Bohemiens und Belle Epoque : Als München leuchtete 3442755786

»München leuchtete«, so beschrieb Thomas Mann die unvergleichliche Faszination der Isar-Stadt um die Jahrhundertwende. W

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German Pages [336] Year 1999

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Bohemiens und Belle Epoque : Als München leuchtete
 3442755786

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Buch »München leuchtete«, so beschrieb Thomas Mann die unvergleichliche Faszination der Isar-Stadt um die Jahr­ hundertwende. Wie er kamen zu dieser Zeit viele Künst­ ler und Musiker, Dichter und Journalisten, Schauspieler und Komödianten hierher - alle, die ihren Traum von einem freien Leben in der Kunststadt München verwirk­ lichen wollten. Als einzige deutsche Stadt verkörperte München den aus Paris kommenden Geist der Belle Époque: Lebenslust und Kunstbegeisterung, Müßiggang und Musenkuß, Ungezwungenheit und Übermut gediehen nur hier, im Süden. Im geschäftigen Berlin wurde Kunst produziert, in München wurde sie gelebt. Die Bohème traf sich in den Schwabinger Ateliers, aber auch auf den Plätzen und in den Biergärten der Stadt, im Englischen Garten und auf der Theresienwiese. Wemer Ross gibt ein farbiges Porträt dieser Glanzzeit Münchens. Er läßt das Leben der Münchner Bohème in ihren Vergnügungen, Leiden und Kämpfen lebendig wer­ den, mit Sympathie und Ironie schildert er die Künstler und Literaten - die rebellische Aristokratin Franziska Reventlow und die modernen >Propheten< um Stefan George, Frank Wedekinds Theaterprovokationen und die frühen Werke von Rainer Maria Rilke, die >Malerfürsten< Lenbach und Stuck und die Farbexperimente des >Blauen ReitersDer ängstliche Adler* (1980); in den letzten Jahren erschienen >Lou Andreas-Salomé*, >Baudelaire und die Modeme< und >Venezianische Promenade*.

Werner Ross

Bohemiens und Belle Epoque Als München leuchtete

Siedler

Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchs sind chlorfrei und umweltschonend. Siedler Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann.

1. Auflage Vollständige Taschenbuchausgabe Juli 1999 Copyright © 1997 Wolf Jobst Siedler Verlag GmbH, Berlin Redaktion: Lisa Straßberger, Berlin Bebilderung und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin Reproduktionen: Michael Dittbemer, Berlin Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Stadtmuseum München, Graphische Sammlung Made in Germany 1999 1SBN 3-442-75578-6

INHALT

VORWORT

9

TEIL I

AUFBRUCH IN DIE SCHÖNE EPOCHE 1. KAPITEL -MÜNCHEN LEUCHTETE«

13

2. KAPITEL ERINNERUNG AN.DAS ALTE BAYERN

23

3. KAPITEL MÜHEVOLLER ANFANG DER MODERNE: MICHAEL GEORG CONRADS

PAPIERENE EMPÖRUNG

45

TEIL II SCHWABINGER BEOBACHTUNGEN:

FRANZISKA REVENTLOW UND IHRE FREUNDE

4. KAPITEL FRANZISKA IM PECH

73

5. KAPITEL RENÉ (MARIA) RILKE: OKTOBERFEST UND STIGMATA

89

6. KAPITEL »KLAGES IST DIE HAUPTSACHE.

103

7. KAPITEL DER GROSSE KRACH UND DAS DANACH

127

8. KAPITEL DER MEISTER UND DER JÜNGLING

149

9. KAPITEL DER SELBSTMORDVEREIN

163

TEIL III KUNSTSTADT MÜNCHEN -

SEZESSION UND JUGENDSTIL

10. KAPITEL

KUNST, RUHM UND GESCHÄFT

173

11. KAPITEL

KEINE REVOLUTION, NUR EINE SEZESSION

195

12. KAPITEL

JUGEND SCHLECHTHIN

217

TEIL IV

LIEBE, GRAUS UND SCHAUDER:

FRANK WEDEKIND - FREUNDE UND FEINDE 13. KAPITEL DER FROMME KAISER UND DER >

TOLLE WEDEKIND

243

14. KAPITEL DER THEOLOGE DER WOLLUST:

FRANK WEDEKIND

249

15. KAPITEL

WEDEKIND UND DAS BESSERE TINGELTANGEL 16. KAPITEL

BALLADE VON WEDEKINDS ENDE

285

TEIL V

ALLES VERGEHT - MÜNCHEN BESTEHT

17. KAPITEL DIE JAHRE DANACH 293

18. KAPITEL

MÜNCHEN GESTERN UND HEUTE

BIBLIOGRAPHIE: EINE AUSWAHL PERSONENREGISTER

ABBILDUNGSNACHWEIS

327

335

309

321

273

VORWORT

der Pariser Belle Époque, der hier kühn auf das München von 1900 übertragen wird, war kein Werbeslogan. Er meinte einen Zustand, der sich durch Weitergabe von Mund zu Mund empfahl, dessen zauberische Schönheit aber erst ganz offenbar wurde, als es mit ihm ein Ende hatte : mit und nach dem Ersten Weltkrieg. Ein wei­ teres glückliches Zeitalter hat es seitdem nicht mehr gegeben, wohl mancherlei Ansätze dazu - das Wohlleben, das die soziale Markt­ wirtschaft auch den Minderbegünstigten und -begüterten bescherte, das Wohlgefühl einer Freiheit, die sich in Reisen und Aufstiegs­ chancen ausdehnen konnte, aber irgendwie und irgendwann kam der Strich durch die Rechnung, bis zu diesem sorgenvollen Augen­ blick, wo sich ein Europa der Notdurft und der Improvisation kon­ stituiert. Zu der Belle Époque in Paris und ihrer Ausgabe im Kabinettfor­ mat, die in München zu besichtigen war, gehörten die Bohémiens, wörtlich: die Zigeuner, die nicht seßhaft waren, sondern in ihr her­ umschweiften auf der Suche nach einem Platz an der Sonne oder einem Winkel zum Überwintern. Die Bohemiens, die hier gemeint sind, waren Künsder, Denker, Dichter, mit dem Geist verheiratet, mit den Musen kokettierend, aber nicht in den Genuß des Champagners gelangend, der damals in Strömen floß. Eine Menge solcher Figuren treten in diesem Buch auf, Bohemi­ ens im strikten Sinne oder nur in dem weiteren, daß sie nicht arri­ viert, nicht nahe einer schönen Aussicht etabliert waren. Manche waren oder schienen asketisch, manche hätte man auch Dandys oder Bonvivants nennen können, Kategorien sind hier wenig brauchbar. Eher zählen Atmosphären, Stimmungen, Losungen, Neigungen, eher als Farben passen Schattierungen. München hatte seit jeher den Fasching, seit langem das Oktober­ fest, Verpflichtungen und Versuchungen zum Fröhlichsein und ein jährliches Training, das nicht ohne Frucht blieb. Es gab Zufluß, An­ drang, Lehrstunden in Lebenslust, Gemütlichkeit, Behagen, und eben doch auch Tatendurst, Ideengestöber. Es kamen die Weltverbesse­ rer - Lenin 1902, Hider 1913 - und zogen wieder ab, weil genau das, was sie brauchten, nicht zu finden war: blinde Anhänger. D E R NAME

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In vielfältiger Beziehung zu den Bohémiens standen die Dichter und die Malerfürsten von 1900, die die Belle Époque nach außen hin zum Glänzen brachten. Unweigerlich leben die Menschen oft länger als die Epochen, so daß die Schicksale der hier auftretenden Personen nur im Licht des jeweiligen Zeitgeists aufblitzen. Nicht Biographien, sondern lebens­ pralle Szenen werden verwoben, Begegnungen, Anregungen, auch Abschiede, Mißvergnügen und Kräche. Der Maßstab für die Aus­ wahl ist das Dokumentarische, das für Vermutungen Raum läßt, aber keinen für Romane, und auch nicht für Beschönigung. Die Überzeugung, von der dieses Buch getragen ist: daß von allen Anbietern die Wahrheit das interessanteste Szenario stellt. So hat es Jacob Burckhardt gehandhabt, den ich gerne als mein Vorbild nenne. Ob ich hier Ergebnisse im Sinne der Forschung, der wissen­ schaftlichen Methode liefere, als Neues, das den Stand der Kennt­ nisse erweitert, verbessert und vertieft, lasse ich offen. Sicher könnte man an die Stelle des Epochenbegriffs den elastischeren des Schwellen-Zeitalters setzen. Was aber hier mehr zählt, sind überraschende Konstellationen, Kreuzungen, Parallelen, die im üblichen Diskurs leicht untergehen. Darum ist der Lesefluß nicht durch Anmerkungen unterbrochen. Die Bibliographie gibt die Texte an, aus denen die Einzelinformatio­ nen und natürlich auch Gesichtspunkte und Deutungen stammen. Ihrer Fülle gegenüber ist meine Erzählung notwendigerweise eine Kurzfassung, die versucht, das Wichtige zu bewahren und zu ver­ mitteln. Den Verfassern dieser Texte gehört der erste Dank des Autors. Er kann ja, wie es so treffend heißt, sich nichts aus den Fingern saugen. Er nimmt sein Gut, wo er es findet. Dank möchte ich auch denen sagen, die mir aktiv geholfen haben: meiner Frau und meinen Töch­ tern Monika und Alexandra, meinen Freunden Dieter Borchmeyer, Wolfgang Leppmann und Monika Paeschken, Robert und Ruth Kin­ delbacher, Christoph und Barbara Burgauner, Petra Rohierse sowie den Mitarbeitern des Münchner Textschatzhauses, der Monacensia, und nicht zuletzt der Stadt München, die mir zur Anfeuerung die Medaille »München leuchtet« verlieh. München, im Juli 1997

Werner Ross

TEIL I AUFBRUCH IN DIE SCHÖNE EPOCHE

1. KAPITEL »MÜNCHEN LEUCHTETE«

»MÜNCHEN LEUCHTETE«, so fängt eine Erzählung des Münch­ ner Neubürgers Thomas Mann an, die 1902 erschien. München glänzte, es war weithin sichbar, strahlte aus und zog an. Aber die Er­ zählung geht dann weiter mit einem Finsterling, der diesen Münch­ ner Glanz als das böse Funkeln der Sünde deutet und der in sich den Willen und die Lust aufsteigen fühlt, diesem Sodom den Garaus zu machen, als »Gladius Dei«, als Schwert Gottes. Thomas Mann verlieh dem Eiferer die Züge des Mönches Savonarola, der die wunderbare Kulturblüte der Stadt Florenz unter den Medici mit seinen Bußpre­ digten abschlug. Der Thomas Mannsche Fanatiker blieb in München zwar aus, aber es kamen mit dem Ersten Weltkrieg die Apokalyptischen Reiter, und, wie es ein anderer, nicht so berühmter Autor, Ludwig Reiners näm­ lich, umschrieben hat, in ganz Europa gingen die Lichter aus. In der Fortsetzung des Ersten Weltkrieges, im Zweiten, weitete sich dieser Zustand noch aus. Was »Verdunkelung« hieß und eigentlich nur et­ was Technisches meinte, daß nämlich der Feind in keinem Fenster Licht blinken sehen sollte, brachte auch die Verfinsterung der Seelen mit sich, die Auslöschung des Mitleids und der Mitmenschlichkeit. Bald gingen dann nicht nur die Fenster zu Bruch, sondern auch die Häuser fielen in Schutt und Asche, und die Städte wurden ausradiert. Wir, die in der Zwischenzeit, zwischen den Kriegen aufwuchsen, hörten von den Jahren davor nur als von der Zeit »im Frieden«. Im Frie­ den war das so und so gewesen, oft war von dem Preis die Rede, den man für ein Brötchen oder ein Bier bezahlt hatte, oft aber auch von etwas Paradiesischem, dem Frieden selbst, der aus der Entfernung so aussah, als ob er sich liebevoll über alle und alles ausgebreitet hätte, als ob dieses »Damals« eine Zeit ohne Mord und Totschlag, ohne Haß und Neid gewesen wäre. Es kam der Gute-Alte-Zeit-Effekt dazu, der die Vergangenheit so malerisch blau glänzen läßt wie das Abendlicht die fernen Berge. In einem Punkt war die gute alte Zeit tatsächlich nicht zu überbieten: Ihre Währung wackelte nicht. Ihr Gold war echt, ihre Mark ein Fels. Für unsere Eltern war die Inflation nach dem Ersten

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Weltkrieg so verheerend wie die Bombennächte es für die Menschen im Zweiten waren. Die fünf Pfennig für das Bier kontrastierten grell mit den Billionen Mark, die keinen Heller wert waren. Also wurden die Jahre >im Frieden« auch die >Goldenen Jahre«. »Uns geht’s ja noch gold« ist auch ein berühmter Buchtitel, in dem sich das alte Wohlge­ fühl, die Sicherheit einer Epoche spiegelte, als das Gold auf Erden ein noch unumstößlicherer Wert war als die ewige Seligkeit im Himmel. Unseren Nachbarn im Westen ging es nicht viel anders. Zwar ver­ loren sie die Kriege, die wir gewannen, und gewannen die, die wir verloren, doch die Wechselfälle und Widrigkeiten, die wir erlebten, kannten auch sie. Die Verklärung der guten alten Zeit, der goldenen Jahre, erklomm dort sogar noch ganz andere Höhen als unsere »Im Frieden«-Träumerei. Paris nach dem Ersten, nach dem Zweiten Welt­ krieg blieb immer noch Paris, mit dem alten Kosenamen Ville-Lu­ mière, »die Stadt, die immer Licht ist«, die dem Weltstadtgetöse von Chicago und New York Paroli bot. Aber wie unvergleichlich viel schöner erschien doch die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, das letzte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts und das erste des unseren. Irgendwann hängte jemand dieser Zeit den Namen belle époque an, die »schöne Epoche«, und diese wenigen Silben füllten sich mit dem Glanz einer Wunder-, Feen- und Märchenwelt. Es mußte ein Schla­ raffenland gewesen sein, dieses Paris, dem sein deutscher Kenner und Bewunderer Walter Benjamin den Ehrennamen »Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts« verlieh. Es war nicht nur der melancholische Rückblick, der die Land­ schaft der Jahrhundertwende verklärte. Europa und einige ausge­ dehnte Bereiche jenseits der Ozeane strahlten tatsächlich. Der Wohl­ stand erlaubte den alten Monarchien noch einmal, höfischen Glanz zu entfalten, und gestattete dem Bürgertum, es dem Adel und den Höfen gleichzutun. Luxus wurde zwar nicht jedermann, aber doch vielen Männern zugänglich und von ihnen an die Damen weiterge­ leitet. Die Banken wurden wieder so wichtig, wie sie es einst, in der frühen Neuzeit, in Italien gewesen waren. Der Unternehmer verbrü­ derte sich mit dem Börsenmann, um Geld zu scheffeln, das noch im­ mer gutes Gold war. Daß der wilde Kapitalismus dieser Jahre zunächst für die Arbei­ ter als Handlanger des Systems wenig übrig hatte, daß Kinderarbeit alltäglich wurde, daß Sozialeinrichtungen fehlten, daß die Arbeiter als die Diensttuenden der Industriegesellschaft miserabler unterge­ 14

bracht waren als früher die Dienerschaft, gehörte zum Tableau. Die­ ser Zustand stieß jedoch schon bald nicht nur auf die Gegenmacht des sich organisierenden Proletariats, sondern auch auf den Wider­ spruch denkender und schreibender Bürger. Die Stimmen des Ge­ wissens, ob von Dickens oder Zola, übertönten gelegentlich den Fest­ lärm der Belle Époque. Auch >im Frieden« war die Welt nicht friedlich. Die Mächte waren davon erfüllt, was in ihrem Namen schon ange­ legt ist: ihre Macht zu mehren, ihren Besitz zu vergrößern, ihren Ein­ flußbereich auszubauen. Alte Mächte wie die Kirchen und der Adel konkurrierten mit den neuen, Skandale wie der in Frankreich um den Panamakanal dienten der aufsteigenden Macht der Medien und er­ schütterten das Establishment. In der Dreyfuskrise gerieten das Mi­ litär und die Bankenwelt, der Konservatismus und der Liberalismus aneinander, und es verlor das Militär, weil es sich der schmutzigen Tricks der Geschäftswelt bediente. Der Antisemitismus zielte auf eine neue reiche Klasse, der Antikapitalismus auf die alte, und beide konnten sich in einer Person vereinigen, wie das kuriose Beispiel des Komponisten und Pamphletisten Richard Wagner verdeutlicht. Die Macht zeigte sich jedenfalls ungeniert, jedes Land steckte ein, was es konnte, und »Imperialismus« war ein schöner Name für Kanonen­ bootpolitik. Die »Schöne Epoche«, so darf man in aller Unschuld feststellen, war keine »Gute Epoche«. Sie entwickelte keine Tugend, keine Ideale, sondern ergab sich dem Wohlleben und verfeinerte es durch eine im­ mer reichere Palette von Genüssen. Daß am Anfang immer die kuli­ narischen Freuden stehen, können wir an unserer eigenen Wohl­ standsepoche ablesen, die in den sechziger Jahren ähnlich begann. Kaviar und Champagner waren, weil die teuersten, auch die wohl­ schmeckendsten Angebote dieser Tafel und sind es bis heute geblie­ ben. Ungezwungen ging man dann von den Gaumenvergnügen zu den sinnlichen Lüsten über, sei es in jenem feinen gesellschaftlichen Rahmen, der in Frankreich mit der Welt schlechthin, le monde, gleich­ gesetzt wurde, sei es im Umgang mit jener Damenwelt, die nicht zum monde gehörte, die man aber mit dem Beiwort demi-monde, Halb­ welt, doch in ihre Nähe rückte. Die katholische Kirche, sonst das un­ erschütterlichste aller Bollwerke gegen das sich ausbreitende Laster, hatte ebenso wie der alte strenge Protestantismus das Nachsehen, und es half ihr in Frankreich wenig, daß sie erklärte, der Siegeszug des Lasters habe den verlorenen Krieg zur Folge gehabt. 15

Das München der Prinzregentenzeit übte auf Künstler und Lebenskünstler eine große Faszination aus. Als ein­ zige Stadt Deutschlands vereinte die bayerische Residenz majestätischen Prunk und südländische Lebensart. Die Aufnahme aus der Zeit um 1900 zeigt vom Maximilianeum den Blick die Maximilianstraße hinunter.

Mit Paris an der Spitze vollzog sich eine gesellschaftliche Revolu­ tion wider den Anstand, den guten Ton, wie es kurz und zusammen­ fassend hieß. Wenn auch noch völlig unblutig, markierte sie doch die erste Welle jenes gesellschaftlichen Umsturzes, der später die alte patriarchalische Weltordnung aus den Angeln hob. Die Moralisten erhoben zwar den Zeigefinger und sprachen von schlimmem Nieder­ gang und Verfall, von décadence, aber sie wurden durch einige geist­ reiche Köpfe eines Besseren belehrt, die sich selbst zu »décadents« er­ klärten und darauf bestanden, daß dies eine Auszeichnung sei. DerGeistder Zeit marschierte mit den Liebhabern des Luxus und den Anhängern der freien Sitten, es war chic, zu dieser Gesellschaft zu gehören. Dort huldigte man zunächst der Salonkunst als einem Spiegelbild der eigenen Bonvivant-Neigungen, lernte aber auch die Außenseiter schätzen, die neue ästhetische Reize und Geschmacks­ nuancen lieferten. Auch in diesem Sinne war die Belle Époque schön, es triumphierten die Künste und die Wissenschaften, das Schöpferi­ sche wurde mobilisiert und modelliert, neue Stile entstanden unter so poetischen Namen wie art nouveau, Stile florale, liberty und Jugend­ stil, Die Kunst erhob nun den Anspruch, »modern« zu sein, so daß man den Geschmack daran tragen konnte wie ein modisches Ge­ wand, und die Gewandung wiederum rückte, wie alle Einrichtungs­ und Ausstattungsstücke dieser neuen Zeit, in die Nähe des Kunst­ werks selbst. Weil sie mit einem mächtigen Ausrufezeichen modern war, gewann die neue Kunst einen Vorsprung gegenüber allem Älte­ ren, das nicht mehr vorbildlich war - wie die klassischen Epochen und ihre Meisterwerke -, sondern nur noch abgestanden und ausge­ brannt. Aber wie es so kommt, das Neue muß sich wieder durch das Neueste überbieten lassen, und so schossen denn die Stile und Be­ wegungen aus dem Boden, zahlreicher in einem Jahrzehnt als früher in einem Jahrhundert, mit Paris als ihrer liebsten Heimat: der Natu­ ralismus und der Impressionismus, die Décadence und der Symbo­ lismus, der Pointillismus und der Kubismus, die Fauves und der Art Nouveau. Keine Tüftelei war da am Werk, sondern vitale Produktivität, ein brennender Gestaltungsdrang, das Bewußtsein einer neu zu formen­ den Welt, während sich das Denken und Fühlen von allen alten Mu­ stern löst, und so wie das Jahrhundertende als »Fin de siècle« stilbil­ dend gewirkt hatte, verschaffte sich das aus der Taufe gehobene neue Jahrhundert Lebensluft und Lebenslust. Die zugehörige Philosophie

hatte Nietzsche entwickelt, in Frankreich erfand Henri Bergson spä­ ter die glückliche Formel vom »élan vital«. So zog die Pariser Belle Époque, die auch ohne ihren Namen schon blühte und Früchte trug, Franzosen und Fremde aus aller Her­ ren Länder an, die aus dem Vollen schöpfen wollten. Imposantes Vor­ bild war der Sohn der Queen Victoria, Edward Prince of Wales. Die Queen stand für den alten, victorianischen Lebensstil, für das Ehr­ würdig-Britische in den Sitten, der Sohn ging nach Paris, um als vor­ bildlicher Lebemann in allen Stücken die strenge Tugend der Mutter zu widerlegen. Auch das neue Deutsche Reich, das Frankreich be­ siegt, Paris belagert hatte, konnte sich den Verlockungen der alt­ neuen Metropole nicht ganz entziehen. Allerdings unternahm Berlin alles, um selbst in die erlauchte Gesellschaft von Paris, Wien und Lon­ don aufzusteigen. Es wuchs und wuchs und überschritt als erste Stadt des deutschen Sprachraumes in den siebziger Jahren die Mil­ lionengrenze. Sogar Wien konnte da nicht mithalten. Die Industrie drückte dem neuen Stadtbild ihren Stempel auf. Wie das aussah, schildert als unverdächtiger Zeuge der Brockhaus: »Die Bebauung der Vorortgebiete ... ließ dort infolge der Bodenspekulation große Mietskasernen entstehen, wobei den menschlichen Wohnbedürfnis­ sen kaum Beachtung geschenkt wurde. In den Arbeitervierteln im Osten, Südosten und Norden der Stadt herrschten nahezu untrag­ bare Wohnverhältnisse; 1900 lebte etwa die Hälfte der Berliner in Hin­ terhofwohnungen.« Die junge Hauptstadt stand unter dem Zwang, das jeweils Erreichte immer wieder zu überbieten. Als dann der junge Kaiser, der 1889 den Thron bestieg, seine Schnunbartspitzen nach oben zwirbelte, machte der Spruch >Es ist erreicht« die Runde. Die fünf Milliarden Francs, welche Frankreich 1871 an den Sieger Preußen zahlen mußte, flössen in diesen Wirtschaftsaufschwung. Von Deutschland aus gesehen war Frankreich die besiegte Macht, von der jedermann annahm, daß sie auf Rache sann. >Raffinement< und »Decadence« des Nachbarn wurden die deutschen Tugenden ent­ gegengestellt. Zwar wollte man es sich auch in der neuen Millionen­ stadt gutgehen lassen, Amüsierviertel mußten sein, aber die Männ­ lichkeit, die sich nach Feierabend zu solcher Allotria herabließ, straffte sich am nächsten Morgen wieder zur unübertroffenen deut­ schen Tüchtigkeit. So wurde der neue Epochen-Terminus »die Mo­ derne« zwar in Berlin geprägt, aber nicht so voll und prall gelebt wie in Faris.

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Der Odeonsplatz 1906, von festlich ge­ kleideten Menschen erfüllt, und auch die Stadt selbst im Festschmuck - der Kaiser ist zu Besuch.

Auch wenn es auf den ersten Blick sonderbar erscheinen mag: nicht auf die stürmisch wachsende Metropole Berlin, sondern auf die gemütliche Residenz- und Bürgerstadt München sprang der Funke aus Paris über. Das Element von Lebenslust und Kunstbegeisterung, von Müßiggang und Musenkuß, von Ungezwungenheit und Übermut, das der Pariser Belle Époque so viele Bewunderer einbrachte, ließ sich offenbar im deutschen Süden eher verwirklichen als im rauhen Klima jenes preußischen Leistungswillens, für den eben die Münchner das Spaßwort >Gschaftlhuberei< erfunden haben. Dieses München der Jahrhundertwende läßt sich nicht besser vorstellen als mit den Anfangssätzen von Thomas Manns Novelle:

München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulen­ tempeln, den antikisierenden Monumenten und Barockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gartenanlagen der Residenz spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide, und ihre breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven lagen in dem Sonnendunsteines ersten, schönenJunitages. Vogelgeschwätz und heimlicher Jubel über allen Gassen. - Und auf Plätzen und Zeilen rollt, wallt und summt das unüberstürzte und amüsante Treiben der schönen und gemächlichen Stadt. Reisende aller Nationen kutschieren in den kleinen, langsamen Droschken umher, indem sie rechts und links in wahlloser Neugier an den Wänden der Häuser hinaufschauen, und stei­ gen die Freitreppen der Museen hinan. Viele Fenster stehen geöffnet, und aus vielen klingt Musik auf die Straßen hinaus, Übungen auf dem Klavier, der Geige oder dem Vio­ loncell, redliche und wohlgemeinte dilettantische Bemühungen. Im >Odeon< aber wird, wie man vernimmt, an mehreren Flügeln ernstlich studiert. Eine beinahe italienische Stadt, so muß man das lesen. Wenn Paris alle Metropolen schlägt, dann schlägt Italiens Landschaft unter itali­ enischem Himmel alle Landschaften der Welt. München ist in die­ sem Sinne noch ein Grenzort der bella Italia, aber bayerisch daran und darin ist die Gemächlichkeit, die Behäbigkeit, die sich auch auf die Fremden in ihren Kutschen überträgt. Und noch typischer: Wo man geht und steht, Musik, von den vergnügten Dilettanten bis zu den ernsthaften Gestaltern. Und wo man geht und steht, die Künste, in vielen Stilen und Formen, das Lebenselixier dieser einzigartigen 20

Stadt. Ob Thomas Mann bei seiner Lobeslitanei seine Ironie ver­ gaß - oder nur versteckte, davon wird später die Rede sein. Münchens um die Jahrhundertwende erworbener Ruhm war so dauerhaft, daß noch heute die Stadtväter die Medaille »München leuchtet« als Auszeichnung verleihen. Während Berlin nach 1945 als Hauptstadt abgesetzt war, konnte man mit vielsagendem Lächeln von München als der »heimlichen Hauptstadt« oder der »Hauptstadt mit Herz« sprechen, und begeisterte Münchner oder Münchenlieb­ haber sammelten in schön ausgestatteten Bänden Bekenntnisse zu der Stadt ihres Herzens. Gewiß gab es auch Einschränkungen und Widerspruch. »Auch wenn sich München um 1900 gern weitläufig gab«, ist in einem Aus­ stellungskatalog zum Werk von Lovis Corinth zu lesen, »war die Stadt mit einer internationalen Metropole wie Berlin oder gar Faris nicht vergleichbar. Im konservativen München hatten die Künsder »wenig Gelegenheit, wirklich elegante Leute zu sehen«... Auch Co­ rinth ist in München das Leben langweilig geworden, dagegen Ber­ lin: Frack, Lackschuhe ...« Corinth war in München »nicht ange­ kommen«, zog nach Berlin und heiratete dort ein Mädchen aus gutem jüdischem Hause. Das komplexe Bild der Wirklichkeit findet sich als Sammlung von Schnappschüssen, die nicht nur durch Ort und Zeitpunkt, sondern auch durch Temperament und Portemon­ naie der Betrachter und Berichtenden variieren, in dem hervorragen­ den Band »München-Dichter sehen eine Stadt« (1990). In seinem Vor­ wort schreibt der kritische Ur-Bayer Carl Amery: So blieb München im wesentlichen eine Kulisse, eine literarische Okka­ sion, eine Wand, gegen die man eine Zeitlang das eigene Talent spielte; Humusboden wohl auch für alle möglichen Bewegungen und Strebun­ gen, die ihre Setzlinge von überallher heranschleppten. München, wenn ich mich korrekt erinnere, war gerade darauf sehr stolz, ließ sich seine Assimilationskraftbestäugen, seine Sinnlichkeit, sein lässiges Wohlwol­ len, München leuchtete so hauptsächlich zugereisten Hanseaten, Düs­ seldorfern oder auch amerikanischen Sinn- und Weltsuchern.

Die München-Gemälde und München-Skizzen der Dichter und Schriftsteller vergessen höchst selten das Bier und die Sinnlichkeit, das Fehlen der Standesunterschiede und die Gemütlichkeit des Ver­ kehrs, die Vielfalt der Künste und die besonderen Reize Schwabings,

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die Landschaft vor den Toren mit Gebirge und Seen und die maleri­ sche Katholizität, und sie erwähnen vor allem anderen und immer wieder den Fasching und das Oktoberfest. Berlin ist der Gegensatz, die Mammut-Metropole. Wien und das Wienerische dürfen als Ver­ gleich herangezogen werden, und bei Schwabing meldet sich Mont­ martre als weltstädtischer Verwandter. Durch die »Wildnisse der Klischees« (Carl Amery) bahnen wir uns nun den Weg zum Ablauf der Ereignisse in der Münchner Belle Époque, zu den Anfängen und Entwicklungen, den Erfolgen und Ent­ täuschungen, und vor allem zu den Figuren, die das Phänomen des Weltdorfes München mit ihrer künstlerischen Phantasie erdachten und auf ihren Schultern trugen. Dabei ist nicht zu vergessen, daß die Jahre zwischen der Reichs­ gründung 1871 und dem Kriegsausbruch 1914 eine Zeitlang als wahre Horrorgemälde erschienen. Der Ausdruck »Gründerjahre«, der ei­ gentlich nur die Pleite nach dem wilden Boom der ersten Nach­ kriegsjahre 1871 bis 1873 bezeichnete, umfaßte bald auch den Pomp und die dekorative Üppigkeit der beiden Jahrzehnte vor und nach 1900, die man seit der Neuen Sachlichkeit nicht mehr ausstehen konnte. Der Wilhelminismus war eine Todsünde, gegen die nur die Strenge und Buße des Bauhauses half. Als ausgerechnet im Jahr des neumandstischen Umschwungs, 1968, die ramponierte Münchner Villa Stuck wiedereröffnet wurde, titulierte ein Journalist sie als »Travestie eines Museums«, ein ande­ rer sprach von »gefährlichem Pathos«, und der Festredner, der gegen diese Zeit- und Ze/r-Parolen gefeite Dolf Stemberger, mußte sich an­ strengen, um die Schönheitsträume der Zeit um 1900 verständlich zu machen. Eine Generation später sind wir besser dran, gleichzeitig jedoch der Belle Époque noch ferner gerückt, und daher lohnt es sich, einen Rückblick auf die beiden Wirklichkeiten »Bayern« und »München« vor der Endphase des vorigen Jahrhunderts zu unternehmen. Zwar sind beide heute noch so quicklebendig wie damals, aber doch unvor­ stellbar gewandelt durch viele Umwälzungen und Untergänge.

2. KAPITEL ERINNERUNG AN DAS ALTE BAYERN

sie zu beschreiben, beginnt die Belle Époque mit einer Zeitschriftengründung. Der Gründer hieß Michael Georg Conrad, die Zeitschrift Die Gesellschaft, und kein Kanonen­ schuß kündigte das Ereignis an. Ein paar Autoren merkten auf, ein paar Leser und Abonnenten sammelten sich, und damit war's getan. Die erste Nummer trägt das Datum 1. Januar 1885. Im folgenden Jahr aber trat etwas ein, was alle Bayern zur Kenntnis nehmen muß­ ten und was alle Emotionen von tiefer Trauer bis zu heimlicher Ge­ nugtuung hervorrief. König Ludwig II. wurde wegen Geisteskrank­ heit abgesetzt und fand bald darauf im Starnberger See den Tod. Die tragische Lebensgeschichte des Märchenkönigs beschäftigte die Gemüter und verdeckte, daß dieser bayerische König nichts mehr zu sagen hatte. Längst hatte die vorzüglich organisierte Bürokratie sei­ nen Platz eingenommen und ließ sich weder von ihm noch von den Parteien und dem Parlament in ihre Geschäfte hineinreden. Schon die beiden bedeutenden Vorgänger, Ludwig I. und Maxi­ milian II., in München kurz >Max II< genannt, waren der großen Poli­ tik und dem Kräftespiel der Mächte ausgewichen, hatten beim Mi­ litär gespart und sich statt dessen Ruhm erworben durch den Ausbau der Hauptstadt zum >Isar-Athen«, wie man damals schmeichelte. Das war neben dem Victoria der Schlachten und über sie hinaus der dau­ erhafteste Weg zum Nachleben im Andenken der Nation und ver­ schaffte außerdem den Reiselustigen ein neues Ziel und Anlässe ge­ nug, im Angesicht der Sehenswürdigkeiten gutes Geld auszugeben. Eine weitere Attraktion für Speisehäuser und Zimmervermieterin­ nen war schon vom ersten bayerischen König, Max I. Joseph, ge­ gründet worden: die Akademie der bildenden Künste für Baukunst, Bildhauerei, Malerei und - damals - Kupferstichkunst, die eine Menge munterer, lebenslustiger junger Leute zum Gewinn der Münchner Kunst in die Stadt München zog. Die besondere Pflege der Kultur war bereits von den Mannhei­ mer Kurfürsten nach dem Aussterben der bayerischen Linie der Wit­ telsbacher 1777 eingeleitet worden. Im Zeitalter der Aufklärung verFÜR UNSEREN VERSUCH,

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stand man diesen Kurs als Vorbeugung gegen revolutionäres Aufbe­ gehren. Karl Theodor hieß der Volksbeglücker, der schon das frisch­ gegründete Mannheim zu einer weitberühmten, glänzenden Kunstund Theaterstadt gemacht hatte. Ihm lag an Bayern samt seinen Be­ wohnern nichts, er hätte es gern ganz oder halb an Österreich abge­ treten und dafür das heutige Belgien eingetauscht. Aber da er nun ein­ mal da war, gründete er gleich ein Nationaltheater für die Aufführung deutscher Stücke statt der französischen, gab die Hofbibliothek und den Hofgarten zu allgemeiner Benutzung frei und - noch toller - ließ aus Sumpfwiesen und Gestrüpp den Englischen Garten anlegen, eben zu der Zeit, als in Faris die Bastille gestürmt und das Königtum gestürzt wurde. Seine Volksbeglückung umfaßte freilich auch die geistig-seeli­ sche Betreuung der Münchner durch eine strenge Zensur. Verboten war, wie es in Michael Dirrigls Münchenbuch >Residenz der Musen« heißt, nahezu alles, angefangen mit Homer, Platon, Vergil und Ovid, über die Aufklärer - Montesquieu, Voltaire, Rousseau - bis hin zu Goethes >Werther< und überhaupt sämtlichen Liebesromanen. Karl Theodor hielt die Münchner offenbar für Barbaren oder für un­ mündige Kinder, und so entstand jener Zwiespalt, der den Besuchern aus aller Welt später bei den Münchnern auffiel: die Kunst ein Le­ benselement, die Literatur dagegen nur ein geduldeter Intellektuel­ lenspaß. Die beliebteste Erklärung dafür ist der jahrhundertelange Biergenuß, aber Karl Theodors Leseverbot ausgerechnet in der Blü­ tezeit der deutschen Literatur und Philosophie war auch nicht von Pappe. Auch infolge solcher Maßnahmen blieb Bayern, wie Polen oder Irland, volkskatholisch, der Glaube fest im Brauchtum verwur­ zelt. In dieser Verfassung - oder eher Nichtverfaßtheit - begegnete Bayern das große Glück. Da Österreich, der alte Feind, das Innviertel und das Salzburgische geschluckt hatte und immer noch mehr wollte, suchte Bayern bei Napoleon Schutz und Freundschaft, und es fielen ihm, ohne eigenes Zutun, weite Teile von Franken und Schwa­ ben, die alten Bistümer und Reichsstädte in den Schoß. Das Heilige Römische Reich starb, der Deutsche Bund, ein lockerer Verband ohne große Pflichten, kam. Bayern war nun Königreich, aber das Sa­ gen hatte der allmächtige Minister Montgelas. Mit ihm war Bayern Napoleons erwünschter Helfer, mit ihm ging es, als Napoleons Stern sank, zu den Alliierten über. Montgelas schuf jene Beamtenschaft 24

und jenen wohlfunktionierenden Zentralismus, die dem König, je näch Sichtweise, das Regieren ungemein erleichterten oder es ihm ganz abnahmen, und er regelte das Schulwesen so gründlich und intelligent, daß ein bayerisches Gymnasium durchaus mit einem preußischen Humboldtscher Prägung konkurrieren konnte und ver­ gleichbare Schulen der übrigen deutschen Länder bis heute an Stand­ festigkeit übertrifft. Montgelas war ein Kind der Aufklärung, aber ein Feind des auf­ geklärten und daher aufsässigen Bürgertums. Darum ließ er die Uni­ versität, die in Ingolstadt als Hochburg der jesuitischen Gegenrefor­ mation gegründet worden war, in Landshut, also beinahe auf dem Lande. Erst nach seiner Absetzung und der Thronbesteigung Lud­ wigs I. wurde sie 1826 aus der Provinz in die Residenzstadt geholt, wo sie hingehörte. Es dauerte trotzdem noch neun Jahre, bis Fried­ rich von Gärtner den Auftrag erhielt, die Universität gewissermaßen symbolisch als Abschluß von Ludwigs Prachtstraße zu entwerfen. 1840 wurde der Bau abgeschlossen. Bei weitem schwieriger als die Errichtung der Gebäude war die Zusammenstellung eines Lehrkörpers. Die Schulung des Geistes durch die Aufklärung war verpaßt und verpatzt, Gelehrte mußten anderswo gefunden und nach Bayern berufen werden, also aus dem ungeliebten Westen, Norden oder Osten. Es kamen Protestanten, wenn nicht, schlimmer noch, Freidenker, die schon damals von der Bevölkerung als »Nordlichter« verspottet wurden, auch wenn dieser Ausdruck erst bei der Wissenschaftspolitik des Nachfolgers, Max II., zum Kennzeichen des königlichen Regiments oder seiner Mißwirt­ schaft wurde. Immerhin gelang es Ludwig I., ein Glanzlicht für die Universi­ tät einzufangen, das alle Kollegen weithin überstrahlte und die Uni­ versität selbst mit einem Gütezeichen versah: Friedrich Schelling, der in Jena las, was fast noch feiner war als Weimar. Schon 1803 lehrte er in Würzburg, verstieß aber damals gegen die Zensur und zog sich »Höchst... gerechtes Mißfallen« zu, weil er sich nicht auf »be­ scheidene und auf Erforschung nützliche Wahrheiten« beschränkt habe. 1808 sieht schon alles anders aus. Der Kronprinz wirkt unver­ kennbar mit: Schelling wird geadelt, in die bayerische Ehrenlegion aufgenommen, wird Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste. 25

Welchem Zeitgeist oder welchem Regierungsprogramm dies ent­ spricht, ist an der Denkschrift abzulesen, die um 1808 von München nach Weimar geschickt wird, vom Leiter der Schul- und Kirchenab­ teilung des bayerischen Innenministeriums an den Staatsminister Goethe. Niethammer, Montgelas’ rechte Hand in kulturellen Dingen, schlägt Goethe nichts Geringeres vor, als ein >Nationalbuch< zu schaf­ fen, eine Sammlung klassischer deutscher Texte - dies als Grundlage der allgemeinen Bildung der Nation, da es »den Deutschen im all­ gemeinen an Kunstgeschmack und insbesondere an dem Takt fehle, der in der Beurteilung der Geisteswerke das Klassische mit einer ge­ wissen Sicherheit erkenne«. Goethe, durchaus erkennend und aner­ kennend, was da als bayerische Initiative auf ihn zukommt, nämlich die Einsetzung Weimars als Entscheidungszentrum für literarische Geschäfte, greift begeistert zu, schickt den >Plan eines lyrischen Volksbuches« und eine Auflistung literarischer Stoffe auf 55 Quart­ blättern nach München, denkt intensiver nach und findet, daß die Deutschen weit genug gediehen seien und kein Nationalbuch mehr nötig haben, sondern besser fahren mit einem Werk, das »das Rechte, das Tüchtige aller Zeiten und Völker« darstelle, ein Werk in vier Bänden. Und weil der Plan so groß und kühn ist, bleibt er für immer liegen. Die treibende Kraft, sagen wir ruhig: die Seele dieses Weimar-inspirierten Klassizismus war der Kronprinz, der erst 1825 als Lud­ wig I. Herrscher wurde. Der Autodidakt in Sachen Lyrik, Liebhaber der Poesie, dichtete unermüdlich - holprig, wie alle Eingeweihten flüsterten. Wenn man aber die beiden Bände in Händen hält, die vor­ bildlich gedruckt und elegant eingebunden 1826 (und 1829 in zweiter Auflage) erschienen, staunt man über die Originalität dieses könig­ lichen Poeten und die Fülle seiner Einfälle. Er konnte scherzend Schiller und Goethe als seinen Sirius und Hesperus bezeichnen:

Wenn ich erwache, bevor ich betrete den Kreis der Geschäfte Les’ ich in Schiller sogleich, daß mich's erhebe am Tag; Aber nach geendigtem Lärmen, in nächtlicher Stille, Flücht’ ich zu Goethe und träum’ fort dann den lieblichen Traum.

Den Bayern las er die Leviten:

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Einem ungeschickt Schwimmenden glichst und gleichst du, Bayern, Schwingend dich zwar in die Höh', schneller doch sinkend zurück. Noch als Kronprinz machte er auf den Spuren Goethes die italieni­ sche Bildungsreise, plauderte und trank in Rom mit den Nazarenern, holte dann den Maler Peter Cornelius als Star, wie Schelling, nach München, wo dieser dem klassizistischen Geschmack des Königs mit den Trojanerfresken der Glyptothek und dem bayerischen Ka­ tholizismus mit dem Gemälde vom Jüngsten Gericht in der Ludwigskirche diente. Ludwig durfte auch erleben, wie sein Protégé Schelling als Ordinarius in München Wurzeln schlug und, angeregt durch den Ur-Münchner Franz von Baader und dessen mystische Phi­ losophie, den Offenbarungsglauben als wichtigen Erkenntnisschritt in seine Lehre einbaute. Der Altbayer und Intellektuelle Carl Ameiy hat Baader so charakterisiert: »Altbayer und Intellektueller, hiesig und weitgereist, grundsolide und ein geistsprühender Feuerwerker, radikal, interessant und fürchterlich ungleichzeitig ... « So ungleich­ zeitig war Baader freilich nicht, denn er bewirkte einen neuen, freie­ ren, großzügigeren Katholizismus. 1827 kam weitere Verstärkung nach München: Joseph Görres, erprobt in Freiheitlichkeit und Kir­ chentreue, wurde von Ludwig auf den Münchner Lehrstuhl für »All­ gemeine und Literärgeschichte« berufen. Ungefähr um die gleiche Zeit wie Görres tauchte auch Heinrich Heine in München auf, als Redakteur von Cottas Zeitschrift Neue all­ gemeine politische Annalen, und beklagte sich alsbald über Kleingeiste­ rei. Zwar war er gern bei den jungen Malern, die »besser aussehen als ihre Bilder«, mit den katholischen Görres-Freunden indes legte er sich an, indem er in der »Reise von München nach Genua< (1829) einen Satz über den »barbarischen Dom« niederschrieb, den man wohl auch nicht ganz unbarbarisch finden kann: »Wir sind ernst, aber nicht unmutig bei dem Anblick jenes barbarischen Domes, der sich noch immer, in stiefel-knechtlicher Gestalt, über die ganze Stadt erhebt und die Schatten und Gespenster des Mittelalters in seinem Schoß verbirgt.« Heine erhielt vom König keine Professur und ging 1831, nach stattgehabter Julirevolution, nach Paris. Das Leben wurde nun für alle komplizierter, auch für den Monarchen, der immerhin um die glei­ che Zeit erleben durfte, daß sein zweitältester Sohn Otto zum König von Griechenland, dem Heimatland der bewunderten Kultur, ge27

wählt wurde. Doch die Bauvorhaben des Königs ärgerten die Münchner, nicht nur weil sie enorme Kosten verursachten, sondern auch, weil sie die Stadt in eine einzige große Bauhütte verwandelten. Auch die erhoffte Erleuchtung der Köpfe, die Gräzisierung Mün­ chens und Bayerns, dieses eigentliche Ziel von Ludwigs Bindung an die in Weimar ausgerufene Klassik, trat nicht ein. Statt dessen murr­ ten die Studenten eben der Universität, die er als sein Lieblings­ instrument gepflegt und wie seinen Augapfel gehütet hatte, und probten, dem französischen Vorbild folgend, den Aufstand. Ein eingefleischter Berliner wie Ludwig Tieck, der auch gern be­ rufen worden wäre, konnte den unleugbaren Vorteilen Münchens, der Nähe Italiens, der herrlichen Bibliothek und den noch vortreff­ licheren Kunstschätzen barsch die Nachteile entgegenstellen, die es wie eh und je für empfindliche Gemüter gab: »1. Abscheuliches Nest, 2. Schlimmes Klima, 3. Schlechte Wohnungen, 4. Rohe Nation.« München war sozusagen unheilbar. Tatsächlich gewann Berlin damals durch einen Regierungswech­ sel an Attraktivität. Ein leibhaftiger Romantiker, ein zeitgemäß from­ mer König bestieg den Thron und dachte darüber nach, wie er die triumphierende Aufklärung in Preußen bändigen könnte. So wech­ selte Schelling 1842 nach Berlin, um Hegels Einfluß einzudämmen; Peter von Cornelius (Ludwig hatte auch ihn geadelt) war schon 1841 vorangegangen. Wenn Ludwig stolz war, die frommen Bilder der Brüder Boisseree für die Pinakothek gekauft zu haben, Friedrich Wil­ helm übertrumpfte ihn. Er kam auf die großartige Idee, den Kölner Dom, der jahrhundertelang als Bauruine in den Himmel geragt hatte, endlich zu vollenden. König Ludwig aber wurde reaktionär, so dumpf und stumpf wie einst Karl Theodor, und verärgerte sowohl die reaktionären Erzka­ tholiken wie die Liberalen. Die ersteren, indem er, statt gegen alle schönen Damen galant zu sein, eine Mätresse nahm, ein irisches Mädchen aus Limerick, das von einer kreolischen Mutter tropische Leidenschaftlichkeit und den spanischen Künstlernamen Lola Mon­ tez geerbt hatte. So geschah es, daß zur Faschingszeit 1847 ausge­ rechnet das ultrakonservative Kabinett des Ministerpräsidenten von Abel zurücktrat, weil der König die Einbürgerung der Lola Montez vollzogen sehen wollte. Es gab die münchnerische Form der Revolu­ tion, einen Bierkrawall, und als ein Jahr später auch noch die Vor­ boten der echten Revolution von 1848 dazukamen, dankte der König

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ab. Inzwischen auch schon siebenunddreißig, übernahm Kron­ prinz Maximilian, als >Max Zwo«, die schwankende königliche Ge­ walt. Wie Ludwig die Ludwigstraße nach Schwabing hinaus, so baute Max II. die Maximilianstraße zur Isar hin, nicht klassizistisch, son­ dern neugotisch, nicht königlich, sondern bürgerlich, und an ihrem Ende prangte kein Siegesbogen, sondern, mit dem Namen Maximilianeum, ein zur Aufnahme von Stipendiaten bestimmtes Gebäude. Max hatte aus den Fehlem des Vaters gelernt. Ein einziger über der Universität schwebender Stern konnte ihr keinen neuen Geist ein­ flößen. Es mußten für alle Fakultäten glänzende Köpfe her wenn es sie in Bayern nicht gab, dann eben systematisch ausgesuchte und be­ rufene «Nordlichter«. Ihnen aber sollten die besten Geister Bayerns nachfolgen, die nach dem Abitur dank des Maximilianeums frei von Unterkunfts- und Verpflegungssorgen sein würden. Noch Franz Jo­ sef Strauß, dies nebenbei, war ein Maximilianer. Nicht genug damit: Der König kümmerte sich höchstselbst um die Neuberufenen, die tatsächlich, mit dem Chemiker Liebig ange­ fangen, der Spitzenklasse angehörten. Er veranstaltete - diesmal von ferne dem Griechen Platon folgend - Symposien, abendliche Ar­ beitssitzungen, bei denen er selbst Fragen stellte und sachkundige Auskünfte einholte. Daraus entwickelten sich regelmäßige akade­ mische Sitzungen mit Vorträgen der Fachvertreter, denen Billardspiel als Herrenunterhaltung und Dichterlesungen, auch als Erholung an­ gesehen, folgten. Eine der von König Max aufgeworfenen Fragen ist für die Jahre der Belle Époque von besonderer Bedeutung: Zum 21. April 1855 lud er alle bedeutenden Architekten Münchens ein, um ihre Meinung zu hören, ob es möglich sei, einen neuen Baustil zu schaffen, statt die Stile der verschiedenen Epochen zu kopieren. »Nun gereichte es ... den Männern, die er befragte, zur Ehre«, berichtet der Dichter Paul Heyse über diesen Abend, »daß nicht ein einziger unter ihnen war, der dem königlichen Wahn zu schmeicheln suchte, vielmehr einer nach dem anderen die Unmöglichkeit eines aus dem Boden ge­ stampften neuen Baustiles nachwies.« Der König hörte geduldig zu und setzte den Bau der Maximilianstraße und des Maximilianeums nach den alten Plänen und im neugotischen Stil fort. Erst vierzig Jahre später wurde ernsthaft ein neuer Stil erfunden, ohne daß sich aller­ dings einer der Neuerer noch auf die Königsfrage berufen hätte. 29

So erfolgreich wie die Gelehrten waren zu ihrer Zeit auch die Dichter, die Max nach München einlud, neben dem Berliner Paul Heyse, der noch 1910 den Nobelpreis bekam, vor allem Emanuel Geibel aus Lübeck, der bereits eine ansehnliche Dichterkarriere mit Sta­ tionen in Bonn, Berlin, Athen und St. Goar am Rhein hinter sich hatte. Ein Band mit Gedichten vor seiner Münchner Zeit ist in der berühm­ ten Cottaschen Buchhandlung 1908 in Berlin in der 131. und 132. Auf­ lage erschienen, ein Dauererfolg, der heutige Lyriker schwindlig ma­ chen müßte. Bald sprach man im monarchischen München von Dichter- wie von Malerfürsten, und Geibel fand nichts dabei, sich selbst als >König Dichter« vorzustellen. »Er gibt dem Schwane Wort und Klang«, heißt es in dem betreffenden Gedicht, »Er heißt die Nachtigallen flöten,/und prächtig weben in seinen Gesang/sich Morgen- und Abendröten.« In der Tat, man wußte gleich, was auf einen zukam, wenn man nur hineinblickte in die schöngebundenen Sammlungen. Aber das Publikum wollte nichts anderes: »Sonne, Mond und Stemenheer/Ruft er vom Himmelsbogen.« Lyrik war das, was man kannte, nett neu formuliert. Nach dem Erscheinen von >Geibels Liedern« verging noch fast ein halbes Jahrhundert bis zum Aufstand gegen seinen Stil. Er selbst war gerade rechtzeitig gestor­ ben, 1884. König Max selber dichtete im Gegensatz zu seinem lyrisch voll­ auf beschäftigten Vater keine Strophe, war eher im Grund seines Herzens ein Professor wie die von ihm Berufenen. Seine Idee, statt des einen Stars eine ganze Anzahl von Fachleuten zu berufen, lohnte sich: Die Universität zog immer mehr ausländische, das heißt nicht­ bayerische Studenten an, wenn auch die klugen Neubürger aus Norddeutschland nicht mit den Alteingesessenen verschmolzen. München mauserte sich zur Großstadt, überschritt die Hunderttau­ sendgrenze und konnte damit zufrieden sein. Max war dabei nicht unpolitisch. Er sah die wachsende Macht Preußens, das stürmische Wachstum Berlins und spielte mit dem Ge­ danken der Trias, einer aus den deutschen Mittelstaaten bestehenden Union als Konkurrenz zu den Großmächten Österreich und Preußen. Als er 1864 starb, neigte sich die Politik unter dem altbayerisch ge­ sinnten Minister von der Pfordten zu Österreich als dem nun weni­ ger gefährlichen Staat. 1866 war derTraum ausgeträumt. Emanuel Gei­ bel war so keck, nach dem Krieg ein preußenfreundliches Gedicht zu veröffentlichen, und wurde daraufhin sofort entlassen. Getröstet 30

durch ein preußisches Gehalt, zog er wieder in seine Heimatstadt Lübeck. Auf seltsame Weise nahm der neue König Ludwig II., achtzehn Jahre alt bei seinem Regierungsantritt, die Launen, Aufwallungen und Leidenschaften seines Großvaters, des ersten Ludwig, wieder auf. Nur daß sich dessen Vorliebe für große Gestalten wie Goethe, Schelling und Cornelius nun monomanisch auf eine einzige Figur konzentrierte, die alle Sehnsüchte umschloß, die der stolze, hochge­ wachsene, aufs Edle geprägte neue König im Busen trug. In einem Punkt wich Ludwig dabei völlig und willentlich von seinen beiden Vorgängern ab: München und die Münchner, ob einheimisch oder zugereist, ließ er sehr bald aus dem Spiel. Das Jonglieren mit den drei Größen Parlament, Verwaltung, Königsamt war ihm zu kompliziert. Er hätte nur ein Autokrat, ein absoluter Herrscher sein können und wollen, mit flitzenden Dienern, und zog sich also von den Amtsge­ schäften möglichst zurück, um nur in seinem Privatleben der alles entscheidende Monarch zu sein. Die königliche Einsamkeit als Vorsatz und Lebensform brauchte das andere Ich, den Aufblick zum erhabenen Freund, zum Genialen, also Göttlichen, zu Richard Wagner, den er als »Ein und All! Inbegriff meiner Seligkeit!«, als »Urquell des Lebenslichtes!«, als »Heiland, der mich beseligt!« anredete. Dies wiederum war zwar immer die Me­ lodie ihres Verkehrs, aber die vorwaltende Gesinnung schloß Rück­ fälle ins Taktieren, in Unlust und königliche Willkür nicht aus. Die Gunst setzte sich in ein stattliches, aber keineswegs königliches Ge­ halt um - dazu war der König nicht reich genug und dazu hatte er zu­ viele kostspielige Baupläne: Schlösser für ihn allein, und wenn schon Oper und Theater sein mußten, dann Separatvorstellungen mit ihm als einzigem Zuschauer. Was ihn mit Wagner verband, war eine Mittelalterschwärmerei, die sich beim Komponisten zu Opemlibretti verdichtete, beim König in Traumspielen niederschlug. Lohengrin und der Schwan, Tann­ häuser im Venusberg, Tristan und Isolde, das waren ihre Helden - zu einer Zeit, wo die Brüder Goncourt schon ihren Dienstmädchen­ roman erscheinen ließen, Manet seine Olympia malte und in Berlin die erste Pferdestraßenbahn Deutschlands fuhr. Daß Wagner sein Festspielhaus nicht in München bekam, von Semper gebaut, sondern schließlich im hohen Norden Bayerns, in einem alten Residenzstädtchen ohne Regenten, war auch eine Szene

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aus beider Traum. Nur Wagners sächsischer Wirklichkeitssinn, ver­ bunden mit den haushälterischen Talenten seiner Cosima, machte eine vermutlich weiter bis ins 21. Jahrhundert bestehende wetterfe­ ste Einrichtung daraus. Was an des Königs Neigung zu Wagner auffällt, ist, daß der Fi­ xierung« kein höherer Impuls, keine wegweisende Idee mehr ent­ sprach. Des Großvaters »Künste«, des Vaters »Wissenschaft« wurden durch ein Phantom, durch den Kult um eine Person ersetzt, denn der König war eigentlich unmusikalisch, so sehr, daß sein Klavierlehrer froh war, als der Unterricht abgebrochen wurde. Auch die Münchner nahmen nicht Wagners umstrittene Musik zum Anlaß ihres Mur­ rens, sondern daß er auf ihre Kosten Günstling und Liebling des Kö­ nigs war, wie Lola Montez einst bei seinem Großvater. Der alte Freund Georg Herwegh dichtete an Wagners Adresse:

Ihres Hofbräuhorizontes Grenzen überstiegst du keck, Und du bist wie Lola Montez Dieser Biedermänner Schreck.

Ein Münchner Wirt erfand für ihn den Spottnamen Lolus und machte damit Furore. Dem König blieb nichts anderes übrig als einzulenken, und er legte seinem »Ein und Alles« nahe, die Stadt zu räumen. Der zog wieder nach Tribschen, und niemand in München äußerte, mit ihm habe die Stadt ein Jahrhundertgenie verloren. Der Dichterfürst Paul Heyse heulte mit den Wölfen, schlug sich zu den Antiwagnerianem. Wie ihm selbst zumute war, wenn er Wag­ ner hörte, hat er seiner jungen Frau, einer Münchnerin, 1869 nach einer Rheingold-Aufführung, beschrieben: »Herrliche Details, sze­ nisch und musikalisch, zwischen öden, tödlich gedehnten Strecken, das Abgeschmackteste immer dicht neben das Sublime gerückt. Die Ausführung in jeder Hinsicht vorzüglich, der Eindruck aber von Stunde zu Stunde martervoller, da das ungeheuerliche Ding ohne eine einzige Pause in monoton aufregenden Orchestereffekten die Sinne umwogt und einem endlich buchstäblich Hören und Sehen vergeht... Mich schmerzte Genick und Rücken, wie wenn ich einen Zentner auf die Zugspitze geschleppt hätte.« Das war der herrschende bourgeoise Geschmack, der es lieblich, vor allem jedoch eingängig haben wollte. Aber die »neudeutsche 32

Schule«, wie sie sich selber nannte, die >ZukunftsmusikTannhäuser< erlebten, ein junger Dichter, dem aufging, was er da soeben vernommen hatte - Charles Baudelaire. Das Wort »Offenbarung« war ihm nicht zu groß dafür. Es ist interessant, seinen Bericht gegen den des Münchner Grandseigneurs zu setzen, als die Vorahnung des Kommenden:

Vom ersten Konzert an war ich von dem Wunsch besessen, weiter vor­ zudringen im Verständnis dieser einzigartigen Werke. Ich hatte - oder wenigstens schien es mir so - eine Offenbarung, eine geistige Neuord­ nung erfahren. Meine Lust daran war so stark und unbezwinglich, daß ich nicht umhin konnte, immer wieder zu ihr zurückzukehren. In das, was ich fühlte, drang unbezweifelbar auch viel von dem ein, was ich durch Beethoven und Weber kennengelemt hatte, aber es gab auch et­ was Neues, das ich unfähig war zu bestimmen, und diese Unfähigkeit erzeugte in mir Zorn und Neugierde, in die sich ein bizarres Gefühl der Entzückung mischte. Immer wieder hörte ich mich lange Zeit hindurch sagen: »Wo könnte ich heute abend Musik von Wagner hörend«... Die häufigen Wiederholungen der gleichen musikalischen Wendungen in Abschnitten aus der gleichen Oper deuteten eine geheimnisvolle Ab­ sicht und ein Verfahren an, die mir unbekannt waren. Ich entschloß mich, das Warum zu erforschen und meine Lust in Wissen zu verwan­ deln, noch bevor eine szenische Aufführung mir vollkommene Auf­ klärung gewährte. Ich befragte Freunde und Feinde, ich fraß mich durch das widerwärtige und unverdauliche Pamphlet des Herrn Fetis, ich las das Buch von Liszt und verschaffte mir Wagners >Oper und Drama« in einer englischen Übersetzung. Wagner verbuchte die Bewunderung, war jedoch nicht neugierig, Näheres über diesen Verehrer aus der Feme zu erfahren. Er hätte sonst vielleicht den Essay über Constantin Guys zu Gesicht bekom­ men, den Baudelaire unter der Überschrift >Un peintre de la vie mo­ derne« veröffentlichte, die erste Proklamation dessen, was der fol­ genden Generation als neuer Stil, neues Lebensgefühl, neue Epoche bewußt wurde: die Moderne. 33

Wagner empfand sich nicht als »modern«, sondern als Erneuerer des Alten, der Griechen und des germanischen Mythos, als Fortset­ zer Beethovens. Die Musik war für die von ihm betriebene Erneue­ rung nur ein Mittel. Wichtiger war die Politik, für die der König wei­ terhin, trotz der Münchner Niederlage, sein Werkzeug sein würde. Ging doch der Lebensbund, den der König mit seinem »Ein und Alles« geschlossen hatte, so weit, daß er seine Braut, die Herzogin Sophie Charlotte, wissen ließ, sie müsse Wagner vor der Heirat um dessen Einverständnis bitten. Sie sei ihm zwar die teuerste der Frauen, »der Gott meines Lebens aber ist, wie Du weißt, R. Wagner«. An Wagner selbst schrieb er am 6. Januar 1870: »Sie bleiben bis unse­ rem zugleich eintretenden Tode mein König und Gott, der Herr mei­ nes Lebens, der Grund meines Daseins.« Über den Grundbaß dieses Bundes wurde hin und her gestritten, und bei den Manövem der großen Politik, die Bayerns Rolle gegen­ über Preußen und Österreich betrafen, mischte Wagner fleißig mit. Angesichts der Zuspitzung des preußisch-österreichischen Gegen­ satzes redete Wagner dem König zunächst zu, Bismarck zu miß­ trauen, »einem ehrgeizigen Junker, der einen schwachsinnigen König auf das frechste betrügt«, aber als dann 1866 Österreich geschlagen und mit ihm Bayern geschwächt war, wechselte Wagner in das nun die Zukunft verheißende reichsdeutsche Lager über. Das Wort »deutsch« füllte sich für ihn mit allem heiligen Schauer, der einst die Religion umweht hatte. Im September 1867 begann er für die vom König mitfinanzierte Süddeutsche Presse eine Artikel-Serie über »Deut­ sche Kunst und deutsche Politik«, deren Kemsatz lautete: »Auch Preußen muß und wird erkennen, daß der deutsche Geist es war, der in seinem Aufschwünge gegen die französische Herrschaft ihm einst die Kraft gab, welche es jetzt nach den Gesetzen des Nützlichkeits­ zweckes verwendet: und hier wird dann der rechte Punkt sein, auf welchem - zum Heile aller - eine glückliche Leitung des bayerischen Staatswesens mit jenem sich begegnen kann. Aber nur dieser Punkt: es gibt keinen segensvollen anderen. Und dieses ist der deutsche Geist, von dem es sich leicht reden und in nichtssagenden Phrasen sich er­ gehen läßt, der aber unserer Einsicht, unserem Gefühle kenntlich nur erst noch in dem idealen Aufschwünge der großen Schöpfer der deut­ schen Wiedergeburt des vorigen Jahrhunderts nachweisbar ist.« Die Wiedergeburt des deutschen Geistes war schon erfolgt, seine Renaissance drohte jedoch zu erschlaffen. Also führte Wagner fort, 34

was Lessing und Winckelmann, Goethe und Schiller eingeleitet hat­ ten, und das hieß vor allem: sich dem französischen Einfluß, »der Herrschaft dieser materialistischen Zivilisation zu entziehen«. Das sei geradezu Deutschlands Beruf, »weil von allen Kontinentalländem nur Deutschland die erforderlichen Anlagen und Kräfte des Geistes und Gemütes besitzt, um eine edlere Bildung zur Geltung zu bringen, gegen welche die französische Zivilisation keine Macht mehr haben wird«. Wagner zitierte zwar mit diesen Sätzen den konservativen Denker Constantin Frantz, doch sie umschrieben genau sein Pro­ gramm, das nun im weiteren Verlauf seiner Artikel entwickelt wurde und als Hauptfiguren die deutschen Fürsten einschaltete. Das fran­ zösische Rezept sei es, gerade sie, die Fürsten, dem verführerischen Einfluß der französischen Zivilisation auszusetzen, etwa mit fran­ zösischen Tänzerinnen, die man ihnen schickte, und italienischen Sängern, »wie noch heute wilde Negerfürsten durch Glasperlen und klingende Schellen« gefügig gemacht werden. Das erste Ziel seiner Politik sei es gewesen, wird Napoleon zitiert, den deutschen Geist den eigenen Wurzeln zu entfremden, ihn heimados zu machen. Es. war leicht, dieses Schema des deutsch-französischen Verhält­ nisses in Wagners Opern wiederzufinden: Immer stand die Verfüh­ rung gegen die Unschuld, Frau Venus verführte Tannhäuser wie die Barberina Friedrich den Großen. So war der Gang der Welt, und darum mußte der König und mußten die Bayern Wagners Lamento verstehen: »die französische Zivilisation sei ohne das Volk, die deut­ sche Kunst ohne die Fürsten entstanden; die erste könne zu keiner gemütlichen Tiefe gelangen, weil sie das Volk nur überkleide, nicht aber ihm ins Herz dringe; der zweiten gebräche es dagegen an Macht und adeliger Vollendung, weil sie die Höfe der Fürsten noch nicht er­ reichen und die Herzen der Herrscher dem deutschen Geiste noch nicht erschließen konnte«. Ludwig schrieb, Wagners Aufsätze hätten ihn wahrhaft hingerissen; sie waren ja in der Tat für ihn geschrieben, für seine Mission, die darin bestand, Wagners Mission zu ermög­ lichen. Wagner beging allerdings wieder eine seiner vielen Torheiten: Er trat zum Gegenangriff gegen das Münchner >Milieu< an, gegen die Münchner Intelligenz, die den Günstling aushebeln wollte. Der Va­ ter des Königs, Max II., so tadelte er, habe nur Epigonen berufen, und so habe man fortgefahren, »>harmlos< so hinzulumpen, wie es eben geht«. Er nannte Heyse nicht beim Namen, aber jedermann wußte,

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Immer hatten die bayerischen Fürsten und Könige versucht, die Isarmetro­ pole zur Kunststadt zu machen, aber erst im Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Stadt neben Wien und Berlin zur eigentlichen Stadt der Künste. Wie sehr die »Schöne Epoche«, die an der Schwelle zur Moderne stand, noch dem schwerem Pomp der alten Zeit verhaftet war, zeigt der Blick in das Atelier von Rudolf von Seitz. Er entwarf damals die Innenausstattung des Nationalmuseums.

wer gemeint war, denn Wagner sprach von einer abschreckenden Preisverleihung im Jahr 1857. Heyse hatte damals als erster den von König Max gestifteten Maximiliansorden erhalten. Und er ließ kein gutes Haar am Theater, an den Dramatikern, den Kunstkritikern Verfall, wohin man sah. Das Wort »harmlos« für die Münchner Künstler paßte nicht schlecht, und richtig war auch, daß sie mit großem Fleiß, aber ohne die mindeste Neugierde für das, was in der Welt geschah, vor sich hindichteten. »Hinlumpen« paßte aber gar nicht, denn sie waren Mu­ ster der Wohlanständigkeit. Die Münchner Boheme mußte noch zwanzig Jahre warten. Auch blickten diese Poeten - man möchte sagen: leider - nicht nach Frankreich, sondern wählten als Themen das Altbewährte, ihren Schiller allen voran und Hebbel oder Grill­ parzer eher verschmähend. Daß die deutschen Bühnen Feydeau, Scribe, Dumas fils spielten, leichte Ware, daß hingegen niemand Balzac, Flaubert oder gar Baudelaire entdeckte, war gewiß den Fran­ zosen nicht anzulasten, die unter dem zweiten Napoleon schon üb­ ten, was sich dann zu den großen Auftritten der Belle Époque stei­ gern sollte. Wagner selbst sah sich durchaus als Opfer der französischen La­ ster, die seinen Tannhäuser - wenn auch mit anderen Mitteln und aus anderen Gründen als Frau Venus - zu Fall gebracht hatten. So konnte er nach einer Parisreise zur Weltausstellung 1867 berichten, daß er an­ gesichts der Laster, Roheiten und Schwächen der Scharen von Ju­ gendlichen, die er dort sah, in Tränen ausgebrochen sei. Und es war gewissermaßen die Reaktion auf diesen Pariser Horror, daß er in einem seiner Artikel den deutschen Jüngling* auftreten ließ mit der rhetorischen Frage, ob man denn je von einem französischen oder englischen Jüngling gehört habe. Dieser deutsche Jüngling, so Wag­ ner weiter, hatte einst in Mozarts Oper den italienischen Kastraten beschämt, hatte in Beethovens Symphonien männlichen Mut gefun­ den und war schließlich auf die Schlachtfelder geeilt, um für die ver­ waisten Fürsten die Throne zurückzuerobem. Der König, auf seine Weise auch ein deutscher Jüngling, schrieb dem geliebten Wagner begeistert, rief ihn aber nicht zurück. Trotz­ dem hatte Wagner allen Grund, zufrieden zu sein. Bei der Münchner Uraufführung der Meistersinger* am 21. Juni 1868 bat der König ihn in die Hofloge und nahm mit ihm zusammen den Beifall des Publi­ kums entgegen. Im übrigen liest sich Hans Sachsens Schlußgesang 37

>Verachtet mir die Meister nicht und ehrt mir ihre Kunst< stellen­ weise, als habe Wagner nur seine Gedanken aus >Deutsche Kunst und deutsche Politik« in Verse und in Musik gesetzt. Über die Kunst heißt es da: Blieb’ sie nicht adlig wie zur Zeit, wo Höf' und Fürsten sie geweiht, im Drang der schlimmen Jahr’, blieb sie doch deutsch und wahr ...

Die französische Zivilisationsverführung wurde »altdeutsch« in eine »welsche« umgetauft:

Zerfällt erst deutsches Volk und Reich in falscher welscher Majestät, kein Fürst mehr bald sein Volk versteht; und welschen Dunst mit welschem Tand sie pflanzen uns in deutsches Land

Ganz zum Schluß konnte man sogar hören, was denn in der Kon­ kurrenz von Kunst und Politik das Wichtigere sei: Und gebt ihr ihrem Wirken Gunst: zerging in Dunst das Heil'ge Röm'sche Reich, uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst!

Wenn Deutschland auch in Trümmer fiel: Wagner blieb! Das deut­ sche Herz schlug von nun an höher beiden Fanfarenklängen des Mei­ stersingervorspiels: Es war gerührt von Hans Sachsens und Richard Wagners Altersverzicht und ergriffen von Sachs-Wagners Liebes­ sehnsucht beim abendlichen Fliederduft. Es durfte in Walther Stolzing den deutschen Jüngling bewundern, in dem der König sich sei­ nerseits wiedererkennen sollte. Mehr noch: War nicht der Preis für Walther Stolzing die Wiedergutmachung für den an den Dichterling Heyse verschwendeten Maximiliansordeni Und gab es etwas Schö­ neres als das Liebespaar, das sich zu beiden Seiten auf den alten Mei­ ster stützte Stolzing war außerdem von Adel wie der König, aber er 38

erhielt den Lorbeerkranz aus bürgerlichen Händen, und, siehe dal, während des Schlußgesangs nimmt Eva den Kranz von Walthers Stirn und setzt ihn Sachs auf. Das Volk aber, wem huldigt das Volkt Es ruft: Heil Sachs ! Hans Sachs ! Heil Nürnbergs teurem Sachs!

Die Wagnerianer waren begeisterter denn je, die Feinde fanden Un­ rat und Widerwärtigkeiten wie immer. Niemand hörte heraus, daß die Musik »modern«, weiterführend, umstürzend war. Genug, die Handlung gab sich »heiterer«, flotter, erfindungsreicher als die lustig­ sten Produktionen des Münchner Dichterkreises. Der einzige Böse­ wicht des Stückes, Beckmesser, entpuppte sich am Ende als Clown. Das weithergeeilte Premierenpublikum hielt die fünf Stunden über­ wiegend ohne Rückenschmerzen durch, und die »Meistersinger« konnten bald als das Musterstück einer deutschen, altdeutschen, reichsdeutschen Oper gelten. Sie versöhnte alle Gegensätze und war auf ihre Art, mit dem Chorgesang von »Wach auf, es nahet gen Tag« (»Alle Sitzenden erheben sich, die Männer mit entblößtem Haupte«), sogar evangelisch fromm. Vor dem Hintergrund dieses ersten Weihefestspiels, das man am liebsten »teutsch« nennen möchte, hebt sich Wagners Affäre mit der Französin Judith Gautier wie eine Parodie ab. Sie war eine glorreiche Verkörperung ihrer Nation : die Tochter eines großen Dichters, Théo­ phile Gautier, der das Meißeln und Ziselieren in Versen liebte, eine Gedichtsammlung »Émaux et Camées« (Emailarbeiten und Kameen) überschrieb und Judith als sein größtes Meisterwerk rühmen konnte. Sie war griechisch schön und so ungestüm, daß sie den Übernamen »Orkan« trug. Sie dichtete wie ihr Vater und liebelte mit Wagner, als sie zu den ersten Festspielen in Bayreuth war. Niemand kann sagen, was da siegte: das Raffinement der Pariserin über den aufrechten Germanen, oder die Galanterien des Großmeisters über die ver­ heiratete, wenn auch nicht mehr sehr fest an ihren Dichter-Gatten gebundene junge Frau. Wagner schrieb ihr dann auf französisch, ließ sich von ihr den »Parsifal« übersetzen und veranlaßte sie, ihn mit den kostbarsten Er­ zeugnissen des französischen Luxus, edlen Parfüms und schweren Brokatstoffen, zu versorgen. Es war 1876, in den sogenannten Grün­ 39

derjahren nach dem Sieg von 1871, und wie das Deutsche Reich mit den französischen Milliarden überschüttet wurde, so ließ Wagner sich auch gern privat aus Paris verwöhnen. Es wäre sonderbar, wenn ihm dabei nicht seine verführerischen Mädchen, von den Venusbergnym­ phen bis zu den Blumenmädchen des »Parsifal«, eingefallen wären. So konnte Judith in einem Brief vom 17. November 1877 lesen, daß im zweiten Akt des >Parsifal< Klingsors Zaubermädchen auftre­ ten: »Blüten eines verhexten Gartens (tropisch); mit dem Frühling sprießen sie auf und leben bis zum Herbst, um als junge Mädchen ganz naiv und anmutig den Gralshelden zu umgarnen. Sie liebkosen Parsifal, streicheln ihm die Wangen, das Kinn, wie spielende Kinder.« Die Melodie dazu, »komm, komm, schöner Knabe«, hatte er beige­ legt. Er selbst war schon längst verzaubert, gewiß kein tumber Tor mehr, aber es gefiel ihm, mit »naiv« und »kindlich« die deutsche Un­ schuld hervorzukehren. Im Dezember hieß es dann in einem ande­ ren Brief: »Was die Parfümerien angeht, hauen Sie über die Stränge, ich bitte Sie Badeessenzen usw. in reichem Schwalle, dutzendweis.« Dafür war auch die ferne Judith gut. Wie ein makabres Nachspiel dazu wirkt Wagners Ende: Der an­ gekündigte Besuch des Blumenmädchens Carrie Springle im Palazzo Vendramin ruft Cosimas Befremden hervor, eine kleine Ehestörung, die Wagner abbüßt, indem er Tiefgründiges über das Menschliche und das Weibliche schreibt. Am Schreibtisch trifft ihn der Schlag. Es ist der 13. Februar 1883.

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SCHON 1859 HATTE ein Kritiker des fliegenden Holländers« lapidar bemerkt: »Die Sympathien, welche Wagner er­ weckt, sind wesentlich deutsch und na­ tional, und darum werden sie es sein, welche Sieger auf dem Kampfplatz blei­ ben: denn es wäre in den Annalen eines Volkes ein unerhörtes Faktum, daß es nachhaltig einen Autor verleugnete, der seine Sagen und seine Geschichte, seine Tradition und Gefühlsweise mit den sei­ nem Genius eigentümlichen Kunstfor­ men lebendig in sich aufgenommen und verherrlicht hat.«

Auch nach seinem Tod blieb Wagner der Führer der Deutschen zum Höheren, ein Moderner, der den Mythos wieder aufs Programm gesetzt hatte, ein mehr als Zeitgemäßer, der von Griechen wie von Germanen mit Ehrfurcht sprach. Als ob ein Versäumnis an ihm gut­ zumachen sei, bauten die Münchner zum Beginn des neuen Jahr­ hunderts das Prinzregententheater für Wagneraufführungen, und im neuen Stadtviertel Nymphenburg präsentierte sich nicht nur eine Kriemhilden- und eine Nibelungenstraße, sondern auch eine nach Wagners Wotan und eine nach Walhalla benannte. Wagner selbst hatte sich rechtzeitig dem Reich genähert, die Hohenzollem hofiert, und sein Freund-Feind Nietzsche notierte: »Ich habe mich von Wag­ ner entfernt, als er seinen Rückzug zum deutschen Gott, zur deut­ schen Kirche und zum deutschen Reich nahm«, und fuhr mit der sehr zutreffenden Feststellung fort: »Andere hat er eben damit angezo­ gen.« Nur daß die anderen die vielen waren, die irgendwie das Alt­ kirchliche und das Neu-Wissenschaftliche, die Bravheit und den Ge­ nuß Zusammenhalten wollten. Nietzsches paradoxe Einfälle, sein Versuch zum Beispiel, Wagner als decadent mit den modernen Fran­ zosen auf eine Stufe zu stellen, lesen wir heute als interessante Bon­ mots. Damals gingen sie im Beifallklatschen der Wagnerianer und in den Weihegefühlen angesichts des Bayreuther Kultraumes unter. Ludwig II. vollzog auf seine Weise die Wendung nach Frankreich. In Max Spindlers bayerische Geschichte« ist das so dargestellt: »Von Jugend an von verletzlichstem Selbstgefühl, der Kehrseite seiner Un­ sicherheit, hat er im Lauf der Jahre seine überhöhte Auffassung von sich und seinem Herrschertum um so mehr gesteigert und schließ­ lich in fast unerträgliche Formen gegossen, je mehr er seine wirkliche Herrschaft als Last betrachtete und vernachlässigte.« Der von allen Seiten eingeengte Souverän steigerte sich in den Traum hinein, so selbstmächtig zu sein wie Ludwig XIV. Eben hatte er noch Neuschwanstein in Auftrag gegeben als Grals­ burg für den neuen Parsifal, da folgte auch schon der Plan für Linder­ hof als Residenz dieses neuen Ludwig, dem sich wiederum Herren­ chiemsee anschloß, und es war nur eine fromme Reminiszenz an den Ludwig von gestern, daß zu Schloß Linderhof auch die Klause des Parsifal-Gurus Gumemanz gehörte. Während der König in der banalen Wirklichkeit »theatralische, phantastische Gelage« mit Kavalleristen nicht verschmähte, blieb er in seinen Träumen wagnerianischer Idealist. So schrieb er an 41

den Sänger Nachbaur: »Wir beide sind Feinde alles Gemeinen und Schlechten und glühen in heiligen gottentflammten Feiern für alles Hohe und Reine und Ideale.« Ludwigs Enttäuschungen und Wandlungen spielten sich zu der Zeit ab, in der in Paris Flauberts »Education sentimentale' erschien die auf deutsch immer noch >Lehrjahre des Gefühls« heißt, während doch die notwendig eintretende Abgewöhnung der Gefühle, die Er­ ziehung zur rauhen Wirklichkeit gemeint war, der Übergang zur Realpolitik auch in den menschlichen Beziehungen. Nur: Damals gehörte es noch zur Realpolitik, daß man weiter und womöglich heuchlerisch das Vokabular der Idealisten benutzte. Die »Memoiren einer Idealistin« Malvida von Meysenbugs, der Freundin Wagners und Nietzsches, sind ein solches Denkmal eines unbeirrten Glaubens an das Gute. Wagner war immer noch ein halber und eher heuchle­ rischer Idealist; Nietzsche mißbilligte Malvida. Er hatte die Wand­ lung vollzogen. Eine Herausforderung für Ludwigs »gottentflammte Feuer für alles Hohe und Reine und Ideale« ergab sich im Jahr 1871, als es um Selbstständigkeit oder Anschluß Bayern ans Reich ging. Bismarck kö­ derte den König, wie der König Wagner geködert hatte: mit statt­ lichen Summen, die in Ludwigs Schlösser einflossen, wie Ludwigs Gelder in Wagners Münchner Villa geflossen waren. So ließ sich Lud­ wig herbei, seinem königlichen Kollegen Wilhelm I. die deutsche Kaiserkrone anzubieten, in einem Schreiben, das Bismarck vorent­ worfen hatte. »Jammervoll ist es, daß es so kam, aber nicht mehr zu ändern«, schrieb Ludwig an den Bruder, und der antwortete als Augenzeuge: »Ach Ludwig, ich kann Dir gar nicht beschreiben, wie unendlich weh und schmerzlich mir während dieser Zeremonie zu­ mute war. Alles so kalt, so stolz, so glänzend, so prunkend und groß­ tuerisch und herzlos und leer. Mir war so eng und schal in diesem Saale.« Golo Mann hat diesem Satz den Kommentar angefügt: »Klage­ lied der guten alten Zeit gegen die neue, die preußisch sein würde und deutsch, vor allem aber neu: arbeitsam, laut und hart, und fremd für morbide Märchenprinzen.« Und wir spinnen den Satz weiter: »... auch für gutmütige Münchner und für alte Bayern«. Freilich, wie es so kommt: In eben dem Maß, in dem Berlin wuchs und aus allen Nähten platzte, wurde es ungastlich, fieberhafter in sei­ nem Tagesbetrieb und seinen Nachtallüren, und München durfte 42

München wurde in der Prinzregenten­ zeit zur Stadt der Denkmäler und Brunnenanlagen, wobei Rom das immer unerreichte Vorbild war. Der Wittelsbacherbrunnen von Adolf von Hildebrand entstand 1895; er ist das glanzvollste Beispiel für dieses Pracht­ verlangen, das hier, ästhetisch gezü­ gelt, bereits auf den späteren Neuklas­ sizismus hindeutet.

sich in aller Ruhe als die Gegen-Metropole konstituieren, die Haupt­ stadt mit Herz, in der jedermann »sei Ruh'« haben sollte und auch die Auswärtigen, die Zugereisten, die neugierigen Besucher und die ge­ plagten Stellungsuchenden sie finden würden. Bayerns Märchenkönig hatte sich in seinen letzten Jahren un­ willkürlich seinen Untertanen anverwandelt. Er lebte nur noch vor sich hin, war dick geworden, trank wie nur je ein rechter Bayer. Viel­ leicht litt er mehr an Überdruß als an einer Geisteskrankheit. Daß auch er, in Schloß Berg unter Kuratel gestellt, »sei Ruh’« haben und durch den See nach irgendwohin marschieren wollte, paßt zu diesem Bild ebenso wie die Version, daß er den Arzt, der ihn hindern wollte, ins Wasser drückte, bis er keinen Hauch mehr von sich gab.

3. KAPITEL MÜHEVOLLER ANFANG DER MODERNE:

MICHAEL GEORG CONRADS

PAPIERENE EMPÖRUNG

MICHAEL GEORG CONRAD, der erste Münchner Empörer, kam geradewegs aus Paris. Er hatte eine Mission im Kopf, war ganz erfüllt von ihr: den Deutschen Zola und den Naturalismus nahezubringen, ja, sie zu Zola als dem wichtigsten zeitgenössischen und zukunfts­ weisenden Autor zu bekehren. In Paris hatte er für die Frankfurter Zeitung, die schon damals den Ruf literarischer Ansehnlichkeit besaß, eine Feuilleton-Serie mit dem Titel Madame Lutetia« geschrieben. >Lutetia< hatte Heine die Stadt genannt, die er als Zufluchtsstätte gewählt hatte, und Conrad schrieb nun über sein Lutetia neununddreißig Feuilletons; schon im zweiten brach er seine Lanze für Zola. Zola war in Deutschland zu der Zeit noch verschrieen. Conrad zi­ tierte namhafte Kritiker, die ihn und seine Freunde »eine Schule von Schmutzfinken« nannten, seine Leser »poröse Köpfe, welche das Schmutzwasser..., das von der Seine herüberspritzt, gierig in sich einsaugen und gelegentlich wieder von sich geben«. So derb war der Ton, in dem man damals über literarische Sittlichkeitsverbrecher her­ zog; selbst Nietzsche dekretierte in der berühmten Schimpfkano­ nade, in der Schiller als Moraltrompeter von Säckingen erscheint, »Zola oder die Freude zu stinken«. Conrad hingegen lobte an Zola, wiederum im Stil der Zeit, »sei­ nen hohen Rechtssinn, seine feurige Begeisterung, seinen stolzen Mut und sein lauteres Gemüt«. Gewiß, schimpfte er nun seinerseits, »das Geträtsche und Gesalbader unserer wohlsituierten Tartüffes« habe zwar kein evangelisches Ansehen mehr, es hänge aber dem »ge­ bildeten« Publikum noch fest in den Ohren. »Zola ist ein Unreiner.« Das indes liege doch nur daran, daß es ein unappetitliches Geschäft sei, das Leben der vornehmen Bourgeoisie aus der Nähe darzustel­ len. Der Schmutz, wenn er schon da sei, komme von den Personen des Romans, nicht vom Autor.

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Paris war das Leitbild der Belle Epoque, aus Paris kam das Neue. Zolas Romane, die Conrad zum Vor­ bild der deutschen Literatur erhob, erregten in München ebenso viel Auf­ sehen wie Manets Skandalbilder. 1868 entstand Manets Bildnis des Schriftstellers.

In zwanglosem Übergang handelte Conrads nächstes Feuilleton vom deutschen und vom französischen Roman. Der deutsche Roman, so Conrad, liege im argen. Das literarische Kunstwerk der Franzosen sei konzentrierter französischer Volksgeist, »wer hingegen einen deutschen Roman in die Hand nimmt, der bekommt mit Ebers ein Stückchen Ägypten, mit Eckstein ein Stückchen Rom, mit Dahn wie­ derum ein Stückchen ergrauter Fremdländerei u.s.w.« Dabei müsse ein deutscher Roman doch das Deutschtum aus allen Poren atmen, er müsse strotzen und zucken und glühen, und der Autor müsse mit dem Buch zugleich ein Stück seiner heißen Seele darbieten. Conrad hatte in der Hauptsache recht. Auch ohne die Volksseele zu beschwören, konnte man von einer Krise des Romans reden, die nur niemandem in Deutschland so richtig bewußt wurde, weil sie schon so lange dauerte. »Zu sehr belastet mit Idylle und Gutbürger­ lichkeit, mit Lyrik und Historik, zu persönlich, zu idealistisch, zuviel Arabeske, zuviel Exzentrik, - weit entfernt von der entschlossenen Chirurgie Stendhals, Balzacs und Flauberts«, so drückte es eine kriti­ sche Stimme aus England aus. »Weltliteraturfähig« müsse die deut­ sche Literatur werden, forderte »unser Mann« in Paris, deutschen Volksgeist bieten statt »kaleidoskopisches Geflimmer und Geflunker einer in tausend bunte Stückchen zerfahrenen Allerweltsdichterei«. Solange sich die deutsche Romandichtung gegen den Naturalismus wehre, solange werde das Deutschtum »auf dem Gebiet der ein­ flußreichsten und populärsten Literaturgattung nicht zu konkur­ renzfähiger Kraft und internationalem Ansehen kommen«. Conrad hatte die Lektion der Zeit gelernt, Idealismus und Innerlichkeit, die altdeutschen Werte, halfen nicht mehr weiter, und in seinem auch nicht sehr konkurrenzfähigen Deutsch empfahl er eine »Bejahung des künstlerischen Willens zum Ausleben des modernen National­ menschen ... in dichterischer Nachschöpfung«. Nur: Wo war der moderne Nationalmenschi- Wie mußte er es anfangeni Beim Roman gab es nur ein paar Nachzügler wie Stifters »Wittiko« oder Ländlich-Kauziges wie Raabes Werke, Historisches wie Gustav Freytags »Ahnen«, Fontanes »Vor dem Sturm«, Felix Dahns »Kampf um Rom«, Conrad Ferdinand Meyers »Jürg Jenatsch« und - in großen Mengen - von Storm, Keller, Meyer Novellen, das feinere, kunstvollere Genre. Für Romane mochten Heimatkünstler sorgen wie Ganghofer oder fleißige Damen wie Luise von François, Marlitt und Courths-Mahler. 47

In eben diesen Jahren erschienen Flauberts »fiducation sentimen­ tale* und >SaIammboDämonen< und sein »Idiot«, Tolstois »Anna Karenina« und »Krieg und Frieden«, der Dienstmäd­ chenroman »Germinie Lacerteux« der Brüder Goncourt, Zola begann mit dem Riesenwerk »Les Rougon-Macquart«. In England schrieben George Eliot und Thomas Hardy, in Dänemark wurde Jacobsens »Frau Marie Grubbe« veröffentlicht. Balzac war zwar tot, aber all­ gegenwärtig, und Victor Hugo auch als Autor noch höchst lebendig, und nun war Deutschland geeint, hatte Napoleon besiegt, wenn auch nur den dritten, durfte sich endlich »zeugungstüchtige« (so Conrad) Schriftsteller leisten und fiel doch im Punkte Zeugungstüchtigkeit aus. Vielleicht darf man so erklären, warum sich Münchens Dichter­ fürst Paul Heyse, bis dahin den edlen Formen des Dramas und der Novelle zugewandt, im Jahre 1873 doch zu einem Roman mit dem Titel »Kinder der Welt« herabließ. Erwin, der Held, war zwar freisin­ nig, doch immer noch im alten Stil ein Privatlehrer im Dachstübchen, ein großes philosophisches Werk vorbereitend, und die Frau, die er geliebt hatte, saß nun als Gattin eines Grafen auf einem Schloß. Dan­ kenswerterweise starb die Gräfin, Erwins Frau Lea hatte ihren ge­ liebten Mann wieder, und er konnte das von Heyse vertretene idea­ listische Fazit ziehen: »O Liebste, eine Welt, in der wir uns bis zu diesem Triumph über das Schicksal... aufschwingen dürfen, in der das Tragische vom Hauch der Schönheit verklärt wird und mitten im Schauer über den Tod die höchste Lebenswonne uns durchbebt, bis Tränen unsere Brust erleichtern - eine solche Welt ist nicht trost­ los.« Der liebe Gott war zwar nicht mehr da, aber die Welt immer noch heil, so hell und heil wie die, in der Heyse unverdrossen hofhielt. Das sollte sich nach Michael Georg Conrads Willen ändern, und zwar bald und radikal. Zur Zeit der »Kinder dieser Welt« ging er auf die dreißig zu und hatte mancherlei Abenteuer hinter sich. 1846, zwei Jahre nach Nietzsche, war er in dem fränkischen Örtchen Gnodstadt (das er als »Gnadenstadt« deutete) auf die Welt gekommen, auf einem Bauernhof, studierte trotzdem, machte den Doktor phil. und wurde Lehrer. Aber auf die Lehrerjahre sollten die Wanderjahre fol­ gen: erst nach Italien, wo er sich bei Neapel, am Fuß des Vesuv, nie­ derließ, und dann, dem zeitgenössischen Rezept folgend, zur großen Lebensschule nach Paris. 48

Als er sich auf dem Weg nach Paris in Neapel einschiffte, hatte er Zolas Roman >Ventre de Paris« (Bauch von Paris) in der Hand, der 1873 erschienen war, im gleichen Jahr wie Heyses »Kinder der Welt«. Er war, so schreibt er selbst, erst verblüfft, dann entzückt, und er fuhr fort: »Als ich den Boden der Provençe, des Heimatlandes Zolas, be­ trat, geschah's mit heißem innigem Dank, daß auf dieser glühenden Scholle und unter diesem leuchtenden Himmel ein so herrlicher Künstler geboren ward.« Es war, mit »leuchtend« und »glühend« und »herrlich«, mit »Scholle« und »Himmel«, mit »ward« statt »wurde«, die poetische Prosa, die damals in Deutschland allenthalben fabriziert wurde, nicht die Zolas, die nach Exaktheit strebte. Der junge Conrad hatte sich be­ reits für Wagner begeistert und sich für den Wagner-Propagandisten Nietzsche gewinnen lassen. Nun verwarf er diese beiden Götter nicht, sondern stellte Zola als neue Gottheit neben ihnen auf. Das wundert uns Heutige mehr, als es Nietzsche gewundert hätte, der in seiner Spätzeit Wagner und Zola durch »Masse« und »Brutalität« ver­ eint sah und den ins Gewaltige wachsenden Roman-Zyklus der »Rougon-Macquart« als Gegenstück zur ausufemden Tetralogie der Nibelungen empfand. Der junge Conrad seinerseits, den sein Dich­ terfreund Max Halbe »als reckenhaften germanischen Hünen mit blondumwalltem Löwenhaupt« beschreibt, war gepackt von der Vi­ sion, die das Hallenviertel, den Großmarkt von Paris, als Bauch des Molochs Weltstadt verstand, und es stellte sich bald heraus, daß ein echter Germane auch in dieser Überstadt Paris Fuß fassen konnte. Er war dabei, als unter dem Vorsitz von Victor Hugo eine association littéraire gegründet wurde, und lernte den verehrten Zola selber ken­ nen. Von Paris aus schrieb er für ein deutsches Publikum und einen Leipziger Verlag »Französische Charakterköpfe« und »Pariser Liebes­ geschichten«. Warum blieb er nicht da, war es Sehnsucht oder Ehr­ geiz, oder eine Mischung aus beiden^

VON DEN FRANKEN wird gesagt, daß sie nach München ziehen, um dort die Altbayem zu ersetzen und zu verdrängen. Wenn auch Conrad derartige Pläne im Busen trug, so hatte er einen weiten und langen Umweg gewählt, um nun, in den frühen achtziger Jahren, in der bayerischen Hauptstadt eine Rolle zu spielen. Er befolgte dazu das Pariser Literatur-Rezept: Man muß eine Gruppe bilden und eine Zeitschrift herausgeben, meinungsbildend und die Öffentlichkeit ge­ 49

winnend, muß eine »very important person« werden, wie man spä­ ter sagte. Dem Hünen gelang es pünktlich zum 1. Januar 1885, die erste Nummer einer Wochenschrift mit dem Titel Die Gesellschaft, realistische Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben vorzu­ stellen. Unter der bescheidenen Überschrift »Zur Einführung« war zu lesen, was man als Manifest der neuen Gruppierung verstehen sollte, wofür und wogegen sie antrat. Wenn es um Macht und Rang in der Schriftstellerei ging, dann mußte es das Ziel sein, jenes monarchisch sich darstellende Establishment auszuhebeln, an dessen Spitze die Majestät Paul Heyse thronte. Aber Conrad, der Feuerkopf, wie er gern wegen seiner Vorliebe für Polemik und Pamphlet genannt wurde, wählte eine ganz andere Angriffsrichtung: Er mobilisierte den Mannesmut gegen die Familienblätter, den Freimut gegen die falsche Wohlanständigkeit, die aufrechte Jugend gegen die sich vor­ nehm gebende, aber innerlich verfaulte gute Gesellschaft. Der Aufstand richtet sich gleich im ersten Satz gegen die »höhe­ ren Töchter« und »alten Weiber« beiderlei Geschlechts. Wörtlich heißt es weiter: »Wir wollen die von der spekulativen Rücksichtneh­ merei auf den schöngeistigen Dusel, auf die gefühlvollen Lieblings­ torheiten und moralischen Vorurteile arg gefährdete Mannhaftigkeit und Tapferkeit im Erkennnen, Dichten und Kritisieren wieder zu Ehren bringen.« Diese Sätze zielten, dem neuen ökonomischen Zeit­ alter gemäß, auf die Konkurrenz, den »journalistischen Industrialis­ mus«, der auf Abonnentenfang ausgehe und zum größten Schaden unserer nationalen Literatur und Kunst geworden sei. Die Familie tauchte in dieser Werbung als zahlendes Leserpubli­ kum auf, andächtig unter der trauten Lampe vereint, einträchtig in der Wahrung des moralischen Standards und damit einer Lektüre, die auch Elfjährige nicht anfechten konnte. Der Kampf ging also weiter­ hin, wie fünfzig Jahre vorher, um Emanzipation, um alte Tugend und neue Freiheit, und Männlichkeit bewies sich in der Anwendung die­ ser Freiheit, so wie »Backfische« und »alte Weiber« für Knechtschaft und Gehorsam standen. Es war der Streit zweier Sittlichkeiten, die Männer-Tugend be­ schuldigte ihre Gegner der »entsittlichenden Verlogenheit«, der »romantischen Flunkerei« und der »entnervenden Phantasterei«. Sie seien schuld am »Verlegenheits-Idealismus des Philistertums«, an der »alten Parteien- und Cliquenwirtschaft« und generell an der »jam­ 50

mervollen Verflachung und Verwässerung« des literarischen, künst­ lerischen und sozialen Lebens. Daß es Klassen gab in diesem zu reformierenden Deutschland, wurde wohlweislich verschwiegen; attackiert wurde nur eine fal­ sche Vornehmheit und gedroht, ihr Schwindel werde stets beim rechten Namen genannt. Hingegen sollte die neue Gesellschaft eine Pflegestätte der Geistesaristokratie, also der wahren Vornehmheit werden. Allein diese sei berufen, »die Führung in der Literatur, Kunst und öffentlichen Lebensgestaltung zu übernehmen.« Es war das alt­ bekannte Rezept, wonach der Philosoph der beste König ist. Dadurch sollte es dann den »Völkern deutscher Zunge« gelingen, als »Vorarbei­ ter und Muster menschlicher Kultur« die Welt zu reformieren. Dann folgte der kategorische Imperativ der neuen Zeit: »Alles Wissen, bei dem die Schaffenslust erlahmt, alle Belehrung, die nicht zugleich Belebung und treibende Willenssteigerung bedeutet, alle Gelehrsamkeit, die sich nicht in den Dienst gesunden schöpferischen Lebens stellen will, hat unsere Anerkennung verloren.« Der Mann mit der Löwenmähne hatte gut gebrüllt und doch nie­ mandem mit seinen Kraftworten ein Härchen gekrümmt. Die Fami­ lienblätter, deren Redaktionen er gegeißelt hatte, sollten weiterhin ihr »kritisches Geplauder« betreiben (die Gartenlaube allein hatte es 1875 schon auf 382 000 Leser gebracht und verdorrte erst im Jahre 1944), und Conrads Gesellschaft konnte froh sein, wenn sie 1000 Käu­ fer und 400 Abonnenten fand. Kein Gartenlaubenleser wird sie in die Hand genommen haben. Ein Blick auf (und in) die ersten beiden Jahrgänge weist die Ge­ sellschaft als gediegen und wenig aufregend aus. Die meisten Auto­ ren sind heute vergessen; unter ihnen erscheinen als Prominente Richard Wagner mit Gedanken »über den Pöbel< und Friedrich Nietsche (ohne z!) mit einem Werkauszug über die »Keuschheit des Wei­ bes«. Zola kam weit öfter vor, vor allem mit einem Nachdruck aus sei­ nem neuesten Roman »Germinal«, der Epoche machte, weil seine Helden streikende Bergarbeiter sind. Auch das gehörte zu Zolas Ruhm: Er machte die unbekannte Größe Proletariat anschaulich, und es hieß, daß er sogar selbst in eine Grube eingefahren sei. Derlei war in München unerhört, nicht nur weil es keine Zechen in der Nähe gab. Es fehlte sogar, anders als in Berlin, an Arbeitervierteln, und Con­ rads Beitrag »Die gute Haut, novellistische Skizze aus dem Arbeiter­ leben« blieb in der Gesellschaft eine Ausnahme.

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Immerhin, die Gesellschaft behauptete sich mit allerlei Wandlun­ gen über viele Jahre hinweg, bis 1902 (Zeitschriften werden oft nur zwei, drei Jahre alt). Conrad konnte für sich die schönste Novelle des jungen Gerhart Hauptmann, den »Bahnwärter Thiel«, verbuchen, er druckte einzelnes von dem noch unbekannten Rilke, von Doktor Schnitzler und sogar, unter dem lustigen Pseudonym »Crêpe de Chine«, von dem späteren F^cM-Herausgeber Karl Kraus. Seine schönste Beute aber war die allererste Novelle eines jungen Mannes, der bei einer Feuerversicherung angestellt war und der sich mit die­ sem Erstling schüchtern dem versierten Zeitungsmann und Litera­ turkenner präsentiert hatte. Das Geschichtchen hieß »Gefallen« und handelte von einem unnahbaren jungen Mädchen, dem der Erzähler hoffnungslos den Hof macht, bis ein Zufall ihn auf die Spur eines rei­ chen alten Herrn bringt, dessen Geliebte das unnahbare Mädchen ist. Der junge Autor hieß Thomas Mann. Er konnte sich bald andere Organe aussuchen, aber er hat für Michael Georg Conrad 1927 einen schönen Nachruf verfaßt. Conrad habe Türen und Fenster nach dem Ausland aufgerissen und das Münchner Ideal der Großzügig­ keit und Weltoffenheit verkörpert, ehe München sich später pro­ vinziell verstockte. Er fand Conrad »bäuerlich volkhaft und welt­ offen, und europäisch zugleich«. Wie schön wäre es gewesen, wenn der alte Mann, damals längst vergessen, das noch hätte hören können.

den jungen Hünen, der das Evangelium Zolas ver­ kündete, freilich auch ganz anders sehen, negativ bis zum Nieder­ trächtigen. Die Geschichte des Naturalismus, die der Kunsthistoriker Richard Hamann und der Literaturwissenschaftler Jost Hermand 1954 vorlegten, nahm die marxistische Legende von den echten Pro­ leten und den falschen Propheten, von der kämpferischen Arbeiter­ klasse und dem schmarotzerischen Lumpenproletatriat wieder auf. Die bloßen Protestler, die schnoddrigen Antibürgerlichen waren zu tadeln, und unter dieses Verdikt fiel auch unser Freund Conrad. Ihm sei keine weltanschauliche Überzeugungskraft eigen, sein Radikalis­ mus sei gemimt gewesen, er habe den Dichterfürsten Heyse nicht um der Sache willen entmachten, sondern sich selbst an seine Stelle setzen wollen. Er habe die Selbstherrlichkeit eines literarischen Dik­ tators gezeigt und sich von seinen Mitarbeitern Bleibtreu und Alberti als Heros der Moderne feiern lassen; dabei sei er doch nur ein »urMAN KONNTE

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deutscher Bierbankathlet« gewesen, »der aus teutonischen Wäldern« gekommen sei, um »mit dem literarischen Säbel zu rasseln«. Die »sozialen Momente« habe er herausposaunt, um sie später mit der­ selben Charakterlosigkeit wieder zurückzunehmen. Selbst die Be­ geisterung für Zola habe nicht unter naturalistischem Vorzei­ chen gestanden, sondern sei Ausfluß des Geniekultes gewesen, der Zolas zwanzigbändigen Romanzyklus als Tat eines Übermenschen feierte. Conrad war kein Münchner Spezi, kein Sympathieträger. Er ver­ krachte sich leicht mit seinen Mitarbeitern, weil er die pathetischen Vokabeln von Kampf und Sieg auf das Alltagsleben übertrug und gerne andere Kampfhähne zur Mitwirkung heranzog. Er brauchte je­ doch Beifall, Zuspruch, einen Prominenten als Galionsfigur. Es bot sich eine unerhörte Chance: Im Oktober 1885, im Gründungsjahr der Gesellschaft, zog der neben Zola berühmteste und bedeutendste Dichter der naturalistischen Welterfassung und Welterfahrung, Hen­ rik Ibsen, nach München. Zola persönlich hätte nicht besser sein kön­ nen. Aber Ibsen war vor allem anderen Theatermann, suchte Kon­ takte zum Hoftheater, ließ sich von Paul Heyse einladen und wurde auswärtiges Mitglied in dessen Leseverein, dem »Krokodil*. Ein Münchner, der Architekt Fritz Schumacher, hat in seinen Erinnerun­ gen die damalige Situation so beschrieben: »Der eine literarische Mit­ telpunkt war natürlich Ibsen... Er war aber nur ein unsichtbarer Pol, um den sich die Meinungen bewegten. Umso aktiver war das andere Lager, das sich um Michael Georg Conrad bildete. In seiner Gesell­ schaft sammelte er alles, was sich an Stürmern und Drängern in der neuen Generation auftreiben ließ.« Sturm und Drang, das war in der Tat das Stichwort. Wenn Heyses Klassizismus auf Goethe und Schil­ ler setzte, dann brauchte der Literat mit dem Feuerkopf nur ein we­ nig weiter zurückzugreifen und fand da die herzerfreuenden Empö­ rer, die er als Vorbild suchte. Was an Stelle der Ausflüge in die Vergangenheit Gegenwart hieß, hätte er bei Ibsen lernen können. 1877 wurden in München Ibsens »Stützen der Gesellschaft* aufgeführt. Da stand ein - wenn auch nor­ wegischer - Kapitalist reinsten Wassers auf der Bühne und zog sich gegenüber seiner aus Amerika zurückgekehrten Jugendliebe Lona aus der Affäre, indem er ihr und allen Frauen das Kompliment machte, sie seien die wahren Stützen der Gesellschaft. Worauf Lona ihm »wuchtig« die Hand auf die Schulter legt und feierlich den 53

Schlußsatz des Schauspiels spricht: »Neinl Der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit - das sind die wahren Stützen der Gesell­ schaft!« Ibsen übrigens bleibt auch in München der Sonderling, als der er weithin galt. Ludwig Ganghofer, dessen Stück »Der Hengottschnitzer von Ammergau« im gleichen Jahr uraufgeführt wurde wie Ibsens »Nora oder ein Puppenheim«, erzählt, daß in der Nähe seiner Woh­ nung auf der Schönfeldstraße regelmäßig ein merkwürdiger alter Herr auftaucht, »ein wuchtiger Stahlkopf mit weißem Seemannsbart und funkelnder Brille«. Niemand kennt ihn, für einen reisenden Kauf­ mann sieht er zu vornehm aus, für einen reichen Privatmann zu ernst und zu gescheit. Erst bei einem Empfang im Haus eines Schauspie­ lers löst sich das Rätsel - es ist Ibsen. Aber: »Ibsen blieb nicht lange. Er schien sich auf dem Präsentierteller äußerst unbehaglich zu fühlen. Fing eine Dame an, von Nora zu schwärmen, sprach er ängstlich vom Wetter. Sein Abschied war wie eine Flucht.« Sein täglicher, pünkt­ licher Gang zum Café Maximilian war der einzige Auftritt, den er sich leistete. Michael Georg Conrad, dem schönen Georg, gelang in diesem Fall die Integration besser: Er heiratete die Münchner Nora, die Schauspielerin Ramdor, und ließ sich in einer der feinen neuen Straßen an der Isar nieder. Der große Coup hingegen, mit dem er seine literarische Position sturmfest machen wollte, mißlang ihm völlig. Als Journalist hatte er Kampfschriften und das, was man heute Reportage nennt, im Dut­ zend verfertigt. Nun wollte er seinen Ruf als Schriftsteller begründen und begann etwa um die gleiche Zeit, als er die Gesellschaft begrün­ dete, einen leibhaftigen Roman zu schreiben. Der erschien in zwei Bänden 1887, sollte aber nur die Eröffnungspartie eines Romanzyklus im Stil Zolas sein - mit dem eher bei Frau Marlitt als bei Zola abge­ lauschten Titel »Was die Isar rauscht«. Was sie rauschte, war vor allem Klatsch. Sie selbst, die Isar, im­ mer wieder mit ihrem Rauschen zur Stelle, liefert das poetische Ge­ gengewicht zu den häßlichen Zeiterscheinungen, die sich in dem korpulenten Kommerzienrat Raßler und einem als »Preßbandit« aus­ gewiesenen Journalisten mit dem von ihm herausgegebenen Blatt Die Kloalee verkörpern. Die für den Roman dennoch unumgängliche Romantik wird von des Kommerzienrats Frau Leopoldine beige­ bracht, einer wunderbar schönen und träumerischen Dame, die sich 54

jählings in den Baron Drillinger verliebt, einen feinsinnigen Gesell­ schaftslöwen, dem es nie an klugen Worten, sondern nur an Geld mangelt. München selbst erscheint in Conrads Roman als ein wilder Bau­ platz, wo die Spekulation herrscht und das alte lauschige München abräumt. Dagegen kämpft mit einem von hohen Kunstidealen inspi­ rierten Gesamtbauplan der Architekt Zwerger an - umsonst, wie sich versteht, und es wundert auch nicht, daß sein Zauber-München von den großen Ideen Sempers hergeholt ist, der den Neubau des Wagnerschen Festspielhauses mit gewaltigen Anlagen an den Isarufem verbinden wollte. Was Conrad schrieb, soll wenigstens eine Seite aus den zwei Bän­ den vor Augen führen, nicht um den Autor hundert Jahre später noch einmal bloßzustellen, sondern um zu illustrieren, was 1887 gang und gäbe war: Das Weib traf ihn jetzt so mächtig mit dem Eindrücke ihrer hohen Ori­ ginalität, daß sein Auge aufleuchtete und bewundernd auf ihr ruhte. Sie fühlte die Huldigung, die ihr in dieser stummen Sprache unbewußt und unbeabsichtigt dargebracht wurde, daß sie ihm die Kühnheit ver­ zieh, mit der er ihre Hand ergriff und sie zum Kusse an seine Lippen führte. Mit dieser Berührung glaubte Drillinger nicht nur die Sicherheit sei­ nes Geistes wiedergefunden zu haben, auch seine seitherige Erschlaf­ fung schien einem kräftigeren Aufschlag gewichen zu sein. Wie neube­ lebend durchdrang ihn jetzt die Nähe dieses Weibes; es war ihm, als hätte er sie in mystischer Kommunion in sein eigenes Wesen aufge­ nommen. Und doch trat er wieder zeremoniell einen Schritt zurück, in­ dem er ihre Hand losließ. Ein eigentümliches Mißtrauen umwölkte seine Stim und setzte sich lauernd in seine Augen und überschauerte kalt seine zärtliche Begierde. Wie ein Ton in eisiger Nacht zerspringt, so zerbrach das süße Sehnsuchtslodern des Herzens an dem frostigen Gedanken »Sie ist eines anderen Weib und, wie alle, selbst im Leid unheilbar scham­ los, sobald man’s zu teilen sich anschickt. Was schnarren und schnattern die da hinten^« Und es war ihm, als hörte er die schmutzigen Neid- und Unzuchtsreden der brünstigen Schwärmer, und als sähe er deren giftige Blicke auf sich gerichtet als auf den Gewählten des Augenblicks, den Überlisteten und vom Weibe Beherrschten ...

Es erschien noch ein dritter Band, »Die klugen Jungfrauen«, dann war das Projekt gescheitert. Zola, der hätte helfen sollen, wurde nun in die Ecke gestellt. 1890, fünf Jahre nach der Gründung der Gesellschaft, brach ein Streit aus, der dem Kämpfer Conrad eine neue Richtung vorgeben sollte. In Berlin hatte Otto Brahm seine Freie Bühne gegründet und sie mit Ibsens »Gespenstern« eröffnet. Ibsen war ihm, was Zola für Conrad gewesen war: das neue Idol. Nicht genug damit. Es wurden Strindberg und Bjömson, Tolstoi und die Brüder Goncourt gespielt, und noch schlimmer: Otto Brahm gründete eine neue Zeitschrift mit dem Titel Freie Bühne für modernes Leben, eine Wochenschrift wie die Gesellschaft, aber besser ausgestattet und mit einem symbolisch grü­ nen Umschlag. In der ersten Ausgabe erschien ein Aufsatz von Tol­ stoj über die Macht des Geldes, und sie schloß mit dem ersten Akt von Gerhart Hauptmanns »Friedensfest«. In den nächsten Heften standen die Berliner Holz und Schlaf neben den Münchnern Liliencron und Wolzogen, Zola fand sich neben Dostojewski, Hamsun ne­ ben Oscar Wilde, Liebermanns Malerei und Richard Strauß’ Musik wurden vorgestellt. Conrad stritt dagegen mit demselben deftigen Vokabular, das er vorher wegen seines Zola-Kults selbst zu hören bekommen hatte: Die neue Zeitschrift liefere die deutsche Literatur ans Aus­ land aus. Den »konsequenten Naturalismus«, mit dem das Schreib­ duett Holz und Schlaf die Münchner sozusagen charakterlich über­ bot, nannte Conrad »eine Asphaltpflanze der Großstadtgosse, ohne Duft, Samen, ein erstaunliches Erzeugnis - der Technik«, also ohne die von Conrad gefeierte Zeugungstüchtigkeit. Noch wilder ge­ bärdete sich Conrads Mitarbeiter Konrad Alberti, der Ausdrücke wie Unsinn, Kinderei, Verrücktheit, Roheiten, Gemeinheiten, Schmutzereien für Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang« für angemes­ sen hielt und der Freien Bühne vorwarf, sie mache das Theater zur Mistgrube. Die Freie Bühne konnte sparsamer sein mit dem Gossenwort­ schatz, sie hatte die besseren Trümpfe und den geschickteren Verle­ ger, jenen Samuel Fischer, der eines späteren Tages seinen Erfolg mit Thomas Manns Meisterroman »Die Buddenbrooks« verknüpfte. Es wurde dann eine Monatsschrift daraus, die unter dem Namen Neue (deutsche) Rundschau die dauerhafteste Literaturzeitschrift bis in un­ sere Tage hinein wurde. 56

Zu den dauerhaften Erfolgen Brahms gehörte vor allem die Freie Volksbühne, zu deren Gründung im Juli 1890 sich im Böhmischen Brauhaus in Berlin 2000 Arbeiter zusammentaten: »Hunderte von Tischen, mit Biergläsem bedeckt, jeder umsessen von Männern und Frauen, die zumeist im Sonntagsrock oder Sonntagskleid erschienen sind.« Dazu die führenden Sozialdemokraten, darunter, so der Be­ richterstatter Heinrich Hart, »zwei germanische Kraftmenschen ..., so gemütlich im Verkehr und doch so revolutionär im Empfinden, so fanatisch, wo es die »große Sache« gilt«. Auch die Sozialdemokraten kamen nicht ohne Germanen aus. Bald gab es Krach zwischen den Naturalisten und der sozialistischen Partei, es kam zur Spaltung, und fortan spielten zwei Volksbühnen, deren Mitgliederzahl - bei fünf­ zig Pfennig Monatsbeitrag - sich auf 35 000 bis 40 000 belief. Conrad mit seinem altfränkischem Raufhandel-Stil mußte sich sputen, wenn er in der Konkurrenz mit Berlin nicht verlieren wollte. Im Dezember 1890 wurde nach gutem altem deutschem Brauch in München ein Verein für modernes Leben gegründet und fand gleich zweihundert Mitglieder. Vorsitzender wurde Dr. Conrad, die jungen Autoren Otto Julius Bierbaum, Hans von Gumppenberg und Julius Schaumberger teilten sich die Vereinsämter. Auch ein älterer Herr und schon erfolgreicher Dichter stieß dazu, der Rittmeister a.D. Detlev von Liliencron. Am Sonntag traf man sich zu gemeinsamem Spaziergang am Isarhochufer und trank dann beim Giesinger Wein­ bauern einen Tiroler Roten. Die Abneigung gegen das Münchner Bier war nicht so stark, daß man es beim wöchentlichen Abend­ stammtisch nicht gern genossen hätte. Es ging in dieser Gesell­ schaft münchnerisch, also eher gemütlich als kämpferisch zu. Man war in Maßen sozial und antiklerikal, nur liberal war man auf alle Fälle. Im Interesse der »sozialen Frage« und dem Beispiel des so groß­ artig gelungenen Berliner Volksbühnenplanes folgend, stellte Julius Schaumberger am 18. Februar 1891 vor 1000 Zuhörern des Allge­ meinen Arbeiter-Lesevereins einen neuen Theaterplan vor, aber es wurde nichts daraus. Conrad, in geistigen Dingen eher geneigt, meh­ rere Götter anzubeten, hatte im Jahr 1890 in seiner Gesellschaft einen wohlgemeinten Aufsatz mit dem Titel »Soziales Kaisertum« ver­ öffentlicht. Der junge Kaiser schien ja ein Fortschrittsmann zu sein, die Sozialistengesetze waren aufgehoben, die Sozialdemokratische Partei unter Bebels Vorsitz gegründet und öffentlich anerkannt. In 57

aller Unschuld entwickelte Conrad das Bild des Sozialkaisers, der von oben die Dinge richten werde. Aus dem Flirt mit der Linken, das hatte er schnell eingesehen, konnte nichts erwachsen, und um so be­ gieriger war er nun, das gebildete Münchner Publikum für seinen Verein zu interessieren. Es sollte münchnerisch-Iustig zugehen, daran war den neuen jungen Mitarbeitern, Bierbaum und Gumppenberg vor allem, in der Hauptsache gelegen. Auf der Praterinsel in dem großartigen Lokal Isarlust sind sie end­ lich alle zu Haus, nicht nur die G’scheiten und G'scherten, die Fach­ kollegen aus den Zeitungen, Verlagen, Theatern, die Maler und die Studenten, sondern auch das Amüsierpublikum, das auch den Fa­ sching, das Oktoberfest und den Anstich auf dem Nockherberg gou­ tiert. Dort triumphiert die Parodie. Verspottet wird, wer eben oben ist, sei er nun den alten Mächten hörig oder ein Neuer. Ibsen, die nordi­ sche Gegenfigur der Modernen, hat mit seiner »Frau am Meer< einen durchschlagenden Erfolg gefeiert. Nun wird er münchnerisch durch den Kakao gezogen, »Die Frau an der Isar< heißt das Stück. Auch die Kampfgenossen müssen sich dem Münchner Frotzelwesen beugen. Gumppenberg dichtet zum Beispiel über Bierbaum:

Bierbaum kommt herangelämmert, Frühlingswolkenüberdämmert, Zwischen Träumeln und Genießen Butterig umherzufließen! Es wurde nicht nur ein moderner Musenalmanach mit 25 Autoren der Gesellschaft angeboten, sondern auch eine Tombola, nicht nur eine »echt Tyroler Weinschenke«, sondern am späten Abend bei Fackel­ schein auch ein Ketzergericht, bei dem die berüchtigsten Schriften der modernen Herren dem Feuer übergeben wurden. Es war, was die Münchner lieben, hochkarätige Allotria, und es blieb in der eher kur­ zen Lebensgeschichte der Gesellschaft die einzige. Weitermachen, dachte die Spitze des Vereins, Vortragsabende sollten das Publikum durch Ernsthaftigkeit gewinnen, man faßte einen Hauptmann- oder gar einen Nietzsche-Abend ins Auge. Zu­ stande kam aber im Tauziehen um das Programm nur eine Lesung Hans von Gumppenbergs aus den Werken des Arbeiterdichters Karl Henckell, der zur Zeit der Sozialistengesetze als »gemeingefährlich«

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Die >Modernen< rebellierten gegen den Geist des Alten, aber selbst die Revolutionen fanden in München gemütlich statt. Man traf sich auf der Praterinsel, im Lokal Isarlust zu aus­ gelassenen Kulturabcndcn mit Musik und Tanz.

Die ’Modernen« in Max Halbes Gar­ ten in Bernried: Otto Julius Bierbaum, Georg Schaumberg, Oskar Panizza, Michael Georg Conrad, Hans von Gumppenberg und Julius Schaum­ berger

eingestuft worden war. Fünfhundert Besucher drängten sich, als Gumppenberg mit seinem hochentwickelten Sinn für das HeiterAnstößige das Gedicht >An die deutsche Nation< vorlas, eine Art Parodie auf das Deutschland-Lied, in der Germania als »stramme Kuh« apostrophiert wurde. Die höchsten Stellen nahmen Anstoß, deklarierten »Majestätsbeleidigung«, Gumppenberg bekam, das galt als mildes Urteil, zwei Monate Festungshaft. Im Saal hatte es Buhrufe, Proteste gegeben, beleidigte Zuhörer hatten sich entfernt. In einer anonymen Flugschrift des gleichen Jah­ res 1891 wurde scharf geschossen - von jemandem, der in der Litera­ tur zu Hause sein mußte I Die Modernen, so der Anonymus, seien »eine feuchtfröhliche Trauerversammlung«, ihre »Cochonnerien aus Geldspekulation sind ein banausisches Geschäft«. Ihre literarischen Arbeiten wirkten wie Brechmittel, verursachten Blähungen, und in irgendeinem Winkel des Wäscherviertels würden diese Blähungen abgesetzt. Der Verfasser war trotz dieser fäkalen Vergleiche so humanistisch gebildet, daß er die Produktionen dieser modernen Li­ teraten als ein »Mittelding zwischen Priap und Weltschmerz« defi­ nierte und den hübschen Ausdruck »Schweinspurzelbäume der Poe­ sie« für ihr Tun erfand. Conrads Verein mußte sich gegen solche Anfechtungen als volks­ bildend erweisen, und so kam - offensichtlich einem Nichtbayem im Verein - der Gedanke, eine weitere Veranstaltung auf der Theresienwiese zur Zeit des Oktoberfests in Gang zu bringen gegen dessen »Verflachung«, die dazu geführt habe, daß es »in ein allgemeines Schlampampen und in Tingeltangelei« aufgegangen sei. Da hier Tau­ sende aus dem Lande und aus den Provinzstädten zusammenström­ ten, würde sich mit Hilfe des Vereins die Möglichkeit zu einem »höheren geistigen Genuß« bieten. Ein Antrag wurde gestellt, sorgfältig ausgearbeitete Vorschläge wurden vorgelegt, aber nichts rührte sich. Die Behörden übten sich im Ignorieren, die Zeitungen klagten nicht einmal über den Angriff auf die heiligsten Güter, es war, als gäbe es den Verein nicht mehr. Noch im Jahr 1891 legte Conrad den Vorsitz nieder, 1893 löste der Ver­ ein sich auf. Das erste Kapitel der Münchner Moderne war abge­ schlossen. Conrad war kein Diktator, kein Heros, kein neuer Dich­ terfürst, sondern ein wackerer Journalist und Organisator, aber bei allem Neubayemtum zu ernst, zu lehrerhaft, zu unmünchnerisch, als daß ihm die Krone hätte zufallen können. »Es entging ihm nichts«, 61

heißt es in Soergels und Hohoffs »Dichtung und Dichter der Zeit« über ihn, er kannte jedermann, aber nicht im entferntesten hätte er Heyse ablösen, erst recht nicht übertreffen können. Für Conrad stand schon fest, wer ihn nun bei der Verwirklichung seiner Ziele leiten werde: »Meine Erleuchtung und meinen Aus­ gangspunkt zur Revolutionierung des versumpften Literaturwesens habe ich ... am Lebens- und Kunstwerk Richard Wagners genom­ men. Nicht durch Zola, sondern durch Wagner habe ich den Natura­ listen in mir entdeckt.« Das war, um es milde auszudrücken, eine törichte Verwechslung, aber sie entsprach dem Kämpferpathos, das seit langem in ihm brodelte. Der Titel seiner nächsten Schrift klang nicht mehr naturalistisch, sondern nationalistisch: »Deutsche Weckrufe«. Da stand nun ernst­ haft und für kommende Generationen unheimlich vordeutend: »Im Geheimnis des Blutes und des Bodens ruht das Geheimnis der Kunst.« Oder: »Das reine, schöne, starke Bild der Menschheit ist nicht auf Vermischung gestellt, sondern auf Reinheit, und wo von Reinheit nicht mehr die Rede sein kann, auf Reinigung der Rassen.« 1093 fragt ein Preisausschreiben in der Gesellschaft: »Was ist zur Ver­ besserung unserer Rasse zu tuni« Das Landleben liefert ihm die Bil­ der für seine Gedanken: »Nicht die Menschheit ist da Zeugende, son­ dern das eigensamige Volk«, und: »Mit seiner Zeugungskraft geht sein (des Volkes) fröhlicher Lebenstrotz und Kämpfersinn flöten - es ist schließlich sich selbst, Gott und der Welt eine Last, ein Spott, ein Greuel und ein Scheuei und fliegt zuletzt auf den Misthaufen.« Con­ rads Misthaufen war echter, bäuerlicher, »naturalistischer« als Alber­ tis »Mistgrube«, aber roch nicht besser. Wie es am Ende aussah, erzählt am farbigsten der »Moderne« Max Halbe, der aus Berlin 1895 nach München kam. Schon in jenem Schicksalsjahr 1891, in dem Conrads Projekte wankten, war zur privaten Aufführung von modernen, zensurgefährdeten Theater­ stücken ein neuer »Akademisch-dramatischer Verein« von Studenten gegründet worden, der sich alsbald, mit Berufs- und Laienspielern, an die Arbeit machte. Er führte Ibsen und Strindberg, aber auch die jüng­ sten Zeitgenossen, Halbe, Panizza und Wedekind, auf. Als Halbe kam, wurden gerade »Die Gläubiger« von Strindberg gegeben. Er be­ richtet: »Eine kleine Auslese der Münchner Gesellschaft war geladen und erschienen. Man erblickte auch das Löwenhaupt von Michael Georg Conrad darunter, der als der berufene Führer unserer jungen 62

Generation nicht fehlen durfte.« So weit war es damals schon, er war eine Art Ehren-Mitglied, »auch dabei«. Neu hingegen im Kreis der zu den »Gläubigem« Geladenen war jener Münchner Autor, der die >Regierungsgeschäfte< der Münchner Theaterwelt gern in seine Hand genommen hätte, ausnahmsweise ein Ur-Bayer namens Ruederer, ein echter Münchner sogar und dazu vermögend, unabhängig. Das Wort für seinen Anspruch, das er sel­ ber vermutlich lancierte, hieß »Nebenregierung«, und es ergab sich aus der Sache selbst, daß diese Nebenregierung Boden gewann nicht so sehr gegen das Ancien Régime von Paul Heyse, sondern gegen Conrad und seine Freunde, soweit sie nicht einfach zu der neuen Gruppierung übergingen. Ruederer (den man nicht mit ü schreiben darf, denn altbayerisch war das u vom e zu trennen) war ein leiden­ schaftlicher Egomane, ein bayerisch hinterfotziger Intrigant, aber auch ein glänzender Kenner des Milieus. Als einer der ersten hat er die bayerische Besonderheit des Spezlwesens genau und kritisch­ wohlwollend beschrieben. Vor allem konnte er eigene Theaterstücke beisteuem, die dörfliche »Fahnenweihe« und die historische »Mor­ genröte«, ein Lola-Montez-Stück mit echtem Bierkrawall, das aber dann die bayerische Regierung beleidigend fand und verbot. Fünf Jahre nach Ruederers Start kam es dann - ohne Conrad - bei Heyses siebzigstem Geburtstag zu der von Halbe genießerisch ge­ schilderten Aussöhnung zwischen den Modernen und dem Dichter­ fürsten: Der Strom der Besucher in den blumengeschmückten Räumen des Dichterhauses, deren antikisierender Geschmack eine unverkennbare Analogie mit Weimar zeigte, wollte... kein Ende nehmen. Die hohe, im­ mer noch jugendliche Gestalt des Hausherrn war von Kindern und En­ keln, von Verehrern und namentlich Verehrerinnen aller Semester um­ ringt. Seine Liebenswürdigkeit... war echt und mußte die Herzen gewinnen. Erst als ich ihm so gegenüberstand, ging mir das Geheimnis seines Lebenserfolges auf. Ich bin nachher noch zu öfteren Malen bei ihm gewesen, nicht nur in München, sondern auch in seinem lichten ita­ lienischen Hause am Gestade des Gardasees, und ich bin in den Unter­ haltungen mit ihm einer großen verstehenden Klugheit und mensch­ licher Güte begegnet...

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■Feuerkopfi Michael Georg Conrad, Dichterfürst Paul Heyse und Georg Hirth, Verleger der Jugend - drei Prota­ gonisten der Jahrhundertwende in München. Conrad kämpfte gegen die schöngeistige Dichtung Heyses und seiner Generation, Hirth trat mit fünf­ undfünfzig für die Sezession und für jugendliche Frische in der deutschen Kultur ein. Aber der Weg in die Mo­ derne war noch lang - beide verrieten sich in ihrer Sprache als Söhne des alten Jahrhunderts. Im Jahre 1900, bei seinem siebzigsten Geburtstag, war Heyse immer noch der väterliche Mit­ telpunkt der literarischen Gesellschaft Münchens.

Max Halbes Fazit: »Man mußte ihn nehmen, wie er war: bei aller Selbstgefälligkeit ein aufrechter und freimütiger Mann, ein uner­ müdlicher Arbeiter, ein klarer, formender, wenn auch vielleicht nicht allzutiefer Geist, ein unerschrockener Künder noblen Menschen­ tums.« Solche Sätze sind über Conrad kaum zu finden. Bei ihm siegte das Bäuerliche über Paris, das Nationale über die Anflüge von Kosmopo­ litismus, das Gemüt über die Beobachtung. Sein Romanschreiben, einmal angefangen, lief auf neuen Gleisen weiter, ein Roman spielte zukunftsfroh im dreißigsten Jahrhundert, ein anderer war dem Mär­ chenkönig Ludwig II. gewidmet, ein dritter versank im Ländlichen und beschrieb leicht boshaft das heimische Gnodstadt unter dem Namen Bullendorf. Conrad schrieb nun für den Ochsenfurter Stadtund Landboten und für den Uffenheimer Kirchenboten, er plante einen >Volksbund für evangelisch-kirchliches Leben im deutschen VolksstaatZarathustra< erfand, war weithallende Wirkung vorgesehen und wurde erreicht. Das Männer- und Heldenpathos, das in jeden Pro­ grammsatz des wackeren Conrad eingeflossen war, hier wurde es auf die Stufe eines neuen Evangeliums gehoben. Der Zarathustra war - endlich - zeitgemäß. Im Januar 1889 wurde Nietzsche ins Irrenhaus gebracht. Es ist das Jahr, in dem Gerhart Hauptmanns erstes Stück >Vor Sonnenaufgang' aufgeführt wurde, 1890 sind Stefan Georges »Hymnen« zu verzeich­ nen, 1891 Wedekinds »Frühlings Erwachen«, 1892 Hauptmanns »Die Weber«, 1893 Halbes »Jugend«. Im Sommer 1888 war Wilhelm II. deutscher Kaiser geworden, das »Wilhelminische Zeitalter« begann. Nietzsche in Turin auf dem Weg 68

in den Wahnsinn plante, dem neuen Herrn in Deutschland seine Schrift Der >Antichrist< zu schicken. Der Kaiser hatte sich ihm als anti-antisemitisch empfohlen. Aber Wilhelm schwenkte bald auf die alte Linie ein, und in den Wahnsinnsbriefen, die Nietzsche Anfang Januar 1889 versandte, wurde der Kaiser samt Bismarck und allen Antisemiten durch Erschießen aus dem Wege geräumt. In eben diesem Jahr 1889 kam in Braunau Adolf Hitler auf die Welt, und im Jahr 1900 traf als Emigrant in München Wladimir Iljitsch Uljanow ein, zusammen mit seiner Frau Nadeschda Krupskaja, die er in der Verbannung in Sibirien kennengelemt hatte, der Revolutionär, den wir unter dem Namen Lenin kennen. In München befand sich die Redaktion der illegalen Zeitschrift Iskra (Der Funke). Lenin und seine Frau wohnten zuerst bei einer deutschen Arbeiterfamilie, dann zogen sie in einen Neubau in Schwabing. Lenin arbeitete an seiner berühmten Schrift >Was tuni«, eine Frage, die er selbst am Ende dra­ stisch beantwortet hat. Als der Münchner Druckerei die Sache brenz­ lig wurde, zogen die Uljanows wieder weg, nach Zürich, das frei­ heitlicher war, aber weniger gemütlich. Als 1905 in St. Petersburg eine friedliche Demonstration von rus­ sischen Truppen blutig unterdrückt wurde, wurde in München zu ei­ ner Solidaritätskundgebung aufgerufen, die unter anderen von Josef Ruederer, von Max Halbe, von Stuck und Defregger unterzeichnet wurde. Conrad war nicht mehr dabei.

TEIL II SCHWABINGER BEOBACHTUNGEN: FRANZISKA REVENTLOW UND

IHRE FREUNDE

4. KAPITEL FRANZISKA IM PECH

Ich bildete mir ein, mein Leben müßte etwas Fabelhaftes, Großes und Reiches werden, aber es geht mir alles wieder in Trümmer...

und wollte keine mehr sein. Als sie aus ihrer Heimatstadt Lübeck im Jahr 1893 nach München kam, hieß sie aus eigenem Entschluß Franziska Reventlow, das >zu< war weg, die Gräfin abgelegt, der alte gräfliche Vorname Fanny - die kindliche Form von Franziska, ohne das schwer zu sprechende r - ins Bürger­ lich-Erwachsene übersetzt. Sie wollte endlich jemand sein, sich ent­ falten aus eigener Kraft, nicht hochgetragen vom Stand und Standesbewußtsein. Vielleicht würde sie berühmt werden, als Künstlerin und als Frau, nicht als Gräfin jedenfalls. Wie es so kommt, wurde sie gerade deswegen als >die Gräfin«, auch mit dem Zusatz >die tolle Grä­ fin«, in München bekannt wie der bunte Hund. Ludwig Klages, ihr er­ habenster Liebhaber und Freund, nannte sie nur >die Gräfin« oder >Fanny«, und als Contessa hat sie ihre letzte Ruhestätte gefunden, auf dem Friedhof von Ascona im schweizerischen Kanton Tessin. Sie hatte mit ihrer Familie gebrochen, oder die Familie mit ihr, sie war, mit einem Lehrerinnenexamen als Abschluß, in die Besitzlosig­ keit hinausgestoßen, fest gewillt, sich heraus- und heraufzuarbeiten. Und so hat sie es denn auf vielerlei Weise versucht, als Malerin vor allem, aber auch das Schauspielern hat sie ausprobiert, die Massage und die Hinterglasmalerei, das Gitarrenspiel und das Ladengeschäft, und wenn es ganz schlimm kam, nahm sie auch Geld für das, was da­ mals »Liebe« hieß und heute »Sex«. Immer war ihr die Gräfin dabei im Wege, ein Zug von Dilettantismus und Caprice, von Unernst und pu­ bertärem Großtun spielte mit, und erst ganz allmählich fand sie zu ihrem eigentlichen Talent, dem Schreiben. Es begann mit den Brie­ fen, die sie mit ihrer ersten Liebe, dem Primaner Emmanuel, wech­ selte, setzte sich in dem Entschluß fort, ein Tagebuch zu führen, und SIE WAR EINE GRÄFIN

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wurde emsig, aber widerwillig eingeübt in dem, was sie als Brotberuf betrieb, im Übersetzen französischer Romane. Sie hatte ein ununterdrückbares Bedürfnis, sich auszusprechen, ihre Gefühle zu offenbaren, die zwischen Hoffnung und Verzweif­ lung, Freundschaft und Mutterglück, Tollheit und Mattheit, Viel­ männerei und Einsamkeitsbedürfnis pendelten. So brachte sie, un­ bekümmert, aber doch im Schreiben und am Schreiben lernend, als erstes das Meisterwerk der Tagebücher zustande, dann ihren Le­ bensroman »Ellen Olestjeme« und ihre heiteren Erzählungen, und ganz am Ende, als sie längst aufgehört hatte, die tolle Gräfin zu sein, einen Meisterroman mit dem spannenden Titel »Der Selbstmordver­ ein« . Dieser Roman wurde nicht ganz fertig und verpaßte nur deshalb die Chance, neben die Werke des großen Autoren zu treten, der die Gesellschaft der wilhelminischen Zeit mit der liebevollsten Genau­ igkeit geschildert hat: Theodor Fontane. Wer alles von ihr und über sie gelesen hat, ist eher verwirrt als auf­ geklärt. Wenn er sich selbst zu einer Darstellung aufrafft, wird leicht eine jener modernen Zeichnungen daraus, bei denen ein Gewirr von Strichen die Konturen eher verdeckt als bestätigt. Der LudwigKlages-Biograph Hans Eggert Schröder zum Beispiel hat sich die größte Mühe gegeben, sie vor dem Verdacht in Schutz zu nehmen, sie sei eine »Lebedame« gewesen und hat sie als »große Liebende« modelliert. Aber tatsächlich war ein Element ihres Lebens und ihres Lebensplanes, daß sie sich amüsierte, mit Champagner und allem Zubehör, mit Männern, mit »rauschender Ballnacht< und täglichem Cafehausbesuch. Der Autor Schröder schreibt, daß bei näherer Prüfung die Män­ nerliebe immer nur das unbefriedigende Surrogat »für eine weltum­ spannende und recht eigendich objekdose Lebensliebe« gewesen sei. Er zitiert ihren sehr typischen Satz: »Es ist alles so sonderbar, so ein schmerzlicher, herrlicher Reichtum nach allen Seiten. Mir ist manchmal, als ob ich reicher wäre, mehr umschließen könnte mit meinen Armen als alle anderen Menschen...« Sie war eine geniale Frau, ein Genie der Weiblichkeit. Und in der aufrührerischen Stimmung, die sie als »Trotzkopf« und »Wildfang« in ihrer Mädchenzeit eingeübt und im Lübecker Ibsen-Club zeitgemäß untermauert hatte, entwarf sie ihre Sicht auf das Leben, zu der auch gehörte, daß nun, um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, eine. Frau es mit den Männern genau so treiben könne, wie es bisher nur 74

Franziska Revendow um 1895. Zu die­ ser Zeit beginnt sie ihr Tagebuch, ein unvergleichliches Zeugnis der Schwa­ binger Künstler- und Literatengcmeinschaft.

die Männer mit den Frauen getrieben hatten, als große Versuchsan­ ordnung. Es war ein aufregendes Experiment: Eine weibliche Eigen­ schaft, die in Jahrtausenden der Männerherrschaft herangewach­ sene, auf Schamgefühl und >Lebensklugheit< beruhende Sittsamkeit, war einfach abzuwerfen, in einem sprudelnden Drauflos, das den Horizont des Lebens unendlich aufreißen würde. Das fröhlich überschwengliche München, die Kunststadt, die Fa­ schingsstadt, wo die Fessellosigkeit, so hieß es, herrschte, schien der richtige Ort, die Malerei das rechte Handwerk - aber ach, die Ver­ hältnisse waren nicht so. Selbst heute, im Zeitalter der sexuellen Revolution, könnte eine Frau >von Stande«, wie man damals sagte, nicht so loslegen, nicht so unbekümmert von einem Männerarm in den nächsten sinken wie Franziska. In ihrer totalen désinvolture kam noch einmal die aristokratische Großzügigkeit gegenüber dem bour­ geoisen Biedersinn zum Ausdruck, die grandiose Geste des Alles oder Nichts, und sie selbst war der Einsatz, den man gewinnen konnte. Sie verlor und wurde nicht klüger. Daß sie nicht klüger wurde, macht sie unverwechselbar, Franziska im Pech und dennoch unverzagt.

SIE ZOG AUS, die Mär vom wohlerzogenen jungen Mädchen zu widerlegen. In dem großen Schloß vor Husum im höchsten Norden des neuen Deutschen Reiches fing sie als ein normales «Trotzköpf­ chen« an. So hieß das in der verniedlichenden Sprache der Familien­ blätter, und es ging doch bei ihrem Widerstand gegen die Mutter um nichts Niedliches. Adelsstolz, Etikette, das war das eine, wogegen sie anlief. Aber wenn man den autobiographischen Roman «Ellen Olestjeme« aufmerksam liest, stößt man auf einen ganz anderen Muttertyp, auf die verbissene und verbitterte Hausfrau, die ein ganzes Schloß bewirtschaften muß, mit den eingeimpften Haus­ frauenbegriffen, die nirgendwo ein Stäubchen dulden. Dazu kommt: Franziska hatte viele Geschwister, aus allen sollte etwas werden, also mußten alle in Reih und Glied bereit stehen, folgen, und Fanny tanzte aus der Reihe, war das schwarze Schaf, hatte nur Unfug im Kopf, trieb es als Mädchen toll, wo doch höchstens Jungens über die Stränge schlagen durften. Wo sie auftauchte, reizte sie auch die an­ deren zum Ungehorsam. Also halfen nur drakonische Strafen, half nur der blanke Haß der Mutter auf die Unbotmäßige, die das Kon­ zept verdarb, half am Ende nur das Internat, wo die Pröpstin regierte, 76

'oder später das Pfarrhaus, wo der Pfarrer dann viel zu milde war. Als man nach Lübeck umzog, in die Stadt, war erst recht keine Hoffnung mehr, knüpften sich überall unkontrollierbare Verbindungen, das Mädchen war neunzehn, du lieber Gott, bald großjährig, dann wür­ den sich die Wege trennen. Der Vater, preußischer Landrat im Ruhe­ stände, war vielleicht zu gewinnen, aber er hielt Distanz, ließ seine Frau gewähren, das war hoffnungslos. Franziska nannte die beiden »die Greise«, sie war gänzlich undiplomatisch, sonst hätte sie ver­ sucht, den Vater auf ihre Seite zu ziehen. In Lübeck findet sie endlich das Gegengewicht, die andere Seite, die neue Richtung: Die jungen Leute, die sich da treffen, nennen ihre Zusammenkünfte den Ibsen-Club. Bei Ibsen liegen die Familienkon­ flikte bekanntlich auf dem Tisch, vor allem die >Lebenslüge< des Brav­ seins, die vorgespielte Korrektheit, die alle Gebrechen und Verbre­ chen der bürgerlichen Moral übertüncht. Franziska hat nur ihren Bruder Catty, der ihr hilft, und - endlich! - einen Freund, mit dem sie Küsse und Briefe, Umarmungen und Geständnisse wechseln kann, einen jungen Mann, den sie blindlings verehrt, der Bescheid weiß, der das große unbenannte Verlangen in ihr durch seine Liebe stillt. Er gibt ihr die Gelegenheit, nach dem Inhalt dieses verzehrenden Seh­ nens zu forschen, dem Lebenshunger nachzuspüren, der nicht weiß, wo und wie man zubeißen muß. Und dann läuft doch scheinbar alles so, wie es bei ordentlichen Familien zu laufen hat. Von Adel ist zwar keine Rede, aber doch von einer guten Partie. Ein Gerichts­ assessor wird sie befreien, hält um ihre Hand an, die Verlobung fin­ det statt, und gleichzeitig wird ihr regelmäßig ein halbes Jahr Urlaub eingeräumt, FREIHEIT großgeschrieben, zum Malstudium in Mün­ chen. In >Ellen Olestjeme< wird sie zu einer Tante geschickt, die eine Malerin kennt, »eine Künstlerin, die in München und Paris gewesen war, ein Wesen aus einer ganz anderen Welt. Und wie die Malerin da herumging zwischen all den beschränkten Leuten und nur in ihrer Kunst lebte, fing Ellen an zu ahnen, was das sein müßte«. Franziskas Tagebuch, wie es im Druck vorliegt, beginnt am 18. Fe­ bruar 1895, nach der Heirat mit Walter 1894 und mit der zweiten Münchner Lehrzeit. Sie hat gerade die Tagebücher der russischen Malerin Marie Baschkirtscheff gelesen, die mit vierundzwanzig starb, und vierundzwanzig ist sie auch. Franziska schreibt über sie: »Sie hat den Schauder genialer Naturen vor dem Anfassen des wirk­

liehen Lebens und sagt: Je ne suis ni peintre ni sculpteur ni musicien ni femme ni fille ni amie.« Das paßt auch auf sie, die Dilettantin ist und bleibt, und genial nur im Dilettieren. Ein paar Tage später sieht es schon anders aus. Sie hat Maupassant gelesen und notiert: »Das weckt die alte Sehnsucht nach dem liederlichen Leben in mir auf«, und alsbald wieder gegensteuemd: »Das heißt, jetzt will ich meine Zeit, Kraft usw. nur noch für die Kunst.« Aber schon folgt der Seuf­ zer: »Aber die Jahre, die ich verloren habe. Der Champagner war da, doch du trankst ihn nicht. - Und mich reuen die Sünden, die ich nicht beging.« In ihrem Leben stehen die Kunst und die Erotik zusammen. Bei­ des sind Expansionen, Ausflüge ins Unbekannte, Rausch und Er­ fahrung, und dazu genügt nicht ihr Mann (»ich ertrage es nicht ohne ihn - sonderbar - und mit ihm ertrug ich’s auch nicht«), es müssen die Männer sein. Sie nimmt sich die Freiheit der Männer: Der Hüb­ sche jetzt verdrängt den Stattlichen von gestern. Aber sie bleibt weib­ lich darin, daß sie die, die ihr es einmal angetan haben, nie ganz ver­ gißt. Ein paar gescheite Männer, die sie sucht und findet, liefern ihr das Stichwort für die ungewöhnliche Karriere, die sie zwischen Kunst und Männerfreundschaft lebt. Da sind die >KosmikerWas Frauen ziemt«, aber der Herausgeber der Zürcher Diskussionen, wo ihr Aufsatz 1899 erschien, Oskar Panizza, stellte die Frauentypen scharf gegeneinander: >Viragines und Hetären«. Es war ein Plädoyer für die freie Liebe, das moderne Heidentum nach dem Modell jener Hetären genannten griechischen Damen, die mit Feldherren und Philosophen anregend zu plaudern und liebeskundig beizuschlafen wußten. Ihr Beitrag ist geistreich und nicht ohne Humor geschrieben. Tref­ fend ist ihre Schilderung des Tatbestandes, der Lage der Frau am Ende des Jahrhunderts, wo es nur darum ging, »daß sie sich ihren tadello­ sen Ruf bewahrt und einen gutsituierten Mann, also eine auskömm­ liche Versorgung, bekommt«. Zu Hause ist sie »Nutzobjekt« oder 78

»Dekorationsgegenstand«, und »etwaige Freiheits- oder Lustbestre­ bungen werden rechtzeitig unterdrückt«. Anderenfalls wird das räu­ dige Schaf baldmöglichst aus der Gemeinde entfernt, »zur Freude der Gottlosen, denen ein Sünder lieber ist als neunundneunzig Ge­ rechte.« SUCHT lockere Verhältnisse, auswechselbare ge­ scheite Freunde, die es auch einer Frau zubilligen, daß sie manchmal einen wahren Heißhunger auf einen Partner hat und ein andermal kühl ist bis ans Herz hinan. Aber was in München so herumläuft, kann ihren Ansprüchen nicht genügen und selten dienen. Sie möchte Bohème, aber im Grunde gibt es keine. Ein schönes Buch (von Her­ mann Wilhelm) stellt sie vor, die Münchner Bohème um die Jahr­ hundertwende, aber auf dem Titelbild sind nur Herren zu sehen, fünf an der Zahl, kaffeetrinkend um einen Tisch versammelt. Zwei von ihnen tragen einen Bart, zwei einen Kneifer, einer ist der blonde Recke namens Michael Georg Conrad. Auf weiteren Bildern auftau­ chende Frauen sind Gattinnen oder Schwestern, und wenn allein, Wirtinnen oder Sängerinnen. Ein Bühnenkuß zeigt Wedekind, natür­ lich mit Gattin Tilly. Erst im Hinterzimmer des Simplicissimus ist eine gemischte Gesellschaft zu sehen, und ein Herr legt sogar den Arm um die Schulter einer Dame, die womöglich seine Frau ist. Kurz und gut, wo auch nur ein Photograph dabei ist, hat es sittsam herzu­ gehen. Franziska muß sich selbst den Kreis zusammenbiegen, von dem sie träumt. In Paris, viele Jahrzehnte vorher, bestand die Bohème des Quar­ tier latin oder vom Montmartre aus dem Künstlervölkchen, aus Ma­ lern in Dachstuben mit Schneidermamsells als Freundinnen. Die Münchner Maler saßen in Bierkellem und Biergärten, langsam und genüßlich ihr Bier trinkend, philosophierend oder Männerwitze tau­ schend und ihr Begehren an den Kellnerinnen kühlend. Franziska hat in diesem Milieu verständlicherweise nur ganz wenige Freunde ge­ funden (einer war wenigstens polnischer Adel). Ihr Ambiente war am Rande der Universität angesiedelt, Privatgelehrte gehörten dazu, in deren Köpfen es rumorte, und zur Not, in der Not, ein paar Leut­ nants, jung, feurig, fesch, die sich zu benehmen wußten, auch wenn sie nicht immer Gebrauch davon machten. Daß sie >die Gräfin« bleibt, wenn auch >die tolle«, daß sie Welt­ dame sein will, wenn auch manchmal der Halbwelt verdächtig nahe,

FRANZISKA

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Als unverheiratete Mutter setzte sich Franziska Rcvcntlow über die Moral­ vorstellungen ihrer Zeit hinweg. Doch für die Dichter um Ludwig Klagcs wurde sie zur heidnischen Madonna, zur Heiligen ihrer ’kosmischen' Reli­ gion.

zeigt sich mitunter in ihrem Snobismus. Ihre Äußerungen etwa über die >Zugeherinnen< genannten Haushaltshilfen lassen an schnoddri­ ger Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Wenn sie etwa das Mädchen Christa einweist in ihre Tätigkeit, jammert sie: »Das war ein Stück Arbeit, besonders das blöde Angrinsen dieser Klasse zu er­ tragen respektive abzugewöhnen.« Die bescheidenen Hotelunter­ künfte in Hohenschäftlarn über der Isar nennt sie »die typischen Sommerfrischen des schiefgetretenen, lahmen, buckligen, verküm­ merten Kleinbürgertums... lauter mißratene Gestalten, die man ein­ stampfen sollte, statt sie wieder aufzufrischen. Pfui Teufel.« Das Am­ sterdamer Judenviertel wird mit einem »Brrl« abgetan, und in Amsterdam findet sie »das gleiche Kroppzeug, das überall herum­ läuft.« Auf der anderen Seite: Zu den Adligen ihrer alten Sippe hat sie nie zurückgefunden. Sie blieben die »Aristokratenbande«, die einmal fest zusammengehalten hatte, um sie aus dem Haus zu jagen. Zwar waren ihre Reventlows aus dem Schloß vor Husum nach Lübeck ge­ zogen, in die Stadt, aber es blieben die anderen, Bruder Ludwig auf Gut Wulfshagen, Bruder Karl - einst ihr Catty und doch familien­ treu gegen sie - auf Damp, ihr Onkel Georg auf Kaltenhof, Cousine Carmen auf Noer und die Tanten im Adelsstift Preetz. So verzweigte sich die Familie weiter über ganz Deutschland, und es stand fest (aber man sprach nicht davon), daß Fanny-Franziska niemals eine stan­ desgemäße Partie machen werde. So war es, so blieb es, und viel­ leicht aus Trotz, oder im Notstand, nahm sie 1911, fast vierzigjährig, einen versoffenen baltischen Baron, der sie auf eine Erbschaft hoffen ließ. Not kennt kein Gebot, und so schrieb sie 1916, als auch das bal­ tische Abenteuer sang- und klanglos ausgegangen war, ihrem alten Freund Fritz Stern: »Wenn ich sehr unglücklich bin, gehe ich nach Ascona und lasse mich von Soldaten umwerben. Einer, welcher Metzger und Gastwirt in St. Gallen ist, hat mir einen Heiratsantrag gemacht!« Das ist ein Scherz, der die bitterste Wahrheit verbirgt. Nach den Maßstäben ihrer Zeit war sie nie eine gute, zum Schluß aber nicht einmal mehr eine annehmbare Partie. Doch sie hatte ihr Kind, den Bubi, den sie nach dem einzigen Vet­ ter, der wie sie zum ungebundenen Leben neigte, einem BrockdorfRantzau, Rolf genannt hatte. Sie vergötterte das Kind, umgab es mit all ihrer Zärtlichkeit, und wenn sie die Vaterschaft verheimlichte, so auch, um ihrerseits als eine neue Madonna verehrt zu werden, eine 81

»heidnische Heilige«, wie Freund Klages sagte. Das Christentum war ja abgetan, entschieden aus der Mode, und waren nicht in den frühen heidnischen Tagen Kinder gleich serienweise von den Göttern ge­ zeugt worden< So nannte sie den süßen Kleinen das >GöttertierMamai< lästig, aber niemals von ihr in den Winkel ge­ stellt. Wer sie wollte, mußte erst Bubi gewinnen. Indem sie die »Suche nach der Vaterschaft« untersagte, bezog sie gleichzeitig Stellung gegen das Institut der Ehe, das alle nichtehe­ lichen Verbindungen mit dem Bann belegte. Ihr Hetärentum schaffte Platz für die andere Seite der Frau, die Mutterrolle, und demon­ strierte, daß es auch ohne den schützenden Gatten und gütigen Ernährer ging. Die Parole hieß: Zähne zusammengebissen und durch. So führte die gewesene Gräfin zu Reventlow jenes sorgenund abenteuerreiche Leben, in dem der Geldmangel und der Zwang, welches zu verdienen, zu dem sonderbaren Resultat führten, daß sie - nicht, wie sie wollte, eine Malerin, sondern wie sie nicht wollte - eine Schriftstellerin wurde. Natürlich hatte sie Gedichte geschrieben, in ein Posiealbum, wie es damals Brauch war für höhere Töchter, natürlich war sie literarisch interessiert, las, was damals en vogue war, Ibsen und Dostojewski, den >Rembrandtdeutschen< und den >ZarathustraKunstecht< übers Land, aber Stilrichtungen, Maltechnisches, Diskussionen über Kunst, Begegnungen mit namhaften Malern kommen bei ihr nicht vor. Sie malt voll Eifer und findet doch am Ende, daß sie nur geschmiert habe, daß das »riesenhafte Wollen« die tausend kleinen Schritte nicht er­ setzt. Sie versucht Hinterglasmalerei, übt Gitarre und Geige und muß doch, um ein bißchen Geld zu verdienen, Übersetzungen machen, aus dem Französischen, das sie als junge Aristokratin perfekt gelernt hat und das sie an einem ihr so sympathischen Autor wie Maupassant ausprobieren kann. (Daneben: wieviel reine Brotarbeit!). Wenn die Malerei sie in die Sackgasse des ewigen Herumprobie­ rens geführt hat, dann entfaltet sie dafür eine andere Liebhaberei bis zur Vollkommenheit, oder, wie man damals bei den Kosmikem sagte, ins »Enorme« : das gesellige Talent, sowohl für die feinen Leute, le monde, wie für die höhere Bohème, die intellektuellen Kreise, in de­ nen sie als eine Art Star weitergereicht wird. Mitten in den intensiv­ sten Liebschaften hat sie auch das gesellige Beisammensein, Einla­ dungen, Treffen im Caféhaus und Restaurant, Fest und Fasching mit Lust und Leidenschaft organisiert und animiert. Die Bohème, die sie berühmt gemacht hat, ist zu einem nicht geringen Teil ihr Lebens­ werk, und sie hat vor allem das Schlüsselwort >Schwabing< lanciert, das den Namen des Stadtteils zum Seelenzustand und Persönlich­ keitstest erhob. Sie erfand die wunderbare Umschreibung »Wahnmoching« für diese imaginäre Örtlichkeit, und sie hat in >Herm Da­ mes Aufzeichnungen« unübertrefflich festgehalten, wie es damals in den Salons und in den Köpfen aussah. Sie war eine hübsche Person und blieb lange jugendlich. Ihre Nase war griechisch, ihre blauen Augen standen groß und still, ihre Lippen waren geschürzt, aber worin sie alle anderen schlug, war der Klang ihrer Stimme, die Grazie ihrer Konversation, die Gewandtheit, mit der sie Tiefgründiges auf die schnelle Formel brachte oder in einen Scherz verwandelte, ihr exkiamatorischer Bewunderungstil und ihr diskreter Klatsch. Das brachte ihr zahlreiche Liasons ein, aber die 86

Zweisamkeit lieferte alsbald auch die Konflikte, das, was sie in hüb­ schem Französisch die froissements nannte - man reibt sich anein­ ander. Verklärende Erinnerung half ihr dann wieder, Zerwürfnisse auszugleichen und zu überwinden. Sie hat die Struktur ihrer Bezie­ hungen selbst in einem Brief an Freund Klages (vom 31. August 1901, sie war gerade dreißig geworden) ziemlich genau umschrieben: »Ich will ja um Gotteswillen nicht jemand gehören oder daß jemand mir gehört, aber ich will doch alle haben oder wenigstens immer einen haben, der mehr um mich ist und sich um mich dreht.« Daran schließt sie einen verräterischen Vergleich: »Es kommt mir vor, als ob ich keine Sonne wäre, wenn sich nicht alles Mögliche um mich dreht.« Die voraussehbare Tragik ihres Lebens bestand darin, daß kein Mensch gern dauernd als Planet im Kreise läuft. Auch sie hat sich um niemanden gedreht.

5. KAPITEL RENÉ (MARIA) RILKE:

OKTOBERFEST UND STIGMATA

RILKE TRITT NUR KURZ in Franziska Reventlows Leben ein. Sie

ahnt vielleicht das Besondere an seinem Dichtertum, aber sie kann oder will ihn nicht halten, ein schönes Mannsbild ist er nicht. Er, ein noch völlig Unbekannter, wittert und schnuppert, läßt sich herum­ reichen, sucht selbst jeden und jede auf, die ihm helfen können, be­ kannt zu werden, und stößt kurz nach der Begegnung mit der Gräfin (er schwärmte für Adel, aber freilich nicht für deklassierten) auf die Frau, die ihn unmerklich, ohne Kommandos und Richtigstellungen, zum großen Dichter erzieht: Lou Andreas-Salome. Rilke riß aus, als er Prag mit seinen Tanten und Cousinen nicht mehr ertragen konnte. Er war fast einundzwanzig. Ende September 1896 kam er nach München und mietete sich in der Blütenstraße ein. Er saß in seinem möblierten Zimmer und schrieb, und was er schrieb, schickte er an Zeitungen und Zeitschriften, an bekannte Namen und einflußreiche Personen, um der zu werden, von dem er wußte, daß er es war: ein großer Autor. Er gab auf eigene Faust und eigene Ko­ sten eine kleine Zeitschrift heraus, die er Wegwarten nannte, weil dem Meister und Magier Paracelsus zufolge die Wegwarte alle Jahrhun­ derte einmal zum lebendigen Wesen wird, und man ging ja auf ein neues Jahrhundert zu. Damals war er noch so schwärmerisch, daß er mit den Wegwarten-Heften moderne Dichtung den Armen oder dem Volk nahebringen wollte. Aber ohne die Reichen und die Gebildeten war für einen armen Schlucker wie ihn derartiges nicht zu machen. Rilkes Wahl - nicht Wien oder Berlin, sondern München - spricht Bände. Hier, nur hier waren die Dichter willkommen, nicht um die Sparte Lyrik aufzufüllen, sondern als Typen, die das Bürgerliche auf den Kopf stellten zugunsten von etwas ganz Hohem oder ganz Tie­ fem, das sich erst in der schöpferischen Phantasie enthüllte. Das Technische, Reim und Rhythmus, beherrschte er von Anfang an, die seltensten Wörter flössen ihm zu, nur der Weg war nicht vorge­ zeichnet, weder im Geistigen noch im Gesellschaftlichen, und in

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München wimmelte es von Anregern und Förderern. So stellte er es sich vor, und so ergab es sich. Zunächst aber war alles offen, und dem >möbilierten Herm< blieb als Ablenkung nur von Zeit zu Zeit der Gang ins Café Luitpold: Man setzt sich zu einem der kleinen Marmortischchen und legt einen Stoß Zeitungen neben sich und sieht gleich furchtbar beschäftigt aus. Dann kommt das Fräulein in Schwarz und gießt so im Vorübergehen die Tasse mit dem dünnen Kaffee voll, o Gott, so voll, daß man sich gar nicht traut, auch noch den Zucker hineinzuwerfen. Dabei sagt man: »Mittel« oder »Schwarz«, und es wird ganz nach Wunsch und Wink: >mittel< oder >schwarzEwald Tragy< und ist auf 62 Großoktavblättem in sorgfältiger Reinschrift er­ halten. Erst nach seinem Tod wurde sie als Jahresgabe 1927/28 der Münchner Bücherfreunde gedruckt. Sie trat zwei lebenden Personen so nahe, daß Rilke das Manuskript lieber für sich behielt. Die eine Person ist ein Herr von Kranz, der Tragys Gesellschaft gesucht hat, um ihm dann im Café fortwährend zu predigen - das, was er seine Weltanschauung nennt, und zwar eine aus der Vogel­ perspektive. Was Tragy am meisten überrascht, ist »das Fertige aller dieser Überzeugungen, die sorglose Leichtigkeit, womit Kranz eine Erkenntnis neben die andere setzt. Lauter Eier des Columbus: wenn eins nicht gleich aufrecht bleiben will, ein Schlag auf die Tischplatte und - es steht.« Für einen Höhepunkt des Gesprächs hat Herr von Kranz die Überschrift bereit: »Wie ich Nietzsche überwand«. Manchmal war­ tet er, bis Tragy etwas sagt, und dieses Warten bedeutet: »Und Sie< Sie haben doch auch so etwas wie eine Meinung von alldem, hof­ fentlich. Weltanschauung um Weltanschauung, bitte!« Tragy-Rilke begreift das nicht gleich, und nun spricht wirklich Rilke selbst, in kopfschüttelnder Verwirrung: »Er steht so mitten in allem, wie tief im Wald, und sieht nichts als Stämme, Stämme, 90

Stämme und weiß kaum, ob Tag oder Nacht ist über ihnen.« Sofort wird Herr von Kranz milde und befiehlt dem Kellner rasch: »Zahlen I« »So feinfühlig ist er«, merkt Rilke an, der hier eine Karikatur nach Münchner Art gezeichnet hat. Wer ist dieser Herr von Kranzi Über das Café Luitpold in jenen Jahren lesen wir: »Während der Jahre 1893-98...dürften wenige Abende gewesen sein, an denen Klages nicht mit irgendwelchen Freunden und Bekannten bis */21 Uhr nachts im Café Luitpold saß, das damals den Haupttreffpunkt jener unruhigen Geister bildete, die mit Werken und Weltemeuerungsplänen schwanger gingen.« So hat Klages selbst über Klages geschrieben und nicht versäumt, seine be­ sondere Begabung zu registrieren, seine »teils in sogleich systema­ tisch gegliederter Folge, teils in epischem Redestrom sich äußernde Innerlichkeit«. Rilke hatte damals schon einen Freund gefunden, der sich als Dichter weniger Sorgen zu machen brauchte als er, weil sein Vater unter Bismarck Finanzminister gewesen war und die Familie zu allem anderen ein schönes Cut am Bodensee besaß: Wilhelm von Scholz. Wer sich an Rilkes Biographie hält, kann den einen oder an­ deren Zug des Herrn von Kranz auch bei dem jungen Herrn von Scholz wiederfinden. Aber die letzte Szene mit Kranz in der Ge­ schichte des Bwald Tragy führt doch zwingend zu Klages’ Träumen zurück. An einem Nachmittag sitzt Herr von Kranz, »bedeutender als je« im Café Luitpold und erklärt dem jungen Freund: »>Solange wir das nicht erreichen, ist nichts. Wir brauchen eine Höhenkunst, lieber Freund, so etwas über Tausende hin. Zeichen, die auf allen Bergen flammen von Land zu Land - eine Kunst wie ein Auf­ ruf. Eine Signalkunst -Quatsch!Ruth< geschrieben hat, und Rilke macht einen ersten Schritt auf sie zu, indem er ihr anonym Gedichte zuschickt. So hat er es auch kurz vorher bei Franziska Reventlow gehalten, die sich freut, »jeden Mor­ gen ein Gedicht im Briefkasten zu finden«. Aber Lou ist ein anderes Kaliber, keine künftige Geliebte (das wurde sie dann auch), sondern eine greifbare und ebenbürtige Part­ nerin. Der Dr. Conrad unseres ersten Kapitels, der demnächst, so hoffte der junge Autor, seine >Christus-Visionen< in der Gesellschaft drucken würde, hat ihn auf einen Essay Lou Andreas-Salomes auf­ merksam gemacht, der den Titel »Jesus der Jude< trägt. Conrad ap­ pelliert an Rilkes Interesse, aber Interesse ist es nicht, so schmeichelt dieser, »sondern ein gläubiges Vertrauen ging mir auf dem ernsten Weg voran, und endlich war’s wie ein Jubel in mir, das, was meine Traum-Epen in Visionen geben, mit der gigantischen Wucht einer hei­ ligen Überzeugung so meisterhaft klar ausgesprochen zu finden«. Wahrhaftig dick aufgetragene große Worte, und so säuselte er wei­ ter »durch diese eherne Kargheit, durch die schonungslose Kraft Ihrer Worte empfing mein Werk in meinem Gefühl eine Weihe, eine Sanktion. Mir war wie einem, dem große Träume in Erfüllung gehen mit ihrem Guten und Bösen: denn Ihr Essay verhielt sich zu meinen Gedichten wie Traum zu Wirklichkeit, wie ein Wunsch zur Erfül­ lung.« So gigantisch Rilkes Komplimente auch ihrerseits sind, so ernst war es ihm doch mit der Beziehung zwischen Lous Essay und seinen Christus-Visionen. Was ihn nämlich ganz deutlich gegen die CafeLuitpold-Runde absetzt, ist eine aus der religiösen Überlieferung schöpfende, sie aber gleichzeitig völlig umformende Welt-Frömmig­ keit und -gläubigkeit, aus der Werke wie die »Geschichten vom lie­ 92

ben Gott« und das »Stundenbuch«, aber auch diese »Christus-Visio­ nen« hervorgegangen sind. Die Umformung war freilich damals so kühn, daß sie leicht als Blasphemie ausgelegt werden konnte. Darum erschienen die »Christus-Visionen« weder in der Conradschen Gesell­ schaft noch anderswo und wurden erst in den »Sämtlichen Werken« 1959 gedruckt. Lous Essay war in der Tat ein Meisterwerk der Einfühlung in das religiöse Genie, eine radikale Weiterführung und Überwindung der Feuerbach-These, daß der Mensch Gott erschaffen habe. Das eigentliche religiöse Phänomen, so Lou Salomé, entstehe erst aus der Rückwirkung einer wie auch immer entstandenen Gottheit auf den an sie glaubenden Menschen. Der Herausgeber des Briefwechsels zwischen Rilke und ihr, Emst Pfeiffer, Lous letzter Freund, bemerkt dazu nicht ohne Schärfe: »Rilkes phantasierte Christusfigur hat mit dem geschichtlich gesehenen Jesus des Lou A. S.-Aufsatzes nichts ge­ meinsam.« Aber was Rilke phantasierte, war eine neue Theologie, die des verlassenen Gottes. Er mußte wiedergefunden werden, zur Not mit der Hilfe und im Gedränge des Oktoberfestes. Rilke und Oktoberfest - das scheint einander auszuschließen. Aber Rilke war in München, verehrte Ganghofer, saß im Luitpold, trug einen Zwicker und trank vermutlich sogar Münchner Bier. »Das war in München beim Oktoberfeste«, fängt die fünfte Vision an, und es reimt sich achtmal auf »-feste«: Die kleinen Mädchen, flüchtig ihrem Neste, durchschwirren keck den lauten Tag zu zwein, und Burschen mit der bunten Lodenweste und ziere Stadtherrn bengeln hinterdrein.

Zweieinhalb Seiten braucht der Poet für seinen Oktoberzauber, dann erst findet er die Bude mit der Inschrift »Das Leben Jesu Christi und sein Leiden«, und erst wieder fast zwei Seiten weiter spricht Jesus am Kreuz:

...Wo sie ein Querholz in den Boden pfählen, dort muß ich hin auf blutigen Sandalen und bin der Sklave meiner alten Qualen, mir wachsen Nägel aus den Wundenmalen ...

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Rilke auf dem Oktoberfest, Kandinsky in Lederhosen - auch die bayerisch­ volkstümliche Seite Münchens hatte ihren Reiz für die Künstler, gerade die zugereisten. Das Bild zeigt das Königs­ zelt auf dem Oktoberfest 1896, in der Zeit von Rilkes München-Aufenthalt.

Er selbst, so berichtet er dem einzigen Besucher in der Jahrmarkt­ bude, ist der alte wandernde und werdende Ahasver, fluchbeladen, mein Blut fließt ewig aus den Nagelnarben, und alle glauben es: Mein Blut ist Wein, und trinken Glut und Gift in sich hinein ... Das war Rilkes Basis: statt modischer Triumphgebärde Melancholie. Aber es gab nun auch statt der Einsamkeit des Dichters im Stübchen eine verstehende Seele, älter, also weiser, und immer noch, mit sechs­ unddreißig, eine bezaubernde Frau. Sie imponierte ihm, er stand oder kniete vor ihr und schwenkte das Weihrauchfaß. Sie sagte, und sie meinte es so: »Ich bin so einfach.« Und er schwenkte noch hefti­ ger: »Dieser Spruch soll der Schlüssel meiner Geheimschrift sein. An jedem meiner Worte rühre mit seiner goldechten Macht, und wie aus einem gotischen Eisenschrein fließt dir daraus entgegen: der fun­ kelnde Strom meiner tausend Zärtlichkeiten.« Und er dichtete fort an seiner Neudeutung des Religiösen. Kate­ gorisch wurde der alte Glaube der Lüge geziehen, um daran an­ knüpfend das Wahre auf den Thron zu heben:

Das log das Mittelalter: daß den Nonnen, Die sich in dumpfen Zellen eingesponnen Im tiefsten Taumel ihrer feigen Wonnen Wundspuren Christi an dem Leibe sonnen ... Heute erst gab es die wahren Heiligen: Die Fremden, die dem Neuen Wege weiten, Die durch die Kämpfe in den Frieden leiten Und aus dem Sterben in die Ewigkeiten Und diese Fremden tragen unbewußt An ihrem Leibe Jesu Wundenbrände: Wegwunde Füße, mühewehe Hände Und jenes wilde Bluten in der Brust...

»Als Dank dafür, daß ich ihr begegnen durfte«, schrieb Rilke diese Zeilen an einem Montag früh, wenig mehr als vierzehn Tage nach der ersten Begegnung, in ein Exemplar seines neuen Gedichtbandes 95

Rilkes Aufenthalt in München war kürzer als ein Jahr, aber von großer Bedeutung für sein weiteres Leben: Hier lernte er Lou Andreas-Salome kennen und folgte ihr nach Berlin, dann nach Florenz. Den Sommer 1897 verbrachten sie in Wolfratshausen, hier mit Lous Mann, Friedrich Carl Andreas, und dem Architekten August Endell.

»Traumgekrönt«. Wir werden der Frau mit den Wundmalen über­ raschend wiederbegegnen. Weil er Lou liebte, verabschiedete sich Rilke von München, denn Lou war in Berlin zu Haus und hatte nur die Freundin nach München begleitet. Man zog schon im Juli von der Stadt aufs Land, Lou, Frieda und René, der sich nun Rainer nannte, und es kamen ein russischer Freund und der Architekt August Endell, der den Münchner Jugendstil erfand und die Schwestern Goudstikker mitbrachte, die in dem von ihm erbauten berühmten Jugend­ stilhaus das Photoatelier Elvira betrieben. Anfang Oktober 1897, zu Beginn der kalten Jahreszeit, wurde München endgültig aufgegeben. Lou Salomé kehrte nach Berlin-Schmargendorf in das Haus ihres Mannes zurück, des Professors Andreas, und Rilke bereitete sich auf die Reisen vor, mit deren Hilfe ihn Lou zum welterfahrenen und weltgewandten Dichter erzog: nach Rußland und nach Florenz. Wir bleiben in München und wenden uns wieder Franziska Reventlow zu, die auch in Rilkes Adressenbüchlein gehörte. Noch bevor sich die Beziehung zu Lou Andreas-Salomé anbahnte, schickte er auch ihr anonym Gedichte, bei ihm offenbar ein nicht ganz unge­ wöhnlicher Weg, Bekanntschaften zu machen. In Schwabing war sie jemand, aber der Augenblick war schlecht. Sie trieb sich wirklich herum, die Geldnot wurde immer ärger, »oft im Stephanie mit allen möglichen Leuten zusammen.« Dann »der Abend mit M., wo S. sich betrank und Rolf stahl, und wir beide uns dann heimlich davon­ machten und von der ganzen Gesellschaft nie jemand wiedersahen ...« Doch, den M. traf sie wieder 1907, er war vier Jahre im Zuchthaus gewesen. »Und dazwischen Rilke.« Ja, so steht es da, und als Nachsatz: »Überhaupt Poesie genug, mit der wir uns das Leben verklären - es ist auch not.« Ist das Ironie, oder wirklicher Trosti Kein Satz folgt über den jungen unbekannten Dichter. Er taucht aber un­ versehens einen Monat später wieder auf, im April am Bodensee, wo sein Freund Scholz auf dem väterlichen Gut weilt. Und am Bodensee nahe Konstanz ist auch Franziska. Sie notiert: »Die Ostertage kam Rilke zu mir, und wir gingen zusammen in der Frühlingswelt herum. Es war mir ganz lieb, denn ich hielt es kaum vor Heimweh aus und war so elend.« Wiederum keine Zeile mehr. Nur von Rilke das Gedichtchen «Konstanz« (in »Advent«) mit der Beifügung »Für F. R.« Einen Monat später war es um ihn geschehen. Aber Franziska Reventlow hatte ganz andere Probleme: Sie war im vierten Monat schwanger und fühlte sich buchstäblich sterbenskrank. Dem Kind 97

sehnte sie sich entgegen und schrieb ins Tagebuch: »O mein Kind. Wenn ich es nur erlebe. Denke viel an den Tod.« Das war die Frau, mit der Rilke durch die Frühlingswelt wandelte, und es bleibt offen, ob er sie mehr bewunderte oder bemitleidete. Es entspann sich ein Briefwechsel, der sich über sieben Jahre hinzog (und von dem nur Splitter veröffentlicht sind). Offenbar war die Kindheit, die Heimat, Husum ein Thema ihrer Frühlingswanderung, denn zwei Jahre spä­ ter - Franziska hatte ihm ein Photo von sich und dem Kind nach Ber­ lin geschickt - entwarf Rilke den fast drei Seiten langen Brief an sei­ nen kleinen »Liebling Rolf«, der mit dem Satz beginnt: »nun ich Dich wiedergesehen habe (und ich habe Dich prächtig und schön gefun­ den...)«. Der Brief war eine lange lyrische Variation über das Thema: »Warum sehnst Du Dich, Franziska, nach Husum, ans Meer, in den Schloßpark deiner Kindheit zurück, wo du dies alles doch in meinen Augen findest«, mit solchen beschwörenden Sätzen wie »Muß ich es Dir denn sagen, daß gerade das meine Sendung war, die zu erfüllen ich mich in Dir erhoben habe, wie der reife Mond aus der weichen Dämmerung der Wiesent« Der Brief schließt: »Sag das alles, mein Liebling Rolf, einmal Dei­ ner Mutter, nicht mit meinen Worten, den hülflosen, weißt Du, in Deiner alltäglichen Sprache, die doch so ohnegleichen ist, daß Dich­ ter und Priester schweigsam werden vor ihrem Angesichte!« Rilkes Erhabenheitsstil wandte sich gern dem Kleinsten und Bescheiden­ sten zu. So war die Schlußwendung gedacht, und er wußte, daß nichts Franziska mehr rühren würde als diese Dreikönigenhuldigung vor dem kleinen Göttertier. In Franziskas Tagebuch kommt dieser Dichterbrief überraschen­ derweise nicht vor. In eben diesem Juli macht Franziska folgende für sich sprechende Eintragung: 10. Juli - Wie ein Verhängnis: Sobald ich etwas Nützliches in amore in­ szenieren will, kommt etwas anderes, worin ich mich verliebe, und die Kreise sind wieder gestört. Die Affäre mitT. N. war gerade im besten Zug nach langem Bemühn, ihn nicht zu unausstehlich zu finden trotz aller seiner Unwiderstehlichkeit. Ach Gott, ist das ein Typ mit seinen Ver­ führerkünsten. Könnte man nur den heillosen Degout loswerden, aber das ist meine schwache Seite. Und im selben Moment muß Billy auf­ tauchen. Man sollte sich solche Intermezzi nicht gestatten, wenn man praktisch sein will. Aber das ist leicht gesagt.

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August Endell gestaltete während Rilkes Zeit in München einen der schönsten Jugendstilbauten der Stadt, das Photoatelier Elvira. Das Haus in der Von-der-Tann-Straße wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.

Rilke beschäftigt zweierlei: ihre Armut und ihr am nordischen Meer gelegenes Schloß. Aus dem Modell der wegen ihres unehelichen Kin­ des verstoßenen Mutter schmiedet er den Einakter >HöhenluftDie Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge« heißt. Der Roman wird zwar unter ganz anderen Umständen, im brausenden Paris, geschrieben, aber die dänische Atmosphäre schnuppert Rilke in Schloß Haseldorf ein, wenn es schon nicht das Schloß vor Husum sein kann. In der Tat stößt er beim Kramen in Dokumenten auch auf eine Gräfin Revent­ low. Genauer: Es ist die einzige Frauenfigur in Maltes Ahnenkreis, die einen Namen führt. Und siehe da, Julie Reventlow trägt an ihren Händen Wundmale wie die des Herrn. Sie ist stigmatisiert. Hat er das gefunden oder erfunden^ Für das zweite spricht jenes Widmungs­ gedicht, das Rilke für die neue Freundin Lou geschrieben hatte. Da wurden die »feigen Wonnen« der Nonnen des Mittelalters jenen »Fremden« gegenübergestellt, die »dem Neuen Wege weiten«, »mit

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wegwunden Füßen, mühewehen Händen«. Sie tragen unbewußt an ihrem Leibe Jesu Wundenbrände. Das paßte auf Franziska und ihren neuen Weg fast besser als auf die sehr viel vorsichtigere Lou AndreasSalome. Sie hatte ihr Kind ausgetragen und sie brauchte keinen Ehe­ mann mehr. Sie mußte von Tür zu Tür laufen und wirklich mit ihrer Hände Arbeit für Brot und Milch sorgen. Und dazu war sie die leib­ liche und geistige Nachfolgerin der vor langer Zeit verblichenen Ju­ lia, eine Heilige des neuen Jahrhunderts. Am 6. Juli 1902, noch aus Schloß Haselhof, schreibt Rilke dem Münchner Friedrich Huch: »Sie ist die einzige Person, die mir aus meiner Münchner Zeit verblieben ist und mir immer bleiben wird.« Er, inzwischen literarisch obenauf und Berühmtes wie die >Buddenbrooks< für Maximilian Hardens Zu­ kunft rezensierend, schreibt dort auch über Franziskas ersten Roman >Ellen Olestjeme«, unter Hervorhebung ihrer »großen Frauennatur« und mit einer Feststellung, die die Männer trifft: »Noch ist es den Männern zu neu..., einen ganzen Menschen zu lieben.«Er zweifelt, was denn eigentlich das Großartigere gewesen sei, dieses Buch oder dieses Leben. Als er »Ellen Olestjeme« las, war er in Rom, in einem kleinen Haus im Park der Villa Strohl-Fem, und von dort berichtete er der Freundin Lou über das Buch und die Frau, die es geschrieben hatte. In diesem Brief brauchte er keine Rücksicht zu nehmen; im Gegenteil, er konnte vermuten, daß es Lou durchaus recht war, wenn er die am Horizont auftauchende Rivalin ein wenig duckte. Es steht da:

Dieses Leben, dessen Hauptwert gerade darin liegt, gelebt worden zu sein ohne Untergang, verliert vielleicht zu sehr an Nothwendigkeit, wenn es von dem erzählt wird, der es gelenkt und gelitten hat, ohne doch daran zum Künstler geworden zu sein. Es sieht auf einmal aus, als wäre der Mensch, um den es sich handelt, gar nicht der Wichtigste in diesem Leben und in seinen Zusammenhängen gewesen, als wäre da, über ihn fort, Leben entstanden, das er gar nicht begriff... Doch vielleicht bin ich voreingenommen und sehe nicht klar, weil das Buch kein so unge­ wöhnliches geworden ist, wie das Schicksal an dem, der es schrieb, reifte, vielleicht auch mußte dieses Schicksal in einem kleinen, kranken Gesicht zusammengefaßt, aufgehäuft auf eine junge, seltsame Frau und täglich getragen von ihr, größer, gewaltiger und unerhörter erscheinen als es im Grunde war; jenes Leichtsinns, der mir nur wie ein glückliches Mimicry erschien, sich im Schweren unauffällig zu verlieren, ist dieses 101

Buch so voll, aber er sieht nun fast wie ein Anpassungsvermögen an das Oberflächlichste und Leichteste aus, an das fortwährende Vergnügen, aus dem nichts entsteht. Und dazu stimmt ebenso viel in meiner Erin­ nerung, wie früher zu dem anderen stimmte, die Briefe aus allen Jahren lassen sich so lesen und so, - und der einzige Ausweg, über das Buch zu sprechen, wird sein, es ohne alle Einflüsse und Erinnerungen zu lesen, so wie es ist.

Dieser Text ist in seiner kühlen Klarheit stupend. Bei Franziska dia­ gnostiziert Rilke Leichtsinn, Anpassung an das fortwährende Ver­ gnügen, und damit trifft er, was in gewissem Sinne ihre Stärke ist und was ihre Unwiderstehlichkeit ausmacht: »Gestern der Ball, gerast und selig.« »Gestern Nachkirchweih, noch viel toller und lustiger...« Um vier Uhr nachts erklärt ihr einer, die Männer seien alle schwach, und ihren Sirenenaugen könne niemand widerstehen. Sie läßt ihn nicht mit nach Hause, »aber dumm war's vielleicht, könnte am Ende mein Glück machen«. Aber dann wieder: »Solche festen Engage­ ments sind nichts für mich. Nur Momente, und dann weg damit.« Als sie mit der Patronin eines Salons von leichten Mädchen spricht, be­ kommt sie’s zu hören: Sie ist einfach zu leichtsinnig für dieses Me­ tier. So zieht sie Bilanz: »Ob es nicht vielleicht das Vollkommenste ist, was wir Menschen erleben können, zugleich einen tiefen nagen­ den Schmerz und die leichte sonnige Freude - eine lachende Liebe und eine dunkle schwere Leidenschaft...« Und wieder eine Wen­ dung: »Wenn ich einmal so mit einem Menschen gesprochen habe, über das Allerheiligste, dann schäme ich mich hinterher und ziehe die Fühlhörner ein.« Durchgehaltener Emst kam ihr irgendwie un­ passend vor. Nur der volle Lebenswirbel entsprach dem, was seit Nietzsche auch die Philosophen lehrten: das Leben als höchster Wert, als einzig verbliebene Offenbarung. Aber Nietzsche, Bölsche, Hartmann, Bergson, wer auch immer das Leben predigte, wagte Tanzschritte nur auf dem Papier. Sie, Franziska wagte den Sprung. Es steckte in ihr drin wie in Katzen, Löwen, Tigern. Nur, die sprangen und springen besser.

6. KAPITEL KLAGES IST DIE HAUPTSACHE«

RILKE WAR EIN ZWISCHENSPIEL, eine kleine gegenseitige Zu­

wendung, die nur unterirdisch fortlief. Sie hatte ihn nicht verführen wollen, oder er hatte sich nicht verführen lassen, das beruht auf dem Ungesagten, Ungeschriebenen. Zwei Jahre später, 1899, fängt die Beziehung mit Klages an. »Ganz neue Menschen«, schreibt sie unter dem 10. August, »Gott, das ist endlich etwas anderes, wie aus einer neuen, aber längst bekannten und vertrauten Welt.« Bildung, Lektüre, Emmanuel, Ibsen oder Nietzsche, so sieht für sie die alte Welt aus. Bei einem Abend bei Friedrich Huch erfährt sie neue Namen. »Klages ist die Hauptsache, kam mich besuchen, neulich nachmittag im Garten.« Am 15. August: »Mit Klages und Busse in Dachau, saßen dort stundenlag im Moos.« Das Mutter- und Hetärenthema steht auf dem Programm, dafür ist sie zuständig. Am 26. August: »Viel mit der Klagesgesellschaft. B. (Busse) ist mir nicht sehr angenehm, aber sie gehören nun einmal zusammen. Am liebsten bin ich mit K. allein, es ist dann etwas so Lichtes.« Und schließlich am 19. September: »Ein wundervoller Abend mit Klages. Ich erzählte ihm fast mein ganzes Leben und auch von Fliess. Das erste Mal, das ich so mit einem Menschen reden konnte. Ich sehnte mich ja immer nach einem Menschen, der fliegen könnte, und ich glaube, er kann es. Wohl mir, daß ich ihn gefunden habe.« Es wird Zeit, daß wir uns nach dieser Hauptsache umsehen. Niemand verkörpert Größe und Elend, Aufschwung und Versagen der Zeit um die Jahrhundertwende besser als er. Er kommt - nach einer Studienstation in Leipzig - aus Hannover nach München, aus dem Hohen Norden, münchnerisch gesehen. Er ist blond, hochge­ wachsen, ein schöner junger Mann. Vor allem: Er ist blitzgescheit, und gerade diese Gescheitheit, sein analytischer Verstand, wird ihm zum Verhängnis. Er braucht seinen scharfen Verstand, um den Ver­ stand zu entthronen, den er irrigerweise Geist nennt. >Der Geist als Widersacher der Seele« ist der Titel seines Hauptwerkes, das viel spä­ ter erscheint, aber in seinem Kopf schon fertig ist. Das Übel, über das bereits damals jedermann seufzte, Technik und Industrialisierung,

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Ludwig Klages (1872-1956) zu der Zeit, als Franziska Reventlow ihn kennennlernte. Als schwärmerischer Dichter-Philosoph verkündete er der Schwabinger Künstlerkolonie seine Heilslehre

sei durch das Kalkül des Verstandes zustandegekommen, predigte Klages, während die Seele, die aus dem Blut und aus dem Schoß der mütterlichen Erde erwächst und aus dem Kosmos den Menschen zu­ strömt, in ihrer heilenden Kraft nicht mehr erkannt werde. Er, Klages, war da, um das Verschüttete und Verschollene wieder ins Bewußt­ sein zu heben, Bild und Symbol statt der Formeln und Experimente, Ausdruck als erfaßbaren Wissensgegenstand. In einer Epoche, in der die Religion brachlag, hatte er als Fünf­ zehnjähriger ein Erweckungserlebnis ganz anderer Art. Ein begei­ sterter Lehrer las den Schülern aus dem stabreimenden Epos >Die Nibelungen« von Wilhelm Jordan vor, einem dickleibigen Werk, das in vier Teilen zwischen 1867 und 1874 erschienen war. Jordan selber, als Rhapsode umherziehend, trug es vor, als sei er ein wieder erstan­ dener germanischer Barde. Der Knabe Klages begann zu dichten, unaufhaltsam folgte ein Text dem anderen, einem Epos über Karthagos Fall ein anderes über Franken und Langobarden, vor allem aber Naturgedichte, in denen es stürmte, donnerte und blitzte. Wotan, der Wütende, der in den Zwölfnächten um Weihnachten mit seinem wilden Heer über den Himmel jagte, war, wenn er »auf den Wolken den ächzenden Wald« durchheulte, das mythische Vorbild; das Germanentum stand für alle früheren Ideale. Klages dichtete:

Mit wirbelndem Stab und magischer Kunst Erschaff' ich den Rappen aus NebeldunstUnd über die Berge, Wälder und Seen Stürm’ ich jauchzend im brausenden Föhn.

Der Vater sah seinem Zaubern durchs Schlüsselloch zu und meinte, der Junge habe den Teufel im Leibe, aber Klages notierte später, und aus dieser Notiz ist abzulesen, wie aus pubertären Phantastereien »Weltanschauung« wurde: »Die Wurzeln meines Wesens reichen in diluviale Vorzeit. Es ist ein Mitfühlen mit den fernsten und totesten Entwicklungsstufen, mit dem Urbasalt, dem Meere, den Wolken und Stürmen.« So wurde er als jemand, dem unsere Erdenwelt nicht groß, nicht reich genug war, wie es ein kritischer Nachfahre ausgedrückt hat, ein »erhabener Spinner«. Das naturwissenschaftliche Studium brach er bald ab. Die Chemie mit ihrem ewigen Probieren und ihrem Verzicht auf das philosophi-

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sehe Hinterland wurde ein Gegenstand seines Abscheus. Da er aber doch, von Hause aus mittellos, von irgend etwas leben mußte, ent­ schied er sich für eine Wissenschaft, die der Intuition einen Ehren­ platz einräumte: für die Graphologie und die mit ihr zusammenhän­ gende Charakterkunde. Klages war es, der später die Graphologie in Erziehung und Berufsberatung, in die Personalpolitik der Betriebe und in die Psychatrie einbürgerte und sie bei den Gebildeten als Ge­ sprächsthema und Liebhabersport durchsetzte. Sein Hauptwerk auf diesem Gebiet, »Handschrift und Charakter«, erschien freilich erst 1917. Vorläufig und für lange Zeit war er ein Stürmer und Dränger. Er füllte Notizbücher, die er »Vom Schaffenden« oder »Wirrwarr« über­ schrieb, mit aufblitzenden Gedanken. Zu den Schaffenden, die er pries, rechnete er sich selber, »der übrige Menschenpöbel, sowie je­ nes Büchereien füllende Register-Wissen der Gelehrten brauchte um meinetwillen nicht da zu sein.«Er grenzte sich gegen die »Tüchtigen« ab und ernannte sich zum »Stimmungsmenschen«. »Diese erreichen selten den Gipfel des Lebens, verbluten oder stürzen ab.« Auch sie »sind eingeklemmt in das allgemeine Menschentum, und ihre fessel­ los schweifenden Gedanken verschieben nichts an dem gußeisernen Gefüge der grob-handgreiflichen Wirklichkeit«. Er zitiert Hölderlins »Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen« und sich selbst: Es funkelt die Höhe - es tanzen die Nebel, Es lächelt des Felsens Medusengesicht. Und Welle auf Welle entwirrt sich dem Glutschein Und Welle auf Welle zerschäumt und zerbricht. Im April 1895 schrieb er einem Freund, er sei ein zu geistiger Mensch, um an den mehr physischen Sensationen robuster Vitalität Gefallen zu finden und darum nur an Künsten und Wissenschaften interes­ siert. Allerdings, fügte er hinzu, »eine gründliche Verliebnis ginge mir über alle Sättigungen der Neugierde«. Leider seien die tieferen Gemächer seiner Seele aber von Stein, Stahl und Eis umhüllt. Er hatte für diese Distanz auch wieder eigene Verse parat:

Blitz entzückt der Wolkenhaft Donner jagt auf Wolkenrossen Du mit aller Feuerkraft Bleibe in dich selbst verschlossen.

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Solche Ermahnungen halfen zum Glück nichts gegen die mensch­ lichen Regungen des damals Dreiundzwanzigjährigen. Es gab in der Pension, wo er wohnte, eine filia hospitalis, die Tochter der Pensions­ inhaberin namens Putti, ein Gschpusi, wie es sich leicht anbahnen ließ. Dann tritt, wie wir hörten, im August 1899 Franziska auf die Bühne und steigt alsbald zur Heiligen der neuen kosmischen Religion auf. Mit ihr kann Klages fliegen. Aber leider will Franziska nicht immer fliegen. Sie will zur Abwechslung Schauspielerin werden, übt, probt und zieht mit jungem Schauspielervolk durch die Lokale. »Klages kann diese Art von Betrieb nicht leiden«, notiert sie am 12. November, »er findet, daß ich mich durch den Verkehr mit Minderwertigen entwerte, begreift nicht, daß sich das alles bei mir von selbst auseinander­ hält.« Klages ist ernst. Er kann die Sache mit den »Buben«, die sie zu zehnt umarmen (und ein elfter küßt ihr noch die Füße), nicht verste­ hen. »Toben« ist für ihn keine Kategorie. Dafür gibt er ihr Selbst­ bewußtsein, warum schreibt sie nicht selber einen Roman, ihren Romani Obwohl die Krankheit sie beutelt und der Karneval sie lockt, faßt sie gute Vorsätze, aber dann lädt Klages’ Freund, Albrecht Hent­ schel, den sie Adam nennt, ein Paläontologe, sie zu Ferien auf der In­ sel Samos, natürlich mit Bubi, es gibt wieder Liebe und Liebesgrollen und ein paar Verse, möglicherweise von ihr selbst:

Hab Dank. Wir waren Mann und Weib Es ist geschehn. Nun lass uns wieder aufrecht gehn Allein und klar. Wir wollen uns nicht trüb gebärden, Wir können jetzt erst Freunde werden Ganz und wahr Eine erstaunliche Vorwegnahme der zwanziger Jahre, so früh und so lapidar hat niemand sonst die neue Liebe und das, was später Neue Sachlichkeit hieß, ausgedrückt. Auf Samos rührte sich ihr Bildungs­ drang: »Möchte noch viel Griechisch und Italienisch lernen, am Ro­ man schreiben, malen, Homer, Shakespeare, Nietzsche lesen...«Das Fazit von Samos: »Adam, der wirkliche Freund. Aber miteinander fliegen können wir nicht.«

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Immer neue Sportarten eroberten sich im zu Ende gehenden Jahrhundert die Gesellschaft. Wie Gerhart Hauptmann aus Skandinavien das ’Schneeschuh­ laufen* mitbrachte, so war nun plötz­ lich von Faris über Berlin bis nach München das Eisläufen en vogue. Die Theresienwiese wurde im Winter zum Lieblingsplatz der Münchner Schlittschuhläufer - auch die Schwa­ binger Boheme traf sich auf dem Eis.

Das Jahr 1901 fängt gut an: »Am 8. Januar vormittags Klages. Fro­ hes schönes Wiedersehen.«, am 12. Januar »Nachmittags Dämmer­ stunde mit Klages und Bubi«, danach nun nicht mehr Homer, sondern Kinderwäsche, dann geht es richtig los: »Nachmittags mit Klages bei Wolfskehl, abends mit Klages, Adam im Salvator, vormittags mit Adam aufs Eis, nachmittags Klages, abends mit Schmitz bei A. Heute zu Adam, kleine Fingerübung, mittags mit Adam und Klages. Mit Klages Schlittschuh, mittags mit Adam im Leopold. Abends mit Kla­ ges, Busse, Rodi und Putti bei Adam.« Das ist die Bilanz eines Monats, vom 19. Januar bis 18. Februar 1901, danach bricht der Karneval aus. Es ist die berühmte Freundesrunde der Kosmiker, und wir stellen kurz vor: außer Klages mit Hentschel (Adam) der Dichter Karl Wolfs­ kehl. Dann Freund Busse, der die Sache mit der Graphologie aufge­ bracht und ausgebaut hat und den sie nicht so gerne mag, weiter Oskar A.H. Schmitz (»Hielt Schmitz einmal für etwas Exquisites, war zweimal allein mit ihm zusammen, da merkte ich, daß er dumm ist«). Sie strahlt: »Und all die herrlichen Menschen jetzt«, aber sie seufzt auch: »Ich mag jetzt überhaupt keine Menschen. Klages, Adam und Monsieur, mehr nicht, alle anderen überflüssiger Nerven­ ballast.« Am 20. Februar trifft sie bei Wolfskehl zum ersten Mal den Dich­ ter Stefan George: »Fast unheimlich, dieser seltsam gebildete Kopf mit den erloschenen Augen. Kommt einem nicht recht wie ein wirk­ licher Mensch vor, trotzdem er lachen kann.« Bei dieser Anmerkung bleibt es, denn George verhält sich der Damenwelt gegenüber di­ stanziert. Immerhin ist Franziska Reventlow jetzt voll aufgenom­ men, am 3. und 4. März ist sie einmal mittags, einmal abends mit Kla­ ges und George im Leopold, zum Jour fixe bei Wolfskehl kommt sie, wann sie will. Am 9. März ist sie mit Klages und Wolfskehl im Leo­ pold, nun eine Hauptperson. Am 10. März überliefert sie das Klages­ wort: »Sie sind eine heidnische Heilige.« Adam nickt Beifall. Sie macht aus ihrem Bubi einen kleinen Heidenknaben, bringt mit ihm den Göttern Opfer dar, einen silbernen Mokkalöffel und ein golde­ nes Amulett (am nächsten Morgen zieht sie beides unversehrt aus der Asche). Später, 1904, spricht sie mit Bubi von den Göttern, »da­ von, was heilig ist.« Sie sucht ihm begreiflich zu machen, daß das Leben selbst heilig ist. Das ist ihre Religion. In Klages’ Religion wird sie schon am 2. März 1901 eingeführt: »Abends mit Klages. Meine mystische Seite. Die drehende Swa-

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Franziska Reventlows Beziehung zu Klages war zwiespältig - in ihm fand sie den verwandten Geist, mit dem sie »fliegen« konnte, zugleich empfand sie sein hohes Menschenideal als Ein­ engung. Leidens- und trostreiche Briefe wie dieser vom 8. Oktober 1901 wechselten nur zu häufig zwischen den beiden.

stika.« Wir fassen den ersten Zipfel der Geheimlehre, die Klages mit seinem Freund Schuler teilt. Swastika heißt im Sanskrit das bewegte Sonnenrad, das sich dann als Hakenkreuz zu Hitlers Siegeszeichen umformt - gegen das christliche Kreuz, in dessen Zeichen einmal Kaiser Konstantin gesiegt hatte. Bei Klages war es noch ein Symbol seiner kosmischen Religion, die den Menschen einband in den großen Naturkreislauf und in den Rhythmus der Erdzeitalter. In der Höhenlage solcher Schicksale und Erkenntnisse war der Menschen­ pöbel, das Milliardengewimmel, nicht mitgemeint. Es fiel nur den Auserwählten, den Erlauchten zu, den >EnormenGräfin< oder >Fanny< nannte, würdig, in sein Heilswesen eingeweiht und zugleich der Person nahegebracht zu werden, mit der er sein Geheimwissen teilte (oder hatte er es sogar vor allem aus dieser Quelle bezogen^). Die Rede ist von Alfred Schuler, der so etwas wie der Priester der Sekte war, die Klages um sich zu scharen suchte, er selbst als der Condottiere einer neuen kosmischen Stürmerschar. Schuler war ein paar Jahre älter als Klages, teilte aber mit ihm das Initiationserlebnis mit fünfzehn. Nur war er nicht in der nordischen Heide, im freien Germanien, auf die Welt gekommen, sondern im altrömischen Mainz und in Zweibrücken, aufgewachsen in der Nähe von alten römischen Lagern, wo über den ganzen Hang eines Berges verstreut Trümmer von Hohlziegeln, Estrichteile und Stücke vom farbigen Wandanstrich aus der Römerzeit lagen. Und: »Aus den halbver­ brannten umherliegenden Menschenknochen... stiegen die Geister der Vorzeit. Aufs neue sprudelte Wasser durch die säulenumrahmten Höfe und Bäder, und jubelnde Bacchantinnen umtanzten die zechen­ den Gäste.« Die Bacchantinnen hätten ihr Leben lang auf Schuler warten müs­ sen, weil er es noch antikischer treiben wollte als sie. Bei Franziska erschien er »mit seinem Ferdinand«. Aber längst vorher, 1887, war er nach München gekommen, lernte Michael Georg Conrad kennen, wollte eine naturalistische Tragödie mit dem Titel >Die Epigonen< schreiben und wurde durch die Lektüre von Ibsens >Volksfeind< ein »neuer Mensch«. »Ich las, und eine neue unerhört großartige Welt tat sich vor mir auf, eine schwarze Binde fiel von den Augen, viele mei­ ner eigenen dunklen Gedanken und Gefühle gewannen Gestalt und Leben.« Es kam über ihn »wie ein taufrischer Frühlingsmorgen, in 111

dem alles knospt und schwillt nach einem luftreinigenden Gewitter, das in der Nacht gewütet«, und er merkte bei diesem Entwurf eines Briefes an Ibsen nicht, wie abgestanden sein knospender Frühlings­ morgen und sein reinigendes Gewitter als Emeuerungssymbole schon waren. Poesie war wie seit eh und je Freund und Helfer, Traum und Tröster in der »öde« gewordenen Welt, sie möblierte die leerge­ wordenen Wohnungen wieder mythisch oder mystisch aus. Dazu war aber nötig, daß dieses neue Heil, das für Schuler Rom hieß, voll und wahr empfunden wurde, als Wiedergeburt einer verschollenen Wirklichkeit, daß Schuler selbst zwar im neunzehnten Jahrhundert lebte, aber als ein echter Römer aus der Zeit des Kaisers Nero. »Doch ich will keine Märchen umdichten und ähnliche Phan­ tasien und Kunststückchen in die Welt setzen«, schrieb Schuler, »... mein eigenstes wärmstes Herzblut will ich preisgeben, das Glück und Elend meiner Jugend in klarer, nackter, antiker Offenheit - und das ist ja der Berührungspunkt beider Welten, der antik heidnischen und der modern heidnischen: unverhüllte Wahrheit, plastische Offenheit in allem Menschlichen...«Er notierte »tiefe religiöse Orts­ empfindungen für Wandflächen im Feuerschein, mondüberflimmerte Ziegelplatten sowie einen starken Zug nach den Gestirnen«. Es steigt in ihm empor »heiß und wild und süß zugleich, ein rohes ungestümes Toben und Drängen«, und, wer weiß, »dann könnten Kräfte in uns erwachen. Neue, nie geahnte..., und wir könnten uns verjüngen, völlig vequngen, uns und - vielleicht - die Welt.« Schulers neue Welt war so römisch inspiriert und gewandet wie die Klages' nordisch-germanisch. Aber das störte das Zusammen­ wachsen ihrer Ideen nicht, denn Schuler schwärmte vor allem für die römische Kaiserzeit, genau genommen für »eine Schar gleichgroßer Knaben ..., schwarzlockig, dunkeläugig, von erlesener Schönheit«, und am Rande dieser ersehnten Orgienwelt tauchten ja schon ju­ gendfrisch die nordischen Barbaren auf, um eine neue Welt zu schaf­ fen. Man blieb, so oder so, im sinnenfrohen, gleichzeitig aber be­ deutungsschweren Heidentum. Was Schuler dachte, wollte und predigte, ist bei Franziska Reventlow nachzulesen, in einem Text, der erst erschien, als alles lang vorbei war und den sie >Herm Dames Aufzeichnungen« nannte. In ihm geschieht, was vor allem in der deutschen Literatur so selten ist: Das Wort wird wieder Fleisch, die Sätze bekommen ein Gesicht, die These verwandelt sich in ein Teegespräch zurück. Schuler selbst tritt

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auf, »ein knapp mittelgroßer Mann mit niedrigem schwarzem Hut und einem dunklen Mantel, den er wie eine Art Toga umgeschlagen hatte«. Er spricht in singendem Tonfall, zum Schluß mit einem kurzem schrillen »Urlachen«. Das Gesicht, mit hellen leuchtenden Augen, hat trotzdem etwas Starres. Beim Grüßen verzieht Schuler den Mund zu einem äußerst konventionellen Lächeln, aber in der nächsten Sekunde nimmt er wieder einen steinernen, völlig ableh­ nenden Ausdruck an. Herr Dame lernt von einem philosophierenden Freund auch eini­ ges über Schulers Gedankengut: Es gibt Seelensubstanzen, und Schu­ ler denkt sich diese Seelensubstanzen als seit den ältesten Zeiten übereinander gelagerte Gesteinsschichten, ägyptische, babyloni­ sche, persische, darüber Griechen, Römer, Germanen. Dann aber hat die Völkerwanderung alles verschoben und durcheinandergemischt, »und es kommt nichts Gutes dabei heraus«. Nur bei wenigen hat sich die Substanz unvermischt erhalten, die römische bei Schuler, die germanische, an Blondheit und Langschädel erkennbar, bei Freund Klages. Später hört Herr Dame: Die Substanzen befinden sich im Blut »unterstreichen Sie: Blut«; Schauen, Dichten, Handeln und vor allem Träumen werden davon beherrscht. Wenn periodisch in mehreren Individuen gleichzeitig eine Substanz, zum Beispiel die heidnische, sich hervortut, dann kommt die »Blutleuchte« zustande, gewisser­ maßen ein Aufflammen der Substanzen, die Epoche leuchtet. Als Beispiel dienen die achtziger Jahre: Nietzsche schreibt den »Zarathu­ stra», Klages und Schuler finden ihre Weltanschauung, König Lud­ wig II. lebt seine phantastischen Ideen, und in der Jugend gärt es. »Und was heißt molochitischi« fragt Herr Dame zuletzt und er­ hält zur Antwort, Moloch sei ein »unangenehmer Götze« gewesen, »der sich von kleinen Kindern nährte«, also »alles Lebendige, Hoff­ nungsvolle verschlang«. Als könne es keinen Zweifel geben, schließt sich die Folgerung an: Die Arier repräsentieren das aufbauende, kos­ mische Prinzip, die Semiten das zersetzende, negativ-molochitische. Diese »reine Lehre» der Wendezeit aus dem Munde Schulers war gro­ tesk. Ein paar Spinner gaben ihren großmächtigen Weltentwurf an ein paar Gleichgesinnte weiter, und niemand hätte damals voraus­ sehen können, daß Schulers Blutleuchte einmal das Signal für ein Millionenmassaker werden könnte. Franziska Reventlow oder einer ihrer Freunde heftete denn auch dem Künstlervorort Schwabing den

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Namen »Wahnmoching« an. Feldmoching war ein besonders dörfli­ ches Dorf bei München (heute längst eingemeindet, ein Wohnvier­ tel), und es war ein besonders komischer Effekt, gerade Moching mit dem hochfliegenden Wahn der Kosmiker zu paaren, wie es ähnlich bei dem in Café Größenwahn umgetauften Café Stephanie geschah. In den Aufzeichnungen wurde das Herrn Dame so erklärt: »Wahnmoching im bildlichen Sinne geht weit über den Namen eines Stadtteils hinaus. Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Ni­ veau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Ver­ such, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu ge­ winnen ...« Das klingt eher milde, aber Franziska Reventlow würzt den Schwabinger Wahn mit gepfefferten Anekdoten, vor allem über Schuler, der einen Freund hatte und schon deshalb die Schriftstelle­ rin nie für sich gewann. EINMAL BEKOMMT SCHULER einen Wutausbruch, als er bei ei­ nem Jour fixe im Hause Wolfskehl in einer Reihe von Gemälden gro­ ßer Deutscher ein Lutherbild erblickt. Luther, so donnert er, ist kein großer Deutscher, er hat die katholische Kirche daran gehindert, wie­ der zum Heidentum zurückzukehren, er kann also nur ein Jude ge­ wesen sein. Ein andermal hat Herr Dame einen beiläufig ausgespro­ chenen Satz Schulers aufgeschnappt, mit dem der Prophet in das giftige Gemurmel der kleinen Leute einstimmt: »Ja, bis vor drei Jahren konnte man sie noch für zwei Mark auf jeder Dult finden - aber jetzt haben die Juden alle aufgekauft, und un­ ter zehn Mark sind überhaupt keine mehr zu haben.« Das war der Antisemitismus der kleinen Leute: Die Juden sind unser Ruin. Im großen und ganzen aber war eine Assimilation erster Klasse im Gang, als deren Kronzeuge Thomas Mann mit seiner exzellenten Partie und seinem Zitat gelten kann, er habe nichts Jüdisches bei Pringsheims bemerkt. Auch George wird dem Druck von Klages und Schuler wi­ derstehen und nicht auf seinen jüdischen Freund Wolfskehl verzich­ ten. Das sind deutliche Zeichen eines sich glättenden Ressentiments. Das wilhelminische Bürgertum einschließlich seiner Künstler-Reprä­ sentanten macht, was das Gesellschaftliche angeht, keine Fisimaten­ ten und läßt sich das exquisite Essen auch im Judenhause nicht ver­ derben. Über das Judentum des einen oder anderen, den man als bedeutend ansehen konnte, wurde höchstens mißgünstig gemur­ melt.

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Bei einer weiteren These der kosmischen Runde zögert man, sie den Wahnideen zuzurechnen, denn sie hat sich überraschend neu verkörpert in der feministischen Emanzipationswelle, die in den sechziger Jahren den Sieg der Frauenbewegung sicherte. Der gelehrte Wolfskehl hatte eine Schrift ausgegraben, die sofort bei Klages großen Anklang fand. Der schloß sich fünf Wochen ein, um sie gründlich zu studieren. Johann Jakob Bachofen, ein Basler Patrizier (bei dem Nietzsche häufig eingeladen war, ohne einen einzigen Satz über ihn und sein Werk zu verlieren) hatte 1861 ein Buch mit dem Ti­ tel »Das Mutterrecht, eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur< veröffentlicht, und kein Hahn hatte danach gekräht. »Gynaikokratie« (Frauenherr­ schaft) hieß später Matriarchat (Mutterherrschaft, im Gegensatz zum Patriarchat), und Bachofens These war, daß es in sehr frühen Zeiten, noch vor den Griechen, eine von Frauen gelenkte archaische Kultur gegeben habe, eine These, die in der Frauenbewegung eine ge­ waltige Rolle gespielt hat im Kampf gegen die männliche Behaup­ tung, die Frau könne zwar kochen, aber nicht herrschen, das sei, wie der Name sagt, Sache der Herren allein. Ein paar Kemsätze zeigen allerdings, daß es Bachofen nicht so sehr auf Herrschaft als auf Humanität ankam:

Dasjenige Verhältnis, an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung heranwächst..., ist der Zauber des Muttertums, der inmitten eines ge­ walterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird. In der Pflege der Leibesfrucht lernt das Weib früher als der Mann seine liebende Sorge über die Grenzen des eigenen Ich auf andere Wesen erstrecken und alle Erfindungsgabe... auf die Er­ haltung und Verschönerung des anderen Daseins richten... Ein Zug mil­ der Humanität... durchdringt die Gestaltung der gynaikokratischen Welt und leiht ihr ein Gepräge, in welchem alles, was die Muttergesinnung Segensreiches in sich trägt, wiederzuerkennen ist. Kurzgefaßt: »Das Weib ist der Mittelpunkt und das Bindeglied der ältesten staatlichen Vereinigung.« Der mythische Hintergrund dieses wohltätigen Frauenzeitalters lange vor Homer und seinen Männer­ phantasien war die Mutter Erde, oder, wie man damals lieber grie­ chisch sagte, das Chthonische, und Klages rühmte Bachofen, weil er wie kein anderer Gelehrter, Philosoph oder Dichter »mit der Leuchte

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des lautersten Sinnens in solche chthonischen Tiefen« vorgedrun­ gen sei. Selbst Schuler, der eigentlich auf die römische Kaiserzeit schwor, vertiefte sich widerwillig in diese Frühzeit, die allerdings laut Bachofen wenigstens eines mit der von ihm geliebten Epoche ge­ meinsam hatte: die erotische Freizügigkeit der Frauen, ihr Hetärentum, das noch nicht durch das von herrschsüchtigen Männern erfun­ dene Eherecht gehemmt war. Wolfskehl, der auf diese Goldmine gestoßen war, war auch sonst unentbehrlich. Er war der einzige, der ein Haus führte, einen Jour fixe abhielt und Feste veranstaltete, kein großmächtiger Mäzen, aber ein Literat mit Geld. Immerhin konnte bei ihm der mehr von fern beäugte als in das Treiben der Kosmiker einbezogene Dichter Stefan George wohnen, der Meisten, wie er hieß. George ließ sich nur beiläufig auf die Kosmiker ein, weil er selber Mittelpunkt eines Krei­ ses sein wollte und Gefolgsleute um sich sammelte, und als ein tatkräfiger Helfer hatte Wolfskehl sich zuerst ihm angeschlossen. Wolfskehl war Jude, das war für Klages und Schuler das Problem, auch wenn Wolfskehl seine jüdische Herkunft nicht herauskehrte. Mehr noch: Als Sohn eines Darmstädter Bankiers war er in der Lage, der deutsch-jüdischen Symbiose eine Heimstatt zu geben. Er hing nicht mehr an seinem alten Bekenntnis und wurde ein rundum be­ schlagener Germanist und Schwärmer für das Deutschtum, der Ste­ fan George das Rüstzeug für seine Erneuerung der großen deutschen Dichtungstradition lieferte. Er war in seiner Offenheit und Liebens­ würdigkeit, seiner Gastlichkeit und Begeisterungsfähigkeit so ge­ winnend, daß selbst Klages nicht umhin konnte, sich seiner Mög­ lichkeiten zu bedienen, und ihm das Prädikat >altrassigAltneuland< das Bild eines aristokratisch geleiteten Judenstaats. Wolfskehl spielte mit dem Gedanken, sich der Bewegung anzuschließen und nach Je­ rusalem aufzubrechen. Tatsächlich emigrierte er 1934 erst nach Ita­ lien, dann nach Neuseeland und fand mit einer entschiedenen Kehrt­ wendung zum Gott seiner Väter zurück. Das geschah auf der großen Bühne des Lebens. Auf der kleinen Münchner Bühne spielte sich das Liebesdrama zwischen Klages und

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Franziska Reventlow ab, das mit ihrer Verehrung für »den großen Mann« begann, sich zu einem fruchtbaren Bildungsbündnis steigerte und fast in eine große gegenseitige Liebe gemündet wäre. Aber eben in diesem Augenblick stellte sich heraus, daß die beiden nicht für­ einander gemacht waren. Wenn Franziska zu ihm gehören wollte, dann mußte sie einiges gegen ihre Leiden tun, zum Beispiel das maß­ lose Zigarettenrauchen einstellen und zur Genesung nach Montreux fahren. Ihre anderen Freunde, Adam und den Monsieur, brauchte sie zwar nicht zu opfern, denn Klages war über etwas so Niedriges wie Eifersucht erhaben, aber selbst unter diesen Bedingungen empfand sie das Zwangsregiment des ideenstarken Freundes als etwas, das ge­ gen ihre Freiheit ging, gegen ihre Unfähigkeit, »auch nur die kleinste Fessel zu ertragen«. NUR WENN MAN anhand der Tagebücher, Briefe, Biographien diese Liebe aus der Nähe verfolgt, erkennt man, wieviel Leid, Ver­ wirrung, Trauer sich da sammelte, auch wieviel Stolz, Eigensinn, Widerborstigkeit dabei zum Zuge kam. Nicht zu bestreiten ist, daß Klages manches für diese Freundin getan hat, mehr als für alle ande­ ren. Er begleitete unter Qualen ihren Weg zur Schriftstellerin, er ist für sie zu einem deutschen Mäzen gereist bis ins ferne, damals russi­ sche Lodz, und es gelang ihm, für Franziska 800 gute Goldmark im Monat locker zu machen (die Sache lief nicht lange, weil die Frau des Fabrikanten eifersüchtig wurde). Er sorgte und trieb und konnte nicht verstehen, daß sie gerade darunter litt. »Er (war) verstimmt«, liest man im Tagebuch vom 18. Oktober 1901, »(ich) kann das Hin- und Herzerren von Stimmungen nicht mehr aushalten, wenigstens jetzt nicht, wo ich all meine Kräfte brau­ che. Ihm die ganze Woche nicht geschrieben.« Am 6. November: »Mit Klages zusammen. Roman (ihren Roman) gelesen. Kopfweh, Nerven, ich kann dieses Mich-Umgeben nicht vertragen - es ist, als ob fortwährend in die Sphären eingedrungen wird, in die ich mich einwickle ... Wenn er wenigstens ein Mensch wäre oder ein Mann denn ich suche jemanden, wo ich mich anlehnen kann, und er will sich an mich anlehnen.« Am 10. April 1902: »Mir ist der Weg zu ihm förmlich abgeschnitten, und ich muß ihn doch wiederfinden. Wir können so nicht auseinandergehn. Aber unsere Sache ist quasi Allgemeingut geworden, lauter fremde Hände dazwischen... Alles wird beredet, auseinandergelegt - wieder zusammengesetzt und

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dann von vome angefangen.« Dann aber am 14. April: »Vormittags zu Klages. Tränenstunde, ein paar gute stille Tage mit ausgleichen­ den Gesprächen über alle Streitpunkte. Wenn er immer so wäre, mein Gott...« Wieder ein paar Tage später sieht es ganz anders aus:»... Stürme, wohl die ärgsten von allen bisher. Trennen uns in Zorn und Verstim­ mung. Er redet immer wieder in meine tiefe Erschöpfung (hinein), von heiligen Versprechen, Haltlosigkeit, Launen etc.pp.« Sie reist am nächsten Tag zur Kur, aber Klages will, daß sie ihm verspricht, nicht später als übermorgen früh abzufahren, sie ärgert sich über sein über­ flüssiges Drängen, sie schlägt ab, er geht. Im Juni sieht sie ihn wieder. »Nein, ich bin nicht mehr böse, aber es ist etwas anderes geworden. Ich habe keine Illusion mehr über ihn, und er zerrt nicht mehr an meinem Herzen.« Trotzdem, es nimmt kein Ende: »Einen Abend zu Klages, aber nicht hineingegangen, weil Putti mir aufmachte... Geh' zu Fuß heim, ein Gemisch von Sehn­ sucht, Zorn, Abneigung, Ausgestoßensein etc. ... Nach Klages neuer Theorie bin ich das, was zersplittert - aber es ist nicht wahr, ich halte mich noch grandios zusammen.« Dann kommt die Silvesternacht, das neue Jahr, 1903. »Mitter­ nacht geht es zu Wolfskehls, die mit Klages und Putti, Schuler und seiner >Mama< zechen.« Beim Bleigießen fällt für Klages etwas ab, das wie Schiffe aussieht. »Klages, Sie sind ein zerfahrener Mensch«, wit­ zelt Schuler, und der betont seinerseits, das Schweifende sei sein Ele­ ment. Putti ist beschwipst, Franziska auch. Wolfskehl (Carlo nun für sie) zieht sie in sein Zimmer, um ihr angeblich Eulen zu zeigen, und gesteht unversehens: »Ich hab dich so furchtbar lieb.« Danach die Zwischenbilanz (denn die Sache mit Klages nimmt nie ein endgültiges Ende), in der einen Fassung: »Mein Gott, was ist denn Klages eigentliche Am Ende doch nur ein Mensch mit Größen­ wahn und Ichsucht - und einem wundervollen Verstand, der uns alle hingerissen hat.« Und in der anderen: »Sehnsucht nach Klages, die manchmal ganz plötzlich und dann mit unglaublicher Heftigkeit aufwacht... Von allem Persönlichen, womit wir uns gegenseitig zer­ reißen, abgesehen, bleibt er doch der einzige Mensch, mit dem ich mich in letzten Tiefen verstanden habe.« Zwischen den beiden Äußerungen liegen nur ein paar Seiten, ein paar Tage - und beide stimmen. Es scheint eine Liebesgeschichte wie viele andere: zwei Körper und zwei Seelen, die sich liebend umfassen, und zwei Ichs,

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die klirrend aufeinanderstoßen. Neu für damals war, daß die Frau nicht am Ende nachgab. Überraschend für uns: wie frisch diese Affäre sich immer noch liest. Der Wechsel von Klages (der für sie keinen Vornamen hat) zu Carlo (der nur mit Vornamen vorkommt), dem sie alsbald nach Ita­ lien folgt, wäre an sich nicht bemerkenswert. Carlo ist ein Mensch und ein Mann, kein Geist über den Wassern. Aber der Wechsel er­ folgt am Vorabend eines historischen Momentes: Klages wird seine Freundschaft mit Wolfskehl der Kampfgemeinschaft mit Schuler op­ fern. Der Jude hat für ihn offenbar seine Schuldigkeit getan, einmal muß er gehen. Wenn Franziska sich nun mit Carlo einläßt, ist es zwar nicht ausdrücklich eine Entscheidung gegen das antisemitische Geraune, aber mindestens setzt sie sich über ein geläufiges Vorurteil hinweg, und in Kürze besteht fast ihr ganzer Freundeskreis aus einer jüdischstämmigen Boheme: Franz Hessel, Oskar A. H. Schmitz, Paul Stern, Walter und Fritz Strich, zuletzt Erich Mühsam und Fritz Kitzinger. Auch Klages' verstoßenen jüdischen Freund Theodor Lessing lernt sie kennen und schätzen. Die Abtrünnige findet zu den >Molochi tischen«. Ihre Wahl bedeutet aber noch etwas anderes: Die hochtrabenden Theorien der Klages-Schuler-Kumpanei setzen immer voraus, daß die Weisheitslehren auch Geheimlehren sind, die nur einem inneren Kreis von Edelmenschen zuteil werden. Der Arierwahn vermittelt den blondhaarigen Langschädeln das Bewußtsein einer höheren Be­ rufung, eines alten Adels, und braucht zu seiner vollen Verwirk­ lichung dort, wo sich einst der Teufel mit seinen Gesellen aufhielt, die >molochitische< Gegenpartei, den jüdischen Seelenfeind und, nicht davon zu trennen, die jüdische Weltverschwörung. Aber der­ artige Lagebeurteilungen dürfen noch nicht ruchbar werden. Man verkehrt bei und mit Wolfskehl auf der gleichen Ebene, man »schnei­ det« ihn nicht. Eben darum darf niemand anderer ausplaudem, wie man denkt und was man fürchtet, und zum Geheimnis gehört auch der Fluch, der jeden Schwätzer trifft, die über ihn verhängte Sank­ tion. Franziska, so sieht es aus, ist ins Feindeslager übergegangen, sie bricht nicht gerade mit Klages, aber sie schreibt Carlo die schmel­ zendsten Liebesbriefe ihres daran wahrhaft reichen Lebens. Im übri­ gen ist er ja selber einer von den Enormen, auch ein »Kosmiker«, und seine Verse haben das Dröhnende und Überschwengliche, das die

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Kosmiker in Ekstase versetzt. Gleich mit einem Gewaltakt fangen bei ihm die Mysterien an:

Zerreißt das gewand zum opfergruß Steht stumm im kreis Bis der springende strahl eure stim entsühnt Bis die brust euch dröhnt vom dampfenden quell Gelöst dann der bann - entbunden der taumel Wie wild er wühlt im nächtlichen gründ

Beruhigend ist es, der Schilderung des Festes im Hause Wolfskehl, die Franziska in >Herm Dames Aufzeichnungen« gab, zu entnehmen, daß weder ein Gewand zerrissen noch der Taumel entbunden wurde. Da taucht in Franziskas Wohnung zuerst Monsieur, ihr Nachtbesucher mit dem Hausschlüssel, auf und muß von Herrn Dame erfahren, daß Maria (Franziska) auf einem Atelierfest ist. »O gewiß wieder so eine bacchantische Wahnmochingerei«, sagt der Herr im Frack, da könne er leider nicht hingehen. »Im Frack kann man nicht dionysisch taumeln ... Was hab’ ich davon, wenn ich abends dionysisch herumrase - mir wie ein Halbgott vorkomme und am nächsten Morgen doch wieder mit der Trambahn in mein Büro fah­ ren muß ...4« Herr Dame seinerseits findet, es tue sich hier bei den Enormen »eine neue und wunderbare Welt« auf, mit »geistig hervor­ ragenden Menschen«. Der Herr im Frack wiederum beklagt das Schicksal der »dummen Mädel«, die auf die falsche Fährte des Hetärentums gelockt würden, aber Herr Dame zitiert Maria als Pa­ radebeispiel, weil sie »von Natur aus keine Prinzipien« habe. Sonst habe sie immer nur über ihren Lebenswandel Vorwürfe hören müs­ sen, aber als sie dann unter diese Leute kam, »machte man ihr Gott weiß was für Elogen und fand alles herrlich«. Sie war sozusagen die Naturheidin unter den künstlichen, die sich noch so anstrengen mochten und doch die Ungezwungenheit wahren Heidentums nicht zustande brachten. Aber dann, als das Fest in Gang kam, als der Umzug begann, die Bacchanten an der Spitze, hinter ihr Wolfskehl-Dionysos, dann George-Cäsar und DeliusSchuler als Urmutter, »ergab sich ein ungemein wirkungsvolles Bild« und durch den eigenartigen Gesang »eine fast beklommen weihe­ volle Stimmung«. Liturgisch, in dumpf-nasalem Ton, alle Silben gleichmäßig betonend dehnend, wurden die Götter angerufen:

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Wir sind gewohnt, Wo es auch wohnt, Hinzubeten, es lohnt. Wie unser Ruhm zum Höchsten prangt, Dieses Fest anzuführen, Die Helden des Altertums Ermangeln des Ruhms, Wo und wie er auch prangt, Wenn sie das Goldene Vlies erlangtWir die Kabiren-----

Die Verse, die Wolfskehl und die Seinen da deklamieren, scheinen ein ziemliches Kauderwelsch. Aber sie stehen (und sind dort nachzu­ schlagen) im >Faust, zweiter TeilKlassischen Walpur­ gisnacht«, beileibe nicht in der orgiastischen Walpurgisnacht des er­ sten Teils, die stellenweise so unanständig war, daß Goethe sich statt des Textes der Gedankenstriche bedienen mußte. Hier muß Maria-Franziska erst fragen, was Kabiren sind, und be­ kommt die Erklärung »thrakische Urgötter«; dann will sie wissen, warum die Kabiren selbst die »enormen« Helden des Altertums in den Schatten stellen, und wird aufgeklärt, die Kabiren seien halt noch enormer. Und, so fragen wir weiter, wie kamen Wolfskehl, Klages, George ausgerechnet auf diese mehr neckische als dämonische oder gar kosmische FauststelleiGanz einfach, die Kabiren gehörten zu jener nächtig-kosmischmystischen Antike, die Bachofen ihnen aufgeschlossen hatte, und Bachofen wiederum war bei den romantischen Mythenforschem und Griechenlandverehrem in die Schule gegangen. Goethe seiner­ seits hatte sich als junger Mann von Friedrich Schlegels Naturphilo­ sophie anstecken lassen, aber nun war er der weise Alte und hatte ge­ rade mit den romantischen Mythenforschem, den Creuzer und Schlegel und Genossen, ein Hühnchen zu rupfen. Da läßt er nun die Reime laufen, wie sie wollen, und wer hin­ schaut, merkt bald, daß sie heiter gemeint sind, daß sie nichts weni­ ger ernst nehmen als die in dieser Szene betriebene Geburt des Homunculus, und zwar findet die am besten im Meer statt, wie Goethe mit Versen, die man später Wilhelm Busch hätte zuschreiben kön­ nen, bemerkt:

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Das Erdentreiben, wie’s auch sei, Ist immer doch nur Plackerei; Dem Leben frommt die Welle besser... Aber schon die ersten Chorverse, die Wolfskehls Prozessionsteil­ nehmer so feierlich rezitieren, haben eine komische Note: mit dem Hinbeten, wo sich’s lohnt. (Man muß halt immer die richtigen Göt­ ter anrufen.) Da die Zahl der Kabiren nicht feststand, machte Goethe auch daraus einen Scherz. Nur drei läßt er auftreten, der vierte bleibt zu Haus, weil er für alle anderen denken muß. Und weiter:

Sind eigendich ihrer sieben. Wo sind die drei geblieben^ Wir wüßten’s nicht zu sagen, Sind im Olymp zu erfragen; Dort west auch wohl der achte, An den noch niemand dachte. Man durfte die Mythologie nur halb ernst nehmen, dachte Goethe, während Schelling und Creuzer in ihr Urweisheit vermuteten. Als sich, am 27. Februar 1831, Goethe und Eckermann wieder einmal unterhielten, sagte Goethe über den zweiten Teil seines Faust, es erscheine darin »eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas umgetan und einiges erlebt, wird nichts damit anzufangen wissen«. Eckermann meint, einige Gelehr­ samkeit (wir würden sagen: Bildung) sei wohl erfordert, er habe Schellings Büchlein über die Kabiren gelesen und wisse daher, »wo­ hin Sie mit jener famosen Stelle der >Klassischen Walpurgisnacht« deuten«. Goethe lacht und bemerkt: »Ich habe immer gefunden, daß es gut ist, etwas zu wissen.« Nun wissen wir, wer und was da in Wolfskehls gastfreundlichem und maskenfrohem Haus aufeinanderstieß: die dunkle erdfeuchte und lichttrunkene Mystik der Creuzer, Bachofen, Schuler, Klages einerseits und auf der anderen Seite die klassische Naturverehrung Goethes, die durchaus Rokoko-Kulissen einschloß. Aber auch ein ge­ lehrtes Heidentum, das gerne eine neue Dogmatik, einen neuen Kul­ tus, eine neue Sittenlehre, eine neue Liturgie eingeführt hätte, und das lockere und tiefsinnige Heidentum Goethes, das sich als Welt­ weisheit offenbarte und gelegentlich auch tarnte. 122

Franziska war etwas Drittes. Sie hatte sich durch Klages' mysti­ sche Rede und ihre Aufnahme in den heiligen Zirkel bestricken las­ sen, aber nun kamen ihr Zweifel, ob er nicht doch ein Scharlatan sei, und im übrigen hieß ihr Heidentum: Freiheit für alle Affekte, vom wilden Trieb bis zur tiefsten Trauer. Wolfskehl und George waren voll bei der Sache, aber im Be­ wußtsein, daß sie Masken trugen und Rollen spielten, daß eine Reli­ gion nicht im Salon geboren werden konnte. George war fest ent­ schlossen, ein Führer zu werden (das Wort war damals noch nicht anstößig), und eben darum war ihm eine so umfassende Verehrung wie die der jungen jüdischen Intellektuellen, die nach einer neuen Sendung jenseits des Christentums Ausschau hielten, im höchsten Grade willkommen. Wolfskehl erleben wir an diesem Abend, wie er war, lebenslustig und schwungvoll im Leben wie im Dichten, aber vor tollen Sprüngen und bacchantischem Treiben schon durch extreme Kurzsichtigkeit behütet. Er war in der Mischung aus Poet, Gelehrter, Gesellschafts­ mensch großartig, und es gibt nichts Betrüblicheres, als daß diese Ganzfigur und Glanzfigur der Münchner Goldenen Epoche durch den Rassenwahn zerschnitten wurde, in ein Münchner Genie und einen einsamen emigrantischen Mahner und Gottverkünder aus Neuseeland. Wie gut er war, ist an einer Stelle abzulesen, die er dem My­ thenwahn der Kosmiker gewidmet hat, in dem Aufsatz >Die neue Stoa< (in >Bild und GesetzBlätter< beiträge ein und ab zu schieben«. Die »menschlichen Vorlieben«, das stand nicht in Georges Antwort, be­ zogen sich auf Juden, statt daß er Heiden vom Klages-Schlage vorge­ zogen hatte. Klages hatte darüber Klage geführt, nun aber doch noch einmal George um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. George schlug das glatt ab. Ein Gespräch führe zu nichts, »wenn die grundstimmungen der parteien so verschieden sind, daß jedes wort nur klüfte weiter öffnet«. Schon im vorigen Jahr habe er in Kla­ ges' Worten und Mienen nur Entfremdung gespürt, das lasse sich nicht wegreden. Würde das Thema des letzten Zusammenseins aber wieder aufgenommen, so würde das nur dazu führen, daß Klages Verse, die George aufgenommen habe, als »kläglich stümperhaft usw.« bezeichne, während George Klages »durch Sie beschützte verse« entgegenhalten werde, die er noch für weit stümperhafter und verlogener halte. Klages werde Menschen, mit denen George ver134

Theodor Lessing und Friedrich Gundolf verkehrten im Hause Wolfskehl; alle drei waren jüdischer Abstam­ mung. Sie wurden immer wieder zum Ziel antisemitischer Polemiken von Alfred Schuler und Ludwig Klages. Zum Eklat kam es 1904, als Schuler und Klages Stefan George ultimativ aufforderten, die Juden aus seinem Kreis zu verbannen.

kehre, scheußlich nennen, George Klages-Freunde noch widerlicher finden. »Und - Ludwig Klages - wozu dies allesi-« Jeder glaube doch recht zu haben, und jeder werde darum Wendungen gebrauchen, die die Sache nur noch schlimmer machten. Klages schlug am gleichen Tag zurück: Es bleibe ihm nur übrig, Georges Vorschlag zuzustimmen, »jedoch mit dem Bemerken, daß ein derartiges Voneinandergehen, welches nach Form und Art durch­ aus nicht ähnelt früheren >toten Punkten«, in seinem Ergebnis für die Praxis des Lebens nur bedeuten kann: es sei die persönliche Beziehung zwischen Ihnen und mir nicht etwa in unbestimmter Weise verän­ dert, sondern abgebrochen, und sowohl dies als auch die Prämisse da­ von als im Sinne einer Tatsache von uneingeschränkter Öffentlich­ keit zu nehmen.« Kein Gruß mehr, nackte Unterschrift, der Bruch kommentmäßig, duellartig, nach den Spielregeln vollzogen, bald kam ein Prozeß dazu, der bis zum Reichsgericht hinauf die Instan­ zen durchlief. George und Gundolf mußten je fünfzig Mark Strafe zahlen, weil sie unbefugterweise Klages-Verse veröffentlicht hatten. Auch unterirdisch, jenseits der Presseöffentlichkeit, lief die Affäre weiter, und hier ist nun Franziskas Revendows Tagebuch eine nicht zu entbehrende Quelle, zusammen mit den späteren «Aufzeichnun­ gen« Herrn Dames die einzige, die den Blick in die Gefühlshinter­ gründe erlaubt. Sie sind dramatisch genug. Zunächst ist im Tagebuch das Gewirr alter und neuer Freunde anzutreffen. Am 20. September 1903 taucht der alte Freund von Samos, Adam, wieder auf, »abends mit ihm Osteria, unendlich viel von Klages gesprochen...«Adam ist auf Gedeih und Verderb nun Klages’ Bundesgenosse. Aber am glei­ chen Abend ist sie noch mit «Such« und «Carlo« bis ein Uhr nachts im Café Stephanie: Such, der polnische Edelmann und Maler-Graf Suchocki, der nun ihr Alletagefreund ist, und «Carlo« Wolfskehl, mit dem die Freundschaft anhält. In der erinnernden Betrachtung taucht ein weiterer Name auf: »Kulminationspunkt nach unten (in) Mün­ chen - Hesselfranz.« Franz Hessel gehört mit Oskar A. H. Schmitz zu den von Klages getadelten »Nebenfiguren« oder »Nebenjuden« in Franziskas Umkreis, und Franz Hessel wird bald seine Rolle in der Affäre spielen. Noch im September schleicht sich Klages wieder in ihre Erinnerung ein: »Sehnsucht nach Klages, die manchmal ganz plötzlich und mit unglaublicher Heftigkeit aufwacht.« Am 1. November, nach dem Umzug in die Kaulbachstraße, wird die Sache zum erstenmal benannt: »Dazwischen die Adam-Klages­

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Affäre und Carlo. Geh herum und kann nichts anderes denken.« Adam, der Panther, der Wikinger, der gute Freund von Samos, hat sich mit Klages gegen Wolfskehl zusammengetan. Sie liebt ihn noch, kramt alte Briefe von ihm und Klages aus. Dann folgt die (schon zi­ tierte) Frage, was denn eigentlich an ihm sei. Sie antwortet sich selbst mit der Erinnerung an seinen »wundervollen Verstand, der uns alle hingerissen hat.«Und dann die Frage: »Aber wohin reißt er die Menscheni Und vor allem meinen Adami-« Dann bricht sich Carlo wieder Bahn in ihrem Nachsinnen. »Car­ los Vermutungen. Mein Kopf ist von alledem etwas überhitzt, und ich sehe lauter Gespenster und schreckliche Sachen. Und ein Gefühl, als ob ich allein Carlo schützen und halten könnte, das große Kind, dem so übel mitgespielt wird, die anderen, die ihn ausspionieren und verraten.« »Ich möchte verrückt werden«, schreibt sie, und: »Ich schlafe neben meinem Revolver und denke, sie sollen nur kommen.« Es ist die andere Seite, die finstere jener gezirkelten Diplomatie, die aus den feierlichen Briefen Klages’ und Georges spricht: Gewalt, an­ gedroht und eines Tages vollzogen. Am Neujahrstag 1904 nimmt sie sich vor, nicht mehr soviel zurückzudenken, zum Beispiel an die letzte Silvesternacht, als »wir alle bei Wolfskehls waren, so einig und noch beisammen«. Sie gewöhnt sich an das neue Haus, an die große warme Küche, Such hilft ihr dabei. Aber »dazwischen Carlo mit Blutund Verfolgungswahn... Sind es nur Angstphantome oder wirkliche Möglichkeit, aber jedenfalls geht über uns alle etwas hin, was dunkel und zerreißend ist und wo einem nichts unmöglich erscheint.« Sie meint, wenn sie abends allein ist, Schritte zu hören und Adam oder Schuler mit einem Dolch hinter der Tür. »Carlo so unendlich verstört und bleich zu sehn, geht einem immer wieder durchs Herz.« Was sie da erlebt und was die feinen Herren nicht wissen wollen: Der anti­ semitische Terror meldet sich hier, Psychoterror vielleicht, aber vom Blut ist oft die Rede, auch von dem, das fließen wird. Franziska leidet und nimmt dann wieder leicht, sie seufzt: »O Klages, Klages, schlimmer, verheerender und göttlicher. Das wenig­ stens weiß ich jetzt: Wir kommen alle nicht los von ihm und schlimm für uns, wenn wir es könnten.« Sie ist zu tief verstimmt für den Kar­ neval, »aber es zuckt doch ein bissel ...« Es tröstet sie ein neuer Freund, der Archäologe Herbert Koch aus Rom. Mit ihm kann sie endlos über Klages-Wolfskehl-Adam sprechen, mit ihm geht sie bei Wolfskehl zum Jour fixe, wo ihnen, »die alles wissen«, Wolfskehls 137

»Verstörtheit und (geistige) Abwesenheit, Schulers intrigante Un­ heimlichkeit etcetera« auffallen. Nachher mit Koch im Ratskeller, »wurden beide bei der Musik kamevalssentimental und sonder­ bar bewegt, sprachen davon, wenn man sich jetzt über all den dun­ klen Hintergründen in den Karneval stürzen würde«. Kein Wort findet sich in diesem Januareintrag über Klages’ Kriegserklärung an George.

SPÄTER, IM FEBRUAR, muß sie sich ope­ rieren lassen. In eben dieser Zeit findet - ohne Klages und Schuler - das Maskenfest im Haus Henry von Heiselers statt, bei dem George als Dante und Wolfskehl als Homer auftreten. Dann kommt, zum Höhepunkt des Faschings, am 24. März 1904, das große Fest im Hause Wolfskehl, auf dem das Erscheinen der siebten GEORG-ßPNDI Folge der Blätter für die Kunst, Georges Schöp­ BERLIN- I9IG fung, vorgestellt und mit einem Maskenzug gefeiert wird. Wolfskehl ist diesmal Dionysos höchstpersönlich, und in seinem szenischen Gedicht tritt auch ein >trauemder Irrfahrer« auf, in dem man ein Bild der aus dem Bund ausgezogenen Kosmiker vermuten kann. Ein paar Tage später, mit dem Datum >Charwoche«, ist eine Ant­ wort da, anonym, auf ein paar kleinen Zeitungsseiten mit Maschine geschrieben, vervielfältigt und nächtlich verteilt, spontan sozusagen, Stimme des Volkes, und zwar der Schwabinger allesamt, die sich nach gut bayerischer Art einen Scherz erlauben. Die Zeitung, die vor Ostern zum erstenmal erscheint, heißt Der Schwabinger Beobachter und umfaßt im einzigen vorliegenden Privatdruck acht Druckseiten. Drei Ausgaben sind in diesem in hundert Exemplaren für einen »Freundeskreis« erschienenen Privatdruck enthalten. Die dritte Aus­ gabe ist in Franziskas Tagebuch vermerkt: unter dem 25. Mai 1904. »Dritter Schwabinger Beobachter«, steht da, »halbe Nacht durchge­ arbeitet.« Sie hat's gemacht. Es ist ihre Antwort auf den Konflikt der steif-stolzen Herren. Erstaunlich, daß sie sich aus ihrer permanenten Mattigkeit und Lustlosigkeit dazu aufgerafft hat. An Franz Hessel, 138

ihren Hausnachbam und Komplizen, schreibt sie später:«... es hat mich zu arg hin und her gerissen, zwischen der Parteien Haß und Gunst, und Sie werden es wohl ganz begreifen später, daß ich die Schachzüge so schieben mußte.« Sie ist bei der Arbeit an diesem dritten Beobachter frisch verärgert, Klages hat gerade seine Briefe zurückgefordert, sie hat sie ihm mit einer »bitterbösen Hinzufügung« geschickt. Aber der Text, den sie mit Hessels Hilfe ausgeheckt hat, ergreift nicht Partei gegen Klages, er macht sich über alle lustig, er mobilisiert den Witz gegen den Wahn. Als ob sie einen Salon leite, versucht sie, alles und alle zurück­ zuführen zu den Verkehrsregeln der Geselligkeit. Was den Streitfall selbst angeht, so hatte sie unmißverständlich Partei genommen, indem sie von Klages zu Wolfskehl überwechselte und mit Franz Hessel, der überdies wie ein >Äthiopier< aussah, eine Hausfreundschaft eingegangen war; dazu darf man auch noch Franz Hessels literarischen Kollegen Oskar A. H. Schmitz rechnen. Später hilft ihr der Philosoph Paul Stern bei der Darstellung der Schwabin­ ger >Knäuelsündiger< Nei­ gungen und verpönter Vorlieben. Hessel, das Greuel, der Hund, bleibt doch in Franziskas Gunst, und es überrascht nicht, daß der später in Paris lebende Hessel eine erotisch gefärbte Neigung zu einem gleichaltrigen französischen Autor namens Henri Pierre Roché hat, den auch Franziska 1907 kennenlemt. Der schreibt zum Beispiel die Freundschaftsgeschichte Jules et JimEUen-Olestjeme«-Parodie in der zweiten und die »Klassische Walpur­ gisnacht« in der dritten, köstliche Erzeugnisse überlegenen Witzes und voll von glücklichen Einfällen - mit der einen Einschränkung, daß man einiges über George und die Kosmiker wissen muß, um sie zu genießen. Man darf sie durchaus neben die Wedekindschen Chansons und die heiteren Verse Morgensterns stellen. So gehören

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sie zur Literatur wie Georges Feierverse, und nur der bärtige und blei­ che Emst der meisten Literaturgeschichtsschreiber hat sie unter die Schwabinger Allotria verbannt. Die erste Nummer macht sich vor allem über George und Wolfs­ kehl lustig. Wolfskehl wird unter dem Namen gueule de loup als Ver­ fasser ausgegeben. Gleich zu Beginn erfreut die freche Verbindung des erlauchten Dichtemamens George mit dem bayerischen Bierort Weihenstephan, die so schlagend ist wie die Taufe Schwabings zu Wahnmoching. George selbst wird in Erinnerung an seine >Algabal