mit dem in der Theoriedebatte kursierenden Begriff "Recycling" belegt - als Wahrheitsverkündigung. Frappierend ist vor allem, daß Manfred Schneider Julia Kristevas eng verwandten Beitrag Histoires d'amour (1983) unberücksichtigt läßt. M. Schneider 1992. Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens. München.

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Trotz aller Techniken, die den weiblichen Körper besetzen, trotz des ganzen Wissens, das ihn bestimmt und formalisiert, scheint er noch nicht gänzlich entsakralisiert, d.h. institutionalisiert zu sein. Es gilt weiterhin zu ermiteln, wie Ciarice Lispector den weiblichen Körper als Liebesraum verteidigt. Eine Ethik von der Liebe Das Ende der Zensur des Begehrens, ein Plädoyer für die Liebe, die Lust, frei gelebte Sexualität kündigt sich im zweiten Teil des Titels an: Oder das Buch der Lüste. Der Titel provozierte die Erwartung auf ein feministisches Liebeskonzept. Feministische Lektüren des Textes stehen jedoch vor dem Dilemma, auf Hypothesen zu stoßen, die in der feministischen Forschung neuralgische Punkte bilden: Frau und Natur, Feminismus und Gefühl, Liebe und Körper, Liebe und Schmerz. So erfolgt eine Abwehrreaktion von Seiten feministischer Kritik, wenn der Faktor Gefühl ins Blickfeld rückt, insbesondere dann, wenn weibliches Liebesgefühl in Zusammenhang mit "Unterwerfung", Schmerz und Leiden steht, wie in folgenden Passagen: Quando este (o coraqäo) se apresenta todo nu, nem é comunicagäo, é submissäo [...] ela que reconhecia com gratidäo a superioridade gerat dos homens que tinham cheiro de homens e näo de perfume, e reconhecia com irritagäo que na verdade esses pensamentos que ela chamava de agudos ou sensatos já eram resultado de sua convivencia mais estreita com Ulisses (S. 36,18). Das Akzeptieren einer solchen Haltung gleicht einer Bankrotterklärung westlich feministischer Grundsätze: Se aceitarmos esta hipótese, näo há como endossarmos a leitura feminista deste texto.24 Ciarice Lispectors Fiktion ist als klare Abgrenzung zu einem auf das Patriarchat fixierten (westlichen) feministischen Diskurs zu lesen, der, dem Modell vom "Kampf der Geschlechter" verhaftet, die Liebe verwirft und die Frau als die

D. Marling 1985. «A sexualidade feminina em Ciarice Lispector: géneros literarios e poder». Colóquio Foucault. USP 15.-20.4.1988, apud N. B. Gotlib 1989. S. 21. 58

"Liebende" ausgrenzt. 25 Es sollte nicht überraschen, die von feministischen Positionen abweichende Vorstellung von der Geschlechterbeziehung in folgendem Erzählerkommentar zu lesen: Lóri suportava a luta porque Ulisses, na luta com eia, näo era o seu adversärio: lutava por eia (S. 75). Clarice Lispector akzeptiert die Komplementarität der Geschlechter, diese für westliche Feministinnen ungeheuerliche Auffassung, die Geschlechtszugehörigkeit als Gegebenes anzunehmen. Frau und Natur Feministische Positionen haben Lévi-Strauss' Unterscheidung von Natur und Kultur als Grundlage übernommen, um Konzepte zu entwerfen, die Geschlecht als Materie, Geschlecht als Instrument kultureller Bedeutung ansehen. 26 Anthropologische Studien zeigen, wie dieser naturalisierende Diskurs zu einer einseitigen geschlechtlichen Zuschreibung binärer Oppositionen Natur/Körper = weiblich, Kultur/Geist = männlich führt, aus der sich die Sexualpolitik konstituiert und legitimiert.27 Einige feministische Kritikerinnen halten Ciarice Lispector vor, Frau mit Natur gleichzusetzen und damit zur Mystifizierung des "ewig Weiblichen" beizutragen, die "Realität", d.h. die Unterwerfung der Frau festzuschreiben.28 Im gleichen Verfahren geht der Biologismusvorwurf an Hélène Cixous, 29 der ein Kernpunkt der "Essentialismus" Debatte der 80er Jahre ist. Wir nehmen die umfangreiche Diskussion, die das Verdienst hat, der Frage nach der Universalität der weiblichen Identität und männlichen Unterdrückung eine an25

Als Beispiel dient eine Definition vom Feminismus aus den 70er Jahren; sie verweist auf die negative Identifizierung von Liebe und Illusion und verurteilt den Hang der "Frauen" zum Sentimentalen. Sie lautet: Feministin sein heißt, nicht mehr auf den Märchenprinzen zu warten. Vgl. Jules Renard 1976. Journal. Paris. Apud M. Marini/C. Habib 1988. «Neuer Feminismus oder Post-Feminismus». In: Lettre International. Nr. 1/1988. S. 75.

26

J. Butler 1992. S. 66.

27

C. McCormack/M. Strathern (Hrsg.) 1980 Nature, Culture and Gender. New York.

2

®

29

D. Patai 1989. S. 51. Daphne Patai Verurteilung des lispectorschen Anti-Feminismus lautet: En posant un ordre universel immuable, l'oeuvre de Lispector dissout toutes ses possibilités de critique radicale et nous abandonne à une féminité et à une conception traditionelle de la nature humaine, à une féminité et à une virilité qui ne répondent finalement qu'à des paroles définis d'avance par la biologie. Une conclusion profonde se produit dans ses oeuvres de fiction entre l'existentiel et l'essentiel. D. Patai 1989. S. 66. Carol Armbrusters kritischer Titel: Hélène-Clarice: Nouvelle voix ist symptomatisch für die projizierende Identifizierung von Hélène Cixous' und Ciarice Lispector. Obwohl er sich kritisch auf das mimetische Schreiben Hélène Cixous bezieht, beweist sich im Text, daß eine Vermischung von Cixous und Lispector vorliegt und mit der Kritik von der eigenen Rezeption abgelenkt wird: Lispector durch Cixous entdeckt und gelesen zu haben. Vgl. C. Armbruster 1983. Ebenso undifferenziert erscheint mir das Herangehen von Daphne Patai, die den Biologismusvorwurf mit dem Begriff des Essentialismus belegt Vgl. D. Patai 1989, insbesondere S. 61.

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dere Richtung zu geben, zum Anlaß auf zwei Aspekte näher einzugehen: Körpererfahrung und Subjektproblematik. Der pauschalisierende Ansatz im Spektrum westlichen Feminismus' läßt die Vielfalt der kulturellen Konfigurationen der "Körper-Natur" unberücksichtigt. Eine Lektüre, die nur von einer einzigen vordiskursiven Konstruktion Natur (Körper/Geschlecht) ausgeht, wie z.B. Daphne Patai, übersieht, was im gegebenen kulturellen Kontext als "Natur" bestimmt wird und welche Strategie dahintersteckt. Das Bekennen zu einer "ursprünglichen", sensitiven, imaginären Verbindung von Körper und Natur, wie wir aufgrund folgender und anderer Textstellen behaupten, hindert Ciarice Lispector nicht daran, das Repräsentationssystem westlicher Zivilisation zu hinterfragen, das auf die Konstituierung des Ich als normatives Ideal baut, die Autonomie des Bewußtseins, Sprechfähigkeit, moralische Urteilskraft voraussetzt und das sich aus einer Theorie und Praxis von wirtschaftlichen Lebensinteressen ableitet. Das bedeutet, konkret gegen ein Wissens-Regime anzugehen, das marginalisiertes (weibliches) Liebesverlangen in seine Schranken weist und zu regulieren sucht. In Ciarice Lispectors Verständnis nährt sich das Liebesbegehren aus divergierenden individuell-kollektiven, archaisch-sakralen/profan-realen Impulsen. 30 Diese Form der Verbindung, die aus genannter feministischer Sicht die Gleichung von Körper-Weiblichkeit, Natur und Freiheit aufstellt, scheint mit Simone de Beauvoirs Vorschlag zu korrespondieren, den weiblichen Körper für die Frauen als Instrument der Freiheit einzusetzen. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, daß Beauvoirs Überlegungen auf einem Geist-Körper Dualismus basieren, während bei Lispector in der Nähe des weiblichen Körpers zur Natur eine Differenz markiert wird, ohne binäres Denken zu implizieren. Ciarice Lispector scheint von einer sexuell bestimmten Natur auszugehen, die das patriarchalische Gesetz als nicht universell und alles konstituierend denkt. Damit unterscheidet sie sich von französischen feministischen Positionen, wie sie z.B. von Luce Irigaray oder von Monique Wittig vertreten wurden. Irigaray geht von einem Geschlecht, dem männlichen aus, das die Unrepräsentierbarkeit der Frauen im phallologozentrischen Diskurs zur Folge hat. 31 Wittig (1981) be30

E sabia que essa heranga poderío fazer com que de repente eia quisesse mais, dizendo-se: näo, eu nóo quero ser eu somente, por ter um eu pròprio, quero é a ligagáo extrema entre mim e a terra friável e perfumada. An anderer Stelle: [...] sentía que se o seu mundo particular nao fosse humano, também haveria lugar para eia, e com grande beleza: eia seria urna mancha difusa de instintos, doguras e ferocidades, urna trèmula irradiando de paz e luta, como era humanamente, mas seria de forma permanente: porque se o seu mundo nao fosse humano eia seria um bicho. (S. 41).

31

L. Irigaray 1974. Speculum de l'autre femme. Paris.

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hauptet in der Folge von Simone de Beauvoirs These, daß die Frau Geschlecht ist, hingegen, daß es nur eine Geschlechtsmarkierung gibt, die "Weibliche", da das "Männliche" als das "Universelle" angesehen wird. Nach den Ausführungen zu Körpererfahrung komme ich zu dem zweiten Aspekt, der die Konzeptionen des Subjekts betrifft. Das verliebte Subjekt Die Differenz der Geschlechter bildet einen Ausgangspunkt für die Kritik an der Politik westlicher Repräsentation und am "klassischen" Subjektbegriff. Simone de Beauvoir ist bei ihrer Analyse der Mysogynie in ihrem Buch Das andere Geschlecht (1951) von einer stets männlichen Bestimmung des Subjekts ausgegangen. Luce Irigaray weist in ihrer Theorie (1974) daraufhin, daß Frauen innerhalb des westlichen Repräsentationssystems niemals nach dem Konzept eines "Subjekts" verstanden werden können. Der Metaphysik der Substanz zufolge haben Frauen kein "Sein", da sie als Relation der Differenz das Ausgeschlossene sind. Obgleich die Debatte über die Kritik am Subjektbegriff - die das Cartesianische cogito zum Ausgangspunkt nimmt - und an der Funktion des Subjekts innerhalb der Geschichte der westlichen Philosophie, die von seiten der Strukturalistengeneration in Frankreich von Claude Lévi-Strauss über Jacques Lacan und Michel Foucault 32 ausging und weltweit von Interesse wurde, die hier nicht geführt werden kann, soll ein Aspekt betont werden. Die Theorien über die "Krise des modernen Subjekts" sind nicht einfach auf die Situation in Brasilien zu übertragen, wie dies in vielen modernen Lektüren geschieht. Es müßte zunächst definiert werden, wie sich dieses "andere Subjekt" konstituiert. Ich hatte an anderer Stelle bereits auf die Überlegungen Gayatri Spivaks zum "subalternen Subjekt" und ihre Kritik an "der Selbst-Präsenz des erkennenden supra-geschichtlichen Selbst", das für den epistemologischen Imperialismus des philosophischen Cogito" charakteristisch sei, hingewiesen. Ich möchte nun keineswegs soweit gehen zu behaupten, daß Ciarice Lispector diese Kritik vorwegnimmt, aber vorbringen, daß es sich bei der Konstruktion der weiblichen Figur und der

Michel Foucault hat den Bruch mit dem Konzept Cartesianischer Rationalismus zu der Schlußfolgerung gebracht, indem er ihre Implikationen herausarbeitet. Die Krise des Subjekts ereignet sich in zwei Registern: sie betrifft den Ort, den Rationalität in der Geschichte der westlichen Philosophie einnimmt und die Rolle, die das Bewußtsein in den Subjektivitätstheorien spielt. Vgl. G. Canguilhem 1967. «Mort de l'homme ou épuisement du cogito». In: Critique. Nr. 242. S. 599-618.

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Beschreibung der problematischen Situation nicht um ein modernes Subjekt in der Krise oder eine Krise des modernen (bürgerlichen) Lebens handelt. Mit der Figur der Lóri entwirft Ciarice Lispector kein verunsichertes dezentriertes Subjekt, das mit den Erfahrungen der doppelten Entfremdung, Verlust der Ich-Identität kämpft und in der Sphäre der Liebe seine Gegenwelt sucht. Das Drama der Lehre oder das Buch der Lüste unterscheidet sich vom psychischen Drama des entwurzelten Ichs in der säkularisierten Zivilisation und das steht im Zusammenhang mit der Existenz von Räumen, die noch nicht gänzlich entsakralisiert sind, in denen kollektive Fähigkeiten wirksam bleiben. Es sind Zwischenräume, die auf der Grenze des Privaten und des öffentlichen, des Familiären und Sozialen, des Kulturellen und Wirtschaftlichen anzusiedeln sind. Ciarice Lispector kennzeichnet das soziale Leben in den Metropolen unserer Zeit als eines, in der die Analysesitzungen den einzigen Ort bilden, an dem der Gesellschaftsvertrag einen - wohlgemerkt: privaten - Raum schafft, der die Suche nach Liebe ermöglicht. Damit ist aber nur die eine Seite des modernen Lebens in einer Metropole der "Dritten Welt" erfaßt. Ciarice Lispector beschreibt noch einen zweiten Ort - eine öffentlich-private "Institution" - , die traditionell für diesen Bereich, im modernen Jargon sozial-psychologischer, lebenspraktischer Fragen zuständig ist: das Haus der Kartenlegerin. Sie wird von Lóri insbesondere in Liebesangelegenheiten konsultiert. Ciarice Lispector markiert den Schnittpunkt von prä-modemer und modemer Mentalität und Lebenspraxis, indem sie die unterschiedlichen Register des Wissens und der Erfahrung konfrontiert. Sie läßt keinen Zweifel an ihrer kritischen Position gegenüber modernen wissenschaftlichen Methoden, wenn sie mittels Lóri die Grenzen der Verschriftlichung kommentiert : - pois agora mansamente, embora de olhos secos, o coragäo estava molhado: eia saira agora de voracidade de viver. Lembrou-se de escrever a Ulisses contando o que se passara. Mas nada se passara dizivel em palavras escritas ou faladas, era bom aquèle sistema que Ulisses inventara: o que näo soubesse ou näo pudesse dizer, escreveria e Ihe daria o papel ¡nudamente - mas dessa vez näo havia sequer o que contar (S. 11). Der konkrete Kommentar, die Beschreibung Ciarice Lispectors der sozialen Situation, der abweichenden Mentalität evozieren Probleme anderer Dimension, die in den Identitätsdebatten keinen Platz finden.

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Wenn also Julia Kristeva die Liebe heute als Liebeskrise des modernen Subjekts beschreibt, so trifft das auf den Liebesdiskurs bei Lispector nur bedingt zu. Vielmehr finden wir hier einen notwendigerweise idealisierenden Liebescode und ein verliebtes Subjekt, wie es Roland Barthes (1977) - in seinen Analysen über die Sprache der Liebe - bei der symbolischen Vergabe der "Orte" den Frauen zugeschrieben hat. Ciarice Lispector charakterisiert das weibliche Subjekt in seiner zur männlichen differenten Identitätsbeziehung zu Natur, Körper und Liebe. 33 Die Asymmetrie der Gefühle bildet eine Konstante. Das Liebesbegehren der Frau ist gekoppelt an die Hoffnung auf Freiheit, eine Erfahrung, die dem Mann im öffentlichen Leben möglich ist. Frauen scheinen die "Liebe mehr zu lieben" als Männer, deshalb ist das Besetzen des privaten Raums so entscheidend, denn der Anspruch auf Liebe läßt sich nicht durch öffentlichrechtliche Verträge durchsetzen. Es mag überraschend sein, doch hindern radikale Positionen in Bezug auf die Differenz der Geschlechter, die Kritik an westlichen Identitätskonzepten, Ciarice Lispector nicht daran, sich in den traditionellen Diskurs der Philosophie, der Annahme ontologischer Fakten zu stellen. So scheint ihre Vorstellung vom Subjekt jenseits der Sexualität zu liegen und damit eine an Martin Heidegger orientierte Trennung von ontologischer und sexueller Differenz gültig zu sein, d.h., daß das Sein jenseits der Sexualität liegt.34 Sexuelle Differenz ist somit etwas Gegebenes und nicht konstitutiv für die Subjektposition. Damit läßt sich auch das Frappierende, ihr Akzeptieren der Komplementarität der Geschlechter und des Schicksals, als Frau geboren zu sein, erklären. Ein nochmaliges Aufgreifen der Gattungsfrage soll ermitteln, welche Antworten mit der Übernahme, Umformung von Regeln und Konventionen geliefert werden.

Liebeseintracht - eine utopische Wette? Wir hatten zu Beginn auf die Schwierigkeit einer kohärenten Lektüre der Lehre oder das Buch der Lüste verwiesen, die insbesondere durch das "Happy-end" des Romans bedingt ist. Die brasilianische Literaturkritikerin Nädia Gotlib versucht in ihrer schon zitierten Interpretation das Problem zu lösen, indem sie das 33

34

Symptomatisch ist die Textpassage in der das "Erleben" des Meeres beschrieben wird. In einer parodistischen Anspielung auf Hemingways "Der Mann und das Meer" geht es hier - Ela e o mar - nicht um ein Bezwingen und eine Vereinnahmung der Natur. Die Begründung ist schlicht und notwendigerweise idealisierend; Die Frau braucht kein Gegenüber (S. 82, 85). Vgl. R. Braidolti 1991. Patterns of Dissonance: A Study of Women and Contemporary Philosophy. New York. S. 104. 63

glückliche Zusammenkommen der Liebenden als parodistische Rückkehr der Mythen von Penelope, Loreley und Odysseus liest. Offensichtlich nicht ganz überzeugt von der Schlüssigkeit dieses Ansatzes bietet sie eine zweite Lektüremöglichkeit an: das "Happy-end" als unerwartete, ironische Umkehrung, als "narratives Spiel" zu lesen. Zur Untermauerung ihrer These stellt sie den Roman in die Tradition der brasilianischen Meistererzähler von Liebesgeschichten: José de Alencar und Machado de Assis. Ich plädiere für eine andere Perspektive bei der Lektüre des Liebesglücks am Ende des Romans und schlage vor (noch einmal) die Gattungsfrage zu stellen. Zwei Bemerkungen seien vorangeschickt: Erstens ist anzumerken, daß zum Zeitpunkt des Schreibens sich die Situation der Repression und sozialen Kontrolle verschärft hatte. Ciarice Lispectors Liebesroman mit "Happy-end" könnte als Antwort darauf verstanden werden. Etwa nach dem Motto von Charles Chaplin, daß in Zeiten politischer Krisen Komödien, Melodramen, Dinge, die die Leute zum Lachen bringen, vonnöten sind. Zweitens läßt sich bei genauer Betrachtung der Schlußpassage feststellen, daß der Dialog der Liebenden nicht abgeschlossen wird. "Der Mann" ergreift als letzter das Wort, einem Eu pensó o seguinte (S. 177) folgt kein Schlußwort, keine abschließende Bemerkung. Wird er unterbrochen? Unterbricht er sich selbst? Kündigt sich in dieser Strategie die Notwendigkeit einer erneuten Revision des Liebesdiskurses an? Kommen wir zurück zur Gattungsproblematik des Liebes-, Bildungsromans. Im Zuge der Revision der von Frauen geschriebenen Literatur aus feministischer Perspektive tauchte bei der Diskussion der Gattung des Bildungsromans der Begriff des Truncated Bildungsroman (Labovitz) auf. Er beschreibt das disparate Verhältnis 35 zwischen traditionellen Rollenzuweisungen für Frauen im sozialen Feld und der Funktion der Gattung, die soziale und geistige Integration der Figuren zu beschreiben. 36 Frauen sind folglich denkbar ungeeignet, eine Protagonistinnenrolle in dieser Gattung zu übernehmen. Die Kategorie des "truncated Bildungsroman" wurde zur Situierung weiblicher Literatur für Lateinamerika übernommen. Kennzeichen dieses "Bildungsroman fracasado", 37 die auf der Lektürebasis von Texten seit den 20er Jahren formuliert wurden, sind Brüche, Wen35

S. J. Rosowski 1983. The Novel ofAwaking. In: E. Abel et al. (Hrsg.) The Voyage. Fictions of Female Development. Hanover. S. 65.

36

A. Pratt 1981. Archetypal Patterns in Women's Fiction. Bloomington. S. 136.

37

E. Mora 1972. «El 'Bildungsroman' y la experiencia latinoamericana: la pájara pinta de Albalúcia Angel». In: P.E. González/E. Ortega (Hrsg.) La sartén por el mango: encuentro de escritoras latinoamericanas. Puerto Rico; E. Aizenberg 1985. «El 'Bildungsroman' fracasado en Latinoamérica: el caso de Ifígenia' de Tereza de la Parra». In: Revista Iberoamericana. S. 539-546.

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den im Erzählverlauf, mit denen die Entwicklung einer Figur scheitert oder endet. Problematisch an dieser diagnostischen Kategorie ist zum einen die offensichtliche Übertragung einer heutigen feministischen Perspektive und Erfahrung, die den historischen und sozio-kulturellen Kontext unberücksichtigt läßt und weder das Weiblichkeitsideal einer Epoche noch die didaktische Funktion der Literatur anerkennt. Zum anderen stellt sich die Frage, ob diese auf thematische Aspekte festgelegte Lektüre die Vielschichtigkeit, Doppeldeutigkeit, die Subtexte nicht ignoriert. Wir lesen in der Lehre oder das Buch der Lüste, insbesondere in der Schlußpassage ein "double plotting" auf der Ebene der Gattung. Ciarice Lispector schreibt weder einen "Bildungsroman fracasado", noch einen "weiblichen Bildungsroman": Wir finden weder ein unterbrochenes, verstümmeltes weibliches Schicksal vor, noch eine weibliche Heldin, die den Prozeß sozialer Integration oder Ich-Findung durchlebt. Das "Happy-end" ist weder einfache Ablehnung des lateinamerikanischen Bildungsromans "fracasado" noch eine Affirmation des traditionellen Bildungsromans mit seiner Lehre von der Selbstverwirklichung - konform dem Ideal der Ehe und Mutterschaft. Nicht übersehen werden darf, daß Ciarice Lispector im Erzählverlauf vor dem "Happy-end" einen entgegengesetzten Weg einschlägt: Sie läßt ihre weibliche Figur vorübergehend entscheiden, die Liebesnacht nicht zu vollziehen und dem wartenden Ulisses nicht zu begegnen. 38 Ciarice Lispectors Auseinandersetzung mit der Gattung des Liebes- und Bildungsromans ist aber auch nicht als Negation zu werten, es handelt sich vielmehr um ein Neuschreiben der Gattung. In der Option für ein klischeehaftes, triviales Ende, in der unbestreitbaren Idealisierung der Liebe läßt sich ein Plädoyer für die hybride, populäre Gattung des Melodramas ermitteln. Mit Eine Lehre oder das Buch der Lüste findet ein Anschreiben gegen die allgemeine Idee von der Liebe als Gesetzesüberschreitung statt, wie sie in die klassischen Liebestragödien des Okzident eingeschrieben ist.39 Paradigmatisch ist Shakespeares Romeo und Julia, das Stück, in dem Liebe und der Liebestod zelebriert werden. Betrachten wir einige Schlüsselstellen der Tragödie und konfrontieren sie mit Lispectors Geschichte von der Liebe. Der Zeitraum, den Shakespeares Figuren in Glück verleben, ist momentan, kürzer als der der Vorbe38

Eine in erster Linie auf den musikalischen Diskurs ausgerichtete Studie befaßt sich mit dem "Abschließen" unter der Perspektive von "gender". Vgl. S. McLary 1992. Feminine Ending: Musik. Gender and Sexuality. Minneapolis. Verwiesen sei auf das Werk von Denis de Rougemont 1939. L'amour et VOccident, Paris, das diese Auffassung zementiert hat.

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reitung auf den Tod. Dieser Logik - die auf der Heraushebung des Flüchtigen, des Augenblicks basiert - wird in der Lispectorschen Liebesbegegnung die lang ersehnte und retardiert erzählte Liebesnacht und die Perspektive der Ehe als Kontinuität entgegengesetzt. Julia Kristeva beschreibt Romeo und Julia, das "Paar der Haßliebe" in ihrer Shakespeare-Lektüre als Einzelgänger, deren einziger gemeinsamer Ort das Grab ist, und sie interpretiert den Liebestod zum einen als Huldigung der Konvention, zum anderen als Nostalgie des Liebesglücks. Indem das Ausleben der Leidenschaft durch den Tod verhindert wird, könne das Bild vom edlen und reinen Paar gerettet und die Reinheit der Ehe bewahrt werden. Gleichzeitig gälte es, die Legende vom verliebten, entflammten Paar aufrechtzuerhalten, wenn auch im schmerzlichen Rückblick. Gegen diese Liebesvorstellung, nach der eine legalisierte Liebe eine tote Liebe ist und nur durch Verbote leidenschaftlich sein kann, setzt Ciarice Lispector ihre utopische Wette einer Liebeseintracht, in der Erotik, Lust und Begehren mit dem Gesetz vereinbar sind. Das hindert sie nicht daran, gleichzeitig demonstrativ, nicht subversiv, die Idealisierung der konventionellen, ehelichen Gemeinschaft mit einer Strategie ironischer Kommentare im Dialog der Liebenden zu durchbrechen und auf die hierarchisierenden Zuschreibungen im Ehevertrag zu verweisen. Die Lektüren von Die Sternstunde und Eine Lehre oder das Buch der Lüste sind als Metakommentare angelegt. Um Ciarice Lispector im literarischen und kulturellen Diskurs der 60er und 70er Jahre zu situieren, wurden vor allem vergleichende und kontrastive Verfahren der Textanalyse eingesetzt. Daß Ciarice Lispector eine besondere Bedeutung als Schriftstellerin und intellektuelle Persönlichkeit, die nicht nur eine avancierte kritische Richtung in der brasilianischen und lateinamerikanischen Literatur und Kultur repräsentiert, wurde gezeigt und darüberhinaus, inwieweit ihr eine Schlüsselrolle im kulturellen Paradigmawechsel zukommt. Insbesondere in der Interpretation der Sternstunde wurden ihre innovativen Überlegungen der Selbstbeschreibung, die Notwendigkeit der Veränderung von Schreiben und Rezipieren literarischer Texte herausgearbeitet und gleichzeitig der von ihr artikulierte endgültige Abschied von modernistisch-avantgardistischen Positionen. Nicht nur ein Plädoyer für, sondern die Umsetzung im Neuschreiben der erzählerischen Gattung im Spannungsfeld von einer "Ästhetik" der Eliteliteratur und Formen des Erzählens populärer und massenmedialer Produkte ließ sich bei der Analyse der Sternstunde ermitteln. Wir haben in Metakommentaren beschrieben, wie in der Übernahme, Umformung von Regeln, Konventionen des erzählerischen Diskurs, im ungehemmten Umgang mit klassischen Themen und Konzepten der Literatur der westlichen 66

Moderne metropolitane Normen hinterfragt werden und Ciarice Lispector in ihren literarischen Gegenentwürfen eine radikale Kritik an Hegemonialansprüchen abendländischer Kultur, am postkolonialen Diskurs übt. Brisant wurde dies im Fall der Debatte um feministische Positionen und Theoriebildung, die ihrem Selbstverständnis nach mit Hierarchien brechen und Gegenmodelle repräsentieren. Entgegen gängigen Interpretationslinien nationaler und internationaler Provenienz galt es zu unterstreichen, daß Ciarice Lispector nicht den Versuch unternimmt, über die Konstruktion weiblicher (Anti-) Heldinnen eine neue Version nationaler Geschichte zu schreiben wie andere herausragende lateinamerikanische Autorinnen dieser Dekaden. 40 Nicht als Einschreiben in die großen Meistererzählungen, aber als ein Neubesetzen des privaten (traditionell weiblichen) Raums ließen sich ihre Texte beschreiben. Ciarice Lispector liefert konkrete Analysen, was mit dem weiblichen "subalternen" Subjekt in der Phase massiver Modernisierung in Brasilien passiert, die durch den Zusammenprall von prämodernen und modernen Momenten charakterisiert ist. Sie stellt damit einerseits eine treffende Gegenwartsdiagnose und berührt andererseits mit der Frage nach dem Subjekt und seiner Position neuralgische Punkte einer "sophisticated" Theoriedebatte, die für die besondere Problematik und widersprüchliche Konstellation in Ländern der Peripherie keinen Platz hat. Ciarice Lispector artikuliert damit ihr soziales und politisches Rollenverständnis als Schriftstellerin, die aus der Perspektive eines "Dritten Welt"-Landes schreibt.

vgl. Jean Francos Lektüre Rosario Castellanos' und Elena Garros'. J. Franco 1989. S. 132-146.

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Jorge Amado Geschichten und Geschichte Jorge Amados Super-Folheto: Viva Teresa

In der kulturellen Kartographie Brasiliens, der Vernetzung verschiedener Diskurse, kommt der Stimme Jorge Amados eine Schlüsselrolle zu. Die heterogene Kultur des Nordostens (nicht nur der Stadt Salvador da Bahia), des Sertäo, der afro-brasilianischen Kulte, des Karneval gewinnt durch ihn Relevanz. Viva Teresa als eine exeptionelle Form oraler Erzähltradition ist paradigmatisch für Jorge Amados ganz bewußte Wahl und Umsetzung der Konzepte populärer Kultur. Es handelt sich um eine orale Performance, in der die Literarität des Mündlichen als kollektiver Alltagsdiskurs und Festtagsritual gefeiert wird. Es gehört zu den Gemeinplätzen der Kritik, Jorge Amado als "politischen Autor", als "Mitbegründer des sozialistischen Realismus" bzw. "Vertreter des proletarischen Romans" - einer nach "Authentizität" und "Realität" strebenden Schreibweise - einzuordnen. Auch die Situierungen als "Regionalist", als "nationaler, moderner bzw. universeller Erzähler",1 als "Biograph" Bahias, als Autor exotischer Liebesromane greift aus heutiger Perspektive zu kurz. Bemerkenswert hingegen ist der frühe Hinweis von Albert Camus auf die folhetinesken Themen in einer Kritik über Amados Bahia de todos os santos.2 Der einfachen Formel, daß sein Schreiben einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung der Erzähltradition des Realismus leistet, ist zuzustimmen, doch das Wesentliche und Besondere liegt in der gezielten Verankerung in der Region. Antonio Cândido, 1945. «Poesia, documente e histôria». In: Povo e terra. S. 109-123. In: ders. 1945 Brigada ligeira. Sâo Paulo. Albert Camus schreibt in seiner Eloge auf Jorge Amado: Qu'on ne s'y trompe pas. H n'est pas question d'idéologie dans un roman où toute l'importance est donnée à la vie, c'est-à-dire à un ensemble de gestes et de cris, à une certaine ordonnance d'élans et de désirs, à un équilibre du oui et du non et à un mouvement passionné qui ne s'accompagne d'aucun commentaire. A. Camus 1939. «Salon de Lecture». In: Algier-Républicain. 9.4.1939.

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Ferreira Gullars Charakterisierung Jorge Amados als voz da feira3 bringt es auf den Punkt. Denn diese Stimme tönt nicht universell, es ist nicht die eines Chronisten oder Biographen, sondern eines Wir-Erzählers. Amados Wissen und Bewußtsein um die "andere Geschichte" und Identität Brasiliens manifestiert sich, wie bei M.A. Asturias, in der Suche nach einem neuen Konzept von Literatur, das in Lateinamerika Ende der 50er Jahre unter dem Begriff "magischer Realismus" aufkam. 4 In der literarischen Biographie Amados sind die Publikation von Cacau (1933) und Gabriela cravo e canela (1958) die wesentlichen Momente, die zu einer Periodisierung seiner Fiktion in zwei Phasen beigetragen hat. 5 Es ist das Verdienst von Alfredo Wagner Berno de Almeida, Jorge Amados Werdegang in einer detaillierten Studie des intellektuellen Feldes auszuloten und über vorliegende biographische und ideologiekritische Arbeiten hinauszugehen. Mit Gabriela - dem Bestseller, der Anfang der 60er Jahre eine Auflage von 70000 Exemplaren erreichte - vollzieht Amado weniger eine Hinwendung zum soziokulturellen Leben der Region, 6 Gabriela läßt sich vielmehr als ein Plädoyer für die Pluralität der literarischen Konzepte und die Offenheit der Diskurse lesen.7 Seit Gabriela zeichnet sich eine Wende im Politik- und Kulturverständnis Jorge Amados ab, das nicht länger parteiorientiert ist und das soziale Bewegungen, Formen der Selbstorganisation außerhalb ideologischer Kategorien faßt. Symptomatisch für diese Veränderung ist die Aufhebung eines dokumentarisch-biographischen Codes, der marxistisch-ideologisch eingefärbt, einem sozialistischen Realismus verpflichtet war. Es läßt sich anhand der Fiktionen dieser zweiten Phase eine Typologie oralen Erzählens erstellen. Es gibt die Geschichten der Gemeinschaft, der Region, des Wunderbaren, der kolonialen Vergangenheit, die sich in eine Gattung einschreiben. Diese ist verwandt mit dem Genre Ferreira Gullar, «Com mäo de meslre. Tiela do Agresle'». In: Veja. 17.8.1977. S. 104-105. Ferreira Gullar unterstreicht mit Referenz auf Jubiabä (1935) die Vorläuferrolle Amados bei der Entwicklung des literarischen Konzepts des magischen Realismus. Vgl. Ferreira Gullar 1977. Der Begriff des magischen Realismus wurde von M.A. Asturias als lateinamerikanische Alternative zum erkenntnistheoretischen Begriff des sozialistischen Realismus verwendet. Zur Begriffsgeschichte vgl. die Ausführungen C. Rincöns 1991. S. 362. Auf die Grenzen im Umgang mit dem Konzept, die auf der Verknüpfung von narrativen Strategien und soziologischen Kriterien basieren, weist Irlemar Chiampi hin. Vgl. I. Chiampi 1983. El realismo maravilloso. Forma e ideologia en la novela hispanoamericana. Caracas. A.W.B, de Almeida 1979. Jorge Amado: politica e literatura. Rio de Janeiro; J. Paes, 1991. De "Cacau" a "Gabriela": um percurso pastoral. Salvador. J.P. Paes 1991. S. 10. Roberto Da Malta beschreibt dies Konzept mit Rückgriff auf Michail Bachtin als Kamevalisierung des Erzählens. Vgl. R. Da Malta 1987. A casa & a rua: espago, cidadania, mulher e morte no Brasil. Rio de Janeiro. S. 127.

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der radionovelas, der chanchadas von Theater und Film und der telenovela. Nicht zufällig eignen sich Amados Texte, insbesondere die seit Gabriela, so gut für Telenovelas bzw. TV-Serien, z.B. Dona Flor und ihre zwei Ehemänner (1978); Gabriela (1984); Viva Teresa (1992). Es handelt sich um offene diskursive Formen, die einen kontinuierlichen Dialog mit dem Leser, seinen Reaktionen, Wünschen und Motivationen eingehen, Kennzeichen also, die von oraler Erzähltradition geprägt für das Melodrama typisch sind. Gabriela entsteht nach dem XX. Parteitag der KPDSU (1956) in dessen Folge der "eiserne Stalinist", wie Amado sich selbst im Rückblick bezeichnet, öffentlich Kritik übt an Ideologie und Institution8 und sein Schreiben verändert. Die Erneuerung seines literarischen Projekts wird von großen Teilen der Kritik außer acht gelassen.9 Im dogmatischen Verständnis der Linken, die sich auf eine ideologiekritische Lektüre fixiert, ist der große literarische Erfolg Amados mit engagiertem Schreiben unvereinbar. Das negativ besetzte Bild vom BestsellerAutor setzt sich fort: Amados politische Interventionen während des Estado militar 10 werden genauso ignoriert wie sein Engagement in ökologischen Fragen in den 70er und 80er Jahren, 11 das sich in Tieta do agreste (1977) und Tocaia grande (1984) manifestiert. Bei der Lektüre von Viva Teresa richtet sich unser Interesse auf die Frage, wie sich die Welt des Sertäo auf der Ebene von Text, Diskurs und Gattung vermittelt. Unsere These geht über die Einschätzung, daß es sich um einen Roman oraler Erzähltradition handelt, hinaus. Denn Jorge Amado schreibt mit dem Super-Folheto eine neue Gattung. Es gilt zu beschreiben, wie und auf welche Weise Jorge Amado narrative Verfahren des Mündlichen einsetzt. Das setzt voraus, noch einmal auf die Folheto Literatur, die "literatura de cordel" einzugehen und in diesem Zusammenhang die Problematik der Oralität zu behandeln, vor allem, um ein Herangehen zu unterstreichen, das über die immer noch gängige Auffassung von Oralität versus Schriftlichkeit hinausgeht. 8

J. Amado 1992. In: Folha de Säo Paulo 9.8.1992. Amado schreibt im Oktober 1956 einen Brief, der die Dringlichkeit einer öffentlichen Debatte Uber die Parteiführung und Uber Stalin unterstreicht. Vgl. A.W.B, de Almeida 1979. S. 235.

9

Vgl. A.W.B, de Almeida 1979. Ausnahmen bilden u.a. die Arbeiten von E. Rodríguez Monegal 1979. «Carnaval/antropofagia/paródia». In: Revista Iberoamericana. Nr. 108/109; A.R. de Sant'Anna 1983. «De como e por que Jorge Amado em 'A morte de Quincas Berro D'Agua' é um autor camavalizador, mesmo sem nunca ter se preocupado com isto». In: Tempo brasileiro. Nr. 74; I. Strotzenberg 1983. «Gabriela, cravo e canela: ou as confusöes de uma cozinheira bem temperada». In: Tempo brasileiro. Nr. 74; R. Da Matta 1987.

10

A.W.B. de Almeida 1979. S. 268.

11

Jorge Amado, «Interview mit Carlos Navarro Filho». In: Pan Brasil. Mai/Juni 1985. S. 47-54.

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"Literatura de cordel" - Literarität des Mündlichen Mit der im Nordosten langsam fortschreitenden Modernisierung bleibt der spezifische Charakter und die soziale Wirkung der "literatura de cordel" bis Ende der 60er Anfang der 70er Jahre weitgehend erhalten. Ihr Fungieren als Vehikel archaischer Ausdrucksformen und bestimmter Fiktions-Schemata, als Ort des Imaginären, des Memorierens hat in den 50er Jahren in Brasilien, in den 60er Jahren in Europa und den USA auch bei Nicht-Ethnographen Faszination und Interesse bewirkt. Im Rahmen literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung ist Ronald Daus einer der ersten, der die Aufmerksamkeit auf das Phänomen lenkt, zu einem Zeitpunkt als die orale Dichtung als integrativer Bestandteil der Kommunikationsformen des Sertäo tragend war. Der epische Zyklus des cangageiros in der Volkspoesie des Nordostens Brasiliens (1969) ist der frühe Versuch, den umfangreichen Bestand von Folhetos zu klassifizieren. 12 Er legt letztlich eine Unterscheidung in zwei Bereiche nahe: Folhetos, die Verdienste, Missetaten einer typischen Figur oder sozialen Gruppierung, die Gegebenheiten einer Region behandeln und Texte, die von Abenteuern individueller, historischer oder legendärer Natur erzählen. 13 Die drei großen spezifisch kulturellen Manifestationen des Sertäo, die religiöse messianische Bewegung, das Sozialbanditentum der Cangafo und die Aktivitäten reisender Sänger-Gruppen finden Eingang in die Texte, die Erzählzyklen unterschiedlichen Typus bilden. 14 Nach einer ersten Phase der Korpusbestimmung und Klassifizierung der Folhetos nach Zyklen richtete sich das literaturwissenschaftliche Interesse auf soziologische Fragestellungen. Vor dem Hintergrund der greifenden Modernisierung unternahmen ideologiekritische Arbeiten der 70er Jahre den Versuch, "literatura de cordel" in ihrer sozio-politischen Funktion zu bestimmen. Studien über den Prozeß der Einbindung der Nordost-Kultur in die Kulturindustrie und den damit einhergehenden Verlust an "Authentizität" und Autonomie der "cultura populär" orientierten sich am Konzept des "projeto nacional" als einem schematischen Modell, das die Manifestationen der Volkskultur als homogene 12

Erste Bestandsaufnahmen und Erhebungen in Brasilien Anfang der 50er Jahre belegen jährliche Auflagen von 200000 Folhetos. Das Archiv der Casa Rui Barbosa in Rio de Janeiro verzeichnet 60000 Titel, beginnend mit dem ältesten, gedruckt erhaltenen Folheto von 1902. Vgl. L. da Cámara Cascudo 1953. Cinco livros do povo, Rio de Janeiro.

13

vgl. R. Daus 1969. Der epische Zyklus des cangageiros in der Volkspoesie des Nordostens Brasiliens, Berlin; C. A. Azevedo 1972. O heróico e o messiànico na "literatura de cordel", Recife.

14

vgl. C. Rincón. Zur Geschichte der populären Literatur im brasilianischen Nordosten. Manuskript Rias Berlin 3/1990. S. 4.

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Größe als Träger emanzipatorischer oder konservativer Botschaften betrachtete. Einige Arbeiten der 80er Jahre, die Tendenzen und Funktionswandel der "literatura de cordel" behandeln, konstatieren, daß die mediale Entwicklung nicht einfach zum Verschwinden des Folheto führt. 15 Vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse in den Nachbardisziplinen und Überlegungen zu der veränderten Situation, die durch mediale Entwicklungsprozesse entsteht, entwickeln Kulturwissenschaftler in Brasilien, Frankreich, 16 den USA und neuerdings auch in Deutschland andere Fragestellungen, die "literatura de cordel" im Spannungsfeld von Oralität und Schriftlichkeit situieren.17 Geschichte der "literatura de cordel" Grundsätzlich basiert das Produktionsverfahren der "literatura de cordel" auf oralen Kompositionen. Eine erste Phase narrativer Gesänge (um 1700 beginnt die Besiedlung nördlich des Rio Säo Francisco) über deren spezifischen Charakter wenig bekannt ist, wird abgelöst von der narrativer Poesie, die niedergeschrieben und als Loseblattsammlung bis zur Einführung der Druckpresse um 1890 in Umlauf sind. Der Einfluß des neuen Mediums auf den Charakter der epischen Poesie - die mit der Migration von Nordestinos in den Süden in den 40/50er Jahren auch in Rio de Janeiro und Säo Paulo produziert wird - war gering. Bis Mitte unseres Jahrhunderts bleibt die Tradition des Vortrags, der desafios auf Märkten und bei Festen durch den Autor, der den repentista und später den Folheto-Verkäufer ablöst, lebendig. Die Doppel-Möglichkeit, Folhetos auditiv und durch Lesen zu rezipieren, verweisen auf ein historisches Moment der Entwicklung. Für den Mediävisten Paul Zumthor ist dieser das Folheto charakterisierende Aspekt von besonderem Interesse: sur le plan de la réception, elle en appelle aussi bien à l'audition qu'à la lecture de caractère, apparemment incertain, ne résulte pas de simples hasards circonstanciels, mais bien d'une équivocité profonde, engendrée certes par l'histoire, pourtant devenue aujourd'hui 15

H. Nitschak 1983. «Cordel-Literatur in Brasilien: Tendenzen und Funktionswandel». In: Romanistisches Jahrbuch. Bd 34. Horst Nitschak entdeckt noch einmal den neuen Typus des engagierten Folhetos mit der Besonderheit, Produkt für ein stadtisches Lesepublikum zu sein. Andere Studien zeugen von einer Neuorientierung, die Uber das Ethnographische und Uber Folklorestudien hinausgehen. J. Pires-Feireira 1979. Cavalaria em cordel. S3o Paulo.

16

Am Institut d'Etudes Hispano-Américaines et Luso-Brésiliennes in Toulouse wurde ein Lehrstuhl speziell für "literatura de cordel" eingerichtet.

17

Paul Zumthor 1980. «L'écriture et la voix: d'une littérature populaire brésilienne». In: Critique. LXIV, S. 228-239. C. Slater 1990. The Braiilian literatura de cordel. University of California; H. Nitschak. «Die Cordel-Literatur im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit». In: B. Scharlau (Hrsg.) 1989. Bild-Wort-Schrift. Tübingen. S. 153-166.

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essentielle.18 In einer der vielen Funktionen fungierte das Folheto als Informationsquelle: narrative Texte, die im 18./19. Jahrhundert als Verkündigungen für die nicht alphabetisierte Bevölkerung öffentlich gelesen wurden - werden von Folheto-Autoren aufgegriffen und erscheinen in Versform umgearbeitet als Folhetos. Die Präsenz mittelalterlicher Relikte in Motiven, Figuren, Themen, Elementen der Ritterromane und die Gegenwart des Wunderbaren als charakteristisches Phänomen der Folheto-Texte geben Aufschluß über die poetische Praxis der Folheto-Autoren/Sänger und das kulturelle Wissen der Gemeinschaft. Die Mittlerrolle als Bewahrer kollektiven Wissens und die kulturelle Basis befähigen ihn, einen eigenen poetischen Diskurs zu führen, der die Visionen der Gemeinschaft artikuliert. Die oralen Kompositionen entsprechen den Modalitäten, in denen sich die Gemeinschaft wahrnimmt und selbst imaginiert. Die soziale Wirkung der Erzählung, die auf einem komplizierten Kodierungssystem beruht, entfaltet sich in dem Moment, in dem die Einzelerzählungen sich zu Zyklen formieren, die als diskursive Netze funktionieren. Das Wesentliche der "literatura de cordel" sind folglich weniger die Themen, als die durch den Zyklus elaborierten Fragen, die die Bewußtseinsformen bestimmen. 19 Bild - Druck - Reim Das Wissen um die Macht der Bilder veranlaßte die Folheto-Produzenten zu illustrieren; den Zeichnungen, Holzschnitten, Zinkdrucken folgten vor ungefähr 20 Jahren Fotographien und Comic-Bild-Reproduktionen auf dem Umschlag des "folhetins". Die Titelseite funktioniert als Ideogramm: das visuelle Zeichen - als Pendant zu Titel, Autorname, Klappentext - kündigt an und verweist auf die Essenz des Textes. Auf subtile Weise wird dem Leser/Käufer alles über den Charakter des Heftchens vermittelt. Graphisch unregelmäßig erscheint der optische Eindruck des Textes, der 8, 16, 32, 48 (64) Seiten umfaßt. Die rhythmische Einheit konstituiert sich nicht auf der Versebene, sondern durch die Strophen von 6, 7, oder 10 Versen nach einem Reimschema archaischen Typs, das dem der iberischen Romanzen des 16. Jahrhunderts gleicht.

18

P. Zumthor 1980. S. 229. Paul Zumthor schlußfolgert: C'est moins son thème générale qui constitue le cycle, qu'une question tacite qu'il pose à ses auditeurs, et qui les concerne directement, comme collectivité. P. Zumthor 1980. S. 236. 73

Oralität und Schriftlichkeit Das Phänomen der "literatura de cordel" bringt zwei Kategorien mit ins Spiel: orale Erzähltradition und ihre Beziehung zur Schriftlichkeit/Literarität. In Jorge Amados Super-Folheto manifestiert sich diese Problematik auf aktuelle Weise. Die orale Performance dient zur Auseinandersetzung mit dem Problemfeld, in dem unter den Vorzeichen der Massen- und elektronischen Medienkultur neue Fragen aufgeworfen werden. Die Arbeiten des Franzosen Paul Zumthor und des amerikanischen Sprach- und Kommunikationswissenschaftler Walter J. Ong auf diesem Gebiet beeindrucken in ihren Thesen, die die doktrinäre Sehweise und Überholtheit bisheriger Forschungen zur Oralität aufzeigen und Neuorientierung bieten beim Versuch der Konzeptualisierung oraler Dichtung. Wesentliches Moment der Erneuerung ist, die negative Bestimmung der Opposition von Oralität und Schriftlichkeit grundlegend in Frage zu stellen und die Hypothese von der sukzessiven Folge der Zeitalter der "Oralität", der "Schriftlichkeit", der "Bildlichkeit" zu entkräften. 20 Aus heutiger Perspektive zielt die in kulturtypologischen Studien stattfindende Suche nach Entsprechungen in verschiedenen Kulturen darauf, die Vielfältigkeit und Alterität oraler Konkretisationen zu betonen. Oralität und Schrift In Arbeiten der 80er Jahre wenden sich Paul Zumthor und Walter J. Ong mit Referenz auf neuere anthropologische Studien 21 gegen die lang verbreitete Wissenschaftsauffassung der Opposition von Oralität und Schriftlichkeit. Die negative Markierung oraler Kunstformen im Verhältnis zur Schriftkultur, die Oralität letztlich mit Analphabetismus gleichsetzt, trägt die Handschrift westlich-zentristischen Zivilisationsdenkens. Walter J. Ong kommt mit dem Medienwissenschaftler Marshall McLuhan über Grundlagenforschung zu wichtigen Forschungserkenntnissen: zur Bedeutung der verschiedenen Stufen von Oralität. Er stützt sich bei der Bestimmung oraler versus textueller Rezeption auf die Polarität von Ohr und Auge. In: Oralität und Literarität. Die Technologisierung des Wortes (1987), einer Arbeit, die in erster Linie die "Mentalität" oraler und 20

2

'

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Umberto Eco verweist zu recht auf die Wiederkehr der Schrift im Zeitalter der Computer. Vgl. Umberto Eco 1992. «Kulturmutation. Über den Konflikt zwischen Schrift und Bild». Umberto Eco im Gespräch mit Elisabeth Schemla. In: Neue Rundschau. Heft 2. S. 139-147. u.a. J. Goody (Hrsg.) 1981. Literarität in traditionellen Gesellschaften. Frankfurt.

schreibender Kultur untersucht, führt Ong den Nachweis über die Andersartigkeit von Oralität unabhängig von Präsenz oder Absenz von Schrift. Walter J. Ong unterscheidet zwischen "primärer" und "sekundärer Oralität": Oralität einer Kultur, die sich unberührt von jeder Kenntnis der Schreibens oder Druckens entfaltet und "neue" Formen von Oralität im elektronischen Zeitalter, die Oralität von Telefon, Radio, TV, die Schrift voraussetzt. Für die Analyse der oralen Kunstform des Folheto sind die von Ong aufgestellten Thesen über Eigenschaften oral begründeten Denkens und Ausdrucks von besonderem Interesse. Denn die eher kategorischen als historischen Begriffe zur Definition der Kulturen und ihrer Zwischenformen dienen dazu, die unterschiedlichen Formen von Wissen, Denken, Bewußtsein und Mentalität zu markieren, ohne daß dabei in Hierarchien gedacht wird. Kulturen in High-tech-Gesellschaften - Brasilien hat Anteil daran - bewahren [...] in unterschiedlichem Maß die Bewußtseinsstrukturen der primären Oralität.22 Paul Zumthor räumt Ongs Arbeiten einen hohen Stellenwert ein und zieht sie für seine theoretisierenden Überlegungen von oraler Dichtung heran. Das Theorem von der Dichotomie oraler und schriftlicher Kunstformen liefert keinerlei Anhaltspunkte, um die historische Folge "Zeitalter der Oralität", "Zeitalter der Schrift", "Zeitalter der Elektronik" zu begründen. Für die Analyse des Phänomens oraler Dichtung und Literarität, die als zwei Reihen von dichterischer Rede mit unterschiedlicher Wirkung auf der Ebene der Produktion, Übertragung, Rezeption und Anhäufung ihrer Manifestationen erscheinen, ist das Medium von Bedeutung. Die unterschiedlichen Elemente oraler und schriftlicher Kunstformen sind nur faßbar und vergleichbar in der Performance und im Lesen. Medium: Stimme und Körper Wesentliche Erkenntnisse über die zentrale Bedeutung der Welt der Stimme zur Erforschung oraler Erzähltradition liefert wiederum Paul Zumthor mit umfangreichen Arbeiten. Er widmet das einleitende Kapitel seiner Introduction à la poésie orale (1983) der Gegenwart der Stimme und gibt damit diesem Ansatz besonderes Gewicht. Die Stimme, die orale Dichtung begründet und trägt, besitzt eigene Werte, sie entwickelt Kräfte und eine Dynamik, die in unserer durch den Gebrauch der Schrift stark geprägten Kultur negiert werden.

22

Walter J. Ong 1987. Oralität und Literarität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen. Kapitel VII «Einige Theoreme, Oralität, Schreiben und Menschsein». S. 172-173; S. 18.

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Mit Referenz auf brasilianische Kulturformen verweist Zumthor auf die Bedeutung der Stimme in religiösen Traditionen: das Artikulieren magischer Formeln, das Anrufen der "Orixás" im "Macumba"-Zeremoniell. Die Stimme, die Welt der Stimme, der Gesang, das Lied sind konstitutiv für die institutionalisierte Volkskunstform des brasilianischen Nordostens: a cantoria. Der Begriff bezeichnet den Prozeß des Dichtens als solchen, die Regeln und die Performance dieser spezifischen oralen Kunstform. Die Folhetos verweisen auf den Ebenen von Textproduktion, Stil, Rhetorik, Versform, Erzähltechnik und in ihrer Rezeption auf ihre enge Bindung an die Stimme. Die Entwicklung der oralen Kunstform des Nordostens bestärkt die These von der Abhängigkeit vom Medium Stimme und schwächt die der Abhängigkeit vom Buch bzw. Druck. 23 Orale Performance und

Gutenberg-Galaxie

Paul Zumthor hebt die Fähigkeit oraler Dichtung hervor, in einem gegebenen menschlichen Milieu auf der Ebene des Imaginären Energie zu produzieren und potentiell individuelles/kollektives Handeln auszulösen. Diese Besonderheit ist unmittelbar gebunden an die Vorführung von Stimme und Körper, die Performance, die er als schöpferisches soziales Ereignis definiert. Manifestationen oraler Dichtung wie die "cantoria" und das Rezitieren von "folhetos" zeugen davon. Die Konkretisierung, die auf einem komplizierten Kodifizierungssystem basiert, setzt detaillierte Kenntnisse über Text, Metrik, Rhetorik, Rhythmus und kollektives Einvernehmen voraus. Der Sänger/Poet als Vermittler kollektiven Gedächtnisses artikuliert die Vision einer Gemeinschaft, die sich wiedererkennt. Kommunikation - als soziales Ereignis - stellt sich her über den Charakter der Erzählung, der den Modalitäten entspricht, gemäß denen sich die Gesellschaft wahrnimmt und darstellt. Sie beruht auf der sozialen Wirkung der Erzählung, die sich im Prozeß der Bündelung von vorausgegangenen und zukünftigen Aufführungen entfaltet. Im Rahmen der Performance konstituieren sich die Teilnehmer zu Subjekten mit gemeinschaftlicher Identität. Der Life-Auftritt des Sängers verhindert die Ausgrenzung des Körpers aus der Kommunikation, die sich mit 23

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Ein weiteres Argument ist die späte Durchsetzung der Arbeitsteilung zwischen Autor, Verleger, Drucker und Verkäufer, die auf den besonderen Prozeß der medialen Geschichte zurückzuführen ist. Aufgrund der langen Tradition und tiefen Verankerung des Mediums Stimme konnte sich der Autor erst Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die Sänger durchsetzen und wurde zur Institution. Vgl. C. Rincón, 1990. S. 5. Doch in der Praxis behielt der Folheto-Autor einen Pseudostatus. Autorenrecht war nicht gewährleistet. Das acrostiche, mit dem der Verfasser seine Folhetos unterzeichnete, brauchte nur ausgetauscht zu werden: es bot keinerlei Schutz vor Plagiaten. Vgl. Literatura 1973 («Literatura popular em verso. Estudos». F u n d a d o Casa Rui Barbosa S.20-21), apud P. Zumthor 1982. S. 211.

der Einführung der Druckpresse einstellt. Der Schritt von Oralität zu Literarität vollzieht sich als Einschreibung der Formulierungen, die in der oralen Kultur geprägt werden. Auf der Ebene der Rezeption kommen die Unterschiede und Abhängigkeiten vom kulturellen Milieu besonders zum Tragen. Die unterschiedlichen Rezeptionsweisen in verschiedenen Kulturen lassen sich nicht allein aus dem Grad der Modernisierung "Ende des Zeitalters der Oralität", "Ende des Buchzeitalters" ableiten. So bleibt im Zeitalter der Druckmaschine die lineare, einsame Lektüre oraler Poesie - Folheto - fremd und selbst mit der Einführung der audio-visueller Medien verschwindet nicht automatisch die kollektive Dimension der Rezeption. Im Hinterland des Nordostens werden heute Performances der repentistas auf dem Bildschirm gemeinschaftlich rezipiert. 24 Diskurs über Held, Heldin und das Heroische Die Orientierung an Kriterien der Schriftkultur, die Verinnerlichung der Dichotomie Oralität und Literarität, veranlaßt die Kritik, Jorge Amados orale Performance als "ausladend", "trivial", "folkloristisch", als literarisch nicht gelungen, 25 anzusehen. Diese Haltung, seine narrativen Strategien als redundante Erzählweise abzuqualifizieren, bedeutet das wesentliche Moment des Textes zu verkennen: die Verankerung im kulturellen Raum, seine Beziehung zur oralen Erzähltradition. Diese geht in der gekürzten deutschen Übersetzung fast ganz verloren. Aus der Stilisierung des Folheto entsteht ein eigenständiges literarisches Genre, ein "pasticcio" des Folheto. Bei Viva Teresa handelt es sich nicht um das Pastiche eines Folhetos oder verschiedener Erzählzyklen. Jorge Amado pastichiert Grundstrukturen (Diskurs- Fiktionsschemata, Rhetorik), Figuren und Ereignisse des Genre. Die Gattungsbezeichnung Roman trifft den exzeptionellen Charakter dieses Super-Folhetos nicht, denn Jorge Amado liefert hier keinen novellierten Folheto-Text. Vielmehr setzt er das Konzept Folheto bewußt um, was auf der Diskursebene, der Ebene der Geschichte, der Gattung, in Materialität und Typographie des Textes nachzuweisen ist. Jorge Amado schreibt Viva Teresa aus einem nostalgischen und melancholischen Impuls heraus. Seine Hommage an die "Welt der Stimme und des Körpers" in ihren spezifischen Manifestationen - "folheto", "capoeira", "candom24

Carlos Diegues hat dies Moment in seinem erfolgreichen Film Bye, bye Brasil (1980) kongenial umgesetzt. Regionale TV-Programme senden täglich Auftritte von "repentistas".

25

Vgl. de Almeida 1979. S. 148, 156.

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blé", "carnaval", "cantoria" - entsteht zu einem Zeitpunkt als der Margimlisierungsprozeß der NO-Kultur massiv einsetzte. Die Textualisierung findet unter Betonung der Differenz des kulturellen Raums mit seinen manifesten Residuen primärer Oralität statt. Folhetomuseum In Materialität und Typographie liefert Viva Teresa eine Demonstration der Folheto-Kunst ohne Effekte der Musealisierung. Das Folheto erscheint hier nicht als Sammelobjekt oder folklorische Reliquie; vielmehr wird im Zusammenwirken der verschiedenen Künste (Malerei, Musik, Poesie, Druckkunst) in Lebendigkeit und Dynamik die Dimension einer Performance erreicht. Die graphisch; Gestaltung des Buchs - Cover und Seiten - korrespondiert bis in die Details (Format, Seitenumfang, Kapiteleinteilung) mit verschiedenen Modellen des Folheto. 26 In einem der vier Folhetos mit dem Titel - ABC da peleja entre lereza Batista e a bexiga negra - sind die Strophen/Kapitel durch Buchstaben von A bis Z markiert. Amado greift hier zu einem Kompositionsverfahren auf der Basis von Schrift, das seltener praktiziert wird. 27 Die Exposition des "folhetäo" bildet, gewissermaßen auf der inneren Titelseite, eine modinha - abgedruckt sind Noten und Text - des legendären bahianischen Musikers und Poeten Dorival Caymmi, deren Silbenzahl 7 bzw 8 dem Maß der Folhetozeilen entspricht. Das Lied, das der Heldin Stimme verleiht, wird durch eine die Heldin darstellende Holzschnitt-Ilustration unterstrichen. Äußeres und inneres Cover und die einzelnen Folheto-Titelblätter - klassische Holzschnitt-Illustrationen - fungieren als Ideogramme. Visualité emblematique Auf den emblematischen Charakter der Folheto-Titelblätter wurde bereits in den 60er Jahren hingewiesen. Im Bild manifestiert sich bereits die Essenz des Tex26

Eine Illustration in Farbe (von dem bahianischen Künstler Carybd) dient als Buchumschlag, schwarz-weiße Holzschnittreproduktionen im OriginalCormat des Folheto Din-A6 betiteln das "vierfache" Folheto-Buch, Zeichnungen, Embleme illustrieren den Text. Der Gliederung des Folhetos in Strophen aus 6, 7, oder 10 Versen entsprechend, (wir finden eine Kapitelzahlung, die fortlaufend ist), die graphische Kennzeichnung (wir finden Illustrationen oder Kursivdruck beim Einsetzen der Erzählerstimme), läßt in der Verszahl bzw. Kapitelzahl eine unmittelbare Orientierung an Strophenkompositionen erkennen. Das erste der vier Folhetos umfaßt 17 Kapitel.

27

Einige Folheto-Autoren illustrieren ihre Dichtungen, indem jede Strophe, der alphabetischen Ordnung folgend, mit einem Buchstaben beginnt.

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tes; es kündigt an, bezeichnet und deutet. Die visuellen Embleme appellieren an das (kollektive) Gedächtnis der Gemeinschaft. Paul Zumthor verweist in diesem Zusammenhang auf F. Yates' Analyse der symbolischen Figuren in der Ars memoriae28 In Viva Teresa zentrieren sich die Darstellungen des Super-Folhetos, die nicht als Individuum, sondern als Teil der Gemeinschaft in der Reihe von Helden des Folhetos ihren Platz einnimmt. Zwischen Bild und Text besteht eine Wechselbeziehung. Im Prozeß der Entschlüsselung ihrer Wechselbeziehung können die Erfahrungsinhalte beider Register integriert werden. Die Bilder erzählen die Geschichte der Heldin, sie verweisen in Bildtechnik und Art der Darstellung auf die Kosmologie, Geschichte, Identität, Tradition der regionalen Kultur. Ihnen kommt eine Schlüsselfunktion zu, was Strukturierung und Dynamik der Erzählung betrifft. Das Buchtitelblatt ist die Reproduktion eines Bildes von Carybe. Durch die "naiv-populäre" Malweise und Signierung des Künstlers, durch das Emblem der Sirene lemanjä kann der Leser/Betrachter Raum und Zeit des Textes situieren: Bahia, Sergipe in den 50er Jahren. 29 Beschreiben wir, wie Jorge Amado visuelle Embleme einsetzt: Die Bildexposition gibt Rätsel auf. Liebe zwischen Lebenden und Toten ist das Motiv des Buchcovers. Das Bild Carybes zeigt eine nach vorn gebeugte Frauengestalt, die drei tote Körper - dargestellt als Skelette - trägt. Sie balanciert "die schwere Last" mit ausgestreckten Armen. Diese Komposition signalisiert bereits ihren Heldinnen-, Subjektstatus, der durch den Titel unterstrichen wird. Die Art und Weise der Präsentation der Leichname läßt auf verschiedene Todesarten schließen: Der "unterste" Tote hat als "Zeichen" ein Messer in der Brust, der "mittlere" ist verhüllt, der "oberste" durch ein rotes Herz gekennzeichnet. Die Heldin, so läßt sich die Titelseite lesen, er- und überlebt drei Tode: die Begegnungen mit dem gewaltsamen Tod, dem geheimnisvollen Tod, dem Liebestod. Tereza Batista verkörpert jenen Typus der guten Hure aus dem Repertoire der bahianischen "cultura populär", die zur Heiligen avanciert, deren Körper aber begehrenswert bleibt. Mit dieser synthetisierten Figur eröffnet sich die Möglichkeit für eine Klaviatur verschiedenster Rollen und Geschichten: individuelle Abenteuer, Legenden, historische Ereignisse und Wunder können berichtet werden. Anhand der Folheto-Titelblätter läßt sich die Geschichte Tereza Batistas in 28

Vgl. P. Zumthor 1982. S. 231.

29

Es gibt zahlreiche direkte Hinweise im Text, Ortsnamen, die Zeit des Bossa Nova, der Jazz Clubs, der Präsenz des Radios - das "Mikrophon von Abaet6" - liefern eine Bestätigung. Vgl. J. Amado 1973. Viva Teresa. Säo Paulo. S. 6.

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ihren wesentlichen Umschlagpunkten erzählen. Sie ist durch vier Momente gekennzeichnet, die mit den Fiktionsschemata des Folhetos korrespondieren: Ihre "Geburt" als populäre Heldin, Aufstieg und Identität als Heldin, 30 Verbleiben im Heldinnenstatus, ihre Unsterblichkeit. Schicksalsschläge, Probesituationen, Rache, Rebellion sind die Momente und Motive, die den Diskurs über die großen Heldenfiguren des "Folheto de cangafo" markieren.31 Das erste Folheto erzählt von der Geburt Tereza Batistas als Heldin. Sie, in einer Probe-, bzw. Konfliktsituation präsentiert, tritt auf als Verteidigerin der Freiheit, Rebellin gegen das Unrecht und beweist ihren Heldinnenmut im offenen Konflikt mit dem "Stärkeren".32 Im zweiten Folheto werden die Episoden aus ihrer Kindheit, ihre Initiation als Heldin in der Rebellion gegen die Autorität dargestellt: A menina que sangrou o capitäo com a faca de cortar carne seca (S.63). Sie rettet ihr Leben und übt kollektive Rache. Das dritte Folheto entfaltet das Motiv der übernatürlichen Kräfte: Tereza Batista besiegt den "geheimnisvollen Tod", die Pest. Ihren Liebesverhältnissen, an die sozialer Aufstieg und Fall gekoppelt sind, widmet sich das vierte Folheto. Hier wird das Motiv der Intimität mit dem Tod entwickelt - A noite em que Tereza Batista dormiu com a morte. Die physische Nähe zum Tod, die unmittelbare Konfrontation im "körperlichen Austausch" entspricht einem Reinigungsritual, einer symbolischen Befreiung vom Tod. In diesem Akt erlangt Tereza Unsterblichkeit. Das fünfte Folheto offenbart zunächst das "Happy-end" - die Hochzeit - der populären Heldin. Die herausragenden Momente der bahianischen Kultur, Feste, Karneval, Rituale, 30

Ihre Identität als Frau und Heldin vermittelt sich Uber außergewöhnliche äußere Merkmale, Mentalität und Habitus: Auffallende Schönheit - Besonderheiten von Haut, Haar und Augenfarbe - Frühreife, sexuelle Unabhängigkeit, ausgeprägte Liebesfähigkeit, Tapferkeit, Klugheit, Zähigkeit.

31

Terezas besonderes Schicksal setzt mit ihrem Waisenstatus an. Ihr Verkauf an den Capitäo markiert das erste Unrecht. Schicksalsschläge folgen: Krankheit, Verlust des Geliebten, des Kindes stellen sie auf die Probe. Der Holzschnitt deutet das Ambiente eines Cabarets an - ein hochgezogener Vorhang markiert den BUhnenraum, Stuhl, Tisch, Weinflasche und Glas - in dem sich die zentrale und symptomatische Szene abspielt die Geburt/der Auftritt der Heldin. In der Mitte der karnevalesken Szenerie in Capoeira-Pose Tereza Batista als Tänzerin/Kämpferin im Konflikt mit ihrem Überdimensional groß dargestellten Gegner, umringt von der Gemeinschaft Die Komposition der Figuren produziert eine Dynamik, die Inszenierung der Körper suggeriert Gegenwärtigkeit wie in einer oralen Erzählsituation. Die Arbeit mit Gegensätzen - das ungleiche Größenverhältnis in Verbindung mit Geschlechtszugehörigkeit - unterstreicht den besonderen Charakter der Heldin und zielt auf die Idealisierung der Figur; das ist das Instrumentarium, dessen sich der Folheto Künstler bedient Die schematische auf Dichotomien basierende Darstellung zeugt nicht, das ist zu unterstreichen, von einer primitiven Stufe künstlerischen Könnens, geringerer Komplexität, sie verweist gerade auf Praktiken oraler Kultur: Multiple Titel zeigen die Variationsbreite, die verschiedenen Versionen der Geschichte an, sie liefern die Stichworte für den Vortragenden und die Rezipienten. Die drei Titel des ersten Folhetos haben zunächst Gliederungsfunktion, sie ordnen die Narration in drei Teile: Der Aufstieg Terezas zum Star, der Konflikt der Heldin, ihr Sieg und die Bestrafung des Bösen. Im folgenden wird aus der brasilianischen Ausgabe Tereza Batista cansada de guerra (1973) zitiert.

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Wunder werden zelebriert. Die Erzählfäden laufen zusammen und kulminieren: Aus dem "Happy-end" des Folhetos wird im Super-Folheto ein "Doppel-Happyend". Der totgeglaubte Geliebte, der Matrose Januärio taucht auf, Tereza geht mit ihm auf sein Schiff. Orale Kulturen fördern den Heroismus Nachdem beschrieben wurde, wie Amado auf visueller Ebene Komposition, Fiktions- und Erzählschemata des Folheto übernimmt, wende ich mich der Textebene zu. Tereza Batista entspricht den Regeln des Diskurses über den Helden mit der Besonderheit der differenten Geschlechtsidentität. Es ist ein heroischer Diskurs, ein Diskurs über physische Gewalt und Gegengewalt, der hier dominiert. Die Illustrationen der Titelblätter, die erzählenden Titel und vor allem die Namen haben, wie angeführt, emblematischen Charakter. 33 Die allgegenwärtige Präsenz von Gewalt im erzählerischen Diskurs Jorge Amados wird meist als Analyse und Offenlegung der Struktur des sozialen und politischen Lebens der Region interpretiert.34 Die von mir vorgeschlagene Lektüre weicht von dieser mit einem mimetischen Textbegriff operierenden Interpretationslinie ab. Mit Ongs These orale Kulturen fördern den Heroismus35 lege ich das Augenmerk auf die diskursiven Effekte: Aktion und Dynamik entsprechen der polarisierten (oralen) Welt von Gut und Böse, Tugend und Laster, Helden und Schurken. Dichotomien werden in der Funktion der Memorierbarkeit eingesetzt. Der erzählerische Diskurs läßt sich als hochgradig ritualisiert und formalisiert beschreiben. Die Figuren repräsentieren eine bestimmte Mentalität und Expressionen, die oralen mnemonischen Denkmustern folgen. Auf der Grundlage der von Ong erstellten Auflistung von Eigenschaften und Merkmalen oral begründeter Kultur, die die Andersartigkeit und nicht die Gegensätzlichkeit von Oralität und Schriftlichkeit unterstreicht, kommentieren und analysieren wir die Erzählstruktur des Textes. Auffällig im Text ist die Aufzählung und Bündelung von Worten und Einheiten. Amado arbeitet mit additiven und aggregativen Mitteln, was die Satz-,

33

So wird Tereza Batista auf den Eröffnungsseiten als Tereia Boa de Briga vorgestellt, der rauschgiftsüchtige Geheimpolizist heißt Dahno Coca Garcia, der andere Peixe Casio, der Chauffeur und pistoleiro des Capitäo Trelo Cachorro.

34

Vgl. u.a. E. Engler 1992. Jorge Amado. Der Magier aus Bahia. München.

35

Walter J. Ong, 1987. S. 53.

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Namens- und Titelkonstruktionen betrifft. 36 Wiederholung oder Antithese in epithetischen Formeln, Alliteration und Assonanz - paradigmatisch für memorierbare Systeme - bestimmen femer die erzählerische Praxis. Die typisierende, foimelhafte Verwendung der Sprache, die Redundanz in Kombination mit einer standardisierten thematischen Anordnung - der schematische Verlauf der Geschichte, die sich zwischen Aufstieg und Abstieg, Glück und Unglück, Leben und Tod bewegt - verweisen vor allem auf pragmatische Gesichtspunkte des mündlichen Vortragens, d.h. Erinnern und Erzählen stehen auf dem Spiel. Die Ausrichtung des Erzählers auf die Interaktion mit dem Publikum manifestiert sich im Evozieren einer dialogischen Situation. Die Erzählung variiert im kommunikativen Dreieck, grammatikalisch manifestiert im Ich und Du, dem ein "Wir" zugrundeliegt, das durch typisierte Anreden - mano, meu irmäo, amigo, cunhado - verstärkt wird. Der ausschlaggebende diskursive Effekt liegt in der Identifikation des Erzählers und des Publikums mit der Heldin. Der Bewußtseinshorizont des Erzählers deckt sich mit dem seiner Figuren. Die Stimme bewegt sich innerhalb dieses Raumes. In der Sympathie und Antagonie manifestiert sich demonstrative Nähe zur Lebenswelt und eine explizite Parteilichkeit des Erzählers für seine Figuren. Die Bewegung des Austauschens (Gebens und Nehmens) zwischen Autor/Leser und Figuren - der Annäherung und Distanzierung der Erzählerstimme - produziert eine dynamische Erzählsituation und deutet auf eine besondere Rezeptionssituation hin. Ferreira Gullars Charakterisierung Jorge Amados narrativer Besonderheit als voz da feira trifft auf diesen Text in besonderm Maß zu. Vielleicht läßt sich diese Besonderheit mit dem Begriff des Wir-Erzählers im Unterschied zum Ich-Erzähler - mit dem Ich als Brennpunkt, einer Stimme, die universell erscheint - fassen. Der Wir-Erzähler hingegen ist der Sprecher einer Gemeinschaft, die sich nicht episodisch in den Text fügt, sondern von vornherein feststeht. Ein Erzähler, der verschworen ist

36

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Paradigmatisch für die Form der Aufzahlung und Bündelung von Einheiten ist die Charakterisierung der Aktanten. Über den ersten Widersacher der Heldin "Capitäo Justo" heißt es: As armas dele eram a loca de couro cru, o punhal, a pistola alemä, a chicana, a ruindade. J. Amado 1973, S. 4. Die Titel der Folhetos bestehen fast ausschließlich aus einer Reihung von (alternativen) Ereignissen. Der erste lautet: «A estréia de Tereza Batista no Cabarè de Aracaju ou o dente de ouro de Tereza Batista ou Tereza Batista e o castigo do usurino». Die Doppelung von Namen, z.B. Trelo cachorro oder Peixe Caçâo, und aggregative Namensbildung - Tereza Favo-de-mel - gehören zur gängigen Praxis. Auf die semantische und pragmatische Funktion der ausgeprägt metaphorischen Namen muß nicht hingewiesen werden. Einige Beispiele sollen genügen: Eine unter den ca. 30 Prostituierten mit Hang zum Nihilismus heißt Nllia Cabarè, eine andere Greta Garbo. Die Gattin des Polizeichefs wird im Volksmund Carmen née Sardinha e Sardinha getauft Ein Naturwissenschaftler trägt den Namen Heron Madruga.

mit seinen Helden und bis in die Träume hinein mitspielt, 37 ohne zum Wortführer zu werden. Dichotomisierung - Zentrierung - Vernetzung Jorge Amado konstruiert seine Narration über die Figur der guten Hure - die mit Gabriela38 und Tieta39 verwandt ist - mithilfe eines Aktantennetzes, dessen Achse die Heldin ist. Die Figuren der Erzählung treten in Funktion der Konstituierung und Idealisierung der Heldin Tereza Batista und ihrer Geschichte auf. Prinzipiell existieren in diesem nach dichotomischem Muster funktionierenden Aktionsraum nur Freunde oder Feinde in der Variation von Nähe und Ferne zum narrativen Zentrum. In jeder der erzählten Episoden finden wir eine primäre Freund-Feindkonstellation, an die sich sekundäre bzw. periphere anschließen, so daß ein Beziehungsnetz entsteht, an dem insgesamt an die 240 Akteure beteiligt sind. In der Hierarchie der Aktanten stehen die affektiven (Liebes-, Wunsch-) Beziehungen an erster Stelle. Da ist zunächst Januärio, der Matrose und Held, der nach einem kurzen, markanten Auftritt aus der Szenerie verschwinden muß, da sonst Terezas Heldinnenstatus gefährdet würde. Doch hat gerade seine Abwesenheit den Effekt verstärkter Präsenz. Er wird zu einer Konstante in der Beziehung, aus der sich Tereza nicht lösen kann, bis sie in der letzten Episode wiederaufgenommen wird. Entscheidend ist das Prinzip von Freundschaft/Liebe = Wunschbeziehung oder Feindschaft/Haß = Machtbeziehung 40 der Männer zur Heldin. An zweiter Position stehen die Bewunderer und Verehrer, deren Agieren und Umwerben ungeachtet der Gleichgültigkeit der Heldin konstant bleiben. Auf derselben Ebene sind die sozialen Beziehungen zu den Kolleginnen und den Mitgliedern i

'

Symptomatisch ist die Episode über Terezas Alptraum vom Tod Januärios: E(s)tando Tereza Batista adormecida na casa de Oxum, onde a yalorixä a hospedara, teve um sonho com Januärio Gereba e acordou agoniada. No sonho ela o viu no meio do mar. J. Amado 1973. S. 448.

38

Gabriela wird zur Metapher für die Lebendigkeit der afro-brasilianischen Kultur Bahias. Vgl. I. Strozenbergs (1983) interessante Lektüre Jorge Amados.

39

In Tieta do agreste wird die Rückkehr der verlorenen Tochter in ihre Region, zum Anlaß, die ökologische Problematik zu thematisieren. J. Amado 1977. Tieta do agreste. Rio de Janeiro. In Greimas Aktantenmodell, das hier zur Analyse der Narration herangezogen wird, kommt den Kategorien Wissen und Macht, die die Beziehung zwischen den Aktanten kennzeichnen, eine besondere Bedeutung zu. Vgl. A.J. Greimas 1971. Strukturale Semantik. Kapitel 10. München. S. 157-175. Während die dritte Kategorie, die des Wunsches, "einen Bruch markieri". Vgl. R. Schleifer 1983. AJ. Greimas Structural Semiantics. Introduction. S. XIV. Die aktantielle Beziehung auf der Basis des Wunsches, verstanden als Energie-, Kraftfeld, dominiert in Amados erzählerischem Konstrukt. Sie bildet zumindest ein ebenbürtiges Gewicht zur "Macht".

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der religiösen Gemeinschaft des "Terreiros" angesiedelt. Bei der Analyse der aktantiellen Beziehungen richtet sich unser Interesse nicht auf den Bau der sozialen Hierarchie. Deshalb führen wir, was die semantische Ebene der Dichotomienbildung des "oben" und "unten" betrifft, nur eine Szene an. Als Aktanten spielen der Capitäo und Tereza eine Rolle. Er, Justiano Duarte da Rosa ist emblematisch für die pragmatisch-machiavellische Amoralität der Geschichte des Sertäo: O capitäo näo era de muito discutir e amava constatar o respeito que sua presenga impunha [...] Contavam de mortos e tocaias, de trapagas nas brigas de galo, de falsificagöes nas contas dos armazens, cobradas no sopapo por Chico Meia-Sola, de terras adquiridas a prego de banana, sob ameaga de clavinote e punhal, de meninas estupradas no verdor dos cabagos [...] Zur Illustration der Dichotomienbildung setzen wir dieser Position der Macht die Moral der Heldin entgegen: Tinha aversäo a badernas, nunca promoveu arruagas, mas, de certo pelo sucedido em menina, näo tolera ver hörnern bater em mulher,41

Populäres Erzählen - eine eigene Version von Geschichte Jorge Amados Entwurf und Analyse des sozialen Feldes entspricht ideologisch einem sehr einfachen Modell. Das bestätigt sein offensichtliches Desinteresse an einer "Wirklichkeit", die auf der Basis sozio-ökonomischer, rechtlicher, institutionell-parteipolitischer Beziehungen definiert ist. Die Repräsentation von Raum und Zeit im Text verweist - mit nostalgischem Blick - auf die ideale Konstellation menschlichen Lebens, die "Große-Zeit" der populären Kultur mit ihrem intakten Wertekomplex. Der Text durchmißt den geographischen Raum des Sertäo von Aracaju bis Cajazeiras do Norte und Salvador da Bahia. Die Einheit der Werte existiert nicht mehr, ihr Verlust wird beklagt. Doch ihr Fortbestehen als Lebenspraxis, auf der Ebene des Rituals, des Alltags, wird noch einmal zelebriert. Die Lebensfreuden - Essen, Trinken, Liebesfreuden, Körpererleben nehmen breiten Raum ein, sie stehen in direkter Verbindung mit dem Tod. Jorge Amados literarische Repräsentation gilt der "anderen", mythischen bahianischen, der Welt der lebenden Toten, der Vergangenheit, der Wunder, der 41

84

J. Amado 1973. S. 66.

Hoffnung, der Passion, die die "Wirklichkeit" supplementiert. Auf die besondere Beziehung zwischen Lebenden und Toten hat Gilberto Freyre hingewiesen, er beschreibt den Umgang mit den Toten: abaixo dos santos e acima dos vivos ficavam, na hierarquia patriarcal, os morios, governando e vigiando o mais possível a vida dos filhos, netos, bisnetos. Em muita casa-grande conservavam-se seus retratos no santuàrio, entre as imagens dos santos, com direito à mesma luz votiva de lamparina de azeite e às mesmas flores devotas.*2 Es geht offensichtlich um mehr als um die Frage des Weiterlebens der Seele, die für das Kollektive steht, wie Emile Durkheim behauptet. 43 Den Toten kommt in der Dynamik des sozialen Lebens eine Schlüsselrolle zu. Daß dies sich nicht auf die katholische Theologie beschränken läßt, sondern eher Teil der populären religiösen Alltagspraktiken ist, unterstreicht Amado. 44 In tragenden Rollen sind die Toten, die Orixás und die Heiligen in das Aktantennetz eingebunden. Ihre allgegenwärtige Präsenz und ihr Agieren bestimmen entscheidend den Handlungsverlauf. Paradigmatisch ist hier die Episode des vierten Folhetos, die die Ereignisse um den Streik der bahianischen Prostituierten erzählt, den Tereza Batista und ihre Kolleginnen als Antwort auf Reglementierung und soziale Kontrolle seitens der Obrigkeit führen. Es sind die lebenden Toten, die Schutzheiligen und Orixás, die zur Entscheidung über Streik, zum gewaltsamen Verlauf und seiner weitgehend unblutigen Beendigung beitragen. Es ist keine geringere Persönlichkeit als die Inkarnation Castro Alves', des umstrittenen bahianischen Dichters, den Amado neben Santo Onofre, dem Schutzheiligen der Prostituierten, Exu und Ogum, hier ins Spiel führt. Sie repräsentieren, wie die Episode zeigt, entscheidende Kräfte in der Dynamik des sozialen Feldes. Der Erzähler kommentiert: Em verdade, o tal rapaz pálido, de bigode atrevido e olhar candente, a surgir ñas horas de refrega, visto a sobrevoar a passeata, quem poderia ser sendo o poeta Castro Alves? Morto há cem anos? [...] E, para concluir, ainda urna pergunta: passeata ou procissáo de Santo Onofre, padroeiro das putas? [...] Sem falar na participaqäo de Exu Tiriri e de Ogum Peixe Marinho, decisivas (S. 377-378). G. Freyre 1977. Casa grande & sentala. In: Obra escolhida. Rio de Janeiro. Auf die Kommunikation zwischen Lebenden und Toten in der "afrikanischen Diaspora Brasilien" verweist auch Jean Ziegler 1977. Die Lebenden und der Tod. Darmstadt/Neuwied. 43

Emile Durkheim stellt das Paradigma des "Homo duplex" auf: Die Opposition von sozialem Sein und individualisiertem Sein, die von Seele und Körper repräsentiert wird. Vgl. E. Dürkheim 1981. Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt.

44

J. Amado 1973. S. 378. 85

In dieser Passage manifestiert sich der Umgang mit der "anderen Welt", die Funktion der lebenden Toten, Medien und Götter als Vermittler, orientierende Autorität und Beschützer, wie auch die folgende Episode verdeutlich. Es ist Exu, die Schlüsselgottheit des bahianischen Candomble - Mediator zwischen der irdischen Welt und der der Orixäs - in seiner widersprüchlichen Funktion als rettende und strafende Einheit, der hier plötzlich inmitten der Straßenschlacht zwischen den streikenden, demonstrierenden Prostitutierten und der Polizei auftaucht: De onde surge o velho a esconde-la de olhos de Peixe Caqäo? Um velho imponente, terno de linho branco, chapeu chile e bengala de castäo de ouro. - Sai da frente, puto escroto! - Berra Peixe Caqäo, apontando o revölver. O anciäo näo faz caso, continua afechar-lhe a passagem. O tira o empurra, näo consegue move-lo (S. 398). Amados literarische Repräsentation der Welt geht zunächst von einer klaren Trennung zwischen Leben und Tod, Traum und Realität, Vergangenheit und Gegenwart aus. Nicht zufällig hat die Heldin Tereza Batista zwei Leben, die durch zwei Momente in der Biographie markiert sind: Die "Zwangs-Ehe" mit Capitäo Justiano, dem Hauptgegenspieler und dann ihr glückliches Leben als Geliebte des Coronels. 45 Tereza lebt ein Paradox, zwei widersprüchliche, formal unvereinbare Existenzen: Als Heilige (filha do santo) einerseits und als "Sünderin" (Hure, Kabarettänzerin) andererseits. Die Koexistenz unvereinbarer Identitäten läßt sich nur im Zusammenhang mit der besonderen religiösen Logik und Moral der Gemeinschaft fassen. Ausgestattet mit der Fähigkeit des Mediums im Stadium der Trance, zwei Wesen in seinem Körper zusammentreffen zu lassen, fungiert sie als Vermittlerin zwischen zwei Welten, ermöglicht das Zusammentreffen von Leben und Tod. Die Reihe von Dichotomien, mit denen Amado arbeitet, setzt sich fort, was Terezas Körper, ihre Liebe, Sexualität, "Natur" 46 betrifft. Terezas Körper ist durch 4

5

46

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Als nicht legale Ehefrau kommt ihr nach dem Tod des Coronel nicht einmal der Nicht-Status der Witwe zu. Vgl. die Ausführungen von R. Da Maua zum Witwenstatus als terra de ninguem - am Beispiel des Romans Dona Flor e seus dois maridos. R. Da Matta 1987. S. 133. Aus der guten und sanftmütigen Tereza Met de Engenho und Tereza favo-de-mel wird Tereza Boa de briga, wenn Prinzipien und Werte, - Freundschaft, "Ehre" der Frau - der sozialen und religiösen Gemeinschaft verletzt oder bedroht sind. Von Interesse am Verhalten Terezas ist, daß sie die Grenzziehung von Privatem und Öffentlichem, wie sie Roberto Da Matta in A casa e a rua; espaço, cidadania, mulher e morte no Brasil für Brasilien beschrieben hat, durchbricht. Vgl. R. Da Matta 1987. S. 164. Sie "klagt" auch für die öffentlichen und halböffentlichen Räume - Straße und Kabarett - die Gültigkeit "privaten" Rechts ein. Vgl. J. Amado 1973. S. 8-10.

einen toten und einen lebenden Körper repräsentiert. Dies manifestiert sich auf der Ebene der Handlung: Ihr durch Gewalt und Demütigungen stigmatisierter (toter) Körper erlebt mit ihrem zweiten Leben, das mit dem Tod des Capitäo einsetzt, eine Wiederauferstehung. Dies gilt im gleichen Maß für ihre Sexualität. Komplementär zur symbolischen Wiederauferstehung Terezas ist das plötzliche Auftauchen des totgeglaubten Matrosen, Januârio Gereba, der zu Beginn des Textes als "espirito" vorgestellt wird. Dies Wunder läßt sich im Zusammenhang mit der Ausschöpfung des Motivs der Liebe zwischen Toten und Lebenden als Teil der bahianischen populären Mythen integrieren. Und auch Amados Durchkreuzen der mythologisch poetisch-caymmianischen Erzählung mit dem Einstreuen programmatisch-trivialer Dialoge aus einer Telenovela in der Episode des Happy-end zielt auf Tradieren populärer Erzählungen - auch in Form des modernen Melodramas. 47 Es bleibt in Bezug auf die dichotomische Repräsentation der Welt (der Lebenden und Toten) noch ein Moment zu erwähnen, das auch in bisherigen Lektüren dieser Richtung unberücksichtigt blieb. In der Schlußszene - dem Abschied des im Zeichen des Mythos wiedervereinigten Liebespaars von Bahia werfen Tereza und Janu in einem symbolisch-rituellen Akt die Toten ihres vergangenen Lebens über Bord. Roberto Da Matta hat zu Recht die Bedeutung der Toten, vor allem auch ihre problematische Seite für die Lebenden unterstrichen. Das Verschlingen der Toten durch das Meer entspricht dem kannibalistischen Akt, dem Ritual des Verspeisens der Toten. Dieser Totenkult, verstanden als symbolischer Akt, der die Zerstörung durch Zeit und Tod aufhebt, der eine weitere enge Verbindung der Toten und Lebenden impliziert, 48 läßt sich auch in eine ganz andere Richtung interpretieren: als radikale Ausgrenzung, Vernichtung der Toten durch die Lebenden aus Angst vor deren Rückkehr. Januârio Gereba und Tereza zumindest möchten sich ganz sicher sein, daß alle Toten über Bord und vom Meer verschlungen sind: O mar se abriu e sefechou. Tereza suspira aliviada. Gereba pergunta: - Tem mais algum? Se tem, a gente aproveita e joga no mar.49 In dieser Praxis des Über-Bord-Werfens der Toten wird die Existenz des Todes nicht negiert, wie in der Thanatopraxis der westlichen Kultur. Die Kommunikation zwischen Lebenden und Toten, zwischen Gegenwart und Vergangenheit als 47

Vgl. Jacques Goimards Bemerkungen, das Melodrama sei in erster Linie das Theater der Wünsche und des Begehrens. J. Goimard 1980. «Le mot et la chose». In: Le cahiers de la cinémathèque. S. 21.

48

R. Da Matta 1987. S. 157.

49

J. Amado 1973. S. 462. 87

kulturelle Strategie verweist auf ein besonderes Verständnis von Tradition, Geschichte und Erinnerung. Im historischen Diskurs im Westen erscheinen, wie Michel de Certeau unterstreicht, die Vergangenheit als etwas Totes und die Toten als etwas, das keine Beziehung zu den Lebenden hat. 50 Gegen diese Versionen von Geschichte schreibt Jorge Amado mit Strategien populären Erzählens an.

50

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M. de Certeau 1975. L'icriture de l'hisloire. Paris.

Antonio Callado und Darcy Ribeiro

Der Schriftsteller als Theologe, der Anthropologe als Schriftsteller, als Held der Tropen: Quarup und Maira

1967, zum Zeitpunkt, als sich in Brasilien einerseits der "Estado militar" massiv durchzusetzen begann und andererseits die Befreiungstheorien - Paulo Freires Alphabetisierungskampagnen und die "Theologie der Befreiung" - konstituierten,1 erschien Antonio Callados Roman Quarup. Es überrascht also nicht, daß der Romanheld ein Padre ist, dessen anthropologisch-ethnographischen Interessen ein offenes Geheimnis sind. Elf Jahre später veröffentlichte der Ethnograph und Essayist Darcy Ribeiro seinen ersten Roman Maira. Auf die Frage, warum er einen so ähnlichen Roman wie Quarup geschrieben habe antwortet Darcy Ribeiro ironisch: [...] é, mas eu sou o padre Nando, e o Callado sabe disso2 Mit dieser Bemerkung liefert er gleichzeitig Lektürehinweise für '

2

Zu Paulo Freires Projekt der Pädagogik der Befreiung vgl. insbesondere Vanilda Paiva 1980 Paulo Freire e o nacionalismo-desenvolvimentista. Rio de Janeiro; dies. 1984. «Anota(öes para um estudo sobre populismo católico e educa;So popular». In: dies. (Hrsg.). Perspectivas e dilemas da educando popular. Rio de Janeiro. S. 227-266. 1961 bekam das "Movimento de E d u c a l o de Base" (MEB) durch ein Finanzierungsabkommen zwischen Jànio Quadros und dem Bischof von Aracajú, Dom José Távora, offizielle Unterstützung. Vgl. J.P. Peixoto 1976. «Movimento de educafäo de base: alguns dados históricos». In: Proposta. Nr. 3. S. 40-51 Nach dem II. Vatikanischen Konzil (ll.Oktober 1962 bis 8. Dezember 1965), das als historisches Ereignis der "Öffnung" der Institution gilt, nach der Amtszeit Papst Johannes des XXIII (1963), der mit den Enzykliken "Mater et Magistra" (1961) und "Pacem in Tenis" (1963) bereits den Reformkurs der katholischen Kirche einleitete (Vgl. S. Mainwaring 1986. The Catholic Church and Politics in Brazil 1916-1985. Stanford. S. 43) formiert sich die "Theologie der Befreiung", als deren Grilndungsereignis die II. Conferencia Geral do Episcopado Latino-Americano gilt, die vom 26. August bis 6. September 1968 in Medellin abgehalten wurde. Neben der Deklaration "der Platz der Kirche sei an der Seite der Armen", der Notwendigkeit von "StnikturTeformen" insbesondere in der Agrarpolitik (Landreform), wird eine Erziehungspolitik gefordert, die vor allem die Eigenständigkeit und Anerkennung der indianischen Kultur und ihrer Werte unterstreicht. Mit dieser Anerkennung der Verschiedenheit der Kulturen, Religiositäten und Ethnien vollzieht sich ein Paradigmenwechsel, der sich in der westlichen "neuen Theologie" manifestiert Vgl. J. B. Metz 1977. Zeil der Orden? Freiburg. L. Chiappini Moraes Leite 1982. «Quando a pàtria viaja: urna leitura dos romances de Antonio Callado». In: C. Zilio/J.L. Lafetá/L. Chiappini Moraes Leite. O nacional e o popular na cultura brasileira. Säo Paulo S. 246. 89

beide Texte: Auch Quarup ist als eine ethisch-theologisch-religiöse Auseinandersetzung zu lesen. Darcy Riheiro sieht sich selbst einem Rollenwechsel, vom Ethnographen zum Theologen/Padre - ich füge noch zum Schriftsteller/Erzähler hinzu, und das ist entscheidend für meine Lektüre - unterworfen.

Quarup und Meura. Plädoyer für eine vergleichende Lektüre ungleicher Texte Antonio Callado gilt als politisch engagierter Schriftsteller und wird entsprechend rezipiert. Das soll nicht bestritten werden. Es kann nun aber nicht um eine nochmalige Lektüre und Situierung von Callados Quarup als "romance politico" gehen oder um den Beweis, ob bzw. inwieweit der Anspruch, ein Wirklichkeitsporträt der 60er Jahre zu liefern, erfüllt wird. 3 Es ist das Verdienst von Silviano Santiago, auf die Neuerungen des Diskurses der "Memoiren" und "Erinnerung" aufmerksam gemacht und die Abweichungen der Literatur nach 1964 vom modernistischen Diskurs hervorgehoben zu haben. Die spätmodemen Fiktionen steilen die Frage nach den Machtverhältnissen und lassen ideologische Bestimmungen am Rande, wie es sich bei Quarup - so die Tnese - abzeichnet. Callado liefert eine kritische Antwort auf die Identitätssuche der Modernisten, ihren letztlich konformistischen Beitrag bei der Wiederentdeckung des Landes und der Konstitutierung der Nation. Aber genau in diese Richtung als Durchmessen und Aneignung Brasiliens wird Callados Roman in erster Linie interpretiert. Ja, in Quarup wird ein Expeditionsprojekt beschrieben, es findet eine narrative Reise durch Regionen der "Peripherie" statt mit dem Motiv, das Herz Brasiliens zu "entdecken". Doch das Entscheidende dieser "Suche" ist das Ende und "Ergebnis" dieser "wissenschaftlichen Recherche":

D. Arrigucci 1979. «O baiie verdadeiro na literatura de Callado». In: Achados ? perdidos. Ensaioä de literatura. SSo Paulo. S. 82. L. Chiappini Morass Leite 1982. Flora Süssekind kommt in ihrer kritischen Lektüre zu dem Ergebnis, daß Callados Roman hinter mähltcchnische Erneuerungen der Modemisten zurückfällt Vgl. Flora Süssekind 1985. literatura e vida ¡iterária. Rio de Janeiro. Der bekannte Erzähler und Journalist Joäo Aniflnio übte radikale Kritik am Habitus der Ober- und Mittelklasse der 64er Intellektuelle ngenerstion. Er lehnt ästhetische Überlegungen "um ihrer selbst willen" ab, klagte eine Literatur des corpo-a-corpo com a vida ein. Vgl. Joäo Antonio 1977. Malditos escritores. Säo Paulo. S. 4,

90

Das Zentrum Brasiliens befindet sich in einem Termitenhügel. 4 Es ist ein Mangel an epistemologischer Offenheit in bezug auf diese Texte nach 1964 seitens der Literaturkritik zu bemerken, die zwischen ideologiekritischen und ästhetischen Lektüren pendelt. Die Kritik tendiert dazu, diese Fiktion auf gelungene oder nicht gelungene mimetische Darstellung der Wirklichkeit zu reduzieren; sie legt das Barometer Optimismus oder Pessimismus an und beklagt das Fehlen sozialutopischer Entwürfe. Das Lektüreergebnis, Quarup bilde da eine Ausnahme, 5 reprimiert den Roman auf eine Sozialutopie. Ich schlage eine im Ansatz vergleichende/kontrastive Lektüre vor, die Quarup und Maira als ethnographische Texte faßt, denn beide Romane weisen sich bereits vom Titel her als solche aus. Ein weiteres Moment, das diesen Vergleich nahelegt, ist die für beide Texte zentrale Problematik der Religion bzw. Theologie. Callados dialogische Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung steht auf der einen Seite, auf der anderen Darcy Ribeiros produktive Polemik gegen die westlichchristliche Zivilisation. Diese von Darcy Ribeiro in Essays ausgearbeiteten theoretischen Überlegungen zur "Prospero und Caliban-Debatte", der als Teil der Diskussion über Postkolonialismus eine Schlüsselrolle zukommt, wird mit Verweis auf andere Arbeiten 6 nur am Rande aufgenommen. Die Gewichtung meiner Lektüre ist folgende: Bei Quarup richtet sich das Interesse primär auf das ethisch-religiöse Problemfeld mit den in den 60er Jahren neu aufkommenden Fragen. Bei Darcy Ribeiro interessiert in erster Linie das ethnographische Moment in Koinzidenz mit dem Zeitpunkt des Schreibens und der Tatsache, daß Fiktion geschrieben wird. Auf die Arbeit am Text wird bei Maira mit Verweis auf vorliegende Lektüren weitgehend verzichtet. Der Schriftsteller und Journalist Antonio Callado wendet sich in Quarup einem ethnographischen Thema zu. So auch Darcy Ribeiro mit Maira, doch sind Auf Mário de Andrades ironische Replik auf Saint-Hilaires Beschreibung Brasiliens in Macmatma, Pouca saúde e muitas saúvas os males do Brasil säo, ist in diesem Zusammenhang immer wieder hingewiesen worden, allerdings wurden verschiedentlich - z.B. von Lúcia Regina de Sá 1990. A literatura entre o mito e a história. Säo Paulo - keine Konsequenzen aus dieser Ironie gezogen. Callado schreibt sich mit Quarup in die Tradition utopischer Entwürfe, Lima Barretos O triste flm de Policarpo Quaresma und Mário de Andrades Macunaima ein. Zur Lektüre Lima Bárrelos vgl. D. Briesemeister 1991. «Der scheiternde Held als Leser. Lima Barretos Triste flm de Policarpo Quaresma' und seine Fiktionen von Brasilien als "Land der Zukunft"». In: E. Pfeiffer/H. Kubarth (Hrsg.) Canticum Ibericum. Frankfurt S. 215-228. R. Schwarz 1978. O pai de famüia o outros estudos. Rio de Janeiro. Vgl. R. M. Morse 1982. El espejo de Próspero. Un estudio de la dialética del Nuevo Mundo. México. Vgl. auch George Yúdices ironischen Kommentar zu Roberto Fernández Retamars Essays zur kulturellen Situation in Lateinamerika im Vergleich zum Westen - Calibán y otros ensayos. Nuestra Amtrica y el mundo Vgl. G. Yúdice 1991. «Postmodemity and Transnational Capitalism in Latin America». In: Revista brasileira de literatura comparada. Nr.1/1991. S. 87-109.

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die Modalitäten hier ganz andere. Es stellt sich die Frage, was ihn, den Ethnographen, Vertreter einer "exakten Wissenschaft" und Essayisten, dazu veranlaßt, den Roman zu schreiben, Imagination ins Spiel zu bringen? Eine mögliche Antwort liegt in der These, daß Fiktion als Form des Wissens und der Methode näher an der "Wirklichkeit" ist als dokumentarisches Schreiben, 7 die es im folgenden zu vertreten gilt. Krise der Ethnographie,

ein Symptom

In den 60er Jahren erlebt die Ethnographie weltweit einen Zusammenbruch oder zumindest eine tiefe Krise. Als explizit europäische Wissenschaft wurde sie verschiedentlich als Ideologie der europäischen Ethnie bezeichnet 8 und folglich scheint es kein Zufall zu sein, daß diese Krise mit dem Ende der Kolonialzeit 1962 endet der Algerienkrieg - zusammenfällt. 9 Der Zusammenbruch war ein Schock, denn immerhin hatte die Ethnographie den Status einer exakten (empirischen) Wissenschaft, zumindest war das der Anspruch, den Lévi-Strauss formulierte. 10 Der Universalitätsanspruch des Strukturalismus ist oft kritisiert worden und führte zu heftigen Debatten. 11 Am bekanntesten ist wohl die Polemik zwischen Jacques Derrida und Claude Lévi-Strauss in den 60er Jahren, auf die ich gleich eingehe, in die sich auch Michel Foucault einschaltete. 12 Eine 7

Für diese These sprechen ethnographische Filme, z.B. von Jean Rouch. Ich denke vor allem an die der 60er Jahre, in denen der umgekehrte Weg eröffnet und die Rollen vertauscht werden. Die historisch als die "Anderen" Konstituierten kommen nach Paris und betreiben dort Ethnologie. Vgl. J. Rouch Petit à petit (1969). Mark Miinzel hat in einem Beitrag auf die Nähe zwischen ethnographischer Arbeit und fiktionaler Produktion hingewiesen und das Lernen von und Teilhaben an literarischem Wissen unterstrichen. Vgl. M. Miinzel. «Kulturkritik bei der Betrachtung indianischer Kunst. Ein Vergleich zwischen deutschen und brasilianischen Ansätzen». In: B. Scharlau (Hrsg.) im Druck.

"

Michel Foucault bemerkt: Die Ethnologie steht innerhalb der besonderen Beziehung, die die abendländische ratio mit allen anderen Kulturen herstellt. M. Foucault 1989. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt. S. 452.

9

V. Descombes 1978. S. 162.

10

Claude Lévi-Strauss beansprucht in seiner Antrittsvorlesung 1960 am Collège de France filr die strukturale Anthropologie den Status einer exakten Wissenschaft. Sie sei auf der Suche nach einem universellen Code, der umfassend kulturelle Erscheinungen erklärt und auch die Phänomene der Natur bis in ihre materiellen chemisch-physikalischen Bestandteile erfaßt. Vgl C. Lévi-Strauss 1975. Strukturale Anthropologie II. S. 18; ders. 1978. Strukturale Anthropologie I. S. 251; ders. 1973. Das wilde Denken. Frankfurt. S. 284. Er versteht seine Arbeit als eine Kampfansage an das abendländische Vernunftsdenken und den dazugehörigen Ethnozentrismus. In den Tristes tropiques artikuliert er das Ziel der strukturalen Anthropologie als eine "Art von Superrealismus". C. Lévi-Strauss 1955. Tristes tropiques. Paris. S. 50.

11

Die sich am Strukturalismus entzündende Disput ging als Methoden-, Humanismusstreit in die Wissenschaftsgeschichte ein. Vgl. V. Descombes 1978. S. 124. Nach unserer Auffassung greifen beide Kategorien zu kurz, denn es geht vor allem um das Markieren bzw. Erobern von Terrain im Feld der Intellektuellen.

12

Angemerkt sei, daß Derrida aus dieser Debatte als "Sieger" hervorgeht. Die Polemik dient zur Profilierung Denidas, ebenso wie die spätere Polemik mit Foucault. Diese "Zweikämpfe" geben einmal mehr Auskunft

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zweite Polemik, die Ende der 80er Jahre um den Status der westlichen Anthropologie, den Diskurs über "den Anderen", in den USA zwischen James Clifford und Edward Said geführt wird, steht unmittelbar damit in Zusammenhang. Sie wird im folgenden Kapitel skizziert. In diesem Kontext ist auch Clifford Geertz Einmischung mit seiner Publikation Lives and Works. The Anthropologist as Author (1988) von Interesse.13 Aus dem Widerstreit Derrida-Lévi-Strauss greife ich drei Momente heraus, die unmittelbar mit der Frage der Disziplin und ihren Prämissen zu tun haben und somit für die Lektüre von Bedeutung sind. Sie betreffen die Entwicklung der Geschichte der Ethnographie, ihren privilegierten Status und ihre Praxis bzw. die Effekte dieser Praxis. Die erste Bemerkung zielt auf die Herausbildung der wohlgemerkt europäischen Wissenschaft: Der ethnologische Diskurs enstand in einer Zeit, in der autoritäre Diskurse produziert wurden, als Gegendiskurs. 14 Er kam zu einem Zeitpunkt auf, als, aufgrund des politischen, ökonomischen, technischen Moments, eine Dezentrierung der europäischen Kultur möglich wurde. Die Kritik des Ethnozentrismus ist - nach Derrida - gewissermaßen eine Vorbedingung für die Konstituierung der Ethnologie 15 . Bei Lévi-Strauss manifestiert sich diese Kritik in der ambivalenten Haltung, die den Ethnologen, d.h. sich selbst, als "schuldigen" Zuschauer, den Lebensstil primitiver Kulturen "ausbeutend" und "zerstörend" 16 sieht. Derrida argumentiert, daß Ethnologen bewußt oder unbewußt die Vorannahmen des Ethnozentrismus in sich aufnähmen, genau da, wo sie sich von ihm lös(cn). Als Bezug diene zwangsläufig immer die eigene Kultur und in der Konstruktion des "Objekts" würden die Prämissen des Ethnozentrismus aufgenommen. Die zweite Bemerkung zur Derrida-Lévi-Strauss Polemik betrifft den Status der Ethnologie als empirischer Wissenschaft und den daran geknüpften Anspruch, theoretische Erklärungen und Orientierungen zu liefern. Derridas Kritik Uber den Wissenschafts betrieb, der nach Mechanismen der dramatischen Inszenierung funktioniert, als aber die Individuen selbst Demdas berühmt gewordener Beitrag Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, an dem sich die Kritikergeister spalten, wurde erstmals 1966 bei einer Konferenz an der Johns Hopkins University vorgetragen. Er gilt als "GrUndungstext" für die amerikanische Schule der Dekonstmktion. Vgl. Ch. Norris 1987. Derrida. London. S. 140. 13

Im folgenden verwende ich den Begriff Anthropologie als Äquivalent filr "Ethnographie", obwohl das natürlich nicht exakt ist. Da ich mich aber nur auf eine Anthropologie beziehe, die auf ethnographischer Basis arbeitet, erlaube ich mir diese Vereinfachung.

14

M. Foucault 1989. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt S. 454.

15

J. Derrida 1976. Die Schrift und die Differenz. Frankfurt. S. 427. Derrida sieht die Zuwendung zu archaischen, exotischen Gesellschaften in einer ethisch-nostalgischen Haltung motiviert. Vgl. J. Derrida 1976. S. 440.

16

C. Lévi-Strauss 1955.

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an Lévi-Strauss' Konzept folgt bewußt einer logischen Argumentation. Er spricht von einem philosophischen Fehler, der Empirismus heiße. Was Derrida bei Lévi-Strauss' Projekt aufs Korn nimmt, ist die für die strukturale Anthropologie zentrale Opposition zwischen den Begriffen Natur und Kultur. Die binäre Kategorie wird zum Ausgangspunkt für die Versuche, das Aufkommen der menschlichen Institutionen (Sprache, Mythen) zu theoretisieren. Derrida nimmt die Instanz des Inzest-Tabus - die von Lévi-Strauss' selbst in ihrer Ambiguität unterstrichen wird - und "führt" vor, wie empirische Arbeiten die Universalität der Kategorie Tabu etablieren und zum Kollaps der Unterscheidung Natur/Kultur führen. 17 Als eine weitere Dichotomie Lévi-Strauss' greift Derrida die des bricoleur und ingénieur auf. Lévi-Strauss' Argument, sein Projekt als eine Form der "bricolage" sei sinnvoll auf der mytho-poetischen Ebene und folglich nicht notwendigerweise "totalisierend", liegt außerhalb von Derridas Interesse. Er führt Lévi-Strauss als "Konstrukteur" vor, der zum Schöpfer seines eigenen Diskurses wird und die Totalität seiner Sprache, Syntax und Lexik konstruiert. Der "ingénieur"-Wissenschaftler erscheint als Spezies des "bricoleur", und damit ist die Idee der "bricolage" und ihre Bedeutung - die Unterscheidung zwischen zwei Formen des Wissens und der Methode, zwischen Konzept und Mythos, Kohärenz und Zusammenbruch, Theorie und "bricolage"Praxis - hinfällig. Nach Derrida wäre Lévi-Strauss' Vorhaben als deklariert metanarrativer oder wissenschaftlicher Diskurs zu akzeptieren. Mit seinem "bricolage"-Konstrukt verfolge Lévi-Strauss einmal mehr eine Strategie der Sinnstiftung. 18 Metanarrativer Diskurs, das ist auch genau das Moment, bei dem Clifford Geertz in dem bereits erwähnten Buch ansetzt. Er bezeichnet die Metadiskurspraktiker unter den Anthropologen als Opfer der epistemological hypochondria.19 Die These ist also, daß es sich nicht um einen wissenschaftlichen empirischen Diskurs handelt, sondern um einen narrativen. In der Literaturauffassung 17

J. Derrida 1976. S. 427. J. Derrida 1974/1983. Grammalologie. Frankfurt. S. 206. J. Derrida 1976. S. 429. Jacques Derrida weist Die Struktur, das Zeichen und das Spiel als explizite Lektüre aus, "Philosophen", konkret Lévi-Strauss, in eine bestimmte Richtung zu lesen - J. Derrida 1976. S. 428 - , d.h. dekonstniktivistische Praxis vorzuführen. Es geht ihm also vor allem darum, Lévi-Strauss' Dekonstruktion seiner eigenen Arbeitsmethode zu zeigen.

18

J. Derrida 1976. S. 431. J. Derrida 1974/1983. C. Geertz 1988. Works and Lives. The Anthropologin as Author. Stanford. S. 71. Neben Claude LéviStrauss nimmt er u.a. Evans Prichard, Malinowski als paradigmatische Fälle. Clifford Geertz nimmt sich Lévi-Strauss' Tristes tropiques vor, einen Text, von dem sich Lévi-Strauss später distanziert hat. Von Interesse wäre eine Lektüre der Doktorarbeit von Lévi-Strauss - La vie familiale et sociale des indiens Nambikwara 1948. Paris (Société des Américanisles) - unter dieser Fragestellung vorzunehmen. Es handelt sich um einen klassischen ethnographischen Text.

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dieser Anthropologen werde deutlich, daß sie Methode nicht als etwas annehmen, das ein transparentes Medium sei. Geertz macht in seiner Lektüre ethnographischer Texte einen autoritären Diskurs aus, der die verschiedenen Stimmen und ihre multiplen Bedeutungen nicht repräsentiert, sondern als homogen erscheinen läßt. Der Diskurs über den "Anderen" Die zweite Polemik, die "Said-Clifford Debatte"20 schreibt sich ein in den theoretischen Diskurs über den "Anderen",21 der sich um das Revidieren des Universalitätsanspruchs seitens westlicher (anthropologischer) Wissenschaft in der Situation der Krise dreht. James Clifford hat in seiner Arbeit The Predicament of Culture die "Krise der ethnographischen Autorität" als Symptom der allgemeinen Krisensituation der westlichen Kultur beschrieben, die im Kreis der Anthropologen einen kritischen Metadiskurs hervorbringe:22 Der Ethnologe reflektiert seine Position, er analysiert die Diskurse und ihre Regeln, sieht sich selbst beim 20

2

'

22

Ich beschränke mich auf die unmittelbare Auseinandersetzung um das zu revidierende Projekt der Anthropologie. Dennoch sei zum besseren Verständnis der Polemik James Clifford's Kritik am Standardwerk der Disziplin - Saids Orientalism - angeführt. Der Vorwurf ist nicht gering: Moniert wird der Mangel an any developed theory of culture as a differentiating and expressive ensemble rather than as simply hegemonic and disciplinary. Vgl. J. Clifford 1988. S. 263. Im folgenden seien einige wichtige Arbeiten angeführt, die hier nicht diskutiert werden können: Tvzetan Todorov hat mit seinem Buch La conquête d'Amérique. La question de l'autre (1982) zehn Jahre vor den Feierlichkeiten zur 500jährigen "Entdeckung" Lateinamerikas, auf die "Eroberung" repliziert. Sein Vorhaben, eine Typologie des Verhaltens gegenüber dem "Anderen" zu entwerfen, die er anhand einer Analyse von Texten aus der Kolonialzeit vornimmt, zielt auf die Kenntnis des "Anderen" ohne Vereinnahmung. An seiner Arbeit, die vornehmlich im Konstruieren eines kolonialen Subjekts besteht - Todorov erfindet einen Indio, den kolonialen Indio als neues Ideal - scheiden sich die Kritikergeister. Vgl. J. Franco 1992b S. 176. Gayatri Spivak, z.B., nimmt Todorovs neo-kolonialistischen Diskurs aufs Kom, wenn sie eine SchlUsselpassage zitiert: This extraordinary success (that the colonized peoples have adopted our customs and have put on clothes) is chiefly due to one specific feature of Western civilization which for a long time was regarded as a feature of man himself, its development and prosperity among Europeans thereby coming proof of their superiority: it is paradoxically. Europeans' capacitiy to understand the other. Vgl. G. Spivak 1990. «Poststnicturalism, Marginality, Postcoloniality and Value». In: P. Collier et al. (Hrsg.). Literary Theory Today. Cambridge. S. 240. Michel de Certeaus Kritik am Diskurs über den "Anderen" als einen (posQkolonialen befaßt sich zum einen mit psychoanalytischen Modellen (Freud, Lacan, Foucault), zum anderen mit verdeckten kolonialistischen Diskursformen in den Reiseberichten von Wissenschaftlern. Vgl. M. de Certeau 1986. Heterologies. Discourse on the Other. Manchester. Von Interesse an Rolena Adornos Überlegungen zum Diskurs des "Anderen" ist ihre konfrontierende Lektüre Todorovs und Certeaus. Sie beschreibt ihre Studie Uber Guamin Poma de Ayala als Akt des Revidierens, der Dekolonialisierung. Vgl. auch Stephen Greenblatts Reflexion Uber die "Eroberung". Er arbeitet mit den Kategorien - Alterität, Repräsentation und Hybridität - und analysiert den rhetorischen Gebrauch des "Wunderbaren" als Rechtfertigung der "Conquista". Vgl. St. Greenblau 1992. Marvelous Posessions. The Wonder of the New World. Chicago. J. Clifford 1988. The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography. Literature and Art. Cambridge. S. 41.

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Beobachten als Beobachter. Edward Saids Orientalism ist eine unübertroffenen Studie über die (post)koloniale Repräsentation des "Anderen". Said analysiert und beschreibt nicht einfach Marginalität oder Marginalisierungsprozesse, sondern er befaßt sich vielmehr mit der Konstruktion des Objekts, das zum Gegenstand der Forschung und Objekt der Kontrolle wird. 23 Er bezieht sich auf Texte als system o f f orces institutionalized by the reigning culture at some human cost to its various componentsu und argumentiert - wie auch Gayatri Spivak in Other Worlds daß der westliche Mythos der Universalgeschichte nicht zu lösen ist über die Begegnung mit dem Anderen, wie in revidierten Projekten neuer Anthropologie vorgeschlagen wird. James Clifford bezeichnet Edward Saids Einwand gegen den veränderten Blick auf die Anthropologie als Form von old fashioned existencial realism.25 Saids Antwort wiederum ist eine historisch ausgerichtete und wissenschaftsgeschichtlich argumentierende Studie mit dem paradigmatischen Titel: Representing the Colonized: Anthropology's Interlocutors (1989). 26 Said verortet hier das Hauptproblem des Revision-Projekts von James Clifford in der ästhetisch ausgerichteten Antwort auf die Krise. Es handele sich um eine Antwort, die die subversiven praxisorientierten Erwägungen, die Anthropologie abzuschaffen, nicht beachte, wie sie in Zentral- und Lateinamerika in der Folge der Kritik an anthropologisch kulturellen Konzepten und ihren hegemonisch ausgerichteten Applikationen in Betracht gezogen wurden. 27 Ein Ergebnis der theoretischen Überlegungen läßt sich so formulieren: der Diskurs über den "Anderen" dient als Projektionsfeld für die Repräsentation der verdrängten Momente der eigenen Kultur. Das führt zu der Frage, wie es mit der literarischen Repräsentation von Minderheiten der eigenen Kultur bestellt ist. 23

G. Spivak 1990. S. 221.

24

E.Said 1978.

25

J. Clifford 1988. S. 259.

2

Edward Said nimmt einen politischen Standpunkt ein, wie auch Johannes Fabian, der Feldforschung für einen Spezialfall für die Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und seinem "Anderen" hält. Vgl. J. Fabian 1983. Time and Other: How Anthropology makes its Object. New York. S. 149. E. Said 1989. S. 215. Roberto González Echevarría kritisiert Said's "Dritte Welt Konzept" in diesem Zusammenhang als widersprüchlich, ahistorisch. In Annäherung an ein homogenes Imperialismuskonzept produziere er in bezug auf Zentral- und Lateinamerika Klischees und Fehlinterpretationen. Echevania erhebt "mahnend" die Stimme und warnt Kritiker davor to dispense with Borges, Márquez, Carpentier, Llosa. R. González Echevarría 1990. S. 215. R. González Echevarría sieht in dem in lateinamerikanischen Narrationen stattfindenden Prozeß der Assimilation und Verzerrung eine Möglichkeit, dem westlichen, ethnologischen Diskurs zu entkommen. Auffällig an diesem Lösungsvorschlag Echevarrias ist sein auf den Kanon, die Meistererzahler, ausgerichteter Blick. Diese Fixierung auf die "masterpieces" stiftet nicht nur ein Unbehagen - einzig die new masterstory, als Beitrag zur Erneuerung der Literatur wahrzunehmen - , sie läßt sich generell als Kritik an diesem ambitiösen Unternehmen - einer Meisterstudie zur lateinamerikanischen Literaturgeschichte vorbringen, zumal sie sich als Foucault und Bachtin verpflichtet ausweist.

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27

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Eine Reihe von lateinamerikanischen literarischen Texten - paradigmatisch ist Vargas Llosas El hablador - thematisieren in selbstreflexiven Formen die problematische Rolle der Wissenschaft im Zusammenhang mit Hegemoniebestrebungen der USA in Lateinamerika, die im anti-imperialistischen Diskurs der 60er Jahren angeprangert wurde. Carlos Fuentes, Julio Cortázar und auch Darcy Ribeiro entwickeln neue Formen des Metadiskurses. Der Anspruch einer anthropologischen Vermittlung wird in diesen Texten annuliert; sie zeigen auf, daß es sich um literarische Imagination handelt. Am Beispiel von Maira wird dies beschrieben. In Callados Quarup hingegen liegt der Fall anders, hier finden wir eine Trennung zwischen schreibendem Subjekt und beschriebenem Objekt.

Quarup: Der Anthropologe als Held Die Thesen Ludwig Feuerbachs Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie bzw. Das Wesen der Religion ist nichts anderes als das Wesen des Menschen,26 die von Theoretikern der Theologie der Befreiung wie Gustavo Gutiérrez, aufgegriffen und weitergedacht wurden, dienten als methodisches Vorgehen und kritisches Korrektiv der theologischen Praxis. Hierzu läßt sich feststellen: Das Geheimnis der literarischen Figur Padre Nando ist seine (Selbst-) Berufung als Anthropologe/Ethnograph. Es handelt sich um ein offenes Geheimnis, dessen theoretische Seite 29 wir vernachlässigen wollen und uns den Manifestationen im Text Callados zuwenden. Antonio Callado erzählt in Quarup die Geschichte eines jungen, weltoffenen Franziskaner-Priesters aus dem Nordosten, der Mitte der 50er Jahre die Mission erhält, im Hinterland des Xingu-Flusses in Zentralbrasilien die Indianer zum Christentum zu bekehren. 30 Sein zunächst am historischen Vorbild der Jesuitenreduktionen in Paraguay ("Sete povos das Missöes") orientiertes Projekt zeichnet sich von Anfang an als ein ethnologisches aus. Nando verfügt über ein 28

L. Feuerbach 1975. Kritiken und Abhandlungen II (1839-1843) Bd.3. E. Thies (Hrsg.). Frankfurt. S. 223.

29

G. Gutiérrez 1974. Teología de la liberación. Salamanca. Deutsch 1978. Theologie der Befreiung. S. 206. Thomas von Aquins konstitutive Verknüpfung der Begriffe "gratia" und "natura" verweist darauf, wie Gustavo Gutiérrez fesstellt, und folgert: Theologie wird so zu einer intellektuellen Disziplin, die Frucht des Zusammentreffens von Glauben und Vernunft ist. Vgl. G. Gutiérrez 1978. S. 9. Die Tradition missionarischer Aktivitäten im "hintersten Winkel" verweist auf die ethnologisch-wissenschaftlichen Interessen. Die 1622 gegründete missionarische Körperschaft "Sacra Congregatio de Propaganda Fide" agierte bereits in den entlegendsten und schwer zugänglichen Regionen. Vgl. V. Lorscheiter 1976.« A igreja e os indios no Brasil. Pastoral indigenista ontem e hoje». Colóquio de estudos luso-brasileiros Tóquio 10. S.II. 97

umfangreiches ethnologisch-geographisch-historisches Wissen aus Reiseberichten, historischen Dokumenten und mythologischen Texten; es dient als Basis für seinen utopischen Entwurf eines neuen "Impèrio Guarani". Das Projekt wird revidiert, er tritt die Expedition zum Xingu als eine Art von "action anthropologist" bzw. als Vorläufer der Theologie der Befreiung 31 an. Auch dies Vorhaben, sich in den Dienst der fremden Kultur zu stellen, scheitert: Anthropologie beschränkt sich in erster Linie auf die Beschreibung einer verschwindenden Kultur, auf die Dokumentation des indianischen Genozids. Doch verbleibt Callado nicht auf der Ebene der Nostalgie und Trauer um den Verlust. Die Reise funktioniert als Ritual des Übergangs. Für den intellektuellen Helden bietet die Begegnung mit dem "Anderen", der kulturellen Welt der Indianer, eine Lösung seiner Identitätskonflikte. Nando besteht die Prüfungen des Urwalds. Er erkennt die Bedeutung und Mechanismen des Zivilisationsprojekts - die Nivellierung alles Fremden mit der Folge, daß die Möglichkeit, auf eigene Weise existieren zu können, genommen ist32 - und kehrt als "geläuterter" Held, d.h. mit einem neuen Lebensprojekt in den Nordosten zurück. Ohne seinen Glauben an Gott zu verlieren, zieht er Konsequenzen aus seinen neu gewonnen Erfahrungen und Erkenntnissen und praktiziert Theologie der Befreiung an einem Ort, der Möglichkeiten für Veränderungen verspricht. Nando legt die Soutane ab und engagiert sich politisch in der Organisation der Landarbeiter und Fischer. Auch dieses Projekt scheitert. Radikalisiert durch seine Erfahrungen mit den Institutionen der Macht - Polizei, Militär - schließt er sich nach einer Phase eskalierender Gewalt einer Gruppe von Rebellen an, um im Sertäo erneut den Aufstand zu proben. Das Ende der Geschichte bleibt offen. Zwar deutet sich ein Scheitern der Rebellion an, aber ein utopisches Moment ist präsent. Callado erzählt die ereignisreiche Geschichte des Helden linear, mimetischrealistisch, in durchgängig dialogischer Form. Die Dynamik der Narration ent31

Die "aciion anthropology" der 70er Jahre ging von politischen Überlegungen aus, um das Projekt der Ethnologie zu teilen und sich als Ethnologen in der Praxis f(lr die Interessen der ethnischen Gruppen einzusetzen. Vgl. K. H. Schlesier 1979. «Was ist action anthropology? Ein GespräcA.» In: Berliner Hefte Nr. 12. S. 15-25. Im Rahmen der anti-ethnozentristischen "Indianerpolitik" der Kirche der Theologie der Befreiung wird Anfang der 70er Jahre zunehmend eine anthropologische Ausrichtung der Missionare gefordert. Sie wendet sich gegen die Regierungspolitik, die eine rdpida integraqäo do Indio na civilizaQäo fordert. Vgl. Boletim des CNBB vom 14.1.1974. Nando steht auf der Seite des mit den Indianern lebenden Ethnologen: A ünica coisa que importa i dar a eles os meios para sobreviver. A. Callado 1980. Quarup. Rio de Janeiro. S. 128.

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Nando schlägt wiederholt den historischen Bogen von den Anfängen der Missionierung durch die Jesuiten bis in die 60er Jahre: Dos Sele Povos ao parque eletrificado A. Callado 1980. S. 131. Die offizielle Politik - die versprochene Errichtung des Xingu-Indianerreservats seitens der Regierung scheiten - ist nur ein Effekt dieses Prozesses.

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steht durch die Konfrontation der Diskurse, Rede und Gegenrede alternieren. Die Lebenswelt ist polarisiert, die ideologischen Seiten - Mächtige und Entrechtete - sind eindeutig markiert und durch ein Netz von Aktanten repräsentiert. Paradigmatisch für die Art der Diskursführung ist der widerstreitende Dialog zwischen einem engagierten und einem für den nationalen Fortschritt eintretenden Ethnologen: Mas säo uns mandriöes, esses teus indios [...] Eu näo veria mal nenhum em botar latagöes como Canato e Sariruä inclusive no trabalho de estradas - disse Vila - Eies tambem säo brasileiros e devem ajudar o Brasil crescer. Näo säo merda nenhuma de brasileiro - disse Fontoura - e näo tem de ajudar merda nenhuma de Brasil a crescer. Nös e que devemos a eles e näo o contrario,33 Entsprechend absolut gesetzt sind die Optionen der Figuren, deren Wissen und Bewußtseinshorizont sich mit dem des Erzählers deckt. Dennoch - meine ich geht Quarup über eine allegorische Repräsentation der sozio-kulturellen und politischen Veränderungen der Dekade hinaus. Die dominierende Linearität und Kontinuität im erzählerischen Diskurs, der sukzessiv den Prozeß der "Erziehung" des Helden entsprechend dem klassischen Bildungsroman beschreibt,34 wird in entscheidenden Momenten unterbrochen und durch eine metakritische Erzähl-Instanz relativiert und differenziert, so daß es sich um keinen schematisch aufklärerischen, wahrheitsorientierten Roman handelt, wie einige ideologiekritische Lektüren glauben machen wollen. 35 Als ein wesentliches Moment für die Unterstützung dieser Lektürerichtung sind die Verschiebungen im räumlichen und zeitlichen Koordinatensystem mit dem Effekt der Dezentrierung anzuführen. Zunächst einmal verläßt Callado geographisch gesehen das intellektuell sichere Terrain Rio de Janeiros und wen33

A. Callado 1980. Quarup. Rio de Janeiro. S. 150.

34

Nandos "Entdeckung" der Welt erfolgt über Ereignisse und Begegnungen. Der erste Umschlagpunkt findet im Zusammentreffen mit Levindo, einem oppositionellen Studentenführer statt, der zweite mit dem Auftritt einer Frau. Callado setzt die semantische Funktion des Raums ein. Hier die Krypta als Symbol des abgeschlossenen, heiligen Ortes. Nando "öffnet" sich in den räumlich inszenierten Konfrontationen - beide, Levindo und Francisca "dringen" in die Krypta ein, überschreiten die Schwelle, die Nandos religiöses Leben markiert - sozialen Fragen und der Liebe. In diesen Initiationsritualen der Politisierung und Säkularisierung wird das Aufkommen der Theologie der Befreiung repräsentiert. In der Gegenbewegung kann Nando seinerseits in einem symbolischen Akt die Grenze der Institution Kirche überschreiten, er tritt die Reise zum Xingu nicht als Missionar, sondern als "kritischer Ethnologe" und "Befreiungstheologe" an.

35

Roberto Schwarz führt in seinem Beitrag Callados Quarup als ideologisch repräsentativ für die "nicht entfremdete Linke in Brasilien" an. Vgl. R. Schwarz 1978. S. 92.

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det sich der Peripherie zu - dem Nordosten, Zentralbrasilien und hier vor allem dem ländlichen Raum, zu einem Zeitpunkt als das intellektuelle Interesse sich vor allem an Urbanen Kulturprozessen orientierte. Er öffnet sich damit einem Diskurs, den er als Journalist und Erzähler nicht dominiert: dem theologischanthropologischen. 36 Der Diskurs der Theologie der Befreiung Die tragende Funktion der katholischen Kirche ist im Rahmen der Lektüre von Quarup als sozial-utopischem Roman ausführlich behandelt worden. Unser Lektürevorschlag ist, die Aufmerksamkeit auf den Diskurs der Theologie der Befreiung zu legen. Die Theorie, ihre Entwicklung, die verschiedenen Positionen manifestieren sich im Roman auf ideologischer Ebene und in der Konfiguration der Handlung. 37 Die Theologie der Befreiung repräsentiert im Roman einen aufklärungsphilosophischen Gegendiskurs, der Reformen postuliert und Säkularisierungsprozesse problematisiert. 38 Die Debatte um diese Fragen war in den 60er Jahren provokativ und skandalös. Entscheidend ist, daß Callado die neu aufkommenden Fragen um Körperlichkeit, Erotik, Liebe und Sexualität im Feld der Religion nicht nur zum Gegenstand der Reflexionen seiner Figuren macht, sondern sie selbst ausagieren läßt.39 Damit nimmt er eine der Prämissen des Perspektivenwechsels der Theologie der Befreiung vorweg. Da diese Lektüre auf beschreibender Ebene weitgehend geleistet wurde, möchte ich in diesem Zusammenhang lediglich auf einige unerwähnte Aspekte eingehen. Darcy Ribeiro hat in Zusammenhang mit der Theologie der Befreiung auf den historischen Kontext - die Kolonialgeschichte - aufmerksam gemacht. Die erste 36

Antonio Callados Interesse für das "andere" Brasilien kam nach seiner Rückkehr aus Europa. Er unternahm seine erste Reise in den Nordosten 1959 als Journalist, die zweite 1963, die er als Moment des divisor de àguas beschreibt Er kommentiert die großen Veränderungen in Bezug auf die Haltung der Priester, deren Verbundenheit der Obrigkeit gegenüber zu großen Teilen in politisches und soziales Engagement, Infragestellen des Zölibats umgeschlagen war. Vgl. L. Chiappini Mörses Leite 1982; A. Callado 1975. «Trato de ignorar que la censura existe». In: Crisis. Nr. 26.

37

L.R. De Sä 1990. Ich merke an, daß diese Arbeit die Rolle der Kirche und religiöse Fragen thematisiert, ohne ein einziges Mal die Theorie der Befreiung zu erwähnen. Vgl. L.R. De Sä 1990. Teil 1,1. S. 6-32.

3

Auf das Plädoyer für die Offenheit gegenüber weltlichen Fragen und Tabuthemen (Infragestellen des Zölibats, Verhütung und Abtreibung) wurde hingewiesen. Eine detaillierte hermeneutische Analyse würde lediglich zur Präzisierung und kleinen Verschiebungen der Interpretation beitragen. Die symbolische Grenzüberschreitung der institutionalisierten Ordnung geht soweit, daß Nando mit der Pflicht des Zölibats bricht und das oberste Gebot übertritt: Er tötet (aus Rache) einen "Schergen" des autoritären Regimes. Nando agiert nicht als einziger. Signifikanterweise manövrieren sich zwei weitere Padres ins soziale Abseits. Padre Hosana, Streiter für die Abschaffung des Zölibats ermordet im Affekt den Superior und kommt ins Gefängnis. Padre André, obsessiver Messianist, wird verrückt und wird interniert

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Begegnung zwischen Europäern und Indios führt nach Darcy Ribeiro dazu, daß Lateinamerika immer unter dem Zeichen der Utopie stand.40 In Quarup ist die Utopie der Befreiung in verschiedenen Ausformungen - religiös, mystisch, messianisch, reformistisch ein zentraler, kontinuierlicher Topos; 41 sie wird aber in den Lektüren fast ausschließlich in den Kontext der unmittelbaren historischen Ereignisse politischer Organisation in Brasilien gestellt.42 Die Schlüsselszene am Ende des Romans verweist auf eine andere Richtung, wie zu zeigen sein wird. Es geht nicht um die mimetische Aneignung von Geschichte als "Wirklichkeit", sondern um ein Neu-Schreiben von Geschichte. In der gemeinten Episode wird ein großes Fest beschrieben, das Nando zu Ehren seines von der Polizei erschossenen Freundes Levindo gibt. Es ist ein besonderes Fest: eine hybride Mischung aus Quarup-Ritual und christlichem Abendmahl, bei dem der Tote Levindo - wieder ins Leben gerufen werden soll wie die verstorbenen Häuptlinge der Uialapiti-Indianer. Nando verleibt sich in einem kannibalistischen Akt symbolisch den Mut und die Kraft seines Freundes ein, bevor er sich den Rebellen im Sertäo anschließt. Mit Referenz auf diese Zeremonie als Teil religiöser Praxis der Volkskultur verweist Callado auf eine Befreiungsperspektive außerhalb des Rahmens institutionalisierter Reformbewegungen. Die Veränderungen, die er seinen Helden anstreben läßt, basieren nicht allein auf historischer Selbstreflexion der Vernunft, auf kritischem Bewußtsein; sie sind von einer Religiosität getragen, die sich - wie in den 60er und 70er Jahren bei Theoretikern der Theologie der Befreiung, Gustavo Gutiérrez, Joan Sobrino, Harvey Cox, 43 Leonardo Boff betont wird - jenseits von ideologischen Positionen bewegen. Nando bleibt trotz seiner Entscheidung für die Rebellion gläubig; er wird nicht zum marxistischen Revolutionär, wie einschlägige Lektüren vorschlagen. 44 4

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D. Ribeiro 1982. «Nosotros latinoamericanos». In: Encontros com a civiliiagäo brasileira. Nr. 29. S. 33.

41

Antonio Callado nimmt Bezug auf die Jesuitenmission der "Sete Povos" - A. Callado 1980. S. 31 - verschiedene Marienkulte (S. 21), auf Texte der Santa Tereza D'Avila (S. 7) und Don Juan de la Cruz (S. 9), Padre Vieiras Sermäo Nossa senhora doO'(S. 22), Mythen des Canga;o (S.4).

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Das ergibt sich aufgrund von Callados Interviewaussagen, seine Reportagen von 1963 über die Landarbeiterbewegung - ligas camponesas - und die Reformbestrebungen des Gouverneurs von Pernambuco Arraes, der 1964 abgesetzt wurde, seien das Material des Romans. Unbeachtet hingegen blieb bisher Callados Verarbeitung der Ereignisse um den Guerillero und Priester Camillo Torres, die die Medienberichterstattung zum Zeitpunkt des Schreibens bestimmte.

43

Harvey Cox frühe Arbeit über Modemisierungs-, Säkularisierunsprozesse haben den Reformkurs der katholischen Kirche markiert. Vgl. H. Cox 1965. The Secular City: Secularizalion and Urbanization In Theological Perspective. New York.

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Darin ist ein wichtiger Unterschied zwischen Marxismus und Theologie der Befreiung benannt, die aufgrund von Übereinstimmungen immer wieder gleichgesetzt werden, z.B. von Scott Mainwaming 1986 oder Frei Betto 1979 «A e d u c a d o ñas classes populares». In: Encontros com a civilizando brasileira. Nr. 13. S. 162-173. Die Möglichkeit der Religion, sich jenseits von Ideologie zu bewegen, hat als philosophische

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Mit dieser Option für die regional verankerte religiöse, messianisch-utopische Bewegung liefert Callado zudem eine Antwort, die von universellen Konzepten des Fortschritts auf der Basis eines autonomen, selbstbewußten Ich, einer modernen Mentalität abweicht. 45 Der Diskurs des "Anderen" Antonio Callados literarisches Projekt besteht weniger in der Repräsentation Brasiliens als Ganzes, dem Entwurf einer nationalen Utopie - wie die Inszenierung der Helden-Entdeckerstory glauben machen kann - sondern vielmehr in Differenz und Vielfalt. 46 Er unternimmt den Versuch, Stimmen des anderen, peripheren Brasilien sprechen zu lassen. Die Landschaft, die Natur, die Indios und ihre Kultur rücken in den Mittelpunkt des Romans ohne daß diese Forni der Repräsentation im Dienst von Einheitsstiftung und Idealisierung steht. Natur erscheint nicht als reines, unschuldiges Hintergrundszenario, sie fungiert nicht als Projektionsfläche, wie die literarischen Repräsentationen des Landes seit dem Klassiker O Guarani47 immer wieder vorführen 4 8 Das manifestiert sich auch

Voraussetzung, daß hier Sein und gesellschaftliches Sein nicht identisch sind. Theologie definiert sich als eine kritische Reflexion in der historischen Praxis und auf die historische Praxis, wobei die Reflexion konfrontiert wird mit dem Wort des Herrn, das im Glauben gelebt und angenommen wird. L. Boff 1977. «Theologie der Befreiung - die hermeneutischen Voraussetzungen». In: K. Rahner (Hrsg.). Theologie der Befreiung. Stuttgart. S. 50. 45

Obwohl Antonio Callados Denken eher ein historisches, konkret-utopisches, an der Aufklärungsphilosophie orientiertes Denken ist, läßt sich sein Roman als eine Infragestellung der Anwendbarkeit westlicher Modernisierungsmodelle in Brasilien lesen. Er bezieht eine ähnlich relativierende Position wie der Theoretiker der Befreiungstheologie, Gustavo Gutiérrez, dessen Verdienst es ist, den Absolutheitsanspmch aufklärungsphilosophischer Positionen in einer metakritischen Position zu relativieren, indem die postkoloniale Situation Lateinamerikas mitreflektiert wird, die nicht durch Fortschrittsideologie zu überwinden ist. In seiner Analyse der Geschichte Lateinamerikas resümiert er, "daß die Bewegungen für die Freiheiten der Moderne, die Demokratie und das rationale und universelle Denken in Europa und in den Vereinigten Staaten, in Lateinamerika eine neue Unterdrückung und unverschämtere Formen der Ausbeutung der Volksklassen bedeute". Vgl. G. Gutiérrez 1977. Teología desde el reverso de la historia. Lima. S. 26. Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zu Paulo Freires Pädagogik der Befreiung, der die Theorie der Moderne mit Selbstverständlichkeit als Utopie der Befreiung rezipiert hat und in seinem Erziehungsziel mit Max Webers These Ubereinstimmt, daß zur Veränderung eine neue, d.h. moderne ökonomische Ordnung und Mentalität benötigt werde. Vgl. P. Freiré 1974. Erziehung als Praxis der Freiheit. Reinbek. S. 17.

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Das manifestiert sich in der Bewegung der De-zentriening: Para se pegar o espirito do Brasil e as ralzes de sua vocafáo no mundo [...] eu considero a ida ao centro do Brasil, onde vivem os indios em estado selvagem, mais importante do que conhecer o Rio ou Sao Paulo. A. Callado 1980. S. 11.

47

Die Eröffnung des Romans von José de Alencar ist emblematisch, hier inszeniert sich die nationale moderne Einheit : Tudo era grande e pomposo no cenário que a natureza, sublime artista, tinha decorado para os dramas majestosos dos elementos, em que o homem é apenas um simples comparsa. J. de Alencar. O Guaraní. Obras completas. Vol. II. 1958. Rio de Janeiro. Bei Callado wird das Quarup-Fest der Uialapiti zum zeitlichen und räumlichen Fixpunkt der Handlung. Vgl. A. Callado 1980. S. 118.

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formal: Die Reise zum Xingu ist das zentrale Kapitel des Romans, es bildet aber nicht nur thematisch, sondern auch, was gattungsspeziphische und narrative Momente betrifft, einen Kontrapunkt zur Dramaturgie mimetisch-realistischer Erzählformen, insbesondere des "Entwicklungsromans". Die Dialogform, bei der in direkter Rede Argument gegen Argument gesetzt wird, weicht Erzählpassagen, die konkrete ethnographische Beschreibungen über die indianische Kultur liefern, wie das Quarup-Fest der Uialapiti. 49 In dem Bewußtsein der Unmöglichkeit, diese unbekannte Welt direkt, selbst sprechen zu lassen, schaltet Callado die Figur des Anthropologen als vermittelnde Instanz ein. Es handelt sich aber nicht um eine Zivilisationskritik, die den Anspruch erhebt, den Standpunkt des "Wilden" einzunehmen, sondern um jenen kritischen Ethnologen, der den Blick des Außenstehenden mitreflektiert und die Begegnung der unterschiedlichen Welten problematisiert. 50 Es ist das Verdienst Callados, den Diskurs über den "Anderen" zu einem Zeitpunkt zu führen, als die literarische Repräsentation von ethnischen Minderheiten jenseits des "main stream" lagen. Diesem Projekt liegen ethische Fragen zugrunde. Es geht um die Kenntnisnahme des "Anderen" ohne Anmaßung, ihn zu repräsentieren und zu vereinnahmen. In Callados theologisch-anthropologischem Diskurs über den "Anderen", der einen wichtigen Beitrag in der Postkolonialismus-Debatte einnimmt, finden sich vier Momente, die die Minderheitenproblematik beschreiben: Die Thematisierung der Differenz der Ethnien, der unterschiedlichen Mentalitäten; die Problematisierung der Modernisierung und ihrer Effekte, die Repräsentation des "Indio" in der Politik und Kultur. 51 R. Da Matta 1993. «Em tomo da representafäo de natureza no Brasil: pensamento, fantasias e divaga^öes». In: ders. Conta de mentiroso. Rio de Janeiro. Typoskript. S. 10. A festa do quarup comegou com uma moitard. Ou seria talvez mais certo dizer o moilarä se efetuou anles, durante e depois do quarup e que o trabalho mdgico de Maivotsimm comegou a borbuihar no seio dos quarups a despeito ou com a ajuda de uma enfrene troca de xerimbabos quatis por zerimbabos mutuns, de cäes por papagaios, de arcos camaiurd por fios de mifangas, de cestos de beiju por colares de caramujos calapalo e de pena comida, rede, castanha de piqui, erva aqudtica de fazer sal, macacos, harpias, pimenla e bordunas por panelas, panelinhas, panelöes, travessas e chapas de barro dos uaurd e juruna. A. Callado 1980. S. 195.

31

In einem ironisch lobenden Kommentar wird die Form des Wissens der Ethnologen im "fernen" Rio aufs Korn genommen: tem muito etnölogo sabido, muita gerne boa do Museu National que conhece os Indios como a palma da mäo. A. Callado 1980. S. 128. Die Distanz, das Desinteresse für die Minderheiten von offizieller Seite und die Fremdheit, aber auch der Reiz der fremden Kultur manifestieren sich in der Überleitung zu den ethnographischen Passagen: Dentro de pouco tempo os uialapiti däo um quarup [...].- Ah, sim, sim. Quarup [...] - Quarup, i aqueiafesta [...] A. Callado 1980. S. 87-88. Antonio Callado nimmt in seinem Roman Positionen vorweg, die von brasilianischen Befreiungstheologen der Operagäo Anchieta (OPAN), einer 1969 gegründeten Organisation weltlicher Missionare in den 70er

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Dos Sete Povos ao parque eletrificado - Callados Versuch einen Indio zu konstruieren, ohne ein neues Ideal zu entwerfen, indem er das Bild vom "kolonialen Indio" der Missionsdokumente und Reisebeschreibungen mit den Beschreibungen und Wahrnehmungen des "heutigen Indio" konfrontiert, gelingt nicht immer. Er legt zwar das Augenmerk auf die Lebensveränderungen der Indios, die Effekte der Zivilisation. Aber in Nandos Reflexion wird mit dem indio nu das Ideal der Zeit der "natürlichen", "paradiesischen" Vergangenheit Brasiliens projiziert: Sozinhos, nem molestados e nem ajudados, de quantos milenios teriam precisado Canato e Sariruä par a a primeira insonia? Dos Sete Povos ao parque eletrificado.52 Bevor ich zur vergleichend/kontrastiven Lektüre mit Darcy Ribeiros Maira komme, charakterisiere ich Callados literarisches Projekt noch einmal: Callado entwickelt in einem historisch orientierten, aufklärerischen Gegendiskurs ethisch-politische Positionen, wie sie kurze Zeit später in der Theologie der Befreiung und der "action-anthropology" formuliert wurden.

Maira: Der Ethnologe als Schriftsteller Eingangs wurde bereits auf die Vergleichsmomente der beiden ethnographischen Fiktionen hingewiesen: Das Gemeinsame liegt in der ethisch-theologischreligiösen Auseinandersetzung. Das Lektüreinteresse richtet sich weniger auf den literarischen Diskurs aus, obwohl hier gerade die Kombination von dialogischer und poetischer Form der Textgestaltung Aufmerksamkeit erregt. Die Frage ist vielmehr, warum ein ausgewiesener Ethnologe Fiktion schreibt. 53 Das Motiv der Reise Verbleiben wir zunächst auf der Ebene des Textes, der Erzählung. Die "story" der beiden Romane ist von den Motiven her durchaus vergleichbar. Der Held Darcy Ribeiros, Isaias/Avä mit christlich-indianischem Doppelnamen, ist ein in Rom ausgebildeter Seminarist. Er tritt, wie Nando, eine Reise in den Urwald an, allerdings als Rückkehr in seine Kultur und nicht als Aufbruch, wie Nando bei Jahren vertreten werden. Sie betonen die Notwendigkeit, eine Alternative zum sozio-ökonomischen Modernisierungs-modell zu suchen. Vgl. SEPOC Dokument vom 9.12.1976. Apud V. Lorscheiter 1976 S. 98-99. 52

53

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A. Callado 1980. S. 131. Nach Maira schreibt Darcy Ribeiro weitere fiktionale Erzählungen. Vtopia seivagem (1982) ist ein Unternehmen, Schriftlichkeit in ihrer ethnozentrischen Funktion zu subvertieren.

seiner Expedition. Diese Reise ist als "Ritual des Übergangs" 54 als Lösung des Konflikts zwischen indianischer und christlich-westlicher kultureller Identität konzipiert. Im Unterschied zu Nandos missionarischem Unternehmen funktioniert die symbolische Handlung hier aber nicht. Isaias/Avä besteht zwar die Prüfungen des Urwalds, er verbleibt aber in dem unlösbaren Konflikt der doppelten Identität. Diese scheinbar individuellpsychologisch konfliktive Situation repräsentiert bei Darcy Ribeiro - anders als bei Callado - die aus dem Gleichgewicht geratene Beziehung zwischen dem menschlichen Universum (Kultur) und der Welt der Natur. Ausgangspunkt des Anthropologen Darcy Ribeiros ist die gestörte Reziprozität 55 zwischen Natur und Kultur, verstanden als ein System, das nach Mechanismen kompensatorischen Gleichgewichts funktioniert. Die "Ritualisierungen" zwischen Natur und Kultur - wie Da Matta diese Austauschbeziehungen beschreibt - wurden durch die westliche Modernität reprimiert, zerstört oder transformiert. 56 Damit ist eine wesentliche Differenz der beiden literarischen Diskurse markiert. Bei Darcy Ribeiro geht es um die Aporie der modernen Wissenschaft und um einen paradigmatischen Entwurf, die "Subalternen" in einem fiktionalen Raum sprechen zu lassen. Metanarration als Antwort auf die Krise der Ethnographie Darcy Ribeiros Projekt ist ausgerichtet auf die direkte Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlich-ethnographischen Diskurs im Westen. Schließlich geht der Reise seines Helden durch den Urwald eine umgekehrte Reise nach Europa - in das Ursprungsland der Ethnographie - voraus. Darcy Ribeiro stützt sich auf "authentische" Fälle, wie verschiedene Lektüren von Maira zeigen. 57 In Maira wird insbesondere ein historisches Ereignis, die Lebensgeschichte des christianisierten Bororö-Indianers Tiago Marques Aipobureu aufgegriffen. Entscheidend ist, wie und daß sie neu erzählt wird. Darcy Ribeiro nimmt in Maira Mythen, Erzählungen, Anekdoten als absolut, setzt sie als tatsächliche "Wirklichkeit" neben historische Ereignisse. Er verweist mit seiner Aufhebung der Trennung von wissenschaftlichem Diskurs historischer, ethnographischer Ausrichtung und literarischem, fiktionalem Diskurs zum einen auf die Literarizität anthropologischer 54

Von Interesse ist, daß Avä geographisch aus dem Westen, genau aus der Richtung Brasilias, der Repräsentation der Modernisierung Brasiliens, zunickkehrt Vgl. D. Ribeiro 1976. S. 134; M.L. Ramos 1978. «•Maira': leitura - escritura». In: O Eslado de Säo Paulo. 19.3.1978.

55

M. Mauss 1989. Soziologie und Anthropologie. Frankfurt.

56

R. Da Matta 1993.

57

M.L. Ramos 1978.

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Quellen. Zum anderen plädiert er mit seiner Option bewußt für eine metanarrative Ebene als eine Möglichkeit, die Geschichte, das Gedächtnis, die Kultur des "Anderen" sprechen zu lassen und ergreift den Anlaß, seine eigene historische Position als Literat zu reflektieren. Darcy Ribeiro agiert spielerisch-ironisch in diesem Fall der Auseinandersetzung mit europäisch-anthropologischen Beschreibungen, insbesondere mit LéviStrauss, dem "größten Anthropologen der Welt" (Cathérine Clément). Es geht weniger darum, die wissenschaftlichen Ergebnisse in Frage zu stellen, die idealisierte Darstellung des Lebens und der Bräuche in anthropologischen Studien über die Bororó-Indianer 58 zu korrigieren. Es geht um die Krise der Ethnographie selbst, die nicht durch methodologische Neuerungen und einen revidierenden Blick behoben werden kann. Und es geht um eine Kritik aus der Perspektive der Peripherie, die mit Blick auf die postkoloniale Situation eine politische Praxis einfordert, die anthropologischer Arbeit entgegensteht und selbst das Schreiben ethnographischer Texte in Frage steht. Darcy Ribeiro formulierte diese radikale Position beim 13. Amerikanistenkongreß in Paris 1976, dem Jahr, in dem auch Maira erschien. 59 Seine Zivilisationskritik bleibt nicht auf der Ebene ideologischer Entlarvung fortgesetzten Kolonialismus', geht nicht in die Richtung einer Inversion der Situation, 60 sondern ist ein Plädoyer für die Änderung des Verhaltens gegenüber dem historisch konstituierten "Anderen" im Zuge des Revidierens des westlichen Universalitätsanspruchs. Ribeiros Anliegen ist zunächst, auf die "andere" Geschichtlichkeit Lateinamerikas aufmerksam zu machen: In Wahrheit ist das seit Jahrhunderten bekannte Problem der Indianer allerdings weder jemals gelöst worden, noch scheint es einer Lösung zuzustreben. Der Grund dafür liegt vielleicht darin, daß ihre Identifizierung als Ethnie Faktoren verbirgt, die wir auf unserem Bewußtseinsniveau noch nicht verstehen können.61 Ribeiro zielt auf eine Kritik an einer geschichtsphilosophischen Denktradition, die Hegel verpflichtet ist, der, wie oft bemerkt wurde, Amerika Angespielt wird z.B. auf die universale Regel des Inzestverbots als Fundament für Kulturzustand, die im Roman aber keine Anwendung findet. Vgl. D. Ribeiro 1976. S. 28; C. Albisetti/A. Venturelli 1962. Enciclopédia Bororó. Bd.l. Campo Grande. S. 443. Vgl. D. Ribeiro 1980. «Die Indianer und wir». In: ders. Unterentwicklung. Kultur und Zivilisation. Ungewöhnliche Versuche. Frankfurt. S. 282.

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Frantz Fanon und Roberto Fernández Retamar plädieren mit ihren anti-kolonialen Konzepten für eine Umkehrung der Situation. Vgl. F. Fanon 1966. Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt. R. F. Retamar 1979. Calibán y otros ensayos. Nuestra América y el mundo. Havanna. Diese Vorstellung von der plötzlichen Entkolonisierung und Unabhängigkeit teilt unter anderen Vorzeichen die Auffassung einer einzigen entscheidenden Entdeckung, Etablierung kolonialer Macht. Vgl. J. Fabian 1983. D. Ribeiro 1980. S. 267.

den geschichtslosen Völkern zuordnete und, wie Gerard Leclerc analysiert, schon die Position der evolutionistischen Anthropologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts vertritt. 62 Gegen die typologische Abgrenzung der durch Arbeit zivilisierten Gesellschaft und der aufgrund ihrer "Faulheit" verwilderten nicht europäischen, aimen - aussterbenden - Gesellschaft, schreibt Darcy Ribeiro an. Er schließt dabei die Möglichkeit ein, daß Anthropologie wesentlich an der Bemühung teilhat, einen hierarchisierenden Typ von Beziehung zwischen dem Westen und seinem "Anderen" zu etablieren. Wir gehen bei der Beschreibung des literarischen Gegendiskurses Darcy Ribeiros, der sich anti-autoritär, anti-hierarchisch, anti-patriarchalisch gibt, nur auf einige zentrale Aspekte ein: Ribeiros Umgang mit historischen, ethnographischen, mythologischen, theologischen, literarischen Texten ist strategischspielerisch und gerät in seiner Maskierung und Demaskierung von Personen und Situationen zu einer Realitätsphantasiezwischen. 63 Diese Strategie manifestiert sich auch auf der Ebene der Gattung. Ribeiro mischt verschiedene Genres und ermöglicht so mehrere Lektüren: die Erzählung beginnt wie ein Kriminalroman, der sich als Rahmenhandlung entpuppt. In der Folge bewegt sich der Text zwischen historischem Roman, Reisebericht, ethnographischer Beschreibung und mythischer Erzählung. Ribeiro scheint in der Anwendung spätmodemer Erzählstrategien den Weg des beliebig-spielerischen Umgangs mit historischen Ereignissen, sozialen Phänomenen, kulturellen Bedeutungen einzuschlagen, doch nimmt er mit seiner Thematik und Politik der Repräsentation eine zutiefst ethische Haltung ein. Sehen wir, wie sich das auf der Textebene niederschlägt. Darcy Ribeiro entwirft im ersten Kapitel eine Genealogie der Indianer Mairum, die im Schlußkapitel - mit der Neuberufung eines Häuptlings, der Eröffnung einer neuen Genealogie - ihre Fortsetzung findet. Damit liefert er ein Gegengewicht zu der Situation der Aporie angesichts des Exodus. Er weist geschichtsphilosophische Überlegungen ostentativ zurück, die die prosperierende, moderne Gesellschaft der Zentren einerseits und die stagnierende bzw. aussterMit der Gleichsettung von Zivilisation und Arbeit (die in ihrer eingeschränkten oder modernen Bedeutung als differenzierte Warenproduktion für den industriellen Profil begriffen wird) wurde die Zivilisation mit dem industriellen Abendland identifiziert und eine Typologie der Gesellschaften auf der Grundlage ihres jeweiligen technischen Niveaus konstituiert G. Leclerc 1973. Anthropologie und Kolonialismus. München. S. 12. 63

Im Roman taucht die Figur eines Engländers F. Huxley O "Thief (vgl. D. Ribeiro 1976. S. 21) auf. Es handelt sich um einen englischen Studenten Francis Huxley, der Ribeiro 1951 bei einer Expedition zu den Urubu-Indianem begleitete. Vgl. D. Ribeiro 1974. Uirá sai a procura de Deus. Ensaios de etnología e indigenismo. Rio de Janeiro S. 32.

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bende Bevölkerungszahl der ethnischen Minderheiten andererseits zur Grundlage nehmen. Die folgenden Kapitel lassen sich als Inszenierung einer Totenfeier - eine Hommage an die verschiedene Ethnien - lesen. Dieser metanarrative Diskurs wird von Versuchen, den "Subalternen" - konkret die fiktive Mairumgesellschaft, die durch den Priester, den Medizinmann, den Häuptling, die Frau, den mythischen Schöpfer Maira und sein Volk repräsentiert wird - sprechen zu lassen, durchbrochen. Hier kommt ein von der Nostalgie des Anthropologen getragener Diskurs auf, der sich in dem Kapitel Mairane - was mit "die Stimme Mairas" zu übersetzen wäre - prägnant wird. Es wird aber auch in diesen Passagen deutlich, daß es keinen "authentischen" Diskurs des "Subalternen-Anderen" geben kann. Das wird durch ein Kenntlichmachen als Metanarration erreicht. Bei Ribeiros Entwurf der Mairum Lebenswelt wird deutlich, daß es sich um eine zivilisierte, moderne indianische Gesellschaft handelt. Es wird kein idealisierter Indio, der einem "mythischen", "wilden Denken" verhaftet ist, konstruiert wie in Quarup, vielmehr ein Indioheld mit analytischem Blick, der die Koordinaten von (linearer) Zeit und Raum übernommen hat. In dem Kapitel "Egosum" - einem ausgewiesen autobiographischen Teil - reflektiert Ribeiro über die Wahrnehmung der "Wirklichkeit" des "Anderen" und demaskiert sich selbst in seiner Funktion als Beobachter-Anthropologe. 64 Das Ergebnis ist, daß der wissenschaftliche Diskurs über den "Anderen" als Projektionsfeld für die Repräsentation der verdrängten Momente der eigenen Kultur dient und insofern das Schreiben anthropologischer Texte mehr als heikel geworden ist. Das bringt uns zur Ausgangsfrage zurück: Was veranlaßt eine offizielle Anthropologenstimme - Ribeiro repräsentiert in Brasilien eine Art von Institution der Verteidigung der Indianer - Fiktion zu schreiben? Ribeiro reagiert auf die Krise "ethnographischer Autorität", die die kulturelle (Selbst-) Beschreibung erfaßt hat, indem er in einer Bewegung der Dezentrierung auf geographischer, linguistischer, historischer Ebene einen möglichen Raum "öffnet" für die Stimmen der Subalternen. Ribeiros Roman geht über eine ethisch-soziale Anklage und Enthüllung hinaus, indem die Anthropologie in ihrer Trennung von Untersuchungsobjekten und seinem Publikum als euro- und ethnozentrisch vorgeDarcy Ribeiro konfrontiert in einer Erzählpassagen den kollektiv-rituell-kultischen Diskurs oraler Kultur das Rasseln der Maracá im Totenritual - mit dem offiziellen schriftlicher Kultur - das Protokoll der Administration zum Kriminalfall. An anderer Stelle am Schluß des Romans entwirft Darcy Ribeiro eine kleine Utopie der Liebe. Die offizielle Rede Uber den kriminalistischen Fall wird von unentzifferbarem Liebesgetuschel unterbrochen. Die Koordinaten von Zeit und Raum werden außer Kraft gesetzt Vgl. D. Ribeiro 1976. S. 214.

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führt wird. Als Anthropologe mit dem Wunsch, sich von den Macht-Asymmetrien zu distanzieren, steht er vor einer Aporie. Was bleibt, ist Literat zu werden, der Versuch, die Geschichte(n) der Übergänge, des "Hier-Seins" und "DortSeins", des "Fragenden" und "Befragten", im Rahmen literarischer Gegenentwürfe neu zu erzählen. Die Wahl der Metanarration unterstreicht, daß die Lösung nicht im Ästhetischen zu liegen scheint.

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Ignàcio de Loyola Brandäo Babel im Zeitalter der Medien: Null. Prähistorischer Roman

Megalopole und Null 1974 wird Ignäcio de Loyola Brandäos Stadtfiktion Null (Zero. Romance prehistörico) in Italien erstmalig veröffentlicht, im selben Jahr, in dem Siron Francos Megalopole, ein Großstadt-Menschenbild 1 bei der Biennale in Säo Paulo mit dem ersten Preis für Malerei ausgezeichnet wird. Bei beiden künstlerischen Manifestationen handelt es sich um Fiktionalisierung von Stadt, die sich als modern kennzeichnen lassen, aber markante Unterschiede zu Repräsentationen westlicher Moderne aufweisen. Der Umweg, den Loyola Brandäos literarische Darstellung Säo Paulos über die Publikation im Ausland nahm, ermöglichte zwar 1976 eine Veröffentlichung in Brasilien, das Buch wurde aber kurze Zeit später von der Zensur verboten und erschien erst wieder 1979. Diese eher seltene Editionsgeschichte in Kombination mit der ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte von Null - der Text basiert auf zensierten Zeitungsmaterialien, die der Autor als Redakteur archivierte2 - führte zu einer vorwiegend ideologiekritischen Lektüre, die sich auf Zensur, Repression, Gewalt/Gegengewalt und soziale Kontrolle fixierte.3 Das eigentlich 1

Die Menschen stehen dicht aneinandergedrängt, nur die Hüte und einige der Körperhaltungen verweisen auf städtische Zivilisation. Sie sind erdfarben mit der Erdfläche, dem (Unter)Grund verbunden vor dem schwarzen Hintergrund-Raum mit seinen unbegrenzten vertikalen Blöcken, der Hochhausarchitektur.

2

E. Spielmann 1986. «Ignäcio de Loyola Brandäo». In: Kritisches Lexikon fremdsprachlicher literatur. München. S. 4.

3

M. E: Reali 1976. Duplo Signo de "Zero" . Rio de Janeiro; H. Buarque de Holanda, M. A. Gonijalves 1979. «Politica e literature: a ficjäo da realidade brasileira». In: Anos 70. Nr. 2. Rio de Janeiro; E. Rodriguez Monegal 1979. World Literature Today 53. Nr.l. S. 70; E. Lowe 1982. The City in Brazilian Literature. London/Toronto. S. 199.

Gegenwarts-

110

Interessante an Null, die Fiktionalisierung der Metropole Säo Paulo, geriet darüber in Vergessenheit. Großstadt als Text In der internationalen Debatte über Großstadtdiskurse seit den 70er Jahren lassen sich parallel zur Entwicklung der literaturwissenschaftlichen Diskussion vom Sprach-, zum Text- und Diskursbegriff folgende topics benennen: die Großstadt als eine Sprache, eine Schrift, Metapher, ein Textgewebe, ein Bild, ein Palimpsest, als Kommunikationssystem, als Diskurs. Bei der Analyse von Null bieten sich aus heutiger Perspektive zwei Wege an: Säo Paulo als eine ZeichenStadt zu lesen, wie es die brasilianischen Konkretisten4 vorschlagen, als eine Text-Stadt, die sich aus Schriftzügen, Gesten, Spuren und Bildern konstituiert.5 Oder eine Collagestadt. Ich schlage eine Lektüre vor, die einerseits auf historische, soziale und kulturelle Bezüge setzt und andererseits Stadt als symbolische Topographie zu begreifen und das Gewicht auf konkrete narrative Orte und Räume zu legen versucht. Das Plädoyer für die zweite Annäherung - eine topographische Hermeneutik - an das fiktionalisierte Säo Paulo gründet sich auf die im Text thematisierten Problemfelder: die Situation peripherer Modernität, paradoxe Großstadterfahrung unter den Ereignissen der 60er Jahre mit ihren Effekten auf das soziale Leben, die Kommunikationssituation und schließlich die Frage der Geschichtlichkeit. Paradoxien, Diskontinuität, Zentrierung/Dezentrierung des Subjekts, Peripherie/Zentrum dienen uns als Kategorien der Situierung des brasilianischen Großstadtdiskurses. Zur Diskussion stehen zunächst die Grenzen der Erzählbarkeit der Stadt im Stadium (peripherer) Modernität als ästhetisches Problem. In Null manifestiert sich ein selbstverständlicher Umgang mit modernen Erzählstrategien, d.h. die Ablösung mimetischer Verfahren durch grenzüberschreitende, mediale Darstellungsformen. Darüber hinaus geht es vor allem um die spezifisch andere Funktion des Beitrags. Wir vertreten die These, daß es Differenzen gibt zu moVgl. A. de Campos 1979. Poesia 1949-1979/Viva vaia. Säo Paulo. Vgl. auch den Beitrag von Angela Maria Dias 1986. «Os signos da cidade». In: Tempo brasileiro. N°. 86. 1986. S. 5-9. Als lateinamerikanischen Beitrag hat Angel Rama mit dem Bild der "ciudad letrada" eine Vorgabe geliefert, die Stadt nach einer Denkstruktur des alphabetisch Denkenden (des Intellektuellen) zu fassen. Vgl. A. Rama 1984. La ciudad letrada. Hanover. Die Grenzen eines semiotischen Verständnisses von Stadt als Text liegen darin, daß die Bewegung, die Übergänge als das Entscheidende zu wenig berücksichtigt werden. Eine herausragende semiotische Analyse legte Lucrdcia D'Alissio Ferrara mit, A estrategia dos signos. LinguagemlEspa(o/Ambiente urbano, Säo Paulo 1981, vor.

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dernen westlichen Großstadtromanen - wie Alfred Döblins Alexanderplatz, John Dos Passos Manhattan Transfer und James Joyce Ulysses. Im Unterschied zu Konzepten der Modernisierung des Erzählens, in denen sich Zustimmung zu den Errungenschaften des technischen Fortschritts in einer totalisierende Geste manifestiert - läßt sich Null in der Beschreibung der Effekte dieser Prozesse als ein Infragestellen von Modemisierungsansätzen lesen. Das Ende der Erzählbarkeit der Stadt Bei den Reflexionen über Großstadtliteratur wird auch in Lateinamerika das Ende der "großen" Stadterzählung konstatiert. Die Vorstellung von der Stadt als "zweiter" Natur, als Sprachkörper, als gedachtem Zentrum, als räumlichem Netz, als entgrenzter und zerstäubter heterogener Einheit ist obsolet geworden, wie zwei Beiträge bei einem Berliner Symposium über Literatura ñas grandes cidades (1990) erläuterten. Carlos Monsiváis hält La región más transparente (1958) von Carlos Fuentes für den letzten großen Stadtroman über Mexiko-City 6 und Ivan Ängelo führt die Poesie der Konkretisten aus den 50er Jahren als Schlußglied in der traditionsreichen Kette der Stadtliteratur seit den Modemisten an. 7 Gründe hierfür liegen in den Grenzen der literarischen Repräsentierbarkeit der Stadt als Ganzem, als komplexer Wirklichkeit und im Verlust ihrer Funktion als Knoten-, und Sammelpunkt sozio-kultureller Beziehungen und Transaktionen. Es sind die neuen (Bild-) Medien, die die Stadt in ihrem paradoxen Charakter, die neuen Phänomene, die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit, die sich mit den medialen Techniken der Beschleunigung, dem wilden Wachstum seit den 50er Jahren im Zuge der Modemisierungsprozesse verschärft hat, die Stadt in ihrer Dynamik und Monstrosität, ihrer Explosion von Bildern, ihrem Bilderkrieg 8 darzustellen vermögen. Die Unrepräsentierbarkeit der Stadt in ihrem Wandel, ihrer Vielfalt und Paradoxität einerseits und das Infragestellen von Konzepten "dargestellter Wirklichkeit" andererseits bedeutet keineswegs, daß 6

C. Monsiváis 1990. «México. Ciudad del apocalipsis a plazos». In: R. Daus 1993. Großstadtliteratur. La literatura de las grandes ciudades. Frankfurt. S. 31-45.

7

I. Angelo 1990. «Engima». In: R. Daus (Hrsg.), 1993. S. 91-96.

8

S. Gruzinski schreibt Uber den Status des Bildes im Prozeß der Kolonisierung durch TV und Presse: i completamente diferente a coloniiaiäo publicitária e televisiva que se ventila hoje em día sobre as comunidades e populagóes alvejadas por urna modernizando que nao permite nenhuma resposta nem tolera nenhuma escapatória. S. Gruzinski 1992. «A guerra das imagens». In: R. Vainfas (Hrsg.) 1992. América em tempo de conquista. Rio de Janeiro. S. 206-207. In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Vilém Flusser (Iber visuelle und akustische Codes in der metropolitanen Kultur Brasiliens.. Vgl. V. Flusser «Alte und neue Codes»: Säo Paulo. In: W. Prigge (Hrsg.) 1992. Städtische Intellektuelle, Urbane Milieus im 20. Jahrhundert. Frankfurt. S. 196-219.

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nicht weiterhin über die Metropolen geschrieben wird. In den 60er Jahren gibt es einen Boom von Erzählungen, Romanen und Chroniken über die lateinamerikanischen Metropolen México D.F., Buenos Aires und Säo Paulo mit dem Unterschied, daß auf prätentiöse Totalisierung verzichtet wird. 9 In Elena Poniatowskas Chronik Fuerte es el silencio, José Emilio Pachecos Las batalls en el desierto, José Agostíns De Perfil, Ricardo Garibays Las glorias del Gran Púas über México D.F., in Ernesto Sábatos Sobre héroes y tumbas, Julio Cortázars 62. Modelo para armar, Ricardo Piglias Fiktion Presión perpetua über Buenos Aires, in Joäo Antonios Paulinho Perna Torta (1965), Marcos Reys Memorias de um Gigolo (1968), Ignácio de Loyola Brandàos Depois do sol und Bebel que a cidade comeu über Säo Paulo fungiert die Stadt nicht bloß als Szenarium, aber auch nicht als die Haupt- und Identitätsfigur. Das metropolitane Terrain repräsentiert vielmehr das Denken über die soziale Gemeinschaft in ihren Differenzen, es ist zugleich Horizont und Grenze der Wünsche, Passionen und ihrer Ausrichtung. Unser Lektüreinteresse richtet sich nicht so sehr auf die Grenzen der Erzählbarkeit der Stadt als auf ein vorwiegend ästhetisches Problem, wie es in Arbeiten zur Großstadtliteratur behandelt wird, 10 sondern es geht um den hier geleisteten Beitrag zur Problematisierung und Beschreibung der Situation in Brasilien. Was leistet Null auf der Ebene der Produktion von Wissen und als interventorische Kraft im sozio-kulturellen Diskurs. Modernität - "periphere Modernität" -

Modernitäten

Bevor wir zur Arbeit am Text kommen, gilt es, sich mit den Auffassungen von Modernität, peripherer Modernität bzw. Modernitäten und anschließend der Darstellung über die Situation Säo Paulos in den für die Entwicklungen entscheidenenden 20er und 60er Jahren zu befassen. Henri Lefèbvre stellt in seinem berühmten Beitrag zur Modemitätsdebatte am Beispiel der Signale, dieser technischen Innovationen der Industriegesellschaft, die lamentable Zerstörung der Werte, die Veränderung der Sphären, die Produk®

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C. Monsiväis beschreibt C. Fuentes Stadtroman ironisch als "Marinelli cádillac", als "futuristischen Gesang auf eine dynamische Stadt" und vergleicht die Darstellung mit einem Wandbild von Rivera bei dem die Karikatur des Emporkömmlings den Heldenkult aussticht. Er halt La región más transparente für die am Besten gelungene Beschreibung des Übergangs vom traditionellen zum modernen Mexiko, kritisiert aber deren prätentiöse Totalisierung. Vgl. C. Monsiváis 1990, hier zitiert nach dem Manuskript S. 10. B. Pike 1981; K. Scherpe 1988 «Von der erzählten Stadt zur Stadterzählung. Der Großstadtdiskurs in Alfred Döblins 'Berlin Alexanderplatz'». In: J. Fohrmann/H. Müller (Hrsg.). Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt S. 418-437; M. Smuda (Hrsg.) 1992.

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tion neuer Verhaltens-, und Handlungsweisen, die Stereotypisierung des Denkens fest. 11 Lange vor ihm hatte Georg Simmel in seinen bahnbrechenden Studien die Charakteristika des Großstadtlebens - das Flüchtige und Segmentare der Kontakte, Anonymität, Gleichgültigkeit, die Instrumentalität der sozialen Beziehungen - und die Funktion des Geldes als soziales Medium - beschrieben. 12 Henri Lefebvre stellt, wie auch die meisten anderen Modernisierungstheoretiker, nicht die Frage nach der Situation und den Folgen für Lateinamerika bzw. die "Dritte Welt". Als Lamentation läßt sich auch die Feststellung von Mario Pedrosa zur Perspektive Lateinamerikas in den 70er Jahren verstehen: "Somos condenados para a modernidade".13 Mit der "peripheren", der anderen Modernität Lateinamerikas bzw. den Modernitäten haben sich eine Reihe von Arbeiten befaßt, deren Gemeinsamkeiten darin liegt, Einwand zu erheben gegen die Gültigkeit eines globalen Modells zur Erklärung der Entwicklungen. Ein besonderes Verdienst im Umgang mit der Problematik und mit dem Begriff 14 kommt Beatriz Sarlo zu mit ihrer Arbeit über Buenos Aires der 20er und 30er Jahre (1988). Sie setzt den Be11

Die Antinatur wird zum sozialen Milieu und etabliert sich in der modernen Stadt. Die Wahrnehmung der Gegenstände ist nun ein mächtiges und unbeständiges Gemisch aus Sensationen und Abstraktionen, aus Inhalten und Formen. H. Leffebvre 1978. Einfährung in die Modernität. Frankfurt. S. 212.

12

Vgl. G. Simmel (1903) «Die Großstädte und das Geistesleben». In: M. Landmann, M. Susman (Hrsg.) 1957. Brücke und Tür. Stuttgart und G. Simmel 1900. Philosophie des Geldes. DJ». Frisby/K. Ch. Köhnke (Hrsg.) 1989. Frankfurt. G. Simmeis Analyse des Geldes als soziales Medium gewinnt gerade in jüngster Zeit in der Großstadtforschung an Bedeutung. Vgl. K. Scherpe (Hrsg.) 1988. Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek; Richard Sennett 1990 Civitas. The Conscience of the Eye; I. Scrubar 1992. «Zur Formierung des soziologischen Blickes durch Großstadtwahrnehmung». In: M. Smuda (Hrsg.) 1992. S. 37-52. D. Harvey 1989. The Urban City. (Kapitel 6 «Money, Time. Space, and the City»). S.165- 199.

13

Mario Pedrosa apud Catherine David 1992. «The great Labyrinth». In: Hélio Oiticica. Katalog zur Ausstellung. S. 250. Ähnlich hat es C. Fuentes formuliert und Néstor García Canclini greift diese Problematik im Titel seiner anthropologischen Inventarisierung lateinamerikanischer Kulturen wieder auf: Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad. N. García Canclini 1989.

14

Die Begriffsabgrenzung zwischen Modernisierung als Terminus, der die Ökonomisch-technologischen und politischen Veränderungen und die Effekte, meint, Modernität den sozio-kulturellen Zustand, der daraus entsteht, beschreibt und Moderne das ganze Projekt unter dem das alles zusammengefaßt wird, bezeichnet, hat eine umfangreiche Debatte ausgelöst. Vgl. H. Leftbvre 1978; M. Berman 1983. All that is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity. New York; P. Anderson 1984. «Modemity and Revolution». In: New Left Review. Nr. 44. S. 96-113; Volker Lilhr und Carlos Rincón formulieren in einem Forschungsprojektantrag bezüglich der umfassenden gesellschaftlichen Modernisierung Mexikos in den 80er Jahren: Modernisierung [...] ist nicht denkbar ohne tiefgreifenden Wandel kollektiv geteilter Werte, berührt also die kulturelle Sphäre. Da sie mit der politischen und wirtschaftlichen Sphäre niemals deckungsgleich ist, ergeben sich Bruchstellen, die zu Konflikten führen können. V. Lühr, C. Rincón 1992, unveröffentlichtes Manuskript. S. 3. Von lateinamerikanischer Seite sind u.a. folgende Beiträge zu nennen: F. H. Cardoso 1984. In: N. Lechner (Hrsg.) 1984. Estado y política en América Latina. México: Siglo XXI. N. Lechner 1989 «Democracia y modernidad». In: Revista Foro. No. 10. Sep. 1989. S. 35-45.

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griff Modernidad periférica ironisch ein, um der paternalistischen Haltung zu begegnen, die die Unfähigkeit Lateinamerikas zur Modernität behauptet und führt am Beispiel der Manifestationen des intellektuellen und des Alltagslebens vor, wie Buenos Aires in den frühen zwanziger Jahren eine eigene Modernität aufweist. 15 Einen Beitrag zur Beschreibung der "anderen" Modernität Lateinamerikas liefert Octavio Ianni in «A idéia do Brasil moderno» (1990). Er stellt die gängigen Erklärungsversuche in Frage, die den gesellschaftlichen Wandel der 20er Jahre aus der Industrialisierung und dem Aufkommen einer neuen sozialen Klasse herleiten. Das Modell des Bruchs mit der Vergangenheit und radikaler politischer Programme wird abgelöst von der Idee der Herausbildung einer heterogenen Massengesellschaft. Ianni argumentiert, man müsse sich das moderne Brasilien vielmehr als Existenz multipler Konzepte, Themen, nationaler Realitäten vorstellen, in denen differente Zyklen und Perioden der brasilianischen Geschichte zusammenlaufen und sich überschneiden wie in einem Kaleidoskop. 16 Diese Beschreibung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der Überlagerung von Realitäten und Imitationen trifft zweifellos zu, doch bleibt diese Beschreibung zu ungenau, wie von verschiedenen Seiten betont wurde. 17 "Babel" auf den Kopf gestellt - Säo Paulo in den 20er Jahren Konkrete Beschreibungen zur sozio-historischen Entwicklung Säo Paulos, wie sie Richard M. Morse und Fernando Henrique Cardoso geliefert haben, korrigieren das Bild der "großen Erzählung" über die Herausbildung der Nation 18 und auch die schematische Auffassung der dynamischen Industrialisierung Säo Paulos als Folge des Kaffeebooms in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird revidiert. 19 Zu den innovadvsten Arbeiten auf dem Gebiet urbaner Entwicklung zählen die Studien des paulistanischen Historikers Nicolau Sevcenko über Rio de Janeiro und Säo Paulo. Ein Denken in Epochen und Zeitabläufen tritt zurück zugunsten des Sozialkörpers und kulturellen Kontextes. Sevcenko betreibt eine 15

Das Neue der Arbeit liegt in der dezentrierenden "gendered" Perspektive: so wird die Starposition J.L. Borges relativiert und der Stellenwert der Schriftstellerinnen Silvina Ocampo und Alfonsina Storni im transatlantischen Dialog deutlich. Doch es gibt auch Einwände zu erheben: Problematisch ist m.E. weniger das eklektizistische Verfahren als vielmehr, daß im (de-)zentrierten Blick auf das Eigene, z.B. dem Blick auf den lateinameri-kanischen "Flaneur" die Geste der Dezentrierung zurückgenommen wird. Vgl. auch B. Sarlo 1992. La imaginación técnica. Sueños modernos de la cultura argentina. Buenos Aires.

16

O. Ianni 1990. Unveröffentlichtes Typoskript.

17

Z.B. von C. Rincón 1991b; ders. 1994.

18

R. M. Morse 1970. Formagáo histórica de Säo Paulo, de comunidade a metrópole. Säo Paulo. S. 379.

19

F. H. Cardoso 1964. Empresário industrial e desenvolvimento

económico no Brasil. Säo Paulo.

115

Art kulturwissenschaftlicher Hermeneutik, die raumbezogen ist und in Körpern denkt, d.h. geographisch, morphologisch und dreidimensional. Karneval, Sport, Katastrophenpolitik als symbolische Handlungen, die Effekte der Modernisierung auf Alltag, Mentalität und Körper stehen bei ihm, wie in den sozial-anthropologischen Studien von Roberto Da Matta im Vordergrund. Dieser hat die Einübung von neuen Lebensweisen bei großen öffentlichen Ereignis-Ritualen, wie Karneval und Fußball, in ihrer sozialen Dimension untersucht. Als besonders fruchtbar und notwendig bei der Analyse der komplexen und veränderten Problematik, in der die Felder Kultur, Gesellschaft und Politik ineinandergreifen und es zu Bruchstellen und folglich Konflikten kommt, erwiesen sich vor allem die Kategorien des öffentlichen und des privaten Raums und der Repräsentationsformen, um die Unterschiede zur sozio-kulturellen Situation und Erfahrung im Westen markieren und erklären zu können. 20 Beide Wissenschaftler analysieren die Modemisierungsprozesse im Kontext der gedanklichen Konstruktion von Gesellschaft - o imaginário social und die Mentalitäten - und benennen die Politik der herrschenden Eliten, die Kontrollmechanismen und Disziplinierungsverfahren, die subalterne Gruppen erfahren. Der Glaube in Fortschritt und "enterprise" läßt sich nach Sevcenko am Transformationsprozeß von Rio de Janeiro ablesen. Er stellt heraus, und hier wird seine semiotische Ausrichtung deutlich, daß die Metamorphose zur modernen Stadt auf vier Prinzipien basiert: traditionelle Gebräuche und Gewohnheiten, die im Gedächtnis der Gesellschaft verankert sind, werden verdammt; die Elemente populärer Kultur, die das Bild einer zivilisierten Gesellschaft stören, werden negiert; die strikte administrative Anordnung, die Mitglieder der unteren "Volks"schichten aus dem Stadtzentrum zu entfernen, das für die Bourgeoisie reserviert ist; und ein aggressiver Kosmopolitismus, der sich auf den "Pariser Lebensstil" fixiert. 21 In seiner neuesten Arbeit über Säo Paulo in den für die kulturelle Identitätsbestimmung entscheidenden 20er Jahren, untersucht Sevcenko mit kulturwissenschaftlich-hermeneutischen Verfahren des "new historicism" das Aufkommen des modernen metropolitanen Lebens. Die Konditionierung der Körper, die Veränderungen des sozialen Imaginären durch die Eingriffe der modernen 20

2

'

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R. Da Matta 1986. Exploraçôes. Ensaios de Sociología Interpretativa. Rio de Janeiro; ders. 1987. A casa e a rua: espaço, cidadania, mulher e morte no Brasil. Rio de Janeiro. Vgl. N. Sevcenko 1985. Von Interesse an Sevcenkos Buch über Rio de Janeiro Literatura como missäo, tensöes sociais e criaçâo cultural na Primeira República ist, daß er von einer Euclides da Cunha Lektüre ausgeht. Vgl. auch die herausragende Studie über Rio de Janeiro von J. D. Needell 1987. A Tropical BelleEpoque. Elite Culture and Society in Turn-of-Century. Rio de Janeiro. Cambridge.

Technologie spielen eine zentrale Rolle für die Neuordnung der Bilder und des kulturellen Repertoires. Neu aufkommende Phänomene im Koordinatensystem Stadt, wie das Fußballfieber, der Kult des Automobilismus, die Tanzeuphorie, 22 ein neuer "Habitus", der sich in Sport, Flirts und der Mode manifestiert; 23 kurz, kulturelle Praktiken werden analysiert und somit die Ergebnisse soziologischer und historischer Lektüren von Säo Paulo präzisiert und erweitert. Sevcenko beschreibt zunächst den "heroischen Diskurs der verrückten 20er Jahre" um dann die "Mechanismen der in Bewegung geratenen Szenographie", die die Koordinaten der Stadt verschieben, herauszuarbeiten. Die veränderte Situation bringt eine größere Durchlässigkeit der Klassen- und Geschlechtergrenzen mit sich die Gründung von Sportclubs bleibt nicht länger der Elite vorbehalten, der Zugang zu Musik, Tanzvergnügungen wird "demokratisiert", und das weibliche Geschlecht "erobert" sich den öffentlichen Raum. In der Beschreibung von Sevcenkos ist Säo Paulo Anfang der 20er Jahre eine Stadt des Übergangs zwischen Moderne und Tradition. Was die ethnische, nationale, industriell-agrikulturelle Bestimmung betrifft, besteht ein "Vakuum" an Bewußtsein. Die junge Generation wurde zum Agenten der "modernen Ideen", das Erleben war gekennzeichnet von Mobilität, Geschwindigkeit und Wettkampf. 24 In der Folge der technischen Entdeckungen - der Weltkrieg fungierte hier als Katalysator - fixiert sich die Vorstellung, daß der Körper und die Gesellschaft als Ganzes auch Maschinen sind, authentische, dynamische Erzeuger von Energien. 25 Die künstlerischen Optionen dieser Etappe oszillieren zwischen den Ex22

In seinen Beschreibungen ist Sevcenko künstlerischen Manifestationen verpflichtet, z.B. Mário de Andrades Gedicht «Paisagem No. 2»: Grande fungäo ao ar ¡¡vre! / Bailado de Cocteau com os barulhadores de Russolo! I Opus 1921. Säo Paulo metaphorisien: um palco de bailados russos. / Sarabandam a tísica, a ambi;äo, as invejas, os crimes / e também as apoteoses da ilusäo I Mas o Nijinsky sou eu! / E vem a Morte, minha Karsavina! / Quá, quá, quá! Vamos danzar o fox-trot da desesperanza, / a rir, a rir dos nossos designáis^ Ders. 1976. Poesías completas. Säo Paulo. N. Sevcenko führt die leichten Stoffe mit militärischem Schnitt, eine Lebensphilosophie: "jung", "sportlich", "modern", "amoralisch" - das Schönheitsideal Isadora Duncan - an. Es wird eine Sportzeitung Sports ediert, für die interessanterweise der modernistische Maler Di Cavalcanti Illustrationen entwirft. Vgl. Sevcenko 1992. S. 56. Paradigmalisch ist hier der in seiner ästhetischen Umsetzung herausragende Filmbeitrag des jungen Mário Peixoto: Limite (1930). Ein Verbrechen aus Leidenschaft liefert den Anstoß für einen Wirbel aus diskontinuierlichen Körper-Landschafts-Bildem. Nichts scheint Bedeutung zu haben, es gibt keinen beständigen Referenzpunkt von Raum, Zeit, Handlung oder Zweck. Vgl. N. Sevcenko 1992b. «In Search of the Third Bank of the River: Reflections on the Bürden of the Past in Contemporary Brazilian Culture». In: Travesía. Nr. 1. S. 78.

25

Als beispielhaft führt N. Sevcenko die Filmarbeit des pakistanischen Regisseurs Alberto Cavalcanti Uber Paris Rien que les heures (1926) an. N. Sevcenko 1992a. Darüber hinaus ist hier die Tatsache von Interesse, daß ein brasilianischer Künstler sich in den europäischen Intellektuellendiskurs einmischt. Vgl. auch R. Ortiz' (1991) Studie über Frankreich bzw. Paris: Cultura e modernidade. A Franga no século XIX. Säo Paulo.

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tremen: Säo Paulo als Ort des Chaos und als Matrix einer neuen emanzipatorischen Vitalität. Symptomatisch ist hier die Stadtpoesie Mário de Andrades. 26 Die Versuche, durch vergleichende und kontrastive Projektionen Identität mit europäischen und nordamerikanischen herzustellen, wird in der ideologisch aufgeladenen metaphorischen Formel des "umgekehrten Babel" deutlich. In der gloriosen Umkehrung entsteht ein Mythos von Säo Paulo, den Sevcenko mit Referenz auf die architektonischen Projekte präzise als "erotisch" und "holistisch" beschreibt. Für die subalternen Gruppen hingegen war Säo Paulo o Cativeiro de Babilònia,21 was die soziale Situation betrifft. Diese Beobachtung Sevcenkos für die 20er Jahre scheinen in den 60er Jahren an Gültigkeit nicht verloren zu haben. Vor der Textanalyse selbst gilt es nun, die Situation in Säo Paulo zu beschreiben. Babel im Zeitalter der Medien - Säo Paulo in den 60er Jahren Die 60er Jahre markieren die Schwelle des Eintritts in die Moderne, das gilt insbesondere für die Metropole Säo Paulo, deren "Schicksal seit den 50er Jahren entschieden ist". Carlos Monsiváis' Bemerkung über México D.F. ist auch für Säo Paulo gültig. Die Impulse und Initiativen des Wandels auf dem Weg zur "Megalolópolis" der Gegenwart, die teils projektiert, teils reaktiv und teils zufällig waren, richteten sich zum einen darauf aus, die heraufdrängenden sozialen Konflikte - vor allem anzuführen ist das "wilde Wachstum" aufgrund der Migration - zu regulieren, zum anderen auf die Neuorganisation der symbolischen und perzeptiven Systeme der sozialen Gemeinschaft, die auf der Suche nach Maßstäben, Intensitäten und einem Rhythmus des modernen metropolitanen Lebens war. Das Aufkommen der Medien-Kulturmaschinerie, die internationale Vernetzung der Kommunikationswege ist hier zentral.28 Vielleicht treffen die anachro-

26

In dem repräsentativen Gedicht Rua de Säo Bento wird einerseits das Spektakel des "Neuen" mit seinen Impulsen für die Sinne und andererseits die Greuel, die die einbrechende moderne Zeit mit sich bringen, deutlich: Minha Loucura, acalma-te! / Veste o "water-proof dos tambéns! / Nem chegarás táo cedo / a fábrica de lecidos dos leus éxtases; / telefone: Além, 3991 [...] / Entre estas duas ondas plúmbeas de casas plúmbeas, / vé, lá nos muito-ao-longes do horizonte, / a sua chaminé azul! Im abschließenden Vers: Horríveis as cidades / Vaidades e mais vaidades [...] I Nada de asas! Nada de poesía! Nada de alegría! Vgl. M. Andrade 1922. «Paulicéia desvairada». In: ders. 1976.

27

N. Sevcenko 1992a. S. 37-39.

28

Angesichts der Fixierung auf die Rolle der Medien in gegenwärtigen Publikationen, die Uber die Allgegenwart und Macht der Medien den Zusammenhang zu politischen und ökonomischen Wandel selbst unberücksichtigt läßt, ist die Entwicklung differenzierter Fragestellungen notwendig, wie z.B. Jesús Martín

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nistische Effekte, die Nicolau Sevcenko für die 20er Jahre mit dem Aufkommen der Maschinen beschrieben hat, auch auf die Bilderexplosion nach 1964 zu. Die Effekte der Beschleunigung brachten damals als paradoxen Kontrapunkt eine Demobilisierung der Bewußtseinsformen - die Erbschaft einer seit Jahrhunderten seßhaften Lebenswelt - mit sich. Vergleichbar mit damals wird in der Ära der Bilderflut eine "Regung der Instinkte" auch nicht verhindert. Vielmehr wird dieser Mechanismus aufgegriffen: Wo sich das Pulsieren der Instinkte artikuliert, wird es aufgewertet, wo es sich einstellt, wird es stimuliert und wo es nicht existiert, wird es implantiert. Im von Modernisierungsschüben gekennzeichneten Brasilien der 60er Jahre bestand die Notwendigkeit, eine Kultur der Unterhaltung, des Konsums für die junge Generation der neu entstehenden Mittelklasse zu schaffen. Es entwickelte sich ein neuer Habitus als Reaktion und Verarbeitung der Erfahrungen, die sich mit der durch Technisierung und Medialisierung verändernden Sinnsysteme einstellte. Eine Schlüsselrolle kam hier den medialen Performances, der "müsica populär" im Rahmen des aufkommenden tropikalistischen Diskurses zu. 29 Der Zeitpunkt des Schreibens von Null koinzidiert mit der Expansion der elektronischen Bildmedien. In den 60er Jahren im Zuge der massiven Modernisierung - mit dem "Estado militar" (1964) wurde dieser Prozeß forciert - eroberte das Fernsehen die brasilianischen Städte. 1962 wurde auf Druck der Miltärs das nationale, landesweite Telekommunikationsnetz errichtet; das TV wurde zum tragenden Sektor der sich sprunghaft entwickelnden Kulturindustrie, 30 in der bis in die 60er Jahre vorindustrielle Bedingungen dominierten. Mit der Produktion der telenovela als genuin nationalem Genre und Exportprodukt ist die Formel gefunden, die Brasiliens Eintritt in die modernidade markiert. 31 Besonders prägnant werden die Problematik dieser von Pluralität, Diskontinuität und Paradoxien gekennzeichneten Entwicklung und ihre Folgen bei der Inszenierung von Null durch den deutschen Choreographen Johann Kresnik am Teatro Municipal in Säo Paulo 1992, zu der Loyola Brandäo das Libretto verfaßte. Das Barberos und Armando Silvas Arbeiten: Televisión y melodrama und Imaginarios urbanos: Bogotá y Sao Paulo: cultura y comunicación urbana. Beide Bogotá 1992. Vgl. auch C. Rincón 1993. 29

Vgl. meinen Beitrag über die "Tropicália". E. Spielmann. «Tropicália: Kulturprojekt der 60er Jahre in Brasilien». In: B. Scharlau (Hrsg.) im Druck.

30

R. Ortiz 1988. A moderna tradi(äo brasileira. Säo Paulo. S. 128.

31

Vgl. A. und M. Mattelart 1989. O carnaval das imagens. Säo Paulo. S. 35. Ein markante Differenz zur Entwicklung in Europa und den USA läßt sich an der Kulturindustrie zeigen. Während sich in Europa Kulturindustrie mit dem Aufkommen der Nationalstaaten herausbildet, läßt sich in Brasilien "erst" in den 60er Jahren von einer Kulturindustrie - mit der Explosion der Medien - sprechen.

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dramatisch-destruktive Moment der implantierten elektronischen MedienBilderwelt und seine Eigendynamik werden hier in drastischer Form repräsentiert. Im Unterschied zum Paradigma der Körper-Maschine, zu dem die moderne Metropole der 20er Jahre wird, erscheint Säo Paulo in den 60er Jahre als eine polyvalente Repräsentation. Nicht das dichotomische als Dominante, sondern das paradoxe Stadterlebnis als Inbegriff des Zusammenstoßes von Modernität und Vor-modernität ist hier ein Schlüssel der Beschreibung. Welches sind die konkreten kulturellen Ereignisse, in deren Rahmen Null entsteht und was ist das Besondere, das Neue der Situation? Säo Paulo in den 60em: Das ist die Mikrophonstimme von Joäo Gilberto mit dem Bossa Nova Hit Chega de saudade, das sind die Bossa Nova Clubs Bar Redondo und Boiüca in der Nachbarschaft des Teatro de Arena in der Rua da Consolafäo, die "intermediale" Poesia concreta der "Dichter-Designer" Haroldo und Augusto de Campos, der national-populäre, dependenztheoretische Diskurs des Teatro de Arena und des Teatro de Oficina, die "open air"-Inszenierung von Caetano Veloso, Gilberto Gil und Chico Buarque de Holanda im TV Record, die Filme des Cinema Novo, Glauber Rochas theoretische Entwürfen der "Ästhetik des Hungers und der Gewalt" (1965), der "Ästhetik des Traums" (1971) und die Situationskunst der "artes plasticas", vor allem aber die aufkommenden Telenovelas und das Unterhaltungsprogramm, die Quiz- und Spielesendungen der Fernsehanstalten. Das Neue und Besondere liegt im Moment kultureller Disparität. Die gleichzeitige Rezeption ausländischer Filme, einerseits des kommerziellen Kinos mit Stars wie Raquel Welch, Rita Hayworth, Ava Gardner, Simone Signoret, andererseits des avantgardistischen Kinos, z.B. Luis Malles Les amants, vor allem die Klassiker der "Nouvelle Vague" 32 beschränkt sich nicht darauf, das Entfernte 32

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Luis Malles Les Amants provozierte eine zweimonatige polemische Debatte: Die Zeitung "O Globo" abersetzte eine französische Filmkritik von André Maurois (...corpos ñus que deixam, ao firn do espectáculo, tantos homens e mulheres insatisfeitos e exaltados sao de que mais mal säo existe ...), was Ratlosigkeit bzw. Indifferenz zum Ausdruck brachte. Paulo Emilio Salles Gomes Eloge des Films im Estado de Säo Paulo provozierte eine heftige Reaktion seitens der "Confederalo das Familias Cristas", die sich kurze Zeit später unter der Führung von Plinio Correia de Oliveira in der "Tradifäo, Familia e Propriedade" (TFP) organisierte. Aus vergleichbarem Anlaß, den aufkommenden "öffentlichen Tanzvergnügen im Dunkeln unter freiem Himmel", hatte es in den 20er Jahren ahnliche Reaktionen gegeben. Der Estado publizierte regelmäßig von "o pai da familia" unterzeichnete Protestleserbriefe. Vgl. O Estado 25.1. 1920 apud N. Sevcenko 1992a. Der junge Caetano Veloso schriebt 1961 enthusiastisch unter dem Eindruck der Filme von Visconti, Antonioni und Resnais an einen "baianischen" Freund: Rocco (e i suoi fratelli E.S.) é a coisa mais bela de sempre [...] encarnado em Delon [...] è o maior filme moderno, certamente ao lado de "Hiroshima (mon amour" E.S.) é lalvez de Vaventura de Antonioni. Ders. Folha de Säo Paulo 9.9.1992.

in Nahes/Gleichzeitiges zu verwandeln. Es kommt vielmehr zu einer Begegnung zwischen globalen Zeichen der Medien und kulturellen Elementen lokaler Räume und Ordnungen. Es ist die Bilderwelt des Kinos mit der Loyola Brandäo in Null in Dialog tritt, es ist die auf die Leinwand und Bühne gebrachte schockierende "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", 33 die im Großstadtdiskurs von Loyola Brandäo eingeschrieben ist. Die Typographie Nulls belegt Bezüge zur Bewegung der Poesia concreto der 50er Jahre, 34 Die szenische Gestaltung und die ästhetische Umsetzung Nulls verweist auf Loyola Brandäos Nähe zur Theorie des Cinema Novo, zu Glauber Rochas "Ästhetik des Hungers und der Gewalt" und sie referiert auf das Programm des "Teatro de Arena", den von Augusto Boal und Francisco Guarnieri 1967 proklamierten Eklektizismus der Gattungen und der Stile?5 Diese Referenzen haben bei unserer Lektüre weder die Funktion ästhetischer noch ideologiekritischer Auslotung - die Kritik am Basis-Überbau-Denken antiimperialistischer, nationaler Konzepte der Theater- und Filmleute, die sich auf Frantz Fanons Dekolonisationsmodell (1961) beziehen, ist zum Allgemeinplatz geworden - und es geht auch nicht um die wichtige Feststellung, die autoritäre und populistische Haltung der Intellektuellen in ihren Proklamationen für Demokratie zu desavouieren. 36 Die Referenz in Null auf Glauber Rocha interessiert vielmehr im Hinblick auf dessen "(geo)-politischen Diskurs". 37 Unser Interesse richtet sich einmal mehr auf den Beitrag Nulls zur postkolonialen Debatte, das dialogische Intervenieren dieser Konzepte im internationalen Rahmen durch die Betonung der eigenen Geschichtlichkeit.

Exemplarisch ist Dias Gomes A invasâo (Uber die moralische Nichtintegration einer Familie der "paus-dearara" angesichts der als feindselig empfundenen Lebenswelt der modernen Metropole). Eine Gegenwartsdiagnose liefert auch der Filmtitel Glauber Rochas: Terra em Transe. Anzuführen ist auch die Metapher "Geléia geral" von Torquato Neto aus der Ecke der "mtisica populär", die in Bezug auf die plurilinguistischen Konstruktionen (die Mixtur aus portugiesisch, englisch und französisch), das Nebeneinander disparater Elemente beschreibt, zumal Alltagssprache, lokaler Slang und erudierte Sprache, die den spezifischen Kode der Liedtexte produzieren. 34

Sie haue Wirkung auf Design (Alexander Wollner und Geraldo de Barros), Weitung (Fiaminghi, Mavignier und Pigantori) und Zeitungsgestaltung (Amflcar de Castro). Er konzipierte 1959 ein neues Layout für das Jornal do Brasil. Vilém Flusser bezeichnet Säo Paulo in diesem Zusammenhang als Zentrum poetischer Innovation. V. Flusser 1992. S. 208.

35

E. Spielmann 1985. S. 5-6.

36

M. Chaui 1986/1989.

37

A. Carrilho 1987. «De la faim à la déraison». In: S. Pierre 1987. Glauber Rocha. Paris. S. 219-229.

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Null, ein un-europäischer Großstadtroman Wir hatten eingangs darauf hingewiesen, daß bei den Lektüren von Null die Stadtfiktion zu kurz kommt. Wenn Null als Großstadtroman gelesen wird, so als Pendant zur europäischen und nordamerikanischen modernen Stadtnarration; hier werden vor allem Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, Dos Passos Manhattan Transfer und auch James Joyce Ulysses angeführt. Die Vergleiche sind durchaus berechtigt, die Verwendung von modernen Erzählstrategien, Überschneidungen in der literarischen Kodierung, die Referenz auf das Aufkommen moderner Großstadtphänomene stehen dafür. Doch handelt es sich bei Null, so die These, um keinen Großstadtroman der westlichen Moderne. 38 Die Unterschiede manifestieren sich auf der Ebene von Diskurs, Geschichte und Gattung und lassen sich aus der in Brasilien anders stellenden Problematik einerseits und der spezifischen Funktion der Fiktion anderseits herleiten. Um diese differente Perspektive oder Ausrichtung herauszuarbeiten, formulieren wir zunächst die Gemeinsamkeiten moderner westlicher Großstadtromane, um dann die Abweichungen und Umformungen in Loyolas Text zu markieren. Erzählmodelle in Funktion der Modernisierung Wiederholt ist auf die Erkenntnis der Künstleravantgarden um 1900 hingewiesen worden, daß der Einbruch der Technik, der Geschwindigkeit in der westlichen Zivilisation zu grundlegenden Veränderungen der Parameter führen würde. Die moderne Stadt bildete eine Art von Experimentierfeld für die Künste auf der Suche nach Formen, die neue Zeit- und Raumerfahrung zu fassen. Kinematographische Mittel werden in der Literatur wie in der bildenden Kunst (Delaunay, Balla) verwendet, sie bilden ein narratives bzw. visuelles Äquivalent. Die Tatsache der schnellen Verwandlung der "Realität" in eine andere, diese Erfahrung modernen Lebens findet in Kollagen, Montagen ihre entsprechenden symbolischen Ausdrucksformen. Die Konstitutierung neuer narrativer Modelle wird prägnant bei Autoren wie Alfred Döblin, John Dos Passos, James Joyce, Gertru-

38

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Exemplarisch angeführt seien zwei Arbeiten: Volker Klotz' Studie faßt moderne Großstadtromane von Sue, Victor Hugo, Zola bis zu Proust und dann Dos Passos, Döblin, unter das Repräsentationsmuster der erzählten Stadt als dargestellter Wirklichkeit. Vgl. V. Klotz 1969. Blanche H. Gelfant situiert moderne Stadtromane nach Typus a) Stadtporträt, b) synoptischer Roman und c) ökologischer Roman. Vgl. B. H. Gelfant 1954. The American CityNovel. Norman.

de Stein. 39 Insbesondere die Theorie des Futurismus wird für die Konzeption neuer Narrativitätsmodelle unterstrichen. Bekannt ist die direkte Berührung mit dem Futurismus bei Döblin, Joyce und Dos Passos. Das Erzählverfahren ist darauf ausgerichtet, Lesen als ästhetische Erfahrung, das Neue Erleben in der ästhetischen Erfahrung aufzunehmen und zu "verarbeiten". Es geht darum, die schnelle Verwandlung der Realität als neue Wahrheit zu erfassen und damit letztlich um das Einüben modernen Lebens. Döblin, der sich selbst als "Zivilisationsliterat" bezeichnete, hat sein Programm für den "modernen Bau des epischen Werks" in Berlin Alexanderplatz umgesetzt. 40 Hier wird die Vorstellung von der Konstituierung eines "Sprachkörpers" und vom Schauplatz des Schreibens, dem jede vorkonstruierte Konzeption des Erzählens einverleibt wird, prägnant. Man glaubt zu sprechen und man wird gesprochen, oder man glaubt zu schreiben und man wird geschrieben, ist die Formel der "Depersonation" unter der modernes Erzählen stattfindet. Der "Verteidigungskrieg gegen die bürgerliche Gesellschaft" - von dem Döblin in einer Überschrift spricht - vollzieht sich in der Verschränkung von Wissen und Sehen. Dies manifestiert sich in der Erzählweise - im "steinernen Stil"41 - der auf das Konzept des "Vorkonstruierten" (Roland Barthes) der Bedeutungen verweist. In Null werden, wie bei Döblin, in dem Text des Romans dokumentarische Fakten des zeitgenössischen Geschehens - Zeitungsmeldungen, Statistiken, Inserate - montiert. Der nicht-fiktive, dokumentarische Diskurs überschneidet sich mit dem narrativen. Dies führt bei Null aber anders als bei Döblin nicht zur Transparenz der Handlung und Betonung des Disparaten von Fiktivem und Nicht-Fiktivem, vielmehr wird die Grenzüberschreitung von Realität und Fiktion selbst Teil der Erzählung. Die Hierarchie der Erzählebenen, die Alfred Döblin respektiert, wird durch die Erzählweise gestört. John Dos Passos' Roman Manhattan Transfer läßt sich im Montageverfahren disparater Elemente mit dem narrativen Modell Döblins durchaus vergleichen. Jean Paul Sartre hat das additive Erzählen Dos Passos' und den Effekt eines neuen qualitativen Produkts kommentiert: Jede Begebenheit ist ein grelles, einsames Ding, das sich aus keinem anderen herleitet, sondern plötzlich auftaucht Gertrude Stein sieht in der modernen Verfaßtheit von Welt eine ästhetische Möglichkeit. Vgl. die Dissertation von Dagmar Buchwald über Gertrude Steins Komposition der Stadt. D. Buchwald 1990. Modulares Erzählen. Gertrude Steins späte experimentelle Romane. Bielefeld. 40

K. Scherpe 1988.

41

A. Döblin 1963. Aufsätze zur Literatur. Ölten /Freiburg. S. 128, S. 18.

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und sich mit anderen verbindet: ein Unreduzierbares. Erzählen bedeutet für Dos Passos addieren.*2 Anti-narrativ ist Dos Passos in dem Sinn als temporale und kausale Strukturen in der Aufeinanderschichtung fragmentarischer Lebensläufe aufgelöst werden. Dies Verfahren finden wir auch bei Null in Anwendung. Der entscheidende Unterschied ist aber, daß die Minibiographien bei Loyola Brandäo eine Vor-Geschichte der Figuren mit einschließen. Es sind Opfer der Trennung und Teilung, die sich mit der fortschreitenden Differenzierung in der modernen Tauschgesellschaft vollziehen, es sind Außenseiterfiguren, aber keine entfremdeten Individuen wie bei Dos Passos oder auch bei Döblin. 43 Die Isolation von Einzelerfahrungen - durch Zerlegung werden sie in einzelne Segmente dekonstruiert - lenkt auf die Künstlichkeit des Erzählens - der Leser soll die Narrativität "in status nascendi" erleben - und führt eine andere Logik der Wahrnehmung ein: eine serielle, simultane Wahmehmungsdisposition als äquivalente Darstellung zur Gleichzeitigkeit von Ereignissen an verschiedenen Orten. 44 Die paradigmatische Rolle von James Joyces Ulysses (1922) für die Darstellung modemer Großstadterfahrung und damit zugleich für die ästhetischkulturelle Moderne ist bekannt. 45 Uns interessiert an Joyces Dublin-Fiktion weder, inwieweit die Stadt semiotische Vorgabe und Ordnungsprinzip der Textkonstitution ist, noch die Wirkungsqualität des Textes als Äquivalent des Urbanen Erlebens bzw. Inbegriff eines modernistischen Textes, sondern vielmehr möchten wir den Beitrag unterstreichen, den Joyces innovatives Erzählen als Modell zur Konditionierung der Wahrnehmung im modernen Urbanen Leben leistet. Dornt Cohn hat mit seiner Neubezeichnung des inneren Monologs als "autonomer Monolog" auf die nicht narrative Form der Fiktion (und damit vom Erzähler nicht manipulierter Fiktion) aufmerksam gemacht. Der Begriff "autonomer Dialog" beschreibt die Simultanität von Ereignis und Sprache, hier wird 42

J. P. Sartre 1965.« Über John Dos Passos und Neunzehnhundermeunzehn». In: ders. Situationen. S.9.

43

In der Verfilmung von Döblin' Roman Alexanderplatz von Rainer Werner Fassbinder wird, so analysiert es Thomas Elsaesser, die Vorgeschichtslosigkeit von Franz Bieberkopf deutlich. Vgl. K. Scherpe 1988.

44

Joseph Frank hat in seinem Essay «Spatial form in Modem Literature» (1945) am Beispiel von Ulysses, u.a. den Umgang modernen Schreibens mit Simultanität, die Umsetzung von Zeiterfahrung in Räumlichkeit analysiert und modernistischen Schriftstellern die Ausschöpfung der Darstellung der Grenzen bescheinigt. J. Frank 1963. The Widening Gyre. Apud McHale 1987. S. 290.

45

Für den englichen Literaturwissenschaftler Gerald Martin sind lateinamerikanische Stadtromane eine Art von Echo auf Ulysses. G. Martin 1989. Journeys through the Labyrinth. Latin American Fiction in the Twentieth Century. London/New York. S. 138. Ohne den Gründervater Joyce hätte es - so Martin - die Literatur des "booms" nicht geben können. Ohne die wohlgemerkt nicht nur lateinamerikanische, sondern weltweite Adaption Joycescher Innovationen anzweifeln zu wollen, läßt sich bei G. Martin in diesem Punkt eine gewisse eurozentrische Fixierung nicht übersehen.

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Reinbek.

nicht erzählt, sondern evoziert. 46 Dies Verknüpfungsverfahren wie auch der Einsatz eines bestimmten Metapherntypus, der strukturellen Metaphern, die David Lodge benennt, 47 dient der Einübung einer dynamischen Orientierung und Rezeptionsdisposition. Das "neue Erzählen" lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kategorien der Wahrnehmung, insbesondere des Sehens. Auf Joyces zukunftsweisende und scharfsinnige Erkenntnis über die Ohr-Augen-Polarität hat Marschall McLuhan hingewiesen. 48 Es gilt, die Metamorphosen der Wirklichkeit als unmittelbare Erfahrung ästhetisch wahrnehmbar zu machen. Joyce, der sich bekanntermaßen zu keiner avantgardistischen Bewegung bekannte, hat den Wandel der Seherfahrung und die Konsequenzen in Bezug auf die "Proteus"- Episode formuliert: It's the struggle with Proteus. Change is the theme. Everythings changes - sea, sky, man animals. The words change too.49 Die Erzählstrategien, die den Eindruck des Diskontinuierlichen unmittelbar vermitteln, gehen einher mit der Selbstthematisierung des Darstellungsmediums. Fasziniert von der Meisterschaft Joyces werden Literaturwissenschaftler nicht müde, diesen Sachverhalt zu beschreiben: die sprachliche Durchdringung von Umwelt und Innenwelt der Romanfiguren im inneren Monolog, die Konstruktion einer "übernaturalistischen Wirklichkeit" durch Verfahren der "Stilagglomeration". 50 Darüber kommt die entscheidende Funktion und Wirksamkeit, die dieses neue Erzählen auch impliziert, zu kurz: die Konditionierung einer bestimmten Wahrnehmung und das Einüben neuen Verhaltens, die in der modernistischen Literatur geleistet wird, indem thematische und ästhetische Konsequenzen aus der entfesselten Bewegung gezogen werden, die der Modernisierungsprozeß ausgelöst hat. Wir finden in den Erzählmodellen von Alfred Döblin, James Joyce und John Dos Passos ein Zelebrieren des modernen Erlebens, das auch in der Negativbeschreibung der Stadt als Ungeheuer, als Ort des apokalyptischen Dramas (z. B. bei Döblin) stattfindet. Bei der Analyse von Null gilt es nun weniger, die Gemeinsamkeiten modemer Erzählweisen, z. B. den Kinostil, zu konstatieren, sondern vielmehr darum, die Unterschiede, die sich aus der anderen Situation und Geschichtlichkeit ergeben, herauszuarbeiten. Meine These ist, daß Loyola Brandäos "Erzählmodell" sich nicht in Funktion der Modernisierung stellt. 46

Dorrit Cohn 1978. Transparent Minds. Princeton. S. 217-232.

47

Die Funktion dieses Metaphemtypus beschreibt David Lodge als it exerts control over the development of the narrative. D. Lodge 1977. The Modes of Modern Writing. S. 136.

48

M. McLuhan 1962.

49

F. Budgen 1934. James Joyce and the making of "Ulysses". New York. S. 48. Hermann Broch 1955. «James Joyce und die Gegenwart». In: ders. Dichten und Erkennen. Zürich. S. 191.

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Null, eine Phänomenologie "peripherer Modernität" Der Titel Null ist die Formel für die Zustandsbeschreibung Säo Paulos in den 60er Jahren. Brandäo faßt "Stadt" in erster Linie als sozialen Lebensraum auf. Im Titel ist der Bezug auf Oswald de Andrades Stadtroman Marco Zero offensichtlich. Doch im Unterschied zu Oswald de Andrades Faszination vom modernen Stadterleben, das an den Glauben in Modernisierung und Fortschritt geknüpft ist, manifestiert sich in Null das Bewußtsein vom Scheitern des nationalen Fortschrittsprojekts. Bringen wir die Zahl Null als Aussage mit der "Realität" und dem Image Säo Paulos als der ökonomisch orientierten Stadt, als expandierendes ökonomisches Zentrum in Zusammenhang - im Text taucht das Bild der Stadt als Lokomotive, die zwanzig Waggons hinter sich herzieht 51 auf - , zielt die Prognose polemisch auf die Kehrseite des "milagre brasileiro", das Säo Paulo par excellence repräsentierte. Loyolas Null antizipiert das Wissen soziologischer Auftragsarbeiten über die Situation Säo Paulos in den 60er und 70er Jahren. 52 Null beschreibt präzise und in der Wirkung beunruhigend die physische und psychologische Realität, die das "wilde Wachstum" eine der größten "DritteWelt-Metropolen" mit sich bringt, was sich in den Kategorien Verelendung, Korruption, Zerstörung von Leben, Gewalt zeigt, u. a. als Folge einer konjunkturell bedingten, gescheiterten bzw. nicht vorhandenen (demographischen) Politik der Regierung. Das Entscheidende ist: Null liefert mehr als Gegenwartsdarstellung und Diagnose, wir finden Beschreibungen menschlicher Imagination über das Phänomen Stadt. Diskurs und Geschichte Bei der Vielfalt von Diskursen, Zeit- und Raumebenen, der Bandbreite von historischen und kulturellen Bezügen zur nationalen und (latein)amerikanischen und Welt-Geschichte, die evoziert werden 53 kann die Textarbeit nur symptomatisch vorgehen. Von Interesse ist der Zusammenhang von sozio-kultureller 51

I. de Loyola Brandäo 1976. Zero. Romance pre-histórico. Rio de Janeiro. S. 215. Im folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert und die Seitenzahl in Klammern angegeben.

52

Vgl. die Berichte der Comissäo de Justifa e Paz de Säo Paulo: Càndido Procópio Ferreira de Camargo et al. 1977. Säo Paulo mil-novecentos-e-setenta-e-cinco. Crescimento e pobreza. Säo Paulo und Vinicius Caldeira Brant (Cood.) 1989. Säo Paulo, irabalhar e viver. Säo Paulo.

53

Die Lebensgeschichte der "Helden" - José und Gè - werden zu der Leidensgeschichte Christi, die der Bewohner Latindias zu der des jüdischen Volkes in Beziehung gesetzt. E. Spielmann 1986. S. 6. Was die blasphemischen Passagen betrifft, steht Loyola Brandäo einem Salman Rushdie in nichts nach, wie in einer anderen Lektüre zu zeigen wäre.

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Situation und Praxis im "Hier" und "Jetzt" der 60er Jahre und dem Funktionieren der Diskurse als Teil dieser Alltags-, Lebens- und Stadterfahrung. Welches sind die Handlungsräume, die das Leben der Stadt bestimmen? Es soll analysiert werden, wie die symbolische Topographie der Stadt konstruiert wird. Die Stadtfiktion produziert eine räumlich strukturierte Semantik, die auf Dichotomien aufbaut. Gleichzeitig existiert eben die dekonstruierte Seite des auf Gegensätzen errichteten diskursiven Stadtbildes. Der Text untergräbt die Konstruktion der Oppositionsbeziehungen selbst. Loyolas Großstadtdiskurs zeichnet sich gerade dadurch aus, daß er sich demonstrativ als ein Diskurs unter anderen ausweist, d.h. sich zusammensetzt aus der Fragmentierung und Schichtung ökonomischer, politischer, historischer, juristischer, sexueller, religiöser Diskurse. Die verschiedenen diskursiven Ereignisse, Erfahrungen und Praktiken können zu keiner einheitlichen Stadtgeschichte zusammengesetzt werden. Wohl finden sich in der Pluralität, der Diskontinuität der Diskurse Referenzen auf Straßen, Plätze, Orte, die topographisch und auf realhistorische Ereignisse, z.B. die Aktionen des Stadtguerilleros Carlos Marighela anläßlich des Papstbesuchs auf der Prafa Isabel mit dem Monument Duque de Caxias überprüfbar sind. Wohl gibt es in der Überlagerung der Biographien rekonstruierbare paulistanische Geschichten, z.B. die des "Helden" José, die ich kurz erzähle. José stammt aus dem Hinterland von Säo Paulo, sein Jurastudium hat er abgebrochen und schlägt sich nun mit skurrilen Jobs, z.B. als Rattenfänger eines Kinos, durchs Leben. Über eine Zeitungsannonce lernt er Rosa kennen, ein Mädchen aus der Provinz. Nach einer kurzen Episode in geordneten Verhältnissen - Heirat, Arbeit, Eigenheim - bricht José aus und wird kriminell. Rosa wird später Opfer eines religiösen Rituals. José lernt bei einem Bankraub Gè, den meistgesuchten Stadtguerillero kennen und schließt sich dessen Gruppe an. Durch Verrat geraten sie in die Hände der Polizei - Folter, Mord und Gefängnis. José kommt mit dem Leben davon. 54 Kennzeichnend für die Entwicklung dieser "story" ist die Vermischung fiktionaler Realität und fiktionaler Phantasie. Heldentaten Josés, er mischt sich ein in das klandestine, machtpolitisch brisante und lukrative Glücksspielgeschäft des jogo do bicho (S. 176-178), wird zum meistgesuchten Gangster der Stadt Begegnungen (auch die mit Gè?) entpuppen sich als Wunschtraum bzw. entspringen der Druck-, Ton- und Bilderwelt der Medien. Wir finden Versatzstücke aus Hits der "musica populär" - z.B. Caetano Velosos Samba Minha terra tem 54

E. Spielmann 1985. S. 4.

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palmeiras (S. 22) - Fortsetzungsromanen, Telenovelas, Hollywood-Westem, Gangsterfilmen, Femsehshows. Mediale Ereignissen, die die Lebensvorstellungen und Verhaltensweisen steuern und produzieren und damit wesentlich zur Konstruktion des sozialen Imaginären beitragen. 55 Die Dominanz des Diskurses der Gewalt und der Macht könnte als Prinzip gelten, durch das die Stadterzählung zusammengehalten wird. Erzählt wird vom großen Kampf zwischen Gewalt und Gegengewalt und vom Pazifismus als Nicht-Lösungsweg. Der narrative Text - die pakistanischen Geschichten - stehen dem nicht-narrativen Montage-Zitat-Stadttext gegenüber. Es bringt zwar kein narrativer Wunderglaube die Lösung, aber im narrativen Raum manifestiert sich ein dialogisches Moment, durch das eine Nähe produziert wird zwischen äußerem Erzähler und realem Autor. Die episodenhaft erzählte Lebensgeschichte, die Ereignisse dienen nur als Anlaß, um die Stadterfahrung zu vermitteln. Stadt im Nullzustand In den Straßen ein Loch neben dem anderen. Die Busse schleichen durch den stockenden Verkehr. Langsam weichen die Kopfschmerzen, die José jeden Morgen bekommt (S. 14): Die Beschreibung dieser am Nullpunkt angekommenen Stadt, einer Stadt, die aus desolaten Gebäuden (S. 51), Baulücken, Erdgruben besteht, deren Farben braun und schwarz sind - wie die Farben des Bildes von Siron Franco - , deren zentrales Stadtviertel den symptomatischen Namen Bocaräo trägt - gewissermaßen als Summe der Signifikantenkette von bocas: do trem, do cinema, dos ònibus, das fábricas - kann nur über den Weg des Montierens erfolgen. Und umgekehrt ist die Zerstörung - fixiert im Bild der Riesenzähne (S. 72) - , das Verschwinden - projiziert im Bild der Stadt als subterranem Labyrinth, der Verlust der Stadt der 50er Jahre (S. 215) - dem Zeitpunkt der Ankunft Loyola Brandäos in Säo Paulo - der Antrieb, die Stadt zu erzählen. Stadterlebnisse Blicken wir zunächst auf die "reinen" Stadterlebnisse, die Großstadtdiskurse, die Loyola dem Collageverfahren unterzieht. Collage bedeutet bei Loyola Brandäo in erster Linie Zitieren. Zitate aus dem offiziellen Diskurs der Medien - Tages55

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HoUywoodfilme dienen Politikern als "Vorbild" für öffentliches Auftreten. I. de Loyola Brandäo 1979. Null. Frankfurt. S. 119. Damit wird gewissermaßen schon das Phänomen der spaten 80er Jahre, der lateinamerikanischen TV-Präsidenten Collor, Menem etc. vorweggenommen.

presse, Radio, TV, Lautsprechern, Kino, Leuchtreklamen und der inoffiziellen Öffentlichkeit, wie Graffiti, Flugblätter, Straßen- und Kneipengesprächen. Collage meint bei Loyola auch text-splitting: ein Arrangement von zwei oder mehr Texten auf einer Seite, die zur parallelen Lektüre auffordern. Mit dieser (postmodernen) Technik geht Loyola in der Betonung und Darstellung von Gleichzeitigkeit noch einen Schritt weiter als modernistische Texte, seine Textstrategie dient zudem einem anderem Zweck. Es gilt nicht, lediglich das Entfernte in Nahes/Gleichzeitiges zu verwandeln, sondern globale Strukturen mit lokalen Zeichen zu konfrontieren. Wir finden in Null verschiedene Formen der "Textspaltung". Einerseits wird z.B. im Spaltendruck das graphische Design der Zeitungen, das Layout des Annoncenteils mit Einrahmungen des Textes, Illustrationen - anatomische Zeichnungen - nachempfunden und andererseits die "wissenschaftliche" Gestaltung von Texten Randbemerkungen und Fußnotentexte übernommen. Insbesondere im zweiten Fall stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen den parallelen Texten. Gewöhnlich werden diese Kommentare als Supplementierung des Textes verstanden. Bei Loyola wird aber genau diese Konvention mißachtet. 56 In einigen Fällen dient der Haupttext als Vorwand, um im Fußnotenkommentar die eigentliche Problematik zu formulieren und damit einen Dialog zu initiieren,57 oder umgekehrt erweist sich der Fußnotenkommentar als Mittel, die bloße Manie von Schriftstellern, sich durch irrelevante Metakommentare in Szene zu setzen, zu ironisieren. Vorwiegend dienen die supplementären Texte jedoch dazu, das zuvor gelieferte Bild zu dekonstruieren. Das Stadterlebnis Säo Paulo wird zum Inbegriff für die paradoxe Situation peripherer Modernität, deren Hauptmerkmal im Zusammenstoß von Modernität und Prä-Modernität liegt. Prägnant wird dies in der Biographie der Figuren, in der Thematisierung der Lebens-, Wohn- und Arbeitssituation, der sozialen Praktiken der Protagonisten. Paradigmatisch für die Situation des "wilden Kapitalismus" ist die Geschichte des nordestinos Carlos Lopes, die als offizielles Stadterlebnis von den Medien als Informationsware behandelt wird: Näo esquecemos Carlos Lopes. Die in kurzen Episoden erzählte Odyssee Carlos Lopes' demonstriert mehr noch als die Verwandlung des staatlichen Systems in ein Terrorregime - ich schere ganz be56

B. McHale führt posünodernislische Texte an, die diese Konvention mißachten, z.B. Nabokovs Pale Fire (1962), R.M. Kosters The Dissertation (1975) Vgl. B. McHale 1986. S. 191.

57

Zum Beispiel die Beschreibung des Arbeiters Pedro. Im Fußnotentext heißt es: Em certas regiöes do Norte e Nordeste existe a velhice precoce, causada pela fome. subnutriçâo, anquilostomose, anemia profunda e vermes, avitaminose (S. 54).

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wüßt aus der gängigen ideologiekritischen Lektüre aus - die bürokratische Ineffizienz als ein wesentliches Symptom der Praxis des "wilden Kapitalismus". Carlos Lopes möchte sein krankes Kind bei der staatlichen Gesundheitsbehörde behandeln lassen. Bevor er die bürokratischen Hürden überstanden hat, stirbt das Kind. Er wird deshalb wegen Mordes verhaftet. Am Fall der Opferung Rosas in einem blutigen religiösen Ritual werden die gravierenden Folgen und Mechanismen des Modemisierungsschocks, des Aufeinanderprallens differenter Kulturen, Mentalitäten und "Entwicklungsstufen" von Säkularisierung und magischem Denken manifest. Symptomatischerweise findet das Ereignis unter dem Signum der neu gebauten Metro einerseits und der Landung auf dem Mond andererseits - dem transnationalen Medienereignis der 60er Jahre - statt. Die Konstruiertheit der paradoxen Situation wird auf der sprachlichen Ebene durch die unmittelbare Konfrontation von (lokalem/regionalem) Nagö und (globalem) Englisch unterstrichen. In das Opferritual mischen sich die Stimmen der Astronauten. Die innerhalb der Fiktion paradox vereinigten gegensätzlichen Diskurse zeugen nicht so eindeutig von der aufklärerischfortschrittsorientierten Option, wie der Metakommentar von Loyola Brandäo zu diesem diskursiven Ereignis glauben macht: Es bestätigt von neuem, daß in einem Land wie Brasilien, das Atomenergie herzustellen vermag, das eine Metro mit der modernsten Technologie baut, das den Computer in allen Bereichen einfiihrt, eine ebenso unglaubliche wie wirkliche Gegenseite existiert: die Barbarei, die Primitivität, ein für die Zukunft völlig unvorbereiteter Mensch. Denn dieser Mensch ist unterentwickelt, elend, Analphabet, krank, er hat Hunger, flüchtet in Mystizismen,58 Denn immerhin liegt das Motiv für das MenschenBlutopfer in der Rettung América Latindias, Rettung vor der durch die Metropole repräsentierten zivilisatorischen Entwicklung. Loyola Brandäo läßt Ige-Sha, die Kultchefin einen maschinenstürmerischen, antimodernistischen Diskurs führen: A olu-lilá. Aquela cidade que beré-beré-ogufá näo conseguiu compreender [...] Havia muita fumaga, barulho, gente, automóveis, máquinas, prédios, vitrinas, toda ohukuá brilhante. Tudo dominado. Igé-ha sentia-se encrencada, eslumbada para tirar o grande mal que a possuía (S. 255), in dem ohne Zweifel

58

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I. de Loyola Brandäo 1979. S. 382.

eine der Schlüsselszenen von Mário de Andrades Macunaima, die Rede der Boiuna - glossiert wird. 59 Das Stadterlebnis Säo Paulo bedeutet vor allem Leben und Wohnen in den Vierteln der Peripherie, dem Sammelpunkt der Zuwanderer aus dem Nordostens, aber auch aus anderen lateinamerikanischen Ländern. Nicht ländliche "Idylle", sondern der Zugriff der Modernisierung in ihren negativen Seiten - Marginalisierung, soziales Elend, schlechte Lebensqualität (Mülldeponien) schlägt in den Vierteln der Peripherie zu Buche. Symbolische Topographie der Stadt Dunkelheit, Dreck, Müll, Geruch umgeben José, Elemente einer Szenerie des Alptraums: Gente que vinha dos cortiqos, bancos do jardim, Parque Dom Pedro, cadeia, bordéis. Cheiro de àlcool, maconha, sujeira, desocupando, desprezo (S. 14). Die topische Kennzeichnung seines ersten Arbeitsplatzes (das Kino) als dunkles, dreckiges Loch, des zweiten als bocaräo, lixo, porcaria, benennt zugleich die Situation der marginalisierten Bewohner Säo Paulos. José ist aus der Peripherie ins Zentrum gezogen, das Bücherdepot eines von der Zensur geschlossenen Verlages dient ihm als Wohnung. Die Zweckentfremdung des Raums hat semantisch eine doppelte Funktion: als Zeit-Index verweist sie auf die Phase repressiver Politik der Regierung des Generals Mèdici, als RaumIndex auf das Zurückdrängen der Literatur durch das Heraufdrängen der Tonund Bildmedien. Innerhalb der Narrationsverlaufs ermöglicht der Ortswechsel Josés ein Zentrieren auf die Citypassagen. Der Topos Straße vereint mit Verkehrslärm, Geschäftigkeit, Konsum und Werbung die Phänomene metropolitanen Lebens. 60 Doch wird moderne Stadterfahrung nicht unter dem Primat des visuell-bildlichen Eindrucks vermittelt, sondern akustisch und rhythmisch über Geruchsinn und Farben. 61 In der Ge-

6

'

Vgl. Märio de Andrade 1981. Macunaima. 0 heröi sem nenhum caräler. Säo Paulo. Mario de Andrades positive Einstellung zu Säo Paulo manifestiert sich in seinem Briefwechsel mit Manuel Bandeira. Er schreibt: Precisas conhecer Säo Paulo. Näo i linda. E curiosa [...] Prelendo [...] escrever um poema "Pauliciia reconquistada". Dcrs. 1958. Carlas de Märio de Andrade a Manuel Bandeira. Rio de Janeiro. S. 55. Die Straße als Ort der Kommunikation, als Emblem von "civitas" und "comunitas" - vgl. B. Pike 1981. S. 23 - finden wir auch hier, allerdings unter dem Zeichen peripherer Modernität. Das Evozieren der Stadt ist bei Loyola Brandäo weniger toponymisch, wie bei Joyce, als topographisch. Als Test kann hier die Kohärenz von Text und Schauplatz dienen. Die semantische Funktion des Raumes als soziales Feld wird von Loyola Brandäo eingesetzt. Im Umgang mit der Farbsymbolik ist ein spielerisches Verfahren zu bemerken, z.B. wird die traditionelle Zuschreibung der Farbe gelb als Gefahr, Tod, Krankheit bei Loyola in der Umkehr als Farbe des Widerstands zur Wirkung gebracht.

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räuschkulisse auffällig sind die Autos - volks, opalas, carman gias,fords - , der ohrenbetäubende Lärm der Metrobaustelle - das Pam, Pam, croooooo, crrr, riiiimmmm [...] serras, bate-estacas, tratores, betoneiras, caminhäes (S. 263) liefert eine rhythmische Strukturierung des Textfeldes die sich mit der Musik Rhythmus und Sound - der Beatles und Elis Regina mischen. Entscheidend ist, daß nicht versucht wird, mit den Effekten des Kontrasts ein Gesamtbild - das Schreckbild Stadt - zu evozieren, vielmehr wird das Disparate der Entwicklungsbewegungen in seinen Effekten - Homogenisierung einerseits und Heterogenisierung andererseits - betont. Diskontinuität als Charakteristikum der Stadt 62 steht im Gegensatz zu Lewis Mumfords Idee von der Stadt als Kontinuum, 63 die sich in der Erfahrung continuous present als typisches Symptom der Großstadt präsentiert. Mumford beklagt den Verzicht auf Vergangenheit und Zukunft: its habitants live in a self-annihilating moment-to-moment-continuumM Loyola Brandäo dient Diskontinuität als Konstruktionsprinzip, ohne daß Erinnerung, Vergangenheit und Identität ausgeschlossen sind. Dem Topos Straße folgt gleichsam der Topos Tür. Die Türen, die Ein-, Durch- und Ausgänge, die José im Verkaufs-, Geschäftszentrum spazierend antrifft und durchschreitet, sind mehr als 'reale', räumliche Schwellen. Sie markieren symbolische Zeitgrenzen, mit deren Überschreiten der Eintritt in die Modernität gekennzeichnet wird. Nach den Folgen dieses Übergangs Brasiliens vom "Entwicklungsland" zum "Schwellenland" wird in der folgenden Stadtpassage gefragt. José flüchtet vor dem Anblick sozialen Elends, der Kehrseite des von Konsumtempelchen repräsentierten "milagre brasileiro" und gerät unweit des pulsierenden Geschäftslebens in eine Sackgasse. Hier trifft er auf Autowerkstätten und einen Autofriedhof mit allen Typen von Autotüren, die José öffnet und schließt. Mit dem Überschreiten der Raum- und Zeitgrenze stellt sich die Frage der Zukunft: das Öffnen der letzten Tür? Was existiert hinter ihr? (S. 19). Ein Blick auf die Szenerie liefert eine direkte Antwort: Auto-, d.h. Zivilisationsschrott. Zusammen mit der topischen Markierung der Straße als Sackgasse stellt Loyola Brandäo eine Gegenwartsdiagnose, die radikaler und beunruhigender nicht ausfallen könnte. Vgl. auch den späteren Beitrag I. de Loyola Brandäo 1986. «Frutas nascem no cimento. Gigantismo/intimismo». In: A. Boccate. Säo Paulo, gigante & intimista. S3o Paulo. Er schreibt: Muda-se o eixo da cidade, mudam-se as mäos das ruas. edificios caem, outros surgem [...] modifica a face da cidade, em perlodos muitos cwtos. Ders. S. 9-10.

64

132

L. Mumford greift die Vorstellungen Freuds auf, wenn er bemerkt: the modern city itself [...] is still an earth-bound Stone Age structure. L. Mumford apud B. Pike 1981. S. 20. L. Mumford 1963. S. 545.

Stadtpassagen eines pakistanischen

Flaneurs

In der Beschreibung der Urbanen Szenerie tauchen alle Kennzeichen modernen Lebens auf: das Schauspiel der Menge, Pluralität von Verhalten und Moden, der Genußtrieb, flüchtige Begegnungen, Anonymität, also subjektbezogene und soziale Momente der Großstadtwahrnehmung, die Walter Benjamin in der Interpretation der Gestalt des Flaneurs und Siegfried Kracauer im Ornament der Masse65 beschreibt. Vordergründig trifft das Bild großstädtischer Massenkultur zu, doch gibt es eine Reihe von Phänomenen, die von den definitorischen Merkmalen modemer urbaner Lebensformen abweichen. José 66 durchquert die Stadt zu Fuß kompulsiv, ohne anzuhalten, ohne Suche nach Zerstreuung. Ein wesentliches Motiv für dieses hastende Gehen durch die Stadt ist das Charakteristikum Säo Paulos: es gibt fast keine Bürgersteige, keine Bäume. Geradeausgehen, flanieren ist allein wegen der Straßenlöcher nicht möglich. Gibt es möglicherweise Parallelen zwischen dem Gehen und Wahrnehmen in der Fiktion und der Konstitution des Textes? Gehen wir auf die Überlegungen Michel de Certaus ein: Er bemerkt eine strukturale Analogie zwischen dem Akt des Gehens und dem des Redens/Schreibens: in der Aneignung von Topographie bzw. Sprache. 67 Es geht uns hier allerdings nicht um die Handlung an sich - das "moderne Gehen" durch die moderne Stadt - , sondern um die Besonderheiten, die das Gehen durch eine Stadt wie Säo Paulo kennzeichnen. Es genügt nicht, die interessante Beobachtung de Certeaus, die ein Korrespondieren von "modernem" Schreiben und Gehen annimmt, zu konstatieren. 68 Vielmehr stellen sich ganz andere Fragen: Was dient José als Koordinaten in dieser dezentrierten Stadt, deren Achsen sich ständig verschieben, in der das Gedächtnis eines Computers notwendig ist, um sich zu orientieren? Welches sind die Orte städtischmetropolitanen Lebens? Loyola beschreibt den Wandel in der Stadt seit den 60er Jahren: Die arabischen, jiddischen Namen der Geschäfte und Kneipen im Zentrum sind im Lauf W. Benjamin 1978. Charles Baudelaire. «Ein Lyriker im Zeitaller des Hochkapitalismus». In: ders. Gesammeile Werke. Bd. 12. Frankfurt und S. Kracauer 1977. 66

Loyola Brandäo läßt seine literarische Figur 1989 "erneut" durch Säo Paulo "passieren". Vgl. I. de Loyola Brandäo 1989. «Säo Paulo, o grau Zero». In: Leia livros. N. 131. S. 29-34.

67

"[...] der Vorgang des Gehens spielt mit den räumlichen Ordnungen, Gehen ist ein Aussagen von Raum, ein Mitteilen über Raum." M. de Certeau 1979. «Umgang mit Raum. Die Stadt als Metapher». In: Panik Stadt. Berlin. S. 1 4 , 1 1 , 7 .

68

M. de Certeau definiert in der Fußgängeraussage das Gehen durch drei Merkmale - das Gegenwärtige, das Zusammenhanglose und das "Phasenhaflc." de Certeau 1979. S. 7. Er wendet die Doktrin McLuhans an: "Das Medium ist die Botschaft". Vgl. M. McLuhan 1967. The Medium is the Message. New York.

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der 60er Jahre durch amerikanische ersetzt worden, an der "Esta?äo Brás" und "Largo de Concordia" sind die italienischen nordestinischen Namen gewichen. Die "Avenida Paulista", der ehemalige Stolz der "quatrocentonas": Asphalt und Konkretheit ohne Grün. Die gigantische Hochhausarchtitektur der 60er Jahre, die Banken aus Beton, Eisen, Glas, war ein nicht zu verdauemder Schock. Das Zentrum, die Vergnügungszone mit Plattengeschäften und Eisläden, einschließlich der Praga da Sé mit den fliegenden Händlern, bleibt der semiotischen Analyse zum Trotz ein sitio, ein Ort Begegnung in der Stadt. Die Praga da Sé funktioniert wie ein mittelalterlicher Platz, es ist ein Pàtio der Wunder für die unteren Volksschichten. Gibt es einen paulistanischen Flaneur? Was unterscheidet ihn von der Benjaminschen Figur? Im Unterschied zum Motiv des Flaneurs, dem Vergnügen, in einer Menge sich zu befinden, [...] dem Genuß an der Vervielfältigung der Zahl, so die Beschreibung des Beaudelaire-Interpreten Benjamin, dem die Großstadtarchitektur der Passagen entgegenkommt - bleibt die Faszination des paulistanischen Flaneurs (José), das Erleben der Menge, begrenzt. Entscheidend dabei ist: Das Motiv der Stärkung des Ich als Erfahrung bleibt aus. Wohl gibt es ein korrespondierendes Verhalten: Wie der europäische Flaneur greift José in der Art eines Detektivs die Muster auf, die die Masse ihm bietet, - "mitten in der Menge [...] rote Schuhe [...] Beine" (S. 18) - , deren Spur er verliert. Doch das Aufgreifen und die Interpretation der Muster dient nicht, um sie mit seinem IchBewußtsein zu füllen, wie es Benjamin für den Flaneur beschreibt. 69 Denn die "Beine", "roten Schuhe" sind Muster, die mit Erinnerung, Vorgeschichte gefüllt sind, sie sind nicht das "willkürlich anonyme andere". Die Begegnungen und Wahrnehmungen des "Anderen" in Loyolas Text verweisen weder auf flüchtige, segmentare Kontakte, noch auf die reine Instrumentalität der sozialen Beziehungen. Vielmehr implizieren sie die Gültigkeit kollektiven Denkens und Verhaltens, prä-modemer Werte, wie Freundschaft und Ehre. Habituell manifestiert sich das in Aufmerksamkeit, Distanzlosigkeit und Teilnahme, im Gegensatz zu Gleichgültigkeit und Blasiertheit. Anonymität, die Distanz des Beobachters und das Bewußtsein von Individualität bzw. der Entindividualisierung (der Entfremdung), läßt sich jedenfalls nicht in dem Maße konstatieren, auch wenn Loyola auf die verdinglichende Kraft der Warenproduktion und des Konsums hinweist. 70 Denn José reflektiert seine subjektiven Erfahrungen, Sinneseindrücke 69

W. Benjamin 1978. S. 561, S. 563. In seinem neueren Text über Säo Paulo schreibt Loyola: Há, principalmente, um novo hörnern, produlo da sociedade moderna [...] O hörnern- compra. Máquinas colossais encarregam-se da mutagáo. I. Loyola de

134

fast ausschließlich in bezug auf das Gegenüber, die Anderen - das zeigt sich auch auf syntagatischer Ebene durch die durchgängige Verwendung der ersten Person Plural. Stadtfiktion als

Gesellschaftsentwurf

Frühere Narrationen, Depois o sol (1965) und vor allem der Roman Bebel que a cidade comeu (1968), fassen die Stadt als gegenwärtiges Sujet auf - sie beschreiben das Nachtleben, das Intellektuellen- und Künstlerleben Säo Paulos. In dem Roman wie auch in der Fiktion Camila numa semana (1968) spielt der Diskurs der Massenmedien bereits eine Rolle und wird die Montage-Zitiertechnik erprobt, 71 um die massiven Veränderungen der Wahrnehmung, die Effekte der Modernisierung, des Zusammentreffens differenter Wirtschaftsordnungen, politischer und kultureller Sphären zu beschreiben. In Null nun überkreuzen sich die Diskurse fiktiver Wirklichkeit und fiktiver Fernsehwelt, sie werden kontrastiert. Der Dialog mit Bildern aus der Medienwelt wird - wie bereits erwähnt - besonders prägnant in den assoziativen Bilderbergen des Balé da cidade de Säo Paulo (Zero]?' das die Collage-Zitattechnik des Textes kongenial umsetzt: Etwa, wenn Rosa und José in der Szene Os prisioneiros da sorte in das Heute einer TV-Glückshow entsandt werden, Loyola Brandäo die berühmteste und populärste Peinlichkeit des kommerziellen TV-Programms, Fantasma von Silvio Santos, parodiert. José und Rosa treten auf: Animados: E voces o que querem? José e Rosa: O nosso filho. Animados: Querem ter um filho? Näo conseguem ter filho? Ah, ah,ah! Vai ver ele é impotente, nao pode ter um filho. A senhora precisa é outro marido, minha senhora. (Para o auditòrio). Quem quer fazer um filho nesta senhora?

71

BrandSo 1986. S. 10. An anderer Stelle bemerkt er Uber seine Figur José: José steht für den extremen Individualismus [...] der brasilianischen Gesellschaft [...] Indem Jost den Ruf Gis ablehnt, zeigt er die aktuelle Egoientrik der brasilianischen Gesellschaft. Vgl. M. Rinke «Kunst und Katastrophen». In: Süddeutsche Zeitung 4. 6. 1992. Gegen diese behauptete Individualisierung, die Loyola anführt, spricht die Repräsentation des sozialen Feldes der Stadtfiktion. Vgl. E. Spielmann 1985. S. 2.1. de Loyola Brandito montiert in Bebel que a cidade comeu z.B. einen Textaussschnitt aus einer Tourismuswerbung ftlr Säo Paulo, in dem sich der offizielle Diskurs über die Stadt selbst desavouiert: Criou-se a falsa imagem que si temos fábricas, fumata preta, homens correndo. Hi um pouco disso, i verdade. Mas tambim lem muita coisa boa de se ver e apreciar. Montanhas, a terra e o paulista, tdo bom como pode ser bom todo braslleiro. I. de Loyola BrandSo 1968. Bebel que a cidade comeu. SSo Paulo.

135

FUNCIONÁRIOS eu,eu,eu

UNIFORMADOS

mostrarti a placa [...] Gritos, eu,

[...]

Animado: E corno era o filho de voces? Gordo? Rosado? Loirinho? José e Rosa: Näo, magro, moreninho, urna gracinha. Animador: Quem vai querer filhos moreninhos? O mercado está para bebés loiros e rosados [...]72 Die Inszenierung Nulls als Ballett geht in Übereinstimmung mit dem literarischen Text über ein analytisches, dramatisches "J'accuse" hinaus. Es geht nicht lediglich darum, die zunehmende Präsenz und Macht der Massenmedien zu beklagen. Loyola verweist auf die Veränderung der Codes durch die vom TV produzierten Bilder. Es sind technisch fortgeschrittene, magisch wirksame, für die spezifische Wahrnehmung von Nicht-Alphabetisierten hergestellte Bilder und Szenarien, Erlebniswelten, die nicht nur als Verhaltens-, sondern auch als Erkenntnismodelle dienen. Die mediatisierte Rezeptionssituation markiert eine beträchtliche kulturelle Mutation. Der frühere Roman Bebel que a cidade comeu lieferte mit dem Cangäo do desenvolvimento de Chico de Assis das Stichwort für die zentrale Problematik der 60er Jahre, die Kolonisierung durch die Ianke-Kultur und der Verdrängung der populären Kultur: O povo brasileiro tem personalidade/embora pense como americano!, embora dance como americano, embora cante como americano, oh boiHOh rogado bom.ni Loyola verfällt in Null nun keinesfalls in eine schematische Denunzierung westlicher Kulturindustrie - als eine Form von Kampf gegen den "Kapitalismus als Kultur" - mit ihrem Gebrauch vorfabrizierter Sprache der Comic-stripsound-Effekte. Die Auflistung von Konsumprodukten, die wir im Text finden, läßt sich nicht auf eine einseitige Kritik an stereotyper, steriler Zeichen, Bildersprache reduzieren, vielmehr problematisiert er die mimetische Beziehung zur US-amerikanischen Medienkultur: José, der Held, sempre quis ser cantor. Americano. Como Ray Charles, Nat King Cole, Paul Anka, Frankie Lane, Billy Eckstine. Desde os quinze anos tinha vontade de ir para os Estados Unidos, cantar, ser famoso [...] Ele vive cantando "Temptation", "You carne, / was alone" (S. 14). José, der Held, kommt schließlich in die USA, seine Geschichte 72

136

I. de Loyola Brandäo 1991. Unveröffentlichtes Manuskript des Balé da cidade de Säo Paulo (Zero)2 S. 6162. I. de Loyola Brandäo 1968. Pega ele, Silencio; Camila numa semana; Túmulo de vidro. In: Os dezoito melhores coraos do Brasil. Rio de Janeiro. S. 136.

endet im Delirium in einer aseptischen, weißen kalifornischen Gefängniszelle: Os gigantes azuis, diante do chefe/O Thief of pólice/- And what about the guy? In the cell [...] HA SINAIS PARA VOCE Cela asssssssssspticaaaaaaaaaaaaaaa, clara, limpa, branca (S. 290). In der unmittelbar anschließenden Schlußapotheose wird, wie an anderen Stellen im Text, die unter dem Zeichen der Globalisierung stehende, verzerrte national-autochthone Ideologie in der Konfrontation mit Negativbeispielen der unreflektierten Übernahme US-amerikanischer Zivilisationsmodelle glossiert. Loyola nimmt anachronistisch Bezug auf eine hegemonische Plastikkultur und karikiert offizielle Konzepte national-populistischer Großprojekte 74 In der Analyse der Schlußpassage möchte ich die These untermauern, daß es sich bei Null um eine historisch ausgerichtete Stadt-Fiktion handelt mit markanten Abweichungen von historischen Großstadt-Romanen des Westens. In der Frage Mas a cabega, onde está a cabeqa da América que eu näo vejo? (S. 290) wird zwar das Scheitern der autoritätsfixierten Veränderungsversuche von antiimperialistischen, national-populären Kulturrevolutionen konstatiert, aber nicht das Ende der Geschichte. In der Erzählhaltung manifestiert sich auf semantischer und auf syntaktischer Ebene - im Futur und Konjunktiv der Verbformen eine Offenheit, was die Zukunft betrifft, wenn auch von betonter Ambivalenz. E entäo inverter. E reinverter. Quem está certo, estará errado, quem está errado, estará certo, quem depois - estiver errado hoje-certo-incerto [...] depois certo ou errado (S. 291 ). 75 Ein entscheidendes Fazit ist, daß José im Delirium - nach dem Alptraum, dem Verlust von Frau und Freunden - nicht auf sich selbst als dezentriertes Subjekt verweist, wie z.B. Franz Biberkopf nach den großen Schicksalsschlägen, 76 sondern er nimmt Bezug auf die lateinamerikanische Geschichte, die als kollektiv verstanden wird. Wir haben gesehen, daß der montierte, mit Dichotomien arbeitende Text nicht allein auf ein Desavouieren gesellschaftlicher Widersprüche, sozialer Mißstände, unerträglicher Lebensbedingungen zielt. Wohl engagiert sich Loyola Brandäo, die Konstellation sozial-historischer Praktiken, die das Stadtleben ausmachen - hier vor allem die ökonomische Orientierung - , zu kriti74

76

Loyola Brandäos ironische Anspielung auf die in Brasilien stark rezipierte Medientheorie McLuhans, deren Doktrin sich in der Aussage "Das Medium ist die Botschaft" konzentriert Vgl. M. McLuhan 1962. Die Schlußszene des Kresnik-Balletts: Unter einer Speisetafel das Proletariat, darüber ein Schwein, die Präsidentin, ihr Lachen, eine Ratte. Die Josts steigen in den Bühnenhimmel - Wasser, Orgeln, aus dem Off Loyola, der eiserne Vorhang senkt sich. Unter seiner Kante alle Köpfe Josts. Vgl. M. Rinke. K. Scherpe 1988. S. 480.

137

sieren: Trabalhando para voce Fundo Biafra.11 Ein wesentlicher Unterschied zu modernen Großstadtromanen des Westens - konkret zu Alfred Döblins Alexanderplatz - liegt darin, daß es sich nicht in erster Linie um Gesellschaftkritik handelt - denken wir an Döblins "Stellungskrieg" - sondern um einen Gesellschaftsentwurf. Dieser Versuch wird in der anti-utopischen Fiktion Kein Land wie dieses deutlich.

Tropische Welt im Science-Fiction Klima: Kein Land wie dieses

Paradoxie, Diskontinuität, Zentrierung bzw. Dezentrierung des Subjekts, Peripherie/Zentrum haben uns als Kategorien zur Interpretation von Ignácio de Loyola Brandäos Stadfiktion Null gedient. Aus der heutigen Perspektive, einer Situation, die vom Ende der Utopien, der Krise und dem Verschwinden der Heterotopien,78 von denen Michel Foucault spricht, gekennzeichnet ist, stellt sich die Frage, welcher Weg noch offen ist. Souza, der ehemalige Geschichtsprofessor, bewegt sich langsam kriechend im Mondlicht zwischen stillgelegten Autos, verrosteten Karosserien von Golfs, Passats, Alfas und Bergen von grünen Bierdosen auf der verstaubten Schnellstraße, die aus der Stadt führt. Sein Körper hinterläßt eine lange Kriechspur. 79 Die Szene führt mitten in Ignácio de Loyola Brandäos "Aufzeichnungen aus der Zukunft" Kein Land wie dieses von 1981. Der Titel verweist bereits auf die Intertextualität der Fiktion. Kein Land wie dieses ist die jedem Schulkind bekannte Gedichtzeile des Parnaß-Schriftstellers Olavo Bilac, die die Schönheit 77

(S. 270). Im Ballett (Zero? trägt eine Szene den symptomatischen Titel: "Onde está o dinheiro?". Loyola Brandfio kommentiert die Zuspitzung der Situation im Stadtleben der 90er Jahre: Todo mundo fala em dólar [...] máncheles gritantes dos jomáis, rddlo, televisio [...] Há um prater em se ver a tnflafäo subindo [...] Pode se montar algumas cenas em cima desta dolariia(áo. Loyola Brandfio 1991. In: Programmheft zum Bali da cldade de Säo Pauto (Zero)2. S. 2.

78

M. Foucault 1987. «Des espaces autres» (unveröffentlichter Vortrag) erschien zuerst auf deutsch «Andere Räume». In: Idee Proiess Ergebnis. Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt. Katalog zur Internationalen BauaussteUung. Berlin. S. 337-340.

79

Loyola BrandSo. 1981. Nio verás país nenhum. Rio de Janeiro. Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

138

des Landes besingt. Als Kontrast zur Situation der 60er/70er Jahre, der systematischen Vernichtung der brasilianischen Tropenwälder, wird der Titel von Loyola polemisch eingesetzt gegen den sinnentleerten und rhetorisch-propagandistischen Nationalismus offizieller Politik: Brasilien, die neue großartige Wüstenlandschaft, hundertmal größer als die Sahara, wird von den Politikern als achtes Weltwunder und Attraktion für Tourismus gepriesen. Loyola konstatiert wie bereits in Null - in der Überzeichnung der Situation den Legitimationsverlust nationaler Ideologie und demonstriert an der brisanten, aktuellen Thematik der Ökologie wie der als "milagre brasileiro" bekannte Versuch kapitalistischer Modernisierung scheiterte. Die Charakteristiken des Textes verweisen auf einen "literarischen Grenzfall". Die Schwierigkeit, die sich beim Versuch der Einordnung stellen, zeigt sich in der beschreibenden Kategorisierung Antonio Cändidos: Er bezeichnet die Fiktion als "aggressiven Realismus" bzw. "Ultrarealismus".80 Loyola Brandäo bedient sich der Klaviatur verschiedener Formen der Darstellung und lädt zu einem Metakommentar ein. Vielleicht ist es aber produktiver, den Text als Symptom zu lesen, obwohl diese Form der Lektüre Umwege verlangt. In der dystopischen Fiktion 81 ist dieser Umweg bereits angelegt: Es handelt sich um einen Stadtroman, der die Besonderheiten brasilianischer (peripherischer) Modernität, um eine Fiktion, die metropolitanes Bewußtsein in der Postmoderne artikuliert. Kein Land wie dieses entsteht zu einem Zeitpunkt, als sich die Krise der Meta-Erzählungen, u.a. des marxistischen Diskurses, deren Verbindlichkeit und Legitimationskraft obsolet geworden sind, längst abzeichnete. Auch der Zusammenbruch der technologischen Utopie - des Projekts der Modernisierung zeigte sich endgültig. Doch das Ende der großen aufklärerischen Utopien, der Abschied vom Glauben an globale gesellschaftliche Veränderungen, bedeutete nicht das Verschwinden von utopischen Ideen und emanzipatorischen Konzepten schlechthin. In den 60er Jahren entstanden weltweit eine Vielfalt kleiner Utopien, die sich in feministischen, ökologischen, ethno-kulturellen Bewegungen manifestieren. 82 In Ignäcio de Loyola Brandäos Texten, die sich jenseits der traditionellen Science-Fiction bewegen, gibt es eine utopische Dimension, die 80

Vgl. A. Cändido 1981. «Os brasileiros e a literature latino-americana». In: Novos Estudos CEBRAP. Vol. 1. Nr. 1. Dez. 1981. Säo Paulo. S. 66.

81

Vgl. R. E. DiAntonio 1989. «Dystopian Fiction. The Evolution of Ignäcio de Loyola BrandSos Dystopian Fiction: "Zero" and "Näo veräs pais nenhum" as Brazilian Cultural Fantasy». In: ders., Brazilian Fiction. 1989. Fayetteville/London.

82

Vgl. F. Jameson 1991. «Postmodernism and Utopia». In: ders. 1991.

139

sich aus der Krise der peripheren Modernität und der Impulse der Prä-Moderne entwickelt. Die von uns versuchte symptomatische Lektüre beinhaltet einen Umweg, die zwei Linien folgt, als deren Beschreibung der Januskopf der Moderne dienen könnte: eine Gesichtshälfte ist Brasilia, die andere ist die verwickelte Utopie dieser Stadt. Der Roman lebt von der Konfrontation mit diesem Januskopf.

Der erste Umweg. Der Januskopf der Moderne: Brasilia und St. Petersburg Brasilia: Autostadt und utopische Projektion Als Krönung des von den Utopien der Moderne - Technikbegeisterung, Funktionalismus und Fortschrittsglauben - getragenen nationalen Modemisierungsprojekts kann der Bau Brasilias betrachtet werden. Die von Technokraten und Marxisten unter der Prämisse der Repräsentativität und der funktionaler, humaner Architektur als neue Hauptstadt und Regierungssitz konzipierte "modernste Stadt der Welt" wurde 1960 eingeweiht. Brasilia, eine Stadt aus der Retorte, entstand weitab vom Zivilisationsgürtel als Denkmal zivilisatorischer Dynamik, mitten in der Wildnis Zentralbrasiliens. Unter der Präsidentschaft Juscelino Kubitscheks, der in einer riesigen Kopfplastik am Bibliotheksgebäude verewigt ist, und Beteiligung nationaler und internationaler Architekten und Landschaftsplaner wurde "das größte Freilichtmuseum der Welt" geschaffen, eine Betonwüste mit großen, breiten Straßen, deren Funktion sich darauf reduzieren läßt, eine Stadt für Autos zu sein und deren einzige Perspektive in der Musealisierung liegt. Neuere Studien zu Brasilia betonen zu recht einen weiteren Aspekt: Für James Holston ist Brasilia das Produkt der Idee, daß nationale Regierungen in der Lage sind, die Gesellschaft zu ändern, über die Steuerung des sozialen Imaginären, eine alternative Zukunft zu schaffen. Carlos Rincón unterstreicht die Akzentverschiebung und notwendige neue Herangehensweise der jüngsten lateinamerikanischen Diskussion über Architektur und städtische Räume, er schreibt in bezug auf Brasilia: El rastreo de los mitos justificativos de la idea de Brasilia como ciudad ha conducido, a su vez, a la estabilización de los elementos básicos de un discurso utópico, negador de las condiciones socioeconómicas imperantes en el Brasil real, cuya contrafigura debía ser Brasilia. La para140

doja de su utopismo la ha hecho radicar James Holston en la oposición entre la sociedad, objeto de deseo en el Plan Piloto y en el trabajo de diseño arquitectónico, y aquélla que lo edifica, construye y habita. La superación de la propiedad inmueble como base institucional del orden urbano, la transformación del discurso cívico al desaparecer la distinción entre lo privado y lo público, así como la redefinición de los vínculos entre vida privada y esfera colectiva traducida en la transparencia de las fachadas de vidrio, articulan esa proyección utópica. La lectura propuesta puede considerar así a Brasilia en términos de "ciudad modernista" y autointerpretar como "estudio etnográfico de modernismo de Brasilia",83 Le Corbusiers Proklamation: Wir haben im Namen des Dampfschiffs, des Flugzeugs und des Autos unsere Stimmen erhoben für Gesundheit, Logik, Kühnheit, Harmonie und Vollkommenheit beflügelten die Architekten Brasilias Lucio Costa, Oscar Niemeyer und Burle Marx zur Durchführung des plano piloto: Auf dem Grundriß, der einer Kreuzform gleicht, entstand eine Stadt, in der sich die Formel des Funktionalismus "form follows function" in die Praxis "life follows architecture" verkehrt. Der Großteil der Bevölkerung Brasilias, die inzwischen die zwei Millionengrenze erreicht hat, lebt in einem Elendgürtel rund um die Stadt.85 Auf die "Besonderheit der Modernisierung in Lateinamerika" ist von verschiedenen Seiten hingewiesen worden, 86 und in diesem Zusammenhang wurden die Unzulänglichkeiten der Theorie über Modernisierung und Moderne aufgezeigt. 87 Vor dem Hintergrund dieser Diskussion vertreten wir die These, daß die Urbanisierungsprozesse in Brasilien sich von der modernen Verstädterung der 83

Vgl. J. Holston 1990. The Modernist City. Architecture, Politics and Society in Brasilia. Chicago; C. Rincón 1994b. La no simultaneidad de lo simultánea. Globalización, Postmodernismo y Narraciones latinoamericanas. Bogotá. D.E. S. 75.

85

F. Foot Hardman 1988 Trem fantasma: a modernidade na selva. Säo Paulo. H.A. Teixeira 1982. Brasilia: o outro lado da utopia (1956-60). Brasilia. Dissertation.

Vgl. Le Corbusier 1982. Ausblick auf eine Architektur. Braunschweig. S. 23 bzw. 33.

86

Vgl. u.a. J. Brunner 1988. Un espejo trizado: Ensayos sobre cultura y políticas culturales. Santiago.

87

Z.B. wurde Jürgen Habermas mit seinen Überlegungen zur Moderne, die darauf zielten zu erfahren, ob es sich im Falle der Architektur modemer Konstruktionen und Planungen um das "wahre Gesicht der Moderne" oder lediglich um "deren Auswüchse und Verirrungen" handelte, kritisiert Die Fragilität seines Konzepts liegt darin, daß in ihm die Besonderheiten peripherer Modernität keinen Platz finden. In seinem auf ästhetische Erfahrungen reduzierten Blick Ubersieht er die primäre Funktion der auf Technizismus ausgerichteten Architektur Brasilias, ihre Funktion als Auto-Stadt. Vgl. C Rincón 1989. «Postmodeme und lateinamerikanische Literatur». In: Sturzfluge. Eine Kulturzeitschrift. Nr. 27. Bozen/Wien. April/Mai 1989. S. 32.

141

europäischen/nordamerikanischen Metropolen unterscheiden. Die Problemkomplexe und Alltagserfahrungen in Säo Paulo bzw. Brasilia sind andere als in Berlin, Paris und New York. Es handelt sich - wie wiederholt festgestellt wurde nicht lediglich um eine verspätete Modernisierung, die unter gleichen Vorzeichen der Durchrationalisierung der Lebenswelt stattfindet und zu Entfremdung des Ich und zur Krise des modernen Lebens etc., führt. 88 Es gilt, die abweichende soziokulturelle Situation in Brasilien zu beschreiben, die im Zusammenhang steht mit der allgemeinen Problematik, den Modernisierungsprozessen unter den besonderen historischen Voraussetzungen und Bedingungen der Abhängigkeit vom Kapitalismus. Besondere Berücksichtigung bedarf hier die lokale Dimension. St. Petersburg und Brasilia Marshall Bermans Überlegungen über Entwicklung und Perspektive der Moderne All that is solid melts into air. The experience of modernity führen zu der These, die Modernisierungsprozesse Rußlands im 19./20. Jahrhundert mit heutigen Entwicklungen in der "Dritten Welt" zu vergleichen. Als Grundlage für diese Annahme führt er die zu beobachtende Polarisierung zwischen avancierten und "unterentwickelten" Nationen an. Marshall Bermans Ausführungen über die Entwicklung St. Petersburgs sind für einen Vergleich mit Brasilia von Interesse. This trip through the mysteries of St. Petersburg, through its clash and interplay of experiments in modernization from above and below, may provide clues to some of the mysteries of political and spirituel life in the cities of the Third World - in Lagos, Brasilia, New Delhi, Mexico City - today [...] Petersburg's little men [...]find themselves at home everywhere in the contemporary world. [...] It can provide them with shadow passports into the unreal reality of the modern cityß9 St. Petersburg, das als neue Hauptstadt des russischen Imperiums geplant war, avancierte im 19. Jahrhundert zur viertgrößten Metropole Europas. Auf sumpfigem Boden nach dem Vorbild Amsterdams und Venedigs konstruiert, entstand, von ausländischen Architekten geplant, das "Fenster zum Westen". Als Ausdruck der Modernisierung konzipiert, illustriert die geometrisch, gradlinig angelegte, durch und durch "künstliche" Hauptstadt einen Neubeginn, repräsentiert 88

Diese These wird durch Forschungen Uber das soziale Imaginäre in den letzten Jahren unterstützt. Vgl. F. Foot Hardman. 1988.

89

M. Berman 1988. All That is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity. New York. S. 286.

142

weltlichen Fortschritt in Abgrenzung zum sakralen, von Tradition geprägten Moskau. Dostojewski - so Marshall Berman - bezeichnete St. Petersburg als die "abstrakteste Stadt". Ihre Funktion lag in der Repräsentation der zaristischen Macht, und sie diente als Verwaltungszentrum des Reiches. Zar Nikolaus verantwortete den berüchtigten Unterdrückungsapparat - die politische Polizei. Es gibt eine Reihe von Vergleichsmomenten in der Planung und Konstruktion von Brasilia und St. Petersburg: Beide Städte können als Utopien der Moderne gelesen werden, beide Projekte verbindet ein ungeheurer Menschen- und Materialverschleiß. Der Bau St. Petersburgs kostete im Zeitraum von drei Jahren 150000 Menschen das Leben, der Brasilias führte beinahe in den Staatsbankrott. 90 Die paradigmatischen Projekte verfolgten ein Ziel, das sich auf die Formel "Fortschritt um jeden Preis" bringen läßt. Mit der Konstruktion Brasilias findet das von Präsident Getülio Vargas eingeleitete geopolitische Programm, der "Marsch nach Westen", das Vordringen in die unerschlossenen Gebiete Amazoniens seine Fortsetzung. Es markiert den Beginn des in den 60- und 70er Jahren durchgeführten Straßenbauprogramms, der "Transbrasiliana" und der "Transamazönica", die als riesige Trassen den Regenwald durchschneiden. Weitere Parallelen zwischen St. Petersburg und Brasilia liegen in der Verlagerung der Hauptstädte, des Verwaltungs-, Technokratenapparats. Auch im Formprinzip, die Planung einer Einheit, einer geordneten, gradlinig konstruierten axialen Stadt, finden sich Korrespondenzen. Sowohl bei der Konstruktion St. Petersburgs als auch bei der Brasilias dient Technologie als Paradigma. Während Peter I., unter dessen Herrschaft Rußland zur Seemacht aufstieg, St. Petersburg 1703 nach dem Grundriß eines Schiffes errichtet haben wollte, gleicht der Brasilias einem Flugzeug. Ein zusätzliches Vergleichsmoment liegt in der "Bezwingung der Natur": In Rußland bedeutete dies das Trockenlegen von Sümpfen, in Brasilien die Rodung des Urwalds. Ein Stichwort soll genügen, um wesentliche Unterschiede - die besonderen Merkmale der Modernität Lateinamerikas - zu markieren, die Marshall Berman in seinen Überlegungen nicht beachtet: Während die Straßen von St. Petersburg öffentliche Räume der Begegnung, der Kommunikation waren, fungieren die Brasilias, der Autostadt par excellence, einzig für das Auto. Marshall Bermans Lektüre und Schlußfolgerungen ist entgegenzuhalten, daß sich die Menschen der Länder der Peripherie und St. Petersburgs in Fragen des

Nach offziellen Daten kostete der Bau Brasilias bis ca. 60 Milliarden Cruzeiros. Vgl. J.K. de Oliveira 1962. A manha do amanhecer. Säo Paulo. S. 109.

143

Geisteslebens, der Mentalität, des sozialen Imaginären unterscheiden. 91 Wir greifen die These der vorangegangenen Lektüren in bezug auf Säo Paulo wieder auf. Die Verinnerlichung des Prozesses zur Veränderung der Moderne, die "Entzauberung der Welt" mit der Durchrationalisierung der Lebensphäre, hat in Säo Paulo noch nicht in dem Maß stattgefunden, wie auch dieser Text von Ignácio de Loyola Brandäo zeigt. Gabriel García Márquez beschreibt in Cien años de soledad wie Macondo eine (die erste) industrielle Revolution erlebt: mit den technischen Errungenschaften werden der Abstieg und das Ende des Dorfs eingeleitet. Buenos Aires entwickelte sich bis zum Stadium fordistischer Industrie. Als Hafenstadt für Export von Grundstoffen bleibt sie auf dieser Stufe. Säo Paulo erlebte im Zeitraum der letzten dreißig Jahre drei industrielle Revolutionen. Es entwickelte sich zum Zentrum der Konsumgüterindustrie, es gehört in den 80er Jahren zu einer der größten Automobilproduzenten der Welt und avancierte zum High-tech Lieferanten Lateinamerikas. Vom Standpunkt der technologischen Entwicklung und in der postfordistischen Praxis zählt es zu den hochentwickelten kapitalistischen Weltmetropolen. Gemessen am sozialen-ökologischen Standard dieser Städte weist Säo Paulo alle Merkmale der abhängigen, unterentwickelten Gesellschaft auf: Bevölkerungsexplosion, unkontrolliertes Wachstum der Stadt, ineffiziente Bürokratie, Slums, ökologische Katastrophe. Nach neueren Schätzungen wird die Megalópolis Säo Paulo Ende der 90er Jahre 26 Millionen Einwohner haben und durch die wachsenden Trabantenstädte und "Favelas" mit dem 400 Kilometer entfernten Rio de Janeiro verbunden sein. Die seit Jahren prognostizierte ökologisch-soziale Katastrophe ist in Säo Paulo bereits eingetreten. Nach WHONormen hätte 1987 an 226 Tagen im Jahr Smogalarm ausgelöst werden müssen, so hoch ist die Belastung durch Auto- und Industrie. Der Science-Fiction-Thriller Alphaville von Jean-Luc Godard, der die Vision totaler Überwachung in einer hochtechnisierten Welt lieferte, hat einem der im Großraum Säo Paulo entstehenden Wohn-Compounds nicht nur den Namen gegeben. Die Siedlung ist von meterhohen, mit elektronischen Sensoren versehenen Mauern umgeben, und das totale Überwachungssystem wird durch die mit High-tech ausgerüstete Privatpolizei garantiert. Schutz bietet es in erster Linie vor den angrenzend wohnenden Favelabewohnern, die als reale Bedrohung betrachtet werden. Zwischen ihnen und den Sicherheitsbeamten, dem verlängerten Arm der Alphaville-Bewohner, herrscht eine Art von Bürgerkrieg. 91

144

Vgl. die Studie Uber das soziale Imaginäre bei der Konstruktion Brasilias, J. Holsten. 1986.

Zweiter Umweg: Über Beschaffenheit und Funktion einer nicht mehr trivialen Gattung Der folgende kurze Umweg dient dazu, die Beziehung des Textes zu ScienceFiction zu erläutern und damit auf die zweite große Paradoxie hinzuweisen. Obwohl Science-Fiction in Lateinamerika als Erzählgattung keinen Fuß fassen konnte, schreibt Loyola Brandäo mit Kein Land wie dieses eine "PseudoScience-Fiction", wie er selbst bemerkt. Die Besonderheit des Textes liegt in dem klaren parodistischen Einschlag, in den das Sub-Genre utopische Fiction miteingeschlossen wird. 92 Unter soziologischen Gesichtspunkten betrachtet, wird Science-Fiction zur hochentwickelten kapitalistischen Sphäre hinzugeordnet. Früheste Spuren der Gattung lassen sich in Lateinamerika in La invención de Morel (1940) von Bioy Casares verfolgen, wo die Technik des Kinos zum Entstehen eines Simulacrum gewählt wird. 93 In den 60er Jahren entstanden eine Reihe kurzer S-F-Erzählungen mit experimentellem Charakter, die René Rebetez in einem Sammelband veröffentlichte. 94 Gerade die Form der Anthologie verweist auf den marginalen Charakter, den S-F in der Blütezeit der lateinamerikanischen Romane hatte. Vor dem Hintergrund der internationalen Diskussion über die Mobilisierung des S-F schaltete sich Michel Butor mit dem Essay La crise de croisssance de la science-fiction ein. Er schlug vor, S-F-Schreiber sollten kollaborieren in der Entwicklung eines "kollektiven Mythos" von der Zukunft. 95 Michel Butor argumentiert, daß die Funktion des S-F in der Vorbereitung auf die technisierte (katastrophale) Zukunft liege: Durch künstliche Schockeffekte solle ein Anpassungsprozeß eingeleitet werden, S-F als eine Art Bewußtseinstraining, um Verhalten einzuüben, das auf die sich in ungeheurem Tempo vollziehenden Veränderungen in der modernisierten Welt abgestimmt sei. Wir halten Michel Butor entgegen, daß dieses Konzept von S-F als Projektion der Katastrophe in der automatisierten, technisierten Welt nicht mehr zeitgemäß ist, da die Prophezeiun92

F. Jameson definiert S-F als literarisches sub-genre with comptez and interesting formal history of ils own. F. Jameson 1988. «Progress versus Utopia; or can we imagine the Future?» In: Wallis (Hrsg.). Art after Modernism. New York. S. 243. Bei Niio verás pals nenhum handelt es sich um eine "offene Utopie" im Sinne F. Jamesons, der die Unmöglichkeit, Utopie bildlich und konkret darzustellen, konstatiert, ebd. S. 247.

93

Vgl. C. Rincón. 1991a. S. 254-255; ders. 1991b. S. 363.

94

Vgl. René Rebetez Antologia. Apud R. Rebetez 1967 La nueva prehistoria y otros cuentos. México.

95

Les récits de S.-F. tirent leur puissance d'un grand rêve commun que nous avons, mais ils sont incapables pour l'instant de lui donner une forme unifiée. C'est une mythologie en poussière, impuissante, incapable d'orienter notre action de façon précise. M. Butor 1960. Répertoire. Paris. S. 193.

145

gen von der Realität längst eingeholt wurden. Bei der Lektüre von S-F kann festgestellt werden, daß sie nicht auf die Darstellung der Zukunft, sondern auf die der Gegenwart abzielen. Insbesondere die Texte des wohl bedeutendsten Science-Fiction-Autors der Geschichte seit Jules Verne, J.G. Ballard, bezeugen, daß die für heute charakteristischen S-F keine Versuche sind, die "wirkliche" Zukunft unserer Gesellschaft zu imaginieren. J.G.Ballard plädiert in einem Interview für ein Konzept von S-F, das explizit von der Gegenwart ausgeht. Er geht so weit, das Schreiben über die Zukunft als moralisches Versagen der S-FAutoren zu beurteilen. Mit dem ständigen Wachsen der Bedeutung von Wissenschaft und Technik [...] mußte [...] man einfach über das Heute schreiben [...] es gab tatsächlich einen moralischen Imperativ über die Gegenwart zu schreiben.96 Auch Fredric Jameson korrigiert bei seiner Beschäftigung mit S-F und utopischen Texten die geläufige Auffassung, sie projizierten Bilder von der Zukunft. In seinem Essay Progress versus Utopia or can we imagine the Future definiert er S-F als verfremdete Rekonstruktion der Gegenwart. Er sieht in Assimovs galaktischen Imperien und John Whynders Visionen der Postkatastrophe Analogien zur zeitgenössischen Zivilisation und konstatiert das Verschwinden von historischem Bewußtsein, "utopischen Entwürfen": Im heutigen Stadium der Geschichte sei Vergangenheit tot, sie existiere nur in leblosen Abziehbildern, die Zukunft sei entweder irrelevant oder nicht zu denken. Jameson verweist auf die strukturell einheitliche "Methode" von S-F-Autoren, durch Kunstgriffe Geschichtlichkeit zu suggerieren. Die "wahre" Funktion der Fiktionen liege jedoch in der Umkehrung: die Unmöglichkeit, sich Zukunft vorzustellen. Das führe dazu, daß der Umgang mit Geschichte von einem Moment der Melancholie bestimmt sei.97 Entgegen dieser Auffassung Jamesons gilt es, die sich im Text manifestierenden Abweichungen im Umgang mit Geschichte in der Einstellung zum historischen Bewußtsein zu beschreiben. 98 Die Hauptstoßrichtung für Ignácio de 96

J.G. Ballard im Gespräch mit J. Krichbaum und R. A. Zondergeld 1979. In: F. Rottensteiner (Hrsg.). Aufsätze zu Science-Fiction und zur Phantastischen Literatur. Frankfurt. S. 148.

97

[...] IM multiple mock futures serve the quite different function of transforming our own present into the determinate past of something yet to come. It is this present moment - unavailable to us for contemplation in its own right because the sheer quantitative immensity of objects and individual lives it comprises is untotalizable and hence unimagable, and also because it is occluded by the density of our private fantasies as well as of the proliferating stereotypes of a media culture that penetrates every remote zone of our existence - that upon our return from imaginary constructs of science fiction is offered to us in the form of some future world past, as if posthumous and as though collectively remembered. F. Jameson 1988. S. 245246.

98

Vgl. die These von C. Rincón. 1991b. S. 364.

146

Loyola Brandäos Schreiben liegt in der Funktion der Gattung. Mit seinem Text entsteht aus der Parodierung der tradierten Gattungsmuster ein eigenständiges literarisches Genre mit akzentuiert anderer Funktion: Eine Collage des ScienceFiction. Es handelt sich nicht um die Collage eines Werks oder verschiedener Werke einer bestimmten Epoche. Loyola Brandäo collagiert Grundstrukturen, Figuren, Ereignisse der Gattung, so daß daraus ein eigenes Genre entsteht. Darüber hinaus - und darin besteht der wesentliche Unterschied zu S-F im Westen zeugt die Auffassung von Science-Fiction als Vision der Gegenwart von Stärkung des historischen Bewußtseins, dessen Verschwinden - wie Jameson konstatiert - sich in US-amerikanischen Science-Fiction abzeichnet. Es bleibt noch, das Moment der Melancholie und Nostalgie, das Fredde Jameson erwähnt, aufzugreifen. Jean-Luc Godards Film Alphaville als S-F Nostalgie-Film ist vor den eigentlichen Nostalgie-Filmen der 60er Jahre entstanden. Alphaville als Präfiguration einer Welt der Zukunft und des Todes, der Katastrophe zu begreifen, trifft nach der Lektüre der französischen Filmwissenschaftlerin Marie-Claire Ropars-Wuilleumier nicht zu. Sie "liest" Godards Alphaville als nostalgischen Film. Hinter den erschreckenden Bildern, die von einer automatisierten Welt, der Zerstörung der Sprache, Mechanisierung der Bewegungen, Allmacht der Computer zeugen, zeichne sich das eigentliche Sujet des Films ab: Alphaville sei eine neue Version orphischer Suche." Die gespenstige Atmosphäre des Films wird durch Lichteffekte und Ton evoziert. Das Großstadtviertel Nanterre, bei Nacht gefilmt, bewirkt diese Verfremdung. Tropische Welt im Science-Fiction Klima Das dritte Paradox des Textes liegt darin, daß er von einem nostalgischen Impuls getragen wird, der verfremdet wird und mittels der Darstellungsmechanismen von Ironie und Satire Distanz schafft. In Loyola Brandäos Text greifen Parodie, Satire und Ironie ineinander. Um die spezifische (andere) Funktion des parodistischen Umgangs - auf die Besonderheit des Textes als Parodie der Gattung S-F haben wir bereits hingewiesen - herauszuarbeiten, wenden wir uns gängigen Parodiekonzepten, Darstellungsformen von Satire und Ironie zu.

C'est en nouvel Orphée, que Lemmy Caution enlèvera Satacha à la nuit. Marie-Claire Ropars-Wuilleumier 1970. L'écran de la mémoire. Paris. S. 101.

147

Parodie und Satire Loyola Brandäo parodiert tradierte Formen des S-F in ihrer Ästhetik, in formalen Konventionen und in ihrer Festlegung auf Zukunftsvisionen aus dem (kapitalistisch hochentwickelten) Zentrum. Kein Land wie dieses läßt sich auch als eine Gesellschaftssatire lesen: Er setzt Parodie als entwaffnendes literarisches Vehikel ein für satirische Darstellung des "modernisierten" sozio-kulturellen Lebens, der (Katastrophen-) Situation, der gesellschaftlichen Institutionen, insbesondere der Intellektuellen. Diese Art von Parodie - symptomatisch ist die Praxis des Inter-art-traffic weicht von klassischen Parodiekonzepten ab, geht über die restriktiven Definitionen als komische Gattung, deren Ziel Verspottung, Entlarvung und Kritik der parodierten Vorlage ist, hinaus. Um den abweichenden Gebrauch von Parodie zu bestimmen, gehe ich kurz auf die Geschichte des Begriffs ein: Parodie diente in der Romantik als Akt der Kritik an überholten Vorstellungen, es galt, literarische Konventionen zu untergraben, durch Offenlegen von Kunstgriffen künstlerische Illusionen zu destruieren mit dem Ziel, neue Bedeutungsebenen zu schaffen. Friedrich Schlegel betont in einer Definition von Parodie ihre dynamische Dimension: Parodie ist eigentlich die Potenzierung selbst.100 Die Romantiker suchten - wie später Thomas Mann - , durch Parodie und Ironie Distanz zu schaffen zwischen dem "Idealen" und dem "Realen", die als kritisches Potential dienten. 101 Die pragmatische Funktion - Zerstörung der Illusion und Transformation - des Schaffens einer neuen Bedeutungsebene ist in der Auffassung der Romantiker und russischen Formalisten ein gemeinsames Kennzeichen der Parodie. Parodistische Texte dienten ihnen als Modell und Beweis für ihre Theorie.102 Zudem kreierten - so Sklovskij und Tynjanov - parodistische Texte vor dem Hintergrundtext neue autonome Formen der Darstellung. 103 Das Parodiekonzept der russischen Formalisten impliziert bewertende Haltung: parodistische Texte dienen in ihrer Rolle der Enthüllung und Freilegung

100

F. Schlegel. Kritische Ausgabe. Band XVIII. E. Behler (Hrsg.) 1963. Paderborn. S. 112. 101 vg] p Szondis Essay «Friedrich Schlegel und die romantische Ironie». In: ders.. 1976. San und Gegensaiz.Frankfurt. S. 17. 102

103

148

Jurij Tynjanov 1967. In: A. Kämpfe (Hrsg.). Die liierarischen Kunstmitlel und die Evolution in der Literatur. Frankfurt. S. 78-133. V. Sklovskij 1966. «Die Parodie auf den Roman»: Tristram Shandy. In: G. Drahle (Hrsg.). Theorie der Prosa. Frankfurt. S. 160.

literarischer Kunstmittel und Verspottung erstarrter Konventionen zur Entwicklung "höherer" literarischer Formen. 104 Entgegen dem hierarchisierenden, restriktiv auf Effekte der Komik ausgerichteten Parodiekonzept der russischen Formalisten, das sich bei der Annäherung an neuere parodistische Texte als nicht mehr zutreffend erweist, liefert Michail Bachtins Parodieauffassung wichtige Anhaltspunkte. Die äußerst fruchtbare Rezeption Michael Bachtins in Brasilien und Lateinamerika ist zudem ein Grund, auf seine Überlegungen einzugehen. 105 Er definiert Parodie - ein Phänomen metalinguistischer Art - als Form textueller Dialogisierung. 106 Parodie kommt insbesondere in seinen Studien zur Romantheorie eine Schlüsselrolle zu, in ihrer Funktion als "Genre-Kritik" ist sie konstitutiv für die Entwicklung des Romans. 107 Bachtins Parodieauffassung steht in enger Verbindung mit seinem Konzept von Karneval: Im Nebeneinander und Kreuzen der Diskurse, in der "Zweistimmigkeit" und "dialogischen" Ausrichtung, im Moment der Umkehrung von Gegensätzen, des Lachens und der Ironie als konstitutiver Elemente. Bachtins Begriff karnevalesker Parodie veranlaßt u.a. die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Linda Hutcheon, die Funktion moderner parodistischer Texte als "autorisierte Transgression von Normen" 108 zu bestimmen. Linda Hutcheon unternimmt den Versuch, eine Theorie der Parodie zu entwerfen, die heutigen Besonderheiten von Parodie in Anspruch und Modalitäten - Selbstreflexion, Performance, Emphasis auf Intertextualität - gerecht wird und zudem Parodien aus allen künstlerischen Bereichen einschließt. In Abgrenzung zu klassischen Parodiekonzepten - als komische Gattung und Erweiterung des Begriffs - definiert Linda Hutcheon Parodie als ironische "Trans-Kontextualisierung" und Umkehrung, als Akt der Imitation unter Betonung der Differenz. Die kritische Distanz zwischen parodierter Vorlage und neuem Text wird durch Ironie 104

Tynjanov betont in seinem Aufsatz «Dostojevskij und Gogol (Zur Theorie der Parodie)» die Substituierung und Refunktionalisierung formaler Elemente, Kunstgriffe, die mechanisiert und zu neuem Material organisiert werden. Parodie garantiert trotz Verletzung der Form durch Umdeutung und andere Akzentuierung Dostojevskij tradiert Stilelemente Gogols und er "korrigiert" seinen Stil, indem er Kunstmittel destruiert literatur-geschichtliche Kontinuität. Vgl. J. Tynjanov, «Dostojevskij und Gogol». In: A. Kämpfe (Hrsg.). Die liierarischen Kunstmiuel und die Evolution in der Literatur. Frankfurt. S. 78

105

Deutlich wurde dies bei dem Symposium Celebración y lecturas, 1991, in Berlin. Vgl. den Beitrag A. M. Teja. Bachtin y ¡os banquetes de Lezama (Lima, E.S.). Erscheint in: Nuevo texto crítico.

106

M.M. Bachtin 1979. «Die Ästhetik des Wortes». In: R. Grübel (Hrsg.). Frankfurt S. 241.

107

M.M. Bachtin. «Epos und Roman». In: Formen der Zeit imRoman.

108

L. Hutcheon 1985. A Theory of Parody. New York. S. 74. Vgl. auch Lotmans historische Bestimmung der 'Kultur des Karneval'. Vgl. P. Stallybrass und A. White 1986. The Politics of Poetics and Transgression. London/Ithaca.

S. 213.

149

signalisiert. Das ironische Spiel als rhetorischer Mechanismus ersetzt in seinen verschiedenen Ausrichtungen - konstruktiv, kritisch, destruktiv - den alten Parodietypus der Enthüllung und Verspottung. 109 In einem Text von 1986/87, The Politics of Postmodernism: Parody and History, führt Linda Hutcheon Bachtins Konzept in seiner historischen und politischen Dimension zur Verteidigung postmoderner Kunstwerke ins Feld , deren radikale parodistische Praxis darin liege, die Vergangenheit neu zu lesen. 110 Parodie - Hypertextualität -

Intertextualität

Mit der Beschreibung von Parodie als exzessiver Praxis der Intertextualität, als "Hypertextualität" (Gérard Genette) kommen wir dem Text Loyola Brandäos am nächsten. Loyola Brandäos Parodie der Gattung mittels der Darstellungsmechanismen von Satire und Ironie zeigt in seiner literarischen Strategie die Überwindung des klassischen Parodiekonzepts, wie es von Romantikem und russischen Formalisten formuliert wurde. Parodie wird hier als besondere Form der Intertextualität verstanden. Die von Gérard Genette in Palimpsestes (1982) entwickelte Theorie der Intertextualität ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Er führt in seinen Studien über manifeste und latente Beziehungen zwischen Texten den Begriff der Hypertextualität als vornehmliche Praxis moderner Fiktionen ein. Im Rahmen seiner formalen Analyse textueller Interrelationen, wobei er den pragmatischen Kontext außer acht läßt, definiert er Parodie als formale und strukturelle Beziehung zwischen Texten. Parodie bleibt auf spielerischen Umgang mit früheren Texten oder auf Formen der Satire begrenzt. 111 Trotz seiner Auffassung von Intertextualität als rein formaler Kategorie textueller Interaktion hebt Genette an anderer Stelle das transformative Moment der Parodie in ihrer Beziehung zu anderen Texten hervor. Er bezieht sich auf einen Typus des Genre Parodie, das satirisch ist, dessen Ziel (dennoch) eine andere Form von kodiertem Diskurs ist.112 Loyola Brandäos Fiktion ist ein solcher Fall, in dem intertextuelle Praxis zu einer semantischen Explosion führt, d.h. durch

109

Ihr Interesse gilt der neueren Praxis von Parodie (wie sie "postmodeme Architektur" aufweist): an integrated structural modeling process of revising, replaying, inverting and "transtextualizing" previous works of art. L. Hutcheon 1985. S. 11, S. 32.

110

L. Hutcheon 1986/87. «The Politics of Postmodernism»: Parody an History. (Winter). S.179-80.

111

Vgl. G. Genette 1982. Palimpsestes.

112

G. Genette 1979. Introduction ä l'architexte. Paris.

150

Paris. S. 8, S. 235-236, S. 453 und S. 34.

In: Cultural

Critique.

5

die Berührung der Texte wird ästhetische und semantische Differenz113 erzeugt; denn sein strategisch-dialogischer Umgang mit brasilianischen Texten, Klassikern der Science-Fiction Literatur und des Films geht über bloße Anspielungen, Zitieren, Imitieren hinaus. Die Besonderheit des parodistischen Einverleibens besteht in der ironisch, kritischen Distanz. Im Unterschied zum klassischen, Komik erzielenden Parodietypus und zu den in die (post)-moderne Debatte situierten Formen der Parodie als "Performance", "artistic-recycling", "transarttraffic", hat Parodie hier als besondere Form intertextuellen Verfahrens eine andere Funktion: sie dient - so unsere These - zur Stärkung von historischem Bewußtsein. Loyolas Text tritt in Dialog mit Bildern tradierter S-F, er benutzt sie für seine kritische Vision der Gegenwart. Die "Geschichte" Loyola Brandäo zeichnet visionär, die von der ökologisch-sozialen Katastrophe gekennzeichnete 60-Millionen Megalópolis Säo Paulo des Jahres 2020. Der letzte Baum des Amazonaswaldes ist gefällt, durch Klimaveränderung ist das Land zur größten Wüste der Welt geworden, die Sonneneinstrahlung droht das Leben zu vernichten. In der automatisierten, unter elektronischen Systhemen funktionierenden Stadt sind die Lebens- und Arbeitsabläufe der Stadtbewohner vorprogrammiert. Es herrscht soziale Apartheid. Die Stadt wird von den militechnos regiert, die ohne Einspruch der Bevölkerung an die Macht gekommen sind. In ihrem Ordnungsstreben haben sie haben die Stadt in Distrikte eingeteilt, die nur mit Magnetkarten zu begehen sind und von einer Sonderpolizei, den "Zivilitären" kontrolliert wird. Souza, Protagonist und Chronist der Handlung - in erster Linie seiner Wanderung durch die Megalopole Säo Paulo - ist suspendierter Geschichtsprofessor. 114 Er arbeitet bei einer staatlichen Behörde als Prüfer computererstellter Rechnungen, eine Tätigkeit, die ihm nach der Suspendierung von der Universität zugewiesen worden war. Souza führt ein geregeltes Ehe- und Arbeitsleben. Die Besonderheit seiner Person liegt darin, daß er als einer der wenigen Bewohner 113

R. Lachmann 1984. «Ebenen der Intertextualität». In: K. Stierle (Hrsg.). Das Gespräch. Poetik und Hermeneutik. Band 11. München. S. 134.

114

Loyola Brandäo beschreibt den Status seiner literarischen Figur als "Pensionär''. Er sieht Souza als Nachfahre von José der 90er Jahre und schlagt für die theatralische Inszenierung von Tero als Ballett eine Mischung der Charaktere vor. Vgl. Loyola Brandäo 1991. Bali da cidade de Säo Paulo. (Zerofi. Säo Paulo. Programmheft S. 3.

151

Säo Paulos sein Erinnerungs-, Wahrnehmungs- und Sprachvermögen nicht eingebüßt hat. Er ist noch in der Lage, Gefühle auszudrücken, die Antireaktionen seines Körpers - gegen die vergiftete Umwelt - wahrzunehmen. Seine Sympathie* und Antipathiekundgebungen und gelegentlich aufflackernde Auflehnung gegen die Autoritäten, Vertreter der Staatsmacht, laufen ins Leere. Die Bewohner Säo Paulos bleiben in ihrem Verhalten konturenlos, sie verhalten sich systemkonform, während Souza mit seinen verkümmerten menschlichen Zügen und seinem Sozialverhalten als fossiler Moralist erscheint, dessen Existenzberechtigung längst abgelaufen ist. Eines Tages verschwindet Souzas Frau, er verliert Arbeitsplatz und Wohnung. Souza wandert durch Säo Paulo zunächst auf der Suche nach seiner Frau. Er begegnet Elisa, einer jungen Bahianerin, die er vor dem Zugriff der Zivilitäre zu retten versucht. Sie werden verhaftet, gefoltert, wieder freigelassen und verlieren einander. Souza setzt seine Reise durch Säo Paulo fort, sie führt ihn auch zu einem "Naturreservat" und endet im Strom der ausgestoßenen Stadtbewohner, die vor den vernichtenden Sonnenstrahlen unter die "Markisen" flüchten, eine vom System konstruierte Einrichtung zum Schutz gegen die sengende Glut. Am Schluß kündigt sich ein (Natur)-Ereignis an, es kommt Wind auf und mit ihm die Hoffnung auf Regen. Narrativer Diskurs als Gegendiskurs Loyola Brandäo läßt Souza, den Historiker, als Träger der Narration und Filter der Ereignisse erscheinen. Er bedient sich der Perspektive des "verläßlichen" Ich-Erzählers - analog zur klassischen und zur negativen Utopie 115 - , um die einäugige Totaleinsicht dann zu parodieren. In den inneren Monologen der Figur ist die auktoriale Instanz immer präsent. Die Erzählung der Geschichte beginnt mit einer katastrophischen Situation (-sbeschreibung) Säo Paulos, die nur noch von einem katastrophischen Schluß - dem Exodus der Bewohner - überboten wird. Es ist die Stimme eines Ich, die die ökologischsoziale Katastrophe Säo Paulos und ihre Konsequenzen beschreibt und kommentiert und in Monologen über seine Situation und die der Bewohner reflektiert. Loyola Brandäo übernimmt weitgehend den ökologischen Diskurs und setzt ihn als fiktionalisierten Gegendiskurs um. Dies manifestiert sich nicht nur auf thematischer Ebene, indem präzise Probleme, wie das ökologische Prinzip des Recycling, Wasserknappheit, Umweltzerstörung behandelt werden, sondern auch auf der Ebene der 115

152

H. U. Seeber/W. Bachem 1985. «Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion in der Anglistik». In: W. Vosskamp (Hrsg.). Utopieforschung. Frankfurt. S. 177.

Erzählung. Loyola läßt Souza einen aufklärerischen Diskurs führen mit betont pragmatischer Funktion. Souza fungiert als "Entdecker" der ökologischen Katastrophe. Diese Entdeckerrolle wird dekonstruiert, indem eine Nähe und Verwechslung zwischen äußerem Ich-Erzähler und "realem" Autor hergestellt wird. Die Monoperspektive des Erzählers wird unterbrochen durch Kapitelüberschriften, mit denen der Autor Souzas Rede über die Ereignisse enthüllt, anzweifelt und hinterfragt. Die Blickverengung weitet sich in einer Gegenbewegung wieder und wird zum kollektiven Monolog, das Ich wechselt zum Wir und schließt die Bewohner Säo Paulos mit ein. Loyola - der "reale" Autor - läßt Souza die Monolinearität des Ich-Diskurses unterbrechen durch Fragen, die zum großen Teil unbeantwortet bleiben. Unklarheit besteht nicht nur über Fragen der außerliterarischen "Realität" und "Geschichte", sondern auch über den Verlauf der Fiktion selbst und die Figuren. Zusammen mit den modernen und "postmodernen" Erzähltechniken, die eine reflexive Lektüre erfordern, setzt Loyola Brandäo seine Politik der Repräsentation durch die Semantik des Raumes ein. In der topischen Kennzeichnung des fiktiven Raumes durch Gestank, Kadaver, Müll und Exkremente wird eine Atmosphäre evoziert, die eine Konstante darstellt und wie das Gegenbild, die sengende Sonne, apokalyptisch ist: Mefítico. O fedor vem dos cadáveres, do lixo e excrementos que se amontoam além dos Círculos Oficiáis Permitidos [...] Que náo me ougam designar tais regióes pelos apelidos populares. Mal sei o que me pode acontecer. Isolamento, acho. Tentaram tudo para eliminar esse cheiro de morte e descomposigáo que nos agonía continuamente. Será que tentaram? Nada conseguiram. Os caminhöes [...] despejam mortos, noite e dia. Sabemos, porque tais coisas se sabem. (S. 11) [...] O sol é urna presenga avassaladora, sufoca as pessoas (S. 20). Die mono-narrative Perspektive wird durch zahlreiche Dialoge Souzas - mit seiner Frau, Arbeitskollegen, Vorgesetzten - variiert und erweitert. Die Dialoge sind Anlaß zu Metakommentaren, anhand der Wahl der Gattung wird die Frage der Politik des Erzählens reflektiert: E aqui, o que há? Um país subdesenvolvido vivendo em clima de ficgäo científica (S. 100). Ist wissenschaftliche Fiktion eine adäquate Form der Selbstbeschreibung? Am Ende der Erzählung der Geschichte überwiegt die dialogische Rede: In die selbstreflexiven (kollektiven) Monologe der Erzählerfigur werden Stimmen eingearbeitet, es sind Zurufe, Fragen, Kommentare der ausgestoßenen Stadtbewohner, die über die Situation und eine 153

mögliche Perspektive verhandeln. Mit der Dominanz an Dialogen greift Loyola auf die Methoden klassischer Utopien zurück. In diese Textpassagen wird auch der Leser durch direktes Ansprechen eingebunden, damit wird eine utopische Erwartung artikuliert. Die Imagination als Erinnerungsvermögen und Zukunftsentwurf wird zum Antrieb der Erzählung. 116 Im erzählerischen Diskurs existieren die Massenmedien als narrative Instanz: als fragmentarische Stimmen durchkreuzen sie den Erzählfluß, heben die Ordnung der Erzählstruktur - die Kontinuität der Geschichte - auf, als Träger des Herrschaftsdiskurses verkünden sie Verhaltensmaßregelungen an die Bevölkerung oder sie informieren propagandistisch über nationale Ereignisse, z.B. über die Errichtung der Markisen. Auf Satellitenbildern formen die Markisen das Wort Brasilien. Loyola Brandäo liefert damit eine groteske Antwort auf die Großprojekte der Militärs und markiert seine Fiktion als direkten politischen Gegendiskurs. Es bleiben noch die Erzählerkommentare zu erwähnen, die zum Teil als Kapitelüberschriften in den Text eingebaut sind und verschiedene Funktionen erfüllen: Sie kontrastieren die Stimme des erzählenden Ich und anderer Träger der Narration, reflektieren und relativieren die Perspektive der Ereignisse. In diesen Interventionen, in denen eine Nähe zwischen äußerem Erzähler und "realem" Autor hergestellt wird, artikuliert sich Kritik am dominanten narrativen Prinzip der Enthüllung und damit wird auch die eigene Praxis aufklärerischen Erzählens in ihren Grenzen gezeigt. Hier ein Beispiel: Ah, Souza, vocé é incrível. As vezes täo desligado do mundo real, tomado por pensamentos täo inúteis [...] Esfomeado, aperlado, a cabeqa estourando, língua ardendo, os pés em fogo, olhos lacrimejando, e aínda assim se indagando [...]. Descobriu finalmente a verdade no processo dafalaqäo. E agora? O que vaifazer com essa verdade? Cobrirse? Refrescar-se? Montar nela e dar o fora daqui? Reencontrar Adelaide? Nao acha estranha essa historia de Adelaide ter sumido e vocé permanecer indiferente? (S. 324). Satire und Parodie dystopischer

Fiktionen

Parodie kennzeichnet den Text als narrative Strategie, um Hierarchien durcheinanderzubringen. Loyola durchbricht mit erzählerischen Mitteln der Ironie und 116

154

W. Krauss betont die Bedeutung des Imaginationsvermögens, wenn er schreibt; Die Utopie kommt nur zustande, wenn die wirklichen Verhältnisse von der Phantasie überflügelt werden. W. Kiauss 1972. «Geist und Widergeist». In: W. Barmeyer (Hrsg.). Science-Fiction. München. S. 46. Vgl. C. Rincón. 1991a.

Satire die mimetisch-realistische Form der Darstellung und artikuliert Kritik, die sich gegen Institutionen, die Politik der nationalen Utopie, der am westlichen Modell orientierten Fortschrittsideologie richtet. Prägnant wird diese Kritik im Zweifel und Mißkredit gegenüber Konzeptionen und Praxis von Intellektuellen. Exemplarisch für die bissige Satire auf eine bestimmte Intellektuellen-Kaste und Parodie des konservativ-ökologischen Diskurses ist eine Szene, in der linkspolitisches Bewußtsein desavouiert wird, indem idealistische und egoistischvoyeuristische Motivation miteinander konfrontiert werden. Souza befindet sich in Begleitung seines ehemaligen Universitätskollegen Tadeu auf einem verbotenen Ausflug zu den "Reservaten" auf der Schnellstraße außerhalb der Stadt. Sie stoßen auf ein Slum, ein Lager von Migranten. Der das Kapitel einleitende Erzählerkommentar kontrastiert polemisch das Komische - zwei auf der Erde kriechende Intellektuelle auf einem abenteuerlich-subversiven Ausflug - und das Grausige - dahinsiechende Menschen - der Szenerie: ENTRE CARROS BLOQUEADOS; DOIS PROFESSORES CONVERSAM MANIACAMENTE SOBRE A SITUAQAO; POR QUE OS INTELECTUAIS TEM TANTO COMPLEXO DE CULPA - Agacha, agacha. Sempre agachado. Estava engatinhando, me atirei (conhego a tecnica), continuei a rastejar [...]. Meu nariz junto ao po. [...] Era um grito. Um grito somado a outro, e outro [...] - Säo os doentes embaixo da montanha [...] Abrigam milhares de pessoas [...]. Näo morrem (S. 114-115). Die Polemik gipfelt in dem Verweis auf das brasilianische Wirtschaftswunder: E o milagre brasileiro (S. 115). Loyola Brandäo spielt an auf den Politikerdiskurs nationaler Utopie - das Proklamieren des Modemisierungsprojekts, an dem sich viele Intellektuelle beteiligten - und auf den gescheiterten Versuch, das Elend zu modernisieren. Paradigmatisch ist hier die Dekonstruktion des utopischen Ortes in der zitierten "Reservatsepisode". Das als "verbotener Ort" gekennzeichnete Reservat entpuppt sich als Wüste der Zerstörung. Loyola Brandäo erteilt damit der nostalgischen Möglichkeit des Überlebens auf einer Insel eine radikale Absage. Satirische und parodistische Formen der Darstellung überschneiden sich. An der Figur Souzas läßt sich die Verkreuzung von Satire - auf den brasilianischen Intellektuellen und seine Vision der Welt - und Parodie auf Helden der S-F Klassiker zeigen. Souza ist Historiker wie der Protagonist von Ivan Efremovs 155

Andrómeda (1958) mit dem Unterschied, daß dieser eine Schönheit ist. Loyola Brandäo collagiert und parodiert Grundstrukturen, Figuren und Ereignisse der SF. Zwei Beispiele sollen hier genügen: Mit Souzas Wanderungen durch Säo Paulo rekurriert er auf die Streifzüge von George Orwells Helden Winston Smith durch London. Die Entdeckung von Shakespeare durch Winston Smith korrespondiert mit der von Blakes' New Atlantis durch Souza. Doch es bleibt nicht beim Rekurs. Die bedrohliche Welt des "Big Brothers" wird durch satirische Darstellung vom Drill der "Militechnos" gebrochen. 117 Im Unterschied zu George Orwells kohärenter Vision eines dystopischen Systems inklusive Staatsideologie, seiner Zeichnung einer raffinierten, durchrationalisierten Überwachungsgesellschaft ist in Kein Land wie dieses lediglich der Korruptionsapparat perfektioniert, die Mechanismen der Überwachung begrenzen sich auf die staatlichen Organe. Ähnlich verfahrt Loyola im Rekurs auf Jean-Luc Godards Alphaville. Souzas Suche nach seiner verschwundenen Frau Adelaide, die Begegnung mit Elisa und ihr Verschwinden verbinden sich mit Jean-Luc Godards Version orphischer Suche von L.C. nach N. und nach der Vergangenheit. Doch im Unterschied zu Jean-Luc Godards von Nostalgie getragenem Film - die aus der gespenstigen Atmosphäre und den erschreckenden Bildern der Großstadt an die Oberfläche kommt - wird bei Loyola Brandäo der nostalgische Impuls durch Ironie und Satire so weit verfremdet, daß er fast ganz verdrängt ist. Die Erzählung der Geschichte ist in den Momenten aufkommender Nostalgie von "aggressivem" Tonfall gekennzeichnet. Die Repräsentation Säo Paulos als Stadt der Leichen-, Müll- und Kotberge - wie die zitierte Textpassage zeigt - dient nicht lediglich dazu, "Realität" zu projizieren, vielmehr werden in der aggressiven Auseinandersetzung Abwehrmechanismen gegen diese "Realität" entwickelt. In der negativen Projektion wird Distanz zu dem textualisierten Raum - Säo Paulo - aufgebaut. Es geht bei Loyola Brandäo weniger um eine von Nostalgie getragene Suche wie bei Jean-Luc Godard, sondern um Konfrontation. Besonders prägnant wird die parodistische Absicht in der Abhandlung des Themas "Paulistanische Welt im Science-Fiction-Klima". Im Dialog zwischen Souza und Tadeu erscheint das "Dritte Welt"-Land Brasilien in der Umkehrung als eine Glosse auf die "Erste-Welt"-Länder: Tem razäo. Vivemos urna situagäo de ficqäo científica [...] No entanto, me parece uma ficqäo científica ridicula. - Como ridicula? Lembra-se Es ist bekannt, daß sich Orwells "Big Brother"-Beschreibung auf Stalin bezieht. Im Unterschied dazu nimmt Loyola Brandäo keine Personifizierungen vor.

156

quando liamos os livros de Clark, Asimov, Bradbury, Vogt, Vonnegut, Wul, Miller, Wyndham, Heinlein? Eram supercivilizagöes, tecnocracia, sistemas computadorizados, relativo - ainda monótono - bem estar. E aqui, o que há? Um país subdesenvolvido, vivendo em clima de ficqäo científica. Semprefomos um país incoerente, paradoxal. Mas näo pensei que chegássemos a tanto (S. 100). Mit dem Text wird insbesondere für den brasilianischen Leser ein erschreckendes Inventar aufgerufen: Den Ärmstenlagern entsprechen die "Favelas", die insbesondere an der Peripherie jeder größeren Stadt existieren. Die prophezeite Ghettoisierung und totale Überwachung in einer übertechnisierten Welt ist längst Realität geworden in den nach dem Gesetz sozialer Apartheid im Großraum Säo Paulo errichteten Wohn-Compounds, die von meterhohen Mauern umgeben und mit elektronischen Sensoren versehen sind, die jede Bewegung erfassen. Doch steht hinter dieser Überwachung keine kohärente Staatsideologie, die alle Sphären durchdringt - wie bei George Orwells 1984. Es geht zum einen um die bloße Sicherung der Existenz, zum anderen um die Perversionen, die paradoxen Auswirkungen des "wilden Kapitalismus". Die fiktive Generation deformierter Kinder findet ihr aktuelles Äquivalent in den Kindern von Cubatäo, einer Industriestadt unweit von Säo Paulo, die eine auffallend hohe Zahl an Totgeburten und Verstümmelungen Neugeborener aufweist. Sogar die "multinationalen Gebiete" des Nordostens sind nur ein überzeichnetes Bild der von transnationalen Konzemen betriebenen Agroindustrieprojekte im Amazonasbecken und der zur "Adoption" freigegebenen Tropenwaldreservate. Der brasilianische Literaturkritiker Geraldo Galväo Ferraz kommentiert, daß Loyola Brandäo ein Alptraumland geschaffen hat, das in mehr Punkten mit der Realität übereinstimmt als einem lieb sein kann.118 Loyola Brandäos Darstellung der Konsequenzen der Eingriffe in das Öko-System des Amazonasregenwaldes - nur noch die Superreichen besitzen echte Pflanzen, die in Galerien zu ungeheuren Preisen verkauft werden - ist symptomatisch für das Problemfeld "peripherer Modernität", für die sozio-ökonomische und politische Situation in der "entzauberten" spätmodernen Welt. Für den Paulistanischen Leser von Kein Land wie dieses gehört die totale Auslöschung jeglicher Spur der Stadt, die er kennt, im Jahr 2020 wohl zu den beklemmendsten Effekten des Textes. Loyola Brandäo selbst bezeichnet den Text als Pseudo-Science-Fiktion, in dem er das Brasilien der rasanten Umbruchphasen (1960-1980) vorführt, die 118

Inquietante país do futuro. In: Isto é. 2.12.1981. S. 9.

157

Folgen von der mit dem "Estado militar" forcierten Modernisierungen, die Einbindung in das transnationale Wirtschaftssystem und das sich abzeichnende Scheitern des Modernisierungsprojekts in die ökologisch-soziale Katastrophe projiziert. Doch es wird kein (negativer) utopischer Entwurf präsentiert, Loyola Brandäo liefert keine kohärente Vision der Welt - denn selbst die Beschreibung der physischen Figuren bleibt ungenau, beschränkt sich auf Umrisse. Die von Loyola Brandäo gezeichnete Welt läßt sich weder als dynamisches System beschreiben, noch als "geschichtsloses Standfoto" - wie es für die Gattung Science Fiction typisch ist. 119 Loyola blockiert zum einen eine dynamische Entwicklung, indem er die hypothetische Situation konstruiert, in der Wissenschaft und Gesellschaft sich nicht weiterentwickeln, und er bringt zum anderen die Logik und Rationalität, auf die die Glaubwürdigkeit des Science Fiction setzt, durcheinander. Die Leser werden ins 21. Jahrhundert versetzt, es werden aber Aussagen über die Geschichtlichkeit des Augenblicks gemacht, indem die Fiktion die Gegenwart historisiert, wie der Untertitel anzeigt: "Aufzeichnungen aus der Zukunft", d.h. die Gegenwart erscheint als Vergangenheit der Zukunft. In einem neueren Beitrag, Rethinking Utopia: from Metropolis to "Batman",120 wird die Stadt als Szenarium und Darstellung des menschlichen Dramas analysiert: Die Metropole wird weiterhin als das Feindliche betrachtet, doch als moderne Form der Utopie Stadt ist das menschliche Schicksal unlösbar mit ihrem verbunden. Die Geschichte wird immer noch von Individuen gemacht: "Batman" als der neue Held der High-tech-Gesellschaft hält die Ordnung in Gotham-City aufrecht. Dagegen steht Loyola Brandäos Parodie dystopischer Entwürfe, die über eine Kritik an Utopie und Gegen-Utopie 121 hinausgeht. Loyola Brandäo setzt mit der Parodie des S-F - den wir als Gattung westlicher Tradition beschrieben haben - ein literarisches Mittel ein, um Kritik zu artikulieren an Teilen der westlichen Welt, die eine Maschinerie des Fortschritts repräsentiert. Er entwickelt Erzählstrategien, mit denen er die Grundprinzipien der Science-Fiction auf den Kopf stellt: Z.B. werden die Topoi von S-F wie technologische Erneuerungen der Zukunftgesellschaft, High-tech-Entwicklun119

G. Müller 1989. Gegenwelten, die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart. S. 9.

120

P. Lee Palmalee 1991. In: Rethinking Marxism. Bd. 4. Nr. 2. Apud F. Morais 1992. «Von Mariana nach Gotham City». In: Brasilien. Entdeckung und Selbstentdeckung. Zürich. Katalog zur Ausstellung. S. 523. H.U. Seeber definiert den Begriff, der zur Beschreibung von George Orwells Nineteen-Eighty-Four (1949), Aldous Huxleys Brave new world (1932) bzw. Jewgenij Samjatins Wir (1920) diente, als in die Zukunft projizierte Schreckbilder, die in satirisch-provokativer Weise den Leser auf die möglichen Konsequenzen zeitgenössischer Denkweisen und sozio-politischer Tendenzen aufmerksam machen wollen. H.U. Seeber 1983. «Bemerkungen zum Begriff "Gegenutopic"». In: Berghahn (Hrsg.). Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart. Königstcin/Ts„ S. 163.

158

gen zerstört oder sie funktionieren nicht. Die Autos existieren nur noch als Wracks (S. 121), Fahrstühle bleiben stehen, ein Atommeiler versinkt im Sand. Dies gilt allerdings nicht für den Bereich der militechnos, deren Technik weiterhin funktioniert. Loyola Brandäo sucht nicht die Lösung in Form der AntiUtopie als Gegenentwurf. Der parodistische Weg als Ausdruck und Betonung kritischer Distanz steht Frederic Jamesons Auffassung entgegen, der "Parodie in der Postmoderne" als Verflachung - Kunst als Simulacrum - betrachtet. Fredric Jameson zufolge mangelt es neuen spätmodemen, parodistischen Formen an Kritikfähigkeit. Er zieht den Vergleich zur politischen Funktion der Parodie in der Moderne und argumentiert, daß Parodie in der gegenwärtigen "postmodernen Kultur" neutral und sinnentleert sei. 122 Jamesons Vorwurf des naiven, sentimentalen Umgangs mit der Vergangenheit auf Kosten kritischer Distanz und das Aufkommen eines ästhetischen Populismus, der die Trennung zwischen hoher Kultur und Massen- und kommerzieller Kultur aufhebt - ästhetischen Kannibalismus123 neuer parodistischer Formen - verweist auf seine am Konzept der Moderne orientierten Parodieauffassung. Er übersieht in diesen künstlerischen Produkten die politische, kritische Dimension, die in der Parodie als künstlerische Strategie angelegt ist. Die literarische Praxis, die gekennzeichnet ist durch Intertextualität, Intermedialisierung, insbesondere vom Dialog mit Bildern aus der Medienwelt, die Aufhebung zwischen U- und E-Literatur, zeugt von einer Intemationalisierung der Schreibweise, nicht aber zwangsläufig vom Ausklammern der sozialen und historischen Dimension. In der von Emotionen getragenen Auseinandersetzung mit der sozialkulturellen Situation der Gegenwart, Vergangenheit und der Perspektive manifestiert sich ein historisches Bewußtsein, dessen Schwinden Fredric Jameson für die "Erste Welt" konstatiert. In Loyola Brandäos Text werden urbane Bewußtseinsinhalte und Erfahrungen manifest, deren Horizont die "condition postmoderne" bildet. Es handelt sich nicht um einen "unmodernen Text" - weder auf der Ebene der Darstellung noch auf der der Artikulation von Problemfeldern - wie Fredric Jameson in seinem Theorem, Texte aus der

' 2 2 Parodie als triviale und kitschige Variante wird durch Pastiche ersetzt. Durch das Fehlen der Referenz auf die Vergangenheit oder eine nostalgische Haltung verbleiben die künstlerischen Manifestationen ohne Tiefe: In this situation, parody finds itself without a vocation: and this strange new thing comes to take its place. Pastiche is, like parody, the imitation of a peculiar mask, speech in a dead language: [...] amputated of the satiric impulse, devoid of laughter [...] Pastiche is thus blank parody, a statue with blind eyeballs. F. Jameson 1984. «The Cultural Logic of Late Capitalism». In: New Left Review. Nr. 146/1984. 123

F.Jameson 1984.S.87.

159

"Dritten Welt" als "nationale Allegorie" zu lesen, vorgeschlagen hat. 124 Kein Land wie dieses als Allegorie nationaler Geschichte aufzufassen, mit der die Problematik von Kolonialismus und Imperialismus fixiert und fortgeschrieben wird, reduziert den Text. Loyola Brandäos dystopische Fiktion zeugt von der von Heterogenität und Paradoxie geprägten sozio-kulturellen Situation Brasiliens, die in Säo Paulo als Megalopole peripherischer Modernität par excellence prägnant wird. Loyola Brandäos Parodie der Gattung S-F artikuliert mit seiner Politik der Repräsentation, der brisanten Thematik vom "ökologischen Endspiel", eine radikale Kritik am nationalstaatlichen Konzept der Modernisierung Brasiliens (die sich als Sackgasse erwiesen hat), an der westlichen Welt und ihrer Fortschrittsideologie aus der Perspektive der Peripherie. Loyola Brandäo gibt mit Kein Land wie dieses eine regional verankerte Antwort auf die übergreifende ökologische Problematik. Das Exzeptionelle an seinem "offenen ökologischen Gegendiskurs" ist, daß nicht in den Dichotomien Mensch-Natur gedacht wird wie im westlichen Fortschrittsdenken 125 - , daß selbst über alternative Haltungen, wie im Diktum Gramscis "Pessimismus der Intelligenz", aber "Optimismus des Willens" formuliert, hinausgegangen wird. Loyola Brandäo liefert mit den konkret-fiktiven Beschreibungen eine Analyse und Vorstellung von dem, was mit dem Körper, den Sinnen, den Wünschen in der Folge der zunehmenden Durchsetzung der Modernisierungsprozesse - der Verkehrung der Natur - passiert.

124

F. Jameson 1986. «Third-World Literature in the Era of Multinational Capitalism». In: Social Text. Nr. 15. S. 65. F. Jamesons Beobachtung der unmittelbaren Nähe zwischen Privatem und öffentlichem. Innen und Außen in Texten der "Dritten-Welt" ist bemerkenswert.

125

J. Beuys 1979. «Conclamafäo para uma alternativa global». In: Pensamento Ecolögico. Nr. 8. S. 4-11; F. Gabeira 1985. Vida Alternativa. Uma Revolugäo do Dia-a-Dia. Porto Alegre. S. 23.

160

Silviano Santiago

Mimikry, Erinnerung und Gegenwart Silviano Santiagos Pastiche-Roman: Em Liberdade

Egos em duplicata ou em tránsito, ou reduzidos ao anonimato [...] É, estratégia tao poderosa quanto a do anonimato ou a do ensaio, é a de urna prosa que toma por interlocutora a linguagem do espectáculo da mídia1 - so beschreibt Flora Süssekind die "postmodernen" Fiktionen der 80er Jahre, allerdings ohne den Begriff selbst zu verwenden. Silviano Santiagos Roman Em Liberdade gilt neben Valéncio Xaviers O mez da grippe (beide 1981 erstmals veröffentlicht) als erster "postmodemer" Roman in Brasilien. Doch es geht hier nicht um die Klassifizierung "postmodern" oder nicht, sondern um eine mögliche Verortung der brasilianischen Literatur in der Situation des Übergangs. Ihr Beitrag zur Veränderung des literarischen (postmodernen) Diskurses und Kanons steht zur Debatte und damit eine dialogische Intervention in Prozesse, die als "Remapping of Culture" 2 bezeichnet werden. Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Problemstellung wird die Diskussion von Fredric Jamesons Versuch sein, Symptome der Postmoderne als kulturelle Dominante zu bestimmen. In einem zweiten Schritt werden seine Thesen anhand historiographischer Metafiktionen überprüft. Bezugnehmend auf die Kategorie des Pastiche als besondere Form der Intertextualität - mit dem Ziel Differenz zu produzieren, - soll der Frage nach der Geschichtlichkeit der Fiktion nachgegangen werden, bevor wir dann zur Textarbeit kommen. Unsere Thesen bzw. orientierenden Fragen für die Lektüre sind folgende: Em Liberdade ist der Versuch, eine Diagnose der Gegenwart zu liefern, und genau in dieser Funktion setzt Silviano Santiago postmodeme Erzählstrategien '

F. Süssekind 1987. Cinematografió de Letras. Literatura, técnica e modernizagäo no Brasil. Säo Paulo. S. 87-88.

2

Vgl. J. Franco 1992b.

161

ein. Wir verstehen den Pastiche-Text als ein "Neu-Schreiben" und "WiederWeiter-Erzählen" des brasilianischen Klassikers Memörias do Cärcere (1953) des kanonisierten Autors Graciliano Ramos. Silviano Santiago dekonstruiert diesen Kanontext des "Realismus" und damit die Konventionen des Erzählens und Denkens, die von den Klassikern der Moderne respektiert und geschätzt wurden, sowie das Konzept mimetischen Schreibens der literatura da documentagäo. Luiz Costa Limas Bemerkung über Silviano Santiagos Fiktion unterstreicht dies, wenn er schreibt: Santiago gelingt es, mit Em Liberdade furar o bloqueio documentalista.3 In "Borgeanischer Manier"4 schreibt Silviano Santiago, Intertextualität auf die Spitze treibend, die Fortsetzung des Tagebuchs Memörias do Cärcere. Was veranlaßt Santiago, den Klassiker zu pastichieren? Und was sind die sozialpolitischen Bedingungen, die einen solchen Text ermöglichen? Symptome der "Postmoderne" als kulturelle Dominante Fredric Jameson kommt das Verdienst zu, auf den weltweit stattfindenden Prozeß der systematischen Vereinheitlichung nach westlichen Kulturmustern aufmerksam zu machen. Er begegnet der Herausforderung, die die PostmoderneDebatte insbesondere an die marxistische Theorie stellt, mit der Publikation zweier Essays, was ihm von Seiten einiger Kritiker schon das Etikett "Postmodernist" oder "Post-Marxist" eintrug. 5 Für unsere Fragestellung ist der viel zitierte Essay «The Cultural Logic of Late Capitalism» (1984) von Interesse, der Versuch Jamesons, Postmoderne zu periodisieren. Seine Auffassung, Postmoderne nicht als Stilrichtung, sondern als kulturelle Dominante zu sehen, veranlaßt ihn, eine Reihe (von insgesamt dreizehn) Charakteristika der Postmoderne zu benennen. Ein Symptom par excellence sieht er in der Krise der Historizität; ihr Verlust gilt Jameson als Hauptzeichen der Postmodeme. In Übereinstimmung mit anderen Kritikern, Postmodeme als eine weitere Stufe der Moderne selbst zu begreifen - nicht Bruch, sondern als Stil- und Modewechsel, gemäß dem Innovationsgebot der Moderne - , bestimmt er das Auslöschen der Geschichte durch den Historizismus als Inszenierung oder Simulierung aller Stilrichtungen der Vergangenheit, als ein Phänomen der Postmoderne. 6 Nach 3

L. Costa Lima 1986. S. 189.

4

B. Nunes 1982. «Silviano Santiago. Em Liberdade». In: Colöquio Letras. Nr. 69. S. 99.

5

Vgl. F. Jameson 1989. «Marxism and Postmodemism». In: New Left Review. Nr. 176. S.3 1-32.

6

Dieser Historizismus manifestiere sich in einer Welle der Nostalgie, insbesondere in der Herausbildung eines neuen Typus des kommerziellen Films, die den Gesetzen des Spätkapitalismus folgend, eine

162

Jamesons Auffassung ist Simulation nicht der Beweis für das Theorem der Posthistoire, sondern einfach nur Zeichen des Paradigmenwechsels. Er geht nicht von einer völlig neuen Situation, einem Bruch aus, sondern nach Fredric Jameson sieht die westliche Gesellschaft im Dritten Stadium des Kapitalismus, wie es Ernest Mandel in seinem Buch Laie Capitalism dargelegt hat. Unter den veränderten historisch-soziokulturellen Bedingungen seien neue Konzepte, ein "neuer theoretischer Diskurs", eine Neudefinition von Geschichte erforderlich. Provokativ nennt Jameson sein Herangehen an die Problematik der Postmoderne - die Krise der (historischen) Repräsentation - totalizing one.1 In Orientierung am Geschichtsbegriff, der von George Lukâcs für den historischen Roman ausgearbeitet wurde, der Denkrichtung hegelianischer Färbung, die das Différente synthetisiert und nicht ausschließt, sondern einbegreift, plädiert Jameson für ein Reorganisieren traditioneller Verfahren auf einer anderen Stufe. 8 Dagegen ist einzuwenden, daß "Bruch" und nicht "Übergang" zur Grundkategorie des Geschichtlichen wurde: Das Moment eines enttotalisierten, fragmentierten, pluralisierten Denkens durchzieht den Prozeß, den Jean-François Lyotard in La Condition postmoderne als den Abschied von der Moderne und das Übergehen zur Postmodeme beschreibt. Historiographische

Metafiktionen

Eine Lektüre von E.L. Doctorows Ragtime (1975) könnte den Text als traditionellen historischen Roman ausweisen: Historische Figuren agieren vor dem Horizont der ersten zwei Jahrzehnte amerikanischer Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Ära der Streiks und technischer Modernisierung. Wir finden in Anlehnung an Kleists Michael Kohlhaas Motiv eine verschachtelte Erzählstruktur vor. Doch das Lesen der ersten Seiten offenbart, daß Doctorow der imaginären Wahrheit größere Bedeutung schenkt als den historischen Fakten und genauen Details: die Darstellung der legendären Begegnung zwischen Sigmund Freud und C.G. Jung in den USA ist hier symptomatisch. Der Kritiker Paul Levine lenkt bei seiner Doctorow-Lektüre die Aufmerksamkeit auf die drei Momente, die für historiographische Metafiktion charakteristisch sein können: der "Kolonisierung der Gegenwartsgeschichte" bewirkte, bei der jegliche Authentizität verlorengehe, in which the history of aesthetic styles displaces 'real' hisiory. F. Jameson 1984. «The Cultural Logic of Late Capitalism». In: New Left Review. Nr. 1976. S. 65-67. 7

F. Jameson 1989. S. 40, 30.

8

Vgl. Jameson' Plädoyer für eine modernistische ästhetische Praxis. F. Jameson 1988. «Periodizing the 60's». In: The ldeology ofTheory, Essays 1971-1986. London. S. 180.

163

Fokus, der auf der Geschichte liegt, das Ende einer Geschichts-Ära und die Meditation über den amerikanischen Traum. 9 E. L. Doctorows Auffassung, Geschichte als eine Art Fiktion zu begreifen, verweise George Lukács' einflußreiches Modell des historischen Romans 10 in seine Grenzen, bemerkt Linda Hutcheon. 11 E.L. Doctorow selbst unterstreicht das metafiktionale Moment dieser Texte: history is a kind of fiction in which we live and hope to survive, and fiction is a kind of speculative history [...] by which the available data for the composition is seen to be greater and more various in its sources than the historian supposes.12 Diese Erklärung spricht entschieden gegen Fredric Jamesons Situierung, der Doctorow als eher traditionell-historischen Romanschreiber sieht. Obwohl sein "episches Werk" Ragtime noch Momente gesellschaftlicher, historischer Realität vermittele, lasse sich eine "poststrukturalistische" Erzähltechnik feststellen, und das entscheidende Zeichen der Postmoderne, der Verlust der radikalen Deutung von Vergangenheit, die zur Pop-history wird, sei in den Text eingeschrieben. 13 Es läßt sich feststellen, daß Fredric Jameson hier verkürzt; er bleibt in einer binären Argumentation zwischen "fiction" und "fact" verhaftet, wenn er nur die eine Bewegung der Vereinheitlichung, Stereotypisierung, Verdinglichung bemerkt. Das in den historiographischen Metafiktionen sich manifestierende multiple Echo auf die (politische) Debatte der Gegenwart: Ethnienproblematik, Situation der Massengesellschaft und -kultur, z.B. die Macht des Geldes - übersieht Fredric Jameson. 14 Die Lektüre Linda Hutcheons von Ragtime offenbart, worin die Besonderheit eines metafiktionalen Konzepts im Unterschied zum klassischen historischen Roman liegt: Der im Licht der Gegenwart stattfindende Interpretationsprozeß der Wieder- und Neugestaltung des "Materials" der Vergangenheit liefert unerwartete Möglichkeiten von Wissen über sie. 9

Vgl. P. Levine 1981/82. The «Conspiricy of History: E.L. Doctorows "The Book of Daniel"». In: Dutch Quarterly Review of Anglo-American Leiters 11,1981/2. S. 82-83.

10

George Lukács' Auffassung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Die Repräsentation historischer Prozesse konzentriert sich in Handlung, im Typus der Protagonisten, in einer Synthese aus Allgemeinem und Besonderem, in Totalität. 2. Irrelevanz von Detailtreue, genauen Beschreibungen. 3. Historische Figuren spielen eine sekundäre Rolle. Vgl. G. Lukács 1965. Werke. Der historische Roman. Bd. 6. Neuwied.

11

L. Hutcheon 1988. A Poetics of Postmodernism: History. Theory, Fiction. New York. S. 112-114.

^

E.L. Doctorow 1983. «False Documents». In: R. Trenner (Hrsg.) £X. Doctorow: Essays and Conversations. Princeton. S. 25.

13

F. Jameson 1984. S. 71.

14

David S. Gross verweist in seiner Lektilre von Doctorows The Book of Daniel (1971) in Bezug auf die Darstellung Disneylands auf die Problematisiening der Macht des Geldes und "unser Widerstreben", es zu wissen. Vgl. D. S. Gross 1980. «Tales of Obsense Power: Money and Culture, Modernism and Historical Fiction of E.L. Doctorow». In: Genre Nr. 13. S. 78-79.

164

Pastiche: Neuschreiben eines Klassikers "Aneignung", "Enteignung", "Zelebrieren", "Kannibalisierung" dienen als Beschreibungs- und Definitionskriterien des Pastiche. Der Begriff wurde in den 80er Jahren zu einer Positiv-Vokabel bei dem Versuch, die Besonderheiten Lateinamerikas - historisch, geopolitisch - zu denken und vor allem, kulturelle Praktiken in der Folge einer aufkommenden kulturwissenschaftlichen Ausrichtung zu beschreiben. 15 Als Stilbegriff weist er eine Verwandtschaft mit der Kategorie der Vermischung, 16 des Hybriden 17 auf. Doch mir geht es hier nicht um die Definitions-Geschichte des Pastiche, sondern um den fruchtbaren Gebrauch des Begriffs zur Situierung und Beschreibung des Textes. Die Stichworte Wiederholung/Imitation und Simulakrum/Original situieren die Pastiche-Diskussion in der Postmoderne-Debatte. Pastiche avanciert zu einem Schlüsselbegriff, an dem sich die Kritikergeister scheiden. Die Signifikanz des Begriffs erschließt sich über den peripheren/kolonialen Kontext: Ziehen wir die Funktion der Parodie im Modernismo heran, z.B. Mario de Andrades Macunaima, so läßt sich zu heutigen Positionen eine Verschiebung feststellen. In den 20er Jahren zielten künstlerische Produkte darauf, Originalität und Eigenart der brasilianischen Kultur zu beweisen. Nachahmung, Kopie und Wiederholung galten in der Phase nationaler Identitätssuche, der Authentizitätsbekundungen und Autonomiebestrebungen als Schimpfwort. 18 In der Debatte der letzten 20 Jahre, in der die Konzepte Identität, Authentizität, Einzigartigkeit sich als strategische Konstrukte des Postkolonialismus bzw. als Sackgasse der Selbsterfindung erwiesen haben, erfuhr die hohe Kunst der Imitation eine Aufwertung. Aufgrund des inflationären und ungenauen Gebrauchs erscheint eine Präzisierung des Begriffs in Abgrenzung zu anderen Formen textueller Imitation, vor allem zur Parodie, notwendig.

15

Vgl. die Ausführungen von C. Rincón 1994a.

16

Marcel Prousls berühmte Arbeit Pastiché et Melanges ist in diesem Zusammenhang anzuführen. Vgl. M. Proust 1971. Paris. Deutsche Übersetzung 1989, Nachgeahmtes und Vermischtes. In: Ders. Werke I - Band 2. Frankfurt

17

Vgl. N. Garcia Canclinis viel zitierte Arbeit von 1989. Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad. México D.F. Vgl. H. Bhabha 1984. «Of Mimikry and Man: the Ambivalence of Colonial Discourse». In: October Nr. 28.

165

Pastiche und Parodie Die Unterschiede zwischen Parodie und Pastiche basieren vor allem in der anderen Art der Beziehung zum Modell. Die Betonung des Moments der Simularität, des Korrespondierens als monotextuelle Form, das Verbleiben im selben Genre, die Nähe zum Plagiat bestimmen den ideologischen Status des Pastiche. Gerard Genette beschreibt es als nicht-satirische Imitation, als Form des Palimpsests, ohne transformierende Kräfte wie die Parodie.19 Nach der Auffassung von Fredric Jameson ist Pastiche - als negatives Pendant zur Idee vom Original - das Ergebnis der Postmoderne, in der Parodie durch Pastiche - "the Strange new thing" - ersetzt wird. 20 Die "postmoderne Parodie" ist für Jameson trivialer Kitsch, denn sie ist grundsätzlich ohne Tiefe.21 Jean Franco mischt sich ein in die Diskussion über Pastiche und Parodie mit einem Beitrag über Pastiche-Romane in der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur. Entgegen der Auffassung Jamesons bestehen für sie beide Formen der Imitation weiter nebeneinander. Sie bestimmt ihre Funktion als declarations of cultural affinities by introducing new sets of canonical texts. Gegen Jean Francos Definition des Begriffs Pastiche als Markierung zur Deplazierung von Hierarchien läßt sich einwenden, daß diese auch für Parodie gilt. 22 Wir begreifen Pastiche - die "hohe" Kunst der Imitation - als Verfahren, dem in der "postmodemen" Fiktion eine Schlüsselstellung zukommt: als Neuschreiben, Neu-Wieder-Erzählen von Bekanntem. 23 Im Re-Kontextualisieren, im Überarbeiten von konventionellen Relationen geht das Pastiche über die bloße Kopie, die ausdruckslose Parodie, die Jameson im Bild der Statue mit leeren Augenhöhlen fixiert, hinaus. Die Besonderheit des Pastiche als 'simulacrum', als identical copy for which no original has ever existed,24 liegt in der unauflösbaren Differenz seiner Paradoxic, die sich aus der besonderen Beziehung zwiG. Genette 1982. Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris. 20

Er beschreibt die Praxis des Pastiche als the random cannibalization random stylistic allusion. F. Jameson 1984. S. 65-66.

21

Linda Hutcheon setzt sich in ihrem Essay «The Politics of Postmodernism: Parody and History» mit Jamesons Essay «Postmodernism» auseinander und erhebt den Vorwurf, daß seine Position nur auf einer sehr abstrakten Ebene theoretischer Analyse - künstlerische Arbeiten ignorierend - basiert. L. Hutcheon 1986/87. «The Politics of Postmodernism: Parody and History». In: Cultural Critique 5. S. 206.

22

J. Franco 1990. «Pastiche in Contemporary Latin American Literature». In: Studies in 20th Century Literature. Vol. 14. Nr. 1. S. 95, S. 97. Sie stützt sich in erster Linie auf Bachtins Theorie des double voicing und the other speech. S. 96.

23

Nach G. Deleuze ist Wiederholung "naturgemäß" durch die Momente von "Grenzüberschreitung", "Einwand", "Eigenartigkeit" gekennzeichnet. Vgl. G. Deleuze/F. Guattari 1980. Mille Plateaux. Paris.

24

F. Jameson 1984. S. 65. S. 66.

166

of ail the styles of the past, the play of

sehen Vergangenheit und Gegenwart herleiten läßt. Auf diesen entscheidenden Aspekt, die Gegenwärtigkeit von Geschichte, weist Silviano Santiago in seinen Überlegungen zum Pastiche hin. Er stimmt zwar Fredric Jameson's Feststellung über das Verschwinden der Ästhetik der Parodie zugunsten einer Annäherung der Ästhetik des Pastiche zu, doch betont er die Unterschiede zwischen Parodie und Pastiche: Während das Pastiche die Vergangenheit als solche akzeptiere, mittrage, ginge es bei der Parodie um ein "Lächerlichmachen" des Vergangenen. Silviano Santiago bringt das Moment des Supplements - im Derrida'schen Sinne der untergrabenden Substitution - ins Spiel, kraft dessen die Kunst des Pastiche über die bloße Wiederholung hinausgeht. 25 Auf die pastichierende, parodistische, "übersetzende" Lesepraxis - den spielerischen Umgang mit "fremden" Texten - als interventorische Antwort lateinamerikanischer Autoren auf andere Texte, hatte Silviano Santiago bereits in seinem Essay «O entre-lugar do discurso latino-americano» (1976) aufmerksam gemacht und damit die gesamte lateinamerikanische Literatur als Pastiche, Parodie oder Übersetzung (Intertext) situiert. Von Interesse ist nun, wie Silviano Santiago diese Überlegungen zum Pastiche literarisch umsetzt. Geschichte und Fiktion Em Liberdade wartet mit einem modernen historischen Gemälde, das die Revolution von 1937 darstellt, aus der Serie Cenas da vida brasileira 1930/54 von Joäo Camara Filho als Buch-cover auf. Das historische Ereignis wird so ins Zentrum gerückt, doch gleichzeitig verweist die visuelle Darstellung geschichtlicher Ereignisse schon auf das Problemfeld der Fiktionalisierung von "Wirklichkeit". Em Liberdade trägt den Untertitel urna fiegäo de Silviano Santiago. In einer "Vorbemerkung" präsentiert sich der Schriftsteller in der Rolle des gewissenhaften Verlegers der Originale, die ihm von einem Unbekannten übergeben wurden, nachdem sie vor dem Verbrennen, das der Autor von seinem Freund verlangt hatte, gerettet worden waren, wie einst Franz Kafkas Manuskripte von Max Brod. Zudem verweist der Prolog auf die Multiplizierung der 25

S. Santiago 1989. «A permanència do discurso da t r a d i t o no modernismo». In: Dere. Nas malhas da Letra. Säo Paulo. S. 115. Santiagos Begriff und Verwendung von Pastiche hat zu einer Polemik gefuhrt, die Teil der Postmoderne-Debatte wurde. José Antonio Pasta Ii. "argumentiert", Santiagos "postmodemes" Verständnis von Pastiche als "Supplement" berge eine supressäo de mediaffes und in Em Liberdade erscheine eine "subjektive Projektion" als "Art von Objektivität". Der Begriff der "Freiheit" wird hier zum Kampfplatz erklärt, d.h. es geht um die Besetzung bzw. Sicherung von Terrain, bei der die Nichttrennung zwischen Subjekt und Objekt selbst als subjektiver Spielraum "verboten" ist. Vgl. J. A. Pasta Jr. 1989. « 0 jufzo da critica». In: Novos Estudos CEBRAP. Nr. 24. S. 186.

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Erzählinstanzen durch die Figur des Autors, Verlegers, Freundes. Der Untertitel und diese "mise en abyme" von Texten, Zeiten und Orten, die dem Leser auf den ersten Seiten angekündigt werden, unterstreichen die Fiktionalität des Textes, und das wiegt bei der Wahl der Zwittergattung Tagebuch/historischer Roman doppelt. 26 Denn bekanntermaßen suggerieren diese Gattungen, wie auch die Chronik oder Autobiographie, Authentizität und Einzigartigkeit. 27 In Em Liberdade wird die Idee von der Unendlichkeit des Erzählens - das Zeichen modernen Erzählens par exellence - ad absurdum geführt, die Hierarchie der Erzählebenen durcheinandergebracht. Das Besondere dieser Fiktion der Fiktion der Fiktion liegt weniger im Jonglieren mit modernen Erzähltechniken - innerer Monolog oder "mise en abyme" - als Verweis von Fiktionalität, als Motor des Textes - als vielmehr in der Auskunft über Geschichte und Geschichtlichkeit. Im folgenden Metakommentar erzähle ich die Geschichte, einschließlich der Vor-, Nach- und Nebengeschichten, von Em Liberdade. Aus der Literaturgeschichte wissen wir, daß Graciliano Ramos seine Erfahrungen als politischer Häftling der Regierung Getülio Vargas von 1936 bis 1937 erst 1946 aufschrieb. 28 Das in den Memörias do Cärcere fehlende Schlußkapitel war als Beschreibung der Rückkehr in die Freiheit projektiert. Em Liberdade, das fiktive Tagebuch, setzt 1937, drei Monate nach der Entlassung von Graciliano Ramos, ein. Es endet mit seinen Aufzeichnungen, der Transskription eines Tagebuchs von Claudio Manuel da Costa, einem Minensischen Schriftsteller, der im Zuge der Aufstände der Inconfidencia 1789 auf Befehl des Gouverneurs von Minas Gerais liquidiert wurde. Auf diesen imaginierten Dialog zwischen den (pseudo-) historischen Figuren Graciliano Ramos und Cläudio Manuel da Costa komme ich später zurück. Zunächst erzähle ich die Hauptstory der fiktiven Gegenwart mit den hier artikulierten Themen: Autoritarismus, Funktion und Macht des Intellektuellen, (Selbst-) Repräsentation von Geschichte und Erzählung. Von Interesse sind die Umformungen, die Störungen der Erzählweisen des Realismus. Der Text konstitutiert sich in der Dekonstruktion der Oppositionsbe-

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Silviano Santiago würde heute den Roman unter dem Titel "Memorial de Graciliano Ramos". Romance veröffentlichen, um diesen Effekt noch zu verstärken. Vgl. Gespräch der Verfasserin mit Silviano Santiago 1986. Typoskript.

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Vgl. M. Jurgensen 1979. Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch. Tübingen. H. R. Picard 1986. «Das Tagebuch als Gattung zwischen Intimität und Öffentlichkeit». In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 223.

28

Memérias do Cärcere entstand einige Jahre, nachdem Ramos Camus' L'étranger ins Portugiesische übersetzt hatte. Jean Franco interpretiert diese Tatsache als ein Distanzschaffen, ein Anschreiben gegen das Vorbild Camus'. Vgl. J. Franco 1990. S. 99.

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Ziehungen: Verehrung - Banalisierung, epischer Impetus - triviales Erzählen, Privatheit - Öffentlichkeit, Mystifizierung - Entmystifizierung. Die Aufzeichnungen von Januar bis März 1937 in Rio de Janeiro berichten von den tagespolitischen Ereignissen und persönlichen Begegnungen: Graciliano Ramos ist Gast im Haus von José Lins do Rego, als "nordestino" ist er ein Fremder im intellektuellen Leben der Metropole Rio de Janeiro. Den Zeit-Index der Erzählung bilden die Geschehnisse um das aufkommende repressive Klima mit Etablierung des Estado Novo. Außergewöhnlich ist, daß historische Optik neben offiziellem Geschichtswissen vermittelt wird, z.B. Getúlio Vargas' populistische Maßnahmen und die Aufmärsche der Integralisten, die Alltagsgeschichte und Volkskultur, konkret die Stadtgespräche, die einschränkenden Maßnahmen im Karneval - Verbot von Rauschmitteln und Nudismus. 29 Es handelt sich hier nicht um eine Erzählstrategie der bloßen Enthüllung oder um die Positionierung eines allgegenwärtigen historischen Romanschreibers. Silviano Santiago situiert den Text in ein Netz von Informationen. Die Konfrontation von Öffentlichkeit und Privatheit dient der Dekonstruktion der Geschichte, der Wahrheit, der Institutionen, der Hierarchie Zentrum - Peripherie, der Macht der Intellektuellen, und gleichzeitig wird damit die Dynamik der Narration produziert. Von Ambivalenz sind die Begegnungen im "privaten Raum" gezeichnet: der offenen Haltung befreundeter, erfolgreicher Schriftsteller des Regionalismus, wie José Lins do Rego und Jorge Amado, steht das emotionale Ausschlachten der Revolte von 1937 seitens der kommunistischen Partei(genossen) gegenüber. Zentralen und breiten Raum nehmen die Reflexionen über das Schreiben, konkrete Entwürfe für zukünftige Texte und die Bedingungen über die Rolle und Funktion des Intellektuellen im Staat ein. Hier wird der Intellektuelle nicht nur als Opfer präsentiert, sondern auch in der Rolle des Staatsdieners: Im ironischen Bild des auf einem Auge blinden bzw. "kurzsichtigen Beamten" funcionários públicos só podendo enxergar a verdade se fechar um olho (S. 34). Die schriftstellerische Selbstbefragung kulminiert mit der identifikatorisch-delirierenden Projektion in der Figur des minensischen Schriftstellers Cláudio Manuel da Costa. Silviano Santiagos Fiktion bewegt sich auf drei Zeitebenen mit Fokus auf 1789, 1937 und 1973. Der Bezug auf historische Ereignisse ist mit der Geschichte von drei Männern verbunden: der eine ist Graciliano Ramos, der andere 29

S. Santiago 1985. Em Liberdade. Rio de Janeiro. S. 49. Im folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert. Die Seitenzahlen sind in Klammem in den Text eingefügt.

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Claudio Manuel da Costa und der dritte Wladimir Herzog. 30 Ein Ziel des Textes ist offensichtlich, mit dieser Konstellation ein Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu erreichen, indem die Erinnerung dazu dient, die Gegenwart zu befragen. Silviano Santiago bedient sich zwar der Lebensgeschichte authentischer Figuren, doch schreibt er keinen historischen Roman wie beispielsweise Claude Simon mit Georgica (1981). Dieser verbindet die französische Revolution mit dem Revolutionsgeschehen unseres Jahrhunderts, indem er die Lebensgeschichte (authentischer) Figuren rekonstruiert und sich dabei fiktionaler Quellen, z.B. George Orwells Tagebuch Mein Katalonien, bedient. Em Liberdade geht über Erinnerungsarbeit, Arbeit am Mythos hinaus, was sich auf der Ebene des erzählerischen Diskurses, der Gattung manifestiert. Silviano Santiago aktualisiert die in den 80er Jahren geführte Debatte über die Problematik von Geschichte und Repräsentation, Geschichtsschreibung und Fiktion. Entscheidend ist dabei die bewußt eingebaute Schwelle zwischen den narrativen Instanzen der 80er und 30er Jahre: Die Bestimmung des Erzählers ist nicht die funktionale (enthüllende) des klassischen, modernen Erzählers, der den Sprung in der Beziehung zwischen Text und repräsentierter Welt mit der Technik des inneren Monologs zu lösen weiß. Um die Strategie Silviano Santiagos zu beschreiben, stelle ich die zu Anfang angekündigte Frage: Was veranlaßt Silviano Santiago zu dieser Mimikry und was bedeutet es, diese persönliche und schriftstellerische Identität anzunehmen unter den sozialpolitischen Bedingungen der "abertura"? Santiago liefert selbst eine Antwort: Eine diskursive Auseinandersetzung zu führen mit der Haltung der Modemisten der 30er Jahre, die sich größtenteils am Diskurs der Öffentlichkeit orientierten und der Repräsentation von Märtyrern und Helden verhaftet blieben, während der Diskurs des Privaten, das Alltägliche/Banale, das NichtHeroische sowie euphorische Erfahrungen ausgegrenzt blieben. 31 Gegen diese Politik der Repräsentation schreibt Silviano Santiago in Em Liberdade an. Im erzählerischen Diskurs finden wir trotz der Übernahme von Stimme und Ich Graciliano Ramos' und der perfekten Imitation seines Stils eine Gegenbewegung, die tragend wird: Santiago "supplementiert" sein Vorbild nicht nur auf der Ebene der Erzählhandlung, indem Fragen des Alltags, der Körperlichkeit, des Begehrens, der Sexualität, der Geschlechtsidentität thematisiert und problematisiert werden, sondern das diskursive Verfahren der Selektion, Organisation, das 30

Der "Fall" des - in der Ära Mèdici - "verschwundenen", zu Tode gefolterten Journalisten Wladimir Herzog wurde auf der Leinwand, in Texten und auf der Theaterbilhne inszeniert.

31

S. Santiago 1989. S. 116.

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Anekdotische der Narration, Strategien selbstreferentiellen Erzählens in ihrer Funktion zur Festigung von Hierarchie und Ordnung werden in Frage gestellt: Deixarei de existir por algum tempo [...] Um corpo em disponibilidade para si e para o outro (S. 233). Gezielt geht es in diesem Akt von Mimikry um die Erfahrung der Alterität, d.h. hier die "Andersartigkeit des Anderen" mitzutragen. Folglich wird nicht in der 3. Person und nicht im Idiolekt erzählt, 32 sondern im Stil der Person. 33 Mit der Strategie der Wiederholung/Imitation in der Supplementierung von Ramos' "schweigendem Tagebuch" wird der Subtext zum Sprechen gebracht. 34 Intertextualität, Pastiche und Diskurs der Geschichte Silviano Santiago funktionalisiert Intertextualität auf besondere Weise. Es kommt zu einer Überschneidung biografischer und kultureller Daten, verknüpft mit literaturkritischen Reflexionen: Das Delirium und die fiktionale Freiheit ein gefälschtes Tagebuch zu schreiben - dienen zum einen als Katalysator der Narration, zum anderen dazu, Geschichte als erfundene, aber als auch als hypothetische - somit als "anders" mögliche - vorstellbar zu machen. Der historische Rahmen - Confidencia, Estado Novo, Estado Militär - liefert ein doppeltes Vermächtnis: autoritäre Regime und organisierte Opposition. Mit den Gattungen Tagebuch und historische Biographie bzw. historischer Roman ist ein Doppelrahmen vorgegeben. In der Aneignung von Name, Stil und Ich Graciliano Ramos' und durch ein intertextuelles Netzwerk setzt Silviano Santiago sowohl die Autorität des Autors, des Originals, als auch den Zwang, einfache Kausalitätsbeziehungen herzustellen, außer Kraft. Er antwortet mit dieser Form von Textkonstruktion auf literarische Verarbeitungen der 70er Jahre, z.B. der dokumentarisch-realistischen Memoiren- und Exilierten-Literatur. Die chronologische Struktur der Erinnerungsbücher hält Santiago auf den ersten Blick ein - durch die fortlaufende Datierung im Tagebuchtext - , um dann die Konventionen des Schreibens der Gattung parodierend, die diskursive Ordnung durcheinanderzubringen: mit Textsplitting, Kapiteleinschüben, Erzählsprüngen, -fragmenten, Windungen, Stru-

32



Silviano Santiago betont, daß es ihm nicht um Abgrenzung, sondern um eine Neu-definition, nicht um eine Kritik am Stil Ramos geht, im Gegenteil: o estilo de Graciliano Kamos, que a meu ver, i o melhor eslilo modernista. S. Santiago 1989. S. 115.

33

S. Santiago 1989. S. 117.

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J. Franco 1990. S. 104.

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dein und Klammern wird die dokumentarische Narration zerlegt und wieder zusammengesetzt, somit das unvermeidlich Monumentale getilgt. Leere, Einsamkeit und Stille - Raumbeschreibungen, die semantische Nähe zum Grab herstellen - , kombiniert mit Schmerzen, Krankheit und Fremdheit, so sieht Ramos sein Leben. In der Selbstbeobachtung des Körpers realisiert er seine Situation als die eines Gefangenen, lebendigen Toten. Die traumatische Erfahrung der räumlichen Begrenzung und körperlichen Reprimierungen einerseits und das Bewußtsein von seiner marginalen Situation als Schriftsteller des Nordostens andererseits - A ignorancia, que tem da sociedade nordestina, é maior do que a dos seus problemas sócio-económicos (S. 86) reduzieren ihn auf eine existenzielle Haltung. Die Abgrenzung von der Außenwelt findet ihre zeitliche Entsprechung in der Eingrenzung der Perspektive auf die Vergangenheit - die Erinnerung der Festnahme, die Einschiffung in Manaus, die Reise, der Aufenthalt auf der Ilha Grande. Die topische Kennzeichnung des Hauses als Grab, des Körpers als Phantom, die assoziative Übertragung und Überblendung der Räume und Körper - Näo sinto o meu corpo. Näo quero senti-lo por enquanto (S. 27) - mit dem Effekt von Alpträumen und Phantomschmerzen 35 mobilisieren eine Gegenkraft. Ramos' vermeintliche Selbstbeschreibung entpuppt sich als Beschreibung von außen (gekennzeichnet durch die dritte Person Plural der Verbformen). Im Umschlagen der Erzählbewegung wird eine andere Ich-Stimme tragend und handlungsbestimmend, sie bildet in Komplizenschaft mit dem Leser gegen "sie", die "Zeitgenossen", eine Erzählinstanz, die gegen ein rückwärtsgewandtes, pathologisches Gegenwartsverständnis (Erinnern) - die Festschreibung auf Opfer und Märtyrerrolle - mobil macht: Querem que eu aqui - em liberdade - volle para irás, volte para detrás das grades; näo querem deixar-me construir a minha vida em liberdade (S. 63). Silviano Santiago spielt hier auf die Memorias de Cärcere an, wie durch einen Kommentar deutlich wird, den er Ramos über den Aufschub, das Buch zu schreiben, an dieser Stelle machen läßt: Pessoalmente, acreditava que o momento näo era oportuno para narrar as atrocidade de Manaus e da Ilha Grande. Comentava-se que, dentro em pouco, o Tribunal de Seguranqa Nacional (órgáo criado para julgar os delitos em "estado de guerra") comegaria a sumariar os cabegas do movimento revolucionário (S. 62).

35

172

S. Santiago 1985. S. 53.

Gleichzeitig wird mit diesem Kommentar die politische Devise der Opposition den Kopf der Bewegung und damit die Revolution zu retten - formuliert. Die politische Chiffre - das Überleben - steht in (paradoxer) Verbindung mit dem programmatischen Titel Em Liberdade und dem Motiv des Überlebens als Moment des Biographischen. Als Chiffre, Programm und Motiv - die Frage des Lebensmodus durchzieht Ramos' Texte von Säo Bernardo bis zu den Memórias do Carcere. Gleich zu Beginn des "Tagebuchs" findet sich ein expliziter Verweis mit dem Zitat aus Angustia: Näo sou um rato. Näo quero ser um rato (S. 23), das zum Motto avanciert. An anderer Stelle wird eine markante Szene - ein ums Überleben ringendes Ich 36 - der Erzählung O relógio wiedererzählt und somit als autobiographisch gekennzeichnet. Santiagos Re-Lektüre Ramos' verdeutlicht jedoch, daß das Motiv des Überlebens sich nicht auf ein biographisches, individuelles Moment reduzieren läßt.37 Denn Graciliano Ramos' Geschichte erschöpft sich - wie die seiner literarischen Figuren - weder im schicksalhaften noch im pathologischen, der Vergangenheit zugewandten Leben. Die andere Seite, die Präsenz historischer Erfahrung wird hier durch die historischbiographischen Sonderfalle Costa, Ramos und Herzog, die ihre Schatten vom 18. bis ins 20. Jahrhundert werfen, unterstrichen. Doch führen die rekonstruierten Gemeinsamkeiten historischer Erfahrung disparater Zeit-Räume - wie wir gesehen haben - nicht zu einem homogenisierenden Bild und zur Fortschreibung dieser totalisierenden Geschichte, sondern im Gegenteil, zu deren Tilgung, und gleichzeitig bilden diese Artikulationen subalterner Stimmen den Teil einer Gegenerzählung. Silviano Santiago dekonstruiert das Diktum der Revolution, indem er mittels der (pseudo-)historischen Figur Ramos' die Frage des Überlebens - der Freiheit - neu stellt. Das Scheitern der revolutionären Projekte - Inconfidència, die oppositionellen Bewegungen der 30er und der 60er/70er Jahre - wird zum Anlaß, autoritäre, "machistische" Strukturen zu untergraben, nicht zuletzt, was den Diskurs des männlichen, schreibenden Subjekts betrifft, wie die Anlayse der folgenden Erzählepisode zeigt: Amar näo é bastante. O poeta fala do corpo da amada, do seu desejo de olhà-la, acariciàla, beijà-la. Do seu desejo de possui-la, com amor e volüpia (S. 97). In unmittelbarer Verbindung mit der Frage nach dem Lebensmodus steht die Liebe - als Ort, als Domäne der Frau füllt sie den Raum zwischen Leben und Tod. Für das männliche Subjekt des Schreibens dienten die Erscheinung, der 36

S. Santiago 1985. S. 55.

37

Damit wendet Santiago sich gegen die dominierende biographistische Lektüre Ramos seitens der Kritik.

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Körper, das Gesicht der Frau als Spiegel der Erneuerung und Jugend, der Vergänglichkeit und des Altems. Santiago parodiert das "klassische" Verfahren männlichen Schreibens, indem er eine anekdotische Episode - mit TelenovelaZuschnitt - um Männerphantasien und schriftstellerische Sublimierung einfügt und kommentiert. Er erzählt von Ramos' Leidenschaft zu einem jungen Mädchen, die durch eine Begegnung am Strand von Botafogo ausgelöst wird. Diese Episode veranlaßt ihn zum folgenden ironischen Selbstkommentar: Em outras ocasiöes, teria feito literatura, teria sublimado a forqa do meu instinto sexual, discorrendo de maneira simbólica sobre o tesäo que aqueta moga despertou em mim. Teria falado do remorso de que foi possuído, ao descobri-la filha de grandes amigos meus. Teria exagerado ñas pinceladas, substituindo o vermelho do desejo pelo negro des trevas infernáis (S. 97). Luftsprünge und Tieftauchen, Aufstieg und Abstieg liegen dicht beieinander für Graciliano Ramos: Há dias saltei no trampolim. Há días mergulhei. Retenho a respiragäo por dias seguidos; retive-a enquanto näo explodiam os meus pulmöes. Näo aquento mais a pressäo da água. Tenho de voltar á superficie para respirar (S. 233). 90 Tage sind seit dem Verlassen des Gefängnisses vergangen bis zu dieser vorletzten Tagebucheintragung: die Replik eines imaginierten Dialogs zwischen den (pseudo-) historischen Figuren Graciliano Ramos und Cláudio Manuel da Costa via der zerstörten Tagebuchmanuskriptseiten des Minensischen Dichters, die über die letzten Tage vor dessen Ermordung berichten. Ein Zeitsprung von einhundertachtundvierzig Jahren ist zurückzulegen, um in die erzählte Gegenwart zurückzugelangen. Hier im Schlußteil wird deutlich, daß der Effekt der Übertragung, der assoziativen Überblendung weniger Identifikation und Nähe, sondern vielmehr Unterscheidung und Distanz der historischen Beziehung ist. 28 Stufen sind zu bewältigen, d.h. 28 Kapitel zu schreiben, um eine Vergangenheit zu erreichen, die zugleich eine Zukunft als ein Überleben in Freiheit ermöglicht. Die Geschichte neu zu schreiben, die Möglichkeit eines offenen Verlaufs aufzuzeigen, bedeutet, Umwege zu gehen, vor allem aber, das Gefängnis zu verlassen. Während der Körper Graciliano Ramos zu Beginn ein Phantom ist: Näo sinto o meu corpo. Näo quero senti-lo por enquanto (S. 27) - ist er am Ende ein Körper "em Liberdade": Um corpo em disponibilidade para si e para o outro (S. 233). 174

Umgang mit Erinnerung und Gegenwart:

Geschichtlichkeit,

utopische Dimension als Zeichen der Differenz Silviano Santiagos Fiktion markiert eine Epochenschwelle: Der Text eröffnet mit der Einführung einer neuen Problematik, in der Vorstellung von Geschichte und seiner Politik des Schreibens, einen Erwartungshorizont. Mit der Dekonstruktion der Schriftsteller- und Intellektuellenfigur des brasilianischen Modernismus als pais sàbios e autoritàrios38 zeigt Santiago vor allem auch, daß die klassische Figur des Intellektuellen nicht mehr greift. Sie basierte "auf der Identifizierbarkeit eines ausgezeichneten Subjekts der Geschichte". Mit seiner Schreibstrategie, dem Pastichieren des Ich, führt Santiago den Beweis, daß solch geschichtsphilosophischer Singularismus und Universalismus 39 nicht mehr trägt. Silviano Santiago schafft mit Em Liberdade, urna ficqäo eine prospektive Situation, die innovatives Schreiben, Texte mit einer anderen Erzähllogik, wie Stella Manhattan ermöglicht. 40 Das Entscheidende der Fiktion (für Brasilien) liegt im Durchdenken von Präsenz, Vergangenheit und Zukunft der brasilianischen Geschichte, in der Revision der Beziehungen zwischen Geschichte und Rolle der Intellektuellen, Schriftsteller und der Literatur. Damit liefert er hypothetisch die Voraussetzung, um die gesamte brasilianische Literatur neu- wiederzuschreiben. Darüber hinaus trägt Silviano Santiago mit der Fiktion Em Liberdade - in gezielter Subversion dominanter historischer Diskurse - durch das Betonen der anderen, durch epochale und regionale (periphere) Bedingungen bestimmten Geschichtlichkeit maßgeblich dazu bei, zu einem veränderten, offenen Begriff von Geschichte und Geschichtlichkeit zu kommen.

38

39

S. Santiago 1991. «Modemidade e tradi?äo popular». In: Revista brasileira de literatura comparada. Nr. 1. Rio de Janeiro. Vgl. J.-F. Lyotard 1985. Grabmahl des Intellektuellen. Graz/Wien. Die Tatsache, daß Stella Manhattan, aber nicht Em Liberdade in den USA Ubersetzt wurde, verweist einmal mehr auf die "Strukturbedürfnisse" westlicher Kulturindustrie, die auf "neues Schreiben" fixiert ist. Das insbesondere für Brasilien so wichtige "Neuschreiben" des Klassikers Memórias do Cárcere - der im Kanon keinen Platz findet - ist für den westlichen Buchmarkt der USA und Europa nicht von Interesse. Darin besteht die Paradoxie: der wichtige Roman der "Epochenschwelle", der Akzente setzt, neue Fragestellungen aufwirft, bleibt unbeachtet, während die spielerische Konsequenz dessen - Stella Manhattan - Erfolgschancen hat.

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