Blut und Metall. Die transnationalen Wissensräume von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski im 20. Jahrhundert [1. ed.] 9783835350137, 9783835347304


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German Pages 568 [569] Year 2021

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Wissenschaft biographisch erfassen
1.2 Expertise, Wissensbestände und Stoffe verorten
1.3 Quellen
2 Sich bewegen und lernen
2.1 Möglichkeiten von Wissenschaft und Studium in den imperialen Peripherien Preußens und Russlands
2.2 Die »Emigration des Talents«
2.3 Aus den Peripherien in wissenschaftliche Zentren – Würzburg und Berlin
3 Forschen, vernetzen und aufsteigen
3.1 Teamarbeit und neue Erkenntnisse in Heidelberg und Zürich: Die Erblichkeit der Blutgruppen
3.2 Grundlagenforschung und Laborerfahrung bei der AEG: Die Verwissenschaftlichung der Industrieproduktion
3.3 Der Erste Weltkrieg als Forschungsbeschleunigerund Zäsur?
3.4 Konstellation Krieg: Medizin, Anthropologie und Metallforschung
3.5 Forschung im Feld: Fleckfieberbekämpfung in Serbien und die Geburtsstunde der Seroanthropologie
3.6 Forschung für das Feld: Ersatzstoffe, Munitionsproduktion und die Geburtsstunde des Czochralski-Verfahrens
3.7 Herausforderung Krieg und Kriegswissen
4 Transferieren, aufbauen und übersetzen
4.1 Die Etablierung als Experten – der Transfer von Kriegswissen in die Nachkriegsordnungen
4.1.1 Die Seroanthropologie nach dem Ersten Weltkrieg: Transnationale Zirkulation und nationale Politisierung
4.1.2 Kriegswissen Seroanthropologie – Verheißungen und unerfüllte Hoffnungen
4.1.3 Ersatzstoffforschung nach dem Ersten Weltkrieg: Die Verbindung von Wissenschaft und Praxis bei der Metallgesellschaft
4.1.4 Jan Czochralski und die Institutionalisierung metallkundlichen Wissens I: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung
4.1.5 Die Institutionalisierung metallkundlichen Wissens II: Die Deutsche Gesellschaft für Metallkunde
4.1.6 Aus der Industrieforschung in die Hochschule: Czochralskis Umzug nach Warschau
4.1.7 Die Verlängerung des Kriegswissens in den Frieden: Industrielle, institutionelle und disziplinäre Fortentwicklungen
4.2 Krise und Euphorie: Der Möglichkeits- und Übergangsraum vom Imperium zum Nationalstaat
4.2.1 Wissensakteure im neuen Staat: Nationale Erwartungen und postkoloniale Konstellationen im transnationalen Wissensraum
4.2.2 Staatsaufbau und Wissenschaft am Beispiel der neuen Hauptstadt Warschau
4.3 Die Übersetzung des Wissens in neue Arenen und deren Grenzen – Methoden, Denkstile und Stoffe
4.3.1 Ludwik Hirszfelds Warschauer Wissensräume: Die Etablierung einer staatlichen Gesundheitspolitik und das Staatliche Hygiene-Institut
4.3.2 Praktische Anforderungen und Grundlagenforschung am PZH: Von Impfstunden, Krankheiten und Konstitutionsserologie
4.3.3 Arenen der Gesundheitspolitik und der angewandten Forschung: Ludwik Hirszfeld als Experte, Berater und Gutachter
4.3.4 Jan Czochralskis Wissensräume: Die Entwicklung der Verwissenschaftlichung der Technik und die Technische Hochschule Warschau
4.3.5 Forschen für das Militär: Jan Czochralski, das Chemische Forschungsinstitut und das Institut für Metallurgie und Metallkunde
4.3.6 Arenen der Technik, der Professionalisierung und der angewandten Forschung: Jan Czochralski als Experte, Berater und Mäzen
4.3.7 Das transnationale Leben vor Gericht: Die »zwei Vaterländer« des Jan Czochralski als Hochverrat
4.3.8 Wissen und die imaginierte ideale Zukunft
5 Agieren, verlieren und weiterleben
5.1 Konstellation Zweiter Weltkrieg: Besatzungsherrschaft und Eigensinn
5.2 Der Überfall Deutschlands auf Polen und seine Auswirkungen auf die Wissenschaft
5.3 Aus der Wissenschaft in die Werkstatt: Jan Czochralski und die Technische Hochschule Warschau während der nationalsozialistischen Okkupation
5.4 Aus dem Staatlichen Hygiene-Institut in die Zwangsgemeinschaft: Ludwik Hirszfeld im Warschauer Ghetto
5.5 Die Herstellung von Sinn in den Grauzonen der Okkupation
6 Neu anfangen, absteigen und wieder aufsteigen
6.1 Wissenschaft im Spannungsfeld von Kontinuität und sowjetischer Neuausrichtung
6.2 Jan Czochralski: Der Abstieg des Experten, der Aufstieg der Expertise
6.3 Ludwik Hirszfeld: Der Wiederaufstieg des Experten
6.4 Grenzen und Grauzonen im Staatssozialismus
7 Vergessen, erinnern, wiederaneignen: Rezeptionen
7.1 Die Wiederaneignung von Jan Czochralski
7.2 Die Rezeption von Ludwik Hirszfeld und seiner Autobiographie
8 Fazit
Dank
Quellen und Literatur
Archivalien
Publizierte Quellen
Literatur
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
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Blut und Metall. Die transnationalen Wissensräume von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski im 20. Jahrhundert [1. ed.]
 9783835350137, 9783835347304

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Katrin Steffen Blut und Metall

Katrin Steffen

Blut und Metall Die transnationalen Wissensräume von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski MQc/ELVLYRHIVX

WALLSTEIN VERLAG

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort und in Zusammenarbeit mit dem Nordost-Institut Lüneburg Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2021 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und der Raleway Umschlaggestaltung: QART Büro für Gestaltung, Hamburg Lithografie: SchwabSantechnik, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-5013-7 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4730-4

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.1

Wissenschaft biographisch erfassen . . . . . . . . . . . . . . . . 18

9

 *\TIVXMWI;MWWIRWFIWX®RHIYRHXSǺIZIVSVXIR . . . . . . . . 24 1.3

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

2

Sich bewegen und lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

2.1

Möglichkeiten von Wissenschaft und Studium in den imperialen Peripherien Preußens und Russlands . . . . 42

2.2 Die »Emigration des Talents« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53  &YWHIR5IVMTLIVMIRMR[MWWIRWGLEJXPMGLI>IRXVIRcƳ Würzburg und Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

3

Forschen, vernetzen und aufsteigen . . . . . . . . . . . . . 67

3.1

Teamarbeit und neue Erkenntnisse in Heidelberg und Zürich: Die Erblichkeit der Blutgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

3.2 Grundlagenforschung und Laborerfahrung bei der AEG: Die Verwissenschaftlichung der Industrieproduktion . . . . . . 76 3.3 Der Erste Weltkrieg als Forschungsbeschleuniger und Zäsur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.4 Konstellation Krieg: Medizin, Anthropologie und Metallforschung . . . . . . . . . . . 87  +SVWGLYRKMQ+IPH+PIGOǻIFIVFIO®QTJYRK in Serbien und die Geburtsstunde der Seroanthropologie . . 96  +SVWGLYRKJÇVHEW+IPH*VWEX^WXSǺI Munitionsproduktion und die Geburtsstunde des Czochralski-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.7 Herausforderung Krieg und Kriegswissen . . . . . . . . . . . . . 120

4

Transferieren, aufbauen und übersetzen . . . . . . . . . 125

 )MI*XEFPMIVYRKEPW*\TIVXIRcƳ der Transfer von Kriegswissen in die Nachkriegsordnungen . 128 4.1.1 Die Seroanthropologie nach dem Ersten Weltkrieg: Transnationale Zirkulation und nationale Politisierung . . . . . . . . . 128

 0VMIKW[MWWIRIVSERXLVSTSPSKMIcƳ :IVLIM©YRKIRYRHYRIVJÇPPXI-SǺRYRKIR . . . . . . . . . . . . . . . . 155  *VWEX^WXSǺJSVWGLYRKREGLHIQ*VWXIR;IPXOVMIK Die Verbindung von Wissenschaft und Praxis bei der Metallgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4.1.4 Jan Czochralski und die Institutionalisierung metallkundlichen Wissens I: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung . . . . . . . . . . . . 186 4.1.5 Die Institutionalisierung metallkundlichen Wissens II: Die Deutsche Gesellschaft für Metallkunde . . . . . . . . . . . . . . . 197 4.1.6 Aus der Industrieforschung in die Hochschule: Czochralskis Umzug nach Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 4.1.7 Die Verlängerung des Kriegswissens in den Frieden: Industrielle, institutionelle und disziplinäre Fortentwicklungen . . . . 215

4.2 Krise und Euphorie: Der Möglichkeits- und Übergangsraum vom Imperium zum Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4.2.1 Wissensakteure im neuen Staat: Nationale Erwartungen und postkoloniale Konstellationen im transnationalen Wissensraum . . . 225 4.2.2 Staatsaufbau und Wissenschaft am Beispiel der neuen Hauptstadt Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

4.3 Die Übersetzung des Wissens in neue Arenen YRHHIVIR,VIR^IRcƳ2IXLSHIR)IROWXMPIYRHXSǺI . . . . . 247 4.3.1 Ludwik Hirszfelds Warschauer Wissensräume: Die Etablierung einer staatlichen Gesundheitspolitik und das Staatliche Hygiene-Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4.3.2 Praktische Anforderungen und Grundlagenforschung am 5>-:SR.QTJWXSǺIR0VEROLIMXIRYRH0SRWXMXYXMSRWWIVSPSKMI . . . . 261 4.3.3 Arenen der Gesundheitspolitik und der angewandten Forschung: Ludwik Hirszfeld als Experte, Berater und Gutachter . . 273 4.3.4 Jan Czochralskis Wissensräume: Die Entwicklung der Verwissenschaftlichung der Technik und die Technische Hochschule Warschau . . . . . . . . 291 4.3.5 Forschen für das Militär: Jan Czochralski, das Chemische Forschungsinstitut und das Institut für Metallurgie und Metallkunde . . . . . . . . . . . . . . 302 4.3.6 Arenen der Technik, der Professionalisierung und der angewandten Forschung: Jan Czochralski als Experte, Berater und Mäzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4.3.7 Das transnationale Leben vor Gericht: Die »zwei Vaterländer« des Jan Czochralski als Hochverrat

. . . . . 329

4.3.8 Wissen und die imaginierte ideale Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . 334

5

Agieren, verlieren und weiterleben . . . . . . . . . . . . . . 339

5.1 Konstellation Zweiter Weltkrieg: Besatzungsherrschaft und Eigensinn . . . . . . . . . . . . . . . . 339 5.2 Der Überfall Deutschlands auf Polen und seine Auswirkungen auf die Wissenschaft . . . . . . . . . . 342 5.3 Aus der Wissenschaft in die Werkstatt: Jan Czochralski und die Technische Hochschule Warschau während der nationalsozialistischen Okkupation. . 349 5.4 Aus dem Staatlichen Hygiene-Institut in die Zwangsgemeinschaft: Ludwik Hirszfeld im Warschauer Ghetto . . . . 372 5.5 Die Herstellung von Sinn in den Grauzonen der Okkupation . 414

6

Neu anfangen, absteigen und wieder aufsteigen . . . 419

6.1 Wissenschaft im Spannungsfeld von Kontinuität und sowjetischer Neuausrichtung . . . . . . . . 424 6.2 Jan Czochralski: Der Abstieg des Experten, der Aufstieg der Expertise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 6.3 Ludwik Hirszfeld: Der Wiederaufstieg des Experten. . . . . . . 439 6.4 Grenzen und Grauzonen im Staatssozialismus . . . . . . . . . . 476

7

Vergessen, erinnern, wiederaneignen: Rezeptionen . 481

7.1

Die Wiederaneignung von Jan Czochralski . . . . . . . . . . . . 481

7.2 Die Rezeption von Ludwik Hirszfeld und seiner Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

8

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563

1 Einleitung Die Erforschung von Stoffen und Substanzen wie Metall und Blut zog zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der ganzen Welt auf sich, ausgelöst durch grundlegende Neuentwicklungen und Entdeckungen in den dazu gehörigen Disziplinen, der Serologie und der Metallkunde. Jan Czochralski (1885-1953) und Ludwik Hirszfeld (1884-1954) gehörten zu den Spitzenforschern unter ihnen. Die Leben dieser beiden transnationalen Wissensakteure, die im Zeitalter der beiden Weltkriege vor allem in Deutschland, der Schweiz und in Polen forschten, lehrten und ihre Expertise beratend für Politik, Industrie und Militär einsetzten, werden in dieser Studie aus einer doppelbiographischen Perspektive betrachtet, die sowohl Parallelen als auch Unterschiede in den Lebensläufen berücksichtigt.1 Diese biogra1 Die Aktualität von Doppel- und Parallelbiographien spiegelt sich im Thema der Helmstedter Universitätstage 2016, die sich dem 20. Jahrhundert als dem »Jahrhundert der Parallelbiographien« widmeten, siehe Martin Sabrow (Hg.), Das Jahrhundert der Parallelbiographien, Leipzig 2017. Zu Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld liegen verschiedene biographische Skizzen vor: Den Lebenslauf von Jan Czochralski hat vor allem der Physiker Paweł E. Tomaszewski intensiv aufgearbeitet. Ihm möchte ich für Gespräche, Anregungen, Korrespondenz und Materialien aus seinem privaten Archiv sehr herzlich danken. Siehe v. a. Paweł Tomaszewski, Powrót. Rzecz o Janie Czochralskim, Wrocław 2012 (englisch und aktualisiert als: Restored, Wrocław 2013) sowie Katrin Steffen, Wissenschaftler in Bewegung: Der Materialforscher Jan Czochralski zwischen den Weltkriegen, in: Journal of Modern European History: Technological Innovation and Transnational Networks: Europe between the Wars 6/2 (2008), S. 237-269 und Dies., Anerkannt, verfemt, rehabilitiert: Der Metallurge Jan Czochralski in Deutschland und in Polen im 20. und im 21. Jahrhundert, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften 6 (2013), S. 220-236. Zu Ludwik Hirszfeld siehe Waldemar Kozuschek, Ludwik Hirszfeld (1884-1954). Rys życia i działalność naukowa, Wrocław 2005; Marek Jaworski, Ludwik Hirszfeld, Warszawa 1977; Jakob Wolf Gilsohn, Prof. Dr. Ludwig Hirszfeld, München 1965. Zudem ist Hirszfelds bis 2010 nur auf Polnisch (Historia jednego życia, Erstausgabe Warszawa 1946) und Serbokroatisch erschienene Autobiographie ins Englische übersetzt und mit einer instruktiven Einleitung versehen worden: Marta Aleksandra Balińska, William H. Schneider (Hg.), Ludwik Hirszfeld. The story of one life, Rochester 2010. Im Jahr 2018 folgte eine deutsche Übersetzung: Geschichte eines Lebens, Paderborn 2018, die hier überwiegend verwendet wird. Siehe zu Hirszfeld auch Katrin Steffen, Maciej Górny, Böses Blut. Die Blutgruppenforschung und der Serologe Ludwik Hirszfeld in Deutschland und in Polen, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 7 (2013/14), S. 97-119, polnisch als: Zła krew. Polsko–niemiecki spór o historię serologii i postać Ludwika Hirszfelda, in: Przegląd Historyczny 3 (2014), S. 435-452 sowie die eher populärwissenschaftliche Darstellung von Urszula Glensk, Hirszfeldowie, Zrozumieć krew, Kraków 2018. 9

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phische Vergleichsperspektive ermöglicht einen Blick darauf, wie ähnlich, aber auch wie unterschiedlich Lebenswege von einem ähnlichen Ausgangspunkt verlaufen können – abhängig von den politischen, wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen, aber auch kulturellen oder konfessionellen Konstellationen und Ordnungen, die das 20. Jahrhundert geformt haben. Die Verknüpfung der individuellen Biographien mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen erlaubt es, unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten, Handlungsoptionen und Grenzen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und für die Generierung wissenschaftlichen Wissens im 20. Jahrhundert aufzuzeigen. Damit wird die Geschichte der Moderne um Aspekte einer transnationalen Wissensgeschichte in der Mitte Europas bereichert, die bislang nur wenig bekannt sind. Die Forschungen beider Wissenschaftler, die oft als Ergebnis kollektiver Anstrengungen entstanden, waren entscheidende Bausteine in der Geschichte der Moderne: Der Metallforscher und Pionier der Halbleiter- und Materialforschung Jan Czochralski erfand im Jahr 1916 eine Methode, nach der noch heute insgesamt 95 Prozent der Weltproduktion an einkristallinem Silizium hergestellt werden, das für jegliche Form von Mikroelektronik wie etwa in Mobiltelefonen gebraucht wird.2 Auf den Mikrobiologen und Serologen Ludwik Hirszfeld und seinen Kollegen Emil von Dungern wiederum geht die Differenzierung der Blutgruppen A, B, AB und 0 zurück. Zudem wiesen Hirszfeld und von Dungern im Jahr 1910 mit erheblichen Auswirkungen auf Medizin und Genetik die Erblichkeit der Blutgruppen nach.3 Die Veröffentlichung dieser Entdeckungen beeinflusste die weitere Entwicklung ihrer Forschungsgebiete sowie deren praktische Anwendung entscheidend. Hirszfeld und Czochralski avancierten in transnationalen Wissensräumen zu anerkannten Wissensakteuren und Experten, bauten sich internationale Netzwerke auf und schufen eine globale Wissenselite in den Natur- und Technikwissenschaften mit. Möglicherweise sind sich die beiden nie begegnet, obwohl dies für die Jahre von 1904 bis 1907 und von 1929 bis 1939 nicht ausgeschlossen wer2 Jürgen Evers u. a., Czochralskis schöpferischer Fehlgriff: ein Meilenstein auf dem Weg in die Gigabit-Ära, in: Angewandte Chemie 115 (2003), S. 2-17. 3 Emil von Dungern, Ludwik Hirschfeld, Über Nachweis und Vererbung biochemischer Strukturen I, in: Zeitschrift für Immunitätsforschung 4 (1910), S. 531-546; Dies., Über Vererbung gruppenspezifischer Strukturen des Blutes, in: Zeitschrift für Immunitätsforschung 6 (1919), S. 284-292. – Beide Wissenschaftler schrieben ihre Namen zu unterschiedlichen Zeiten ihres Lebens je nach Landesart: Im deutschen Sprachraum kam es zum Gebrauch von Ludwig und Hirschfeld; Czochralski verwendete teilweise Johan(n) statt Jan. 10

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den kann. Denn zu diesen Zeiten lebten und arbeiteten sie in den gleichen Städten: erst in Berlin, später in Warschau. Der Nachweis einer Begegnung spielt jedoch für diese Doppelbiographie, die die beiden Wissenschaftler retrospektiv zueinander in Beziehung setzt, keine Rolle. Von Bedeutung ist, dass ihre Leben als Wissenschaftler und öffentlich agierende Experten zumindest bis 1939 in ähnlichen, fast parallelen Bahnen verliefen und – bei allen ebenso wichtigen Unterschieden – zahlreiche strukturelle und ideelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Denn was Hirszfeld und Czochralski verbindet, geht weit über ihre beinahe identische Lebenszeit hinaus. Beide wuchsen in Staaten auf, die Polen in der Zeit von 1772-1795 annektiert hatten: Czochralski als Kind eines katholischen Schreiners im preußischen Teilungsgebiet, Hirszfeld als Sohn einer polnisch-jüdischen Familie im russisch dominierten Polen. Im Unterschied zu vielen Familienmitgliedern waren Hirszfelds Eltern nicht konvertiert, so dass Hirszfeld zeitweise eine jüdische Erziehung genoss. Aber abgesehen davon lebte er nicht das Leben eines praktizierenden Juden – 1919 konvertierte er gemeinsam mit seiner Frau Hanna zum Katholizismus. Dennoch betrachteten viele Nichtjüdinnen und Nichtjuden die Hirszfelds als Juden, während gleichzeitig ihre Konversion manchen Jüdinnen und Juden in Polen als Akt von Opportunismus galt, um besonders seine Karriere zu befördern. Die Erfahrung von Zuschreibung und Antisemitismus begleitete ihn und seine Frau daher ihr gesamtes Leben. Trotz aller strukturellen Unterschiede während ihrer Jugendzeit im deutschen Kaiserreich und im russländischen Imperium teilten sie die Situation, sich an Peripherien zu befinden, an Peripherien, die beide für ihre Ausbildung verlassen wollten. Sie wählten den deutschen Sprachraum: Czochralski ging im Jahr 1904 nach Berlin, einem wichtigen Zentrum der technischen Wissenschaften und der aufsteigenden Industrie. Im Jahr 1917 wechselte er nach Frankfurt am Main. Hirszfeld entschied sich 1902 zunächst für die Universität Würzburg, ein Zentrum medizinischer Lehre, bevor er 1904 ebenfalls nach Berlin zog, wo er promoviert wurde. Anschließend arbeitete er in Heidelberg und in Zürich. Während des Ersten Weltkriegs setzten beide ihre Forschungstätigkeiten fort und präsentierten in der Folge neue Erkenntnisse vor allem aus der Ersatzstoffforschung und der Verbindung von Blutgruppen mit anthropologischen Untersuchungen. Ihr im Krieg erworbenes Wissens- und Erfahrungskapital transferierten sie in die Nachkriegsordnungen der Weimarer Republik bzw. des neuen polnischen Nationalstaates. Mit der Wiedererrichtung des polnischen Staates im Jahr 1918, der aus den zerfallenen Imperien des Russischen Reiches und der Habsburgermonarchie sowie 11

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dem Deutschen Kaiserreich hervorging, ging für beide die Entstehung neuer Handlungs- und Wissensräume einher, Räume voller Möglichkeiten und Herausforderungen, aber auch großer Erwartungen und Risiken. Ludwik Hirszfeld entschied sich bereits 1919, nach Warschau überzusiedeln, Czochralski unternahm diesen Schritt knapp zehn Jahre später. In Polen, wo beide zu gefragten – gleichwohl zeitweise umstrittenen – Experten in Fragen der Modernisierung des Landes, der wirtschaftlichen Entwicklung und der öffentlichen Gesundheitsfürsorge wurden, blieben sie auch nach 1939. Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen und somit in der zweiten Lebenshälfte beider Protagonisten endet die Parallelität der Entwicklung; sie lässt sich nur noch darin sehen, dass der Zweite Weltkrieg in beiden Leben sehr tiefe Spuren hinterließ. Czochralskis fortgesetztes und von Kompromissen mit den Besatzern gekennzeichnetes Arbeiten an der ehemaligen Technischen Hochschule in Warschau während des Krieges führte dazu, dass er nach dem Krieg wegen vermeintlicher Kollaboration mit den deutschen Besatzern angeklagt wurde. Obwohl die Anklage offiziell fallen gelassen wurde, verlor er alle seine Ämter und Funktionen und starb vereinsamt in seinem Heimatdorf Kcynia. Hirszfeld hingegen wurde 1941 wegen seiner jüdischen Herkunft gezwungen, in das Warschauer Ghetto überzusiedeln. Dort engagierte er sich in der medizinischen Versorgung und der Ausbildung junger Medizinerinnen und Mediziner, bevor er fliehen und sich bis Kriegsende verstecken konnte – das Leben seiner einzigen Tochter vermochte er aber nicht mehr zu retten. Nach dem Krieg setzte er seine Laufbahn an der Universität Breslau, die nun zur Universität Wrocław geworden war, fort und blieb auch unter den Bedingungen des Stalinismus zunächst ein international anerkannter Wissenschaftler. Während Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld trotz ihrer langen Lebensphasen in Deutschland und der Schweiz im deutschen Sprachraum außerhalb eines begrenzten Kreises von Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in Metallkunde und Serologie weitgehend unbekannt geblieben sind, gelten sie im Polen der Gegenwart als emblematische, zu nationalen Symbolen erhobene Personen. Sie zählen zu den großen »Polen in der Welt«:4 4 Unter diesem Label hat die polnische Post eine Reihe von Sonderbriefmarken herausgebracht und Hirszfeld und Czochralski im August 2009 gemeinsam auf einem Briefumschlag platziert. Siehe zu einer solchen Funktion von Experten auch Martin Kohlrausch, Helmuth Trischler, Building Europe on Expertise. Innovators, Organizers, Networks, Basingstoke 2014, S. 27. Dem gleichen Narrativ folgend entstand in den Jahren 2019/20 seitens des staatlichen polnischen Fernsehens TVP eine Reihe 12

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Abb. 1: »Polen in der Welt«. Sonderbriefmarken mit Umschlag der Polnischen Post aus dem Jahr 2009

Ludwik Hirszfeld erhielt diese Zuschreibung unmittelbar nach seinem Tod im Jahr 1954. Schon seine Beerdigung fand unter großer Anteilnahme der neu zusammengesetzten Bevölkerung Breslaus statt, und er ist bis heute prominent.5 Jan Czochralskis Tod hingegen erfuhr keinerlei öffentliche Aufmerksamkeit, war er doch nach dem Kollaborationsvorwurf seit 1945 in Vergessenheit geraten. Erst nach 1989 wurde ihm zögerlich ein Platz im nationalen Pantheon eingeräumt, in dem er inzwischen fest verankert ist.6 Am Status der »Polen in der Welt« oder der »Genies und Träumer« zeigt sich deutlich das Potential von Biographien als Praktiken kultureller Sinnstiftung mit narrativen Deutungsangeboten. Biographien befinden sich häufig in einem Spannungsfeld von identitätsrelevanter unter dem Titel »Geniusze i Marzyciele« (Genies und Träumer), die elf polnische Wissenschaftler aus den Feldern Medizin, Naturwissenschaften und Ingenieurswesen präsentiert (darunter keine Frauen). Jeweils einer von diesen Dokumentarfilmen ist Czochralski und Hirszfeld gewidmet – sie sind in der Mediathek von TVP abrufbar: https://vod.tvp.pl/website/geniusze-i-marzyciele,51871329/video (Zugriff am 21. 6. 2021). 5 So wurde der Zeitraum vom Juni 2014 bis zum Mai 2015 durch den Stadtrat von Breslau zum Jahr der Erinnerung an Ludwik Hirszfeld ausgerufen. 6 Davon zeugt unter anderem, dass das polnische Parlament, der Sejm, das Jahr 2013 zum Jahr von Jan Czochralski ausgerufen hat. 13

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Sinnstiftung und historischer Erkenntnis.7 Dementsprechend oft wurde das Erzählen von Lebensgeschichten in den Dienst von Nationen gestellt. Biographische Zugriffe konzentrieren sich daher bis heute überwiegend auf nationale (oder disziplinäre) Kontexte.8 Hier soll die doppelbiographische Betrachtung aber dazu genutzt werden, plurale und dezentrale Sichtweisen auf Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld und deren Wissensräume in Europa und darüber hinaus zu entwickeln, die von den geläufigen Perspektiven »Nation« und »große autonome Erfinder« abrücken bzw. sie kontextualisieren, um einer essentialisierenden Inanspruchnahme ihrer Lebenswege entgegenzuwirken.9 Die Betrachtung der beiden Wissenschaftler orientiert sich nicht an ihrem identitätsstiftenden Potential für Nationalgeschichte(n), sondern an verschiedenen Perspektiven einer transnationalen Wissenschaftsgeschichte, die sich sowohl aus den Parallelen als auch aus den Differenzen ihrer Lebensläufe ergeben. Die transnationale Betrachtung der Leben von Ludwik Hirszfeld und von Jan Czochralski ermöglicht sodann eine Erörterung der Frage, in welchen Verflechtungs-, Transfer- und Übersetzungsprozessen Wissen generiert wurde. Denn die Auswirkungen, die Migration und mehrfache institutionelle und nationale Verankerungen auf das Leben von Wissenschaftlern und die Erträge der Forschung haben konnten, sind zwar oft konstatiert, aber selten konkret erforscht worden.10 Zudem zeigt diese Betrachtung auf, welche Rolle modernes

7 So Volker Depkat, Autobiographie und Biographie im Zeichen des Cultural Turns, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 247-265, S. 247. 8 Pierre Yves Saunier, Going transnational? News from down under, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/index.asp?type=artikel&id=680&view=pdf&pn=forum (Zugriff am 5. 5. 2021). Siehe auch Desley Deacon, Penny Russell, Angela Woollacott (Hg.), Transnational lives. Biographies of global modernity, 1700-present, New York 2010. Verschärfend wirkte die Zeit des Kalten Krieges, in der transnationale Phänomene einer europäischen Binnenmigration einschließlich des östlichen Teil des Kontinents seltener in den Blick der deutschen Geschichtswissenschaft gerieten als etwa transatlantische. 9 Siehe zu einer solchen Perspektive Natalie Zemon Davis, Decentering History: Local Stories and Cultural Crossings in a Global World, in: History and Theory 50 (Mai 2011), S. 188-202; auch Andreas Wimmer, Nina Glick Schiller, Methodological Nationalism and beyond: Nation-State Building, Migration and the Social Sciences, in: Global Networks 2/4 (2002), S. 301-334. 10 Siehe zu einer Geschichte von Migration, die als ein Prozess zu verstehen ist, der nicht unumkehrbar ist, Brian McCook, Becoming Transnational: Continental and Transatlantic Polish Migration and Return Migration, 1870-1924, in: Annemarie Steidl u. a. (Hg.), European mobility. Internal, international, and transatlantic moves in 19th and early 20th centuries, Göttingen 2009, S. 151-173, S. 166; auch die grundlegenden Überlegungen von Jan Lucassen, Leo Lucassen, Introduction, in: 14

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wissenschaftliches Wissen in Europa unter den verschiedenen politischen Rahmenbedingungen des 20. Jahrhunderts gespielt hat. Die nationale und die transnationale Ebene sollten dabei nicht als gegensätzliche Kräfte gesehen werden, sondern als Ebenen, die einander beeinflussten, miteinander interagierten bzw. sich geradezu bedingten, weil sie sich aneinander maßen. Das Verhältnis zwischen diesen Ebenen veränderte sich gleichwohl stets und wurde ständig neu ausbalanciert.11 Unter dieser Prämisse lassen sich die Makroebene und Mesoebene der transnationalen Austauschbeziehungen, von Netzwerken und der Zirkulation von Wissen ebenso in die Betrachtung integrieren wie gleichzeitig die Mikroebene wissenschaftlicher Praktiken und sozialer Beziehungen im Labor sowie in Forschungsinstitutionen oder Fachverbänden als Ausgangspunkt der Analyse genommen werden kann.12 Dabei muss man davon ausgehen, dass die Realität der Mikroebene bereits als ein Ergebnis von Interaktion, Mobilität und Zirkulation zu sehen ist, so dass sich diese lokalen Wissenskulturen nicht mit klar abgrenzenden, kategorialen Zuschreibungen wie »deutsch«, »polnisch«, »jüdisch«, »westlich« oder »östlich« versehen lassen.13 Die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Ebenen lassen sich am Übergang von lokaler Wissenskultur zu überregionalen Wissensräumen besonders gut beobachten. Auf der Mikroebene ist Wissenschaft als sozialer Prozess in einem lokalen Umfeld zu interpretieren, der bestimmten Verhaltensmustern und Ordnungsprinzipien folgt, wozu unter anderem Geschlechter-

Dies. (Hg.), Migration, migration history, history. Old paradigms and new perspectives, Bern u. a. 1997, S. 9-38. 11 Robert Fox, The Dream that never dies: The Ideals and Realities of Cosmopolitanism in Science, 1870-1940, in: Studia Historiae Scientarum 16 (2017), S. 29-47, S. 32. 12 Ein solcher Ansatz ist bislang nicht allzu häufig zu finden. Ein Beispiel ebenfalls aus Polen mit einem Fokus auf der literarischen Avantgarde ist Marci Shore, Caviar and ashes. A Warsaw generation’s life and death in Marxism, 1918-1968, New Haven 2006. Siehe auch Eric Engstrom, Volker Hess, Ulrike Thoms (Hg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2005; Dittmar Dahlmann (Hg.), Elitenwanderung und Wissenstransfer im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 2008; Margit Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte – Wissenschafts-Geschichte. Vom Nutzen der Biographie für Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 17-35. 13 Wissenskulturen sollen hier als lokal geteilte Praktiken vor dem Hintergrund historischer Traditionen, Überzeugungen und Mechanismen von Tradierung verstanden werden, siehe dazu Wolfgang Detel, Wissenskulturen und epistemische Praktiken, in: Johannes Fried, Thomas Kailer (Hg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, Berlin 2003, S. 119-132. 15

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ordnungen und Hierarchien in der Wissenschaft zu zählen sind.14 Die lokale und zeitliche Gebundenheit von Wissensbeständen tritt auf dieser Ebene deutlich hervor und lässt die vielfältigen Akteure menschlicher und nicht-menschlicher Provenienz in lokalen Laborgefügen zu Wort kommen, trägt doch die Materialität der Wissensproduktion erheblich zum Verständnis von Wissensgenerierung bei.15 Die Analyse der Lebensgeschichten beider Wissenschaftler über die Umbrüche von 1918, 1939 und 1945 hinweg erlaubt es darüber hinaus, die Praktiken, Codes und Handlungsstrategien zu erschließen, mit denen Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski in unterschiedlichen staatlichen, nationalen und wissenschaftlichen Ordnungen ihren Status und ihre Autorität als Wissensakteure und Experten herstellten, welche Kompromisse sie dafür eingehen mussten und welche Grenzen ihnen gesetzt waren. Wie und durch welches performative Handeln konnte ihr Wissen an Bedeutung gewinnen, sowohl innerhalb ihrer epistemischen Fachgemeinschaften als auch in der Gesellschaft? Wann wurde es aus welchen Gründen obsolet? Aus dieser Perspektive werden Mechanismen sichtbar, wie Wissenschaft und Politik zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als »Ressourcen füreinander« gewirkt haben. So hat der Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash die Konstellation genannt, in der Wissenschaftler und Politiker als Akteure wechselseitig aufeinander zugreifen und ein dynamisches und wechselseitiges Beziehungsgeflecht bilden.16 Eine solche Konstellation, die Austausch und keine statischen Muster beinhaltet, sondern vor allem in ihrem Zeitverlauf beschreibbar ist, bedeutet nicht, automatisch anzunehmen, dass der Medizin oder den Natur- und Technikwissenschaften das Politische nicht inhärent gewesen sei, wie Volker Roelcke angemerkt hat.17 Sie ermöglicht es 14 Siehe auch Tomasz Majewski, Agnieszka Rejniak-Majewski, Wiktor Marzec, Migracje intelektualne: paradygmaty teorii i materializm biograficzny, in: Dies. (Hg.), Migracje modernizmu. Nowoczesność i uchodźcy, Łódź 2014, S. 7-55, S. 48. 15 Dies hat zuletzt Katharina Kreuder-Sonnen eindrucksvoll dargelegt, siehe Dies., Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin 1885-1939, Tübingen 2018. 16 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Rüdiger vom Bruch, Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüche und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32-51; auch Martin Kohlrausch, Katrin Steffen, Stefan Wiederkehr, Introduction, in: Dies. (Hg.), Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I, Osnabrück 2010, S. 9-30, S. 21-23. 17 Dazu Volker Roelcke, Auf der Suche nach der Politik in der Wissensproduktion: Plädoyer für eine historisch-politische Epistemologie, in: Berichte für Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), S. 176-192, S. 183. 16

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aber, bei der Betrachtung konkreter Praktiken Nuancen und Abstufungen zu berücksichtigen, für deren Erfassung der sehr offene Ressourcenbegriff geeignet erscheint, selbst wenn man davon ausgeht, dass jeglicher Wissenschaft Politisches innewohnt. Von einer in früheren Zeiten zuweilen konstatierten, einfachen Dichotomie zwischen vermeintlich unpolitischen, forschenden Wissenschaftlern und einer fordernden oder autoritären Politik ist jedenfalls in dieser Arbeit keineswegs auszugehen, im Gegenteil.18 Die von Czochralski und Hirszfeld stets akzentuierte Verbindung von Theorie und Praxis an einer Schnittstelle von Wissenschaft und deren Anwendung erforderte ihr aktives öffentliches Handeln in Verbänden, Fachgesellschaften, als Gutachter, als Förderer von Kunst und Museen sowie als Berater für Politik, Industrie und Militär sowohl in Deutschland als auch in Polen. Die Spielräume für dieses Handeln variierten jedoch erheblich: Vor allem während des Zweiten Weltkriegs waren sie extrem begrenzt bzw. für Ludwik Hirszfeld wegen seiner jüdischen Herkunft eine Zeitlang kaum mehr vorhanden. Im Staatssozialismus in Polen stand die Ausübung von Wissenschaft dann immer mehr unter Kontrolle. Während aber für Jan Czochralski in der Zeit nach 1945 für eine Fortsetzung seiner eingeübten Rolle als öffentlich agierender Gelehrter und Experte so gut wie keine Handlungsräume mehr existierten und die Ressource »Czochralski« nicht mehr erwünscht war, konnte Ludwik Hirszfeld zumindest bis zur Hochphase des Stalinismus seine wissenschaftlichen Ziele weitgehend ungehindert verfolgen. Um das jeweilige Handeln in repressiven Systemen zu beschreiben, hat sich das Konzept des Eigensinns bewährt, das Alf Lüdtke in die Alltagsgeschichte eingebracht hat. Denn damit lassen sich die Gleichzeitigkeit und die Widersprüchlichkeit mancher Aktivitäten von Hirszfeld und Czochralski, die von Mitmachen, Zustimmen oder Hinnehmen bis zu Sich-Distanzieren oder Widerstand reichten, erfassen.19 Die parallele und damit vergleichende Betrachtung beider Lebenswege ermöglicht Erkenntnisse, die bei der Fokussierung auf ein Individuum ausgeblendet blieben, weil sie aufzeigt, wie verschieden Lebenswege von einem ähnlichen Ausgangspunkt aus verlaufen können. Der doppelbiographische Zugriff über die erwähnten Zäsuren hinweg eröffnet zudem 18 Siehe dazu Katrin Steffen, Martin Kohlrausch, The limits and merits of internationalism. Experts, the state and the international community in Poland in the first half of the twentieth century, in: European Review of History 16/5 (2009), Special issue: Transnational Spaces in History, S. 715-737. 19 Siehe Belinda Joy Davis, Thomas Lindenberger, Michael Wildt, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen, Festschrift für Alf Lüdtke zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2008, S. 11-28, S. 18. 17

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die Chance, die Möglichkeiten und Risiken der Wissenschaftlerleben unter verschiedenen politischen Rahmenbedingungen nachzuzeichnen: unter denen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der Zweiten Polnischen Republik, der nationalsozialistischen Okkupation und des Staatssozialismus, das heißt unter den miteinander wetteifernden Großordnungen des 20. Jahrhunderts, den demokratischen, autoritären und diktatorischen Regimen.20 Die Leben der individuellen Akteure sind eng mit der Entwicklung der Wissenschaft auf dem Weg in die Moderne verbunden, aber auch mit dem Wandel, den die Gesellschaften erfuhren, in denen sie lebten, die politischen, die wirtschaftlichen und vielfach auch die kulturellen Veränderungen, von denen das Jahrhundert geprägt war. Daher lässt sich aus der doppelbiographischen Perspektive das 20. Jahrhundert, das von Zäsuren und Zerrissenheit, von Gewalt und von Zwängen ebenso wie von zahlreichen Optionen und Chancen geprägt war, besonders gut beleuchten.21 Es entsteht ein multiperspektivischer Beitrag zur Geschichte der Moderne, der vielfach gewohnte Zuordnungen in Frage stellt. 1.1 Wissenschaft biographisch erfassen

Biographien galten vor allem aus sozialgeschichtlicher Perspektive in den 1960er und 1970er Jahren als ein eher verstaubtes, methodisch konservatives, wenn nicht gar reaktionäres Genre. Ende der 1980er Jahre hat Pierre Bourdieu zudem auf die »biographische Illusion« hingewiesen – die Tendenz einer jeden Biographie, ein Leben so kohärent nachzuerzählen, dass es einen Sinn ergibt und von vornherein teleologisch auf das Ende ausgerichtet ist.22 Die in der Folge zunehmende Kritik an dem Genre von poststrukturalistischer, postkolonialer und feministischer Seite sowie Anregungen aus der Alltagsgeschichte, der soziologischen Lebenslaufforschung und der Kulturanthropologie haben zu einer verstärkten Reflexion über biographische Methoden und Theorien in der Literaturwissenschaft, in den Sozialwissenschaften und in der Geschichtswissenschaft beigetragen. Biographische Zugänge sind dadurch selbstreflexiver, kritischer und in der Einsicht, stets subjektiv und nie20 Siehe auch Martin Sabrow, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Parallelbiographien, S. 7. 21 Ders., Gefährten, Gegner und Kollegen – Das 20. Jahrhundert der Parallelbiographien, in: Ders. (Hg.), Parallelbiographien, S. 9-11, S. 10. 22 Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion (Original 1986), in: BIOS 3 (1990), S. 75-81, dazu Lutz Niethammer, Kommentar zu Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: Ebd., S. 91-93. 18

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mals vollständig zu sein, wissenschaftlicher geworden.23 Im Ergebnis haben wir es heute mit einer hohen Pluralität von Ansätzen der Biographieforschung zu tun.24 Die daraus resultierenden Erkenntnisfortschritte lassen sich auf die hier gewählte Zeit und den Raum in der Mitte Europas gut anwenden, weil Biographien Gegenstand interdisziplinären Interesses sind und weder vor territorialen noch vor Epochengrenzen haltmachen. Sie können einer Essentialisierung von Räumen entgegenwirken, womit man im Fall von Osteuropa oder Ostmitteleuropa immer wieder konfrontiert ist, da die Region häufig als eine Region extremer Gewalt oder permanenter, abenteuerlicher Krisen konzipiert wird. Das Genre Biographie erlaubt es aber, eng gesetzte räumliche, politische, soziale oder kulturgeschichtliche Zäsuren zu überwinden, wodurch die Komplexität und die Vielschichtigkeit von historischen Situationen sehr gut erfasst und die Dynamik von Wandel oder Kontinuität beschrieben werden können. Biographien erfreuen sich daher in der Historiographie in den letzten Jahrzehnten einer zunehmenden Beliebtheit. Gemeinsam ist ihnen, dass sie individuelle Praktiken und gesellschaftliche Strukturen miteinander verbinden und sie in ihren sozialen, ethnischen, wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Kontexten untersuchen, ohne diese Kontexte voneinander abzugrenzen.25 Denn solche Grenzen haben individuelle Leben noch nie definiert.26 Von einer Aufhebung von Grenzen hat auch die Biographik in der Wissenschaftsgeschichte profitiert, die sich möglicherweise sogar besser als andere narrative Genres zur Ver-

23 Siehe zusammenfassend Levke Harders, Legitimizing Biography: Critical Approaches to Biographical Research, in: Bulletin of the GHI 55 (2014), S. 49-56, S. 50; auch Christoph Gradmann, Nur Helden in weißen Kitteln? Anmerkungen zur medizinhistorischen Biographik in Deutschland, in: Hans Erich Bödeker (Hg.), Biographie schreiben, Göttingen 2003, S. 243-284. 24 Grundlegend Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009. 25 Siehe etwa Hans Erich Bödeker, Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand, in: Ders. (Hg.), Biographie schreiben, S. 11-63, S. 20; Simone Lässig: Biography in Modern History – Modern History in Biography, in: Volker Berghahn, Simone Lässig (Hg.), Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography, New York 2008, S. 1-26, S. 10-11; auch Gradmann, Helden, S. 259 sowie Helmuth Trischler, Im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft. Aufgaben, Themenfelder und Probleme technikbiographischer Forschung, in: BIOS, Sonderheft 1998, Biographie und Technikgeschichte, S. 42-58. 26 Deacon, Russell, Woollacott, Introduction, S. 5. 19

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mittlung wissenschaftsgeschichtlicher Themen eignet.27 Die Annahme, Wissenschaft sei determiniert vom Handeln einer Reihe von »großen Männern« und als deren Erfolgsgeschichte zu verstehen, ist durch eine integrierte Perspektive ersetzt worden, in der Wissenschaft an ihre Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge rückgebunden wird. Wissenschaftliches Wissen entwickelt sich in Interdependenz zur Gesellschaft, zu Institutionen, Netzwerken und Diskursen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft.28 Die erkenntnistheoretischen Überlegungen von Ludwik Fleck haben zu der Überzeugung, dass Wissenschaft nicht in den Köpfen einiger weniger »genialer Geister« stattfindet und keine lineare Ansammlung von Entdeckungen und Erkenntnissen auf dem Weg zu einer allgemein akzeptierten Wahrheit ist, erheblich beigetragen. Ausgehend von den Begriffen des Denkstils und des Denkkollektivs relativierte Fleck bereits 1935 das naturwissenschaftliche Denken und setzte es mit anderen Denkweisen gleich. Das Modell von Fleck, der sich 1946 an der medizinischen Fakultät in Breslau bei Ludwik Hirszfeld habilitierte, erlaubt es, die Kohärenz und Entwicklung wissenschaftlichen Wissens jenseits positivistischer Theorien der Wissenschaftsentwicklung als sozialen Prozess zu beschreiben, und verweist darauf, dass (Natur-)Wissenschaft und »wissenschaftliches Wissen« trotz vermeintlich universaler Gültigkeit immer lokal verankert und bedingt sind.29 In diesem Zusammenhang ist eben auch die Frage nach der »einen« großen Entdeckung 27 Dazu Ulrich Raulff, Das Leben – buchstäblich. Über neuere Biographik und Geschichtswissenschaft, in: Christian Klein (Hg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Weimar 2002, S. 55-68, S. 68. Siehe auch Christian von Zimmermann (Hg.), (Auto)Biographik in der Wissenschaftsund Technikgeschichte, Heidelberg 2005. 28 Siehe dazu Paola Govoni, Crafting Scientific (Auto)Biographies, in: Dies., Zelda Alice Franceschi (Hg.), Writing about Lives in Science. (Auto)Biography, Gender, and Genre, Göttingen 2014, S. 7-30, S. 15; Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte, S. 23. 29 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1980 [1935]. Zur Frage der Anwendbarkeit und der Aktualität der Überlegungen von Fleck siehe auch die Veröffentlichungen zu Ludwik Fleck: Rainer Egloff (Hg.), Tatsache – Denkstil – Kontroverse. Auseinandersetzungen mit Ludwik Fleck, Zürich 2005; Bożena Chołuj, Jan C. Joerden (Hg.), Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, Frankfurt a. M. 2007 sowie das Primärmaterial in: Sylwia Werner, Claus Zittel, Florian Schmaltz (Hg.), Ludwik Fleck. Style myślowe i fakty. Artykuły i świadectwa, Warszawa 2007, deutsch als: Sylwia Werner, Claus Zittel (Hg.), Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, Berlin 2011; siehe auch Katrin Steffen, Wissen auf Wanderschaft. Zum Übersetzungsprozess des Werkes von Ludwik Fleck, in: Dietlind Hüchtker, Alfrun Kliems (Hg.), 20

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und ihrem alleinigen Erschaffer oder ihrer Erschafferin zunehmend einer großen Vielfalt von Ansätzen gewichen.30 Für die Biographien von Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld heißt dies, in dieser Studie nach den unterschiedlichen Ressourcen zu fragen, die sie in ihrer Arbeit mobilisiert haben – Texte, Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen Laboren, materielle Ausstattung, Austausch und Gedanken anderer Forschender. Denn ohne die Existenz bestimmter epistemischer und kultureller Konstellationen, Materialitäten sowie von Denkkollektiven31 im Sinne Ludwik Flecks wären die Erfindungen, die ihnen zugeschrieben werden, kaum entstanden oder interpretierbar und anwendbar gewesen. Die in der wissenschaftshistorischen Biographik häufig anzutreffenden Phänomene von Linearität und Kohärenz sind in den letzten Jahren ebenfalls verstärkt in die Kritik geraten.32 Die Lebensläufe von Czochralski und Hirszfeld, die keine kohärenten autonomen Subjekte abbilden, sondern Fragmente von Leben, gehen nicht allein in einem linearen Narrativ erfolgreicher Wissenschaft auf. Zum Teil haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (und nicht nur sie) aber in diesem Sinne bereits zu Lebzeiten an ihrer eigenen Inszenierung oder Mythologisierung gearbeitet und ihre Nachlässe zielgerichtet geordnet.33 Eine reflexive Auseinandersetzung mit dem »gemachten« Leben ist daher geboten. Dazu gehört, die Brüche und Misserfolge in den Lebensläufen von Hirszfeld und Czochralski in das erzählte Leben zu integrieren. Biographien in der Wissenschaftsgeschichte stehen dabei relativ oft vor dem Problem, dass sich Angaben über das Scheitern von Versuchen oder Experimenten selten in gedruckten Arbeiten, autobiographischen oder biographischen

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Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 125-147. Siehe Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte, hier S. 21; Helge Kragh, An Introduction to the Historiography of Science, Cambridge u. a. 1987, S. 171. Ein Denkstil hält nach Ludwik Fleck ein Denkkollektiv zusammen, wobei der Denkstil von Fleck als »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen« definiert wird. Ein Denkstil verweist auf gemeinsame Interessen und Urteile, die ein Kollektiv von Menschen, die ähnlich denken, für offensichtlich hält, und auf bestimmte Methoden, die von diesem Kollektiv für die Erkenntnisgewinnung verwendet werden, siehe Fleck, Entstehung und Entwicklung, S. 130 ff. Gradmann, Helden, S. 261. Wilhelm Füßl, Übrig bleibt, was übrig bleiben soll. Zur Konstruktion von Biographien durch Nachlässe, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014), S. 240161, S. 241. 21

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Notizen wiederfinden.34 Die veröffentlichten Forschungsergebnisse und auch Autobiographien spiegeln vielfach die Sichtweise »erfolgreicher Forschung« wider.35 Wie steinig der Weg zu solchen Ergebnissen gewesen sein mag oder von welchen Rückschlägen er gekennzeichnet war, lässt sich in den seltensten Fällen nachvollziehen, obwohl auch gescheiterte Versuche dazu beitragen, neues Wissen zu erzeugen – dann ist es fraglich, ob überhaupt noch von Scheitern die Rede sein kann. Die Betrachtung sowohl der greifbaren Erfolge als auch der Brüche im Leben von Hirszfeld und Czochralski soll daher zum Verständnis beitragen, welche Entwicklungen und Rahmenbedingungen die Generierung von Wissen beförderten oder verhinderten. Trotz der bereits erwähnten strukturellen Gemeinsamkeiten im Leben von Hirszfeld und Czochralski verliefen die Leben der beiden Wissenschaftler nicht stets parallel zueinander: Nicht alle einschneidenden Erlebnisse in ihrem Leben fanden zur gleichen Zeit statt, und nicht alle Ereignisse wie die beiden Weltkriege hatten ähnliche Auswirkungen auf sie. Auch die Tatsache, dass Czochralski erst 1928 nach Polen zog, während Hirszfeld bereits seit 1919 dort lebte, und die Leben der beiden Wissenschaftler seit 1939 recht unterschiedlich verliefen, führt zu Abweichungen. Zu berücksichtigen ist hier die jüdische Herkunft von Ludwik und Hanna Hirszfeld, die, verursacht vor allem durch Fremdwahrnehmung, im Leben des Ehepaars phasenweise eine entscheidende Rolle spielte, während für Jan Czochralski, soweit sich dies rekonstruieren lässt, die Frage der Konfession keine größere Bedeutung erlangte. Unter der Prämisse »Parallele Lebensläufe berühren oder schneiden einander ebenso wenig wie parallele Linien«36 wird diese Doppelbiographie ihre Leben dennoch weitgehend parallel in den Blick nehmen. Einer der bekanntesten und ältesten Vertreter des Genres der Parallelbiographie, Plutarch, sah in ihr eine Methode, um jeweils das Gemeinsame wie das Individuelle zu erkennen.37 Hier geht es allerdings nicht darum, die Individuen als von der Gesellschaft beeinflusst zu sehen oder danach zu suchen, wie sich die Gesellschaft im Individuum widerspiegelt, denn Individuum und Gesellschaft sind keine autonome Einheiten, zwischen denen wechselseitige Einflüsse existieren. Eine solche dichotomische Trennung von Kollektivem und Individuellem lässt sich nicht aufrechter34 Siehe auch Stefan Zahlmann, Sylka Scholz (Hg.), Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Gießen 2005. 35 Füßl, Konstruktion, S. 243. 36 Alan Bullock, Hitler und Stalin, Parallele Leben, Berlin 1991, S. 8-9. 37 Siehe Hartmut Erbse, Die Bedeutung der Synkrisis in den Parallelbiographien Plutarchs, in: Hermes 84/4 (1956), S. 398-424. 22

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halten, weil sich das Individuum nicht autonom von der Gemeinschaft abhebt. Daher wird eine integrierte Perspektive gewählt, in der für beide Wissenschaftler vergleichend das Gemeinsame im Unterschiedlichen gesucht wird, das sich sowohl in der wissenschaftlichen Entwicklung als auch in der Stellung der beiden Wissenschaftler in der Gesellschaft finden lässt. Insgesamt eignet sich die doppelbiographische Betrachtung, die die Analyse der Lebensläufe der Einzelpersonen mit solchen wissenschaftshistorischen Ansätzen verbindet, die Wissenschaft als sozialen Prozess verstehen, um Felder zu integrieren, die in der Forschung bislang weniger berücksichtigt wurden.38 Die weitgehend parallele Darstellung ihrer Rollen als männliche, weiße Wissenschaftler in epistemischen Gemeinschaften, die aus einer ähnlichen Ausgangslage kamen und ähnliche wissenschaftliche Ziele und Lebensaufgaben verfolgten, erlaubt einen Einblick in die Entstehung und das Funktionieren solcher Gemeinschaften und deren Praktiken. Dazu gehört, dass sich beide an Schnittstellen von Wissenschaft und deren Anwendung in der Industrie, dem Militär und in der Politik bewegten, beide für ihre wissenschaftlichen Felder eine enge Verbindung von Theorie und Praxis forderten und beide den praktischen Nutzen ihrer Forschungen akzentuierten. Beide Wissenschaftler waren darüber hinaus davon überzeugt, dem Lauf der Dinge – oder auch der Gesellschaft – durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten eine neue Richtung geben zu können, und verliehen diesem Selbstbild in ihren Schriften Ausdruck. Sie verorteten sich semantisch in der »Moderne«, der Zeit einer antizipierten Zukunft, in die sie über ihre Forschungen und die daraus entstandene Expertise steuernd einzugreifen planten.39 Sie wollten die Welt transformieren.40 Beide Wissenschaftler galten als herausragend in ihrem jeweiligen Gebiet und beide verstanden es, ihrer Expertise die Stellung von universalem, handlungsleitendem und stark nachgefragtem Wissen zu verleihen – dies gelang wiederum nicht durchgängig und 38 Siehe zu solchen Funktionen von Doppelbiographien Levke Harders, Hannes Schweiger, Kollektivbiographische Ansätze, in: Klein, Handbuch Biographie, S. 194-198, S. 197 und Hannes Schweiger, Die soziale Konstituierung von Lebensgeschichten. Überlegungen zur Kollektivbiographik, in: Bernhard Fetz (Hg.), Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, unter Mitarbeit von Hannes Schweiger, Berlin 2009, S. 317-352, S. 332. 39 Dazu Christoph Dipper, Moderne, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25. 8. 2010, URL: http://docupedia.de/zg/Moderne?oldid=84639 (Zugriff am 3. 4. 2021). 40 Damit entsprachen sie dem, was der Philosoph Tzvetan Todorov für die Wissenschaften nach dem Ersten Weltkrieg allgemein festgehalten hat: Sie hätten nicht länger Wissen über die Welt zusammentragen, sondern sie transformieren wollen, siehe Ders., The Limits of Arts: Two Essays, London 2010, S. 42. 23

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der Einbezug dieser Brüche erlaubt es, die Grenzen aufzuzeigen, mit denen beide konfrontiert waren und die sie zeitweilig in unterschiedlich begründete Außenseiterpositionen brachten. Indem Hirszfeld und Czochralski aus ihrer nationalen Verankerung gelöst und die Chancen und Risiken der transnationalen Aspekte ihres Lebens über System- und Länderwechsel hinaus deutlich gemacht werden, wird sichtbar, wie Wissen und Fragmente von Identitäten und Lebenswegen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten produziert werden. Ebenso kann ein und dieselbe Person an verschiedenen Orten in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Rollen spielen und unterschiedliche performative Strategien einsetzen – dies lässt sich an den Lebensläufen von Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld sehr deutlich beobachten, verstanden sie es doch, sich an die jeweiligen wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Anforderungen in verschiedenen Wissensräumen etwa in Berlin, Frankfurt, in Saloniki oder in Warschau anzupassen. Sie verankerten sich lokal und gehörten gleichzeitig zu grenzübergreifenden, epistemischen Gemeinschaften, die sich oft kooperativ, keineswegs aber immer konsensual verhielten.41 In dieser Zugehörigkeit ist ebenfalls eine wesentliche Gemeinsamkeit von Czochralski und Hirszfeld zu sehen. Der doppelbiographische Ansatz ermöglicht somit eine Annäherung an die Lebenswege der beiden Wissenschaftler als eine Summe von sozialen und wissenschaftlichen Interaktionen, eine Summe von Rollen, die sie in verschiedenen Feldern spielten, und ebenso als ein Ergebnis von Selbstdarstellungen und Fremdwahrnehmungen.42  *\TIVXMWI;MWWIRWFIWX®RHIYRHXSǺIZIVSVXIR

Es ist eine besondere Herausforderung für die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Experten wie Czochralski und Hirszfeld und ihre Expertise transnational zu betrachten, da Expertinnen und Experten oft mit national organisierten und finanzierten Institutionen und Politiken verbunden waren. Der biographische Ansatz bietet hier aufgrund seines grenzüberschreitenden Charakters die Möglichkeit, sowohl die lokalen als auch die nationalen und globalen Räume des Handelns der Experten 41 Dazu Susan Leigh Star, Cooperation Without Consensus in Scientific Problem Solving: Dynamics of Closure in Open Systems, in: Steve Easterbrook (Hg.), CSCW Cooperation or Conflict, Berlin 1993, S. 93-106. 42 Dazu auch Simon Karstens, Die Summe aller Wahrheiten und Lügen. Ein Erfahrungsbericht zur geschichtswissenschaftlichen Biographie, in: BIOS 24/1 (2011), S. 78-97. 24

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Czochralski und Hirszfeld zu erfassen. Als Expertinnen und Experten sollen dabei professionell ausgebildete Personen gelten, die als solche von ihren Kolleginnen und Kollegen und einer breiteren Öffentlichkeit anerkannt wurden. Der Status eines Experten oder einer Expertin ist nicht unbedingt festgelegt, er ist in hohem Maße abhängig von den politischen, kulturellen, sozialen, ökonomischen und wirtschaftlichen Umständen. Experten werden von ihren Interaktionen mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft geformt, die ihre Expertise anfordern – ihr Status ist daher immer auch ein Ergebnis kultureller Zuschreibungen und kommunikativer Aushandlungsprozesse.43 Expertise materialisiert sich durch Performanz. Expertinnen und Experten, die in den Feldern von Wissenschaft, Staat und Gesellschaft gleichermaßen zuhause waren, sind dann erfolgreich, wenn sie in diesen Feldern ihre jeweiligen Zuhörer und Zuhörerinnen von ihrer Expertise überzeugen können.44 Expertinnen und Experten sind an der Gestaltung und Definition gesellschaftlicher Systeme beteiligt, sie können Demokratisierung fördern und ebenso gegen sie agieren; wie ihr Wissen genutzt wird, unterliegt nicht immer ihrer Kontrolle, worauf bereits Ludwik Fleck und Michel Foucault hingewiesen haben.45 Sie sind oft Akteurinnen und Akteure in Arenen, die sie zum Teil selbst etabliert haben. Eine Arena ist dabei vor allem als ein Schauplatz zu verstehen: der Ort einer performativen Inszenierung, an dem Sinn gestiftet und Bedeutung hergestellt wird für ein Publikum, für das diese Sinnstiftung verständlich sein muss.46 Hirszfeld und Czochralski, deren Status als Wissenschaftler und die daraus erwachsene individuelle Reputation die Voraussetzungen für Anerkennung und öffentliche Wirksamkeit als Experte waren, traten in Arenen der Gesundheitspolitik sowie der Verwissenschaftlichung der Technik und der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Technik in Industrie und Militär auf. Sie wussten, mit welchen performativen Stra43 Steffen, Kohlrausch, The limits and merits. 44 Joris Vandendriessche, Evert Peeters, Kaat Wilms, Introduction: Performing Expertise, in: Dies. (Hg.), Scientist’s Expertise as Performance: Between State and Society, 1860-1960, London 2015, S. 1-13, S. 2. 45 Fleck vermerkte 1935, dass Worte bei jedem Individuum andere Assoziationen wecken, so dass »der Empfänger den Gedanken nie vollkommen in dieser Weise [versteht], wie ihn der Sender verstanden haben wollte«; siehe Fleck, Entstehung und Entwicklung, S. 58; auch Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 8. 46 Karsten Holste, Dietlind Hüchtker, Michael G. Müller, Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, in: Dies. (Hg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, S. 9-19, S. 10. 25

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tegien und Argumenten sie sich jeweils in Szene setzen und wie ihr Wissen auch abseits von Laborsituationen gesellschaftlich und kulturell relevant werden konnte. In Polen reagierten beide Wissenschaftler zum Beispiel auf die Anforderungen eines Landes, das nach 1918 auf der Suche nach dem »Konkreten [war], das der Nation so lange nicht gegeben war«, so einer der bekanntesten Journalisten des Landes, Melchior Wańkowicz.47 Die Gebiete der Metallkunde und der Medizin passten jedenfalls exzellent zu dieser Suche, weil sie über den Aufbau von Industrie, Militär und der Gesundheitsversorgung von unmittelbarem Nutzen für die Gesellschaft waren. Die Wissenschaftler lebten in einer Zeit, in der Technikbegeisterung herrschte. Die Erwartungen, dass Ingenieure, Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen ihre Kompetenzen für den Fortschritt der Menschheit einsetzten, waren groß.48 Der Aufstieg von Experten und technokratischer Expertise, der stark von der zunehmenden Rationalisierung und Standardisierung in den USA profitierte, war ein signifikanter Prozess für die Gesellschaftsentwicklung innerhalb wie außerhalb Europas – ein Prozess, der von einem steilen Anstieg der Bedeutung von Wissen und zunehmender Professionalisierung begleitet wurde.49 Ingenieure, Chemikerinnen und Chemiker, Medizinerinnen und Mediziner nahmen immer wichtigere Positionen im sozialen Leben ein. Sie avancierten zu einer Schlüsselressource für Nationalstaaten, für Unternehmen, die Industrie und Gesellschaften.50 Sie verstanden sich vielfach als Erschaffer und als Retter von Gesellschaften, als technische und gleichzeitig als kulturelle Elite, oder wie es Conrad Matschoß, der Direktor des Vereins Deutscher Ingenieure, 1924 für die USA zusammenfasste: »Man kann in Amerika auch in der guten Gesellschaft schon über neueste technische Errungenschaften sprechen und braucht sich nicht nur über Bil47 Melchior Wańkowicz, C. O. P. Ognisko siły – Centralny Okręg Przemysłowy, Warszawa 1938. 48 Bedrich Loewenstein, Der Fortschrittsglaube. Europäisches Geschichtsdenken zwischen Utopie und Ideologie, Darmstadt 2015, S. 356-358. 49 Charles S. Maier, Between Taylorism and Technocracy. European Ideologies and the Vision of Industrial Productivity in the 1920s, in: Journal of Contemporary History 5 (1970), S. 27-61; Martin Kohlrausch, Technological Innovation and Transnational Networks. Europe between the Wars, in: Journal of Modern European History 2 (2008), S. 181-195; Engstrom, Hess, Thoms, Figurationen des Experten, S. 7-17; Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 2/2 (1996), S. 165-193; Mitchell G. Ash, Wissens- und Wissenschaftstransfer – Einführende Bemerkungen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 29 (2006), S. 181-189. 50 Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 5. 26

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der, Theater und Musik zu unterhalten.«51 Hirszfeld und Czochralski gehörten zweifellos zu denjenigen Wissenschaftlern und Experten, die den Erwartungen an eine bessere Befriedigung menschlicher Bedürfnisse mittels naturwissenschaftlichem und technologischem Fortschritt gerecht werden konnten und wollten. Zu ihrem Aufstieg als Experten trug ihre mehrfache Verankerung in verschiedenen Wissenskulturen bei, zudem profitierten sie von der Ausweitung von transnationaler Kooperation und Kommunikation seit dem 19. Jahrhundert, aus der transnationale epistemische Gemeinschaften und Netzwerke hervorgingen.52 Transnationale Geschichte ist dabei – in Abgrenzung zu internationaler Geschichte, die die Beziehungen zwischen Staaten in den Mittelpunkt rückt – vor allem als eine offene und flexible analytische Perspektive, als eine Sichtweise, zu verstehen.53 Die Definitionen der transnationalen Geschichte sind relativ vage geblieben, was ihren Erfolg mit begründet hat.54 Zu Recht wurde daher die Frage gestellt, ob transnationale Geschichte etwas Neues oder Innovatives ist oder nur ein neues Label für vergleichende Geschichte, internationale Geschichte, Beziehungsgeschichte, Histoire Croisée oder Globalgeschichte.55 Zweifellos wurde transnationale Geschichte von der vergleichenden Geschichte inspiriert, ebenso von der Globalgeschichte. Aber im Unterschied zur Makroebene der Globalgeschichte verfolgt sie lokale ebenso wie globale Ansätze, wid51 Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure 68/46 (1924), S. 1207. Matschoß kritisierte die wissenschaftliche Gründlichkeit und »Geistreichelei« in Deutschland, die viele Ergebnisse zu unverständlich formuliere. Siehe auch Jürgen Kocka, Kultur und Technik. Aspirationen der Ingenieure im Kaiserreich, in: Themenportal Europäische Geschichte (2012), URL: http://www.europa.clio-online.de/2012/Article=568 (Zugriff am 13. 1. 2021) und für Polen Józef Piłatowicz, Kadra inżynierska w II Rzeczypospolitej, Siedlce 1994, S. 226. 52 Ralph Jessen, Jakob Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte. Frankfurt a. M. 2002. 53 C. A. Bayly, Sven Beckert u.a, AHR Conversation: On Transnational History, in: The American Historical Review 111/5 (2006), S. 1441-1464, S. 1459. 54 Klaus Kiran Patel, Transnationale Geschichte, in: Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010, URL: http://www.ieg-ego.eu/patelk-2010-de (Zugriff am 23. 1. 2021), S. 1. Auch weitere Definitionen bleiben relativ offen. Akira Iriye und Pierre-Yves Saunier, die das Palgrave Dictionary of Transnational History herausgegeben haben, geben an, transnationale Geschichte beschäftige sich mit »links and flows«, mit »people, ideas, products, processes and patterns that operate over, across, through, beyond, above, under, or in-between polities and societies«; siehe: The Professor and the Madman, in: Dies. (Hg.), The Palgrave Dictionary of Transnational History, New York 2009, S. XVII-XX , S. XVIII. 55 Auch Bernhard Struck, Kate Ferris, Jacques Revel, Introduction: Space and Scale in Transnational History, in: The International History Review 33/4 (2011), S. 573584, S. 573. 27

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met sich sozialen und kulturellen Fragen genauso wie politischen und ökonomischen Verflechtungen.56 Wie die transnationale Geschichte ihre Gegenstände den Grenzen der nationalen Geschichtsschreibung entzieht, so sollen auch Hirszfelds und Czochralskis Lebensläufe eher an Fragestellungen als an Territorien ausgerichtet werden. Das heißt, die Verbindungen, Netzwerke, Prozesse, Überzeugungen und Institutionen zu erforschen, die in ihren Leben bedeutsam waren und die politisch definierte Räume wie Imperien oder Nationalstaaten überschritten. Gleichzeitig gilt es, sowohl das Innovations- als auch das Konfliktpotential auszuloten, das sich aus der Zirkulation von Ideen oder Modellen ergeben kann.57 Mit dem Ziel, die Leben der beiden Wissenschaftler aus der nationalen Verankerung zu lösen (ohne gleichwohl deren Bedeutung zu vernachlässigen), wird die transnationale Geschichte in dieser Studie als eine Art »Denkstil« im Sinne von Ludwik Fleck erprobt: Fleck hatte Denkstile ja, wie erwähnt, als ein »gerichtetes Wahrnehmen« beschrieben.58 In diesem Sinne werden Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld im Rahmen der multiplen Geographien wahrgenommen, in denen sie agierten und in die sie ihre von Interaktion und transnationaler Kommunikation geprägten Praktiken von Wissenschaft und Expertise einbrachten, weiterentwickelten und transferierten.59 Dabei wird nicht von einem Wissenszentrum auf der einen Seite, das üblicherweise in einem nicht näher definierten »Westen« liegt, und Regionen im »Osten«, für die ein Wissensdefizit konstatiert wird, ausgegangen. Vielmehr geht es um eine Vielzahl gegenseitiger Beeinflussung, 56 Deacon, Russell, Woollacott, Introduction, in: Dies., Transnational Lives, S. 1-11. 57 Patricia Clavin, Defining Transnationalism, in: Contemporary European History 14/4 (2005), S. 421-439, S. 422; auch Johannes Paulmann, Grenzüberschreitungen und Grenzräume: Überlegungen zur Geschichte transnationaler Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Zeitgeschichte, in: Eckart Conze u. a. (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 169-196, S. 179; siehe auch Martin Aust, Daniel Schönpflug (Hg.), Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., New York 2007, darin besonders Johannes Paulmann, Feindschaft und Verflechtung. Anmerkungen zu einem scheinbaren Paradox, S. 341-356, hier S. 343. 58 Fleck, Entstehung und Entwicklung, S. 130. 59 Siehe zum Konzept multipler Geographien und globaler »Ethnoscapes« Arjun Appadurai, Globale ethnische Räume, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 11-40, auch Michael G. Müller, Cornelius Torp, Conceptualising Transnational Spaces in History, in: European Review of History: Revue europeenne d’histoire 16/5 (2009), S. 609-617, besonders S. 613614. 28

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Verflechtung und Zirkulation in unterschiedlichen Wissensräumen.60 Um sie zu analysieren, werden zum einen die Forschungspraktiken von Hirszfeld und Czochralski auf der lokalen Ebene beleuchtet, so dass jeweilige Spezifika verglichen und Hierarchien und Asymmetrien erkannt werden können. Zum anderen werden in den transnationalen Verbindungen Prozesse von Adaption, Transfer, Übersetzung, aber auch Zurückweisung sichtbar gemacht, die dazu beitrugen, Wissensbestände zu formen. Das fast gleichzeitige Dasein »hier« und »dort« jenseits nationaler Grenzen und die damit verbundene Enträumlichung und Mobilität, die Arjun Appadurai als zentrale Kraft menschlichen Lebens im Konzept der Translokalität beschrieben hat, setzten jedenfalls für beide Wissenschaftler Dynamiken frei.61 Sie profitierten von der Verankerung in mehreren Wissenschafts- und Expertenkulturen, an denen sie partizipierten und in deren Rahmen sie neue Netzwerke mit ausbildeten – Netzwerke, die wiederum als Basis für transnationale Begegnungen dienten und zur Entstehung von Globalisierungsprozessen beitrugen.62 Sie aktivierten damit einen transnationalen Raum von Wissenschaft, der erst dann als Kommunikationsraum entsteht, wenn ihn jemand nutzt – zum gegenseitigen Austausch von Ideen, Ergebnissen oder Materialien und damit zur Wissensproduktion.63 Mit der transnationalen Vernetzung ging eine Mehrfachverankerung einher, die – aus nationaler Perspektive – als mangelnde Eindeutigkeit und Loyalität gedeutet werden konnte, die nationale Identitätskonstruktionen zu gefährden schien oder sie mindestens verunsichern konnte; eine solche Konstellation konnte, wie es vor allem für den Fall von Jan Czochralski gezeigt wird, auch instrumentalisiert werden.64 Insofern konnte ein transnationales Leben erhebliches Konfliktpotential beinhalten. Transnationalen, translokalen oder transgressiven Biographien wie denen von Hirszfeld und Czochralski ist in jüngster Zeit vermehrt Auf60 Siehe dazu Veronika Lipphardt, Daniel Ludwig, Wissens- und Wissenschaftstransfer, in: Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz, 28. 9. 2011, URL: http:// www.ieg-ego.eu/lipphardtv-ludwigd-2011-de (Zugriff am 2. 4. 2021). 61 Appadurai, Globale ethnische Räume, S. 13. 62 Stefan Kaufmann, Einleitung: Netzwerk – Methode, Organisationsmuster, antiessenzialistisches Konzept, Metapher der Gegenwartsgesellschaft, in: Ders. (Hg.), Vernetzte Steuerung. Soziale Prozesse im Zeitalter technischer Netzwerke, Zürich 200), S. 7-21, S. 8. 63 Elisabeth T. Crawford, Terry Shinn, Sverker Sorlin (Hg.), Denationalizing science: the contexts of international scientific practice, Boston 1993, S. 36. 64 Michael G. Müller, Kai Struve, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Fragmentierte Republik? Das politische Erbe der Teilungszeit in Polen 1918-1939, Göttingen 2017, S. 9-36, S. 35. 29

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merksamkeit zuteil geworden.65 Solche Lebensläufe, die über Grenzen hinweg verliefen, waren zwar kein ausschließlich modernes Phänomen, und auch die Herausbildung einer grenzüberschreitenden Wissensgesellschaft war kein Kennzeichen allein des 19. und 20. Jahrhunderts.66 Aber erst in dieser Zeit wirkten Prozesse von zunehmender Territorialisierung und Nationalstaatsbildung verstärkt auf die Gesellschaften ein, wodurch Experten und Wissenschaftler eine zunehmende Bedeutung vor allem innerhalb der Nationalstaaten erlangten. Für die Zeit nach 1918 ist dabei in Mittel- und in Ostmitteleuropa zumindest zeitweise von einer Gleichzeitigkeit mehrfacher territorialer Ordnungsvorstellungen auszugehen, die sowohl national als auch imperial geprägt sein konnten. Denn die neuen Nationalstaaten wie Polen entstanden nicht aus dem Nichts – sie bauten auf Ordnungen, Institutionen und Wissensbeständen aus den vormaligen Imperien auf: Die Geschichte der Zweiten Polnischen Republik ist damit auch eine von transnationalen Räumen, die im neu gebildeten Nationalstaat fortlebten.67 Lebensläufe wie die von Hirszfeld und Czochralski waren damit auch in Räumen bzw. Vorstellungen von Räumen verankert, die nicht mit dem Nationalstaat übereinstimmten, sondern ihn herausforderten. Diese Räume, in denen Hirszfeld und Czochralski sich bewegten, waren vielfältiger Natur. Konkrete physische oder geographische Räume wie Preußen / Deutschland und Polen oder Städte wie Berlin und Warschau gehörten ebenso dazu wie Wissensräume lokaler und metaphorischer Natur, also Regionen und Nationen, die metaphorisch als Wissensräume vorgestellt wurden, das heißt als Orte, in denen bestimmte Denk- und Forschungsstile gegenüber anderen bevorzugt wurden.68 Als 65 Madeleine Herren-Oesch, Isabella Löhr (Hg.), Lives beyond borders: a social history, 1880-1950, Comparativ 23/6 (2013); Deacon, Russell, Woollacott, Transnational lives; Bernd Hausberger, Globalgeschichte(n) als Lebensgeschichten, in: Ders., (Hg.), Globale Lebensläufe, Menschen und Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006, S. 9-27; auch Oliver Janz, Daniel Schönpflug (Hg.), Gender History in a Transnational Perspective. Networks, Biographies, Gender Orders, New York 2014 sowie Sebastian Dorsch, Translokale Wissensakteure: Ein Debattenvorschlag zur Wissens- und Globalgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64/9 (2016), S. 778-795. 66 Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der »Wissensgesellschaft«, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639-660. 67 Siehe Müller, Struve, Einleitung, bes. S. 10-13 sowie Katrin Steffen (Hg.), Historische Zäsur und biographische Erfahrung: Das östliche Europa nach dem Zerfall der Imperien 1918-1923, Nordost-Archiv 23 (2014), Lüneburg 2015. 68 Zu einer Klassifizierung von Wissensräumen Mitchell G. Ash, Räume des Wissens – was und wo sind sie? Einleitung in das Thema, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 235-242, bes. S. 237. 30

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Wissensräume werden hier zum einen die konkreten Stätten der Forschung verstanden. Dazu gehören die Labore, Institute und Universitäten, in denen und für die Hirszfeld und Czochralski arbeiteten, und die Instrumente und Apparate, mittels derer sie ihre Forschungen betrieben; zum anderen gehören dazu die Netzwerke, in denen sie sich bewegten bzw. die sie selbst ausgebildet hatten und die wiederum neue kommunikative Räume konstituierten.69 Als wichtige Bestandteile von Wissensräumen werden hier ebenso die bereits erwähnten Arenen verstanden, in denen Hirszfeld und Czochralski aktiv waren – Arenen, in denen Wissenschaftler wie sie vor allem dann auftraten, wenn sie ihrem Wissen oder ihrer Expertise allgemein anerkannte Autorität verleihen wollten. Diese unterschiedlichen Räume sind hier als sich verändernde Gerüste und Ordnungen für die Erzeugung von Wissen oder die Verteilung von Wissensbeständen zu verstehen. Sie werden durch den Transport und den Transfer von Wissen bzw. Netzwerken konstituiert, die sowohl stabil als auch veränderlich sein können. Zwischen diesen Räumen gibt es zahlreiche Überlappungen. Ein Experiment in einem Labor etwa verläuft nicht nur gemäß vermeintlich objektiver Gesetzmäßigkeiten naturwissenschaftlicher Forschung, sondern wird von vielfältigen Faktoren wie den Denkstilen innerhalb einer Region, den Netzwerken des Forschers sowie der technischen Ausstattung beeinflusst.70 Das Wissen von Hirszfeld und Czochralski konstituierte sich also in selektiven Aushandlungsprozessen, die sowohl soziale Akteure einschließen als auch von materiellen und konzeptionellen Beziehungen beeinflusst werden konnten.71 Prozessual verläuft auch der Wissenstransfer, der komplexe Selektionsund Adaptionsmechanismen von Wissen und Praktiken umfasst.72 Transferiertes Wissen und bestehendes Wissen können dabei durch den Transfer in eine Wechselbeziehung treten, wodurch sich sowohl neues

69 Siehe dazu auch Karin Knorr-Cetina, Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der »Verdichtung« von Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 17/2 (1988), S. 85-101, 87; Bruno Latour, Science in Action. How to follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge 1987; Simon Shaffer, Steven Shapin, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton 1985. 70 Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984. 71 Dazu Bruno Latour, On actor-network theory. A few clarifications. In: Soziale Welt 47/4 (1996) S. 369-381; Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. 72 Ash, Wissens- und Wissenschaftstransfer, S. 181-189. 31

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Wissen ergeben als auch das bestehende Wissen stabilisiert werden kann.73 In Anlehnung an Bruno Latour und die Akteur-Netzwerk-Theorie gehe ich davon aus, dass es umfangreicher Logistik bedarf, um Wissenschaft, »wissenschaftliche Tatsachen« oder »epistemische Dinge«74 vom Ort ihrer Produktion an einen anderen zu transportieren oder zirkulieren zu lassen – Wissen zirkuliert nicht quasi von alleine in der Welt.75 Es geht hier daher auch um den Transport von Stoffen und Materialien wie Metallen, Impfstoffen oder Blut, um die Instrumente, mit denen sie erforscht wurden, die aufwendigen und teuren Laborausstattungen, die vor allem Jan Czochralski für seine Untersuchungen benötigte, und wie sie sich auf die Wissensproduktion auswirkten. Daher werden nichtmenschliche Akteure in die Analyse einbezogen. Denn die Erweiterung des Akteursbegriffs birgt die große Chance, Zusammenhänge bei der Produktion und Stabilisierung wissenschaftlichen Wissens aufzuspüren, »die ohne […] Sensibilität für die mögliche Bedeutung nicht-menschlicher Wesen übersehen werden«.76 In einem heterogenen Netzwerk werden demnach nicht nur Menschen, sondern auch nichtsoziale Akteure wie Technik und Wissen zum Handeln gebracht, Aktivität (oder agency) nicht nur menschlichen Wesen zugestanden.77 Dabei geht es nicht darum, jenen Intentionen zu unterstellen, die denen der Menschen ähnlich wären. Vielmehr müssen sowohl ihre Potentiale, mit anderen Akteuren Verbindungen einzugehen, geprüft werden als auch die Widerstände, die sie gegen diese Verbindungen entwickelten.78 Die Dinge hatten erhebliche Auswirkungen auf das Handeln der Forschenden und die Wirkungen, die von deren Forschungen ausgingen. Metalle zum Beispiel agierten durch chemische oder mechanische Reaktionen, zu denen sie fähig sind und die in historischen Prozessen verstanden werden wollten, um 73 Auch Heiner Fangerau, Spinning the scientific web. Jacques Loeb (1859-1924) und sein Programm einer internationalen biomedizinischen Grundlagenforschung, Berlin 2009, S. 11-13. 74 Unter »epistemischen Dingen« versteht Hans-Jörg Rheinberger nicht nur Objekte, sondern auch Strukturen, Reaktionen und Funktionen – es sind »Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt«, siehe Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 27. 75 Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, New York 2005. 76 Kreuder-Sonnen, Mikroben, S. 11. 77 Birgit Peuker, Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), in: Christian Stegbauer, Roger Häußling (Hg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 325-335, S. 335. 78 Kreuder-Sonnen, Mikroben, S. 11. 32

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für die Produktion von Industriegütern einsatzfähig zu sein.79 Das Blut wiederum wies in der behandelten Zeit noch viele unerforschte Merkmale auf, deren Wirkungen nicht vorhersehbar waren, aber für medizinische Zwecke ebenso erkannt werden wollten. Die Stoffe Blut und Metall entwickelten zudem eine außerwissenschaftliche Wirkungskraft: Sie wurden zu kulturellen Bedeutungsträgern gemacht. Um diese Wirkmacht der Stoffe außerhalb des Labors erfassen zu können, müssen nicht nur die Stoffe »an sich« betrachtet werden, sondern auch die Praktiken und Techniken, mit denen sie bearbeitet oder transportiert wurden, und die Experten, die an diesem Transport beteiligt waren. Denn die Experten stellten die entsprechenden und unabdingbaren Bestände an Begleitwissen zur Verfügung.80 Zwischen den Experten und den Stoffen bestand eine enge Verbindung. Um Stoffe, Experten und Wissensbestände zusammen zu denken, stellt sich die Frage, welche Bedeutung die nationalen und die transnationalen Wissensräume für die Entwicklung von wissenschaftlichen Wissen und Expertise hatten, die Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld in den verschiedenen Feldern ihres Lebens zur Geltung brachten; auch, wie sich dieses Wissen auf der Wanderung veränderte und sich abhängig von Ort und Zeit entwickelte. Wo, mit wem und unter welchen Bedingungen die Wissenschaftler arbeiteten, hatte eine Schlüsselbedeutung, da das Wissen immer lokal situiert und gebunden war. In die Betrachtung werden daher religiöse, kulturelle, soziale und politische Bedingungen, soziale Interaktionen, staatliche Förderung, nationale Bindungen und Spezifika, transnationale Netzwerke, Machtbeziehungen und finanzielle Rahmenbedingungen einbezogen. Sie zu analysieren bedeutet, Aspekte 79 Der Begriff »Stoff« und das Stoffliche sind aufgrund ihrer Stellung zwischen sinnlicher Wahrnehmung, kulturwissenschaftlicher Bedeutung und naturwissenschaftlichem Verständnis nicht leicht zu fassen, man kann aber davon ausgehen, wie Jens Soentgen festgehalten hat, dass die Existenz »eines Stoffes nicht dieselbe Geschlossenheit aufweist wie die Existenz eines Dings«; siehe Ders., Das Unscheinbare. Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden, Berlin 1997, S. 90. Wichtig für die vorliegende Abhandlung ist weiterhin, dass sich Stofflichkeit nicht nur in Persistenz äußert, sondern im Wandel; Stoffe oszillieren zwischen Konstanz und Wandel, Ordnung und Chaos, Struktur und Ereignis, sie können sich mischen, sie zirkulieren, sie können sich verfestigen und sich wieder auflösen. Für die Geschichtswissenschaft bedeutet dies, die Historizität von Stoffen zu berücksichtigen, die nicht nur in Erfolgsgeschichten von Innovation und Neuartigkeit aufgeht, siehe dazu Kijan Espahangizi, Barbara Orland, Pseudo-Smaragde, Flussmittel und bewegte Stoffe. Überlegungen zu einer Wissensgeschichte der materiellen Welt, in: Dies. (Hg.), Stoffe in Bewegung. Beiträge zu einer Wissensgeschichte der materiellen Welt, Zürich 2014, S. 11-35, bes. S. 18-20. 80 Espahangizi, Orland, Pseudo-Smaragde, S. 23. 33

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einer europäischen Verflechtungsgeschichte über System- und Länderwechsel hinweg zu erarbeiten, in der sich das Eigene und das Fremde nicht klar voneinander scheiden lassen.81 Im Ergebnis entsteht eine transnationale Wissensgeschichte, die die von Performanz und kulturellen Zuschreibungen bedingte Entstehung von Wissen und Expertise als Ergebnis einer engen Verknüpfung von wissenschaftlichen, technischen und epistemologischen, aber auch persönlichen, kulturellen, politischen und institutionellen Faktoren zu verstehen vermag. 1.3 Quellen

Die Ausgangslage zur Analyse beider Lebenswege ist dabei unterschiedlich: Ludwik Hirszfeld hat in den Jahren 1943/1944 eine Autobiographie geschrieben und unmittelbar nach dem Krieg veröffentlicht.82 Von Czochralski gibt es keine vergleichbare retrospektive Beschreibung des Lebens durch den Erlebenden selbst, keinen Akt einer Ich-bezogenen Sinnstiftung, der auf die Nachwelt zielte und einen Versuch darstellte, darauf einzuwirken, wie die eigene Person, ihre Errungenschaften und ihre Umwelt beurteilt werden sollten.83 Ebenfalls nur von Ludwik Hirszfeld und seiner Frau Hanna existiert ein Nachlass.84 Bedingt durch den Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge Archivmaterial in großer Menge vernichtet wurde, erfasst er hauptsächlich die Zeit nach 1945. Die darin enthaltenen Dokumente nehmen aber recht häufig Bezug auf die Zeit davor. Hanna Hirszfeld, die in Montpellier, Paris und Berlin studiert hatte, war eine renommierte Wissenschaftlerin und anerkannte Kinderärztin.85 81 Matthias Middell, Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10/1 (2000), S. 67-41, hier S. 40. Zum Ansatz der Verflechtungsgeschichte auch Michael Werner, Bénédicte Zimmermann, Beyond Comparison: Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory 45 (2006), S. 30-50. 82 Siehe Anm. 1. 83 Zu diesen Funktionen von Autobiographie siehe Thomas Etzemüller, Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a. M. 2012, S. 92. 84 Siehe Archiwum Polskiej Akademii Nauk w Warszawie (APAN), Materiały Ludwika Hirszfelda (LH) i Hanny Hirszfeldowej (LH) III 157, Signaturen 1-184. 85 Das Leben von Hanna Hirszfeld ist bislang vor allem Gegenstand einer wenig beachteten medizinhistorischen Dissertation geworden, siehe Biblioteka Uniwersytetu Medycznego w Wrocławiu, Sygn. 30789: Joanna Ubysz, Życie i działalność Profesor Hanny Hirszfeldowej jako organizatorki pediatrii adkademickiej na Dolnym Śląsku, praca doktorska, Maschinenschrift, Wrocław 2003; Joanna HytrekHryciuk, Herstoria – Hanna Hirszfeld 1884-1964, in: Wojciech Kucharski u.a 34

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Neben der Ausübung ihres Berufes betrieb sie eigene Forschung, veröffentlichte selbst mehrere Bücher und war an einigen der wichtigsten Forschungen und Veröffentlichungen Ludwik Hirszfelds maßgeblich beteiligt. In einem Brief, den Ludwik Hirszfeld im Jahr 1951 an seinen Schweizer Kollegen Wilhelm von Gonzenbach schrieb, akzentuierte er ihre Rolle so: »Und so benutze ich die Gelegenheit, um Hanka diesen Brief an Euch zu diktieren, wobei die Hanka wie gewöhnlich nicht nur Sekretärin, aber auch Mitverfasserin ist.«86 Diese Bemerkung verweist zum einen darauf, dass Hanna Hirszfeld bei der Entstehung von Ludwik Hirszfelds Forschungsarbeiten aus Serologie und Immunologie, für die er zu seinen Lebzeiten und darüber hinaus als Spitzenforscher weltweit anerkannt und geachtet war, erheblich mitgewirkt hat. Über diese Mitwirkung ist nur wenig Konkretes bekannt, und ihre Beiträge zu den Forschungsarbeiten Ludwik Hirszfelds werden selten angemessen gewürdigt. Ihren Anteil exakt zu bestimmen, ist gleichwohl nicht möglich. Da Ludwik Hirszfeld diese Mitwirkung aber als Normalzustand charakterisierte, dürfte er erheblich gewesen sein – es ist hier in jedem Fall von einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft auszugehen.87 Zum Zweiten zeigt dieser Satz auf, dass Hanna Hirszfeld ihr Leben lang bereit war, ihre eigenen Ambitionen als Wissenschaftlerin und Ärztin zurückzustellen, wenn sie für Ludwik Hirszfeld die Aufgaben einer »Sekretärin« oder Mitarbeiterin wahrnahm. Ihre Haltung dazu war von einer großen Bescheidenheit charakterisiert und sie tendierte dazu, die eigene Rolle als Wissenschaftlerin hinter seinen Forschungen zurücktreten zu lassen. Sie redete nicht gerne über sich selbst und beschrieb sich als »langjährige Mitarbeiterin« ihres Mannes, der sie auf die »Gipfel des Denkens« geführt habe, als »Vertraute seiner wissenschaftlichen Pläne und Träume«. Jahrelang habe sie seine Arbeiten auf der Schreibmaschine abgetippt. Kein Urlaub sei ohne diese Arbeit vergangen, bis zum Jahr 1952, zwei Jahre vor seinem Tod – in diesem Jahr hätte sie wegen der eigenen wissenschaftlichen Ver-

(Hg.), Nauka w powojennym Wrocławiu 1945-2015, Wrocław 2015, S. 83-90; auch Glensk, Hirszfeldowie. Hanna Hirszfeld verwendete für sich selbst sowohl die weibliche polnische Namensform »Hirszfeldowa« als auch »Hirszfeld«. Hier wird für beide die Form »Hirszfeld« verwendet. Hanna Hirszfelds Geburtsname war Kasman, für ihre Dissertation verwendete sie wiederum folgende, eingedeutschte Schreibweise: Hirschfeld-Kassmann. 86 Ludwik Hirszfeld an W. von Gonzenbach, 19. 10. 1951, Wissenschaftshistorische Sammlungen der ETH-Bibliothek, Zürich, HS 1165:639. 87 Ilse Jahn, Die Ehefrau in der Biographie des Gelehrten, in: Christoph Meinel, Monika Renneberg (Hg.), Geschlechterverhältnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik, Bassum u. a. 1996, S. 110-116. 35

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pflichtungen erstmalig diese Arbeit bestreikt.88 Ihr Selbstverständnis war in hohem Maße davon geprägt, die Ehefrau von Ludwik Hirszfeld zu sein – in einem Text mit dem Titel »Licht- und Schattenseiten im Leben einer Ehefrau eines Gelehrten« merkte sie an, das Herz eines Mannes erreiche eine Frau in der Regel über den Magen. Im Falle eines Gelehrten übernehme aber die Schreibmaschine diese Rolle – sie reduzierte sich damit selbst auf die Rolle eines schreibenden Mediums.89 Sofern die Quellen dies zulassen, wird Hanna Hirszfeld in diese Arbeit ebenso wie Fragen der geschlechterspezifischen Prägung von Wissenschaft einbezogen.90 Weil die Natur- und Technikwissenschaften in der behandelten Zeit aber symbolisch und institutionell überwiegend von Männern geprägt war, obwohl um 1900 eine Re-Inklusion von Frauen in die Wissenschaft begann, weil die formalen Barrieren ihrer Teilnahme daran fielen, ist in dieser Arbeit vorwiegend von Wissensordnungen die Rede, die de facto und in der Überlieferung von Männern geprägt waren.91 Wissen und Erkenntnisgenerierung waren in der behandelten Zeit in hohem Maße männliche Praxis – Männer definierten, was als wissenschaftliches Wissen galt, welches Wissen zirkulierte und wann es wo institutionalisiert wurde, kurzum, sie hatten die Hegemonie über die Wissensordnungen und wollten die Kontrolle über Diskurse und Praktiken ausüben.92 Die Geschichte vieler Wissenschaftlerinnen und ihr teilweise bedeutender Anteil am Funktionieren dieser Wissensordnungen ist vielfach noch unentdeckt. Da von Jan Czochralski kein Nachlass vorliegt, können für ihn Selbstdeutungen, Selbstinszenierungen und Selbst-Transformationen außerhalb seiner offiziellen Schriften oder Reden kaum in die Analyse einbezogen werden. So ist diese Studie stärker als im Falle von Ludwik Hirszfeld auf Überlieferungen und Beschreibungen Dritter, hier vor al88 Hanna Hirszfeld, Historia jednej śmierci, unveröffentliches Manuskript in der Bibliothek des Zentrums für Historische Forschung Berlin, S. 2. 89 Hanna Hirszfeld, Blaski i cienie życia żony uczonego, Manuskript vom 25. 10. 1947; Główna Biblioteka Lekarska, Dział Zbiorów Specjalnych, Sygn. 1/166/64. 90 Siehe dazu Govoni, Franceschi, Writing about Lives in Science. 91 Siehe Theresa Wobbe, Die longue dureé von Frauen in der Wissenschaft, in: Dies. (Hg.), Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700-2000, Berlin 2002, S. 1-28, S. 19; auch Ulrike Auga u. a. (Hg.), Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 2010. 92 Vgl. Ralita Muharska, Communist science, scientific communism: heroics, masculinity and simulation, in: Ina Alber-Armenat, Claudia Kraft (Hg.), Geschlecht und Wissen(schaft) in Ostmitteleuropa, Marburg 2017, S. 9-27 sowie Robert A. Nye, Medicine and Science as Masculine »Fields of Honor«, in: Osiris 12 (1997), Women, Gender, and Science: New Directions, S. 60-79, S. 72. 36

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lem der Familie, und verschiedene Erinnerungen und Dokumentationen angewiesen. Da Czochralski bereits zu Lebzeiten, besonders seit 1918 und erneut seit den 1980er Jahren, eine öffentlich verhandelte und umstrittene Person war, entstanden einige Abhandlungen zu seinem Leben, die gleichwohl kritisch geprüft werden müssen. Eine stichwortartige Materialsammlung zu Czochralski entstand 1957 im Umfeld der Metallgesellschaft in Frankfurt am Main, Czochralskis Arbeitsort von 1917 bis 1928. Sie ermöglicht einen guten Einblick in Czochralskis berufliches Leben in dieser Zeit.93 Das Archiv des dortigen Metalllabors hingegen ist nicht mehr vorhanden und die Überlieferung der Metallgesellschaft im Hessischen Wirtschaftsarchiv in Darmstadt lückenhaft und ungeordnet, auch das Archiv der AEG ist nicht zugänglich, weil es entweder zerstört oder 1945 in die Sowjetunion abtransportiert wurde. Für sein Wirken in Warschau nach 1929 wiederum liegt ein ausführlicher Bericht aus dem Warschauer Militärarchiv vor, der Aufschluss über seine vor allem für das Militär erstellten Arbeiten in dem von ihm geleiteten Forschungsinstitut gibt.94 Wichtige Hinweise liefern die Stellungnahmen, die im Zuge seiner ab den 1980er Jahren langsam einsetzenden Rehabilitierung entstanden, besonders in einer Anhörung der Senatskommission für Geschichte

93 Materialien zur Lebensgeschichte von Johann Czochralski, unveröffentlichte und unpaginierte Schrift aus dem Archiv der Metallgesellschaft. In der Veröffentlichung von Wassermann und Wincierz zum Metall-Laboratorium wird als Autor dieser Schrift Dr. Cord Petersen, ein Neffe von Dr. Alfred Petersen aus dem Vorstand der Metallgesellschaft, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Zentralbibliothek der Metallgesellschaft leitete, angeführt, siehe Günter Wassermann, Peter Wincierz (Hg.), Das Metall-Laboratorium der Metallgesellschaft 1918-1981. Chronik und Bibliographie, Frankfurt a. M. 1981, S. 13. In einem Briefwechsel aus dem Jahr 1957 zwischen der Metallgesellschaft und Czochralskis Tochter Leonie Czochralska-Wojciechowska, die damals in den USA lebte, figuriert als Autor aber Dr. Johannes Jaenicke (18881984), der ehemalige Leiter des Technischen Sekretariats der Metallgesellschaft. Vor seiner Zeit bei der Metallgesellschaft war Jaenicke bis 1925 ein Mitarbeiter des Physikers Fritz Haber und wurde der Nachwelt vor allem bekannt, weil er so gut wie alles über Fritz Haber sammelte, ohne selbst eine Biographie über ihn zu verfassen. In einem weiteren Briefwechsel von 1985 teilt Peter Wincierz mit, dass Cord Petersen ihm kurz vor seinem Tod mitgeteilt habe, dass er nicht der Autor der Schrift sei – daher wird hier von Johannes Jaenicke als Verfasser ausgegangen, siehe Hessisches Wirtschaftsarchiv (HWA), Abt. 119, 8. Die Schrift enthält neben einem kurzen Überblick zu Czochralskis Leben in Deutschland vor allem eine – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende – Übersicht über seine Arbeiten im Metall-Laboratorium, Publikationen, Patente und Vorträge. 94 Centralne Archiwum Wojskowe (CAW ) I 342.4.5, Biuro Badań Technizcnych Broń Pancernych: Instytut Metalurgii i Metaloznawstwa Politechniki Warszawskiej. Roczne Sprawozdanie za czas od 1. 4. 1933 do 31. 3. 1934. 37

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und Tradition der Technischen Hochschule Warschau im März 1984.95 Eine Betrachtung von Czochralskis Privatleben ist aber nur eingeschränkt möglich. Soweit bekannt, spielte seine Ehefrau, die Pianistin Marguerita Haase, für seine wissenschaftliche Praxis nicht eine Hanna Hirszfeld vergleichbare Rolle. Wie ihr Anteil an Czochralskis gesellschaftlichen Aktivitäten war, etwa als er in Warschau einen Salon führte, ist nicht überliefert. Aufgrund der teilweise schlechten Quellenlage, die sowohl der Vernichtung von Archiven und Material durch die beiden Weltkriege und den Warschauer Aufstand von 1944 geschuldet ist, und des gleichzeitigen Ziels, möglichst viele Details aus den Leben der Wissenschaftler zu berücksichtigen oder zu rekonstruieren, wurden zahlreiche Archive in Deutschland, Polen und den USA kontaktiert und aufgesucht, deren Materialien die Arbeit von Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld entweder nur indirekt betrafen oder direkt berührten. Dies bedeutete wiederum, eine große Fülle von Archivmaterial zu sichten und zu integrieren, denn das beinhalten transnationale Leben von migrierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eben auch: Sie hinterlassen ihre Spuren oder die Erinnerungen an sie an vielen unterschiedlichen Orten.

95 Ziel dieser Anhörung war es, das Leben und Wirken von Jan Czochralski während des Zweiten Weltkriegs zu rekonstruieren, um seine Rehabilitierung zu prüfen. Es entstanden eine Dokumentation von Zeugnissen und Erinnerungen sowie ein Protokoll der Anhörung. Diese wurde aufgezeichnet und ist heute im Narodowe Archiwum Cyfrowe (NAC) in Warschau unter der Signatur 33-T-7118 zu finden. Darüber hinaus ist sie im Archiwum Akt Nowych (AAN) dokumentiert, siehe AAN A /771/85, Archiwum Zakładu Historii II Wojny Światowej Instytutu Historii PAN, Jan Czochralski. Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego. Dyskusja na posiedzeniu Senackiej Komisji Historii i Tradycji Uczelni PW w dniu 26.III.1984. 38

2 Sich bewegen und lernen Zu den frühesten Parallelen in den Leben von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski gehört, dass sie ihre Ausbildung begannen, indem sie sich bewegten: Sie verließen ihre Heimatorte im geteilten Polen und migrierten nach Würzburg bzw. Berlin. Diese Entscheidung trafen sie, weil sie das geteilte Polen als einen Raum wahrnahmen, in dem die Möglichkeiten von Studium und Wissenschaft begrenzt waren, eine Sichtweise, die auch in der Historiographie über diese Zeit vielfach anzutreffen ist. Sie fokussiert auf die nationale Entwicklung in den Teilungsgebieten und präferiert ein Narrativ von Benachteiligung, Diskriminierung polnischer und polnischsprachiger Institutionen und Einrichtungen, auf Fremdherrschaft und Unterdrückung. Diese Perspektive verstellt zuweilen den Blick auf die Gesellschaften in den Teilungsgebieten, auf deren Möglichkeiten und deren Partizipation an europäischen Entwicklungen, die auch ohne den Rahmen eines polnischen Nationalstaats auskamen. In diesem Kapitel sollen die Möglichkeiten für Studium und Wissenschaft im Königreich Polen und in der Provinz Posen ausgelotet und in allgemeine Entwicklungen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts eingeordnet werden, wobei besonders auf die Gebiete der Medizin und der Metallurgie eingegangen wird. In diesem Zusammenhang wird eine Debatte vorgestellt, die in den Teilungsgebieten über die Frage eines Zusammenhangs von Migration, Emigration, Verrat und Entnationalisierung am Ende des 19. Jahrhunderts mit solchen Argumenten geführt wurde, mit denen Hirszfeld und Czochralski in bestimmten Phasen ihres Lebens konfrontiert wurden. Im Anschluss werden die konkreten Räume ihrer Ausbildung und ihrer Wissensakkumulation beleuchtet. Die Teilungen Polen-Litauens durch Österreich-Ungarn, Preußen und Russland hatten am Ende des 18. Jahrhunderts die polnische Staatlichkeit aufgelöst und die angeeigneten Territorien als Verwaltungseinheiten in die jeweiligen Staaten eingegliedert.1 Diese Konstellation beschränkte die Möglichkeiten für junge Polinnen2 und Polen, dort eine polnisch1 Dazu Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Gestrich, Helga Schnabel-Schüle (Hg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen, Osnabrück 2013 sowie grundlegend: Michael G. Müller, Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795, München 1984. 2 Die Möglichkeiten für Frauen, einen formal anerkannten Studienabschluss zu machen, waren im späten 19. Jahrhundert noch begrenzt; in Krakau und Lemberg wurden sie 1897 zum Studium an der philosophischen und der medizinischen Fakultät zugelassen, an der juristischen hingegen nicht. In St. Petersburg konnten Frauen zwischen 1872 und 1882 und dann wieder ab 1891 Medizin studieren; viele 39

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sprachige oder überhaupt eine wissenschaftliche Ausbildung anzufangen. In Galizien, dem österreichisch-ungarischen Teilungsgebiet, wurden zwar Studium, Forschung und Wissenschaft in der polnischen Sprache organisiert, besonders nach dem Autonomiestatut von 1867, das der vor allem polnischen Elite des Landes die Selbstverwaltung übertrug und Polnisch zur Verwaltungssprache des Kronlands machte. Seither konnte sowohl an der Universität in Lemberg als auch an der bereits seit 1364 bestehenden Universität Krakau nach einer kurzen Phase der Germanisierung wieder auf Polnisch unterrichtet werden; gleichfalls wurde in Lemberg im Jahr 1877 eine Technische Hochschule errichtet, die aus der 1844 gegründeten k. u.k. Technischen Akademie hervorging und 1877 mit allen akademischen Rechten ausgestattet war.3 Dort konnten die Dozenten seit 1871 die Unterrichtssprache Polnisch nutzen.4 Weil Galizien aber keine Kapazitäten für die Ausgestaltung akademischer Lauf bahnen für alle Studierende aus dem gesamten ehemaligen polnisch-litauischen Staatsgebiet anbieten konnte und darüber hinaus auch nicht Studienangebote in allen Spezialgebieten aufwies, war ein Teil der wissenschaftlichen Elite bzw. derjenigen, die eine wissenschaftliche Ausbildung suchten, emigriert und durchlief Ausbildungen an Hochschulen außerhalb der Teilungsgebiete.5 Damit partizipierte sie an der allgemeinen europäischen Entwicklung, dass Technologie und Wissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in immer stärkerem Ausmaß politische und nationale Grenzen hinter sich ließen. Es bildete sich ein transnationaler Raum von Wissenschaft heraus, den auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den ehemals polnischen Territorien betraten. In ihm zirkulierten Ideen und Theorien über Frauen wichen daher nach Zürich und weitere Orte in der Schweiz aus, wo ein Frauenstudium seit den 1860er Jahren möglich war. Siehe Natali Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden. »Frauenfrage«, Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863-1919, Wiesbaden 2000, S. 89. 3 Henryk Ditchen, Die Politechnika Lwowska in Lemberg. Geschichte einer technischen Hochschule im multinationalen Umfeld, Berlin 2015, S. 14. 4 Ebd., S. 121. 5 Über Polinnen und Polen an ausländischen und deutschen Hochschulen, darunter den Technischen Hochschulen, ist noch nicht allzu viel bekannt. Darauf, dass die länderübergreifende Untersuchung solcher »Ausländer aus dem Osten« an deutschen bzw. deutschsprachigen Universitäten noch aussteht, verweist auch Włodzimierz Borodziej, der die These vertritt, dass ohne diese Akademiker die Eliten östlich und südöstlich der Reichsgrenzen schwer vorstellbar sind; siehe Włodzimierz Borodziej, Deutschland und das östliche Europa, in: Ders., Joachim von Puttkamer (Hg.), Europa und sein Osten. Geschichtskulturelle Herausforderungen, München 2012, S. 132-145, S. 135. 40

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internationale Kongresse und internationale Verbände, Fachzeitschriften, multinationale Konzerne, die Entstehung der Patentgesetzgebung und vor allem persönliche Kontakte über politische und nationale Grenzen hinweg.6 In diesem Rahmen wurde die Kommunikation ständig ausgeweitet. Auf der anderen Seite organisierten sich Wissenschaft und Expertise in Europa seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend nationalstaatlich und dies beinhaltete, dass Institutionalisierung vor allem im nationalstaatlichen Rahmen stattfand. Die internationale Organisation von Wissenschaft ging daher mit einem wissenschaftlichen Nationalismus einher, nicht zuletzt, weil nationale Erkenntnisse und Errungenschaften an vorgestellten oder realen internationalen Standards gemessen wurden – der so häufig postulierte Internationalismus der Wissenschaften war somit selten eine Gegenkraft zum Nationalismus, sondern kanalisierte und unterstützte ihn.7 Finanziell und institutionell blieben die Wissenschaften ohnehin überwiegend nationalstaatlich organisiert. In den Teilungsgebieten Polens war die Konstellation eine andere, weil die staatlich-nationale Wissenschaftsförderung weitgehend fehlte. Wissenschaftliche Entwicklung fand entweder im Rahmen von Institutionen der Teilungsmächte statt, die jene nach ihren Vorstellungen begrenzten, oder an Orten gesellschaftlicher Selbstorganisation. Aus dieser Situation resultierten vielfältige Formen von Mobilität – es war somit ein Charakteristikum für polnische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in Bewegung zu sein und Teil transnationaler Expertengemeinschaften zu werden. Mit ihrer Migration standen sie nicht allein: Denn bis zum Ersten Weltkrieg hatten, wenngleich zum Teil nur auf Zeit, zehn Millionen Polinnen und Polen die Teilungsgebiete verlassen, oft auf der Suche nach einem Auskommen in Richtung Deutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn, der USA oder Lateinamerika, wo sie entsprechende Diasporagemeinschaften herausbildeten.8

6 Vgl. Thomas J. Misa, Johan Schot, Inventing Europe. Technology and the Hidden Integration of Europe, in: History and Technology 21 (2005), S. 1-20, S. 9. 7 Geert J. A. Somsen, History of Universalism: Conceptions of the Internationality of Science from the Enlightenment to the Cold War, in: Minerva 46 (2008), S. 361379, S. 366. 8 Donna R. Gabaccia, Dirk Hoerder, Adam Walaszek, Emigration and Nation Building during the Mass Migrations from Europe, in: Nancy L. Green, Francois Weil (Hg.), Citizenship and Expatriation, Chicago 2007, S. 63-90, S. 64. 41

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2.1 Möglichkeiten von Wissenschaft und Studium in den imperialen Peripherien Preußens und Russlands

Wer wie Ludwik Hirszfeld oder Jan Czochralski im russisch besetzten Königreich Polen oder im preußischen Teilungsgebiet nach dem Novemberaufstand von 1830/31 aufwuchs, fand im Unterschied zum erwähnten Galizien beschränkte oder gar keine Möglichkeiten für ein Universitätsstudium vor. Beide Provinzen lagen innerhalb dieser Reiche an der Peripherie und wurden in dieser imperialen Konstellation wenig gefördert.9 In beiden Regionen versuchten die Machthaber, die Bevölkerungen in Abhängigkeit von den Erfordernissen der Politik im Wechselspiel mit lokalen Entwicklungen mal mehr, mal weniger stark zu germanisieren und zu russifizieren. Dazu gehörte, der Bevölkerung die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ausbildung in ihrer Muttersprache nicht oder nur für begrenzte Zeiten anzubieten und Institutionen, die als »polnisch« identifiziert wurden, zu diskriminieren bzw. nicht zu fördern. Im preußischen Teilungsgebiet, in den von Polinnen und Polen dicht besiedelten Provinzen Posen und Westpreußen, entstand auf diese Weise nicht einmal für kurze Zeit eine polnischsprachige oder überhaupt eine vollwertige Hochschule, weil die Politik Preußens konsequent auf Assimilierung abzielte und das Bildungssystem darauf ausgerichtet worden war. Die beiden östlichen Provinzen waren die einzigen im preußischen Staat, die über keine eigenen Universitäten verfügten.10 Die Benachteiligung des Großherzogtums Posen sowie Westpreußens gegenüber anderen preußischen Provinzen war offensichtlich und wurde auch zeitgenössisch immer wieder mit der ausgebliebenen Universitätsgründung in Verbindung gebracht.11 Die preußisch-nationale Zeitschrift »Die Grenzboten« brachte diese Haltung, die in der Tradition der »negativen Polenpolitik« (Klaus Zernack)12 aus dem 18. Jahrhundert stand, im Jahr 1886 9 Zu Strukturen und Auswirkungen der russischen Herrschaft in Polen siehe Jörg Ganzenmüller, Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772-1850), Köln, Weimar, Wien 2013 sowie Malte Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland: Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864-1915), München 2014; für Preußen siehe den erwähnten Band von Bömelburg, Gestrich, Schnabel-Schüle; Christoph Schutte, Die Königliche Akademie in Posen (1903-1919) und andere kulturelle Einrichtungen im Rahmen der Politik zur »Hebung des Deutschtums«, Marburg 2008. 10 Witold Molik, Die deutschen Universitäten aus der Sicht polnischer Studenten, in: Rüdiger vom Bruch, Marie-Luise Bott (Hg.), Universitätsgeschichte in Osteuropa. Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 15-27, S. 15. 11 Schutte, Königliche Akademie, S. 28. 12 Klaus Zernack, Negative Polenpolitik als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhunderts, in: Uwe Liszkowski (Hg.), Rußland 42

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wie folgt auf den Punkt: »Durch die Begründung einer Universität für die Provinz Posen würde man gleichzeitig das Streben der polnischen Bevölkerung materiell erleichtern, durch Heranbildung von Rechtsanwälten, Ärzten und Technikern aus dem polnischen Kleinbürgertum und Bauernstand die Schar ihrer geistigen Führer verstärken […] Nicht die Universität wird germanisieren, sondern die polnischen Studenten mit ihrem Familienanhang, welcher sich nach der Universität hinziehen wird, dürften polonisieren.«13 Zwar stellten Polen im Preußischen Landtag Anträge auf Errichtung einer Universität in Posen, aber aus Angst vor einer polnischen Studentenschaft galt die Stadt der Regierung als Standort für eine Hochschule als ungeeignet.14 Daher wurde dort mit der »Königlichen Akademie« von 1903 bis 1919 nur eine deutschsprachige Institution der Volksbildung ins Leben gerufen, die keine vollwertigen Studienabschlüsse anbot und als unbedenklich galt. Die polnische Bevölkerung blieb dieser Akademie überwiegend fern.15 Schon nach dem Scheitern des bewaffneten Novemberaufstands von 1831 hatte die Elite auf die Idee der sogenannten »organischen Arbeit« gesetzt. Diese Idee verband Bildung, Erziehung und gegenseitige Unterstützung. Ihre Vertreterinnen und Vertreter verfolgten das Ziel, sich auf die zivilisatorische und materielle Entwicklung der Teilungsgebiete zu konzentrieren und von dem Vorhaben des bewaffneten Widerstands in Form von Aufständen gegen die Teilungsmacht Abstand zu nehmen. Gerade im Raum Posen entstanden zahlreiche Organisationen, die auf eine sich selbst organisierende Gesellschaft abzielten und wirtschaftliche mit gesellschaftlichen Fragen verbanden.16 Neben dem ausdrücklichen Ziel, die Gesellschaft zu modernisieren, sollte die organische Arbeit den nationalen Zusammenhalt stärken.17 Gesangsvereine, Turnvereine, Volksschulen, Lesekabinette, Genossenschaften, Bildungsinstitute und Sparkassen dienten diesem Ziel. Die Rechtsstaatlichkeit Preußens bot, trotz

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und Deutschland. Georg von Rauch zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1974, S. 144159. Polentum und Deutschtum in der Provinz Posen, in: Die Grenzboten: Zeitschrift für Literatur, Politik und Kunst 45 (1886), S. 393-405, S. 441-453, S. 449-450. Schutte, Königliche Akademie, S. 345 f. Ebd., S. 347. Siehe Maciej Janowski, Gab es im 19. Jahrhundert in Polen eine Zivilgesellschaft? Erste Überlegungen, in: Arnd Bauerkämper (Hg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt a. M. 2003, S. 293-316, S. 300. Maciej Janowski, Polen im 19. Jahrhundert: Europa an der Weichsel? in: Claudia Kraft, Katrin Steffen (Hg.), Europas Platz in Polen. Polnische Europa-Konzeptionen vom Mittelalter bis zum EU-Beitritt, Osnabrück 2007, S. 131-155, S. 142. 43

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der gleichzeitig durchgeführten Maßnahmen zur Germanisierung, auf einer lokalen Ebene dazu mehr Handlungsräume als die zarische Verwaltung im russischen Teilungsgebiet.18 Dort wiederum war die Möglichkeit eines polnischsprachigen Studiums während der Teilungszeit immerhin für bestimmte Zeitabschnitte gegeben. Ohnehin boten die zarischen Behörden – unter Berücksichtigung der russischsprachigen Angebote – bessere Studienmöglichkeiten als in den preußischen Ostprovinzen. Noch während der Existenz des Herzogtums Warschau kam es im Jahr 1816 zur Gründung der Warschauer Universität. Diese Gründung erwies sich zunächst als kurzlebig – die Universität wurde ebenso wie ein 1828 errichtetes Polytechnisches Institut infolge des Novemberaufstandes im Jahr 1831 wieder geschlossen.19 Neben verschiedenen kleinen Instituten wie einem landwirtschaftlichen Institut in Marymont bei Warschau ließen die Regierungsvertreter 1852 in Warschau eine Abteilung für Architektur an der Schule für Kunstgeschichte zu, und 1857 entstand eine Medizinisch-Chirurgische Akademie.20 An ihre Stelle trat im Jahr 1862 die sogenannte Hauptschule (Szkoła Główna), de facto eine Hochschule, obwohl sie sich so nicht nennen durfte, mit vier Fakultäten: einer medizinischen, einer für Recht und Verwaltung, einer philologisch-historischen sowie einer mathematisch-physikalischen.21 Ihrer kurzen Lebensdauer von 1862-1869 zum Trotz bildete sie 3008 Studierende aus und brachte zahlreiche Symbolfiguren der polnischen Inteligencja wie die Schriftsteller Henryk Sienkiewicz, Aleksander Świętochowski, Bolesław Prus, Aleksander Kraushar oder den Wissenschaftler Jan Baudoin de Courtenay hervor.22 Die Tradition dieser Einrichtung wirkte bis in die Zeit der Zweiten Polnischen Republik nach, und eine Stiftung zur Wissenschaftsförderung erhielt den Namen ihres Rektors, des Arztes Józef Mianowski.23 18 Janowski, Zivilgesellschaft, S. 302. 19 Józef Piłatowicz, Młodzież Warszawskiego Instytutu Politechnicznego w walce z caratem (1898-1905), in: Rocznik Warszawski 20 (1988), S. 72-100. 20 Wiktor Lampe, Zarys historii chemii w Polsce, Kraków 1948, S. 27-28, siehe auch Stefan Kieniewicz, Przesłanki rozwoju nauki polskiej w okresie międzypowstaniowym, in: Studie i materiały z dziejów nauki polskiej, Seria E, Zeszyt 5 (1973), S. 143-155, S. 154. 21 Stanisław Brzozowski, Zabór Rosyjski – Królestwo Polskie, in: Bogdan Suchodolski (Hg.), Historia Nauki Polskiej, Tom IV, 1863-1918, Cz. I i II, Wrocław u. a. 1987, S. 361-489, S. 363. 22 Ebd., S. 366. 23 Jan Piskurewicz, Leszek Zasztowt, Towarszystwo Naukowe Warszawskie, 2008, URL: http://www.tnw.waw.pl/index.php/26-historia/145-towarzystwo-naukowe-wars zawskie (Zugriff am 23. 4. 2021). 44

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Nach einer erneuten Manifestation des Widerstandswillens gegen die russische Teilungsmacht im Januaraufstand von 1863 setzte eine konsequente Degradierung der Residenz- und Hauptstadt Warschau ein, die mit einer Politik der Russifizierung des Bildungswesens einherging. Die Stadt durfte sich von nun an nur noch als gorod Varšava (Stadt Warschau) und nicht mehr als Miasta Stołeczna Warszawa, also als Hauptstadt, bezeichnen.24 Die Hauptschule erfuhr – aus polnischer Sicht – ebenfalls eine Herabstufung, obwohl sie nun offiziell als »Universität« firmierte. Sie hieß fortan Kaiserliche Universität Warschau (Imperatorskij Varšavskij Universitet) mit russischer Unterrichtssprache. Sie übernahm 860 Studenten aus der Hauptschule. Im Studienjahr 1876/77 waren davon nur noch 445 verblieben, anschließend stiegen die Zahlen aber bis 1905 wieder auf 1485 an.25 Von den Studierenden waren zwischen 1894 und 1905 57-66 Prozent katholischen, ca. 19 Prozent mosaischen und 17 Prozent orthodoxen Glaubens – erst nach der Revolution von 1905 nahm der Anteil von Katholiken stark ab, weil Polen sich von der Universität abwandten.26 Hinsichtlich der Ausstattung mit Personal und Ausrüstung hielten die Machthaber sie – wie andere Bildungseinrichtungen auch – unter dem Niveau von Universitäten im Inneren des Zarenreiches.27 Die Kaiserliche Universität Warschau unterhielt 46 Lehrstühle in vier Fakultäten, wobei die medizinische und die juristische Fakultät die Geisteswissenschaften qualitativ überflügelten. Eine inhaltliche Neuausrichtung fand vor allem in den Geisteswissenschaften statt: Dort orientierten sich die Fächer stark an Russland. Um die linguistische Russifizierung des Universitätsbetriebs umsetzen zu können, bemühte sich die Bildungsbehörde, Professoren aus dem russischen Reichsinneren in das Weichselland zu importieren.28 Die Anzahl der Polen, die dort unterrichteten, nahm bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beständig ab – im Jahr

24 Vgl. Ute Caumanns, Modernisierung unter den Bedingungen der Teilung. Überlegungen zur Frage strukturellen und kulturellen Wandels in Warschau am Beispiel öffentliche Gesundheit, in: Carsten Goehrke, Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 365-391, S. 365. 25 Szymon Askenazy, Uniwersytet Warszawski, Warszawa 1905, S. 9-14. 26 Rolf, Imperiale Herrschaft, S. 314. 27 Siehe Ireneusz Ihnatowicz, Uniwersytet Warszawski w latach 1869-1899, in: Stefan Kieniewicz (Hg.), Dzieje Uniwersytetu Warszawskiego 1807-1915, Warszawa 1981, S. 378-494, S. 412 sowie Stanisław Brzozowski, Działalność Polaków w zagranicznych ośrodkach naukowych, in: Bogdan Suchodolski (Hg.), Historia Nauki Polskiej, Tom IV, 1863-1918, Cz. I i II, Wrocław u. a. 1987, S. 634-735, S. 636. 28 Rolf, Imperiale Herrschaft, S. 52. 45

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1914 stellten sie nur noch 18 Prozent der Studierenden und etwa ein Dutzend der Professoren.29 Aus den genannten Gründen galt diese Universität seit ihrer Gründung in der polnischen Öffentlichkeit als Teil einer feindlich gesinnten imperialen Fremdherrschaft, die den Bedürfnissen des Landes in keiner Weise entsprochen habe, so der Historiker Szymon Askenazy im Jahr 1905.30 Diese Haltung mag ihren Grund auch darin gehabt haben, dass es vor allem Angehörige jener Universität waren, die in der Öffentlichkeit radikale Ansichten hinsichtlich einer umfassenden russischen Nationalisierung des Imperiums mit erheblicher Sprengkraft für die Integration eines Vielvölkerreichs vertraten. Sie forderten eine konsequente Bevorzugung des Russischen in allen politischen und kulturellen Belangen und lehnten eine supranationale Reichsloyalität ab.31 Immer wieder kam es daher zu Protesten, die eine stärkere Polonisierung der Universität forderten. Nach dem Revolutionsjahr von 1905, das zu einer temporären Schließung der Universität führte, blieben die polnischen Studierenden der Universität überwiegend fern und nutzten andere, privat organisierte Bildungsangebote.32 Die ablehnende Haltung gegenüber der »Russischen Universität« ist auch in die polnische Historiographie eingegangen, in der sie als »brutal russifiziert« galt.33 Seit einigen Jahren aber lässt sich eine differenziertere Betrachtung beobachten, da der Beitrag der Universität zur Entwicklung von Studium und Wissenschaft in diesem Teil des geteilten Polen inzwischen gewürdigt wird.34 Vor allem eine Vielzahl von polnischen Ärzten und Juristen schloss die Universität erfolgreich ab – andere wiederum wie Ludwik Hirszfeld zogen es zwar vor, die Teilungsgebiete zu verlassen, aber die Möglichkeit, eine universitäre Ausbildung im russischen Teilungsgebiet zu erhalten, war nicht total verstellt. Neben der Universität entstand in Warschau im Jahr 1898 ein Polytechnisches Institut, an dem ebenfalls überwiegend russischsprachige Dozenten unterrichteten. Für die Ausbildung einer lokalen technischen Elite spielte es gleichfalls eine wichtige Rolle. Das Polytechnische Institut erhielt ein sehr repräsentatives, im Stil der Neorenaissance gehaltenes 29 Arkadiusz Stempin, Próba »moralnego podboju« Polski przez cesarstwo niemieckie w latach I wojny światowej, Warszawa 2013, S. 181. 30 Askenazy, Uniwersytet, S. 26. 31 Rolf, Imperiale Herrschaft, S. 152 und S. 316. 32 Ebd., S. 317. 33 Kieniewicz, Dzieje Uniwersytetu Warszawskiego, S. 5; auch Askenazy, Uniwersytet. 34 Siehe Hanna Bazhenova, Evacuation without return: World War I and the Historians of Warsaw Imperial University, in: Steffen (Hg.), Nach dem Zerfall, S. 48-66, S. 52. 46

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Gebäude des bekannten Warschauer Architekten Stefan Szyller, das zeigte, welch hohe Erwartungen mit dieser Institution hinsichtlich einer Modernisierung der polnischen Gesellschaft verknüpft waren. Die russischen Behörden verfolgten mit dem Polytechnischen Institut zwar das Ziel, technische Spezialisten für die Bedürfnisse des Russischen Reiches herauszubilden, und nahmen polnische Studierende eher in Kauf, als sie zu fördern.35 Dennoch machten dort zahlreiche polnische Ingenieure und Fachkräfte ihren Abschluss, die in der Zweiten Polnischen Republik nach 1918 wichtige Positionen einnahmen. Das Pendant zur »organischen Arbeit« entstand im späten 19. Jahrhundert als die gesellschaftliche Strömung, die unter der Bezeichnung »Warschauer Positivismus« bekannt geworden ist. Diese einflussreiche Bewegung wollte der Aufstandstradition als gesellschaftliches Leitbild Pragmatismus entgegensetzen und in der Wirtschaft, der Bildung und der Wissenschaft eine Modernisierung der Nationalgesellschaft fördern.36 Viele ihrer Vertreter wie Aleksander Świętochowski oder Bolesław Prus hatten die erwähnte Warschauer Hauptschule absolviert; Unterstützung fanden die Ideen auch in dem positivistisch inspirierten Milieu der polnischen Ingenieure, die sich um das Polytechnische Institut gruppierten. Sie verstanden sich als Speerspitze einer auf technischen Fortschritt ausgerichteten Stärkung der »organischen Arbeit«, mit der der Nation das Überleben gesichert werden sollte.37 In diesem Kontext entstanden in den Teilungsgebieten als Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation zum Teil statt Forschungsinstituten und Universitäten allgemeine und auf einzelne Fachgebiete spezialisierte wissenschaftliche Gesellschaften. Zum Teil waren sie von den Ideen der »organischen Arbeit« inspiriert, zum Teil setzten sie ältere Traditionen fort. In Krakau bestand darüber hinaus seit 1872 eine eigene »Akademie der Gelehrsamkeit« (Akademia Umiejętności), die aus der Wissenschaftlichen Gesellschaft Krakaus von 1815 hervorgegangen war.38 Die Akademie finanzierte sich mithilfe von Stiftungen und der Unterstützung von Mäzenen.39 Privat getragen waren auch andernorts entstandene wissenschaftlichen Gesellschaften. Zu den bedeutenden unter ihnen gehörten 35 Rolf, Imperiale Herrschaft, S. 223. 36 Denis Sdvižkov, Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 120-123. 37 Piłatowicz, Młodzież; Rolf, Imperiale Herrschaft, S. 270-276. 38 Siehe zur Geschichte der Akademie Julian Dybiec, Polska Akademia Umiejętności 1872-1952, Warszawa 1976 sowie Piotr Hübner, Siła przeciw rozumowi … Losy Polskiej Akademii Umiejętności w latach 1939-1989, Kraków 1994. 39 Andrzej Chwalba, Historia Polski 1795-1918, Kraków 2001, S. 516. 47

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die Gesellschaften in Posen (1857), Thorn (1875), Wilna (1906) sowie die Warschauer Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften (Towarzystwa Przyjaciół Nauk Warszawa), die erstmals im Jahr 1801 gegründet wurde.40 Bei ihrer Gründung hatten – wie bei anderen Gesellschaften auch – nicht nur rein wissenschaftliche Ziele im Vordergrund gestanden, sondern auch solche wie die Sorge um die Entwicklung der polnischen Sprache und Literatur, die Stärkung des Nationalgefühls und des wirtschaftlichen Lebens des Landes.41 Ihre Mitglieder waren Adlige, aktive und ehemalige Geistliche sowie Privatgelehrte.42 Die Gesellschaft wollte vor allem in die Breite wirken und veranstaltete zahlreiche öffentliche Sitzungen, um das geistig-kulturelle Leben in Warschau mit Impulsen zu versehen.43 Sie musste im Jahr 1832 auf Weisung des Zaren Nikolaus I. im Zuge der allgemeinen Repressionen nach dem gescheiterten Novemberaufstand wieder aufgelöst werden.44 Erst im Jahr 1907 erneuerte sie sich als Warschauer Wissenschaftsgesellschaft (Towarzystwo Naukowe Warszawskie), die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und im neuen polnischen Staat nach 1918 eine einflussreiche Rolle spielen sollte – als eine Art Prototyp der späteren Akademie der Wissenschaften sowjetischen Typs aus dem Jahr 1951, zu deren ersten Mitgliedern auch Ludwik Hirszfeld gehören sollte. Weil die Warschauer Wissenschaftsgesellschaft erst im Jahre 1907 neu gegründet werden durfte, hatten Absolventen der Hauptschule im Jahr 1881 an ihrer statt eine andere Institution zur Förderung der Wissenschaften ins Leben gerufen, die bis heute bestehende sogenannte MianowskiKasse oder Mianowski-Stiftung (Kasa Mianowskiego).45 Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie die größte polnische Organisation zur Forschungs- und Wissenschaftsförderung in Polen und galt als eine Art polnisches Wissenschaftsministerium in Zeiten der Unfreiheit. Auch sie finanzierte sich als gesellschaftliche Organisation aus Mitgliedsbeiträgen, 40 Siehe zu den Gesellschaften Stanisław Kunikowski, Towarzystwa naukowe ogólne w Polsce w XIX i XX wieku, Włocławek 1999. 41 Ebd., S. 29. 42 Siehe Karol Sauerland, Sozietätsbewegung und demokratisch-patriotische Bestrebungen in Polen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Klaus Garber, Heinz Wissmann (Hg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Bd. II, Tübingen 1996, S. 1031-1038, S. 1035. 43 Ebd., S. 1036. 44 Kunikowski, Towarzystwa, S. 31. 45 Magdalena Kwiatkowska, Warszawskie edycje podręczników medycznych w XIX i na początku XX wieku, in: Forum Bibliotek Medycznych 1/7 (2011), S. 234-249, S. 246. 48

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aus Zuwendungen und den Spenden vermögender Adliger sowie von Vertretern des Bankenwesens und der Industrie. Die Stiftung führte keine eigenen Forschungen durch, sondern unterstützte Forschungsvorhaben Dritter.46 Sie förderte auch Polinnen und Polen, die sich außerhalb des Territoriums des ehemaligen polnischen Staates aufhielten. Davon profitierte Ludwik Hirszfeld, der in Zürich mit Mitteln aus der Mianowski-Stiftung ein Forschungsprojekt durchführen konnte.47 Weitere, selbst organisierte Bildungseinrichtungen in Warschau operierten zum Teil im Untergrund: Aus der 1882-1905 geheim operierenden Frauenuniversität Uniwersytet Latający (Fliegende Universität) entstand die seit 1906 legalisierte Towarzystwo Kursów Naukowych (Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse), seit der Hauptschule die erste polnischsprachige Hochschule nun für Frauen und Männer, aber weiterhin mit einem hohen Frauenanteil, die sich privater Initiativen verdankte und versuchte, die Leerstellen zu füllen, die das russifizierte Bildungssystem schuf.48 Aus dieser Initiative ging in der Zeit der Zweiten Polnischen Republik wiederum die Wolna Wszechnica Polska (Freie Polnische Universität) hervor, an der Ludwik Hirszfeld unterrichten sollte.49 Zudem entstand ein Komitet Polytechniczny (Polytechnisches Komitee), das bei der »Wieder«Eröffnung der Warschauer Technischen Hochschule im Jahr 1915 eine wichtige Rolle spielte.50 Staatlich geförderte, polnischsprachige Institutionen konnten im Verlauf des Ersten Weltkriegs im Jahr 1915 ihre Arbeit aufnehmen: Die damalige deutsche Verwaltung setzte im Generalgouvernement Warschau eine polnischsprachige Warschauer Universität (Uniwersytet Warszawski) und eine Technische Hochschule (TH), das Polytechnikum Warschau (Polytechnika Warszawska), ein.51 An ersterer erhielt Ludwik Hirszfeld später eine Titularprofessur, an zweiter Czochralski einen Lehrstuhl und ein Forschungsinstitut. 46 Siehe zur Mianowski-Kasse den ausführlichen Artikel zu ihrer Geschichte auf ihrer Homepage, URL: http://www.mianowski.waw.pl/foundation/history/?lang=en (Zugriff 23. 4. 2020). 47 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 29; siehe auch Franz Rost, Pathologische Physiologie des Chirurgen (Experimentelle Chirurgie). Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig 1925, S. 410. 48 Halina Kiepurska, Uniwersytet Warszawski w latach 1899-1915, in: Kieniewicz, Dzieje Uniwersytetu Warszawskiego, S. 561-562. 49 Stanisław Orłowski (Hg.), Dziesięciolecie Wolnej Wszechnicy Polskiej. Sprawozdanie z działalności Towarzystwa Kursów Naukowych 1906-1916, Warszawa 1917. 50 Vgl. Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 24 51 Siehe dazu Stempin, Próba »moralnego podboju«, S. 180 ff. Im Folgenden wird diese Hochschule entweder als Technische Hochschule (TH) oder als Polytechnikum bezeichnet, da dies im Deutschen gebräuchlicher ist als die direkte Übersetzung aus dem Polnischen in der weiblichen Form: »Politechnika«. 49

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Aus dem bislang Geschilderten geht hervor, dass es für die »staatenlose« polnische Gesellschaft keine gesamtpolnische Wissenschaftslandschaft gab. Die staatliche Förderung von Wissenschaft war in die jeweiligen Staaten eingegliedert. Daher waren die entsprechende Infrastruktur und die vorhandenen Institutionen nur wenig dazu geeignet, wissenschaftliche Innovation nachhaltig zu befördern. Die rasanten Entwicklungen im 19. Jahrhundert in den hier interessierenden Wissensgebieten, in der Medizin, der Bakteriologie und der Metallurgie, fanden vorrangig außerhalb der Teilungsgebiete Polens statt. In der entstehenden Wissenschaft der Metallurgie etwa konnten auf dem Territorium des ehemaligen Polen im 19. Jahrhundert keine Grundlagenforschungen durchgeführt werden – erst im Jahr 1909 gelang es, an der Technischen Hochschule in Lemberg überhaupt einen Lehrstuhl für mechanische Technologie zu schaffen, dessen Inhaber, Stanisław Anczyc, sich auf metallographische Forschungen spezialisierte.52 In den technischen Fachzeitungen, die in Polen im späten 19. Jahrhundert herauskamen, fanden sich allmählich häufiger Artikel aus der Metallurgie. Obwohl auch die ersten polnischen Arbeiten erschienen, waren dies zu jener Zeit häufig Zusammenfassungen von Artikeln aus dem Ausland, davon viele aus Deutschland. Die internationalen Entwicklungen wurden demnach rezipiert, aber es mangelte an Laboratorien, wo diese Ergebnisse in weiterführenden Forschungen hätten vertieft werden können.53 In der Medizin und der Bakteriologie, den Wissensfeldern von Ludwik Hirszfeld, stellte sich die Situation ähnlich dar. Die allgemeinen Entwicklungen in der Bakteriologie, die zum Ende des 19. Jahrhunderts einen erheblichen Aufschwung innerhalb der modernen wissenschaftlichen Medizin erlebte, weil sich die Idee durchsetzte, dass Bakteriologen unsichtbare, krankheitserregende Mikroben im Labor identifizieren und ansteckende Krankheiten heilen konnten, wurden in den polnischen Landen rezipiert und verarbeitet; zu Grundlagenforschung kam es aber ebenfalls kaum. Es war sehr verbreitet, deutsche, französische oder britische medizinische Fachzeitschriften zu lesen.54 Den Aufstieg der Bakteriologie, der mit den Namen von Louis Pasteur in Frankreich und Robert Koch in Deutschland verbunden ist, studierte vor allem der Krakauer Mediziner Odo Bujwid, der sich selbst nach Paris und Berlin aufmachte. Er, der als Vater der polnischen Bakteriologie gilt, lernte beider Praktiken kennen, die recht unterschiedlich waren: Denn während Robert Koch 52 Jerzy Piaskowski, Metalurgia, in: Bogdan Suchodolski (Hg.), Historia Nauki Polskiej, Tom IV, 1863-1918, Cz. III, Wrocław u. a. 1987, S. 284-289, S. 285. 53 Ebd., S. 286. 54 Ebd., S. 387 f. 50

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sich auf die Diagnostik und die Feststellung der Ursachen von Krankheit durch bakterielle Erreger im Labor konzentrierte, orientierte sich Pasteur eher auf praktische Anwendungsfragen außerhalb des Labors.55 Bujwid transferierte sein akkumuliertes Wissen nach Warschau und verband das, was er in Berlin bei Koch gelernt hatte, mit seinem bei Pasteur gesammelten Wissen.56 Er trug somit dazu bei, dass es im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in den Teilungsgebieten im Rahmen der wissenschaftlichen Gesellschaften und der Universitäten vor allem in der Medizin zu Fortschritten kam. Dabei dachten die Beteiligten sehr intensiv über theoretische Fragen der Wissenschaftsentwicklung in der Medizin und der Medizinphilosophie nach.57 Dieses Interesse an wissenschaftstheoretischen Fragen hielt sich auch nach 1918.58 Verglichen mit den sich zur gleichen Zeit ausbildenden europäischen Nationalstaaten oder den zentralen Regionen der Imperien nahmen die staatlichen Verwaltungen im russischen und im preußischen Teilungsgebiet Polens im 19. Jahrhundert insgesamt eine weniger institutionalisierende oder fördernde Funktion für die Wissenschaftsentwicklung ein: Sie waren an der Entwicklung in den Zentren interessiert. Daher galt der Staat in den Peripherien als Repräsentant der imperialen Ordnungen überwiegend nicht als Förderer der Wissenschaften, sondern vor allem als ein Gesetzesvollstrecker. Dies hatte langlebige Folgen, die sich in einer distanzierten Haltung zum Staat manifestierten und die in die Zeit der Zweiten Polnischen Republik und darüber hinaus reichten.59

55 Siehe Kreuder-Sonnen, Mikroben, S. 28-33. Eine Biographie zu Odo Bujwid liegt nicht vor; Informationen finden sich aber in seinen Erinnerungen: Ders., Osamotnienie. Pamiętniki za lat 1932-1942, Kraków 1990. 56 Katharina Kreuder-Sonnen, From Transnationalism to Olympic Internationalism. Polish Medical Experts in fin de siècle-Europe, in: Contemporary European History 25/2 (2016), S. 207-231, S. 220; Dies., Wie die Mikroben nach Warschau kamen. Wissenstransfer in der Bakteriologie in den 1880er Jahren, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 20/3 (2012), S. 157-180. 57 Stanisław Konopka, Zofia Podgórska-Klawe, Roman Dzierżanowski, Medycyna, in: Bogdan Suchodolski (Hg.), Historia Nauki Polskiej, Tom IV, 1863-1918, Cz. III, Wrocław u. a. 1987, S. 383-415, S. 394 f. 58 Maciej Iłowiecki, Okręty na oceanie czasu. Historia nauki polskiej do 1945 roku, Warszawa 2001, S. 165-259. 59 Siehe dazu Friedrich Cain, Bernard Kleeberg (Hg.), A New Organon. Science Studies in Interwar Poland, Tübingen 2021 sowie Piotr Hübner, The Last Flight of Pegasus: The Story of the Polish Academy of Science and Letters and of the Warsaw Scientific Society, 1945-1953, in: East European Politics and Societies 13/1 (1999), S. 71-116, S. 71. 51

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Vor dem Hintergrund der geschilderten Konstellation wird für die Geschichte der polnischen Wissenschaftsentwicklung auf der einen Seite postuliert, es habe nach den Teilungen ein »geistiger Niedergang sondergleichen« Einzug gehalten.60 Auf der anderen Seite hoben etwa die Autoren der mehrbändigen »Geschichte der Polnischen Wissenschaft« (Historia Nauki Polskiej) in den 1970er Jahren hervor, die Wissenschaft habe in dieser Zeit einen nationalen Dienst erfüllt: Denn obwohl die Politik der Teilungsmächte auf »zielgerichtete Zerstörungen« und »Verlangsamung« ausgerichtet gewesen sei, habe sich »die Nation« stets Mühe gegeben, Kontinuität zu bewahren und Auf bauarbeit zu leisten. Gleichzeitig seien die Vertreter der Wissenschaft daran beteiligt gewesen, »ihren Beitrag zum Ertrag der Wissenschaft auf der Welt zu leisten« – dieses Narrativ sollte in der Zweiten Polnischen Republik erneut eine wichtige Rolle spielen.61 Der Fokus beider Narrative liegt auf der eingangs bereits erwähnten nationalen Entwicklung, die den Blick darauf verstellt, dass Wissenschaft aus Polen und von Polinnen und Polen auch an nichtpolnischen Orten, Universitäten oder Akademien von St. Petersburg über Irkutsk, Dorpat und Riga oder Paris bis Berlin stattgefunden und in vielfältigen Transferprozessen in verschiedene Richtungen die polnischen Territorien wieder erreicht hat.62 Viele polnische Medizinerinnen, Mediziner und Metallurgen waren mobil und in Bewegung: Sie lebten und forschten in Russland, vor allem in St. Petersburg, aber auch am bekannten Polytechnikum in Riga, einige, wie Czochralski, in Deutschland, andere in Paris. Viele polnische Journale transferierten die Ergebnisse, die von Polinnen und Polen anderswo erzielt wurden, in die Teilungsgebiete. Ludwik Hirszfeld zum Beispiel, der seit 1907 mit Publikationen hervortrat, schickte im Jahr 1911 zwei kurze Artikel auf Polnisch an entsprechende Fachzeitschriften und setzte dies auch in den folgenden Jahren fort.63 Zudem wurde in der Welt akkumuliertes Wissen durch die zahlreichen Migrationen innerhalb und außerhalb der Staaten als Kapital nach Polen hineingetragen, selbst wenn dies nicht immer einfache oder lineare Prozesse waren. Darüber hinaus brachte die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg auch außerhalb von Gali60 So Sauerland, Sozietätsbewegung, S. 1033, dagegen argumentiert Iłowiecki, Okręty, bes. S. 165-259. 61 Bogdan Suchodolski, Wstęp, in: Jerzy Michalski (Hg.), Historia Nauki Polskiej, Tom III, 1795-1882, Wrocław u. a. 1977, S. V-XXVI, S. VI. 62 Siehe etwa Siergiej G. Isakow, Jan Lewandowski (Hg.), Rola dorpartczyków w polskiej nauce, kulturze i polityce XIX i XX wieku, Lublin 1999. 63 Hanna Hirszfeld, Andrzej Kelus, Feliks Milgrom (Hg.), Ludwik Hirszfeld, Wrocław 1968, S. 17. 52

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zien mit seinen Universitäten die geschilderten wissenschaftlichen, gesellschaftlichen oder staatlichen Initiativen wie die Universität in Warschau und die Technische Hochschule hervor, auf die der spätere Nationalstaat aufbauen konnte und auch musste. Es lässt sich daher insgesamt nicht die Ansicht vertreten, das 19. Jahrhundert sei ein »verlorenes« Jahrhundert für Polen und dessen wissenschaftliche Entwicklung gewesen.64 Mit einer solchen Einschätzung, die auf die Perspektive einer nationalstaatlichen Institutionalisierung verengt ist, bekommt man viele historische Entwicklungen, zumal für die Geschichte des Wissens, nicht in den Blick. 2.2 Die »Emigration des Talents«

Die Mobilität von Polinnen und Polen sowie Migrationsprozesse aus den Territorien des ehemaligen polnisch-litauischen Staates lösten zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Debatte aus, die im Folgenden nachgezeichnet werden soll. Denn in dieser Debatte kam es zum Austausch von Argumenten, die nach der Nationalstaatsgründung Polens im Jahr 1918 weiterhin eine gewichtige Rolle spielten. Davon waren auch Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld betroffen. Der Auslöser für diese Debatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die zunehmende Intensität der Migration aus dem ehemaligen polnisch-litauischen Staat. Die Auswanderungswilligen waren entweder Repressionen ausgesetzt, fanden keine Erwerbsarbeit oder waren an einer anderen Ausbildung interessiert als der, die sie vor Ort hätten absolvieren können. Ging es um die Wahl eines Studienortes, so waren bevorzugte Aufnahmeländer Russland (vor allem Dorpat, Riga, St. Petersburg und Moskau), Deutschland (vor allem Berlin, Breslau, Leipzig und München), Österreich-Ungarn (vor allem Wien), die Schweiz (vor allem Genf und Zürich), Belgien, England und Frankreich.65 Dabei zog es diejenigen aus dem preußischen Teilungsgebiet überwiegend an deutsche Universitäten, weil sie nur als Absolventen jener Hochschulen eine Approbation für eine Tätigkeit als Arzt, Rechtsanwalt oder Lehrer in den preußischen Provinzen erhalten konnten; auch lockte die günstige geographische Lage. Zudem hatte sich ein eher positives, fast schon idealisiertes Bild der deutschen Universitäten 64 Siehe dazu Iłowiecki, Okręty; und Josef N. Neumann, Medizinethik in Ostmitteleuropa, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 53 (2007), S. 311-330, bes. S. 312-313. 65 Brzozowski, Działalność Polaków, S. 635; Józef Piłatowicz, Politechnika Warszawska w dwudziestoleciu międzywojennym, in: Rocznik Warszawski 12 (1990), S. 109-139, S. 110. 53

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herausgebildet, man schätzte den »Kult des Wissens«, der dort herrschte, aber auch die Tatsache, dass Studierende die Wertschätzung der Gesellschaft genossen, wie Ludwik Hirszfeld beobachtete.66 Aber es kam ebenso zu Kritik: Der zuweilen angetroffene Nationalismus an den Universitäten, ein generelles Großmachtstreben im Deutschen Reich oder die Tatsache, dass Professoren sich dem Staat andienen würden, fielen weniger positiv auf.67 Studierende aus Galizien und Kongresspolen verteilten sich über zahlreiche unterschiedliche Länder, wobei Studierende aus dem Königreich Polen, ähnlich wie in Preußen, vornehmlich russische Universitäten besuchten.68 Unter den Studierenden an deutschen Hochschulen schwankte der Anteil derjenigen aus Kongresspolen zwischen 12 und 23 Prozent, während der aus Galizien nur etwa 5 Prozent betrug.69 Insgesamt studierten im Jahr 1900 306, 1906 530 und 1914 etwa 700 Polen und Polinnen in Deutschland.70 Davon entfielen im Jahr 1904 etwa 200 auf die Technischen Hochschulen.71 Für 1914 erhobene Vergleichszahlen zeigen, dass in jener Zeit etwa 472 Polinnen und Polen an österreichischen Universitäten studieren, in Krakau und Lemberg zusammen aber 6905 und an russischen Hochschulen außerhalb Kongresspolens etwa 3200 Personen. Darüber hinaus zählte die Kaiserliche Universität Warschau zu jener Zeit mindestens 323 Studierende polnischer Nationalität.72 Die Mehrzahl polnischer Studierender nahm also die Möglichkeiten, die die Universitäten in Krakau und Lemberg boten, in Anspruch. Doch führte die Mobilität dieser Gruppe, die durch das Leben unter Fremdherrschaft entstand, zu einer Diskussion darüber, wie Migration politisch, kulturell und wirtschaftlich zu bewerten sei. Emigration aus unterschiedlichen Gründen evozierte für die Vertreterinnen und Vertreter des Programms der »organischen Arbeit«, das eine Stärkung der Nation vor Ort propagierte und daher auf (akademisches) Wissen und technologische und naturwissenschaftliche Expertisen angewiesen war, hitzige Debatten in der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Denn sie galt vielen Angehörigen der Inteligencja als Landesverrat, als Feigheit und als eine 66 67 68 69

Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 9. Molik, Deutsche Universitäten, S. 26. Ebd., S. 16. Witold Molik, Polskie peregrynacje uniwersyteckie do Niemiec 1971-1914, Poznań 1989, S. 57-58, S. 296. 70 Ebd., S. 61. 71 Siehe Antoni Karbowiak, Młodzież polska akademicka za granicą, Kraków 1910, S. 261-262; davon studierten 51 in Berlin, 45 in Karlsruhe, 42 in Darmstadt und 26 in München. 72 Molik, Polskie peregrynacje, S. 67.

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Vernachlässigung der Pflichten als Polin und als Pole.73 Angehörige der Inteligencja bemängelten beispielsweise, die Emigration führe dazu, dass den polnischen Territorien Wirtschaftskraft verloren gehe. Nicht selten lastete man dies den Teilungsmächten an, die »planlose Emigration« massenhaft zugelassen hätten.74 Auf der anderen Seite standen diejenigen, die konzedierten, dass die höheren Löhne in Westeuropa und den USA und der damit verbundene Rücktransfer von Geld in die polnischen Territorien diesen ökonomisch sehr zugute kämen.75 Sie betonten auch ein positives Potential von Emigration für nationale Expansion und Kolonisation, besonders in Lateinamerika.76 Ging es um die Gruppe der Emigrierenden, die entweder bereits gut ausgebildet oder auf der Suche nach einer Ausbildung waren, so unterlagen sie einer dichotomischen Zweiteilung: Man unterschied sie in diejenigen, die der Nation verbunden blieben, und solche, die ihr vermeintlich verloren gingen. Man befürchtete, das Land müsse auf eine Elite verzichten, die im Fall einer Nationalstaatsbildung nicht nach Polen zurückkehren würde. Andere Länder hingegen konnten dann von diesen »Migranten« profitieren. Es fehlte daher nicht an Stimmen aus allen politischen und weltanschaulichen Richtungen, die eine solche Emigration prinzipiell ablehnten. Vor allem konservative Autorinnen und Autoren interpretierten ein Studium im Ausland als einen entnationalisierenden Faktor. Im Jahr 1899 kritisierte die bekannte Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa die Migration mit scharfen Worten in der in Petersburg seit 1882 (bis 1909) erscheinenden Wochenzeitschrift Kraj (Land), einem Organ, das von konservativ-liberalen Anhängern einer Verständigung mit Russland getragen wurde und eine weite Verbreitung auch in den anderen Teilungsgebieten fand.77 Die Zeitschrift agierte somit in einem polnischen Diskursraum bzw. war daran beteiligt, diesen mit zu erschaffen. Ihre Auflage lag mit 5000-6000 höher als die der meisten anderen Wochenzeitungen im Königreich Polen.78 Kraj wollte die polnische Sprache, 73 Jerzy Jedlicki (Hg.), Dzieje inteligencji polskiej do 1918 roku, Tom 3: Magdalena Micińska, Na rozdrożach 1864-1918, Warszawa 2008, S. 70. 74 Benjamin P. Murdzek, Emigration in Polish Social-Political Thought 1870-1914, New York 1977, S. 177. 75 Ebd., S. 146. 76 Gabaccia, Hoerder, Walaszek, Emigration, S. 80-81. 77 Agnieszka Kidzińska, »Obrona bytu«. Wczesne poglądy polityczne ugodowców z Królestwa Polskiego w świetle petersburskiego »Kraju« (1882-1896), in: Annales Universitatis Mariae Curie-Skłodowska, Vol. LVI, Sectio F (2001), S. 55-82, S. 56. 78 Zenon Kmiecik, »Kraj« za czasów redaktorstwa Erazma Piltza, Warszawa 1969, S. 145-148. 55

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Tradition und Kultur mit den Anforderungen des Staates und dessen Rechtsauffassungen versöhnen und richtete sich sowohl an die polnische Gesellschaft, die sie mit Russland vertraut machen wollte, als auch an die russische Gesellschaft, der sie polnisches Leben im Königreich Polen und anderswo näher bringen wollte.79 Einer Zensur unterlag sie in Petersburg weniger als in Warschau.80 Orzeszkowas Artikel in Kraj war eine Reaktion auf einen ebenfalls dort erschienenen Text des Philosophen und Publizisten Wincenty Lutosławski, der in der polnischen Nationalbewegung aktiv und Mitglied der Liga Narodowa (Nationalen Liga) war. Unter dem Titel Emigracja Zdolności (Emigration des Talentes) vertrat Lutosławski eine positive Haltung zur Emigration und forderte die »begabtesten und fähigsten Landsleute« öffentlich dazu auf, das Land zu verlassen, würden sie doch unter den Bedingungen russischsprachiger Ausbildung ihr Talent vergeuden. Er konnte der Vorstellung nichts abgewinnen, dass diese Talente in Warschau »irgendwelche bürokratischen Tätigkeiten« verrichteten, anstatt »am Fortschritt der Menschheit teilzunehmen und auf einem breiteren Gebiet für das eigene Vaterland zu arbeiten«.81 Tatsächlich arbeiteten die führenden Gelehrten im Königreich Polen fast alle in der Verwaltung von Banken, in Handelskontoren oder als Privatlehrer.82 Lutosławski meinte daher, im fremd beherrschten Land würden vor allem die »Geduldigsten« und die »Widerstandsfähigsten« gebraucht – die »Fähigsten« hingegen könnten unter den Bedingungen der Teilungen nicht schnell genug vorankommen. Mit Verweis auf den Schriftsteller Joseph Conrad (Józef Korzeniowski), der die polnischen Gebiete 1874 verlassen und bis 1897 drei Romane und einige Erzählungen in englischer Sprache veröffentlicht hatte, plädierte er dafür, dass Polinnen und Polen eher in die Welt hinausgehen sollten, um dort ihr Geld zu verdienen. Diese Grundüberzeugung bezog er ausdrücklich auch auf Gelehrte, die, in seinen Worten, »aus einem falschen Patriotismus heraus unbedingt unsere Jugend in Warschau, Krakau oder Lemberg ausbilden« wollten. Im Austausch für »tausend Demütigungen« würde ein Wissenschaftler einen Lohn erhalten, der gerade reiche, seine Familie vor dem Verhungern zu bewahren. Besser sei es, so Lutosławski, als polnischer Gelehrter etwa an einer amerikanischen Universität zu unterrichten und finanziell in der 79 80 81 82

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Kidzińska, »Obrona bytu«, S. 57. Rolf, Imperiale Herrschaft, S. 142. Wincenty Lutosławski, Emigracja Zdolności, in: Kraj Nr. 12 (1899). Leszek Zasztowt, Popularyzajca nauki w Królewstwie Polskim na tle dyskusji teoretycznych przełomu XIX w., in: Rozprawy z Dziejów Oświaty 25 (1983), S. 59-92, S. 88.

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Lage zu sein, Studierende aus Polen einzuladen und ihnen »amerikanische Energie und Produktivität« beizubringen, jene positiven Eigenschaften, die »uns so sehr fehlen«.83 Lutosławski sprach aus eigener Erfahrung, denn er selbst hatte an verschiedenen Orten in Europa gelebt und studiert.84 Er sah die Arbeit von Polinnen und Polen im Ausland damit als ganz und gar nicht verloren an, sondern war überzeugt, so könne man polnische Errungenschaften der intellektuellen Elite auf der ganzen Welt präsentieren und im Gegenzug frische Gedanken zurück ins Land tragen – die Emigrantinnen und Emigranten sah er als »Lunge des Landes«.85 Während das Motiv, das Lutosławski hier anführte, man könne zum weltweiten Fortschritt nur beitragen, wenn man ihn um eigenständige Gedanken bereichere, nicht nur im polnischen Wissenschaftsdiskurs immer wieder angeführt und unter vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fast konsensual verhandelt wurde, war und ist die Frage, was eigentlich als polnisch, deutsch oder französisch in der (Natur-) Wissenschaft gelten kann, strittig.86 In der Zweiten Polnischen Republik nach 1918 wurde diese Frage, die zwischen einer Bejahung des vermeintlich Universellem der Wissenschaften und des Nationalen oszillierte, von vielen Wissenschaftlern wieder aufgegriffen. Die von Lutosławski sogenannten »frischen Gedanken«, die nicht in Polen entstanden, aber von Polen entwickelt und nach Polen transferiert wurden, wurden dann gelegentlich auch als »fremd« und nicht zu Polen passend abgelehnt – dies sollte vor allem Jan Czochralski nach 1918 erfahren. Denn nicht alle Landsleute teilten Lutosławskis Überzeugung von einer ausbleibenden Entpolonisierung in der Fremde. Eliza Orzeszkowa gehörte zweifellos zu den vehementesten und kompromisslosesten Kritikerinnen der Emigration. Sie sah in der Jugend, die das Land verlasse, in einer ähnlich organizistischen Terminologie wie Lutosławski keineswegs eine »Lunge des Landes«. Sie war überzeugt, durch sie werde das »Blut aus den Adern der Nation ausströmen«.87 Wer Talent habe, könne sich nicht einfach von allen Unannehmlichkeiten wegbewegen und zum verbleibenden Rest sagen: »Seht zu, wie Ihr zu83 84 85 86

Lutosławski, Emigracja. Wincenty Lutosławski, Jeden łatwy żywot, Warszawa 1933, S. 174-176. Micińska, Na rozdrożach, S. 71. Siehe dazu Mary Jo Nye, National Styles? French and English Chemistry in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Osiris 8 (1993), S. 30-49, sowie Jonathan Harwood, National Styles in Science. Genetics in Germany and the United States between the World Wars, in: Isis 78/3 (1987), S. 390-414. 87 Micińska, Na rozdrożach, S. 76. Diese Terminologie nutzte auch Mieczysław Szawleski in: Kwestia emigracji w Polsce (1927), siehe Gabaccia, Hoerder, Walaszek, Emigration, S. 75. 57

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rechtkommt, ich gehe dahin, wo es gut ist, und dann schicke ich euch ein bisschen Geld und Ruhm …« Ihr ging es vor allem um die »moralische Atmosphäre« in den Territorien des ehemaligen polnisch-litauischen Staates, die aus den Tugenden und Talenten der Einwohnerinnen und Einwohner entstehe und für die die Elite verantwortlich sei. Orzeszkowa wollte die Gesellschaft vor Ort stärken und die Atmosphäre verbessern, die sie als betäubend und stickig empfand.88 Sie meinte zweifellos alle Polinnen und Polen mit ihrer Philippika gegen die Emigration, aber die Debatte betraf besonders diejenigen, die sich wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Kulturschaffende mit der polnischen Sprache beschäftigten und diese im Zuge des Lebens in der Fremde aufgaben. In ihrem Artikel in der Zeitschrift Kraj griff Orzeszkowa besonders Joseph Conrad an und hielt ihm vor, den persönlichen Erfolg in der englischsprachigen Weltliteratur über sein Engagement als polnischer Autor gestellt zu haben.89 Der Vorwurf des Vaterlandsverrats war sehr greif bar. Stolz könne man hingegen auf die Berufsgruppen der Techniker, Ingenieure und Ärzte sein, die außerhalb der polnischen Territorien etwa in St. Petersburg Brücken bauten, in Brasilien Eisenbahnlinien planten und Häfen anlegten oder an der Errichtung des Suez-Kanals beteiligt waren, ganz unabhängig davon, ob sie die polnische Sprache aufgaben oder nicht.90 Diese Debatte an der Jahrhundertwende nahm Argumente vorweg, die in der Zwischenkriegszeit gegenüber remigrierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern angeführt wurden. Dazu gehörten die uneindeutigen Gefühle, die etwa der Schriftsteller Joseph Conrad unter seinen Landsleuten weckte. Zum einen evozierte Conrad nationalen Stolz wegen seines Erfolges auf dem englischsprachigen Buchmarkt, auf der anderen Seite fanden es viele seiner Landsleute inakzeptabel, dass er die Verbindungen zum Land seiner Geburt aufgegeben hatte und seine Werke auf Englisch veröffentlichte.91 Denn sie waren der Ansicht, Polinnen und Polen hätten unter den Bedingungen der Teilung eine Mission zu erfüllen. Das Dogma eines Dienstes an der Nation und an der Gesellschaft war im 19. Jahrhundert in das Ethos der polnischen Inteligencja eingeschrieben, und dies galt besonders für die fortschrittlich 88 Eliza Orzeszkowa, Emigracja Zdolności, in: Kraj Nr. 16 (1899). 89 Ebd. 90 Micińska, Na rozdrożach, S. 72-73. Siehe auch Józef Retinger, Polacy w cywilizacjach świata do końca wieku XIX-go, Warszawa 1937, S. 188. Retinger verurteilte Polen im Ausland nicht, im Gegensatz zu Orzeszkowa lobte er ihren Beitrag zum allgemeinen Fortschritt in verschiedenen Ländern der Welt. 91 Micińska, Na rozdrożach, S. 78. 58

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eingestellte Inteligencja im Königreich Polen.92 Im Kern ging es hier um die Frage, inwieweit die Emigrantinnen und Emigranten einer zukünftig ersehnten, wiederhergestellten polnischen Nation dienen könnten und wie »polnisch« sie noch seien.93 Besonders scharf wurden diejenigen beurteilt, die die polnische Sprache durch eine andere ersetzten und den Kontakt zum »Vaterland« (Ojczyzna) nicht aufrecht erhielten. Die Topoi von »Heimat/Vaterland« und »Verrat« spielten eine gewichtige Rolle, Topoi, die besonders das Leben von Jan Czochralski zu einem späteren Zeitpunkt beeinflussen sollten: Denn er rief ähnliche Ambivalenzen in der Beurteilung hervor, wenn auf der einen Seite Stolz auf seine wissenschaftlichen Leistungen geäußert, ihm auf der anderen aber attestiert wurde, ein Mensch mit »zwei Vaterländern« zu sein. Diese Frage führte im neu gegründeten Nationalstaat immer wieder zu Spannungen zwischen den international ausgebildeten Rückkehrerinnen und Rückkehrern und denjenigen, die während der Teilungszeit im Land verblieben waren.94  &YWHIR5IVMTLIVMIRMR[MWWIRWGLEJXPMGLI>IRXVIRcƳ Würzburg und Berlin

Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld gehörten zu denjenigen Polen, die der Forderung von Wincenty Lutosławski nachkamen – sie wollten ihre Ausbildung an Orten aufnehmen, an denen sie Perspektiven, wissenschaftliche Ausrüstung und Denkkollektive vorfanden, die sie im preußischen und im russischen Teilungsgebiet aufgrund der geschilderten strukturellen Lage vergeblich gesucht hätten. Hirszfeld verließ die Stadt Lodz im Jahr 1902 und akzentuierte in seiner Autobiographie seine oppositionelle Haltung gegenüber den »russischen Gendarmen«. Er sprach von dem »Gefühl einer tiefen Unzufriedenheit und einer Abneigung gegenüber dem Leben, das mich umgab«.95 Er hatte in Lodz das russische 92 Ebd., S. 73. 93 Siehe auch Adam Walaszek, Migrajce Europejczyków 1650-1914, Kraków 2007, S. 167. 94 Siehe dazu auch Martin Müller-Butz, Von Russland nach Polen. Zum Potential imperialer Erfahrung nach dem Zerfall der Imperien am Beispiel der Biographie von Aleksander Lednicki, in: Tim Buchen, Malte Rolf (Hg.), Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850-1918), Berlin 2015, S. 199-219; Brian McCook, Becoming Transnational: Continental and Transatlantic Polish Migration and Return Migration, 1870-1924, in: Annemarie Steidl (Hg.), European mobility. Internal, international, and transatlantic moves in 19th and early 20th centuries, Göttingen 2009, S. 151-173, S. 166. 95 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 8-9. 59

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Gymnasium besucht, wo er als Bibliothekar in einer geheimen Lerngruppe an Untergrundaktivitäten mitgewirkt hatte.96 Hirszfeld wählte für sein Medizinstudium die Stadt Würzburg aus. Die Wahl Deutschlands lag nahe, da die medizinische Wissenschaft dort eine Blütezeit erlebte und weit über die deutschen Landesgrenzen hinaus bekannt war. In Würzburg blieb er zwei Jahre und ging anschließend nach Berlin, der Region, in der neben dem Ruhrgebiet damals mit etwa 80.000 die meisten Polinnen und Polen im Deutschen Reich lebten.97 Die Möglichkeit für Studierende im Deutschen Reich, relativ problemlos die Universität wechseln zu können, schätzte er sehr. In Berlin schrieb er sich zunächst für Philosophie ein und wurde zu einem aufmerksamen Hörer bei Georg Simmel, kehrte aber, obwohl er Simmel als einen »Gott des reinen Intellekts« bezeichnete und die Vorlesungen bei ihm genoss, im Wintersemester 1904 zur Medizin zurück.98 Zusätzlich belegte er Kurse in Bakteriologie bei Martin Ficker – in dieser Zeit in Berlin beschloss er nach eigener Auskunft, Serologe zu werden.99 Während dreier Semester in den Jahren 1906 und 1907 arbeitete Hirszfeld als Praktikant im Königlichen Hygienischen Institut in Berlin, wo er sich mit »Fleiß und Geschick« mit den »wichtigsten Methoden der bakteriologischen und serologischen Technik« befasste, so der Direktor des Institutes Max Rubner, der 1891 als Nachfolger von Robert Koch den Lehrstuhl für Hygiene an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin übernommen hatte.100 Aus seiner dortigen Arbeit gingen 1907 Hirszfelds erste Veröffentlichungen im »Archiv für Hygiene« hervor, unter anderem seine Doktorarbeit, die er ebenfalls 1907 erstellte: In jenem Jahr wurde Hirszfeld offiziell bei Max Rubner promoviert – erarbeitet hatte er die Arbeit zur Hämoagglutination (Blutverklumpung) aber vor allem bei Ulrich Friedemann, einem Schüler von Paul Ehrlich, der damals als junger Bakteriologe an der Universität angestellt war. Im Verlauf seiner Ausbildung und Forschung reifte Friedemann zu einem der besten Spezialisten für ansteckende Krankheiten im Deutschland der Weimarer Republik, bevor der nationalsozialistische Terror ihn vertrieb und er sich zunächst in London und später in New York niederließ. Hirszfeld traf 96 Ebd., S. 8. 97 Mirosław Piotrowski, Reemigrajca Polaków z Niemiec 1918-1939, Lublin 2000, S. 38. 98 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 9. 99 Ebd., S. 11. 100 Universitätsarchiv Heidelberg, Dekanatsakten. Decanat des Herrn Prof. W. Nissl 1910-1911, Band 1, Bl. 181, Max Rubner am 7. 12. 1908. Ich danke Philipp Osten für die Überlassung dieser Dokumente. 60

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ihn viele Jahre nach seiner Promotion auf einem Kongress des Völkerbundes über Diphterie-Impfungen in London wieder – Friedemann vertrat dort Deutschland und Hirszfeld Polen.101 Nach dem Zweiten Weltkrieg begegneten sich die beiden erneut in den USA . Zwei Jahre später als Hirszfeld, im Jahr 1904, verließ Jan Czochralski den Ort seiner Geburt, die Ortschaft Kcynia im preußischen Teilungsgebiet, das damalige Exin. Über Czochralskis Haltung gegenüber der preußischen Staatsmacht ist nichts bekannt. Er besuchte das deutschsprachige katholische Lehrerseminar in Exin, schloss die Schule aber nicht ab, angeblich aus Protest gegen unfaire Benotung. Zusätzlich sammelte er praktische Erfahrungen in ein oder zwei Drogerien in seiner Heimatstadt.102 Der Legende nach sollen Czochralskis Eltern nicht mehr toleriert haben, dass er im Keller des väterlichen Hauses, wo er sich ein kleines Labor eingerichtet hatte, mit Chemikalien experimentierte – was eines Tages dazu geführt haben soll, dass bei einer Explosion nicht nur alle Fensterscheiben des Elternhauses, sondern auch noch die der Nachbarn zerbrachen. So jedenfalls wurde es von seiner Tochter Leonie Czochralska-Wojciechowska überliefert.103 Weil entfernte Verwandte der Czochralskis in Berlin eine Apotheke führten, beschloss die Familie, Czochralski dort hinzuschicken. Berlin war, wie erwähnt, kein ungewöhnlicher Zielort für junge Polinnen und Polen aus dem preußischen Teilungsgebiet auf der Suche nach einer adäquaten Ausbildung, wegen der Nähe und weil die Stadt ein wichtiges Zentrum der aufsteigenden Industrie und der technischen Wissenschaften war. Czochralskis Ausbildungszeit in Berlin gehört zu den Zeiträumen in seinem Leben, die nur schlecht rekonstruierbar sind. Gesichert ist, dass er sich zahlreiche Kenntnisse in Chemie und Metallurgie als Autodidakt aneignete; bereits als Schüler soll er Handbücher der Chemie studiert haben. In Berlin scheint er diese Art der Bildung fortgeführt zu haben. In den Überlieferungen der Familie findet sich darüber hinaus der Hinweis, dass Czochralski im Jahr 1903 ein Eingangsexamen für Chemie an der Technischen Hochschule (TH) in Berlin-Charlottenburg bestanden und sich dort in Metallurgie spezialisiert haben soll. Verlassen habe er die 101 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 13. 102 Michał Kokowski, Komentarz do artykułu dr. Pawła E. Tomaszewskiego: »Jan Czochralski. Historia człowieka niezwykłego«, in: Prace Komisji Historii Nauki PAU 13 (2014), S. 131-140. 103 Der Lebenslauf, den Leonie Czochralska-Wojciechowska im Jahr 1977 aus ihrem Wohnort in den USA an die Technische Hochschule Warschau schickte, ist Teil der Dokumente aus der erwähnten Anhörung der Senatskommission für Geschichte und Tradition der Technischen Hochschule Warschau im März 1984, siehe AAN /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego. 61

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TH dann mit dem Abschluss eines Ingenieurs für Chemie. Dies ist aber

nicht nachweisbar. Da Czochralski keinen höheren Schulabschluss vorzuweisen hatte, war es ihm nicht möglich, sich regulär an einer Universität oder der TH einzuschreiben. Wohl hätte er dort einen Status als Hospitant oder als Hörer, der eine naturwissenschaftliche Vorbildung hätte nachweisen müssen, erhalten können, aber ob er diesen Status beantragt oder erhalten hat, ist unbekannt.104 In den wenigen erhaltenen Unterlagen der TH Charlottenburg aus dieser Zeit, darunter den Studierendenverzeichnissen und den Gasthörerverzeichnissen, findet sich der Name Czochralski nicht. Die Akten der Zentralen Universitätsverwaltung aus den entsprechenden Jahren sind hingegen 1943 zerstört worden. Aus der Überlieferung seines späteren Arbeitgebers, der Metallgesellschaft in Frankfurt am Main, in der teilweise Abschriften seiner Bewerbungsschreiben an diese Firma enthalten sind, ist von der TH Charlottenburg ebenfalls nicht die Rede – stattdessen hat Czochralski dort in seinem Bewerbungsschreiben von 1917 angegeben, er habe das Collegium Novum in Krakau besucht, also die dortige Jagiellonen-Universität. Beginn, Dauer und Abschluss eines Studiums gab er nicht an, seine Studiengebiete bezeichnete er mit »Chemisch-metallurgische, technologische, analytische Chemie, allgemeine Metallkunde«.105 Diese Version seiner Ausbildung, die andernorts ebenfalls nicht belegbar ist, wurde dann in Deutschland von seinen Kollegen verbreitet. So akzentuierte der damalige Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde, Oswald Bauer, in einer Würdigung Czochralskis im Jahr 1929, er habe seine theoretische Ausbildung am Collegium Novum in Krakau erhalten.106 In den Erinnerungen seiner Familienmitglieder ist von einer solchen Ausbildung in Krakau nicht die Rede; es ist daher nicht ausgeschlossen, dass er 104 Siehe zu diesem Status die Vorlesungsverzeichnisse der TH aus den Jahren 19031907. Im Verfassungsstatut der TH war dazu Folgendes vorgesehen: »Personen, welche nicht die Qualifikation zum Eintritt als Studierende besitzen und nur an einzelnen Vorträgen oder Übungen teilnehmen wollen, können unter der Voraussetzung, daß das Unterrichts-Interesse darunter nicht leidet, als Hospitanten zugelassen werden. Die Zulassung kann von dem Nachweise genügender Vorbildung abhängig gemacht werden und erfolgt durch Erteilung einer Erlaubniskarte des Rektors, welche zur Legitimation des Hospitanten dient. Den Hospitanten kann der Besuch der von ihnen angenommenen Kollegien bescheinigt werden; sonstige akademische Zeugnisse werden ihnen nicht erteilt.« Hospitanten der Chemie hatten außerdem eine »weitergehende naturwissenschaftliche Vorbildung« nachzuweisen. 105 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 3. 106 Mitteilungen der DGM 11. Hauptversammlung der DGM am Donnerstag, dem 31. Januar 1929, zu Berlin, in: Zeitschrift für Metallkunde 21/2 (1929), S. 74-76, S. 74. 62

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diese Version ausschließlich in Deutschland verbreitet hat, mit der Absicht, ein »ordentliches« Studium vorweisen zu können. In einem weiteren Bewerbungsschreiben von 1908 gab er an, im Jahr 1906 Volontär in der Medizinaldrogerie des approbierten Apothekers und Chemikers Dr. August Herbrand in Altglienicke im Südosten Berlins gewesen zu sein. In einer Zeugnisabschrift bescheinigte man ihm, Unterricht in theoretischer und praktischer Chemie, der Untersuchung von chemischen Präparaten und Metallen sowie der Analyse von Erzen und Ölen erhalten zu haben. Anfang und Endtermin dieser Ausbildung gab er nicht an. Er wusste durch Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit, Sauberkeit, flotte Arbeit, eine sehr rasche Auffassungsgabe und die Fähigkeit, sich zügig in neue Gebiete einzuarbeiten, zu überzeugen.107 Als weitere Station führte Czochralski die Chemische Fabrik Kunheim in Niederschöneweide auf, in der er vom 1. April 1906 bis zum 31. Juli 1907 arbeitete. Wiederum sind kurze Auszüge aus einem Arbeitszeugnis vorhanden, in dem ihm Fleiß bescheinigt wird, und sein Arbeitgeber äußerte Zufriedenheit mit seiner Arbeit. Czochralski gab später an, er sei Analytiker im Hauptlaboratorium für alle wissenschaftlichen, Handelsund Materialanalysen gewesen und habe sich mit einzelnen Betriebszweigen vertraut gemacht.108 Wegen dieser verstreuten und letztlich nicht verifizierbaren Angaben über die verschiedenen Ausbildungsstationen von Czochralski, von denen zum Teil nicht bekannt ist, ob er sie hauptsächlich aus strategischen Gründen angegeben oder schlicht erfunden hat, galt und gilt Czochralski wohl nicht zu Unrecht – ohne formales Studium und ohne Abschlüsse – vor allem als Autodidakt. Dies sorgte auf der einen Seite für Bewunderung, auf der anderen mag dies – verursacht durch hierarchisches Denken und festgelegte, habituelle Kommunikationsstrukturen in Kreisen von Akademikern – zu Geringschätzung und mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten geführt haben, obwohl autodidaktisches Lernen zu jener Zeit nicht ungewöhnlich war: In Polen war es besonders im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sehr populär geworden und wurde breit diskutiert. Dafür war unter anderem ein Ideal von Bildung verantwortlich, das in jener Zeit durch die Anhänger der »organischen Arbeit« und des Warschauer Positivismus propagiert wurde, aber nicht in eigenen Schulen oder Universitäten verwirklicht werden konnte.109 Ein neuer Typ von Polen und Polinnen sollte geschaffen werden, frei und unabhängig von den Bil107 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 5. 108 Ebd., Pos, 6. 109 Zasztowt, Popularyzajca nauki, S. 59. 63

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dungsaktivitäten der Teilungsmächte.110 Zahlreiche Ratgeber und Anleitungen zum Selbststudium erschienen in dieser Zeit, eingeschlossen die Naturwissenschaften, das Ingenieurswesen sowie andere technische Berufe. Stanisław Michalski, der spätere Herausgeber der Zeitschrift Nauka Polska (Polnische Wissenschaft), auf die in Kapitel 4 näher eingegangen wird, gab 1898 einen sehr erfolgreichen »Ratgeber für Autodidakten«, den Poradnik dla Samouków heraus, von dem innerhalb von zwei Monaten bereits 2500 Exemplare verkauft worden waren.111 Neun Bände wurden in den Jahren 1903-1913 in 26.000 Exemplaren gedruckt.112 Als Autodidakt befand sich Czochralski in guter Gesellschaft. Weltweit reüssierten Experten, die keine systematische akademische Ausbildung durchlaufen hatten, aufgrund ihrer praktischen Fähigkeiten in ihren Berufen. Dazu gehörte etwa Werner Siemens, der Gründer des gleichnamigen Konzerns, der sich das Studium an der Berliner Bauakademie nicht leisten konnte. Auch die Architekten Walter Gropius, Le Corbusier und Mies van der Rohe schlossen kein einschlägiges Studium für ihre Tätigkeiten ab.113 Ein Expertenstatus sollte ihnen allen nicht vorenthalten bleiben – wie im Fall von Jan Czochralski zählten ihre praktischen Fähigkeiten und ihre visionären Zukunftsentwürfe sowie ihr kulturelles Kapital, das als inkorporiertes Kapital auch ohne akademische Ausbildung und Titel auskam und eine Anerkennung in der Gemeinschaft von Experten ebenso erlaubte wie von Seiten der breiteren Öffentlichkeit.114 Trotz der im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmenden Professionalisierung in den technischen Berufen konnten sie dank dieses Kapitals verantwortliche Positionen einnehmen. Die Grundlagen dafür, sich auf Leitungspositionen zu etablieren, legte Jan Czochralski, als er als wissenschaftlicher Assistent am 1. August 1907 in das Metall-Laboratorium der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) eintrat. Ungefähr zur gleichen Zeit, Ende 1907, erhielt Ludwik Hirszfeld auf Empfehlung von Max Rubner seine erste Anstellung am Institut für experimentelle Krebsforschung in Heidelberg. Beide trafen nun auf Mentoren, die aufgrund ihrer innovativen Forschungsideen und der Denkkollektive, in denen sie verankert waren, ihre Lebenswege bedeutend beeinflussen sollten. Zu110 Julian Dybiec, Nie tylko szablią. Nauka i kultura polska w walce o trzymanie tośzamości narodowej 1795-1918, Kraków 2004, S. 319. 111 Jan Piskurewicz, W służbie nauki i oświaty. Stanisław Michalski (1865-1949), Warszawa 1993, S. 44-68. 112 Dybiec, Nie tylko szablią, S. 315 f. 113 Die Beispiele bei Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 40. 114 Siehe dazu Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: Ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992, S. 49-80. 64

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dem waren sowohl das Institut für experimentelle Krebsforschung in Heidelberg als auch das Metall-Labor der AEG auf je unterschiedliche Weise hoch innovativ und verfolgten zu jener Zeit moderne und neuartige Forschungsansätze sowohl für die Medizin als auch für die Metallund Elektroindustrie. Hirszfeld und Czochralski verstanden es, von der Verankerung in diesen Strukturen effektiv zu profitieren, und etablierten sich jeweils mit Grundlagenforschungen zu den von ihnen betrachteten Stoffen, die im folgenden Kapitel vorgestellt werden.

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3 Forschen, vernetzen und aufsteigen In diesem Kapitel wird gezeigt, wie Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld im Rahmen der Entwicklung ihrer jeweiligen Fachgebiete ihre ersten wichtigen Forschungsergebnisse formulierten. Für beide gilt, dass diese Forschungsergebnisse als Ergebnis von Teamarbeit entstanden. Beide bewegten sich in Laborumfeldern, die exzellent ausgestattet waren – diese innovativen Wissensräume beförderten ihre Forschungen erheblich. Nach ihren Lehr- und Lernjahren waren beide auf Mentoren getroffen, die ihre Forschungen fortan mit konturierten und in bestimmte Richtungen lenkten. Auch der Zusammenarbeit mit ihnen verdankten sie ihren weiteren Aufstieg. Sie konnten diesen Weg beschreiten, obwohl beiden – in der Fremdwahrnehmung durch Kollegen oder Peers – ein gewisser »Nachteil« unterstellt werden konnte: Bei Hirszfeld war dies die jüdische Herkunft, bei Czochralski eine fehlende Ausbildung. Letztlich aber sorgten sie mit ihren Forschungen und dem wissenschaftlichen Kapital, das sie sich dadurch erarbeiteten, dafür, dass sie sich noch vor dem Ersten Weltkrieg Netzwerke auf bauen konnten, die sie zum Teil ihr Leben lang begleiteten. Beide arbeiteten innerhalb dieser Netzwerke an den Schnittstellen von Wissenschaft, ihrer Anwendung und weltanschaulichen Fragen. Dazu gehörte in der Medizin und der Anthropologie, an deren Schnittstelle Hirszfeld sich bewegte, die »Rassenfrage«. Czochralski hingegen kam mit der fordistischen Industrieproduktion in Berührung. Während des Ersten Weltkriegs forschten beide unter den neuen Bedingungen, die der Krieg für sie bereithielt, weiter und verblieben in den Denkkollektiven, in denen sie sich vor dem Krieg bewegt hatten. Sie entwickelten verschiedene Gebiete der Blutgruppenforschung und der Ersatzstoffforschung weiter, womit sie bislang noch ungesichertes Wissen stabilisierten. Gleichzeitig bedeutete die Konstellation Krieg für beide, dass die anwendungsorientierten Seiten ihrer Forschung etwa in der Produktion von Rüstungsgütern oder der Versorgung von Kranken eine gewichtige Stellung einnahmen. Daneben konnten sie während des Krieges einerseits neue Forschungsfelder betreten, mussten andererseits aber auf andere Forschungen kriegsbedingt verzichten. Für den Mediziner Hirszfeld bedeutete die Arbeit in mobilen Kriegslaboratorien, mit begrenzten Mitteln arbeiten zu müssen. Letztlich aber ermöglichte der Krieg für beide sich etablierenden Wissenschaftler und Experten einen weiteren Aufstieg.

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3.1 Teamarbeit und neue Erkenntnisse in Heidelberg und Zürich: Die Erblichkeit der Blutgruppen

Wie erwähnt, erhielt Hirszfeld ab dem 1. Dezember 1907 seine erste Anstellung an dem 1906 entstandenen Institut für experimentelle Krebsforschung. Das Konzept dieses Institutes, das im sogenannten »Samariterhaus« in Heidelberg untergebracht war, in dem Hirszfeld mit seiner Frau Hanna auch wohnte, war insgesamt neuartig, weil es sowohl eine Klinik für Krebspatientinnen und -patienten als auch eine wissenschaftliche Abteilung für Grundlagenforschung vorsah, die in eine biologischchemische und eine histo-parasitologische Abteilung unterteilt war. Mit dieser Verbindung eröffnete der Heidelberger Krebsforscher Vinzenz Czerny einen neuen Forschungsbereich – die experimentelle Krebsforschung.1 1933 verlor das Institut seinen Charakter als Forschungseinrichtung, da seine führenden Wissenschaftler wie Hans Sachs, Alfred Klopstock, Ernst Witebsky und Richard Werner als Folge der rassistisch motivierten Gesetzgebung des NS -Regimes entlassen wurden. Bis dahin hatte in den wissenschaftlichen Abteilungen eine Reihe bedeutender Wissenschaftler wie der spätere Nobelpreisträger Otto Heinrich Warburg, der amerikanische Immunologe Arthur Fernandez Coca, Hans Sachs, Ernst Witebsky, Theodor von Wasielewski und Erich von Dungern mitgewirkt.2 Hirszfeld arbeitete zunächst mit dem Mikrobiologen und Hygieniker Theodor von Wasielewski zusammen, mit dem er unter anderem die Einwirkung verschiedener Strahlenarten auf tierische Zellen, besonders Krebszellen, untersuchte. Seinen Vorgesetzten von Wasiliewski schätzte Hirszfeld nicht besonders, weil er von ihm mit – in seinen Augen – belanglosen Arbeiten betraut wurde, bei denen er etwa Amöben auf Stroh beobachten und täglich beschreiben sollte, ohne eine tiefere Forschungsfrage damit zu verfolgen. Bereits in einem frühen Stadium seines wissenschaftlichen Lebensweges inszenierte Hirszfeld sich an dieser Stelle in seiner Autobiographie als derjenige, der an großen, neuen und weitsichtigen Forschungsfragen interessiert ist.3 Aber selbst aus den ihm gestellten und pflichtschuldig erbrachten banalen Aufgaben entwickelte er neue Anschauungen und Methoden der Biologie der Amöben, etwa ihres Anfärbens, wozu er auch 1 Gustav Wagner, Vinzenz Czerny, Karl Heinrich Bauer. Zwei Heidelberger Krebsforscher, in: Wolfgang U. Eckart (Hg.), 100 Years of Organized Cancer Research, Stuttgart, New York 2000, S. 31-36, S. 32. 2 Ebd., S. 33. 3 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 15. 68

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publizierte.4 Neben seiner Forschungstätigkeit praktizierte Hirszfeld in Heidelberg als Arzt und assistierte bei Operationen – diese Praxis sollte ihm vor allem während der Weltkriege zugutekommen. Obwohl Wasielewski an Hirszfeld dessen »vorzügliche Vorbildung in der Chemie und ein sehr lebhaftes Interesse für die praktische Verwertung der modernden chemisch-physikalischen Anschauungen bei der Aufklärung biologischer Vorgänge«5 hervorhob, versuchte der dermaßen Gelobte innerhalb des Krebsforschungsinstituts die Abteilung zu wechseln. Er strebte in das biologisch-chemische Labor des Instituts, in dem vor allem serologische und immunologische Forschungen stattfanden. Dieses Labor leitete Emil von Dungern, ein bekannter Serologe und Mikrobiologe, der Kontakte zu Robert Koch, Louis Pasteur und Paul Ehrlich pflegte und den Hirszfeld als »klug, tiefsinnig und unabhängig« sehr schätzte.6 Im Juni 1909 gelang es ihm, sein Assistent zu werden. In dem Kreis um von Dungern legte Hirszfeld eine der wichtigsten Grundlagen für die Entstehung seiner Forschungen und seiner Netzwerke – eine lebenslange Freund- und Kollegenschaft verband ihn besonders mit Arthur Coca, dessen Stelle als Assistent bei von Dungern Hirszfeld übernahm und den er mehrfach sowohl in Polen als auch in den USA traf. Coca war im Anschluss an die Heidelberger Zeit viele Jahre als Immunologe in den USA tätig und gründete dort unter anderem das Journal of Immunology. In dieser Abteilung des Heidelberger Instituts, deren vordringlichste Aufgabe es war, eine Serodiagnostik von Tumoren auszubilden und Immunitätsprobleme zu lösen, arbeitete Hirszfeld eng mit von Dungern an den biochemischen Strukturen der Krebs- und Blutzellen beim Menschen. Dazu hielt von Dungern im Jahr 1912 fest: »Die Feststellung über die biochemischen Strukturen der Krebszelle konnten wegen mangelnder Methodik bis jetzt noch nicht zum Abschluss gebracht werden. Bei Blutkörperchen hat das Studium dieser biochemischen Strukturen in kurzer Zeit zu der bedeutungsvollen Feststellung geführt, dass die Vererbung dieser Strukturen nach der Mendelschen Regel7 verläuft. Dieser 4 Ebd. Siehe dazu etwa seinen Aufsatz: Ein Versuch, einige Lebenserscheinungen der Amöben physikalisch-chemisch zu erklären, in: Zeitschrift für allgemeine Physiologie 9 (1909), sowie gemeinsam mit von Wasielewski: Untersuchungen über Kulturamöben, in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1910), Abteilung I. 5 Universitätsarchiv Heidelberg, Dekanatsakten. Decanat des Herrn Prof. W. Nissl 1910-1911, Band 1, Bl. 182: Stellungnahme von Prof. Wasiliewski, 3. 12. 1908. 6 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 17. 7 Dies bedeutete, dass die Vererbung entlang der Dominanz bestimmter Gene verläuft. Bei den Blutgruppen sind die Gene für den Typ A und B dominant gegenüber 0; daraus ließen sich bestimmte vorhersehbare Muster ableiten. Wenn zum Beispiel 69

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Befund erlaubt unter bestimmten Bedingungen, die Eltern aus der Eigenart des kindlichen Blutes zu erkennen. Es gelang auch weiter noch, andere spezifische Strukturen zu entdecken, so dass die Aussicht besteht, mithilfe dieser Methoden das Individuum serologisch charakterisieren zu können. Nach den Beobachtungen der Autoren sind diese individuellen Eigenschaften des Blutes bei verschiedenen Tierarten vorhanden. Das vergleichende Studium dieser Strukturen könnte für die Anthropologie von großer Bedeutung sein.«8 An diesen Forschungen war Ludwik Hirszfeld beteiligt, der somit in Heidelberg gemeinsam mit von Dungern eine seiner grundlegendsten Arbeiten vorgelegt hatte: Sie hatten herausgefunden, dass die Blutgruppen von den Eltern auf die Kinder übertragen werden.9 Sie strukturierten damit das 1900 von dem österreichisch-jüdischen Arzt Karl Landsteiner entdeckte Blutgruppensystem, indem sie die Ordnung der Vererbung einführten.10 Landsteiner, mit dem Hirszfeld zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls in Kontakt trat, hatte für seine Entdeckung 1930 den Nobelpreis erhalten – in der Preisrede von 1930 wurden aber auch Hirszfeld und von Dungern ausführlich gewürdigt.11 Darüber hinaus führten von Dungern und Hirszfeld im Jahr 1910 die heutigen Bezeichnungen der Blutgruppen A, B, AB und 0 ein.12 Diese wurden im Jahr 1928 inter-

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eine Mutter für ihr Kind die Vaterschaft eines Mannes feststellen lassen wollte und die Blutgruppen von Mutter und Kind bekannt waren, konnte man die möglichen Blutgruppen des Vaters ermitteln, siehe Douglas Starr, Blut. Stoff für Leben und Kommerz, München 1999, S. 85-86. Erich von Dungern, Ueber die Tätigkeit der biologisch-chemischen Abteilung des Instituts für Krebsforschung von 1907-1911, in: Vinzenz Czerny (Hg.), Das Heidelberger Institut für experimentelle Krebsforschung. I. Teil: Geschichte, Baubeschreibung, Wirtschaftliche Verhältnisse, Leistungen des Instituts, Aktensammlung, Tübingen 1912, S. 68-74, S. 70. Eine Blutgruppe dient der Einteilung des Blutes aufgrund verschiedener Merkmale, sie beschreibt die individuelle Zusammensetzung der Oberflächen der roten Blutkörperchen. Diese Oberflächen unterscheiden sich beim Menschen vor allem durch verschiedene Proteine, die als Antigene wirken und somit verschiedene Immunreaktionen hervorrufen können – bei Kontakt mit fremdem Blut bildet das eigene Immunsystem Antikörper, und es kommt zu Verklumpungen. Daher ist die Kenntnis der Blutgruppe vor allem bei Transfusionen wichtig, da eine Verklumpung des Blutes lebensbedrohlich werden kann. Myriam Spörri, Reines und gemischtes Blut. Zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung, 1900-1933, Bielefeld 2013, S. 62. URL: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/1930/press.html (Zugriff am 12. 3. 2020) Emil von Dungern, Ludwik Hirschfeld, Über Nachweis und Vererbung biochemischer Strukturen I, in: Zeitschrift für Immunitätsforschung 4 (1910), S. 531-546; Dies., Über Vererbung gruppenspezifischer Strukturen des Blutes, in: Zeitschrift für Immunitätsforschung 6 (1919), S. 284-292.

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national übernommen, als die Ständige Kommission für biologische Standardisierung beim Völkerbund sie als verbindliche Nomenklatur empfahl.13 Mit der Veröffentlichung dieser Erkenntnisse etablierte sich Ludwik Hirszfeld in einem Wissensraum, der sich vor allem in den Jahren 1920 bis 1930 ausgesprochen dynamisch entwickeln sollte: der Blutgruppenforschung.14 Dies bestätigte Hirszfeld im Jahr 1927: »Ich hatte ein ganz besonderes Glück, mit v. Dungern an Problemen gearbeitet zu haben, die gegenwärtig im Mittelpunkte der biologischen und medizinischen Forschung stehen – auf dem Gebiete der Blutgruppen. Wenn es mir auch später gelang, das begonnene Werk weiter zu führen, so gehen die Quellen dieser Richtung auf die stille Arbeit in Heidelberg zurück. V. Dungern ist als Begründer der Konstitutionsserologie zu betrachten.«15 In der Rückschau verband Hirszfeld seinen weiteren Weg als Wissenschaftler immer wieder mit seiner Ausbildung in Heidelberg, über die er in dem Bewusstsein, daran beteiligt zu sein, etwas Großes zu erschaffen, schrieb: »Das war meine richtige Schule, hier formte sich mein Geist, bekam Weitsicht und Entschlossenheit. Von Dungern ist der Mensch, dem ich am meisten verdanke. Dass unsere Gespräche nicht fruchtlos blieben, wird sich in diesem Kapitel noch zeigen, denn aus ihnen entstand schließlich eine neue Wissenschaft: die Blutgruppenlehre.«16 Und er erkannte an, dass es von Dungern war, der ihm beibrachte, nicht vor »großen Problemen zurückzuschrecken«: »Er brachte mir die Freude bei, an großen Problemen emporzuklettern.«17 Die Forschungsergebnisse von Hirszfeld und von Dungern passten exzellent in die Forschungstrends ihrer Zeit: Das Interesse an den Mendel’schen Vererbungsgesetzen lebte um 1900 auf, und anthropologische Studien konzentrierten sich, auch als Ergebnis dieses Interesses, immer mehr auf Eigenschaften, die von einer Generation an die nächste

13 League of Nations, Permanent Commission on Biological Standardization, Report of the Permanent Commission on Standardization of Sera, Serological Reactions and Biological Products, April 25-28, 1928. 14 Pauline M. H. Mazumdar, Blood and Soil: The Serology of the Aryan Racial State, in: Bulletin of the History of Medicine 64/2 (1990), S. 187-219, S. 188; Myriam Spörri, »Reines« und »gemischtes Blut«: Blutgruppen und »Rassen« zwischen 1900 und 1933, in: Anja Lauper (Hg.), Transfusionen. Blutbilder und Biopolitik in der Neuzeit, Zürich 2006, S. 211-225, S. 222. 15 Ludwik Hirszfeld, Emil Freiherr von Dungern, in: Ukrainisches Centralblatt für Gruppenforschung I /3-4 (1927), S. 2-6, S. 4. 16 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 17. 17 Archiv der Universität Zürich AF.1.207. Ehrendoktoren: Personaldossiers. 71

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weitergegeben werden konnten.18 Von Dungern und Hirszfeld legten dabei in ihren Publikationen eine Verknüpfung von »Blutgruppen« und »Rassen« nahe und schrieben: »Auch die Anthropologie wird die biochemischen Untersuchungen des Blutes aufnehmen müssen, um die Verwandtschaft der verschiedenen Menschenrassen untereinander weiter aufzuklären.«19 Sie suggerierten also, dass die Untersuchungen von Blutgruppen eine neue Methode der Analyse von »Rassen« mit sich bringen könnte, eine neue Methode, anthropologische Fragen der Vererbung innerhalb großer Gruppen zu untersuchen. Sie waren damit die ersten Mediziner, die eine wissenschaftliche Verbindung von Blut und »Rassen« vorschlugen. Besonders überraschend war ihre Annahme zu jener Zeit allerdings nicht. In den 1920er und 1930er Jahren beschäftigten sich zahlreiche europäische und außereuropäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit der »Rassenfrage«; einige nahmen dabei ganz selbstverständlich an, dass die Menschheit in eine bestimmte Anzahl von »Rassen« unterteilt sei und daher von Natur aus eine der gängigen Rassenklassifikationen rechtfertige. Andere warnten, dass menschliche Vielfalt komplexer und dynamischer sei, als das Rassenkonzept mitsamt seiner Klassifikation auszudrücken imstande wäre. Aber einen radikal anderen Ansatz, der der postulierten Existenz von »Rassen« jegliche Wissenschaftlichkeit abgesprochen hätte – einen solchen Ansatz vertrat damals kaum jemand.20 Hirszfeld bewegte sich demnach in einem biowissenschaftlichen Denkkollektiv, in dem die Existenz von »Rassen« akzeptiert war – sein Wissen war sozial konstruiert und abhängig von dem Wissen, das bereits in der Welt zirkulierte. Er identifizierte sich wie viele andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit diesem Denkkollektiv, und seine Forschungen und Experimente bewegten sich inhaltlich, methodisch und institutionell im Rahmen der zeitgenössischen Wissenschaften. Die heutige Sensibilität im Umgang mit dieser Terminologie kann man ge18 Rachel E. Boaz, In Search of »Aryan Blood«. Serology in Interwar and National Socialist Germany, Budapest, New York 2012, S. 19. 19 Emil von Dungern, Ludwik Hirschfeld, Ueber eine Methode, das Blut verschiedener Menschen serologisch zu unterscheiden, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 14 (1910), S. 741-742. 20 Eine Ausnahme bildete etwa der Ethnologe Franz Boas, der das Kriterium der »Rasse« Ende des 19. Jahrhunderts einer scharfen Kritik unterzog und zu dem Ergebnis kam, es halte keiner wissenschaftlichen Überprüfung stand und sei als Analyseinstrument nicht geeignet, siehe Bernhard Tilg, Franz Boas’ Stellungnahmen zur Frage der »Rasse« und sein Engagement für die Rechte der Afroamerikaner, in: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942), Bielefeld 2009, S. 85-99, S. 85-87. 72

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nauso wenig uneingeschränkt in die Zeit von 1900-1939 projizieren, wie man die damalige Terminologie prinzipiell als harmlos, weil zeitgenössisch üblich, einschätzen kann.21 Es ging Hirszfeld und von Dungern darum, die Vielfalt der Menschen zu untersuchen, was ein legitimes Forschungsinteresse war und ist. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass der epistemische Status von »Rassen« während des gesamten 20. Jahrhunderts genauso ungewiss war, wie er es noch heute ist.22 Das Bestreben, die Korrelation von Blut und »Rassen« näher zu erforschen, erforderte jedenfalls Untersuchungen in einem weit größeren Ausmaß, als es die Heidelberger Verhältnisse hätten ermöglichen können. Dort hatten Hirszfeld und von Dungern das Blut von 72 Heidelberger Familien zur Grundlage ihrer Forschungen gemacht.23 Hirszfeld hielt in seiner Autobiographie später fest, er und von Dungern hätten davon geträumt, die ganze Welt serologisch zu untersuchen: Hirszfelds Ziele waren stets hoch gesteckt.24 Dass sich eine Untersuchungsmöglichkeit, die diesem Ziel recht nahe kam, während des Ersten Weltkriegs dann tatsächlich bot, konnte Ludwik Hirszfeld zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Während seiner Zeit in Heidelberg erhielt Hirszfeld verschiedene Angebote für andere Positionen, am Städtischen Untersuchungsamt in Berlin durch seinen ehemaligen Lehrer Martin Ficker, am Royal Institute of Public Health in London durch Ludwik Rajchman,25 seinen Cousin, der nach 1918 zu einem der einflussreichsten Gesundheitspolitiker weltweit avancierte, sowie durch den bereits erwähnten »Vater der polnischen Bakteriologie«, Odo Bujwid, am Lehrstuhl für Hygiene an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Hirszfeld hatte sich in der international wachsenden Expertengemeinschaft etabliert und war zu einem gefragten Wissenschaftler geworden, verfolgte aber gleichwohl eigene Ziele. Er habe alle diese Stellen abgelehnt, so Hirszfeld, weil sie ihm nicht genug Gelegenheit zum wissenschaftlichen Arbeiten geboten hätten, zudem

21 Siehe dazu Veronika Lipphardt, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über »Rasse« und Vererbung 1900-1935, Göttingen 2008, S. 314. 22 Dies., Das »schwarze Schaf« der Biowissenschaften. Marginalisierungen und Rehabilitierungen der Rassenbiologie im 20. Jahrhundert, in: Dirk Rupnow u. a. (Hg.), Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2008, S. 225-250, S. 248. Auf diesen Komplex, der die Entstehung der sogenannten Seroanthropologie umfasst, wird in Kapitel 3.5 näher eingegangen. 23 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 63. 24 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 64. 25 Siehe zu Rajchmans Rolle für die Gesundheitspolitik in Polen Kapitel 4.3.1. 73

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sagte ihm die »wissenschaftliche Arbeit am Krebsinstitut außerordentlich zu«.26 Dennoch kam es in Heidelberg letztlich zu einem Problem mit dieser wissenschaftlichen Arbeit, denn es gelang Hirszfeld nicht, an der dortigen Universität zur Habilitation zugelassen zu werden, obwohl sich Vinzenz Czerny persönlich dafür eingesetzt hatte. Im Juli 1911 schrieb er an die medizinische Fakultät über Hirszfeld: »Da er als Assistent von Prof. von Dungern eine sehr fruchtbare wissenschaftliche Tätigkeit entfaltet, möchte er gerne in Heidelberg blieben, wenn er Aussicht hätte, später einmal als Dozent für Immunitätslehre zugelassen zu werden. Wie hoch ich seine Mitarbeit einschätze, mag daraus ersehen werden, daß ich daran dachte, ihn als Nachfolger des Prof. v. Dungern der medizinischen Fakultät vorzuschlagen, wenn dieser einmal fortgerufen werden sollte, wovon mehrmals die Rede war […]. Ich bitte die medizinische Fakultät sich darüber zu äussern ob principielle oder persönliche Gründe gegen eine spätere Habilitation des Dr. Hirschfeld vorliegen.«27 Philipp Osten nimmt an, dass Hirszfelds jüdische Herkunft hier eine Rolle spielte, weil es in Heidelberg für Juden generell schwierig bis unmöglich gewesen sei, sich zu habilitieren oder einen Lehrstuhl zu übernehmen.28 Vinzenz Czerny merkte in einer Publikation an, die nach Hirszfelds Weggang aus Heidelberg erschien: »Es war nicht immer leicht Assistenten zu bekommen, und dieselben länger zu halten, da die medizinische Fakultät nicht geneigt war, die Assistenten des Krebsinstitutes zur Habilitation zuzulassen und da die Anstalt, fast einzig in ihrer Art, wenig Aussichten eröffnete, in diesem Berufe weiterzukommen. So verloren wir Dr. Hirschfeld, der uns sehr wertvolle Arbeiten geliefert hat, an Zürich …«29 Den Grund für diese ablehnende Haltung der medizinischen Fakultät gegenüber den Mitarbeitern am Krebsinstitut bleibt Czerny an dieser Stelle leider schuldig. Zürich war Hirszfelds nächste Station. Hanna Hirszfeld hatte dort eine Stelle bei Emil Feer angeboten bekommen, bei dem sie bereits in Heidelberg als Assistentin gearbeitet hatte und der den Lehrstuhl für Pädiatrie in Zürich übernahm.30 Ludwik Hirszfeld eröffnete sich gleich26 Universitätsarchiv Heidelberg, Dekanatsakten. Decanat des Herrn Prof. W. Nissl 1910-1911, Band 1, Bl. 184, Ludwik Hirszfeld, Lebenslauf o. D. 27 Ebd., Bl. 178: Prof. Czerny an die medizinische Fakultät der Universität Heidelberg, 11. 7. 1911. 28 So in dem anfangs erwähnten Dokumentarfilm des polnischen Fernsehens: »Genies und Träumer. Hirszfeld«. 29 Vinzenz Czerny, Das Heidelberger Institut für Krebsforschung, in: Ders. (Hg.), Das Heidelberger Institut, S. 1-54, S. 49. 30 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 25. 74

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zeitig die Möglichkeit zur Habilitation bei William Silberschmidt, den er im Juni 1911 auf dem Mikrobiologen-Tag in Dresden getroffen hatte. Silberschmidt hatte den Lehrstuhl für Hygiene einschließlich der Schulhygiene und der Bakteriologie in Zürich inne und war 1910 Direktor des dortigen Hygienischen Instituts geworden.31 An seinem Lehrstuhl wurde (wie auch an einigen anderen Orten) die bis dahin im deutschen Sprachraum verbreitete Trennung von Hygiene und Bakteriologie aufgehoben. Hirszfeld bekam, neben Rudolf Klinger und Wilhelm (Willi) von Gonzenbach, eine Assistentenstelle bei Silberschmidt. Mit allen dreien verband ihn eine intensive Freundschaft, die etwa dazu führte, dass die Silberschmidts ihn während der deutschen Okkupation Polens nach 1939 einluden, in die Schweiz zu kommen, und er in ständigem brieflichem Kontakt mit ihnen stand.32 Hirszfeld schätzte Silberschmidt sowohl menschlich als auch fachlich und hielt in seiner Autobiographie fest: »Wenn Friedemann und Dungern mir die Gedanken für den Flug zurechtgelegt haben, dann hat Silberschmidt mir die Hand geführt für die harte Arbeit.«33 Mit Wilhelm von Gonzenbach, der 1920 zum Ordinarius für Bakteriologie und Hygiene an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ernannt wurde und den Hirszfeld »Gonzius« nannte, verbrachte er ebenfalls viel Zeit in Zürich: »Die Nachmittage mit Gonzius rechne ich zu den liebsten Erinnerungen in Zürich.«34 Wissenschaftlich arbeitete und publizierte er in Zürich hauptsächlich mit Rudolf Klinger, vor allem über den endemischen Kropf.35 Diese Forschungsarbeiten finanzierte Hirszfeld aus den Mitteln der erwähnten MianowskiKasse.36 Gleichzeitig setzte er seine Forschungen zu Blutgruppen fort und habilitierte sich 1914 mit der Arbeit »Über Anaphylaxie und Anaphylatoxin und ihre Beziehungen zu Gerinnungsvorgängen«. In seiner öffentlichen Habilitations-Vorlesung behandelte er das Thema »Vererbungsprobleme im Lichte der Immunitätsforschung« und knüpfte damit an die Themen an, die er bereits mit von Dungern bearbeitet hatte.37 31 Universitätsarchiv Heidelberg, Dekanatsakten, Decanat des Herrn Prof. W. Nissl 1910-1911, Band 1, Bl. 346 sowie Maria Loretan, William Silberschmidt 1869-1947. Hygieniker und Bakteriologe, Zürich 1988, S. 11. 32 Wissenschaftshistorische Sammlungen der Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), HS 1165:639, Ludwik Hirszfeld an Willi von Gonzenbach 22. 11. 1947. 33 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 28. 34 Wissenschaftshistorische Sammlungen der ETH-Bibliothek, HS 1165:639, Ludwik Hirszfeld an Willi von Gonzenbach 19. 10. 1951. 35 Loretan, Silberschmidt, S. 68-72. 36 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 29. 37 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 92. 75

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Hirszfeld verband die Forschungen über die Blutgruppen also mit der Immunitätsforschung, woran er zukünftig intensiv arbeiteten sollte. In seiner Autobiographie inszenierte er diese Vorlesung wie einen Initiationsritus als Lehrender, der – ohne abzulesen, denn das habe ihm seine Frau verboten – erfahren habe, dass er sich selbst besiegen könne: Denn von nun an habe er die einzigartige Gabe, die Leidenschaft seines Geistes anderen übermitteln zu können – und dies sei kein Ausdruck von Wissen oder Rhetorik, sondern eine Gnade.38 Wer seine Zuhörer für ein Thema gewinnen wolle, der müsse selbst glühen – so sein Fazit. Glaubt man den zahlreichen Erinnerungen seiner Schülerinnen und Schüler, so ist ihm dies durchaus gelungen.39 Aus der Züricher Zeit stammt ein später oft zitierter Satz aus Hirszfelds Autobiographie, in dem er beschrieb, wie er in der Erinnerung der Jugend fortleben wolle: »Nicht als Professor, oder – Gott behüte – als Direktor, sondern als Gärtner menschlicher Seelen (ogrodnik dusz ludzkich).«40 Selbstbewusst war Hirszfeld stets davon überzeugt, etwas zur Gestaltung der Menschheit beitragen zu können, sei es auf dem Wege der Forschung, sei es als Lehrender. Gleichzeitig verankerte er sich immer mehr international: Während der Züricher Zeit nahm er an mehreren internationalen Kongressen teil und lernte in Berlin den Entdecker der Blutgruppen, Karl Landsteiner, kennen. Hirszfelds Arbeiten über die Blutgerinnung und die Immunität führten bereits ausländische Wissenschaftler zu ihm, aus Japan etwa oder aus Lettland.41 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte sich Hirszfeld in internationalen Netzwerken bereits einen Namen als Grundlagenforscher in der Serologie erarbeitet. 3.2 Grundlagenforschung und Laborerfahrung bei der AEG: Die Verwissenschaftlichung der Industrieproduktion

Jan Czochralski verbrachte die Zeit, die Hirszfeld in Heidelberg und in Zürich für seine berufliche Weiterentwicklung und Etablierung innerhalb der epistemischen Gemeinschaft der Serologen nutzte, mit ähnlichen Zielen in Berlin. Wie Hirszfeld beschäftigte er sich mit grundlegenden Fragen der Erforschung »seiner« Stoffe und Materialien, wozu in jener Zeit vor allem das Aluminium gehörte. Es war ihm gelungen, die 38 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 31. 39 Andrzej Kierzek u. a., Professor Ludwik Hirszfeld in his Relations with Students and Junior Researchers, in: Advances in clinical and experimental medicine 22/6 (2013), S. 909-914. 40 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 30. 41 Ebd., S. 32-33. 76

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Verantwortlichen bei der AEG in Berlin von seinem praktischen, inkorporierten Kapital zu überzeugen, auch ohne ein systematisches Studium oder, wie Hirszfeld, eine Promotion: Am 1. August 1907 trat er als Assistent von Wichard von Moellendorff im Metall-Laboratorium des Kabelwerks Oberspree in die Dienste der AEG ein.42 Damit betrat er das Unternehmen, das neben Siemens bis zu seiner Liquidierung im Jahr 1996 der bedeutendste deutsche Konzern in der Elektrotechnik war.43 Die AEG war zu jener Zeit der größte zentral geleitete Zusammenschluss vertikal und horizontal integrierter Industrieunternehmen in ganz Europa.44 Ähnlich wie Ludwik Hirszfeld in Heidelberg von der Zusammenarbeit mit Emil von Dungern profitiert hatte, traf Jan Czochralski nun auf einen Mentor, der seinen weiteren Lebensweg stark beeinflussen sollte: Wichard von Moellendorff, ein Ingenieur, der als Wegbereiter eines Kompromissmodells zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft bekannt geworden ist, das er in einer Denkschrift »Deutsche Gemeinwirtschaft« niederlegt hatte.45 Von Moellendorff hatte von 1901 bis 1906 Maschinenbau an der TH Charlottenburg studiert und sich besonders für Materialkunde interessiert.46 Nachdem er während seines Studiums Walther Rathenau kennengelernt hatte, der damals Vorstandsmitglied der AEG war, wurde Wichard von Moellendorff im Jahr 1906 zunächst als Maschinenbauingenieur im Kabelwerk Oberspree der AEG eingestellt. Das Kabelwerk, das seit 1898 bestand, war damals die größte Metallverarbeitungsfabrik in Deutschland.47 Es umfasste außer einem Kupferwalzwerk, das hauptsächlich der Kabeltechnik diente, sowie einer Ziehe42 Da das Archiv der AEG im Jahr 1945 in die Sowjetunion verbracht wurde und bis heute nicht aufzufinden ist, können viele Fragen zur Geschichte dieses Konzerns nur schlecht beantwortet werden; dies betrifft auch Czochralskis Wirken dort. 43 Burghard Weiss, Rüstungsforschung am Forschungsinstitut der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft bis 1945, in: Helmut Maier (Hg.), Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgrenzung der Technikwissenschaften, Göttingen 2002, S. 109-141, S. 109. 44 Thomas P. Hughes, Walther Rathenau: »system builder«, in: Ders., Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne, S. 9-31, Berlin 1990, S. 17. 45 Dazu Klaus Braun, Konservatismus und Gemeinwirtschaft. Eine Studie über Wichard von Moellendorff, Duisburg 1978. 46 Jürgen Evers, Ulrich von Möllendorff, Ulrich Marsch, Wichard von Moellendorff (1881-1937). Materialprüfer, Metallforscher, Wirtschaftspolitiker, in: Technikgeschichte 71/2 (2004), S. 139-157, S. 141. 47 Ebd., bes. S. 139-142 sowie Ulrich Marsch, Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Industrieforschung in Deutschland und Großbritannien 1880-1936, Paderborn u. a. 2000, S. 139. 77

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rei eine große Messing- und Aluminiumgießerei, eine Stangenpresserei, ein Rohrwalzwerk und ein Blech- und Bandwalzwerk.48 Für das Elektrounternehmen AEG waren vor allem Kupfer und Aluminium wegen ihrer guten elektrischen Leitfähigkeit wichtige Metalle, ebenso wurden aus Kupfer, Zinn und Zink die Legierungen Bronze und Messing hergestellt. Die Nachfrage nach Blech aus Kupfer und seinen Legierungen und aus Aluminium wuchs seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stark an, zum einen seitens der Industrie, zum anderen aus dem Kreis der privaten Endverbraucher, die gute Materialien im Haushalt immer mehr zu schätzen wussten. Gemäß den vorherrschenden Trends der Zeit wie Fordismus und Scientific Management wollte Walther Rathenau Rationalisierung, Normalisierung und Typisierung in die Produktion einführen und die Massenfabrikation einleiten.49 Mit der Modernisierung und Vergrößerung der Metallfabrikation nach dem Vorbild von Produktionsmethoden aus den USA wurde das Metall-Laboratorium als Teil der größtenteils dezentralen firmeninternen Forschung eingerichtet.50 Dies war ein »überfälliger Schritt«, weil die AEG als größter Elektrokonzern einen Großteil des Nichteisen-Metallaufkommens in Deutschland verarbeitete.51 Das Labor sollte als eine beratende und als eine forschende Abteilung für die Metallbetriebe wirken, wofür es mit allen Hilfsmitteln der neuartigen metallographischen Forschung versehen wurde. Es wurden wissenschaftliche Prüfverfahren eingeführt, um die Produktionsvorgänge zu überwachen. Die Metallfabrikation sollte von einer empirischen auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt werden, um die Auswirkungen von mechanischen und wärmetechnischen Behandlungen von Metallen auf AEG Verfahrensprozesse zu optimieren und frei von einem »Herumtasten in Rezepten und systemlosen Versuchen« zu werden.52 Von Moellendorff richtete das Labor nach dem Vorbild öffentlicher Prüfämter in drei Abteilungen ein: eine mechanische, eine chemische und eine metallographische, eine Gliederung, die über Jahrzehnte als 48 AEG 1883-1923, Berlin 1924, S. 26. 49 Paul Ufermann, Carl Hüglin, Die AEG. Eine Darstellung des Konzerns der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft, Berlin 1922, S. 34. 50 Siehe Wichard von Moellendorff, Die Wechselbeziehungen zwischen der empirischen Metalltechnik und der Metallographie, in: Gießerei-Zeitung XI /16-17 (1914), S. 506-509 und 521-525. 51 Helmut Maier, Forschung als Waffe. Rüstungsforschung in der Kaiser-WilhelmGesellschaft und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung 1900-1945/48, Bd. I, Göttingen 2007, S. 105. 52 G. A. Fritze, Die Metallbetriebe im Kabelwerk Oberspree der AEG, in: AEG -Zeitung 11/XVI (1914), S. 13-16, S. 16; siehe auch AEG 1883-1923, S. 27. 78

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Vorbild für viele Laboratorien der Metallindustrie in Deutschland diente.53 Die Entstehung solcher industrieller Forschungslaboratorien spielte in Deutschland eine wichtige Rolle beim Aufstieg derjenigen Industrien, die auf wissenschaftliche Erkenntnisse vor allem aus der Chemie und Physik angewiesen waren.54 Sie führten zu einer erheblichen Beschleunigung der Entwicklung von neuen Werkstoffen und Arbeitsmethoden.55 Über diese Laboratorien fand eine Verwissenschaftlichung der Industrieproduktion statt; sie waren Teil eines Wechselspiels zwischen Industrieanforderungen und Disziplinbildung und trugen zum schrittweisen Aufbau eines industriellen Wissenschaftssystems bei.56 Hier lernte Czochralski den Konflikt zwischen Industrieanforderung und Wissenschaft kennen, war doch die Industrie oft auf schnelle Erfolge aus, während Forschung Zeit zur Entfaltung benötigte. Ebenso machte er sich mit einer engen Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis vertraut, die er sich in seinem weiteren Leben mehr und mehr zum Credo machte. In diesen Laboratorien kam es darüber hinaus zu einer Verknüpfung von Militär, Industrie und Technikwissenschaften, der eine enge personelle, wissenschaftliche und finanzielle Verflechtung mit den Technischen Hochschulen, aber auch anderen Einrichtungen wie den vielfältigen Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) zugrunde lag.57 Das Labor wurde daher für die Genese der Metallkunde wichtig und stellte einen »industriellen Typus metallkundlicher Forschung mit Rüstungsbezug« dar.58 In diesem Labormilieu, das durch Ingenieure wie von Moellendorff und ihre technokratischen Visionen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geprägt war und das über das reine Laborleben hinaus einen 53 Evers, von Möllendorff, Marsch, Wichard von Moellendorff, S. 141 und S. 156. 54 Siehe Carsten Reinhardt, A. S. Travis, Heinrich Caro and the Creation of Modern Chemical Industry, Dordrecht, Boston, London 2001, bes. 219-256 sowie Georg Meyer-Thurow, The Industrialization of Invention: A Case Study from the German Chemical Industry, in: Isis 73 (1982), 363-381; für eine europäische Perspektive: A. S. Travis u. a. (Hg.), Determinants in the Evolution of the European Chemical Industry, 1900-1939. New Technologies, Political Frameworks, Markets and Companies, Dordrecht, Boston, London 1998. 55 Siehe E. Scheuer, Das Metallographische Laboratorium im Dienste der Praxis, in: Metallwirtschaft 7/41 (1928), S. 1126-1130, S. 1130. 56 Marsch, Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, S. 148. 57 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 105-107; siehe auch Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30/2 (2004), S. 277-313, S. 289 sowie Dominique Pestre, Regimes of Knowledge Production in Society: Towards a more Political and Social Reading, in: Minerva 41 (2003), S. 245-261, S. 249. 58 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 105-107. 79

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sozialen Handlungskontext bildete, fand Czochralski ein Umfeld vor, das seine Kreativität förderte.59 Czochralski und von Moellendorff führten im AEG -Labor unter anderem kristallographisch-technologische Grundlagenarbeiten durch und veröffentlichten dazu einen ersten, später vielfach zitierten Aufsatz.60 Sie setzten Metallmikroskope ein und widmeten sich auch mithilfe der so erzeugten Bilder einem zentralen Forschungsthema des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, nämlich den Vorgängen, die beim Verformen von Metallen und Legierungen ablaufen und die zu jenem Zeitpunkt theoretisch noch nicht verstanden waren. Ihre Ergebnisse nach Untersuchungen an plastisch verformten Metallen und Legierungen ermöglichten erste Einblicke in starke Verformungen, die vorwiegend durch ein Abgleiten auf kristallographischen Ebenen bedingt waren. Diese Erkenntnisse über die Auswirkungen der Kristallinität auf die Verformungsvorgänge waren pionierhaft und standen im Widerspruch zu gängigen Lehrmeinungen, etwa zu denen des führenden Gelehrten der deutschen Metallkunde, des Göttinger Chemieprofessors Gustav Tammann.61 Laut eigener Auskunft war Czochralski bei der AEG mit der Untersuchung und Wertbestimmung von Reinmetallen, Legierungen und Erzen und sämtlichen Fabrikrohstoffen beschäftigt; gelegentlich auch mit der Beaufsichtigung der Kupferraffinerie. Als Sonderaufgabe bezeichnete er 59 Zum Labor als sozialer Form der Wissenschaft liegt eine Reihe von Untersuchungen vor, siehe grundlegend Knorr-Cetina, Das naturwissenschaftliche Labor, S. 87 sowie Dies., Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984; Latour, Science in Action; Shaffer, Shapin, Leviathan and the Air-Pump. 60 Wichard von Moellendorff, Jan Czochralski, Technologische Schlüsse aus der Kristallographie der Metalle, in: Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure 57 (1913), S. 931-935 und 1014-1020. 61 Siehe Jürgen Evers, Leonhard Möckl, Mit logischer Schärfe und systematischer Unbeugsamkeit – Wichard von Moellendorff, in: Chemie in unserer Zeit 49 (2015) S. 236-247. Den entsprechenden Aufsatz von 1913 hatte Wichard von Moellendorff geschrieben, während Czochralski vor allem in der praktischen Durchführung der Experimente assistierte; so geht es aus einer Korrespondenz von von Moellendorff hervor, die jener mit der Schriftleitung der Zeitung des Vereins Deutscher Ingenieure führte: »Dieser Aufsatz (dessen textlicher Verfasser ich bin, an dessen Vorarbeiten mein damaliger Assistent für metallographische Arbeiten Herr J. Czochralski besonders in Bezug auf alle mikroskopische Studien hervorragenden Anteil hat und dessen kristallographische und metallographische Unterlagen in dem Literaturverzeichnis dargelegt ist), stelle ich fest, dass der Abschnitt G (Verfestigung) im Wesentlichen meine eigenen größtenteils neuen Gedanken über den Zusammenhang zwischen Mikroskopie und Festigkeitslehre bzw. mechanischer Technologie enthält«, siehe Bundesarchiv (BA) Koblenz, N 1158-192, Nachlass Wichard von Moellendorff, Metallstudien. 80

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die Einführung des Aluminiums in die Elektrotechnik, in die Blechfabrikation, in den Formguß und in chemisch-technologische Anlagen.62 Viele seiner Untersuchungen bezogen sich auf das Aluminium – daher verwundert es auch nicht, dass er sich sowohl in seinem ersten als auch seinem letzten nachweisbaren publizierten Aufsatz in Fachzeitschriften mit diesem Leichtmetall und dessen Legierungen auseinandersetzte.63 Das Aluminium war zu jener Zeit ein relativ junger und neuer Werkstoff in der Technik. Sein Aufstieg begann im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und verlief keineswegs geradlinig.64 Während das Aluminium bei seiner Einführung in den 1850er Jahren bereits als das kommende, moderne Metall des wissenschaftlichen Zeitalters gefeiert wurde, als Metall der Zukunft, stellten sich später viele damit verbundenen Hoffnungen und Erwartungen als überzogen heraus, weil das Innovationspotential des Stoffes nicht einfach zu erkennen war.65 Aluminium entpuppte sich als ein sehr empfindlicher Stoff, der technologisch nicht einfach beherrschbar war – er hatte seine eigene agency, reagierte oft anders als gedacht und erwies sich wegen der chemischen Reaktionen, zu denen er fähig war, als sperrig in der Verarbeitung. Wenn Aluminium eine Verbindung mit einem anderen Metall einging, kam es zum Beispiel leicht zu Kontaktkorrosion, so dass sich die Verbindungen auflösten – Schmelzund Legierungsverfahren, die von anderen Nichteisenmetallen und -legierungen wie Bronze (Kupfer und Zinn) oder Messing (Kupfer und Zink) bekannt waren, konnten nicht einfach übertragen werden.66 Daher mussten seine physikalischen und chemischen Eigenschaften im Rahmen der Materialprüfung und Metallforschung genau bestimmt werden. Dies erforschte man auch im AEG -Labor, wo sich Wichard von Moellendorff für das Aluminium einsetzte. 62 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 7. 63 Siehe Jan Czochralski, Über die chemische Untersuchung des Aluminiums, in: Zeitschrift für angewandte Chemie 26 (1913), S. 501-503; Ders., Forschungsergebnisse auf dem Gebiete des Aluminiums in Polen, in: Schweizer Archiv 6 (1940), S. 167-176. 64 Helmut Maier, Leichter als Krupp-Stahl? Zur »Material Culture« des Aluminiums seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Torsten Meyer, Marcus Popplow (Hg.), Technik, Arbeit und Umwelt in der Geschichte. Günter Bayerl zum 60. Geburtstag, Münster u. a. 2006, S. 265-279, S. 269. 65 Siehe Helmut Maier, ›New Age Metal‹ or ›Ersatz‹? Technological Uncertainties and Ideological Implications of Aluminium up to the 1930s, in: ICON. Journal of the International Committee for History of Technology 3 (1997), S. 181-201, S. 181 sowie Roland Schwarz, Aluminium für die Elektrotechnik. Wirtschaftliche und politische Bedingungen einer Werkstoffinnovation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Technikgeschichte 60/2 (1993), S. 107-128, S. 108. 66 Maier, Material Culture, S. 271. 81

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Das Kabelwerk Oberspree nahm noch vor dem Ersten Weltkrieg die Fabrikation von Leitungen und Kabeln aus Aluminium auf, was zu diesem Zeitpunkt pionierhaft war. Das Werk brachte dazu eine eigene Legierung auf den Markt, das sogenannte »Spreealuminium«, das für Leitungen mit hohen Anforderungen an die Festigkeit empfohlen wurde.67 Wichard von Moellendorff war überzeugt, dass Aluminiumseil den Leitungen aus anderem Material wirtschaftlich überlegen sei.68 Dennoch verzögerte sich die Einführung von Aluminium in die Elektrotechnik, galt sie doch als Ausdruck übertriebener amerikanischer Experimentierfreude. Eine Abkehr von bewährten Kupferseilen schien zudem nicht nötig, weil der Preisvorteil noch nicht deutlich genug war.69 Und auch die AEG, die die Innovation des neuen Metalls noch stärker hätte fördern können, war letztlich so stark in das Kupfergeschäft eingebunden, dass sie das Konkurrenzmaterial nicht übermäßig fördern wollte.70 Bis zum Ersten Weltkrieg wurden im Deutschen Reich etwa 3000 km Aluminiumleitungen installiert – zu weiteren Forschungen kam es nicht mehr.71 Denn im Ersten Weltkrieg kam Aluminium vor allem als Ersatzstoff für den unmittelbaren Kriegsbedarf zum Einsatz. Dadurch trübte sich das positive Bild vom modernen Metall zu einem negativen als Ersatzstoff – und dieses Image war auch in der Nachkriegszeit nicht so leicht zu ändern.72 Neben der Einführung von Aluminium in die Leitungsherstellung arbeitete Czochralski mit diesem Stoff für weitere Verwendungen – etwa der Zusammensetzung von Lagermetallen, also Legierungen, die für Gleitlager und insbesondere für die Wagenlager bei der Eisenbahn eingesetzt werden. Auch dieses Forschungsgebiet hat Czochralski sein Leben lang begleitet. Im Jahr 1913 patentierte die AEG ein Leichtes Lagermetall im D. R.P. 257868, das Aluminium als Hauptanteil der Grundmasse enthielt und, so seine Beschreibung, gegenüber älteren Lagermetallen die Vorzüge des geringen spezifischen Gewichts, der hohen spezifischen Wärme, der guten Wärmeleitfähigkeit und der Billigkeit vereinigt haben soll.73 In seinem späteren Bewerbungsschreiben für die Metallgesellschaft hat 67 Herbert Kayser, Die elektrische Kraftübertragung, Berlin, Heidelberg 1914, S. 120. 68 Wichard von Moellendorff, Metalle für Freileitungen, in: Elektrotechnische Zeitschrift 31/44 (1910), S. 1107-1109, siehe auch Ders., Aluminium für elektrische Leitungen, in: Elektrotechnische Zeitschrift 4 (1913), S. 99-100, S. 99. 69 Schwarz, Aluminium, S. 115. 70 Siehe ebd. sowie Wichard von Moellendorff, Kupfer und Elektrizitätsindustrie, in: Elektrotechnische Zeitschrift 6 (1911), S. 138-139. 71 Schwarz, Aluminium, S. 110-114. 72 Siehe ebd., S. 109; auch Maier, New Age Metal. 73 BA Koblenz, N 1158-197, Nachlass Wichard von Moellendorff, Patent D. R.P. 257868. 82

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Czochralski dieses Patent als seine Erfindung ausgegeben; es ist aber davon auszugehen, dass es als ein Produkt von Teamarbeit im AEG -Metalllabor entstanden ist. Ihm war allerdings kein großer Erfolg beschieden – in einer späteren Beurteilung hieß es unter anderem zu diesem Patent: »Größere Erfolge sind mit diesen Gleitlagerlegierungen nicht erzielt worden.«74 Dies ist nur ein Beispiel von vielen gescheiterten Versuchen auf dem Weg einer Etablierung von neuen Aluminium-Legierungen. Czochralski selbst umschrieb diese Situation im Jahr 1922, als er die Forschungen zu Aluminium als »keineswegs abgeschlossen« einschätzte und zu den sich bereits auf dem Markt befindlichen Aluminium-Legierungen meinte: »Die Zahl dieser Legierungen ist ins Unermessliche gestiegen; freilich haben sich nur wenige davon auf die Dauer behaupten können.«75 Die Erfahrungen, die Czochralski im Labor der AEG noch vor dieser Entdeckung und auf seinen vorherigen Stationen gesammelt hatte, hielt er 1913 im Alter von 28 Jahren bereits für so bedeutend, dass er sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Deswegen schlug er, gemeinsam mit seinem Kollegen Walther Deutsch von der AEG, im August 1913 dem Julius Springer Wissenschaftsverlag in Berlin vor, ein Tabellenwerk herauszubringen, das sie zunächst für den eigenen Bedarf zusammengestellt hatten, »das sich im Laufe der Zeit als ein recht brauchbares Hilfsmittel sowohl für die Forschung, als auch für praktische Zwecke erwies«. Es sollte für »weite Zweige der Technik« konzipiert sein, und deswegen rechneten die Autoren selbstbewusst mit einem »regen Absatz«.76 Die Einschätzung, dass ein Mangel an einem solchen Nachschlagewerk für eine neue und aufsteigende Forschungsrichtung bestehe, teilte der Verleger und schrieb: »Dass in den Kreisen der Industrie nach einem derartigen für die Praxis unmittelbar verwertbaren Tabellenwerk ein Bedürfnis besteht, ist mir bekannt, und ich glaube, dass 74 Reinhold Kühnel (Hg.), Werkstoffe für Gleitlager, Berlin 1939, S. 187. 75 Jan Czochralski, Die Verwendungsgebiete des Aluminiums. Richtlinien für seine Verbrauchsentwicklung, in: Zeitschrift für Metallkunde 14 (1922), S. 1-7, S. 1. 76 Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Historische Sammlungen, Archiv Julius Springer-Verlag, unpaginiert, Schriftverkehr Johann Czochralski aus dem September 1913. Sie legten auch ein Inhaltsverzeichnis vor, das die folgenden Abschnitte enthielt: I. Teil: 1. Rechentafeln, 2. Mathematischer Teil, 3. Chemisch-physikalische Tabellen, 4. Metallphysik; II. Teil: 1. Darstellung der Marktmetalle, a) Metalle, b) Legierungen; 2. Konstitution, a) 2-Stofflegierungen, b) 3-Stofflegierungen, c) Mehrstofflegierungen; 3. Zusammensetzung und Eigenschaften der a) Marktmetalle, b) Marktlegierungen, c) Speziallegierungen; 4. Technologie, a) Mechanische Technologie, b) Chemische Technologie; 5. Prüfung, a) chemische, b) mechanische, c) metallographische; 6. Gesichtspunkte für den Konstrukteur; 7. Wirtschaftliches, a) Jahreskonsum Alt-Metalle und Neu-Metalle, b) Preisnotierungen, c) Projektierung; 8. Kalendarium. 83

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bei entsprechender Reklame die erste Auflage eines solchen Buches sich wohl in absehbarer Zeit verkaufen lassen würde.« Nur der Idee von Czochralski und Deutsch, dieses Werk als einen »Metalltechnischen Kalender« herauskommen zu lassen, widersprach er und schlug den beiden Autoren ein Taschenbuch vor. So sollten etwa 500 Seiten mit zahlreichen Zeichnungen und Diagrammen auf den Markt gebracht werden. Im September 1913 schlossen die Parteien einen Vertrag für eine Auflage von 2000 Stück, als Abgabetermin war der August 1914 vorgesehen. Die Verfasser schickten Anfang 1914 Zeichnungen, Diagramme und Tabellen an den Verlag – der Ausbruch des Krieges verhinderte aber eine Fertigstellung des Werkes. Zwar waren alle Beteiligten der Meinung, dass der Krieg rasch enden würde, und so schrieben Czochralski und Deutsch an Springer im November 1914: »Auch wir sind der Meinung, dass es ratsamer ist, für das Erscheinen des Buches das Ende des Krieges abzuwarten. Wir schlagen Ihnen daher vor, den im Vertrag festgesetzten Termin zunächst um 3 Monate zu verlängern, also auf den 1. April 1915 zu verlegen.«77 Diese optimistische Entwicklung trat aber nicht ein – stattdessen blieb Czochralski in den folgenden Jahren so stark vom Kriegsgeschehen beansprucht, dass er diese Arbeit überhaupt nicht fertigstellen konnte. 3.3 Der Erste Weltkrieg als Forschungsbeschleuniger und Zäsur?

In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, wie der Krieg neue Konstellationen für die Forschung konstituierte, indem er etwa neue Verbindungen zwischen Staat, Rüstungsindustrie und Wissenschaft schuf oder neue »Laborbedingungen« mit Tausenden von Kriegsgefangenen generierte. Führte die Konstellation Krieg zu einer Professionalisierung von Disziplinen und zu ihrer Beschleunigung? Inwieweit unterlagen Disziplinen einer stärkeren Nationalisierung? Diese Fragen gehen mit der Erörterung einher, wie sich Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld mit der neuen Konstellation arrangierten oder von ihr profitierten. Was bedeutete die Konstellation Krieg für die Forschungen, die sie fortführten oder neu begannen, und die Strukturen und Ordnungen, in denen sie lebten und arbeiteten? Konnten sie Grundlagen für weitere Forschungen legen, die ohne den Krieg nicht stattgefunden hätten? Für beide Wissenschaftler gilt, dass ihre Forschungsfelder und die daraus resultierenden praktischen Anwendungen und Umsetzungen eine immens wichtige Rolle in diesem 77 Ebd., Czochralski und Deutsch an Springer, 4. 11. 1014. 84

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Krieg spielten: Sowohl der Medizin als auch der Werkstoffkunde und der Chemie galten angesichts der Notwendigkeit gesunder Soldaten sowie einer dramatischen Rohstoffknappheit die höchste Aufmerksamkeit des Staates, der sie stärker als andere Disziplinen in seine Dienste nahm.78 Wo verorteten sich Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld in diesem Feld, in dem ihre Ressourcen so gefragt waren? In vielen Disziplinen und Forschungsfeldern steigerte der Krieg die Erfindungskraft der Beteiligten.79 Bereits in Gang befindliche Veränderungsprozesse beschleunigten sich, und neue Entwicklungen nahmen ihren Anfang.80 Gleichwohl kann der Weltkrieg nicht durchweg und für alle Wissensgebiete in den Natur- und Technikwissenschaften gleichbedeutend als innovationsförderlich gelten oder als Katalysator für paradigmatische Veränderungen. Zudem würde eine einseitig progressistische und evolutionäre Deutung des Krieges in die Irre führen, setzte doch der Krieg etwa durch die Erfindung von neuen effizienten Waffen, aber auch durch dirigistische Eingriffe in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zum Teil »fragwürdige Varianten der Modernisierung auf die Tagesordnung«.81 Selbst wenn diese normative Betrachtung offen lässt, welche Varianten von Modernisierung denn uneingeschränkt als »nicht fragwürdig« gelten können, deutet sich in diesem Zitat die Mehrdeutigkeit des Kriegs für die Wissenschaftsentwicklung an. Darüber hinaus wurden zwar in zahlreichen Gebieten Fortschritte erzielt, die unmittelbar mit dem Krieg zusammenhingen, aber die Anforderungen der Kriegswirtschaft führten auch dazu, dass begonnene Entwicklungen und Forschungen aufgehalten wurden. Daher ist von einer ambivalenten Interdependenz von technisch-naturwissenschaftlichem Fortschritt und Krieg auszugehen, in deren Rahmen sich auch Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski bewegten. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die mit dem Krieg verbundenen Jahre in ihren Leben als die prägnante Zäsur gelten können, als die der Erste Weltkrieg in der Historiographie angesehen wird. Der Begriff der Zäsur wird immer dann herangezogen, wenn es gilt, eine Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher zu markieren. Wie scharf oder 78 Siehe dazu Wolfgang U. Eckart, Medizin und Krieg. Deutschland 1914-1924, Paderborn 2014, S. 20. 79 Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945, München 2011, S. 46. 80 Margit Szöllösi-Janze, Der Experte als Schachspieler. Thesen zum Verhältnis von Wissenschaft und Krieg, in: Forschungsberichte aus dem Duitsland Instituut Amsterdam / Universiteit van Amsterdam 5 (2009), S. 34-47, S. 35. 81 Löwenstein, Fortschrittsglaube, S. 383. 85

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wie eindeutig eine solche Unterscheidung ist, ist ausgesprochen subjektiv. Die Bewertung hängt meist von einer retrospektiven Betrachtung ab, wodurch der Begriff sehr verschiedene und wandlungsfähige Phänomene beschreiben kann. Zum Teil werden sie schnell als Zäsur ausgerufen, geraten dann aber ebenso rasch wieder in Vergessenheit.82 Der Erste Weltkrieg hat seinen Charakter als starker Einschnitt in der Zeitgeschichte über Jahrzehnte hinweg nicht verloren, weil er mit seiner bislang unbekannten Zahl an Opfern, neuen Strategien der Mobilisierung und der industriell gestützten Kriegsführung als erster totaler Krieg in der Geschichte gilt. Darüber hinaus ist er nicht nur den erlebenden, sondern auch folgenden Generationen nachhaltig im Gedächtnis geblieben. Da eine Zäsur in der historiographischen Perspektive vor allem auch dann zu einem Ereignis wird, wenn sie in der Erinnerung über viele Jahre hinweg schmerzt und präsent bleibt, hat dieser Umstand zur Wahrnehmung des Weltkrieges als Zäsur (bei gleichzeitiger Wahrung seines Charakters als Ereignis) beigetragen.83 Aber auch diese Wahrnehmung ist von Subjektivität geprägt. Je nach Betrachtungsweise lassen sich verschiedene Jahre des Weltkrieges als die »eigentlich« einschneidenden Jahre kennzeichnen.84 Für viele Regionen im östlichen Europa gilt zudem, dass Gewalt und Kriegshandlungen mit dem Jahr 1918 keineswegs vorüber waren.85 Jüngere globalgeschichtliche, wirtschafts- und migrationshistorische Interpretationen haben die Wahrnehmung der Ersten Weltkriegs als Zäsur darüber hinaus als nicht mehr so eindeutig erscheinen lassen, weil um die Mitte des 19. Jahrhunderts Prozesse etwa in der Globalisierung von Gesellschaften einsetzten, die von der Zeit von 1914 bis 1918 nicht in ihrer

82 Martin Sabrow, Zäsuren in der Zeitgeschichte, in: Frank Bösch, Jürgen Danyel (Hg.), Zeitgeschichte – Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 109-130, S. 117. 83 Siehe dazu Aleida Assmann, Erinnerungsräume, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München ³2006, S. 221 ff. 84 Matthias Schöning, »Zäsur«. Probleme einer historiographischen Angewohnheit, in: Christian Meierhofer, Jens Wörner (Hg.), Materialschlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899-1929, Göttingen 2015, S. 67-81, S. 76. 85 Siehe z. B. Jochen Böhler, Civil War in Central Europe, 1918-1921. The Reconstruction of Poland, Oxford 2018; Ders., Generals and Warlords, Revolutionaries and Nation-State Builders: The First World War and its Aftermath in Central and Eastern Europe, in: Ders, Włodzimierz Borodziej, Joachim von Puttkamer (Hg.), Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War, München 2014, S. 51-66; auch Julia Eichenberg, John Paul Newman, Introduction: Aftershocks: Violence in Dissolving Empires after the First World War, in: Contemporary European History 19/3 (2010), S. 183-194. 86

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Dynamik eingeschränkt wurden.86 Entsprechend muss der Krieg auch für das Wirken von Czochralski und Hirszfeld kontextualisiert werden. 3.4 Konstellation Krieg: Medizin, Anthropologie und Metallforschung

Im Feld der Medizin, in deren Rahmen Ludwik Hirszfeld ausgebildet worden war, aber auch der Anthropologie, mit der er über seine Forschungen ebenfalls in Berührung kam, begrüßte ein Großteil der deutschen Ärzteschaft und der Wissenschaft den militärischen Konflikt, stellte sich bereitwillig in den Dienst des Vaterlandes und unterstützte den sogenannten »Krieg der Geister«.87 In den bekannten Aufrufen und Schriften zu Beginn des Krieges versuchte dieser Teil, seinen Sinn zu deuten und Deutschlands Politik zu rechtfertigen – auch Max Rubner, bei dem Hirszfeld promoviert hatte, sowie Vincenz Czerny, Hirszfelds ehemaliger Chef in Heidelberg, partizipierten daran.88 Darüber hinaus waren viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begeistert von den Chancen, die sie für die Konstellation »Krieg« antizipierten. Sie fassten diese als eine exzellente Möglichkeit auf, in einem gewaltigen Experiment besonders hygienische und bakteriologische Erfahrungen zu sammeln, die in Friedenszeiten nur schwer zu gewinnen waren.89 Der deutsche Pathologe Ludwig Aschoff etwa beschrieb die neuen Rahmenbedingungen als einmalig günstige Gelegenheit, wissenschaftliche Entdeckungen zu machen.90 Und der Hygieniker und Mediziner Carl Mense hielt im Januar 1915 im »Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene« fest: »Vor unseren Augen aber spielt sich der größte Versuch […] ab, den die Einbildungskraft ersinnen kann. Menschen der verschiedensten Zonen werden gegeneinander geführt und leben und ringen unter den ungünstigsten hygienischen Verhältnissen. Die Völker des Erdballs stellen dadurch ein so riesiges epidemiologisches Experiment auf, wie es die Seuchenforschung nie erträumen konnte. Aber erst wenn die Friedensglocken läuten, winkt der Lohn aller Mühen und

86 Steffi Marung, Katja Naumann, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Vergessene Vielfalt. Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 11-44, S. 26. 87 Silvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland, 1890-1933, Göttingen 2009, S. 172. 88 Ebd., S. 173; Eckart, Medizin und Krieg, S. 32-33. 89 Ebd., S. 64. 90 Susanne Michl, Im Dienste des »Volkskörpers«. Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2007, S. 43. 87

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Kämpfe – hoffentlich auch der Wissenschaft.«91 Ähnlich euphorisch äußerten sich Anthropologen über die Möglichkeiten, die ihnen der Krieg bot. Der Rassenforscher und Marine-Oberstabsarzt Georg Buschan berichtete 1915 in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« über seine Erfahrungen in einem Lager für Kriegsgefangene: »Unsere Feinde haben um ihre Fahnen ein so buntes Völkergemisch versammelt, daß beinahe alle Rassen der Erde darunter vertreten sind. Die 1 ½ Millionen Gefangenen, über die wir bis jetzt verfügen, bieten ein reiches Beobachtungsgebiet für den Anthropologen; auf ihre Ausnutzung in diesem Sinne möchte ich hiermit die Herren Fachgenossen hinlenken. Wohl niemals wird man, im besonderen aus Osteuropa, so verschiedene Stämme an einem Ort zur gleichen Zeit zur Verfügung haben, wie gegenwärtig in unseren Gefangenenlagern.«92 Diesem Denken entzog sich auch Ludwik Hirszfeld nicht und betonte seinerseits die Wichtigkeit des »flächendeckenden bakteriologischen Materials, das nur im Krieg gefunden werden kann«.93 Die Körper der Tausenden von Einberufenen und von Kriegsgefangenen aus allen Teilen der Welt, die den globalen Charakter dieses Krieges symbolisierten, bedeuteten neue Rahmenbedingungen sowohl für die Medizin als auch für die sich etablierende Wissenschaft der Anthropologie und ihr verwandten Richtungen. Die Militärärzte konnten ihre Untersuchungen bereits im Zuge der Einberufung und dann in den Lazaretten an einer großen Auswahl der eigenen Soldaten durchführen. Die Einberufenen, die schon für die Anfänge der Physischen Anthropologie eine grundlegende Basis des empirischen Materials stellten, standen nun in einer zuvor unbekannten Menge zur Verfügung. Sie repräsentierten alle Bevölkerungen der kriegführenden Staaten, selbst die allerkleinsten.94 Darüber hinaus waren Militärärzte und Anthropologen, so wie der erwähnte Georg Buschan, in der Lage, in den Gefangenenlagern der Mittelmächte Untersuchungen unter zahlreichen verschiedenen Nationalitäten durchführen. Das, was für kranke und unterernährte Gefangene oft eine Tragödie war, erwies sich für die Forscherinnen und Forscher 91 Zitiert nach Eckart, Medizin und Krieg, S. 64. 92 Georg Buschan, Krieg und Anthropologie, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 41 (1915), S. 773. 93 Ludwik Hiršfeld, Epidemiologija trbušnog tifa na solunskom frontu, novi prouzrokovač paratifa. Vakcinacija srpske vojske, in: Srpski arhiv za celokupno lekarstvo XXI /5 (1919), 320-338, S. 320, zit. nach Indira Duraković, Serbia as a Health Threat to Europe: The Wartime Typhus Epidemic, 1914-1915, in: Joachim Bürgschwentner, Matthias Egger, Gunda Barth-Scalmani (Hg.), Other Fronts, Other Wars? First World War Studies on the Eve of the Centennial, Leiden, Boston 2014, S. 259-279, S. 272. 94 Siehe dazu auch Maciej Górny, Wielka wojna profesorów, Warszawa 2015. 88

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als unerwartete Chance. Sie konnten ihre Theorien auf mehr oder weniger zwangsweise vorgenommene Untersuchungen Tausender von Menschen stützen, die sich an einem Ort befanden: in Krankenhäusern, Kasernen oder Lagern.95 Führend darin, diese Chance zu nutzen, waren österreichisch-ungarische Anthropologen, die große vergleichende Untersuchungen vor allem an russischen Kriegsgefangenen durchführten. Aber auch deutsche Anthropologen wie Egon von Eickstedt standen ihren österreichischen Kollegen in solchen Untersuchungen nicht nach.96 Insgesamt führte diese Konstellation einerseits zu einer zunehmenden Professionalisierung der Disziplin und andererseits dazu, dass sich Grundannahmen der Physischen Anthropologie veränderten. So verflüchtigte sich die ursprüngliche Überzeugung von einer »rassischen« und psychologischen Einheit Europas gleichzeitig mit der Radikalisierung des Kriegsgeschehens – auch innerhalb Europas wurden Menschen nun zunehmend als unterschiedlich und »rassisch anders« klassifiziert. Die Arbeit vieler Anthropologen verschiedener Nationalität wurde in und mit diesem Krieg nationalistischer und rassistischer.97 Einstellungen und Forschungsprogramme, die während des Krieges begonnen und geformt wurden und dem nationalistischen Paradigma folgten, überdauerten den Krieg und konnten in der Zwischenkriegszeit fortgeführt werden. Dazu zählten unter anderem Teile der eugenischen Bewegungen in Europa, die zunehmend auf nationale Belange fokussierten.98 Gleichzeitig waren sie bemüht, ihre Forderungen zur Verbesserung der Menschen, die sie oftmals mit dem Überleben der Nation begründeten, intensiver als zuvor wissenschaftlich abzusichern. Dies stärkte wiederum die Position der entsprechenden Expertinnen und Experten.99 Neben ihrer Verwendung als Untersuchungsobjekte traf der Krieg die Körper von Soldaten auch anderweitig auf bisher nicht gekannte Weise, denn der Erste Weltkrieg gilt als der erste Krieg der Weltgeschichte, in 95 Katrin Steffen, Maciej Górny, Böses Blut. Die Blutgruppenforschung und der Serologe Ludwik Hirszfeld in Deutschland und in Polen, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 7 (2013/14), S. 97-119. 96 Górny, Wielka wojna, S. 178. 97 Andrew D. Evans, Anthropology at War: World War I and the Science of Race in Germany, Chicago 2010, S. 228-229; auch Maciej Górny, War on Paper? Physical Anthropology in the Service of States and Nations, in: Böhler, Borodziej, von Puttkamer (Hg.), Legacies of Violence, S. 131-167. 98 Michl, Im Dienste, S. 73. 99 Keely Stauter-Halsted, Bio-Politics between Nation and Empire: Venereal Disease, Eugenics, and Race Science in the Creation of Modern Poland, in: East Central Europe 43/1-2 (2016), S. 134-160, S. 153. 89

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dem mehr Soldaten an den Folgen von Kampfhandlungen, also durch Artillerie, durch Maschinengewehre, Handgranaten und Giftgase als an den begleitenden Kriegsseuchen starben. Dies ist sowohl Fortschritten in der Medizin als auch dem Umstand zuzuschreiben, dass das Schlachtgeschehen gefährlicher geworden war.100 Für bestimmte Regionen und Zeiten muss diese allgemeingültige Aussage aber relativiert werden – denn in Serbien und an der mazedonischen Front, wo Ludwik Hirszfeld tätig wurde, kam zu bestimmten Zeiten mehr als die Hälfte der Soldaten, die starben, wegen Krankheiten und nicht wegen Verwundungen ins Lazarett.101 Seuchen und Epidemien blieben im östlichen Teil Europas eine gravierende und regional schwer zu beherrschende Begleiterscheinung des Krieges und der Nachkriegszeit. Zwar versuchten allerorten die Machthaber und die Militärs, die Fortschritte der Medizin, vor allem der bakteriologischen Hygiene, die eine effektive Bekämpfung von Fleckfieber, Typhus und Cholera erstmals ermöglicht hätten, effektiv zu nutzen.102 Sie ließen den Truppen Impfstoffe, Anleitungen in der Krankheitsprävention, eine verbesserte hygienische Ausstattung und mobile Laboratorien zukommen und engagierten Gruppen von international erfahrenen Ärztinnen und Ärzten. So konnten sie die Leiden der Kranken mildern und zuweilen weitere Ansteckungen eindämmen – gänzlich verhindern konnten sie sie trotz allen Fortschritts nicht. Insgesamt profitierte die Medizin in bestimmten Forschungsfeldern von der Situation des Krieges, weil sich einige Entwicklungen beschleunigten und perfektionierten und der Krieg die Ärztinnen und Ärzte »zwang […], Dinge zu versuchen, die im Zivilleben so nicht möglich und nicht erwünscht gewesen wären«.103 Dies gilt für die Blutgruppenforschung, aber auch für Bluttransfusionen und Bluttests, die Amerikaner und Kanadier auf die europäischen Kriegsschauplätze brachten und die auch Ludwik Hirszfeld in diesem Krieg erstmalig einsetzte und nutzte. Einen Paradigmenwechsel stellte der Weltkrieg für die Medizin aber nicht dar. Jedoch änderte sich ihr Verhältnis zum Staat, in dessen Dienste sie sich verstärkt stellte.104 Medizin und Militär gingen eine innige 100 Robert Weldon Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the War, 1914-1918, Ithaca, London 1984, S. 52; Eckart, Medizin und Krieg, S. 13. 101 Joanna Bourke, Der Heilberuf und das Leiden. Die Erfahrungen der Militärmedizin in den beiden Weltkriegen, in: Melissa Larner, James Peto, Collen M. Schmitz (Hg.), Krieg und Medizin, Dresden 2009, S. 119-131, S. 120. 102 Eckart, Medizin und Krieg, S. 13. 103 Thomas Schlich, Die Etablierung der Bluttransfusion im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang U. Eckart, Christoph Gradmann (Hg.), Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler 1996, S. 109-130, S. 120. 104 Eckart, Medizin und Krieg., S. 20. 90

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Verbindung ein, und Ärztinnen und Ärzte sahen sich mit der Erwartung konfrontiert, die Moral der Truppe zu heben und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken.105 Eine radikale Abkehr von eingespielten Verhaltensweisen war auch in dem Komplex der Kooperation von Staat, Wirtschaft, Militär und Wissenschaft nicht nötig, in dem Jan Czochralski arbeitete. Er erfuhr aber eine Ausdifferenzierung.106 In diesem Komplex hatte eine wechselseitige und komplexe Durchdringung bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt.107 Eine »geistige Mobilmachung« fand wie in der Ärzteschaft auch unter Gelehrten aus den Technikwissenschaften oder dem Ingenieurswesen statt. Der Metallchemiker Rudolf Schenck hielt hierzu nach Ausbruch des Krieges fest: »Will unser deutsches Volk, abgeschnitten von den Hilfsquellen des Erdballs, abgeschnitten von dem Wohlwollen, der Gunst und der Hilfe Anderer seinen schweren Daseinskampf in Ehren bestehen, so muss es die Schätze seines Bodens und alle Trutz- und Schutzkräfte des Landes, die materiellen und die geistigen aufbieten und in das Feld führen.«108 Viele Wissenschaftler stellten ihr Wissen für kriegs- und rüstungsrelevante Forschungen gerne zur Verfügung.109 Führende Metallforscher, mit denen Jan Czochralski vor allem nach dem Krieg eng zusammenarbeitete, beteiligten sich ebenfalls an den erwähnten Aufrufen und Schriften, die Deutschlands Politik zu rechtfertigen suchten, darunter etwa die Professoren Oswald Bauer, William Guertler, Emil Heyn und Gustav Tammann. Verschiedentlich begaben sich Großordinarien auch in höherem Alter noch freiwillig an die Front, bevor sie sich in den Dienst der Forschung stellten, um die Probleme zu lösen, die der Kriegsausbruch mit sich brachte.110 Wissenschaftler führten Auftragsarbeiten für Heer und Marine an 105 Livia Prüll, Die Fortsetzung des Krieges nach dem Krieg, oder: Die Medizin im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen für die Zwischenkriegszeit in Deutschland 19181939, in: Dies., Philipp Raub (Hg.), Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914-1945, Göttingen 2014, S. 126-152, S. 137 f. 106 Marsch, Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, S. 324. 107 Helmuth Trischler, Die neue Räumlichkeit des Krieges: Wissenschaft und Technik im Ersten Weltkrieg, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996), S. 95-103, S. 96. 108 Zitiert nach Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008, S. 28. 109 Ders., Krisenmanagement durch institutionalisierte Gemeinschaftsarbeit. Zur Kooperation von Wissenschaft, Industrie und Militär zwischen 1914 und 1933, in: Michael Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 83-106, S. 85 f. 110 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 115. 91

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Materialprüfungsanstalten wie im Fall von Oswald Bauer aus oder traten, wie Emil Heyn, als Berater von militärischen Einrichtungen auf. Heyn, der wie Czochralski nach dem Krieg zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde gehörte, meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst und beriet das Reichsmarineamt in Materialprüfungs-, Beschaffungs- und Abnahmefragen.111 Viele Rüstungsforscher waren seit 1914 für Forschung freigestellt oder abkommandiert worden.112 Auch der Physiker Walther Gerlach, mit dem sich Czochralski in späteren Jahren in Frankfurt am Main anfreundete, gelangte schon während des Ersten Weltkriegs in eine leitende Position in der militärischen Rüstungsforschung in Jena.113 Die Selbstmobilisierung der Wissenschaft jedenfalls kam dem Staat sowie dem Militär entgegen, die das wissenschaftliche Potential gerne für die Belange des Krieges nutzbar machen wollten. Im Sinne der »Ressourcen füreinander« gilt aber ebenso, dass sich die deutschen Wissenschaftler gern vom Staat umarmen ließen.114 Neue Problemlagen nach Kriegsbeginn ergaben sich im Deutschen Reich vor allem durch einen eklatanten Mangel an Rohstoffen für die Kriegswirtschaft und die Munitionsherstellung, die zu einer Munitionskrise im Oktober 1914 führte.115 Diese wurde dadurch ausgelöst, dass die fortschreitende Militärtechnik, darunter der massenhafte Einsatz des Maschinengewehrs, den Bedarf an Munition erheblich erhöht hatte. Ihr Verbrauch brachte alle kriegführenden Staaten schnell an ihre Grenzen.116 Das Rohstoffproblem des Deutschen Reiches war manifest: Es war vor 1913 einer der größten Konsumenten von Buntmetallen und importierte etwa 40 Prozent seiner Rohstoffe. Diese Importabhängigkeit verschärfte sich durch den Krieg erheblich – wegen der alliierten Blockade war die Versorgung Deutschlands mit Buntmetallen kaum noch gewährleistet.117 Die allgemeine Erwartung eines kurzen Krieges führte bereits in den ersten Monaten zu Versorgungsproblemen sowohl für das Militär als

111 112 113 114 115

Ebd., S. 93. Ebd., S. 148, 154 und 496-498. Ebd., S. 123-124. Trischler, Räumlichkeit, S. 101. Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Bonn u. a. 1985, S. 58. 116 Werner Plumpe, Die Logik des modernen Krieges und die Unternehmen: Überlegungen zum Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 56/1 (2015), S. 325-357, S. 255 f.; siehe auch Otto Goebel, Deutsche Rohstoffwirtschaft im Weltkrieg einschliesslich des Hindenburg-Programms, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1930, S. 6. 117 Marsch, Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, S. 387. 92

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auch für die Zivilbevölkerung.118 Wegen der unzureichenden Planungen für eine funktionsfähige Kriegswirtschaft hatte Walther Rathenau schon im August 1914 die Gründung einer Kriegsrohstoffabteilung (KRA) angeregt. Die dem preußischen Kriegsministerium angegliederte KRA kontrollierte fortan die Vergabe aller strategisch wichtigen Rohstoffe und entwickelte sich zur zentralen Schaltstelle für die gesamte Rüstungsindustrie.119 Die Leitung der KRA übernahm Rathenau von August 1914 bis in das Jahr 1915 hinein selbst, ab 1915 wurde die KRA dann von Major Josef Koeth geleitet.120 Rathenau gehörte dabei zu denjenigen Vertretern der Wirtschaft, die Ausmaß und Dauer des Krieges unterschätzt hatten. Seine fast schon naive Haltung wird in einem Brief an seinen Vater Emil, den Gründer der AEG, deutlich: »Ich glaube alles in allem nicht, daß wir uns auf einen deutschen Krieg vorzubereiten brauchen. Sollte das Unglück ihn wider Erwarten herbeiführen, so dürfte die stärkste Vorbereitung in der Bereitschaft starker Mittel liegen, und bei der gegenwärtigen Liquidität der AEG, die sich auf 95 Millionen beläuft, ist diese Vorsorge in ausreichendem Maße getroffen.«121 Andere Unternehmer schätzten die Situation ähnlich ein, so dass der Ingenieur Otto Goebel, der im technischen Stab des Kriegsamts arbeitete, retrospektiv zu dem Schluss kam: »Gänzlich unvorbereitet war man gegenüber den kriegswirtschaftlichen Problemen.«122 Solche Zuschreibungen können natürlich auch zur nachträglichen Rechtfertigung erfolgt sein. Daher waren wohl nicht alle zivilen, militärischen oder industriellen Kreise vom Kriegsbeginn gänzlich überrascht, denn Planungen zur Mobilmachung bestanden seit 1913 und einige Rüstungsunternehmen wie Krupp waren bereits früh in solche Planungen einbezogen wurden.123 Dennoch trafen die kriegswirtschaftlichen Erfordernisse viele Unternehmen relativ unvorbereitet, und die

118 Flachowsky, Wissenschaftspolitik, S. 27. 119 Momme Rohlack, Kriegsgesellschaften (1914-1918). Arten, Rechtsformen und Funktionen in der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 28; auch Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002, S. 50. 120 Christian Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg, München 2013, S. 174. 121 Zit. nach Plumpe, Logik, S. 331. Plumpe verweist darauf, dass es an einer guten Darstellung der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs noch immer mangelt. 122 Goebel, Deutsche Rohstoffwirtschaft, S. 2. 123 Siehe Stefanie van de Kerkhof, Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Essen 2006, S. 207-214. 93

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Umstellung von einer Friedens- auf eine Kriegswirtschaft bereitete enorme Probleme, zu deren Abhilfe die KRA gegründet worden war.124 Die KRA wurde für die Mobilisierung der zentralen Bereiche der Rohstoff- und Werkstoffproduktion zuständig, organisierte die Metallbewirtschaftung und gilt, so Helmut Maier, als ein »bürokratisches Unikat mit hybridem Charakter«, weil ihre Abteilungen und Sektionen gemischt zivil-militärisch geleitet wurden – sie war eine Gemeinschaft aus Militär und Metallindustrie, eine Fusion von öffentlicher Hand und Privatwirtschaft.125 Sie stand für eine Militarisierung des Wirtschaftslebens und für eine Industrialisierung des Militärischen, darin nicht unähnlich der erwähnten bakteriologisch-chemischen Laboratoriumsdiagnostik während des Krieges, die ebenfalls einer Militarisierung unterlag.126 Die mit dem Krieg einhergehende Beschleunigung der Militarisierung des Wissenschaftssystems, die sich in Friedenszeiten fortsetzte, manifestierte sich unter anderem in der Gründung metallkundlicher Institutionen während des Krieges und im Anschluss an diesen: Jan Czochralski war daran indirekt und direkt beteiligt.127 Dazu gehören das Kaiser-WilhelmInstitut für Metallforschung ebenso wie die Deutsche Gesellschaft für Metallkunde, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird. Trotz der kontrollierten Verteilung von Rohstoffen und der Ausarbeitung von rohstoffsparenden Verfahren in vielen Zweigen der Industrie fehlten im Verlauf des Krieges zunehmend die benötigten Grundmaterialien. Die »ungeheure Rohstoffabhängigkeit« der deutschen Industrie wurde als ihre »schwächste Seite« interpretiert.128 Als geradezu katastrophal galt die Eigenversorgung mit Kupfer, Nickel, Zinn, Quecksilber, Mangan, Graphit, Asbest, Salpeter und Spinnstoffen.129 Daher wurden Kupfer, Nickel und Zinn gleich zu Beginn des Krieges zu »Sparstoffen« erklärt. Vor allem das rüstungstechnisch wichtige, jedoch knappe Kupfer musste ersetzt werden. Das Finden neuer Ersatzmetalle und Legierungen 124 Dieter Ziegler, Die Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg – Trends der Forschung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 56/2 (2015), S. 313-323, S. 313 und 317. 125 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 153, Chickering, Das Deutsche Reich, S. 51. 126 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 154 und Eckart, Medizin und Krieg, S. 178; auch Stefanie van de Kerkhof, Public-Private Partnership im Ersten Weltkrieg? Kriegsgesellschaften in der schwerindustriellen Kriegswirtschaft des Deutschen Reiches, in: Hartmut Berghoff, Jürgen Kocka, Dieter Ziegler (Hg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Deutschlands und Österreichs. Im Gedenken an Gerald D. Feldman, München 2010, S. 106132, S. 112. 127 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 155. 128 Goebel, Deutsche Rohstoffwirtschaft, S. 10. 129 Ebd., S. 13. 94

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aus Zink und Aluminium stand im Fokus der zivilen und militärischen Metallforschung. Die Suche nach neuen Anwendungsmöglichkeiten bekannter Metalle und Legierungen, aber auch nach gänzlich neuen Zusammensetzungen charakterisierte die Ersatzstoffwirtschaft im Ersten Weltkrieg, die in diesem Krieg ihren Anfang nahm und zunächst von der industriellen Forschung und namentlich dem Metalllabor der AEG ausging.130 An dieser Großforschung partizipierte auch Jan Czochralski.131 In der Praxis stellte sich die Suche nach Ersatzstoffen in vielen Fällen sowohl für die Forschung als auch die betriebliche Praxis als eine sehr komplexe Aufgabe dar.132 Aluminium etwa bereitete weiterhin die erwähnten Probleme und wurde als relativ neues Metall noch nicht in großem Umfang verwendet, zudem musste es importiert werden und galt als »französisch«.133 Erst ab Mitte 1917 entstand eine eigene Aluminiumgewinnung in Deutschland – fortan wurde es verstärkt als Ersatz von Kupfer herangezogen.134 Es verblieb aber das Problem, dass das deutsche Aluminium meist einen hohen Verunreinigungsgrad aufwies und als minderwertiger Ersatzstoff galt.135 Letztlich konnte die Blockade durch die Wiedergewinnung von Rohstoffen aus Abfällen, den Auf bau der Ersatzstoffindustrien und den Handel mit den neutralen Nachbarn in ihrer Wirkung etwas abgemildert werden – die Rohstoffversorgung blieb aber während des Krieges eine besonders große Herausforderung.136 Sie war ein Feld, in dem es zu einschneidenden Veränderungen mit langfristigen Folgen für das wissenschaftliche System kam, wozu dessen Professionalisierung gehört.137 Wie gut oder erfolgreich die Herausforderung »Ersatzstoffforschung« gemeistert wurde und ob ihre Umsetzung der These vom »deutschen Sonder-

130 Forschergruppe zur Geschichte der DFG 1920-1970, Bericht zur Abschlusskonferenz am 30./31. Januar 2008 in Berlin, Teil IV.1.: Die DFG und die Forschungsförderung der metallischen Roh- und Werkstoffe, S. 161-169, S. 162. 131 Siehe Helmuth Trischler, Nationales Sicherheitssystem – nationales Innovationssystem. Militärische Forschung und Technik in Deutschland in der Epoche der Weltkriege, in: Bruno Thoß, Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg. Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn 2002, S. 107-131. 132 Günther Luxbacher, »Für bestimmte Anwendungsgebiete besonders geeignete Werkstoffe … finden«. Zur Praxis der Forschung an Ersatzstoffen für Metalle in den deutschen Autarkie-Phasen des 20. Jahrhunderts, in: N. T.M. 19 (2011), S. 4168, hier bes. 51 ff. 133 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 153. 134 Ebd., S. 126. 135 Maier, Material Culture, S. 273. 136 Ziegler, Kriegswirtschaft, S. 314. 137 Marsch, Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, S. 324. 95

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weg« und einer »Flucht in den Käfig« (Ulrich Wengenroth)138 durch deutsche Techniker und Wissenschaftler als Folge der Autarkiepolitik entspricht, die letztlich in eine schädliche Selbstisolation führte, wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. Festzuhalten bleibt, dass sich durch die Konstellation Krieg neue multilaterale Kooperationsverhältnisse der gesellschaftlichen Teilsysteme Wissenschaft, Industrie und Militär herausbildeten, deren Wirkung ausgesprochen langfristig war.139 Während dieser Kooperation stellten sich Wissenschaftler bereitwillig in die Dienste des Staates und der Rüstungsindustrie und waren auch nach Beendigung des Krieges bemüht, die entstandenen Kooperationssysteme, deren Nationalisierung während des Krieges weit fortgeschritten war, aufrecht zu erhalten. +SVWGLYRKMQ+IPH+PIGOǻIFIVFIO®QTJYRK in Serbien und die Geburtsstunde der Seroanthropologie

Während Jan Czochralski zur Zeit des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs in Berlin noch seinem bis dahin wenig kriegswirtschaftlich ausgerichteten Alltagsgeschäft im Metalllabor bei der AEG nachging und unter anderem an dem Taschenbuch für Metalltechnik arbeitete, für das er soeben einen Vertrag mit dem Julius-Springer-Wissenschaftsverlag abgeschlossen hatte, erlebte Ludwik Hirszfeld den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im ruhigen Zürich. Dort erreichten ihn Nachrichten von einer Fleckfieberepidemie in Serbien. Der Wunsch zu helfen und eine gewisse Sehnsucht nach einem Abenteuer, so erinnerte sich sein späterer Mitarbeiter Andrzej Kelus, ließen ihn und Hanna Hirszfeld die neutrale Schweiz verlassen.140 Er ersuchte am 3. April 1915 um eine Beurlaubung von der Universität und erhielt diese »für den Eintritt in den russischen Heeresdienst«.141 Er reiste im April 1915 ab, um »als Hygieniker nach Serbien zu gehen« und eine Epidemie zu bekämpfen, deren Auftreten eng mit den kriegerischen Ereignissen des Winters 1914/15 verknüpft war,

138 Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig: Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland 1900-1960, in: Vom Bruch, Kaderas, Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, S. 52-59. 139 Flachowsky, Krisenmanagement, S. 88. 140 Andrzej Kelus, Życie i twórczość Ludwika Hirszfelda, in: Przegląd Antropologiczny 21/4 (1955), S. 1314-1326, S. 1316. 141 Universitätsarchiv Zürich, AB 1.0428. Auszug aus dem Protokoll des Erziehungsrates des Kantons Zürich vom 16. 4. 1915. Aufgrund seiner Geburt im russischen Teilungsgebiet Polens war Hirszfeld formal russischer Armeeangehöriger. 96

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als Österreich-Ungarn versuchte hatte, Serbien militärisch zu erobern.142 Es ist davon auszugehen, dass es vor allem ein medizinisches Interesse war, das Hirszfeld dazu veranlasste, sich in das südliche Osteuropa zu begeben. Bereits seit den Balkankriegen 1912 und 1913 litten dort viele Menschen an endemisch auftretenden Krankheiten wie Cholera, Typhus, Malaria sowie an Hunger.143 Hirszfeld kam nach Valjevo, dem Zentrum der Epidemie, zu einer Zeit, als die Epidemie ihren Zenit soeben überschritten hatte. Auch Hirszfelds Schwager, der Arzt Ludwik Klocman, war dorthin aufgebrochen, und Hanna Hirszfeld war ihrem Mann ebenfalls nach wenigen Monaten gefolgt. Die Österreicher hatten Valjevo im November 1914 eingenommen, so dass dort große österreichische Truppenteile beherbergt werden mussten. In dieser Zeit begann die Verbreitung des Fleckfiebers. Wegen Überfüllung und mangelnder sanitärer Maßnahmen schritt die Ausbreitung schnell voran. Nachdem die österreichischen Truppen im Dezember 1914 vertrieben worden waren, wurden 60.000 Gefangene genommen; dazu kamen zahlreiche Flüchtlinge. Unter ihnen verbreitete sich das Fleckfieber in einem zuvor ungekannten Maße. Die österreichischen Soldaten galten als Auslöser der Epidemie, zumal sie durch das ganze Land entlang der Eisenbahnlinien geleitet wurden.144 Zum Teil wurden sie auch in Krankenhäusern als Zeitarbeiter eingesetzt. Die schnelle Ausbreitung des Flecktyphus führte Hirszfeld darauf zurück, dass »in unhygienischen Verhältnissen stark verlauste Menschen dicht nebeneinander leben müssen«.145 Diese unhygienischen Verhältnisse wollte er nicht als Beleg für die Unsauberkeit der serbischen Bewohner gelten lassen: »Ich möchte übrigens betonen, um mit einem Vorurteil aufzuräumen, daß die serbischen Wohnungen des Mittelstands außerordentlich sauber sind. Die allgemeine Verlausung des Militärs darf ebenso wenig als Beweis von Unsauberkeit der Bewohner gelten, wie etwa die Verbreitung der Krankheiten.«146

142 Siehe Ludwik Hirszfeld, Aus meinen Erlebnissen als Hygieniker in Serbien, in: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte XLVI /17 (1916), S. 513-531. 143 Siehe Włodzimierz Borodziej, Maciej Górny, Nasza Wojna I: Imperia 1912-1916, Warszawa 2014, S. 132. 144 Siehe den Bericht von Richard Strong, dem Leiter der Amerikanischen Sanitätskommission und Professor für Tropenmedizin in Harvard: The Anti-Typhus Campaign in Serbia in 1915 Considered in Connection with the Present Typhus Epidemic in Poland, in: International Journal of Public Health 1 (1920), S. 7-33, S. 15. 145 Hirszfeld, Erlebnisse, S. 517. 146 Ebd., S. 522. 97

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Gleichzeitig beschrieb Hirszfeld, dass einige Ärzte aus Serbien dermaßen von »Krankheitsangst« überwältigt worden seien, dass sie Abstand zu ihren Patientinnen und Patienten hielten. Zudem berichtete er von einer großen Überforderung der Ärzteschaft auf dem Höhepunkt der Epidemie, von chaotischen Verhältnissen in überfüllten Krankenhäusern, von mangelnder »Moral« und fehlendem »Pflichtbewusstsein« unter dem Pflegepersonal aus ungeschulten serbischen Soldaten und kriegsgefangenen Österreichern und von Wärtern, die Thermometer, verlauste Uniformen, Verbandszeug und Arzneien »verschacherten«. Ein starker Ärztemangel trug dazu bei, dass viele Kranke nicht ausreichend versorgt konnten – von etwa 400 serbischen Ärzten im Militärdienst starben allein 130 an der Krankheit. Die allgemeine Sterblichkeit in den betroffenen Regionen betrug zwischen 20 und 70 Prozent.147 Genaue Zahlen sind nur schwer zu erhalten, da sie je nach Quelle variieren – die jüngere Forschung geht von etwa 100.000 Todesfällen der gesamten Epidemie unter Zivilisten, 35.000 unter Gefangenen und 30.000 unter den Soldaten bei insgesamt 400.000 Erkrankten aus.148 Nach dem Höhepunkt der Epidemie hätten die serbischen Behörden, Ärztinnen und Ärzte dann mit »großer Energie an der Verbesserung ihrer Spitäler fortwährend gearbeitet«, so Hirszfeld.149 Aufgrund seiner Ausführungen ist ihm vorgehalten worden, er habe damit zu einem »pejorativen Bild von unfähigen und unhygienischen Menschen in Serbien beigetragen, das in den medizinischen Diskursen in Westeuropa bereits vorhanden war«.150 Hirszfelds Haltung war davon gekennzeichnet, was er in Deutschland und der Schweiz über Hygiene und Epidemiologie gelernt und kennengelernt hatte. Möglicherweise empfand er dies als einen anzustrebenden Idealzustand auch für Serbien. Es ging ihm jedenfalls nicht darum, der serbischen Bevölkerung und Ärzteschaft eine Unfähigkeit anzuheften, die er als typisch serbisch oder als dem »Balkan« inhärent klassifizierte. Er beschrieb vor allem eine große Überforderung in einem jungen Staat, der den Umständen des Krieges kaum gewachsen war, weil es an Infrastruktur und gut ausgebildetem Personal mangelte. Nicht mehr differenziert erscheint sein Blick, wenn er, ohne dies empirisch zu belegen, »die Zigeuner« als »besonders gefährlich für die Verbreitung des Flecktyphus« bezeichnet.151 Ob er damit eine 147 Paul Weindling, Epidemics and Genocide in Eastern Europe 1890-1945, Oxford, New York 2000, S. 77; Duraković, Serbia, S. 265. 148 Ebd., S. 266. 149 Hirszfeld, Erlebnisse, S. 518. 150 Duraković, Serbia, S. 276. 151 Hirszfeld, Erlebnisse, S. 523. 98

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von Mobilität geprägte Lebensform meinte oder dieser Gruppe eine besonders unhygienische Lebensart zuschreiben wollte, bleibt offen. Er zeigt sich hier aber nicht frei von der zu dieser und in späteren Zeiten verbreiteten Vorgehensweise, die Träger von Läusen oder Bakterien ethnisch oder rassistisch zu definieren – dies geschah in Europa je nach Region entweder als »polnisch«, »russisch«, »jüdisch«, »balkanisch« oder eben als »Zigeuner«. Die Epidemie in Serbien zog das internationale Interesse der internationalen Ärzteschaft auch deshalb auf sich, weil Serbien und andere, sogenannte »Balkan-Länder« zu einer Gefahr für die gesamte westliche Welt erklärt wurden.152 Das Interesse an der Erforschung des Flecktyphus machte die Region zu einem »Mekka für internationale medizinische Unterstützung«.153 Serbien wurde in ein großes Experimentierfeld vor allem für österreichisch-ungarische Ärztinnen und Ärzte verwandelt, die dieses Feld bereits während der Balkankriege genutzt hatten. Die Möglichkeiten, Forschungen durchzuführen, waren groß, da einige Krankenhäuser bis zu 4000 Patienten beherbergten. Wie erwähnt, betonte auch Hirszfeld die Wichtigkeit des »flächendeckenden bakteriologischen Materials« während eines Krieges für die Forschung.154 Aber obwohl sich zahlreiche internationale Sanitärmissionen in Valjevo aufhielten und umfangreiche Maßnahmen gegen das Fleckfieber wie Entlausung, Aufklärung, Reisebeschränkungen und Desinfektion eingeleitet wurden, an denen Hirszfeld auch beteiligt war, zeigte er sich desillusioniert: »Alle unsere Maßnahmen wären nie imstande gewesen, die große Epidemie zu bekämpfen […] Gegen eine solche ungeheure Epidemie ist ein Kampf im Kriege, ohne eine Prophylaxe im Feld, nicht möglich.«155 Die Epidemie sei letztlich nur deshalb verebbt, weil die Läuse im Sommer verschwunden seien, so seine Analyse. Im Anschluss an die Bekämpfung des Flecktyphus erhielt Hirszfeld den Auftrag, den bakteriologischen Dienst für die 1. Serbische Armee zu organisieren. Er bekam ein Laboratorium, das er mithilfe seines Zürcher Instituts so ausstattete, »daß es wenigstens eine kleine Epidemie hätte bakteriologisch überwachen können«.156 Er begann, Krankheiten bakteriologisch und serologisch zu untersuchen, war aber in seiner Arbeit eingeschränkt, weil ihm nicht genügend Nährböden zur Verfügung 152 Duraković, Serbia, S. 260. 153 Weindling, Epidemics, S. 87. 154 Hiršfeld, Epidemiologija trbušnog tifa na solunskom frontu, S. 320, zit. nach Duraković, Serbia, S. 272. 155 Hirszfeld, Erlebnisse, S. 523. 156 Ebd. 99

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standen und er auch anderweitig hinsichtlich der Ausstattung improvisieren musste. Zudem wünschte er sich ein mobiles Labor, um die verschiedenen Feldspitäler aufsuchen zu können. Er bemängelte, dass die Ärzteschaft jener Spitäler seine bakteriologischen Dienste für Diagnosen nicht in Anspruch genommen hätte – die Akzeptanz der Laboratoriumsdiagnostik war noch nicht überall verbreitet. Trotz aller Unzulänglichkeiten war Hirszfeld aber Teil jenes Prozesses, in dessen Zuge sich vor allem im Ersten Weltkrieg die hygienische Überwachung der Truppen und die Einrichtung von bakteriologischen Laboratorien bei den Korpsärzten institutionalisierten.157 Dies kann sowohl als eine Militarisierung des Laboratoriums als auch als eine Verwissenschaftlichung der Militärmedizin gedeutet werden – wobei Letzteres, wie von Hirszfeld beschrieben, in der praktischen Anwendung im Ersten Weltkrieg Grenzen kannte. Sein Labor bekam es mit für ihn ganz neuen Krankheitsbildern zu tun: In den Monaten August und September 1915 etwa nahmen Untersuchungen von Malaria den größten Teil der dortigen Arbeiten in Anspruch.158 Dabei arbeitete Hirszfeld stets mit zahlreichen, internationalen Ärztegruppen zusammen, von denen einige zu seinen späteren Netzwerken gehörten, zum Beispiel der serbische Arzt Aleksa Savić, nach dem Krieg Gesundheitsminister in Jugoslawien, mit dem Hirszfeld unter anderem im Jahr 1927 in Zagreb zusammentraf.159 Er befreundete sich auch mit Marshall Mišić, einem der Kommandeure der Serbischen Armee.160 Hirszfelds Zeit in Serbien war jedoch begrenzt: Weil das Land bis zum Dezember 1915 durch die Mittelmächte, also österreichisch-ungarische, deutsche und bulgarische Truppen besetzt worden war, begaben sich auch die Hirszfelds auf den Rückweg und gelangten nach einem Fußmarsch durch Albanien nach Brindisi und von dort aus wieder nach Zürich. Dort berichtete Hirszfeld am 26. Januar 1916 im Verein für wissenschaftliche Gesundheitspflege in Zürich vor einem vollen Haus von seinen Erlebnissen, die er im Anschluss publizierte.161 Zurück in der Schweiz erwies sich die vergangene Erfahrung aus Serbien als sehr gegenwärtig und verschränkte sich mit einer Erwartung als einer vergegenwärtigten Zukunft, als Wunsch, in diesem Krieg auch weiterhin helfen und forschen zu können: Den Hirszfelds war die Kriegserfahrung so wertvoll, dass sie sie in die Gegenwart und in die 157 158 159 160 161 100

Eckart, Medizin und Krieg, S. 178. Hirszfeld, Erlebnisse, S. 526. Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 39. Ebd., S. 40. Siehe Hirszfeld, Erlebnisse.

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Zukunft verlängern wollten.162 Die Schweiz erschien viel zu ruhig, und diese Ruhe erforderte Gegenmaßnahmen: Hanna Hirszfeld trat in den Dienst italienischer Truppen ein. Ludwik Hirszfeld wiederum schrieb an das Colonial Office in London und bot seine Dienste an: »Vor allem war mir an exotischen Ländern gelegen«, um den »Erlebnishunger mit der Bakteriologie der Tropen« zu verbinden.163 Er wollte die bereits erhaltene Möglichkeit, die Konstellation des Krieges sowohl für medizinische Hilfeleistungen als auch für Forschungen zu nutzen, die jenseits der Kriegssituation nicht möglich waren, in die Gegenwart und die Zukunft verlängern – andernfalls hätte er seiner Anstellung als Privatdozent in Zürich nachgehen können, von der er sich aber stets aufs Neue beurlauben ließ.164 Die Hirszfelds hatten sich also mit der Konstellation Krieg in Serbien nicht nur arrangiert – sie empfanden die Ordnung des Krieges trotz der damit verbundenen Gefahren und der Arbeit in unzulänglichen Kriegslaboratorien als förderlich für weitere Forschungen. Denn diese Arbeit forderte sie mit Krankheiten heraus, die sie in Deutschland oder der Schweiz nicht antreffen konnten. Zudem ermöglichte sie einen Austausch mit einer global zusammengesetzten Ärzteschaft – der globale Charakter des Krieges spiegelte sich in der Gemeinschaft der Expertinnen und Experten, die dessen Folgen abmildern wollten. Der serbische Staat wiederum wusste die Ressource der erfahrenen und international etablierten Wissenschaftler, von denen sich seine Repräsentanten eine Verbesserung der medizinischen Versorgung der Soldaten versprachen, sehr zu schätzen und wollte sie alsbald wieder mobilisieren: Bevor eine Nachricht aus London kam, erhielten die Hirszfelds von der serbischen Regierung die Einladung, die Arbeit für die dortige Armee wiederaufzunehmen. Sie zögerten nicht, und so griffen der serbische Staat und die Wissenschaftler in ihrem gegenseitigen Beziehungsgeflecht erneut aufeinander zu. Über Korfu kamen die Hirszfelds in die Hafenstadt Saloniki, dem heutigen Thessaloniki, wo ihnen die serbische Regierung ein bakteriologisches Labor zur Verfügung stellte, ein sehr »primitives und schlecht ausgestattetes«, wie sich Hirszfelds Schüler Adam Bekierkunst später er-

162 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 42000, S. 354-355. 163 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 51. 164 Archiv der Universität Zürich, AB 1.0428. Fortlaufende Protokolle des Erziehungsrates des Kantons Zürich. 101

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innerte.165 Hirszfeld wurde zum Leiter des bakteriologischen Laboratoriums des serbischen Generalstabs in Saloniki. Dort war eine sehr spezifische Konstellation entstanden: Nach der Besetzung ganz Serbiens durch die Mittelmächte im Dezember 1915 hatte sich dort die Armée d’Orient verschanzt, eine multinationale alliierte Truppe unter französischer Leitung, die Serbien hatte helfen wollen, aber im Herbst 1915 zu spät gekommen war. Die Truppen verblieben dort für die nächsten drei Jahre. Dies machte Saloniki in den Augen eines Besuchers zur »überfülltesten Stadt im Universum« – hier habe man zum ersten Mal überhaupt die Bedeutung solcher Worte wie »kosmopolitisch«, »polyglott« und »überfüllt« erfahren können.166 Auch in den Augen des American Associated Press-Reporters Charles T. Thompson war die Stadt »die größte Mischung von Nationalitäten, die jemals existiert hat«. Andere Beobachter fügten hinzu, die Stadt sei »eine große Bühne«, »ein Kauderwelsch aller Sprachen, aller Rassen und aller Zustände« und »eine schmutzige Königin«.167 Die Soldaten aus ganz Europa und den kolonialen Besitzungen der Franzosen und Engländer in Asien und Afrika, Vietnam, Algerien, dem Senegal, Indien und Madagaskar, lebten nun in einem Raum, in dem seit einigen Jahren zahlreiche Krankheitserreger Menschenleben gefährdeten. Und so setzten sie auch in Saloniki, einem Ort, an dem der globale Charakter des Weltkriegs sich konkret manifestierte, den Truppenverbänden schwer zu – »Mud and Malaria«, in diesen beiden Worten, so der britische Journalist Harry Collinson Owen, hätten sich die ganzen Schwierigkeiten der Armee manifestiert, in der fehlenden Infrastruktur in Form von Straßen und den sich ausbreitenden Krankheiten.168 Ein weiterer britischer Korrespondent benannte die Probleme ähnlich: »Transport und Fieber«, und hielt fest, es sei ungefähr so wahrscheinlich, den Sommer auf dem »Balkan« ohne Malaria zu verbringen wie einen Winter in Großbritannien ohne Erkältung.169 Über die Hälfte der etwa 500.000

165 Adam Bekierkunst, Badania epidemiologiczne, in: Hirszfeld, Kelus, Milgrom, Ludwik Hirszfeld, S. 82-84, S. 82. 166 H. Collinson Owen, Salonica and After, the Sideshow that Ended the War, London 1919, S. 21. 167 Zitiert nach Jacob Mikanowski, Dr. Hirszfeld’s War: Tropical Medicine and the Invention of Sero-Anthropology on the Macedonian Front, in: Social History of Medicine 25/1 (2011), S. 103-121, S. 106. 168 Owen, Salonica and After, S. 24. 169 G. Ward Price, The Story of the Salonica Army, London, New York, Toronto 1918, S. 262. 102

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Soldaten erkrankte.170 Die Armeeangehörigen steckten sich im Laufe der folgenden drei Jahre mit Malaria, Typhus, Ruhr, Denguefieber und weiteren tropischen Infektionskrankheiten an. Bis zum Sommer 1916 allein waren 75.000 Soldaten mit Malaria in Krankenhäuser eingeliefert worden, und mehrere Hunderttausende folgten in den beiden Jahren darauf.171 Dieser Malaria-Ausbruch kam unerwartet, und dadurch, dass viele Militärs die Warnungen der Malaria-Experten nicht ernst nahmen, verschlimmerte sich ihre Ausbreitung noch.172 Die Krankheit machte die Region zu einem exotischen und unterentwickelten Landstrich mitten in Europa – den Briten galt dieser Krieg an der mazedonischen Front als »kolonialer« und »medizinischer Krieg«.173 Aufgrund dieser Situation versammelten sich in Saloniki zahlreiche Ärztinnen und Ärzte mit Kolonialerfahrungen aus der ganzen Welt. Sie tauschten Daten aus und trafen sich einmal wöchentlich in der Medizinischen Gesellschaft Salonikis. In diesem lokalen und gleichzeitig internationalem Wissensraum, den jede Woche etwa 60 Ärztinnen und Ärzte besuchten, wurde medizinisches und bakteriologisches Wissen transferiert und verbreitet. Auch Hirszfeld kooperierte mit vielen internationalen Kolleginnen und Kollegen, er teilte Impfstoffe mit Bakteriologen aus Frankreich und England und erhielt Proben aus griechischen Krankenhäusern.174 Sein Wunsch, sich in der Tropenmedizin zu betätigen, war in Erfüllung gegangen, und er war mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert: »Neue Symptome, neue Krankheiten und eine zuvor ungekannte menschliche Vielfalt.«175 Hirszfeld reagierte mit einer Reihe von wissenschaftlichen Studien zu Malaria, an der er selbst erkrankte, zu Typhus und zu den Blutgruppen. In seinem bakteriologischen Labor, dessen Personal aus drei Russen, einem Griechen und einigen serbischen Soldaten bestand, entdeckte er unter sehr improvisierten Bedingungen einen neuen Krankheitserreger, den er Paratyphus C nannte (später erhielt er nach seinem Entdecker den Namen Salmonella hirszfeldi), und entwickelte einen neuen Impfstoff gegen Typhus. Nachdem er Marshall Mišić persönlich davon überzeugt hatte, den Stoff anzuwenden, wurden über 100.000 Soldaten damit ge170 Die Zahl der Soldaten variiert je nach Quelle von 300.000 bis 500.000, Mikanowski nimmt 500.000 an, siehe Mikanowski, Hirszfeld’s War, S. 108. 171 Ebd. 172 Bernardina Fantini, Malaria and the First World War, in: Eckart, Gradmann, Medizin und Erster Weltkrieg, S. 241-272, S. 243. 173 Ebd., S. 250. 174 Mikanowski, Hirszfeld’s War, S. 112. 175 Ebd., S. 104. 103

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gen Typhus immunisiert.176 Am 10. Dezember 1918 berichtete er darüber in der Medizinischen Gesellschaft Salonikis. Neben einer Verbesserung der Herstellung von Impfstoffen führte Hirszfeld Bluttransfusionen in den Alltag der serbischen Armee ein und schulte zahlreiche Mitarbeiter in Bakteriologie. Einige von ihnen fanden sich nach dem Krieg auf verantwortlichen Positionen im Gesundheitssystem Jugoslawiens wieder: Stefan Ivanić leitete das Hygienische Institut in Belgrad, Kosta Todorović erhielt eine Professor für Infektionskrankheiten, Milutin Ranković wurde Leiter der Diagnostik im Belgrader Krankenhaus, Doktor Simić Professor für Bakteriologie und der bereits erwähnte Aleksa Savić Gesundheitsminister.177 Diese Netzwerke pflegte Hirszfeld nach dem Weltkrieg weiter. In verzweifelter Lage im Jahr 1940 war es Jugoslawien, wohin er – erfolglos – ein Ausreisegesuch stellte. Und so war es auch kein Zufall, dass die einzige Übersetzung von Hirszfelds Autobiographie in der Zeit von 1945 bis 2011 auf diesen Netzwerken aufbaute und 1962 auf Serbokroatisch erschien.178 Neben seinen diagnostischen und epidemiologischen Arbeiten stellten Hirszfeld und seine Frau Hanna auf dem kolonial geprägten Experimentierfeld Saloniki fest, dass sie sich unerwartet in der außergewöhnlichen Situation befanden, die zuvor mit Emil von Dungern begonnenen Studien zu einem möglichen Zusammenhang von Blutgruppen und »Rassen« fortzusetzen. Sie nutzten die von Medizinern und Anthropologen explizit formulierten Möglichkeiten, die nur die Begleitumstände des Krieges für die Forschung schufen: »Through the accident of war, we happened to come to a part of the globe where more than elsewhere various races and peoples are brought together, so that the problems we are discussing, which otherwise would have necessitated long years of travel, could be brought in a relatively short time near to solution.«179 Die Hirszfelds nahmen von über 8000 Testpersonen aus 16 verschiedenen ethnischen Gruppen Blut ab, von Engländern, Franzosen, Bulgaren, Senegalesen, Vietnamesen, Indern und vielen mehr. Hilfreich für die Durchführung war ein neuer Test zur Bestimmung von Blutgruppen, der während des Krieges von zwei Amerikanern entwickelt worden war. Die176 177 178 179

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Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 61; Duraković, Serbia, S. 274. Mikanowski, Hirszfeld’s War, S. 112; Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 62. Ludwik Hiršfeld, Istorija jednog života, Beograd 1962. Hirschfeld, Hirschfeld, Serological differences between the blood of different races: the result of researches on the Macedonian front, in: The Lancet 197/2 (1919), S. 675-79, S. 677.

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ser schnelle Test machte auch Bluttransfusionen während des Krieges erheblich einfacher.180 Diese Gruppe hatte für eine anthropologische Untersuchung von Blutgruppen ganz entscheidende Vorteile, oder, wie Hirszfeld es ausdrückte: »Das Material an der mazedonischen Front war ganz besonders günstig, da es sich um Soldaten handelte, die in dem gleichen Klima lebten, mit Ausnahme der Inder, die Vegetarianer waren, die gleiche Nahrung erhielten und den gleichen Krankheiten ausgesetzt waren und bei welchen Familienzugehörigkeit eine geringe Rolle spielte.«181 Die Soldaten waren unterschiedlicher Nationalität, es gab ausreichend Testpersonen eines jeden »Rassetyps«, wie die Hirszfelds sie nannten, und sie waren untereinander nicht verwandt, so dass jegliche Möglichkeit einer Vererbbarkeit ausgeschlossen werden konnte. Die Gruppe erwies sich daher als ideales Untersuchungsprojekt.182 Und das, wovon Hirszfeld mit von Dungern geträumt hatte, die ganze Welt serologisch zu untersuchen, war nun möglich geworden.183 Diese Utopie einer globalen Untersuchung wäre in Friedenszeiten ein Jahrzehnte lang währendes Projekt mit unzählig vielen Reisen gewesen. Die Hirszfelds profitierten von den Begleitumständen des globalen Krieges und nutzten die Chance, die er ihnen eröffnet hatte. Das Ziel ihrer Untersuchungen war es, die Blutgruppen ihrer Testpersonen in ein Verhältnis zum geographischen Ort ihrer Herkunft zu setzen. Die Hirszfelds kamen dabei zu folgenden Ergebnissen: Erstens stellten sie fest, dass der Prozentsatz an Individuen, die zu den einzelnen Blutgruppen A, B, AB und 0 gehörten, in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen variierte, das heißt, dass A und B in allen »Rassen« vorkamen.184 Zweitens postulierten sie eine Dominanz der Blutgruppe A im europäischen Norden und Westen, die abnahm, je weiter man sich nach Süden und nach Osten bewegte. Bereits Griechen, Bulgaren und Serben wiesen weniger A auf, und auch die untersuchten Russen hatten weniger Blutgruppe A als B als die Europäer im Norden und Westen Europas. Den höchsten Anteil an Blutgruppe B fanden sie bei denjenigen, die am weitesten im Osten lebten, bei den Bewohnern Indochinas und den Hindus im Süden Asiens. Blutgruppe A brachten sie vor allem mit einem weißen, europäischen Typ in Verbindung, während sie 180 William H. Schneider, Ludwik Hirszfeld: A Life in Serology, in: Archiwum Immunologiae et Therapiae Experimentalis 50/6 (2002), S. 355-359, S. 356. 181 Ludwik Hirszfeld, Die Konstitutionslehre im Lichte serologischer Forschung, in: Klinische Wochenschrift 3/26 (1924), S. 1180-1186, S. 1183. 182 Boaz, Serology, S. 27. 183 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 64. 184 Hirschfeld, Hirschfeld, Serological Differences, S. 677. 105

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&FF)IV~'MSGLIQMWGLI7EWWIRMRHI\nMRHIV>IMXWGLVMJX~8LI1ERGIXnMRHIV die Hirszfelds ihre Ergebnisse publizierten. Die Tabelle zeigt die abnehemende -®YJMKOIMXHIV'PYXKVYTTI&YRHHMIKPIMGL^IMXMKI>YRELQIZSR'MR'IZÁPOIVYRKWKVYTTIR LMIVRMGLXKER^^YXVIJJIRHEPW3EXMSREPMX®XIRFI^IMGLRIXZSR ;IWXREGL4WXMILI-MVWGLJIPH-MVWGLJIPHIVSPSKMGEPHMJJIVIRGIW

Blutgruppe B dunkelhäutigen Typen in Afrika, Asien und Indien zuordneten. Anhand einer von ihnen aufgestellten Formel, die in der Folgezeit in Anlehnung an den in der Anthropologie gebräuchlichen Schädelindex als Biochemical Race-Index (»Biochemischer Rassenindex«) bezeichnet wurde, sollte die Verteilung der Blutgruppen innerhalb einer Bevölkerungsgruppe errechnet werden können. Nach dieser Formel wurden die Testpersonen in einen European Type, einen Intermediate Type und einen Asio-African Type eingeteilt. Auf diese Weise hatten die Europäer den höchsten Index (4.6 bis 2.5), während Asiaten und Afrikaner den niedrigsten aufwiesen (weniger als 1). Diese Bewegung und die ungleiche Blutgruppenverteilung wurden mit einem Diagramm visualisiert.185 Dieses fand eine breite Rezeption und wurde immer wieder in anderen Publikationen reproduziert. 185 Siehe dazu Lisa Gannett, James R. Griesemer, The AB 0 Blood Groups: Mapping the History and Geography of Genes in Homo Sapiens, in: Jean Paul Gaudillière, Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), Classical Genetic Research and its Legacy: The Mapping Cultures of Twentieth-Century Genetics, London 2004, S. 119-172. 106

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Dadurch, dass die Hirszfelds ihre Ergebnisse in eine numerische Reihe brachten und mit Zahlen versahen, nutzten sie die »verführerische Attraktion«186 von Zahlen aus und suggerierten mit deren Hilfe einen hohen Grad von Objektivität. Im Ergebnis zogen die Hirszfelds, ausgehend von einer Blutgruppenuntersuchung, erneut eine Verbindungslinie zur Rassenforschung. In der Erklärung der unterschiedlichen Blutgruppenverteilung gingen sie dabei von der Existenz zweier »Urrassen« aus, die sich gemischt hätten, eine in Indien und eine in Nord- oder Zentraleuropa. Der Anthropologe Jonathan Marks hat den Hirszfelds in diesem Zusammenhang im Jahr 1996 vorgehalten, sie hätten die Welt in essentialistische Kategorien von »weiß« und »anders« eingeteilt – dies sei nicht mehr gewesen, als »Volksweisheiten« zu folgen und dem zu entsprechen, was die zeitgenössische Anthropologie vorgegeben habe.187 De facto aber forderten die Hirszfelds damalige anthropologische Gewissheiten über »Rassen« eher heraus, als dass sie sie bestätigt hätten. Ihre Ergebnisse unterminierten erstmals die weitverbreitete Vorstellung, die bereits bekannten »Rassen« (z. B. Afrikaner, Europäer, Asiaten) ließen sich wissenschaftlich eindeutig und leicht gegeneinander abgrenzen: Es ging ja ausdrücklich nicht um »Rassenmerkmale«, die für eine bestimmte »Rasse« spezifisch seien, sondern um die relative Verteilung von Merkmalen, die sich in jeder Bevölkerungsgruppe fanden, aber eben zu unterschiedlichen Prozentzahlen. Das war neu, es veränderte das medizinische Denken über menschliche Vielfalt, es war provokant und wegweisend, und es hätte das Verständnis der Struktur menschlicher Vielfalt grundlegend revolutionieren können: Menschliche Vielfalt, so hätte man argumentieren können, ließ sich gar nicht in »Rassen« einteilen. Aber die Hirszfelds verwendeten – wie viele Forscher nach ihnen und bis heute – herkömmliche Rassenkategorien in ihrem Forschungsdesign, sie operierten mit der epistemologischen Voraussetzung, es gebe »Rassen«, und so schienen ihre Ergebnisse wiederum die Ordnung menschlicher Vielfalt in »Rassen« zu bestätigen. Die Veröffentlichung der Ergebnisse der Hirszfelds wurde vom British Medical Journal zunächst abgelehnt, weil sie, so die Annahme der Redak-

186 So William H. Schneider in A, B, AB und 0. Seroanthropologie: Juden und der biochemische Rassenindex, in: Daniel Tyradellis, Michal S. Friedlander im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin (Hg.), 10+5=Gott: Die Macht der Zeichen, Köln 2004, S. 262. 187 Jonathan Marks, The Legacy of Serological Studies in American Physical Anthropology, in: History and Philosophy of the Life Sciences 18 (1996), S. 345-362, S. 346 f. 107

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tion, für »Ärzte nicht von Interesse« sein würden.188 Hirszfeld kommentierte dies in seiner Autobiographie: So sei es auch Einstein anfangs mit der Relativitätstheorie ergangen und so habe er versucht, sich mit dieser Analogie zu trösten, obwohl ihm die Absage schwer auf der Seele gelegen habe.189 Obwohl er retrospektiv den Eindruck vermitteln wollte, sich der herausragenden Bedeutung seiner Forschungen sicher gewesen zu sein, holte er sich bei seinem nächsten Publikationsversuch doch die Unterstützung englischer Kollegen, so dass die Arbeit dann von dem renommierten britischen Wissenschaftsjournal The Lancet publiziert wurde. Etwas später und ausführlicher noch brachte die französische Zeitschrift L’Anthropologie den Text, erneut unter Vermittlung eines Kollegen von der Front, dem französischen Anthropologen Paul Rival.190 Die Publikation wurde ein einschlägiger Erfolg und begründete einen neuen Forschungszweig innerhalb der Physischen Anthropologie, die sogenannte Seroanthropologie. Sie widmete sich fortan der Verbindung von Blut und »Rassen« und weckte Hoffnungen darauf, das »Problem der Rassen« lösen zu können, worauf im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird.191 Nach Beendigung des Krieges teilte Hirszfeld dem Direktor des Hygienischen Instituts in Zürich, Silberschmidt, am 25. August 1919 nunmehr bereits aus Belgrad mit (wohin er im Frühling 1919 von Saloniki aus abgeordnet wurde), er erwarte von der serbischen Armeeleitung »eine ihm zusagende Anstellung«, und werde daher als Assistent in Zürich zurücktreten.192 In drei Fahrzeugen waren sein Laboratorium und die dazugehörigen Unterlagen nach Belgrad gebracht worden. Dort hatte Hirszfeld damit begonnen, ein bakteriologisches Labor am Zentralen Militärkrankenhaus einzurichten. Die Ständige Epidemiologische Kommission, ein Beratungsgremium für das 1919 in Belgrad neu gegründete Gesundheitsministerium, beschloss in der Folge, ein neues Institut für Sera und Impfstoffe für die Prävention von ansteckenden Krankheiten einzurichten. Viele von Hirszfelds serbischen Kollegen erwarteten, dass er zum Direktor dieses neuen Institutes ernannt werde würde. Aber es kam nicht dazu. Der Arzt und Sanitätsoffizier beim Oberbefehlshaber der Serbischen Armee von 1912-1916, Lazar Genčić, beschrieb, dass vor 188 189 190 191

Boaz, Serology, S. 32. Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 65. Mazumdar, Blood and Soil, S. 188. Leland C. Wyman, William C. Boyd, Human Blood Groups and Anthropology, in: American Anthropologist 37/2 (1935), S. 181-200, S. 181. 192 Archiv der Universität Zürich, AB 1.0428. Auszug aus dem Protokoll des Erziehungsrates des Kantons Zürich vom 10. 9. 1919.

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allem Egoismus und Engstirnigkeit dazu geführt hätten, Hirszfeld diesen Posten vorzuenthalten. Denn man habe befürchtet, sein Können und seine Erfahrungen würden alle anderen in den Schatten stellen. Laut Genčić war es vor allem Milan Jovanović Batut, damals Professor für Medizin in Belgrad und Vorsitzender der Epidemiologischen Kommission, der Hirszfelds Ernennung verhindert haben soll.193 Kurz darauf fuhren die Hirszfelds über Wien nach Polen, wo sie den Entschluss fassten, dort zu verbleiben.194 Mit Schreiben vom 8. Dezember 1919 teilte Hirszfeld der Universität Zürich mit, er werde vom serbischen in den polnischen Heeresdienst übertreten. Nunmehr ersuchte er um die Entlassung als Privatdozent, um seinen Lehrverpflichtungen in Zürich nicht mehr nachkommen zu müssen.195 Im Januar 1920 stellte er sich dann der Gesundheitsabteilung der Polnischen Armee zur Verfügung.196 Seitens des Leiters der Sanitärabteilung des serbischen Kriegsministeriums, Dr. Sima Karanović, erhielt er im Januar einen Brief, der ins Polnische übersetzt als eine Art Referenz dienen konnte und folgende Verdienste auflistete: die Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten in Valjevo, die Tatsache, dass er die Armee auch auf deren schwierigem Rückzug bis zum Dezember 1915 nicht verlassen hatte, die Organisation eines großen bakteriologischen Laboratoriums in Saloniki, wo er neben der bakteriologischen Arbeit Kurse für Ärzte und Studierende gegeben habe, die Einführung von Impfstoffen gegen Typhus und Cholera, mit denen die Truppen während der Zeit an der makedonischen Front und noch heute geimpft würden. Karanović würdigte sowohl seine Organisation von bakteriologischen Arbeitsstätten bei der Armee 1918 als auch seine Truppenbesuche an der Front als Mitglied der Kommission für den Kampf gegen ansteckende Krankheiten beim Generalstab. Nicht zuletzt hob er seinen Einsatz beim Auf bau des Zentralen Militärlabors am Militärkrankenhaus in Belgrad hervor, in dem nun alle bakteriologischen

193 Siehe Jasmina Milanović, Zoran Vacić, Sećanja Ludvika Hiršfelda na Veliki rat, in: Zbornik radova Instituta za savremenu istoriju 13 (2015), S. 41-54, S. 49-50. Ich danke Jasmina Milanović für Hilfe bei der Übersetzung einiger Zitate aus dem Serbischen aus:ǜȔȣȜȥȡȜȞ9,ȤșȘȢȖȡȢȗȥȔȥȦȔȡȞȔ 22.ȢȞȦȢȕȤȔ 1921.ȗȢȘȜȡșǦȤȣȥȞȜ ȔȤȩȜȖțȔȪșȟȢȞȧȣȡȢȟșȞȔȤȥȦȖȢǪǪ,,,(1921), S. 675. 194 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 73. 195 Archiv der Universität Zürich, AB 1.0428. Auszug aus dem Protokoll des Erziehungsrates des Kantons Zürich vom 23. 1. 1920. 196 Centralne Archiwum Wojskowe (CAW ), AP 2496 Ludwik Hirszfeld. Ludwik Hirszfeld an das Sanitärdepartement im Ministerium für Militärangelegenheiten, o. D. 109

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und serologischen Arbeiten ausgeführt würden.197 Seine Verdienste für den serbischen Staat während des Krieges stufte Karanović als groß ein – aber ebenso groß war auch der Wert für Hirszfeld, den er daraus zog, dass der serbische Staat ihn beschäftigt hatte. So konnte er, wie viele andere Forschende auch, von den Begleitumständen des globalen und kolonialen Krieges profitieren, weil seine Forschungen eine erhebliche Beschleunigung erfuhren. Dass die Hirszfelds nicht nach Zürich zurückkehren wollten, erscheint folgerichtig angesichts ihrer vorherigen Einschätzung des Schweizer Lebens als zu ruhig. Die Aussicht, etwas Neues aufzubauen, wozu zunächst sowohl in Serbien als auch in Polen die Möglichkeit bestand, schien ungleich verlockender. Die konkrete Entwicklung war für Hirszfeld nicht vorauszusehen gewesen – wie für viele andere Menschen galt auch für die Hirszfelds, dass es in der Zeit um das Weltkriegsende von 1918 ganz und gar nicht klar war, wie die Zukunft aussehen würde. Die Entscheidung, nach Polen überzusiedeln, war von ihnen nicht von langer Hand vorbereitet worden. Sie erfolgte auch nicht unmittelbar aus dem Impuls, unbedingt in einen lang ersehnten Nationalstaat zurückzukehren – im Lichte der Dokumente erscheint dies eher als eine pragmatische Entscheidung aus der konkreten Situation heraus, in Serbien doch nicht die angemessene Anstellung erhalten zu haben, mit der Hirszfeld gerechnet hatte. Im Einklang mit der erwähnten sinnstiftenden Bedeutung von Biographien und Autobiographien ist sein Umzug nach Warschau als Rückkehr eines verlorenen Sohnes in die Heimat gedeutet worden. Dazu trug Ludwik Hirszfeld selbst bei, denn in seiner Autobiographie inszenierte er seinen Umzug nach Warschau als nationale Heimkehr: Als er im November 1918 von der Unabhängigkeit Polens gehört habe, hätten ihn ein »irrsinniger Taumel« und Rührung ergriffen, Tränen seien vergossen worden. Er beschrieb eine große Sehnsucht nach Polen (»Wie sehr es jetzt das Herz nach Polen zog !«198) und konstatierte: »Nur in der Heimat hat man eine Vergangenheit und eine Zukunft, in der Fremde hat man nur die Gegenwart.«199 Im Frühjahr 1919 habe er seinen Arbeitsplatz noch nicht verlassen können, so Hirszfeld weiter. Davon, dass er im August 1919 noch nach Zürich meldete, er erwarte, in Serbien eine Anstellung zu finden, ist in der Autobiographie keine Rede.

197 CAW AP 2991, Ludwik Hirszfeld, Dr. Sima Karanović an Ludwik Hirszfeld 3. 1. 1919. 198 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 67. 199 Ebd., S. 72. 110

+SVWGLYRKJÇVHEW+IPH*VWEX^WXSǺI Munitionsproduktion und die Geburtsstunde des Czochralski-Verfahrens

Für Czochralski begann der Erste Weltkrieg ebenfalls mit einer Veränderung, weil die Zusammenarbeit mit Wichard von Moellendorff zu einem Ende kam, da jener die AEG verließ. Moellendorff war innerhalb der AEG bereits zuvor zum Direktionsassistenten und Leiter der technischökonomischen Verwaltungsabteilung der Metallbetriebe aufgestiegen.200 Dort war er für die Rohstoff bilanzierung und -planung der Metallbetriebe zuständig.201 Er wechselte 1914 in die dem preußischen Kriegsministerium unterstellte Kriegsrohstoffabteilung (KRA). Es war wohl kein Zufall, dass es von Moellendorff und Walther Rathenau waren, die die Gründung der KRA im August 1914 angeregt hatten, um eine Einsparung von metallischen Rohstoffen durch zentrale staatliche Lenkung zu erzielen – denn die AEG befürchtete wegen der verhängten Einfuhrsperre einen Mangel an Blei und Kupfer, schließlich verbrauchte der Konzern ein Siebtel jeglicher Kupfereinfuhr nach Deutschland.202 Zudem war ein hoher Druck vor allem in den Kernbereichen der Kriegswirtschaft, der Waffen- und Munitionsproduktion, spürbar, ohne die der Krieg ein schnelles Ende gefunden hätte.203 Generell erhoben sich gegen die Verwendung von Ersatzstoffen anfänglich erhebliche Widerstände, sowohl seitens der militärischen Beschaffungsstellen als auch der Weiterverarbeiter und der Endverbraucher, weil der Begriff des »Ersatzstoffs« oft Minderwertigkeit suggerierte und Qualitätseinbußen in Kauf genommen werden mussten. An Czochralskis Arbeitsplatz, der AEG, waren zu Beginn des Krieges zunächst noch ausreichend eigene Vorräte an Rohstoffen vorhanden, so dass sich für das Unternehmen eher das Problem stellte, die Produktion rasch von Friedensprodukten auf kriegswichtige Güter umzustellen. Dies geschah aber nicht sofort, weil unmittelbar nach Kriegsbeginn zunächst Aufträge ausblieben, Arbeitskräfte an der Front waren, der Export so gut wie eingestellt war, was für ein so international ausgerichtetes Unternehmen wie die AEG ein erhebliches Problem darstellte, und Emil Rathenau davon überzeugt war, der Krieg werde bald vorbei sein.204 200 Braun, Konservatismus, S. 181. 201 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 107. 202 Gerhard Hecker, Walther Rathenau und sein Verhältnis zu Militär und Krieg, Boppard am Rhein 1983, S. 206. 203 Chickering, Das Deutsche Reich, S. 30. 204 Hecker, Walther Rathenau, S. 304. 111

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Vor allem nach der Marne-Schlacht im September 1914 stellte die AEG ihre Produktion weitgehend auf den Kriegsbedarf um und war dann eher als kleine Unternehmen in der Lage, größere Heeresaufträge durchzuführen, die sie bereits nach wenigen Kriegswochen erhielt, für Granaten etwa.205 Eine solche Bevorzugung größerer Unternehmen bei Rohstoffzuteilungen und Rüstungsaufträgen blieb ein generelles Merkmal der Kriegswirtschaft.206 Walther Rathenau sah sich daher mit dem Vorwurf sowohl aus Kreisen der Industrie als auch der Politik konfrontiert, er habe die AEG mittels seiner Position in der KRA gegenüber anderen Unternehmen privilegiert und vor allem deren Interessen vertreten.207 Er selbst hatte es sich zum Ziel gesetzt, Zwang und industrielle Selbstverwaltung zur Verwirklichung einer Politik im nationalen Interesse zu verbinden.208 Im Rahmen dieser Politik stieg die AEG während des Kriegs nach Krupp zum zweitgrößten Rüstungsproduzenten des Deutschen Reiches auf.209 Schon Ende 1914 waren 50 Prozent der Arbeiterschaft der AEG mit Kriegslieferungen beschäftigt. Zahlreiche von der AEG produzierte Gegenstände waren im Kriegsfall ohnehin schon unmittelbarer Heeresbedarf gewesen, darüber hinaus war das Unternehmen schon vor dem Krieg an der Produktion von Flugzeugen, Scheinwerfern und der Ausrüstung der deutschen Flotte beteiligt gewesen – die Rüstungsproduktion hatte bei der Entwicklung der AEG bereits vor dem Krieg eine wichtige Rolle gespielt.210 Jan Czochralskis Arbeitsort, das Kabelwerk Oberspree, ging dabei innerhalb des AEG-Konzerns »in wesentlich größerem Umfange als die anderen Fabriken […] zur Kriegsfabrikation über«.211 Nach Wichard von Moellendorffs Weggang war die Leitung des mechanischen Labors der AEG von Wilhelm Wunder übernommen worden. Wunder hatte ein Studium an der Technischen Hochschule Dresden abgeschlossen und war im Juli 1914 bei der AEG als Nachfolger des bereits erwähnten W. Müller, einem Assistenten von Moellendorffs, als Ingenieur angestellt worden.212 Dass Czochralski 205 Ebd., S. 245. 206 Van de Kerkhof, Unternehmensstrategien, S. 234. 207 Hecker, S. 243-248. Siehe auch Shulamit Volkov, Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867 bis 1922, München 2012, S. 139 f. 208 Feldman, Armee, S. 53 f. 209 Siehe Lieselotte Kugler, Die AEG im Bild, Berlin 2001, S. 112 sowie Weiss, Rüstungsforschung, S. 115. 210 Siehe Weiss, Rüstungsforschung, S. 112-113. 211 50 Jahre AEG, S. 192. 212 Dies geht aus der Personalakte von Wilhelm Wunder hervor, die als eine von ganz wenigen Akten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kabelwerks Oberspree erhalten geblieben ist, siehe Museum für Wirtschaft und Technik, Historisches Archiv, I.2.060, PA 02085. 112

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diese Leitung nicht übertragen wurde, könnte mit seinem mangelnden kulturellen Kapital in institutionalisierter Form, also seinen fehlenden Studienabschlüssen zusammenhängen, das sein inkorporiertes kulturelles Kapital, das er als Autodidakt erworben hatte, legitimiert hätte. Als Autorenangabe in seinen Aufsätzen wählte Czochralski zu dieser Zeit Materialprüfungschemiker oder Chemiker, Berufsbezeichnungen, die im Gegensatz zum Diplom-Ingenieur oder Diplom-Chemiker nicht geschützt waren. Wilhelm Wunder hingegen erhielt den Titel Oberingenieur.213 Dieser Titel wurde in der Industrie an hoch geschätzte Praktiker auch ohne Abschluss verliehen. Denn die Industrie bestand darauf, als Ingenieure nicht nur die Absolventen der Technischen Hochschulen anzusehen, sondern bewährte Fachkräfte mit anspruchsvollen Aufgaben zu betrauen und eben zu Oberingenieuren befördern zu können. Dafür setzte sich auch der Verein der deutschen Ingenieure ein, weil etwa drei Viertel seiner Vereinsmitglieder kein abgeschlossenes Hochschulstudium vorweisen konnten.214 Jan Czochralski erhielt diesen Titel bei der AEG aber noch nicht. Bei der AEG könnten die fehlenden Studienabschlüsse seine Aufstiegschancen also limitiert haben – dies sollte sich erst bei seiner nächsten Stelle bei der Metallgesellschaft in Frankfurt am Main ändern. Verantwortungsvolle Aufgaben übernahm er während des Krieges dennoch. Die Arbeiten während des Krieges erforderten seinen ganzen Einsatz. Die nicht fristgerechte Abgabe des Manuskripts für das bereits erwähnte Taschenbuch der Metalltechnik im Jahr 1914 begründeten die Autoren Czochralski und Walther Deutsch am 10. Oktober 1914 damit, dass ihnen infolge des Krieges die Hilfsarbeiter entzogen worden seien und sie »selbst infolge der Fabrikation von Kriegsmaterial in erhöhtem Masse beschäftigt waren«. Die Autoren schlugen einen neuen Termin erst für April 1915, dann für Juli 1915 vor – sie waren wie viele andere auch davon überzeugt, der Krieg werde ein schnelles Ende nehmen.215 Ein Jahr später erwähnte Czochralski erneut, wie sehr der Krieg ihn beanspruchte: In seinem 1916 erschienenen Aufsatz über »Die Metallographie des Zinns und die Theorie der Formänderung bildsamer Metalle« merkte er in einer Fußnote an, die Hauptergebnisse des Aufsatzes »wurden bereits 1914 niederge213 Dazu auch Jürgen Evers u. a., 100 Jahre Einkristallzucht aus der Schmelze: Vom Spreeknie ins Silicon Valley, in: Chemie in unserer Zeit 50/6 (2016), S. 410-419. 214 Wolfgang König, Vom Staatsdiener zum Industrieangestellten: Die Ingenieure in Frankreich und Deutschland 1750-1945, in: Walter Kaiser, Wolfgang König (Hg.), Geschichte des Ingenieurs. Ein Beruf in sechs Jahrtausenden, München, Wien 2006, S. 179-231, S. 206. 215 Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Historische Sammlungen, Archiv Julius Springer-Verlag, Korrespondenz Czochralski, Czochralski und Deutsch an Friedrich Springer, 1. 10. 1914. 113

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legt, infolge völliger Inanspruchnahme bei der Herstellung von Kriegsmaterial war es dem Verfasser jedoch nicht möglich, die Arbeit schon früher druckfertig zu machen und zu veröffentlichen.«216 Hier wird wie auch im Fall von Ludwik Hirszfelds Laboratorium deutlich: Es gab wenig Routinen für die Kriegssituation, man musste improvisieren und in diesem Fall auch Forschung bzw. die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse zurückstellen. Das Kabelwerk nahm seit 1914 die Fabrikation von Feldkabeln, von Stacheldraht, von Wurfminenbändern, von Zündern aus Bronze und Aluminium sowie von Schrapnellkugeln auf. Außerdem übernahm es die Metallbearbeitung für verschiedene Gegenstände wie Bettstellen, Tragbahren, Munitionswagen und Feldküchen. Seit 1915 intensivierte die AEG die Munitionsherstellung, ganze Fabrikteile widmeten sich nur noch dieser Aufgabe. Wegen der immer knapper werdenden ausländischen Rohstoffe musste vor allem für Kupfer und Zinn Ersatz geschaffen werden. Versuche mit Zink und Aluminium traten neben den Versuch, Kupfer aus Altmaterial rückzugewinnen, wozu das Kabelwerk bereits 1915 große Anlagen erbaut hatte.217 Seit 1915 wandten sich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kabelwerks verstärkt den wissenschaftlichen Problemen der Waffen- und Munitionsherstellung zu.218 Für die Hinwendung zur Wissenschaft waren Fehlentwicklungen verantwortlich, bei der die Militärverwaltung etwa den Versuch, kupferne Granatringe durch solche aus Messing zu ersetzen, wieder aufgeben musste, weil die wissenschaftliche Vorbereitung gefehlt hatte – sie war offenbar unterschätzt worden. Eine Ersatzmaßnahme konnte erst nach einer technischen Analyse des Leistungsspektrums sowie der Beanspruchung eines Werkstoffs vorangehen – man konnte z. B. nicht einfach Maschinenteile aus Kupfer durch solche aus Stahl ersetzen. Zunächst musste ein neuer Stoff hinsichtlich seiner Festigkeit, der Dehnbarkeit, der Sprödigkeit, der Korrosionsneigung oder der Beständigkeit gegenüber chemischen Substanzen geprüft werden.219 Erst dann konnte die eigentliche Forschungsarbeit aufgenommen werden – Ersatzstoffforschung war angewandte Forschung, die auf Ausprobieren beruhte.220 Jan Czochralski bezeichnete daher die Metallkunde, die sich unter anderem der wissenschaftlichen 216 Jan Czochralski, Die Metallographie des Zinns und die Theorie der Formänderung bildsamer Metalle, in: Metall und Erz 13 (1916), S. 381-393, S. 388. 217 50 Jahre AEG, S. 204. 218 Ebd., S. 201. 219 Günther Luxbacher, Ersatzstoff, Sparstoff, Heimstoff. Metallforschung in Deutschland 1920-1970, in: Karin Orth, Willi Oberkrome (Hg.), Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920-1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010, S. 163-181, S. 165. 220 Ebd. 114

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Seite dieser Stofferprobung verschrieben hatte, als eine »Erfahrungswissenschaft«.221 Wegen der erforderlichen Versuche konnte Munition aus Ersatzstoffen erst 1917 in größerem Umfang hergestellt werden.222 Viele Versuche zu einzelnen Legierungen, die die Militärverwaltung in Auftrag gegeben hatte, mussten auch abgebrochen werden, weil sich ihre Ergebnisse in der Produktionsphase nicht bewährten.223 Die AEG hatte bei der Erforschung von Ersatzstoffen und ihrer anschließenden Produktion sowohl Erfolge als auch Misserfolge zu verzeichnen. Bereits 1916 gelang es dem Metalllabor im Kabelwerk als erster Munitionsfabrik, Kartuschenhülsen aus Stahl als Ersatz für solche aus Messing herauszubringen.224 Weniger Anklang fanden Probestücke der AEG aus einer Zink-Aluminium-Zinn-Legierung.225 Das Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt war aber von den Stahlhülsen so überzeugt, dass es die Massenherstellung einleiten ließ. Es stellte die Prüfungsmethoden der AEG bei den Artilleriehülsen ebenso wie die vom Kabelwerk für die Fabrikation geschaffene Spezialeinrichtung gegenüber der übrigen Munitionsindustrie als Vorbild hin.226 Die AEG bewertete ihre Prüfungsverfahren für Stahlbleche ähnlich: »Die Prüfmethoden haben es neben dem Ausbau der übrigen Fabrikation ermöglicht, ein absolut einwandfreies Fabrikat als Ersatz für Messinghülsen herauszubringen.«227 Im Jahr 1916 hatte die AEG ihre Produktion vollständig auf Kriegsbedürfnisse umgestellt und integrierte die Munitionserzeugung bereits in ihre Planungen für die Fabrikation in Friedenszeiten.228 In diesem Jahr wurden täglich 15.000 Stück der Stahlkartuschenhülsen geliefert, 1917 waren es 50.000 Stück, und an Mörserhülsen bis zu 21 cm Durchmesser 1400 Stück.229 Denn, so hieß es auf einer »Sparmetallsitzung« der KRA, »da sich die ersten Hülsen aus Stahl der AEG für Mörser gut bewährt haben, empfiehlt es sich vielleicht, gleich ein paar Tausend in Auftrag zu geben. Die Fussartil221 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft (AMPG), I. Abt., Rep. 1A, 1878, Bl. 258-261. 222 BA Lichterfelde, R 3101-4351, Reichwirtschaftsministerium, Schriftsatz Metalle vom 10. 9. 1918. 223 BA Lichterfelde, R 8752, Bestand der Metallmeldestelle. 224 Betriebsarchiv des VEB Kabelwerk Oberspree, Berlin-Oberschöneweide (in der Folge nur noch mit KWO bezeichnet), Archiv Nr. 899/11/9, Technischer Bericht Nr. 333, zitiert nach Hans Radandt, AEG. Ein typischer Konzern, Berlin (Ost) 1958; auch AEG 1883-1923, Berlin 1924, S. 27. 225 Hecker, Walther Rathenau, S. 308. 226 50 Jahre AEG, S. 201. 227 Museum für Wirtschaft und Technik, Historisches Archiv, I.2.060, PA 02085, Personalakte Wunder, Bl. 240. 228 50 Jahre AEG, S. 201 und Hecker, Walther Rathenau, S. 350. 229 Radandt, AEG, S. 9 f. 115

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lerie will bei den Hülsen der AEG bleiben. Auch Messinghülsen mit Stahlböden sind weiter zu versuchen.«230 Ebenso gelang es dem Kabelwerk, einen rohrsicheren Zünder für Granaten herzustellen. Es wurden Zünder aus Aluminium gepresst, Feldpatronenhülsen von zeitweise bis zu 5000 Stück täglich und Schrapnell-Kugeln aus Hartblei hergestellt. Die massenhafte Herstellung von Munition ging bis in die zweite Jahreshälfte 1917 weiter. In der Verarbeitung von Zink konnte das Metalllabor ebenfalls einen Erfolg verbuchen, weil die Verarbeitung von Zink, »dessen Grobkristallinität bisher unüberwindliche Schwierigkeiten zu bieten schien, zu Stangen und Draht« gelang.231 Ziel der AEG war es, sich von Metallen, die sie in hohem Maße verarbeitete, unabhängig zu machen oder sie selbst herzustellen, und dazu gehörte Zink: »Vor allem handelte es sich um Zink, das infolge des Krieges eine bedeutende Erweiterung gefunden« hatte.232 Im März 1917 berichtete die AEG, dass ihre ganze Leistungsfähigkeit in der Zinkzieherei auf Anordnung des Waffen- und Munitionsbeschaffungsamtes (WuMBA) für Munition in Anspruch genommen sei, so dass sie keine Drähte mehr für elektrische Leitungen herstellen könne.233 In der Drahtfabrik wurden Feldkabel und gummiisolierte Zinkleitungen für Installationsdrähte sowie Stacheldraht produziert.234 Der exakte Anteil von Jan Czochralski an den hier angeführten Aufträgen, Tätigkeiten, Forschungen und Erfindungen während des Ersten Weltkriegs ist nicht zu ermitteln, was zum einen an der beschriebenen Quellenlage liegt, zum anderen aber auch daran, dass es für kaum eine Erfindung den einen Entdecker oder die eine Entdeckerin gegeben hat, sondern diese als Ergebnis von Prozessen im Labor entstanden sind, an denen mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt waren. Da er sich in einem späteren Bewerbungsschreiben als »Betriebsleiter im Hülsenbau« und »Leiter eines Speziallaboratoriums für Stahl und Eisen mit Betriebsaufsicht über die einschlägige Fabrikation« bei der AEG bezeichnete, vollzogen sich diese Arbeiten von der wissenschaftlichen Entwicklung bis zur Produktion zum Teil unter seiner Leitung.235 Die Militarisierung des Metalllabors für die Zwecke des Krieges konnte kaum deutlicher hervortreten – diese Militarisierung hat Czochralski nachhaltig beeinflusst. Für die AEG jedenfalls zahlte sich die Kriegsproduktion aus: Wie die meisten 230 BA Lichterfelde, R 8752-12, Metallmeldestelle. 56. Sparmetallsitzung am 20. 3. 1917 231 AEG 1883.1923, Berlin 1924, S. 27. 232 BA Koblenz, N 1158-102 Nachlass Wichard von Moellendorff, Briefwechsel mit der Metallbank und AEG vom 19. 9. 1915 und 30. 9. 1915. 233 BA Lichterfelde R 8752-12, Metallmeldestelle, 55. Sparmetallsitzung vom 20. 3. 1917. 234 Radandt, AEG, S. 9. 235 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 7. 116

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Unternehmen, die ihre Produktion auf die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft ausrichteten, konnte auch sie hohe Kriegsgewinne verbuchen.236 Die Kriegsfabrikation brachte der AEG eine Umsatzsteigerung auf 534 Millionen im Jahr 1916/17, wovon 245 Millionen Mark auf reines Kriegsmaterial entfielen.237 Die Gewinne wurden zum Teil in den Ausbau der Rüstungsproduktion investiert, der Konzern zahlte in den Kriegsjahren aber auch eine Dividende von 12-14 Prozent.238 Der Arbeitskräftemangel verursachte dabei einen Zwang zur Mechanisierung und Rationalisierung; er führte aber auch dazu, dass russische und französische Kriegsgefangene zu Arbeiten herangezogen wurden. Ab 1917 ging das Kriegsgeschäft allmählich zurück, weil die Produktion den Bedarf der Front schon im Sommer 1917 zu übersteigen begann.239 Ersatzstoffe wurden aber nicht nur für die Produktion von unmittelbarem Heeresbedarf benötigt, sondern auch für den Alltagsgebrauch. Das Kabelwerk stellte zum Beispiel die Münzplättchen für eiserne Zehnpfennigstücke her, die zu Beginn des Jahres 1916 wegen des Mangels an Nickel massenhaft in Umlauf gebracht wurden, um dem herrschenden Mangel an Kleingeld entgegen zu wirken. Für die Maßnahmen der Ersatzstoffwirtschaft versuchten die verantwortlichen Firmen und Behörden Akzeptanz zu schaffen. Ein besonders geeignetes Mittel dafür schienen Ausstellungen zu sein.240 So organisierte die Metallfreigabestelle, eine Kommissionärin der Kriegsmetall-AG, die für die Kontingentierung von Metallen zuständig war, eine »Ausstellung von Ersatzstoffen« in den Ausstellungshallen am Zoologischen Garten in Berlin, die neben der Information auch dem Zweck diente, sich selbst zu vergewissern und zu zeigen, »dass auch bezüglich der Rohstoffe ein Durchhalten auf beliebige Kriegsdauer möglich sei«.241 Während diese Ausstellung eher für Industrielle gedacht war und ihre Besucher zur Geheimhaltung des Gesehenen verpflichtet waren, öffnete die AEG 1916 ihre Werkshallen für eine öffentliche »Ausstellung für Kriegsersatzstoffe«, in der vor allem elektrotechnische Produkte gezeigt wurden. Die Ausstellung zeigte die Möglichkeiten auf, statt Kupfer und Messing Eisen, Zink oder Aluminium zu verwenden. Der Katalog benannte aber auch die Schwierigkeiten, die etwa beim Gebrauch von Zink auftraten, weil es eine geringere Festigkeit als 236 237 238 239 240

Ziegler, Kriegswirtschaft, S. 312. 50 Jahre AEG, S. 202. Radandt, AEG, S. 9. Hecker, Walther Rathenau, S. 405. Siehe Günther Luxbacher, Wertarbeit mit Ersatzstoffen? Ausstellungen als Bühne deutscher Werkstoffpolitik 1916 bis 1942, in: Dresdner Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften 31 (2006), S. 3-24, S. 4. 241 Zeitschrift des Vereins der Deutschen Ingenieure, 60/15, 8. 4. 1916. 117

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Eisen oder Kupfer aufwies und sowohl bei niedrigen Temperaturen als auch bei solchen über 150 °C spröde und brüchig wird. Er verwies auf die zahlreichen erforderlichen Versuche, um die »Zweckmäßigkeit dieses oder jenes Ersatzmaterials festzustellen«.242 Im Rahmen dieser Versuche entstand auch das Verfahren, wofür der Name Czochralski vor allem bekannt wurde und bis heute bekannt ist. Der Legende nach war es einer zufälligen Entdeckung im Jahr 1916 geschuldet: Im Metall-Laboratorium der AEG in Berlin-Oberschöneweide hatte Czochralski seine Schreibfeder versehentlich in einen Schmelztiegel mit flüssigem Zinn anstatt in ein Tintenfass getaucht. Als er die Schreibfeder dann vorsichtig herauszog, entdeckte er einen Faden von Kristallen, den die Feder nach sich zog. Damit hatte er die Grundlagen für ein Verfahren gelegt, nach dem heute die meterlangen und bis zu hundert Millimeter dicken Einkristalle aus reinem Silizium für die Halbleiterforschung gezüchtet werden.243 1918 veröffentlichte Czochralski das Verfahren, das zunächst nur dazu diente, die Kristallisationsgeschwindigkeit von Metallen zu messen, um daraus Erkenntnisse zur Beschaffenheit eines Stoffes zu generieren, in einer Fachzeitschrift.244 In den 1950er Jahren entdeckte das Labor Bell in den USA die oben genannte Methode für die Massenproduktion von Siliziumkristallen und benannte die Kristallzüchtungsmethode nach ihm.245 99 Prozent aller Halbleiterbauteile bestehen heute aus monokristallinem Silizium. Daher verdankt die Welt dieser Methode, die seither mehrfach weiterentwickelt worden ist, heute fast die gesamte Mikroelektronik aus Silizium – Fernseher, Chipkarten, Computer und Mobiltelefone. Insgesamt 95 Prozent der Weltproduktion an einkristallinem Silizium, das für diese Mikroelektronik notwendig ist, wird nach dem Verfahren hergestellt, das Czochralski entdeckt hatte.246 In einem Text aus dem Jahr 1925 bezeichnete Czochralski das Verfahren zur Erzeugung von Kristallfäden selbst als einen »merkwürdigen Zufall«, den er dann auf das Jahr 1917 datierte.247 Die Grundlagen für die fundierte Beschreibung seiner »zufälligen« Entdeckung und ihrer Methodik 242 AEG (Hg.), Ausstellung von Ersatzstoffen für Industrie und Gewerbe, Berlin 1916, S. 3. 243 Auf das Verfahren wird in Kapitel 7.2 näher eingegangen. 244 Jan Czochralski, Ein neues Verfahren zur Messung der Kristallisationsgeschwindigkeit der Metalle, in: Zeitschrift für Physikalische Chemie 92 (1918), S. 219-221. 245 Tomaszewski, Powrót, S. 51. 246 Jürgen Evers, Peter Klüfers, Rudolf Staudigl, Peter Stallhofer, Czochralskis schöpferischer Fehlgriff: ein Meilenstein auf dem Weg in die Gigabit-Ära, in: Angewandte Chemie 115 (2003), S. 2-17. 247 Jan Czochralski, Metallkunde und physikalische Forschung, in: Zeitschrift für Metallkunde 17/1 (1925), S. 1-11, S. 2. 118

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hatte Czochralski aber nicht allein gelegt, sie war auch dem Labormilieu bei der AEG und seinem Gründer von Moellendorff mit zu verdanken. Die Versuche, die im Rahmen der Ersatzstoffforschung in diesem Labormilieu unternommen wurden, waren häufig auf schnelle Lösungen im Rahmen der Anforderungen der Kriegswirtschaft ausgelegt. Gleichwohl dachte man, dass für eine Reihe von Erzeugnissen das »Ersatzmaterial« das Bleibende sein werde – eine sich zum Teil erfüllende, zum Teil recht trügerische Hoffnung, wie sich später herausstellen sollte.248 Dennoch wurde zuweilen eine große Euphorie mit der Ersatzstoffforschung verbunden oder zumindest propagiert, weil man glaubte oder glauben wollte, man könne das deutsche Rohstoffproblem damit dauerhaft lösen. So umschrieb der Vorsitzende des Vereins der deutschen Ingenieure, Anton von Rieppel, die Zukunftsaufgaben für Ingenieure für die Zeit nach dem Krieg wie folgt: »Die technische Wissenschaft hat als erste Aufgabe zu erachten, für alle Stoffe, die wir bisher aus dem Ausland beziehen mussten, […] Ersatz zu beschaffen. Die Fortschritte, die nach dieser Richtung innerhalb der 27 Kriegsmonate gemacht wurden, stehen in der Geschichte einzigartig dar. Mit Friedensschluss wird unsere wissenschaftliche und praktische Technik im gleichen Sinne weiterarbeiten.«249 Rieppel behauptete also nicht nur eine äußerst erfolgreiche Geschichte der Ersatzstoffforschung, sondern leitete aus den Kriegserfahrungen darüber hinaus ab, dass der Einfluss der Technik und somit die Bedeutung der Ingenieure im öffentlichen Leben steigen müssten.250 Mit diesen Gedanken konnte sich auch Jan Czochralski anfreunden, der sie in ähnlicher Form nach 1918 vielfach äußern sollte, worauf zurückzukommen sein wird. Das Kriegsende erlebte Czochralski schon nicht mehr bei der AEG – im Juli 1917 fing er als Metallurge bei der Metallbank und Metallurgischen Gesellschaft, der späteren Metallgesellschaft in Frankfurt am Main, an, bei der er sich im Juni 1917 beworben hatte.251 Weil mit dieser Anstellung noch vor Kriegsende ein neuer Abschnitt in seinem Leben begann, wird diese Zeit im kommenden Kapitel behandelt.

248 AEG, Ausstellung von Ersatzstoffen, S. 2-3; 50 Jahre AEG, S. 197-204. 249 Anton von Rieppel, Richtlinien für die Zukunftsaufgaben der deutschen Ingenieure, in: Zeitschrift des Vereins der deutschen Ingenieure 16/1 (1917). 250 Siehe Adelheid Voskuhl, Ambivalenz im Versprechen. Fortschritt und Untergang in der Technikphilosophie der Weimarer Republik, in: Uwe Fraunholz, Anke Woschech (Hg.), Technology Fiction. Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne, Bielefeld 2012, S. 25-39, S. 31 f. 251 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 1 und 38. 119

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3.7 Herausforderung Krieg und Kriegswissen

Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski waren auf der einen Seite an der Suche nach Lösungen für die Probleme, die der Krieg schuf, beteiligt. Sie nutzten dabei auf der anderen Seite die Möglichkeiten, die ihnen der Krieg für ihre Forschungen eröffnete. Der Erste Weltkrieg forderte sie und förderte sie, er eröffnete ihnen als riesiges Experimentierfeld Chancen, wie er Risiken für sie bereithielt – er forderte Hirszfeld als Mediziner, der mit Tausenden von Verwundeten und Kranken zu tun hatte, und er bot ihm gleichzeitig die Möglichkeit, auf nicht ganz ungefährlichem Terrain in Serbien und an der mazedonischen Front Forschungen und Blutuntersuchungen in großem Maßstab durchzuführen. Diese führten zur Entstehung der neuen Forschungsrichtung der Seroanthropologie: Die globale Natur dieses Krieges nahm für ihn eine entscheidende Bedeutung an, auch, weil er in einem globalen Wissensraum seine Netzwerke erweiterte, von denen er zu späteren Zeiten profitieren sollte. Von Jan Czochralski wiederum forderte der Krieg höchsten Einsatz bei der Suche nach Ersatzstoffen für die rüstungsorientierten Erfordernisse der AEG. Sein Experimentierfeld unterschied sich von dem Hirszfelds, weil es deutlich nationaler ausgerichtet war: Mit seinen Tätigkeiten während des Weltkriegs entsprach er den Anforderungen der deutschen Industrie und der Ersatzstoffforschung und prägte sie mit. Er trug mit seinen praktischen und theoretischen Arbeiten dazu bei zu zeigen, dass für viele Anwendungen auf andere Metalle als diejenigen ausgewichen werden konnte, die zu knappem Gut geworden waren, und arbeitete mit seinen Möglichkeiten daran, die Abhängigkeit der deutschen Industrie von Importen zu verringern. Aus diesen durch die Anforderungen der Kriegswirtschaft entstandenen Forschungen bot sich ihm die Möglichkeit, sich zu profilieren und für spätere Aufgaben zu empfehlen. Die wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen, die Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski während des Krieges machten und die ursächlich den Begleiterscheinungen des Krieges zuzurechnen sind, beruhten dabei zunächst auf einem großen Unterschied: Während ersterer auf seine »Forschungsobjekte« und -stoffe, die kranken oder gesunden menschlichen Körper sowie ihr Blut plötzlich in großer Menge zugreifen konnte, hatte Jan Czochralski es mit einem eklatantem Mangel seiner Stoffe, besonders der sogenannten »Sparmetalle« zu tun, an dessen Behebung er mitwirken sollte. An dieser Stelle zeigt sich die große Bedeutung von Materialitäten und nicht-menschlichen Akteuren, die Forschungsergebnisse in hohem Maße beeinflussten. Im Ergebnis der Beschäftigung mit diesen Stoffen finden sich aber Gemeinsamkeiten 120

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vielfältiger Natur: Beider Erfahrungen und Erkenntniszuwächse verbanden sich mit großen und zuweilen fast euphorisch vorgetragenen Hoffnungen auf Lösungen für Probleme, deren Erforschung als zentrale Herausforderungen der Moderne galten: die menschliche Vielfalt sowie die Rohstofffrage. Die damit verbundenen Disziplinen, die Medizin sowie die Anthropologie und die Metallurgie, wurden während des Krieges von Nationalstaaten in die Pflicht genommen und ließen sich in die Pflicht nehmen – eine Konstellation, die sich nach 1918 nicht änderte. Für Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld stellte der unmittelbare staatliche Zugriff auf ihre Forschungsfelder und ihr Wissen während des Krieges eine verhältnismäßig neue Situation dar. Aufgrund ihres Vorwissens konnten und wollten sie diesen Anforderungen gerecht werden. Durch diesen Zugriff waren politische Freiheiten der Disziplinen verloren gegangen und Grundlagen für eine dichtere Verflechtung von Expertenwissen und Politik gelegt worden. Die großen Felder der Großindustrie, des Militärs und der Biopolitik erwiesen sich in der Ausnahmesituation des Kriegs als immens wichtig für den Staat, ohne den diese Felder aber gleichfalls nicht existieren konnten. Der Staat bildete in dieser Konstellation vor allem einen Ermöglichungsrahmen für die Bedürfnisse der Systeme Industrie und Militär, die wiederum auf wissenschaftliche Neuerungen angewiesen waren – jene entsprangen dann auch vielfach deren Bedürfnissen. So lassen sich auch die Ergebnisse der Ersatzstoffforschung oder die Neuerungen in Fragen von Bluttransfusionen und Epidemienbekämpfung deuten. Die Verflechtung von Staat, Wissenschaft und Militär ließ in den folgenden Jahren ein System entstehen, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Ingenieure eine immense Bedeutung erlangen sollten.252 In diesem System etablierte sich Jan Czochralski über seine Arbeiten im Krieg. Dies gilt ebenso für die Medizin, die in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus zu einer »Steigbügelhalterin einer biopolitischen Diktatur« wurde.253 Auch wenn Ludwik Hirszfeld die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum nach 1918 bereits aus dem Nachbarland Polen beobachtete, blieb er davon nicht unberührt, weil bestimmte Entwicklungen europaweit und transnational verflochten waren. Die Strukturen in Polen im Zeitraum 1918-1939 blieben davon nicht unberührt – wie sich die Nachkriegsverhältnisse unter anderen Voraussetzungen im jungen Nationalstaat Polen nach 1919 gestalteten 252 Siehe Gay Hartcup, The War of Invention. Scientific Developments, 1914-1918, London u. a. 1988, S. vii. 253 Eckart, Medizin und Krieg, S. 20. 121

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und welche Rolle Medizin und Biopolitik in der Nationalstaatsbildung spielten, wird in den folgenden Kapiteln beleuchtet werden. Anhand der Leben der beiden Protagonisten ließ sich deutlich zeigen, dass der Krieg neue Konstellationen für die Forschung konstituierte. Er wirkte als Forschungsbeschleuniger, als Mittel zur Professionalisierung und Verwissenschaftlichung beider Disziplinen. Beide Forscher nahmen Wissensbestände, die bereits vor dem Krieg existierten, auf und passten sie an die Anforderungen des Kriegs an. Durch diese Transformation stabilisierten sie bereits vorhandene Wissensbestände. Das Erfahrungskapital, das beide während des Krieges so aufbauen konnten, wurde zu einem Ausgangspunkt, sich während des Krieges und vor allem in der Nachkriegszeit als Experten noch stärker als zuvor lokal und global zu etablieren. Die Ressourcen, die sie in ihren Laboratorien nur aufgrund der Konstellation Krieg mobilisieren konnten oder mussten, konnten sie in die Nachkriegsordnung transferieren. Die Tatsache, dass die Entstehung und die Erweiterung ihrer Wissensbestände ursächlich mit Krieg und dessen Folgen zusammenhingen, die sozialen Kosten und Opfer also hoch waren und die Wissenschaft für den Krieg und nationalistische Zwecke in den Dienst genommen wurde, unterlag dabei keiner besonderen Problematisierung ihrerseits. Dies verwundert insofern nicht, als es im Deutschen Reich in der Wissenschaft verbreitet war, den Krieg als Gelegenheit zu betrachten, Erkenntnisse zusammenzutragen und in der Theorie Erforschtes in der Praxis anzuwenden. Sie erhofften sich, wie erwähnt, Wissenszuwächse, die unter zivilen Bedingungen nicht erworben werden konnten. Eine Zäsur stellte der Weltkrieg wohl für allem für Ludwik Hirszfeld und seine Frau Hanna dar, weil für beide nach dem Krieg ein neues Kapitel in Polen begann. Auf der anderen Seite überführten sie, wie auch Jan Czochralski, ihr im Krieg akkumuliertes Wissen recht nahtlos in die folgende neue Staatsordnung. Beide Wissenschaftler dürften sich aufgrund des Krieges mehr als je zuvor der Tatsache bewusst geworden sein, in welchem Maße sie – genau wie viele andere Expertinnen und Experten auch – mithilfe von technischer und medizinischer Forschung (und Lehre) zum einen von gesellschaftlichem Nutzen, zum anderen aber auch von erheblicher zerstörerischer Kraft sein konnten.254 Denn als Angestellter der AEG auf der innovativen Suche nach Ersatzstoffen war Czochralski Teil eines kriegswirtschaftlichen Systems, in dem die AEG zum zweitgrößten Rüstungs254 Pim Huijnen, Zwischen Gemeinwohl und Privatinteresse. Der Wissenschaftler als Vitaminexperte, in: Forschungsberichte aus dem Duitsland Instituut Amsterdam, Universiteit van Amsterdam 5 (2009), S. 48-59, S. 49. 122

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produzenten im Deutschen Reich aufstieg und somit nicht unwesentlich daran beteiligt war, Produkte herzustellen, deren alleiniger Zweck es war, der Tötung von Menschen zu dienen.

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4 Transferieren, aufbauen und übersetzen In diesem Kapitel geht es um die Zirkulation und die Verflechtung von Wissen nach 1918. Thema ist zunächst der Transfer von Wissen aus der spezifischen Kriegskonstellation in die darauffolgenden Nachkriegsordnungen: Viele Wissensakteure, darunter auch Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski, trugen das im Krieg gewonnene Wissen in die zivile Ordnung, passten es an die neuen Gegebenheiten an, institutionalisierten es und speisten es in die globale Zirkulation ein. Zwar hatte der Erste Weltkrieg mit der damit einhergehenden extremen Nationalisierung von Wissenschaft und Technik zunächst dazu geführt, dass Austausch über staatliche Grenzen hinweg eingeschränkt wurde. Zudem verlor die von Hirszfeld maßgeblich verwendete Wissenschaftssprache Deutsch erheblich an Einfluss zugunsten von Französisch und Englisch, weil neue wissenschaftliche Institutionen wie der International Research Council (IRC) oder auch die Rockefeller-Stiftung sich für einen Boykott des Deutschen als Wissenschaftssprache einsetzten.1 Dennoch zirkulierte Wissen im Anschluss an den Krieg wieder global und wurde auf international besetzten Konferenzen und in Zeitschriften diskutiert und weiterentwickelt. Obwohl die Finanzierung und Institutionalisierung von Wissenschaft überwiegend national gesteuert waren, war der ihr zugrunde liegende wissenschaftliche Austausch transnational und blieb transnational – daran hatte der Erste Weltkrieg kaum etwas geändert.2 Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld nutzten ihre unmittelbaren Kriegserfahrungen dazu, sich als Experten sowohl in nationalen Kontexten als auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg weiter zu etablieren und ihre Positionen als Wissensakteure zu festigen. Czochralski lebte nach dem Krieg in der neuen politischen Ordnung der Weimarer Republik, Ludwik Hirszfeld war, wie erwähnt, in den neuen polnischen Staat übergesiedelt. Zu seiner Etablierung diente ihm unter anderem die von ihm und Hanna Hirszfeld maßgeblich begründete Seroanthropologie, die einen Siegeszug um die ganze Welt antrat. Aber auch das epidemiologische Wissen, das er von der mazedonischen Front mitgebracht hatte, nutzte er bei der Etablierung des Staatlichen Instituts für Hygiene in Polen, an der er tatkräftig mitwirkte und auf die im Folgekapitel einge1 Siehe dazu Roswitha Reinbothe, Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. u. a. 2006. 2 Gabriele Metzler, Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen, 1900-1930, in: Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen, S. 55-82, hier S. 79-81. 125

ȋȀȷȤȃȧȇȀȄȇȀȇȤȷȎȧȐȷȎȇȤȎȤȲÇȐȇȀȃȇȋȝȇȤ

gangen wird. Jan Czochralski wiederum setzte die während des Krieges gewonnenen Erkenntnisse aus der Ersatzstoffforschung zum einen dafür ein, die Leitung des neu gegründeten Metall-Laboratoriums der Metallbank und der Metallurgischen Gesellschaft in Frankfurt am Main zu übernehmen. Dort initiierte er Erfindungen und Forschungen, die auch ihn auf den Bühnen des internationalen Wissensaustausches bekannter machten als zuvor. Zum anderen war er maßgeblich an der Gründung metallkundlicher Institutionen in der Weimarer Republik beteiligt, deren Entstehung eng mit den Kriegserfahrungen zusammenhing. Beide Wissenschaftler beteiligten sich auch theoretisch-methodologisch an der Weiterentwicklung der noch jungen wissenschaftlichen Disziplinen der Metallkunde und der Serologie. Beide formulierten dabei immer wieder Zukunftsvisionen und -perspektiven für die wissenschaftliche Entwicklung in ihren Gebieten und wirkten an einer antizipativen Wissensproduktion mit. Die Zukunft wurde auf diese Weise zum inhärenten Teil des aktuell bereits stabilisierten Wissens.3 Europaweit waren die 1930er Jahre eine Zeit, in der sich der Nationalismus intensivierte – das Nationalstaatsprinzip, die »Eroberung des Staates durch die Nation«, sollte sich in der Zeit von 1918 bis 1939 mehr denn je durchsetzen.4 Damit nahmen Spannungen zwischen Internationalismus und Nationalismus ebenfalls zu und waren zum Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts größer als je zuvor – so gerieten etwa internationale Organisationen und die in ihnen tätigen Akteure unter Loyalitätsdruck. Rassistisches und antisemitisches Gedankengut befand sich in vielen europäischen Ländern bereits in den 1920er und noch mehr in den 1930er Jahren auf dem Vormarsch, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zunehmenden Attraktivität eines Denkens in nationalistischen Kategorien. Solches Denken hielt Einzug auch in die Wissenschaften – das Spektrum von passiver Rezeption bis hin zu aktiver Partizipation an der Schärfung solchen Gedankengutes war allerdings ein weites. Sowohl in Deutschland als auch in den neu gebildeten Staaten in Ostmitteleuropa kam naturwissenschaftlich-technisches Wissen zur Legitimierung nationalistischen Denkens und Handelns, von Politik und neuen territorialen Ordnungen zum Einsatz – Wissen erwies sich hier einmal mehr nicht nur als veränderliche, sondern auch als verändernde Ressource. Eine extreme Ausformung fand diese Entwicklung im nationalsozialisti3 Siehe dazu Heinrich Hartmann, Jakob Vogel, Prognosen. Wissenschaftliche Praxis im öffentlichen Raum, in: Dies. (Hg.), Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt a. M. 2010, S. 7-29, S. 7. 4 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986 (dt. Erstausgabe 1955), S. 434. 126

ȋȀȷȤȃȧȇȀȄȇȀȇȤȷȎȧȐȷȎȇȤȎȤȲÇȐȇȀȃȇȋȝȇȤ

schen Deutschland, wo völkisch-rassistisches Denken die Politik, die Gesellschaft und so gut wie jeden Wissenszweig durchdrang. Auf je spezifische Weise waren die Wissensgebiete von Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld ebenfalls von diesem »nationalistic turn« betroffen. Manche Akteure begannen, den Gegenstand ihrer Forschungen, die Stoffe »Blut« und »Metall«, in solche zu unterscheiden, die der Nation nützen sollten, und solche, die ihr angeblich schadeten – so unterschieden sie etwa in Deutschland in »gute«, inländische, aus einheimischen Erzen gewonnene, und vermeintlich »schlechtere«, ausländische und importierte Metalle, wobei die letzteren auch dann nicht mehr verwendet werden sollten, wenn es wirtschaftspolitisch sinnvoll gewesen wäre. Zum Teil wurde ihr Einsatz zum vermeintlichen Schaden der deutschen Industrie und Wirtschaft auch »jüdischem Einfluss« angekreidet. In Polen wiederum stellten einige Wissenschaftler die Nützlichkeit und Anwendbarkeit der von Czochralski maßgeblich mit entwickelten Blei-Legierung, des Bahnmetalls, in Frage, unter anderem, weil es als »deutsche Erfindung« galt. Eine völkische Aufladung und rassistische Instrumentalisierung wiederum erfuhren die Blutgruppen, deren Korrelation mit »Rassen« von zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern weltweit akzeptiert worden war – es ging um die »Reinheit des Blutes« zur Erhaltung des Volkskörpers und eine damit einhergehende Ablehnung alles »Fremdblütigen«. Eine angeblich »schlechtere« Blutgruppe B diente entgegen allen empirischen Befunden dazu, die jüdische Bevölkerung, aber auch Alkoholabhängige, Kranke oder Kriminelle zu stigmatisieren.5 Ob und wie Hirszfeld und Czochralski mit solchen Entwicklungen in Berührung kamen, wird ebenso diskutiert wie die Frage, ob sie selbst für eine Nationalisierung von Wissen im deutschen und im polnischen Kontext eintraten, während sie gleichzeitig auf den internationalen Expertenbühnen ihrer Wissensfelder zu Hause waren. Es gilt zu fragen, ob und wie Wissen, das oft in transnationalem Austausch generiert und diskutiert wurde, nationalisiert oder für nationale oder nationalistische Zwecke nutzbar gemacht wurde. Es geht darum, wie sich das komplexe Wechselverhältnis von »innen« und von »außen« gestaltete, zwischen nationalen und internationalen wissenschaftlichen epistemischen Gemeinschaften und ob sich diese überhaupt voneinander scheiden lassen. Zudem muss gefragt werden, ob die Stoffe und Materialien, die epistemischen Dinge im Labor, mit denen Hirszfeld und Czochralski operierten, nationalisierbar waren.

5 Siehe dazu ausführlich Spörri, Reines und gemischtes Blut. 127

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 )MI*XEFPMIVYRKEPW*\TIVXIRcƳ der Transfer von Kriegswissen in die Nachkriegsordnungen 4.1.1 Die Seroanthropologie nach dem Ersten Weltkrieg: Transnationale Zirkulation und nationale Politisierung

Die durch den globalen Krieg auf breiter Basis ermöglichten Blutgruppentests nutzten die Hirszfelds, um einen Zweig der Blutgruppenforschung zu initiieren, der als Seroanthropologie in die Medizingeschichte eingegangen ist und konstitutiv für den »rassisch« ausgerichteten Zweig der Blutgruppenforschung wurde.6 Dieser Zweig war ein Ergebnis der Ausgangsüberlegung, Blutgruppen stünden in einer Korrelation mit »Rasse«.7 Er erfreute sich nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Hirszfelds im Jahr 1919 großer Beliebtheit. Jener wissenschaftliche Ausdruck des globalen Krieges, der in den Augen des Medizinhistorikers William H. Schneider eine »Schicksalswende für die Medizingeschichte«8 darstellte, weil er einen wichtigen Schritt für das Verständnis der genetischen Strukturen der Bevölkerungen bedeutete, führte dazu, dass 1926 bereits 50 verschiedene nationale und ethnische Gruppen von Menschen auf sechs Kontinenten seroanthropologisch untersucht waren. Die meisten Arbeiten entstanden dabei anfänglich in Deutschland und der Sowjetunion, den mit Frankreich führenden Ländern medizinischer Forschung nach dem Ersten Weltkrieg.9 Bis 1939 erschienen 1200 Artikel aus dem Feld, die die Daten von etwa 1,3 Millionen Menschen verarbeiteten.10 Im Jahr 1961 waren bereits Daten über 7 Millionen Menschen auf der ganzen Welt veröffentlicht worden.11 Mit der Einbringung der Blutgruppen in die Physische Anthropologie etablierte sich besonders Ludwik Hirszfeld, der das Feld nach 1919 intensiver als Hanna Hirszfeld weiter bearbeitete, weltweit als viel zitierter Wissenschaftler. Die meisten der seroanthropologisch orientierten Arbeiten beriefen sich auf die Hirsz6 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 67 und Dies., Das Blut in den Adern des Homo Europaeus. Zur sprachlichen und visuellen Konstruktion der Blutgruppe A als europäisch, 1919-1933, in: Lorraine Bluche, Veronika Lipphardt, Kiran Klaus Patel (Hg.), Der Europäer – ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen 2010, S. 73-96, S. 77. 7 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 66 f. 8 William H. Schneider, The History of Research on Blood Group Genetics. Initial Discovery and Diffusion, in: History and Philosophy of the Life Sciences 18/3 (1996), Special Issue: The First Genetic Marker, S. 277-303, S. 281. 9 Ebd., S. 288, 302. 10 Ebd., S. 278-280. 11 Arthur E. Mourant, Blood Groups, in: G. A. Harrison (Hg.), Genetical Variation in Human Populations, New York 1961, S. 1-15, S. 1. 128

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felds als Anregung für ihre Forschung.12 Das Hirszfeld’sche Wissen zirkulierte also bald nach seiner Entstehung in der Welt von den USA bis nach Japan und wirkte wiederum auf Hirszfeld und sein Umfeld zurück. Die Popularität dieses Zweigs der Blutgruppenforschung resultierte aus den bereits erwähnten Trends der Zeit: Sowohl die »Rasseneinteilung« der menschlichen Vielfalt als auch die Frage einer vermeintlichen Höher- oder Minderwertigkeit bestimmter »Rassen« waren umstritten und wurden umfänglich untersucht.13 Mit der sogenannten »Rassenfrage« beschäftigten sich in den 1920er und 1930er Jahren zahlreiche europäische und außereuropäische Wissenschaftler; einige, und dazu zählten weiterhin die Hirszfelds, nahmen ganz selbstverständlich an, dass die Menschheit in eine bestimmte Anzahl von »Rassen« unterteilt sei und daher von Natur aus eine Rassenklassifikation rechtfertige. Hirszfeld war stets davon überzeugt, dass die Serologie dazu beitragen könne, dringliche Fragen der Anthropologie zu lösen, und akzeptierte die Einteilung der Menschen in »Rassen«, vor allem in »serologische Rassen«. Mit dem Rassebegriff zu operieren, war, wie erwähnt, zu seiner Zeit alles andere als ungewöhnlich. Dies macht die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht automatisch zu Rassisten – hier folge ich Veronika Lipphardt in ihrer Analyse der deutschsprachigen Biowissenschaftler jüdischer Herkunft: »Zwar ist das Vokabular ihrer Texte aus heutiger Sicht ›rassistisch‹, aber die Autoren machten keine Anleihen bei Akteuren, die damals als rassistisch galten, sondern bei einer wissenschaftlichen Fachsprache, die nicht als rassistisch galt. Es waren wissenschaftliche Versuche, die sich inhaltlich, methodisch und institutionell im Rahmen der zeitgenössischen Biowissenschaften bewegten und eine professionelle Identität, eine Identifikation mit dem biowissenschaftlichen Denkkollektiv, voraussetzten.«14 Es bleibt dennoch fraglich, ob der konzeptionelle Rahmen für die Forschungen der Hirszfelds mit dem Rassenbegriff adäquat gewählt war und ob die damals gängigen Forschungsdesigns und Methoden – auch heute – aller Kritik standhalten können. Man hoffte jedenfalls, einen Schlüssel dafür zu finden, das Geheimnis der Humandiversität zu klären. Die Erforschung menschlicher Vielfalt ist ein legitimes Forschungsinteresse – damals wie heute. Wie das Anliegen der Hirszfelds, die serologische und genetische Vielfalt der Menschheit zu erforschen, zu bewerkstelligen ist, ist eine Frage, die noch immer bearbeitet wird, heute 12 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 99. 13 Siehe dazu Mazumdar, Blood and Soil, S. 188; Spörri, »Reines« und »gemischtes Blut«, S. 222. 14 Lipphardt, Biologie der Juden, S. 314. 129

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vor allem mit molekulargenetischen Methoden. Trotz der Ungewissheit, die dem epistemischen Status von »Rassen« innewohnte, nahmen viele Rassenanthropologen die Hirszfeld’sche Arbeit enthusiastisch auf, unter anderem, weil serologische Untersuchungen relativ leicht durchzuführen waren. Alles, was man außerhalb eines Labors dazu brauchte, war dieser von den polnischen Forschern Jan Mydlarski und Wanda Halber verwendete Kasten (Abb. 3). Man hoffte, die aufwendigen und zudem kaum aussagekräftigen anthropometrischen Vermessungen von Schädeln oder Nasen gehörten nun dank exakter, biochemischer Daten der Vergangenheit an.15 Diese Konstellation sagt einiges über den Zustand der Physischen Anthropologie zu dieser Zeit aus: Seit ihren Anfängen war sie damit beschäftigt, Menschen anhand von körperlichen Merkmalen wie der Schädelgröße und -form, der Hautfarbe oder der Haare in verschiedene »Rassen« zu klassifizieren. Das Problem dieser Methode bestand darin, dass die Rassekategorien in sich zusammenfielen, je mehr Menschen miteinander verglichen wurden.16 Die Studien, die etwa Franz Boas in den USA an Immigranten und deren Nachkommen durchführte, zeigten, dass sich die Schädelform in der Neuen Welt veränderte.17 Und je mehr Studien durchgeführt wurden, desto mehr stellte sich heraus, dass Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen oder historischen Voraussetzungen die gleichen physischen Merkmale teilten. Daher wurden diese »rassisch« orientieren Trennungslinien immer öfter als künstlich angesehen – der Nutzen gerade der Schädelforschung wurde zunehmend kritisch beurteilt, auch wenn solche Untersuchungen fortgeführt wurden.18 In dieser Situation waren neue Zweige von »Rasseforschung« sehr willkommen, und die Seroanthropologie war einer von ihnen. Sie versprach eine neue und wissenschaftliche Methode, Bevölkerungsgruppen definieren sowie den Ursprung und die Migrationswege verschiedener »Ras-

15 Siehe Marius Turda, Modernism and Eugenics, Basingstoke 2010, S. 18. 16 William H. Schneider, Chance and Social Setting in the Application of the Discovery of Blood Groups, in: Bulletin of the History of Medicine 57/4 (1983), S. 545-562, S. 558. 17 Franz Boas, Changes in the Bodily Form of Descendants of Immigrants, in: American Anthropologist 14/3 (1912), S. 530-562; siehe dazu auch Martha Hodes, Utter Confusion and Contradiction: Franz Boas and the Problem of Human Complexion, in: Ned Blackhawk, Isaiah Wilner (Hg.), Indigenous Visions: Rediscovering the World of Franz Boas, New Haven 2018, S. 185-208. 18 Siehe Marius Turda, From craniology to serology: racial anthropology in interwar Hungary and Romania, in: Journal of the History of the Behavioral Studies 43/4 (2007), S. 361-77, S. 365 f. 130

ȲȄȇȇȋȷȐȜȄȇȀȎȤȬȷȜȃȇȘȸȇȀȋȇȤ Abb. 3: 1YH[MO-MVW^JIPH Konstitutionsserologie und 'PYXKVYTTIRJSVWGLYRK 'IVPMR

sen« nachvollziehen zu können.19 Denn Phänotypen, die auf Erbmerkmale schließen ließen, schienen noch »unmittelbarer« über den Genotyp Auskunft geben zu können, da sie nicht durch Umwelteinflüsse, Alter oder Geschlecht modifiziert wurden. Die Erforschung der Blutgruppen beruhte darüber hinaus auf der Biochemie und der Statistik und versprach daher »Objektivität«.20 Mit anderen Worten: Die Ergebnisse der Hirszfelds nährten »Hoffnungen für die Lösung des Rassenproblems«.21 Das Wissen über den Zusammenhang von Blutgruppen, Anthropologie, »Rassen« und Vererbungslehre stand in den 1920er Jahren am Anfang, es genoss keinen sicheren Status und es waren mehr Fragen gestellt als gelöst. Das Forschungsfeld war neu und hatte Pioniercharakter. Dessen war sich Ludwik Hirszfeld sehr bewusst – er nahm für sich deshalb stets in Anspruch, auch noch nicht gesicherte Erkenntnisse zu publizieren und zu diskutieren, um die Entwicklung seines Forschungsgebietes zu befördern: »Ich glaube aber, daß auch ein Naturforscher berechtigt ist, mit geistigem Auge das ganze wenn auch unvollendete Gebäude zu überschauen und den Plan für die Ornamentik bereits zu fassen suchen [so im Original, K. S.], trotzdem an den Fundamenten noch gearbeitet werden muss«, so sein Credo.22 Eine solche Postulierung des künftig zu Wissenden, also eine antizipativen Wissensproduktion, diente der Inklusion des noch ungesicherten Wissens in die aktuellen Diskussionen.23 Innerhalb der Expertengemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Ost und West, die sich auf dem Gebiet der Sero19 Pauline M. H. Mazumdar, Two models for human genetics: blood grouping and psychiatry in Germany between the world wars, in: Bulletin of the History of Medicine 70/4 (1996), S. 609-57, S. 620. 20 Starr, Blut, S. 100. 21 Wyman, Boyd, Human Blood Groups, S. 181. 22 Ludwik Hirszfeld, Die Konstitutionsserologie und ihre Anwendung in der Biologie und Medizin, in: Die Naturwissenschaften 14/2 (1926), S. 17-25, S. 25. 23 Lipphardt, Biowissenschaften, S. 250. 131

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anthropologie versuchten, kam es durchaus zu Spannungen. Diese manifestierten sich darin, dass einige die Seroanthropologie als ein Forschungsgebiet ansahen, das »rassische« Hierarchien unterminieren konnte, andere wiederum meinten, mittels des Forschungszweigs könnten solche Hierarchien eingeführt oder bestärkt werden. Der Gebrauch der Wissenschaft und ihrer vermeintlichen Objektivität im Hinblick auf institutionelle und staatliche Identitäten, etwa in Debatten in den 1920er und 1930er Jahren über Eugenik und die Nützlichkeit der Rassenanthropologie für die Exklusion oder Inklusion bestimmter Gruppen, wurde für einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Serologie und Anthropologie integraler Teil ihrer Forschungen. Es musste dabei nicht immer darum gehen, die Höherwertigkeit einer Gruppe oder Nation über eine andere zu postulieren und eine damit verbundene Exklusion des »Anderen« oder vermeintlich »Minderwertigen« aus dieser Gruppe zu fordern. Ebenso konnte Integration im Sinne der biologischen Einzigartigkeit bestimmter Gruppen, deren Zusammengehörigkeit betont werden sollte, gefordert werden, zum Beispiel bei der Suche nach »rassisch« verwandten »Brudervölkern« oder zur Legitimierung von territorialer Expansion. Seroanthropologische Untersuchungen verbanden sich zum Teil auch mit dem Ziel, die »Qualität« der Mitglieder der jeweils eigenen Nation oder nationalen Minderheit verbessern zu wollen, etwa, indem verschiedene Krankheitsbilder auf ihren Zusammenhang mit bestimmten Blutgruppen untersucht wurden.24 In jedem Fall öffneten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in unterschiedlichen Ländern aus Anthropologie und Serologie für Fragestellungen, die hierarchisierende Grundannahmen enthalten konnten, wozu sie die Forschungsergebnisse der Hirszfelds verwendeten. Zwar hatten diese selbst keine solche Hierarchisierung oder Bewertung vorgenommen, aber ihr Forschungsdesign, das auf der Grundkategorie der »Rasse« beruhte, verhinderte eine solche Verwendung ihrer Ergebnisse nicht von vornherein. Letztlich zeigt sich hier aber deutlich, dass Wissenschaftler nicht kontrollieren konnten, wie ihr Wissen genutzt wurde.25 Wie dies konkret im Fall der Hirszfeld’schen Ergebnisse geschah, mögen die folgenden Beispiele verdeutlichen. Seroanthropologische Studien in der Praxis und der Diskussion

Seroanthropologische Studien wurden an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher Schnelligkeit und in unterschiedlichem Ausmaß aufge24 Zu beider Hirszfelds Engagement in der Eugenischen Gesellschaft in Polen siehe Kapitel 4.3.3. 25 Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 8. 132

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nommen. Einige der neu entstandenen oder neu zugeschnittenen Staaten in Ostmitteleuropa, die wie Polen, Rumänien oder Ungarn nach »modernen« Mitteln suchten, ihre Existenz und ihre Macht zu legitimieren, griffen neben Narrativen aus Kultur und Geschichte gerne auf vermeintlich objektive wissenschaftliche »Beweise« aus Serologie und Anthropologie zurück.26 Staats- und Nationsbildung verband sich zudem mit Vorstellungen von Social Engineering, einem Trend, der zu jener Zeit als sehr fortschrittlich galt und sich auch in Polen niederschlug. Der Arzt, Hygieniker und Eugeniker Tomasz Janiszewski, erster Gesundheitsminister des unabhängigen Polen, wollte sein Ministerium dafür einsetzen, »eine neue Sorte Mensch« in Polen zu schaffen, wie er an den damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika schrieb.27 Daran sollte auch die Seroanthropologie mitwirken. Einen ersten Vortrag zu ihren Forschungen in Serbien hielten Hanna und Ludwik Hirszfeld, kurz nachdem sie in Polen angekommen waren. Am 7. April 1920 sprachen sie in Warschau vor der Polnischen Ärztegesellschaft über »Serologische Forschungen über die menschlichen Rassen«.28 Über die Seroanthropologie habe Enthusiasmus geherrscht, so erinnerte sich im Jahr 1956 der Anthropologe Jan Mydlarski, weil die seroanthropologischen Untersuchungen so leicht durchzuführen gewesen seien.29 Zwar sei dieser Enthusiasmus nicht begründet gewesen, habe doch die Serologie niemals die Anthropologie ersetzen, sondern sie höchstens ergänzen und bereichern können, meinte Mydlarski in der Rückschau, aber 1921 war er einer der Hauptvertreter dieser Richtung. In jenem Jahr begann das »Anthropologische Referat der Abteilung für die Individualisierung des Soldaten beim Militärischen Sanitätsinstitut«, einer Einrichtung der Polnischen Armee, damit, breite anthropologische Untersuchungen von Soldaten mit einigen zehntausend Menschen durchzuführen – bis zum August 1923 waren 80.310 Soldaten untersucht. Das Projekt wurde dann bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fortgesetzt, wenngleich es sich dann um kleinere Studien einzelner Forscher handelte.30 Jan Mydlarski führte diese Reihenuntersuchung gemeinsam 26 Siehe zum Beispiel Marius Turda, Entangled Traditions of Race: Physical Anthropology in Hungary and Romania, 1900-1940, in: Focaal – European Journal of Anthropology 58 (2010), S. 32-46. 27 Tomasz Janiszewski, The Versailles Treaty and the Question of Public Health, in: International Journal of Public Health 2 (1921), S. 140-151, S. 142. 28 Dieser Vortrag wurde abgedruckt in: Przegląd Epidemiologizcny 1/2 (1920), S. 1-13. 29 Jan Mydlarski, Seroantropologia, in: Hirszfeld, Kelus, Milgrom, Ludwik Hirszfeld, S. 65-68, S. 66. 30 Olga Linkiewicz, Applied Modern Science and the Self-Politicization of Racial Anthropology in Interwar Poland, in: Ab Imperio 2 (2016), S. 153-181, S. 163. 133

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mit Wanda Halber, einer Assistentin von Ludwik Hirszfeld, durch. Halber, eine Biologiestudentin an der Freien Hochschule Polens (Wolna Wszechnicza Polska), hatte 1922 angefangen, im Staatlichen Institut für Hygiene in Warschau zu arbeiten, wo sie zwei Jahre zuvor als Volontärin tätig war. Seither partizipierte sie an den meisten von Hirszfelds experimentellen Arbeiten – umgekehrt akzentuierte Hirszfeld 1938 in einem Nachruf auf die verstorbene Kollegin: Ihre Forschungsarbeiten »waren fast ausnahmslos auch die meinen, gemeinsam durchlebten wir ebenso große Hoffnungen und Enttäuschungen über häufig nicht durchgeführte Vorhaben«.31 Offiziell wurde die Untersuchung mit der Notwendigkeit begründet, Uniformen für die Soldaten der neu formierten polnischen Armee schneidern zu müssen. Polens bekanntester Anthropologe, Jan Czekanowski, der Begründer der in den 1920er und 1930er Jahren sehr einflussreichen Lemberger Schule in der polnischen Anthropologie, deren Repräsentanten wie er und Jan Mydlarski die Auffassung vertraten, dass Bevölkerungen objektiv in reine und gemischte »rassische« Typen eingeteilt werden könnten,32 kam im Jahr 1925 zu dem Schluss, dass die anthropometrischen Untersuchungen der Armee durch das Anpassen und das Zuschneiden der Uniformen de facto hohe Ersparnisse eingebracht hätten. Diese Ersparnisse seien dann wiederum für die Weiterführung der Forschung eingesetzt worden, eine Forschung, die Polen weltweit einen der führenden Plätze auf dem Gebiet der Anthropologie eingebracht hätte.33 In Ergänzung zu anthropometrischen Untersuchungen, während derer sie unter anderem Nasen, Schädel und Gesichtsformen der Soldaten vermaßen, entnahmen die Forscher nun auch Blut und bestimmten die Blutgruppen – in dieser Kombination war diese Reihenuntersuchung die erste ihrer Art auf der Welt.34 Die Resultate suggerierten einen Zusammenhang zwischen physiognomischen Merkmalen bzw. Stereotypen und dem serologischen Typ Ost und West nach dem Hirszfeld’schen »Bioche-

31 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 100. Siehe auch Marta Gromulska, Uczone asystentki, genialne laborantki i ciche wolontariuszki – pierwsze kobiety zatrudione w Państwowym Zakładzie Higieny w latach 1919-1925, in: Rocznik PZH 49 (1998), S. 401-408, S. 403. 32 Katarzyna A. Kaszycka, Goran Štrkalj, Anthropologists’ Attitues Towards the Concept of Race: The Polish Sample, in: Current Anthropology 43/2 (2002), S. 329-335, S. 330. 33 Jan Czekanowski, Co Polska traci skutkiem niedostatecznego uprawiania nauki: Nauki antropologiczne, in: Nauka Polska 5 (1925) S. 144-157, S. 146. 34 So Andrzej Kelus, Badania nad częstością grup krwi ze szczególnym uwzględnieniem Polski. Materiały i prace antropologiczne Nr. 2, Wrocław 1953, S. 11. 134

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mischen Rassenindex«.35 Halber und Mydlarski schrieben, dass Individuen mit Blutgruppe A dazu tendierten, längere Schädel, kleinere Nasen und engere Gesichtsformen aufzuweisen. Dies führte zu der Behauptung, Typ A korrespondiere »zweifellos« mit der sogenannten »nordischen Rasse«. Die Blutgruppe A wurde mit dem Norden Polens verbunden, wo sie leicht gehäuft auftrat, die Gruppe B hingegen eher mit dem Süden Polens, wo das laponoidale (slawische) Element zu finden sei.36 Blutgruppe 0 wurde hingegen mit einem Mittelmeertypus in Verbindung gebracht. So wurde die Physiognomie in die Seroanthropologie integriert. In der Rückschau von 1956 gab Jan Mydlarski zwar zu, dass die »Angelegenheit komplizierter« war, weil es sich nicht als haltbar erwies, dass unter dem laponoidalen Element in Europa die Blutgruppe B am häufigsten vorkomme. Den Forschungszweig der Seroanthropologie an sich stellte Mydlarski aber auch 1956 nicht in Frage, sondern beschrieb ihn als so komplex, dass er erst am Anfang stehe – auch zog Mydlarski nun plötzlich die Möglichkeit in Betracht, dass Blutgruppen sehr wohl auch durch Umwelteinflüsse geformt werden könnten.37 Für die Zeit nach 1921 stand Mydlarskis und Halbers Untersuchung am Beginn des Trends, serologische Studien mit anderen Untersuchungen zu verbinden, in der Hoffnung, auf diese Weise würden Erkenntnisse generiert, die die Untersuchung von Blut allein nicht erbringen könne. Wegen der angeblichen Zusammengehörigkeit von Blutgruppe A mit dem »nordischen Typus« und von B mit dem »slawischen« wurde diese Studie breit rezipiert, unter anderem von Anthropologen aus Deutschland, die sich mit dem Anteil von sogenannter »nordischer Rasse« in den westlichen Teilen Polens auseinandersetzten. Aber auch in Leningrad, wo ein »Bureau für anthropologische Blutgruppenforschung« eingerichtet worden war, äußerte man sich anerkennend über die Untersuchung.38 35 Jan Mydlarski, Sprawozdanie z wojskowego zdjęcia antropologicznego Polski, in: Kosmos. Czasopismo Polskiego Towarzystwa Przyrodników im. Kopernika 50 (1925), A, S. 530-583; zu Fragen der Blutgruppenverteilung auch Wanda Halber, Jan Mydlarski, Untersuchungen über die Blutgruppen in Polen, in: Zeitschrift für Immunitätsforschung und experimentelle Therapie 43 (1925), S. 470-484 sowie Mazumdar, Blood and Soil, S. 191, und Magdalena Gawin, Rasa i nowoczesność. Historia polskiego ruchu eugenicznego (1880-1952), Warszawa 2003, S. 164-167. 36 Mydlarski, Seroantropologia, S. 67. 37 Ebd., S. 68. 38 Siehe zum Beispiel Otto Reche, Nordgermanisches in der Bevölkerung des polnischen Staates, in: Volk und Rasse 4 (1929), S. 78-86; dazu auch Boaz, Serology, S. 52. Siehe zur Beziehung deutscher und polnischer Anthropologen Katja Geisenhainer, Udo Mischek, Czekanowski and the National Socialist Administration, in: Adam Jones (Hg.), Jan Czekanowski. African ethnographer and physcial anthropologist in early twentieth-century Germany and Poland, Leipzig 2002, S. 91-2012, 135

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Die in Warschau von Hirszfeld und seinen Kolleginnen und Kollegen und später von Schülerinnen und Schülern sowohl aus der Serologie als auch der Anthropologie betriebenen Forschungen zu Blutgruppen hatten Warschau zu einem Zentrum für Blutgruppenforschung und Seroanthropologie gemacht. Die Untersuchungen führten aber auch zu weiterreichenden Annahmen. Obwohl Jan Czekanowski die Uniformen der Rekruten als einen Grund für die Untersuchung angegeben hatte, meinte Jan Mydlarski, man sei vor allem bemüht gewesen, die Blutgruppen mit systematischen Annahmen über verschiedene Arten von Menschen zu verbinden.39 Der Herausgeber der führenden anthropologischen Zeitschrift Polens, des Przegląd Antropologiczny (Anthropologische Rundschau), der Anthropologe und Mediziner Adam Wrzosek, wiederum meinte, man habe eine Orientierung über die »rassische« Vielfalt in allen Regionen der Republik mit dem Ziel erhalten wollen, Schlüsse für praktische militärische Zielsetzungen ziehen zu können.40 Ähnlich argumentierte wiederum Czekanowski, der gegen die seiner Meinung nach »veraltete« Annahme polemisierte, »alle Menschen seien gleich«. Er war davon überzeugt, »die wesentliche Bedeutung der Anthropologie liegt in ihrem indirekten Einfluss auf die Pädagogik, die Medizin, die Sozialwissenschaften und die Militärwissenschaften, indem sie die Tatsache feststellt, dass die Menschheit aus verschiedenen Rassen besteht und diese Tatsache untersucht«.41 Die Ergebnisse der Untersuchungen von Mydlarski kommentierte er wie folgt: »Unsere Erfahrung erlaubt es uns festzuhalten, dass sich bestimmte rassische Komponenten von Menschen nicht gleichermaßen für den Militärdienst eignen und dass der Wert eines Soldaten vor allem von seiner physischen Fitness abhängt. Wir wissen doch alle, dass sich die Juden physisch am schlechtesten präsentieren und dass sie die schlechtesten Soldaten sind. Ebenso wissen wir, dass die Nordisch-Blonden das beste Material für die Armee darstellen, sowohl physisch als auch mental.«42 Er hielt darüber hinaus fest, dass militärische Ausbildungsstätten nur in solchen Regionen angesiedelt werden sollten, in denen kein »minderwertiges« Material zu finden sei. Denn es sei doch immer so, dass solche Schulen, besonders die Unteroffiziersschulen, vor allem von

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S. 95 ff.; außerdem Zeitschrift für Rassenphysiologie. Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung 1/2 (1928), S. 102. Mydlarski, Seroantropologia, S. 66. Adam Wrzosek, Recenzja: Jan Mydlarski. Sprawozdanie z wojskowego zdjęcia antropologicznego Polski, in: Przegląd Antropologiczny 1 (1926), S. 36. Czekanowski, Co Polska traci, S. 146. Ebd., S. 156.

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denjenigen besucht würden, die in der Nähe lebten.43 Und Jan Mydlarski meinte im Jahr 1930 auf der Grundlage der Reihenuntersuchung, dass die »so genannten degenerativen Eigenschaften der Juden, die von einigen Autoren angeführt werden, mit Degeneration nichts zu tun haben, sondern sie sind einzig und allein ein Abbild ihrer andersartigen rassischen Struktur, die vom Einfluss des städtischen Milieus potenziert wird«.44 Ein weiterer polnischer Anthropologe und Schüler von Jan Czekanowski, Karol Stojanowski, veröffentlichte im Jahr 1927 ein Buch unter dem Titel »Die rassischen Grundlagen der Eugenik«. Zur Untermauerung der darin enthaltenen Thesen nutzte der Anthropologe auch die Arbeiten von Ludwik Hirszfeld und dessen Mitarbeitern, die er in einem Kapitel über »Serologische Vielfalt und Selektionsprozesse« rühmte. Hinsichtlich der jüdischen Bevölkerung zog er so Bilanz: »Die deutsche Wissenschaft sieht übrigens in den Juden nicht zu Unrecht einen bedrohlichen Konkurrenten für den nordisch-europäischen Typus […] Davon, dass die deutschen Gelehrten in ihren Feststellungen ganz und gar recht haben, muss man keinen Polen überzeugen.«45 Daneben lehnte Stojanowski viele »Forschungsergebnisse« der deutschen Kollegen strikt ab, vor allem, wenn es um deren Einschätzung der Verteilung der sogenannten »nordischen Rasse« in Europa und in Polen ging. Einige polnische Anthropologinnen und Anthropologen hielten fest, dass Polen »nordischer seien als Deutsche« – dies lehnten viele deutsche Anthropologinnen und Anthropologen ab, auch wenn es unter ihnen noch nach 1933 unterschiedliche Ansichten zu dieser Frage gab.46 Dass Stojanowski den Blick hier nach Deutschland warf, ist für die Anthropologie dieser Jahre aber recht typisch – die jeweiligen Forschungsergebnisse wurden breit rezipiert, und Stojanowski verhehlte seine Bewunderung für die deutsche Rassenideologie nicht. Um die jüdische Bevölkerung aber als »degeneriert« zu 43 Ebd., S. 157. 44 Hierbei ging es um die Frage, ob der von Mydlarski in der Reihenuntersuchung festgestellte »klare Unterschied« von Christen und Juden, der darin bestand, dass die untersuchten Juden kleiner waren und einen generell schlankeren Körperbau aufwiesen, umweltbedingt eine Folge ihres angenommenen und pejorativ gedeuteten städtischen Lebensstils oder »rassisch« vererbt sei – Mydlarski neigte letzterer Ansicht zu, räumte aber ein, dass man diese Frage zum damaligen Zeitpunkt noch nicht befriedigend beantworten könne, siehe Jan Mydlarski, Materiały do zagadnienia różnic w budowie ciała między ludnością chrześciańską i żydowską w Polsce (Z wojskowego zdjęcia antropologicznego w Polsce), in: Zagadnienia rasy 12 (1930), S. 323-335, S. 325. Zum europäisch verbreiteten Vorurteil der Juden als (degenerierte) Städter siehe Joachim Schlör, Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität, 1822-1938, Göttingen 2005. 45 Karol Stojanowski, Rasowe podstawy eugeniki, Poznań 1927, S. 68. 46 Geisenhainer, Mischek, Czekanowski, S. 98 137

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bezeichnen, reichten Stojanowski auch die Behauptungen seines Lehrers Czekanowski sowie Untersuchungen, die er selbst von Studierenden an jüdischen Rekruten durchführen ließ. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden als eine »Bestätigung der populären und in der Armee bereits bekannten Einschätzung« gesehen, »dass das jüdische Material in physischer Hinsicht weniger wertvoll ist als das polnische«.47 Stojanowski jedenfalls kam zu dem Schluss: »Die Assimilation der Juden ist unter eugenischen Gesichtspunkten unerwünscht. Sie müssen entweder emigrieren, oder ihren natürlichen Zuwachs begrenzen, oder einfach aussterben.«48 Stojanowski war davon überzeugt, dass Jüdinnen und Juden in anderen europäischen Ländern ein »Problem« darstellen würden, in Polen aber gehe es um die Existenz der Nation. Er warf ihnen vor, Polen zu demoralisieren und die Entwicklung derjenigen anthropologischen Typen aufzuhalten, die das »beste Material« für die Entwicklung und Expansion einer starken Nation stellen würden. Die konkrete Verteilung der Blutgruppen zogen aber weder Mydlarski noch Czekanowski oder Stojanowski für ihre Behauptungen über die jüdische Bevölkerung in Polen als Argument heran, denn in der Reihenuntersuchung hatte sich eine annähernde Übereinstimmung der Blutgruppenverteilung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Polinnen und Polen ergeben.49 Es ist nicht klar zu rekonstruieren, wie Ludwik Hirszfeld das einschätzte, was seine Kollegen, die er nicht nur auf Konferenzen oder Kongressen, sondern auch auf der Basis der gemeinsamen Mitgliedschaft sowohl in der Anthropologischen als auch der Eugenischen Gesellschaft Polens regelmäßig traf, erforscht hatten oder in antisemitischer Absicht behaupteten.50 In einem Bericht von 1924 schrieb er, Mydlarski habe »sehr weitreichende Schlüsse aus der Verbindung von Blutgruppen und anthropologischen Charakteristika und über Rassen, die in Polen in prähistorischen Zeiten gelebt haben, gezogen«.51 Darin ist allenfalls eine indirekte Distanzierung zu sehen. Daneben befürwortete er die seroanthropologische Reihenuntersuchung nicht nur als »seine« Forschung, da er die Projekte von Wanda Halber auch als die seinen betrachtete, er war darüber hinaus der Meinung, diese Forschungen seien die ersten dieser 47 Zofja Walicka, Przyczynek do sprawności fizycznej Żydów żołnierzy W. P., in: Wychowanie fizyczne 7-8 (1929), S. 217-227, S. 217 f. 48 Stojanowski, Rasowe podstawy, S. 68-69. 49 Halber, Mydlarski, Untersuchungen über die Blutgruppen in Polen, S. 481. 50 Siehe Przeglad Antropologiczny IV (1926). 51 Ludwik Hirszfeld, Sprawozdanie z dzialałności naukowej Państwowego Zakładu Higjeny i Państwowego Zakładu Badania Surowic w Warszawie. Z okazji 5-cioletniej rocznicy ich powstania, Warszawa 1924, S. 16. 138

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Art, »die der polnischen Wissenschaft weltweite Resonanz« einbrachten.52 Zudem diente ihm die Blutgruppenuntersuchung dazu, die geopolitische Bedeutung Polens positiv zu definieren, indem er festhielt, dass die Polen »auch hier wie eine Brücke zwischen dem Westen und dem Osten sind: Der hohe Anteil A nähert uns den europäischen Völkern an, der Anteil von B den Völkern des Ostens.«53 Die ungarischen Wissenschaftler Frigyes Verzár und Oscar Weszeczky vom Institut für allgemeine Pathologie der ungarischen Universität Debrecen begannen ebenfalls im Jahr 1921 eine Untersuchung, die ebenso wie die von Halber und Mydlarski explizit mit den Hirszfeld’schen Forschungsergebnissen arbeitete, aber auf die Anthropometrie verzichtete.54 Verzár meinte, er sei der erste gewesen, der die Hirschfeld’schen Ergebnisse bestätigte, indem er »drei Rassen, die nebeneinander lebten«, untersuchte.55 Er und sein Assistent zeigten die Unterschiede in der Blutgruppenverteilung zwischen Ungarn, Sinti und Roma und den Nachfahren deutscher Kolonisten in Ungarn auf. Die beiden klassifizierten diese Gruppen nach dem »Biochemischen Rassenindex« als Intermediate, Western European und Asiatic African. Der Index betrug für die Ungarn 1,6, für Deutsche 2,9 und für Sinti und Roma 0,6 – dies stimmte mit der Kategorisierung der Typen in Hirszfelds Studie überein und machte die Deutschen zu den »europäischsten« dieser drei Gruppen. Obwohl sie über Jahrhunderte hinweg in der gleichen Gegend gelebt hatten, unter gleichen klimatischen und physiologischen Bedingungen, hatten sie ihre serologischen Eigenheiten bewahrt. Der höhere Anteil von Blutgruppe A bei den Deutschen wurde zum Teil mit ihrem »rassischen« Ursprung weiter im Westen und der Tatsache erklärt, dass sie nach ihrer Ansiedlung im 18. Jahrhundert vor allem unter sich geblieben seien. Die untersuchten Sinti und Roma wiederum wiesen den höchsten Anteil von Typ B auf, was als Indikator für eine östliche und indische Abstammung gedeutet wurde. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass sich die Blutgruppen der Sinti und Roma seit 1200 Jahren nicht verändert hätten, woraus sie schlossen, dass die Blutgruppe eine »charakteristische Rasseneigenschaft« sei, die es ermögliche, die »rassische« Herkunft einer Bevöl52 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 100. 53 Pamiętnik zjazd mikrobiologów i epidemiologów Polski, Lwów, 3.-4. 11. 1928, in: Medycyna doświadczalna i społeczna XII /3-4 (1930), S. 403. 54 Frigyes (Fritz) Verzár, Oskar Weszeczky, Rassenbiologische Untersuchungen mittels Isohämagglutininen, Biochemische Zeitschrift 126 (1921/22), S. 33-39, S. 38. 55 Fritz Verzár, Isohaemagglutination in Anthropology, in: Institut International d’Anthropologie. IIIe Session Amsterdam 20.-29. Septembre 1927, Paris 1928, S. 419-426. 139

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kerung durch Blutgruppenanalyse zu ermitteln. Die Wissenschaftler meinten darüber hinaus, Blutgruppenuntersuchungen seien »zur Lösung ethnographischer Probleme geeignet«, und reklamierten für sich, diejenigen zu sein, die erstmals den Zusammenhang zwischen Blut und »Rassen« entdeckt hätten, weil die Hirszfelds lediglich einen solchen zwischen Geographie und Blutgruppen hergestellt hätten.56 Zu Recht hat aber Myriam Spörri darauf hingewiesen, dass »Rasse« bereits die Grundkategorie der Hirschfeld’schen Arbeit bildete.57 Die Studie aus Ungarn versah die Analyse der Hirszfelds zweifellos mit weiterer wissenschaftlicher Legitimation.58 Die Thesen der Hirszfelds und die ihnen vorausgegangenen Forschungen zur Vererbung der Blutgruppen, die Hirszfeld gemeinsam mit Emil von Dungern durchgeführt hatte, blieben in diesen frühen Studien zunächst weithin unangefochten: Sie waren im Rahmen des zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurses und innerhalb der Netzwerke, in denen Hirszfeld sich während seiner Zeit in Heidelberg und Zürich und im Krieg bewegt hatte und sich weiterhin bewegte, plausibel und an vorhandenes Wissen und vorhandene Denkstile anschlussfähig – sie waren ja auch innerhalb dieser Wissensräume entstanden. Aufgrund des prozesshaften Wesens von Wissen wurden sie in den Folgejahren mehrfach modifiziert. Dazu trug besonders der Göttinger Mathematiker Felix Bernstein bei. Aufgrund statistischer Berechnungen kam er 1924 zu dem Schluss, dass die von Hirszfeld und Dungern aufgestellte Annahme zweier unabhängig mendelnder Genpaare nicht haltbar sei, sondern »durch die Hypothese dreier multipler Allelomorphe A, B, R ersetzt werden« müsse.59 Bernstein führte die Blutgruppe 0 in die Diskussion ein, die bei den Hirszfelds weder für die Vererbung noch für die Berechnung des sogenannten »Rassenindex« eine Rolle gespielt hatte, was vielen Wissenschaftlern als fundamentaler Fehler der Untersuchung galt.60 Auch wenn die Fragen nach dem Ursprung der Blutgruppen und nach der Ursache für deren Entstehung weiterhin ungeklärt blieben, war Bernstein der festen Überzeugung, dass seine Einsicht den »Rassenindex« beeinflussen müsse. Er forderte nach der Feststellung, der »Index A/B von Hirschfeld

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Verzár, Weszeczky, Rassenbiologische Untersuchungen, S. 39. Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 102. Boas, Serology, S. 42-46; Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 102. Als Allelomorph (oder Allel) bezeichnet man die Funktionsformen eines Gens, also die Art und Weise, wie ein Gen ein Merkmal ausprägt. 60 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 104. 140

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ist nicht haltbar«, von seinem Gebrauch abzusehen.61 Bernsteins Erkenntnis wurde in der Blutgruppenforschung zur Kenntnis genommen und setzte sich allmählich durch.62 Auch Hirszfeld selbst näherte sich dieser Theorie immer stärker an. 1934 sprach er von den »drei biochemischen Urrassen« A, B und 0.63 Darin war auch eingeflossen, dass bereits zwei Jahre vor Bernsteins Veröffentlichung Hirszfelds Kollege und Freund aus Heidelberger Zeiten, Arthur F. Coca, herausgestellt hatte, dass unter den amerikanischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern die Blutgruppe 0 mit fast 78 Prozent dominierte, während circa 20 Prozent auf die Blutgruppe A entfielen, zwei Prozent auf B und weniger als ein halbes Prozent auf AB.64 Auch dieser Befund unterminierte die Hirszfeld’sche »Zwei-Rassen-Theorie«, und in der Folge geriet die Blutgruppe 0 stärker in den Fokus.65 Ebenfalls gegen die Hirszfeld’sche Theorie wandten sich der deutsche Blutgruppenforscher Fritz Schiff sowie der bekannte italienische Serologe Leone Lattes in Italien, wobei letzterer wie viele andere auch gegen die Verbindung von Blutgruppen und »Rassen« an sich nichts einzuwenden hatte. Obwohl der Hirszfeld’sche »Rassenindex« also zunehmend in Frage gestellt wurde, blieben sehr viele Forscherinnen und Forscher davon überzeugt, dass Blutgruppen eine Rolle für die Anthropologie spielten und etwas über die Vermischung von »Rassen« aussagen konnten.66 Dabei herrschte innerhalb der Gemeinschaft der Seroanthropologinnen und -anthropologen keineswegs Konsens über grundlegende Ergebnisse und Forschungsfragen.67 Die Kritik an den Hirszfeld’schen Arbeiten beeinträchtigte aber weder ihre Kooperation untereinander noch die Tatsache, dass die Forschungsergebnisse des Ehepaares weltweit zirkulierten und, folgerichtig, gleichermaßen anerkannt wie kritisiert wurden. 61 Ebd., S. 107. Siehe auch Alexander S. Wiener, Evolution of the Human Blood Group Factors, in: The American Naturalist 77 (1943), S. 199-210, S. 200. 62 Siehe auch Laurence H. Snyder, The »Laws« of Serological Race-Classification Studies in Human Inheritance IV, in: Human Biology 2 /1 (1920), S. 128-133, S. 129. 63 Ludwik Hirszfeld, Hauptprobleme der Blutgruppenforschung in den Jahren 19271933, in: Ergebnisse der Hygiene, Bakteriologie, Immunitätsforschung und experimentelle Therapie 15 (1934), S. 55-218, S. 106. 64 Arthur F. Coca, Olin Deibert, A Study of the Occurence of the Blood Groups Among the American Indians, in: The Journal of Immunology 6 (1923), S. 487-491, S. 489. 65 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 105. 66 So auch Snyder, der den Index als »wertlos« bezeichnete, gleichwohl die anthropologische Bedeutung der Blutgruppen als zusätzliches Merkmal neben Pigmentiertung, Haarform, Schädelindex und anderen Merkmalen unterstrich, Snyder, Laws, S. 129 und 133. 67 Siehe dazu Star, Cooperation Without Consensus. 141

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Auf dem Internationalen Kongress für Anthropologie, der 1927 zum Teil gemeinschaftlich mit einem Treffen der International Federation of Eugenic Organisations in Amsterdam stattfand, bot sich die Gelegenheit, offene Fragen mit einigen der führenden Vertreterinnen und Vertretern aus Serologie und Anthropologie transnational zu diskutieren. Hier traf sich ein weit verzweigtes Akteursnetzwerk. Ludwik Hirszfeld war bei der Konstituierung des Kongresses zum Vorsitzenden der Sektion zu »Eugenik und Vererbungslehre« gewählt worden, einer Sektion, die sich vor allem mit der Frage der Anwendung der Blutgruppenforschung für die Anthropologie beschäftigte. Dies zeugte von seinem großen internationalen Renommee in diesem Forschungsfeld. Hirszfeld sprach als erster Redner über das Thema »Die Blutgruppen in der Biologie und der Medizin«, woran sich eine lebhafte Diskussion anschloss. Dabei akzentuierte er eingangs den neuen Status der Serologie, den sie seiner Ansicht nach gewonnen habe: Sie sei nicht mehr nur Teil der Bakteriologie, sondern habe einen »intimen Kontakt zu Anthropologie und Genetik« hergestellt.68 Hirszfelds Ausführungen wurden von dem Schweizer Anthropologen Eugène Pittard kommentiert, der die Kollaboration von Anthropologie und Serologie als absolute Notwendigkeit begrüßte und sein größtes Vertrauen in die serologischen Untersuchungen akzentuierte. Allerdings hob er die unterschiedlichen Ergebnisse von Seroanthropologie und Anthropologie hervor, weil die Untersuchungen der Hirszfelds andere als die herkömmlichen Rasseneinteilungen suggerierten. Sie hatten zum Beispiel die Inder, die den Europäern in der Anthropologie gemeinhin als am nächsten stehend galten, in Fragen der Blutgruppenverteilung am weitesten von ihnen entfernt verortet. Er forderte deutlich mehr empirische Beispiele ein – das Feld der Serologie überlassen wollte er ganz und gar nicht. Wie er waren nicht alle Anthropologinnen und Anthropologen davon überzeugt, die Serologie habe etwas Wertvolles zu ihrem Forschungsfeld beizutragen. Sie betrachteten sie nicht immer als sinnvolle Ergänzung, sondern ebenso als Konkurrenz.69 Nach Hirszfeld sprach der erwähnte ungarische Serologe Frigyes Verzár über Blutgruppen in der Anthropologie. Auch Verzár attestierte den Hirszfelds, es sei ihr großer Verdienst, 1918 darauf hingewiesen zu haben, »dass es einen Zusammenhang zwischen der Verteilung der Blutgruppen in einer Bevölkerung und ihrer Rasse gibt«. Er unterstrich den heuristi68 Ludwik Hirszfeld. Les groups Sanguines dans la Biologie et la Médecine, in: Institut International d’Anthropologie. IIIe Session Amsterdam 20.-29. Septembre 1927, Paris 1928, S. 407. 69 Ebd., S. 418. Siehe zur Konkurrenz von Serologie und Anthropologie auch Spörri, S. 109. 142

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schen Wert des Begriffs der »serologischen Rassen«, den Hirszfeld eingebracht hatte, kritisierte aber wie Bernstein den »Biochemischen Rassenindex« für das Fehlen der Blutgruppen AB und 0, hätte deren Berücksichtigung doch den Index für bestimmte Bevölkerungsgruppen erheblich verändert. Hirszfeld, der zwar Jahre später noch die entsprechende Tabelle mit der kritisierten Terminologie zeigte, die auch posthum noch in verschiedenen Publikationen abgedruckt wurde, nutzte hier die Gelegenheit zu betonen: »Der biochemische Index war eine provisorische Einteilung des Materials; er ist ungeeignet, eine Population gleichsam mit nur einem absoluten Merkmal zu charakterisieren.«70 Diese Ansicht vertrat auch Verzár, der nochmals betonte, dass »BlutgruppenForschung im Dienste der Anthropologie« einen erheblichen Fortschritt bedeute.71 Denn seiner Meinung nach könne die »brennende Frage« nach einen Zusammenhang zwischen Konstitution und Rassenmerkmalen gelöst werden – eine Frage, der Hirszfeld in Polen intensiv nachgehen sollte, als er die sogenannte Konstitutionsserologie begründete, die davon ausging, dass die Konstitution eines bestimmten Organismus in Verbindung mit der Blutgruppe einen Einfluss auf Krankheitsdispositionen habe.72 Verzár forderte, und dies war Konsens in der Sektion, erhebliche staatliche Mittel für breit angelegte Blutgruppenuntersuchungen. Gleichzei70 Institut International, S. 429-430. 71 Verzár, Isohaemagglutination in Anthropology, S. 419-426. 72 Siehe Ludwik Hirszfeld, Konstitutionsserologie und Blutgruppenforschung, Berlin 1928 und Kapitel 4.3.2. 143

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tig waren viele Anwesende überzeugt, sich im Zentrum eines ganz neuen und vielversprechenden Forschungsfeldes zu befinden. So vermerkten etwa die niederländischen Forscher Bais und Verhoef: »Dieses Treffen wird wahrscheinlich später als Meilenstein in der jungen Geschichte dieser Studien angesehen werden, und deshalb bin ich sicher, dass wir alle die Anwesenheit von Prof. Hirszfeld in unserer Mitte sehr schätzen.«73 Die weiteren Beiträge in der Sektion kamen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Holland, Dänemark, Japan, Polen, Russland und den USA und gingen den Auswirkungen des Hirszfeld’schen »Rassenindexes« für verschiedene Bevölkerungsgruppen nach. Felix Bernstein sprach über »Die genetische Bedeutung der Blutgruppen«, Laurence Snyder aus den USA über »Menschliche Blutgruppen«, der bekannte Serologe Leone Lattes aus Modena »Über bestimmte Fehler in der Bestimmung der Blutgruppen« und V. Bunka über »Blutgruppenuntersuchungen in Russland«. Jan Mydlarski erörterte serologische Probleme in der Anthropologie, und Hendrik Aldershoff postulierte die Notwendigkeit einer einheitlichen Terminologie. Der Kongress spiegelte die Tatsache, dass sich die Seroanthropologie als ernstzunehmende Disziplin verstand und vielfach auch so verstanden wurde.74 Weltweit betätigten sich auf diesem Feld zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und hielten bei aller Uneindeutigkeit von Forschungsergebnissen an der von den Hirszfelds maßgeblich mitbegründeten These einer anthropologischen Bedeutung von Blutgruppen fest. Der Kongress belegte gleichfalls die hohe Reputation, die besonders Ludwik Hirszfeld weltweit erlangt hatte. Hirszfeld bezeichnete die Sektion als einen »Sieg unserer Richtung«.75 Mit seiner Einschätzung des Kongresses stand er nicht allein: Der Anthropologe Otto Schlaginhaufen kam zu dem anerkennenden Schluss, dass das Gebiet der Blutgruppen von allen Seiten beleuchtet worden sei.76 Und die wissenschaftliche Zeitschrift der britischen Eugenics Society (seit 1989: Galton Institute), die Eugenics Review, fasste zusammen, »kein Teil des Kongresses war so groß in Quantität und Qualität wie die Sitzungen, die dem Studium der Blut73 Institut International, S. 461. 74 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 143. 75 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 135. Als der Verleger in den USA , der Hirszfelds Autobiographie im Jahre 1947 übersetzen ließ (ohne sie zu veröffentlichen), die Passagen über diesen Kongress streichen ließ, protestierte Hirszfeld dagegen – dieser »Sieg« der Seroanthropologie sollte seiner Meinung nach keinesfalls aus dem Buch herausfallen, siehe APAN, LH-III-157-165. 76 Otto Schlaginhaufen, Mitteilungen: Internationaler Anthropologenkongress in Amsterdam, 20.-29. September 1927, in: Anthropologischer Anzeiger 5/1 (1928), S. 78-80. 144

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gruppen galten. Auf der ganzen Welt wird auf diesem interessanten neuen Gebiet enorm viel gearbeitet.« Die Zeitschrift meinte, dass Hirszfeld ein »spannendes Abenteuer« während des Ersten Weltkriegs erlebt haben musste, und schloss, »er muss nun die größte Befriedigung empfinden, wenn er sieht, dass seine arbeitsintensiven frühen Versuche jetzt Früchte tragen, die für die Wissenschaft so wertvoll sind«.77 Neben der transnationalen Anerkennung, die Hirszfeld auf diesem Kongress erfuhr, führte sein Auftritt auf der internationalen Bühne der Serologie und Anthropologie auch in Polen zu einer Bestätigung: Der polnische Anthropologe Kazimierz Stołyhwo berichtete in einem Vortrag vor der genetischen Sektion der Polnischen Eugenischen Gesellschaft in Warschau zustimmend von dem Kongress, die »Frage der Blutgruppen im Gebiet der Anthropologie« hätte das größte Interesse hervorgerufen. Stołyhwo verwies darauf, der Kongress habe der Anerkennung »polnischer Wissenschaft« gute Dienste geleistet.78 Während Ludwik Hirszfeld also Anerkennung für seine Forschung im Ersten Weltkrieg einsammelte, versuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunehmend und global, die Seroanthropologie für politische Ziele einzusetzen. Für Rumänien hat der Historiker Marius Turda einige der konkurrierenden Theorien aus der Zwischenkriegszeit beschrieben, die auf den Untersuchungen der Blutgruppen der Bewohner Rumäniens fußten.79 Den größten Einfluss übten die Untersuchungen aus, die Petru Râmneanţu in den 1930er Jahren in Siebenbürgen durchführte. Sie sollten eine »serologische Assimilation« der ungarischsprachigen Bevölkerung belegen, die zwar anderen kulturellen und sprachlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen sei, aber über das Blut als dem rumänischen Volk zugehörig identifiziert werden sollte.80 Er war davon überzeugt, dass serologische Untersuchungen eine der wichtigsten Errungenschaften für die Anthropologie darstellten, könne man doch mit ihrer Hilfe bestimmen, zu welcher Nation jede Bevölkerungsgruppe gehöre: »Blut« sage mehr darüber aus als Sprache oder Kultur, so seine Überzeugung.81 Auch in Finnland wurde versucht, mithilfe von anthropometrischen und serologischen Untersuchungen eine gemeinsame Herkunft der fin-

77 Eugenics Review, Oktober 1927, S. 261-264. 78 Kazimierz Stołyhwo, Ze Zjazdu w Amsterdamie Międzynarodowego Związku Organizacyj Eugenicznych, in: Zagadnienia Rasy III (1927), S. 77-83. 79 Siehe etwa Turda, Entangled Traditions of Race, S. 41. 80 Marius Turda, The Nation as Object: Race, Blood, and Biopolitics in Interwar Romania, in: Slavic Review 66/3 (2007), S. 413-441, hier S. 435. 81 Siehe Turda, From craniology to serology, S. 370. 145

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nisch- und schwedischsprachigen Einwohner nachzuweisen.82 In Japan wiederum sollten Blutgruppen als Identitätsmerkmal herhalten. Dieses Beispiel zeigt die global zirkulierende Natur der Blutgruppenforschung auf, die ihren Ursprung bei Erich von Dungern in Heidelberg nahm und an der Ludwik Hirszfeld partizipiert hatte: Der Mediziner Hara Kimata, der wie Hirszfeld bei Emil von Dungern ausgebildet worden war, hatte in einem Aufsatz im Jahr 1916 einen Zusammenhang zwischen dem Charakter eines Menschen und dessen Blutgruppe hergestellt.83 Im Anschluss daran nutzten Wissenschaftler diese Ergebnisse, um alle möglichen Phänomene damit zu erklären. So berichtete der Sozialpsychologe Takeji Furukawa 1931 in einem Aufsatz, dass sich die Volksgruppe der Ainu auf der Nordinsel Hokkaido viel bereitwilliger unter japanische Herrschaft habe unterwerfen lassen als etwa die Taiwanesen. Weil 41 Prozent der Taiwanesen die Blutgruppe 0 aufwiesen, die Ainu aber nur 23 Prozent, wurde die Blutgruppe 0 mit den Eigenschaften Stärke, Starrsinn und Eigensinn verbunden. Genau für diesen Typus interessierte sich in den 1930er Jahren das japanische Militär, um geeignete Soldaten für die Eroberungskriege im Pazifik zu rekrutieren.84 Der Stoff Blut ließ sich also mit verschiedenen, kulturellen Inhalten aufladen – dies verwundert nicht, war mit Blut doch, mit allen Konsequenzen, »das Ganze des Menschen« gemeint.85 Die völkisch-rassistische Seroanthropologie in Deutschland und Ludwik Hirszfeld

Im deutschen Sprachraum wiederum modifizierte und polarisierte sich das Forschungsfeld zunehmend in einen völkischen und einen liberaleren Teil, wobei es innerhalb der deutschsprachigen Blutgruppenforschung unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung auch inhaltliche 82 Yrjö K. Suominen, Physical Anthropology in Suomi (Finland), in: Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 59 (1929), S. 207-230. 83 Jennifer Robertson, Hemato-nationalism: The Past, Present, and Future of »Japanese Blood«, in: Medical Anthropology: Cross-Cultural Studies in Health and Illness 31/2 (2012), S. 93-112, S. 97 f. 84 Felix Lill, Japans Blutorakel, in: Die Zeit, Nr. 3/2014. Die Frage nach einem Zusammenhang von persönlichen Eigenschaften und Blutgruppen wird bis heute wissenschaftlich verfolgt, siehe etwa S. Tsuchimine u. a., AB0 Blood Type and Personality Traits in Healthy Japanese Subjects, URL: doi:10.1371/journal.pone.0126983 (2015) (Zugriff am 12. 4. 2021); Donna K. Hobgood, Personality traits of aggressionsubmissiveness and perfectionism associate with AB0 blood groups through catecholamine activities, in: Medical Hypotheses 77/2 (2011), S. 294-300. 85 Philipp Sarasin, Feind im Blut: die Bedeutung des Blutes in der deutschen Bakteriologie, 1870-1900, in: Christina von Braun (Hg.), Mythen des Blutes, Frankfurt a. M. 2007, S. 296-310, S. 306. 146

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Konvergenzen gab.86 Der völkische Teil aber strebte danach, Wissenschaftler jüdischer Herkunft wie Ludwik Hirszfeld oder Karl Landsteiner aus der epistemischen Gemeinschaft der Serologinnen und Serologen auszugrenzen und aus dem Forschungsfeld auszuschalten. Zum Ausgangspunkt der deutschsprachigen seroanthropologischen Forschung und Literatur, in der sich deutscher Revisionismus und völkisches Denken mit Forschung vermischten, war – neben der Originaluntersuchung der Hirszfelds und derjenigen von Mydlarski und Halber aus Polen – vor allem die erwähnte Studie von Verzár und Weszeczky geworden. Besonders attraktiv erschien diese Untersuchung, weil Verzár und Weszeczky nachgewiesen hatten, dass die Deutschen in Ungarn dem westeuropäischen Typus zuzurechnen waren und ihr Blut sich von dem der umgebenden Bevölkerungen deutlich zu unterscheiden schien. Dieses Ergebnis nahm die völkische Bewegung gerne auf, war es doch deren Ziel, die deutschsprachige Bevölkerung zu vereinen, von der etwa ein Viertel außerhalb der Grenzen der Weimarer Republik lebte.87 Für diejenigen, die eine Revision der Versailler Verträge anstrebten, hatte die Tatsache, dass das Blut der sogenannten Volksdeutschen in Ungarn sich klar von den umgebenden Gruppen unterschied, politische Implikationen: Man wollte die Blutgruppenforschung dafür nutzen, Volksdeutsche vor allem in Osteuropa »rassisch« zu identifizieren und ihre Integration in einen großdeutschen Staat zu befördern – hier handelte es sich daher um territorial-expansionistische, also politische Ziele, die mit Blutgruppen begründet wurden. Die Rassenforscherinnen und Rasseforscher schlossen aus den Ergebnissen, Blutgruppen seien ein Rassemerkmal. Einer der führenden völkischen Blutgruppenforscher, der Kieler Bakteriologe und Marinearzt Paul Steffan, hatte 1923 die Blutgruppenverteilung von 500 deutschen Matrosen analysiert und einen Anteil von 43 Prozent Blutgruppe A gefunden. Dieses Ergebnis nahm er zum Anlass zu behaupten, »daß die Bestimmung der Blutgruppen sehr wohl als Rassenmerkmal zu verwerten sei, was die Hirschfeldsche Arbeit noch leugnete«.88 Die maßgeblich von Paul Steffan initiierte und völkisch ausgerichtete Blutgruppenforschung wurde 1926 in der Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung (DGB) institutionalisiert. Gegründet wurde sie von Steffan und dem Anthropologen Otto Reche. Reches Forschungsschwerpunkt war ebenfalls die Blutgruppenforschung, die er gegen die 86 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 110. 87 Boaz, Serology, S. 47. 88 Paul Steffan, Die Bedeutung der Blutuntersuchung für die Bluttransfusion und die Rassenforschung, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 15 (1923), S. 137150, S. 142 f. 147

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vergleichend-anatomischen Methoden der Anthropologie privilegieren wollte, um zu den biologischen Ursachen des »Erbbildes« vordringen zu können.89 Reche und Steffan entwickelten in der Folge zahlreiche Aktivitäten, um großflächige Blutgruppen-Untersuchungen durchführen zu können; sie gründeten mit der »Zeitschrift für Rassenphysiologie« eine Fachzeitschrift und initiierten eine Reihe von Artikeln, um zu zeigen, dass der Prozentsatz von Blutgruppe B nicht nur im östlichen Teil der Welt höher als A sei, sondern in Deutschland auch unter Kriminellen, Alkoholabhängigen, geistig Erkrankten und Juden, obwohl sie den empirischen Nachweis für diese Behauptung schuldig blieben, da es nicht möglich war, auf der Grundlage von Blutgruppen klare »rassische« Trennungen vorzunehmen.90 Darüber hinaus entstanden verschiedene Karten, auf denen nicht nur die Blutgruppenverteilung zu sehen war, sondern auch eine Verbindung zu Daten über Haar- und Augenfarbe, Kopfform und Statur hergestellt wurde. Trotz dieser Bemühungen um die Eingliederung der Ergebnisse in die rassenpolitische Ideologie und obwohl die Institutionalisierung des Wissenschaftszweigs gelang, war der Seroanthropologie im nationalsozialistischen Deutschland kein besonders großer Erfolg beschieden. Zwar hatte die führende Autorität der SS in Fragen von »Rasse«, Hans F. K. Günther, mit direktem Bezug auf Verzárs und Weszeczkys Studie in seiner 1923 erschienenen, vierten Auflage der »Rassenkunde des deutschen Volkes« davon gesprochen, dass es »wahrscheinlich [ist], daß Blutuntersuchungen der Rassenkunde ganz neue Einsichten vermitteln würden.«91 Aber bereits 1929 schrieb er: »Es scheint, dass gegenwärtig in wissenschaftlichen Kreisen die Ergebnisse der noch sehr jungen rassenkundlichen Blutgruppenforschung – einer sehr wertvollen Bereicherung des rassenkundlichen Arbeitsverfahrens – überschätzt werden«.92 Und in der 1930 erschienenen Auflage der »Rassenkunde« warnte er, dass Blutgruppen sich nicht dazu eigneten, die traditionellen anthropometrischen Methoden zu ersetzten. Eine Blutgruppe sei lediglich eines von mehreren Merkmalen, und er nannte es einen »vulgären Fehler« zu glauben, man könne die »Rasse« eines Menschen aus seinem Blut ablesen.93

89 Maria Wolf, Eugenische Vernunft. Eingriffe in die reproduktive Kultur durch die Medizin 1900-2000, Wien, Köln, Weimar 2008, S. 48. 90 Siehe dazu Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 172-175. 91 Hans F. K. Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, München 41923, S. 142. 92 Ders., Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, Berlin 31929 (einmalige Ausgabe für die Deutsche Hausbücherei), S. 16. 93 Zitiert nach Mazumdar, Blood and Soil, S. 211. 148

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Die Blutgruppenforscher versuchten zwar, einen zentralen Platz in der Rassenforschung oder in der Anthropologie in Deutschland einzunehmen. Ihre Forschungsanträge wurden vom Staat aber nicht unterstützt, weil sich die Kriterien für »Rasse« im nationalsozialistischen Deutschland weiterhin auf die traditionelle Anthropometrie stützten. Für die Blutgruppenforscher blieb es empirisch unmöglich, klare »rassische« Trennungslinien innerhalb Deutschlands oder auf dem europäischen Kontinent zu ziehen. Selbst die im Nationalsozialismus verkündete Parole von der »Reinheit« des Blutes konnte nicht verdecken, dass es zwischen nichtjüdischen und jüdischen Deutschen sowie den Bewohnern der Nachbarstaaten keine prinzipiellen seroanthropologischen Unterschiede gab. Darin ist wohl der Hauptgrund zu sehen, dass die »rassische« Interpretation der Blutgruppen keine herausragende Karriere im nationalsozialistischen Deutschland machen konnte. Zudem sollte man nicht unterschätzen, dass in den anthropologischen, medizinischen, genetischen und eugenischen Fachzirkeln während des Nationalsozialismus zahlreiche unterschiedliche Ansichten über das »Rasse-Paradigma« herrschten – diese große Varietät machte es für die Serologie nicht einfacher, für die relativ junge Disziplin der Blutgruppenforschung Unterstützung zu finden und ihr Wissen innerhalb der Rassenforschung durchzusetzen.94 Auch während des Zweiten Weltkriegs sollten Fragen der Blutgruppenanalyse eine untergeordnete Rolle spielen. Der erwähnte Otto Reche, der die Bevölkerung im Osten im Jahr 1939 noch für »rassisch« unbrauchbar erklärt hatte, betonte während des Krieges, dass die Blutgruppe A in »rein ›nordischen‹ Gegenden überdurchschnittlich häufig auftritt«.95 Reche verwendete auch Jan Mydlarskis Ergebnisse, um zu argumentieren, in Polen finde sich ein hoher Prozentsatz an Blutgruppe A und somit »nordischer Rasse«. Dem deutschen Rasseforscher galten diese Polen somit als »eindeutschungsfähig«. Hingegen kritisierte Heinrich Gottong vom Institut für Deutsche Ostarbeit in Krakau 1941 Mydlarskis Ergebnisse, weil dieser die Polen als eine nationale Einheit gesehen habe, nicht aber als eine Gruppe von disparaten Elementen, für die er sie hielt.96 Die Er94 Siehe dazu Devin O. Pendas, Mark Roseman, Richard F. Wetzell (Hg.), Beyond the Racial State. Rethinking Nazi Germany, Cambridge 2017. 95 Otto Reche, Stärke und Herkunft des Anteils Nordischer Rasse bei den Westslawen, in: Hermann Aubin (Hg.), Deutsche Ostforschung, Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Bd. 1, Leipzig 1942, S. 58-89, S. 65. Zu Reche siehe auch Isabel Heinemann, Patrick Wagner, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 7-21, S. 9. 96 Heinrich Gottong, Stand der anthropologischen Forschung im früheren Polen, in: Deutsche Forschung im Osten (1941), S. 11-17. 149

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gebnisse Mydlarskis boten also ein weites Feld für Interpretationen, wurden aber in der Praxis der Siedlungs- und Rassenpolitik in den besetzten Gebieten nur wenig angewendet, weil sie keine eindeutigen Angaben zu sogenannten »eindeutschungsfähigen Elementen« lieferten. Somit bediente man sich bei der Untersuchung des »Rassewertes« der Menschen im okkupierten Europa zwar auch der Blutgruppen, sie waren aber nicht der wichtigste Marker.97 Systematisch wurden Blutgruppen im Zweiten Weltkrieg vor allem bei Angehörigen der Waffen-SS verwendet: Zur Erleichterung von Bluttransfusionen im Falle von Verwundung war vielen von ihnen die Blutgruppe auf den inneren Oberarm tätowiert worden. Trotz ihrer völkischen Ausrichtung wurde die DGB anfangs von vielen Serologen und anderen Wissenschaftlern als eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Fachgesellschaft wahrgenommen. Die meisten ihrer Mitglieder wurden als »inländisch« verzeichnet, und Emil von Dungern übernahm den Ehrenvorsitz. Aber die Gesellschaft hatte auch einige ausländische Ehrenmitglieder, so unter anderem Fritz Verzár, Werner Oswald Streng aus Finnland, den Herausgeber des »Ukrainischen Zentralblattes für Blutgruppenforschung«, W. Rubaschkin, und Boris Wischnewski, Leiter des »Bureaus der anthropologischen Blutgruppenforschung« in Leningrad.98 Bezeichnend war, wem eine solche Ehrenmitgliedschaft nicht angetragen worden war – dies wurde von der medizinischen Fachzeitschrift »Klinische Wochenschrift« wie folgt kritisiert: »Der von der Gesellschaft [für Blutgruppenforschung] versandte Aufruf ist von zahlreichen Forschern des In- und Auslandes unterzeichnet, unter denen auffallenderweise die beiden genannten Namen [Landsteiner und Hirszfeld] in gleicher Weise fehlen wie die anderer Gelehrter, die sich um das Gebiet der Blutgruppenforschung besondere Verdienste erworben haben, wie V. Dungern, Schiff, Bernstein, Lattes u. a.«99 Die Zeitschrift meinte weiter: »Landsteiner und Hirszfeld sind die geistigen Väter der Methode und ihrer speziellen Anwendung, und die Sachlage ist so, als hätte man zu Lebzeiten Ehrlichs eine Gesellschaft zur Erforschung des Salvarsans gegründet und ihn um seine Mitarbeit zu bitten nicht für nötig gehalten. Im Übrigen sind die Ziele der Gesellschaft nur zu begrüßen.«100 Dass Landsteiner und Hirszfeld jüdischer Herkunft waren, erwähnte die Zeitung nicht, obwohl ihre Nichtberücksichtigung ebenso wie im 97 Katja Geisenhainer, »Rasse ist Schicksal«. Otto Reche (1879-1966); ein Leben als Anthropologe und Völkerkundler, Leipzig 2002, S. 370. 98 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 113. 99 Zitiert nach ebd., S. 113-114. 100 Ebd., S. 114. 150

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Fall von Bernstein, Schiff und Lattes gezielt erfolgt war. So schrieb Reche in einem Brief an die Deutsche Forschungsgemeinschaft im November 1938, dass die »Zeitschrift für Rassenphysiologie« nicht zuletzt deshalb gegründet worden sei, um »die damals fast ausschließlich in jüdischen Händen befindliche Blutgruppenforschung allmählich unter arische Führung zu bringen«. Otto Reche war es ganz explizit ein Anliegen, den »jüdischen Einfluss« zurückzudrängen. Glaubt man seinem Assistenten Michael Hesch, so gelang dies: Er schrieb in einer Festschrift zu Reches 60. Geburtstag im Jahr 1939, durch das Wirken der Gesellschaft sei »vor allem auch der jüdische Einfluss auf diesem bis dahin ganz überwiegend von Juden bearbeiteten Gebiet in Deutschland schon vor 1933 weitgehend ausgeschaltet worden«.101 In der Tat waren es gerade Forscher jüdischer Herkunft wie Karl Landsteiner oder eben Ludwik Hirszfeld, die bedeutend zur Blutgruppenforschung beigetragen und das Forschungsfeld mit begründet hatten. Nun wurde es durch rassistische Nationalisten angeeignet, die zudem die Meinung vertraten, man könne Juden und Nichtjuden anhand der Blutgruppen unterscheiden, wovon in Hirszfelds Untersuchungen keine Rede war.102 Als maßgeblich an der Entstehung der transnationalen, seroanthropologischen Gemeinschaft Beteiligter verfolgte Ludwik Hirszfeld diese Entwicklung sehr genau. 1927 schrieb er an seinen Kollegen Felix Bernstein, dass die DGB den internationalen und wissenschaftlichen Charakter der Blutgruppenforschung gefährde: »Wir müssen wirklich auf der Hut sein, um den wahren, internationalen und wissenschaftlichen Charakter der Forschung zu wahren.«103 Hirszfeld distanzierte sich in der Folge von der Auslegung seiner Forschungen. 1934 etwa schrieb er: »Ich möchte mich von denen distanzieren, die die Blutgruppen mit der Mystik der Rasse verbinden. Wir haben einen Begriff der serologischen Rasse als Analogie zu dem der biologischen Rasse geschaffen […] Die tatsächliche Verteilung der Gruppen auf der Erde spiegelt die Kreuzung der Rassen wieder und ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Menschheit ein Mosaik von Rassen darstellt.«104 Und 1937 bemerkte er in kritischer Absicht auf einem polnischen Ärztekongress, in Deutschland sei es Ziel der DGB gewesen, die Rassenlehre zu begründen und Bevölkerungspolitik zu 101 Zitiert nach Geisenhainer, »Rasse ist Schicksal«, S. 133. 102 Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism 1870-1945, Cambridge 1991, S. 465. 103 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. F. Bernstein 1a, Bl. 14, Hirszfeld an Bernstein, 18. 11. 1927 (zitiert nach Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 121). 104 Hirszfeld, Groupes sanguines, S. 152. 151

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betreiben – dies kritisierte er ebenso als eine Anpassung an »momentane Bedürfnisse« und soziale Bedingungen wie auch das Vorgehen in Russland, wo eine Gesellschaft für Bluttransfusionsforschung mit dem Ziel gegründet worden sei, »sich auf den Krieg mit den kapitalistischen Staaten« vorzubereiten.105 Zu seinem »Ausschluss« aus der DGB, der im Gegensatz zu seiner gleichzeitigen internationalen Anerkennung stand, nahm er nach 1945 in seiner Autobiographie Stellung. Er erwähnte die beiden Gründer Reche und Steffan und fasste zusammen: »Die Gesellschaft erarbeitete einen recht unrealistischen Plan für Forschungsvorhaben zu den Blutgruppen, rief eine eigene Zeitschrift ins Leben und ernannte eine schier unglaubliche Menge an Ehrenmitgliedern. Die exzellentesten jüdischen Wissenschaftler umging sie jedoch: Felix Bernstein, Hans Sachs und Fritz Schiff; anfangs wurden auch Karl Landsteiner und ich nicht aufgenommen. Die ›Klinische Wochenschrift‹, die bedeutendste deutsche Ärztezeitschrift, protestierte dagegen. Wohl des öffentlichen Drucks wegen richtete man dann eine Einladung zur Ehrenmitgliedschaft an uns, die ich jedoch mit der Begründung ablehnte, kein Vertrauen zu einer Gesellschaft zu haben, die Wissenschaftler aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses und ihrer Rasse ignoriere.«106 Was Hirszfeld an dieser Stelle nicht erwähnte, war die Tatsache, dass er sich dennoch nicht gänzlich von der in Deutschland dominierenden Ausrichtung der Blutgruppenforschung fernhielt oder fernhalten konnte. Im Jahr 1932 brachte Paul Steffan im Rahmen der DGB ein »Handbuch für Blutgruppenkunde« heraus, das Ludwik Hirszfeld für die »Klinische Wochenschrift« rezensierte. Er kam zu dem Schluss, mit dem Handbuch liege »eine große und ernste« Arbeit vor, die es verdiene, studiert zu werden. Einzelne Abschnitte beschrieb er als »ausgezeichnet«, »fesselnd« und »objektiv« und auch den Aufsatz von Paul Steffan über die »Bedeutung der Blutgruppen für die menschliche Rassenkunde« bezeichnete er als »mit großer Sorgfalt zusammengestellt«. Gleichzeitig formulierte er seine Kritik: »Wenn ich aber dem Optimismus des Herausgebers widersprechen muss, so geschieht es, weil anscheinend an die Gruppenforschung bestimmte Hoffnungen geknüpft werden.« So lehnte er Steffans Formulierung ab, die Blutgruppenkunde habe der Völkerund Rassenkunde eine neue Erkenntnisquelle erschlossen und böte »Handhaben für die Bevölkerungspolitik«, und postulierte: »Ich kann 105 Zitiert nach Sylwia Werner, Claus Zittel (Hg.), Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, Berlin 2011, S, 367. 106 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 133-134. 152

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keine Wege erkennen, die von der Gruppenforschung zu einer Bevölkerungspolitik führen könnte[n].«107 Und obwohl er einige Teile des Handbuchs als handwerklich ungenau, veraltet und »peinlich« bezeichnete, stand er dem Vorhaben nicht generell ablehnend gegenüber. Man kann diese Rezension von Hirszfeld als einen Fall von Eigensinn im Sinne von Alf Lüdtke interpretieren: Hirszfeld partizipierte weiterhin am Diskurs der deutschen Blutgruppenforschung, inhaltlich kritisierte er sie – er praktizierte Abstand und Distanz und Mitmachen in der Ordnung der deutschen Blutgruppenforschung gleichermaßen.108 Dieses Handeln kann widersprüchlich erscheinen, ergab aber für ihn in der zeitgenössischen Situation einen speziellen Sinn, der sich auch in dem Umgang mit dieser Rezension in seiner Autobiographie wiederspiegelt. So ließ er in deren polnischsprachiger Ausgabe die Rezension unerwähnt. Im Zusammenhang mit der oben erwähnten Passage über die DGB wird das Handbuch lediglich kurz als tendenziös erwähnt. Anders in der deutschen Übersetzung der Autobiographie, die fast gleichzeitig mit der polnischen Originalversion nach dem Krieg 1945/46 entstand, aber unveröffentlicht blieb, gleichwohl in verschiedenen Archiven zugänglich ist.109 Darin nimmt Hirszfeld wie folgt Stellung: »Diese Gesellschaft gab später ein Lehrbuch über die Blutgruppen mit deutlich tendenziöser Färbung heraus […] Ich wurde aufgefordert das Handbuch für Gruppenforschung, herausgegeben von Steffan, zu besprechen. Ich schloss meine Besprechung mit Worten, in welchen ich den Zusammenhang zwischen Blutgruppen und Volkspolitik scharf verwarf.« Dann zieht er die gesamte Rezension in Zweifel: »Es war ein Irrtum ! Man hätte mit leidenschaftlichen, brennenden Worten die Unterwerfung der Wissenschaft den politischen Zielen des Hitlerstaats als Schmach hinstellen sollen«110 – auf diese Weise kritisierte er im Rückblick seine eigene, begrenzte zeitgenössische Partizipation an der Politisierung einer Forschungsauffassung, an deren Entstehung er beteiligt war und von der er 107 Klinische Wochenschrift 11/47 vom 19. 11. 1932, S. 1965. 108 Siehe Alf Lüdtke, Eigen-Sinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139-153. 109 Die deutsche Übersetzung, die seit 2018 vorliegt, ist eine Neuübersetzung der letzten polnischen Ausgabe von 2011, die bei Wydawnictwo Literackie in Warschau erschien. Sie weicht von den ersten beiden deutschen Übersetzungen, an denen Hirszfeld selbst mitgearbeitet hatte und aus denen hier zitiert wird, teils deutlich ab, weil sie die Passagen, die Hirszfeld offenbar für seine deutschsprachige Leserschaft verfasste, nicht enthält. 110 ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte, IB JUNA-Archiv/1613, Ludwik Hirszfeld: Die Geschichte eines Lebens, unpaginiert. 153

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sich nicht vollständig distanzierte, vielleicht aufgrund seiner Pionierarbeiten auch nicht entziehen wollte und konnte. Er partizipierte weiterhin am Kampf um die Deutungshoheit über die »hochsymbolische Substanz«111 Blut und wollte das Feld nicht der völkischen Seite überlassen. Zudem ging es für ihn darum, als Wissenschaftler jüdischer Herkunft in weite Teile der internationalen und der deutschen Blutgruppenforschung, aus der er ja selbst hervorgegangen war, integriert zu bleiben. Darüber hinaus war es eine der grundlegenden Prämissen seiner Forschungsarbeit, dass »die Wahrheit« in der Biologie verifizierbar sei, und darauf verließ er sich auch hier.112 Er bewegte sich im serologischen Denkkollektiv, übernahm dessen Schlüsselbegriffe und verortete sich »im Wahren«,113 selbst wenn er verschiedene Schlüsse dieses Kollektivs kritisierte und nicht mittrug. An den seroanthropologischen Forschungen an sich fand er weiterhin nichts Verwerfliches; sie waren ja auch international anerkannt. Zu einer Pseudowissenschaft wurde die Seroanthropologie erst später in der Wissenschaftsgeschichte deklariert, vor allem weil sie in der Historiographie oft mit der völkischen DGB gleichgesetzt wurde und sich die Forschung auf den deutschen Sprachraum konzentrierte, während der Anteil von ost- und ostmitteleuropäischen Wissenschaftlern an der Entwicklung des Forschungsfeldes eher marginalisiert wurde.114 Dass Hirszfeld die Passage über die Rezension situativ verwendete, sie nur für eine deutschsprachige Leserschaft vorsah und sie seinen polnischen Leserinnen und Lesern vorenthielt, lässt sich verschieden deuten: Möglicherweise meinte er, sich vor einer deutschsprachigen (und damit auch Schweizer) Leserschaft nach dem Krieg wegen seiner fortgesetzten Partizipation am Diskurs der völkischen Blutgruppenforscher rechtfertigen zu müssen. Auf der anderen Seite wollte er (oder sein Verlag Czytelnik) dem polnischen Publikum möglicherweise seine Partizipation an den völkisch kontaminierten Forschungsdebatten vorenthalten, um eine unzweifelhafte Gegnerschaft und maximale Distanz gegenüber der DGB und ihrer völkischen Politik zu betonen. Damit entsprach er dem damals vorherrschenden anti-deutschen Diskurs in der Volksrepublik Polen. Der sinnstiftende Charakter der Autobiographie, die an die zu erwartenden 111 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 197. 112 APAN LH III-157-76, Bl. 59-66, Przemówienie na posiedzeniu plenarnym Rady Naukowej przy Ministrze Zdrowia, 12. 1. 1953. 113 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1991 (frz. 1972), S. 25. 114 Zur deutschen Wissenschaftsgeschichte siehe Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 143. 154

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Reaktionen des Publikums angepasst wird, und dies ganz unabhängig davon, ob die unterschiedlichen Versionen von Hirszfeld selbst oder seinem Verleger in Polen forciert wurden, zeigt sich hier jedenfalls sehr deutlich.

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Die Entdeckung der Hirszfelds an der mazedonischen Front, die sich den Umständen des Weltkriegs verdankte, bedeutete vor allem für ihn eine Etablierung als global anerkannter Wissensakteur. Ausgehend von seinen frühen Forschungen bei Emil von Dungern zirkulierte dieses Wissen transnational und verließ dabei die in der Wissenschaftsgeschichte häufig angenommene bzw. vorausgesetzte Transferrichtung von West nach Ost, wenn etwa die deutsche Seroanthropologie freudig Ergebnisse aus Ungarn oder Polen rezipierte. Vorstrukturierte Vorstellungen von wissenschaftlichen Zentren und Peripherien müssen daher revidiert werden – die Zentren lagen nicht immer im »Westen«. Das Wissen erfuhr von der globalen seroanthropologischen Gemeinschaft eine fast universelle Anerkennung – von Forschenden jeglicher politischer Couleur, die mit unterschiedlichen Zielsetzungen daran interessiert waren, die Frage der Entstehung der menschlichen Vielfalt zu erklären. Einfache oder klare Lösungen bot die Seroanthropologie aber nicht an. Auf der einen Seite ging aus dieser Forschungsrichtung hervor, dass innerhalb einer sogenannten »Rasse« verschiedene Blutgruppen vorkamen, wodurch sie der Idee der »rassischen« Homogenität widersprach. Andererseits bestätigte die Serologie, dass Bluteigenschaften nach den Mendel’schen Gesetzen vererbt und nicht von der Umwelt beeinflusst wurden. Dies führte zu der Idee, dass unterscheidbare »Rassenmerkmale« im Blut zu finden seien, eine Idee, die die Vorstellungskraft sowohl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch von Politikerinnen und Politikern sowie Ideologen anregte. Neben der Anziehungskraft des Neuen und ihrer technologischen Einfachheit schien die Methode besonders in der postimperialen Zeit neuer Grenzziehungen im östlichen Europa vielversprechend dafür zu sein, einzelne Gruppen und ihre nationale Zugehörigkeit wissenschaftlich exakt bestimmen zu können; daher verwundert es nicht, dass einige der grundlegenden seroanthropologischen Studien, die auf Hirszfelds Untersuchungen auf bauten, aus Ungarn, Polen oder Rumänien kamen. Verschiedene nationale Bewegungen mit ihren Visionen und avantgardistischen Imaginationen von neuen sozialen Körpern versahen 155

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die Seroanthropologie mit neuen Impulsen. Dass dies wiederum nicht nur im östlichen Europa eine Option war, zeigt ein Beispiel aus Frankreich: Dort verfasste Fernand Chateau im Jahr 1938 in der Zeitschrift Mercure de France einen Artikel unter dem Titel »Rasse und Blutgruppen«, in dem er behauptete, dass man Blutstropfen von Menschen zweier unterschiedlicher »Rassen« nicht mischen könne, weil sie sofort verklumpen würden. Er war der Meinung, es gebe vier Blutgruppen auf der Welt, die mit den ethnischen Charakteristika der verschiedenen »Rassen« korrelierten – Gruppe A und AB sah er unter den »Ariern«, B unter den Völkern aus dem Osten und 0 unter Indianern und Eskimos.115 Die wachsende politische Radikalisierung in den 1930er Jahren, die nicht selten mit einer Biologisierung der Politik einherging, hatte das Forschungsfeld extrem politisiert. »Blut« wurde zu einer Antwort auf die Herausforderung, dass Grenzen und »Boden« umstritten und postimperiale Identitäten prekär waren. Wissen wurde damit zu einer Ressource der (gezielten) Gestaltung. Die Seroanthropologie als politisches Argument scheint dabei besser für Inklusion (wie im Fall der Volksdeutschen, in Rumänien oder Finnland) als für Exklusion funktioniert zu haben. So erklärt sich die relativ marginale Rolle, die sie für die nationalsozialistischen Rasseforscher letztlich gespielt hat. Die wissenschaftlichen Grundlagen der Seroanthropologie wurden trotz ihrer weiten Verbreitung bereits in den 1920er Jahren besonders in Großbritannien und den USA kritisiert und der »Rassenindex« der Hirszfelds mehrfach zurückgewiesen, weil er unter anderem die Blutgruppe 0 nicht berücksichtigt hatte; zudem erbrachte die Forschung in der Zwischenkriegszeit, dass es keine klare Verbindung zwischen Blutgruppe und »Rasse« gab.116 Für »rassische« Klassifizierungen stellte sich heraus, dass die Seroanthropologie die gleichen Nachteile wie die sich in der Krise befindliche Physische Anthropologie hatte, da sich kein Merkmal allein dafür eignete, eine »Rasse« zu bestimmen. Die Hoffnung also, mit der Seroanthropologie und den Forschungen der Hirszfelds ungelöste Fragen bei dem Versuch, menschliche Differenz zu systematisieren, beantworten zu können, gehörte eher in den Bereich des wishful thinking, als dass sie durch Daten oder Ergebnisse auf breiter empirischer Ebene hätte abgesichert werden können.117 Daher kam es zu keiner Stabilisierung des Forschungsfeldes in seinem weit verzweigten Akteursnetzwerk, sondern, wie Myriam Spörri festgehalten hat, zu einem Aufschub und zu Verlagerun115 Angeführt nach Schneider, Chance and Social Setting, S. 561. 116 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 170. 117 Siehe Marks, The Legacy of Serological Studies, S. 349. 156

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gen.118 Verlagerung meint vor allem die Beschäftigung mit der Frage eines Zusammenhangs von Krankheiten und Blutgruppen, der Blutgruppenpathologie, sowie mit heterospezifischen Schwangerschaften, also der Frage, welche Auswirkungen eine Gruppenungleichheit zwischen Mutter und Kind hatte – beides waren Forschungsthemen, die wiederum Ludwik Hirszfeld angestoßen hatte und auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird.119 Es ist trotz der ausgebliebenen Ergebnisse aber nicht sinnvoll, die Seroanthropologie lediglich als Pseudowissenschaft zu bezeichnen, die nur von Rassisten oder Ideologen betrieben worden wäre. Das wissenschaftliche Feld war sehr vielfältig, und zwischen den konkurrierenden Gruppen bestanden sowohl Konkurrenzverhältnisse als auch inhaltliche Konvergenzen, ohne die sich das Forschungsfeld gar nicht erst hätte konstituieren können.120 Dies gilt sowohl für die völkisch ausgerichteten Blutgruppenforscher um die DGB als auch für die Gruppe, die keine völkischen Ziele mit der Forschung verband – und auch innerhalb dieser Gruppen bestanden Unterschiede. Dass sich die Hoffnungen auf eine »Lösung des Problems der Rassen« nicht erfüllten, wussten viele Wissenschaftler wie Ludwik Hirszfeld zu ihrer Zeit noch nicht – er befand sich wie viele andere mitten in diesem Forschungsfeld und verwies immer wieder auf die Zukunft und auf (noch) ungelöste Fragen: »Welche Eigenschaften wir dann für die Einteilung des Menschengeschlechtes benutzen, ob eine bestimmte Schädelform, oder Pigment, oder Drehungsrichtung des Haarwirbels (Bernstein), oder die isoagglutinablen Substanzen, oder irgendeinen normalen Antikörper, welchen Eigenschaften wir also die Dignität eines anthropologischen Rassenmerkmals zuerkennen, dies hängt lediglich von ihrer Verwendbarkeit ab, ein harmonisches Bild des Weltgeschehens zu gewinnen […].«121 Wiederholt schrieb Hirszfeld sein und anderer Nicht-Wissen in die Zukunft ein und integrierte es so in die zeitgenössischen Diskussionen. So war er bereits 1918 überzeugt, »dass die Serologie uns ein Instrument gegeben hat, welches an der Lösung der tiefsten Probleme der Menschwerdung mit anderen Wissenschaftszweigen mitarbeiten kann, das bisherige Material ist aber noch für eine Synthese zu unvollständig und heterogen«.122 Aus den zunehmend nationalistischen Diskursen rund um die Seroanthropologie zogen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Ludwik Hirszfeld, die zwar vorgängig in Kategorien von »Rassen« dach118 119 120 121 122

Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 144. Ebd., S. 145. Ebd., S. 143. Hirszfeld, Die Konstitutionsserologie und ihre Anwendung, S. 25. Ebd., S. 130. 157

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ten, diese aber nicht hierarchisieren wollten, nicht gänzlich zurück, weil sie das Feld nicht den Rassisten überlassen wollten und an die neue und vermeintlich objektive Richtung glaubten. Hirszfeld bestätigte auch nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1952 die Existenz von »Rassen« und »biochemischen Unterschieden« als biologische Wahrheit123 – dies war Teil eines Denkens, das nach dem Zweiten Weltkrieg seine Anziehungskraft nicht vollständig verloren hatte. Weltweit wurde nach 1945 weiterhin seroanthropologisch geforscht, die Richtung war keineswegs diskreditiert. Ihre Zentren hatten sich aber aus Deutschland vor allem nach England und in die USA verlagert.124 Dort widmete sich etwa der Hämatologe und Genetiker Arthur Mourant, der sich 1960 bei dem amerikanischen Verlag William Morrow & Company für eine Übersetzung von Hirszfelds Autobiographie einsetzte,125 mit Bezug auf Hirszfeld weiterhin der Verteilung der menschlichen Blutgruppen als Basis einer wissenschaftlichen Anthropologie, wollte dabei aber jeglichen »mystischen Blick auf das Blut als Rassefaktor« vermeiden.126 Auch in Polen hielten Hirszfeld und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Bedeutung der Serologie für die Anthropologie fest. Während Jan Mydlarski der Seroanthropologie 1956 eine große Zukunft bescheinigte, hatte sich vor ihm bereits 1952 einer der engsten Schüler Ludwik Hirszfelds aus der Nachkriegszeit in Wrocław, Andrzej Kelus, davon überzeugt gezeigt, die Serologie sei der ideale Weg auch für anthropologische Forschung: »Die Überlegenheit der Serologie über die Morphologie beruht darauf, dass sich die Serologie objektiverer Methoden bedient und im Unterschied zur Morphologie zu eindeutigen Ergebnissen kommt.«127 Erst in den 1970er Jahren ersetzten DNA-Analysen das Blut als »Rassemarker«. Das Konzept von serologischen Indices wurde durch das der Häufigkeitsverteilung von Genen ersetzt.128 Dieser Schritt, der der Anerkennung von Blutgruppen als erstem genetischen Marker viel verdankt, hat die Balance zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Politischen zugunsten der Wissenschaft wieder hergestellt.

123 APAN LH III-157-76, Bl. 59-66, Przemówienie na posiedzeniu plenarnym Rady Naukowej przy Ministrze Zdrowia, 12. 1. 1953. 124 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 324. 125 APAN HH III-157-165, Bl. 5, Arthur Mourant an Hanna Hirszfeld, 23. 5. 1960. 126 A. E. Mourant, The Distribution of the Human Blood Groups, Oxford 1954, S. 1. 127 Kelus, Badania nad częstością grup krwi, S. 32. 128 Schneider, Chance and Social Setting, S. 561. 158

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ċũŐũƗƐ)Źž±ƒǍžƒŇýüŇŹžÏĚƣĻďƐĻ±ÏĚƐÚåķƐ)ŹžƒåĻƐœåĮƒīŹĞåď×Ɛ Die Verbindung von Wissenschaft und Praxis bei der Metallgesellschaft

Seine Tätigkeiten während des Ersten Weltkriegs nutzte auch Jan Czochralski, um sich in Deutschland sowie in Polen und über die Grenzen dieser beiden Staaten hinweg international als Wissenschaftler und als Experte für die sich in den 1920er Jahren herausbildende Metallkunde und deren praktische Anwendung zu etablieren. Noch während des Krieges übernahm er in Frankfurt am Main ein im Sommer 1917 neu gegründetes Metallurgisches Laboratorium der Metallbank und Metallurgischen Gesellschaft AG, der späteren Metallgesellschaft.129 1918 ging es im neu gegründeten Metallographisch-Mechanischen Laboratorium auf und wurde fortan Metall-Laboratorium genannt.130 Czochralski hatte sich im Juni 1917 bereits zum zweiten Mal dort beworben, eine erste Bewerbung vom März 1908 war erfolglos geblieben.131 Nun stellte er sich im Berliner Büro des Konzerns vor. Als »sehr überlegter Mensch mit anscheinend großen Kenntnissen auf metallurgischem Gebiet und fraglos über dem Durchschnitt heraus allgemein gut ausgebildet« hinterließ er einen »ganz vorzüglichen Eindruck«.132 Er begann seine Tätigkeit am 1. Oktober 1917 und zog mit seiner Familie, in der inzwischen bereits die Tochter Leonie (1914) geboren war, bevor Borys (1918) und Cecylia (1920) folgten, nach Frankfurt.133 Sein neuer Arbeitgeber war ein in ganz Europa dominierender und weltweit mit zahlreichen Industriebeteiligungen agierender Konzern im Handel und der Auf bereitung von Buntmetallen, der bereits in den Vorkriegsjahren auf einer soliden finanziellen Basis stand. Bis 1914 hielt er fast ein Monopol auf dem europäischen Kupfermarkt und stand an der Spitze eines der deutschen Zinksyndikate.134 Im Gegensatz zur AEG war 129 Die Fusion von Metallbank und Metallurgischer Gesellschaft zur Metallgesellschaft erfolgte formal erst im Jahr 1928, damit wurde aber nur ein Zustand sanktioniert, der praktisch schon lange bestanden hatte, siehe Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 161, Anm. 334; Marsch, Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, S. 390. Im Anschluss an die Fusion verlagerten sich die Interessen in die Industrie und die Technik, während die Bankgeschäfte abnahmen, siehe Stefanie Knetsch, Das konzerneigene Bankinstitut der Metallgesellschaft im Zeitraum von 1906 bis 1928, Stuttgart 1998, S. 113, S. 121. 130 Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 3. 131 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 2. 132 Ebd., Pos. 41. 133 Hessisches Wirtschaftsarchiv (HWA), Abteilung 119, Mappe 26, Aktennotiz vom 14. 7. 1964 in der MG von Dr. Kuhlmann an Prof. Dr. M. Hansen. 134 Marsch, Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, S. 390. 159

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die Metallgesellschaft eine Handelsfirma, die bis zum Ersten Weltkrieg keine oder nur sehr kleine wissenschaftliche Untersuchungsstellen oder technische Abteilungen unterhielt.135 Während des Kriegs dehnte der Konzern letztere stark aus.136 In dieser Zeit hatte er gute Erträge erwirtschaftet – der Reingewinn stieg von ca. 3,3 Millionen Mark im Jahre 1914/15 auf 5,1 Millionen im Jahre 1917/18.137 Im Anschluss bzw. noch während des Krieges forcierten vor allem der seit 1913 bei der Metallgesellschaft beschäftigte Diplomingenieur Alfred Petersen sowie Alfred Merton, einer der Söhne des Firmengründers Wilhelm Merton, die Ausweitung der Forschungsabteilungen. Petersen, der dem Vorstand des Konzerns angehörte, wurde mit der Entwicklung des Laborwesens betraut.138 Beide hatten erkannt, dass der Handel durch betriebsnahe Forschung zu fördern war, Forschung, die klarstellte, welcher Art die verkauften Metalle sein mussten, um optimal weiterverarbeitet werden zu können und für bestimmte Erzeugnisse brauchbar zu sein.139 Auch bei der Patentverwertung hatte sich die Notwendigkeit eigener Forschung gezeigt, besonders im Geschäft mit Lagermetallen, auf das weiter unten eingegangen wird. Die Notwendigkeit solcher Laboratorien erschloss sich zu jener Zeit noch nicht allen Industrievertretern – 1927 hielt ein Mitarbeiter des Metall-Laboratoriums fest, dass »die Nützlichkeit des Laboratoriums noch in vielen Unternehmungen angezweifelt oder glatt bestritten wird«.140 Czochralski ging also erneut an einen für die damalige Zeit sehr innovativen Ort. Mit der während des Krieges und verstärkt in seiner Folge entwickelten wissenschaftlich-technischen Struktur mit mehreren dezentralen Laboren und Versuchsstellen, die ein relativ starkes Eigenleben führten, sicherte sich die Metallgesellschaft eine Sonderstellung, da andere Handelsfirmen selten über einen solchen wissenschaftlich-technischen Unterbau verfügten – Metallanwender wie die AEG engagierten sich auf diesem Gebiet weitaus stärker als Metallanbieter wie die Metallgesellschaft.141 Bis 1920 hatte das Metall-Laboratorium fünf akademische Mitarbeiter und 15 135

136 137 138 139 140 141 160

Ulrich Marsch, Zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft – Metallforschung in Deutschland und Großbritannien 1900 bis 1939, in: Ivo Schneider, Helmuth Trischler, Ulrich Wengenroth (Hg.), Oszillationen. Naturwissenschaftler und Ingenieure zwischen Forschung und Markt, München 2000, S. 381-410, S. 384. Knetsch, Bankinstitut, S. 249. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 5. E. Scheuer, Das Metallographische Laboratorium in Dienste der Praxis, in: Metallwirtschaft 7 (1928), S. 1126-1130, S. 1126. Marsch, Zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft, S. 384.

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Laboranten angestellt. Diese Zahl war im Verhältnis 8 zu 24 im Jahr 1927 angewachsen – Czochralski baute das Labor beständig aus.142 Bei der Gründung des »Metallurgischen Laboratoriums« dürfte Czochralskis früherer Vorgesetzter bei der AEG, Wichard von Moellendorff, eine unterstützende Rolle gespielt haben. Denn von Moellendorff pflegte freundschaftliche Beziehungen zu Richard Merton, dem Vorsitzenden des Aufsichtsrates der Metallgesellschaft, die dieser arbeitsteilig mit seinem Bruder Alfred leitete. Richard Merton widmete sich auch der öffentlichen Seite des Geschäftlichen und führte das soziale Engagement seines 1917 verstorbenen Vaters Wilhelm weiter. Alfred Merton kümmerte sich hingegen vor allem um den Wiederaufbau der Metallgesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Zudem war er einer der führenden Kunstmäzene Frankfurts und im Kuratorium der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) vertreten.143 Die Merton-Brüder, deren Familie im Jahr 1899 vom jüdischen zum protestantischen Glauben konvertiert war, gehörten zu den führenden Persönlichkeiten der deutschen Metallindustrie.144 Richard Merton, der als modernen Ideen gegenüber aufgeschlossen galt, war 1917 als Adjutant im Rang eines Hauptmanns im Kriegsamt tätig gewesen und hatte dort mit von Moellendorff Tür an Tür gearbeitet, so dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass von Moellendorff ihn von der Notwendigkeit eines Labors für die Metallgesellschaft überzeugt hat.145 Die engen Beziehungen zwischen von Moellendorff und der Metallgesellschaft manifestierten sich darin, dass von Moellendorff seit Juli 1918 als wissenschaftlicher Berater der Metallgesellschaft arbeitete. Und nachdem er seine Tätigkeit als Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, die er nach seinem Ausscheiden aus dem Kriegsamt zwischenzeitlich übernommen hatte, im Jahr 1919 aufgab, trat er 1920 in den Aufsichtsrat der Metallgesellschaft ein, dem er drei Jahre lang angehörte.146 Seine Bekanntschaft mit Wichard von Moellendorff, die damit einhergehende Verankerung in soziotechnischen Netzwerken in Berlin und die Kenntnis der Grundstruktur eines Metalllabors, die von Moellendorff bei der AEG eingeführt hatte, dürften Czochralski bei seiner Anstellung also genutzt haben. Konsequent gab er von Moellendorff, neben Emil 142 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 9. 143 Siehe Ursula Ratz, Merton, Richard. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 17, Berlin 1994, S. 187-189. 144 Friedrich Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Reichen, Bonn 1964, S. 276. 145 Maier, Forschung als Waffe, Bd., I, S. 161-162; auch Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, S. 276. 146 Knetsch, Bankinstitut, S. 171, Anm. 5. 161

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Heyn, einem der bekanntesten Metallkundler und Metallographen der Zeit, der im Materialprüfungsamt in Berlin-Dahlem arbeitete, als eine Referenz in seiner Bewerbung an.147 Aber Czochralski hatte seine Anstellung in Frankfurt nicht allein Protektion zu verdanken, obwohl diese angesichts seiner fehlenden akademischen Abschlüsse hilfreich war. Er wusste vor allem durch sein inkorporiertes kulturelles, also sein praktisches Kapital zu überzeugen. Bereits in seiner Bewerbung hatte er verkündet, »an zuverlässiges und selbständiges Arbeiten gewöhnt und in der Lage [zu sein], den Anforderungen eines Metall- und Hütten-Laboratoriums durch schnelle und genaue Arbeitsmethoden voll und ganz zu genügen«.148 An optimistischem Vertrauen in sich selbst und »in den Wert seines Strebens als dem tragenden Element des Technikers hat es Cz[ochralski] offenbar nicht gemangelt«, so fasste Johannes Jaenicke, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Materialien über Jan Czochralski zusammengestellt hat, dessen Auftreten zusammen.149 Für das Frankfurter Labor entwarf Czochralski eine Art Arbeitsprogramm, das seinem Bewerbungsschreiben beilag. Darin sah er unter anderem eine »Verbesserung der Bearbeitbarkeit von Aluminium und Aluminium-Legierungen durch geeignete Legierungszusätze« sowie die Erschließung neuer Anwendungsgebiete aufgrund technologischer Studien vor. Neue Legierungen wollte er durch »planmäßige Durchforstung« der möglichen Zweistoff-Legierungsreihen erschließen, »die bis jetzt weder von der wissenschaftlichen Forschung noch durch Schutzpatente ausgebeutet worden sind«. Daneben wollte er sich der technologischen Erforschung von für die Nachkriegswirtschaft wichtigen Metallen wie Zink, Zinklegierungen und Magnesium widmen. Das Labor plante er »gemäß dem von W. v. Moellendorff vorgezeichneten Prinzip: Kombination von chemischen, metallographischen, mechanischen und physikalischen Studien in engster Verbindung mit Werkstättenversuchen und werktäglicher Praxis als führendem Grundsatz und heute nicht mehr zu entbehrender Voraussetzung zur Lösung technischer Aufgaben und als Organisationsprinzip«.150 Hier manifestierte sich idealtypisch eine disziplinäre Verbindung von Gegenständen und Methoden, deren anwendungsorientierte und profitable Verwendung nicht nur Czochralski, sondern auch die Merton-Brüder erkannt hatten.151 Aus dem Berliner Kontext des militärisch-industriell-technowissenschaftlichen Komplexes 147 148 149 150 151 162

Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 40. Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 10. Materialien zur Lebensgeschichte, S. 10. Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 39. Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 172.

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kommend, zu dem auch die AEG gehörte, erwies sich Czochralski hier als ein Mitinitiator und Mitträger der metallographisch-chemischen Erforschung von Mehrstoffsystemen der Metalle, die für die weitere Entwicklung der Metallkunde, die sich als Wissenschaft in dieser Zeit ja erst zu etablieren begann, sehr wichtig werden sollte. Nicht nur in seinem neuen Labor, sondern auch im etwas später gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung wurde dieses Thema zu einem Dauerbrenner, wie Helmut Maier festgehalten hat.152 Und ähnlich wie Ludwik Hirszfeld antizipierte Czochralski Forschungssituationen der Zukunft, wenn er etwa in seiner Bewerbung davon ausging, die Erfordernisse der Nachkriegswirtschaft bereits zu kennen – in der späteren Überlieferung galt er daher als jemand, der kühn »Erfolgsprophezeiungen« verkündete und künftige Entwicklungen vorwegnahm.153 Ausgehend davon, was über die Arbeit Czochralskis in Frankfurt bekannt ist, hat er sich im Wesentlichen an das von ihm vorgelegte Arbeitsprogramm gehalten, das von der Rohstoffsituation Deutschlands mitbestimmt war.154 Diese hatte sich nach dem Krieg kaum verbessert, zumal 1921 das ostoberschlesische Revier mit seinen wertvollen Kohle-, Eisenerz- und Zinkgruben und der Mehrheit der Verarbeitungsbetriebe an Polen übergegangen war, woraus resultierte, dass 80 Prozent der Zinkvorkommen verloren gegangen waren.155 Aber auch die während des Weltkriegs aufgetretenen Schwierigkeiten in der Versorgung mit teurem Zinn und Antimon blieben in der Nachkriegszeit bestehen, so dass die daraus entspringende Tendenz zur Rationalisierung des Werkstoffeinsatzes und zur Erforschung neuer Legierungen die Richtung der Arbeiten im Metall-Laboratorium bestimmte. In seinem Bewerbungsschreiben hatte Czochralski unter anderem einen Schwerpunkt auf die Fortentwicklung von Aluminium und dessen Legierungen gelegt. Das Metalllabor war im ersten Jahrzehnt seines Bestehens, also der Zeit, in der Czochralski ihm als Oberingenieur vorstand – einem Titel, den er dort nunmehr erhalten hatte –, nicht zufällig vor allem von zwei Werkstoffgruppen beherrscht: den Aluminium- und den Bleiwerkstoffen.156 Dies verdeutlicht die folgende Grafik:

152 Ebd. 153 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 10. 154 Da zahlreiche seiner Arbeiten der Geheimhaltung unterlagen oder durch Kriegshandlungen, Verlagerung oder Beschlagnahme vernichtet wurden, ist die Überlieferung lückenhaft. 155 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 175. 156 Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. X . 163

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Der Schwerpunkt auf der zweiten Werkstoffgruppe, die besonders bis 1924 im Vordergrund stand, geht darauf zurück, dass das Metalllabor unter anderem gegründet worden war, um das Geschäft mit Blei als Material für Wagenachsenlager aus der Zeit des Ersten Weltkriegs weiterzuentwickeln. Vor dem Krieg galt das Lager für den allgemeinen Maschinenbau mit seinen Beanspruchungen als ein »gelöstes Problem«, aber die Verknappung der bewährten Bestandteile während des Krieges, vor allem Zinn, hatte diese Situation grundlegend verändert.157 Da fast der gesamte Bestand an Zinn für Lagermetalle aus dem Ausland eingeführt werden musste, war Zinn während des Weltkriegs in hohem Maße zu einem »Sparmetall« geworden. Daher konnte das für die Herstellung von Lagermetallen gebräuchliche »Zinnweißmetall«, das sogenannte »Regelmetall«, nicht mehr in ausreichendem Maße hergestellt werden – dies aber hatte die Merton’sche Bleihütte Call der Kriegswirtschaft zur Verfügung gestellt. Das Zinn sollte möglichst durch das weitaus reichlicher vorhandene Blei ersetzt werden.158 Viele der auf dieser Grundlage hergestellten Ersatz-Lagermetalle wie das sogenannte Einheitsmetall, die durch Erhöhung der erhärtenden Anteile wie Antimon, Kupfer oder Arsen verbessert werden sollten, bereiteten in der Folge Schwierigkeiten, weil sie ein Heißlaufen der Wagenachsen verursachten oder andere Probleme wie eine hohe Sprödigkeit mit sich brachten. In der Folge wurde versucht, durch die Beigabe von geringfügigen Mengen von Alkali- und ErdalkaliMetallen das Blei einer Härtung zu unterziehen. In dieses Geschäft, die Lagermetalle zu verbessern, war die Metallgesellschaft bereits während des Krieges mit einer Legierung aus Blei und Barium unter dem Handelsnamen »Lurgi-Metall« (in Anlehnung an die Telegrammadresse der Metallurgischen Gesellschaft) eingestiegen, das die Reichsbahn verwendete.159 Das Lurgi-Metall bewährte sich auch in der Marine bei vielen Hilfsmaschinen mit Kurbelantrieb, Turbinen und Kompressoren.160 Die Erfindung des Lurgi-Metalls war dem Ingenieur Wilhelm Kroll zu verdanken, einem ehemaligen Assistenten von Walther Mathesius, Professor für Eisenhüttenkunde und Metallurgie an der Technischen Hochschule Charlottenburg. Kroll war bereits vor Czochralski bei der Metallgesellschaft eingestellt worden und hatte eine kleine 157 Kühnel, Werkstoffe für Gleitlager, S. 1. 158 Walther Däbritz, Fünzig Jahre Metallgesellschaft 1881-1931, Frankfurt a. M. 1931, S. 229. 159 Siehe BA Lichterfelde R 5-6460, Der Reichsverkehrsminister über Lurgi-Lagermetall am 20. 9. 1920. 160 A. Kessner, Ausnutzung und Veredlung deutscher Rohstoffe, 3. Auflage des Buches »Rohstoffersatz« (1915), Berlin 1921, S. 144. 165

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metallurgische Untersuchungsstätte eingerichtet, die später im neugegründeten Metall-Laboratorium aufging.161 Die ersten Patente auf Bleilegierungen mit geringen Zusätzen von Alkali- und Erdalkalimetallen wurden von der Metallgesellschaft im Jahre 1916 angemeldet. Bis 1927 waren es derer neun, die für die Metallgesellschaft ein einträgliches Geschäft bedeuteten.162 Die Umstellung von Zinn- und Kupferlegierungen auf gehärtetes Blei für Lagerauskleidungen hatte sich als technisch und wirtschaftlich vorteilhaft herausgestellt – sie war keine der rasch wieder aufgehobenen Ersatzmaßnahmen, derer es während des Krieges so viele gegeben hatte. In der Zeitschrift des Vereins der deutschen Ingenieure galt sie als dauerhafter Erfolg der Forschung auf dem Gebiet von Ersatzmetallen. So hielt der Ingenieur Hans Groeck, einer der späteren Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde (DGM), bereits 1920 fest: »Unsere Wissenschaft hätte sich damals ein großes Verdienst erwerben können, wenn sie der Industrie aufgrund einwandfreier Forschungen sofort hätte sagen können, dass sich z. B. für Lagerschalen an Stelle des zinnhaltigen Weißmetalls mit Erfolg Lurgi-Metall, Kalzium-Lagermetall oder eine andere der neueren Bleilegierungen verwenden ließ.«163 Und der »Berliner Börsen-Courier« akzentuierte die enorme Wichtigkeit der Metalle: »Nehmt der Industrie die Lagermetalle und Räder stehen still«.164 Die Bleilagerstoffe nahmen in der ersten Zeit im Labor den überwiegenden Platz ein, bis 1921 und dann wieder in den Jahren 1924 und 1925.165 Im Laboralltag war mit ihnen zunächst eine Reihe von Misserfolgen verbunden: Denn bei der Einführung der Einheitslagerschalen, die gelegentlich längere Zeit vor dem Einbau lagern mussten, war das LurgiMetall, das als »halbe Improvisation« galt,166 korrosionschemisch nicht hinreichend widerstandsfähig.167 Diese Legierung sollte Czochralski ver161 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 3; Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 10 und 12. 162 Die wichtigsten Legierungen und ihre Schutzrechte, in: Metallwirtschaft 6/46 (1927), S. 1175-1178, S. 1177. 163 Hans Groeck, Zukunftsaufgaben der Metallkunde, in: Zeitschrift des Vereins der deutschen Ingenieure 64/1 (1920), S. 19. 164 Berliner Börsen-Courier 25. 5. 1920, Das Neuste über unsere Ersatzmetalle. 165 HWA 119, Georg Welter, Zwölf Jahre Metall-Laboratorium, Frankfurt a. M. 1930, S. 1-2. 166 Siehe Anweisung über die Verwendung von Lurgilagermetall für Lokomotiv- und Wagen-Lager, zusammengestellt von der Technischen Abteilung der Metallbank und Metallurgischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1921, sowie Materialien zur Lebensgeschichte, S. 4. 167 Ebd., S. 12. 166

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bessern, was auch deswegen nicht einfach war, weil auch die bleihaltigen Stoffe, mit denen er arbeitete, aufgrund der vielfältigen chemischen oder mechanischen Reaktionen, zu denen sie fähig waren, ihre eigene agency hatten. Diese sollte Czochralski entschlüsseln, um sie dann beherrschen zu können. Denn wie die Stoffe letztlich wirkten, war Resultat der Praktiken, mit denen sie behandelt wurden. Auf der Grundlage der vorhandenen Lagermetallpatente, die auf den Vorarbeiten von Kroll beruhten, sollte er das Lurgi-Metall für den Betrieb bearbeiten und verfeinern.168 Ein großer Teil der Untersuchungen im Metalllabor ging auf Aufträge Dritter oder auf Reklamationen zurück, wenn ein Metall nicht das erbrachte, was von ihm erwartet wurde – dies wurde im Fall von LurgiMetall häufig auf unsachgemäßes Schmelzen und Vergießen zurückgeführt.169 Eine falsche Behandlung des Metalls war nicht unüblich: Probleme traten wegen Überhitzens in der Schmelze, Verunreinigungen sowie ungenügender Schmierung auf.170 Die zahlreichen Reklamationen wegen des Lurgi-Metalls seien dann in dem Maße verstummt, »wie sein [Czochralskis] ständiges Drängen auf sorgfältige und vorschriftsmäßige Herstellung der Legierung und auf Beobachtung der gebotenen Vorsicht beim Vergießen Gehör fand«, so Johannes Jaenicke.171 Czochralski und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelang es in langwierigen Versuchen, das Lurgi-Metall zu standardisieren, indem sie das Verhältnis zwischen Blei, härtenden Erdalkalien wie Barium und kornverfeinerndem Alkali genauer eingrenzten – denn das Verhältnis dieser Stoffe zueinander war für die Härte, die Gleiteigenschaften und die Korrosionsfestigkeit der Legierung maßgeblich.172 Dank seiner praktischen Erfahrungen war Czochralski zu einem Experten für Lagermetalle geworden. Bereits 1919 lieferte er gemeinsam mit einem Mitarbeiter des Metall-Laboratoriums, der intensiv über die Verwertung des Bleilagermetalls forschte, dem Maschinenbauingenieur Georges (Georg) Welter aus Luxemburg, ein Buchmanuskript zum Thema »Lagermetalle und ihre technologische Bewertung«173 beim Wissenschaftsverlag Julius Springer ab und hielt zahlreiche Vorträge zu diesem Thema. Im Jahr 1920 wurde das Buch in der »Zeitschrift für Metallkunde« von Otto Kammerer 168 Däbritz, Fünzig Jahre Metallgesellschaft, S. 229; Kühnel, Werkstoffe für Gleitlager, S. 97-132. 169 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 74. 170 Ebd., Pos. 94 und 133. 171 Ebd., S. 4. 172 Ebd. 173 Jan Czochralski, Georg Welter, Lagermetalle und ihre technologische Bewertung: Ein Hand- und Hilfsbuch für den Betriebs-, Konstruktions- und Materialprüfungsingenieur, Berlin 1920 (zweite Auflage 1924). 167

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aus Berlin, der während des Ersten Weltkriegs die Metallfreigabestelle des Kriegsministeriums geleitet hatte und an der Prüfung des Lurgi-Metalls beteiligt war, sehr positiv rezensiert. An anderer Stelle traf das Buch wegen der einseitigen Konzentration auf das Lurgi-Metall auf Kritik: Man könne sich der Enttäuschung nicht erwehren, schrieb der Rezensent, weil der Titel des Buches suggeriere, dass auch andere Legierungen berücksichtigt würden, dies aber keineswegs der Fall sei.174 Die Metallgesellschaft versuchte in der Folge, die Absatzmöglichkeiten für ihr Lurgi-Metall zu vergrößern, und suchte zu diesem Zweck die Nähe zu Ministerien und der Eisenbahnverwaltung, die ihrerseits daran interessiert waren, ein Lagermetall zu erhalten, das auch ohne Zinn der Vorkriegsqualität in nichts nachstand. Alfred Petersen schrieb 1919 in diesem Sinne an Wichard von Moellendorff, damals Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsministerium: »Nachdem bei uns jetzt eine einjährige Erfahrung über unser Lurgi-Lagermetall vorliegt, kann mit Gewissheit gesagt werden, dass dieses Lagermetall fast in jeder Einsicht einen vollwertigen Ersatz für hochprozentiges Weißmetall darstellt. Wir beabsichtigen deshalb, den Abnehmerkreis nach Möglichkeit zu vergrößern und wollen zu diesem Zwecke einen größeren Versuch bei der Eisenbahn machen.« Petersen bat von Moellendorff um Unterstützung für die Einführung des Lurgi-Metalls bei den Eisenbahnbehörden.175 Die nach dem Krieg geäußerte Meinung, die Metallgesellschaft habe »traditionsgemäß den Kontakt zu Regierungsstellen nie gesucht«, kann wohl als unzutreffend eingeschätzt werden.176 Das Ministerium reagierte und beauftragte den Metallausschuss im Verein der deutschen Ingenieure, das Lurgi-Metall zu prüfen und herauszufinden, ob es dem während des Krieges eingeführten Einheitsmetalls der Eisenbahnverwaltung oder einer von Walther Mathesius empfohlenen Calziumlegierung vorzuziehen sei.177 Die Reichsbahn veranlasste ebenfalls vergleichende Versuche, bei der auch ein Konkurrenz-Lagermetall auf Basis einer Blei-Calzium-Legierung (CanMetall) der Breslauer Firma Metallhüttenwerke Schaefer & Schael getestet wurde. Diese Versuche wurden zum Teil in Czochralskis Labor

174 E. H., Schulz, Bücherschau, in: Stahl und Eisen 41/19 (1921), S. 675. 175 BA Lichterfelde R 3101/4160, Metallausschuss des Vereins der dt. Ingenieure, 20. 3. 1919 sowie Dr. Ing. Alfred Petersen, Metallbank, an Prof. W. von Möllendorff. 176 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 8. 177 BA Lichterfelde R 3101-4160, Reichswirtschaftsministerium an Verein der dt. Ingenieure, 4. 4. 1919; auch HWA 119, Kasten 87, Besprechung vom 23. 10. 1923. 168

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ausgeführt.178 Zur Ausstattung eines Laboratoriumswagens stellte die Metallgesellschaft Apparate und Einrichtungsgegenstände zur Verfügung.179 Im Ergebnis dieser Versuche kam Walther Mathesius zu dem Schluss, dass sowohl das Lurgi- als auch das Calziumlagermetall von Schaefer & Schael Vorteile aufwiesen – da aber beide patentrechtlich geschützt waren, konnte man die Vorteile des einen nicht einfach auf das andere übertragen.180 Nach langwierigen Verhandlungen, bei denen die Metallgesellschaft und Schaefer & Schael darauf bestanden, jeweils das bessere Lagermetall herstellen zu können, wurde zwischen beiden Firmen im Jahr 1924 ein Vertrag geschlossen, in dem sie sich auf »Wunsch der Deutschen Reichsbahn« verständigten, »in gemeinsamer Zusammenarbeit unsere mit Alkali- und Erdalkalimetallen gehärteten Bleilagermetalle so zu verbessern, daß wir imstande sind, der Reichsbahn […] noch eine von uns beiden und von der Reichsbahn selbst als optimal anerkannte Legierung zu liefern«.181 Es entstand eine Blei-Calcium-Natrium-Legierung mit Zusätzen von hochwertigem Lithium und Aluminium (98, 63 Pb, 0,69 Ca, 0,62 Na, 0,04 Li, 0,02 Al), die eine der wenigen erfolgreichen aus der Ersatzstoffforschung hervorgegangenen Legierungen war.182 Die Zugabe von Lithium, dessen Herstellung in den Jahren 1919 bis 1923 ausgearbeitet worden war, erhöhte die Schmierfähigkeit und die Qualität der Legierung drastisch.183 Mit Rücksicht auf den Hauptabnehmer wurde die neue Legierung »Bahnmetall« (B-Metall) genannt.184 Sie war zwar hinsichtlich der Belastbarkeit und der zulässigen Umlaufgeschwindigkeit den hochzinnhaltigen Lagermetallen aus der Vorkriegszeit unterlegen, in diesen Eigenschaften anderen Legierungen auf Bleibasis aber weit überlegen.185 Walther Mathesius nannte sie ein »Idealmetall der Zukunft«, während der Ingenieur Arthur Burkhardt, der von 1929 bis 1935 bei der Metallgesellschaft arbeitete und somit als nicht unbefangen gelten darf, sogar 178 BA Lichterfelde R 5-6460, Metallbank an Reichsverkehrsministerium am 3. 1. 1921; Kühnel, Werkstoffe für Gleitlager, S. 2; siehe auch Wichard von Moellendorff, 25 Jahre Schaefer & Schael, in: Zeitschrift für Metallkunde 19/2 (1927), S. 77. 179 BA Lichterfelde R 5-6460, Metallbank an Reichsverkehrsministerium, 24. 4. 1920 sowie Anordnung des Eisenbahn-Zentralamts, 17. 2. 1921. 180 HWA 119, Kasten 87, Niederschrift über eine Besprechung in der Metallbank am 11. und 12. 10. 1923. 181 HWA 119, Kasten 87, Schaefer & Schael an Metallgesellschaft, 25. 11. 1924. 182 Kühnel, Werkstoffe für Gleitlager, S. 367-369; Patent-Nr. DRT 518395. 183 Welter, 12 Jahre Metall-Laboratorium, S. 13. 184 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 5. 185 Siehe Wilhelm Hofmann, Blei und Bleilegierungen. Metallkunde und Technologie, Berlin, Heidelberg 1941, S. 210. 169

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behauptete: »Es ist also keine Ersatzlegierung, sondern stellt einen mindestens vollwertigen besonderen Legierungstypus dar.«186 Die Legierung wurde ein durchschlagender Erfolg: In einem Bericht aus dem Jahr 1929 hieß es, sie habe im Jahr 1927 Einsparungen von 40 Millionen Goldmark erbracht und darüber hinaus die Schnelligkeit der Züge erheblich erhöht.187 Die Erfolgsgeschichte des Lurgi-Metalls verdankte ihre Entstehung ursächlich dem Geschick von Wilhelm Kroll. Aber auch Jan Czochralski, der bislang in der deutschsprachigen Literatur oft ungenannt blieb (während er in der polnischen Literatur oft als alleiniger Erfinder figuriert), hatte einen hohen Anteil daran, denn die Weiterentwicklung vom LurgiMetall zum Bahnmetall gelang hauptsächlich ihm sowie seinem Mitarbeiter Georg Welter.188 Im Jahr 1925 wurde seine Gewinnbeteiligung in einem Vertrag mit der Metallgesellschaft festgeschrieben: Demnach erhielt er eine »Beteiligung auf den Reingewinn, den die Metallbank im B-Metall-Geschäft erzielt, in Höhe von 10 «. In dem Schreiben wurde es Czochralski selbst überlassen, welche »Herren des Metall-Laboratoriums Sie an der Ihnen zustehenden Beteiligung partizipieren lassen wollen und in welcher Höhe«.189 Czochralski trat eine Unterbeteiligung an der ihm zustehenden Lizenz an Robert Hahn zu 15 Prozent, an Ernst Koch zu 15 Prozent sowie an Georg Welter zu 20 Prozent ab.190 Weiterhin hatte die Metallgesellschaft Erfinderabgaben an Wilhelm Kroll und an Walther Mathesius für das Lurgi-Metall bzw. Calcium-Metall zu zahlen. Dieses Abkommen sollte so lange laufen, wie die »Gültigkeit des oder der von Ihnen erfundenen B-Metall-Patente reicht« – dies war bis zum 12. 3. 1942 bzw. bis zum 18. 5. 1945.191 Die Gewinne, die Czochralski mit dem Bahnmetall machte, waren beträchtlich. Da die Überlieferung der Metallgesellschaft lückenhaft ist, lassen sie sich punktuell erfassen: Czochralski 186 BA Lichterfelde R 5-6460, Aktenvermerk: Arthur Burkhardt, Blei und seine Legierungen, Berlin 1935. 187 Tomaszewski, Powrót, S. 86; Welter, 12 Jahre Metall-Laboratorium, S. 13. 188 Wassermann und Wincierz sehen die Weiterentwicklung zum Bahnmetall vor allem an »die Person des Maschinenbauingenieurs Dr. Georg Welter geknüpft«, der wie Kroll von der TH Charlottenburg kam und bereits kurz vor Czochralski bei der Metallgesellschaft angefangen hatte, siehe Dies., Metall-Laboratorium, S. 12. 189 HWA 119, Kasten 26, Metallgesellschaft an Oberingenieur Czochralski, 8. 5. 1925. 190 HWA 119, Kasten 87, Schreiben des Juristischen Büros an die Devisenbeschaffungsstelle, 29. 5. 1934. 191 HWA 119, Kasten 26. Abkommen vom 8.5 .1925. Es handelt sich um die Patente DRP 433370 und DRP 518.395, wobei die Anmeldung des zweiten Patents ohne Czochralski erfolgte, die Zusammensetzung sei aber »von Herrn Czochralski mit erfunden«, heißt es in einer Mitteilung der Metallgesellschaft vom Juni 1941. 170

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erhielt etwa für die Zeit vom 24. Oktober 1934 bis zum 31. März 1934 von einem lizenzpflichtigen Gewinn von 91.651,72 Reichsmark am Bahnmetallgeschäft 9.100 Reichsmark – dies entspricht nach der Kaufkraftumrechung der Deutschen Bundesbank heutigen 39.130 Euro.192 Davon musste er etwa 4.550 RM (19.565 €) an die weiteren Lizenznehmer abgeben, es verblieben ihm also 4.550 RM (19.565 €) für ein halbes Jahr.193 Diese Information geht aus einem Schreiben der Metallgesellschaft hervor, in dem diese seitens des Frankfurter Finanzamtes darauf hingewiesen wurde, dass Czochralski es versäumt hatte, seine Einkünfte zu versteuern. Das Finanzamt hatte daraufhin eine Pfändungsverfügung gegen ihn wegen Steuerrückständen erlassen – woraufhin es die Metallgesellschaft zukünftig übernahm, diese Zahlungen direkt aus den Lizenzzahlungen auszugleichen.194 Für die Zeit vom 1. Oktober 1935 bis zum 30. September 1937 erhielt Czochralski umgerechnet 16.553,7 RM (69.525,54 €) – zu dieser Zeit, das wurde betont, bezahlte er laufend seine Steuern.195 Für das Jahr 1938/39 bekam er 18.767 RM (82.575 €), mit Kriegsbeginn ging der Ertrag zunächst etwas zurück und er bekam für 1939/40 noch 12.825 RM (56.434 €).196 An diesen Beispielen wird deutlich, dass Czochralski seit 1925 je nach Umsatz mit umgerechnet etwa 60.000 Euro, mal mehr, mal weniger, an jährlichen Einnahmen allein aus den Lizenzgebühren für das Bahnmetall rechnen durfte; es handelte sich dabei um keine geringen Summen. Trotz seines Erfolgs verursachte das Bahnmetall technische Schwierigkeiten, vor allem mit der allmählichen Erhöhung der Fahrgeschwindigkeiten bei der Bahn.197 Der Verschleiß war hoch, die Legierung oxidierte und ein Umschmelzen erwies sich als schwierig und kostenintensiv. Kritik wurde auch an der geringen Festigkeit geübt.198 Die Lohnkosten bei der Instandsetzung beschädigter Lager waren hoch. Das Bahnmetall kam 192 https://www.bundesbank.de / Redaktion / DE /Standardartikel / Statistiken/kaufkraftvergleiche_historischer_geldbetraege.html (Zugriff am 29. 1. 2020) 193 HWA 119, Metallgesellschaft an Devisenbewirtschaftungsstelle Frankfurt a. M. 29. 5. 1934. 194 Dies geht auch aus einem Schreiben vom 7. Dezember 1939 hervor, in dem die Metallgesellschaft angibt, die Steuerangelegenheiten der Lizenzgeber Egeberg, Czochralski, Welter, Kroll und Hauser, die in Deutschland beschränkt steuerpflichtig waren, zu erledigen; HWA 119, Kasten 75: Dr. W. Kroll, Notiz vom 7. 12. 1940 zu Einkommens- und Umsatzsteuer der bei uns geführten Steuerpflichtigen. 195 HWA 119, Kasten 26, Metallgesellschaft an Finanzamt Frankfurt Ost 11. 11. 1937. 196 Ebd., Metallgesellschaft an Finanzamt Frankfurt Ost am 2. 12. 1940. 197 Kühnel, Werkstoffe für Gleitlager, S. 102. 198 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 276. 171

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aber nicht nur wegen technischer Erwägungen in die Kritik, sondern auch, weil es patentrechtlich geschützt war und deshalb die oben erwähnten zusätzlichen Kosten verursachte.199 Die Reichsbahn, die das Bahnmetall in den 1930er Jahren zwar für alle Lager der Wagen ihrer Personen-, Güter und Schnellzüge, aber bei Lokomotiven und Triebwagen nur vermindert eingesetzt hatte, wollte vor einer uneingeschränkten Verwendung die Lizenzen ablösen.200 Dies war wegen der vertraglichen Vereinbarungen nicht möglich. Darüber hinaus diskutierten Vertreter der Eisenbahn immer wieder mit der Metallgesellschaft und der Firma Schaefer & Schael, um eine andere Zusammensetzung des Bahnmetalls zu erreichen, die das Umschmelzen erleichtern würde, was ebenfalls nicht gelang. 1932 wurden die Lager von Lokomotiven immer noch mit Regelmetall, nicht mit Bahnmetall ausgegossen.201 Um kurz auf die in der Einführung zu diesem Kapitel aufgeworfene Frage einzugehen, inwieweit nationalistische Tendenzen das Wirken von Czochralski und Hirszfeld bzw. die Rezeption und Inanspruchnahme der von ihnen erforschten Stoffe beeinflussten, kann gezeigt werden, dass das Bahnmetall zu einem nationalistisch bzw. antisemitisch konnotierten Gegenstand gemacht wurde. Denn die oben erwähnte Tatsache, dass die Eisenbahnleitung am Regelmetall für Lokomotiven festhielt, führte dazu, dass die Gauleitung der NSDAP in Hessen-Nassau dem Direktor des Reichsbahn-Zentralamts für Einkauf, Ernst Spiro, sowie dem Abteilungsleiter für die gesamte Werkstättenabteilung der Reichsbahn, Paul Levy, und Reichsbahnrat Landsberg aus Berlin im Jahr 1933 vorwarf, sie hätten der deutschen Wirtschaft schaden wollen, weil sie das als »ausländisch« gebrandmarkte Regelmetall mit importiertem Zinn dem inländischen Bahnmetall gegenüber bevorzugten. Auf diese Weise hätten sie, als Juden, es verstanden, ihren Einfluss zum Schaden der deutschen Volkswirtschaft geltend zu machen, gäben sie doch viel Geld ins Ausland und würden die deutschen Arbeiter, die die Lager aus Bahnmetall instandsetzten, hungern lassen.202 1934 hielt die Eisenbahnverwaltung, die sich inzwischen ihrer jüdischen Mitarbeiter entledigt hatte, dann fest, das Bahnmetall könne volkswirtschaftlich nicht mehr befriedigen, weil das Blei – nach Abtretung der oberschlesischen Hütten – nicht mehr als »deutsches Metall« gelten könne. Zudem wurde bemängelt, dass die 199 BA Lichterfelde, R 5-22028, AG Einheitliches Lagermetall für Fahrzeuge, Mai 1918-September 1932. 200 Ebd., 1. 8. 1930, Übersicht über den Stand der Lagermetallfrage. 201 Ebd. 202 BA Lichterfelde, R 5-22140, Arbeitsgemeinschaft zur Nachprüfung der Lagermetalle, 24. 3. 1933. 172

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Bahnmetallpatente in ausländischer Hand ruhten (damit waren Czochralski, Welter und Kroll gemeint). Erneut wurden Wissenschaftler damit beauftragt, die »Lagermetallfrage mit deutschen Rohstoffen einer befriedigenden Lösung näherzubringen«. Dies gelang dem beauftragten William Guertler von der TH Charlottenburg zumindest in den Jahren 1934 und 1935 nicht, so dass man weiterhin auf Bahnmetall zurückgriff.203 Und so galt es im Jahr 1939 immer noch als der gegebene Austauschstoff.204 Während des Zweiten Weltkriegs wurde es weiter produziert, in seiner Zusammensetzung noch einmal verändert und von der Reichsbahn abgenommen – die Legierung war letztlich bis in die 1960er Jahre in Gebrauch. Die zweite große Werkstoffgruppe, der sich Czochralski im MetallLabororatorium annahm, waren die Leichtmetalle, besonders Aluminium und Aluminium-Legierungen. Im Labor verdrängten die AluminiumGusslegierungen seit 1921 die Blei-Lagermetalle; in den Jahren von 1922 bis 1928 nahmen die Aluminiumlegierungen die breiteste Kapazität des Laboratoriums ein, im Durchschnitt etwa 58 Prozent.205 Die Verarbeitung von Aluminium bildete nach wie vor ein großes Forschungsfeld, das auch nach dem Krieg noch »im Rückstand« war.206 1922 konstatierte Georg Masing, die deutsche Literatur über Aluminiumlegierungen sei lückenhaft und der größte Teil der Erfahrungen ruhe in den Geheimarchiven der Privatindustrie.207 Die Metallgesellschaft war durch den Ersten Weltkrieg einer der führenden Anbieter von Aluminium geworden.208 Während vor dem Weltkrieg noch keine nennenswerte Produktion von Aluminium in Deutschland stattfand und der Bedarf durch Importe gedeckt wurde, fielen diese Einfuhrmöglichkeiten nach Kriegsbeginn weg. Gleichzeitig stieg der Bedarf der Rüstungsindustrie erheblich an. Als sich die Metallgesellschaft am Auf bau der Aluminiumindustrie tatkräftig beteiligte, führte Alfred Merton dafür rein militärische, keine ökonomischen Gründe an.209 Im Auftrag der Kriegsmetall-AG errichteten die Metallgesellschaft und die Firma Griesheim-Elektron 1915 203 Ebd. 204 Kühnel, Werkstoffe für Gleitlager, S. 407. 205 Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 20; Welter, 12 Jahre MetallLaboratorium, S. 2. 206 Groeck, Zukunftsaufgaben, S. 19. 207 Georg Masing, Über einige Aluminiumlegierungen, in: Die Naturwissenschaften 51 (1922), S. 1108-1111, S. 1109. 208 Marsch, Zwischen Staat, Wissenschaft und Wirtschaft, S. 390. 209 Susanne Falk, Roland Schwarz, Aluminium – Metall der Moderne, in: W. Schäfke, T. Schleper, M. Tauch (Hg.), Aluminium. Das Metall der Moderne. Gestalt, Gebrauch, Geschichte, Köln 1991, S. 27-69, S. 41. 173

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drei Erzeugungsstätten für Aluminium, die 1917 zu den Vereinigten Aluminiumwerken wurden.210 Nach Kriegsende wollte das Reich möglichst viele Firmen in seinen Besitz bringen, und die beiden Firmen schieden wieder aus – die Metallgesellschaft verblieb aber in enger Beziehung zu den Vereinigten Aluminiumwerken und vermarktete weiterhin das erzeugte Hüttenaluminium.211 Bei der Metallgesellschaft führte Czochralski grundlegende Studien über Gusslegierungen aus Aluminium mit Silizium, Zink und Kupfer durch und prüfte wie im Fall von Lurgi-Metall eingegangene Reklamationen und Produkte der Konkurrenz. Im Unterschied zum Lurgi-Metall finden sich in diesen Berichten auch Formulierungen wie »Mängelrüge gegen das Aluminium als berechtigt anerkannt«, wobei solche Fälle meist auf ungenügende Reinheit zurückzuführen waren.212 Einen Erfolg verbuchte die Metallgesellschaft unter Czochralskis Mitarbeit mit der Einführung der Aluminium-Silizium-Legierung »Silumin«, die Czochralski 1921 als einen bedeutenden Fortschritt und das Ergebnis »neuerer Forschungen« im Metalllaboratorium der Metallgesellschaft beschrieb. Vor diesen Forschungen waren »weder die Wissenschaft noch die Technik […] in der Lage, hochwertige Al-Si-Legierungen im technischen Maßstab oder auch nur im kleinen herzustellen«, so sein Resümee.213 Von dem ungarischen Metallforscher Aladár Pácz hatte die Metallgesellschaft 1921 das entsprechende Patent erworben.214 Unter Czochralskis Leitung ergänzte die Metallgesellschaft dieses Patent von 1921 bis 1926 um eine Reihe von Zusatzpatenten – im Metalllabor war ein größerer Teil der Arbeitskapazität zur Ausarbeitung dieser Legierung freigemacht worden, um herauszufinden, dass Aluminium-Silizium-Legierungen durch einen Natriumzusatz veredelungsfähig sind.215 Die neuen Legierungen fanden als »Silumin« (im Ausland als Alpax) guten Absatz.216 Czochralski führte auch nach der Einführung im Metalllabor immer wieder Versuche mit bzw. Prüfungen von Silumin durch, zum Teil gemeinsam mit Pácz, um die Veredelungsprozesse optimieren zu können.217 Dies gelang nicht im210 Knetsch, Bankinstitut, S. 161. 211 Manfred Knauer, Hundert Jahre Aluminiumindustrie in Deutschland (18861986), München 2014, S. 95-96. 212 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 135. 213 Jan Czochralski, Silumin, eine neue Leichtlegierung, in: Zeitschrift für Metallkunde 13 (1921), S. 507-510, S. 507. 214 Vgl. Knauer, Aluminiumindustrie, S. 114 sowie Welter, Zwölf Jahre Metall-Laboratorium, S. 14. 215 Ebd. 216 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 5. 217 Ebd., Pos. 118. 174

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mer, so hielt ein Bericht im Dezember 1923 fest: »Veredlung von Silumin mit Soda oder mit Borsäure gelingt nicht.«218 Im Laboratorium war man dennoch überzeugt, dass Silumin anderen Aluminiumlegierungen, der sogenannten »deutschen« (mit Zink) und der »amerikanischen Legierung« (mit Kupfer), überlegen war.219 Und tatsächlich fand Silumin aufgrund seines geringen Gewichtes bei hoher Festigkeit, guter Schweißbarkeit, elektrischer Leitfähigkeit und einer relativ hohen Korrosionsbeständigkeit eine hohe Verbreitung und konnte sich, ähnlich wie Duralminium, dau-

218 Ebd., Pos. 154. 219 Ebd., Pos. 251. 175

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erhaft durchsetzen.220 Es kam in der Elektroindustrie, für Motorenteile und im Apparatebau, vor allem im Flugzeug- und im Automobilbau, zum Einsatz (Abb. 6). Aus Silumin wurden Kurbel- und Getriebegehäuse, Räder und Karosserieteile gegossen. Im Jahr 1928 gewann mit dem »Mercedes SS« ein Auto den »Großen Preis von Deutschland«, für das zu einem großen Teil Silumin sowie die Magnesium-Aluminium-Legierung »Elektron« verarbeitet wurden.221 Auch »Elektron« prüfte man im Frankfurter Metalllabor – es war ein Produkt der Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron, mit der die Metallgesellschaft während des Kriegs gemeinsam das Konsortium zur Errichtung von Aluminiumhütten gegründet hatte.222 In der Zeit nach 1933 wurde Silumin zum wichtigsten Vormaterial für Aluminiumgießer und besonders bei der Luftwaffe eingesetzt.223 Aluminium-Silizium-Legierungen finden anders als das Bahnmetall bis heute Verwendung, und die von Czochralski ausgearbeiteten Veredelungsvorschriften und -hilfsmittel galten Jahrzehnte nach seinem Tod noch als brauchbar.224 Czochralskis Name ist mit einer Reihe weiterer Aluminiumlegierungen verknüpft, die die Metallgesellschaft unter den Namen Telektal, Zetal, Scleron (mit Lithium), Aeron (mit Kupfer), Ultralumin oder Oszillumin (ein schwach gekupfertes Silumin) patentieren ließ, Verbindungen, denen trotz erheblichen experimentellen Aufwands wenig Erfolg beschieden war.225 Dabei untersuchten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch alltagsrelevante Fragen, etwa, warum Aluminiumgeschirr sich leicht einschwärzte – dies hing laut Czochralski vor allem mit der Qualität des Wassers, nicht des Aluminiums zusammen. Zum Teil erwiesen sich aber bestimmte Stoffe als nur schwer in Aluminium lösbar oder gingen keine Verbindung ein.226 Die ungelöste Frage des Lötens von Aluminium etwa war ein Dauerbrenner im Labor, weil die Verfahren, die von anderen Legierungen bekannt waren, nicht einfach auf Aluminium

220 Der neue Silumin-Katalog, in: Metallwirtschaft 8/48 (1929), S. 1171; H. Steudel, Aluminiumlegierungen im Motorenbau, in: Zeitschrift für Metallkunde 5 (1928), S. 165-178, S. 172. 221 Falk, Schwarz, Aluminium, S. 58. 222 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 461. 223 Knauer, Aluminiumindustrie, S. 115. 224 Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 14. 225 Siehe etwa O. Reuleaux, Scleron-Legierungen, in: Zeitschrift für Metallkunde 11 (1924), S. 436-437. 226 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 126. Siehe auch Welter, 122 Jahre MetallLaboratorium, S. 18, der besonders den totalen und nicht aufzuklärenden Misserfolg der Legierung Scleron beschreibt. 176

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zu übertragen waren.227 Im Jahr 1921 hatten Czochralski, Robert Hahn und Georg Welter ein eigenes »gemeinsames Verfahren zum Löten von Aluminium auf Grund früherer Erfahrungen von Czochralski ausgearbeitet« und als Patent angemeldet – auf dieses Patent erhielt Czochralski 75 Prozent des Reingewinns aus den Lizenzen, wobei er wiederum 25 Prozent an die anderen beiden abgab.228 Aluimiumlote der Konkurrenz fanden hingegen selten die Gnade des Metall-Labors: »Fremdes Aluminiumlot trotz guter Haftwerte wegen Korrodierbarkeit von fragwürdigem Wert« oder »Das technologisch befriedigende Lot ist wegen hohen Zinngehalts und geringer Korrosionsfestigkeit uninteressant«, so oder ähnlich lauteten die Diagnosen.229 Neben Aluminium und Blei untersuchte Czochralski wiederholt Kupfer und Zink – Zinklegierungen galten nach dem Ersten Weltkrieg als völliges Neuland.230 Auch Lithium als Legierungskomponente und Veredelungsmittel stand häufig auf dem Prüfstand.231 Prinzipiell war das Metall-Laboratorium, das zu einem der größten und modernsten Industrielaboratorien jener Zeit geworden war, vor allem für die Sicherung der guten Qualität der Erzeugnisse zuständig, die die Metallgesellschaft oder befreundete Firmen herstellen ließen und vertrieben. Angesichts der prekären Rohstoffsituation nach dem Ersten Weltkrieg untersuchte das Labor auch die erneute Nutzbarmachung spezieller Legierungen, die während des Krieges im Umlauf und in der Wirtschaft nach dem Krieg nur schlecht verwertbar waren. Für die Zerlegung der Legierungen in Einzelmetalle entwickelte das Labor ganz neue Verfahren.232 Im Rahmen dieser »Demobilisierung« von Kriegsmaterial befasste sich Czochralski etwa mit der Aufarbeitung von aus dem Ersten Weltkrieg stammenden Altmetallen wie der Zink-Zünder-Legierungen, die durch Entzug von Aluminium für die Messingfabrikation nutzbar gemacht werden sollten.233 Zweifellos wurde das Metall-Laboratorium in den Jahren bis 1928 intensiv von seinem Leiter Czochralski geprägt. In den Erinnerungen ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Metallgesellschaft wird er als aktiver, phantasiereicher, energischer und sehr selbstbewusster Mensch 227 Maier, Material Culture, S. 271. 228 HWA 119, Kasten 26, Mappe 1: Abkommen der Metallbank und den Herren Czochralski, Hahn und Dr. Welter betr. Löten von Aluminium, 14. 4. 1921. 229 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 162 sowie 172. 230 Groeck, Zukunftsaufgaben. 231 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 6. 232 Goebel, Deutsche Rohstoffwirtschaft, S. 47-48. 233 Jan Czochralski, E. Lohrke, Zink-Zünderlegierung und ihre Verwertung I, in: Zeitschrift für Metallkunde 12 (1920), S. 145-149. 177

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beschrieben, der zuweilen unrealisierbare Pläne schmiedete.234 Er überzeugte offenbar als ein Mensch mit einer »überlegenen Intelligenz und blitzschnellen Kombinationsgabe«, der in vielen seiner Forschungen zukünftige Entwicklungen vorweggenommen habe. Als Leiter des Labors führte er ein »strenges, manchmal hartes Regiment und war als Chef gefürchtet« – aber auch Gerechtigkeitssinn und menschliches Verständnis, Ordnungsliebe sowie Hilfsbereitschaft galten für ihn als charakteristisch.235 Als wenig herzlich hingegen hatte ihn ein späterer Mitarbeiter des Metalllabors, Arthur Burkhardt, in Erinnerung: »Mein Chef in dem durch J. Czochralski berühmt gewordenen Laboratorium war Prof. von Halban, ein feingeistiger, sehr anständiger Mensch, hochbegabter Physiker. Er war in all diesen Eigenschaften das Gegenteil von seinem Vorgänger Czochralski, der zwar ein geschickter Metallkundler, aber menschlich weniger angenehm war.«236 Wissenschaftlich wurde an ihm kaum Kritik geübt – in Frankfurt habe Czochralski Gelegenheit gehabt, »seine große organisatorische und wissenschaftliche Befähigung unter Beweis zu stellen«, so Oswald Bauer, der resümierte: »Die von ihm ins Leben gerufene und zehn Jahre lang geleitete Versuchsanstalt ist als mustergültig anzusehen.«237 Anfänglich entwickelte sich das Laboratorium unter Czochralskis Leitung vor allem als ein Forschungslabor – als ein Indikator hierfür können die Patentanmeldungen gelten, die auf Forschungsarbeiten beruhten. In der Zeit von Oktober 1920 bis zum Oktober 1928 brachte es das MetallLaboratorium auf 65 Patente, wobei der Höhepunkt in den Jahren 1924 und 1925 erreicht wurde – anschließend fiel diese Zahl beständig ab.238 Czochralskis Abwesenheit vom Labor wegen einer längeren Krankheit in den Jahren 1926 und 1927 sowie seine intensive Vorstandstätigkeit für die Deutsche Gesellschaft für Metallkunde (DGM) seit 1926 dürften diesen Abfall mit beeinflusst haben. Mehr noch spielten betriebsinterne Gründe eine Rolle. Das Metall-Laboratorium entwickelte sich beständig weg von einem Forschungslabor hin zu einem Betriebslabor, das überwiegend Auftragsarbeiten abwickelte. Dies zeigen die folgenden, von Georg Welter ausgearbeiteten Grafiken deutlich: 234 235 236 237

Wassermann, Wincierz, Das Metall-Laboratorium, S. 9-10. Ebd., S. 10 sowie Materialien zur Lebensgeschichte, S. 9. Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 22. Mitteilungen der DGM: 11. Hauptversammlung der DGM am Donnerstag, dem 31. Januar 1929, zu Berlin, in: Zeitschrift für Metallkunde 21/2 (1929), S. 74-76, S. 74. 238 Welter, 12 Jahre Metall-Laboratorium, Anhang. 178

&FF VIGLXWSFIR +SVWGLYRKWEVFIMXIRYRH Lohnarbeiten 1919-1930

&FF QMXXMK Patent-Anmeldungen 1920/21-1930

&FF VIGLXWYRXIR Unwichtige laufende Berichte YRH5VÇJYRKWTVSXSOSPPI 1924-1930

Aus HWA  ,ISVK ;IPXIV >[ÁPJ /ELVI 2IXEPP1EFSVEXSVMYQ&RLERK&FFYRH

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Gleichzeitig stieg die Anzahl von Berichten und Prüfprotokollen, die Welter als »unwichtige und wenig tiefgreifende Arbeiten« kennzeichnete, rasant an. Forschungsarbeiten machten 1930 nur noch einen geringen Teil der Gesamtkapazität des Labors aus, während »Lohnarbeiten« stark zugenommen hatten. Denn je erfolgreicher die im Labor ausgearbeiteten Legierungen, vor allem das Bahnmetall und die Aluminium-Guss- und Knetlegierungen, waren, desto mehr mussten aktuelle Tagesfragen und Fragen betriebstechnischer Natur für die verwertenden Abteilungen bearbeitet werden – der Erfolg der Forschung begründete allmählich ihren Niedergang.239 Welter beklagte diese Entwicklung. Er bevorzugte ein Forschungslabor, das »Neuland betreten und vielfach völlig neue Wege gehen [muss], um zu Zielen zu gelangen, die oft in unübersehbarer Ferne liegen. Neue Methoden und Prüfapparate müssen geschaffen, unzählige Kombinationen von Metallen ausprobiert werden, neue wirtschaftliche Gesichtspunkte älteren Verfahren zu Grunde gelegt werden.« Welter akzentuierte auch den Wert von gescheiterten Versuchsanordnungen: Denn in seinem Ideallabor müsse auch »unmittelbar erfolglose« Arbeit geleistet werden, um die Forschung zu befruchten – unmittelbare wirtschaftliche Erfolge stellten sich dann zwar seltener ein, die Forschungsarbeit sei aber auf lange Sicht unabdingbar, so Welter.240 Diese Ansicht hatte auch Jan Czochralski vertreten, als er bei der Metallgesellschaft angefangen hatte. Es war auch die dortige Forschungstätigkeit, die ihm eine hohe Sichtbarkeit in transnationalen Kreisen von Wissenschaft und Industrie einbrachte. Zum einen fanden sich Abnehmer des Bahnmetall-Patentes in den USA , in der Sowjetunion, in England, in Frankreich und Polen. Zudem überschritt Czochralski zunehmend nationale Grenzen, indem er zum Berater großer internationaler Firmen aufstieg, wie etwa dem französischen Schneider-Creusot, dem tschechischen Škoda und dem schwedischen Konzern Bofors. Anerkennung fand er auch in England, wo er zum Ehrenmitglied des renommierten Institute of Metals in London gewählt wurde – aus dieser Ehrenmitgliedschaft resultierte eine enge Kooperation der DGM mit jenem Institut. Auslandsreisen führten ihn im Jahr 1922 mit Georg Welter zu einer Besichtigung der französischen Aluminiumwerke; im Jahr 1923 reiste Czochralski auf Einladung von Henry Ford in die USA . Dort erhielt er das Angebot, in den Fabriken von Ford in leitender Position zu arbeiten und sich besonders der weiteren

239 Ebd., S. 8. 240 Ebd., S. 11-12. 180

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Entwicklung von Aluminiumlegierungen zu widmen – Czochralski lehnte dies aber ab.241 Auf internationalen Kongressen war Czochralski ebenfalls vertreten: 1925 nahm er etwa an der zweiten Hauptversammlung der Vereinigung der Tschechoslowakischen Gießereifachleute in Pilsen teil.242 Dort hielt er einen Vortrag über den Gefügebau der Metalle. Er konzentrierte sich vor allem auf Aluminiumlegierungen und zeigte zahlreiche Schautafeln, die der Berichterstatter als »bemerkenswert« kennzeichnete. Nebenbei sei angemerkt, dass Czochralski diesen Vortrag in der Tschechoslowakei auf Deutsch hielt, was keine Selbstverständlichkeit war, war es doch gerade in Polen und der Tschechoslowakei infolge des Ersten Weltkriegs zu einem nachhaltigen Boykott der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache zugunsten von Französisch und Englisch gekommen. Aber die Gießereifachleute gingen hier offenbar pragmatisch vor. Der Berichterstatter Johann Mehrtens merkte an, dass bei einer Besichtigung der Škoda-Werke klar wurde, dass die »vorbildlichen Arbeiten des Deutschen Ausschusses für technisches Schulwesen recht erfolgreiche Nachahmung« gefunden hätten, und notierte einen Willen in der Tschechoslowakei, die Gießereibetriebe den Forderungen der Zeit entsprechend zu verbessern – und dabei sei die Mitarbeit deutscher Fachleute und Wissenschaftler erwünscht.243 In mehrfacher Hinsicht folgenreich war Czochralskis Teilnahme am Ersten Internationalen Kongress für angewandte Mechanik in Delft im Jahr 1924. Henryk Mierzejewski, Professor am Warschauer Polytechnikum für die Bearbeitung von Metallen, berichtete von dem lebhaften Interesse, das Czochralski dort mit seinen Forschungsergebnissen zur Gewinnung von großen Kristallen hervorgerufen habe, die Mierzejewski als »große Errungenschaft für die Metallographie« einstufte.244 Der Bauingenieur und Mechanik-Professor Maksymilian Tytus Huber beschrieb Czochralski als Wissenschaftler, der mit neuesten Methoden arbeite, und charakterisierte seine Präsentation als überaus interessant.245 Czochralski hatte dort einen Vortrag über »die Beziehungen der Metallographie zur physikalischen Forschung« gehalten und die sogenannte »Verlagerungs241 242 243 244

Materialien zur Lebensgeschichte, S. 8; Tomaszewski, Powrót, S. 70. Materialien zur Lebensgeschichte, S. 8. Aus Fachvereinen, in: Eisen und Stahl 45/44 (1925), S. 1819-1820. Henryk Mierzejewski, Pierwszy Międzynarodowy Zjazd, poświęcony mechanice stosowanej, in: Sprawozdania i Prace Warszawskiego Towarzystwa Politechnicznego 8 (1924), S. 39-44, S. 42. 245 M. T. Huber, Pierwszy Międzynarodowy Kongres Mechaniki Technicznej w Delft (Holandja) od 22.-28. kwietnia 1924, in: Czasopismo Technizcne 14 (1924), S. 277-281, S. 281. 181

ȋȀȷȤȃȧȇȀȄȇȀȇȤȷȎȧȐȷȎȇȤȎȤȲÇȐȇȀȃȇȋȝȇȤ

hypothese« zur Deutung der Verfestigungsvorgänge von Metallen und Legierungen unter mechanischer Belastung vorgestellt.246 Die Plastizität und Festigkeit der Metalle, bei denen es um die Gesetze der inneren Bewegung beanspruchter Metallmassen ging, waren bis in die 1930er Jahre ungeklärt, sie galten als »innere Wirren« des Kristallreiches.247 Mit seinem Vortrag hatte Czochralski eine aktuelle Herausforderung der Metallforschung aufgegriffen und eine Lösung erahnt. Allerdings widersprachen die Wissenschaftler Michael Polanyi und Erich Schmid vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Faserstoffchemie seiner Verlagerungshypothese heftig und dies zu Recht – Czochralskis Hypothese wurde auch in anderen Arbeiten kritisiert.248 Czochralski ließ sich davon gleichwohl nicht beirren und veröffentlichte seine Ergebnisse unter anderem in der renommierten Zeitschrift »Naturwissenschaften«.249 Ein Durchbruch gelang in dieser Forschungsfrage aber erst Michael Polanyi und anderen mit neuen physikalischen Methoden im Jahr 1934 und der sogenannten Verfestigungstheorie. Ihr Siegeszug in der Festkörperphysik und Metallkunde setzte dann in den 1950er Jahren ein.250 Michael Polanyi, der zunächst am KWI für Faserstoffchemie geforscht hatte, bevor er von 1923 bis 1933 an Fritz Habers KWI für physikalische Chemie wechselte, arbeitete in den 1920er Jahren mit weiteren Wissenschaftlern der KWG in Berlin-Dahlem wie Erich Schmid, der zeitweilig im Frankfurter Metall-Laboratorium angestellt war, sowie dem amerikanischen Chemiker Hermann Mark, der zu einem Experten für Kristallographie wurde und als Begründer der Polymerwissenschaften gilt, an Fragen der Kristallzüchtung und der Plastizität der Metalle. Sie stellten nach der Czochralski-Methode drahtförmige Einkristalle aus Zink, Zinn, Cadmium, Aluminium und Blei her und entwickelten die CzochralskiMethode fort.251 Zwischen der Metallgesellschaft und den Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gab es damals zahlreiche Kontakte und einen wechselseitigen Austausch von Wissenschaftlern.252 So entstanden 246 Evers u. a., Vom Spreeknie ins Silicon Valley. 247 Walther Deutsch, Die inneren Bewegungen beanspruchter Metallmassen, in: Metall und Erz 14/1 (1917), S. 9. 248 Siehe E. Schiebold, Die Verfestigungsfrage vom Standpunkt der Röntgenforschung, in: Zeitschrift für Metallkunde 11 und 12 (1924), S. 417-425 und 462-481. 249 Jan Czochralski, Die Beziehungen der Metallographie zur physikalischen Forschung, in: Proceedings of the First International Congress of Applied Mechanics 1924, S. 67-88, 87-88 sowie Naturwissenschaften 13 (1925), S. 425-435, 455-464. 250 Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 17. 251 Siehe A. Schulze, Die Vorgänge bei der Dehnung von Zinkkristallen; Robert W. Cahn, The Coming of Materials Science, Amsterdam u. a. 2001, S. 162. 252 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 221. 182

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Netzwerke der Forschung, von denen Czochralski ebenso profitierte, wie er sie mitgestaltete. Hermann Mark etwa erinnerte sich an eine enge Zusammenarbeit der unterschiedlichen Kaiser-Wilhelm-Institute mit dem Staatlichen Materialprüfungsamt. Ebenso schrieb er auf, dass der damalige Direktor des Prüfungsamtes, von Moellendorff, die Mitarbeiter der KWI mit Jan Czochralski bekannt gemacht hätte. Er selbst erinnerte Czochralski, den er Anfang 1923 erstmalig traf, als anregend und faszinierend, und bezeichnete ihn als »herausragende Persönlichkeit« der Metallforschung mit einem großen Forschungsteam. Er betonte vor allem dessen Bereitschaft, neue Forschungen aufzugreifen und unbekanntes Terrain zu betreten, etwa bei den Theorien zur Verfestigung.253 Ebenso erwähnte Mark Czochralskis Verdienste bei der Etablierung der Röntgenanalyse und Röntgenfeinstrukturuntersuchungen – auch dieses Gebiet war ein neues Forschungsthema, das Czochralski propagierte.254 Die Einführung von Röntgenstrahlen in die Metallographie bedeutete eine Erweiterung der optischen Prüfungsmethoden, die in den 1920er Jahren noch in den Anfängen steckten. Im Jahre 1928 eröffnete Czochralski eine Tagung der DGM, dessen Vorsitzender er damals war, zur »Röntgenforschung« mit den Worten: »Wenn dem Gebiete, das wir heute behandeln, die Unmittelbarkeit der praktischen Anwendung fehlt, so bitte ich Sie zu beachten, daß es sich um Dinge handelt, die heute in ihrer Tragweite noch nicht übersehen werden können; in zehn Jahren werden sie Gemeingut aller sein, wie dies auch die metallographische Wissenschaft geworden ist.« Czochralski sah es als Pflicht wissenschaftlicher Vereine an, der »technisch weitersehenden Institutionen«, wie er es ausdrückte, solche Gebiete rechtzeitig zu pflegen.255 Wie Hirszfeld inkludierte er noch nicht in den jeweiligen Denkkollektiven stabilisiertes Wissen, dessen Tragweite für die Forschung und die Praxis noch nicht klar erkennbar war, bereits in gegenwärtige Diskurse und Innovationssysteme und diskutierte es mit Fachkollegen. Eine weitere Bekanntschaft in dieser Hinsicht verschafften ihm seine Forschungen zu Aluminium-Legierungen, die ihn zu dem Physiker Walther Gerlach führten, der sich an Czochralski als »Leiter (und vor allem als Seele) der wissenschaftlichen Arbeiten bei der Metallgesellschaft« erinnerte. Die Bekanntschaft führte etwa dazu, dass Czochralski im Physikalischen Kolloquium der Universität Frankfurt am 9. Mai 1923 einen Vortrag unter dem Titel »Die Grundlagen der Verfestigungsvorgänge« 253 AAN, A /771/85, H. Mark, Remembrance of Professor Czochralski. 254 Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 19. 255 Jan Czochralski, Eröffnungsansprache zur Fachtagung Röntgenforschung, in: Zeitschrift für Metallkunde 10 (1928), S. 341. 183

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hielt.256 Darüber hinaus arbeiteten beide Wissenschaftler gemeinsam an Fragen von Aluminium-Silizium-Legierungen – und Gerlach erinnerte sich, dass das »Duraluminproblem damals völlig ungeklärt« gewesen sei. Die Verarbeitung dieser Aluminiumlegierung, die in Festigkeit und Härte Reinaluminium übertraf, war so komplex, dass sie noch nicht vollständig verstanden war.257 Aus der gemeinsamen Arbeit wurde bald mehr: »Gemeinsame künstlerische Freuden, Lust an reizvoller Gesellschaft, echter Genuss leiblicher Genüsse [wurden] der Boden einer herzlichen menschlichen Freundschaft.«258 Neben seiner Forschung an einzelnen, ungeklärten Fragen, die in mehreren tausend Seiten an Berichten und Anleitungen aus dem Metalllabor mündeten, arbeitete Czochralski auf dem Gebiet der allgemeinen Metallkunde. Er partizipierte aktiv an der Entwicklung dieser jungen Disziplin, worauf weiter unten eingegangen wird, und verfasste während der Zeit in Frankfurt zwei Bücher, obwohl er 1919 voller Elan sogar drei größere Publikationen geplant hatte, worüber er sich im Juli 1919 mit dem SpringerVerlag besprochen hatte. Er wollte zum einen ein Buch über seine experimentellen Untersuchungen zur Kristallisation und Verfestigung schreiben, zum zweiten eines über Kupfer und seine Legierungen und ein drittes über Lagermetalle und Metalltechnik – im Springer-Verlag war man davon überzeugt: »Alles wichtige Arbeiten für die Metallforschung!«259 Das Manuskript über Lagermetalle gab er am 2. Juli 1919 beim Verlag ab, und es kam in einer Auflage von 2000 Stück heraus. Die weiteren Bücher schrieb er nicht wie geplant, sondern ließ seine Überlegungen in das 1924 erschienene Lehrbuch »Moderne Metallkunde in Theorie und Praxis« einfließen.260 In diesem Buch verwies er nochmals eindringlich auf die Notwendigkeit industrieller Forschung in Deutschland. Daneben waren es vor allem thermische Prozesse, chemische Analysen und mechanische Versuche, die Czochralski darlegte. Dieses Werk fand in wissenschaft256 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 235. 257 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHsta), MK 54508, Walther Gerlach: Bericht über meine Vortrags- und Studienreise nach Polen (Warschau und Posen) vom 6. Mai bis 12. Mai 1939. 258 Archiv des Deutschen Museums München, Nachlass Walther Gerlach, NL 080/653, Autobiographische Notizen von Gerlach 1908-1950. 259 So wurde es im Juni 1916 zwischen Czochralski und seinem Verleger im SpringerWissenschaftsverlag besprochen, siehe Archiv des Julius-Springer-Verlags, Springer an Czochralski, 5. 6. 1916. Dem Verleger lag besonders daran, dass Czochralski noch das vor dem Krieg begonnene Taschenbuch für Metalltechnik fertigstellte – dazu kam es nicht mehr; stattdessen publizierte Czochralski das Buch »Moderne Metallkunde«. 260 Jan Czochralski, Moderne Metallkunde in Theorie und Praxis, Berlin 1924. 184

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lichen Kreisen »weitgehende Anerkennung und Verbreitung«, wie Oswald Bauer im Jahr 1929 festhielt und dem Buch bescheinigte, eine Fülle von Neuem und Anregendem zu bieten.261 Der Metallforscher Georg Masing lobte vor allem die aufschlussreichen Abbildungen in dem Buch, wodurch es allein schon »außerordentlich belehrend« sei. Sehr anregend fand er die Verbindung von praktischen Erwägungen mit wissenschaftlichen und prinzipiellen Hypothesen, obwohl er einige von ihnen kritisierte, besonders die bereits erwähnte, hier »heiß umstritten« genannte Verlagerungstheorie.262 Über diese Bücher hinaus veröffentlichte Czochralski zahlreiche Aufsätze und Abhandlungen, nach 1919 vor allem in der »Zeitschrift für Metallkunde«, dem Vereinsorgan der DGM. Im Zuge der Verwissenschaftlichung von Technik und Industrieproduktion dachte Czochralski auch über Scientific Management und die wissenschaftliche Kontrolle der Massenfabrikation nach, die nach dem Ersten Weltkrieg allmählich in den Unternehmen einsetzte. Als 1927 das erste Lehrbuch der statistischen Qualitätskontrolle erschien, hieß es im Vorwort, dass »leitende Persönlichkeiten in einzelnen Zweigen der Technik zu erkennen begonnen [haben], dass ihr Fabrikationsgegenstand sich im mathematischen Sinne als ›Kollektivgegenstand‹ behandeln läßt […], und daß man folglich bei Schwankungen der Eigenschaften dieser Gegenstände die Kollektivmaßlehre anwenden kann. Den ersten Versuch in größerem Maßstab hat Daeves auf dem Gebiet der Eisenindustrie gemacht, einen weiteren Czochralski auf dem Gebiet der Metallforschung, einen anderen Westman in Amerika in der keramischen Fabrikation. […] Die Durchdringung mit wissenschaftlicher Statistik ist für die Technik von der größten Bedeutung. Sie stellt einen weiteren Schritt auf dem Wege zur völlig bewussten Beherrschung aller Bedingungen des Produktionsprozesses dar« – auch auf diesem Gebiet gehörte Czochralski zu denjenigen Wissenschaftlern, die gerne bereit waren, Neuland zu betreten.263

261 Mitteilungen der DGM, 11. Hauptversammlung der DGM am Donnerstag, dem 31. Januar 1929, zu Berlin, in: Zeitschrift für Metallkunde 2 (1929), S. 74-76, S. 74. 262 Georg Masing, Rezension zu: Moderne Metallkunde in Theorie und Praxis, in: Die Naturwissenschaften 1 (1925), S. 15. 263 Richard Becker, H. Plaut, I. Runge, Vorwort zu: Anwendungen der mathematischen Statistik auf Probleme der Massenfabrikation, Berlin 1927. 185

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4.1.4 Jan Czochralski und die Institutionalisierung metallkundlichen Wissens I: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung

In der Folge des Ersten Weltkriegs kam es zu einer Gründungswelle kooperativer industrieller Forschungsanstalten, so dass die Jahre nach 1916 einen bis dahin ungekannten Ausbau des staatlichen wie des privaten industriellen Wissenschaftssystems sahen.264 Die neuen Institute sollten als zentrale Forschungseinrichtungen der jeweiligen Industrien dienen, was dazu führte, dass die Entwicklung der Technowissenschaften wie der Metallkunde eng mit dem Aufstieg der entsprechenden Industrien und den Bedürfnissen des Militärs verbunden war.265 Viele der neuen Institute wurden unter dem Dach der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geführt. Und so war auch die Initiative zur Gründung eines Kaiser-Wilhelm-Institutes (KWI) für Metallforschung unmittelbar mit den Kriegserfahrungen der mangelnden Rohstoffe und der Schaffung von Ersatzstoffen verknüpft.266 Sein Pendant, ein KWI für Eisenforschung, wurde bereits im Jahr 1917 ins Leben gerufen – anfänglich war diese Trennung in zwei Institute aber noch keine beschlossene Sache. Sowohl die Metallindustrie als auch das Militär und zahlreiche Wissenschaftler riefen aber nach einer eigenständigen Forschungsstätte für NichteisenMetalle. Insgesamt führte diese Konstellation zu einer beschleunigten Militarisierung des Wissenschafts- und Wirtschaftssystems.267 Die Aktivitäten zur Gründung eines KWI für Metallforschung nahmen vor allem zur Jahreswende 1916/17 an Fahrt auf. Fritz Haber, damals Leiter des KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie, meinte im Januar 1917, »ein solches Institut [würde] eine außerordentlich wertvolle Ergänzung der Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft sein«.268 Zu dieser Zeit holte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bei verschiedenen Experten Gutachten über das geplante Institut und seine 264 Ulrich Marsch, Industrielle Gemeinschaftsforschung in Deutschland und in Großbritannien, in: Bernhard vom Brocke, Hubert Laitko (Hg.), Die KaiserWilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte: Das Harnack-Prinzip, Berlin 1996, S. 561-573, S. 565. 265 Helmuth Trischler, Hans Weinberger, Engineering Europe. Big Technologies and Military Systems, in: History and Technology 21 (2005), S. 49-83; John Krige, Kai-Henrik Barth, Science, Technology, and International Affairs, in: Osiris 21/1 (2006), S. 1-21. 266 Siehe Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 155; Marsch, Industrielle Gemeinschaftsforschung, S. 567. 267 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 155. 268 AMPG I. Abt., Rep. A, 1871, Bl. 4, Trendelenburg an Harnack, 15. 1. 1917. 186

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Ausrichtung ein. Fritz Wüst von der Technischen Hochschule in Aachen postulierte im März 1917, inzwischen hätte nach dem Vorbild von Krupp eine ganze Reihe deutscher Eisenhüttenwerke wissenschaftliche Institute für den eigenen Bedarf errichtet. Allerdings gehe infolge der Geheimhaltung, die die Unternehmen praktizierten, »unendlich viel Arbeit verloren«. Da er es für ausgeschlossen hielt, dass sich die Industrie von diesem Prinzip freimache, sei eine rasche Förderung der metallurgischen Erkenntnisse nur durch ein Forschungsinstitut möglich. Als Arbeitsplan für ein solches »kriegswissenschaftliches Forschungsinstitut« postulierte er, es müsse nicht nur Eisen und Stahl, sondern alle technisch wichtigen Metalle und Legierungen behandeln.269 Eine gutachterliche Stellungnahme gab auch Emil Heyn ab, der überzeugt war, dass der Krieg gezeigt habe, »wie wenig wir in der Ersatz-Metallfrage wissenschaftlich vorbereitet waren«. Auch Heyn war davon überzeugt, dass wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der Metallkunde den jeweiligen Ländern einen Vorsprung gegenüber anderen einbringen würde – ihm wie vielen anderen diente immer wieder das 1908 begründete Londoner Institute of Metals, das sich mit Nicht-Eisenmetallen beschäftigte, als Vorbild. Für die bereits bestehende Forschung zu den Nicht-Eisenmetallen beklagte auch er einen »Geist der Geheimniskrämerei«.270 Diese Geheimhaltungsfrage zieht sich ebenso wie die Forderung nach einer umfassenden Erforschung aller Metalle wie ein roter Faden durch die Debatten um das KWI für Metallforschung.271 Noch vor Emil Heyn hatte Wichard von Moellendorff eine kurze Einschätzung abgegeben und sprach sich wie schon 1914 ebenfalls für ein solches Institut aus. Von Moellendorff präferierte dafür »Stoffkunde im engeren Sinne«. Als Experten benannte er die Professoren Emil Heyn, Otto Lehmann aus Karlsruhe, Gustav Tammann aus Göttingen, obwohl er jenen als »engherzigen Patriarchen« kennzeichnete, der sich gelegentlich »grob verhauen« habe, und William Guertler, den er als jüngeren, vielseitigen Mann mit etwas amerikanischem Einschlag bezeichnete. Nicht zuletzt stand Czochralski auf von Moellendorffs Expertenliste – er wurde als »mein ehemaliger Assistent« und als »Pole, intelligent, fleißig, nicht sehr zuverlässig, aber als zweiter Mann zu gebrauchen« bezeichnet. Eine Führungsaufgabe im Rahmen der KWG traute er Czochralski demnach nicht zu. Die Nennung seines Namens in einer Reihe mit weitaus erfahreneren und älteren Gelehrten dürfte seinen 269 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1871, Ueber die Entwicklung, den Stand metallurgischer Erkenntnis in Deutschland und über die Mittel zu deren Förderung. 270 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1871, Bl. 59-83, Emil Heyn an den Generealsekretär der KWG, 11. 2. 1917. 271 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 160. 187

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weiteren Aufstieg aber eher befördert als behindert haben – auch wenn das Verhältnis des ehemaligen Mentors von Moellendorffs zu Czochralski ambivalent gewesen zu sein scheint.272 Weitere Gutachten, die die Einrichtung des KWI für Metallforschung empfahlen, kamen von Wissenschaftlern, die sich zum Teil 1917 noch an Kriegsschauplätzen aufhielten, wie Gustav Tammann, K. Friedrich aus Kattowitz und William Guertler.273 Die Gebrüder Merton waren diejenigen, die die Einrichtung des Instituts energisch vorantrieben. Sie stellten eine halbe Million Reichsmark dafür in Aussicht. Alfred Merton traf im Frühjahr 1917 mehrfach mit Ernst Trendelenburg, dem damaligen Generalsekretär der KWG, zusammen.274 Trendelenburg sprach auch mit Richard Merton und berichtete an Adolf von Harnack, den Präsidenten der KWG: »Herr Merton ist sehr interessiert und sagte, sein Vater habe bereits ähnliches gedacht.«275 Aber die Gründung des Instituts zog sich hin, musste doch seine Arbeitsausrichtung so formuliert werden, dass alle Beteiligten von den Staatsvertretern bis zur Industrie, die das Institut wesentlich finanzieren sollte, diesem zustimmen konnten. Der Chef des Geheimen Zivilkabinetts, Rudolf von Valentini, bemerkte daher am 20. Mai 1917: »Das MetallforschungsInstitut wird noch manche mühsame Vorverhandlung nötig machen, aber auch diese Frage scheint mir der Lösung erfreulich nahe gebracht. Dass das alles unter dem Donner der Kanonen und der Herrschaft der Brotkarte möglich wird, ist ein schönes Zeichen deutschen Geistes.«276 Es setzte sich allmählich die Ansicht durch, den Rahmen für das Institut so weit wie möglich zu halten.277 Eine Kommission der KWG zur Errichtung eines Instituts für Metallforschung entstand und gab eine Denkschrift in Auftrag, um die Vorbedingungen zur Errichtung eines Institutes für Metallforschung auszuloten.278 In diese Denkschrift flossen Teile aus den erwähnten gutachterlichen Stellungnahmen ein, die die

272 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1872, Bl. 7-8, Aufzeichnungen von Moellendorff, undatiert. Da die Aufzeichnungen am 29. 1. 1917 an Heyn geschickt wurden, müssen sie vorher entstanden sein, siehe ebd., 1871, Der Generalsekretär der KWG an Heyn, 29. 1. 1917. 273 Ebd. 274 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1871, Bl. 96, Trendelenburg an Harnack, 26. 4. 1917. 275 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1871, Bl. 15, Trendelenburg an Harnack, 7. 2. 1917. 276 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1872, Bl. 107, von Valentini an Harnack, 20. Mai 1917. 277 25 Jahre Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung 1921-1946. Gewidmet Prof. Dr. Otto Hahn zu seinem 70. Geburtstag, Stuttgart 1949, S. 11. 278 Ebd., S. 8. 188

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KWG angefordert hatte.279 Obwohl namentlich nicht genannt, war Jan

Czochralski ihr Verfasser. 1929 würdigte ihn Oswald Bauer als solchen: »Die von ihm ausgearbeitete Denkschrift über die Notwendigkeit der Schaffung eines solchen Institutes hat mit den Anstoß zur Errichtung gegeben.«280 In der Denkschrift wies Czochralski darauf hin, dass Industrie und Wissenschaft zwar reich an vortrefflichen Forschungs- und LehrLaboratorien der verschiedenen metallwissenschaftlichen Gebiete seien, es ihnen aber an einer Forschungsstätte mangele, die die Wissenschaft von den Metallen in ihrer Gesamtheit umfasse, »ein wissenschaftliches Institut, das zugleich die Anwendung der wissenschaftlichen Lehren in Industrie und Technik berücksichtigt und darüber hinaus seine Forschungsarbeiten den jeweiligen Forderungen der Wissenschaft und Technik anpasst«.281 Er akzentuierte, dass der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne die Metalle unmöglich gewesen wäre – um den Vorsprung zu halten, müsse die Metallkunde weiter wissenschaftlich ausgebaut werden.282 Czochralski verwies ausführlich auf bestehende Institute in Frankreich, Schweden, Italien, Belgien, Russland, Japan, England und den USA und beobachtete, dass in den USA ebenso wie in England die Regierung die weitere Organisation der technisch-wissenschaftlichen Forschung selbst in die Hand genommen habe, und zwar »unmittelbar veranlasst durch den Weltkrieg«.283 Czochralski hatte für seine Gedanken als Experte, der seine Ressourcen in Politik umgesetzt sehen wollte, noch keine öffentliche Bühne – noch war er auf die schriftliche Form festgelegt. Seine Überlegungen passten jedenfalls nahtlos in die nationale Rückstandsdebatte, die den Vorsprung eines feindlichen Auslands beklagte. Diese ist zum einen vor dem Hintergrund der als schmerzlich empfundenen Kriegsniederlage zu 279 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1871, Gutachterliche Äußerungen zur Frage der Errichtung eines Instituts für Metallforschung. 280 Hauptversammlung der DGM in Berlin am 1. Januar 1929, in: Zeitschrift für Metallkunde 2 (1929), S. 75. Zudem befindet sich im Bundesarchiv in den Akten des Reichwirtschaftsministeriums ein Exemplar der Denkschrift ohne Datum, auf dem handschriftlich der Hinweis vermerkt ist: Übersicht durch Czochralsky [so im Orig.] von der Gesellschaft für Metallkunde am 5. 7. 1922, z. d. A., siehe BA Lichterfelde R 3101-4430, Bl. 166-174. Denkschrift zur Errichtung eines Instituts für Metallforschung, o. D. Die Denkschrift zirkulierte seit 1918, ein erster Entwurf aus dem Jahr 1917 findet sich im Stadtarchiv Frankfurt a. M. in den Akten des Magistrats der Stadt Frankfurt a. M., S 1578: Institut für Metallforschung. 281 Denkschrift zur Errichtung eines Instituts für Metallforschung, S. 2. 282 Ebd., S. 3. 283 Ebd., S. 6. 189

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verstehen, zum anderen eignen sich Krisen und das Sprechen über sie für die Mobilisierung von Kräften, die einem bestimmten Ziel dienen sollen – in diesem Fall der Akquirierung von Mitteln aus der Industrie, ohne die ein KWI für Metallforschung nicht gegründet werden konnte. Czochralskis Rhetorik verdeutlicht aber auch, dass Expertenwissen nicht nur für die Politik mobilisiert wurde, sondern vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen daran gelegen war, ihr Wissen loyal dafür einzusetzen, die jeweilige Nation und Gesellschaft durch ihre Erkenntnisse zu »modernisieren« – dies ging in zeitgenössischen Diskussionen mit der wiederholten Betonung einer aufzuholenden »Rückständigkeit« und einer daraus erwachsenden Krisenerfahrung einher. In Deutschland fokussierte der Rückständigkeitsdiskurs dabei vor allem auf die USA , den sich technische und naturwissenschaftliche Milieus in der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg und aufgrund der damit einhergehenden Sanktionen auch in der Wissenschaft unterlegen fühlten, aber auch auf Großbritannien. Die Broschüre traf wie geplant auf breite Unterstützung in der Industrie, beim Militär und der Regierung. Alfred Merton war die zentrale Figur, die hinter den Kulissen die Fäden zog.284 Bis Sommer 1918 kamen etwa drei Millionen Mark an Spenden zusammen.285 Sein Bruder Richard betätigte sich ebenfalls als Spendenakquisiteur und forderte Industrielle und Bankiers wie Max Warburg auf, Beträge für das Institut zu zeichnen.286 Wegen der Rolle der Mertons und der Interessen der Metallgesellschaft muss das von Czochralski geleitete Metall-Laboratorium geradezu als »industrieller Zwilling des KWI für Metallforschung« gesehen werden – beide entwickelten eine Art »symbiotisches Tauschverhältnis«, was sich auch im Austausch von Forschenden zeigte.287 Das Werben der Mertons führte nicht nur in der Industrie zum Erfolg. Auch das Kriegsamt, das bereits einen zukünftigen Krieg vor Augen hatte, sagte seine Unterstützung bereitwillig zu: »Das Kriegsamt erachtet es im Interesse einer zukünftigen Kriegsbereitschaft für ausserordentlich wichtig, die Bestrebungen dieses Instituts zu fördern. Die Metalle bilden, wie die Erfahrungen dieses Kriegs gezeigt haben, einen der Haupt-Rohstoffe, auf denen sich die Kriegswirtschaft aufbaut. Die Abhängigkeit Deutschlands vom Auslande hinsichtlich zahlreicher Sparmetalle hat zu ausserordentlichen Notmassnahmen geführt.« Ein zukünftiges Institut 284 Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, S. 276. 285 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 169; Marsch, Zwischen Staat, Wissenschaft und Wirtschaft, S. 397 f. 286 HWA Abt. 2000, Nachlass Robert Merton, Nr. 3. 287 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 170. 190

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sollte »gerade auf dem Gebiet des Ersatzes von Sparmetallen und des Ausfindigmachens neuer Metallverbindungen, mit denen wir vom Auslande unabhängig werden, die vorbereitenden Arbeiten der Beschaffungsstellen für einen zukünftigen Krieg […] erleichtern«. Das Kriegsamt forderte daher eine Unterstützung aus Reichsmitteln und schlug dafür einen einmaligen Betrag von 500.000 Reichsmark (RM) und einen Jahresbeitrag von 25.000 RM auf zehn Jahre vor. Kalkuliert waren Kosten einer Anlage von etwa 4 Millionen RM, von denen, wie erwähnt, im Sommer 1918 drei Millionen gezeichnet worden waren.288 Das Reichswirtschaftsministerium wiederum konnte dieser Argumentation gut folgen und begründete die Einstellung der Summe im Haushalt mit einem Text, der zum Teil wortwörtlich aus Czochralskis Denkschrift stammte.289 Für die Suche nach einem geeigneten Ort vermerkte Czochralski, das Institut müsse »eine Anlehnung an bestehende Anlagen mit gleichgerichteten Bestrebungen auf dem Gebiete der Forschung und der Lehre« finden. Wegen der Gewinnungsgebiete wichtiger Metalle in Preußen sowie der Gegend um Berlin als Verbrauchsgebiet schloss er: »Als bester Belegenheitsort des Instituts ist daher die Umgegend von Berlin zu bezeichnen.«290 Nach Kriegsende beschloss die Kommission jedoch zunächst, Frankfurt am Main zum Sitz des Instituts zu machen.291 Die Stadt hatte ein kostenloses Gebäude sowie einen jährlichen Zuschuss zugesichert, worauf im Reichswirtschaftsministerium im Januar 1919 festgehalten wurde: »Ich stimme der dortigen Ansicht zu, dass die Wahl der Stadt Frankfurt als Sitz des Unternehmens für das Gedeihen des Instituts wesentliche Vorteile bieten würde.«292 Der Senat der KWG erklärte seine Bereitwilligkeit, das Institut dort zu errichten.293 Alfred Merton bat daraufhin den Oberbürgermeister Frankfurts, ein geeignetes Gebäude zu finden.294 Dies gestaltete sich schwierig – man fasste eine ehemalige Kaserne ins Auge. An der Besichtigung dieses Ortes nahmen Wichard von Moellendorff, Jan Czochralski, Alfred Petersen und Georg Welter von der Metallgesellschaft teil. Der Bericht, den Czochralski über diese Besichtigung verfasste, fiel negativ aus und äußerte »schwerwiegende 288 BA Lichterfelde R 3103-4102, Bl. 16, Kriegsamt an Reichskanzler (Reichsschatzamt), 29.8. 1918. 289 BA Lichterfelde R 3103-4102, Bl. 59-65, Begründung für die als Beitrag zur Errichtung eines Metall-Forschungs-Instituts in den Etat eingestellten Mittel. 290 Denkschrift zur Errichtung eines Instituts für Metallforschung, S. 14. 291 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1876, Bl. 225-226, Aufzeichnung über die Sitzung der Kommission für die Errichtung eines Instituts für Metallforschung am 19. 1. 1920, 292 Stadtarchiv Frankfurt a. M., S 1578, Institut für Metallforschung. 293 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1873, Bl. 115a. 294 Stadtarchiv Frankfurt a. M., S 1578, Institut für Metallforschung. 191

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Bedenken«. Die Lichtverhältnisse, die Ventilation, die zu geringe Größe der Räume, mangelnde Abzugsmöglichkeiten für Abgase auch größerer hüttentechnischer Öfen fanden nicht das Gefallen der Sichtungskommission. Das Fazit lautete: »Alles in allem scheinen die in Frankfurt a. M. zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten für ihre Umwandlung in ein wissenschaftlich-technologisches Institut die denkbar ungünstigsten zu sein.«295 Aus anderen Gründen sprach sich der Verein der deutschen Ingenieure entschieden gegen den »argen Fehlgriff« Frankfurt aus, lägen doch die Einrichtungen dort »dem Zugriff der Entente viel näher als in Berlin«, so der Vereinsvorsitzende Waldemar Hellmich im Februar 1920 in einem Brief an von Harnack: »Bei der ausserordentlichen Bedeutung des Metallinstituts werden sich unsere Feinde keinen Augenblick besinnen, um bei passender Gelegenheit die Hand auf dieses Institut zu legen. Man müsste sogar, um das Schlimmste zu vermeiden, doppelte Akten führen«296 Zudem fand Hellmich, es mangele in Frankfurt am Main – im Gegensatz zu Berlin – an einem lebendigen wissenschaftlichen Leben »mangels hinreichender wissenschaftlich gebildeter Herren der Praxis« – ob sich diese Bemerkung gegen die Mertons oder gegen den Autodidakten Czochralski richtete, ist an dieser Stelle weder festzustellen noch auszuschließen.297 Inzwischen war im Februar 1920 eine weitere Möglichkeit bei Berlin ins Spiel gekommen, die Zentralstelle für wissenschaftlich-technische Untersuchungen in Neubabelsberg, die von der Waffen-, Munitionsund Sprengstoffindustrie finanziert worden war und infolge des Versailler Friedensvertrages aufgelöst werden musste. Dort befanden sich bereits ein Laboratorium und weitere Einrichtungen, die mit wenigen Abänderungen für das Institut für Metallforschung genutzt werden konnten.298 Alfred Merton, der inzwischen die Leitung der Kommission für die Errichtung eines Instituts für Metallforschung übernommen hatte, begann sofort mit ersten Schritten, die dortigen Apparate zu sichern, und eröffnete die Möglichkeit, »der Entente gegenüber eine Privatfirma vorzuschieben«299 – die militärische Ausrichtung des Instituts sollte so verschleiert werden. Merton wollte trotz seines dortigen Firmensitzes nicht an Frankfurt festhalten, denn es handele sich ja um eine »deutsche Angelegenheit«.300 295 296 297 298 299 300 192

Ebd., AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1873, Bl. 43-45, Hellmich an Harnack, 24. 2. 1920. AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1872, Bl. 20-21, Hellmich an Glum, 13. 2. 1920.

Stadtarchiv Frankfurt a. M., S 1578, Institut für Metallforschung. AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1877, Bl. 37, Merton an Harnack, 27. 1. 1920. AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1873, Bl. 38-39, Merton an Harnack, 4. 2. 1920.

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Im Jahr 1921 erfolgte die Gründung des Instituts, und Emil Heyn, Professor für allgemeine mechanische Technologie an der Technischen Hochschule Berlin, übernahm den Vorsitz.301 Dies bedeutete, einer Richtung in der Metallkunde den Vorzug zu geben, die Wichard von Moellendorff so charakterisierte: »Die Heynsche Richtung war dadurch gekennzeichnet, dass sie, von einer allgemeinen physikalischen und chemischen Technologie herkommend, die Wege der bisher vorherrschenden Eisenmetallurgie verließ und die Bahn für eine komplexe Metallkunde überhaupt erst freimachte […].« Heyn habe sowohl »die Wichtigkeit vereinigter Arbeit von Theorie und Praxis« erkannt als auch das »vielfältige Ganze der Metallkunde« und die Verwissenschaftlichung der Empirie auf den Teilgebieten außerhalb von Eisen angeregt.302 Jan Czochralski, der dieser Richtung der Metallkunde sehr nahe stand, blieb dem Institut verbunden und wurde im April 1921 in seinen wissenschaftlichtechnischen Beirat berufen.303 Die Gründung stand unter keinen glücklichen Vorzeichen. Friedrich Glum, damals Generalsekretär der KWG, erinnerte sich an das Institut als eine »tragische Angelegenheit«, denn Heyn starb schon bald nach der Übernahme im Jahr 1922 und die Inflation tat das Übrige: »Das Geld schmolz wie Butter in der Sonne.«304 Erneut musste ein Direktor gefunden werden. Einig war man sich darin, dass die Ausrichtung einer breit verstandenen Metallkunde beibehalten werden sollte.305 Auf der Sitzung des Verwaltungsausschusses des Instituts entstand eine Vorschlagsliste mit den Namen von neun potentiellen Direktoren, darunter Vertreter der Industrie und verschiedene Lehrstuhlinhaber: Oswald Bauer, Jan Czochralski (der hier als Johann figurierte), Paul Görens, William Gürtler, Paul Oberhoffer, Paul Ludwik, Ernst Hermann Schulz, Friedrich Doerinckel und Eduard Grüneisen. Erneut bat die KWG im April 1922 um Gutachten. Die Situation war komplex, weil, so Wichard von Moellendorff, kein »vollkommener Ersatz« für Heyn in Sicht war und auch in der KWG die Überzeugung herrschte, es gäbe nur »wenige geeignete Leute in diesem noch verhältnismäßig jungen Zweig der Wissenschaft«.306 Aus den Gutachten spricht darüber hinaus eine Differenz in der Frage, 301 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1876, Bl. 225-226, Aufzeichnung über die Sitzung der Kommission für Errichtung eines Instituts für Metallforschung am 19. 1. 1920. 302 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1878, Bl. 243-244, Gutachten von Moellendorff an Glum, 13. 5. 1922. 303 Ebd., Bl. 104-105, Wissenschaftlich-Technischer Beirat. 304 Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, S. 236-237. 305 BA Koblenz, N 1158-60, Nachlass Wichard von Moellendorff, Harnack an Moellendorff, 26. April 1922. 306 Ebd. 193

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welche Richtung der Direktor des KWI vertreten sollte – sollten seine Forschungen in erster Linie dem »Fortschritt der reinen Wissenschaft« dienen? Oder sollte es vor allem ein Mann der Praxis sein?307 Hier trafen unterschiedliche Interessen von Industrie und Wissenschaft aufeinander. Während sich Fritz Haber dafür aussprach, das Institut solle »in erster Linie die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Metallkenntnis voranbringen und weniger in der angewandten Richtung mit den Metall-Laboratorien der Großindustrie wetteifern als vielmehr deren Wetteifer durch Fundamental-Feststellungen mit neuen Unterlagen ausrüsten und speisen«,308 merkte Wichard von Moellendorff an, bei manchen Lehrstuhlinhabern sei die unentbehrliche Verbindung zur Technik zu locker. Haber aber äußerte Zweifel daran, ob ein Mann, »der den an ihn herandrängenden Aufgaben des technischen Lebens in vorzüglicher Weise gerecht geworden ist, sich auch schöpferisch bewähren wird, wenn er in den Abstand von den Tagesfragen gerückt ist«.309 Er empfahl den Physiker Friedrich Grüneisen von der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Er erkannte zwar an, dass man im Wirtschaftsleben vor allem die komplizierten Verhältnisse der Legierungen kennen müsse, meinte aber, Grüneisen könne dafür Interesse und Verständnis auf bringen.310 Auch von Moellendorff empfahl Grüneisen, denn »in den Laboratorien der Nichteisenindustrie, wo sich Heyns Anhang in Gestalt tüchtiger Kräfte am raschesten ausgebreitet hat«, fehle es an einer »nicht umstrittenen ausgereiften Persönlichkeit«. Zudem solle man nicht bei dem »ungenügend autorisierten Nachwuchs« suchen.311 Zu Czochralski äußerte sich Wichard von Moellendorff in diesem Fall nicht, obwohl er zu den offiziell Vorgeschlagenen gehörte – weil er aber im Kreise der Kandidaten mit 37 Jahren der zweitjüngste war und somit wohl unter die Moellendorff’sche Kategorie »Nachwuchs« fiel und zusätzlich das Kriterium erfüllte, in einem Laboratorium mit Nichteisenmetallen zu arbeiten, kann dies als weiteres ablehnendes Votum seines ehemaligen Mentors für den Direktorenposten gelesen werden. Weitere Gutachten erlauben eine Bewertung von Czochralskis Reputation zu jener Zeit.312 Gustav Tammann hielt Czochralski für geeignet, das Institut zu leiten, favorisierte aber Oswald Bauer, der lange Jahre mit

307 308 309 310 311 312 194

AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1878, Bl. 61-62, Goerens an Harnack, 3. 6. 1922.

Ebd., Bl. 286, Haber an Harnack, 13. 5. 1922. Ebd., Bl. 201, Haber an Harnack, 20. 5. 1922. Ebd., Bl. 286, Haber an Harnack, 13. 5. 1922. Ebd., Bl. 243-244, Moellendorff an Glum, 13. 5. 1922. Ebd.

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Emil Heyn zusammengearbeitet hatte.313 Ebenso meinte der Direktor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, Grüneisen, dass sowohl Oswald Bauer als auch »Oberingenieur Czochralski« als diejenigen Forscher in Frage kämen, die in der von Heyn gegebenen Richtung weiter arbeiten könnten.314 Für Czochralski sprach sich auch Oswald Bauer aus, der Leiter der Abteilung für Metallographie im Staatlichen Materialprüfungsamt, der zunächst William Gürtler vorschlug, aber anmerkte: »Czochralski hat gegenüber Gürtler doch voraus, daß er seit Jahren mitten in der Praxis steht. Alle Fragen und Nöte, die die Praxis beschäftigen ihm also geläufig sind. Eine ganze Anzahl z. T. recht wertvoller Veröffentlichungen haben gezeigt, daß Czochralski auch die Befähigung zu selbständigem Forschen besitzt.«315 Die Formulierung des »selbständigen Forschens« kam nur bei Czochralski vor, vermutlich, weil er dieses nicht – wie die Mehrzahl der anderen Kandidaten – durch eine Dissertation oder Habilitation nachgewiesen hatte. Auch Wilhelm Borchers von der Königlich Technischen Hochschule zu Aachen wollte Czochralskis Namen mit »bester Empfehlung« nennen: »Als Leiter dieses Laboratoriums [der Metallgesellschaft, K. S.] hat er zweifellos Erfahrungen gesammelt, wie sie auch für die Leitung des Metallforschungsinstitutes von grossem Werte sind. Die Arbeiten Czochralskis, welche öffentlich bekannt geworden sind, verdienen alle Beachtung.«316 Prof. Klingenberg meinte zu Czochralski: »Durchaus geeignet, guter Praktiker und Theoretiker«, verortete ihn aber in der zweiten Reihe.317 Der Leiter des KWI für Eisenforschung, Wüst, bekannte: »Herr Czochralski ist mir persönlich nicht bekannt. Seine Arbeiten zeigen ganz neue und originelle Gedankengänge. Er besitzt die wissenschaftliche Befähigung zur Besetzung des Postens in hohem Maße.318 Carl Schiffner, Professor für Eisenhüttenkunde an der Bergakademie Freiberg, war überzeugt: »Czochralski hat ausgezeichnete Arbeiten auf ganz speziellen Gebieten der Metallographie geliefert, welche erwarten lassen, daß er sich auch auf anderen Gebieten einarbeiten wird. Arbeiten, die sich mit der mechanischen Verarbeitung der Metalle befassen, hat er wohl in letzter Zeit aufgenommen. […] Er ist Pole von Geburt und […] seit kurzem naturalisiert.«319

313 314 315 316 317 318 319

AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1879, Bl. 7-8.

Ebd., Bl. 14, Grüneisen an Harnack, 2. 5. 1922. Ebd., Bl. 19-21, Bauer an Harnack, 4. 5. 1922. Ebd., Bl. 36, Borchers an Harnack, 6. 5. 1922. Ebd., Bl. 31, Klingenberg an Harnack, 17. 5. 1922. Ebd., Bl. 37, Wüst an Harnack, 1. 6. 1922. Ebd., Bl. 59, Schiffner an Harnack, 18. 6. 1922. 195

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Czochralski galt seinen Fachkollegen also überwiegend als ein ausgezeichneter Mann der Praxis und der Wissenschaft, den aber noch nicht alle Kollegen persönlich kannten, wodurch die Stellungnahmen zum Teil kürzer ausfielen als zu anderen Kandidaten und auch nicht immer exakt waren – naturalisiert war er nicht, sondern hatte die preußische Staatsbürgerschaft seit Geburt. Er selbst wurde ebenfalls um ein Gutachten gebeten und wollte den Posten vor allem mit einem Fachmann der Metallkunde besetzt sehen, nicht mit jemandem, der die Nachbargebiete beherrsche, weil die Metallkunde eine »Erfahrungswissenschaft« sei und diese Erfahrung nicht von einem Tag auf den anderen angeeignet werden könne. Eine andere Entscheidung würde »in den ernsten, in schaffender Arbeit stehenden Kreisen […] grosse Besorgnis erwecken, insbesondere im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage« und um den »Bestrebungen des Auslandes Stand halten zu können« – Czochralski sprach sich im Gegensatz zu Haber für einen Mann der Praxis aus, womit er nach Gustav Tammann vor allem Professor Goerens vom Laboratorium der Firma Krupp meinte. Gleichzeitig befürchtete er, es könnte schwierig werden, die finanziellen Ansprüche von Goerens zu befriedigen.320 Dies war ein generelles Problem, weil die Kandidaten zum Teil in der Industrie besser bezahlt wurden, als es für den Direktorenposten anvisiert wurde. Da das Institut immer stärker unter finanziellem Druck stand, weil große Konzerne wie die AEG oder Siemens zunehmend Zurückhaltung signalisierten, um eigene wissenschaftliche Laboratorien zu finanzieren, konnten in der Direktorenfrage keine großen Sprünge gewagt werden.321 Czochralski hatte als Alternative noch Paul Ludwik aus Wien empfohlen, der vielen als akzeptable Wahl galt – und nachdem Grüneisen auf einstimmigen Widerstand in der Industrie getroffen war,322 wurde Ludwik ausgewählt. Da ihm wenig später die Leitung des Materialprüfungsamtes Österreichs angeboten wurde, nahm er die Stellung nicht an – erneut war das KWI für Metallforschung in seiner Entwicklung gehindert. Letztlich wurde es dem Material-Prüfungsamt in Berlin-Lichterfelde angegliedert, und Wichard von Moellendorff übernahm die Leitung beider Einrichtungen.323 Friedrich Glum erinnerte sich: »[W]ir konnten schließlich froh sein, das stark reduzierte Institut im Preußischen Materialprüfungsamt in Lichterfelde unterzubringen und die Anlagen in Neubabelsberg unterzuvermieten.«324 Mit Wichard von Moellendorff sowie weiteren Mitarbeitern des KWI arbeitete 320 321 322 323 324 196

AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1878, Bl. 258-261, Czochralski an Harnack, 26. 5. 1922.

Ebd. Ebd., Bl. 134. AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1880, Bl. 210. Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, S. 236-237.

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Czochralski auch in Zukunft zusammen, nicht zuletzt auf der Grundlage der gemeinsamen Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde. 4.1.5 Die Institutionalisierung metallkundlichen Wissens II: Die Deutsche Gesellschaft für Metallkunde

Das Zusammenspiel von Metallindustrie, Metallforschung und Militär, das sich um das Ende des Ersten Weltkriegs beschleunigt hatte, wurde auch maßgeblich für die Gründung der DGM im Jahr 1919, dieser »Kriegsgründung im Frieden«.325 Czochralskis Arbeit für und mit der DGM wurde seine »wichtigste und bleibende Leistung«, so formulierte es Johannes Jaenicke im Jahr 1957 zu einer Zeit, als die Bedeutung des Czochralski-Verfahrens für die Herstellung von Halbleitern noch nicht vollständig erkannt war. Gemeinsam mit Emil Heyn, William Gürtler und Oswald Bauer war Czochralski einer der Mitbegründer der DGM und hatte mit Heyn und Gürtler die entscheidende Vorarbeit geleistet.326 Die Gesellschaft ging aus dem Metallausschuss des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) hervor, der in der DGM aufging – der VDI, der 1856 gegründet worden war, war am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit 24.000 Mitgliedern der größte deutsche Ingenieursverein. Der Metallausschuss war 1918 ins Leben getreten, um »die während des Krieges mit den Ersatzmetallen gemachten Erfahrungen planmässig zu sammeln, bevor sie in Verlust geraten, sie zu sichten und wissenschaftlich auszuwerten und endlich der ganzen Industrie zur Verfügung zu stellen«.327 Die Errungenschaften bei der Verwendung von Ersatzmetallen sollten für die Übergangs- und Friedenswirtschaft verwertet werden. Die Wirtschaft und die Militärbehörden unterstützten die Arbeit des Ausschusses, indem sie »die bei ihnen während der Kriegszeit beschäftigten Ingenieure von der Schweigepflicht […] auf dem Gebiete des Metallwesens entbunden und ihnen das gesamte aus dem Kriege vorliegende Erfahrungsmate325 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 155-156, die Charakterisierung auf S. 188. Siehe dazu auch Ders., 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Materialkunde 19192019. Eine Dokumentation. Mit einem Beitrag von Peter Paul Schepp, Essen 2019, S. 24 ff. 326 75 Jahre (1919-1994) Deutsche Gesellschaft für Materialkunde e. V. Die Geschichte der DGM im Spiegel der Zeitschrift für Metallkunde, Offenbach 1994, S. 1. 327 BA Lichterfelde R 3101-4431, Bl. 8-9, Brief vom Verein der deutschen Ingenieure durch das Reichswirtschaftsministerium an das Reichsfinanzministerium 24. 9. 1919. 197

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rial zur Verfügung gestellt haben«.328 Vorsitzender des Metallausschusses war Emil Heyn, seine Mitglieder kamen aus dem Kreise des VDI.329 Die DGM war die erste Ausgliederung als selbständige Organisation aus dem VDI – daher leitete VDI-Direktor Waldemar Hellmich ihre Gründungsversammlung und wurde eines ihrer Vorstandsmitglieder.330 Die Gesellschaft entstand als ein technisch-wissenschaftlicher Fachverein, der sich wie viele andere solcher Vereine um eine Disziplin herum gruppierte. Solche Gesellschaften wollten mit dem Ziel, dem allgemeinen Fortschritt und »der Wirtschaft unsres Vaterlandes mit allen Kräften zu dienen«, das Fachgebiet ebenso fördern wie die Qualifikationen ihrer Mitglieder.331 Sie organisierten Tagungen, Vorträge, Weiterbildungen und Diskussionsabende. Ein wichtiges Element ihrer Tätigkeiten waren die Vereinsorgane, die sich oft zu angesehenen Fachzeitschriften entwickeln konnten. »Mit diesen Aktivitäten bildeten die Vereine ein wichtiges Element des nationalen Innovationssystems«, resümiert Wolfgang König.332 Sie standen für die Professionalisierung des Forschungsfeldes. Die DGM bildete darüber hinaus eine Brücke zwischen der metallkundlichen Praxis, der Wissenschaft und der Hochschulforschung.333 Die Gründungsversammlung der DGM fand am 27. November 1919 statt. In den Reden wurde in ähnlicher Rhetorik wie für das KWI hervorgehoben, dass der wissenschaftliche Ausbau der Metallkunde geboten sei, weil »das Ausland« auf diesem Gebiet erheblich mehr Einsatz zeige als Deutschland. Das Verhältnis zum geplanten KWI für Metallforschung sollte kein konkurrierendes sein, vielmehr wollte die DGM keine eigenen Forschungen leisten, sondern sie anregen und diskutieren. Erfahrungsaustausch und »brennende Einzelfragen von unmittelbarer wirtschaftlicher Bedeutung« sollten den Schwerpunkt bilden. Es ging um die Verbindung von Wissenschaft und Praxis, wobei die praktische Anwendung eine Vorrangstellung einnehmen sollte. Eine wissenschaftliche Vertiefung von Einzelfragen und Grundlagenforschung sollte hingegen dem KWI vorbehalten sein, so informierte Alfred Merton von Harnack am 328 BA Lichterfelde R 3101-443, Bl. 5-6, Reichswirtschaftsministerium, Brief von R. W. M., Entwurf, Juli 1919. 329 AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1876, Bl. 131. 330 Rainer Stahlschmidt, Der Ausbau der technisch-wissenschaftlichen Gemeinschaftsarbeit 1918-1933, in: Karl-Heinz Ludwig unter Mitwirkung von Wolfgang König (Hg.), Technik, Ingenieure und Gesellschaft. Geschichte des Vereins Deutscher Ingenieure 1856-1918, Düsseldorf 1981, S. 347-405, S. 352. 331 O. Bauer, Das erste Jahrzehnt der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde, in: Zeitschrift für Metallkunde 10 (1929), S. 317-321, S. 318. 332 König, Vom Staatsdiener zum Industrieangestellten, S. 207. 333 Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 19. 198

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25. November 1919.334 Anfangs zählte die Gesellschaft 44 Mitglieder.335 Bereits im Januar 1920 versammelten sich 137 Mitglieder zur ersten Sitzung, darunter zahlreiche Vertreter von Ministerien, thematisch benachbarten Fachverbänden, der Industrie und des Militärs.336 Wenige Monate später zählte die Gesellschaft 140 Mitglieder, darunter namentlich aufgeführt vier Frauen, allesamt Metallographinnen, die in der Industrie tätig waren.337 Zwar eröffneten sich vor allem in der Grundlagenforschung etwa in der Chemie oder der Metallkunde neue und zuweilen weniger hierarchisierte Forschungsfelder, die auch Frauen nutzten; ihr Anteil in der Industrieforschung blieb jedoch gering. Und wenn sie es geschafft hatten, sich mit ihren Forschungen zu etablieren, dann wurden sie zuweilen, wie im Fall von Iris Runge, einer Schülerin von Gustav Tammann, bei entsprechenden Anstellungen in Industrielaboren (in diesem Fall von Osram im Jahr 1922) gebeten, »sich zu überlegen, ob Sie den Anstrengungen einer Tätigkeit in den Versuchs-Laboratorien einer Fabrik mit einer Arbeitszeit von halb acht bis nach vier Uhr dauernden Arbeitszeit sich gewachsen fühlen«.338 Angesichts solcher Vorstellungen über Frauen und Erwerbsarbeit blieb die DGM eine außerordentlich männlich geprägte Gesellschaft, in der Metallographinnen nur vollgültige Mitglieder werden konnten, wenn sie eine fünfjährige Berufspraxis nachweisen konnten – für männliche Mitglieder war diese Klausel nicht vorgesehen. Studierende durften nur »besuchende Mitglieder« ohne Stimmrecht (aber mit voller Beitragspflicht) sein.339 Neuaufnahmen mussten jeweils durch zwei Mitglieder befürwortet werden. Anfänglich kamen viele der Mitglieder aus Berlin und Umgebung, aber diese ursprüngliche Konzentration und das zunächst vorhandene Gleichgewicht von Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung wurden rasch durch eine weite räumliche Verteilung und ein Übergewicht der Industrie verdrängt.340 Die Mitglieder kamen auch aus der Schweiz, Österreich, der Tschechoslowakei, aus Polen, England, Kroatien, den Niederlanden, Schweden, Dänemark, Ungarn und aus Kanada, den USA und Japan – 1939 bezifferte man den 334 335 336 337 338

AMPG I. Abt., Rep. 1A, 1875, Bl. 181, Merton an Harnack 25. 11. 1919.

Zeitschrift für Metallkunde, Jahrgang 12 (1920), S. 47-48. Ebd., S. 75-78. Ebd., S. 109-112. Zitiert nach Renate Tobies, Chemikerinnen in der elektrotechnischen Industrieforschung vor 1945, in: Ute Pascher, Petra Stein (Hg.), Akademische Karrieren von Naturwissenschaftlerinnen gestern und heute, Wiesbaden 2013, S. 71-103, S. 92. 339 BA Koblenz, N 1158-69, Nachlass Wichard von Moellendorff, Vorstandssitzung der DGM am 15. 5. 1922 im Ingenieurhaus, Berlin. 340 Stahlschmidt, Gemeinschaftsarbeit, S. 399, Anm. 20. 199

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Anteil der ausländischen Mitglieder auf zehn Prozent.341 1922 war die Mitgliederzahl auf 427 angewachsen, 1938 hatte die DGM etwa 700 Mitglieder.342 Die »Zeitschrift für Metallkunde« wurde zu einem offiziellen Organ der Gesellschaft und verbreitete deren kämpferische Rhetorik: Sie wollte nicht nur auswärtige Metalle durch deutsche ersetzen, »sondern wir wollen mit unseren neuen Erzeugnissen sogar die bisher bekannten noch übertreffen«. Zu diesem Zweck wollte sich die Zeitschrift vor allem dem Aluminium zuwenden, das wegen des »Raubs« Oberschlesiens »das Metall der Zukunft werden muss«.343 Czochralski wurde 1919 in den Vorstand gewählt und übernahm das Amt des Schatzmeisters. Mit seiner Gründungsrede als dritter Redner nach Hellmich und Heyn betrat er die Bühne, auf der er sein Expertenwissen öffentlich verhandelt sehen wollte. Er betonte den Aspekt, der sein ganzes Leben lang für ihn wichtig war: die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie, von Theorie und Praxis. Er bemängelte, dass diese Zusammenarbeit in Deutschland zu wenig vorhanden, jetzt nach dem Krieg aber unabdingbar sei: »Das Ausland, besonders England, hat solche Vereinigungen seit vielen Jahren durch Zusammenschluß von Wissenschaft und Praxis, bei uns dagegen ist ein solcher Zusammenschluß wenig zu finden […] Vor dem Kriege, als wir noch glänzend in der Welt standen, konnten wir noch dulden, dass jeder bearbeiten konnte, was er wollte« – er sprach hier von sich selbst als einem Teil sowohl der deutschen Metallforschung als auch der Metallwirtschaft. Er beschwor einen »versöhnlichen Geist« zwischen Industrie und Praxis und fuhr fort: »Es ist unbedingt notwendig und geradezu eine vaterländische Pflicht, unter den heutigen Verhältnissen sich zur gemeinsamen Arbeit zusammenzufinden.« Und er fügte an: »Wir müssen die Verarbeitung der Metalle so beherrschen, daß wir uns nichts vom Ausland vorzuschreiben lassen brauchen, und wir müssen die Fabrikation so einstellen, daß wir den größten Gewinn herausholen können. Erst dann können wir gegen das Ausland auftreten und hoffen, daß wir uns die Hand zum gemeinsamen Arbeiten 341 W. Rohn, Zum 20. Gründungstag der Gesellschaft für Metallkunde, Ansprache am 2. Juli 1939, abgedruckt in: 50 Jahre Deutsche Gesellschaft für Metallkunde e. V. im Spiegel der Zeitschrift für Metallkunde, Stuttgart 1969, S. 24-26, S. 26. Bei dieser Rede wurden Czochralskis Name und seine Verdienste um die DGM, im Gegensatz zur Rede zum zehnjährigen Bestehen der DGM 1929, nicht mehr erwähnt. 342 Geschäftsbericht der DGM 1922, in: Zeitschrift für Metallkunde 10 (1922), S. 396 sowie 75 Jahre DGM, S. 9. 343 Ebd. 200

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werden reichen können.«344 Nach seiner Rede konnte und musste man Czochralski für einen guten deutschen Patrioten halten. Czochralski hatte der Gesellschaft ein Startguthaben von 50.000 Reichsmark von der Metallgesellschaft vermittelt.345 Am 18. Januar 1924 wurde er zu ihrem stellvertretenden Vorsitzenden gewählt, obwohl er bei seiner Kandidatur angeblich gesagt hatte: »Ich bin ein Pole und vom Vaterland sage ich mich nicht los, es ist meine Pflicht, Sie alle davon zu informieren.«346 Sollte diese lediglich in Erinnerungen vorhandene Überlieferung zutreffend sein, hätte Czochralski an dieser Stelle zu verstehen gegeben, dass es für ihn einen ethnischen Raum eines »hier« und eines »dort« gab;347 er akzentuierte damit seine Transnationalität, die er nicht im Widerspruch zu seinem Einsatz für die Metallkunde in Deutschland sah; zudem hatte er offenbar großes Vertrauen, dass seine Expertise wertvoller als seine Herkunft war. Er wurde jedenfalls einstimmig gewählt, seine Loyalität nicht in Frage gestellt, und dies in einer Zeit, in der die deutsch-polnischen Beziehungen nicht gerade arm an Spannungen waren. Seine technische Expertise wurde von seinen Kollegen pragmatisch beurteilt, ähnlich wie im Fall der Suche eines neuen Direktors für das KWI. Im Oktober 1925 stieg Czochralski in der Hierarchie der DGM noch weiter auf. Die Mitglieder wählten ihn auf ihrer Hauptversammlung in Breslau zu ihrem Vorsitzenden. Und als sich im Juni 1928 abzeichnete, dass die dreijährige Amtszeit Czochralskis Ende des Jahres ablaufen würde, verlängerte die Hauptversammlung sie auf Antrag des Vorstandes um weitere drei Jahre; den Antrag nahm die Versammlung per Akklamation an.348 Es gab also innerhalb der DGM keine Bedenken gegen Czochralski als Vorsitzenden, jedenfalls keine öffentlich geäußerten. Bereits als Vorstandsmitglied im Jahre 1919 hatte er vielfältige Aktivitäten entwickelt. In den ersten zwei Jahren bestritt er die meisten Vortragsabende der Gesellschaft und betrat mit seinen Vorträgen häufig wissenschaftliches Neuland.349 Er trug so gut wie auf jeder der einmal jährlich tagenden Hauptversammlungen vor, gelegentlich, wie 1923, hielt 344 Gründungsversammlung der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde am 27. November 1919, in: Zeitschrift für Metallkunde 11 (1919), S. 201-216, S. 205206. 345 75 Jahre DGM, S. 4. 346 Dies schreibt Aleksander Bocheński, Wędrówki po dziejach przemysłu polskiego, Warszawa 1966, S. 159. 347 Appadurai, Globale ethnische Räume, S. 13. 348 Zeitschrift für Metallkunde 7 (1928), S. 268 und Zeitschrift für Metallkunde 8 (1928), S. 304. 349 Geschäftsbericht der DGM 1922, in: Zeitschrift für Metallkunde 9 (1922), S. 354355. 201

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er dort sogar zwei Vorträge.350 In der »Zeitschrift für Metallkunde« veröffentlichte er fast 30 Originalaufsätze. Für die praktische, technowissenschaftliche Arbeit berief die DGM 23 Fachausschüsse und Unterausschüsse, etwa für die Untersuchung der Einwirkung von Verunreinigungen in Messing und einen für Aluminium und Leichtlegierungen mit mehreren Unterausschüssen, den Czochralski als Obmann übernahm.351 Mit der Einrichtung von 16 Unterausschüssen für die »Sammlung von Kriegserfahrungen mit Metallen« zeigte die DGM die hohe Rüstungsrelevanz ihrer Arbeit. Diese Ausschüsse galten als Beispiel für die praktische Umsetzung der so oft geforderten Gemeinschaftsarbeit – Wissenschaft, Industrie und Militär arbeiteten hier eng zusammen.352 1922 etwa brachte der Aluminium-Ausschuss, der einer der aktivsten Fachausschüsse der DGM war und aus dessen Mitte mehrere Aufsätze veröffentlicht wurden, in mehreren tausend Stück die Schrift »Die Verwendungsgebiete des Aluminiums, Richtlinien für seine Verbrauchsentwicklung« heraus.353 Der Ausschuss organisierte sodann ein Preisausschreiben für ein neues Aluminiumlot, das aber nur von mäßigem Erfolg gekrönt war, weil die Frage des Lötens von Aluminium komplex war und sich die Industrie aus Angst vor Konkurrenz mit der Beteiligung zurückhielt – ein typisches Beispiel für die von Czochralski kritisierte Geheimniskrämerei.354 Daneben organisierte der Ausschuss Vorträge und Vortragsreihen wie im Jahr 1924 über »Aluminium und seine Legierungen«, und auf den Sitzungen berichteten die Mitglieder, deren Zahl bis 1924 auf 30 angewachsen war, aus ihrer Forschungspraxis. Gemeinsam durchgeführte Versuche sollten unterschiedliche Ansichten auflösen.355 Czochralski war daneben Mitglied im Ausschuss für Lagerversuche – gemeinsam mit der Reichsbahn und Lokomotivfabriken prüften sie dort die Eignung gehärteter Bleilegierungen für Achs- und Stangenlager.356 Davon profitierte sicher auch die Metallgesellschaft. 1922 wurde ein Ausschuss für Rekristallisation gegründet, dessen Leitung Czochralski wenig später ebenfalls übernahm.357 350 Geschäftsbericht der DGM 1924, in: Zeitschrift für Metallkunde 6 (1924), S. 254256. 351 Geschäftsbericht der DGM 1922, S. 368. 352 Maier, Forschung als Waffe, Bd. I, S. 187. 353 Geschäftsbericht der DGM 1922, S. 355. 354 L. Rostosky, Zur Frage des Aluminiumlotes, in: Zeitschrift für Metallkunde 9 (1924), S. 359-361, S. 361. 355 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 349. 356 Ebd., Pos. 134. 357 Geschäftsbericht der DGM 1924, S. 254-256. 202

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Die »Zeitschrift für Metallkunde« dokumentierte die Vereinstätigkeiten regelmäßig und veröffentlichte die Diskussionen nach einem Vortrag oder in den Ausschüssen, bei denen Czochralski stets als lebhafter Diskutant mit klaren Meinungen hervortrat. Während seiner Zeit als Vorsitzender organisierte die DGM mehrere Tagungen. Im April 1927 veranstaltete sie eine Fachtagung zum »Dauerbruch« und zu Ermüdungserscheinungen an Metallen, um Konstrukte, Ingenieure und Metallfachleute zusammenzubringen.358 Diese Tagung erhielt viel Lob von den Mitgliedern, weil ein größerer Kreis von den Ergebnissen aus den Forschungsstätten profitierte.359 Im Jahr 1928 folgte die bereits erwähnte Tagung zur »Röntgenforschung«, wobei Czochralski in seiner Eröffnungsansprache anmerkte, dass dieses ursprünglich auf das engere Forschungsgebiet des Physikers beschränkte Forschungsfeld die sichere Feststellung der Natur und der Lagerung der Kristallite und damit der Art der Bearbeitung der Metalle, der Glühbehandlung usw. ermöglicht habe – darüber wollte er weite Kreise informiert wissen. Eine weitere Konferenz folgte im November 1928 zum Thema »Die Metalle im Kraftwagen- und Flugzeugbau«. Besonders intensiv hatte sich Czochralski an der Organisation einer Großveranstaltung zu Werkstoffen beteiligt, die Ende 1927 im Jubiläumsjahr des Aluminiums für insgesamt drei Wochen in die Messehallen am Berliner Kaiserdamm einzog. Mehr als 235.000 Besucher nahmen an der »Werkstoffschau« mit angegliederter Tagung teil, etwa 80.000 Teilnehmer hörten 225 Vorträge.360 Dies war eine immens hohe Anzahl an Besuchern, folgt man der Betrachtung des damaligen Berliner Oberbürgermeisters Gustav Böß, der fand, die Werkstoffschau sei die »eigenartigste« Ausstellung, die »je geschaffen worden ist«, weil es statt Ausstellern nur Stoffe gebe.361 In der DGM war man sich darüber im Klaren, dass dies keine einfache Ausstellung für Besucher sein werde, im Gegenteil: »Das Studium der Werkstoffschau [wird] vom Verbraucher ernste Geistesarbeit erfordern.«362 Die Werkstoffschau war unterteilt in eine Werkstoffprüfschau und eine Werkstoffübersicht. Während der Werkstoffprüfschau wurden in einer voll funktionstüchtigen Versuchsanstalt Prüfmethoden vorgeführt und aufgezeigt, wie sie eingesetzt wurden. Die Werkstoffübersicht ver358 Jan Czochralski, Eröffnungsansprache. Allgemeines zur Frage des Dauerbruchs, in: Zeitschrift für Metallkunde 20/2 (1928), S. 37-39, S. 37. 359 Ebd., Meinungsaustausch zu den gesamten Vorträgen, S. 88-90, S. 90. 360 Werkstoffschau und Werkstofftagung Berlin 1927. 361 Vossische Zeitung 23. 10. 1927, Morgenausgabe. 362 Zeitschrift für Metallkunde 19/4 (1927), S. 176. 203

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mittelte die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Werkstoffe und deren wichtigste Anwendungsgebiete, die Auswahl, die Behandlung sowie das Verhalten bei verschiedenen Formgebungs- und Benutzungsarten. Die Organisation für dieses Großprojekt hatte eine eigens zu diesem Zweck gegründete Werkstofftagung GmbH übernommen, der die vier großen deutschen Werkstoffverbände angehörten: die DGM, der VDI, der Verein deutscher Eisenhüttenleute und der Zentralverband der deutschen elektronischen Industrie. Während die Eisenhüttenleute die Gruppe Stahl und Eisen vorbereiteten, trat Czochralski Ende 1926 an die Spitze der Gruppe für Nichteisenmetalle und nahm, so Oswald Bauer, eine führende Position ein: »Das Zustandekommen der Gruppe Metalle der Werkstofftagung ist zweifellos Czochralskis tatkräftigem Eintreten zu verdanken und auch bei der Durchführung des Plans ist er stets führend und anregend tätig gewesen.«363 Johannes Jaenicke vermutete, er habe überhaupt den ersten Anstoß zu der Werkstofftagung gegeben, »in deren Vorbereitung und Abwicklung er eine sehr umsichtige Initiative entfaltet hat«.364 Damit stellte sich Czochralski in den Dienst der Popularisierung von Wissenschaft und Expertenwissen – hier konnte er sich offensiv für die Offenlegung von Forschungsergebnissen und Fabrikationserfolgen einsetzen. Vor allem aber diente die Veranstaltung nationalen Zwecken, denen sich Czochralski ebenfalls verschrieben hatte: Man wollte die Ziele einer nationalen Werkstoffpolitik formulieren und endlich den Makel der Minderwertigkeit loswerden, der den Ersatzstoffen anhaftete. Reichwirtschaftsminister Julius Curtius, der die Schau eröffnete, akzentuierte daher die fruchtbare Verbindung von »deutscher Wissenschaft und deutscher Wirtschaft«.365 Es galt zu zeigen, dass »wir in unserer Qualitätsarbeit wieder an der Spitze stehen und […] das böse Wort vom ›Ersatzstoff‹ wieder verschwunden ist«. Gezeigt wurden nur »deutsche Werkstoffe«, um mit dem »Märchen von den Ersatzstoffen«, das im Ausland gepflegt werde, aufzuräumen: »Und was wir etwa an sogenannten Ersatzstoffen noch aus dem Kriege mit hinübergenommen haben, das hat die Feuerprobe glänzend bestanden«, so die Ausstellungsmacher.366 Es ging um nichts anderes als Deutschlands Führung auf dem Welt363 Mitteilungen der DGM: 11. Hauptversammlung der DGM am Donnerstag, dem 31. Januar 1929, zu Berlin, in: Zeitschrift für Metallkunde 21/2 (1929), S. 74-76, S. 75. 364 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 6. 365 Vossische Zeitung 22. 10. 1927, Abendausgabe. 366 Vossische Zeitung 22. 10. 1927, Morgenausgabe: Ohne Qualitätsstoff keine Qualitätsarbeit. Eröffnung der Werkstoffschau. 204

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Abb. 10: 5PEOEXHIV;IVOWXSJJWGLEY 'IVPMR

markt.367 Die Schau wollte nicht nur das Geleistete präsentieren, sondern auch das Erreichbare, das in der Zukunft Machbare projizieren und gab sich dabei keineswegs bescheiden.368 Sie war dem technischen Fortschritt im Sinne einer allgemeinen Menschheitsaufgabe verpflichtet und verkündete eine allumfassende Apologie der Technik.369 Die Botschaft war, dass Werkstoffe dem technischen Fortschritt sowohl Grenzen setzten als auch ihn befördern konnten: »Neue Werkstoffe erfinden, die Qualität der vorhandenen Werkstoffe erhöhen, heißt der Technik neue, große Arbeitsgebiete erschließen […] Es fällt nicht schwer, hier Verständnis zu erlangen von der Bedeutung des Stoffes, der Material ist für das tägliche Leben wie für den technischen Fortschritt der Gesamtheit.«370 Die Werkstofftagung versammelte in der TH Berlin-Charlottenburg über 200 Vorträge zu aktuellen Themen der Werkstoffkunde – damit standen unter anderem die Leichtmetalle im Fokus, für die William Guertler festhielt, Deutschland leiste nach dem »Versailler Diktat« auf 367 M. Waehlert, Werkstofftagung, Berlin 1927, in: Metallwirtschaft 6/31 (1927), S. 773-779, S. 773. 368 Werkstoffschau Berlin, in: Metallwirtschaft 6/42/43 (1927), S. 1033-1034, S. 1033. 369 Betrachtungen zur Werkstoffschau, in: Metallwirtschaft 6/42-41 (1927), S. 10381039, S. 1039. 370 Alexander Rosman, Die Werkstoffschau 1927, in: Der freie Angestellte 22 (1927), S. 335-336. 205

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diesem Gebiet Pionierarbeit. Die entscheidende Bedeutung der Leichtmetalle verortete Guertler im Ton einer missionarischen deutschen Technik-Überlegenheit, die seiner Meinung nach aus der Verknüpfung von Deutschlands geopolitischer Lage und seines technischen Fortschritts resultieren sollte, besonders im Flugwesen, »für dessen Entwicklung Deutschland bei seiner zentralen Lage in Europa und seiner ganzen Veranlagung prädestiniert ist. So kommen also alle Umstände dahin zusammen, daß unser Vaterland berufen ist, die Welt in einem neuen Zeitalter der Leichtlegierungen zu beschenken.«371 Weitere Vorträge behandelten den neuesten Stand der Aluminiumforschung und Magnesiumlegierungen, wobei Magnesium nun aufgrund seines reichhaltigen einheimischen Vorkommens in Salzlagerstätten als das »eigentlich deutsche Metall« inszeniert wurde; die technische und wirtschaftliche Bedeutung des Bahnmetalls fand ebenfalls Beachtung.372 Czochralski kam bei der Veranstaltung eine prominente Rolle zu. Neben seinem Vortrag über »Neue Wege der Korrosionsforschung« nahm er Repräsentationspflichten wahr und führte im Kreise weiterer Vertreter der ausrichtenden Verbände Reichspräsident von Hindenburg durch die Ausstellung – dass von Hindenburg diese Ausstellung besuchte, galt als ungeheurer Erfolg der Ausrichter. Seine Anwesenheit bedeutete die »allerhöchste staatspolitische Anerkennung«373 sowohl der Metallwirtschaft als auch der Metallforschung. In der Erinnerung von Czochralskis Tochter Leonie habe Hindenburg, der aus Posen stammte, dabei einige Worte auf Polnisch mit Czochralski gewechselt.374 Und obwohl das Czochralski-Verfahren 1927 noch lange nicht die Bedeutung hatte, die es ab den 1950er Jahren erlangen sollte, wurde es hier breit gewürdigt: »Die kristallographische Abteilung der Werkstoffschau ist in der Lage, wohl die größte und schönste Metalleinkristallsammlung vorführen zu können. Diese Sammlung enthält z. B. Einkristalle von Zinn, Zink und Cadmium, welche nach einem Verfahren von Czochralski durch Ziehen aus der Schmelze entstanden sind. Diese Kristalle können drahtförmig und in beträchtlicher Länge hergestellt werden.«375

371 Betrachtungen zur Werkstoffschau, in: Metallwirtschaft 6/45 (1927), S. 1124-1127, S. 1126. 372 Zeitschrift für Metallkunde 19/1 (1927), S. 606 und 500. 373 So Maier, 100 Jahre, S. 47. 374 Tomaszewski, Powrót, S. 68. 375 Gustav J. Weissenberg, Der Feinbau der Metalle (Ein Rundgang durch die kristallographische Abteilung der Werkstoffschau), in: Metallwirtschaft 6/45 (1927), S. 1131-1132. 206

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Insgesamt konnte sich Czochralski mit dem Erfolg der Werkstoffschau und -tagung im Rücken und als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde auf dem Höhepunkt seines öffentlichen Einflusses fühlen. Er hatte maßgeblich dazu beigetragen, die Ressource des metallkundlichen Wissens und sich selbst als Wissensakteur sowohl in der industriellen und militärischen Praxis als auch in politischen und institutionellen Kreisen zu verankern, er war zu einem wichtigen Teil des nationalen Innovationssystems geworden, in dem er dank seines praktischen und wissenschaftlichen Kapitals führende Positionen einnehmen und Wesentliches zur Professionalisierung seines Forschungsfeldes beitragen konnte. Dieses Forschungsfeld oszillierte dabei immer wieder zwischen der Universalität wissenschaftlichen Fortschritts und der Rolle Deutschlands als Weltmarktführer. In dieser Konstellation scheint Czochralski polnische Herkunft keine große Rolle gespielt zu haben – da er sich in seinen Forschungen, seiner Rhetorik und seinem öffentlichen Handeln etwa auf der Werkstoffschau eindeutig deutschen nationalen Zielen verschrieb, gab er keinen Anlass, diese Herkunft zu einem Thema zu machen; dies änderte sich erst in späteren Jahren. Allerdings stand Czochralski kurz nach der Werkstofftagung ein Einschnitt in seinem Leben bevor, da sich seine berufliche Situation veränderte. Denn entweder war er mit 207

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seiner Stellung bei der Metallgesellschaft nicht mehr zufrieden, oder die Metallgesellschaft wollte sich von ihm trennen, oder es kam einvernehmlich zur Neuorientierung – jedenfalls läutete diese Veränderung seinen Weggang aus Deutschland ein. 4.1.6 Aus der Industrieforschung in die Hochschule: Czochralskis Umzug nach Warschau

Im Jahr 1928 verließ Jan Czochralski Frankfurt am Main in Richtung Warschau. Am 23. April 1928 war sein Anstellungsvertrag bei der Metallgesellschaft in einen Beratervertrag umgewandelt worden, Czochralski sollte demnach die Vermarktung des Bahnmetalls vor allem in Osteuropa übernehmen. Vereinbart wurde neben einer prozentualen Abgabe bei der Vermarktung seiner Erfindungen ein jährlicher fester Betrag unabhängig von dem Verwertungsergebnis seiner Erfindungen, ohne dass eine Höhe festgelegt wurde. Dies galt als »ein bei dem Auseinandergehen mit Herrn Czochralski noch zuletzt gemachtes Zugeständnis«. Am 30. September 1928 wurde das Anstellungsverhältnis mit der Metallgesellschaft offiziell beendet.376 Der Beratervertrag sah zunächst eine Laufzeit vom 23. April 1928 bis zum 30. September 1931 vor, mit Option auf Verlängerung.377 Umgezogen waren die Czochralskis im Oktober 1928.378 Zu diesem Zeitpunkt wollte Czochralski seine Zukunftspläne, sofern sie ihm selbst bereits detailliert bekannt waren, in Deutschland offenbar (noch) nicht preisgeben. Denn am 16. Oktober 1928 erschien in der »Industrie- und Handels-Zeitung« ein Artikel unter dem Titel »Ein neuer Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde«. Darin hieß es, Oberingenieur Czochralski habe sich auf Einladung der polnischen Regierung in Warschau niedergelassen, um den weiteren Ausbau der polnischen Metallindustrie, besonders der Kupfer- und Messingindustrie und der Leichtmetallindustrie, zu leiten. Weiter wurde angegeben, Czochralski, der »von Geburt und Staatsangehörigkeit Pole ist«, sei bereits vor einigen Monaten aus den Diensten der Frankfurter Metallgesellschaft ausgeschieden. Nunmehr bestehe in den Mitgliederkreisen der DGM Übereinstimmung, den Vorsitz einer »Persönlichkeit von erstem Range« anzubieten, die »allgemeines Vertrauen« besitze; genannt wurde der Reichstags376 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 458 vom 23. 4. 1928 und Pos. 478, 30. 9. 1928. 377 Der Beratervertrag von 1928 liegt nicht vor, auf ihn kann nur aus späteren Aktenüberlieferungen geschlossen werden, siehe HWA 119, Notiz vom 3. 7. 1941 betr. Verträge mit Czochralski. 378 Tomaszewski, Powrót, S. 71. 208

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abgeordnete Dr. Philipp Wieland.379 Der Urheber dieses Artikels ist unbekannt. Er musste jedenfalls so gut informiert sein, dass er von Czochralskis Ausscheiden aus der Metallgesellschaft wusste; wohlgesonnen war er ihm jedenfalls nicht, denn der Artikel enthielt die Unterstellungen, Czochralski sei keine »Persönlichkeit von erstem Range« und besitze kein allgemeines Vertrauen. Der Artikel rief daher den Widerspruch der DGM hervor, deren Vorsitzender Czochralski zu diesem Zeitpunkt immer noch war. Die Geschäftsstelle der Gesellschaft verfasste folgenden Protest: »[B] ringen Sie […] einen Artikel, der durchweg unwahre Angaben über den Vorsitzenden unserer Gesellschaft, Herrn J. Czochralski, enthält. Herr Czochralski ist nicht, wie in dem Artikel gesagt wird, von Geburt und Staatsangehörigkeit Pole, sondern seit seiner Geburt bis heute preußischer Staatsangehöriger. Herr Czochralski ist jetzt Berater der Metallgesellschaft A. G. Frankfurt a. M. Er weilt zurzeit lediglich zur Abwicklung von Verbindlichkeiten rein geschäftlicher Natur in Warschau, ohne dass irgendwelche Verbindlichkeiten persönlicher Art bestehen. Von dem Angriff auf den verdienten mehrjährigen Vorsitzenden einer angesehenen deutschen wissenschaftlichen Gesellschaft bleibt demnach allein die Tatsache bestehen, dass ein in der Fachwelt anerkannter Fachmann eine Geschäftsreise ins Ausland unternommen hat – ein Vorgang, der an sich für die Öffentlichkeit kaum bemerkenswert sein dürfte.« Der Artikel wurde als eine »Irreführung der Öffentlichkeit« gewertet.380 Von diesem Protest veröffentlichte die Zeitung in einer kurzen Berichtigung nur, ihr sei mitgeteilt worden, dass Czochralski nicht Pole, sondern »von Geburt und Staatsangehörigkeit Preuße« und zur Zeit Berater der Metallgesellschaft sei.381 Czochralski selbst ließ dann auf der DGM-Fachtagung »Die Metalle im Kraftwagen- und Flugzeugbau« im November 1928 öffentlich wissen, dass ihn »seine Tätigkeit als Berater und wissenschaftlicher Mitarbeiter verschiedener Unternehmungen zwinge, für einige Zeit im Ausland zu verbleiben. Er sei sich voll bewusst, dass die Leitung unserer Gesellschaft, die eine stetig wachsende Pflege erfordere, hierunter unter keinen Umständen leiden dürfe. Er habe sich daher veranlasst gesehen, dem Vorstand unserer Gesellschaft kurz vor seiner Abreise mitzuteilen, dass er den ihm anvertrauten Vorsitz, sobald seine Tätigkeit im Auslande im neuen Jahr sich auf länger als zwei bis drei Monate 379 Der Artikel sowie die Replik der DGM befinden sich als Abschriften im Nachlass von Wichard von Moellendorff, siehe BA Koblenz N 1158-9; und Industrie- und Handels-Zeitung, Nr. 242, 16. 10. 1928. 380 BA Koblenz N 1158-9, Nachlass Wichard von Moellendorff. 381 Industrie- und Handelszeitung, Nr. 249, 24. 10. 1928, Berichtigung. 209

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erstrecken sollte, niederlegen werde.«382 Dies geschah zum 1. Januar 1929. Der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde, Oswald Bauer, kommentierte: »Unser bisheriger erster Vorsitzender, Herr J. Czochralski, hat am 1. Januar d. J. den Vorsitz niedergelegt. Dieser Entschluss ist ihm nicht leicht geworden, hing er doch mit ganzem Herzen an unserer Gesellschaft.«383 Ob Czochralski im Oktober 1928 oder bereits früher wusste, dass er dauerhaft in Polen bleiben werde, geht aus den vorhandenen Unterlagen nicht klar hervor, obwohl es wahrscheinlich ist. Entweder wollte er diese Tatsache noch nicht in Deutschland verkünden, weil seine Zukunft in Polen noch nicht sicher war und er noch verhandelte; möglich ist auch, dass er Grund und Dauerhaftigkeit seines Weggehens zurückhielt, um den Beratervertrag mit der Metallgesellschaft nicht zu gefährden – denn diese kündigte später den Vertrag, als sie erfuhr, dass er in Polen eine »vertragswidrige Stellung« angenommen hatte. Für die DGM sowie für die deutsche Metallforschung, -wirtschaft und -technik bedeutete Czochralskis Weggang nach Polen jedenfalls einen »herben Verlust«.384 Dort war er seit langem bekannt. Bereits 1924 waren die Professoren des Polytechnikums Warschau, Czesław Witoczyński, Maksymilian Tytus Huber und Henryk Mierzejewski, auf Czochralski aufmerksam geworden – sie trafen ihn auf dem erwähnten Ersten Internationalen Kongress für Technische Mechanik in Delft. Besonders Henryk Mierzejewski verfolgte die Arbeiten Czochralskis aufmerksam und verkündete ähnlich wie Czochralski das Credo, die Entwicklung der Industrie müsse sich auf die Wissenschaft stützen.385 Ihm wird zugeschrieben, er habe sich im Anschluss an diesen Kongress dafür eingesetzt, Czochralski nach Polen zu holen.386 An Mierzejewskis Rolle erinnerte sich unter anderem dessen Schwager, Adam Szczepanik, Chefredakteur der Wirtschaftszeitung Depesza, im Rückblick im Mai 1936, als Mierzejewski bereits 382 Zeitschrift für Metallkunde 20/1 (1928), S. 452. 383 Mitteilungen der DGM, 11. Hauptversammlung der DGM am Donnerstag, dem 31. Januar 1929, zu Berlin, in: Zeitschrift für Metallkunde 21/2 (1929), S. 74-76, S. 74. 384 Maier, 100 Jahre, S. 49. 385 Siehe zum Beispiel seinen Text: O stronie naukowej niektórych zagadnień technicznych. Wykład wygłoszony na otwarciu roku ak. 1924/1925 w Politechnice Warszawskiej, in: Przegląd Techniczny 46 (1924), S. 517-518. In diesem Artikel erwähnt er die Metallkristalle von Czochralski und ihren Nutzen für die Erforschung der mechanischen Eigenschaften der Metalle. 386 Siehe dazu auch APAN III-325-2234 Jan Czochralski, W. Świętosławski am 3. 4. 1956. Informacje w sprawie działalności naukowej i społecznej Prof. Jana Czochralskiego. 210

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verstorben war. Szczepanik schrieb, Mierzejewski habe ihm von dem Vorhaben berichtet, Czochralski nach Polen zu holen, von Reisen nach Frankfurt am Main zu diesem Zweck und von der Freude, als der Umzug 1928 konkret geworden war.387 Auf der Werkstoffschau Ende 1927 war Czochralski erneut mit Mierzejewski und einer weiteren Gruppe von Delegierten aus Polen um den Ingenieur Kazimierz Jackowski zusammengetroffen, der zu jener Zeit als Ingenieur für Funktechnik beim Oberkommando der Polnischen Armee arbeitete. Diese Gruppe hatte ein gemeinsames Ziel: Czochralski von einem Umzug nach Polen zu überzeugen.388 Als Indiz dafür, dass Czochralski nach der Werkstoffschau konkretere Umzugspläne zu hegen begann, könnte man werten, dass er bereits am 12. März 1928 in geheimer Wahl vom Vorstand der Polnischen Polytechnischen Gesellschaft als Mitglied aufgenommen wurde, einer einflussreichen wissenschaftlichen Fachgesellschaft, die die Zeitschrift Czasopismo Techniczne (Technische Zeitschrift) herausgab und in deren Vorstand auch der Metallkundler Witold Broniewski vom Polytechnikum Warschau saß, der Czochralskis Anstellung an seiner Hochschule befürwortete.389 Möglicherweise war Czochralski noch nicht klar, wo er genau unterkommen würde, denn, so Szczepanik in Depesza, auch das Polytechnikum in Lemberg hätte Czochralski gerne als Nachfolger des 1927 verstorbenen Metallforschers Stanisław Anczyc gesehen, der, wie bereits erwähnt, einen der ersten Lehrstühle für Metallkunde in Polen innehatte. Er selbst hatte Czochralski als »würdigsten Nachfolger« empfohlen; zudem hatte auch der Dekan der Fakultät für Hüttenkunde an der Akademie für Bergbau und Hüttenwesen Krakau, als er im Mai 1928 von Czochralskis Besuch in Polen und einem möglichen Umzugswunsch gehört hatte, Interesse angemeldet, mit ihm über die Besetzung eines Lehrstuhls für Metallographie und Nichteisenmetalle zu sprechen.390 Czochralski war auch in Kreisen von Politik und Militär bekannt. Der Leiter des Instituts zur Erforschung von Waffenmaterial der Polnischen Armee machte in einem Brief im Jahr 1928 darauf aufmerksam, dass der »Pole Prof. Czochralski« an der Spitze der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde stehe; auch nahm eine Delegation des Institutes zur Erforschung von Waffenmaterial an der Werkstoffschau 1927 in Berlin teil.391 387 Adam Szczepanik, Profesor Politechniki Jan Czochralski stał się ofiarą publicznego atakowania go przez drugiego profesora, Depesza Nr. 26, 15. 6. 1936. 388 Ebd., und Tomaszewski, Powrót, S. 114. 389 Czasopismo techniczne 7 (1928), 10. April 1928, S. 116. 390 Szczepanik, Profesor Politechniki Jan Czochralski. 391 CAW I.342. 1. 17, Instytut Technicznego Uzbrojenia. 211

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Und Wojciech Świętosławski, Professor für Chemie am Polytechnikum in Warschau, dessen Rektor er in den Jahren 1928 und 1929 war, bevor er ab 1935 Minister für religiöse Bekenntnisse und öffentliche Aufklärung wurde, rekapitulierte in seinen Erinnerungen zahlreiche Gespräche mit Polens Staatspräsident Ignacy Mościcki, der selbst aus der Wissenschaft kam und als Professor für Chemie gelehrt hatte. In einem dieser Gespräche ging es darum, dass der polnische Verband der Hüttenindustrie im November 1928 anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Polnischen Republik eine Million Złoty für die Entwicklung des Hüttenwesens gestiftet habe, worüber der Präsident der Republik verfügen solle. Dazu gab es zwei Vorschläge: Einer sah vor, die Summe der Technischen Hochschule in Warschau zukommen zu lassen, der andere, es der Bergbauakademie in Krakau zu geben. Im Gespräch mit Świętosławski habe der Präsident die Konzeption entwickelt, eine Abteilung für Hüttenwesen an dem 1922 in Lemberg gegründeten und seit 1927 in Warschau ansässigen Chemischen Forschungsinstitut (Chemiczny Instytut Badawczy, ChIB) zu errichten. Es sei geplant gewesen, so Świętosławski, »den herausragenden Metallkundler Czochralski aus Deutschland [an dieses Institut] zu holen«. Er, Świętosławski, habe in seiner Eigenschaft als Rektor dafür plädiert, die Summe der Technischen Hochschule zu geben, weil Czochralski dort Professor werden sollte. Diese Intervention blieb folgenlos, denn das Geld ging an die Bergbauakademie in Krakau. Aber die Pläne seitens der Regierung und der Technischen Hochschule, Czochralski nach Polen zu holen, waren sehr konkret.392 Auf seiner Reise nach Warschau im Oktober 1928 traf Czochralski mit Staatspräsident Mościcki zusammen.393 Offenbar war es gelungen, die finanziellen Mittel, die nötig waren, um Czochralski einen Lehrstuhl an der Technischen Hochschule in Warschau anzubieten, anderweitig aufzutreiben. In Deutschland wiederum wurde in einer recht ausführlichen Würdigung, die Czochralski am 31. Januar 1929 auf der Hauptversammlung der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde erfuhr, verbreitet, er habe in Deutschland kein geeignetes Arbeitsfeld mehr gefunden und sei daher »gezwungen gewesen«, einem Ruf als Hochschullehrer nach Warschau Folge zu leisten.394 Ob es zwischen der Metallgesellschaft und Czochralski zu einem Zerwürfnis gekommen ist oder ob Czochralski selbst kündigte, weil ihm die immer weniger auf Forschung ausgerichtete Richtung des Laboratoriums missfiel, er unerfüllte Gehaltsforderungen 392 APAN III-238-100, Wojciech Świętosławski, Wspomnienia, Bl. 15-16. 393 Tomaszewski, Powrót, S. 85. 394 Mitteilungen der DGM, in: Zeitschrift für Metallkunde 21/2 (1929), S. 74-76, S. 74-75. 212

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stellte oder weil er den Zeitpunkt für gekommen hielt, Polen beim Wiederaufbau zu unterstützen und eine Professur zu übernehmen, ist nach derzeitiger Quellenlage nicht eindeutig zu bestimmen.395 Plausibel scheint, dass er den Entschluss fasste, Deutschland zu verlassen, weil ihm weitere Aufstiegsmöglichkeiten bei dem Konzern oder in ein akademisches Umfeld in Deutschland doch verstellt waren. Im Metall-Laboratorium war, wie bereits erwähnt, der Anteil an Forschungsarbeiten vor allem seit 1926 rückläufig – es mussten immer mehr Auftragsarbeiten für die Industrie ausgeführt werden, wie Georg Welter als kommissarischer Leiter des Laboratoriums 1930 kritisch anmerkte.396 Er beklagte, dass sich die Patentanmeldungen der Konkurrenz häuften, während für Forschung keine Zeit mehr sei. So werde der große Vorsprung, den »wir auf dem Gebiete der Lagermetalle und auch der Aluminiumlegierungen in jahrelanger Arbeit erzielt hatten, bald verloren sein, und wir werden in absehbarer Zeit ohne die Arbeiten der Konkurrenzfirmen auf diesem Gebiete nicht mehr auskommen«, so sein Fazit.397 Diese Entwicklung wird Czochralski nicht zugesagt haben, weil er sich zu sehr als Wissenschaftler verstand; zudem musste er gerade auf diesen beiden Gebieten seine Erfolge in Misskredit gebracht sehen. Im Februar 1928 schrieb Czochralski in einem Rechenschaftsbericht an Alfred Merton, die Metallgesellschaft sei, was die moderne Legierungsforschung anbelangt, wohl der am meisten wissenschaftlich orientierte Konzern des In- und Auslandes.398 Dies muss er als gefährdet angesehen haben, und das, was 395 In den »Materialien zur Lebensgeschichte« wird mit Datum vom 4. Januar 1940 ein Brief Czochralskis an den »Oberbefehlshaber Ost« erwähnt. Darin habe Czochralski angeführt, er habe seine Tätigkeit in Deutschland wegen »jüdischer Machenschaften« aufgeben müssen. Dem Verfasser, Johannes Jaenicke, lag dieser Brief selbst nicht vor, weil er zusammen mit einer Stellungnahme der MG am 15. Februar 1940 an das Oberkommando der Wehrmacht zurückgeschickt worden sei. Jaenicke vermutete, dass Czochralski entweder aufgefordert worden war oder sich selbst angeboten hatte, seine Dienste der deutschen Besatzungsmacht zur Verfügung zu stellen. Er verwies aber auch darauf, dass seitens der MG »rassische« oder ähnliche Gesichtspunkte keine Rolle bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gespielt hätten. Ob dieser Brief tatsächlich so geschrieben wurde, was mit ihm passierte und ob Czochralski mit »jüdischen Machenschaften« auf die jüdische Herkunft der Gebrüder Merton anspielen wollte, ist unklar. Einen Sinn würde ein solcher Brief nur ergeben, wenn Czochralski entweder eine Anbiederungsstrategie verfolgt hätte oder seitens der deutschen Besatzer unter erheblichen Druck gesetzt worden wäre – etwa, wenn die deutschen Besatzer ihm mit einer Behandlung als Landesverräter gedroht hätten. 396 Wassermann, Wincierz, Metall-Laboratorium, S. 20; Welter, Zwölf Jahre MetallLaboratorium. 397 Welter, Zwölf Jahre Metall-Laboratorium, S. 18. 398 Materialien zur Lebensgeschichte, Pos. 445. 213

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Welter postulierte, nämlich »Forschungsarbeiten bedeuten Leben, Aussicht auf Erfolge, Freude an der Arbeit, wirtschaftliche Ausnutzung des Anlage- und des aufgewendeten Kapitals, Lohnarbeit hingegen … ist zu geringer Produktivität verurteilt« – das hätte auch Czochralski unterschrieben.399 Welter sah in seinem Bericht statt Forschung und Entwicklung vor allem »Stillstand« und »Rückwärtsbewegung« – Konstellationen, die nur schlecht zu Jan Czochralski passten. Auch Welter selbst verließ das Frankfurter Labor noch 1930 und folgte Czochralski nach Warschau, wo er sowohl eine Stelle am Polytechnikum übernahm als auch den Posten eines Konsuls von Luxemburg bekleidete. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Faktoren für Czochralskis Weggang aus Frankfurt vielschichtig waren und sowohl in den Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland als auch in den Aussichten auf ein wissenschaftliches Leben in Polen und den dortigen Konditionen zu suchen sind – es handelt sich somit um ein komplexes Zusammenspiel von Push- und Pull-Faktoren. Während sich Czochralski 1904 zur Migration entschloss, weil er von den Möglichkeiten angezogen wurde, die ihm damals das Berliner Umfeld eher als sein Geburtsort im preußischen Teilungsgebiet boten, fassten er und seine Familie den erneuten Entschluss zur Migration, weil ihn nun die Aussicht anzog, in Polen an einer Hochschule tätig zu werden. Die Perspektiven in Deutschland scheinen ihn darüber hinaus »gepusht« zu haben.400 Die bislang in der Literatur vorherrschende Interpretation von Czochralskis Weggang aus Deutschland als »Rückkehr«401 ist einer nationalen Sicht auf diese Konstellation verpflichtet – denn Czochralski kehrte nicht in ein Land zurück, das er verlassen hatte, weil es dieses Polen 1904 nicht gegeben hatte; zudem scheint es, als wenn Czochralskis Beweggründe für die Migration vielschichtiger als ausschließlich nationaler Natur waren und er ähnlich wie im Fall Ludwik Hirszfeld, der keine seinen Ansprüchen

399 Ebd., S. 19. 400 Siehe zu solchen Faktoren in der Migrationsforschung Dirk Hoerder, Jan Lucassen, Leo Lucassen, Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Klaus J. Bade u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, München 2007, S. 28-53. 401 Wie der Titel des Buches von Paweł Tomaszewski »Powrót/Rückkehr« suggeriert. Tomaszewski wendet sich in einer jüngeren Publikation dementsprechend gegen die Verwendung des Begriffs »Emigration« für Czochralskis Weggang aus Deutschland, weil dieses Land nicht seine Heimat gewesen sei, siehe Ders., Komentarz do artykułu Mariusza W. Majewskiego opublikowanego w Studia Historiae Scientiarum 17 (2018), S. 89-117, in: Studia Historiae Scientiarum 18 (2019), S. 517-529, S. 526, DOI: 10.4467/2543702XSHS. 19.016.11022. 214

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entsprechende Position in Belgrad erhielt, vor allem pragmatischen Erwägungen folgte. Der nicht ganz zu klärende Weggang von Czochralski aus Deutschland hat zu Spekulationen eingeladen, etwa zu der Annahme, Czochralski sei – als Träger militärischer Geheimnisse in Deutschland – möglicherweise schon lange als Doppelagent für den polnischen Geheimdienst tätig gewesen und habe Deutschland fluchtartig verlassen müssen, weil seine Aufdeckung kurz bevorgestanden habe.402 Belegen lassen sich zwar vielfache Kontakte Czochralskis zu verschiedenen Repräsentanten der polnischen Armee, eine Geheimdiensttätigkeit allerdings nicht. Dies heißt nicht, dass man sie gänzlich ausschließen kann – dagegen spricht aber, dass Czochralski nach seinem Weggang weiterhin in Kontakt mit deutschen Behörden und der Metallgesellschaft stand, weiterhin aus Deutschland Tantiemen bezog, preußischer Staatsbürger blieb, Steuern in Deutschland zahlte und dass er, nachdem die Deutschen 1939 in Warschau einrückten, nicht sogleich als Verräter militärischer Geheimnisse verhaftet wurde, sondern weitgehend unbehelligt blieb. 4.1.7 Die Verlängerung des Kriegswissens in den Frieden: Industrielle, institutionelle und disziplinäre Fortentwicklungen

Wie Ludwik Hirszfeld konnte Jan Czochralski über das im Krieg fortentwickelte und gefestigte Wissen zu einem anerkannten Wissensakteur werden, dessen Expertise nicht nur für die weitere Geschichte der Metallgesellschaft, sondern auch für die Metallforschung und ihre Institutionalisierung bedeutsam wurde und für die sich aufgrund ihrer nationalen Bedeutung zahlreiche Kreise aus Politik, Industrie und Militär interessierten. Der Krieg hatte mit seiner Radikalisierung neue Positionen für Expertinnen und Experten geschaffen. Dies bildete die Voraussetzung für intensive und zum Teil visionäre Formen von Austausch, Anwendung und Entwicklung von Expertise, an der Czochralski partizipierte.403 Czochralski besetzte einige der neuen Positionen sowohl in der Industrie als auch in den Institutionen, die er mit auf baute, und er beteiligte sich an der damit einhergehenden dichteren Verknüpfung von Expertenwissen mit der Politik infolge des Krieges und der weiterhin als prekär empfundenen Rohstoffsituation in Deutschland nach dem Krieg. Neben seinem praktischen Kapital waren es die Netzwerke und Kontak402 Die These vom Geheimdienst findet sich bei Tomaszewski, Powrót, S. 126-135, ohne Beleg. 403 Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 77. 215

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te, die er bereits vor dem Krieg geknüpft hatte, die es ihm ermöglichten, seine Expertise auszubauen und in der Nachkriegszeit dadurch zur Anwendung bringen zu können, indem er das Kriegswissen stabilisierte. Sein Wissen zirkulierte in den Kreisen der deutschen Metallforschung und den entsprechenden Industrie- bzw. Handelsbetrieben, aber es breitete sich auch international über seine Vortragstätigkeit und die globalen Kontakte der Metallgesellschaft zu Firmen auf der ganzen Welt, die das Bahnmetall-Patent erwarben, aus. Czochralski etablierte sich in der nationalen und internationalen Wissenschaft sowie in der Industrie zum einen über die industriell-militärische Ersatzstoffforschung, die ihren Ausgang im Ersten Weltkrieg genommen hatte – das beste Beispiel dafür ist das beschriebene Bahnmetall. Diese durch den Krieg erzwungene Umstellung von Zinn- und Kupferlegierungen auf gehärtetes Blei für Lagerauskleidungen hatte sich nicht als eine der zahlreichen nach Rückkehr zur Friedenswirtschaft rasch wieder aufgehobenen, vergänglichen Ersatzmaßnahmen herausgestellt. Die Kritik an der in der Weimarer Republik überdurchschnittlich entwickelten Fähigkeit, »aus ungeeigneten Ressourcen mit hohem Aufwand Zweitklassiges herzustellen« und sich damit aus der globalen wissenschaftlich-technischen Spitzengruppe zu verabschieden, sollte in Bezug auf das Bahnmetall zumindest relativiert werden, da es sich über viele Jahre hinweg als technisch und wirtschaftlich vorteilhaft erwiesen hatte.404 Diese und andere Erfindungen, an denen Czochralski beteiligt war, entstanden zu einem sehr großen Teil auf Verlangen der Metallgesellschaft und der Industrie, die wiederum auf Anforderungen aus Militär und Politik reagierte – es war keine freie Forschung, und Innovation fand als Antwort auf die Bedürfnisse von Industrie und Militär statt. Wissenschaftlicher Fortschritt stand dabei immer in einem Spannungsfeld, denn einerseits ging es um den Fortschritt für die gesamte Menschheit, zum anderen aber immer um die Behauptung der eigenen Nation. Und die Wissenschaft wurde an beiden Zielen gemessen. An der Großforschung an einer Schnittstelle von Wissenschaft, Militär und Industrie, die sich mit teils nationalistischer Rhetorik in den Dienst der Nation gestellt und sich durch den ersten technologischen Krieg etabliert hatte, arbeitete Czochralski bis 1928 tatkräftig mit.405 Er war Teil eines Systems, in dem Wissenschaftler und Ingenieure eine immense Bedeutung erlangen sollten.406 In seiner Vision einer »Beherr404 Wengenroth, Käfig, S. 53; Materialien zur Lebensgeschichte, S. 4. 405 Siehe Trischler, Nationales Sicherheitssystem. 406 Siehe Gay Hartcup, The War of Invention. Scientific Developments, 1914-1918, London u. a. 1988, S. vii. 216

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schung« der Metalle gegenüber einem als feindlich wahrgenommenen Ausland akzentuierte er seine Überzeugung, dass eine konsequente Nutzung neuer Technik und ein entsprechender Stellenwert der Ingenieure und Techniker für den Fortschritt der Menschheit notwendig seien, ein Fortschritt, der die Möglichkeit eines erneuten Krieges nicht ausschloss, sondern ihn antizipierte und mitdachte. Nicht nur wurde dabei das Kriegswissen in die Friedenszeit transferiert, übersetzt und an die neuen Anforderungen angepasst. Darüber hinaus verlängerte sich das Denken in der Kategorie »Krieg« und Verteidigung sowohl in das KWI für Metallforschung als auch in die DGM, an deren Gründung Czochralski jeweils mitwirkte und die eine Schnittstelle zwischen wissenschaftlich-rational generiertem »Zukunftswissen« und anwendungsorientierter Praxis vor allem in der Rüstungsforschung bildeten. Czochralski arbeitete kräftig daran mit, die Notwendigkeit dieser Strukturen zu unterstreichen und für deren finanzielle Unterstützung zu sorgen. Auch wenn Czochralski sich stets dafür einsetzte, die Wissenschaft für die industrielle Praxis anwendbar zu machen, sah er sich gleichwohl nicht hauptsächlich als Praktiker, sondern gleichermaßen als Wissenschaftler und verteidigte die Wissenschaft auch gegenüber denjenigen, die sie für die Wirtschaftsentwicklung als überflüssig oder eine Art Luxus betrachteten. »Klagen darüber, daß die wissenschaftlichen Bestrebungen in der Praxis und in den Betrieben nicht immer das halten, was sie halten sollen«, hielt er entgegen: »Der wahre Grund aber liegt nicht im Versagen der wissenschaftlich-technischen Erkenntnis, sondern vielmehr darin, daß es uns nicht immer gelingt, wissenschaftlich genug zu sein.«407 Ähnlich hatte er im Jahr 1928 postuliert, dass die »Wissenschaft die Quelle der Technik bleiben [wird] und bleiben [wird] müssen !«408 Einiges, was Czochralski dabei im Labor an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis erprobte oder in theoretischen Ausführungen darlegte, war unbrauchbar, scheiterte und kam nie zur Anwendung – das Wissen über die komplexen Vorgänge, die bei der Be- und Verarbeitung von Metallen abliefen, war keineswegs gesichert oder verstanden, und die Stoffe reagierten immer wieder neu und erwiesen sich zuweilen als schwer durchschaubar im wahrsten Sinne des Wortes. Vieles stand in der Metallforschung am Anfang und wurde durch Versuch und Irrtum weiterentwickelt, wie etwa die Verfestigungstheorie oder der Einsatz der 407 Jan Czochralski, Die Metallbetriebe und ihre technisch-wissenschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren, in: Zeitschrift für Metallkunde 21/1 (1929), S. 1-6 und 21/2 (1929), S. 43-50, S. 50. 408 Jan Czochralski, Eröffnungsansprache, Fachheft »Röntgenforschung«, in: Zeitschrift für Metallkunde 20/1 (1928), S. 1. 217

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Röntgentechnik zur optischen Analyse von Metallstrukturen. Auch das Czochralski-Verfahren kam zwar zur Messung der Geschwindigkeit von Kristallisationsvorgängen zur Anwendung, seine eigentliche Bedeutung aber blieb den Zeitgenossen noch verborgen. Wie Ludwik Hirszfeld war Czochralski ein Vertreter einer antizipativen Wissensproduktion, er dachte in die Zukunft, und so wurde er auch von seinen Zeitgenossen wahrgenommen. Allerdings, und dies bildete die Kehrseite der Medaille, sei der »Entdecker und Erschließer von Neuland stets Außenseiter«409 gewesen. Diese Charakterisierung mochte auf Czochralski auch wegen seiner fehlenden Ausbildung und der fehlenden Verankerung in den starren Strukturen des deutschen Wissenschaftssystems zutreffen. Noch stärker gilt diese Einschätzung aber vielleicht für seine Jahre in Polen, wohin er 1928 zog und wo er auf gänzlich neue und andere Konstellationen als in Deutschland traf, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird. 4.2 Krise und Euphorie: Der Möglichkeits- und Übergangsraum vom Imperium zum Nationalstaat

In diesem Kapitel wird gezeigt, wie Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski ihr während ihrer Ausbildungs- und Arbeitsjahre im deutschen Sprachraum angeeignetes Wissen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den 1918 neu gebildeten polnischen Nationalstaat transferierten, wie sich das Wissen auf diesem Weg veränderte und wie es weiterhin transnational zirkulierte. Kontinuitäten stehen neben Neuanfängen, denn beide versuchten, ihre gewohnten Rollen auszufüllen; gleichwohl hielt die Neugründung des Staates neue Herausforderungen und neue Arenen für sie als Wissenschaftler und Experten bereit. Sie bildeten neue Netzwerke aus, pflegten aber auch die alten, sie vermischten ihr bereits vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg stabilisiertes Wissen mit Wissensbeständen vor Ort auf eine zumeist produktive Weise, sie blieben Teil ihrer bisherigen Denkkollektive und beteiligten sich daran, neue zu erschaffen. Sie transferierten Materialität und nicht-menschliche Akteure, um weiterhin mit den Stoffen und experimentellen Anordnungen zu arbeiten, die ihnen vertraut waren – wie diese Stoffe erforscht werden konnten und wirkten, war eine Folge der Praktiken des Umgangs mit ihnen. Diese Praktiken wiederum mussten in dem neuen Nationalstaat andere 409 Materialien zur Lebensgeschichte, S. 10-11. 218

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sein als in den etablierten Strukturen des Deutschen Reiches. Wegen eines signifikanten Kapitalmangels in Polen war dies eine große Herausforderung. Konnte dies unter den veränderten ökonomischen, aber auch politischen, kulturellen und sozialen Bedingungen, die auf diese Praktiken ebenfalls einwirkten, gelingen? Beide Wissenschaftler gestalteten den Wissensraum Warschau, wo sie ihre neuen Herausforderungen annahmen, in ihren Feldern mit. Ihre transnationale Verankerung erwies sich dabei einerseits als Chance und als förderlich für ihren weiteren Lebensweg, andererseits beinhaltete sie ebenso Risiken, weil manche ihrer Zeitgenossen ihre multiple Verankerung als bedrohlich für den neuen Nationalstaat interpretierten. Wissen, das in transnationalem Austausch generiert und diskutiert worden war, sollte im neuen Polen nationalisiert oder für nationale Zwecke nutzbar gemacht werden – gleichzeitig forderten seine Trägerinnen und Träger wegen des transnationalen Charakters des Wissens den Nationalstaat heraus, überschritten sie doch permanent seine Grenzen. Es stellt sich daher weiterhin die Frage, wie sich das Verhältnis von transnationaler Wissenschaft und nationalen Interessen gestaltete. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, galt es, die sich permanent verändernden Kräfteverhältnisse auszugleichen. Im Folgenden werden zunächst die Konstellation der Nachfolgestaaten der zerfallenen Imperien, darunter Polen, sowie die Spezifika der dortigen Wissenschaftsentwicklung skizziert, bevor das konkrete Handeln der Wissenschaftler in diese Kontexte eingeordnet wird. Die beiden Wissenschaftler siedelten in eine Region über, die durch die spezifische Konstellation der nach 1917 zerfallenen Imperien des Russländischen Reiches, der Habsburgermonarchie und des deutschen Kaiserreiches und deren Erbe in den neu gegründeten Nationalstaaten charakterisiert war. Die Ausgestaltung dieser Staaten und damit auch Polens war zweifellos eine große praktische und repräsentative Herausforderung. Nachdem die vielfältigen und meist unkoordinierten Bestrebungen verschiedener Akteure auf nationaler und internationaler Ebene dazu geführt hatten, dass die deutschen Besatzer die Macht im November 1918 an Józef Piłsudski übergaben, musste das polnische Staatswesen drei verschiedene Rechtssysteme vereinheitlichen, nunmehr abgeschnittene Märkte wie das Russländische Reich bzw. die Sowjetunion kompensieren und eine funktionierende politische, soziale, ökonomische und kulturelle Ordnung schaffen. Die wichtigsten politischen Lager in Polen, vor allem das linke Lager der Polnischen Sozialistischen Partei um Piłsudski und das rechte Lager der Nationaldemokraten, hatten sehr divergente Vorstellungen über die Ausgestaltung des Staates. Ihre Haltung 219

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war von gegenseitiger Unversöhnlichkeit gekennzeichnet, was zu gravierenden Spannungen führte.410 Sie gipfelten im Putsch von 1926, durch den das Piłsudski-Lager die Macht im Staat übernahm und bis 1939 behielt. Äußere Konflikte verschärften diese angespannte Situation im Inneren, war doch Polen nach dem Frieden von Versailles noch in sechs weitere bewaffnete Konflikte verwickelt. Die zivile Normalität war durch den Ersten Weltkrieg und die ihm folgenden Auseinandersetzungen um die Grenzen im östlichen Europa zerstört worden, Gewalt war ein weit verbreitetes Phänomen.411 Infolge des Krieges waren große Teile des Landes verwüstet, die Industrie lag da nieder, das Getreide konnte nicht überall geerntet werden und viele Menschen waren krank, arbeits- und mittellos und hungerten.412 Als Ergebnis neuer Grenzziehungen infolge des Weltkrieges und des Friedensschlusses von Versailles, aber auch des Polnisch-Russischen Kriegs, der 1921 mit dem Frieden von Riga zu Ende ging, war Polen kein homogener Nationalstaat, sondern, mit einer Minderheitenbevölkerung von 30 Prozent, eher ein nationalisierender Staat.413 Staatsbildung und Nationalstaatsbildung sind zwar keinesfalls gleichzusetzen, wie die vielfältigen Forschungen zum Nationalismus herausgestellt haben. In Polen konzipierten aber viele Akteurinnen und Akteure den 1918 gebildeten Staat von Anfang an als einen ethnischen Nationalstaat, die Art von Nationalstaat, den die Elite des Landes, die Inteligencja, sich so lange gewünscht hatte.414 Für weite Teile dieser Elite beinhaltete dies, ethno-nationale Eigenschaften zu Kriterien von Zugehörigkeit zu machen. Daher zielte der Drang zu Planung, zu Ordnung und zu Regulierung, ein europaweites Phänomen, das nach 1918 auch in Polen anzutreffen war, unter anderem auf ethnische Homogenisierung. Signifikante Minderheitengruppen galten als ein zu bekämpfendes, zu pazifizierendes oder zu assimilierendes »Problem«. Die ethnischen Gruppen, die ihrerseits keineswegs einheitliche Gruppen mit klar definierten politischen Zielen waren, wurden dennoch als solche seitens der Mehrheitsbevölkerung vorgestellt. 410 Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 91-95. 411 Siehe dazu Jochen Böhler, Civil War in Central Europe, 1918-1921. The Reconstruction of Poland, Oxford 2018; Ders., Włodzimierz Borodziej, Joachim von Puttkamer (Hg.), Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War, München 2014. 412 Borodziej, Geschichte Polens, S. 97. 413 Rogers Brubaker, Nationalizing States in the »Old New« Europe-and the New, in: Ethnic and Racial Studies 19/2 (1996), S. 411-437. 414 Sdvižkov, Zeitalter der Intelligenz, S. 135-136. 220

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Sie waren zu neuen nationalen Minderheiten geworden und damit konfrontiert, dass ihre Loyalität zu dem neuen Staatswesen in Frage gestellt werden konnte und wurde.415 Deutsche und Ukrainer wurden wegen irredentistischer Bestrebungen der offenen Feindschaft verdächtigt, während die jüdische Bevölkerung vielen als gefährlicher »innerer Feind« galt, als Ungläubige, als Verkörperung des Bösen genauso wie als Żydokomuna, also als Wortführer radikaler kommunistischer und sozialistischer Ideen, die in ihrer nationalen Loyalität schwanken und großen Einfluss auf die Gestaltung der Republik ausüben würden.416 Dies geschah, obwohl Teile der Minderheiten sowohl in der Lage als auch willens waren, ihre Loyalitäten aus den Imperien auf den neuen Staat zu übertragen und sich als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger des neuen Landes fühlten.417 In den einzelnen Regionen verloren privilegierte Ethnien oder Schichten ihre Stellungen, obwohl sie als eine Art Transmissionselite und Wissensspeicher gebraucht wurden. Dies gilt für Teile der russischen Bewohnerinnen und Bewohner des ehemaligen Kongresspolen ebenso wie für viele Deutsche im ehemals preußischen Teilungsgebiet.418 Ihre Rollen als Funktionseliten wurden in der neuen Ordnung von anderen übernommen, und die sozialen Räume, in denen sie zuvor aufgetreten waren, waren verschwunden oder mussten neu definiert werden. Für diejenigen, die im Zuge der Nationalstaatsbildung ihre Rolle als Funktionselite verloren, symbolisierte der Übergang zu der neuen politischen Ordnung einen Verlust von Handlungsräumen. Für viele andere aber stellte er sich als positiv besetzter Neuanfang und somit als ein Zugewinn von solchen 415 Zum Begriff Martin Schulze Wessel: »Loyalität« als geschichtlicher Grundbegriff und Forschungskonzept: Zur Einleitung, in: Ders. (Hg.), Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik 1918-1938. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten, München 2014, S. 1-22. 416 Grzegorz Krzywiec, Polska bez Żydów. Studia z dziejów idei, wyobraźni i praktyk antysemickich na ziemiach polskich przed Wielką Wojną (1905-1914), Warszawa 2017; Paul Brykczynski, Primed for Violence. Murder, Antisemitism, and Democratic Politics in Interwar Poland, Madison 2016; Stephan Stach, Minderheitenpolitik in der Zweiten Polnischen Republik, in: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung 59/3 (2010), S. 394-412 sowie Ders., Christhardt Henschel (Hg.), Nationalisierung und Pragmatismus. Staatliche Institutionen und Minderheiten in Polen 1918-1939 (Themenheft der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 62/2, 2013). 417 Siehe dazu unter anderem Katrin Steffen, Jüdische Polonität. Nation und Ethnizität im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918-1939, Göttingen 2004. 418 Ingo Loose, How to run a state: The question of know-how in public administration in the first years after Poland’s rebirth in 1918, in: Kohlrausch, Steffen, Wiederkehr, Expert Cultures, S. 145-159. 221

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Spielräumen dar: Die Konstellation schuf einen Möglichkeitsraum, einen Raum voller Herausforderungen und Chancen, einen Raum, in dem etablierte soziale, ökonomische, politische, ethnische, religiöse, wissenschaftliche und Geschlechterbeziehungen neu geordnet wurden. Auf diese Weise wurde Polen zu einem »living laboratory« für Experimente in modernem Leben, einem Labor, aus dem neue Modelle für Politik, Selbstorganisation, Kultur oder Identifikation hervorgingen.419 Zu den mit der Staatsgründung einhergehenden Prozessen von Territorialisierung, also der Herstellung staatlicher Ordnung, gehörten Mobilität und Urbanisierung, Auf brüche, Chancen und Karriereschübe.420 Es eröffnete sich die Möglichkeit, den Nationalstaat als ein einheitliches Territorium zu erfahren, in dem die Räume der Identitätsbildung (identity space) und der Entscheidungsfindung (decision space) zusammenfielen und in dem Wissenschaft, technologischer Fortschritt, Sozialpolitik und Industrialisierung im Rahmen von und als staatliche Souveränität erlebt werden konnten.421 Daran, diesen einheitlichen Raum in der gesamten Fläche Polens herzustellen, die komplexe Transformation der ehemaligen Teilungsgebiete mit sehr unterschiedlichem Entwicklungsstand in den polnischen Nationalstaat zu vollziehen und einen modernen und regierbaren Nationalstaat hervorzubringen, arbeiteten die Repräsentanten des Staates während der gesamten Zeit der Zweiten Republik. Und selbst wenn diese Zeit als potentiell instabil mit zahlreichen Krisen charakterisiert werden kann, die durch nationale, aber auch globale Entwicklungen wie der Weltwirtschaftskrise bedingt waren und viele sozioökonomische Probleme wie die der Wirtschaftsstruktur, einer Bodenreform, des hohen Kapitalmangels oder der Arbeitslosigkeit auf dem Land ungelöst blieben, fand nach 1918 zweifellos eine Konsolidierung des Staates statt. Auf vielen Gebieten wie der hier verfolgten Bildungs- und Wissenschaftsentwicklung, zu der Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld beitrugen, wurden signifikante Fortschritte erzielt, deren

419 Sam Kassow, On the Jewish Street 1918-1939, in: Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Antony Polonsky (Hg.), Polin: 1000 Year History of Polish Jews, Warszawa 2011, S. 227-285, S. 227. Kassow hat dies für jüdisches Leben in Polen konstatiert, aber diese Beobachtung trifft auf ganz Polen zu. 420 Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807-831; Ders., Transformations of Territoriality 1600-2000, in: Gunilla Budde, Sebastian Conrad, Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 22006, S. 32-55. 421 Maier, Transformations of Territoriality, S. 35 und 48. 222

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Entwicklung der Überfall Deutschlands im Jahr 1939 unterbrach.422 Daher sollte diese Zeit nicht retrospektiv von ihrem Ende her als kurze, gescheiterte Episode beurteilt werden, sondern aus einer historisierenden Perspektive, die einbezieht, was unter den gegebenen lokalen und globalen Voraussetzungen möglich war und erreicht wurde. Zudem gilt es, nach den Potentialen zu fragen, die entwickelt werden konnten.423 Viele Repräsentanten der Nationalstaaten selbst bevorzugten für die Zeit nach 1918 ein Narrativ von einem fast teleologischen Übergang vom Imperium zur Nation, in dem mit 1918 plötzlich eine neue, bessere Welt aufscheint – ein Erzählmuster, das auch in die Historiographie eingegangen ist. Ein Teil der Eliten schaute daher lieber nach Paris oder London, und vermied es, sein perfektes Deutsch oder Russisch einzusetzen.424 In solchen Narrativen von Triumph und Erleichterung glänzen die Nationalstaaten fast immer als überlegenes Ordnungsprinzip, das die vermeintliche Rückständigkeit der Imperien zugunsten des unaufhaltbaren Fortschritts im homogenen Nationalstaat mit dessen Gleichheitsversprechen auflösen sollte.425 Aber so eindeutig stellte sich die Zeit um 1918 für viele Akteure nicht dar: Die Zukunft war schlecht vorstellbar, sie war unsicher und hielt selten gradlinige Entwicklungen bereit – dies bewahrheitete sich auch für Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld. Zwar versetzte der Neuanfang tatsächlich viele Menschen in eine Art euphorischen Rauschzustand mit einer Vision einer besseren, weil endlich freien, nationalen Zukunft in einem Land voller sozialer Gerechtig422 Siehe auch Janusz Żarnowski, Modernizacja. Szanse i niebezpieczeństwa dla regionów peryferyjnych, in: Maciej Koźmiński (Hg.), Cywilizacja europejska. Wykłady i eseje, Warszawa 2005, S. 307-321, S. 317. 423 Siehe Martin Müller-Butz, Nach dem Imperium. Zur Entstehung und zum Ende des Wilnaer sowjetoznawstwo aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive, in: Steffen, Nach dem Zerfall, S. 23-47, S. 25. 424 Adam Kożuchowski, The Afterlife of Austria-Hungary. The Image of the Habsburg Monarchy in Interwar Europe, Pittsburg 2013, S. 70. 425 Solche Narrative werden in jüngster Zeit verstärkt in Frage gestellt, siehe Marung, Naumann, Einleitung, S. 26 sowie Jörn Leonhard, Multi-Ethnic Empires and Nation-Building: Comparative Perspectives on the late Nineteenth Century and the First World War, in: Stefan Berger, Alexei Miller (Hg.), Nationalizing Empires, Budapest, New York 2015, S. 629-646, S. 630; Ulrike von Hirschhausen, Jörn Leonhard, Beyond Rise, Decline and Fall. Comparing Multi-Ethnic Empires in the Long Nineteenth Century, in: Dies. (Hg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 9-34, S. 9-1; Tim Buchen, Malte Rolf (Hg.), Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850-1918), Berlin 2015; auch Malte Rolf, Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen (1850-1918) – zur Einleitung, in: Geschichte und Gesellschaft 40/1 (2014), S. 5-21. 223

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keit.426 Kaum ein anderes Sinnbild hat dieses Ideal so symbolisiert wie die sogenannten »gläsernen Häuser«, saubere und moderne Unterkünfte für Bedürftige, die der Schriftsteller Stefan Żeromski in seinem Roman »Vorfrühling« beschrieben hat.427 Es war eine Zeit modernistischer Utopien im Sinne des Auf baus einer neuen Welt mit neuen Menschen in vielen Gebieten des Lebens, in der Technologie, der Gesundheitsfürsorge, der Medizin, aber auch der Kunst, der Literatur, in der Presse und im Theater.428 Die Zeit wirkte wie beschleunigt. Die damit verbundene Euphorie trug viele auch dann noch durch die Zeit bis 1939, als sich alle Ideale vom Leben im Nationalstaat im alltäglichen Parteiengezänk allmählich aufgelöst hatten. Der Übergang vom Imperium zur Nation war aber auch von skeptischen Stimmen begleitet, sei doch die Unabhängigkeit infolge des Ersten Weltkriegs »auf Kosten von solchen Verlusten, von einem solchen Versinken in tiefstes Elend und Verdorbenheit geschehen, dass ein Mensch, der zu Mitgefühl an menschlichem Unglück fähig ist, sich daran nicht erfreuen kann«, wie der Sprachwissenschaftler Jan Baudouin De Courtenay in Warschau 1921 bekannte.429 Ähnlich wie Courtenay erlebte der aus Galizien stammende Rabbiner Joseph Samuel Bloch den Zerfall der Habsburgermonarchie als eine »gewaltsame Zerstörung«, als »Zertrümmerung«, die vor allem Bruchstücke einer einstigen Ordnung hinterlassen habe. Solche Einschätzungen mögen immer auch der Logik der autobiographischen Sinnstiftung in einer Zeit der Entfremdung und des Umbruchs folgen – sie zeigen aber ebenfalls die Wirkungsmächtigkeit der imperialen Anordnungen.430 Selbst wenn die politische Unabhängigkeit von der überwiegenden Mehrheit der Polinnen und Polen als die wertvollste nationale Errungenschaft angesehen wurde, so hatten Kritik und Nostalgie ebenfalls ihren Platz im neuen Staatswesen.431 426 Marta Alexandra Balińska, Ludwik Rajchman, international health leader, in: World Health Forum 12 (1991), S. 456-465, S. 464. Balińska konstatiert diesen Rausch für Ludwik Rajchman. 427 Stefan Żeromski, Przedwiośnie, Warszawa 1965 (zuerst 1924), dt.: Vorfrühling, Frankfurt a. M. 1983. 428 Siehe auch Joanna Kordjak, Szklane domy. Wizje i praktyki modernizacji społecznych po roku 1918, Warszawa 2018, S. 12-13. 429 Jan Baudouin de Courtenay, Pamięci Wilhelma Feldmana, Kraków 1922, S. 2. Siehe zu Baudouin de Courtenay Theodore R. Weeks, Jan Baudouin de Courtenay. The Linguist as Anti-Nationalist and Imperial Citizen, in: Buchen, Rolf, Eliten im Vielvölkerreich, S. 338-354. 430 Tim Buchen, Malte Rolf, Eliten und ihre imperialen Biographien. Zur Einführung, in: Dies., Eliten im Vielvölkerreich, S. 3-31, S. 2. 431 Kożuchowski, Afterlife, S. 10-11. 224

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Mit der Wirkmächtigkeit und dem Nachleben der Imperien musste Polen sich also auseinandersetzen. Seine Repräsentantinnen und Repräsentanten standen vor der Aufgabe, der neu zusammengesetzten Einwohnerschaft in einer krisenhaften Situation darzulegen, dass das Land tatsächlich die so oft proklamierte bessere Alternative zu den Imperien war. Dabei standen sich Imperien und Nation in einer komplexen Wechselbeziehung gegenüber, sie schlossen sich nicht aus, sondern waren eng miteinander verflochten. Die Repräsentantinnen und Repräsentanten des Nationalstaats mussten der inneren Logik nach dessen Überlegenheit als politische Organisationsform gegenüber den Imperien beweisen; denn an ihnen wurden sie gemessen und an ihnen maßen sie sich selbst. Nur entstanden die neuen Nationalstaaten wie Polen nicht aus dem Nichts: Vorstellungen und (An-)Ordnungen, die aus den Imperien kamen, lebten zunächst nicht nur in Rechtsverordnungen, Eisenbahnschienen und in den Lokalverwaltungen fort, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Das Vermächtnis der Imperien bestand aus staatlichen Institutionen, aus Wissen, aus Eliten, aus sozialen, ökonomischen und kognitiven Strukturen und einem jeweils spezifischen Verständnis von politischer Kultur.432 Dabei war der Druck, das Unternehmen »Nationalstaat« zu einem Erfolg zu führen, immens hoch, denn die Erwartungen der Einwohnerinnen und Einwohner mussten erfüllt werden. Auf der anderen Seite war der Staat darauf angewiesen, aus ihnen loyale Staatsbürgerinnen und -bürger zu machen. Zu der entsprechenden sozioökonomischen Entwicklung, die als Voraussetzung dafür galt, sollten die Trägerinnen und Träger von Wissen und Expertise wie Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld ganz wesentlich beitragen. 4.2.1 Wissensakteure im neuen Staat: Nationale Erwartungen und postkoloniale Konstellationen im transnationalen Wissensraum

In dem Prozess, die Rechts-, Wirtschafts- und Verwaltungsordnungen aus den drei Teilungsgebieten zu vereinheitlichen und neue Strukturen, ein Sozial- und Gesundheitswesen und Institutionen wie etwa die Polnische Armee aufzubauen, kamen Wissen und seinen Trägerinnen und Trägern sowohl eine instrumentelle als auch eine symbolische Funktion zu. Wissenschaftliches Wissen, die Frage seiner Anwendbarkeit und einer 432 Karen Barkey, Thinking about Consequences of Empire, in: Dies., Mark von Hagen (Hg.), After Empire. Multiethnic Societies and Nation-building: The Soviet Union and the Russian, Ottoman, and Habsburg Empires, Boulder 1997, S. 99-114, S. 101. 225

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intensiven Zusammenarbeit mit Militär, Industrie und Politik waren zentral für die Konzeption eines »modernen« Nachfolgestaates der ehemaligen Imperien. Eine solche Zusammenarbeit konnte bis 1914/1918 kaum geleistet werden, gab es doch, wie in Kapitel 1 gezeigt, kaum industrielle Forschungslabore oder staatlich geförderte und gut ausgestattete Institute zur Grundlagenforschung.433 Diese Zusammenarbeit sollte nun rasant fortschreiten, um die industriell-wirtschaftliche Entwicklung zu beschleunigen und die Landesgrenzen abzusichern – Expertenwissen hatte für staatliche und ökonomische Eliten schon immer eine immense Bedeutung, und die Kontrolle dieses Wissens war zu einem zentralen politischen Ziel von Nationalstaaten geworden.434 Für Polen hieß dies, wie es der Literaturhistoriker und stellvertretende Leiter der Universitätsbibliothek in Warschau, Tadeusz Makowiecki, umriss: »Die großen und vernachlässigten Arbeiten […] erfordern Tausende von Fachleuten, Dutzende von Forschungsinstituten, Hunderte von Laboratorien, Konstruktionsbüros und Werkstätten jeglichen Typs.«435 Trotz großen Kapitalmangels im Land investierte Polen wie viele der neuen Staaten in der Region in die Etablierung neuer Funktionseliten. Für deren Rekrutierung kamen potentiell zwei Gruppen in Frage: diejenigen, die vor 1918 ausgebildet worden waren und entweder aus den ehemals imperialen Territorien oder aus Westeuropa, Russland oder den USA in das neu zusammengesetzte Land kamen, und diejenigen, die nach 1918 an den Hochschulen in Polen ausgebildet wurden.436 Die Ausdifferenzierung des Wissenschafts- und Bildungswesens sowie die Ausweitung eines landesweiten Hochschulwesens wurden daher rasch in Angriff genommen. Zu Krakau, Lemberg und Warschau kamen bereits 1918 die Katholische Universität in Lublin, 1919 eine neue Universität in Posen und die wieder gegründete Universität in Wilna hinzu.437 Die Technische Hochschule Warschau war 1915 noch unter der deutschen Besatzung im Generalgouvernement Warschau wieder eröffnet worden, 1919 entstand die Bergbauakademie in Krakau. Die bestehende polytech433 Józef Piłatowicz, Nauka – technika – produkcja w dwudziestoleciu międzywojennym, in: Zagadnienia naukoznawstwa 98/2 (1989), S. 241-260, S. 260. 434 Pestre, Regimes of Knowledge Production; Stephen Turner, What is the Problem with Experts? in: Social Studies of Science 31/1 (2001), S. 123-149, S. 127. 435 Tadeusz Makowiecki, Józef Piłsudski i nauka, in: Nauka Polska 21 (1936), S. XIXVIII. S. XII. 436 Kohlrausch, Steffen, Wiederkehr, Introduction, S. 11; Allgemein zur Remigration aus Deutschland siehe Mirosław Piotrowski, Reemigrajca Polaków z Niemiec 1918-1939, Lublin 2000; auch Adam Walaszek, Reemigracja ze Stanów Zjednoczonych do Polski po I Wojnie Światowej 1919-1924, Kraków 1983. 437 Borodziej, Geschichte Polens, S. 150. 226

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nische Schule in Lemberg wurde 1920 in ein Polytechnikum umgewandelt.438 Die Hochschulen orientierten sich dabei vor allem an deutschösterreichischen Vorbildern – diese waren den meisten Verantwortlichen und Hochschullehrern bekannter als französische oder britische Muster. Das Modell garantierte den Universitäten relative Autonomie und finanzielle Unterstützung durch den Staatshaushalt, und es war weder so zentralisiert wie das französische System noch so uneinheitlich wie das britische. Bereits am 13. Juli 1920 verabschiedete der Sejm ein »Gesetz über die Hochschulen« (Ustawa o szkołach akademickich), das den Aufbau der Hochschulen vereinheitlichte.439 Neben der schnellen Ausbildung von Eliten im Land waren Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Staat bemüht, möglichst viele der während der Teilungszeit abgewanderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon zu überzeugen, nun ihr Wissen und ihre Expertise in dem neuen Land zur Geltung zu bringen – keine ganz leichte Aufgabe, wie der bekannteste Anthropologe Polens, Jan Czekanowski, im Jahr 1918 festhielt. Er zeichnete ein düsteres Bild von den in jenem Jahr bereits in Polen lebenden Anthropologen und weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: »Sie bilden ein mehr oder weniger untergeordnetes Beiwerk zu fremder Wissenschaft, besonders der deutschen und der russischen; und unser Land bleibt, in wissenschaftlicher nicht weniger als in politischer Hinsicht, eine abhängige Provinz. Dieses demütigende Verhältnis ist unserer Gesellschaft zu wenig bewusst. Die Gesellschaft darf angesichts der Tatsache nicht gleichgültig bleiben, dass eine Rückkehr ins Land für die Mehrheit der hervorragenden Wissenschaftler, die sich von einem Gefühl der staatsbürgerlichen Pflicht leiten lassen, in großem Maße gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine europäische akademische Karriere ist.«440 Diese pessimistische Einschätzung, die Polen en passant den Status eines postkolonialen Landes zuwies, sollte möglicherweise bewusst eine krisenhafte Situation beschwören, um finanzielle und moralische Unterstützung zu ihrer Beseitigung zu erhalten. Vorgetragen wurde sie in einer groß angelegten Umfrage der erwähnten Stiftung Mianowski-Kasse unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Polen. Sie waren aufgefordert worden, zum Zustand ihrer jeweiligen Fachgebiete und generell der Wissenschaften Stellung zu beziehen, um eine Art Bestandsaufnahme zu 438 Siehe Ditchen, Politechnika Lwowska, S. 171. 439 Molik, Deutsche Universitäten, S. 27. 440 Jan Czekanowski, W sprawie potrzeb nauk antropologicznych w Polsce, in: Nauka Polska 1 (1918), S. 201-223, S. 202 (Hervorhebung im Original). 227

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Beginn der polnischen Staatlichkeit zu ermöglichen. Die eingegangen Aufsätze wurden dann in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Nauka Polska (Polnische Wissenschaft) abgedruckt.441 Die Analyse war durchaus zutreffend – für viele Wissenschaftler und einige Wissenschaftlerinnen bedeutete der Schritt nach Polen eine Verringerung des Lebens- und des Forschungsstandards, weil die Löhne signifikant niedriger waren als in den Ländern, aus denen sie kamen, und die Mittel zur Ausstattung entsprechend knapper.442 Dem bekannten Sozialanthropologen Bronisław Malinowski etwa war ein Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität in Krakau angeboten worden. Die Mittel zur Ausstattung des Lehrstuhls waren hingegen so gering, dass er meinte, seine akademischen Ambitionen könnten besser in Großbritannien erfüllt werden – er kam nicht nach Polen.443 Andere, wie der Physiker Mieczysław Wolfke, der sich in Zürich bei Albert Einstein habilitiert und im Anschluss in Deutschland für das Optikunternehmen Zeiss in Jena und an verschiedenen Universitäten, unter anderem in Breslau, gearbeitet hatte und an der Erfindung der Hologramme beteiligt war, zögerten.444 Wolfke lehnte eine Berufung auf den Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Warschau zunächst ab, weil diese ihm die geforderten Laboratorien nicht zusichern konnte. Dies gelang erst dem Polytechnikum Warschau im Jahr 1922. Dort musste sich Wolfke zu seinem Leidwesen ein Labor mit einem anderen Wissenschaftler, einem Schüler von Röntgen, teilen. Zudem konnte er an bestimmten, vor allem optischen Aufgaben nicht arbeiten, weil die Apparaturen in Warschau fehlten. Er schob in der Folgezeit immer wieder längere Auslandsaufenthalte in sein wissenschaftliches Leben ein – dies war ein weit verbreitetes Muster in Polen, wenn es in den entsprechenden Laboren an der extrem kostspieligen technischen Ausstattung mangelte.445 441 Zu Nauka Polska siehe Grażyna Wrona, Nauka Polska, jej potrzeby, organizacja i rozwój (1918-1939), pierwsze polskie czasopismo naukoznawcze, in: Rocznik Historii Prasy Polskiej 2 (2004), S. 19-47 sowie Cain, Kleeberg, New Organon. 442 Bohdan Jaczewski, Organizacje i instytucje zycia naukowego w Polse (listopad 1918-1939), in: Zofia Skubała-Tokarska (Hg.), Historia Nauki Polskiej V (19181951), Wroclaw u. a. 1992, S. 36-315, S. 50. 443 George W. Stocking, The Ehtnographer’s Magic and Other Essays in the History of Anthropology, Madison 1992, S. 259. 444 Siehe zu Wolfke Reimund Torge, Otto Lummer, Fritz Reiche, Mieczysław Wolfke und »Die Lehre von der Bildentstehung im Mikroskop von Ernst Abbe«. Biographische Skizzen, in: Jenaer Jahrbuch zur Technik- und Industriegeschichte, 2 (2000), S. 24-48, sowie Karol Wolfke, Wspomnienia o ojcu, Mieczysławie Wolfke, in: Postępy Fizyki, 31/6 (1980), S. 551-557. 445 Witold Łaniecki, Mieczysław Wolfke 1883-1947, in: Kwartalnik Historii Nauki i Techniki 3 (1976), S. 345-553, S. 548-549; auch Torge, Lummer, Reiche, Mieczysław Wolfke, bes. S. 30-37. 228

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Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ließen sich von den materiellen oder infrastrukturellen Unzulänglichkeiten gleichwohl nicht abschrecken.446 Dieser Elite kam nun die Vermittlungsfunktion zu, organisatorische und technologische Muster aus der Diaspora nach Polen zu transferieren und weiter zu entwickeln.447 Jenen Gelehrten aus den Natur- und Technikwissenschaften, die sich als Teil der polnischen Inteligencja verstanden, übertrug der Staat eine neue Rolle, die sie vorher niemals hatte spielen können: Sie sollten die Nation nicht mehr nur mit denken, sondern praktisch anführen.448 Neben Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski gehörten zu den bekannteren unter ihnen der Hydrotechniker Gabriel Narutowicz aus Zürich,449 der im Jahr 1922 zum Staatspräsidenten Polens gewählt wurde, aber kurz darauf einem nationalistisch motivierten Mordanschlag zum Opfer fiel, weil er als von den nationalen Minderheiten gewählt galt; der Chemiker Wojciech Świętosławski aus Moskau, der Rektor der Technischen Hochschule Warschau war, als Jan Czochralski dort eingestellt wurde, und 1935 Bildungsminister der Republik wurde; der Physiker Stefan Pieńkowski aus Lüttich; der Anthropologe Edward Loth aus Zürich; der Arzt Ludwik Rajchman aus Paris und London, später Direktor der Gesundheitsorganisation des Völkerbundes, nachdem er gleich nach dem Ersten Weltkrieg in Polen die spätere Arbeitsstätte von Ludwik Hirszfeld, das Staatliche Hygiene-Institut (Państwowy Zakład Higieny, PZH) gegründet hatte; Kazimierz Funk aus den USA , der den Begriff des »Vitamins« etabliert hatte, sowie der Chemiker und seit 1926 langjährige polnische Staatspräsident Ignacy Mościcki.450 Er hatte unter anderem in Riga Chemie studiert und später in England und der Schweiz geforscht, bevor er 1912 an die Technische Hochschule Lemberg im österreichischen Teilungsgebiet wechselte – seither machte er sich neben der Wissenschaft vor allem um die Entwicklung der chemischen und elektrochemischen Industrie verdient. Die Liste derjenigen Gelehrten, die nicht ausschließ446 Sdvižkov, Zeitalter der Intelligenz, S. 135. 447 Janusz Żarnowski, State, Society and Intelligentsia. Modern Poland and its regional context, Hampshire 2003, XIII: The Old and the New Roles of the Intelligentsia in Poland, S. 139, S. 183. 448 Sdvižkov, Zeitalter der Intelligenz, S. 135-136. 449 Siehe dazu Marek Andrzejewski, Gabriel Narutowicz i jego rezygnacja z profesury w zurychskiej politechnice w 1919r., in: Dzieje Najnowsze 3 (2005), S. 137-144. 450 Emilia Borecka, Próba oceny rozwoju nauki w ośrodku warszawskim (1918-1939), in: Dies., Marian Drozdowski (Hg.), Warszawa II Rzeczypospolita, tom I, Warszawa 1968, S. 433-459; Bohdan Jaczewski, Organizacja i finansowanie nauki polskiej w okresie międzywojennym, Wrocław u. a. 1971, auch Ders., Organizacje i instytucje, S. 42. 229

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lich in polnischen Strukturen ausgebildet worden waren und nach 1918 wichtige Rollen in der Wissenschaft, der Wirtschaft oder Politik übernahmen, ließe sich mehren – hier soll nur noch der spätere Finanzminister Eugeniusz Kwiatkowski erwähnt werden, der in Lemberg und in München zum Chemiker ausgebildet worden war und seit 1918 an der Technischen Hochschule Warschau lehrte. Nach 1926 wechselte er mit dem Staatspräsidenten Ignacy Mościcki, den er in der Polnischen Chemischen Gesellschaft in Warschau kennengelernt hatte, in die Regierung und wurde Industrie- und Handelsminister. In den 1930er Jahren spielte er dann eine zentrale Rolle bei der Begründung des technokratischen Großprojekts »Zentraler Industriebezirk« (COP), das Polen vor allem eine funktionierende Rüstungsindustrie sichern sollte. Die Motive solcher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zum Teil gut dotierte Positionen außerhalb des neu gebildeten Nationalstaats aufzugeben und sich in eine Umgebung zu begeben, die mit den gewachsenen Strukturen in finanziell gut ausgestatteten Laboren in Westeuropa, den USA oder anderswo zunächst schlecht vergleichbar war, waren vielschichtig. Neben der Suche nach einem neuen Arbeitsfeld, wie es Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski unter anderem antrieb, einem nationalen »commitment« oder, wie der erwähnte Anthropologe Jan Czekanowski meinte, einem Gefühl von »staatsbürgerlicher Pflicht«, mögen einige auch damit gerechnet haben, auf der Karriereleiter in neu errichteten Institutionen und Universitäten von Warschau, Lublin, Wilna und Posen schnell emporklettern zu können. Die Neugründung eröffnete gerade jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Chancen, die sie in den etablierten Strukturen, aus denen sie kamen, nicht vorgefunden hätten: Und tatsächlich dominierten in Warschau, Wilna und Posen die Dreißigjährigen in den neuen gemeinsamen Forschungsräumen.451 Ganz überwiegend handelte es sich bei dieser Elite um Männer – was die prinzipielle Frage aufwirft, ob transnationale Elitenmigration zu jener Zeit grundsätzlich ein vorwiegend männliches Phänomen war. Wahrscheinlicher ist, dass sie vor allem als ein solches wahrgenommen und überliefert worden ist.452 Darüber hinaus eröffne451 Tomasz Schramm, Tworzenie uniwersytetów. Kadry profesorskie uniwersytetów w Warszawie, Poznaniu i Wilnie u progu Drugiej Rzeczypospolitej, in: Włodzimierz Mędrzecki (Hg.), Społeczeństwo. Państwo. Modernizacja. Studia ofiarowane Januszowi Żarnowskiemu w siedemdziesiątą rocznicę urodziń, Warszawa 2002, S. 121-141, S. 140. 452 Die Biographien von Frauen, die außerhalb Polens und nach 1918 im neuen Nationalstaat in der Wissenschaft tätig waren, sind generell nur wenig aufgearbeitet worden, siehe Iwona Dadej, Beruf und Berufung transnational. Deutsche und polnische Akademikerinnen in der Zwischenkriegszeit, Osnabrück 2019. Einen 230

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ten der Neuaufbau des Staates und die infrastrukturelle Neuaufstellung der Wissenschaft die Chance, bestimmte Forschungsrichtungen, Agenden und Themen zu initiieren und zu etablieren, die die ganz spezielle Handschrift des Gründers (und selten der Gründerin) tragen und möglicherweise schulbildend werden konnten.453 Unabhängig davon, welche Motive für den Einzelnen für einen Umzug nach Polen ausschlaggebend waren, scheinen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Ziel geteilt zu haben: wissenschaftlichen Fortschritt in ihren jeweiligen Feldern in Polen zu forcieren und damit Teil der europäischen Verankerung Polens zu bleiben oder zu werden. Die Soziologen Maria und Stanisław Ossowski fassten dies im Jahr 1935 so zusammen: Wissenschaft spiele »eine außerordentlich bedeutsame Rolle in einer für uns besonders wichtigen Kultur: der modernen europäischen Kultur.«454 Damit war unter anderem die extreme Zunahme der Bedeutung von Wissen und der Verwissenschaftlichung von immer breiteren Gebieten in Europa gemeint, von der die Wirtschaft, das Soziale, die Politik, das Gesundheitswesen, das Militär und viele andere Felder charakterisiert waren. Das Ziel, zu einer Ausweitung der Bedeutung von Wissen in Polen aktiv beizutragen, dürften viele dieser Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geteilt haben. Der Anteil der Lehrenden an den Hochschulen im neu gebildeten polnischen Staat, die außerhalb der Teilungsgrenzen studiert hatten, war mit einem Drittel beträchtlich, wobei der Anteil in den technischen Wissenschaften sogar bei 50 Prozent lag.455 Russland spielte in dieser Statistik eine führende Rolle, wenngleich die Verteilung dem imperialen Erbe folgend regional unterschiedlich ausfiel: An der Universität von Wilna zum Beispiel waren 56 Prozent des Lehrkörpers an russischen Hochschulen ausgebildet worden, und auch die Professorenschaft des Polytechnikums in Warschau rekrutierte sich zu 55,3 Prozent aus dem russischen Sprachraum. In Posen hingegen lag dieser Prozentsatz bei nur 20 Prozent. Insgesamt kamen 13,5 Prozent aller polnischen Lehrenden aus russischen Schwerpunkt in der Genderforschung setzt aber der Sammelband Deacon, Russell, Woollacott, Transnational Lives; demnächst wird eine Dissertation von Sophie Schwarzmaier zu der Psychologin und Pädagogin Józefa Joteyko erscheinen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen Belgien, Frankreich und Polen bewegte. 453 Borodziej, Deutschland und das östliche Europa, S. 135. 454 Maria Ossowska, Stanisław Ossowski, Nauka o nauce, in: Nauka Polska 10 (1935), S. 1-12, S. 9. 455 Dorota Mycielska, Drogi życiowe profesorów przed objęciem katedr akademickich w niepodległej Polsce, in: Ryszard Czepulis-Rastenis (Hg.), Inteligencja Polska XIX i XX wieku, Tom 2, Warszawa 1981, S. 243-290, S. 263. 231

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Hochschulen, unter den Technikern waren es 23,3 Prozent.456 Der größte Anteil der polnischen Hochschullehrerinnen und -lehrer im neuen Staat rekrutierte sich aus den galizischen Universitäten Krakau und Lemberg – nach Posen etwa kamen von 145 Lehrenden in den Jahren 1922/23 allein 57 von der Jagiellonen-Universität in Krakau; viele der übrigen hatten zuvor in Lemberg gelehrt.457 Die Bewegung der mobilen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machte Polen zu einem Wissensraum, der von zahlreichen und facettenreichen Prozessen von Wissenszirkulation aus den ehemaligen Teilungsgebieten und weiteren Ländern geprägt war, Prozesse, die komplexe Selektionsund Adaptionsmechanismen von Wissen und Praktiken umfassten.458 Die neuen Eliten hatten eine Vielzahl von Erfahrungen in drei staatlichen Traditionen oder außerhalb der Strukturen der imperialen Vorgängerstaaten gewonnen, Erfahrungen, die jetzt in die Strukturen des neuen Staates integriert werden sollten.459 Treffend wurde der Konnex von Migration, Transfer und Zirkulation von Wissen von dem Lemberger Physik-Professor Stanisław Loria ausgedrückt, der bei der Eröffnung des 8. Kongresses der polnischen Physiker im Jahr 1936 in seiner Ansprache anmerkte: »Sie kamen nach Polen aus allen möglichen Ecken der Welt und trugen verschiedene Traditionen, verschiedene Methoden und verschiedene Denkstile in die gemeinsamen Räume der Forschungsarbeit.«460 Transferiertes Wissen und bestehendes Wissen konnten dabei durch Zirkulation in eine Wechselbeziehung treten, wodurch sich sowohl neue Erkenntnis ergeben als auch bestehendes Wissen stabilisiert werden konnte.461 Diese Konstellation brachte es mit sich, dass die neue Republik ein bedeutendes personelles und kognitives Erbe der Imperien, weiterer Länder und deren Wissenschaftskulturen in sich vereinte und mobilisieren konnte.462

456 Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 43. 457 Siehe Włodzimierz Mędrzecki, Szymon Rudnicki, Janusz Żarnowki, Społeczeństwo polskie w XX wieku, Warszawa 2003, S. 80. 458 Ash, Wissens- und Wissenschaftstransfer, S. 181-189. 459 Dies gilt für Expertinnen und Experten aus vielen Feldern – Morgane Labbé hat dies zum Beispiel für das Feld der Demographie festgehalten, siehe Dies., »Reproduction« as a New Demographic Issue in Interwar Poland, in: Heinrich Hartmann, Corinna R. Unger (Hg.), A World of Populations: Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century, New York 2014, S. 36-57, S. 37. 460 Zitiert nach Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 43. 461 Fangerau, Spinning the scientific web, S. 11-13. 462 Siehe zum Beispiel Jens Boysen, Gezeiten nationaler Identität: Josef von Unruh / Józef Unrug (1884-1973) als Offizier der deutschen und polnischen Marine (1907-1919 bzw. 1919-1947), in: Steffen, Nach dem Zerfall, S. 103-121, S. 114. 232

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Diese Tatsache wurde zeitgenössisch unterschiedlich beurteilt. Ludwik Hirszfeld war der Ansicht, dass Forschern wie ihm, »die ihr Wissen im Ausland erworben hatten und nun hätten entscheiden können, was in organisatorischer wie wissenschaftlicher Hinsicht als Erstes zu tun sei«, zu wenig Aufmerksamkeit seitens des Staates geschenkt worden sei.463 Andere schrieben den wissenschaftlichen Zuwandererinnen und Zuwanderern spezifische Eigenschaften zu. Der bereits erwähnte Henryk Mierzejewski von der Technischen Hochschule Warschau etwa charakterisierte den Einfluss derjenigen, die aus »wichtigen Zentren der Wissenschaft, vor allem aus dem Westen« gekommen seien, um hier eine »schwere, oft undankbare und pionierhafte Arbeit auf dem Feld empirischer Forschung« aufzunehmen, wie folgt: Er bestehe aus einer »Spezialisierung in der Tat, nicht in Haltungen; einem Kult für einen schöpferischen Egoismus; der Kritikfähigkeit gegenüber sich selbst und anderen; einer engen Kontrolle des Arbeitstempos im Zusammenhang mit der Furcht vor ausländischem Wettbewerb; hohen Ansprüchen gegenüber den Mitarbeitern und sich selbst.«464 Eine derartige Idealisierung der transnationalen Wissensakteurinnen und -akteure und deren Erfahrungen, wozu Mierzejewski unter anderem den Taylorismus und eine Rationalisierung aller Arbeitsvorgänge zählte, war aber keine allgemein geteilte Überzeugung. Mit der Absicht, die geistig-kreative Eigenständigkeit Polens zu untermauern und die Unabhängigkeit, die Neuartigkeit und die Innovationskraft des Nationalstaats zu unterstreichen, wurden die Trägerinnen und Träger von transnational generiertem Wissen ebenso negativ beurteilt. Das Zusammentreffen derjenigen Eliten, die während der Teilungszeit nicht in den polnischen Territorien verblieben waren, mit denjenigen, die in ihrer eigenen Sicht dort »ausgeharrt« hatten, konnte aus diesem Grund von Konflikten geprägt sein, weil die erwähnte Konstellation, dass das Verlassen der heimischen Lande bereits im 19. Jahrhundert als Vaterlandsverrat angeprangert worden war, nicht an Wirkungsmächtigkeit verloren hatte. Ein Teil der verbliebenen Eliten betrachtete die Neuankömmlinge reserviert, besonders, wenn sie in den ehemaligen Teilungsmächten Preußen oder dem Russländischen Reich ausgebildet und sozialisiert worden waren, deren Nachfolgestaaten weiter als feindlich wahrgenommen wurden. In dieser Konstellation, in der von manchen Akteurinnen und Akteuren das Nationale stark akzentuiert wurde, entstanden zuweilen irratio463 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 74. 464 Henryk Mierzejewski, Badania naukowe a przemysł, in: Przegląd Techniczny 39 (1923), S. 386-389, S. 389. 233

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nal anmutende theoretische Überlegungen zu »polnischen« Anteilen in der Wissenschaft, die bestimmte, vorstrukturierte Bilder der Nation zu bestätigen schienen. Der Biologie und Zoologe Romuald Minkiewicz, der seine wissenschaftliche Sozialisation in Frankreich und in Russland erfahren hatte, setzte sich etwa intensiv für eine sogenannte »polnische Wissenschaft« ein, weil er die Naturwissenschaft für eine Bedingung sine qua non für die Existenz einer Nation hielt – weil eine Nation überhaupt nur dann existieren könne, wenn sie etwas zum weltweiten Fortschritt beizutragen habe. Dies aber könne nur durch originär polnische Forschung erreicht werden, nicht hingegen durch die Übernahme fremder Ideen und Muster, so Minkiewicz, darin nicht unähnlich den erwähnten Gedankengängen im 19. Jahrhundert.465 Sein Kollege Józef Mozorewicz, ein Geologe, hielt gar einen »Kult der Naturwissenschaften« in der Gesellschaft für unentbehrlich, und zwar für die »intellektuelle Entwicklung der Bevölkerung«.466 Der Historiker Franciszek Bujak wiederum kritisierte im Jahr 1920, dass »die« Polen kein lebendiges, direktes Verhältnis zur Wissenschaft hätten. Dies drücke sich vor allem darin aus, dass »wir die wissenschaftlichen Erträge des Auslands besser kennen und mehr schätzen als die eigenen nationalen«. Man könne aber nicht ausschließlich von der Wissenschaft anderer Nationen profitieren, so sein Fazit.467 Und der Mathematiker Antoni Łomnicki plädierte in einem solchen Zusammenhang dafür, die angewandte Mathematik in Polen stärker zu popularisieren, denn so könne man den nationalen Charakter der Polen in eine Richtung lenken, in der ihre Neigung zur Träumerei, zum Mystizismus und zum Phantasieren durch Tatkräftigkeit und konkretes Handeln ersetzt werde, wie es den Engländern und den Skandinaviern zu eigen sei, bei denen eine stark ausgeprägte angewandte Mathematik zu finden sei. Nur wenn dies in Polen auch erreicht werde, könne die polnische Kultur eines Tages mit westlichen Nationen gleichziehen.468 Solche Diskussionen sind zum Teil auf den europaweit grassierenden Nationalismus zurückzuführen, der nach dem Ersten Weltkrieg für die Wissenschaften eine Art »national turn« beinhaltete: Im Zuge dessen wurden die Wissenschaften fast überall noch prominenter in staatlichen Institutionen, als sie es bereits zuvor waren, zuweilen auf Kosten wissen465 Romuald Minkiewicz, O Polską twórczość naukową, Warszawa 1922. 466 Józef Morozewicz, Stosunek nauki do życia gospodarczego, in: Nauka Polska 3 (1920), S. 181-187. 467 Franciszek Bujak, Nauka a społeczeństwo, Warszawa 1922. 468 Antoni Łomnicki, O potrzebach matematyki stosowanej, in: Nauka Polska 14 (1931), S. 98-109, S. 109. 234

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schaftlichen Wissens, das jedenfalls potentiell politische Differenzen transzendieren konnte, selbst wenn nicht davon auszugehen ist, dass Wissenschaft jemals unpolitisch war oder sein konnte, war doch Politisches wissenschaftlichem Handeln inhärent.469 Argumente, es gebe Wissenschaften, die ganz und gar dem Charakter einer Nation oder einer Gesellschaft entsprechen würden, sowie die Auffassung, Internationalität in der Wissenschaft würde die Einheit der Nation erschüttern, woran keinem Wissenschaftler und keiner Wissenschaftlerin gelegen sein könne,470 lassen sich zu dieser Zeit auch andernorts finden.471 In Polen ordneten sie sich in den nachlebenden romantischen Diskurs und die Debatten der Teilungszeit über die gescheiterten Aufstände gegen die Besatzung des Landes als Ausdruck der Ablehnung der realpolitischen Situation ein sowie in den romantischen Diskurs, in dem Mystizismus, Revolution und Nation eng miteinander verwoben sein konnten.472 Die Naturwissenschaften sollten dem einen Entwurf des »Konkreten« entgegensetzen. Ebenso spiegeln sich hier Debatten um die sogenannte »organische Arbeit« wider, die der romantischen Aufstandspolitik mit dem Ziel, die Gesellschaft zu modernisieren, entgegengestellt worden war.473 Darin zählte das Ideal der konkreten Tat, deren Erfolge messbar sein sollten – etwa die Gründung von wissenschaftlichen Gesellschaften oder eine autodidaktische Ausbildung –, mehr als Konspiration oder Aufstand. In den Überlegungen zu nationalen Charakteristika in der Wissenschaft nach 1918 lassen sich darüber hinaus Elemente der komplexen Situation postkolonialer Länder finden. Hier stellt sich die Frage, ob eine 469 Robert Fox, The dream that never dies: the ideals and realities of cosmopolitanism in science, 1870-1940, in: Studia Historiae Scientiarum 16 (2017), S. 29-47, S. 38; Roelcke, Plädoyer, S. 189. 470 M. Siedlecki, Nauka polska na terenie międzynarodowym, in: Nauka Polska 4 (1921), S. 188-197, S. 188; Andrzej Gawronski, Nauka narodowa czy międzynarodowa?, in: Nauka Polska 4 (1921), S. 36-44, S. 44. 471 Zu erinnern sei, trotz anderer Ausgangssituationen, an die »deutsche Physik« oder die »französische Chemie«, siehe Andreas Kleinert, Von der Science allemande zur Deutschen Physik: Nationalismus und moderne Naturwissenschaft in Frankreich und Deutschland zwischen 1914 und 1940, in: Francia 6 (1978), S. 509-525; Kai Torsten Kanz, Nationalismus und internationale Zusammenarbeit in den Naturwissenschaften. Die deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen zwischen Revolution und Restauration 1789-1832, Stuttgart 1997, S. 203-206. 472 Siehe Andreas Lawaty, Zur romantischen Konzeption des Politischen: Polen und Deutsche unter fremder Herrschaft, in: Alfred Gall u. a. (Hg.), Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive, Wiesbaden 2007, S. 21-59. 473 Zur Einordnung der »organischen Arbeit« siehe Janowski, Polen im 19. Jahrhundert, S. 141-147. 235

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Charakterisierung als »postkolonial« auch ohne die Existenz einer klassischen kolonialen Situation analytisch sinnvoll sein kann, um die Folgen der Machtgefälle zu analysieren, die vor 1918 das Leben in den Teilungsgebieten bestimmt haben. Noch komplexer wird die Frage, bedenkt man, dass Polen in seinen Ausgriffen nach Osten selbst als kolonisierendes Land aufgetreten ist, bevor es zum Objekt der imperialen Politik der Teilungsmächte wurde.474 In den hier vorgestellten Diskursen über technokratische Modernisierung und Wissenschaftsentwicklung lassen sich aber zahlreiche Argumentationslinien finden, die zwischen Aneignung und Abwehr des Nicht-Eigenen, zwischen weiterbestehenden Abhängigkeitsverhältnissen (wie es auch Czekanowski akzentuierte), Interaktionen und Distinktionsbemühungen oszillieren. Diese Argumente verweisen auf postkoloniale Diskurse und Praktiken nach 1918.475 Um dies an konkreten Beispielen zu illustrieren: Gelehrte oder Industrielle trauten polnischen Patenten und Erfindungen oftmals nicht. Sie griffen auf ausländische Erfindungen zurück, besonders aus Deutschland und den USA , obwohl es polnische Äquivalente gab – sie vertrauten auf Bewährtes und scheuten das Risiko.476 Sie befanden sich in einem Dilemma: In der Praxis wissenschaftlichen und industriellen Handelns kam ein Pragmatismus zum Zuge, der ökonomischer Logik folgte, sich aber oftmals konträr zu Forderungen nach Autarkie und Wirtschaftsnationalismus befand, die von vielen Repräsentanten des Staates erhoben wurden. Kompensatorische Klagen über zu viel Einfluss von »außen« (was aufgrund der erwähnten Verflechtung von Imperium und Nation ein diskursiv konstruiertes »Außen« war) waren weit verbreitet. Der Ingenieur, Konstrukteur und Architekt Stefan Bryła von der Technischen Hochschule Warschau etwa beobachtete eine generelle »Germanisierung der polnischen Technik«: Von den Wissenschaften, die auf Polen einen Einfluss ausgeübt hätten, die österreichische, die russische und die deutsche, empfand er letztere auch im Jahr 1937 noch als geradezu »erdrückend«, nicht zuletzt wegen der weiterhin verbreiteten Verwendung deutscher Lehrbücher. Die deut474 Siehe Alfred Sproede, Mirja Lecke, Der Weg der postcolonial studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen, Russland, in: Hüchtker, Kliems, Überbringen, S. 2766, bes. 33-45. 475 Siehe dazu Stefan Rohdewald, Mimicry in a Multiple Postcolonial Setting: Networks of Technocracy and Scientific Management in Piłsudski’s Poland, in: Kohlrausch, Steffen, Wiederkehr, Expert Cultures, S. 63-84; auch Andreas Ackermann, Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch, Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, Stuttgart 2004, S. 139-154. 476 Siehe Jozef Piłatowicz, Wynalazczość w Polsce międzywojennej, in: Dzieje Najnowsze 12/1-2 (1990), S. 3-20, S. 17. 236

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sche Technik habe das polnische Ingenieurwesen und die polnische Technik geformt, und zwar nicht nur direkt, sondern auch indirekt über den Umweg über Russland. Wenn Bryła kritisierte, dass Polen während der Teilungszeit »für andere gearbeitet haben«, die »unsere Errungenschaften aufgesaugt haben, es war zu ihrem Vorteil und zu ihrem Ruhm«, folgte er fast vierzig Jahre später der erwähnten Argumentation von Eliza Orzeszkowa, die diese »Emigration des Talents« während des 19. Jahrhunderts abgelehnt hatte. Was Bryła aber noch verwerflicher fand, war die Überzeugung vieler Polen von der Größe »Fremder« auf dem Feld der Technik: »Die Polen haben hier einen seltsamen und für mich unbegreiflichen inferiority complex,477 ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit, oft vollständig unbegründet, was nicht selten mit einem völligen Fehlen von Kritik gegenüber dem Fremden einhergeht, was umso verwunderlicher ist, weil sie auf der anderen Seite eine gewisse Neigung zur Megalomanie aufweisen. »Auch Bryła verwehrte sich gegen »blinde Nachahmung« – ein Ingenieur müsse etwas Neues erschaffen, neue Formen, neue Werke und neue Werte. Die polnische Technik müsse daher so geführt werden, dass sie Polen und polnischen Bedürfnissen diene: »Auf dass sie aus sich heraus strahle, aus der Anstrengung unserer Gedanken, auf dass sie nicht wie der Mond von einem geliehenen Glanz lebe.«478 Wie Bryła waren viele Wissensakteurinnen und -akteure in Polen der Meinung, Wissenschaft und Technik sollten sich nicht durch blindes Kopieren von Mustern aus anderen Weltregionen entwickeln, sondern durch die Förderung des Eigenen, der eigenen Wissenschaft, Wirtschaft und eigener Institutionen. Der erwähnte Chemiker Wojciech Świętosławski zum Beispiel forderte, Polen solle nicht den Weg der großen Industrielabore oder der von der Industrie finanzierten Institute wie in Westeuropa oder den USA gehen – weil Polen diese Institute nicht besitze, sollte man die Arbeit besser an den Technischen Hochschulen und in den Ingenieursverbänden konzentrieren und dann mit der Industrie kooperieren.479 Genau dies geschah dann auch an den Technischen Hochschulen. Im Zuge solcher Debatten wurden aber die erwähnten Auslandsaufenthalte von polnischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die nicht nur der Fortbildung dienten, sondern der globalen Zirkulation von Wissen und damit zu erneutem Wissenstransfer nach Polen und aus Polen heraus führten, mitunter als eine schädliche Abhän477 So im Original. 478 Stefan Bryła, Germanizowanie techniki polskiej, in: Przegląd Techniczny 20 (1937), S. 660-662. 479 Wojciech Swiętosławski, Praca twórca na polu techniki, in: Przegląd Techniczny 4-5 (1929), S. 38-39. 237

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gigkeit vom Ausland interpretiert.480 Solche Überlegungen, die ebenfalls in die postkoloniale Perspektive eingeordnet werden können, beinhalten eine gehörige Portion Selbst-Provinzialisierung, die eine engführende Konzentration auf das Eigene statt der ohnehin vorhandenen transnationalen Ausrichtung favorisierte. Unabhängig aber von der zeitgenössischen Verurteilung oder Verherrlichung waren der Wissenstransfer durch Eliten, das Nachleben von Wissensbeständen aus den Imperien und die globale Zirkulation von Wissen ein wichtiger, wenn nicht konstituierender Faktor für die Wissenschaft in Polen nach 1918. Diese Prozesse setzten sich in einem intensiven und kontinuierlichen Austausch zwischen lokalen und internationalen Akteuren während der Zwischenkriegszeit fort, zuvor geknüpfte Netzwerke wurden aufrechterhalten, intensiviert und erweitert. Dazu trug etwa die Rockefeller-Stiftung tatkräftig bei, deren politische Agenda es beinhaltete, soziale Stabilität im östlichen Europa zu fördern. Für die Stiftung war dies gleichbedeutend damit, die Länder Ostmitteleuropas der Einflusssphäre des deutschen Nationalismus und des sowjetischen Kommunismus zu entziehen.481 Diese Konstellation führte dazu, dass viele Wissensakteurinnen und -akteure, darunter auch Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski, nach 1918 eine herausragende Fähigkeit aufwiesen, sich in einem mehrsprachigen und polykulturellen Umfeld zu bewegen und zu kommunizieren. Die Formierung der Wissenschaften und die Entstehung von Institutionen fanden in einem transnationalen Wissensraum statt, den es in dieser spezifischen Ausformung in vielen westlichen Ländern Europas in vergleichbarer Form nicht gegeben hat. Dort fand die Formierung von Wissenschaft zwar ebenfalls in transnationalem Austausch statt, aber unter anderen Rahmenbedingungen: über längere Zeiträume, in nationalen Institutionen und nicht so komprimiert wie in Polen nach 1918. Der dortige transnationale Raum sollte, so forcierten es viele Vertreter der Wissenschaft und des Staates, im Verlauf der Zwischenkriegszeit nationalisiert und an die spezifischen Bedürfnisse von Staat und Nation angepasst werden. Wie sich Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld mit dieser Situation arrangierten, wird im Folgenden Thema sein. Zuvor 480 Henryk Mierzejewski, Przedmowa, in: Polskie Placówki Badawcze. Nauki Fizyczne. Technika, Warszawa 1925, S. V-VIII, VII. 481 Paul Weindling, Public Health and Political Stabilisation: The Rockefeller Foundation in Central and Eastern Europe between the Two World Wars, in: Minerva 31/3 (1993), S. 253-267, S. 257; John Farley, To Cast out Disease. A History of the International Health Division of the Rockefeller Foundation (193-1951), Oxford 2004, S. 242. 238

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muss noch ein kurzer Blick darauf geworfen werden, wie sich das Verhältnis von Wissenschaft und Staat in der neuen Ordnung gestaltete. 4.2.2 Staatsaufbau und Wissenschaft am Beispiel der neuen Hauptstadt Warschau

Das Verhältnis vieler polnischer Wissenschaftler zum Staat als einem aktiven, planenden und regulierenden Akteur in der Wissenschaft lässt sich als ein ambivalentes und eher distanziertes charakterisieren. Dies bezieht sich auf seine Rolle als regulierende Institution, nicht auf die Nation oder den Staat als wiedergegründete Nation. Misstrauen in der Wissenschaft gab es vor allem gegenüber einem aktiv intervenierenden Staat, was zum einen einer wissenschaftsimmanenten Ratio und der Forderung nach Autonomie in der Wissenschaft folgte. Zum anderen spielten historische Entwicklungen eine Rolle, war doch Distanz zum Staat eine Haltung, deren Wurzeln bereits in der Frühen Neuzeit in einem dezentral regierten Staatswesen ohne absoluten Monarchen entstanden war und sich während der Teilungszeit vertieft hatte. Daraus resultierte eine tiefsitzende Skepsis der polnischen Gesellschaft gegenüber dem Staat als einem Gegenspieler zur Nation. Der Krakauer Historiker Władysław Konopczyński fasste diese Haltung 1927 auf einem Allgemeinen Wissenschaftlichen Kongress in Warschau zusammen: »Die Wissenschaft braucht vom Staat nur Freiheit und finanzielle Mittel, Führung hingegen braucht sie von ihm nicht.«482 Und bereits 1920 hatte der bekannte Staatsrechtler Stanisław Kutrzeba erklärt: »Der Staat, indem er die Wissenschaft unterstützt, belässt ihr vollständige innere Autonomie und hält sich davon zurück, eine bestimmte Richtung vorzugeben oder Urteile abzugeben.«483 Dieser Überzeugung entsprechend erhielten die Universitäten anfänglich eine weite Autonomie und Mittel von der Regierung, über die sie relativ frei verfügen konnten – so jedenfalls beobachtete es der leitende Vertreter der Rockefeller-Stiftung in Europa und ihr späterer Vizepräsident, Selskar M. Gunn.484 Die Mittel für die Wissenschaft im Staatshaushalt stiegen von 0,20 Prozent im Jahre 1924 auf 0,29 Prozent im Jahr 1927.485 Im Verlauf der Zeit bis 1939 beschnitt der Staat die Autonomie der Hochschulen im Zuge einer zunehmend auto482 Nauka Polska 8 (1927), S. 52. 483 Zit. nach Piotr Hübner, I Kongres Nauki Polskiej jako forma realizacji założeń polityki naukowej Państwa Ludowego, Wrocław u. a. 1983, S. 23. 484 RA RG 1.1., Series 789, Box 1 Folder 2, Selskar Gunn an Wicleff Rose, Juni 1922. 485 Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 49-50. 239

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ritären Regierungsführung wieder, besonders mit dem »Gesetz über die Hochschulen« von 1933, das die Befugnisse und Aufsicht der Regierung stärkte, die fortan über die Ernennung der Rektoren bestimmte – dies äußerte sich etwa in zahlreichen Entlassungen derjenigen, die dem Putsch von 1926 kritisch gegenüberstanden und gegen das Gesetz vehement protestierten, weil sie staatliche Einmischung ablehnten.486 Passend zu dieser Haltung wurde während der Zweiten Republik der Mythos vom großen und ehrenhaften Gelehrten, der sich von den Freuden des Alltagslebens und der aktuellen Politik fernhalte, popularisiert.487 In Abgrenzung zu anderen europäischen Ländern glaubten einige Wissenschaftler daran, in Polen sei dieser Gelehrtentypus besonders verbreitet. So hielt der bereits erwähnte Soziologe Ossowski im Jahr 1937 fest, eine utilitaristisch betriebene Wissenschaft sei in Europa verbreitet, nicht nur in der Sowjetunion, wo sich alles dem Auf bau der neuen Ordnung unterordnen müsse, oder in faschistischen Ländern, in denen sich die Wissenschaften in den Dienst eines nationalen Imperialismus stellen würden, sondern auch in England, wo überall von der gesellschaftlichen Funktion von Wissenschaft gesprochen werde. Im Gegensatz dazu, so Ossowski, gehöre Polen zu den Ländern, in denen eine »aristokratische Isolation der Wissenschaft und der Gelehrten« im Wissenschaftsmilieu sehr populär sei.488 Auch Staatsgründer Piłsudski hatte sich im Jahr 1921 klar für einen Primat »reiner Wissenschaft« ausgesprochen. Zwar unterstützte er ihre Praxisorientierung, hatte in einer Rede im Jahr 1921 aber festgehalten: »Die Universitäten und Hochschulen haben überall doppelte, fast gegensätzliche Aufgaben: Eine von ihnen ist strikt utilitaristisch – die Hochschulen müssen der Nation und dem Staat eine ausreichende Anzahl von Fachleuten und Experten zuführen […] Die zweite Aufgabe ist eine andere: Die Universitäten und Hochschulen müssen danach streben, antiutilitaristisch zu sein, sie müssen eine Stätte der reinen Wissenschaft sein, nach absoluter Wahrheit streben, die nichts mit Überlegungen von Nützlichkeit zu tun hat. […] Wenn diese zweite Aufgabe nicht erfüllt wird, ist keine Hochschule in der Lage, die erste Aufgabe würdevoll 486 Jiři Vykoukal, Die polnischen Universitäten 1945-1948: Autonomie, Wiederaufbau und Politik, in: Jiří Pešek, Tomás Nigrin (Hg.), Inseln der bürgerlichen Autonomie? Traditionelle Selbstverwaltungsmilieus in den Umbruchsjahren 1944/45 und 1989/90, Frankfurt a. M. 2009, S. 121-147, S. 123; auch Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 193. 487 Hübner, Kongress, S. 29-30. 488 Stanisław Ossowski, Nauki humanistyczne a ideologia społeczna, in: Nauka Polska 22 (1937), S. 1-24, S. 9. 240

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auszugestalten.«489 Eine solche klare Trennung von »reiner« und »angewandter« Wissenschaft, wie sie Piłsudski hier idealtypisch vorschwebte, war allerdings aus mehreren Gründen eine Fiktion. Denn weder ist Wissenschaft mit einem absoluten Wahrheitsanspruch vereinbar, wie es Piłsudski hier vorschwebte, noch lassen sich reine und angewandte Wissenschaft so klar unterscheiden, weil sich Wissenschaft nicht von der Gesellschaft trennen lässt, in der sie betrieben wird. Andere Repräsentanten des Staates wie der Chemiker und Staatspräsident Mościcki verwiesen daher auf die primäre Notwendigkeit anwendungsorientierter Forschung mit dem Ziel, die Produktion zu steigern sowie die polnischen Grenzen zu verteidigen, weil Polen zu arm sei, um rein theoretische Wissenschaft betreiben zu können. Mit dieser Ansicht stand er nicht allein.490 In der Praxis bedeuteten die Distanz zu einer aktiven und regulierenden Rolle des Staates in der Wissenschaft oder das utopische Ideal einer »aristokratischen Isolation« ohnehin nicht, dass Wissenschaftler wie Czochralski und Hirszfeld nicht am nationalen Staatsauf bau mitwirken wollten, im Gegenteil.491 Ein Teil der Gelehrten nahm darüber hinaus aktiv am politischen Leben in hohen staatlichen Positionen teil. Die beiden polnischen Staatspräsidenten der Zwischenkriegszeit sowie einige Minister und hohe Regierungsbeamte kamen aus der Welt der Wissenschaft, in der sie selbst aktiv in der Forschung tätig waren. Das Verhältnis von Wissenschaftlern und Staat war also komplex – auf der einen Seite Distanz gegenüber Einmischung, auf der anderen Seite bereitwillige Unterstützung nationalstaatlicher Ziele. Es lässt sich daher nicht in einfache Dichotomien – hier der universal-international orientierte und unabhängige Wissenschaftler, der sich von angewandter Forschung möglichst fernhält, dort der autoritäre Staat, der nationalen Kategorien folgt, fordert und instrumentalisiert – auflösen.492 Es war vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Polen daran gelegen, erstens von staatlicher Unterstützung zu profitieren und zweitens ihr Wissen loyal dafür einzusetzen, die polnische Nation und Gesellschaft durch ihre Erkenntnisse zu »modernisieren«, was in zeitgenössischen Diskussionen neben der wiederholten Betonung einer aufzuholenden »Rückstän489 Makowiecki, Piłsudski, S. XIII. 490 Piłatowicz, Nauka – technika – produkcja, S. 251; Ignacy Mościcki, Nauka a życie gospodarcze, in: Nauka Polska 3 (1921), S. 175-180. 491 Siehe für Beispiele für das wissenschaftliche und politische Engagement für das nationale Aufbauprojekt aus der Anthropologie Linkiewicz, Applied Modern Science; auch Hübner, Kongres, S. 29. 492 Kohlrausch, Steffen, Wiederkehr, Introduction, S. 21-23; auch Steffen, Kohlrausch, Limits and Merits, S. 737. 241

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digkeit« und einer daraus erwachsenden Krisenerfahrung ein durchgängiger Topos war: Man wollte aufschließen zu dem, was als modern betrachtet und häufig mit einem nicht näher definierten »Westen« assoziiert wurde: »Wir müssen […] um jeden Preis den Westen einholen, der mit großen Schritten voran geht«, so formulierte Henryk Mierzejewski im Jahr 1923.493 Technologisch aufzuholen und gleichzuziehen mit anderen Staaten und Regionen wurde zu einem wichtigen Element, um politische Legitimität zu erzeugen.494 In dieser Situation spielten wegen des großen Kapitalmangels zentrale staatliche Subventionen, staatliche Unterstützung und Gründungen von Unternehmen und Instituten eine extrem wichtige Rolle für die Entwicklung nicht nur der Wissenschaft, sondern auch für Innovationen in Technologie oder Medizin und ihre Implementierung in den verschiedenen Industriezweigen oder Gesundheitsinstitutionen.495 Besonders die Hauptstadt Warschau, in der Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld ihre neuen Aufgaben übernahmen, entwickelte sich in dieser Hinsicht zu einem Zentrum, in dem Wissenschaft von staatlicher Seite organisiert und unterstützt wurde.496 Für Warschau hatte der Erbauer des Suezkanals, Ferdinand de Lesseps, zu Beginn des 20. Jahrhunderts prognostiziert, es werde bald zur größten und wichtigsten Stadt in ganz Europa heranwachsen. Er glaubte, dort werde der größte Austausch, den die Welt jemals gesehen habe, stattfinden, ein Austausch zwischen Ost und West. Diese Voraussage war zu jener Zeit ein wenig zu optimistisch, Warschau stieg weder zur größten noch zur wichtigsten Stadt auf dem europäischen Kontinent auf.497 Zu einem Laboratorium des transnationalen und transkulturellen Austausches aber hatte sich die Stadt vor 1918 gleichwohl entwickelt. Nach 1918 kamen mit der Hauptstadtfunktion neue staatliche Aufgaben hinzu – Warschau erfand sich als Standort von Wissenschaft neu. Die Universität

493 Mierzejewski, Badania naukowe, S. 389. 494 Auch Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 4. 495 Zbigniew Landau, Jerzy Tomaszewski, Zarys Historii Gospodarczej Polski 1918, Warszawa 1999; Piłatowicz, Nauka – technika – produkcja, S. 260. Auch Mariusz Nowak, Rola specjalistów zagranicznych w modernizacji zakładów przemysłowych COP, in: Sebastian Piątkowski (Hg.), Centralny Okręg Przemysłowy. Infrastruktura – produkcja – procesy miastotwórcze, Radom 2005; zeitgenössisch Eugeniusz Kwiatkowski, Dysproporcje. Rzecz o Polsce przeszłej i obecnej, Kraków 21932, S. 215. 496 Wojciech Przybyłowicz, Życie naukowe Warszawy, in: Warszawa. Nakładem magistratu miasta stoł, Warszawy 1929, S. 227-242, S. 229. 497 Zitiert bei Jerzy S. Majewski, Warszawa nieodbudowana. Metropolia belle époque, Warszawa 2003, S. 5 f. 242

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Warschau wuchs bald zur größten Universität des Landes heran.498 Die Stadt musste und wollte in dieser Hinsicht gegenüber den galizischen Zentren Krakau und Lemberg aufholen, wo aufgrund des Autonomiestatuts auch während der Teilungszeit Universitäten sowie eine Polytechnische Schule in Lemberg besucht werden konnten.499 Nun wollte Warschau sich als Wissenschaftsstandort profilieren – keine ganz leichte Aufgabe angesichts der Konkurrenz aus Galizien, wo mit der Akademie der Gelehrsamkeit in Krakau seit 1872 zusätzlich eine Institution verankert war, die nun mit der Staatsgründung das gesamtstaatliche Attribut »Polnisch« erhielt.500 Warschau hingegen bekam 1920 eine »Akademie der Technischen Wissenschaften« (Akademia Nauk Technicznych), weil diese Wissenschaftsfelder in Krakau nur schwach vertreten waren.501 Nicht nur strukturell, auch atmosphärisch hatte es Warschau als Wissenschaftsstandort anfänglich nicht leicht. Es wurde zeitgenössisch immer wieder wegen mangelnder Bedingungen für schöpferische Arbeit kritisiert, der Rhythmus der Stadt sei zu schnell und die Stimmung von Aufregung und Nervosität geprägt.502 Auf Hugo Steinhaus, den bekannten polnischen Mathematiker, der 1938 von Lemberg nach Warschau kam, machte die Stadt den »schlechtesten Eindruck«.503 Schriftsteller wie Ferdynand Goetel verwiesen auf ihre Ambivalenz, ihren Schmutz, ihr »asiatisches« Antlitz, hoben aber gleichzeitig ihre Nobilität hervor, einen adligen Habitus, der eine Nostalgie für die alten Zeiten einschloss, als der Adel noch den Staatsapparat beherrschte.504 Klagen wurden aber darüber laut, in Warschau gebe es stets die Verlockung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, unmittelbar am Staatsauf bau teilzunehmen – dies schaffe keine guten Bedingungen für die ruhige Arbeit von Gelehrten.505 Möglicherweise war dies aber auch gerade ein Beweggrund für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sich in dem wachsenden Wissensraum Warschau niederzulassen, dort den Auf bau von wissenschaftlichen Institutionen zu unterstützen, gleichzeitig selbst im Sinne der »Ressourcen füreinander« davon zu profitieren sowie am Staatsaufbau und den damit einhergehenden Prozessen der zunehmenden Verwissen498 Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 42. 499 Schramm, Tworzenie uniwersytetów. 500 Edward Hałoń, Towarzystwa Naukowe w Polsce. Przeszłość i teraźniejszość, Warszawa 2003, S. 17; auch Dybiec, Polska Akademia Umiejętności. 501 Hałoń, Towarzystwa Naukowe, S. 26; siehe auch Hübner, Last Flight. 502 Życie naukowe Warszawy, S. 240. 503 Czesław Miłosz, Wyprawa w Dwudziestolecie, Kraków 1999, S. 322. 504 Jan Emil Skiwski, Szlacheckie Mieszczaństwo Warszawy, in: Jesteśmy w Warszawie. Przewodnik literacki po stolicy, Warszawa 1938, S. 273-278. 505 Życie naukowe Warszawy, S. 240. 243

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schaftlichung der Organisation von Gesellschaft mitzuwirken. Nicht nur in Bezug auf die Universität entwickelten sich Forschung und Bildung in Warschau mit der höchsten Dynamik im Land. Die Anzahl von Forschungsinstituten war in den 1920er Jahren in Warschau bereits höher als anderswo, zur selben Zeit befanden sich von 18 Laboratorien in Polen, die für die Bedürfnisse der Industrie und des Militärs arbeiteten, allein 12 in Warschau.506 Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld wirkten in ihren Arenen ebenfalls nicht nur als passive Beobachter mit. Ihre Arbeitsstätten, die Technische Hochschule Warschau sowie das Staatliche Institut für Hygiene, waren beide eng mit dem Auf bauwerk des polnischen Staates verbunden. Polen befand sich in einer Situation, in der die Expansion des Nationalstaates es sicherstellte, dass Sozialisierungsprozesse, Regulierungen seitens der Regierung und die Vergemeinschaftung der neuen Gesellschaft eng miteinander verbunden werden sollten.507 Zu diesem Prozess gehörte unbedingt die Verteidigung des Landes, die nicht nur von Repräsentanten des Staates, sondern von weiten Kreisen der Gesellschaft als eine Verpflichtung wahrgenommen wurde. Experten aus vielen verschiedenen Wissensfeldern nahmen diese Verpflichtung wahr – Medizin, Bakteriologie und Technowissenschaften gehörten zu den führenden unter ihnen. Hirszfelds und Czochralskis Institutionen arbeiteten eng mit der Armee zusammen, für deren Unterhalt das Land erhebliche Summen aufbrachte. Die polnische Armee war eine der wichtigsten Institutionen im neuen unabhängigen Staat und erfreute sich einer hohen Wertschätzung seitens der Bevölkerung. Da sich Polen zu jener Zeit permanent von Deutschland und Russland bedroht fühlte, und zwar sowohl ideologisch als auch militärisch, hatte der Staat ein großes Interesse daran, eine starke Armee aufzubauen und zu unterhalten.508 Fähig zum Führen eines Krieges zu sein, galt zudem als ein wichtiger Modernitätsbeweis für Staat und Gesellschaft.509 Und wie anderswo versuchte die Armee auch in Polen, als 506 Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 89. 507 Siehe Lutz Raphael, Ordnungsmuster und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2012, S. 9-20, S. 13. 508 Siehe u. a. Mieczysław Fularski, Przysposobienie wojskowe w Polsce, Warszawa 1929, S. 22-24; Jerzy Tomaszewski, Zbigniew Landau, Polska w Europie i Świecie, Warszawa 2005, S. 295. 509 Dieter Langewiesche. Das Jahrhundert Europas. Eine Annäherung in globalhistorischer Perspektive, in: Historische Zeitschrift 296/1 (2013), S. 29-48, S. 42. Langewiesche hat dies für das westliche Europa im 19. Jahrhundert festgestellt, besonders um 1900, aber diese Konstellation trifft auf Polen im frühen 20. Jahrhundert 244

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einer der wichtigsten Träger von Modernisierung aufzutreten.510 Diese Modernisierung verband sich sowohl mit einem Kampf gegen den verbreiteten Analphabetismus unter den Soldaten als auch mit den Domänen von Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld: mit technologischem Fortschritt, Gesundheit und physischer Fitness. Der erfahrene Offizier und einflussreiche Politiker aus dem Lager von Józef Piłsudski, Adam Koc, akzentuierte dies im Jahr 1921 wie folgt: »Ein zeitgenössischer erfolgreicher Krieg kann nur dann geführt werden, wenn die gesamte Gesellschaft an ihm partizipiert, moralisch und physisch.«511 Ähnlich meinte General Gustaw Orlicz-Dreszer, dass die Armee eine »nationale Schule« sein sollte, eine Schule, aus der »die Jugend physisch stark, mit der Fähigkeit, Waffen zu bedienen, aber auch moralisch stark« hervorgehen sollte.”512 Folgerichtig war die Armee seit der Staatsgründung enorm gewachsen.513 Waren es anfangs nur einige zehntausend Soldaten, so stieg diese Anzahl bis auf fast eine Million Soldaten im Herbst 1920, bevor sie ab 1921 nach Beendigung der Kampfhandlungen und der Etablierung einer Wehrpflichtarmee wieder verringert wurde, denn eine solch große Armee zu unterhalten war die polnische Gesellschaft nicht in der Lage.514 Ihre Stärke wurde auf etwas weniger als 300.000 Mann in Friedenszeiten reduziert, womit sie quantitativ die größte Armee in Mittel- und Osteuropa darstellte. Ihre Unterhaltung verschlang große Summen. Im Jahr 1924 waren dies 42 Prozent der Gesamtausgaben des Staates.515 Der Vertreter der Rockefeller-Stiftung, Selskar M. Gunn, hielt im Juni 1922 fest: »Mit den enormen Ausgaben für den Unterhalt einer großen Armee ist es wirklich bemerkenswert, was die Regierung versucht, für andere Abebenfalls zu, waren dort doch noch viele Normen, Strukturen und Werte des 19. Jahrhunderts gültig. 510 Siehe Christhardt Hentschel, Brüchige Einheit. Die polnischen Streitkräfte 19181921, in: Michael G. Müller, Kai Struve (Hg.), Fragmentierte Republik? Das politische Erbe der Teilungszeit in Polen 1918-1939 (Phantomgrenzen im östlichen Europa), Göttingen 2017, S. 39-67, S. 51; auch Yohanan Petrovsky-Stern, Jews in the Russian Army 1827-1917. Drafted into Modernity, Cambridge, New York 2009. 511 Zitiert nach Jan Kęsik, Naród pod bronią. Społeczeństwo w programie polskiej polityki wojskowej 1918-1939, Wrocław 1998, S. 12. 512 Zitiert nach Piotr Stawecki, Kilka uwag o roli wojska w procesach integracyjnych i dezintegracyjnych II Rzeczypospolitej, in: Henryk Zieliński (Hg.), Drogi integracji społeczeństwa w Polsce XIX-XX w., Wrocław 1976, S. 193-215, S. 194. 513 Hentschel, Brüchige Einheit, S. 48. 514 Małgorzata Wiśniewska, Lech Wyszczelski, Bezpieczeństwo narodowe Polski w latach 1918-1939. Teoria i praktyka, Toruń 2019, S. 329. 515 Wiśniewska, Wyszczelski, Bezpieczeństwo, S. 338; Tomaszewski, Landau, Polska w Europie, S. 297. 245

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teilungen der Regierung zu tun.«516 Dazu zählte er besonders das Gesundheitswesen, in dem Ludwik Hirszfeld verankert war und das ebenfalls mit dem Militär verzahnt war, wenngleich nicht so eng wie Czochralskis Institut an der Technischen Hochschule. Hirszfeld und Czochralski wussten jedenfalls, dass sie mithilfe von technischer und medizinischer Forschung von Nutzen für das staatlichgesellschaftliche Auf bauwerk sein konnten.517 Dessen Dynamik stellte auf der anderen Seite eine entscheidende Bedingung für die Mobilisierung der Expertise der beiden Wissenschaftler dar. Ihr Expertenwissen war, wie bereits im Ersten Weltkrieg und im Fall von Jan Czochralski auch beim Aufbau der Weimarer Republik, seitens des Staates immens gefragt, wurde doch von diesem Wissen ein unmittelbarer Nutzen für die Entwicklung der Rüstungsforschung und der Gesundheitsfürsorge erwartet. Damit einher ging ein Denken in Kategorien des Social Engineering, dem Versuch, Individuen und die Gesellschaft mit technokratischen und rationalen Methoden zum Besseren, zu einem angestrebten Idealzustand zu verändern, wie es der erwähnte Gesundheitsminister Tomasz Janiszewski mit seinem Ziel »einer neuen Sorte Mensch« formuliert hatte.518 Diese Ausgangslage spiegelt sich in gewisser Weise bereits im Namen des Regimes wider, das sich nach dem Putsch von 1926 in Polen etablierte, das sogenannte Sanacja-Regime, bedeutet sanacja doch Heilung, Gesundung und Erneuerung.519 Es ging um eine Sanierung von Politik und Gesellschaft mittels rationaler Reform, die sich von technokratischen und konkreten Modellen leiten lassen sollte.520 Damit sollte eine Gesundung und Professionalisierung des Staatsapparates verbunden werden – die Begriffe der Gesundung sowie der technokratischen Reform nahmen also eine metaphorische Bedeutung an, nicht zuletzt mit dem Ziel einer Mobilisierung der Bevölkerung für nationale und militärische Zwecke. Diese Gesundung sollte durch wissenschaftliche Expertise abgesichert werden, wobei der Glaube an die Macht der Wissenschaft und die Kontrolle sozialer Prozesse durch Wissenschaftler im Sinne eines sozialtechnologischen Machbarkeitswahns zuweilen grenzenlos war. Hier mitzuwirken war für Hirszfeld und Czochralski kein Widerspruch zu 516 Rockefeller Archives, RG 1.1., Series 789, Box 1 Folder 2. Selskar Gunn an Wicleff Rose, Juni 1922. 517 Siehe zu dieser Funktion auch Huijnen, Zwischen Gemeinwohl und Privatinteresse, S. 49. 518 Siehe Kapitel 4.1.1. 519 Kohlrausch, Steffen, Wiederkehr, Introduction, S. 17. 520 Siehe Joseph Rothschild, East Central Europe between the Two World Wars, Washington, D. C. 1974, S. 58. 246

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ihrer Rolle als Gelehrte, die sie in der neuen Ordnung gleichfalls auszufüllen vermochten – eher war ihr jeweiliger Status als Gelehrter die Voraussetzung dafür, dass sie als Experten öffentlich wirksam werden konnten. 4.3 Die Übersetzung des Wissens in neue Arenen  YRHHIVIR,VIR^IRcƳ2IXLSHIR)IROWXMPIYRHXSǺI 4.3.1 Ludwik Hirszfelds Warschauer Wissensräume: Die Etablierung einer staatlichen Gesundheitspolitik und das Staatliche Hygiene-Institut

Nachdem Ludwik und Hanna Hirszfeld im Jahr 1919 in ein Haus im Warschauer Stadtteil Saska Kępa gezogen waren, erneuerten sie im Oktober 1919 zunächst ihre bislang nur im deutschen Kaiserreich geschlossene Hochzeit und nahmen das Christentum an.521 Sie erwarteten in dieser Zeit die Geburt ihrer Tochter Maria, die 1920 zur Welt kam.522 Fortan entwickelten die Hirszfelds vielfältige Aktivitäten im neuen Wissensraum Warschau. Während Hanna Hirszfeld zunächst eine Stelle als Schulärztin, später als Ärztin in einer Versicherungsgesellschaft fand, begann Ludwik seine Tätigkeit am neu gegründeten Zentralen Institut für Epidemiologie (Państwowy Centralny Zakład Epidemiologiczny), das 1923 seinen Namen in Staatliches Hygiene-Institut (Państwowy Zakład Higieny, PZH) in Warschau änderte. Die Arbeit bei der Versicherung befriedigte Hanna Hirszfeld nur wenig – sie sehnte sich nach wissenschaftlicher Arbeit zurück. 1921 gelang es ihr, eine Anstellung in der Kinderklinik der Warschauer Universität zu finden, zudem forschte sie weiterhin mit ihrem Mann und anderen Kollegen zu verschiedenen wissenschaftlichen Fragestellungen. 1932 wurde sie Oberärztin an jener Kinderklinik, wollte aber nicht auf einer vollen Stelle arbeiten, da sie gleichzeitig an ihrer Habilita521 Im Jahre 1902 schrieb sich Ludwik Hirszfeld noch als der »israelitischen Religion« zugehörig an der Universität Würzburg ein. Die Ehe der Hirszfelds war 1905 in Berlin geschlossen worden, siehe Kozuschek, Ludwik Hirszfeld, S. 43-50. In Polen wurde Hirszfeld nach dem Krieg gelegentlich unterstellt, er sei nur konvertiert, um seine Karriere zu befördern, habe er doch als Jude keine Aussicht auf ein berufliches Fortkommen gehabt. Gegen diese Lesart verwahrte sich seine Nichte, Joanna Belin, im Jahr 2000 mit dem Hinweis, Hirszfeld habe die Taufe als polnischer Patriot und aus Verbundenheit mit der polnischen Kultur angenommen. Siehe Gazeta Wyborcza, 21. 8. 2000, S. 17. In neueren Publikationen wird ebenso davon ausgegangen, seine Karriere in Polen sei zumindest teilweise durch die Taufe ermöglicht worden, so Katarzyna Person, Assimilated Jews in the Warsaw Ghetto 1940-1943, Syracuse 2014, S. 5. 522 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 75. 247 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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tion arbeitete. Ihre Habilitationsschrift erschien 1937 in Polen und 1939 in Frankreich mit einem Vorwort des renommierten französischen Kinderarztes Robert Debré, Sohn des Oberrabbiners von Colmar und einer der Gründer von UNICEF.523 Hanna Hirszfeld hatte ihn in Paris kennengelernt und korrespondierte seitdem mit ihm.524 Das Habilitationsverfahren selbst konnte vor dem Krieg aus unbekannten Gründen allerdings nicht mehr abgeschlossen werden.525 Womöglich war die Terminierung schwierig, es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass Hanna Hirszfeld aufgrund von intersektionaler Diskriminierung wegen ihrer jüdischen Herkunft und als Frau nicht zugelassen wurde.526 Die Habilitation gelang ihr erst in der Nachkriegszeit. Ludwik Hirszfeld arbeitete derweil daran, die Aufgaben am PZH konsequent zu erweitern: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickelten Impfstoffe, führten Massenimpfungen durch, unterrichteten Hygiene in ihren verschiedensten Ausführungen wie der Arbeitshygiene, der psychischen Hygiene oder der sanitären Hygiene für Ingenieure, sie forschten, weiteten ihre Aktivitäten in 13 Filialen in die Fläche des polnischen Staates aus, führten Statistiken zu Krankheiten, Laboren und Versicherungen, überwachten die Qualität von Wasser und Lebensmitteln und vernetzten das Institut transnational durch den Austausch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, durch internationale Konferenzen und die Partizipation in Gremien wie den Gesundheitssektionen des Völkerbundes. Auf diese Weise entwickelte sich das Institut zu dem zentralstaatlichen Akteur für epidemiologische und bakteriologische Fragen.527 Damit erarbeitete es sich eine Vorbildfunktion für ähnliche Einrichtungen in anderen Ländern.528 Im Jahr 1937 hatte es 589 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (davon 379 in der Warschauer Zentrale) und führte im selben Jahr 450.092 Laboruntersuchungen durch.529 523 Hanna Hirszfeld, Zagadnienia konstytucjonalizmu w chorobach zakaźnych wieku dziecięcego, Warszawa 1937; französische Ausgabe: Rôle de la constitution dans les maladies infectieuses des enfants, préf. du Robert Debré, Paris 1939. 524 Ubysz, Życie, S. 26. 525 In Polen ist es bis heute üblich, die Habilitationsschrift bereits vor dem Verfahren zur Habilitation zu veröffentlichen. 526 Zu den Habilitandinnen in Polen erscheint demnächst Iwona Dadej, Habilitacja – bariera czy kariera? Porządek płci w polskiej kulturze akademickiej pierwszej połowy XX wieku. 527 Kreuder-Sonnen, Mikroben, S. 197. 528 Ludwik Hirszfeld, Obsługa bakteriologiczna i epidemiologiczna Państwa. Przeszłość, teraźniejszość, przyszłość, Warszawa 1937, S. 4. 529 Michael Murray (Hg.), Poland’s Progress, London 1944, S. 92 sowie Ministerstwo Opieki Społecznej (Hg.), Dwadzieścia lat publicznej służby zdrowia w Polsce Odrodzonej, 1918-1938, Warszawa 1939, S. 133. 248 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Hirszfeld setzte dort seine Forschungen zu Blutgruppen, zu Hygiene, zu Immunologie und der Seroanthropologie fort und beteiligte sich an der Gründung einer Zeitschrift, der »Rundschau für Epidemiologie« (Przegląd Epidemiologiczny), die später erweitert und in Medycyna doświadczalna i społeczna (Experimentelle und soziale Medizin) umbenannt wurde. An der dem Institut angegliederten und 1926 eröffneten Schule für Hygiene gaben er und Hanna Hirszfeld zahlreiche Kurse. Insgesamt inszenierte Hirszfeld den Wissensraum Warschau in seiner Autobiographie als geradezu ideal: »So durfte ich vollenden, wovon ich geträumt hatte: Ich konnte für mein Land arbeiten – mit den Möglichkeiten des besten Arbeitsplatzes, den ein polnischer Gelehrter je besessen hatte.«530 In diesem Wissensraum betrat Hirszfeld neue Arenen, in denen er sich zuvor nicht bewegt hatte und die mit den besonderen Anforderungen des neuen Staates zusammenhingen. So beriet er etwa das polnische Gesundheitsministerium, er vertrat Polen in der Standardisierungskommission beim Völkerbund und trat zahlreichen polnischen Fachverbänden bei, die es sich auf die Fahnen geschrieben hatten, die hygienischen Bedingungen und die gesundheitspolitische Situation in Polen zu verbessern. Dazu zählt unter anderem sein Engagement in der Eugenischen Gesellschaft Polens. Er hielt zahlreiche Vorträge sowohl auf internationalen und nationalen wissenschaftlichen Kongressen als auch in populärwissenschaftlichen Zusammenhängen. Als Experte für Blutgruppen verfasste er mehrere hundert Gutachten zur Ermittlung von Vaterschaften und wirkte als Experte in Gerichtsprozessen mit. Darüber hinaus war er in der Gesundheitspolitik aktiv, die daher im Folgenden näher in die Nachkriegszeit eingeordnet werden soll. Dabei geht es um den Auf bau von nationalen Institutionen, die Bedingungen von Forschung sowie den Aufbau bzw. den Erhalt der internationalen Kontakte der Beteiligten. Der öffentliche Gesundheitssektor hatte nach dem Krieg in Polen vor allem zwei Aufgaben: Er sollte ansteckende Krankheiten und Epidemien bekämpfen und eine hygienische Infrastruktur auf bauen. Neben dieser funktionalen Rolle, die die Gesundheitspolitik für die Entwicklung einer staatlichen Verwaltung und einer sozialen Infrastruktur spielen sollte, verbanden sich mit ihr auch ideologische Ziele: Sie stiftete einen sozialen und nationalen Zusammenhalt und postulierte normative Werte in Fragen von Verhalten, Konsum und Physis. Medizin, Expertise und Gesundheitswesen waren fast immer und sind noch immer politische Fra-

530 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 80. 249 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gen.531 Politik und Medizin sind daher nicht getrennte Bereiche, sondern eng miteinander verwoben.532 Medizinische Expertise und Gesundheitsfürsorge sollten politische Stabilität, eine produktive Industrie und gesunde Soldaten garantieren. Medizin war damit »eine politische Technik der Intervention« (Michel Foucault), ging es doch um wissenschaftliche Zugriffe auf die Bevölkerung und deren Körper, die sowohl disziplinierend als auch regulierend wirken sollten.533 In dieser Hinsicht stellte das Gesundheitswesen eine Arena dar, in der solche Zugriffe auf die Bevölkerung verhandelt wurden und in der Experten auf verschiedenen Bühnen wie der zivilen und der militärischen Gesundheitsverwaltung auf lokaler und gesamtstaatlicher Ebene agierten. Zivilgesellschaftliche Vereine oder Gesellschaften, die zum Teil bereits vor der Staatsgründung Polens tätig waren, errichteten ebenfalls solche Bühnen, nämlich die Gesellschaft für Hygiene mit ihren zahlreiche lokalen Geschäftsstellen und der Zeitschrift Zdrowie (Gesundheit). Auf diesen Bühnen etablierten sich Experten in Medizin und Hygiene, indem sie Reden hielten, Eingaben schrieben, Gesetzesentwürfe verfassten oder Aufsätze veröffentlichten. Einige Stimmen in dieser Arena gingen so weit, eine biologische Ordnung des Staates zu fordern, um Körper zu disziplinieren und die Bevölkerung regulieren zu können – das heißt, sie griffen klassische Themenfelder der Biopolitik auf.534 Zu Beginn der Staatsgründung stand die Epidemien-Bekämpfung im Zentrum der Gesundheitspolitik. Die Infektionsraten und die Kindersterblichkeit waren im östlichen Europa erheblich höher als in anderen Teilen des Kontinents. Polen war besonders von der Fleckfieber-Pandemie betroffen, die in Russland und der Ukraine herrschte. Für die Zeit von 1919 bis 1921 wird von 25-30 Millionen Fleckfieberfällen ausgegangen, von denen vier Millionen in Polen selbst gezählt wurden.535 Infolge 531 532 533 534

535

Siehe Iris Borowy, Introduction, in: Dies., Anne Hardy (Hg.), Of Medicine and Men. Biographies and Ideas in European Social Medicine between the World Wars, Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 2008, S. 7-21, S. 14. Dazu auch Roelcke, Plädoyer, S. 183. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt a. M. 2001, S. 298. Siehe zum Beispiel Adam Paszewski, Znaczenie biologji dla społeczeństwa, Warszawa 1931. Paszewski zitierte darin den Strafrechtler Andreas Thomsen mit dem Werk »Die Bildung von Völkerkeimen zur Erhaltung und Mehrung wertvoller Erbanalagen« – ein Vortrag, den Thomsen 1927 auf dem V. Internationalen Kongress für Vererbungswissenschaften gehalten hatte und der die Humangenetik auf das Feld des Rassismus führte. Marta Aleksandra Balińska, The National Institute of Hygiene and Public Health in Poland 1918-1939, in: Social History of Medicine 9/3 (1996), S. 427-445, S. 429.

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des Krieges war die Bevölkerung darüber hinaus stark unterernährt.536 Migrationsbewegungen von Ost nach West und von West nach Ost beschleunigten und intensivierten die Ausbreitung ansteckender Krankheiten wie Ruhr, Tuberkulose oder Pocken.537 Im Unterschied zu den Soldaten, die noch während ihres Militärdienstes in den Armeen der Teilungsmächte geimpft worden waren, profitierte die polnische Zivilbevölkerung nicht von diesem »Privileg« und litt in stärkerem Maße unter ansteckenden Krankheiten.538 Besonders auf dem Land – rund 70 Prozent der polnischen Bevölkerung lebten in ländlichen Gebieten – wurden die hygienischen Verhältnisse als äußerst unzureichend beschrieben.539 Ein Doktorand von Ludwik Hirszfeld, Adam Bekierkunst, der 1952 in Breslau promoviert wurde und später eine Professor für Bakteriologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem übernahm, bezeichnete Polen in sanitärer Hinsicht als eines der »rückständigsten Länder in Europa«.540 Dazu hatte nicht nur der Krieg beigetragen, sondern vor allem die jahrelange Vernachlässigung des Gesundheitssystems durch die Teilungsmächte.541 Das Fehlen von etablierten Strukturen eröffnete jedoch die Möglichkeit, nach 1918 ein relativ kohärentes, neues und verein-

536 537

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540 541

Diese Zahlen sind nicht als exakt, sondern als grobe Schätzungen zu betrachten, die schon zeitgenössisch umstritten waren. Ebd. Marta Aleksandra Balińska, The Rockefeller Foundation and the National Institute of Hygiene, Poland, 1918-45, in: Studies in History and Philosophy of Science Part C 31/3 (2000), S. 419-432, S. 421. Zu internationalen, hauptsächlich US -amerikanischen Hilfsprogrammen für Polen in dieser Zeit siehe Davide Rodogno, Francesca Piana, Shaloma Gauthier, Shaping Poland. Relief and Rehabilitation Programmes Undertaken by Foreign Organizations, 1918-1922, in: Davide Rodogno, Bernhard Struck, Jakob Vogel (Hg.), Shaping the Transnational Sphere. Experts, Networks and Issues from the 1840s to the 1930s, New York, Oxford 2015, S. 259-278. Czesław Jeśman, Choroby zakaźne w Wojsku Polskim w latach 1918-1939 jako zagadnienie epidemiologiczne i profylaktyczno-lecznicze, Cz. 1, Łódź 1997, S. 48. Małgorzata Posłuszna, Stan sanitarno-higieniczny wsi polskiej w okresie II Rzeczypospolitej, in: Jan Nosko (Hg.), Z dziejów zdrowia publicznego, Łódź 2006, S. 273-28; siehe auch Piotr Madajczyk, Marzenie o naród doskonałym. Między biopolityką a etnopolityką, Warszawa 2017, S. 167. Bekierkunst, Badania epidemiologiczne, S. 82. Siehe zu Preußen Justyna Turkowska, Der kranke Rand des Reiches: Sozialhygiene und nationale Räume in der Provinz Posen um 1900, Marburg 2020; Lenny A. Ureña Valerio, Colonial Fantasies, Imperial Realities: Race Science and the Making of Polishness on the Fringes of the German Empire, 1840-1920, Athens 2019. 251 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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tes System aufzubauen.542 Zwar habe es dafür keinen festgelegten Plan gegeben, so Ludwik Hirszfeld, aber immerhin Visionen.543 Die Notwendigkeit, die Kriegs- und Nachkriegsepidemien zu bekämpfen, führte dazu, dass sich die Politikfelder der öffentlichen Gesundheit und Hygiene in Polen wie in vielen anderen Ländern in Ostmittel- und Südosteuropa von der Tschechoslowakei bis nach Jugoslawien sehr dynamisch entwickelten. Polen hatte die Rolle eines cordon sanitaire gegenüber seinen östlichen Nachbarn zu spielen und Europa vor Krankheiten zu bewahren, die von medizinischen und gesundheitspolitischen Akteurinnen und Akteurin ideologisch auch als »orientalische« oder »bolschewistische« Plagen wahrgenommen wurden.544 Das Fleckfieber galt als »feindliche Invasion« aus dem Osten – der militärische Feind wurde propagandawirksam mit dem epidemiologischen Feind verbunden: Ein »unzivilisiertes Anderes« müsse von Polen und damit von Europa ferngehalten werden.545 Diesem Ziel fühlten sich auch internationale, besonders US -amerikanische Hilfsprogramme und Experten in der Region verpflichtet: Der Völkerbund unterstützte den Kampf gegen die Epidemien ebenso wie das US -amerikanische Rote Kreuz, das eine wichtige Rolle in der Fleckfieberbekämpfung und der Einführung strenger Quarantäne-Regulierungen spielte.546 Die Verknüpfung von humanitären mit politisch-militärischen Zielsetzungen führte dazu, dass Polens Bedeutung international wuchs. Die Rockefeller-Stiftung verfolgte dabei ihre eigenen, bereits erwähnten Interessen und wollte die in den USA entwickelte Idee von public health nach Polen transferieren, wo auswärtige Expertinnen und Experten mit polnischen interagierten.547 Im Februar 1917 entstand in der von den Zentralmächten eingesetzten vorläufigen Verwaltung in der Abteilung für Inneres eine Unterabteilung für Gesundheitswesen, die von Witold Chodźko geleitet wurde, einem Psychiater und Mitglied der Hygiene-Bewegung im russischen Teilungsgebiet, der seine Ausbildung in Warschau, Paris und Graz erhalten hatte. Diese Unterabteilung wurde am 4. April 1918 zu einem Ministerium umgestaltet.548 Dieser Akt machte Polen zum ersten Land in Europa mit 542 Marta Aleksandra Balińska, National Institute of Hygiene, S. 430. 543 APAN LH III-157-76, Bl. 26-30, Przemówienie z okazji 30-lecia PZH. Hirszfeld meinte damit die Vorstellungen des Gesundheitsministers Tomasz Janiszewski sowie seines Cousins Ludwik Rajchman, auf den weiter unten eingegangen wird. 544 Balińska, Rockefeller Foundation, S. 422. 545 Kreuder-Sonnen, Mikroben, S. 132-135. 546 Rodogno, Piana, Gauthier, S. 270-271; siehe auch Poland’s Progress, S. 86. 547 Weindling, Public health, S. 253-267. 548 Janusz Górny, Pierwsze Ministerstwo Zdrowia Publicznego w Rzeczypospolitej Polskiej 1919-1923, in: Zdrowie Publiczne 6/87 (1976), S. 485-484, S. 486. 252 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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einem Gesundheitsministerium – das sowjetische Russland und Österreich folgten kurz darauf.549 In Polen war es besonders der erwähnte Arzt, Hygieniker und Eugeniker Tomasz Janiszewski, der die Entwicklung hin zu einer eigenständigen Gesundheitsbürokratie vorangetrieben hatte. Auch Janiszewski hatte seine Ausbildung im deutschsprachigen Raum erhalten, unter anderem in Freiburg, Wien und Zürich. Nun wurde er der erste Gesundheitsminister Polens.550 Er kämpfte darum, die Sozialund Wirtschaftspolitik in Polen stärker entlang von Gesundheitsfragen und Social Engineering auszurichten, hänge doch, so seine Überzeugung, das Schicksal der Nation ganz wesentlich von ihrer Gesundheit ab.551 Der Gründung des Ministeriums folgte ein erstes allgemeines Gesundheitsgesetz am 19. Juli 1919, das dessen Aufgabenbereiche absteckte: der Kampf gegen ansteckende und sozial verursachte Krankheiten und gegen Alkoholismus, Fürsorge für Mütter und Kinder, Eugenik sowie der Kampf gegen Berufskrankheiten. Neben diesem Gesetz blieben die Gesundheitsgesetze aus dem 19. Jahrhundert aus Österreich, Galizien und Preußen bis zum Juni 1939 in Kraft, als ein neues Gesetz über öffentliche Gesundheit verabschiedet wurde.552 Die mangelnde rechtliche Vereinheitlichung war nicht das einzige Hindernis, das Expertinnen und Experten für Gesundheit in ihrer Arbeit überwinden mussten, der erwähnte Kapitalmangel wog noch schwerer. Der Staat wollte zwar ein »regulating player«553 sein, konnte aber besonders die finanziellen Erwartungen der Expertengemeinschaft nicht immer erfüllen.554 Die wirtschaftliche Krisensituation und politische Konflikte hinterließen ihre Spuren in der Organisation des Gesundheitssystems: 1923/24 wurde das unabhängige Gesundheitsministerium aufgelöst.555 Dies war zum einen eine Folge der Finanzkrise und der damit einhergehenden Hyperinflation in diesen Jahren, auf der anderen Seite aber auch Ergebnis des politischen Konflikts zwischen eher links und eher rechts orientierten politischen Grup549 Balińska, Rockefeller Foundation, S. 428-429. 550 Maciej Zaremba Bielawski, Higieniści. Z dziejów eugeniki, Wołowiec 2011, S. 326; Tomasz Janiszewski, O wymogach zdrowotnych przy odbudowie kraju, Kraków 1916. 551 Ebd., S. 5-7. 552 Jan Nosko, Zachowania zdrowotne i zdrowie publiczne – aspekty historycznokulturowe, Łódź 2005, S. 190. 553 Josep L. Barona, The Problem of Nutrition. Experimental Science, Public Health and Economy in Europe 1914-1945, Brüssel u. a. 2010, S. 13, 554 Rohdewald, Mimicry, S. 65. 555 Balińska, Rockefeller Foundation, S. 436-437. In den folgenden Jahren wurden Gesundheitsfragen in den Ministerien für Inneres, für Arbeit und Wohlfahrt, Religion und Bildung, Justiz, Infrastruktur und Landwirtschaft angesiedelt. 253 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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pierungen in Polen – während die Linke das Ministerium unterstützte und die Weiterführung einer progressiven Sozialpolitik aus der Zeit seit 1918 forderte, setzte sich die politische Rechte dafür ein, die Gesundheitspolitik von der Sozialfürsorge zu trennen und mehr Mittel in die Unterstützung des Militärs fließen zu lassen. Die Frage des Gesundheitsministeriums blieb virulent: Als Tomasz Janiszewski auf einer Sitzung des Staatlichen Obersten Gesundheitsrates, einem beratenden Expertengremium, dem auch Ludwik Hirszfeld angehörte, im Jahr 1934 wiederholt die Wiedereinsetzung des Ministeriums forderte, antworte ihm der Innenminister, dass Fragen der Gesundheit zwar wichtig, die Sozialfürsorge aber wichtiger sei.556 Trotz der Auflösung des Ministeriums verloren Fragen von Gesundheit und einer »gesunden Nation« nicht ihre Bedeutung – sie wurden nun stärker im Staatlichen Hygiene-Institut, Ludwik Hirszfelds Arbeitsplatz, zentralisiert. Dieses Institut war, wie erwähnt, als Zentrales Institut für Epidemiologie im November 1918 als Antwort auf die epidemische Krise und die daraus erwachsenen Anforderungen an Diagnostik und Prävention entstanden. Es war zunächst als ein Ort anwendungsorientierter Arbeit gedacht, die nicht allein vom Gesundheitsministerium geplant und schon gar nicht ausgeführt werden konnte.557 Mit dem Ziel, die anti-epidemischen Maßnahmen für die ganze Nation zu koordinieren, entstanden 13 Filialen und bakteriologische Labors dieser Regierungsbehörde.558 Die Initiative für das Institut war vom Gesundheitsministerium und von Ludwik Rajchman ausgegangen. Rajchman, damals Mitglied der Kommission für Epidemien des Völkerbundes und ein Cousin von Ludwik Hirszfeld, war ein Schüler von Odo Bujwid. Auch Rajchman war einer der vielen Wissensakteurinnen und -akteure, die nach 1918 transnational generiertes Fachwissen und Expertise in Polen repräsentierten: Er hatte sein Medizinstudium im Jahr 1906 in Krakau abgeschlossen, bevor er nach Paris ging, um seine Kenntnisse in Mikrobiologie am bekannten Institut Pasteur zu vertiefen. Von dort aus kehrte er 1910 zunächst nach 556 AAN 746, Ministerstwo Spraw Wewnetrznych (MSW ) 746, Sprawozdanie z posiedzienia Państwowej Naczelnej Rady Zdrowia, 4. 5. 1934. 557 Ludwik Hirszfeld, Sprawozdanie z dzialałności naukowej Państwowego Zakładu Higjeny i Państwowegeo Zakładu Badania Surowic w Warszawie. Z okazji 5-cioletniej rocznicy ich powstania, Warszawa 1924, S. 2. 558 Siehe zur Einrichtung der Filialen, der Arbeitsweise des Instituts und den Schwierigkeiten, bakteriologische Diagnostik in der Fläche durchzusetzen, Kreuder-Sonnen, Mikroben; auch Martin Dubin, The League of Nations Health Organisation, in: Paul Weindling (Hg.), International Health organisations and movements, 1918-1939, Cambridge 1995, S. 56-80, S. 66; Hirszfeld, Obsługa bakteriologiczna i epidemiologiczna Państwa, S. 4. 254 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Krakau zurück, setzte aber 1911 seine Ausbildung am Royal Institute of Public Health in London fort und baute seine Netzwerke weiter aus.559 In London unterrichtete er Bakteriologie, assistierte in den Laboratorien und schrieb eine Kolumne in der institutseigenen Zeitschrift.560 Als sich die Unabhängigkeit Polens abzeichnete, ging Rajchman nach Warschau und erwies sich fortan als geschickt improvisierender Akteur im epidemiologischen Krisenmanagement und der staatlichen Gesundheitspolitik. Er arbeitete einen anerkannten Operationsplan zur Bildung von Sanitätszonen aus, um den weiteren Ausbruch von Fleckfieber zu verhindern.561 Gleichzeitig betrieb er die Gründung des Instituts für Epidemiologie: Damals existierten in Polen nur zwei Einrichtungen, die Impfstoffe produzieren konnten und bakteriologische Diagnostik durchführten – ein kleines Labor, das der erwähnte Odo Bujwid in Krakau betrieb, und die Wissenschaftliche Gesellschaft in Warschau.562 Rajchman erwarb ein Gebäude und begann, das neue Institut mit Apparaten auszustatten, die er unter anderem den sich zurückziehenden deutschen Truppenverbänden abkaufte. Weitere Einrichtungsgegenstände, so die Erinnerung von Ludwik Hirszfeld, wurden in Deutschland in der Zeit der Inflation erstanden.563 Auf diese Weise sei das Institut quasi »aus dem Nichts« für ein paar Groschen aufgebaut worden. Zwar bemühte sich Rajchman 1919 um eine Förderung der Rockefeller-Stiftung, blieb aber zunächst erfolglos, weil die Stiftung für eine institutionelle Förderung politische Stabilität voraussetzte. Ihre Vertreter forderten Frieden und einen Plan für die Zeit nach Beendigung der Kriegshandlungen.564 Erst 1922 war die Stiftung bereit, Vorhaben der Gesundheitspolitik in Polen zu finanzieren, nachdem sich ihre Vertreter in Warschau persönlich ein Bild vor Ort gemacht hatten.565 So fing das Institut mit bescheidenen Mitteln an. Es wurde mit der kleinen Produktionsstätte für Impfstoffe der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Warschau vereinigt und eine Abteilung für bakteriologische Diagnostik eingerichtet – Rajchman nutzte 559 Marta Aleksandra Balińska, For the good of humanity. Ludwik Rajchman, medical statesman, Budapest 1998, S. 16. 560 Dubin, League of Nations Health Organisation, S. 66. 561 Siehe Paul Weindling, From Disease Prevention to Population Control. The Realignment of Rockefeller Foundation Policies in the 1920s to 1050s, in: John Krige, Helke Rausch (Hg.), American Foundations and the Coproduction of World Order in the Twentieth Century, Göttingen 2012, S. 125-145, S. 127-128. 562 APAN LH III-57-76, Bl. 27, Przemówienie z okazji 30-lecia PZH. 563 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 74. 564 Rockefeller Archives (RA) RG 5.2. Box 60, Folder 391, S. M. Gunn: Report of visit to Warsaw 7. - 11. 1. 1922. 565 RA RG 1.1. Series 789, Box 2, Folder 12, Activities of the RF in Poland, Mai 1924. 255 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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also die Wissensbestände und die Einrichtungen, die er vor Ort vorfand, und verband sie mit neuen und transferierten Apparaten, die ihm aus seinen Auslandsaufenthalten vertraut waren. Gleichzeitig versuchte er, die talentiertesten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Praktikerinnen und Praktiker für die Arbeit in dem Institut zu finden, wozu neben anderen Ludwik Hirszfeld gehörte. Für diese Expertinnen und Experten aus Medizin und Hygiene eröffnete die Konstellation die bereits erwähnten Chancen des Neuaufbaus, wenngleich anfangs die zur Verfügung stehenden Mittel spärlich waren.566 Ludwik Rajchmans Wissen und seine Fähigkeiten, vor allem aber seine internationalen Netzwerke und persönlichen Kontakte machten ihn für die polnische Regierung zu einem unverzichtbaren Partner. Er, der im Jahr 1923 Generalsekretär der Gesundheitskommission des Völkerbundes wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg das Kinderhilfswerk UNICEF mitbegründete, machte den polnischen Staat gemeinsam mit Ludwik Hirszfeld und anderen Kolleginnen und Kollegen zu einem anerkannten Akteur in der Arena internationaler Gesundheitspolitik. Reformer wie er sahen sich als Teil einer internationalen Gesundheitselite, gleichzeitig wusste Rajchman seine Stellung für Polen zu nutzen. Auch wenn die Rockefeller-Stiftung sich 1919 noch zurückgehalten hatte, so ist es vor allem Ludwik Rajchman zu verdanken, dass sie das polnische Gesundheitswesen in den Jahren von 1923 bis 1936 mit insgesamt 344.710 Dollar mitfinanzierte.567 Der bereits erwähnte Selskar M. Gunn sah in Rajchman einen »sehr energischen und cleveren Mann«.568 Er habe bereits während des Krieges und danach mit dem Auf bau des Staatlichen Hygiene-Instituts eine wunderbare Aufgabe erfüllt: »Dr. Rajchman hat trotz der Schwierigkeiten der Kriegsbedingungen vielleicht den besten Laborservice für das Gesundheitswesen in ganz Kontinentaleuropa, ausgenommen Dänemark, entwickelt – ein zentrales Labor in Warschau, Filialen in Lemberg, Krakau, Lodz, Thorn und Lublin; alles in einer Verwaltung im Gesundheitswesen.«569 Und nicht ohne Genugtuung stellte der in England geborene Gunn fest: »Seine Vorstellungen haben eine gewisse briti566 Auch Klaus Gestwa, Social and soul engineering unter Stalin und Chruschtschow, 1928-1964, in: Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 241-277. 567 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 4, Poland: Institute and School of Hygiene, 27. 9. 1946. 568 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 1, Selskar M. Gunn an Wicleff Rose in New York, 8. 7. 1921. 569 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 1, Minutes of the International Health Board, Mai1922. Siehe auch Weindling, Public health, S. 257. 256 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sche Note, was natürlich auf seinen Kontakt mit dem Royal Sanitary Institute zurückzuführen ist.«570 Das Engagement der Rockefeller-Stiftung war vielfältig: Sie finanzierte die Versorgung von Bibliotheken mit Fachzeitschriften ebenso wie den Ankauf von medizinischen Geräten, Materialien und Versuchstieren für die medizinischen Fakultäten der Universitäten in Warschau, Krakau und Lemberg.571 Als Rajchman 1921 die Gründung einer Schule für Hygiene (Państwowa Szkoła Higieny) anregte, damit Polen in Zukunft seine Fachkräfte für Hygiene und Sanitätsverwaltung im Land selbst ausbilden konnte, traf er mit der nunmehr in Polen stabilisierten politischen Situation auf großes Interesse. 1921 traf Gunn mit Rajchman und Witold Chodźko, dem späteren Leiter dieser Schule, zusammen und unterstützte Rajchmans Plan: »Ich denke, man muss anerkennen, dass sein Plan im Allgemeinen gut ist […]. Rajchman hat das Gefühl, Polen habe ein Recht auf Gegenleistung, weil das Land während und nach dem Krieg im Gesundheitswesen sowohl im Labor als auch im Feld so viel getan hat. Um Polen gerecht zu werden, denke ich, dass man das anerkennen muss.«572 In Prag war bereits 1921 eine solche Schule eingerichtet worden, in Budapest und Zagreb wurden sie 1925 eröffnet. Ihre Aufgaben bestanden in Ausbildung und Service.573 Die Idee einer Ausbildungsstätte im Hygiene-Institut passte zu den Zielen der Stiftung, die Zentren auf bauen wollte, in denen sowohl wissenschaftliche als auch praktische Routinearbeiten auf allen Feldern der Hygiene ausgeführt wurden und aus dem eigene Fachkräfte hervorgingen.574 Daher sicherte die Stiftung 212.500 Dollar für den Bau und die Ausrüstung eines neuen Gebäudes zu. Im Gegenzug musste die polnische Regierung einen geeigneten Ort finden und die jährliche Unterhaltung des Instituts übernehmen.575 Zusätzlich flossen Mittel vom Joint Distribution Committee576 für den Erwerb von Immobilien an der PuławskaStraße in Warschau.577 Als sich der Bau verzögerte und die Baukosten 570 571 572 573 574

RA , RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 1, Gunn an Rose, 8. 7. 1921. RA RG 1. 1. 789, Box 2, Folder 12, Activities of the RF in Poland, Mai 1924.

Ebd. Farley, To Cast out Disease, S. 239. RA R. G. 1. 1. 789, Box 185, Folder 2, A. J. Warren: Confidential Report on Institutes of Hygiene and Schools of Public Health in Europe. 575 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 1, Memorandum of Agreement between Republic of Poland and The Rockefeller Foundation, 10. 7. 1922. 576 Die volle Bezeichnung lautet: American Jewish Joint Distribution Committee, eine Hilfsorganisation US -amerikanischer Juden in New York, die seit 1914 vor allem Jüdinnen und Juden in Europa unterstützte. 577 Dwadzieścia lat, S. 134. 257 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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stiegen, sagte die Stiftung im Mai 1924 zusätzliche Mittel in Höhe von bis zu 80.000 Dollar zu, sofern die Regierung die gleiche Summe beisteuere – man war bereit anzuerkennen, dass die Situation in Polen »außergewöhnlich« und die Lage der Länder in der Region »nicht so stabil« sei – dies schloss mangelnde Währungsstabilität ein.578 Die Stiftung nahm im Gegenzug Einfluss auf die Gestaltung des Hauses. Sie forderte die Einrichtung von mechanischen Werkstätten und von Versuchsanordnungen für sanitäre Zwecke und für Desinfektion, chemische und physikalische Labors, ein Museum für präventive und soziale Medizin, Vorlesungsräume, Laboratorien und Büroräume.579 Die Staatliche Hygiene-Schule nahm ihre Arbeit 1926 auf, sie war zu 65 Prozent von der Stiftung finanziert worden.580 Mit der Eröffnungsfeier fand ein Treffen der »Kommission für Bildung im Gesundheitswesen« des Völkerbundes statt, so dass sich zahlreiche globale Aktivisten aus Gesundheitsbehörden, HygieneSchulen und Universitäten in Warschau versammelten; aus Deutschland etwa der Sozialhygieniker und Eugeniker Alfred Grotjahn oder der erwähnte Gottfried Frey aus dem Reichsgesundheitsamt. Aus Jugoslawien reiste der bekannte Gesundheitspolitiker Andrija Štampar an, ein Mitbegründer der World Health Organization (WHO), weitere Vertreter kamen aus Ländern von Portugal über Lettland bis Japan.581 Fortan bot die Schule Kurse für Sanitätsinspektion an, für Hygieneschulungen in Fabriken, für Krankenschwestern, für medizinisches Personal, für Aktivisten in Anti-Fleckfieber-Kolonnen, für Desinfektionsspezialisten, für Sanitätsingenieure und Soldaten.582 In der Zeit von 1926 bis 1938 fanden insgesamt 161 Kurse mit 8614 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt, darunter 2455 Ärztinnen und Ärzten.583 Andrija Štampar zeigte sich bei einem Besuch im Jahr 1933 beeindruckt von dem modernen Versuch, Wohlfahrts- und Gesundheitsfragen gemeinsam zu betrachten.584 Forschung kam ebenfalls nicht zu kurz, war doch die Schule 578 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 2; Russell an Gunn, 22. 5. 1924 und Gunn an Russell, 12. 6. 1924. 579 RA RG 1. 1. 789, Box 1. Folder 1, Memorandum of Agreement. between Republic of Poland and The Rockefeller Foundation, 10. 7. 1922. 580 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 3, George K. Strode an Russell, 19. 4. 1929. 581 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 3, George Bevier an Russell, 23. 4. 1926. Der Vertreter der Stiftung nahm die Feier als sehr gelungen wahr. Dazu trug seiner Meinung nach bei, dass die Sonne schien – »which makes a lot of difference in Warsaw«. 582 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 3, Memorandum on activities of the School of Hygiene 1924/1925. 583 Marta Gromulska, Ludwik Hirszfeld in the National Institute of Hygiene in 1920-1941, in: Przegląd Epidemiologiczny 68 (2014), S. 695-702. 584 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 3, Excerpt from GKS Diary, Februar 1933. 258 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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finanziell besser ausgestattet als entsprechende Universitätsinstitute.585 Die Rockefeller-Stiftung begleitete das Hygiene-Institut auch in den Folgejahren. Als es infolge der Wirtschaftskrise im Jahr 1932 in ernsthafte Bedrängnis geriet und die Schließung einzelner Abteilungen drohte, sprang die Stiftung bis 1935 mit einer Nothilfe ein.586 Darüber hinaus finanzierte die Stiftung Stipendien für zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Polen (und weiteren Ländern Ostmitteuropas), damit sie sich in den USA spezialisieren konnten. Dies war vor dem Hintergrund des erwähnten Mangels an Fachkräften für das Hygiene-Institut besonders wichtig. So gingen in der Zeit von 1922 bis 1927 allein 46 Fellows aus Polen in die USA , darunter zahlreiche Kollegen von Ludwik Hirszfeld aus dem Hygiene-Institut wie Martin Kacprzak, Czesław Wroczyński, Brunon Nowakowski, Feliks Przesmycki, Józef Celarek, Aleksander Szniolis, Aleksander Szczygiel, Emil Paluch, Stanisław Sierakowski und Edward Grzegorzewski.587 Ebenso finanzierte die Stiftung 1923 die Anstellung des Biochemikers Kazimierz Funk am Hygiene-Institut. Funk hatte die Teildisziplin der Vitaminforschung etabliert und kam als weiterer transnationaler Wissensakteur nach Warschau: Er hatte in der Schweiz studiert und zeitweilig am Institut Pasteur in Paris gearbeitet. Über Stationen in Berlin und London brach er 1915 in die USA auf, wo er eine Anstellung am Memorial Hospital am Central Park in New York fand.588 Als Ludwik Rajchman im Jahr 1923 nach New York reiste, empfahl er der Stiftung, Funk den Posten eines leitenden Biochemikers im Staatlichen Hygiene-Institut anzubieten.589 Funk wollte im Gegenzug mit großem Enthusiasmus die »besten der amerikanischen Ideale« nach Warschau bringen und all das, was »ich in diesem großartigen Land gelernt habe«, in die Praxis umsetzen.590 Als er in Warschau zu arbeiten begann, mangelte es im Institut aber noch an Ausrüstung, Apparaten, Chemikalien und Versuchstieren. Funk erhielt zwei kleine Laboratorien, die mit Tischen und Schutzhauben spärlich ausgestattet waren. In einem weiteren Raum konnte er seine Untersuchungsgegenstände unterbringen, die er eigens aus den USA importiert hatte: 585 Hirszfeld, Obsługa bakteriologiczna i epidemiologiczna Państwa, S. 4. 586 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 4, Poland: Institute and School of Hygiene, 27. 9. 1946. 587 RA RG 6.1., 1.1., Box 31, Folder 371, Dr. Wroczyński an Gunn, Februar 1923. 588 Bernhard Schulz, Casimir Funk und der Vitaminbegriff. Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Medizin der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf 1997, S. 16-25. 589 Ebd., S. 31. 590 RA RG 1. 1. 789, Box 2, Folder 2, Funk an Russell, International Health Board, 15. 6. 1923. 259 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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reinrassige Ratten. Für seine Untersuchungen musste oder wollte er die Bestände, die er in Polen vorfand, nicht verwenden: eine Konstellation, die sich auch bei Hirszfeld und Czochralski findet und auf die hohe Bedeutung von Materialität für die Generierung von Forschungsergebnissen verweist. Angesichts mangelnder Finanzmittel begann auch Funk zu improvisieren. Er stellte verschiedene Seren und Antitoxine her und verkaufte sie, um weitere Mittel zu erwirtschaften. Vor allem gelang es ihm am PZH, das damals noch importierte Insulin erstmals in Polen selbst zu produzieren und zu verkaufen. Aufgrund seiner Forschungserfolge wurde Funk bis 1927 finanziert.591 In dem Jahr verließ er Polen Richtung Frankreich, bevor er sich bei Kriegsausbruch wieder in die USA begab.592 Des Weiteren vergab die Stiftung kleinere Summen für einzelne Forschungsprojekte, wovon auch Ludwik Hirszfeld profitierte. In den 1930er Jahren erhielt er eine Förderung für seine Forschungen zu Fleckfieber und Tuberkulose.593 Zwar erhielt er nur 1200 Dollar, aber in der Krisenzeit der 1930er Jahre bedeutete dies die Finanzierung für zwei Mitarbeiterinnen. In der Stiftung war man davon überzeugt, in Warschau würden auch kleine Summen effektiv genutzt werden.594 Dass Hirszfeld aber – im Vergleich etwa zu Kazimierz Funk – weniger Mittel für Forschung erhielt, hat in der Literatur zu der Überlegung geführt, ob dies politisch begründet war – denn Hirszfeld bewegte sich nach wie vor in deutschen Netzwerken und partizipierte an deren Diskursen. Da die Rockefeller-Stiftung aber bemüht war, die ostmitteleuropäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler möglichst dem deutschen Einfluss zu entziehen, könnten sich diese Netzwerke zu Hirszfelds Ungunsten ausgewirkt haben.595 In der Rockefeller-Stiftung war man in jedem Fall davon überzeugt, dass das Warschauer Institut der Stiftung viel zu verdanken habe. 1932 berichtete der Mitarbeiter Georg K. Strode voller Begeisterung über seine Entwicklung, die er »unserer Hilfe« zuschrieb, da die Stiftung das Institut sowohl mit Apparaten und Geräten als auch mit Personal versorgt habe.596 Das Hygiene-Institut galt ihr als »vitales Element in Polens Gesundheitsmaschinerie«.597 Und nicht ohne Stolz wurde bereits Mitte der 1920er Jahre darauf verwiesen, das polnische Gesundheitssystem wer591 Schulz, Casimir Funk, S. 36. 592 Ebd., S. 47. 593 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 4, Poland: Institute and School of Hygiene, 27. 9. 1946. 594 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 5, Institute of Hygiene Poland, 13. 4. 1935. 595 Balińska, National Institute of Hygiene, S. 428. 596 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 3, Excerpt from GKS Diary, August 1932. 597 RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 3, Georg K. Strode an Russell, 6. 8. 1932. 260 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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de von ehemaligen Rockefeller-Fellows verwaltet – dies entsprach wiederum dem politischen Ziel der Stiftung, den deutschen Einfluss zu minimieren.598 In der Tat übernahmen die meisten Fellows verantwortungsvolle Positionen, wenn sie aus den USA zurückkamen. Auf diese Weise wurde das Gesundheitswesen in Polen noch stärker Teil von internationalen professionellen Netzwerken, als es dies durch die transnationale Ausbildung vieler seiner Akteurinnen und Akteure ohnehin schon war. Mehrere internationale Konferenzen fanden in Polen statt, darunter eine große Sanitätskonferenz im Jahr 1922, die von der »Kommission für Epidemien« des Völkerbunds organisiert wurde und Fragen der Kontrolle von Epidemien in Osteuropa behandelte. Unter den Vortragenden, das war ein Novum, fanden sich auch Vertreter der Sowjetunion.599 Ludwik Hirszfeld erinnerte die Konferenz als einen ersten Versuch, Gelehrte aus jüngst noch verfeindeten Ländern zusammenzubringen.600 Darüber hinaus tagte 1927 ein internationaler Kongress für Militärmedizin und -pharmazie in Warschau mit 150 Teilnehmern aus dreißig verschiedenen Ländern.601 Polen hatte sich in der internationalen Gesundheitspolitik eine prominente Position in Gesundheitsfragen und das Staatliche Hygiene-Institut eine hohe Reputation als renommiertes Wissenschaftszentrum erarbeitet.602 Nationale Anforderungen und internationale Verankerung standen hier keinesfalls in einem Widerspruch zueinander, sondern bedingten einander. 4.3.2 Praktische Anforderungen und Grundlagenforschung am Ɛ {¬B×ƐšŇĻƐFķŤüžƒŇýåĻØƐUŹ±ĻīĚåЃåĻƐƣĻÚƐUŇĻžƒĞƒƣƒĞŇĻžžåŹŇĮŇďĞåƐ

Als Ludwik Hirszfeld am Staatlichen Hygiene-Institut zu arbeiten begann, kam er zunächst wenig dazu, neue Forschungen zu initiieren – wegen der umfangreichen praktischen diagnostischen Arbeit, die zu leisten war, sei dies schwierig gewesen. Er bedauerte daher einen Mangel an theoretischer Arbeit in einer innovationsfördernden Atmosphäre. Auf der anderen Seite war ihm klar: »Ganz reine Wissenschaft, ohne angewandte Wissenschaft, ist in einem Institut wie dem unseren nicht mög598 Weindling, Public Health, S. 257, S. 259-260. 599 RA RG 6.1., 1.1., Box 31, Folder 371. Cooperation between the International Health Board of the Rockefeller Foundation and the Direction of Public Health of Poland, 28. 6. 1926; zu der Konferenz siehe Weindling, Epidemics, S. 168-171; Balińska, Rockefeller-Foundation, S. 432. 600 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 79. 601 International Congress of Military Medicine and Pharmacy and meetings of the Permanent Committee, Washington 1927. 602 Balińska, Ludwik Rajchman, international health leader, S. 456. 261 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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lich«, es sollte eben zunächst »nur« die wissenschaftliche Grundlage für den »Kampf um eine bessere Gesundheit«603 bilden und Techniken der Intervention bereitstellen. Aber bald schon entwickelte sich das Institut in eine Richtung, die sanitären Bedürfnisse mit der wissenschaftlichen Forschung zu verbinden.604 Hier sollen nun zuerst die Arbeiten Hirszfelds im Labor vorgestellt werden, die wiederum mit den Aufgaben und Zielen, die er als Experte in der Arena der Gesundheitspolitik verfolgte und die im Folgekapitel behandelt werden, eng korrespondierten. Hirszfeld selbst meinte zwar zu seinen »theoretischen Arbeiten«, sie hätten jenseits der Aufgaben gelegen, die »sich am konkreten Nutzen orientierten«, aber gänzlich trennen lassen sie sich voneinander nicht.605 Denn sie wirkten aufeinander ein und waren letztlich in dem Ziel vereint, »das Leben und die biologischen Prozesse der Menschengattung zu erfassen«.606 Anfangs richtete Hirszfeld in der Abteilung für bakteriologische Diagnostik eine unabhängige Einheit ein, das Staatliche Institut zur Serumkontrolle, das sowohl die staatliche als auch die private Produktion von Sera und Impfstoffen im ganzen Land kontrollierte. Die existierende Produktionsstätte der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Warschau war in dem Institut aufgegangen. Die Laborpraktiken in Hirszfelds Institut waren zum Teil denen von Jan Czochralski ähnlich. Denn wie dieser Metalle und Legierungen auf ihre Qualität und ihre Tauglichkeit im betrieblichen Alltag prüfte, testete Hirszfeld Impfstoffe und Seren auf ihre Qualität und Wirksamkeit im medizinischen Alltag.607 Die Abteilung produzierte und verkaufte darüber hinaus Impfstoffe, Präparate für Tierärzte, Insulin, Blutplasma und Sera, die seitens staatlicher, ziviler und militärischer Institutionen bestellt wurden.608 Diese Praktiken führten dazu, dass Selskar M. Gunn die Befürchtung äußerte, die Ausrichtung des Instituts werde zu kommerziell.609 Für Impfstoffe, für die sich eine eigene Produktion nicht lohnte, weil ihre Bedarfsmenge zu gering war, existierte seit 1932 eine Kooperation mit den Hygiene-Instituten in Prag, Zagreb und Kopenhagen, später kamen noch Sofia und Bukarest dazu.610 603 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 109. Hirszfeld ging davon aus, dass eine solche Trennung möglich sei. 604 Hirszfeld, Sprawozdanie, S. 18. 605 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, s. 111. 606 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 291. 607 Dwadzieścia lat, S. 136-137. 608 Gromulska, Ludwik Hirszfeld, S. 699. 609 RA RG 5. 2, Box 60, Folder 391, S. M. Gunn: Report of visit to Warsaw 7. - 11. Januar 1922. 610 Dwadzieścia lat, S. 39. Siehe dazu auch AAN, Ministerstwo Opieki Społecznej (MOS) 962. Międzynarodowa wymiań surowic. 262 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Hirszfelds Institut wurde 1926 mit der Abteilung für Bakteriologie vereinigt, und er übernahm als Leiter die Abteilung für Bakteriologie und Experimentelle Medizin sowie die Abteilung für Serums-Kontrolle an dem re-organisierten staatlichen Hygiene-Institut, d. h. sein vorheriges Institut wurde in das PZH eingegliedert.611 Im Juni 1927 erhielten die Aufgaben des PZH eine neue gesetzliche Regelung, wodurch die bakteriologische Diagnostik und die Epidemiologie an die zweite Stelle hinter die Probleme der öffentlichen Hygiene rückten.612 In der Abteilung für Bakteriologie führten Hirszfeld und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jährlich etwa 200.000 diagnostische Untersuchungen zu Infektionskrankheiten durch, und diese Zahl wuchs bis 1937 auf 450.092 an. Zum Teil geschah dies auf eigene Veranlassung, zum Teil wurde das Material aus allen Landesteilen eingeschickt – hier findet sich erneut eine Parallele zur Laborpraxis von Jan Czochralski, der ebenfalls Proben aus allen Landesteilen des Deutschen Reichs untersucht hatte.613 Neben der Leitung der beiden Abteilungen erfüllte Hirszfeld weitergehende Führungsaufgaben: Als Ludwik Rajchman Warschau zu Beginn der 1920er Jahre verließ, um die erwähnte Position im Völkerbund zu übernehmen, war Hirszfeld derjenige, der Rajchman zwar nicht offiziell vertrat (Rajchman behielt den Posten als Direktor bis 1932), aber ihn de facto in seiner Funktion ersetzte. Für die Rockefeller-Stiftung galt Rajchman weiterhin als »Director«, Hirszfeld als »Acting Director«.614 Hirszfeld empfand sich selbst ebenfalls als Leiter und schrieb in der Festschrift für seinen alten Züricher Lehrer, den Hygieniker William Silberschmidt: »Und so habe ich mich entschlossen, einen Bericht über meine Tätigkeit als Leiter des Institutes dem verehrten Jubilar […] beizubringen.«615 Auch in einer Publikation aus dem Jahr 1956 zum zehnjährigen Jubiläum der Medizin in der Volksrepublik Polen, für das Hirszfeld mit im Redaktionskollegiums saß, hieß es, das Staatliche Hygiene-Institut habe bis 1939 »unter der wissenschaftlichen Leitung Ludwik Hirszfelds« gestanden.616 Tatsächlich war es vor

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Gromulska, Ludwik Hirszfeld, S. 695. Państwowy Zakład Higieny w Warszawie, Sprawozdanie 1924 i 1925, S. 10. Dwadzieścia lat, S. 136-137. RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 3, George Bevier an Russell, 23. 4. 1926. Ludwig (sic) Hirszfeld, Das staatliche hygienische Institut in Polen nebst Bemerkungen über die Organisation der Hygiene-Institute, in: Willy von Gonzenbach (Hg.), Festschrift Herrn Prof. Dr. W. Silberschmidt. Direktor des Hygienischen Instituts in Zürich anlässlich seines sechzigsten Geburtstages gewidmet von seinen Schülern und Freunden, Basel 1929, S. 41-49, S. 41. 616 Dziesięciolecie medycyny w Polsce Ludowej 1944-1954, Warszawa 1956, S. 148. 263 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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allem er, der die wissenschaftlichen Arbeiten auf den Weg brachte und den Charakter des Instituts prägte.617 Die Forschungen, die Hirszfeld anregte, waren vielfältig. Besonders intensiv forschten er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an ansteckenden Krankheiten wie Typhus und Fleckfieber, Diphterie, Ruhr, Scharlach und Malaria.618 Die Fallzahlen für Diphterie im Land stiegen, daher verbanden sie Laborexperimente mit Arbeit im Feld und starteten eine Polen-weite Impfkampagne. Die Forschungen zu Fleckfieber führten sie kontinuierlich fort, weil sie überzeugt waren, das Fleckfieber werde im Kriegsfall erneut zu einem Problem werden; daher suchten sie fieberhaft nach einem Impfstoff. Den bislang besten Impfstoff produzierte Rudolf Weigl in seinem Lemberger Labor, aber die Methode war aufwendig: 17 Technikerinnen und Techniker arbeiteten dort an Läusekulturen, produzierten aber nur Impfstoff für 5000 bis 6000 Menschen pro Jahr – hier sollte Abhilfe geschaffen werden. In Warschau suchte besonders die Bakteriologin Helena Sparrow im Hygiene-Institut nach neuen Lösungen. Wie komplex und global die Suche nach neuen Impfstoffen zu dieser Zeit verlief, hat Katharina Kreuder-Sonnen eindrucksvoll nachgezeichnet. Nichtsdestotrotz galt der Impfstoff aus Weigls Labor aber auch noch nach 1939 als der effektivste.619 An der Erforschung diverser Krankheiten und der individuellen Disposition für sie arbeitete neben Hirszfeld eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, von denen die überwiegende Mehrheit ebenfalls transnational generiertes Wissen mitgebracht hatte, hatten sie doch in Russland, der Schweiz, Belgien oder Frankreich studiert. Darunter befanden sich viele Wissenschaftlerinnen, die sich am PZH mit unterschiedlichen Forschungsarbeiten profilieren konnten: Helena Sparrow, Wanda Halber, Róża Amzel, Julia Seydel, Helena Rabinowiczówna, Bronisława Fejginówna, Zofia Modrzewska, E. Salamonówna. Und auch Hanna Hirszfeld partizipierte an den Forschungen im PZH, vor allem, wenn Fragen der Pädiatrie berührt wurden.620 In den 1930er Jahren kamen Forschungen zu Krebs hinzu. Untersucht wurden die antigenen Eigenschaften von normalem und von Krebs befallenem Gewebe, das heißt man arbeitete an einer frühen serologi617 Feliks Przesmycki, Państwowy Zakład Higieny i jego rola w kszałtowaniu służby zdrowia w okresie 1918-1963, in: Nauka Polska 4 (1963), S. 117-127, S. 120; Hirszfeld, Sprawozdanie, S. 2. 618 Gromulska, Ludwik Hirszfeld, S. 695. 619 RA RG 6.1, 1.1., Box 31, Folder 378, Report made on the work made during the year 1932 from the subvention granted to the State Institute of Hygiene, Juli 1932; Kreuder-Sonnen, Mikroben, S. 257. 620 Siehe zu den weiblichen Beschäftigten am PZH Gromulska, Uczone asystentki, S. 401-408. 264 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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schen Diagnostik für Krebserkrankungen.621 Weil sich im Labor nachweisen ließ, dass Tumore andere Blutkörperchen als normales Gewebe enthalten, bestand kurzzeitig Hoffnung, ein Heilserum gegen Krebserkrankungen gewinnen zu können. Obwohl dieses Wissen überhaupt noch nicht gesichert war, sprach Hirszfeld über diese Hoffnungen auf einer Zusammenkunft von Mikrobiologen in Krakau – dies entsprach seiner Art, die in die Zukunft gerichteten Forschungen bereits in aktuelle Debatten einzubringen und sie somit auch ungesichert zu Wissensbeständen hinzuzufügen. Die Folge war, dass er mit Nachfragen überhäuft wurde, die er enttäuschen musste, denn die Ergebnisse waren letztlich negativ. Zwar wurden Forschungen an der serologischen Beschaffenheit von Tumoren fortgesetzt, sie waren aber zu komplex, um zum Beginn einer »neuen Ära« zu werden, wie Hirszfeld es erhofft hatte.622 Weitere grundlegende Arbeiten in Hirszfelds Labor knüpften an seine Forschungen zu Blutgruppen und Immunologie an. Wie Feliks Przesmycki, ebenfalls Mediziner und Mitarbeiter am Staatlichen Hygiene-Institut, sich erinnerte, waren die Grundlagenforschungen zu Blutgruppen und Immunität, die an dem Institut entstanden, schulbildend.623 Sie etablierten Warschau weiter als Zentrum internationaler Blutgruppenforschung. Meist in enger Zusammenarbeit mit Wanda Halber untersuchten sie weiterhin die Verteilung der Blutgruppen in Polen und die Verbindung zwischen den Gruppen und anthropologischen Merkmalen – die dazu groß angelegten Untersuchungen wurden bereits in Kapitel 3 zur Seroanthropologie behandelt. Sie wurden bis 1939 fortgeführt, verlagerten sich aber von Massenuntersuchungen zu fokussierten Studien.624 Das Forschungsfeld der Seroanthropologie erfuhr ebenfalls eine Verlagerung, wie bereits in Kapitel 4.1.1 erwähnt: Weil das Verhältnis von Blutgruppen und »Rassen« nicht festgelegt und keine endgültigen Schlüsse gezogen werden konnten, entstanden weitere, verwandte Forschungsrichtungen, die Hirszfeld und sein Team anstießen: die Blutgruppenpathologie, die 621 Ebd. und Dies., Hirszfeld, S. 695. Ohne dies vertiefen zu können, weil entsprechende Quellen spärlich sind, soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass diese Forschungen zum Teil einer ethnischen Segregierung folgten. War es ohnehin üblich, Statistiken am PZH nach Juden und Christen zu trennen, so folgten auch Untersuchungen zu Krankheitsdispositionen gelegentlich solchen Trennlinien – am PZH wurde etwa erforscht, warum Frauen jüdischer Herkunft weniger oft an Krebs der weiblichen Geschlechtsorgane starben als nichtjüdische Frauen. 622 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 117-118. 623 Przesmycki, Państwowy Zakład Higieny, S. 120. 624 Siehe zum Beispiel Jan Mydlarski, Struktura antropologiczna Ziem Wschodnich, in: Rocznik Ziem Wschodnich 5 (1939), weitere Beispiele bei Linkiewicz, Applied Modern Science, S. 164. 265 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sich mit dem Verhältnis von Blutgruppen und Krankheit beschäftigte, und die Untersuchung heterospezifischer Schwangerschaften, das heißt die Frage danach, welche Auswirkungen eine Gruppenungleichheit zwischen Mutter und Kind hatte.625 In dieser Frage verlieh Hirszfeld der Blutgruppenforschung einen wichtigen Impuls, der aber erst während bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg zum Durchbruch gelangte; daher wird diese Frage in Kapitel 6.3 behandelt. Intensiv widmete sich Hirszfeld der von ihm sogenannten Konstitutionsserologie. Unter »Konstitution« verstand er die einem einzelnen Patienten körperinhärenten Faktoren für Krankheitsentstehung. Ihre Erforschung hatte während des Ersten Weltkriegs als interdisziplinäres Forschungsprogramm begonnen.626 »Konstitution« war fortan ein Schlagwort, das sich in den 1920er Jahren breit durch medizinische Publikationen zog. Da sich unter dem Dach der »Konstitutionsforschung« viele heterogene Strömungen sammelten, fällt ihre historische Beurteilung unterschiedlich aus – einerseits wird sie an einer Schnittstelle von öffentlicher Gesundheit und Eugenik verortet, an der es darum ging, im Rahmen des Social Engineering gesunde Menschen zu schaffen, um die Effizienz von Arbeitskraft zu erhöhen und Produktionssteigerungen zu erzielen. Andererseits wird ihre Entstehung als Reaktion auf den immer stärker werdenden Einfluss von Wissenschaft und Technik auf die Menschen erklärt – als Folge dessen kam es zu einer Konzentration auf das individuelle Wesen des Menschen in seiner ihm eigenen Konstitution.627 Ihre Entstehung ging in jedem Fall mit einer »Krise der Medizin« in den 1920er Jahren einher, die sich mit einer Kritik an der bestehenden Schulmedizin und deren kausal-mechanistischem und analytischem Denken verband. Als Alternative wurden holistische Vorstellungen populär, wozu auch die Lehre von der Konstitution gehörte. Ihre Entstehung war somit sowohl eine Reaktion auf modernistische und rationalistische Tendenzen als auch auf neoromantische und antimodernistische Strömungen in Gesellschaft und Medizin.628 Auch innerhalb der Bakteriologie wandten 625 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 144-145. 626 Siehe Nadine Metzger, »Auf strengster wissenschaftlicher Grundlage«. Die Etablierungsphase der modernen Konstitutionslehre 1911 bis 1921, in: Medizinhistorisches Journal 51/3 (2016), S. 209-245. 627 Nadine Metzger, »Es sind noch große Forschungserträge zu erhoffen«. Entwicklungen der Konstitutionslehre in den 1920er Jahren, in: Medizinhistorisches Journal 52/4 (2017) S. 270-307, S. 273 sowie Carsten Timmermann, Constitutional Medicine, Neoromanticism, and the Politics of Antimechanism in Interwar Germany, in: Bulletin of the History of Medicine 75/4 (2001), S. 717-731, S. 718. 628 Ebd., S. 717-718. 266 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sich Mediziner konstitutionellen Fragen zu, und Ludwik Hirszfeld war einer von ihnen.629 Den Versuch, die Immunitätsforschung auf eine konstitutionelle Basis zu stellen, legte Hirszfeld in seinem Buch »Konstitutionsserologie und Blutgruppenforschung« dar, das 1928 im Julius-Springer-Verlag in Deutschland erschien. Die Entstehung der Konstitutionsserologie verknüpfte er dabei ausdrücklich mit dem »Aufschwung der modernen Konstitutionslehre«.630 Die Konstitutionsserologie galt fortan als spezieller Zweig der Bakteriologie, die eine Disposition für Infektionskrankheiten mit den Blutgruppen korrelierte.631 Hirszfeld versuchte in seiner Monographie die von ihm sogenannten »serologischen Rassen«, über die er breite globale Daten ausbreitete, mit Fragen der Konstitution zu verbinden.632 Für die empirische Untermauerung seiner Thesen hatte er sein weit verzweigtes Netzwerk in Europa und darüber hinaus mobilisiert, denn er erhielt von einer ganzen Reihe seiner Kollegen und persönlichen Kontakte unveröffentlichte Originalangaben ihrer Forschungen, darunter Leon Lattes aus Italien, Fritz Schiff aus Berlin, Frigyes Verzár aus Ungarn, Emil von Dungern aus Heidelberg, Ludwik Rajchman aus Genf, Hans Sachs aus Heidelberg, Karl Landsteiner und Arthur Coca aus den USA , W. Rubaschkin aus Russland, H. Lundborg aus Schweden und Fritz Bernstein aus Göttingen – Hirszfelds Blutgruppenforschung, die immer dem Anspruch folgte, die ganze Menschheit serologisch zu klassifizieren, funktionierte nur transnational über seine Netzwerke.633 Beide Hirszfelds, denn Hanna Hirszfeld war an diesen Forschungen weiterhin beteiligt, hielten an der alten Hoffnung fest, die Serologie könne die Menschen auf einfache Art und Weise ordnen, und versuchten, dies mit »harten« Laborfakten zu untermauern.634 Hirszfeld war überzeugt, »dass die Serologie uns ein Instrument gegeben hat, welches an der Lösung der tiefsten Probleme der Menschwerdung mit anderen Wissenschaftszweigen mitarbeiten kann«. Er gab aber gleichzeitig zu: »Das bisherige Material ist aber noch für eine Synthese zu unvollständig und heterogen.«635 Konkret ging es darum zu zeigen, dass Antikörper im Blut vererbt und gekoppelt an die Blutgruppe waren, also die mit der 629 630 631 632 633

Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 169-170. Hirszfeld, Konstitutionsserologie und Blutgruppenforschung, S. 160. Berger, Bakterien, S. 337. Hirszfeld, Sprawozdanie, S. 16. Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Historische Sammlungen, Archiv Julius Springer-Verlag B/H/272, Hirszfeld an den Julius-Springer-Verlag, 16. 2. 1928. 634 Siehe dazu auch Tino Plümecke, Rasse in der Ära der Genetik. Die Ordnung des Menschen in den Lebenswissenschaften, Bielefeld 2013, S. 143. 635 Hirszfeld, Konstitutionsserologie und Blutgruppenforschung, S. 130. 267 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Blutgruppen zusammenhängende konstitutionelle Disposition genotypisch bedingt sei.636 Die Forscherinnen und Forscher testeten Menschen auf Antikörper gegen ansteckende Krankheiten, zunächst im Hinblick auf Diphtherie, und bestimmten ihre Blutgruppe, von der man ja bereits wusste, dass sie vererbt wurde. Den ersten Forschungsergebnissen zufolge schienen die Präsenz und Absenz von Antikörpern tatsächlich mit den Blutgruppen zu korrelieren.637 Und so glaubte Hirszfeld im Zuge dieser erneut als Teamarbeit unternommenen Untersuchungen, dass er Vererbungsfaktoren in einer Immunität gegen Diphtherie, aber auch Dysenterie und Scharlach erkannt hatte.638 Zur weiteren Erforschung der Krankheitsdispositionen wollte Hirszfeld möglichst interdisziplinär arbeiten und erneut anthropologische Merkmale in die Untersuchungen einbeziehen, die noch nicht zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden seien. Er forderte: »Das Problem der individuellen Krankheitsdisposition in seinem ganzen Umfange würde gemeinsame Arbeit der Immunitätsforscher, Kliniker, Epidemiologen, Anthropologen, Vererbungsforscher usw. verlangen.«639 Diese frühen Ergebnisse der Blutgruppenpathologie wurden mit großem Interesse von deutschsprachigen und anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgenommen – erneut hatten die Hirszfelds eine Richtung vorgegeben, die zu den Forschungstrends der Zeit passte und Fortschritt für die medizinisch-genetische Forschung verhieß. Die Konstitutionsserologie galt als ein »ganz neues Forschungsgebiet« und Hirszfelds Arbeiten wurden dafür gelobt, dass sie »die Anregung zu einer ausgedehnten Forschertätigkeit auf erbbiologischem, anthropologischem und konstitutionspathologischem Gebiete gegeben« hatten.640 Der »Warschauer Ärztezeitung« (Warszawskie czasopismo lekarskie) galt das Buch als »eines der schönsten Beispiele unserer wiedererstehenden polnischen Wissenschaft«.641 Der Posener Bakteriologie Leon Padlewski merkte zwar an, dass viele Fragen in dem Buch hypothetisch behandelt und 636 J. Andrew Mendelsohn, Medicine and the making of bodily inequality in twentieth-century Europe, in: Ders. (Hg.), Heredity and Infection. The History of Disease Transmission, London, New York 2001, S. 21-79, S. 49. 637 Ebd., S. 55. 638 Hanna Hirszfeld, Ludwik Hirszfeld, Weitere Untersuchungen über die Vererbung der Empfänglichkeit für Infektionskrankheiten, in: Zeitschrift für Immunitätsforschung und experimentelle Therapie 54/81 (1927), S. 81-104. 639 Ludwik Hirszfeld, Krankheitsdisposition und Gruppenzugehörigkeit. Rassenbiologische Betrachtungen über die verschiedene Empfänglichkeit der Menschen für Krankheitserreger, in: Klinische Wochenschrift 3/46 (1924), S. 2084-2087, S. 2087. 640 Die Naturwissenschaften 6 (1929), Besprechungen, S. 106. 641 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 114. 268 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Schlüsse gezogen würden, die nicht auf gesicherten Tatsachen beruhten, und ein großer Subjektivismus herrsche – er tat dies aber keineswegs in kritischer Absicht, sondern kam zu dem Schluss: Anders könne es nicht sein, wenn neues Wissen entstehe.642 In der Folge wurden nicht nur Diphtherie, sondern zahlreiche weitere Krankheiten wie Syphilis, Tuberkulose oder Malaria bis hin zu Nerven- und Geisteskrankheiten auf ihren Zusammenhang mit der jeweiligen Blutgruppe überprüft. Allein, die Thesen erwiesen sich als nicht haltbar. Nicht nur der am Krankenhaus in Berlin-Friedrichshain an ähnlichen Problemen arbeitende Fritz Schiff äußerte sich skeptisch zur Annahme einer an Blutgruppen gekoppelten Disposition; Hirszfelds Schlussfolgerungen wurden auch von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern scharf kritisiert.643 Der Anthropologe Jan Czekanowski hielt 1925 fest, in der Medizin sei jetzt das Konzept der »konstitutionellen Typen« sehr modisch, bei der Ärzte für bestimmte Krankheiten sehr genau eine Prädisposition auf der Grundlage weniger Beobachtungen beschrieben. So entstehe eine völlig neue Terminologie für diese konstitutionellen Typen, die an keine bisher bekannten Begriffe anknüpfe. Denjenigen Menschen aber, die mit der Anthropologie vertraut seien und denen die Schwierigkeit bewusst sei, Typen festzulegen, selbst wenn man mit statistischer Induktion arbeite, »muss in der Diskussion um die konstitutionellen Typen eine weit fortgeschrittene, leichtsinnige Oberflächlichkeit auffallen«.644 Czekanowski verfolgte aber auch sein eigenes Interesse an diesem Thema. Denn es ging nicht immer nur um Forschungsfragen oder gegenseitige Wahrnehmung, sondern ebenso um disziplinäre Konkurrenz und Stellenwerte. Die Anthropologie wollte ebenso wie Medizin, Ethnologie oder Soziologie den Bedürfnissen der politischen und intellektuellen Eliten nachkommen und sich mit praktischen Lösungen für die soziale Ordnung als eine Art Leitwissenschaft etablieren.645 Deshalb kritisierte Czekanowski, dass die Mediziner sich nicht die Frage stellten, ob die konstitutionellen Typen nicht vor allem auf die »rassischen Unterschiede der Menschen«, auf komplizierte Umwelteinflüsse und bereits aktive pathologische Prozesse zurückzuführen seien. Er war davon überzeugt, dass die »rassische Verschiedenheit« der Menschen sich nicht auf die Bereiche der Morphologie oder der Physiologie beschränke, sondern sich in die 642 Sprawozdania i oceny, in: Przegląd Antropologiczny IV (1929), S. 116-125. 643 Berger, Bakterien, S. 337; Noble Pierce Sherwood, Immunology, London 21941, S. 107. 644 Czekanowski, Co Polska traci, S. 145. 645 Siehe dazu auch Linkiewicz, Applied Modern Science. 269 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Pathologie verlängere.646 Ähnlich wollte auch Jan Mydlarski die »konstitutionellen Merkmale« nicht von »rassischen Merkmalen« trennen und kritisierte das Fehlen einer anthropologischen Ausbildung unter Medizinern.647 Umgekehrt hatte Hirszfeld beanstandet: »Für den Vererbungsforscher und Anthropologen fallen die gruppenspezifischen Bluteigenschaften unter die vielen oft nebensächlichen Merkmale, deren statistische Bearbeitung schon jetzt ihnen möglich erscheint.«648 Er spekulierte, ob nicht eine »chemische Substanz« oder ein Antikörper sicherer ein harmonisches Bild des Weltgeschehens liefern könnten als Eigenarten des Knochenbaus oder eine Ähnlichkeit sprachlicher Idiome, die in der Anthropologie oder der Ethnologie erforscht würden.649 Neben der disziplinären Konkurrenz, die Hirszfeld selbst befeuerte, indem er das Macht-Wissen der Medizin akzentuierte, obwohl er stets zur Zusammenarbeit mit Anthropologen und Ethnologen aufrief, zeigt sich hier deutlich, dass das Sprechen über Krankheiten und konstitutionelle Anlagen in jener Zeit immer direkt oder indirekt in ein Reden über »Rassen« eingebettet war.650 Dies war in Polen nicht anders als sonstwo. Das Programm der Konstitutionsserologie war also fehlgeschlagen, obwohl es mit großem Schwung und Enthusiasmus gestartet war und man sich einiges über Vererbung und Konstitution zu erfahren versprochen hatte.651 Je mehr Forschungen unternommen wurden, desto klarer wurde, dass es keine eindeutige Verbindung zwischen Blutgruppen, mental-psychischen Störungen oder Krankheiten gab, ähnlich wie die Forschungen zur Seroanthropologie gezeigt hatten, dass es keine klare Verbindung zwischen Blutgruppen und »Rassen« gab.652 Die Empirie erzeugte hier statt Klarheit eine Diffusität, die letztlich dazu führte, dass die Serologie allmählich ihre hohe wissenschaftliche Aktualität verlor und damit ihre vermeintlich objektive Aussagekraft einbüßte.653 Und auch die allgemeine Konstitutionslehre blieb für die Entwicklung der Medizin seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend bedeutungslos.654 646 Czekanowski, Co Polska traci, S. 146 647 Jan Mydlarski, Z zagadnień konstytucjonalizmu, in: Zagadnienia Rasy 7-8 (1929), S. 323-345, S. 330. 648 Hirszfeld, Konstitutionsserologie und Blutgruppenforschung, Vorwort. 649 Ders., Die Konstitutionsserologie und ihre Anwendung, S. 25. 650 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 175. 651 Mendelsohn, Medicine, S. 55. 652 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 170. 653 Plümecke, Rasse, S. 144-145. 654 Metzger, Entwicklungen, S. 273. 270 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Hirszfelds Ziel, die Bakteriologie mit medizinischen Theorien zu verbinden, die sich auf die Konstitution stützten, um daraus einen effektiven Schutz vor verschiedenen Krankheiten zu entwickeln, konnte sich also nicht durchsetzen.655 Hirszfeld selbst formulierte dies am Beispiel seiner Forschungen über die Diphtherie in seiner Monographie, die nach seinen zunächst als bahnbrechend wahrgenommenen Aufsätzen erschien, wie folgt: »Die bisherigen Ergebnisse sprechen jedenfalls gegen einen direkten Zusammenhang zwischen der Disposition für Scharlach und Diphtherie und der Gruppenzugehörigkeit.«656 Für seine Arbeiten war und blieb charakteristisch, dass er nicht gesichertes Zukunftswissen in seine Überlegungen einschloss. So hatte er im Vorwort seiner »Konstitutionsserologie« unterstrichen, es sei ihr Ziel, »das bereits Erkannte, sicher Gewordene darzustellen, auf das Mögliche, vielleicht Werdende hinzuweisen«.657 Auch wenn Hirszfeld keinen klaren Zusammenhang zwischen Krankheitsdisposition und Blutgruppen herstellen konnte, hatte er erneut ein Forschungsfeld eröffnet, zu dem in den Folgejahren eine Reihe von Untersuchungen entstand. Das Blut blieb als Objekt von Differenzbestimmungen bestehen. Mit seinen Proteinvarianten avancierte es zu einem Grundstoff der Populationsgenetik, an dem immer wieder genetische Untersuchungen über die Verschiedenheit der Menschen durchgeführt wurden.658 Die Frage der Krankheitsdisposition wird ebenfalls bis heute in medizinischen Studien bearbeitet. In jüngster Zeit hielt etwa eine Studie der Harvard School of Public Health in Boston mit 90.000 Probanden fest, dass Menschen mit der Blutgruppe 0 seltener unter Herzkrankheiten als andere leiden. Andere Studien ergaben eine größere Anfälligkeit für Durchfallerkrankungen bei Menschen mit Blutgruppe A, wieder andere meinten, Blutgruppe A schütze vor Krebs, und auch Covid-19-Erkrankungen sind im Jahr 2020 mit den Blutgruppen in Verbindung gebracht worden.659 Das Forschungsfeld ist also nach wie vor in 655 Jean-Paul Gaudillière, Ilana Löwy, Introduction. Horizontal and vertical transmission of diseases: the impossible separation?, in: Dies. (Hg.), Heredity and Infection. The History of Disease Transmission, London, New York 2001, S. 1-18, S. 9. 656 Hirszfeld, Konstitutionsserologie und Blutgruppenforschung, S. 163. 657 Ebd., Vorwort. 658 Plümecke, Rasse, S. 146. 659 Meian He u. a., AB  Blood Group and Risk of Coronary Heart Disease in Two Prospective Cohort Studies, in: Arteriosclerosis, Thrombosis, and Vascular Biology 32 (2012) S. 2314-2320; Pardeep Kumar u. a., Enterotoxigenic Escherichia coliblood group A interactions intensify diarrheal severity, in: Journal for Clinical Investigation 128/8 (2018), S. 3298-3311. Siehe auch Loretta Bruhns, Die Blutgruppe bestimmt das Krankheitsrisiko mit, in: Die Welt, 23. 2. 2015; Michael Zietz, 271 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Bewegung, es gilt aber ebenso wie in den 1930er Jahren: Die Ergebnisse sind widersprüchlich. Einen klaren Zusammenhang zwischen Blutgruppe und Krankheit gibt es nicht, denn bislang ist nicht erwiesen, dass jemand nur aufgrund seiner Blutgruppe erkrankt, ebenso wenig gibt es einen hundertprozentigen Schutz vor bestimmten Krankheiten durch die Gruppenzugehörigkeit. Mit seiner auf Deutsch veröffentlichten Arbeit hielt Hirszfeld seine Partizipation am deutschsprachigen Wissens- und Diskursraum aufrecht, gleichzeitig festigte und erweiterte er seine europäischen und globalen Netzwerke; dies ist bereits im Zusammenhang mit der Debatte zur Seroanthropologie angesprochen worden – er verblieb im gemeinsamen Denkkollektiv der Blutgruppenforscher, wobei zu seinem persönlichen Netzwerk, das sicher nicht zufällig aus vielen Wissenschaftlern jüdischer Herkunft bestand, vor allem diejenigen gehörten, die die Blutgruppenforschung nicht rassistisch aufgeladen hatten. Insgesamt war das Sprechen über Krankheiten und konstitutionelle Anlagen in diesem Sprachund Wissensraum aber häufig in einen Referenzrahmen eingebettet, in dem gefragt wurde, welche Blutgruppe am gesündesten, Krankheiten gegenüber am resistentesten oder welche Blutgruppe am ehesten Heilung verspreche – die Nähe zur Eugenik und der »Verbesserung des Menschen« oder der Verhinderung seiner »Degeneration« war greif bar. Dies wurde nicht selten mit einer Hierarchisierung und Abwertung der Blutgruppe B verbunden. Obwohl Hirszfeld eine solche Hierarchisierung nicht explizit verfolgte, zog auch er in seiner »Konstitutionsserologie« die Möglichkeit in Betracht, ob man »eine geringere Lebensaussicht der B-Gruppe postulieren« müsse – im Gegensatz zu den rassistischen Blutgruppenforschern war er aber bereits zu dem Schluss gekommen, dass eine solche Feststellung eine viel tiefere Analyse verlange.660 Neben seiner forschenden Tätigkeit am Staatlichen Hygiene-Institut übernahm Hirszfeld im Jahr 1924 einen Lehrauftrag für Immunologie und Bakteriologie an der Freien Allgemeinen Hochschule (Wolna Wszechnica Polska), den er sieben Jahre lang ausfüllte.661 Diese liberale Hochschule galt als wenig antisemitisch, daher besuchten sie viele jüdische Studierende, darunter etwa auch der Physiker Joseph Rotblat, der 1995

Jason Zucker, Nicholas P. Tatonetti, Associations between blood type and COVID -19 infection, intubation, and death, in: Nature Communications 11, 5761 (2020), https://doi.org/10.1038/s41467-020-19623-x (Zugriff am 20. 5. 2021) 660 Hirszfeld, Konstitutionsserologie und Blutgruppenforschung, S. 172. 661 Ders., Geschichte eines Lebens, S. 80. 272 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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den Friedens-Nobelpreis erhielt.662 1926 erhielt Hirszfeld eine Dozentur an der Universität Warschau, und im Jahr 1929 verlieh ihm die Medizinische Fakultät der Universität den Rang eines Titularprofessors.663 Einen ordentlichen Lehrstuhl erhielt er nicht – dies ist mit dem in Polen herrschenden Antisemitismus in Verbindung gebracht worden, der dazu führte, dass nur wenige Akademikerinnen und Akademiker jüdischer Herkunft einen solchen Ruf erhielten.664 4.3.3 Arenen der Gesundheitspolitik und der angewandten Forschung: Ludwik Hirszfeld als Experte, Berater und Gutachter Hygiene und bakteriologische Praxis

Neben seiner Forschungs-, Publikations- und Lehrtätigkeit übernahm Hirszfeld zahlreiche Funktionen im öffentlichen Leben des neuen Staates. Eine klare Trennlinie zwischen Grundlagen- und Anwendungswissen lässt sich hier aber, wie bereits erwähnt, nicht ziehen. Seine Rolle definierte Hirszfeld dabei so: »In unseren Händen lag der Hebel, mit dem sich das Sanitätswesen und die Wissenschaft in Polen von Grund auf in Bewegung setzen ließen« – die Frage nach der Leitwissenschaft im neuen Staat war für ihn demnach beantwortet, hielt er doch an anderer Stelle zusätzlich fest, ohne Bakteriologie könne kein Staat bestehen.665 Um sich für die Verbesserung des Gesundheitswesens und für die Popularisierung seiner Vorstellungen einzusetzen, verfasste er zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Texte und Broschüren für die Vision einer Modernisierung im Kampf gegen Bakterien und für gesunde Menschen.666 Er gründete eine Gesellschaft für präventive Medizin mit, übernahm den Vorsitz der Polnischen Biologischen Gesellschaft sowie der Gesellschaft für Mikrobiologie und engagierte sich in der Polnischen Eugenischen Gesellschaft. Er arbeitete als Experte bei Gericht, unter anderem in Fragen der Feststellung von Vaterschaften, er förderte das Blutspendewesen, beriet das Gesundheitsministerium bzw. die Abteilungen für Gesundheit in den verschiedenen Ministerien als Mitglied des Natio662 Siehe Katrin Steffen, Science, in: Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Tamara Sztyma (Hg.), Legacy of Polish Jews, Warszawa 2021, S. 139-153, S. 150. 663 APAN LH III-157-95, Curriculum vitae. 664 Siehe Aniela Uziembło, Wspomnienie. Maria Hirszfeld (1920-1943), in: Gazeta Wyborcza, 28. 8. 2009. 665 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 80. 666 Die Schriften von Hirszfeld finden sich in Hirszfeld, Kelus, Milgrom, Ludwik Hirszfeld. 273 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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nalen Obersten Gesundheitsrates und hielt zahlreiche Vorträge populärwissenschaftlicher Natur, um seine Expertise und seine Anschauungen über Hygiene und Gesundheit einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Wie sehr Hirszfeld soziale, wissenschaftliche und politische Fragen miteinander zu verknüpfen verstand, zeigt bereits seine Auffassung zur Konzeption seiner Abteilung am Hygiene-Institut und zum Institut selbst. Er verstand diese als polnische wissenschaftliche Entsprechung des hygienisch-bakteriologisch arbeitenden Paul-Ehrlich-Instituts in Frankfurt am Main. Um sich zu informieren und sein Institut auszustatten, fuhr er 1920 mehrmals nach Frankfurt.667 Der Versuch, das Frankfurter Konzept in den polnischen Kontext zu übersetzen, erfolgte aber nicht als einfache Kopie – Hirszfeld wollte das Institut durch die Weiterentwicklung des »Eigenen« stärken.668 Er akzentuierte den praktischen Aspekt von Aufklärung und Hygiene in Polen stärker, als es in Frankfurt der Fall war, weil er der Meinung war, dies sei der Situation von Gesellschaften, »die hinsichtlich der sanitären Kultur so vernachlässigt sind wie die unsere«, angemessener.669 In Warschau maß er der Hygiene eine andere Bedeutung bei und war überzeugt, er habe erst dort »die wirklichen Aufgaben eines Hygieneinstituts« kennengelernt. Damit meinte er, das Institut sei der Idee der sozialen Hygiene verpflichtet gewesen und dies bedeutete für ihn: »Wissenschaft im Dienst der Nation«.670 Demnach sah er seine Aufgabe darin, stärker als in Deutschland oder der Schweiz in die Praxis zu gehen: »Ich empfinde die Notwendigkeit einer Reorganisation der hygienischen Institute vielleicht deshalb stärker als meine Kollegen in der Schweiz und in Deutschland, weil dort die allgemeine Hygiene oft als Nebenprodukt des Wohlstandes und der höheren Kultur dem Lande gegeben wurde. Doch glaube ich, dass die Demokratisierung der Kultur, die durch die Krankenkassen und soziale Wohlfahrtseinrichtungen bewirkte Vertiefung und Verbreitung prophylaktischer Bestrebungen der bewußt betriebenen Hygiene eine führende Rolle zuweisen muss. Es wäre gut, der Zukunft durch neue, dem Leben besser angepasste Organisationen entgegen zu kommen.«671 Hirszfeld war davon überzeugt, dass das Institut für Hygiene bei seiner Entstehung einen neuen Typus bildete, in dem soziale Erfordernisse und wissenschaftlicher Erfindungsgeist, 667 668 669 670 671

Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 75-76. Janiszewski, O wymogach zdrowotnych, S. 45. Hirszfeld, Sprawozdanie, S. 18. APAN LH III-157-76, Bl. 26-30, Przemówienie z okazji 30-lecia PZH. Hirszfeld, Staatliches Hygienisches Institut, S. 49.

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also Praxis und Theorie, Hand in Hand gingen.672 Auf diese Weise flossen die Anforderungen vor Ort mit seinem aus Deutschland und der Schweiz transferierten Wissen konzeptionell in einer produktiven Mischung zusammen. Um seine Ziele durchzusetzen, war Hirszfeld ständig auf der Suche nach neuen Ressourcen. Er forderte den Staat immer wieder auf, mehr Mittel für das Gesundheitswesen bereitzustellen. Obwohl sich zum Beispiel die Anzahl der Ärzte in Polen von 1919 bis 1939 verdreifacht hatte, bedeutete dies immer noch eine schwache medizinische Infrastruktur.673 Hirszfeld beklagte in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Ärzten je Einwohner in Polen, das bei 1:3289 liegen würde, während sich das für Deutschland mit 1:1552 viel günstiger darstelle.674 Er interpretierte dieses Missverhältnis auch 1938 noch als eine Folge der Teilungszeit – andere konnten diesem Argument schon nicht mehr folgen. Tomasz Janiszewski zum Beispiel bemerkte im Jahr 1936, die Polen seien nun schon fast 20 Jahre unabhängig und wären daher allein verantwortlich für die Bedingungen im Land.675 Eng mit der Frage der fehlenden Ärzte hing ein weiterer Mangel zusammen, den Hirszfeld beseitigen wollte: Er setzte sich intensiv dafür ein, die Anzahl von Bakteriologen und bakteriologischen Laboren zu erhöhen. 1934 veröffentlichte er einen Text, in dem er die Rolle von Hygiene und Bakteriologie für den Staatsaufbau klar akzentuierte: Sie gehörten in »größerem Maße noch als die heilende Medizin zu den Wissenschaftszweigen, ohne die ein Staat nicht auskommen kann«. Denn eine zu geringe Anzahl an bakteriologischen Laboren und Bakteriologen sei ebenso gefährlich wie das Fehlen eines angemessenen Offizierskorps beim Ausbruch eines Krieges, so Hirszfeld.676 Er beließ es nicht bei diesem Artikel: Auf einer Sitzung des Staatlichen Obersten Gesundheitsrates, an der auch Odo Bujwid teilnahm, forderte Hirszfeld konkrete staatliche Maßnahmen, um die Praxis des bakteriologischen Labors in die Fläche des polnischen Staates auszuweiten und zu professionalisieren: 672 Ders., Sprawozdanie, S. 18. 673 Janusz Żarnowski, State, Society and Intelligentsia, XIV: Learned professions in Poland, 1918-1939, S. 417. 674 Ludwik Hirszfeld, W sprawie ostrych chorób zakaźnych w Polsce, jako najpilniejsze zagadnienia naukowego, dydatkycznego i sanitarnego, in: Lekarz Polski 5 (1938), S. 100-106, S. 102-103. 675 Tomasz Janiszewski, O potrzebie reaktywowania Ministerstwa Zdrowia Publicznego ze względu na konieczna oszczędność i na obronę Państwa, Warszawa 1936, S. 3. 676 Ludwik Hirszfeld, Obsługa bakteriologiczna Państwa, in: Lekarz Polski 10 (1934), S. 98-106, S. 98. 275 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Dazu gehörte, dass bakteriologische Untersuchungen zu schweren Infektionskrankheiten nur in Einrichtungen durchgeführt werden sollten, die staatlicher Kontrolle unterlagen. Jede Wojewodschaft sollte eine bakteriologische Arbeitsstelle unterhalten, kleinere Arbeitsstellen wollte er unter dem Dach des PZH vereinen. Für die Universitäten forderte er Lehrstühle für Hygiene und Bakteriologie, auch müsse das PZH weitere Assistenten erhalten. Leitungsstellen an Gesundheitszentren sollten prioritär an Ärzte mit einer bakteriologisch-hygienischen Ausbildung vergeben werden, während Krankenhausdirektoren in Hygiene geschult sein sollten. Für seine Vorschläge erntete er auf der Sitzung überwiegend wohlwollende Zustimmung. Es wurde aber darauf verwiesen, dass die Labormedizin eine Krise durchlaufe, weil die Spezialisierung von Ärzten in Polen gesetzlich nicht geregelt sei – während die einen dafür plädierten, dass die Labormedizin nur von ausgebildeten Bakteriologen ausgeführt werden sollte, stellte sich Gustaw Szulc, der damalige Direktor des Hygiene-Instituts, auf den Standpunkt, man könne eine solche Arbeit einem Chemiker nicht verbieten. Hirszfelds Forderungen wurden dennoch angenommen.677 Unterstützung hatte er außerhalb dieses Gremiums von keinem Geringeren als Ludwik Fleck erhalten. Dieser hatte Hirszfelds Gedanken aufgegriffen und die »Einstellung der Regierung zur labormedizinischen Analytik« als »vollkommen unangemessen« bezeichnet, weil es allen »möglichen unausgebildeten Personen« erlaubt werde, Laboruntersuchungen durchzuführen. So könnten Pharmazeuten, Philosophen oder Chemiker-Ingenieure, die lediglich einen mehrmonatigen Kurs besucht hätten, bereits eigenständig ein medizinisches Labor eröffnen – für die Bakteriologen Fleck und Hirszfeld, denen eine Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Labormedizin vorschwebte, ein unhaltbarer Zustand.678 Ihre Vorstellungen, die beide eng mit dem Schicksal des Staates verknüpft waren, denn auch Fleck akzentuierte die »große gesellschaftliche und staatliche Bedeutung der labormedizinischen Analytik«,679 trafen aber auf Schwierigkeiten sehr praktischer Natur: Zum einen waren viele Ärzte in Polen einfach nicht bakteriologisch ausgebildet worden – bakteriologische Labortechniken hatten etwa in Russland nicht zwingend zum

677 AAN MSW 746, Protokół posiedzenia sekcji do spraw zwalczania chorób zakańźnych Państwowej Naczelny Rady Zdrowia, 28. 5. 1934. 678 Ludwik Fleck, Zur Frage der labormedizinischen Analytik, in: Sylwia Werner, Claus Zittel (Hg.), Ludwik Fleck. Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 2011, S. 176-180, S. 177. 679 Ebd., S. 178. 276 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Curriculum des Medizinstudiums gehört.680 Wegen der geringen Anzahl an Ärzten hatten jene auch kaum Zeit, sich die Techniken des Labors neben ihrer beruflichen Praxis anzueignen; zum Teil sahen sie deren Nutzen nicht, weil sie ihn gar nicht erkennen konnten. Die praktischen Arbeitsumstände machten es den Ärzten schwer, ihre Rolle auszufüllen, daher verließen sie sich oft auf die Beobachtung der Krankheitssymptome statt auf Labordiagnostik.681 Der Kampf um die Zusammenarbeit mit den Ärzten habe daher seit vielen Jahren angedauert – sie hätten die Rolle des bakteriologischen Labors nicht verstanden, so Hirszfeld 1938.682 Und obwohl alle 13 Filialen des PZH mit einer bakteriologischen Abteilung ausgestattet waren, gelang es dem polnischen Staat mit der Ressource des transnational generierten bakteriologischen Wissens unter den Eliten am PZH oder den Universitäten nicht, dieses Wissen zu verbreiten. In kleinen, abgelegenen Städten oder Dörfern konnte das bakteriologische Wissen keine produktive Mischung mit Wissensbeständen vor Ort eingehen und auch nicht stabilisiert werden. Die Widerstände kognitiver wie materieller Natur (große Entfernungen, die mehrmalige Proben erschwerten, eine schlechte Infrastruktur, die wiederum den Transport dieser Proben verhinderte, ein Mangel an Autos oder Fuhrwerken) waren zu hoch. Das, was von Ludwik Hirszfeld angestrebt worden war, nämlich eine flächendeckende Nutzung bakteriologischer Labore und damit bakteriologische Diagnostik als selbstverständlichen Wissensbestand ärztlicher Praxis in ganz Polen zu etablieren, gelang nicht.683 Erschwerend kam hinzu, dass die Bakteriologie im deutschen Sprachraum in den 1920er und 1930er Jahren vielfach kritisiert und hinterfragt wurde, und diese Debatten wurden auch in Polen nachvollzogen. Gesundheitspolitische Aktivitäten begannen, sich breiter zu orientieren, und das schloss sozialhygienische und erbwissenschaftliche Ansätze ein. Das linearkausale Erklärungsmodell von Infektionskrankheiten wurde so allmählich aufgeweicht.684 An die Stelle des »feindlichen« Erregers trat eine breitere Betrachtung von Krankheitsursachen. Die Feind- und Kampfmetaphorik im bakteriologischen Konzeptsystem war nicht mehr so konstitutiv und stabilisiert wie im Ersten Weltkrieg.685 Ludwik Hirszfeld, der, wie oben gezeigt, prinzipiell ein großer Anhänger der Labormedizin und auch nicht bereit war, darauf zu verzichten, nahm die neuen 680 681 682 683 684 685

Kreuder-Sonnen, Mikroben, S. 205. Ebd., S. 198. Hirszfeld, Obsluga bakteriologiczna i epidemiologiczna Państwa, S. 2. Kreuder-Sonnen, Mikroben, S. 206 und 219. Ebd., S. 207 Berger, Bakterien, 353. 277 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Entwicklungen in der Debatte dennoch auf und erweiterte sie selbst um Beobachtungen aus seinen immunologischen Studien: Er konstatierte 1931, bei der Untersuchung von Infektionskrankheiten schiebe sich zwischen Beobachtung und Deutung der Vorgänge häufig eine allgemeine, »unbewusste« Anschauung, nämlich der Begriff des Kampfes als der »einzig möglichen Form der Begegnung zwischen dem Makro- und Mikroorganismus«.686 Nach Hirszfeld konnte eine solche »primitive« Auffassung nicht befriedigen. Viel vernünftiger erschien ihm daher eine Gewöhnung, eine Anpassung an den Reiz, die Symbiose. Er interpretierte die Pathogenität der Bakterien als eine Entwicklung in Richtung einer Symbiose, die noch nicht zum Abschluss gekommen sei, strebe doch die Welt einem Gleichgewicht zwischen Mikro- und Makroorganismus zu: »Auch hier sehnt sie sich nach einem Verzicht auf Kampf bereitschaft.«687 Ludwik Fleck sprach sich mit Bezug auf Hirszfeld ebenfalls gegen die Auffassung aus, das Wesen von Infektionskrankheiten sei der Kampf – für Fleck war dies die Entstehung eines neuen »Denkstils« in den Naturwissenschaften.688 Solche Entwicklungen in der Bakteriologie aufgreifend, trat Hirszfeld mit dem Wunsch an den Springer-Verlag heran, ein Lehrbuch der Bakteriologie für Studenten und Ärzte schreiben zu wollen, weil in den vorhandenen Lehrbüchern seiner Meinung nach die »Bedeutung der Etiologie im orthodoxen Sinne« zu sehr betont werde – er hingegen wollte gemäß seinen Forschungen die »Ergebnisse der Konstitutionsforschung« und die »Variabilität der Organismen« stärker integrieren.689 Hirszfeld versuchte, solches Wissen in eine breitere Öffentlichkeit zu transferieren – zu diesem Zweck übersetzte er sein Wissen in eine Sprache, die von seiner medizinischen Fachsprache abwich. Bei den Treffen der Warschauer Hygiene-Gesellschaft und weiteren öffentlichen Vorträgen sprach er über ansteckende Krankheiten, wollte ihre Infektionswege transparent machen und Prävention befördern. Er wollte aus den »Feinden«, als die Bakterien in der Öffentlichkeit galten, harmlose »Freunde« machen, durch Impfungen und andere präventive Maßnahmen; nur dazu müsse man eben wissen, wie man die »Feinde« aufspüren kann.690 686 Ludwik Hirszfeld, Prolegomena zur Immunitätslehre, in: Klinische Wochenschrift 10 (1931), S. 2153-2159, S. 2153. 687 Ebd., siehe auch Berger, Bakterien, S. 353-354, 688 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 85. 689 Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Historische Sammlungen, Archiv Julius Springer-Verlag B/H/272, Hirszfeld an den Springer-Verlag, 7. 1. 1931. 690 Ludwik Hirszfeld, Nasi niewidzialni wrogowie i przyjaciele, Biblioteka Odczytowa Polskiego Towarzystwa Higienicznego, Warszawa 1937. 278 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Und genau wie Kriege nicht nur durch Generalstäbe zu gewinnen seien, wenn nicht die ganze Nation wisse, was zu tun sei, um ihr Dauerhaftigkeit und Stärke zu verleihen, so verlange auch der Kampf gegen ansteckende Krankheiten, dass sich alle der Notwendigkeit bewusst würden, gegen solche Krankheiten den Weg von Hygiene und Prävention zu beschreiten.691 Er bemühte sich darum, die medizinische und sanitäre Kultur in Polen durch Aufklärung breiter Bevölkerungsschichten zu verbessern.692 Eugenisches Engagement und »gesunde Soldaten«

In diesen Kontext ist das Engagement der Hirszfelds in der Polnischen Eugenischen Gesellschaft einzuordnen. Weil sich sozial konnotierte Krankheiten wie Tuberkulose oder Alkoholismus als weitaus größere Gefahr als die Epidemien der Nachkriegsjahre herausstellten,693 wurde die Eugenik in Polen breit diskutiert. Sie erlangte dort aber, unter anderem wegen des Widerstands von Teilen der katholischen Kirche, nicht den Stellenwert wie in anderen Ländern auf dem europäischen Kontinent – dies wurde von den Eugenikern in Polen wiederholt beklagt, die sich mehr Unterstützung seitens der Politik erhofft hatten.694 Aber insgesamt fand der Diskurs über die Konstruktion eines sozialen, nationalen oder »rassischen« Anderen, das aus dem vermeintlich »sauberen« und gesunden »Volkskörper« ausgeschlossen werden sollte, in der Region ebenfalls seinen Niederschlag. Neben Polen hatten die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien dynamische eugenische Bewegungen. Ludwik Rajchman zum Beispiel aber war kein Eugeniker, und diese Abgrenzung gilt für viele Bakteriologen und Mikrobiologen, wie zum Beispiel auch für Ludwik Fleck. Ludwik und Hanna Hirszfeld hingegen standen der Eugenik nicht ablehnend gegenüber.695 Ihr Engagement teilten sie mit zahlreichen Ärztinnen und Ärzten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Teilen der Inteligencja und des Bürgertums in Polen. Deren Ziel war, wie es zeitgenössisch hieß, die »Verbesserung der Rasse« oder der »Kampf gegen die Degeneration«. Biologische Prozesse, die direkt mit der ökonomischen und politischen Kraft des Staates in Beziehung gesetzt wurden, sollten reguliert werden – 691 692 693 694

Hirszfeld, Wrogowie i przyjaciele, S. 21-22. Ludwik Hirszfeld, W sprawie ostrych chorób, S. 101. Balińska, National Institute of Hygiene, S. 442. Gawin, Rasa i nowoczesność, S. 240-244; John Connelly, From Enemy to Brother: The Revolution in Catholic Teaching on the Jews, 1933-1965, Cambridge 2012, S. 85-93; Linkiewicz, Applied Modern Science, S. 179. 695 Siehe zum Beispiel Hanna Hirszfeld, Z zagadnień dziedziczności i eugeniki, Warszawa 1937. 279 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Körper wurden im eugenischen Denken in Polen wie anderswo auch zu Objekten nicht nur biologischen, sondern auch politischen Wissens gemacht.696 Über solche Gemeinsamkeiten hinaus verband sich die Eugenik in einzelnen Ländern mit teilweise gegensätzlichen politischen und ideologischen Strömungen.697 Während es im deutschen Sprachraum einerseits einen starken eugenischen Flügel in der Sozialdemokratie gab, operierten andererseits viele Eugenikerinnen und Eugeniker mit dem Begriff der »Rassenhygiene«, und es kam zu einer engen Verflechtung der nationalen Rechten mit der eugenischen Bewegung. In Polen hingegen stand die Weltanschauung der Eugenikerinnen und Eugeniker eher einer liberalen Linken nahe; ihnen sind auch die Hirszfelds zuzurechnen. Ihnen ging es um Fragen der Geburtenkontrolle, der sogenannten »bewussten Mutterschaft« und der Sexualerziehung.698 Einer Aufspaltung der Gesellschaft entlang einer ethnischen oder »rassischen« Zugehörigkeit galt nicht das Hauptinteresse der polnischen Eugenikbewegung, in der sich auch viele jüdische Ärzte und Ärztinnen engagierten. Das führte unter anderem dazu, dass die Bewegung seitens der Konservativen kritisiert wurde.699 Die Linie der polnischen Eugenik-Bewegung wird unter anderem in Hanna Hirszfelds Buch über Vererbung und Eugenik deutlich: »Die Verschiedenheit der Rassen ist eine Bedingung für den geistigen Reichtum einer jeden Nation. Die heutigen Nationen sind das Ergebnis von Wanderungen und Kreuzungen der verschiedensten Rassen über viele Jahrhunderte hinweg. Ehemalige Feinde sind heute oftmals gute Söhne ein- und desselben Vaterlandes. […] Ein guter nationaler Instinkt sollte danach streben, das bestehende Menschenmaterial im Namen gemeinsamer staatlicher und nationaler Ziele in Staatsbürger eines Vaterlandes zu verschmelzen, trotz anthropologischer oder ethnischer Unterschiede. Jede anthropologische Rasse und jeder konstitutionelle Typus, aus denen sich eine Nation zusammensetzt, sollen ihre eigenen psychischen Eigenschaften einbringen; die Bedürfnisse der 696 Siehe Herbert Gottwein u. a. (Hg.), Verwaltete Körper, Strategien der Gesundheitspolitik im internationalen Vergleich, Wien, Köln, Weimar 2004, S. 47. 697 Dazu Turda, Modernism and Eugenics, S. 118-121. 698 Siehe Gawin, Rasa i nowoczesność, S. 210-240, siehe auch Katrin Steffen, Für »bewußte Mutterschaft« und eine »physische Erneuerung der Judenheit« – die jüdische Frauenzeitschrift »Ewa« (1928-1933) in Warschau, in: Eleonore Lappin, Michael Nagel (Hg.), Frauen und Frauenbilder in der europäischen jüdischen Presse, Bremen 2007, S. 103-122. 699 Ein Beispiel ist die antisemitisch-rassistische Kritik der Polnischen Eugenischen Gesellschaft durch Walerian Baranowski, einen katholischen Geistlichen, Wielka tajemnica psychiki Narodu Polskiego, Poznań 1936. 280 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Epoche vermögen es dann, diejenigen herauszufiltern, die für den Staat und die Nation unentbehrlich sind.«700 Die »Verschiedenheit der Rassen« war also auch für Hanna Hirszfeld eine Determinante; sie strebte aber nicht danach, diese »Rassen« zu segregieren. Ihre Argumente unterschieden sich von denjenigen Eugenikern in Polen, die offen rassistisch und antisemitisch argumentierten und die Entwicklungen im benachbarten Deutschland mit Bewunderung verfolgten – der erwähnte Karol Stojanowski, der eine massive Verringerung der Anzahl der jüdischen Bevölkerung in Polen forderte und dabei auch von ihrem »Aussterben« phantasierte, ist ein Beispiel dafür.701 Andere Eugeniker wie der erste Gesundheitsminister Tomasz Janiszewski wollten »mutig den Weg der Rassenhygiene beschreiten und eine vorausschauende und ökonomische Bevölkerungspolitik betreiben, sowohl hinsichtlich der Qualität als auch der Quantität«.702 Für dieses Ziel wollte er die Anzahl der »Vagabunden«, der »Nutzlosen« und »Delinquenten« verringern – niemand sollte das Land in seiner Entwicklung aufhalten.703 Auch Janiszewski stellte eine extreme Position innerhalb des polnischen Diskurses über die Gesundheit dar.704 Das im Prinzip zugrunde liegende Denken aber, dass die Menschen im neuen Nationalstaat »verbessert« und ein »neuer Mensch« geschaffen werden müsse, wurde von weitaus mehr Expertinnen und Experten in dieser Arena geteilt. Und so verwundert es nicht, dass die Hirszfelds der eugenischen Bewegung in Polen positiv gegenüberstanden. Sie engagierten sich in der Polnischen Eugenischen Gesellschaft, deren wissenschaftliche Sektion Ludwik Hirszfeld seit 1930 leitete. Diese Sektion war 1928 von Jan Mydlarski und Gustaw Szulc ins Leben gerufen worden, um grundlegende Fragen der Bevölkerung, der Anthropologie und der Biologie wissenschaftlich zu erforschen bzw. Forschungen dazu anzuregen und zu popularisieren.705 Zu diesem Zweck saß Hirszfeld bei einem Wettbewerb für wissenschaftliche Arbeiten aus dem Feld der Eugenik in der Jury, er popularisierte seine Forschungsergebnisse in Vorträgen im Rahmen der Eugenischen Gesellschaft und gehörte der Redaktion der Zeitschrift der Gesellschaft Zagadnienia Rasy (Rassefragen) an.706 Zeitweilig konzent700 701 702 703

Hanna Hirszfeld, Z zagadnień dziedziczności, S. 76. Stojanowski, Rasowe podstawe, S. 68-69. Nach Gawin, Rasa i nowoczesność, S. 105. Tomasz Janiszewski, Wojna obronna ze stanowiska eugeniki, Warszawa 1932, S. 3; Ders., O wymogach zdrowotnych, S. 64-65. 704 Bielawski, Higieniści, S. 326. 705 Zagadnienia Rasy 4 (1928), S. 59-60. 706 Zagadnienia Rasy 11-12 (1927), ebd. 12 (1930), S. 395. 281 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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rierte sich die Redaktionsarbeit in den Händen von Hirszfeld.707 Das allmählich zu einem Massenmedium werdende Radio verstand die Gesellschaft für sich zu nutzen und organisierte mehrere Radiovorträge – einen davon hielt Hirszfeld zur »Vaterschaftsbestimmung auf dem Weg der Blutuntersuchung«.708 In den Jahren 1930 und 1931 organisierte die wissenschaftliche Sektion eine Vortragsreihe, bei der unter anderem der erwähnte Karol Stojanowski mit einem Vortrag zum Thema »Die Frage der Rasse und der Staatlichkeit« auftrat, während Jan Mydlarski über die »Frage der Rasse und die psychischen Typen« referieren durfte.709 Da diese Vorträge von der »Wissenschaftlichen Sektion« organisiert wurden, bestätigte man der Kategorie »Rasse« auf diese Weise den Status einer wissenschaftlichen Kategorie, die es nicht zu hinterfragen galt. Hirszfeld setzte sich darüber hinaus für die Errichtung eines staatlich finanzierten Eugenik-Institutes ein und repräsentierte Polen auf Kongressen eugenischer Gesellschaften.710 Gemeinsam mit der Schule für Hygiene organisierte er Kurse in Eugenik für Ärzte, die sich für Themen wie Bevölkerungspolitik, die Vererbbarkeit von psychischen Krankheiten, der Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten und vieles mehr interessierten.711 Hirszfeld unterrichtete auch selbst, vor allem zu Fragen der Vererbung von Blutgruppen und, der Einheit von Forschung und Lehre entsprechend, von Krankheiten bzw. der Widerstandsfähigkeit des Organismus.712 Wie viele andere Gesundheitsexperten seiner Zeit verstand er sein Engagement als einen Kampf für das gesunde Dasein der Nation.713 Er war überzeugt, dass ansteckende Krankheiten Polens Stärke untergraben würden.714 Sein Engagement hatte aber ähnlich wie bei der Radikalisierung der Blutgruppenforschung im deutschen Sprachraum Grenzen: Als 1936 in Polen ein stark an deutsche Vorhaben angelehnter Gesetzesentwurf diskutiert wurde, der die Sterilisierung von Menschen mit schweren Erbkrankheiten (wozu auch Alkoholismus gezählt wurde) vorsah, kritisierte Hirszfeld dieses Vorhaben aus medizinischer Sicht, sei doch die Erblich707 708 709 710 711 712 713 714

Ebd. 1 (1931), S. 136. Ebd. 2 (1931), S. 115. Ebd. 1 (1932), S. 123 Siehe Michał Musielak, Sterylizacja ludzi ze względów eugenicznych w Stanach Zjednoczonych, Niemczech i w Polsce (1899-1945). Wybrane problemy, Poznań 2008, S. 227. AAN MOS 549 und 550. Siehe Zagadnienia Rasy, 1-2 (1936), S. 261. Hirszfeld, Obsługa bakteriologiczna i epidemiologiczna Państwa, S. 17; Ders., Wrogowie i przyjaciele. Hirszfeld, W sprawie ostrych chorób, S. 101.

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keit vieler Krankheiten noch nicht hinreichend erwiesen.715 Und im Jahr 1931 hatte Hirszfeld auf dem Allgemeinen Kongress der Polnischen Eugenischen Gesellschaft, in dessen Präsidium er saß, einen Vortrag über »Die wissenschaftlichen Grundlagen der Eugenik« gehalten, in der er eben diese anzweifelte. Er beschrieb die Eugenik als auf den Gesetzen der Vererbung beruhend, aber da sie dazu tendiere, den biologisch Überlegenen zu präferieren, würde sie eine sehr starke soziale Komponente einbringen. Hirszfeld nannte die Eugenik sodann eine Wissenschaft, die die soziale Qualität eines Individuums beurteile, und genau aus diesem Grund sprach er ihr letztlich ab, ein Teil der Wissenschaften zu sein.716 Der Unterschied zwischen seinem Standpunkt und der Rassenhygiene, wie sie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in Deutschland zum Zuge kam, lag unter anderem in der Wahl der Mittel, das Ziel der »Verbesserung« der Menschen zu erreichen. Anders als in Deutschland schaffte es weder die »Reinheit des Blutes« noch die »Rasse«, in Polen zu einer führenden Kategorie im eugenischen Diskurs zu werden, obwohl das Nachdenken über »Rassen« sehr präsent war. Eine besondere Aufmerksamkeit in diesem Diskurs genoss in Polen gemäß dem erwähnten Stellenwert der Armee der »gesunde Soldat«. Viele Militärärzte wie Mieszysław Naramowski aus Lublin waren davon überzeugt, dass sich die Landesverteidigung vor allem auf die Bevölkerung stützen müsse. Um der Bedrohung seitens der Sowjetunion und Deutschlands gewachsen zu sein, wollte er vor allem die ethnische polnische Bevölkerung stärken – sie brachte seiner Meinung nach »wertvolle Menschen« hervor.717 Obwohl Naramowski überzeugt davon war, dass Polen dringend eugenische Gesetze benötigte, um »negative Elemente« aus dem Volkskörper zu eliminieren, so warnten doch Militärexperten wie er immer wieder davor, die Geburtenrate der ethnisch polnischen Bevölkerung durch solche Maßnahmen zu senken. Gleichzeitig beklagte er, und damit stand er nicht allein, acht Millionen Menschen an agrarischer Überbevölkerung – eine Zahl, die häufig mit der jüdischen Bevölkerung assoziiert wurde.718 Auf jeden Fall plädierte Naramowski dafür, dass Ärzte im Militär alles über die Eugenik wissen sollten, weil schließlich sie es seien, die mit den physisch und mental vitalsten Menschen

715 Gawin, Rasa i nowoczesność, S. 255. 716 Ludwik Hirszfeld, Naukowe podstawy eugeniki, in: Zagadnienia Rasy 2 (1931), S. 109-110. 717 Mieczysław Naramowski, Eugenika i obronność kraju, in: Lekarz wojskowy 27/7 (1936), S. 401-413. 718 Steffen, Jüdische Polonität, S. 267-270. 283 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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arbeiten müssten.719 Auch er war ganz und gar nicht frei von antisemitischen Argumenten, was insofern nicht verwundert, weil Antisemitismus längst wie in Deutschland zu einem »kulturellen Code« (Shulamit Volkov) geworden war.720 Ähnlich wie Naramowski argumentierte der Direktor des Hygiene-Instituts, Szulc, der sich zwar für eugenische Gesetze einsetzte, aber ebenfalls davor warnte, die Stärke der Nation durch eugenische Maßnahmen, die die Geburtenstärke reduzieren würden, zu untergraben. Für den Fall befürchtete er fatale Auswirkungen auf die militärische Stärke des Landes.721 Nicht nur Politiker, auch Gesundheitsexperten werteten den Militärdienst als eine »Schule des Lebens« auf, weil der Dienst in der Armee »physische Vitalität erzeugt, abhärtet und systematisches Denken, Ordnung, Pünktlichkeit, Gehorsamkeit und Unerbittlichkeit lehrt«.722 Hirszfeld und viele andere unterrichteten am Hygiene-Institut mehrfach für Soldaten und weitere Militärangehörige. Der Sanitätschef der Armee, General Rouppert, hatte sich zum Beispiel an das Institut gewandt, Schulungskurse für Bakteriologen in der Armee durchzuführen – dies übernahm Hirszfeld sehr gerne, weil er hier »Mitstreiter für die wissenschaftliche und die gesellschaftliche Arbeit« finden konnte.723 In Gesundheitsfragen bestand eine enge Beziehung zwischen zivilen Institutionen wie dem Hygiene-Institut und dem Militär – dies war keine polnische Besonderheit, fand doch in fast allen Nationalstaaten im »bakteriologischen Zeitalter« bis zum Ersten Weltkrieg ein kontinuierlicher Austausch zwischen ziviler und militärischer Medizin statt.724 In einem Artikel unter dem Titel »Die Mobilisierung der Medizin für die Landesverteidigung« zeigte sich der bekannte Venerologe und Dermatologe Franciszek Walter überzeugt: »[J]eder Schritt, den wir unternehmen, dieses Land in die Zukunft zu leiten, muss fest mit dem Gedanken an die Verteidigung des Landes und des Staates verbunden sein.« Um dieses Ziel zu erreichen, so Walter weiter, brauche der Staat die gesündeste Bevölkerung.725 719 Naramowski, Eugenika. 720 Steffen, Jüdische Polonität, S. 306. 721 Gustaw Szulc, Lekarz wojskowy jako eugenista, in: Lekarz wojskowy 27/4 (1936), S. 193-199, S. 198. 722 Janiszewski, Wojna obronna, S. 8. 723 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 90. 724 Stephanie Neuner, Medizin und Militär in der Moderne in Deutschland, 18141918. Eine Einführung, in: Lerner, Peto, Schmitz, Krieg und Medizin, S. 31-43, S. 39. 725 Franciszek Walter, Mobilizacja medycny dla obrony państwa, in: Nauka a obrony państwa, Kraków 1937, S. 107-127, S. 107. 284 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Die Sorge um die Körperkultur der ganzen Gesellschaft wurde daher zu einem wichtigen Element der Verteidigungspolitik des Landes, zudem spielte die Armee eine bedeutende Rolle bei der Popularisierung einer Fitnesskultur in Polen.726 Aus diesem Grund erging im Februar 1926 ein Beschluss des Ministerrates, »in der tiefen Überzeugung, dass über die Zukunft der Republik die Gesamtheit der physisch und moralisch gesunden Bevölkerung entscheiden wird; in der Überzeugung, dass die Hebung der physischen Entwicklung und der moralischen Vitalität eine unerlässliche Bedingung für eine gesunde Gesellschaft bildet«, werde die Regierung ein Gesetz auf den Weg bringen, die physische Erziehung der Jugend beider Geschlechter, als organischer Teil der öffentlichen Erziehung, zur Pflicht zu machen.727 Zwar wurde das Gesetz wegen des im Mai 1926 erfolgten Putsches nicht verabschiedet, das Ziel aber blieb. Zu diesem Zweck legte die Regierung das Programm Naród pod bronią (Eine Nation unter Waffen) auf, das weite Teile der Gesellschaft einer physischen und paramilitärischen Ausbildung unterziehen sollte. Von einer Verbesserung des physischen Zustands der Bevölkerung versprach man sich ein positives Verhältnis zum Staat, denn, so hieß es in einer Denkschrift zu diesem Programm: »Es ist einfacher, denjenigen Menschen Patriotismus einzuschärfen, die den Vorteil sehen, die ihnen der Staat bringt, als den armen Schluckern, die sich nur daran erinnern, dass es unter dem ›Russen‹ oder dem ›Österreicher‹ besser war.«728 In den 1930er Jahren intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen Hygiene-Institut und Militär, nachdem Gustaw Szulc, der den militärischen Rang eines Obersten bekleidete, die Position des Direktors des Hygiene-Instituts übernommen hatte. Das Motiv, gerade ihn als Direktor einzusetzen, entsprach dem Wunsch der Regierung, das Institut stärker für militärische Zwecke nutzen zu können.729 Dies geschah in einer Zeit, als in den 1930er Jahren ein zunehmender Verfall der politischen Kultur zu beobachten war, die Parteienkämpfe an Schärfe zunahmen und sich das parlamentarische System auflöste. Ludwik Rajchman verlor im Jahr 1932 seine Position als Direktor des Hygiene-Instituts, und Ludwik Hirszfeld bekam als sein de-facto-Stellvertreter diesen Posten nicht 726 Kęsik, Naród pod bronią. S. 155; siehe auch Ders., Wojsko Polskie wobec tężyzny fizycznej społeczeństwa 1918-1939, Warszawa 1996, S. 81. Über eine ähnliche Herangehensweise im benachbarten Russland siehe Tricia Sparks, The Body Soviet. Propaganda, Hygiene and the Revolutionary State, Madison 2008. 727 Abgedruckt in Piotr Rozwadowski, Państwowy Urząd Wychowania Fizycznego i Przysposobienia Wojskowego 1927-1939, Warszawa 2000, S. 51. 728 Vgl. Kęsik, Naród pod bronią, S. 30. 729 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 96. 285 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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zugesprochen, sondern eben Szulc. Zusätzlich verlor der international hoch anerkannte Witold Chodźko seine Position als polnischer Repräsentant bei der Gesundheitskommission des Völkerbundes.730 Nicht nur die starke internationale Verankerung dieser Experten war zu dieser Zeit zu einem Problem geworden, auch die jüdische Herkunft von Rajchman und Hirszfeld spielte eine Rolle.731 Der erwähnte Repräsentant der Rockefeller-Stiftung, Selskar M. Gunn, hatte bereits 1921 festgestellt, dass Rajchman trotz eines »enormen Vorurteils gegen ihn auf der Grundlage, dass er Jude ist«, an seinem großen Engagement für das Gesundheitswesen in Polen festhalte.732 Hier entpuppte sich Expertise einmal mehr nicht nur als eine sachliche oder wissenschaftliche Frage, sondern als eine hoch politische, einschließlich all ihrer symbolischen Dimensionen und Repräsentationen. Dies gilt in diesem Fall sowohl für einen Primat des Militärischen, dem Hirszfeld zu jener Zeit nicht entsprach, als auch für das »Nationale« bzw. »Nationalistische«, das immer mehr an Bedeutung auf Kosten des »Internationalen« gewann, und das »Jüdische«, das in Polen wie in anderen Ländern der Region seit 1918 in wachsender Intensität unerwünscht war. Die dynamische Beziehung zwischen nationalen Anforderungen und internationaler Verankerung, die in den Anfängen des polnischen Staates zu einer produktiven Aufwertung des Hygiene-Instituts und der Warschauer Gesundheitspolitik geführt hatte, begann zu erodieren. Blutgruppen im Gerichtssaal und Bluttransfusionen

Hirszfelds Bemühungen um eine Verbindung von Wissenschaft und Praxis legte er 1934 in einem Buch unter dem Titel »Die Blutgruppen in ihrer Anwendung für Biologie, Medizin und Recht« dar.733 Es wurde vom British Medical Journal als unparteiischer und »genauer und gut geschriebener Führer« durch die komplexe Welt der Blutgruppen beurteilt.734 In diesem Band ging Hirszfeld besonders auf die Verlängerung der Blutgruppenforschung in die forensische Praxis ein – das Buch war explizit auch für forensische Praktiker gedacht. Bereits 1910 hatten Hirszfeld und von Dungern auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht, rezipiert wurden diese Ergebnisse aber erst gut zehn Jahre später. Blutgruppenuntersuchungen kamen vor allem bei Vaterschaftsklagen seit der 730 731 732 733

Balińska, National Institute of Hygiene, S. 438. Siehe auch Weindling, Public health, S. 263. RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 1, Selskar M. Gunn an Wicleff Rose, 8. 7. 1921. Ludwik Hirszfeld, Grupy krwi w zastosowaniu do biologji, medycyny i prawa, Warszawa 1934. 734 The British Medical Journal 1 (1939), S. 390.

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Mitte der 1920er Jahre zur Anwendung – bis 1929 wurden in Deutschland etwa 5000 solcher Fälle untersucht. Auch in Österreich, Schweden und Dänemark wurden seit den späten 1920er und 1930er Jahren Blutgruppentests für Vaterschaftsfragen (und selten auch solcher der Mutter) angewendet.735 In Polen war diese Entwicklung nicht ganz so dynamisch: Ludwik Hirszfeld erinnerte sich, dass Hunderte von Fällen durch seine Hände gegangen seien und er zahlreiche Vorträge vor juristischem und medizinischem Publikum gehalten habe, vor Gericht habe er aber letztlich nur 36 Fälle verhandelt.736 Aber auch in diesem Feld gilt: Hirszfeld war bemüht, seine Erkenntnisse zu popularisieren. Als Vorsitzender der Wissenschaftlichen Sektion der Eugenischen Gesellschaft in Polen fasste er sie für deren Zeitschrift populärwissenschaftlich zusammen und verbreitete sie im Radio.737 Er war davon überzeugt, dass die Wissenschaft dazu beitragen könne, viele Konflikte und Tragödien in Beziehungen abzumildern, indem sie Kinder ihrem rechtmäßigen Vater zuführe.738 Die Verwendung von Vaterschaftsgutachten in Deutschland nach 1933 beobachtete Hirszfeld dann sehr kritisch. Im Nationalsozialismus veränderte sich ihre Bedeutung fundamental, weil nun die Zugehörigkeit des Kindes zum deutschen Volk getestet wurde, der Vaterschaftsnachweis also in eine Feststellung der »Rasse« transformiert und instrumentalisiert wurde.739 Neben dem negativen Vaterschaftstest durch Blutgruppenvergleich wurde ein »positiver Vaterschaftsnachweis« eingesetzt. Dazu führten die Anthropologen eine »morphologische Ähnlichkeitsanalyse« zwischen den Merkmalen von Kind, Mutter und mutmaßlichem Vater durch, bei welcher elf körperliche Merkmalsgruppen und über 100 Einzelmerkmale verglichen wurden (z. B. Muster der Papillarlinien der Fingerbeeren, Haarfarbe, Farbe der Regenbogenhaut, Form und Maße der Hirnkapsel und des Gesamtgesichtes, Merkmale der Augengegend, der Nase, des Mundes, der Ohrmuschel etc.). Dieses Verfahren kam ab 1938 für »Abstammungsgutachten« im Rahmen der Durchführung der Nürnberger Rassengesetze zum Einsatz.740 Hirszfeld konstatierte, seine Untersuchungen hätten ihm »tiefen Kummer« bereitet, denn man setze sie in Deutschland für »rassistische Zwecke« ein.741 Und er fügte hinzu: »Das 735 Schneider, Chance and Social Setting, S. 553. 736 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 92 und 113. 737 Siehe Ludwik Hirszfeld, O dochodzeniu ojcostwa drogą badań biologycznych, in: Zagadnienia Rasy 2 (1931), S. 3-13. 738 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 113. 739 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 320. 740 Wolf, Eugenische Vernunft, S. 49. 741 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 24. 287 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ist nur einer von unzähligen Fällen, in denen wissenschaftliche Erkenntnisse für schändliche Zwecke verwendet werden.«742 Vor dem Hintergrund, dass seine Forschungen für rassistische Zwecke eingesetzt wurden, plädierte Hirszfeld hier für eine Trennung von Forschung und Anwendung, die er ansonsten so vehement befürwortete – die politische Instrumentalisierung aber verletzte seine epistemischen Ideale erheblich. Solche Inanspruchnahmen führten immer wieder dazu, dass die Forschungsbeiträge der Blutgruppenforscher jüdischer Herkunft rassistische und antisemitische Folgen hatten, die von ihnen selbst nicht beabsichtigt waren.743 Zur Anwendung kam die Blutgruppenforschung auch bei Hirszfelds in der damaligen Öffentlichkeit wohl bekanntestem Auftritt, der die Blutgruppen zu einem wichtigen nicht-menschlichen Akteur in einem Mordprozess machte. Hirszfeld trat damals als Gutachter in einem der berühmtesten Strafprozesse der Zwischenkriegszeit auf – der Prozess gegen Rita Gorgonowa, der bis heute geheimnisumwoben und Gegenstand von Reportagen und Diskussionen ist.744 Rita Gorgonowa war angeklagt worden, im Dezember 1931 die Tochter ihres Geliebten, des bekannten Architekten Henryk Zaremba, dem sie in einer kleinen Stadt im östlichen Polen den Haushalt führte, brutal ermordet zu haben. Die Öffentlichkeit nahm großen Anteil an diesem Prozess, der auch deswegen die Gemüter erhitzte, weil man einer Frau eine solche Tat nicht zutraute. Gorgonowa wurde dennoch in der Öffentlichkeit rasch vorverurteilt, alle Zeitungen berichteten ausführlich. Sie galt als Mörderin, als Ehebrecherin, als Sinnbild für jeglichen Verfall der Sitten, weil sie mit Zaremba ohne Trauschein zusammenlebte und ein Kind von ihm erwartete, während dessen Ehefrau psychisch erkrankt war. Die Menge bei dem Prozess in Lemberg war so aufgebracht, dass Gorgonowa fast einem Lynchmord zum Opfer gefallen wäre. Zwingende Beweise gegen sie gab es allerdings nicht und Gorgonowa bestritt, die Tat begangen zu haben. Das Gericht verurteilte sie ausschließlich auf der Grundlage von Indizien. An dieser Stelle traten die Blutgruppen und Ludwik Hirszfeld auf. Man hatte die Blutgruppe des toten Mädchens in vermeintlich verräterischen Flecken auf dem Pelz von Gorgonowa und einem ihrer Taschentücher gefunden. Hirszfeld aber zweifelte vor Gericht die Aussagekraft dieses Indizes am, weil die Menge an Blutproben viel zu gering gewesen 742 Ebd. 743 Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 197. 744 Siehe Cezary Łazarewicz, Koronkowa robota. Sprawa Gorgonowej, Wołowiec 2018; Proces Gorgonowej raz jeszcze, in: Rzeczpospolita, 5. 4. 2014. 288 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sei.745 Er machte geltend, dass Blutgruppenmerkmale auch in Materialien nachweisbar seien, die in engen Kontakt zu einem Menschen gekommen seien – dies hatte Hirszfeld am Institut für Hygiene soeben erforscht.746 Das inkriminierte Taschentuch war, so Hirszfeld, übersät von solchen Merkmalen, daher sei das dazugehörige Gutachten wertlos. Zudem konnten die Blutgruppen am Ort des Verbrechens nicht eindeutig bestimmt werden. Hirszfeld widerlegte mit seiner Aussage den Sachverständigen Jan Stanisław Olbrycht, Professor für Medizin an der Jagiellonen-Universität, der als Spezialist für forensische Medizin galt. Es kam zu einem engagierten Schlagabtausch beider Experten – die Kompetenz von Hirszfeld wurde im Nachgang vor allem von den zahlreichen Frauenrechtlerinnen, die Rita Gorgonowa unterstützten, einmütig gelobt.747 Ihre Verurteilung aufhalten konnte Hirszfeld zwar nicht, aber seinen Bekanntheitsgrad steigerte er durch diesen Prozess enorm. Er verglich ihn mit der »Popularität einer Operndiva«.748 Die Blutgruppen erfuhren durch den Prozess ebenfalls eine erhebliche Popularitätssteigerung, und möglicherweise half die frisch gewonnene Popularität auch, ein weiteres Projekt, nämlich die Organisation von Bluttransfusionen, zu stützen. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, in dem Blutspenden in hoher Anzahl nötig geworden waren, erlebte das Bluttransfusionswesen eine Blüte. Die Techniken, die während des Kriegs entwickelt worden waren, zirkulierten global, und man war bemüht, potentielle Spender zu identifizieren und zu organisieren.749 Hirszfeld, der sich mit dem Bluttransfusionswesen während des Ersten Weltkriegs vertraut gemacht hatte, indem er Bluttransfusionen in die serbische Armee einführte, strebte nun in Polen eine Organisation des Spenderwesens sowie eine rechtliche 745 In einem später veröffentlichten Aufsatz merkte Hirszfeld an, dass man in 90 Prozent aller untersuchten Blutflecken keine Ergebnisse erwarten dürfe, die der Strafverfolgung dienen könnten, weil man aufgrund der komplexen Zusammensetzung des Blutes immer nur Näherungswerte fände. Gleichwohl prophezeite er den Blutgruppen eine große Zukunft in der Kriminalistik, sobald sich die Untersuchungsmethoden verbessert hätten. Siehe Ludwik Hirszfeld, O wykorzystanie grup krwi dla badań kryminologicznych, in: Czasopismo Sądowo-Lekarskiego 2 (1936), S. 1-5. 746 RA RG 6.1, 1.1., Box 31, Folder 378, Report made on the work made during the year 1932 from the subvention granted to the State Institute of Hygiene, Juli 1932. 747 Irena Krzywicka, Sąd idzie, Warszawa 1998, S. 126-127. Dieses Buch stellt eine Neuauflage von fünf Reportagen dar, die Irena Krzywicka zeitgenössisch als Prozessbeobachterin für die führende literarische Wochenschrift Polens, die Wiadomości Literackie (Literarische Nachrichten), verfasst hat. 748 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 93. 749 William H. Schneider, Blood Transfusion Between the Wars, in: Journal for the History of Medicine of Allied Science 58/2 (2003), S. 187-224, S. 188. 289 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Regelung dieser Frage an. Er wandte sich an Studierende in einem serologischen Kurs und regte an, Blutspendestellen einzurichten, die teils gegen Entgelt, teils umsonst funktionieren sollten. Zusätzlich hielt er in den 1930er Jahren eine Reihe von Vorträgen vor Warschauer Ärztinnen und Ärzten über Blutgruppen und Transfusionen. Im Anschluss fanden sich Blutspenderinnen und Blutspender, die unter Aufsicht der Warschauer Klinik für Geschlechtskrankheiten, einer Hautklinik und des PZH standen, später übernahm das Rote Kreuz die Organisation.750 Das Projekt einer rechtlichen Regulierung brachte Hirszfeld in den Nationalen Obersten Gesundheitsrat ein, auf dessen Sitzung er am 30. Mai 1932 seine Vorstellungen dazu vortrug. Die dort anwesenden Referenten des Innenministeriums, in dem zu jener Zeit das Gesundheitswesen angesiedelt war, standen seinem Projekt wohlwollend gegenüber.751 Anders als in Deutschland, wo Bluttransfusionen als gefährlich wahrgenommen wurden, weil man Kontaminationen und Verunreinigungen durch reale »Blutmischung« befürchtete, und sich das Transfusionswesen aufgrund des komplexen Bemühens um die »Reinheit des Blutes« viel langsamer entwickelt hatte als etwa in den USA , konnte Hirszfeld seinem Projekt relativ ungehindert nachgehen, gleichwohl mangelte es ihm an breiter Unterstützung.752 Dennoch sorgte er in Zusammenarbeit mit anderen Medizinern, darunter Militärärzten, denen diese Frage besonders am Herzen lag, und gemeinsam mit der Warschauer Chirurgischen Gesellschaft dafür, dass Polen die Frage von Blutspendern als erstes Land in Europa rechtlich regelte und zum Beispiel den Verkauf von Blut aus Profitgründen verbot. 1933 hatten sie diese Vorschriften ausgearbeitet, die dann 1934 in Hirszfelds erwähntem Buch »Die Blutgruppen« mit seiner starken Praxisorientierung veröffentlicht wurden. Im August 1937 folgte die Veröffentlichung als Gesetz.753 Es regulierte vor allem den Zugang zum Blutspendewesen, die Registrierung und die gesundheitliche Kontrolle der Blutspender. Allerdings beklagte Hirszfeld, dass nicht gleichzeitig eine Organisation geschaffen worden sei, die sowohl in Friedens- als auch Kriegszeiten allen Bevölkerungsschichten Blutspenden garantieren könne, während in anderen Ländern solche Zentren längst 750 Renata Paliga, Krwialecznictwo i krwiodawstwo w medycynie polskiej IXI i II wieku (1830-1951). Od powstania listopadowego do utworżenia Instytutu Hematologii, Zielona Góra 2014, S. 165. 751 AAN MSW 746, Protokół Plenarnege Posiedzenia Państwowej Naczelny Rady Zdrowia przy Ministrze Spraw Wewnętrznych, 20. 5. 1932. 752 Siehe zum deutschen Transfusionswesen Spörri, Reines und gemischtes Blut, S. 251 ff. 753 Ebd., S. 160 und 243. 290 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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existierten. In Polen hingegen gab es bis dahin neun Zentren, die mit bezahlten Blutspenden arbeiteten, so dass die ärmere Bevölkerung kaum Zugang hatte. Er schlug deswegen vor, in allen Krankenhäusern Blutspendestellen zu organisieren, während die Bestimmung der Blutgruppen in den Händen des PZH verbleiben sollte. So wollte er ein Netz von Blutspendezentren schaffen – ein Feld, das Hirszfeld erneut mit der Verteidigungsfähigkeit des Landes verband, denn, so Hirszfeld, ein solches Netz sei im Falle eines Krieges von großer Bedeutung.754 In der Frage der Blutspenden und Bluttransfusionen konnte sich Hirszfeld erneut innerhalb seiner Netzwerke austauschen: Denn in New York war es Hirszfelds Heidelberger Kollege und Freund Artur Coca, der eine große Blutspendeorganisation ins Leben gerufen hatte, die seinerzeit erst die zweite weltweit war. New York war die erste Stadt, die Blutspendezentren regulierte und sie der Gesundheitsverwaltung untergeordnet hatte.755 Hirszfeld hatte Coca in den Jahren 1927 und 1928 nach Warschau eingeladen, wo dieser mehrere Vorträge hielt und in Zusammenarbeit mit dem Robert-Koch-Institut und der Warschauer Hygiene-Schule als Berater bei der Einrichtung von Allergiekliniken fungierte.756 4.3.4 Jan Czochralskis Wissensräume: Die Entwicklung der Verwissenschaftlichung der Technik und die Technische Hochschule Warschau

Nachdem sich Jan Czochralski 1928 entschieden hatte, nach Warschau überzusiedeln, um dort sein Wissen forschend zu erweitern und zur Anwendung zu bringen, versuchte er sich wie Ludwik Hirszfeld rasch an die dortigen Gegebenheiten anzupassen und sich bald mit seiner Expertise öffentlich bekannt zu machen und zu verankern. Kurz nach seinem Umzug formulierte er in einem Vortrag im März 1929 auf dem Kongress der polnischen Ingenieure und anschließend in der populären technischen Zeitschrift Przegląd Techniczny (Technische Rundschau), darin den erwähnten Gedanken von Stefan Bryła nicht unähnlich, den Wunsch nach einer von »Schöpferreichtum durchtränkten Atmosphäre, aus der ein funkelndes Gebäude der heimischen Industrie und einer großen, von der

754 Hirszfeld, Obsługa bakteriologiczna i epidemiologiczna Państwa, S. 15-16. 755 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 400. 756 Paliga, Krwialecznictwo, S. 172; RA RG 1. 1. 789, Box 1, Folder 3, Excerpt from Dr. Pearce’s diary, 30. 12. 1927. 291 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ganzen Welt anerkannten, polnischen Technik« erwachse.757 Einige Jahre später unterstrich er in einer Broschüre, die sich aus Anlass eines geplanten Industrie- und Technikmuseums mit entsprechenden Beispielen im Ausland beschäftigte: »Die größte nationale Anstrengung sollte in die Richtung gehen, das nationale Dasein zu sichern, und diese Sicherung verschafft uns vor allem eine starke und selbständige Technik.«758 Während sich Czochralski etwas über zehn Jahre zuvor in seiner patriotischen Gründungsrede für die Deutsche Gesellschaft für Metallkunde für die Stärkung der deutschen Nation ausgesprochen hatte, konnte man ihn jetzt für einen guten polnischen Patrioten halten. Er sah seine Mission darin, zum Fortschritt dort beizutragen, wo er gerade lebte und arbeitete. Ähnlich wie Ludwik Hirszfeld entwickelte Czochralski vielfältige Aktivitäten in Warschau: An seinem Lehrstuhl an der Technischen Hochschule setzte er seine Forschungen zu verschiedenen Metalllegierungen fort, auch gemeinsam mit ehemaligen Mitarbeitern aus Deutschland wie Georg Welter, der das Frankfurter Labor der Metallgesellschaft im Jahr 1930 ebenfalls verlassen hatte.759 Wie Hirszfeld gründete Czochralski eine Zeitschrift, die Wiadomości Instytutu Metalurgii i Metaloznawsta (Nachrichten des Instituts für Metallurgie und Metallkunde), die seit 1934 erschien; er unterrichtete, trat einer Reihe von Fachverbänden bei und war an Normierungs- und Standardisierungsprozessen beteiligt. Seine Beratertätigkeit für die Metallgesellschaft und die Firma Schaefer & Schael setzte er fort, gleichzeitig schloss er neue Verträge in Polen. Er hielt zahlreiche Vorträge sowohl auf wissenschaftlichen Kongressen und in populärwissenschaftlichen Zusammenhängen und engagierte sich, wie erwähnt, für die Errichtung eines Museums für Industrie und Technik in Warschau. Darüber hinaus bewegte er sich sehr intensiv im gesellschaftlichen Leben Warschaus – er unterhielt einen Salon, trat als Kunstmäzen in Erscheinung und verfasste selbst Gedichte und Prosa.760 Beruflich fand er dort eine Situation vor, die sich von denjenigen Konstellationen und Strukturen, die er in seiner Arena der Verwissenschaftlichung der Technik im Deutschen Reich vorgefunden hatte, grundsätzlich unterschied. Mit dem, was in dieser Arena inhaltlich gefordert war – die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Industrie und Militär, das 757 Jan Czochralski, Drogi i metody postępu technicznego, in: Przegląd Techniczny 42 (1929), S. 947-949, S. 949. 758 Siehe Kazimierz Jackowski, Muzea Przemysłu i Techniki Zagranica i w Polsce, z przedmową Z. Slonimskiego i J. Czochralskiego, Warszawa 1932, S. IX . 759 Darüber hinaus wurde Welter, der aus Luxemburg kam, Konsul dieses Landes in Warschau. 760 Zum Beispiel Maja. Powieść miłosna, Wrocław 2012. 292 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Streben nach Autarkie, die Suche nach Ersatzstoffen –, war Czochralski bestens vertraut, er musste dies nun aber in andere Kontexte übersetzen. Im geteilten Polen hatte die Verwissenschaftlichung von Technik nicht in dem Maße stattfinden können wie im Deutschen Reich, und die Grundlagen für eine solche Entwicklung mussten fast gänzlich neu aufgebaut werden – mit Czochralskis vorherigen Arbeitsstätten Vergleichbares wie die Forschungslaboratorien der AEG oder der Metallgesellschaft waren in Polen die Ausnahme. In einer Auflistung aller Forschungseinrichtungen und Labore im Bereich der physikalischen Wissenschaften sowie der Technik fanden sich im Jahr 1925 unter der Rubrik »Industrielle und militärische Labore« genau zwei Labore: Eines war in der Firma Oberschlesische Stickstoffwerke in Chorzów angesiedelt, die 1916 noch von der deutschen Regierung im Verbund mit den Bayerischen Stickstoffwerken gegründet worden waren. Sie gingen nach dem Ersten Weltkrieg als Zakłady Azotowe (Stickstoffwerke) in den Besitz des polnischen Staates über. Das zweite war das Metallurgische Labor der Firma Zakłady Amunicyjny »Pocisk« (Munitionsbetriebe »Geschoss«), das 1921 gegründet worden war.761 Diese Liste war vielleicht unvollständig, zumal sie disziplinär eng angelegt war, aber einen Trend zeigt sie dennoch an: den Mangel an Infrastruktur, vor allem an Forschungslaboratorien. Dies galt auch noch für den Zeitpunkt, als Czochralski nach Polen zog. Der bereits erwähnte Henryk Mierzejewski, der mit verantwortlich dafür war, Jan Czochralski 1929 nach Polen zu holen, hatte im Jahr 1925 den Grund für diese Situation benannt: Die Ausstattung solcher Laboratorien war ausgesprochen kostspielig und in Polen gab es nur wenige Unternehmen der Großindustrie, die an der Ausstattung solcher Labore hätten interessiert sein können.762 Die Situation der Industrie in einem Land, in dem zwei Drittel der Menschen von der Landwirtschaft lebten, war nach 1918 nicht einfach, weil sich die Bedingungen für Industriebetriebe, die nun im neuen polnischen Staat angesiedelt waren, grundlegend geändert hatten. Zum einen musste das Land große Kriegszerstörungen kompensieren, zum anderen den Wegfall der intensiven Handelsbeziehungen mit den drei Teilungsmächten, wodurch es zu Rohstoffknappheit kam – dies machte sich besonders im ehemaligen russischen Teilungsgebiet bemerkbar. Zudem floss deutsches und österreichisches Kapital ab, und einige ausgebildete Techniker und Fachleute verließen die Fabriken zum Beispiel in Oberschlesien, dessen teils vormals deutsche Schwerindustrie für die industrielle Entwicklung Polens von großem Wert war. Diese Situation 761 Mierzejewski, Placówki, S. 84-85. 762 Ders., Przedmowa, S. VI. 293 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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führte zu erheblichen Produktionseinbrüchen, die sich darin bemerkbar machten, dass etwa in der Produktion von Stahl, Zink oder Blei der Anteil Polens an der Weltproduktion im Jahr 1938 nicht an die Zahlen von 1913 heranreichen konnte – und dies gilt für zahlreiche weitere Rohstoffe und Industrieprodukte.763 Die Rekonstruktion und Modernisierung der Industrie schritt nur langsam voran – letztlich wuchs die Industrieproduktion in Polen bis 1939 nur in dem Maß, dass die Verluste durch den Ersten Weltkrieg kompensiert werden konnten. Dieser Trend sollte jedoch nicht verdecken, dass viele Industriezweige neu aufgebaut wurden, wie etwa die elektrotechnische oder die Rüstungsindustrie, wo erhebliche Fortschritte unter Einsatz neuester Ausstattung und Technik erzielt wurden.764 Staatliches Kapital spielte dabei die Hauptrolle. Dies war zunächst keiner speziellen Ideologie wie dem Etatismus geschuldet, sondern den schwach ausgeprägten privaten Kapitalreserven im Land.765 Staatliche Einrichtungen versuchten, den Mangel an Forschungslaboren zu kompensieren, so wie Wojciech Świętosławski es gefordert hatte: Man wollte die Arbeit an den Technischen Hochschulen und in den Ingenieursverbänden konzentrieren und mit der Industrie kooperieren.766 Daher war die Forschungstätigkeit an den Technischen Hochschulen von Anfang an eng mit den Bedürfnissen der Wirtschaft und des Militärs verknüpft. Die Hochschulen waren auf die finanzielle Unterstützung aus diesen Kreisen angewiesen. Zudem wollten sie den Auf bau von Industrie und Militär stützen. So produzierte der Lehrstuhl von Henryk Mierzejewski an der Technischen Hochschule Warschau bereits seit dem Juli 1920 Prüfinstrumente für die Staatliche Karabinerfabrik (Państwowa Fabryka Karabinów), von der im Austausch die entsprechenden Werkzeugmaschinen zur Verfügung gestellt wurden. In weiteren Gebieten wie der Elektro- und Hochspannungstechnik war die Zusammenarbeit mit Industrie und Militär ebenfalls eng. Im Gegenzug statteten sie die Laboratorien aus. Auf diese Weise ersparten sich Firmen die Einrichtung großer und teurer eigener Labore, wie Czochralski sie bei der AEG und der Metallgesellschaft kennengelernt hatte. Für das Budget der Technischen Hochschule und die Möglichkeit, die Laboratorien zu finanzieren, war diese Art der Zusammenarbeit auch bedeutsam, weil die Erträge aus Analysen, Forschungen und Expertisen hoch waren. Im Jahr 1935/36 erwirtschaftete die Hochschule auf diese Weise 172.000 Złoty, während sie 763 764 765 766

Tomaszewski, Landau, Polska w Europie, S. 136. Ebd., S. 140. Ebd., S. 149. Wojciech Świętosławski, Praca twórca na polu techniki, in: Przegląd Techniczny 4-5 (1929), S. 38-39.

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aus staatlichen Mitteln für infrastrukturelle Maßnahmen 227.000 Złoty erhielt; 1937 betrugen die »privaten« Einnahmen bereits 273.000 Złoty.767 Die Technische Hochschule Warschau wurde so allmählich zu einer der wichtigsten Ausbildungsstätten für die technische und die militärische Elite des Landes und zu einem bedeutenden Ort der Industrie- und Militärforschung.768 Ihre Anfänge waren personell und finanziell eher bescheiden und schwierig. Die Hochschule, die mithilfe der deutschen Besatzungsmacht seit 1915 wieder polnischsprachige Kurse anbot, wurde dabei unter anderem durch das polytechnische Komitee des Towarzystwo Kursów Naukowych (Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse) unterstützt, das nach 1905 versucht hatte, die Leerstellen des russifizierten Bildungssystems zu füllen – insofern lag der Gründung des Polytechnikums Warschau eine starke zivilgesellschaftliche Initiative zugrunde.769 Institutionen wie das Polytechnikum hatten eine größere gesellschaftliche Bedeutung als lediglich die Ausbildung von Experten – sie wollten, so Henryk Mierzejewski, über die Verbindung von Technik und Wissenschaft breite Kreise der Nation erreichen.770 Anfänglich allerdings galten die Professoren vielfach als Verräter, weil sie ihre Arbeit unter den Bedingungen der deutschen Besatzung begonnen hatten. Erschwerend machte sich die mangelnde Konsolidierung der Grenzen nach 1918 bemerkbar, denn der Hochschulbetrieb musste immer wieder unterbrochen werden. Von November 1918 bis Oktober 1919 fanden zum Beispiel keine Veranstaltungen statt – die Studierenden waren massenhaft in die polnische Armee eingetreten, um am Krieg gegen die Russische Sowjetrepublik teilzunehmen. Diese Zeit nutzte die Hochschule zu einer Reorganisation sowohl der Ausstattung als auch der Professorenschaft, zu der, wie bereits erwähnt, viele Wissenschaftler gehörten, die aus den russischen Territorien nach Polen kamen. 1919 hatte die Technische Hochschule einen Korpus von 38 Professoren.771 Zwei Drittel von ihnen war bereits vor 1919 an der Hochschule beschäftigt gewesen, der Rest kam überwiegend aus galizischen und russischen Hochschulen. Die Zahl der Studierenden war rasch angestiegen und betrug 1920 3200. Damit war das Polytechnikum nach den Universitäten Warschau, Krakau und Lemberg zur viertgrößten Hochschule herangewachsen, die im Studienjahr 1938/39 über 65 Lehrstühle verfügte.772 767 768 769 770 771 772

Politechnika Warszawska 1915-1965, Warszawa 1965, S. 172. Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 74. Ebd., S. 24. Mierzejewski, Badania naukowe, S. 388. Politechnika Warszawska, S. 60. Ebd., S. 172. 295 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Der Aufbau und die Ausstattung von Laboren erfolgten anfänglich auf der Grundlage bereits bestehender, russischer Laboratorien aus der Teilungszeit und, wie erwähnt, von Zuwendungen aus Industrie und Militär. 1924 erhielt die Hochschule zudem Gerätschaften zurück, die in den Jahren 1914/15 nach Russland abtransportiert worden waren. Aber Kapitalmangel blieb in den Folgejahren ein wichtiges Thema – der Rektor der Technischen Hochschule hielt für das Jahr 1921/22 fest, es sei ein Hungerbudget gewesen, weil in einigen Monaten die Professoren für ihren Lehrstuhl 5 Złoty erhalten hätten.773 Von den an dem Polytechnikum beschäftigen Ingenieuren waren anfangs nur wenige an Forschungsarbeiten interessiert.774 Aus finanziellen Gründen waren Studierende bemüht, möglichst rasch einen Abschluss zu erlangen – ihr Interesse an Forschungsarbeiten war ebenfalls gering. Auch der Verdienst mancher Dozenten war nicht dazu angetan, sich in langwierige Experimentalreihen zu vertiefen. Staatspräsident Mościcki sah darin den Grund für eine »stickige Atmosphäre« an den Hochschulen.775 Dies änderte sich aber in den Folgejahren mit der Ausweitung des Lehrkörpers und mit der Verbesserung der Ausstattung. Als der deutsche Physiker Walther Gerlach Polen 1939 besuchte, beobachtete er in den physikalischen Instituten in Warschau: »Bei der Besichtigung dieser beiden Institute, ebenso wie bei den täglichen Diskussionen mit den jüngeren Herren fiel mir die ganz ausgezeichnete physikalische Bildung der Herren auf. Sie haben eine umfangreiche Literatur-Kenntnis, wie man sie bei jüngeren Herren der deutschen Institute selten trifft. Es wird aber auch in einem Masse gearbeitet, welches Erstaunen erweckt. Die Institute sind abends um 8 Uhr noch voll in Betrieb gewesen, auch die Mechaniker arbeiten noch. Man betonte auch auf meine Anfrage, dass man ›in Polen sehr viel arbeite, weil man 100 Jahre nachzuholen‹ habe.« Und, so Gerlach, die Studenten widmeten sich ebenfalls mit großer innerer Hingabe den Arbeiten. Dabei fiel ihm der beschriebene transnationale Raum von Wissen und dessen Zirkulation in Warschau auf: »Von den jüngeren Assistenten scheint niemand in Deutschland gearbeitet zu haben, dagegen haben mehrere in England, besonders im Institut von Rutherford studiert und von dort viele experimentelle Methoden übernommen. Einige waren auch in Frankreich oder Holland.«776 Eine allgemeine Verbesserung der Lage und einen steigenden Enthusiasmus für Forschungen verdankte die Hochschule der wachsenden Kon773 774 775 776

Zitiert nach Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 66. Ebd., S. 65. Ignacy Mościcki, Nauka a życie gospodarcze, in: Nauka Polska 3 (1921), S. 175-180. BayHsta MK 54508, Gerlach, Bericht.

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junktur seit 1927. Im Zuge dessen erhielt sie mehr staatliche Zuwendungen, zudem stiegen die Mittel aus Wirtschaft und Militär.777 Nun erfolgte der Ausbau mehrerer großer Institute: In den Jahren von 1927 bis 1934 errichtete die Hochschule das Aerodynamische Institut, das 1939 über hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte, und Czochralskis Institut – diese beiden Institute waren innerhalb der Hochschule in Fragen von Finanzierung und Investitionen ausgesprochen privilegiert.778 Insgesamt stand die Technische Hochschule für eine Forcierung der Verwissenschaftlichung von Technik und einer engen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Technik, Industrie und Militär – diese Zusammenarbeit konnte jetzt nach der Nationalstaatsbildung im eigenen decision space geleistet und sollte durch Experten wie Jan Czochralski forciert werden. Czochralski selbst sah diese Zusammenarbeit als notwendige Voraussetzung für jeglichen Fortschritt von Kultur und Zivilisation an.779 Damit folgte er nicht nur den Gedanken der Warschauer Positivisten, sondern vor allem dem Chemiker und Philosophen Wilhelm Ostwald (1853-1932), den er in seinen Schriften mehrfach anführte. Ostwald war in Deutschland zweifellos einer der geschicktesten Wissenschaftsmanager seiner Zeit, der sich in seinem praktischen Handeln, das auf die Lösung von Anwendungsproblemen in der Industrie abzielte, der Tatsache voll bewusst war, dass Wissenschaft gesellschaftlich »gemacht« werde, dass sie also neben kognitiven auch politische und soziale Dimensionen besitze.780 Und »gute Theorie muss alsbald zur Praxis führen, man kann ihren Wert geradezu daran ermessen«, formulierte er in diesem Zusammenhang.781 Der Transfer dieser Maxime nach Polen war eine der großen Herausforderungen für Expertinnen und Experten wie Jan Czochralski – denn von der Notwendigkeit von breit angelegten technischen Forschungen und wissenschaftlichen Untersuchungen für die industrielle Entwicklung waren noch nicht alle Akteure in diesem Feld überzeugt.782 Der Wert solcher Forschungen hatte während der Teilungszeit nicht oder nur in geringem Umfang erprobt werden können. In dieser Grundkonstellation waren Wissenschaft und Technik vielfach noch voneinander getrennte Entitäten – die Wissenschaft wurde der Technik eher gegenüber-

777 778 779 780 781 782

Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 76. Mościcki, Nauka, S. 172. Jan Czochralski, Drogi i metody, S. 947. Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte, S. 22. Zitiert nach ebd. Mierzejewski, Przedmowa, S. VI. 297 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gestellt, als dass sie mit ihr verbunden wurde.783 Czochralski hielt zu Beginn seiner Tätigkeit in Polen mehrere Vorträge und Plädoyers, die gegen diese Auffassung gerichtet waren. Er war bestrebt, die Ansicht zu popularisieren, dass es für Polens industrielle Entwicklung vor allem einer entsprechenden Atmosphäre bedürfe, in der man die Technik sehr grundlegend verstehen könne, eine Atmosphäre in der Industrie, in der die Technik als angewandte Wissenschaft anerkannt und entwickelt werden könne.784 Dieses Denken setzte sich allmählich durch, wenngleich dieser Prozess kein einfacher war. Aber für die chemische Industrie zum Beispiel wurde in Kreisen des Militärs akzentuiert, dass das »Zusammenwirken von wissenschaftlicher Forschung und Erfahrungen aus der industriellen Praxis besonders fruchtbar« sei. Denn, so war man in diesen Kreisen überzeugt, diese Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie habe in Deutschland zur Blüte der chemischen Industrie geführt.785 Erneut schaute man hier mit einer gewissen Bewunderung auf den westlichen Nachbarn, von dem man sich doch eigentlich emanzipieren wollte. Czochralski verwies in diesem Kontext immer wieder darauf, wie wichtig die möglichst genaue Kenntnis aller in der Industrie verwendeten Materialien sei und wie sehr die entsprechende Wissenschaft in ständiger Bewegung sei – er sah darin eine wissenschaftliche Entwicklung »in statu nascendi«.786 Dies verband er – wie auch Ludwik Hirszfeld – mit der Entwicklung der Nation: »Die Geschichte lehrt uns, dass Nationen, die die Entwicklung der Hüttenindustrie und die Verarbeitung der Metalle vernachlässigen, politisch und wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten. Die erste und grundlegende Bedingung von industriellem Fortschritt muss es also sein, der Metallurgie die wissenschaftlichen Grundlagen zu sichern.«787 An dieser Stelle wird deutlich, wie Czochralski über die Leitwissenschaft für den neuen Staat dachte: Für ihn war es die Metallkunde. Die entsprechenden Experten dafür zu finden, war nicht einfach. Denn neben dem Mangel an wissenschaftlichen Zentren zur Unterstützung der Industrie, darunter auch der Rüstungsindustrie, fehlten zu Beginn der Unabhängigkeit gut ausgebildete Techniker und Ingenieure. Einige von ihnen waren nach dem Zusammenbruch der Imperien abgewandert, zudem 783 Hübner, Kongres, S. 24 784 Jan Czochralski, Pęd ku technice, in: Przegląd Techniczny 67/55 (1929), S. 39-41 785 CAW I. 300. 56. 87, MSWojsk Biuro Przemysłu Wojennego, Eugeniusz Mężyk, Polski przemysł chemiczny. Tarnów, 15. 4. 1934. 786 Jan Czochralski, Drogi i metody, S. 949. 787 Wiadomości Instytutu Metalurgii i Metaloznawsta 1/1934, Słowo wstępne. 298 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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waren in den Teilungsgebieten Spezialisten nicht in ausreichender Anzahl ausgebildet worden. Die Anzahl der Ingenieure mit einem Abschluss an den Technischen Hochschulen stieg zwar in der Zeit von 1921 von 5.000 auf 10.000 im Jahr 1931 und 13.000 im Jahr 1939 an, während 1931 insgesamt 25.000 Ingenieure und Techniker gezählt wurden. Dies war aber, gemessen an der Einwohnerzahl von 32 Millionen Menschen, keine allzu hohe Anzahl. Von ihnen war die Hälfte direkt beim Staat, in der staatlichen Industrie, in der staatlichen Verwaltung, in vom Staat abhängigen Institutionen oder der Armee beschäftigt.788 Dort wiederum war der Modernisierungsbedarf hoch. Viele Ingenieure sprachen sich für die Technisierung und Modernisierung des polnischen Heeres aus, obwohl paradoxerweise Oberbefehlshaber Piłsudski selbst einen gewissen Konservatismus offenbarte und die Dominanz der Infanterie verteidigte. Er stand technisierten Waffen sehr skeptisch gegenüber, stellte sich gegen die Mechanisierung und Motorisierung der Armee und verlangsamte so die Entwicklung neuer Waffen und der Luftwaffe.789 Auf diese Weise geriet die polnische Armee gegenüber ihren Nachbarn ins Hintertreffen, blieb doch der Anteil an Infanterie und Kavallerie im Vergleich zu den Armeen von Deutschland, der UdSSR und Frankreich am höchsten, während diese Länder Polen in der Artillerie und der Luftwaffe, Deutschland und die UdSSR auch in den Panzerwaffen, übertrafen. Der Grund dafür ist nicht nur in der Doktrin zu suchen, sondern auch in einem geringeren Produktionspotential sowie der Ausbildung der Soldaten, die zumeist aus ländlichen Regionen kamen und nur wenig Erfahrungen mit Autos und anderem technischen Gerät gemacht hatten.790 Um Abhilfe zu schaffen, arbeitete die Armee eng mit den Technischen Hochschulen im Land zusammen. Etwa 150 Offiziere wurden in der Zwischenkriegszeit an den zivilen Technischen Hochschulen zu Ingenieuren ausgebildet.791 Diese Initiativen gingen nicht nur vom Militär aus – auch die Hochschulen selbst boten sich an, angehende Ingenieure für eine Tätigkeit in der Rüstungsindustrie oder der Armee zu schulen und dazu beizutragen, eine technische Reserve für den Kriegsfall zu schaffen.792 788 Żarnowski, Learned professions, S. 418-419. 789 Wiśniewska, Wyszczelski, Bezpieczeństwo S. 345. Siehe auch E. Kozłowski, Wojsko polskie 1936-1939. Próby modernizacji i rozbudowy, Warszawa 1974, S. 18. 790 Tomaszewski, Landau, Polska w Europie, S. 304. 791 Józef Piłatowicz, Kształcenie inżynierów dla potrzeb wojska w Polsce okresu międzywojennego, in: Studia i Materiały do Historii Wojskowości XXXIII (1990), S. 289-315, S. 307. 792 CAW ITU I. 342. 1. 29, Instytut technicznego uzbrojenia. 299 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Viele Militärs wollten dabei besonders Arbeiten in der Metallurgie fördern, bildeten Metalle und Legierungen doch für die Ausrüstung der Armee eine unentbehrliche Grundlage – angefangen bei jeglicher Form von Munition und Ausrüstung bis hin zu Panzern und Flugzeugen. Hier machte sich das erwähnte Erbe der Imperien auf der Ebene sowohl der menschlichen als auch der nicht-menschlichen Akteure deutlich bemerkbar: Die Offiziere und Soldaten kamen aus den Armeen der Teilungsmächte und waren Träger des Wissens, das sie sich in diesen Armeen vor und im Ersten Weltkrieg angeeignet hatten – das kognitive Erbe jener Zeit manifestierte sich in diesen Personen sehr deutlich, und sie galten oftmals als »belastet«.793 Manche Offiziere sprachen nur Deutsch oder Russisch, erschwerend kam hinzu, dass die Fachterminologie ebenfalls nur auf Deutsch oder Russisch vorlag und erst nach und nach polnische Äquivalente eingeführt wurden.794 Und auch zehn Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit, als Czochralski nach Polen kam, nutzte man in der Armee noch »fremde« Normvorschriften oder Produktionsanleitungen, die aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammten. Nicht nur waren diese Anleitungen den Militärs ein Dorn im Auge, auch ausländisches Kapital und ausländische Maschinen in der Rüstungsindustrie konterkarierten die immer wieder von Repräsentanten des Staates und des Militärs erhobenen Forderungen nach Autarkie. Dem damit verbundenen Wirtschaftsnationalismus setzten jedoch mangelnde Ressourcen materieller wie kognitiver Natur sowie die ökonomische Logik Grenzen, denn, so Oberleutnant Eugeniusz Mężyk, in der chemischen Industrie in Polen etwa arbeiteten die Firmen mit ausländischem Kapital am rentabelsten.795 Viele Industriezweige in Polen, darunter auch die Rüstungsindustrie, waren darauf angewiesen, Maschinen und Ausrüstung im Ausland einzukaufen, besonders in Frankreich, England, Deutschland, den USA , Italien oder Österreich – dies war aber nicht nur teuer, es verstärkte das strukturelle Problem: So übte zum Beispiel der Ankauf von Werkzeugmaschinen für die Rüstungsindustrie, der bis weit in die 1930er Jahre hinein überwiegend im Ausland und bevorzugt in Deutschland stattfand, einen negativen Einfluss auf die heimische Industrie aus, vermochte sie es doch aufgrund mangelnder Aufträge nicht, selbst hoch spezialisierte Maschinen und Ausrüstungen zu produzieren und den Maschinenbau weiterzuentwickeln – dies galt vor allem im Fall eines

793 Boysen, Unruh, S. 110, Anm. 23. 794 Ebd., S. 112. 795 CAW I. 300. 56. 87, Mężyk, Polski przemysł chemiczny. 300 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Kriegs als außerordentlich schädlich.796 Daher gab der Verteidigungsminister 1932 eine Verordnung heraus, die es verbot, Ausrüstung für die Armee im Ausland einzukaufen. Selbst bei einer höheren Qualität der Produkte sollte ihr Erwerb nur erlaubt sein, wenn das heimische Funktionsäquivalent erhebliche Schäden verursachen würde.797 Solche Ausnahmen waren zugelassen, und offenbar machte die Armee davon in großem Maße Gebrauch, denn die Anträge auf solche Einkäufe stiegen bis 1938 beständig. Erneut erging eine Aufforderung, sie zu unterlassen. Sie sollten nur dann noch genehmigt werden, wenn die Einkäufe als Muster dienten, wegen fehlender Rohstoffe oder gravierender Hindernisse in den Fabriken nicht im Land hergestellt würden oder die Wirtschaftlichkeit wegen einer zu geringen Produktionsmenge nicht gegeben sei.798 Eine Rüstungsproduktion mit eigenen Geräten und Maschinen galt als oberstes Ziel – sie sollte sich vor allem in dem technokratischen Großprojekt des »Zentralen Industriebezirks« in den 1930er Jahren materialisieren.799 Dafür waren eigene wissenschaftliche Zentren notwendig, wie es Henryk Mierzejewski im Jahr 1923 formuliert hatte: »Ohne ernsthafte empirische Arbeit gibt es keine technische Wissenschaft. In der Phase des Wachstums der Technik muss sie sich auf ein tiefgehendes theoretisches Wissen stützen.«800 Zu diesem Zweck wurde eine enge Zusammenarbeit mit zivilen Zentren initiiert. Ziel war es, einen Kompromiss zwischen qualitativ hochwertigen Waffen und den Kosten ihrer Herstellung zu finden, denn die Materialkosten waren hoch. Ein weiteres Problem bestand im Fehlen von technischen Normen, die es ermöglicht hätten, die gleichen Rohstoffe durch verschiedene Produzenten nutzen zu lassen. Ebenso wenig waren Bezeichnungen normiert und so konnte es vorkommen, dass eine bestimmte Art von Stahl für Flugzeugbauer eine andere Bezeichnung trug als für die Artillerie oder unter zivilen Ingenieuren. Dieses Problem konnte bis 1939 nicht gelöst werden. Zusätzlich stellten die Kosten einiger Rohstoffe die Armee vor große Probleme, dies war nicht anders als in Deutschland, und so suchte man auch in Polen nach Ersatzstoffen. Diese Suche aber war, das haben die bisherigen Kapitel gezeigt, komplex und erforderten ein breites Fachwissen, das im Idealfall mit langjähriger in796 Siehe zum Beispiel CAW I.303. 13. 106. Korpus Kontrolerów, 16. 7. 1936. Uwagi w sprawie krajowej produkcji obriabiarek. 797 CAW I.303. 3. 559, MSWojsk, Zakupy Zagraniczne. Zakaz Dokonywania, 20. 1. 1932. 798 CAW I.303. 3. 559, Okólnik, 8. 10. 1938. 799 Melchior Wańkowicz, C. O. P. Ognisko siły – Centralny Okrʣg Przemysłowy, Warszawa 1938. 800 Mierzejewski, Badania naukowe, S. 389. 301 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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dustrieller Praxis verbunden werden musste – im Sinn der »Erfahrungswissenschaft«, wie Czochralski die Metallkunde genannt hatte. Die Armee war daher bestrebt, Offiziere nicht nur an den Technischen Hochschulen ausbilden zu lassen, sondern sie mit zivilen Wissenschaftlern mit ähnlichen Spezialisierungen zusammenzubringen und gemeinsame Forschungen zu beginnen.801 In dieser Konstellation war die Mobilisierung der Ressource »Czochralski« sehr willkommen. 4.3.5 Forschen für das Militär: Jan Czochralski, das Chemische Forschungsinstitut und das Institut für Metallurgie und Metallkunde

Als Jan Czochralski im Jahr 1928 nach Warschau zog, waren die staatlichen und militärischen Stellen bemüht, ihm trotz knapper Mittel bestmögliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Weil er nicht promoviert war, wurde ihm zunächst die Ehrendoktorwürde der Warschauer Technischen Hochschule verliehen – ein feierlicher Akt, der mit der Inauguration des Studienjahrs am 17. November 1929 einherging.802 Das Fehlen von akademischen Titeln, die auf einer Promotion oder einer Habilitation beruhten, war an der Technischen Hochschule übrigens nicht unüblich, da viele der Techniker und Ingenieure, denen Lehrstühle übertragen worden waren, diese Titel selbst nicht hatten und sie daher von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch nicht verlangten.803 Czochralski wurde im April 1930 zum Professor ernannt. Er erhielt einen Lehrstuhl für Metallurgie und Metallkunde an der Chemischen Fakultät der Technischen Hochschule Warschau, an dem seine Lehrveranstaltungen im akademischen Jahr 1929/30 begonnen hatten. Daneben leitete er ein Institut für Metallurgie und Metallkunde (Instytut Metalurgii i Metaloznawstwa, IMM) für ausschließlich militärische Zwecke. Wie sich dieses Institut zu seinem Lehrstuhl verhielt, war undurchsichtig, weil sein rechtlicher Status ungeklärt war. Diese Situation ist symptomatisch für die Warschauer Zeit in Czochralskis Leben: Sie war sowohl von einer fast unüberschaubaren Fülle von Ämtern und Aufgaben gekennzeichnet als auch der ungeklärten Frage seiner Staatsbürgerschaft, die gleichwohl eine wichtige Rolle spielen sollte. 801 Mariusz W. Majewski, Prace Instytutu Metalurgii i Metaloznawstwa przy Politechnice Warszawskiej i Jan Czochralski, in: Studia Historiae Scientiarum 17 (2018), S. 89-117, S. 95. 802 Politechnika Warszawska, S. 80. 803 Ebd., S. 163. 302 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Wie bereits erwähnt, war Staatspräsident Mościcki nicht ganz unbeteiligt daran, dass Czochralski nach Polen gezogen war. Mościcki ist es darüber hinaus zu verdanken, dass in Polen nach 1918 in der Forschungslandschaft eine gewisse Privilegierung der Chemie in Wirtschaft und Wissenschaft eintrat. Da er auf seinem Ausbildungs- und Arbeitsweg in Riga, Wien und Lemberg die Bedeutung von wissenschaftlichen Instituten zur Unterstützung von industrieller Entwicklung kennengelernt hatte, suchte er diesen Gedanken nach Lemberg zu tragen und gründete 1916 eine Gesellschaft unter dem Namen »Institut für Wissenschaftliche und Technische Forschungen – Metan«. Das dazugehörige Labor bestückte Mościcki mit Ausrüstung aus der Schweiz, wo er gearbeitet hatte.804 1922 wurde die Gesellschaft zu dem bereits erwähnten Chemischen Forschungsinstitut, das 1927 seinen Sitz in Warschau nahm. Dort verfolgte Mościcki das Ziel, die bisher vorhandene Trennung von Wissenschaft und Industrie aufzuheben.805 Das Institut avancierte zu einer der bedeutendsten selbständigen Einrichtungen in Polen für die Nutzbarmachung von Rohstoffen für die Industrie. In diesem Forschungsinstitut sollte Jan Czochralski als Leiter der metallurgischen Abteilung sowie im Vorstand tätig werden. Weil das Institut aber nicht über die entsprechenden Räumlichkeiten verfügte, um Spitzenforschung durchführen zu können, und der Aufbau eines metallurgischen Instituts eine sehr kostspielige Angelegenheit war, versuchte man, sowohl Fachverbände als auch die Industrie für dieses Vorhaben zu gewinnen. Einbezogen waren das Wirtschafts- und Handelsministerium sowie der Oberschlesische Bergbau- und Hüttenverband mit Sitz in Kattowitz. Im Oktober 1928, also zu dem Zeitpunkt, als Czochralski in Deutschland verkünden ließ, dass er sich auf einer Auslandsreise zur Abwicklung von Geschäften befände, war es am Sitz der Firma Hohenlohehütte in Wełnowiec nahe Kattowitz zur Bildung eines »Komitees für den Bau eines Metallurgischen Instituts im Rahmen des Chemischen Forschungsinstituts« gekommen. An diesem Treffen nahmen Vertreter des Oberschlesischen Hüttenverbandes, des Chemischen Forschungsinstituts, der Technischen Hochschule Warschau sowie der Industrie teil – neben dem damaligen Rektor der Technischen Hochschule Warschau, 804 Kazimierz Kling, Wacław Leśniański, Powstanie i dotychczasowa działalność Instytutu badań naukowych i technicznych »Metan« oraz jego przekształcenie na »Chemiczny Instytut Badawczy«, in: Przemysł Chemiczny 6 (1922), S. 128-155, S. 136. 805 So Eugeniusz Kwiatkowski, Wyścig pracy Prof. Ignacego Mościckiego, in: Kazimierz Drewnowski u. a., Profesor Dr. Ignacy Mościcki. Życie i działalność na polu nauki i techniki, Warszawa 1934, S. 5-7, S. 6. 303 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Wojciech Świętosławski, und Henryk Mierzejewski war auch Jan Czochralski zugegen.806 Geplant war eine Investition von 800.000 Złoty, weitere 300.000 Złoty sollten in die Ausstattung fließen. Aus einer Spende des Verbandes der Unteroffiziere der polnischen Armee verfügte das Komitee bereits über 57.902 Złoty.807 Obwohl weitere Mittel nur spärlich flossen, begann der Bau des Institutes. Die metallurgische Abteilung des Chemischen Forschungsinstitutes konnte als eigenständige Einheit aber erst im Jahr 1935 die Arbeit aufnehmen.808 Ein Teil der experimentellen Arbeiten wurde in Czochralskis Institut an der Technischen Hochschule ausgeführt, während umgekehrt am ChIB auch Analysen für Czochralskis Institut vorgenommen wurden. Langwierige Experimente widmeten sich unter anderem dem Bahnmetall, denn Czochralski begann bald nach seiner Ankunft, bei Behörden und Technikern für »seine« Legierung zu werben und es gelang ihm, die Polnischen Staatsbahnen dafür zu interessieren. Im Verlauf von drei Jahren wurden in Kooperation mit verschiedenen Firmen und, ähnlich wie in Deutschland, im Auftrag des Verkehrsministeriums zahlreiche Versuche unternommen. Dies führte dazu, dass die Fabrik Ursus die Produktion von Bahnmetall, polnisch Metal B, für die Staatsbahnen aufnahm. 1930 kaufte die Verwaltung der Staatsbahnen 250.000 kg, und die Legierung kam versuchsweise in Warschau, Posen und Kattowitz zum Einsatz.809 Die Untersuchungen zum Bahnmetall fanden zunächst 1932 ein Ende. Eine eigens eingesetzte wissenschaftliche Kommission kam damals zu dem Schluss, dass für das Ausgießen der Lagerpfannen sowohl hochzinnhaltige Legierungen als auch das Bahnmetall von Czochralski in Frage kommen würde.810 Allerdings riet die Kommission von einer größeren Verbreitung des Bahnmetalls ab, weil es sehr teuer war (in Deutschland war der Preis 806 Theoretisch könnte Czochralski als externer Experte für den Aufbau von metallkundlichen Instituten an diesem Treffen teilgenommen haben – wahrscheinlicher ist, dass er bereits von seinen Umzugsplänen wusste. 807 Majewski, Prace Instytutu Metalurgii i Metaloznawstwa, S. 93-94. 808 Siehe Stefan Zamecki, Chemiczny Instytut Badawczy w Warszawie w okresie międzywojennym, in: Kwartalnik Historii Nauki i Techniki 24/2 (1979), S. 329342, S. 339. 809 Siehe Aleksander Krupkowski, Stop łożyskowy, B‘ w świetle oceny technicznej i gospodarczej, in: Przegląd Mechaniczny 3/1 (1937), S. 9-16, S. 16; J. Dybowski, Stopy łożyskowe taboru kolejowego i wyrób ich w stopowni PKP, in: XII Zjazd Techniczny Inżynierów Wydziałów Mechanicznych w Poznaniu 13, 14 i 15 listopada 1936, protokół obrad i referaty, Warszawa 1937, S. 81-82; Wilhelm Mozer, Budowa i obliczanie części parowozowych Lwów 1935, S. 72. 810 Zbigniew Tucholski, Stop kolejowy bahnmetall prof. Jana Czochralskiego i jego zastosowanie w kolejnictwie, in: Zeszyty Historyczne Politechniki Warszawskiej 16/ 2 (2014), S. 41-61, S. 47. 304 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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für Blei niedriger) und man die erforderlichen Veränderungen scheute, die sowohl in der Konstruktion der Lagerpfannen als auch in der Technologie des Ausgießens der Pfannen hätten vorgenommen werden müssen.811 Dennoch verabredete Czochralski im Juni 1934 noch eine Herstellung von 100 Tonnen Bahnmetall bei Ursus, wofür er von seinen Lizenzgebühren in Höhe von 20.000 Złoty 7000 Złoty an die Firma Schaefer & Schael abtreten musste.812 1934 setzte das Verkehrsministerium erneut eine Kommission zur Prüfung der Lagermetalle ein, in der zahlreiche Experten aus der polnischen Metallkunde vertreten waren, darunter Czochralskis Kollege Witold Broniewski vom Polytechnikum. Die Kommission beschloss im März 1935, das Bahnmetall vollständig aus der Produktion für die Staatsbahnen zurückzuziehen.813 Czochralski versuchte weiterhin, die Legierung zu bewerben und durchzusetzen, während die Gegenseite dies zu verhindern suchte. Die so unterschiedlichen technischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in Polen, die sich von denen in Deutschland sehr unterschieden und den Stoff Bahnmetall nicht für den Einsatz in Polen prädestinierten, scheint er an dieser Stelle nicht hinreichend berücksichtigt zu haben.814 Denn die polnische Eisenbahn sei nicht in der Lage gewesen, die technologischen Voraussetzungen für ein Ausgießen der Pfannen mit Bleimetall vorzubereiten.815 In der Eisenbahnverwaltung hielt man die zinnhalten Legierungen ebenfalls für besser, war aber der Meinung, dass Bahnmetall einen guten Ersatz bilde. Nach der Stabilisierung der Wirtschaft nach 1934 musste Polen nicht mehr zwingend nach Ersatzstoffen suchen, so dass ein breiter Einsatz von Bahnmetall ausblieb.816 Hier zeigt sich erneut die lokale Bedingtheit des Wissens – zwar zirkulierte das epistemische Ding »Bahnmetall« in verschiedenen Versionen auf der ganzen Welt, es konnte aber nur dort eingesetzt werden, wo die lokalen Bedingungen passten oder passend gemacht wurden. Dies war in Polen zumindest in den 1930er Jahren nicht der Fall. Die Anwendung zirkulierenden Wissens war ein höchst komplexes Unterfangen, das immer auch scheitern konnte. Der Stoff Bahnmetall produzierte in Polen einfach mehr Widerstände, als dass er produktive Verbindungen in Akteursnetzwerken eingegangen wäre. 811 812 813 814

Dybowski, Stopy łożyskowe, S. 83. HWA 119, Kasten 155, Schaefer & Schael an Czochralski, 7. 6. 1934.

Tucholski, Stop kolejowy, S. 48. Jan Czochralski, Nowoczesne kolejowe metale łożyskowe jako klasyczny przykład rozwiązania namiastkowania stopów cynowiych, in: Przegląd Mechaniczny 12 (1936), S. 395-410, S. 395. 815 So Zbigniew Tucholski, Bahnmetall – wynalazek Czochralskiego, in: Mówią Wieki 10/693 (2017), S. 77-80, S. 78. 816 Ebd. 305 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Am ChIB forschten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter daneben zu Lagermetallen und Leichtmetallen, zu Korrosion und Kristallisationsvorgängen – also Czochralskis ureigenen Forschungsgebieten. Daneben fanden Arbeiten an Karabinerhülsen und an der Elektrolyse von Lithium, Natrium und Magnesium statt. Langjährige Versuche widmeten sich auch den Stoffen Zink und Aluminium, zum Teil gemeinsam mit der Firma Ursus – hier knüpfte Czochralski an die Arbeiten aus dem Metall-Laboratorium an, die er auf der Grundlage des Patents von Pácz durchgeführt hatte.817 Zudem entstand das Projekt, eine eigene Aluminiumproduktion aufzubauen, über die Polen bislang nicht verfügte.818 Gleichzeitig mit den logistischen Arbeiten am Chemischen Forschungsinstitut investierte der Staat in den Lehrstuhl für Metallurgie und Metallkunde an der Technischen Hochschule. Dafür hatte Czochralski unter anderem Mittel aus einem »Fonds für Nationalkultur« erhalten. Dieser Fonds war im Jahr 1928, als sich die finanzielle Lage des Staates verbessert hatte, angesichts der nach wie vor prekären finanziellen Lage der Wissenschaften in Polen entstanden und wurde von Stanisław Michalski, dem Vorsitzenden der Stiftung Mianowski-Kasse, geleitet. Er griff auf europäische Vorbilder wie die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft oder das Department of Scientific Research in England zurück. Im ersten Jahr in Warschau, 1929, erhielt Czochralski aus diesem Fonds die höchste Einzelsumme, die vergeben werden konnte, nämlich 50.000 Złoty, zur Einrichtung seines Labors an der Technischen Hochschule Warschau.819 Dies aber reichte für die kostspieligen Apparaturen und Gebäude, die Czochralski für seine Forschungen benötigte, wenn er sie wie bisher durchführen sollte, bei weitem nicht aus. Die Hochschule konnte die Kosten für diese Ausstattung nicht tragen. Die Lösung war ein Vertrag, den das Verteidigungsministerium und Jan Czochralski im Januar 1933 schlossen und der die Einrichtung des erwähnten Instituts für Metallurgie und Metallkunde zu militärischen Zwecken vorsah. Erst dieser Vertrag ermöglichte es, ein Gebäude für Czochralskis Bedürfnisse an der Topolowa-Straße in Warschau fertig-

817 Siehe Mariusz W. Majewski, Odpowiedź na pracę dr. Pawła E. Tomaszewskiego »Komentarz do artykułu Mariusza W. Majewskiego opublikowanego w Studia Historiae Scientiarum 17 (2018), S. 89-117«, in: Studia Historiae Scientiarum 18 (2019), S. 531-553, S. 539, DOI: 10.4467/2543702XSHS. 19.017.11023. 818 Siehe Sprawozdanie z XVIII posiedzienia Kuratorium Chemicznego Instytutu Badawczego, in: Przemysł Chemiczny 9-10 (1938), S. 194-202. 819 Bohdan Jaczewski, Polityka naukowa Państwa Polskiego w latach 1918-1939, Wrocław u. a. 1978, S. 135. 306 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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zustellen.820 Er legte sodann ein umfangreiches Forschungsprogramm auf und schickte es im März 1933 an das Verteidigungsministerium. Nach zehn Wochen intensiver Arbeit an dem Gebäude und seinen Installationen konnte im April 1933 mit den Arbeiten im mechanischen und im metallurgischen Labor sowie in einer Werkstatt begonnen werden, die bereits im Juni 1933 betriebsfertig waren. In einem zweiten Bauabschnitt von April bis zum Herbst 1933 wurden die restlichen Zimmer im ersten und zweiten Stock fertiggestellt. Dabei übernahm das Institut Maschinen und Apparate von folgenden militärischen Forschungseinrichtungen: dem Institut zur Erforschung von Waffenmaterial (Institut Badań Materiałów Uzbrojenia, IBMU), dem Institut zur technologischen Erforschung des Flugzeugbaus (Institut Badań Technicznych Lotnictwa, IBTL) und dem militärischen Forschungsinstitut für das Ingenieurwesen (Instytut Badań Inżynierii, IBI), die formell Eigentum der Armee blieben. Weitere Apparate finanzierte das Institut mit Krediten des Verteidigungsministeriums. Dabei habe die Auswahl der neuesten und passenden Geräte viel Zeit in Anspruch genommen, so Czochralski.821 Der Vertrag mit dem Verteidigungsministerium führte dazu, dass das IMM nicht wie andere Lehrstühle an der Technischen Hochschule aufgebaut wurde, sondern sich an den spezifischen Bedürfnissen des Militärs orientierte. Dieses Forschungsinstitut am Polytechnikum war hoch militarisiert, während gleichzeitig die Produktion von Rüstungsgütern verwissenschaftlicht wurde – vertrautes Terrain für Jan Czochralski. Denn sein Institut sollte diejenigen Aufgaben übernehmen, die bislang von den armeeeigenen Forschungsinstituten ausgeführt worden waren. Dort wurden die jeweiligen Forschungsarbeiten eingestellt, Maschinen und Apparate und ein Teil des Personals gingen an das IMM. Im Gegenzug verpflichtete sich das Institut, jegliche Forschungen auf dem Gebiet von Metallen, die vom Militär verwendet wurden, durchzuführen. So entstand eine große Zentralisierung der metallkundlich-militärischen Forschung an Czochralskis Institut – eine Konzentration, die ihm viel Macht, aber auch viel Verantwortung übertrug. Der Experte Czochralski sollte als Mediator zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Militär auftreten, Organisator von Forschung und nicht zuletzt Innova820 CAW I 342.4.5., Biuro Badań Technizcnych Broń Pancernych: Instytut Metalurgii i Metaloznawstwa Politechniki Warszawskiej. Roczne Sprawozdanie za czas od 1. 4. 1933 do 31. 3. 1934, S. 1. Dieser geheime und recht ausführliche Bericht über fast fünfzig Seiten für das Jahr 1933/1934 ist eine der ausführlichsten Quellen, die über die Arbeit Czochralskis in Polen vorliegen. Weitere Jahresberichte finden sich in den Beständen des Militärarchivs nicht. 821 Ebd., S. 2. 307 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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tor sein.822 Die Übertragung all dieser Aufgaben zeigt, mit welch großen Hoffnungen die Übersetzung von Czochralskis Wissen in den polnischen Kontext und die Verwissenschaftlichung der Technik für die wirtschaftliche und militärische Entwicklung verbunden waren.823 Manchen Militärangehörigen war diese Konstellation aber nicht ganz geheuer: Das Institut zur Erforschung des Flugzeugbaus wehrte sich gegen die Zentralisierung der militärischen Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Metalle an der Technischen Hochschule und betrieb weiterhin eigene Forschungen.824 Czochralskis Institut war neben Büro und Bibliothek in vier Abteilungen gegliedert, die sich zumindest in Teilen erneut an der Aufteilung orientierten, die er bei von Moellendorff kennengelernt hatte: eine Physikalisch-Chemische Abteilung mit Vorrichtungen zum Röntgen, eine Mechanische Abteilung, eine Abteilung für Eisenmetalle mit einer Unterabteilung für Panzerbleche und einer metallurgischen Abteilung sowie eine Abteilung für Nichteisenmetalle mit fotografischen Geräten und eine in die Zukunft projizierte Abteilung für Korrosionsforschung. Auf die Einrichtung eines eigenen chemischen Labors wurde verzichtet, weil alle chemischen Forschungsarbeiten für das Institut im erwähnten Chemischen Forschungsinstitut ausgeführt werden sollten. Dafür erhielt dieses jährlich eine pauschale Summe von 60.000 Złoty.825 1934 arbeiteten 63 Personen in dem Institut, darunter zivile Ingenieure ebenso wie Offiziere des Verteidigungsministeriums, die innerhalb dieses einen Jahres 245 Gutachten und 13 Berichte mit insgesamt 2330 Seiten verfassten. Auf einer Liste finden sich für den Zeitraum von 1933 bis 1934 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (davon waren immerhin 18 weiblich); manche waren nur zeitweilig am Institut beschäftigt. Dies entsprach einem Trend an der 822 Zu diesen Funktionen des Wissenschaftlers siehe Margit Szöllösi-Janze, Der Wissenschaftler als Experte. Kooperationsverhältnisse von Staat, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft, 1914-1933, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der KaiserWilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. 1, Göttingen 2000, S. 40-58. 823 Auch Mieczysław Wolfke betonte in dieser Zeit die unbedingte Pflicht der Wissenschaft, besonders der Physik, mit dem Militär zur Verteidigung des Staates zusammenzuarbeiten, dies sei schon aufgrund Polens geopolitischer Lage unabdingbar. Zudem warnte er vor einem kommenden Krieg, weil dieser mit ganz neuen technischen Mitteln geführt werden würde, die den vorherigen Weltkrieg wie ein unschuldiges Vergnügen aussehen lassen würden, siehe Ders., Fizyka a technika, in: Nauka Polska 18 (1933), S. 149-155, S. 154. 824 CAW I.300. 16. 81, Korpus Kontrolerów. Sprawozdanie Korpusu Kontrolerów za rok 1937-1938. 825 Ebd. 308 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Technischen Hochschule in Warschau, wo relativ viele Frauen die Chance nutzten, ein Studium zu beginnen und abzuschließen.826 Das Departement für Bewaffnung im Verteidigungsministerium finanzierte das Institut mit 500.000 Złoty, weitere Abteilungen trugen 21.000 Złoty. Darüber hinaus erhielt das Institut einen Kredit zur Fertigstellung des Baus und zum Kauf von Apparaten in Höhe von 176.500 Złoty. Die Rückzahlung sollte innerhalb von fünf Jahren ab dem Haushaltsjahr 1935/36 vorgenommen werden. Ein weiterer Kredit von 338.100 Złoty war für Maschinen, Installationen und die Einrichtung der Räume vorgesehen.827 Die Maschinen, Apparate und Geräte, mit denen Czochralski sein Institut ausstattete, kamen überwiegend aus Deutschland, einige wenige aus England, Frankreich oder der Schweiz. Bis in die späten 1930er Jahre ließ er über das polnische Militär immer wieder neue Materialien und Geräte transferieren, die in Polen nicht oder – so hieß es oft in der Begründung – in nur unzureichender Qualität hergestellt würden. Zuweilen ergaben sich auch Lieferschwierigkeiten bei polnischen Firmen, so dass erneut auf ausländische Hersteller zurückgegriffen werden musste.828 Diese bei jeder Bestellung geschriebenen Begründungen resultierten aus dem erwähnten Verbot, Ausrüstung für das Militär im Ausland zu erwerben. Czochralski bestellte so gut wie alles, was für ein funktionierendes Labor notwendig war, von der kleinsten Menge an Metallen bis hin zu großen Öfen und Maschinen: Widerstandsthermometer aus Platin, Metallmikroskope, Pyrometer, Voltmeter, Galvanometer, Heizkörper, Temperaturregulatoren, Ersatzteile für Leica-Fotoapparate, Rohre aus Porzellan und Quarz für Forschungen im Bereich hoher Temperaturen, Ersatzteile für die Apparaturen, Transformatoren, gläserne Geräte von Schott aus Jena, Thermoelemente, elektrische Öfen, Apparate für die Sauerstoff bestimmung in Stahl, Mikroskope, Photometer, Röntgenapparate, Walzen, Messgeräte verschiedenster Natur, Apparate zur Untersuchungen von Blechen und Platten oder Festigkeitsmaschinen. Davon profitierten auf einer breiten Skala deutsche mittelständische Firmen, aber auch die Großindustrie wie AEG, Krupp, Siemens & Halske oder Zeiss und Schott. Die zu bearbeitenden Stoffe konnte oder wollte Czochralski ebenfalls nicht in Polen beziehen: Aus der Schweiz kam so Reinaluminium nach Polen, von Schering in Berlin Bismut, Antimon, Zink und Blei, aus Düsseldorf alle nur denkbaren Metalle in Mengen von 1 g bis zu 250 kg, rei826 Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 50. 827 Ebd., S. 7. 828 CAW I.300. 56. 41 Biuro Przemysłu Wojennego. In diesem Bestand finden sich Bestellungen und Rechnungen über Hunderte von einzelnen Posten. 309 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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nes Magnesium aus Paris, Zink aus England in einer Reinheit, die, so Czochralski, nur von einer einzigen Firma weltweit gewährleistet werde. Elektromagnesium, das Czochralski für wissenschaftliche Untersuchungen an Tiegeln für Induktionsöfen brauchte, weil das bisher verwendete Magnesium untauglich war, wurde von der Firma »Feldmühle« in Stettin geliefert. Denn das in Deutschland angewandte Elektromagnesium würde sehr viel bessere Ergebnisse erbringen, werde in Polen aber nicht produziert. Bei diesen Stoffen ging es oft um deren Qualität und die erforderliche Reinheit – hier traute Czochralski vor allem für seine theoretischen Arbeiten entschieden dem, was er kannte, war er doch der Meinung, nur so könne er seine Forschungen betreiben. Die materielle Bedingtheit seiner Laborpraxis war extrem hoch – das, was Czochralski lokal vorfand, hielt er zum Teil für unbrauchbar. Dies galt im Übrigen auch für sein Auto: Die Ersatzteile für seinen Dienstwagen wurden in Deutschland bei den Adlerwerken bestellt.829 Diese Materialeinkäufe, die hohe Summen verschlangen, finanzierte zum Teil das Deutsche Reich, und zwar aus den Schulden, die es gegenüber den Polnischen Staatsbahnen angesammelt hatte, als es 1936 wegen Devisenknappheit aufhörte, an Polen die Transitgebühren für die Nutzung der Eisenbahnstrecken im sogenannten Danziger Korridor zu zahlen.830 So entstand die ungewöhnliche Situation, dass Geld aus dem Deutschen Reich überwiegend an dortige Firmen (und in wenige andere Länder) floss, um Czochralski in Polen seine Forschungen für die polnische Rüstungsindustrie zu ermöglichen. Auf diese Weise gelang es Czochralski jedenfalls, sein Labor über die Jahre hinweg ausgezeichnet zu bestücken, obwohl trotz dieser Ausstattung nicht alle an ihn herangetragenen Arbeiten dort durchgeführt werden konnten. Davon zeugt, dass er immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Deutschland oder Frankreich in verschiedene Firmenlaboratorien schickte. Im Juni 1936 machte sich zum Beispiel der Ingenieur Michał Śmiałowski auf die Reise in das Institut für Eisenforschung in Düsseldorf, das Institut für Eisenhüttenkunde in Aachen sowie das Laboratorium der Stahlwerke in dem französischen Ort Ugine.831 Im Juli 1937 ging der Ingenieur Antoni Liliental einen Monat lang zu Carl Zeiss nach Jena, um dort für das Institut eine spektrochemische Analyse durchzuführen – solche Aufenthalte fanden immer dann statt, wenn es an Ausrüstung mangelte oder auch Fragen berührt wurden, die Czochral829 Siehe CAW I.300. 56. 41 Biuro Przemysłu Wojennego. 830 Siehe Peter Bock, D1 Berlin–Königsberg. Im Transit durch Danzig und durch den »polnischen Korridor«, Freiburg 2012, S. 91. 831 CAW I.300. 56. 41, Biuro Przemysłu Wojennego. 310 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ski selbst nicht bearbeitet hatte.832 Sie zeugen davon, dass auch in der Metallkunde, in der Forschungen für politische Zwecke im Nationalstaat üblich waren, transnationale Wissenszirkulation und Austausch unabdingbar waren, und dies wurde durch die Auslandsaufenthalte der Wissenschaftler zweifellos gefördert. Abgesehen von solchen Spezialaufträgen konnte sich das Labor mit den großen Forschungslaboren der deutschen Industrie und Spitzenforschung messen: Als der Physiker Walther Gerlach, den Czochralski aus gemeinsamen Frankfurter Tagen kannte und den im Mai 1939 eine Vortragsreise nach Warschau führte, das Labor von Czochralski besichtigte, hielt er es für hervorragend ausgestattet. Gerlach traf auf dieser Reise mit zahlreichen polnischen Physikern zusammen, aber Czochralski und seine Familie, mit der Gerlach unter anderem das Schloss Wilanów in Warschau besichtigte, war ihm besonders nah. Er notierte in einer Art persönlichem Reisebericht, in dem er mit großer Hingabe vor allem die eingenommenen Mahlzeiten auf der Reise schilderte: »Bald darauf kam Czochralski. Sehr große Freude«! […] Der Abend war sehr, sehr nett und vergnügt.«833 Czochralski hatte Gerlach zu sich in seine im Stil der Neorenaissance errichtete Villa an der Nabielaka-Straße eingeladen, bevor dieser am folgenden Tag das IMM besichtigte. Davon hinterließ Gerlach den folgenden, in der damaligen Zeit bei Auslandsreisen obligatorischen und offiziellen Bericht, der an seine Universität, die Auslandsorganisation der NSDAP, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Reichswissenschaftsministerium ging: »Das metallkundliche Institut an der Technischen Hochschule von Prof. Czochralski konnte ich leider nur teilweise besichtigen. Teile desselben sind für Besucher nicht zugänglich, weil sie unter militärischer Kontrolle stehen; denn wie in vielen deutschen Instituten arbeiten auch die polnischen Professoren an national wichtigen Arbeiten. Was ich in diesem Institut sah, gehört zu dem schönsten, was ich bisher überhaupt gesehen habe, und was man in Deutschland höchstens in den Forschungslaboratorien der Industrie findet. Das Institut ist in einem grossen mehrstöckigen Gebäude, das für diesen Zweck vor einigen Jahren errichtet wurde, untergebracht.« Beeindruckt war Gerlach auch von der Aufteilung des Instituts: »Es enthält wohl alle nur denkbaren Versuchsanordnungen und Hilfsmittel für die reine Metallkunde, für die Metallchemie, die Metallphysik und die Metalltechnik. Es scheint mir in der Haupt832 Ebd. 833 Archiv des Deutschen Museums München, NL 80/054: Nachlass Walther Gerlach. Hervorhebung im Original. 311 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sache ein Forschungsinstitut zu sein; aber auch der Unterricht kommt nicht zu kurz, auch hierfür sind erstklassige Hilfsmittel und Einrichtungen vorhanden. […] ich möchte aber schätzen, dass es 4 mal so gross ist wie das neue KW-Institut von Professor Debye834 in Dahlem. Die Geldmittel scheinen sehr gross zu sein; das Institut gibt seine Arbeiten in einer eigenen Veröffentlichung heraus, die jährlich einige 100 Seiten Grossoktav umfasst. Die Arbeiten des Instituts – soweit ich sie kennenlernte – behandeln rein wissenschaftliche Probleme der Legierungen, der Stahlhärtung, der Leichtmetallverbesserung, sodann wissenschaftliche-technische Probleme der Metallprüfung, der Korrosion usw. Offenbar werden auch technische Untersuchungen für besondere Zwecke ausgeführt. Man zeigte mir neben Apparaturen für Spezialuntersuchungen auch solche für groß angelegte Reihenversuche.«835 Mit Gründung des IMM entstand gleichzeitig ein Kontrollgremium, das die Richtungen der Arbeiten beaufsichtigen, die Konstruktionsarbeiten in den verschiedenen Abteilungen koordinieren, das Budget verabschieden, Investitionen absegnen und die Personalpolitik mitbestimmten sollte – in dieses Gremium wurden die Leiter der Forschungsinstitute des Militärs sowie Vertreter der Abteilung Rüstungsindustrie beim Verteidigungsministerium entsandt: Stanisław Witkowski aus dem Institut zur Erforschung von Waffenmaterial, Aleksander Brzazgacz aus dem Institut zur technologischen Erforschung des Flugzeugbaus, Patryk O’Brian de Lacy vom Militärischen Institut für das Ingenieurwesen, Aleksander Rylke aus der Leitung der Kriegsmarine (Kierownictwo Marynarki Wojennej) sowie Władysław Jakubowski vom Büro für Rüstungsindustrie (Biuro Przemysłu Wojennego).836 Die Leitung dieses Gremiums übernahm der Ingenieur und Offizier Otton Czuruk, der dem Büro für Rüstungsindustrie vorstand, über das Czochralski seine Einkäufe abwickelte. Als ständiger Vertreter war dieser auch selbst Mitglied des Komitees. Es tagte innerhalb des ersten Jahres seines Bestehens 15 Mal. Daneben traf acht Mal

834 Das KWI für Physik in Berlin-Dahlem, dem der niederländische Physiker Peter Debye seit 1935 vorstand. 835 BayHSta, MK 54508, Gerlach: Bericht. Paweł Tomaszewski schreibt in seiner jüngsten Veröffentlichung, Gerlach habe nach dem Überfall Deutschlands auf Polen 1939 die Ausplünderung der physikalischen Institute der Universität Warschau geleitet. Dafür lässt sich bislang kein Beleg finden, auch Gerlachs Biograph Bernd-A. Rusinek weiß laut schriftlicher Auskunft nichts davon, siehe Tomaszewski, Restored, S. 96, ohne Nachweis. 836 Siehe Mariusz W. Majewski, Rozwój motoryzacji w Drugiej Rzeczypospolitej, Kraków 2016, S. 110-119. 312 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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eine Kommission zur Erforschung von Blechen und Platten für den Panzerbau zusammen.837 Als Einheit neben dem IMM bestand der Lehrstuhl von Czochralski, obwohl auch dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an einigen Arbeiten im IMM teilnahmen – dafür wurden sie speziell entlohnt, oder die Arbeiten wurden als Diplomarbeiten ausgeführt. Die Kosten für solche Arbeiten wurden vom IMM getragen.838 Studierende durften die Laboratorien des Instituts unter Leitung von Czochralski oder einem Stellvertreter außerhalb der normalen Arbeitszeiten (werktags von 8 bis 15 Uhr und samstags bis 13.30 Uhr) nutzen. Innerhalb des Jahres 1933/34 fanden dort 78 Vorträge von Ingenieuren oder Diplomanden statt, um sich mit der neuesten Literatur vertraut zu machen und sich auszutauschen. An seinem Lehrstuhl wurden die Forschungsarbeiten durchgeführt, die Gerlach beschrieben hatte und die nicht unmittelbar in Verbindung mit militärischen Aufträgen standen. Diese Forschungen setzten oft seine Arbeiten aus vorherigen Jahren fort, etwa zu Kristallisationsvorgängen und zur Rekristallisierung der Metalle – allerdings veröffentlichte Czochralski immer weniger Arbeiten allein unter seinem Namen. Die meisten Veröffentlichungen entstanden als Teamarbeit – dies zeigt seine hohe Beanspruchung unter anderem im IMM.839 Neue Forschungen nahmen Metalle mit einer hohen Sprödigkeit wie Antimon, Bismut sowie alkalische Metalle unter die Lupe, die bisher in dieser Hinsicht nicht untersucht waren. Neu war auch eine Beschäftigung mit Mangan. Weiter arbeiteten Czochralski und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Korrosionsvorgängen, die er zwar als theoretisch gelöst charakterisierte, in der Praxis aber immer wieder von großen Abweichungen gekennzeichnet waren.840 Er selbst nannte diese Arbeiten in Abgrenzung zu seinen Auftragsarbeiten »theoretische Forschungen«, aber da er Ergebnisse aus diesen Forschungen auch in seine Berichte für das Militär inkludierte und ihr konkreter Nutzen nicht in Frage zu stellen ist, lässt sich diese Trennung kaum aufrechterhalten. Die Trennung von Lehrstuhl und IMM bleibt ohnehin undurchsichtig, weil der rechtliche Status des IMM bis 1939 ungeklärt blieb. Es war 837 CAW I 342.4.5.: Biuro Bad. Tech. Broń Pancernych: Instytut Metalurgii i Metaloznawstwa Politechniki Warszawskiej. Roczne Sprawozdanie za czas od 1. 4. 1933 do 31. 3. 1934, S. 1. 838 Ebd., S. 4. 839 Siehe die Zeitschrift Wiadomości Instytutu Metalurgii i Metaloznawstwa seit 1934. 840 CAW I 342.4.5., Biuro Bad. Tech. Broń Pancernych: Instytut Metalurgii i Metaloznawstwa Politechniki Warszawskiej. Roczne Sprawozdanie za czas od 1. 4. 1933 do 31. 3. 1934, S. 20-22. 313 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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weder eine eigenständige Rechtseinheit im Rahmen der Technischen Hochschule noch des Verteidigungsministeriums. Gleichzeitig suggerierten die Bezeichnungen eine Zugehörigkeit zur Technischen Hochschule, nannte sich das Institut doch mal Institut bei der Chemischen Fakultät der Technischen Hochschule, mal Institut der Technischen Hochschule. Im Vertrag zwischen dem Ministerium und Jan Czochralski wurde angeführt, letzterer arbeite im Namen und für die Gesellschaft »Technologisches Studium« (Studium Technologiczne). Der Vertrag suggerierte einerseits, dass das Institut zur Technischen Hochschule gehörte, wie es auch sein Stempel auswies, die weitere Formulierung aber deutete darauf, dass es der Gesellschaft »Technologisches Studium« unterstehe.841 Diese Gesellschaft war 1928 unter dem Vorsitz von Wojciech Świętosławski gegründet worden, ihre 53 Mitglieder waren Vertreter der Wissenschaft, der Industrie und verschiedener Regierungsressorts. Sie unterstützten, unter dem Protektorat von Staatspräsident Mościcki und Minister Eugeniusz Kwiatkowski, die Hochschule finanziell beim Bau der schon seit einigen Jahren geplanten neuen Gebäude für Technologische Chemie und Elektrotechnik; der Bau der 4,5 Millionen Złoty teuren Gebäude wurde 1930 begonnen, 1934 fand ihre Eröffnung statt. In einem befanden sich auch die Räume des Instituts für Metallurgie und Metallkunde.842 Dies deutet erneut auf die gesellschaftliche Unterstützung für die Technische Hochschule hin, worin eine Kontinuität zur Zeit vor 1918 zu sehen ist. Für Czochralski entwickelte sich die Leitung des Instituts in mehrfacher Hinsicht zu eine rHerausforderung: Wegen der lokalen Bedingtheit von Wissensproduktion und Wissensbedarfs war in Warschau anderes Wissen gefordert, als er es mitbrachte – dies musste er sich zum Teil aneignen. Sein Wissen hingegen wollte er einbringen, verbreiten und stabilisieren – und stieß damit auf Schwierigkeiten. Teilweise musste er für die Expertisen, die das Militär von ihm verlangte, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (oder sich) erst schulen, etwa in der Metallographie von Eisen. Für diese Aufgabe mangelte es im Land an Spezialistinnen und Spezialisten, und Czochralski selbst hatte sich in seinem bisherigen Leben vorrangig mit Nichteisenmetallen beschäftigt. In den Erinnerungen von Kordian Józef Zamorski, einem Brigadegeneral der polnischen Armee, der eine hohe Position im Generalstab bekleidete, hieß es, dass »Professor Czochralski in Fragen von Stahl ein Dummkopf (dureń)« sei, 841 CAW I.300. 16. 81, Korpus Kontrolerów. Sprawozdanie Korpusu Kontrolerów za rok 1937-1938. 842 Jaczewski, Organizacje i instytucje, S. 212. 314 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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vielleicht sogar ein Schuft (drań), während er ihm für Fragen des Aluminiums attestierte, ein herausragender Fachmann zu sein. Czochralski hatte damals in einer Produktionsstätte Panzerteile aus einem kohlenstoffhaltigen Stahl einführen wollen, während Vertreter der Armee auf Chromstahl bestanden – und recht behielten, wie spätere Versuche und Proben erwiesen.843 Während Czochralski also nicht sofort mit allen Aufgaben vertraut war, die der neue Wissensraum Warschau für ihn bereithielt, auch gar nicht sein konnte, mussten sich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die er vom Militär übernahm, in ganz neue Aufgabengebiete einarbeiten, um sich ihnen unbekannte Prüf- und Herstellungsverfahren für Kriegsausrüstung anzueignen, die Czochralski aus Deutschland mitgebracht hatte. Hier zeigt sich, dass der Transfer von Wissen ein sehr komplexes Unterfangen sein konnte, denn dieser Transfer gelang nicht immer. Anfänglich bremste das Fehlen von Apparaten und Ausrüstung die Arbeiten bzw. führte in manchen Fällen dazu, dass sie nicht begonnen werden konnten. An anderer Stelle klagten die Militärs über eine zu langwierige Ausführung von Arbeiten.844 Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie an schnellen Lösungen interessiert waren, während Czochralski die Gründlichkeit eines Gelehrten auszeichnete – in diesem Fall konnte sich ähnlich wie in der Labormedizin sein in Deutschland erzeugtes Wissen mit den Wissensbeständen vor Ort nicht immer produktiv verbinden. Erschwerend kam hinzu, dass die Arbeitsbelastung enorm war, weil die laufenden Arbeiten für das Militär oft Forschungen erforderten, die gar nicht im Programm des Instituts vorgesehen waren, so dass eben keine schnellen Lösungen vorgelegt werden konnten. Zwar war die Mitarbeiterzahl dementsprechend in nur einem Jahr von 23 auf 70 angestiegen, personelle Engpässe blieben aber trotzdem bestehen.845 Da für den Berichtszeitraum 1933/34 der erwähnte ausführliche, geheime Bericht des Instituts vorliegt, kann für dieses Jahr recht detailliert nachvollzogen werden, womit sich Czochralski und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konkret beschäftigten – dies waren teilweise mehrjährig angelegte Forschungen, weshalb sie das Institut auch in den Folgejahren noch begleitet haben dürften. Sie untersuchten zahlreiche Formen 843 Kordian Józef Zamorski, Dzienniki (1930-1938), Warszawa 2011, S. 305, Eintrag vom 2. 1. 1935. 844 CAW I.300. 16. 81, Korpus Kontrolerów. Sprawozdanie Korpusu Kontrolerów za rok 1937-1938. 845 CAW I 342.4.5., Biuro Bad. Tech. Broń Pancernych: Instytut Metalurgii i Metaloznawstwa Politechniki Warszawskiej. Roczne Sprawozdanie za czas od 1. 4. 1933 do 31. 3. 1934, Anhang Nr. 9a. 315 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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von Munition und deren Zusammensetzung, Flecken auf Gewehrläufen, die auf zu viel Blei zurückzuführen waren, verglichen die Geschosse der Munition für Sportwaffen, wobei große Unterschiede wegen verschiedener chemischer Zusammensetzungen entdeckt wurden, fanden heraus, warum die Hülsen der Sportmunition, die in Polen hergestellt wurde, platzten – das Material war thermisch falsch bearbeitet worden. Sehr oft stellten sie bei der Untersuchung von Munition und Gewehren Fehler im Material fest, die auf eine falsche Bearbeitung zurückgingen. So fanden sie auch heraus, dass Panzerplatten nicht ausreichend Widerstand gegen Geschosse boten, weil ihre Herstellung nicht den entsprechenden Normvorschriften folgte. Für die Luftwaffe kamen beschädigte Teile von Flugzeugmotoren auf den Prüfstand – auch hier stellte das Labor wie so oft Abweichungen von den Vorschriften fest. Bei der Untersuchung verschiedener Lagermetalle im Flugzeugbau wiesen die Forscherinnen und Forscher Fehler nach, zum Teil wurden Materialien eingesetzt, die für diese Zwecke nicht geeignet waren oder falsch bearbeitet wurden. In Polen produziertes Material für Schrauben, die das Kurbelgehäuse von Flugzeugmotoren mit dem Zylinder verbanden, konnte nicht verbaut werden, weil es zu viele Fasern enthielt. Für die Marine prüfte das Team unter anderem Torpedoteile und Stahlbleche, während für den Sanitätsdienst einheimische Scheren und anatomische Zangen aus rostfreiem Stahl dahingehend untersucht wurden, wie anfällig sie für Korrosion waren – in diesem Fall war die Widerstandsfähigkeit gut.846 1934 entstand im IMM 1934 eine spezielle Arbeitsgruppe aus drei Ingenieuren, die sich der Erforschung der Widerstandsfähigkeit und Durchlässigkeit von Panzerblechen und -platten widmete. Es ging zum einen darum, Munition zu produzieren, die zu hundert Prozent in der Lage sein sollte, Panzerbleche zu durchschießen. Dazu veränderten sie den Stahlkern der Munition und verbesserten die Eigenschaften des verwendeten Stahls. Zum anderen suchten sie entsprechende Materialien für Panzerbleche und Panzerplatten (Bleche bis zu 30 mm und Panzerplatten von 30 bis 100 mm), die beständig gegen Schüsse waren. In dieser Frage arbeitete das IMM bis 1936 eng mit der Eisenhütte »Baildon« in Kattowitz im oberschlesischen Industriegebiet und dem Ballistischen Forschungszentrum (Centrum Badań Balistycznych) in Zielonka zusammen. Dabei gelang es, eine optimale Zusammensetzung zu finden, so dass die Bleche und Platten nach verschiedenen Testphasen in den Firmen Starachowice und der Baildon-Hütte in die Massenproduktion gingen. In 846 Ebd., S. 9-19. 316 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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dem entsprechenden Bericht von 1936 wurde aber auch kritisiert, dass die Kapazitäten der entsprechenden Firmen in Oberschlesien zwar ausreichten, und zwar für Zeiten des Friedens und des Kriegs, in Zentralpolen aber nicht, weil etwa in dem Werk in Starachowice nur ein elektrischer Ofen für die Edelstahlproduktion für Munitionsteile zur Verfügung stand und andere Werke mit veraltetem Gerät arbeiteten.847 Der Vergleich von Materialien und Geräten polnischer Herkunft mit denen aus dem Ausland machte einen großen Teil der Versuche in Czochralskis Labor aus. Man untersuchte ausländische Teile und Materialien, um deren Bestandteile zu analysieren und zu kopieren bzw. sich Impulse und Anregungen zu verschaffen. Häufig stellte das Labor eine schlechtere Qualität der polnischen Produkte fest. Solche Vergleiche hatte Czochralski auch im Metalllabor in Frankfurt am Main immer wieder durchgeführt – mit dem Unterschied, dass in den dortigen Berichten fast immer eine Überlegenheit seiner eigenen Legierungen gegenüber anderen einheimischen oder etwa gegenüber amerikanischen Produkten festgehalten wurde. Nun fand sein Labor vor allem Mängel, die auf strukturelle Probleme im noch jungen Nationalstaat verwiesen: Normvorschriften wurden nicht eingehalten, das Material falsch bearbeitet oder Ersatz eingesetzt, der sich nicht als Ersatz eignete – da Stoffwissen in Zeit und Raum entsteht und in Polen vor 1918 weder die Zeit noch der Raum für ein solches Wissen vorhanden waren, konnte es erst nach 1918 generiert und in der Praxis erprobt und erfahren werden. Die Zusammensetzung einzelner Legierungen und Metalle aber wollte genau erkannt sein, um in der Praxis und damit der Produktion von Rüstungsgütern bestehen zu können. Denn den Stoffen war, wie bereits erwähnt, eine gewisse agency inhärent, konnten sie doch über chemische oder mechanische Reaktionen vollkommen andere Ergebnisse produzieren als erwartet. Ebenso beeinflusstendie erwähnte Reinheit der einzelnen Metalle oder eben ihre Verunreinigung ganze Versuchsreihen – es galt zu experimentieren und Erfahrungen zu sammeln. Hier machte sich die beschriebene Konstellation Polens in der Praxis bemerkbar: Man wollte etwas Eigenes produzieren, musste aber wegen infrastruktureller oder Material-Mängel oft auf ausländische Produkte zurückgreifen. Die polnische Produktion sollte qualitativ angepasst werden, in der Praxis aber hielten sich manche Techniker nicht an die Vorschriften, was drei Gründe haben konnte: Entweder war ihnen die Bedeutung einer exakten Einhaltung von wissenschaftlich untermauerten Normen nicht immer 847 CAW I.302. 4. 1882, Generalny Inspektorat Sił Zbrojnych, Sprawozdanie IMM z prac nad blachami i płytami pancernymi w czasie od 1.10.1933 do 1.1.1936. 317 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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bewusst, oder sie standen unter enormen Druck, schnelle Erfolge vorzuweisen, oder sie wurden mit Material beliefert, das die Einhaltung der Normen nicht ermöglichte. Die Arbeit des IMM stellte Czochralski in mehreren Statistiken und Diagrammen dar und griff dabei auf die statistischen Methoden Taylors zurück, mit denen er bereits in Frankfurt gearbeitet hatte, um die Effektivität des Instituts zu prüfen und grafisch zu untermauern. So zerlegte er etwa die insgesamt geleisteten Arbeitsstunden in »effektive Stunden«, »Hilfsstunden«, »Stunden theoretischer Forschung«, »Leitung« sowie »Büro und Verwaltung«. Die Stunden für einzelne Versuche wurden ebenso aufgelistet wie die Anzahl der Versuche: In der mechanischen Abteilung kam es im Berichtszeitraum zu 15.292 Versuchen, in der Abteilung Metalle, Eisen und Panzer zu 4622, in der Abteilung für Fotografie 13.578, der Chemie 4308 und der mechanischen Werkstatt zu 6114. Die meisten Versuche betrafen die Festigkeit von Metallen, gefolgt von Experimenten zu chemischen Zusammensetzungen, zu Schliffen und der Reißfestigkeit. Zu allen 245 Forschungsarbeiten, die zu einem hohen Prozentsatz Auftragsarbeiten für das Militär oder Rüstungsbetriebe waren, entstand jeweils ein Gutachten.848 Die Effektivität seines Labors sah Czochralski als zufriedenstellend an, er beklagte aber die große Menge an organisatorischer Arbeit, die zu Lasten der Forschung ginge, vor allem für die Leitung.849 Die Vertreter im Kontrollgremium des IMM und Kritiker aus den Kreisen des Militärs hatten hinsichtlich der Effektivität des Instituts eine andere Meinung als Czochralski. Nachdem aus mehreren Abteilungen ernsthafte Kritik an der Zusammenarbeit der Armee mit dem IMM an das Büro für Rüstungsindustrie gerichtet wurde, wurde der sogenannte Korpus Kontrolerów (Kontroll-Korps), ein Offiziersgremium, das direkt der Armeeleitung unterstand und seit 1921 die Verwaltungsgeschäfte der Armee kontrollierte, mit einer Inspektion beauftragt. Der anschließende Bericht bestätigte die Kritik der Militärs weitgehend: Einige der Offiziere, die in Czochralskis Institut delegiert worden waren, beobachteten sachliche Fehler in dynamischen Berechnungen, sie beklagten eine große Verschwendung von Material bei Arbeiten, die ihnen nicht konkret genug waren, und kritisierten Czochralski dafür, zu wenig Kontakt zum

848 CAW I 342.4.5., Biuro Bad. Tech. Bron Pancernych: Instytut Metalurgii i Metaloznawstwa Politechniki Warszawskiej. Roczne Sprawozdanie za czas od 1. 4. 1933 do 31. 3. 1934, Anhang 5a. 849 Ebd., Anhang 8 und 9a. 318 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Personal zu halten.850 Weil auch in Polen fähige Ingenieure in der Industrie weitaus mehr verdienen konnten als in der Forschungsarbeit, war die Fluktuation in Czochralskis Institut hoch: Von 25 Ingenieuren war im Zeitraum 1937/38 die Hälfte kürzer als zwei Jahre dort – dies behinderte die Kontinuität der Arbeiten gravierend, weil die Einführung einer Experimentalreihe mindestens zwei Jahre erforderte.851 Das Kontrollgremium kritisierte auch, dass die Bezüge der Verwaltungsangestellten höher waren als die der Ingenieure. Dies förderte die Fluktuation unter denjenigen, die die eigentliche Forschungsarbeit durchführen sollten – Czochralski erklärte dies aber mit der unzulänglichen finanziellen Ausstattung des Instituts. Weitere Kritikpunkte waren, dass auf 51 Beschäftigte 14 Verwaltungsmitarbeiter kamen und zu hohe Kosten für Dienstreisen zufielen, die den Normen der staatlichen Verwaltung folgen sollten – bei Auslandsreisen legte Czochralski offenbar selbst die entsprechenden Tagessätze fest, so jedenfalls der Bericht.852 Vertreter der Luftwaffe sowie der Marine meinten, dass im Programm des IMM die speziellen Bedürfnisse des Flugzeugbaus aufgrund mangelnder Expertise nicht ausreichend berücksichtigt würden. Zudem hatte man schlechte Erfahrungen damit gemacht, dass einige noch im militäreigenen Forschungsinstitut begonnene Arbeiten nicht fortgeführt worden seien, dass es keine Richtlinien gegeben und eine große Verschwendung von Material stattgefunden habe.853 Zusätzlich seien Termine nicht eingehalten worden, der Kontakt zu Czochralski sei schwierig – diesem Vorwurf entgegnete Czochralski, dass viele Fragen komplexe Experimentierreihen erforderten und keine schnelle Antworten ermöglichten.854 Die Zentralisierung der Arbeiten bei Czochralski habe darüber hinaus dazu geführt, dass ein großer, schwerfälliger Apparat entstanden sei, der nicht in der Lage sei, alle laufenden Anforderungen zu erfüllen.855 Sehr negativ fiel eine Verschuldung des Instituts auf, wobei der höchste Anteil, 15.360 Złoty, auf ein Darlehen für Czochralski selbst entfiel. Die jährliche Summe von 60.000 Złoty, die an das Chemische Forschungs850 CAW I.300. 16. 81, Korpus Kontrolerów. Sprawozdanie Korpusu Kontrolerów za rok 1937-1938. 851 Ebd. 852 Ebd. 853 CAW I.300. 16. 81, Korpus Kontrolerów. Sprawozdanie Korpusu Kontrolerów za rok 1937-1938. 854 Z sali sądowej. Prof. Czochralski contra Prof. Broniewski w apelacji, in: Rzeczpospolita, 1. 2. 1938. 855 CAW I.300. 16. 81, Korpus Kontrolerów. Sprawozdanie Korpusu Kontrolerów za rok 1937-1938. 319 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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institut bezahlt wurde, galt ebenfalls als zu hoch, weil die ausgeführten Arbeiten diesem Wert nicht entsprachten. Die gesamte Kritik, deren Argumente denen aus dem Gerichtsprozess gegen Czochralski im Jahr 1936 sehr ähnelten,856 gelangte auch zum stellvertretenden Verteidigungsminister Aleksander Litwinowicz, der der Verwaltung der Armee vorstand – aus Erinnerungen geht hervor, dass die Militärs Czochralski letztlich nur mit Rücksicht auf die Person des Präsidenten Mościcki, der Czochralski nach Polen geholt hatte, nicht abberufen hatten – dies war wegen der Unzulänglichkeiten in der Verwaltung des IMM sowie seiner Schulden im Gespräch.857 Seine Position als Leiter des IMM wurde im Jahr 1938 für ein Jahr verlängert.858 Insgesamt hatten Czochralskis Forschungen in Polen für das Militär dazu beigetragen, viele Fragen der Zusammensetzung von dort gebräuchlichen Materialien und Metallen aufzuklären. Zweifellos leistete Czochralski damit einen wichtigen Betrag zur Modernisierung der polnischen Armee. Dies gilt besonders für Fragen der Aluminiumproduktion, der Zusammensetzung von Stahl und Stahllegierungen sowie Magnesium. Auch seine Arbeiten zur Widerstandsfähigkeit von Panzerblechen beförderten die Produktion erheblich – sie galten als spektakulärer Erfolg.859 Obwohl Czochralskis Institut besser ausgestattet war als viele andere am Polytechnikum, machte sich aber auch bei ihm der in Polen herrschende Kapitalmangel bemerkbar – für den laufenden Betrieb fehlte es immer wieder an Personal und finanzieller Unterstützung – was die Innovationskraft seines Instituts einschränkte. Zudem waren die Erwartungen, die an ihn gerichtet wurden, extrem hoch. Die Zentralisierung der gesamten Forschungsarbeiten im Bereich der Metalle für die polnische Armee hätte ein Großforschungsinstitut erfordert, das Czochralski nicht zur Verfügung stand. Die Aufgabe, Forschungsarbeiten mit Arbeiten zu verbinden, die einen unmittelbaren und schnellen Nutzen für das Militär und die Rüstungsindustrie haben sollten, war eine enorme Herausforderung selbst für jemanden wie ihn, der als Pionier der Anwendung wissenschaftlicher Forschung in der Industrie galt. Angesichts der Fülle von Aufträgen verwundert es nicht, dass er sich darüber beklagte, kaum noch Zeit für Forschung zu haben. Es scheint, dass Czochralski im Warschauer Wissensraum mit seinen beruflichen Aufgaben derart überfrachtet war, dass er nicht alle von ihnen hundertprozentig ausfüllen 856 Siehe dazu das folgende Kapitel. 857 Majewski, Prace Instytutu Metalurgii i Metaloznawstwa, S. 110. 858 CAW I.300. 16. 81, Korpus Kontrolerów. Sprawozdanie Korpusu Kontrolerów za rok 1937-1938. 859 Majewski, Prace Instytutu Metalurgii i Metaloznawstwa, S. 103. 320 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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konnte. Denn neben der Leitung des IMM, seines Lehrstuhls (inklusive der Lehre) und der metallurgischen Abteilung im ChIB hatte er zahlreiche weitere Aufgaben übernommen, die im folgenden Abschnitt dargestellt werden. 4.3.6 Arenen der Technik, der Professionalisierung und der angewandten Forschung: Jan Czochralski als Experte, Berater und Mäzen

Ebenso wie Ludwik Hirszfeld engagierte sich Jan Czochralski außerhalb seiner Arbeit an der Technischen Hochschule in mehreren Fachverbänden, Vorständen, Aufsichtsräten und als Berater für die Industrie. Aufgrund der bereits geschilderten zivilgesellschaftlichen Initiativen im Vereinswesen noch vor dem Ersten Weltkrieg konnte Polen auf die Tradition von technischen Verbänden in allen drei Teilungsgebieten zurückgreifen, die bereits Konferenzen organisiert und eine Fachpresse ins Leben gerufen hatten.860 Der Auf bau des polnischen Staates veränderte die Situation dieser Gesellschaften, weil er die Kapazitäten zahlreicher ihrer Mitglieder band – die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begannen, in den Universitäten zu arbeiten, in der Verwaltung oder der Industrie.861 Daher verwundert es nicht, dass zahlreiche neue Gesellschaften erst ab der Mitte der 1920er oder der 1930er Jahre ins Leben gerufen wurden, als die ersten Aufbaujahre vorbei waren. Als Ausdruck der Ausdifferenzierung von Wissensgebieten und der voranschreitenden Professionalisierung und Institutionalisierung verloren die Gesellschaften ihren vorherigen, eher generalisierenden Charakter und gruppierten sich immer stärker um bestimmte Disziplinen und ganz spezielle Fragestellungen, um so zu einem Teil des nationalen Innovationssystems zu werden. Sehr charakteristisch war, dass alle technischen Vereine nach 1918 die dringende Notwendigkeit der Zusammenarbeit und konzeptionellen Unterstützung des Militärs akzentuierten.862 Dieser Gedanke leitete auch die Gesellschaft der polnischen Ingenieure, Techniker und Mechaniker (Stowarzyszenie Inżynierów i Techników Mechaników Polskich, SIMP), die 1926 von Henryk Mierzejewski ins Le860 Henryk Mierzejewski, Stan i zadania stowarzyszeń technicznych, in: Przegląd Techniczny 4-5 (1929), S. 210-214, S. 212. 861 Ebd., S. 213. 862 Józef Piłatowicz, Ruch stowarzyszeniowy inżynierów i techników polskich do 1939 r., T. II: Słownik polskich stowarzyszeń technicznych i naukowo-technicznych do 1939 r., Warszawa 2005, S. 347. 321 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ben gerufen wurde. Er war ihr erster Vorsitzender und vermutlich nicht ganz unbeteiligt daran, dass Jan Czochralski ihr bereits 1929 beitrat. Die Gesellschaft startete als ein eher elitärer Verein, der Ingenieure und Techniker mit großen Verdiensten um die Wissenschaft oder praktische Anwendungen vereinen wollte. Anfangs hatte die Gesellschaft 28 Mitglieder und war bis 1934 erst auf 162 Mitglieder angewachsen. 1934 aber öffnete sie sich allen Ingenieuren, und so stieg die Mitgliederzahl bis 1939 auf 1299 an. Czochralski arbeitete vor allem an der Organisation ihrer jährlichen Kongresse mit. Ziel der Vereinigung war es, die Entwicklung der polnischen Technik und deren wissenschaftliche Grundlagen zu fördern, um das »Eigene« zu stärken und ausländische Lizenzen vor allem als Impuls für eigene Entwicklungen, nicht als Vorlagen für blindes Kopieren zu verstehen.863 Während einem der Jahreskongresse der SIMP mit über 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am 3. Dezember 1932 fand die Ausgliederung einer Gesellschaft statt, deren Vorsitz Jan Czochralski von 1932 bis 1935 übernahm: die Militärtechnische Gesellschaft (Towarzystwo Wojskowo-Techniczny, TWT). Ihre Aufgabe war es, die Ingenieure in Polen mit Fragen der Militärtechnik vertraut zu machen. Dahinter stand die Überzeugung, die Fähigkeit zur Verteidigung des Landes in einem künftigen Krieg müsse erhöht werden, und zwar besonders mithilfe der Ingenieure.864 Die Gesellschaft wollte eine Brücke zwischen technischem Fachwissen und den Anforderungen eines modernen Krieges schaffen. Unter den besonderen Bedingungen Polens müsse ein relativ niedriges Industrialisierungsniveau von den Ideen und der »harten Arbeit aller polnischen Techniker« kompensiert werden. Zu diesem Zweck organisierte die TWT verschiedene Kurse für Ingenieure aus der Industrie, aber auch für Arbeiter und Handwerker, etwa zum Thema Waffentechnik, in militärischer Elektrotechnik, Fragen der Motorisierung der Armee, militärischer Ingenieurstechnik und Panzerwaffen.865 Diese Kurse wurden zum Teil an der Technischen Hochschule Warschau abgehalten.866 Bei einer seiner ersten Sitzungen ließ Czochralski sogleich seine Erfahrungen aus dem deutschen Vereinswesen einfließen und schlug vor, einen Geschäftsführer nach deutschem Vorbild bei der Gesellschaft einzuführen – dies

863 Mierzejewski, Stan i zadania, S. 214. 864 Siehe Piłatowicz, Kształcenie inżynierów, S. 309. 865 CAW I.342.3.1., Wojskowy Instytut Badan Inzynerii. Towarzystwo WojskowoTechniczny, Februar 1935. 866 Ebd. 322 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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befürwortete die Versammlung.867 Ähnlich wie die DGM bildete die Gesellschaft zahlreiche Ausschüsse und Kommissionen, 1935 waren es 33, darunter für Leichtmetalle und Aluminium, für Kupfer und Kupferlegierungen und den möglichen Abbau von Kupfererzen in Jugoslawien, vorgeschlagen vom polnischen Attaché in Belgrad,868 oder für die Metallurgie des Eisens. In diesen Kommissionen wurden Vorträge gehalten und diskutiert, darunter auch populärwissenschaftliche Ansätze, die das Kriegswissen in der Gesellschaft verbreiten sollten. Die Dichte an Vorträgen war hoch: Allein von April 1939 bis Juni 1939 wurden in allen Kommissionen 47 Vorträge gehalten.869 Viele der Vortragenden warfen den Blick auf andere Länder und rezipierten dortige Entwicklungen, teils mit Bewunderung, teils mit Abwehr. Der Ingenieur Leonard Krauze, der zeitweilig im IMM gearbeitet hatte, referierte z. B. über das Problem der Metalle in Deutschland, während Jan Czochralski das Thema »Metalle und ihr Ersatz im Lichte der Autarkie« popularisierte. Die Fragen, die in den Kommissionen erörtert wurden, sollten direkt an die Regierung gehen – dieser Transfer funktionierte offenbar nur mäßig, denn die Mitglieder forderten eine höhere Partizipation von Vertretern der Armee und Regierungskreisen an den Sitzungen, um schneller reagieren zu können. Als beispielhaft galt hier die nationalsozialistische, »unserer TWT verwandte[n] ›Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften‹«, weil die Redner und Zuhörer dort vor allem hohe Militärs seien – der Blick ins benachbarte Deutschland war zwar immer von Skepsis und einer Abwehr von zu großem Einfluss gekennzeichnet, eine gewisse Bewunderung in Militärkreisen lässt sich aber nicht leugnen.870 Gerade in den 1930er Jahren nach Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes im Jahr 1934 intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern – dies schlug sich auch in den Arbeiten dieser Gesellschaften nieder, in denen die Entwicklung in Deutschland genau beobachtet wurde. Einen weiteren Vorsitz übernahm Jan Czochralski in den Jahren von 1930 bis 1936 in der Gesellschaft der Hüttenleute Polens (Stowarzyszenie Hutników Polskich). Sie wurde 1930 in Kattowitz gegründet und verfolgte das Ziel, die Entwicklung des polnischen Hüttenwesens wissenschaftlich und praktisch zu unterstützen. Ihre Mitgliederzahl blieb mit anfäng867 CAW I. 342. 1. 34, Protokół posiedzenia Tymczasowego Zarządu Tow. Woj. Techn., 16. 11. 1932. 868 CAW I 303. 3. 553, Stab Głównego, Zagadnienie produkcji międzi w Polsce, 1933. 869 Piłatowicz, Ruch stowarzyszeniowy, S. 350. 870 CAW I. 391.30.1, Towarzystwo Wojskowo-Techniczne, Sprawozdania ogólne za okres 1. 9. 1935-31. 8. 1936. 323 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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lichen 148 bis 200 im Jahr 1939 überschaubar, Mitglieder rekrutierten sich überwiegend aus Oberschlesien und Südpolen – unter anderem traten mehrere Hüttenbetriebe und andere Betriebe der Großindustrie bei. Sie organisierte rund 20 Vorträge im Jahr, unter den Vortragenden finden sich erneut Jan Czochralski, Leonard Krauze und weitere Forscher, mit denen Czochralski in anderen Zusammenhängen zusammenarbeitete. Eine wichtige Initiative der Gesellschaft war die Erstellung eines Lexikons des Hüttenwesens, das die polnischen Entsprechungen zu deutscher, russischer, französischer und englischer Fachterminologie enthielt. Darüber hinaus organisierte die Gesellschaft Kurse, vor allem in Schlesien, schrieb Wettbewerbe aus, sicherte Industrieerbe und schuf einen Hilfsfonds. Und sie engagierte sich protektionistisch: 1932 verteidigte sie polnische Hütteningenieure, als einige Betriebe in Schlesien diese durch ausländische ersetzen wollten.871 In der oberschlesischen Hüttenindustrie war dies ein häufiges Streitthema: Der Meinung der Aufsichtsräte einiger Firmen, von denen manche durch ein deutsch-amerikanisches Konsortium unter Beteiligung von Friedrich Flick geführt wurden, dass Polen erst noch von Deutschen lernen müssten, wie diese Hüttenbetriebe zu führen seien und deswegen polnische Ingenieure nicht in Leitungspositionen der Industrie zugelassen wurden, widersetzte sich die Gesellschaft schon 1930 mit einer scharfen Resolution.872 In einem weiteren Verband wollte oder durfte Czochralski ebenfalls nicht fehlen: dem Polnischen Verband der Materialkunde (Polski Związek Badań Materiałów) unter Leitung von Maksymilian T. Huber, einem derjenigen Professoren, die Czochralski 1924 in Delft getroffen hatte. Czochralski gehörte 1933 neben Huber zu den Gründungsmitgliedern dieser ebenfalls kleineren Vereinigung mit anfangs 72, 1939 dann 140 Mitgliedern. Ihre Ziele waren im Unterschied zu anderen Verbänden nicht auf Popularisierung von Wissen ausgelegt, sondern auf die Erörterung von wissenschaftlichen Problemen und die Zusammenarbeit von wissenschaftlichen mit industriellen Laboratorien. Daher waren zahlreiche Industriebetriebe, aber auch wissenschaftliche Einrichtungen wie das IMM als Mitglieder vertreten.873 Für alle Verbände und vor allem für die Industrie waren Prozesse von Standardisierung und Normierung von großer Bedeutung – ein weiteres Feld, in dem Czochralski aktiv mitarbeitete. In dem 1923/24 entstandenen Polnischen Komitee für Normalisierung (Polski Komitet Normaliza871 Piłatowicz, Ruch stowarzyszeniowy, S. 202-205. 872 Siehe Życie techniczne 7 (1930), Kronika Kół Naukowych, S. 21. 873 Piłatowicz, Ruch stowarzyszeniowy, S. 83-85. 324 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

ȲȄȇÇȐȇȀȃȇȋȝȎȤȬȲȇȃȕȄȃȃȇȤȃȄȤȤȇȎȇȷȀȇȤȇȤ

cyjny) übernahm er den Vorsitz der Hüttenkommission Nr. 2 für die Normierung von Metallen außer Eisen und Stahl. Innerhalb dieser Kommission beschäftigten sich weitere Unterkommissionen mit Kupfer, Messing, Bronze, Aluminium und seinen Legierungen, Zink und Kadmium, Blei und Bleilegierungen, Nickel und Kobalt, Mangan, Zinn, Antimon und anderen Metallen. Seit 1937 wurden die Kommissionen reduziert, nachdem Normen etwa für Aluminium und seine Legierungen, Bronzen, Nickel, Kobalt, Mangan und Zinn, Blei, Messing und Kupfer erarbeitet worden waren. Czochralski war der Autor der Bezeichnungen für Aluminium, anfangs unterschied man noch die Zusätze Hütten-, Reinund Roh-Aluminium.874 Die Durchsetzung der Bezeichnung »Aluminium« anstelle des älteren, polnischen »Glin« für das Aluminium war dabei von einer kleinen Kontroverse begleitet. Denn einige Wissenschaftler, vor allem Chemiker, hingen an dem Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Begriff »Glin«, den ein Kongress von Chemikern im Jahr 1901 zum gebräuchlichen Begriff erklärt hatte – dafür allerdings hatte Czochralski nur wenig Verständnis und erklärte »Aluminium« klar zu dem Begriff, den »wir Metallurgen« für diesen modernen Stoff benutzen sollten. Das Normalisierungskomitee entschied ebenfalls so. Die Art und Weise, wie Czochralski zu dieser Frage Stellung nahm, wurde aber als zumindest unglücklich aufgefasst – Czochralski hatte geschrieben, dass der Ausdruck »Glin« nur in einer Gesellschaft entstehen konnte, der Aluminium fremd gewesen sei oder die es nur aus der Literatur gekannt habe – diese Passage, die Czochralski in einem Beitrag in einer Fachzeitschrift formulierte, rief den Unmut des Chemikers Tadeusz Estreicher hervor, der Polen damit zu Unrecht als rückständig diskreditiert sah, weil zu jener Zeit Aluminium in so gut wie jeder Gesellschaft unbekannt gewesen sei. Czochralski bekräftigte sein Argument noch einmal und beendete diese kleine Polemik mit dem Hinweis, man möge sich lieber den Produktionsbedingungen von Aluminium in Polen widmen.875 Über diese hatte Czochralski kurz zuvor mit dem Eröffnungsvortrag des Kongresses der SIMP im Oktober 1937 recht deutliche Worte gefunden. Er stellte den enormen Zuwachs der Aluminiumproduktion weltweit und in Deutschland vor, diskutierte die dortigen Methoden und lobte die dort inzwischen erlangte Autarkie in dieser Frage. Dann wurde er deutlich: Polen könne von solch modernen Methoden nicht einmal träumen, und er fragte die versammelten Vertreter von Industrie, Tech874 Majewski, Prace Instytutu Metalurgii i Metaloznawstwa, S. 109. 875 Jan Czochralski, W sprawie nomenklatury glin-aluminium, in: Przemysł Chemiczny 21/9 (1937), S. 268; Tadeusz Estreicher, Jan Czochralski, W sporze nomenklaturowym glin-aluminium, in: Przemysł Chemiczny 22/2 (1938), S. 45-46. 325 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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nik und Militär, warum sich trotz zehnjähriger Diskussion über eine Aluminiumproduktion bislang nichts getan habe. Czochralski verband dies mit einer scharfen Kritik an zu vielen Kommissionen und Institutionen, an zu vielen Beschlüssen, die nichts gebracht hätten – am Ende meinte er, dass wohl nur das Militär in der Lage sei, eine Aluminiumproduktion in Polen auf den Weg zu bringen.876 Ob die Art und Weise, wie Czochralski hier Unzulänglichkeiten der polnischen Autarkiepolitik und das Verschlafen einer Entwicklung kritisierte, von allen Anwesenden geteilt wurde, ist nicht bekannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass die klaren Worte, die er fand, nicht bei allen auf ungeteilte Zustimmung stießen – eben genau wie in der Frage der Normierung der Bezeichnung dieses Metalls, dem Czochralski nach wie vor eine große Zukunft bescheinigte, weil darin deutsche Überheblichkeit steckte. Seine Kritik an der Fragmentierung der technischen Gesellschaften hingegen war überaus berechtigt. Einen weiteren Vorstands- und Vizepräsidentenposten erhielt Czochralski im Komitee für den Auf bau eines Industrie- und Technikmuseums in Polen, dessen Bau er auf diese Art und Weise zu fördern suchte.877 Wie er es von den Ingenieuren auf dem erwähnten Kongress forderte, so verlangte er, dass auch in dem Museum ein schöpferischer Geist herrschen müsse – ein Ort und die Sammlungen allein würden noch kein Museum ausmachen.878 Die Physiognomie eines modernen Museums stellte sich Czochralski so vor: Es müsse die Anzahl der Exponate begrenzen und nur wertvolle Objekte zeigen, es solle durch entsprechende Anordnung, sachliche Aufteilung wie auch durch zielführende Erläuterungen, die aber vor allem klar und nicht überladen sein dürften, anregend auf den Betrachter wirken, kurzum: »Es solle ein Ort der Inspiration sein.« Die Jugend solle dort schöpferische Gedanken finden und sie »in Taten umwandeln«.879 Europaweit herrschte zu jener Zeit ein Trend zur Gründung von Museen für Technik und Technologie – in Deutschland entstanden die ersten bereits 1903, in Wien und Prag im Jahr 1908. Oft schwankten sie zwischen Lobpreisung einer nationalen Technikkultur und der Darstellung der Internationalität von Technikwissen und technologischer

876 Jan Czochralski, Pierwszy postulat samowystarczalności, in: Przegląd Mechaniczny 3 (1937), S. 712-713. 877 Siehe Jackowski, Muzea Przemysłu, Przedmowa, S. IX . 878 Ebd., S. VII. 879 Ebd., S. VIII-IX . 326 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Entwicklung.880 Das Nationale wurde, wie so oft, an internationalen Standards gemessen.881 Dies war auch in Warschau der Fall, wo die Ausstellungsmacher einen Schwerpunkt darauf legten, die Errungenschaften von Polinnen und Polen zu zeigen, die diese außerhalb des Landes erzielt hatten, um ein Gedächtnis für die »ehrenvollen polnischen Erfinder, Konstrukteure und Organisatoren des wirtschaftlichen Lebens« zu schaffen.882 Gleichzeitig gab man freimütig zu, das Museum nach englischem und deutschem Vorbild konzipiert zu haben, und zeigte die internationale Entwicklung der Technik auf.883 Für das Museum zeigte sich Czochralski als großzügiger Spender – 1936 figurierte er mit 2.200 Złoty weit vor zahlreichen anderen Spenderinnen und Spendern.884 Weiterhin stellte er seine Expertise und Exponate zur Verfügung – das IMM zum Beispiel spendete 14 Panzerplatten für die Ausstellung.885 Das Museum umfasste ein weites Feld von Wissenschaft und Technik in Polen. Über hundert Vertreter verschiedener Wissensgebiete arbeiteten an der Konzeption mit, unter anderem auch Gustaw Szulc, der Direktor des Staatlichen Hygiene-Instituts. So war das Museum der Ort, wo sich die Fachgebiete von Hirszfeld und Czochralski am nächsten kamen. Wegen finanzieller Engpässe gelang es allerdings nicht, ein eigenes Gebäude zu errichten, so dass die Sammlungen vorerst in vier verschiedenen Standorten unterkamen. Zynisch heißt es in einem Bericht der deutschen Okkupationsverwaltung aus dem Jahr 1940: »Ein eigenes Gebäude besaß das Museum nicht. Die Septemberereignisse 1939 haben die bereits fortgeschrittenen Pläne eines eigenen Museumsgebäudes zunichte gemacht.«886 Zuvor noch bereitete das Museum den wissenschaftlichen Teil des Polnischen Pavillons für die Weltausstellung im Jahr 1939 in New York vor. Auf diese Weise reisten die von Jan Czochralski überwiegend mit deutschen Rohstoffen und Apparaten in Polen hergestellten Einkristalle über den 880 Siehe dazu auch Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 57 sowie Muzeum Przemysłu i Techniki, Sprawozdanie za rok 1933, Warszawa 1934, S. 5. 881 Kohlrausch, Trischler, Building Europe, S. 58 882 Muzeum Przemysłu i Techniki, Sprawozdanie za rok 1933, Warszawa 1934, S. 20. 883 Ebd., S. 21. 884 Finansowy Udział Społeczeństwa w Akcji Organizowania Muzeum Przemysłu i Techniki oraz w akcji budowy gmachu, stan na 1. 4. 1936, S. XI. 885 Biuletyn Muzeum Techniki i Przemysłu 6 (1938), S. 33. 886 Archiwum Państwowe w Warszawie (APW ) 1187: Amt des Distrikts Warschau, Amt für Schulwesen. Dr. Julian R. von Pulikowski: Museum für Technik und Gewerbe vom 1. August 1940. Der Bericht ging, entgegen jeglicher realistischer Vorstellungen über das Kulturleben während der Okkupation in Polen, von einer Wiedereröffnung des Museums im Oktober 1940 aus, weil sich die polnischen Angestellten seit den Kriegshandlungen sehr dafür eingesetzt hätten, Schäden zu beseitigen und Sammlungen zu sichern. Dies geschah aber nicht. 327 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Atlantik, wo sie einen Teil der Ausstellung bildeten, eingerahmt von Modellen zur Rekristallisation und Tafeln zur Tätigkeit seines Instituts.887 Neben diesen zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten war Czochralski weiterhin für die Industrie direkt tätig, saß im Aufsichtsrat eines Verbundes zweier Firmen der oberschlesischen Schwerindustrie und beriet verschiedene weitere polnische Firmen ehrenamtlich.888 Zudem war er weiterhin als Berater für die Metallgesellschaft sowie die Breslauer Firma Schaefer & Schael im Bahnmetall-Geschäft tätig. Er sollte und wollte das Bahnmetall nicht nur in Polen, sondern möglichst europaweit vertreiben. Die Umstände dieser Beziehung sind aufgrund einer unvollständigen Quellenlage nicht einfach zu klären.889 Das Verhältnis zwischen der Metallgesellschaft, Schaefer & Schael und Czochralski war in dieser Geschäftsbeziehung zeitweilig alles andere als harmonisch, man stritt sich über die Beraterverträge, die jeweiligen Zuständigkeiten, Lizenzen und Einkünfte.890 Während Schaefer & Schael offenbar ein eigenes Interesse daran hatte, das Bahnmetall in Kattowitz zu produzieren, verfolgte Czochralski mit der Firma Ursus einen eigenen Weg – was wiederum Schaefer & Schael überraschte: Wider Erwarten, so hieß es aus der Firma, habe Ursus mit der Produktion begonnen, und obwohl man abwarten müsse, ob sie brauchbares Material herstellen könnten, müsse fortan mit diesem Faktor gerechnet werden.891 In diesen Auseinandersetzungen vermittelte Czochralski den Eindruck, »reichlich selbstbewusst« zu sein und sich in Polen »außerordentlich stark« zu fühlen, wie es in einem Brief der Metallgesellschaft heißt.892 Er wollte in jedem Fall in Bezug auf das Bahnmetall seine Interessen durchsetzen und versuchte dies weiterhin bis 1939. Neben seiner metallkundlichen Arbeit war Czochralski auch vielseitig künstlerisch interessiert – er sammelte Kunstwerke, unterhielt einen literarischen Salon und pflegte zahlreiche Kontakte zu Kulturschaffenden. Es scheint, als sei Czochralski ein bedeutendes Mitglied der Warschauer Stadtgesellschaft gewesen, aber auch über diese Kontakte und seine Position in diesem Raum ist nur wenig bekannt.893

887 Biuletyn Muzeum Przemysłu i Techniki 7 (1939), S. 11-13. 888 Z sali sądowej. Prof. Czochralski contra Prof. Broniewski, in: Gazeta Polska, 16. 10. 1936. 889 HWA 119, Kasten 78, Notiz vom 3. 7. 1941 in Bezug auf die Verträge mit Czochralski. 890 HWA 119, Kasten 155, Schaefer & Schael, darin Korrespondenz mit Czochralski. 891 Ebd., Schaefer & Schael an Metallgesellschaft, 5. 12. 1930. 892 Ebd., Metallgesellschaft an Schaefer & Schael, 23. 4. 1935. 893 Siehe dazu Tomaszewski, Powrót, S. 209 ff. 328 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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4.3.7 Das transnationale Leben vor Gericht: Die »zwei Vaterländer« des Jan Czochralski als Hochverrat

Czochralskis vielfältige wissenschaftliche, anwendungsorientierte und fachfremde Aktivitäten oder auch seine »starke« Position in verschiedenen Kontexten und Konstellationen bescherten ihm in Polen nicht nur Freunde, im Gegenteil. Zu einem seiner schärfsten Widersacher avancierte sein Kollege Witold Broniewski, ebenfalls ein Metallurge von der Technischen Hochschule Warschau, der seine Ausbildung in Petersburg, Krakau und Frankreich erhalten und dort auch gearbeitet hatte. Die Arbeiten, die er dort noch vor 1918 ausführte, hatten ein hohes wissenschaftliches Niveau.894 Broniewski, der Mitglied der Nationalen Liga war, hatte 1920 die Auffassung verkündet, eine »polnische Wissenschaft« müsse es auch in der Naturwissenschaft geben, und hielt fest, dies sei keine finanzielle, sondern eine Frage der nationalen Atmosphäre im Land und des Charakters der Wissenschaftler.895 An Jan Czochralski, so scheint es, wollte er in dieser Hinsicht ein Exempel statuieren. Zwar hatte er 1928 noch selbst Czochralskis Übersiedlung nach Warschau befürwortet, aber bald schon hielt er ihm dessen Tantiemen aus dem Verkauf von Patenten und die Zusammenarbeit mit der Rüstungsindustrie vor, weil dies einem Gelehrten nicht zustehen würde. Czochralskis deutsche Staatsbürgerschaft nutzte er dazu, ihn unter einen antipolnischen Generalverdacht zu stellen.896 Im März 1933 wandte sich Witold Broniewski an das Disziplinargericht der Technischen Hochschule Warschau mit neun Fragen, die sich auf das Verhalten von Czochralski seit 1928 und dessen staatsbürgerliche Loyalität bezogen.897 Broniewski fragte unter anderem, ob es der Wahrheit entspreche, dass Czochralski in Deutschland seine Stellung verloren und keine neue gefunden habe, wie es Oswald Bauer in der Abschiedsrede vor der DGM akzentuiert hatte, die Broniewski kannte und zitierte – er verband dies mit der Suggestion, dass Czochralski nicht aus patriotischen Gründen nach Polen gekommen sei, wie von Czochralski selbst behauptet, sondern aus materiellen, und ob sein Vorgehen, den Patriotis894 Jaczewski, Organizacje i instytucje, 288 f. 895 Nauka Polska 3 (1921), Rozprawy, S. 208. 896 Broniewski soll sich auch generell gegen die Ausbildung von Ingenieuren für das Militär an der Technischen Hochschule ausgesprochen haben, so jedenfalls geht es aus den Erinnerungen von Oberst Tadeusz Felsztyn hervor, siehe Piłatowicz, Kształcenie inżynierów, S. 302, Anm. 35. 897 Siehe dazu auch Paweł E. Tomaszewski, der diese neun Fragen als »neun Vorwürfe« charakterisiert, siehe Ders., Komentarz, S. 521. 329 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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mus in den Vordergrund zu schieben, nicht moralisch fragwürdig sei. Weitere Fragen kreisten um Czochralskis deutsche Staatsbürgerschaft. Broniewski fragte, ob er die deutsche Staatsbürgerschaft nicht zurückgegeben habe – was, angesichts der Unmöglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft im polnischen Recht, bedeuten würde, er habe weiterhin nur die deutsche Staatsbürgerschaft; und er wollte weiter wissen, wie sich diese Tatsache dazu verhielte, dass Staatsbürger eines fremden Landes in Polen keine lebenslangen, sondern nur vertraglich begrenzte Professuren erhalten und keinen Anspruch auf eine Pension erheben könnten. Und wie könne es sein, dass ein Bürger eines anderen Landes in Polen Zugang zu vertraulichen Angelegenheiten der nationalen Verteidigung erhalte? Das Disziplinargericht fand diese Fragen offenbar nicht überzeugend genug, erklärte sich für inkompetent, zu diesen Fragen Stellung zu beziehen, und stellte die Sache ein – und auch Czochralski schwieg.898 Dies führte dazu, dass Broniewski seine Vorwürfe erneut aufgriff. Im Jahr 1936 hatte er sich dazu journalistische Verbündete gesucht, bei denen seine nationalistisch überformten Argumente, mit denen er Czochralski schaden wollte, gut ankamen: 1936 erschien in der rechtsgerichteten Zeitung Goniec Warszawski (Warschauer Bote), die ansonsten durch eine Fülle von antisemitischen Artikeln auffiel, ein Artikel von Broniewski, in dem er schrieb, Czochralski habe der polnischen Wirtschaft geschadet, weil er als vermeintlicher Deutscher den Polen mit dem Bahnmetall, das in Polen Metall »B« genannt wurde, ein technisch wertloses Metall verkauft habe. Denn es könne hinsichtlich der benötigten Rohstoffe nicht in Polen allein produziert werden, sondern sei auf Rohstoffe aus Deutschland angewiesen. Zudem seien die Rohstoffe in Polen sehr viel teurer als in Deutschland, so dass sein Einsatz nicht wirtschaftlich sei.899 Im Falle eines zukünftigen Krieges gegen Deutschland würde dies zu einem raschen Ausfall der polnischen Eisenbahnen bereits in den ersten Monaten führen. Experten der Eisenbahndirektion widerlegten dieses Argument vor Gericht; für Czochralski sprachen sich auch der Direktor des Museums für Technik und Industrie sowie mehrere derjenigen Ingenieure aus dem Militär aus, mit denen Czochralski zusammenarbeitete.900 Broniewski prangerte darüber hinaus an, Czochralski allein – als Inhaber der Lizenz – habe daran verdient, die Bahnmetall-Lizenz 898 B. Kalinowski, Kim jest posiadacz licencji stopu »B«? Prof. Czochralski w świetle 9 pytań prof. Broniewskiego, in: Goniec Warszawski, Nr. 138, 20. .5. 1936; Szczepanik, Profesor Politechniki Jan Czochralski. 899 Witold Broniewski, Tajemnica stopu »B« zakupionego przez Polskie Koleje Państwowe, in: Goniec Warszawski, Nr. 133, 15. .5. 1936. 900 Z sali sądowej. Prof. Czochralski contra Prof. Broniewski, in: Gazeta Polska, 15. 10. 1936. 330 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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nach Polen verkauft zu haben, und das nicht schlecht, habe er doch für diese Lizenz allein 72.000 Złoty erhalten – dies berichtigte Czochralski selbst, indem er angab, er habe angesichts der anfänglich hohen Produktionskosten der Firma Ursus keinerlei Lizenzgebühren erhalten.901 Weiter behauptete Broniewski, Czochralski gebe seine deutsche Staatsbürgerschaft nicht zurück, weil er nie ein Pole habe werden wollen.902 Wojciech Świętosławski, damals bereits Bildungsminister, bestätigte dagegen, dass Czochralski die deutsche Staatsbürgerschaft habe aufgeben wollen, der deutsche Staat aber solche Verfahren um Jahre verzögere. Auch dazu nahm Czochralski selbst Stellung und gab an, dass Träger von militärischen Geheimnissen 10 bis 15 Jahre warten müssten, bevor sie die deutsche Staatsbürgerschaft abgeben könnten.903 In der Folge erschienen mehrere Artikel von Redakteuren der Zeitung, in denen Czochralskis Leben durchleuchtet wurde. Mangelnder Patriotismus wurde ihm vorgehalten, weil er nicht gleich nach dem Krieg für den jungen polnischen Staat optiert habe, obwohl angemerkt wurde, dies allein habe ihn noch nicht disqualifiziert. Der polnische Staat habe schließlich erst erstarken und an Attraktivität gewinnen müssen, um »seine Söhne zur Rückkehr zu bewegen, die er in der Fremde verloren habe«. Als einen solchen verlorenen Sohn habe man auch Czochralski gesehen, dem daraufhin die Ehre einer Professur an der Technischen Hochschule zuteilgeworden sei. Czochralski habe zugesagt, aus Sehnsucht nach Polen seine gute Stellung in Deutschland und die deutsche Staatsbürgerschaft aufzugeben, um die polnische anzunehmen.904 Der Redakteur der Zeitung wunderte sich ein ums andere Mal, wie es Czochralski gelungen sei, in der doch recht kurzen Zeit, die er sich in Polen aufhielt, sich weder durch das Disziplinargericht noch durch andere Prozesse habe erschüttern lassen. Die Zeitung wollte genau das erreichen und schob weitere Artikel nach, weil Czochralski die polnischen Behörden in die Irre geführt habe, was es zu untersuchen gelte. Nun ging es nicht mehr nur um das angeblich wertlose Bahnmetall, sondern um den Einfluss von Czochralski als Berater des Verteidigungsministeriums und als Leiter des IMM. Denn diese Tätigkeit, so Redakteur Kalinowski, berühre das Wesen »unserer Verteidigungsbemühungen«, das Wesen der Nation. Czochralski verantworte die Qualität der Waffen, mit der die 901 Prof. Dr. Jan Czochralski, Tajemnica Stopu B w oświetleniu sprostowania Prof. Czochralskiego, Goniec Warszawski, 9. 6. 1936. 902 Witold Broniewski, Tajemnica stopu »B« zakupionego przez Polskie Koleje Państwowe, in: Goniec Warszawski 133, 15. 5. 1936. 903 Z sali sądowej. Prof. Czochralski contra Prof. Broniewski, in: Gazeta Polska, 16. 10. 1936. 904 B. Kalinowski, Kim jest posiadacz licencji stopu »B«? 331 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Armee in einem zukünftigen Kriege auftreten könne.905 Angesichts dieser verantwortungsvollen Aufgabe müssten die Fragen von Witold Broniewski beantwortet werden, forderte Kalinowski. Wiederholt wurde Czochralski vorgeworfen, »zwei Vaterländer« zu haben, denen er beiden »seine Liebe geschworen« habe – dies kam laut den Artikeln im Goniec Warszawski einem Hochverrat gleich.906 In einer der Überschriften wurde seine Rolle plakativ zusammengefasst: »Berater – Vollstrecker – Kontrolleur. Die dreifache Rolle des Jan Czochralski«.907 Dabei wurde ihm vorgeworfen, dass er nicht nur Staatsbürger eines fremdes Landes sei, sondern darüber hinaus auch noch – als jemand, der Zugang zu militärischen Geheimnissen in Polen habe – einem weiteren Ausländer diesen Zugang gewährt habe, nämlich seinem Mitarbeiter Georg Welter, einem Luxemburger – eine »sträfliche Leichtsinnigkeit« nannte der Artikel dies.908 Auch war es den Autoren nicht recht, dass Czochralski jedenfalls in ihren Augen innerhalb kürzester Zeit in Polen einen dominierenden Einfluss auf die polnische Rüstungswirtschaft erlangt habe und in der Metallurgie eine formal »diktatorische Rolle« spiele. Im Anschluss daran stellte der Rektor des Polytechnikums klar, dass Jan Czochralski vor allem wegen eines Gutachtens ausgerechnet von Witold Broniewski im Jahr 1929 als Professor am Polytechnikum angestellt worden sei.909 Aber die Kampagne gegen Czochralski ging weiter. Letztlich ging er gerichtlich gegen die Behauptungen vor und führte einen Prozess gegen Broniewski, den er schließlich gewann und in dem er von den bekanntesten Anwälten Warschaus vertreten wurde.910 Zu seiner Verteidigung hatte Czochralski eine Reihe von Experten vor Gericht mobilisiert, darunter Mitarbeiter von Ursus, die das Bahnmetall produzierten, seinen Kollegen von der Technischen Hochschule, Kazimierz Gierdzejewski, Stanisław Witkowski vom Institut zur Erforschung von Waffenmaterial, Henryk Sauerland von der Hütte »Baildon«, Leonard Krauze vom Institut zur Erforschung von Waffenmaterial, Kazimierz Jackowski, den designierten Direktor des Museum für Industrie und Technik sowie Woj905 B. Kalinowski, Kim jest posiadacz licencji na stop »B«. Dwie ojczyzny Prof. Czochralskiego in: Goniec Warszawski, Nr. 141, 23. 5. 1936. 906 Ebd. 907 Goniec Warszawski, Nr. 144, 26. 5. 1936. 908 Ebd. 909 Edward Warchałowski, Doktorat Prof. Czochralskiego. Wyjaśnienia rektora Politechniki, in: Goniec Warszawski, Nr. 146, 28. 5. 1936. 910 Siehe Geneza Wydziału Inżynierii Materiałowej Politechniki Warszawskiej 18981970, in: Zeszyty Historyczne Politechniki Warszawskiej 2/1996, hg. v. Eugeniusz Tyrkiel. 332 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ciech Świętosławski, den damaligen Bildungsminister.911 Für Czochralski setzte sich auch der Schwager von Henryk Mierzejewski, der zum Zeitpunkt des Prozesses bereits verstorben war, Adam Szczepanik, ein. Er stellte in einem ganzseitigen Artikel in der Wirtschaftszeitung Depesza ein strukturelles Muster heraus, wonach es kreative Talente und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die über ihre Umgebung herausragten, in Polen schwer hätten, weil sich immer jemand fände, der sich aus Rache, bösem Willen oder Neid auf diejenigen stürzen würde, die mit ihren Talenten und ihren Taten, ihrer Pionierhaftigkeit und ihrem Schöpferreichtum vorangingen. Und er stellte die prinzipielle Frage: Wie viele Polen würden nicht zurückkehren, weil sie ein Schicksal wie Czochralski fürchteten?912 In dem Prozess mag auch eine Rolle gespielt haben, dass Broniewski, der aus einer alteingesessenen Adelsfamilie kam, den – in seinen Augen – autodidaktischen Emporkömmling, der ihn nun an Vermögen, Prestige und Bekanntheitsgrad weit übertraf, als Vertreter einer neuen Elite und Konkurrenten diskreditieren wollte. Insgesamt war das Milieu am Polytechnikum eher von Angehörigen und Nachkommen eines verarmten Adels geprägt, die häufig in Petersburg studiert hatten – möglicherweise war ihnen der preußisch geprägte Pragmatismus von Czochralski fremd.913 Der erhobene Vorwurf, Czochralski sei »deutschenfreundlich«, blieb jedenfalls bis an sein Lebensende an ihm hängen. Dies hatte zum einen politische Gründe in der zunehmend xenophoben Atmosphäre in den 1930er Jahren, die sich gegen alles »Fremde« in Polen richtete – trotz der vermeintlichen Annäherung zwischen Deutschland und Polen nach 1934. Wegen seiner deutschen Staatsbürgerschaft schafften es seine Gegner, Czochralski unwiderruflich mit dem Deutschen Reich zu verknüpfen und die polnischen Anteile in seinem Leben zu marginalisieren. Das nationalistische Argument diente dazu, Czochralskis Erfolge zu pulverisieren und seine Misserfolge oder Unzulänglichkeiten, die unter anderem aus den hohen Erwartungen resultierten, die an ihn gerichtet waren, zu überhöhen, um seine Macht zu minimieren. Zudem wurzelten die Ressentiments gegen Czochralski in der erwähnten Konstellation des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Teilungserfahrungen – es ist wohl kein Zufall, dass es Broniewski war, der diejenigen, die während der Teilungszeit in den ehemaligen polnischen Territorien verblieben waren, charakterlich höher eingestuft hatte als die Emigrantinnen und Emigran911 Wielki proces polityczny, in: Goniec Warszawski, 14. 10. 1936. 912 Szczepanik, Profesor Politechniki Jan Czochralski. 913 Tucholski, Bahnmetall, S. 79. 333 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ten.914 Hier wirkten die Debatten um den Vaterlandsverrat und mangelnde Moral aus dem 19. Jahrhundert fort, die sich gegen den unliebsamen Konkurrenten und dessen herausragende Position instrumentalisieren ließen. 4.3.8 Wissen und die imaginierte ideale Zukunft

Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski gingen nach ihrem Umzug aus dem deutschen Sprachraum nach Warschau ähnliche Wege: Im Bestreben, den neuen Staat als Wissenschaftler und als Experten, als Angehörige der Inteligencja aufzubauen, suchten sie dort nach dem »Konkreten, das der Nation so lange nicht gegeben war« (Melchior Wańkowicz).915 Sie suchten es in der Medizin, der Eugenik, der Hygiene, der Bakteriologie, die Hirszfeld in die Fläche des polnischen Staates transferieren wollte, und in der Technik, von deren tragender Rolle im neuen Staat Czochralski felsenfest überzeugt war und die er deswegen ausbauen und popularisieren wollte. Beide Wissenschaftler meinten, genau ihre Disziplin sei diejenige, die im neuen Staat eine geradezu tragende Rolle als Leitwissenschaft spielten sollte, denn diese Überzeugung konnten sie im Ersten Weltkrieg gewinnen, als ihre Disziplinen so hoch im Kurs gestanden hatten. Mit dieser Überzeugung und ihrem Status vermochten sie es, Ressourcen zu mobilisieren, sich als Wissenschaftler und Experten in diesem neuen Staatswesen und seinen Institutionen fest zu verankern und ihre Expertise als handlungsleitendes Wissen zu etablieren. Für den Aufbau eines neuen, postimperialen Staatswesens mit großem Bedarf an funktionalem Expertenwissen sowohl in der Wissenschaft als auch dem Militär und der Wirtschaft waren sie genau diejenigen Akteure, die für das nationale Aufbauwerk gebraucht wurden und die ihre Expertise gerne dafür zur Verfügung stellten. Hier findet man zweifellos die Konstellation, in der Wissenschaftler und Politiker als Akteure wechselseitig aufeinander zugriffen. Dem nationalen Gedanken, der in der neuen Ordnung in der Wissenschaft stark gemacht wurde, widersetzten sich beide wegen der historischen Erfahrung und der geographischen Lage des Landes nicht, sondern versuchten ihn produktiv für ihre Wissenschaft zu nutzen. Beide verstanden sich weiterhin als Teil eines größeren Projektes der Moderne

914 Nauka Polska 3 (1921), Rozprawy, S. 208. 915 Wańkowicz, C. O.P. 334 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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und der Modernisierung des polnischen Staates, die sie in ihren jeweiligen Wissensräumen zu fördern suchten. Das von beiden Wissenschaftlern nach Polen transferierte und bereits stabilisierte Wissen, das in hohem Maße auch nicht-menschliche Akteure wie Seren, Impfstoffe, Metalle und Apparaturen umfasste, ging dabei zumeist eine produktive Mischung mit den Anforderungen und Möglichkeiten des neuen Staates sowie mit den Wissensbeständen vor Ort ein; bereits zuvor in Netzwerken stabilisiertes Wissen veränderte sich in den neuen räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen aber auch und musste an die lokalen Gegebenheiten angepasst werden. Dieses war angesichts der unterschiedlichen Gegebenheiten in Deutschland und in Polen eine große Herausforderung, der sich die beiden Experten stellten, der sie aber nicht immer gerecht werden konnten. Denn aufgrund der lokalen Bedingtheit von Wissen und seiner praktischen Anwendung waren der Transfer von Wissen oder die Einbindung von weltweit zirkulierendem Wissen in lokale Kontexte mit Schwierigkeiten und Scheitern verbunden. Dies konnte an dem Versuch gezeigt werden, die Ausdehnung bakteriologischer Praktiken in die Fläche zu forcieren. Ebenso gelang es Czochralski nicht durchgängig, sein Verständnis von Wissenschaftlichkeit in die Ebenen der militärischen Rüstungsproduktion zu tragen. Viele materielle und kognitive Faktoren setzten hier Grenzen: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die geschult werden mussten, Stoffe, die nicht in gebührender Reinheit zu bekommen waren und sich deswegen anders verhielten als im Metalllabor der Metallgesellschaft, Normvorschriften, die nicht umgesetzt wurden und ein genereller, historisch bedingter Erfahrungsmangel in Polen. Ebenfalls wegen der nicht passenden und nicht vollständig anpassungsfähigen Bedingungen waren auch der Etablierung des Bahnmetalls Grenzen gesetzt, die Czochralski allerdings nicht bereit war zu akzeptieren. Trotz dieser Schwierigkeiten gelang es beiden, mit einer Mischung aus Aneignung und Abwehr ihrem wissenschaftlich produzierten Wissen in der neuen Ordnung Glaubwürdigkeit zu verleihen – Veronika Lipphardt und Kiran Patel haben dies 2008 die »Neuverzauberung im Gestus der Wissenschaftlichkeit« genannt.916 Dazu trugen die internationalen Verflechtungen und die Kontakte bei, von deren Dynamik beide aufgrund von Migration und Wissenstransfer profitierten. Sie hatten ihr Leben und ihre Wissenschaft erheblich konturiert. Nun forderten beide in einer Zeit, in der der Nationalismus den Staat erobert hatte, das Territoria916 Veronika Lipphardt, Kiran Klaus Patel, Neuverzauberung im Gestus der Wissenschaftlichkeit. Wissenspraktiken im 20. Jahrhundert am Beispiel menschlicher Diversität, in Geschichte und Gesellschaft 33 (2008), S. 425-454. 335 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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litätsprinzip heraus und fügten es produktiv in ihre weiteren Lauf bahnen ein. Dazu gehörte etwa die Institutionalisierung von Expertise, die sie über ihre jeweiligen Institute forcierten. Eine Verankerung in mehreren nationalen oder imperialen und post-imperialen Kulturen konnte ein produktives Element darstellen und stellte es ja auch dar – nicht nur Czochralski und Hirszfeld, sondern zahlreiche andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus deutschen, russischen oder österreichisch-ungarischen Strukturen nach Polen kamen, profitierten von ihrer eigenen, persönlichen Verankerung in mehreren Kulturen, an denen sie partizipiert und die sie mitgestaltet hatten. In Polen schufen sie mit den Institutionen, die sie mit auf bauten oder gründeten, das geforderte »Eigene«, das wiederum als ein Produkt globaler Wissensproduktion gelten muss. In der Vorstellung des »Eigenen« findet man die Elemente der spezifischen Situation von postkolonialen Ländern, wie sie bereits angedeutet wurde – ein Oszillieren zwischen Aneignung und Abwehr, zwischen der Notwendigkeit, das aus ihren vorherigen Erfahrungen Transferierte zu verwenden, um dann etwas Neues aufzubauen, das viele Akteurinnen und Akteure gerne als polnische Eigenart benannten, obwohl es eine solche in dieser Konstellation nicht geben konnte. Der Diskurs über das Aufholen auf der einen Seite und die Verteidigung gegen zu viele »fremde« Einflüsse auf der anderen konnte in Interaktion mit der Expertise in Fragen des Gesundheitswesens und der Hygiene genau wie in der Technik mobilisiert werden. In dieser Arena wussten Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski, wie sie zu agieren hatten – sie standen für Konzeptionen einer neuen, »gesunden Nation« und einer modernen, technokratischen Vision für Polen. Dabei hatten viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und damit auch Hirszfeld und Czochralski, in dem zunehmend autoritären politischen System zumindest anfangs eine große Handlungsfreiheit, die gleichwohl von finanziellen Engpässen aufgrund des Kapitalmangels im Staat eingeschränkt war. Und sie wurde aus Gründen der zunehmenden Nationalisierung und Ablehnung alles »Anderen« immer mehr beschnitten. Der Staat und die Gesellschaft, die Experten wie Hirszfeld und Czochralski als Sprungbrett dienten, konnten die geschaffene Autonomie immer wieder bedrohen und herausfordern.917 Denn während Hirszfeld in Rezensionen in den 1930er Jahren in Polen gelegentlich noch dafür gelobt wurde, dass er auch nach 1918 über 50 Prozent seiner Forschungen auf Deutsch und in Deutschland publizierte, weil so die Bedeutung der Arbeiten der polnischen Schule Hirszfelds in917 Kohlrausch, Technologische Innovation, S. 187. 336 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ternational hervortreten könne,918 wurden Czochralski in den späten 1930er Jahren öffentlich seine deutsche Staatsbürgerschaft, der Import deutscher Wissenschaft und eine vermeintliche »Deutschenfreundlichkeit« vorgehalten – der Transnationalität waren Grenzen gesetzt, und das nationalistische Argument konnte hier für eine Allianz mit Fragen von Macht und Konkurrenz mobilisiert werden.919 Denn transnationale Biographien (oder auch Biographien von Menschen jüdischer Herkunft) gefielen in den Nationalstaaten nicht allen, die diese Staaten repräsentierten, weil der Transnationalismus, hier vor allem symbolisiert durch die deutsche Staatsbürgerschaft von Jan Czochralski, nationale Identitätskonstruktionen ebenso zu gefährden schien wie das »Andere« – und dies ist eine Konstellation, die bis heute in vielen Diaspora-Gemeinschaften weltweit nicht an Aktualität verloren hat. Hier spiegelte sich darüber hinaus die Schwierigkeit wider, mit denen die nach Polen kommenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zuweilen konfrontiert waren, wenn sie, teils mit Privilegien und gleichzeitig hohem Erwartungsdruck ausgestattet, auf die in Polen etablierte Gelehrtenkultur und eine alteingesessene Elite trafen, die das Land nicht verlassen hatte und dies als moralisches Kapital betrachtete. Beide verblieben in ihren deutschen Netzwerken. Dies war angesichts des erwähnten Boykotts gegen die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache nach dem Ersten Weltkrieg keinesfalls selbstverständlich, was Hirszfeld selbst in einem Brief an einen Kollegen so beschrieb: »Mir war die Versöhnung der Intellektuellen ein Mittel, die Völker wieder zusammen zu bringen. Aus dieser Erwägung heraus nahm ich an den Arbeiten des Völkerbundes teil, sprach auf den Kongressen deutsch und publizierte in Deutschland zu einer Zeit als dies von der Mehrzahl der Gelehrten missbilligt wurde.«920 Nach 1933 wurde dies zunehmend problematisch – für Hirszfeld wurde die 918 Leon Padlewski, Ludwig Hirschfeld. Konstitutionsserologie und Blutgruppenforschung, Berlin 1918, in: Przegląd Antropologiczny, 4/ 3-4 (1930), S. 543. 919 Steffen, Wissenschaftler in Bewegung, S. 254. Worüber wir wenig wissen, ist, ob und wie sich der lange Aufenthalt im deutschen Sprachraum auf die polnische Sprache beider Wissenschaftler ausgewirkt hat, zumal auf die Wissenschaftssprache, die sie aus der täglichen Praxis bis 1919 bzw. 1928 kaum kannten. Für Ludwik Hirszfeld findet sich dazu in einem Brief seines Kollegen und Freunds Zygmunt Szymanowski von 1946 folgende Passage, die darauf verweist, dass dies zumindest ein Thema war. Szymanowski bezieht sich auf Hirszfelds Autobiographie und merkt an: »Ich muss betonen, dass ich erstmalig ein Werk aus deiner Hand lese, dass wirklich auf Polnisch geschrieben ist, ohne jegliche deutsche Einflüsse. Ich halte das für einen großen Schritt vorwärts in deiner literarischen Entwicklung«; siehe APAN LH III-157-92, Bl. 78, Zygmunt Szymanowski an Ludwik Hirszfeld, 27. 12. 1946. 920 LH III-157-104, Brief an Robert Doerr, 8. 10. 1947. 337 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Partizipation an der deutschen, rassistischen Blutgruppenforschung prekär – er sollte exkludiert werden, wollte aber eigensinnig nicht aus einem Diskurs ausgeschlossen werden, den er selbst mit begründet hatte. Aber auch Czochralski musste miterleben, dass sein Wissen im deutschen Sprachraum neu bewertet wurde. Als der Julius-Springer-Verlag im Jahr 1936 – als Czochralski bereits in Polen lebte – über die Neuauflage von Czochralskis Lehrbuch »Moderne Metallkunde in Theorie und Praxis« nachdachte und zu diesem Zweck die Meinung von Sachverständigen einholte, antwortete der damalige Direktor des KWI für Metallforschung, Werner Köster, nicht nur, dass das Buch überholt sei. Er hielt es auch »nicht für geraten, daß der Pole Czochralski ausgerechnet ein deutsches Buch über Metallkunde schreibt. Dies ist umso weniger angebracht, als die Verwirrung auf dem Gebiete des metallkundlichen Schrifttums zu einem erheblichen Teil Herrn Czochralski zuzuschreiben ist.«921 Nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, wurde Czochralskis Expertise nicht mehr fachlich beurteilt – in Warschau während der deutschen Okkupation sollten sich die Attraktivität und die Nützlichkeit seiner Expertise aber schon wieder anders darstellen.

921 Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Historische Sammlungen, Archiv des Julius Springer-Verlags, Korrespondenz Czochralski: Werner Köster an Ferdinand Springer, 20. Februar 1936. 338 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

5 Agieren, verlieren und weiterleben

5.1 Konstellation Zweiter Weltkrieg: Besatzungsherrschaft und Eigensinn

Nach dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen im September 1939 veränderten sich die Lebenswelten1 aller Menschen in Polen. Die deutschen Besatzer begrenzten Mobilität und Handlungsräume, wenn auch unterschiedlich stark. Es gestaltete sich unter den Bedingungen des Ausnahmezustands und den damit bedingten Brüchen in den täglichen Routinen schwierig, bisherige berufliche und private Rollen weiter auszufüllen. So konnten Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski ihre Tätigkeit als transnational und öffentlich agierende Experten und Forscher, im Hygiene-Institut und der Technischen Hochschule institutionell verankert und staatlich gefördert, nicht ohne Weiteres weiterführen. Aufgrund ihrer transnationalen Biographien und der Verbreitung ihrer Forschungsergebnisse im deutschen Sprachraum waren beide Wissenschaftler einzelnen Repräsentanten der Besatzungsmacht bekannt. Die Deutschen versuchten, die Expertise von Jan Czochralski für sich zu nutzen, während sie Ludwik Hirszfeld – der nationalsozialistischen Rassenideologie folgend – nicht als Wissenschaftler, sondern als Jude kategorisierten und entsprechend behandelten. Demzufolge änderte sich die Lebenswelt für Jan Czochralski mit der Okkupation weniger gravierend als für Ludwik Hirszfeld, so dass die Linien ihrer parallelen Entwicklung seit 1939/41 auseinanderdrifteten. Während viele Angehörige der Inteligencja ihre Arbeit und damit ihre Existenzgrundlage verloren oder in Konzentrationslager verbracht wurden,2 führte Jan Czochralski eine relativ ungefährdete Existenz und konnte bis zum Warschauer Aufstand 1944 in seinem Haus wohnen bleiben. Zwar veränderte und beeinträchtigte die Okkupation auch sein Leben erheblich, aber im Gegensatz zu den Jüdinnen und Juden in Polen war für ihn nicht jede Konfrontation mit den Besatzern lebensbedroh-

1 Siehe zum Lebenswelt-Konzept Imke Hansen, Katrin Steffen, Joachim Tauber, Fremd- und Selbstbestimmung im Kontext von nationalsozialistischer Verfolgung und Gewalt, in: Dies. (Hg.), Lebenswelt Ghetto: Alltag und soziales Umfeld während der nationalsozialistischen Verfolgung, Wiesbaden 2013, S. 7-23. 2 Czesław Madajczyk, Wojenne losy inteligencji polskiej, in: Kultura 7/1 (1969). 339 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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lich.3 Die Lebenswelt von Ludwik Hirszfeld hingegen verschob sich radikal. Er verlor zunächst seine Anstellung und musste gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter im Februar 1941 in das im Herbst 1940 abgeriegelte Gebiet des Warschauer Ghettos übersiedeln, während sein Besitz konfisziert wurde. Laut eigener Aussage wurde Hirszfeld 1942 »Augenzeuge der grössten Tragödie, die die Geschichte kennt, der Ermordung von 400.000 Juden«.4 »Im letzten Augenblick«, so seine Erinnerung, gelangen ihm und seiner Familie nach etwa anderthalb Jahren Aufenthalt im Ghetto die Flucht. Ludwik Hirszfeld überlebte, teils getrennt von Hanna Hirszfeld, in verschiedenen Verstecken, der ständigen Gefahr ausgesetzt, entdeckt zu werden. Seine einzige Tochter Maria kam während der Zeit im Versteck ums Leben. Bei der Betrachtung der Auswirkungen der nationalsozialistischen Politik im Generalgouvernement auf die Lebenswelten der Menschen fallen zunächst die extremen Zwänge auf, denen weite Teile der Bevölkerung ausgesetzt waren. Dies gilt besonders für die Jüdinnen und Juden in Polen und für diejenigen, die von den Deutschen als solche angesehen wurden. Umso wichtiger ist es, die Handlungsräume aufzuzeigen, die sich für Teile der Gesellschaft unter den Bedingungen der Besatzung ergaben und die in der Regel mit der Notwendigkeit oder der Bereitschaft einhergingen, Kompromisse einzugehen. Besatzungsherrschaft ist immer als soziale Praxis zu sehen, als ein Kräftefeld, in dem Macht durchgesetzt und Herrschaft begründet oder bezweifelt wird. Zwischen Herrschenden und Beherrschten, aber auch zwischen den Beherrschten untereinander offenbarten sich Widersprüche und Ungleichheiten. Das Beherrschtsein kannte zahlreiche Mehrdeutigkeiten, die sich nur selten in eine dichotomische Gegenüberstellung von Widerstand und Kollaboration auflösen lassen.5 Im Gegenteil offenbaren sie ein breites Spektrum an eigensinnigen Verhaltensweisen, die auch eine Gleichzeitigkeit von Gehorsam und Widerständigkeit zuließen.6 Mit dem Konzept des Eigensinns kann die Opposition zwischen Herrschern 3 Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9-63, S. 47. 4 Hirszfeld schrieb dies in einem Lebenslauf am 5. März 1952 an den Rektor der Universität Zürich, siehe: Universität Zürich Archiv AF 1.207, Ehrendoktoren: Personaldossiers. Ludwik Hirszfeld. 5 Siehe Tatjana Tönsmeyer, Besatzung als europäische Erfahrungs- und Gesellschaftsgeschichte: Der Holocaust im Kontext des Zweiten Weltkrieges, in: Frank Bajohr, Andrea Löw (Hg.), Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 281-298. 6 Lüdtke, Herrschaft, S. 49-50. 340 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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und Beherrschten hinterfragt und damit die für jede soziale Ordnung grundlegende Frage nach der Herrschaft neu gedacht werden oder, in den Worten von Alf Lüdtke: »Eigensinn erweist sich als ein Drittes, als ein Verhalten, das sich nicht der Logik des Entweder-Oder von Herrschaft und Widerstand fügt.«7 Während der Besatzung gab es, je nach Konstellation, Abstufungen von freiwilliger Kooperation bis zu einer von Zwang geprägten Zusammenarbeit, wie sie etwa die deutschen Besatzer von den Judenräten in den Ghettos forderten. Davon waren auch die Lebenswelten von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski während der deutschen Besatzung betroffen. Es gilt daher im Folgenden zu analysieren, ob und wie sie versuchten, unter den Ausnahmebedingungen der Besatzung eine Normalität wissenschaftlichen Alltags herzustellen, und welche Kompromisse sie dafür möglicherweise eingehen mussten oder überhaupt eingehen konnten. Inwieweit gelang es ihnen, Wissensräume zu erhalten, zu transformieren oder neu zu kreieren und einem aktiven professionellen Leben nachzugehen? Im Ersten Weltkrieg hatten sowohl die medizinische als auch die metallurgische Expertise von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski jeweils eine besondere Bedeutung erlangt. Entstanden im Zuge des Zweiten Weltkriegs ebenfalls Konstellationen, in denen sie ihr Wissen praktisch nutzbar machen und ihre Expertise zur Geltung bringen konnten? Und in welcher Form und für wen war dieses Wissen unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs von Bedeutung? Damit im Zusammenhang stehend sollen die Handlungsräume in den Blick genommen werden, die sich im Hinblick auf gesellschaftlichen Status und soziale Netzwerke ergaben. Wie bereits erwähnt, war es während der Okkupation eher kein Vorteil, zur Inteligencja zu gehören, umso weniger im Ghetto, wo nahezu ausschließlich handwerkliche Fähigkeiten gefragt waren und sich soziale Stratifikationen häufig umdrehten. Gab es trotzdem Kontinuitäten der Privilegierung, welche die beiden Forscher – dank ihrer Expertise und dank ihrer Verankerung in der lokalen und internationalen Wissenschaft – genossen? Wie wirkten sich diese auf die Handlungsmöglichkeiten und tatsächlichen Handlungen der beiden aus? Dazu gehört die Überlegung, inwieweit sie als Objekte der Besatzungspolitik angesehen werden müssen oder als Subjekte selbst handelnd tätig werden konnten und welche Rolle der wissenschaftlichen Praxis im Selbstverständnis der Wissenschaftler unter den Bedingungen des Aus7 Ders., Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139-153, S. 146. 341 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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nahmezustands zukommt. Dieses Selbstverständnis beinhaltete immer auch epistemische Ideale, etwa Objektivität oder Unabhängigkeit der Forschung – ob und wie sich solche Ideale während der Okkupation veränderten, ist aufgrund der Quellenlage für Jan Czochralski kaum herauszufinden, während für Ludwik Hirszfeld zumindest eine Annäherung möglich ist. Mit einem kurzen Überblick über die nationalsozialistische Besatzungs- und Wissenschaftspolitik im Generalgouvernement wird zunächst der Rahmen skizziert, in dem Hirszfeld und Czochralski sich bewegten, bevor die konkreten Auswirkungen für ihre Lebenswelten und ihr Agieren in den Blick genommen werden. 5.2 Der Überfall Deutschlands auf Polen und seine Auswirkungen auf die Wissenschaft

Zum Zeitpunkt des Überfalls hielten sich Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld in Warschau auf.8 Beide verblieben auch nach Beendigung der unmittelbaren Kriegshandlungen Ende September 1939 in der stark zerstörten Stadt. Nach deutschen Vorstellungen sollte Warschau als Provinzstadt in der Bedeutungslosigkeit versinken. Krakau war zur Hauptstadt der am 25. Oktober 1939 gebildeten administrativen Einheit, des Generalgouvernements (GG) für die besetzten Ostgebiete, das etwa 12 Millionen Einwohner umfasste, auserkoren worden. Denn Krakau galt den Nationalsozialisten als deutsche Stadt und sollte als solche ausgebaut werden. Warschau hingegen wurde offiziell zur Distrikthauptstadt degradiert. Ludwig Fischer, der neu bestellte Gouverneur, begründete dies mit politischen Motiven: »Warschau war für die Polen der Inbegriff Polens. Es war die Metropole der Republik gewesen, die für das Denken des polnischen Volkes die gleiche Bedeutung gehabt hat wie Paris. Dieser Nimbus wurde Warschau genommen.«9 Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde Warschau dann zum Aufmarsch- und Versorgungsgebiet der Wehrmacht, wodurch sich die Anzahl deutscher Soldaten in der Stadt signifikant erhöhte, mit entsprechenden Konsequenzen für die Wirtschaft sowie die allgemeine Versor8 Siehe Edward Domański, Sylwetki profesorów Politechniki Warszawskiej. Jan Czochralski 1885-1953. Prace Historyczne Biblioteki Głównej Politechniki Warszawskiej 40/1986. 9 Dr. Ludwig Fischer – Gouverneur des Distrikts Warschau, Grundsätzliche Bemerkungen über die Gestaltung Warschaus während des Krieges und nach dem Kriege, wahrscheinlich Februar 1944, abgedruckt in: Mechthild Rössler, Sabine Schleiermacher (Hg.), Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 308-327, S. 308. 342 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gungslage.10 Ludwik Hirszfelds Autobiographie ist zu entnehmen, dass die Umgestaltung erfolgreich war: Die Massen von Deutschen hätten den polnischen Charakter der Stadt total verändert, schrieb er. Sie hinterließe nun den Eindruck eines hübschen Provinzstädtchens, in dem Militär stationiert ist.11 Für die Bewohnerinnen und Bewohner Warschaus, die auf die eine oder andere Weise daran mitgewirkt hatten, dass Warschau sich zur Hauptstadt des 1918 neu gebildeten Polens entwickelt hatte, war der Überfall ein Schock. Die damit einhergehenden Bombardements und die folgende alltägliche Erfahrung von Gewalt, Hunger, Erniedrigung, Misstrauen und Angst waren traumatische Erlebnisse.12 Die Nationalsozialisten setzten ihr Ziel, Polen zu zerschlagen und mit größter Gewalt gegen das Land und seine Bevölkerung vorzugehen, in die Realität um, und die Bevölkerung musste sich an eine Situation gewöhnen, in der die vor dem September 1939 geltenden Werte, Normen und Regelungen weitgehend außer Kraft gesetzt waren. Im August 1939 hatte Adolf Hitler in einer Rede vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht gefordert: »Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. … Größte Härte. … Unsere technische Überlegenheit wird die Nerven der Polen zerbrechen. Jede sich neu bildende lebendige polnische Kraft ist sofort wieder zu vernichten. Restlose Zertrümmerung Polens ist das militärische Ziel. Schnelligkeit ist die Hauptsache. Verfolgung bis zur völligen Vernichtung.«13 Dementsprechend war es nicht die Aufgabe der deutschen Verwaltung des Generalgouvernements, »aus Polen eine Musterprovinz oder einen Musterstaat nach deutscher Ordnung zu machen«, wie es Distriktgouverneur Fischer formulierte. »Es muss verhindert werden, dass eine polnische Intelligenz sich als Führungsschicht aufmacht. In dem Lande soll ein niederer Lebensstandard bleiben; wir wollen dort nur Arbeitskräfte schöpfen.«14 Repressionen gegen die Bevölkerung und Eingriffe in die Administration begannen unmittelbar, nachdem die Kämpfe in Warschau am 10 Siehe allgemein zur Besatzung Warschaus Stephan Lehnstaedt, Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944, München 2010. 11 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 269. 12 Vgl. Jochen Böhler, Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen, Frankfurt a. M. 2009, S. 246. 13 Aufzeichnungen von Admiral Canaris über den zweiten Teil der Ansprache Hitlers an die Oberbefehlshaber am 22. August 1939, in: Klaus-Jürgen Müller, Armee und Drittes Reich 1933-1939. Darstellung und Dokumentation, Paderborn ²1989, S. 390 f. 14 Protokoll der Besprechung Hitlers mit Keitel vom 17. 10. 1939, zitiert in: Christiane Eberhardt, Geheimes Schulwesen und konspirative Bildungspolitik der polnischen Gesellschaft im Generalgouvernement, Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 41. 343 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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27. September 1939 aufgehört hatten. Am 4. Oktober setzten die Deutschen einen 24-köpfigen Judenrat ein, der die Geschäfte der jüdischen Gemeinde (Kehilla) weiterführen und gleichzeitig zur zentralen administrativen und ökonomischen Institution der Juden in Warschau werden sollte. Er war vor allem für die Umsetzung deutscher Anweisungen zuständig und musste oft die Kosten der Zwangsmaßnahmen decken. Ökonomische Sanktionen, Zwangsarbeit, Konfiszierungen und Gewalt wurden zum alltäglichen Begleiter der Jüdinnen und Juden in Warschau. Ab November 1939 mussten sie ein weißes Armband mit Davidstern tragen. Ab Herbst 1940 wurden sie gezwungen, in das Warschauer Ghetto überzusiedeln.15 Die nichtjüdische gesellschaftliche, kulturelle und politische Elite Polens, der in der Nationalstaatsbildung eine besondere Rolle zugekommen war, galt im Denken der Nationalsozialisten als die Gruppe, von der – nach der jüdischen Bevölkerung – die größte Gefahr ausging. Konkret fürchteten die Deutschen die Ausbildung einer polnischen Widerstandsbewegung. Den Begriff der Inteligencja verbanden sie mit der Idee einer potentiellen Widerstandsquelle, er blieb dabei aber bedeutungsoffen. Obwohl somit ein guter Teil der polnischen Bevölkerung pauschal zu einer Bedrohung erklärt wurde, erfuhr der Begriff keine nähere Bestimmung oder Abgrenzung. Damit lagen die Definition sowie die Ausgestaltung des konkreten Vorgehens in der Hand von Kommandeuren der Einsatzgruppen und -kommandos, die im September 1939 nach Polen einmarschierten und in einer Zone erlaubter Gewalt agierten.16 Jene war am 2. Oktober 1939 mit den Worten abgesteckt worden, »dass es für die Polen nur einen Herren geben dürfe und das sei der Deutsche, zwei Herren nebeneinander könne es nicht geben und dürfe es nicht geben, daher seien alle Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen. Dies klinge hart, aber es sei nun einmal das Lebensgesetz.«17 Mit dieser Gewaltpolitik unterschied sich die Besatzung Polens erheblich von den nationalsozialistischen Besatzungsregimes in Nord- oder Westeuropa.18 Für 15 Siehe Charles G. Roland, An Underground Medical School in the Warsaw Ghetto, 1941-2, in: Medical History 33 (1989), S. 399-419, S. 400-401. 16 Daniel Brewing, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939-1945, Darmstadt 2016, S. 165. 17 Aktenvermerk Martin Bormanns über ein Gespräch bei Hitler, an dem auch Hans Frank teilnahm, abgedruckt in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1949, Bd. 39, S. 425-429; Brewing, Im Schatten, S. 165-166. 18 Christoph Kleßmann, Wacław Długoborski, Nationalsozialistische Bildungspolitik und polnische Hochschulen 1939-1945, in: Geschichte und Gesellschaft 23/4 (1997), S. 535-555, S. 536. 344 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Verhaftungs- und Liquidierungsaktionen gab es vorbereitete Listen (Sonderfahndungsbuch Polen), die seit Juni 1939 von der Gestapo und zum Teil in Zusammenarbeit mit Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen vorbereitet worden waren.19 Die Morde unter anderem der Formationen des SS - und Polizeiapparates und militärischer Stellen waren integraler Bestandteil der deutschen Eroberung Polens.20 Sie sollten ein unmissverständliches Signal deutscher Überlegenheit und Herrschaft an die eroberte polnische Gesellschaft aussenden, eine Herrschaft, die über materielle und personelle Ressourcen hinausgehen und sich in die Köpfe der Beherrschten einschreiben sollte.21 Der Schwerpunkt der Morde lag dabei im September und Oktober 1939 zunächst in den westpolnischen Gebieten und in Westpreußen.22 Davon war auch Jan Czochralskis Familie betroffen, denn in Posen wurde in den ersten Tagen der Okkupation ein Bruder von Jan Czochralski, der Lehrer Kornel Czochralski, ermordet. Die Gewalt blieb aber keineswegs auf diese Region beschränkt. In Warschau vermeldete die Einsatzgruppe IV am 10. Oktober 1939, am 8. Oktober seien 354 Priester und Lehrer festgenommen worden, die »durch ihre für den polnischen Chauvinismus erwiesene Haltung eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Sicherheit der deutschen Truppen, der deutschen Beamten sowie der deutschen Zivilbevölkerung darstellen«.23 Viele der Festgenommenen wurden einige Tage später wieder freigelassen, aber die nächste Verhaftungswelle folgte bald.24 Die Deutschen nahmen auch Ludwik Hirszfelds Schwager Stanisław Kiełbasiński, der Ehemann von Hanna Hirszfelds Schwester Izabela, in dessen Wohnort Zegrze bei Warschau als Angehörigen der Inteligencja fest und deportierten ihn ins Konzentrationslager Dachau. In Krakau wurden am 6. November 1939 183 Professoren der Universität und der Bergbauakademie verhaftet, von denen ein großer Teil in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt wurde. Zwar kamen die meisten nach internationalen Protesten noch im Winter 1940/41 wieder frei, dennoch verstarben bis Oktober 1941 17 der Deportierten. Weitere verstarben später an den Folgen der Haft. Mit der Erschießung von 25 Universitätsprofessoren im 1941 eingenommenen 19 20 21 22 23

Kleßmann, Długoborski, Bildungspolitik, S. 536. Brewing, Massaker, S. 175. Lüdtke, Herrschaft, S. 54. Brewing, Massaker, S. 171. Stephan Lehnstaedt, Jochen Böhler (Hg.), Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939. Vollständige Edition, Berlin 2013, S. 360. 24 Tomasz Szarota, Okupowanej Warszawy Dzień Powszedni. Studium historyczne, wyd. IV rozszerzone, Warszawa 2010, S. 78. 345 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Lemberg zeigte die Sicherheitspolizei ein weiteres Mal ihre Haltung zur Inteligencja.25 Mittlerweile wird angenommen, dass Einsatzgruppen von SS und Polizei sowie Einheiten der Wehrmacht allein bis Ende 1939 über 40.000 Menschen im Zuge der Maßnahmen zur »Ausschaltung« der Inteligencja ermordeten. 30 Prozent aller Polinnen und Polen mit Abitur und 37,5 Prozent derjenigen, die in der Zweiten Republik einen Hochschulabschluss aufzuweisen hatten, kamen während der deutschen Okkupation ums Leben.26 Bei Erschießungen, in Gefängnissen oder Konzentrationslagern wurden 310 Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer umgebracht. Diese Zahl erhöht sich auf 641, zählt man die Toten der Kriegshandlungen, des Warschauer Aufstandes und die in der Folge von Lagerhaft, Zwangsarbeit oder fehlender medizinischer Versorgung Gestorbenen hinzu.27 Die außerordentliche Dezimierung der polnischen Elite prägte das Land viele Jahre lang. Nationalsozialistische Grundsätze wie Gleichschaltung, Führerprinzip und das Neben- und Gegeneinander von Partei- und Verwaltungsstellen fanden auch in Hochschulen, wissenschaftlichen Einrichtungen sowie der Wissenschafts- und Bildungspolitik ihren Niederschlag.28 Die forschungspolitischen Entscheidungsträger im Reich pflegten zumindest ab Kriegsbeginn ein radikal pragmatisches Verhältnis zur Wissenschaft, das sich an Prinzipien wie Loyalität zum »Führer«, politischer Zuverlässigkeit, Einsatz und Nützlichkeit für den »Endsieg« orientierte.29 Vor allem Letzteres galt auch für die Wissenschaftspolitik im Generalgouvernement, die darüber hinaus dezidierten ideologischen Vorgaben folgte: Höhere Bildung sollte der polnischen Bevölkerung versagt bleiben, ledig-

25 Siehe Böhler, Überfall, S. 242 f. Zu Lemberg Dieter Schenk, Der Lemberger Professorenmord und der Holocaust in Ostgalizien, Bonn 2007. 26 Diese Zahlen, die Tomasz Szarota in den 1970er Jahren veröffentlicht hat, wiederholt Marcin Zaremba, Wielka Trwoga. Polska 1944-1947. Ludowa reakcja na kryzys, Kraków 2012, S. 96. 27 Kleßmann, Długoborski, Bildungspolitik, S. 541. Siehe auch Madajczyk, Wojenne losy inteligencji polskiej. 28 Ruth Federspiel, Günther Spur, Produktionstechnische Forschung in Deutschland von 1939-1945, München 2003, S. 1. 29 Patrick Wagner, Mitdenker der Vernichtung: Deutsche Wissenschaftler und die nationalsozialistische Eroberungspolitik in Osteuropa, in: Piotr Madajczyk, Paweł Popieliński (Hg.), Social Engineering. Zwischen totalitärer Utopie und »Piecemeal-Pragmatismus«, Warschau 2014, S. 87-99, S. 89; Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik unter dem Hakenkreuz, in: Michele Barricelli, Michael Jung, Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.), Ideologie und Eigensinn. Die Technischen Hochschulen in der Zeit des Nationalsozialismus, Göttingen 2017, S. 24-48, S. 35. 346 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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lich Grundschuldbildung war noch vorgesehen.30 Generalgouverneur Hans Frank postulierte dazu am 25. Februar 1940: »Eine Steigerung des Bildungsniveaus des polnischen Volkes liegt auf keinen Fall in unserem Interesse.«31 Wissenschaft und ihre Förderung waren für die Verwaltung des GG alles andere als prioritär, obwohl sich die dafür zuständige Hauptabteilung in der Regierung der GG »Wissenschaft und Unterricht« nannte und eine deutsche Universität in Krakau geplant war. Gemäß der nationalsozialistischen Politik, wenn überhaupt Wissenschaft zu betreiben, dann solche, die deutschen Zwecken im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie dienen sollte, wurde in Krakau im Dezember 1943 eine »Gesellschaft der Wissenschaften des Generalgouvernements« gegründet. Ihr Zweck sollte es sein, die »deutsche Wissenschaft im Ostraum im Dienst von Volk und Reich zu fördern und zur weiteren Erschließung dieses Raumes für das deutsche Volk nach Kräften beizutragen«. Mitglieder konnten nur Deutsche werden.32 Sie sollte eng mit dem Institut für Deutsche Ostarbeit in Krakau kooperieren.33 Der Verlauf des Krieges bereitete diesem halbherzig begonnenen Unterfangen aber ein rasches Ende. Ohnehin habe man im Amt des Generalgouverneurs von Wissenschaft nichts wissen wollen, meinte in der Rückschau Wilhelm Witte, der ehemalige Leiter der von den Nationalsozialisten gebildeten »Deutschen Staatsbibliothek« Warschau, und fügte hinzu, man habe »den Stand der wissenschaftlichen Institutionen in Warschau auf den Stand […] reduzieren [wollen], der sich für eine brave Provinzstadt gehören würde«.34 Wenig überraschend schlug sich die Degradierung Warschaus auch in der Wissenschaft nieder. Die Wissenschaftsverwaltung des Generalgouvernements verfolgte das Ziel, alle Hochschulen und Forschungsinstitute im Land zu schließen und das Tragen akademischer Titel zu untersagen.35 Akademische Zeitschriften wurden verboten, ebenso erfolgte eine prinzipielle Absage an den für die Wissenschaftsentwicklung unabdingbaren transnationalen 30 Marian Walczak, Szkolnictwo wyższe i nauka polska w latach wojny i okupacji 1939-1945, Wrocław u. a. 1978. 31 Werner Präg, Wolfgang Jacobmeyer (Hg.), Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939-1945, Stuttgart 1975, S. 91. 32 AAN, Regierung des Generalgouvernements 780, Hauptabteilung Finanzen, Bl. 6669: Satzung der Gesellschaft der Wissenschaften des Generalgouvernements, Dezember 1943. 33 Hübner, Siła przeciw rozumowi, S. 10. 34 Wissenschaftliche Bibliotheken im Generalgouvernement in den Jahren 1939-1945, ausgewählte Quellendokumente, Auswahl und Bearbeitung, Andrzej Mężyński, Warszawa 2003, S. 337. 35 Kleßmann, Długoborski, Bildungspolitik, S. 547. 347 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Austausch von Forschung und Forschern. Allerdings lag für das Vorgehen der Nationalsozialisten in wissenschaftspolitischen Fragen im Generalgouvernement kein vor dem Überfall festgelegter Plan vor – es entwickelte sich vor allem in der Praxis. Das führte dazu, dass die konkrete Umsetzung der ideologischen Vorgaben lückenhaft und zuweilen widersprüchlich war – die Zerstörung des Hochschulwesens vollzog sich von Ort zu Ort unterschiedlich. Eine exakte Planung lässt sich »hinter dem allgemeinen Programm der Vernichtung der Führungsschicht und der Degradierung der Polen zum Heloten-Volk« nicht erkennen.36 Dies gilt ebenso für die Politik gegenüber materiellen Gütern, Sammlungen, Apparaten und Einrichtungen. Der Umgang mit wissenschaftlichen Instituten in Polen und deren Inventar war nicht geregelt worden, so bemängelte es Rudolf Mentzel, der einflussreiche Amtschef Wissenschaft im Reichserziehungsministerium und Vorsitzender der Deutschen Forschungsgemeinschaft.37 Vielmehr determinierten unterschiedliche Vorstellungen, Kompetenzstreitigkeiten und Interessenlagen der zentralen Einrichtungen in Berlin und der Entscheidungsträger vor Ort die Prozesse.38 Während unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen die Militärkommandanten für das Schicksal der Bevölkerung und der Kulturgüter zuständig waren, ging nach der Intervention der SS ein Teil dieser Kompetenzen auf die Einsatzgruppen über.39 In dieser ersten Phase der Okkupation wurden zahlreiche unkontrollierte Beschlagnahmungen aller Art vorgenommen, vor allem deutsche Soldaten stahlen Inventar oder vernichteten es im Zuge von Kriegshandlungen.40 Nach der Gründung des Generalgouvernements wollte Hans Frank möglichst viele der Objekte in den Forschungsinstituten und Universitäten in dem von ihm verwalteten Gebiet halten.41 Die GG-Abteilung Wissenschaft und Unterricht proklamierte bereits im November 1940, dass 36 Ebd., S. 542. 37 BA Lichterfelde R 4901-687, Bl. 48, Bericht von Amtschef Menzel an den Reichserziehungsminister, 31. 10. 1939. 38 Siehe zum Umgang mit Büchern Andrzej Mężyński, Biblioteki naukowe w Generalnym Gubernatorstwie. Fakty i mity, in: Ders., Hanna Łaskarzewska (Hg.), Symposia bibliologica. Dokumentacja księgozbiorów historycznych, współpraca krajowa i międzynarodowa. Skutki II wojny światowej dla bibliotek polskich, Warszawa 1995, S. 93-123., bes. S. 94 f. sowie 120 f. sowie Andrzej Mężyński, Kommando Paulsen. Organisierter Kunstraub in Polen 1942-1945, Köln 2000. 39 Mężyński, Kommando Paulsen, S. 37. 40 Eugeniusz C. Król, Szczątkowe formy jawnej egzystencji polskiego życia naukowego w Generalnej Guberni (1939-1945), in: Przegląd Historyczno-Oświatowy XIX /2 (1986), S. 167-198, S. 179. 41 Mężyński, Kommando Paulsen, S. 37. 348 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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»nichts mehr herausgegeben« werde und alle Ansuchen von reichsdeutschen Professoren oder Hochschulen abschlägig behandelt würden.42 Hier machen sich zwei gegensätzliche Ansätze bemerkbar, wie sie auch in der Frage der wirtschaftlichen Ausbeutung des GG zu finden sind: auf der einen Seite unbegrenzte Ausplünderung von Rohstoffen und Inventar, die mit einer Politik der Desorganisation und Zerstörung einhergehen sollte – dies fand vor allem in der ersten Phase der Okkupation statt. Auf der anderen Seite stand eine gewissermaßen besonnenere und nachhaltigere Ausbeutung vor Ort mit dem Ziel, die lokale Produktion zu intensivieren und vor allem für Rüstungszwecke auszunutzen.43 5.3 Aus der Wissenschaft in die Werkstatt: Jan Czochralski und die Technische Hochschule Warschau während der nationalsozialistischen Okkupation

Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels angemerkt, verursachte die Besatzung als ein sozialer Prozess eine Situation für die Beherrschten, in der eindeutiges Handeln oft nicht möglich war, in der Menschen zwischen Widerstand und Anpassung lavierten, bestimmte Anforderungen hinnahmen und sich von anderen distanzierten. Es entstanden Grauzonen, die im Nachhinein oftmals nicht verstanden wurden, weil eine Gleichsetzung von Subjekt und »gut« erfolgte.44 Dies bedeutete eine Gleichsetzung von »guter Pole/gute Polin« mit Widerstand und implizierte eine hohe moralische Bewertung. Die Subjekte waren aber mannigfaltiger und handelten so, wie es ihnen richtig erschien, was anderen rücksichtlos vorkommen konnte. Mit solchen Vorwürfen musste sich Jan Czochralski wegen seines Verhaltens an der Technischen Hochschule während des Krieges auseinandersetzen, weil er zum Teil mit dem Rüstungskommando der Wehrmacht kooperiert hatte. Im Anschluss an den Krieg ist sein Wirken während der Okkupation in der Historiographie unterschiedlich beurteilt worden, wobei bis weit in die 1980er und 1990er Jahre entweder 42 Präg, Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 308. 43 Siehe Sonja Schwaneberg, Die wirtschaftliche Ausbeutung des Generalgouvernements durch das Deutsche Reich 1939-1945, in: Jacek Andrzej Mlynarczyk (Hg.), Polen unter deutscher und sowjetischer Besatzung 1939-1945, Osnabrück 2009, S. 103-129, S. 103; auch Czesław Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939-1945, Köln 1988, S. 543-547. 44 »Deutsche Qualitätsarbeit«: Mitmachen und Eigensinn im Nationalsozialismus – Interview von Marc Buggeln und Michael Wildt mit Alf Lüdtke (Göttingen, 19. 2. 2014), in: Marc Buggeln, Michael Wildt (Hg.), Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014, S. 373-401, S. 399-400. 349 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gar keine oder eine dezidiert negative Beurteilung vorherrschte. Darauf und wie es dazu kam, werde ich nach einer kurzen Schilderung der Entwicklung der Hochschule näher eingehen. Nach der Beendigung der Kriegshandlungen kamen verschiedene Delegationen nach Polen, um die kulturellen und wissenschaftlichen Sammlungen und Institutionen zu begutachten, sicherzustellen oder deren Überführung ins Altreich zu veranlassen. Der bereits erwähnte Rudolf Mentzel etwa hielt sich in der Zeit vom 18. bis zum 27. Oktober 1939 in den Städten Posen, Warschau, Lodz, Kielce, Krakau und Kattowitz auf. Gemeinsam mit dem Physiker Erich Schuhmann, dem Chef der Wissenschaftsabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht, sowie Richard Donnevert vom »Stab des Stellvertreters des Führers« sollte er herausfinden, welche Instrumentarien, Büchereien und Sammlungen sich lohnten, in das Reich zu verbringen. Mentzel betonte, es sei eine »verfehlte Maßnahme, den Polen höhere Schulen oder gar eine Universität zu belassen«, und bemängelte in diesem Zusammenhang an verschiedenen Instituten stattfindende Forschungs- und Lehrtätigkeit. Er plädierte dafür, »sämtliche vorhandenen polnischen Institute zu schließen und das dort vorhandene wissenschaftliche Inventar nach deutschen Universitäten und Hochschulen zu überführen«.45 Aufgrund fehlender Regelungen machte die Delegation sehr konkrete Anregungen: Das Institut für Atomphysik in Warschau sollte dem Heereswaffenamt zur Verfügung stehen, alle Institute der Universität und Czochralskis Arbeitsplatz, die Technische Hochschule in Warschau, sollten ab sofort bewacht werden und die Hochschulen geschlossen bleiben. Apparate aus Warschau waren teils für den Aufbau einer deutschen Universität in Posen vorgesehen, teils sollten sie ins Reich verbracht werden, um dortige Mängel an Apparaten für »kriegswichtige Forschungsarbeit« auszugleichen.46 Um Kultur- und andere Güter zu rauben und in das Deutsche Reich zu verbringen, kam ebenfalls im Oktober 1939 der Prähistoriker Peter Paulsen, SS -Untersturmführer und Mitglied im SS -Ahnenerbe, mit dem sogenannten Sonderkommando Paulsen des Reichssicherheitshauptamtes nach Polen. Am 4. Januar 1940 postulierte Paulsen bezugnehmend auf ein Treffen in Warschau im November 1939, für die dortige Arbeit würden weitere Mitarbeiter benötigt. Er hatte den Sprachwissenschaftler und Volkskundler SS-Obersturmbannführer Heinrich Harmjanz aus dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im 45 BA Lichterfelde R 4901-687, Bl. 45-53, Bericht von Amtschef Menzel an den Reichserziehungsminister, 31. 10. 1939. 46 BA Lichterfelde R 4901-687, Bl. 56-57, Niederschrift vom 23. Oktober 1939 von Dr. Schuhmann, Dr. Mentzel und Dr. Donnevert. 350 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Sinn, der »zur Sicherstellung der wissenschaftlichen Institute insbesondere ihrer wertvollen Einrichtungen, Apparate, Instrumente, Lehrmittel« eingesetzt werden sollte.47 Paulsen berichtete weiter, die Universität mit zahlreichen Instituten sei untersucht und wichtige Teile versiegelt worden. In der Technischen Hochschule seien Vorkehrungen getroffen worden, wertvolle Einrichtungen zu schützen und sicherzustellen, um sie für den Vierjahresplan nutzbar zu machen. Die Universitäten und die Technische Hochschule mit ihren Instituten stellten noch eine große Aufgabe dar, denn, so Paulsen, der Generalgouverneur habe örtlichen Behörden Anordnungen erteilt, mit der Liquidierung von wissenschaftlichen Einrichtungen zu beginnen; Paulsen habe aber geraten, damit zu warten, bis Harmjanz als zuständiger Bearbeiter im Reicherziehungsministerium sich Anfang 1940 um die Universität und die Institute kümmern würde.48 Heinrich Harmjanz war ebenfalls im November 1939 in Warschau. Er hatte vor dem Krieg Kontakte zu polnischen Wissenschaftlern unterhalten und unter anderem über die Besiedlung Ostpreußens publiziert – Werke, die von polnischen Kollegen durchaus geschätzt wurden.49 Nunmehr war er ein hochpolitisierter Wissenschaftler, der unter der Bedingungen des NS -Systems in einem ideologienahen Fach wie der Volkskunde gute Karrieremöglichkeiten vorfand. Nach seiner Habilitation war er Referent im Reichserziehungsministerium und dann im »Amt Wissenschaft« für Geisteswissenschaften zuständig. Seit 1937 akkumulierte er immer mehr Macht und koordinierte als Abteilungsleiter die volkskundlichen Arbeiten im »SS -Ahnenerbe«.50 Er kam 1939 als Generaltreuhänder für die Sicherstellung deutschen Kulturgutes nach Polen. In einem Bericht an Herbert Scurla, der als Sonderreferent für Ostfragen im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung arbeitete, befasste er sich ausführlich mit den Forschungsinstituten der Technischen Hochschule in Warschau. Sie waren durch Beschuss während des Überfalls in Mitleidenschaft gezogen worden – einige Gebäude waren stark beschädigt, andere wiederum wiesen nur geringe Schäden wie zerbrochene Fensterscheiben 47 Mężyński, Kommando Paulsen, S. 53. 48 Dokument abgedruckt in: Wissenschaftliche Bibliotheken, S. 9-17. 49 Marek Barański rozmawia z prof. Tadeuszem Orackim, in: Borussia 57 (2016), S. 27-34, S. 30. 50 Seinem steilen Aufstieg folgte 1943/44 ein jäher Fall – Harmjanz wurde von Kontrahenten aus dem »Amt Rosenberg« mit Vorwürfen konfrontiert, er habe in seiner Habilitation von »jüdischen Autoren« plagiier. Daraufhin meldete Harmjanz sich zur Wehrmacht und spielte in der Volkskunde keine Rolle mehr, siehe: Friedemann Schmoll, Heinrich Harmjanz. Skizzen aus der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, in: Jahrbuch für Europäische Ethnologie 3 (2008), S. 105-130, S. 105-106. 351 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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auf, das Chemische Institut war überhaupt nicht mehr betriebsfähig. Insgesamt wiesen die Gebäude eine Zerstörung von 15 bis 50 Prozent auf.51 Einige Institute wurden als Truppenquartier benutzt, das Hauptgebäude war vollständig von Einheiten der Wehrmacht belegt, die später, als nachfolgende Truppen kamen, sämtliche Möbel, elektrische Einrichtungen und anderes Gerät wie etwa Schreibmaschinen mitnahmen.52 Harmjanz war am 4. November 1939 von Kazimierz Drewnowski, dem Rektor der Hochschule, durch die Gebäude geführt worden, der die Besichtigung als »entgegenkommend und freundlich, was auch durchweg von den Leitern der besichtigten Institute, die meistens anwesend waren, zu sagen ist«, beschrieb, in einer Diktion, die Normalität und gleichzeitig Macht über das Geschehen signalisieren sollte. Die Anwesenheit fast aller Institutsleiter erklärte sich damit, dass am gleichen Tag eine Sitzung wegen der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit stattfinden sollte – dies beschied Harmjanz abschlägig, forderte aber, dass die Professoren jederzeit ansprechbar sein müssten.53 Viele der Lehrenden gingen offenbar davon aus, dass ein Lehrbetrieb bald wieder aufgenommen und ähnlich wie während des Ersten Weltkriegs organisiert werden könnte, jedenfalls verhielten sie sich zunächst abwartend.54 Während dieser Zeit waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Technischen Hochschule vor allem damit beschäftigt, die Schäden aus den Kriegshandlungen im September zu beseitigen – diese Arbeiten wurden später durch den beginnenden Winter und die Tatsache, dass die Deutschen alles, was als Heizmaterial verwendet werden konnte, für sich requirierten, zum Teil ad absurdum geführt.55 Viele polnische Gelehrte und Studierende engagierten sich, weil sie möglichst rasch weiterarbeiten und die entsprechenden Apparate sichern wollten.56 Grundlegende Renovierungsarbeiten bei schwereren Schäden konnten sie aber nicht durchführen, so wurde etwa 51 Piotr Majewski, Wojna i Kultura. Instytucje kultury polskiej w okupacyjnych realiach Generalnego Gubernatorstwa 1939-1945, Warszawa 2005, S. 154. 52 BA Lichterfelde R 4901-688, Bl. 137, Bericht von Prof. W. Gleisberg (Posen), März 1940; AAN Regierung des Generalgouvernements 671: Hauptabteilung Finanzen, Bl. 17-21; The Nazi Kultur in Poland, by several authors of necessity temporarily anonymous, Polish Ministry of Information, London 1945, S. 66. 53 BA Lichterfelde R 4901-688, Bl. 72-75, Bericht über die nicht zerstörten bzw. arbeitsfähigen Forschungsinstitute der Technischen Hochschule Warschau. 54 Siehe Janina Kaźmierska, Szkolnictwo warszawskie w okresie okupacji, in: Warszawa lat Wojny i Okupacji 1939-1944 I, Warszawa 1971, S. 193-S. 222, S. 217. 55 Nazi Kultur in Poland, S. 65. 56 BA Lichterfelde R 4901-688, Bl. 218, Bericht der Abwicklungsstelle für das ehemals polnische Ministerium für Kultur und Unterricht, 10. 5. 1940; Politechnika Warszawska, S. 211. 352 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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das Dach des Chemiegebäudes des Polytechnikums zunächst nur provisorisch abgedeckt.57 Harmjanz war dabei überzeugt, dass die Forschungstätigkeit höchstens einen Tag unterbrochen worden war. Einem sofortigen Abtransport von Einrichtungen und Apparaten erteilte er eine Absage, weil der Umfang der »gut und reichhaltig ausgestatteten« Forschungsinstitute dies unmöglich mache. Insofern plädierte er für eine Versiegelung, sobald die Instandsetzungsarbeiten abgeschlossen seien. Sodann könne mit dem Abtransport begonnen werden.58 Allerdings waren zuvor andere Stellen aktiv geworden, denn auf Anordnung des deutschen Physikers Erich Schuhmann waren bereits die gesamte Einrichtung des ballistischen Laboratoriums des physikalischen Instituts und große Teile seiner weiteren Laboratorien, Apparate aus dem Institut für Höhere Geodäsie, aus dem Institut für Mineralogie sowie alle Sammlungen, die sich im Hauptgebäude der TH befanden, abtransportiert oder verlagert worden.59 Zudem traf Harmjanz im physikalischen Institut auf Prof. Wolfram Eschenbach von der Technischen Hochschule Berlin, der die nicht ortsfesten Apparaturen im Auftrag des Heereswaffenamtes abtransportieren ließ; da aber nur wenige Lastwagen zur Verfügung gestanden hätten, seien nur »die Rosinen aus dem Institut herausgepickt« worden – der Raub beschränkte sich zunächst auf die wertvollsten Apparate.60 Insgesamt wurden aus den Instituten für Physik I und II, der Astronomie, der Geodäsie (dessen Inventar nach Breslau geschickt wurde) sowie der Mineralogie der größte Teil der Geräte geraubt, daneben das gesamte Inventar des ballistischen Labors sowie zahlreiche Bücher und Zeitschriften aus der Hauptbibliothek und weiteren Instituten.61 Wie wenig koordiniert diese Vorgänge waren, zeigt, dass einige Gerätschaften aus dem Astronomischen Institut der TH verpackt wurden, dann aber monatelang herumstanden, bevor sie wieder ausgepackt und vor Ort erneut betriebsfähig gemacht wurden.62 Harmjanz lieferte eine relativ detaillierte Beschreibung der einzelnen Institute des Polytechnikums. Besonders beeindruckt zeigte er sich vom Aerodynamischen Institut und dem Institut für Hochspannungskunde 57 Majewski, Wojna, S. 154. 58 BA Lichterfelde R 4901-688, Bl. 72-75, Bericht über die nicht zerstörten bzw. arbeitsfähigen Forschungsinstitute der Technischen Hochschule Warschau. 59 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1030-1945, 1284, Rektor Drewnowski an die Abwicklungsstelle, 13. 12. 1939. 60 Ebd., Bl. 79. 61 Dział Rękopisów Biblioteki UW, Spuścizna St. Pieńkowskiego 2586, Zestawienie strat Politechniki Warszawskiej spowodowanych wypadkami wojennych za okres od IX 1939 r do 30 VI 1941; Nazi Kultur, S. 65. 62 Ebd. 353 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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und elektrische Messkunde: »Ein auch für deutsche Verhältnisse ausserordentlich grosses Institut modernster Einrichtung«, auch das Institut für Radiotechnik hielt er für »sehr gut und ganz modern«. Zu Czochralskis Institut merkte er an: »Ein mit modernsten Mitteln hervorragend ausgestattetes grosses Institut, das in der Hauptsache aus Mitteln bzw. Forschungsaufträgen der polnischen Industrie erhalten wurde. 85 bezahlte Mitarbeiter und Assistenten. Der Leiter, der fliessend deutsch spricht, hat jahrelang in der deutschen Industrie gearbeitet, und kennt zahlreiche deutsche Betriebe aus eigener Anschauung.« Und, so Harmjanz: »Er gab an, sich mit seinem Institut bereits dem Distriktchef Warschau der deutschen Zivilverwaltung, Dr. Fischer, angeboten zu haben, für die Reichswerke Hermann Göring zur Verfügung zu stehen. Dr. Fischer soll angeblich die Verwendung des Institutes im Rahmen des Vierjahresplans beim Wirtschaftsneuauf bau in Polen für erörterungswürdig halten.«63 Ob Czochralski dieses Angebot tatsächlich unterbreitete, ob freiwillig oder unter Zwang, und ob er damit meinte, im Prinzip seine Arbeit als Berater von Rüstungsbetrieben in Polen fortzusetzen, die nunmehr den Reichswerken Hermann Göring treuhänderisch übereignet worden waren, ist nicht bekannt. Zu den Werken, die den Reichswerken oder ihrer Tochter Stahlwerke Braunschweig zugeschlagen wurden, gehörten etwa die modernen polnischen Rüstungsbetriebe Starachowice und Stalowa Wola, mit denen Czochralski über seine Tätigkeit für das Militär kooperiert hatte.64 Kurze Zeit nach Harmjanz’ Besichtigung hatte im Dezember 1939 eine unter deutscher Aufsicht arbeitende Abwicklungsstelle des polnischen Ministeriums für religiöse Angelegenheiten und Bildung ihre Arbeit aufgenommen. Das Ministerium war am Tag der Einnahme Warschaus von Polizei und Wehrmacht besetzt worden. Auch für diese Stelle bestanden zunächst keine genauen Richtlinien.65 Sie sollte eine Bestandsaufnahme des wissenschaftlichen Personals durchführen und den Zugang zu universitären Instituten regeln, die nur mit Sondergenehmigungen zu betreten waren, und die »großen Werte in den wissenschaftlichen und sonstigen kulturellen Anstalten betreuen« und »für eine spätere Verwertung im Interesse der deutschen Wissenschaft erhalten«. Dabei ging man davon aus, dass polnische wissenschaftliche Einrichtungen ihre wissenschaft63 BA Lichterfelde R 4901-688, Bl. 72-75, Bericht über die nicht zerstörten bzw. arbeitsfähigen Forschungsinstitute der Technischen Hochschule Warschau. 64 August Meyer, Hitlers Holding, die Reichswerke »Hermann Göring«, München, Wien 1999, S. 133. 65 BA Lichterfelde R 4901-688, Bl. 215, Bericht der Abwicklungsstelle für das ehemals polnische Ministerium für Kultur und Unterricht, 10. 5. 1940. 354 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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liche Tätigkeit nicht wiederaufnehmen würden – man war davon überzeugt, die polnische Gesellschaft benötige keine Ärztinnen und Ärzte, Ingenieure mit Hochschulabschluss oder Angehörige anderer akademischer Berufe mehr.66 Leiter der Abwicklungsstelle wurde Assessor Werner Tzschaschel aus dem Amt des Warschauer Distriktchefs, der später in die Schulabteilung wechselte, bevor er stellvertretender Leiter der Abteilung Wissenschaft und Unterricht im GG wurde.67 Er verkündete im Januar 1940, alle Hochschulen in Warschau seien durchgehend geschlossen worden, was zwar einem Rechtsakt zur Abschaffung der Hochschulen vom 31. Oktober 1939, aber nicht ganz der Realität entsprach.68 Den formellen Schlussstrich unter die Tätigkeit der Hochschulen und die Liquidierung der akademischen Selbständigkeit veröffentlichte die Regierung des GG mit der Verordnung zur Auflösung der polnischen Hochschulen erst im September 1940.69 Im März 1940 war es Studentinnen und Studenten der Technischen Hochschule sowie der Medizin noch gestattet worden, ihre Abschlussprüfungen in Warschau abzulegen.70 Die Ärztekammer gab Diplome bis zum 6. Mai 1940 heraus.71 Einige 100 Prüfungen fanden dabei ohne Wissen der Abteilung Wissenschaft statt.72 Insgesamt wurden bis Juli 1940 noch über 900 Diplome vergeben.73 Im Kontext von fehlender Planung, Desinteresse oder Nachlässigkeit in der Kontrolle kam es seit dem deutschen Überfall auf Polen bis in den Herbst 1940 zu einem Zustand, den Tadeusz Manteuffel mit Blick auf die polnische Wissenschaft einen »halb toleranten Zeitraum« genannt hat – eine Zeit, in der in eingeschränktem Maß wissenschaftliche Arbeit noch möglich war.74 Einige Monate praktischer Erfahrung hatten die Zivilverwaltung vor Ort und Generalgouverneur Hans Frank wohl aber 66 Protokoll der Beratung der Schulbeauftragten bei den Distriktchefs am 10. 1. 1940, abgedruckt in: Georg Hansen (Hg.), Schulpolitik als Volkstumspolitik. Quellen zur Schulpolitik der Besatzer in Polen 1939-1945, Münster, New York 1994, S. 240. 67 Wissenschaftliche Bibliotheken, S. 224. 68 Protokoll der Beratung der Schulbeauftragten, S. 240. 69 Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 349. Siehe auch Christoph Kleßmann, Die Selbstbehauptung einer Nation. Nationalsozialistische Kulturpolitik und polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939-1941, Gütersloh 1971, S. 58. 70 Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 349. 71 Bolesław Krasiewicz, Odbudowa szkolnictwa wyższego w Polsce Ludowej w latach 1944-1948, Wrocław u. a. 1976, S. 16 72 BA Lichterfelde R4901-690, Bl. 38: Herbert Scurla, Bericht über den Stand des Problems wissenschaftliche Einrichungen im Generalgouvernement, Juli 1941. 73 Raporty Ludwiga Fischera Gubernatora Dystryktu Warszawskiego 1939-1944, Warszawa 1987, S. 181-182, Anm. 34. 74 So Król, Szczątkowe formy, S. 178. 355 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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auch belehrt, dass es im Interesse des Reiches liegen müsse, in gewissem Umfang Bildungsmöglichkeiten und Abschlussprüfungen noch bzw. wieder zuzulassen – es ging dabei aber stets strikt um die Interessen des Reiches und taktische Gesichtspunkte, nicht um irgendwelche Zugeständnisse an polnische Bedürfnisse.75 Und dies gilt auch in Bezug auf Jan Czochralski. In diesem »halb toleranten« Zeitraum eröffnete er sein Institut wieder, das während der Kampfhandlungen jeglichen Betrieb eingestellt hatte. Ein Teil war zwar zerstört worden, besonders die dritte Etage, wo sich das Röntgenlabor befand, und in anderen Teilen waren Scheiben zerborsten, aber auch hier machten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rasch an die Instandsetzung.76 Die Angaben über den genauen Zeitpunkt, an dem Czochralski und sein Team die Arbeit wieder aufnahmen, variieren. In einer Aussage nach dem Krieg erklärte Czochralski, dass er auf eigene Faust (d. h. ohne Genehmigung der Hochschule) bereits im Oktober 1939 wieder zu arbeiten begonnen hatte. Andere datieren die Gründung seines Instituts als offiziell so genannte Metallprüfanstalt (Zakład Badań Materiałów) auf den Dezember 1939, den Januar 1940 oder den Februar 1940.77 Möglich ist, dass Czochralski tatsächlich zunächst ohne Genehmigung der Hochschule, aber mit Erlaubnis der Okkupationsverwaltung arbeitete, weil der rechtliche Status des Vorläuferinstituts IMM so unklar war, dass es nicht der Hochschule zugeordnet werden konnte. In einer Aufstellung aller nach dem Überfall am Polytechnikum beschäftigten Personen, für die die Verwaltung der Hochschule verantwortlich war, findet sich Czochralskis Name nicht.78 Zudem, so erinnerte sich der Sohn des Physikers Mieczysław Wolfke, der ebenfalls am Polytechnikum unterrichtete, seien an der Hochschule nach dem Überfall spontan verschiedene Firmen und Einrichtungen entstanden, um die Existenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sichern. An der Fakultät für Chemie etwa sei eine Zusammenarbeit mit 75 Kleßmann, Selbstbehauptung, S. 40; Präg, Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 151, 76 AAN A /771/85, Archiwum Zakładu Historii II Wojny Światowej Instytutu Historii PAN, Jan Czochralski, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego. Dyskusja na posiedzeniu Senackiej Komisji Historii i Tradycji Uczelni PW w dniu 26.III.1984, S. 12. 77 Tomaszewski, Restored, S. 142. Siehe auch APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1282, Bericht über die Besichtigung der Prüfanstalten der ehemaligen technischen Hochschule Warschau im Mai 1941; sowie Politechnika Warszawska, S. 98, wo betont wird, Jan Czochralski, »der mit den Besatzern zusammenarbeitete«, habe bereits im Dezember 1939 die Erlaubnis für Auftragsarbeiten erhalten. 78 APW, Amt des Disktriktchefs Warschau 1284, Kazimierz Drewnowski do Komisja Likwidacyjna Ministerstwo WROP, 18. 1. 1940. 356 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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kosmetischen Firmen initiiert worden, für die produziert worden sei, andernorts sei Schnaps gebrannt worden.79 Ein ehemaliger Mitarbeiter von Czochralski, Ludwik Szenderowski, der 1934 aus einem der dem Militär unterstellten Labore an das IMM delegiert worden war, gab in einer Anhörung von 1984 an der Technischen Hochschule zu Czochralski zu Protokoll, Czochralski habe sich genau aus diesem Grund bei den deutschen Behörden um eine Erlaubnis zur Eröffnung bemüht und einen Kontakt zum Heereskraftpark 554 der Wehrmacht hergestellt, der direkt gegenüber dem Institut eingerichtet worden war. Auf diese Weise habe er verhindert, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Zwangsarbeit verschleppt worden seien.80 Einige von Czochralskis Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren sehr dankbar, dass sie weiterhin einer bezahlten Arbeit nachgehen konnten.81 Czochralski versuchte also zu dieser Zeit, eine Normalität des Arbeitsalltags herzustellen, setzte sich dabei aber über (zunächst ungeschriebene) Regeln innerhalb der Gemeinschaft der Beherrschten hinweg.82 Denn dieses eigenmächtige Vorgehen verletzte gleichzeitig, selbst wenn es aus altruistischen Motiven geschah, das sowohl zeitgenössisch herrschende, aber mehr noch retrospektiv auf die Zeit projizierte ethisch-moralische Gebot, unter keinen Umständen mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Andere Erinnerungen verweisen darauf, dass Czochralski die Wiedereröffnung, die auf Verlangen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgt sei, mit Rektor Drewnowski abgesprochen habe. In dieser Version erscheint die Wiederinbetriebnahme von Czochralskis Institut als eine Art Test, um einen weiteren Abtransport von Einrichtung und wertvollen Instrumenten zu verhindern.83 Zudem galt die Eröffnung als Präzedenzfall für die Wiederinbetriebnahme weiterer Institute. Czochralskis Institut entwickelt sich in der Folge neben seiner Funktion als Versuchslabor sowohl zu einer Werkstatt als auch zu einem Handels- und Industriebetrieb, in dem auch die kosmetische Firma »Bion« angesiedelt wurde, eine Firma, die Czochralski nach dem Krieg weiterführte.84 79 Politechnika Warszawska, S. 212. Dazu Szarota, Okupowanej Warszawy Dzień Powszedni, S. 84. 80 AAN A /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego. 81 Domański, Sylwetki. 82 Darauf verwies in der Senatsanhörung Prof. Eugeniusz Olszewski, siehe AAN A /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego, S. 25. 83 Siehe Stanowisko Senackiej Komisji Historii i Tradycji Szkoły w sprawie uchwały Senatu z dnia 19 grudnia 1945 r. dot. prof. Jana Czochralskiego, 25. 2. 1993, https:// www.pw.edu.pl / Uczelnia / Profesor-Jan-Czochralski-patronem-roku-2013/Dokumenty (Zugriff am 11. 3. 2021). 84 AAN 203/III-8, Armia Krajowa, Komenda Główna, Bl. 252. 357 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ab Mai 1940 nahmen mit offizieller Erlaubnis und unter Aufsicht der Abwicklungsstelle acht weitere Institute als Prüfanstalten den Betrieb wieder auf. Eine solche Prüfanstalt leitete neben Czochralski etwa auch der erwähnte Physiker Mieczysław Wolfke.85 Nur mit einer schriftlichen Genehmigung des Amtes des Chefs des Distriktes Warschau, Abteilung Schulwesen, war es nun möglich, das Gelände des Polytechnikums zu betreten. Diejenigen, die für die Prüfanstalten arbeiteten, erhielten eine solche Genehmigung.86 Die Wiedereröffnung der Prüfanstalten wurde seitens der deutschen Besatzer damit begründet, dass man die Einrichtungen nicht brach liegen lassen und die Kosten der Unterhaltung senken wolle – vorhandene Kapazitäten sollten den eigenen Interessen dienen. Eine Lehr- und Forschungstätigkeit wurde verboten.87 Lediglich technische und praktische Aufträge von Behörden, Wehrmachtsdienststellen oder privater Seite durften gegen Bezahlung ausgeführt werden – dies verhinderte aber nicht, dass dort dennoch Studierende ausgebildet wurden.88 Die Leiter der Prüfanstalten erhielten zehn Prozent der Nettoeinkünfte, die ihre Institute erwirtschafteten. Die Abwicklungsstelle stellte anhand zahlreicher Aufträge eine große Nachfrage nach solchen Anstalten fest, »zumal während des Krieges im Distrikt Warschau eine größere Zahl von Versuchslaboratorien der Industrie vernichtet wurde«.89 Im Haushaltsentwurf des GG für das Rechnungsjahr 1940 hieß es dazu: »Die Universitäten, die Technische Hochschule in Warschau und die wissenschaftlichen Institute in Polen sind an sich geschlossen. Dies ist aber nicht überall streng durchgeführt. Ein Teil der wissenschaftlichen Institute arbeitet weiter. Teils handelt es sich dabei nur um Aufrechterhaltung des notwendigsten Betriebs oder um Fortsetzung bereits begonnener Arbeiten, teils handelt es sich um neue Aufgaben, die den Instituten von den deutschen Behörden oder den Wehrmachtsstellen gestellt wurden. Das letztere gilt besonders für eine Reihe von Instituten der Technischen Hochschule in Warschau, die als Materialprüfungsanstalten wieder in Betrieb gesetzt worden sind.«90 Für das Jahr 1941 verzeichnete die deutsche Okkupationsverwaltung in ihren Haushaltsplänen für alle Prüfanstalten 35 tariflich angestellte Hilfskräfte und 53 ehemalige polni-

85 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1333, Bl. 113. 86 Ebd., Bl. 49. 87 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1284, Bl. 11: Abwicklungsstelle, 9. 5. 1940 an den Rektor der Technischen Hochschule Warschau. 88 Präg, Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 326. 89 Ebd. 90 AAN, Regierung des Generalgouvernements 671, Hauptabteilung Finanzen, Bl. 54. 358 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sche Beamte.91 Davon entfielen auf die Prüfanstalt für Metallkunde zehn wissenschaftliche Hilfskräfte und vier ehemalige polnische Beamte.92 Im selben Jahr wurden von den Prüfanstalten, die in enger Verbindung mit dem Rüstungskommando arbeiteten, für ihre Aufträge aus der Industrie oder der Wehrmacht für einen Zeitraum von 15 Monaten 450.000 Złoty an Einnahmen verzeichnet, die mit Abstand höchste Einzelsumme der Einnahmen aller wissenschaftlichen Einrichtungen in Warschau.93 Bei diesen Einnahmen lag die Prüfanstalt für Metallkunde mit 48.100 Złoty im Mittelfeld – übertroffen wurde sie nur von der Prüfanstalt für Wasserbau. Die Prüfanstalt für Aerodynamik bewegte sich auf dem gleichen Niveau wie die Metallkunde, und die restlichen pendelten sich unterhalb der Metallkunde ein.94 Bei den Ausgaben lag die Prüfanstalt für Metallkunde mit 73.480 Złoty an der Spitze – sie hatte die höchsten Personalausgaben und die zweithöchsten Materialkosten.95 Die Arbeiten, die Czochralskis Institut in dieser Zeit ausführte, waren hauptsächlich Reparaturen, Untersuchungen von Legierungen und Serviceleistungen für polnische Industriebetriebe in Warschau, mit denen er teilweise bereits zuvor kooperiert hatte und von denen ein Teil nun den Reichswerken Hermann Göring unterstellt waren. Czochralskis Institut arbeitete so mit den Firmen Norblin, Buch i Werner, Lilpop, Rau i Loewenstein, Bistal, den Polskie Zakłady »Philips«, der Dyrekcja Tramwajów i Autobusów w Warszawie, der Stowaryzszenie Mechaników Polskich z Ameryki sowie den Zakłady Ostrowieckie zusammen.96 Seit 1941 kamen direkte Aufträge der Wehrmacht hinzu. Mit Wirkung vom 1. Februar 1941 schuf die Okkupationsverwaltung das Amt eines deutschen Kurators für das polnische Hochschulwesen in Personalunion mit dem Referenten aus der Abteilung Wissenschaft und Unterricht, Tzschaschel – er sollte sich um die Sicherung der nicht zerstörten Einrichtungen und um das Vermögen der ehemaligen Hochschulen kümmern.97 In der Technischen Hochschule brachten die Besatzer neben den Prüfanstalten noch drei staatliche Fachschulen mit zweijähri91 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1415, Bl. 2 und 3. 92 AAN, Regierung des Generalgouvernements 671, Hauptabteilung Finanzen, Bl. 47-48. 93 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1415, Bl. 4; APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1550, Bl. 220: Berichte der Abteilung Wissenschaft und Unterricht 19391944, Bericht für Juli 1941. 94 AAN, Regierung des Generalgouvernements 671, Hauptabteilung Finanzen, Bl. 49. 95 Ebd., Bl. 50. 96 Siehe AAN A /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego, S. 35. 97 Kleßmann, Długoborski, Bildungspolitik, S. 547. 359 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gem Unterrichtsprogramm unter, an denen die ehemaligen Professoren unterrichteten – bevor über das weitere Schicksal des ehemaligen Polytechnikums entschieden wurde.98 Im März 1941 veranschlagte der Verwalter Drewnowski für das Haushaltsjahr 1941/42 einen Personalstand von insgesamt 160 Personen an der ehemaligen Hochschule; für Czochralskis Institut waren einschließlich ihm selbst 14 Personen vorgesehen, womit es die größte aller Prüfanstalten war. Czochralski sollte wie alle anderen Leiter der Prüfanstalten mit einem Gehalt von 800 Złoty entlohnt werden.99 Im Mai 1941 kam Wilhelm Lührs, Ordinarius für Geodäsie an der Technischen Hochschule Breslau, nach Warschau, um zu klären, inwieweit die Wehrmacht diese Anstalten weiter zu nutzen wünsche.100 Lührs forderte, die Leitung der Institute, die er angeblich nur mithilfe des Rüstungskommandos der Wehrmacht habe betreten können, unbedingt den polnischen Professoren zu entziehen und deutschen Beauftragten zu geben. Die polnischen Professoren wollte er vollständig degradieren. Sie, die »z. T. als Wissenschaftler einen Namen haben und sämtlich die deutsche Sprache beherrschen, könnten als Hilfskräfte an Instituten im Reich ausgenutzt werden. Jedenfalls empfiehlt es sich, den derzeitigen Zustand, daß ein Teil der polnischen Professoren gleichzeitig als Leiter von Fachschulen mit oder ohne Genehmigung des Generalgouverneurs auftritt, zu beseitigen.«101 Ähnlich argumentierten Professoren der Technischen Hochschule Danzig, die das ehemalige Polytechnikum ebenfalls besuchten und eine »unbedingt notwendige Ausschaltung polnischen Einflusses« forderten – ihr Dilemma aber war, dass sie über kein Personal verfügten, die polnischen Lehrenden zu ersetzen. Auch im Reichserziehungsministerium in Berlin wurde man nicht müde zu betonen, dass die Institute dringend unter deutsche Leitung gestellt werden müssten, da jegliche wissenschaftliche Tätigkeit polnischer Gelehrter nicht zulässig sei; sie sollten auch nicht mit deutschen oder anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Verbindung treten.102 An Czochralskis Metallprüfanstalt fiel Lührs auf, dass sie sehr modern und zu 90 Prozent mit Geräten aus Deutschland ausgestattet sei. Er lob98 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1282, Bl. 15. 99 Ebd., Bl. 18, Technische Hochschule Warschau, Personalstand der TH Warschau vom 10. 3. 1941. 100 Ebd., Bl. 4-5, Bericht über die Besichtigung der Prüfanstalten der ehemaligen technischen Hochschule Warschau. 101 Ebd. Bl. 6. 102 BA Lichterfelde R 4901-690, Bl. 37-38, Herbert Scurla, Bericht über den Stand des Problems wissenschaftliche Einrichtungen im Generalgouvernement, Juli 1941. 360 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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te Czochralskis Verdienst, die ersten Ersatzmetalle für Deutschland geschaffen zu haben, und meinte, er sei schon vor dem Kriege als »Deutschenfreund« bekannt gewesen. Lührs fand dort acht wissenschaftliche Mitarbeiter, acht Beamte und Techniker und 29 Hilfsarbeiter vor, die mit folgenden Arbeiten beschäftigt waren: der Herstellung von Kolben und Kolbenringen für den Wehrmachtsfuhrpark, Neukonstruktionen für Gasbrenner zur Brennstoffersparnis, von Federn für Kraftwagen sowie dem Schmieden von Bolzen und Achsen.103 Allerdings habe das Institut erst ca. 80 Aufträge seit Februar 1940 erhalten. Und er stellte fest: »Die Arbeiten an Ersatzmetalllegierungen werden fortgeführt.« Somit setzte sich Czochralski über das Verbot von Forschungstätigkeit hinweg.104 Bei solchen Arbeiten wurde er auch von einem Mitarbeiter der Distriktverwaltung, Krüger, angetroffen, der das Laboratorium von Czochralski besichtigte und ausgerufen haben soll: »Keine wissenschaftliche Tätigkeit !«105 Dieses blieb aber ebenso wie Lührs’ Beobachtung der Forschungstätigkeit von Czochralski folgenlos, insofern kann davon ausgegangen werden, dass Czochralskis Kontrolleure diese Arbeiten entweder sanktionierten oder nicht in der Lage waren, sie hinreichend zu beurteilen. Insgesamt begegnete Lührs der Konstellation in der ehemaligen Technischen Hochschule kritisch, weil er den Unterricht an den Instituten bemängelte, über den zum Teil keine deutsche Aufsicht bestehe, mit »ehemaligen polnischen Studenten sogar höherer Semester« – für ihn ein untragbarer Zustand.106 Daraufhin erfolgte eine scharfe Kritik an Lührs’ Vorgehen seitens der Zivilverwaltung, die bei diesem Besuch übergangen worden war, fürchtete sie doch aufgrund schlechter Erfahrungen weiteren Raub von Ausstattung durch solche »Besuche« aus dem Reich.107 Begehrlichkeiten bestanden hier von Anfang an, und dies gilt insbesondere für die Technische Hochschule in Breslau. Dort herrschte das Verständnis, man habe »schon bisher, jetzt aber noch in besonderem Masse die Aufgaben des Ostens zu übernehmen«, woraus gefolgert wurde, bei 103 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1282, Bericht über die Besichtigung der Prüfanstalten der ehemaligen technischen Hochschule Warschau, Bl. 8. 104 Ebd. 105 Tomaszewski, Restored, S. 146; Siehe auch Zniszczyć inteligencję [zeznanie Edwarda Warchałowskiego] auf der Seite des Pilecki-Instituts: https://instytutpileckiego.pl/pl/aktualnosci/zniszczyc-inteligencje-zeznanie-edwarda-warchalowskiego (Zugriff am 6. 11. 2020) 106 BA Lichterfelde R 4901-690, Bl. 37-38, Herbert Scurla, Bericht über den Stand des Problems wissenschaftliche Einrichtungen im Generalgouvernement, Juli 1941. 107 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1282, Bl. 13, Kurator an die Regierung des GG, 9. 6. 1941. 361 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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jeglicher Verteilung bevorzugt bzw. allein berücksichtigt werden zu müssen. Dies bezog sich auf alle vorhandenen Sammlungen, auf Prüfmaschinen, aber etwa auch auf Metalle und andere Materialien.108 Nicht nur die TH Breslau, auch die dortige Universität war diesem Denken verhaftet und sah sich schon als Nachfolgerin der Universität Krakau, deren Ausstattung sie forderte.109 Immer wieder verfassten Professoren und Institutsdirektoren Anfragen an den Generalgouverneur, um Bücherbestände, Instrumente und Einrichtungsgegenstände der ehemaligen polnischen Hochschulen für sich zu nutzen.110 Die Regierung im GG hatte dafür nur wenig Verständnis und pflegte eine »ausgesprochene Abneigung« gegen die Abgabe wissenschaftlichen Materials in das Reichsgebiet, da in den ersten Monaten der Okkupation in zu großem Umfange und ohne jede Kontrolle dessen Raub stattgefunden habe.111 Im Anschluss an den Besuch Lührs’, der die zukünftige Ausnutzung der Prüfanstalten in eine noch engere Zusammenarbeit mit dem Rüstungskommando Warschau bringen wollte, fand trotz aller Kritik an seinem Vorgehen eine Überprüfung der ehemaligen Hochschule und der Fachschulen statt. Die Schulverwaltung sah sich doch genötigt, den Einsatz von polnischen Hochschullehrern zu rechtfertigen, indem sie behauptete, sie seien keinerlei »Gefahrenquelle«, weil keine hochschulähnliche Arbeit stattfinde.112 Im Juli 1941 wurde die Verwaltung des ehemaligen Polytechnikums vorläufig neu geregelt und die Prüfanstalten zu einer einzigen »Technischen Prüfanstalt Warschau« mit mehreren Abteilungen zusammengefasst.113 Darüber hinaus wurde nach einer Besichtigung der Anlagen durch Vertreter der Regierung des GG beschlossen, nach Beendigung des Winters 1941 in Warschau ein »Technikum« zur Heranbildung eines polnischen und ukrainischen Nachwuchses an technischen Fachkräften aufzubauen.114 Dies geschah vor dem Hintergrund, dass der Krieg gegen die Sowjetunion das Bedürfnis nach Fachkräften erhöht hatte. Die Verwaltung jedenfalls postulierte pragmatisch, 108 BA Lichterfelde R 4901-688, Bl. 16-17, Rektor der Technischen Hochschule Breslau an REM, 6. 1. 1940. 109 Kleßmann, Selbstbehauptung, S. 58. 110 BA Lichterfelde R 4901-687, Bl. 233, Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Runderlaß vom 2. 7. 1941. 111 BA Lichterfelde 4901-690 Bl. 37-38. Herbert Scurla, Bericht über den Stand des Problems wissenschaftliche Einrichtungen im Generalgouvernement, Juli 1941. 112 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1282, Bl. 17. 113 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1282, Bl 24-28, Kurator an den Verwalter der Technischen Hochschule, 22. 7. 1941. 114 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1550, Bl. 264, Berichte der Abteilung Wissenschaft und Unterricht 1939-1944, Bericht für Oktober 1941. 362 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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dass Wirtschaft, Rüstungsindustrie und Verwaltung dringend Absolventen einer solchen Fachschule benötigten.115 Die sodann gebildete Staatliche Höhere Technische Fachschule (Państwowa Wyższa Szkoła Techniczna, PWST) nahm am 20. April 1942 ihre Arbeit mit den vier Abteilungen Bauwesen, Maschinenbau, Elektrotechnik und Chemie auf. Unterrichtet wurde weiterhin durch polnische Hochschullehrer.116 Der Eröffnung der Hochschule im Jahr 1942 gingen umfangreiche Instandsetzungsarbeiten voraus, denn die Gebäude hatten durch Kriegseinwirkungen und vor allem eine längere Benutzung durch die Wehrmacht derartig gelitten, dass sie für Unterrichtszwecke unbrauchbar waren.117 Den Großteil der Kosten der Instandsetzung (429.000 Złoty) trugen Wehrmacht und Industrie, aus staatlichen Mitteln wurden 100.000 Złoty ergänzt.118 Das Vermögen des Polytechnikums wurde der PWST übertragen.119 Die Hauptabteilung Wissenschaft und Unterricht hatte sehr zu einer Instandsetzung der Gebäude gedrängt, weil die Absolventen dieser Schule nicht mehr nur als »kriegswichtig«, sondern schon als »kriegsentscheidend« galten. Im Juli 1942 sollte die anfängliche Anzahl von Schülern von 500 auf 1000-1200 aufgestockt werden.120 Interessenten gab es mit 3000 weit mehr, was zeigt, dass es eine starke Nachfrage nach einer Ausbildung in Warschau gab, selbst unter den Bedingungen der Besatzung (aber mit polnischen Lehrenden), und mit welch geringem Angebot diesem Bedürfnis seitens der Besatzer begegnet wurde, die ihrerseits nur aus Eigennutz handelten. Insgesamt nahm die Hochschule 1500 Studenten auf, wobei das anfängliche Ziel, auch Ukrainer auszubilden, nicht weiterverfolgt wurde.121 Das Lehrprogramm sollte zum Teil dem Programm des Polytechnikums entsprechen und wurde von deren Professoren ausgearbeitet. Der Versuch, das Vermögen und den Lehrkörper für 115 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1283, Bl. 22, Der Kurator am 4. 7. 1942. 116 In einer polnischen Erinnerung heißt es, die Absolventen der Schule seien nach dem prognostizierten Sieg über die Sowjetunion zur Bewirtschaftung Sibiriens vorgesehen worden, und zwar als technische Kader für Gebiete, die für Deutsche als eher unattraktiv angesehen worden seien; siehe Maciej Bernhardt, Szkoła Wawelberga i Politechnika Warszawska w latach 1940-1944, in: Zeszyty Historyczne 118 (1996), S. 95-108. 117 AAN, Regierung des Generalgouvernements 1277, Hauptabteilung Finanzen, Bl. 5. 118 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1550, Bl. 220, Berichte der Abteilung Wissenschaft und Unterricht 1939-1944, Bericht für Juli 1941. 119 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1282, Bl. 18, Tätigkeitsbericht vom Februar 1942. 120 AAN, Regierung des Generalgouvernements 1277, Hauptabteilung Finanzen, Bl. 8. 121 Krasiewicz, Odbudowa szkolnictwa wyższego, S. 22. 363 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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die Zwecke der Besatzer auszunutzen, funktionierte an der PWST besonders gut, weil deren Curriculum den Bedürfnissen der deutschen Kriegswirtschaft an qualifizierten Facharbeitern entsprach.122 Weiterhin sollte alles vermieden werden, was der Höheren Technischen Fachschule den »Anschein hochschulmäßigen Charakters« geben könnte.123 Daher wurde die an Hochschulen übliche akademische Freiheit abgeschafft, eine Auswahlmöglichkeit an Fächern gab es nicht und der Besuch des Unterrichts, der täglich aus acht Stunden und samstags sechs Stunden bestand, war Pflicht.124 Der Unterricht ließ sich aber nicht gänzlich im Sinne der Besatzer manipulieren und kontrollieren, und so bemängelten die Behörden auch weiterhin, dass der Unterricht an »Gepflogenheiten einer Hochschule« erinnere.125 Die bisher selbständigen Prüfanstalten gliederte man in die Schule ein, sie sollten sowohl in die Unterrichtsarbeit eingebunden als auch für Aufträge aus der Wirtschaft nutzbar gemacht werden.126 Von zwei Ausnahmen berichtete Distriktchef Ludwig Fischer: Das Aerodynamische Institut unterstand direkt dem Reichsluftfahrtministerium und blieb eine eigenständige Institution, weil es kriegswichtige Arbeiten für das Ministerium und, so Fischer, die »Forschungsanstalt Hermann Göring« ausführe.127 Hier griffen die Nationalsozialisten darauf zurück, dass bereits vor 1939 eine Zusammenarbeit des Aerodynamischen Instituts der TH Warschau mit der Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring stattgefunden hatte.128 Czochralskis Institut wurde der PWST ebenfalls nicht angegliedert, sondern funktionierte weiterhin als selbständige Einheit.129 Dies ist insofern erstaunlich, als im Vorfeld der Gründung in Zusammenarbeit mit dem Rüstungskommando Warschau abgefragt wurde, wer an der ehemaligen Technischen Hochschule arbeitete, wer die deutsche Sprache beherrsche, welche Räume zur Verfügung stün122 Majewski, Wojna, S. 169. 123 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1283, Bl. 43, Hauptabteilung Wissenschaft und Unterreicht, 27. 1. 1942. 124 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1283, Güttinger an den Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Warschau, o. D.; Bernhardt, Politechnika. 125 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1283, Der Gouverneur des Distrikts an Güttinger, 31. 5. 1943. 126 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1283, Bl. 40, Bericht vom März 1942. 127 Raporty, S. 473. Gemeint ist die Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring. 128 BA Lichterfelde R 3/3153 und 3154, Bde. 1 und 2 (1941 und 1942), Messergebnisse des Aerodynamischen Instituts der Technischen Hochschule Warschau (hg. mit Unterstützung der Luftforschungsanstalt Hermann Göring, Braunschweig). Darin enthalten sind Versuchsberichte aus den Jahren 1932-1935. 129 Politechnika Warszawska, S. 102. 364 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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den und welche Fächer gelehrt werden könnten – für Czochralski wurden in einer Übersicht »Technologie der Metalle« und »Metallurgie« genannt.130 Die Wissenschaftsverwaltung war an dieser Stelle offenbar über die Pläne von anderer Seite für das Institut nicht informiert. Ob die Entscheidung, mit seinem Institut nicht Teil der PWST zu werden, von Czochralski, dem polnischen Verwalter oder dem Rüstungskommando der Wehrmacht getroffen wurde, lässt sich nicht rekonstruieren. Sie ist als Protest interpretiert worden, als Versuch, den polnischen Charakter des Instituts zu wahren und nicht Teil einer deutschen Schule zu werden.131 Ob Czochralski über eine solche Entscheidungsfreiheit verfügte, ist nicht bekannt, es ist aber eher unwahrscheinlich.132 Eher befand er sich in einer Zwangslage, in der es im Interesse der Besatzer und der Wehrmacht lag, die Ressource »Czochralski« ihren Zwecken unterzuordnen. Zum Leiter der PWST wurde der Ingenieur Albert Güttinger vom Ohm-Polytechnikum aus Nürnberg bestellt, ein Spezialist für Maschinenbau, der in den polnischen Erinnerungen im Allgemeinen als »anständig« beschrieben wird. Während des Warschauer Aufstands erhielt er freies Geleit vom Gelände der Hochschule, das von polnischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern besetzt worden war. Denn er hatte Studierende vor der Gestapo geschützt und sich für inhaftierte Dozenten und Studierende eingesetzt – diese Aktivitäten wurden nach dem Krieg vom neuen Senat des Polytechnikums anerkannt.133 Als sein Stellvertreter fungierte der bisherige polnische Verwalter der Technischen Prüfanstalt, Kazimierz Drewnowski. Nachdem Drewnowski Ende November 1942 verhaftet und nach Dachau deportiert worden war, bestellte man Bolesław Tołłoczko, dessen Spezialisierung ebenfalls Maschinenbau war, zum neuen Stellvertreter.134

130 APW, Amt des Distriktchefs Warschau 1282, Bl. 33-40, Tzschaschel an das Rüstungskommando Warschau, 27. 9. 1941. Der Bericht war an den Fliegerstabsingenieur Dr. Fraas vom Rüstungskommando Warschau gerichtet – zu ihm hatte auch Czochralski Kontakt, siehe Tomaszewski, Restored, S. 146. 131 Ebd., S. 149. 132 So beurteilte es auch der Historiker Tomasz Strzembosz in der erwähnten Anhörung am Polytechnikum im Jahr 1984, siehe AAN A /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego, S. 21. 133 Bernhardt, Politechnika; auch Stanisław Mauersberg, Nauka i Szkolnictwo wyższe w okupowanym kraju (1939-1945), in: Zofia Skubała-Tokarska (Hg.), Historia Nauki Polskiej V (1918-1951), Wroclaw u. a. 1992, S. 316-468, S. 342. 134 Krasiewicz, Odbudowa szkolnictwa wyższego, S. 22. 365 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Anfang 1944 beschäftigte die Schule 83 Lehrende, größtenteils ehemalige Professoren und Dozenten des Polytechnikums.135 Viele Dozenten unterrichteten in den Kursen den Inhalt des Vorkriegscurriculums, wenngleich in komprimierter Form, so dass die Lehrpläne zuweilen schlecht aufeinander abgestimmt waren.136 Wo immer es in Warschau möglich war, wurde während der Okkupation im Untergrund weitergearbeitet – die Mianowski-Kasse stellte ihre fördernden und herausgeberischen Arbeiten zum Beispiel nicht vollständig ein und die Warschauer Wissenschaftsgesellschaft versuchte, Treffen ihrer Mitglieder im Untergrund zu organisieren. Die Professorenschaft der Universität Warschau entwickelte ebenfalls zahlreiche Aktivitäten, um die Lehre und gleichzeitig, soweit dies möglich war, ihre Forschungen unter den veränderten Bedingungen fortzusetzen. An der PWST wurde geheimer Unterricht durchgeführt, der sich mit einem höheren Niveau an die Kurse des ehemaligen Polytechnikums angleichen sollte – die PWST galt daher als ein geheimes Polytechnikum.137 Die Übergänge zwischen legaler Lehre und geheimem Unterricht waren jedenfalls fließend.138 Aus Erinnerungen von Studierenden geht hervor, dass sie die Chance einer legalen Ausbildung unter der Leitung anerkannter, polnischer Professoren durchaus zu schätzen wussten.139 Daher habe Enthusiasmus über diese Möglichkeit geherrscht, selbst wenn die Bedingungen nicht einfach waren, da es im Winter weder Wasser noch Heizungen gab.140 Der geheime Unterricht an der PWST wurde von 400 Studierenden besucht und brachte 186 Magisterdiplome, 18 Doktorarbeiten und 14 Habilitationen hervor.141 Jan Czochralski war weder an der legalen noch an der geheim durchgeführten Lehre beteiligt. Dies war vermutlich der Fall, weil sein Institut nicht zur PWST gehörte; zudem hatten sich Kollegen an seinem eigenmächtigen Verhalten zu Beginn der Okkupation gestört, was in einem Vertrauensverlust resultierte. Die Konflikte aus der Vorkriegszeit fanden hier ihre Fortsetzung. Aber eine Diplomarbeit wurde dennoch während des Krieges bei ihm angefertigt.142 Aus verschiedenen Quellen lässt sich inzwischen gut rekonstruieren, welche Arbeiten Czochralski ab 1941 an seinem Institut durchführte. Aus 135 Politechnika Warszawska, S. 103. 136 Szarota, Okupowanej Warszawy Dzień Powszedni, S. 101; Bernhardt, Politechnika. 137 Raporty, S: 428; Politechnika Warszawska 1939-1945. Wspomnienia pracowników i studentów, Warszawa 1990, S. 148. 138 Kleßmann, Selbstbehauptung, S. 136. 139 Bernhardt, Politechnika. 140 Politechnika Warszawska, S. 148. 141 Majewski, Wojna, S. 179. 142 Tomaszewski, Restored, S. 149. 366 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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zwei Berichten der Heimatarmee, also des polnischen bewaffneten, nichtkommunistischen Untergrunds, geht hervor, dass 50 Arbeiter und 23 Angestellte dort daran arbeiteten, Eisen- und Aluminiumbolzen zu gießen, Kurbelstangen, Pfannen und Kolbenringe herzustellen und Aluminiumkolben zu verarbeiten. Sie stellten des Weiteren größere Schrauben her, Hämmer verschiedener Typen und Werkzeuge für Steinmetze. Vorgenommen wurden auch Wärmebehandlungen an Eisen, Stahl und Nichteisenmetallen. Der Bericht verzeichnete darüber hinaus chemische Untersuchungen, Festigkeitsprüfungen und metallographische Untersuchungen, was erneut darauf verweist, dass bei Czochralski nicht nur produziert, sondern auch geforscht wurde.143 Die Prüfanstalt arbeitete als Forschungs- und Expertenlabor für das Rüstungskommando und den erwähnten Heereskraftpark 554 der Wehrmacht. In ihren Erinnerungen schreibt Czochralskis Sekretärin Irena Szyllar, dass unter dem Vorwand der Zusammenarbeit mit dieser militärischen Einheit etwa 150 Personen einen ständigen Schutz vor Verhaftung oder Verbringung in ein Lager gefunden hätten, da sie eine entsprechende Bescheinigung vorweisen konnten. Zum Zwecke der Produktion erhielt der Betrieb Zuteilungen von Erdöl und Benzin – zur damaligen Zeit erstrangige Mangelgüter.144 Neben dem Forschungslabor gab es eine mechanische Werkstatt und einen Gießereibetrieb. Weiterhin befanden sich in dem Institut die erwähnte Firma Bion, die verschiedene Parfums und weitere kosmetische Produkte erzeugte, und einige Apparaturen des Chemischen Forschungsinstitutes in Warschau. Zusätzlich soll dort die Firma Stanisław Pałecki ansässig gewesen sein, mit der Czochralski 1944 zur Zusammenarbeit aufgefordert worden war, um Kolben und Kolbenringe zu produzieren. Die monatliche Produktion der Gießerei wurde von der Heimatarmee als bedeutend eingeschätzt: 6000 Kurbelstangen, 2000 kg Kolben für Autos, 2000 kg Spezialteile, 400 kg Gießereiprodukte aus Bronze, Aluminium und anderen Materialien und 900 kg Lagermetalle soll das Institut mit Stand Januar 1944 produziert haben.145 An der PWST hatte sich neben dem geheimen Unterricht auch ein Zentrum der aktiven militärischen Widerstandsbewegung entwickelt. Der erwähnte Mitarbeiter von Czochralski, Szenderowski, erinnerte sich, 143 AAN 203/III-6, Armia Krajowa, Komenda Główna, Bl. 447, Materialy wywiadowe o sytuacji w przemyśle 1944. 144 Irena Szyllar, Wspomnienia z działalności podczas okupacji niemieckiej w Warszawie, Anhang 6 von AAN A /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego. 145 AAN 203/III-7, Armia Krajowa, Komenda Główna, Bl. 32, Przemysł Wojenny, Raport na styczeń 1944. 367 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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dass er 1942 mit weiteren Kollegen der Heimatarmee beigetreten sei. Ihr Ziel sei es gewesen, das Institut für militärische Produktionen zu nutzen. In der Gießerei hätten sie Teile für Granaten produziert, zudem sei dort ein Radioapparat installiert gewesen, mit dem sie ausländische Stationen abgehört hätten. Czochralski habe von diesen Aktivitäten gewusst, sie gewarnt und Vorsicht eingefordert, sie letztlich aber gewähren lassen.146 Zudem kooperierte Czochralski auch selbst mit dem polnischen Untergrund, versorgte ihn mit Informationen über die deutsche Industrie und mit Ausrüstung, ließ ein Auto und Kurier-Motorräder von seinen Benzinvorräten profitieren und gab Bescheinigungen für einzelne Mitglieder der Heimatarmee aus.147 Aus mehreren Erinnerungen geht hervor, dass er darüber hinaus verschiedenen Menschen geholfen hat, sie aus den Konzentrationslagern zu holen, in die sie besonders zu Beginn der Okkupation verschleppt worden waren.148 Als etwa der Mitarbeiter Stanisław Porejko verhaftet und in die Lager Sachsenhausen und Gusen verbracht wurde, kam er dank der Bemühungen von Czochralski wieder frei.149 Diese Interventionen waren nicht immer erfolgreich – als der Chemiker Kazimierz Smoleński von der PWST verhaftet wurde, habe Czochralski versucht, sich für dessen Freilassung einzusetzen, und auch der Chef der PWST Güttinger habe diesen Weg beschritten – die Gestapo habe ihnen aber eine scharfe Abfuhr erteilt, und Czochralski sei, um nicht den Weg der Rettung für andere zu verbauen, von der Aktion zurückgetreten.150 Der Schriftsteller Ferdinand Goetel, mit dem Czochralski aus der Vorkriegszeit bekannt war, erinnerte sich, es habe einen Offizier der Gestapo mit Namen Stabenov gegeben, der sich zuweilen für die Freilassung von Gefangenen eingesetzt oder Informationen über ihr Schicksal weitergegeben habe. Zu ihm sei man vor allem über die Tochter von Czochralski gelangt.151 Dieser Kontaktweg ist auch von anderen Zeitzeugen bestätigt worden.152 Und wie Czochral-

146 AAN A /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego, S. 14-18; auch Politechnika Warszawska, S. 158. 147 AAN 203/III-8, Armia Krajowa, Komenda Główna, Bl. 252, 253; auch Szyllar, Wspomnienia. 148 Politechnika Warszawska, S. 214. 149 Politechnika Warszawska 1939-1945. Wspomnienia pracowników i studentów, Warszawa 1990, S. 148. 150 Ebd., S. 100. 151 Ferdynand Goetel, Czasy Wojny, London 1955, S. 48 152 AAN A /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego, S. 7. Czochralskis Tochter Leonie kannte die Tochter des späteren Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes von Warschau, Josef Albert Meisinger. 368 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ski selbst nach dem Krieg bezeugte, versteckte er zwei Jüdinnen in seinem Haus.153 Über Czochralskis persönliche Kontakte zu den deutschen Okkupationsbehörden wissen wir so gut wie nichts, auch seine Kontakte nach Deutschland in dieser Zeit sind kaum nachzuvollziehen. Was jedoch bekannt ist: Er stand weiterhin wegen finanzieller Fragen in gelegentlichem Kontakt mit der Metallgesellschaft. Am 1. April 1940 schrieb er zum Beispiel einen Brief mit »aufgegebenen Zahlungen«, die die Metallgesellschaft dann leistete.154 Neu war für Czochralski und alle anderen ausländischen Lizenzgeber wie Georg Welter, W. Kroll oder A. Pácz, dass ihnen seit Kriegsbeginn ein Kriegszuschlag in Höhe von einem Achtel der veranschlagten Einkommensteuer pro Quartal abgezogen wurde. Indirekt finanzierten sie so mit ihren in Deutschland gezahlten Steuern den Überfall auf Polen mit. In Czochralskis Fall waren dies umgerechnet jährlich 360 Reichsmark.155 Wie bereits erwähnt, ist Czochralskis Wirken bis in die 1990er Jahre in der Historiographie eher negativ bewertet worden, wobei seine Person ohnehin überwiegend dem Verschweigen anheimfiel. Wenn er erwähnt wurde, las sich das in etwa so wie in einem Sammelband zur Okkupation aus den 1970er Jahren: »Das Institut, das nicht an die Hochschule angeschlossen wurde, war das Metallurgische Institut, das von Czochralski geleitet wurde. Dieses Institut unterstand direkt dem entsprechenden Institut in Berlin. Und wer Professor Czochralski war und welche Rolle er während der Okkupation gespielt hat – das muss man wohl nicht erklären.«156 Leider lässt sich aus heutiger Sicht aus solch kryptischen Sätzen, die auf einem Symposium zur Geschichte Warschaus in den 1970er Jahren im Sinne eines impliziten Wissens offenbar von allen verstanden wurden, nichts Konkretes rekonstruieren. Relativ eindeutig ist aber, dass Czochralski als extrem kontroverse Gestalt diskutiert und erinnert wurde, so auch vom Sohn des Physikers Mieczysław Wolfke.157 Er war zeitgenössisch ein »Thema«, wie es in den Erinnerungen von Wanda Wertenstein heißt, der Tochter des Physikers Ludwik Wertenstein, die im Februar 1941 notierte: »Ich hatte ein Gespräch mit Neumann zum Offenbar konnte dieser Kontakt genutzt werden, obwohl Meisinger für seine äußerste Brutalität gegenüber Juden und Nichtjuden in Polen bekannt geworden ist. 153 Siehe Tomaszewski, Powrót, S. 154-163. 154 HWA 119, Kasten 26, Metallgesellschaft an Czochralski, 9. 8. 1940. 155 HWA 119, Kasten 75: Notiz vom 7. 12. 1940. Einkommens- und Umsatzsteuer der bei uns geführten Steuerpflichtigen. 156 Warszawa Lat Wojny i Okupacji 1939-1944, III, Warszawa 1973, S. 439. 157 Politechnika Warszawska, S. 214. 369 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Thema Czochralski.«158 Erneut – keine konkreten Inhalte. Ein Thema war Czochralski offenbar auch im Untergrund, denn es existiert ein Dokument aus dem März 1940, in dem bei einem Treffen von Polen und Deutschen aus Wirtschaftskreisen Czochralski als zukünftiger Minister für Wirtschaft und Handel in einer Art Autonomie oder einem Protektorat gehandelt wird. Weiter werden Gerüchte wiedergegeben, nach denen Hans Frank vorgehabt haben soll, sich eine Art polnisches Beratergremium zu schaffen, für das ebenfalls Czochralski vorgesehen sein sollte – der Wahrheitsgehalt bzw. die Bedeutung dieses Dokuments dürften gering sein, weil eine solche Regierungsform nicht ernsthaft im Gespräch war.159 Aber es zeigt auf, dass und wie über ihn gesprochen wurde – man traute ihm zu, solche Positionen zu übernehmen. Es gab Kontroversen und Gesprächsbedarf aufgrund seines Verhaltens, aber welchen Inhalts genau diese Gespräche waren oder wie sie in der Kriegsöffentlichkeit Warschaus geführt wurden und wie er sich möglicherweise selbst dazu verhielt oder darüber dachte, muss Gegenstand von Spekulation bleiben. Der erwähnte Stanisław Porejko jedenfalls sah Czochralski als jemanden, »der auf zwei Pferden ritt« – weil er nicht gewusst habe, ob der Krieg von den Deutschen oder den Polen gewonnen werde.160 Der Vorwurf der »zwei Vaterländer«, der im Polen der Zwischenkriegszeit bereits eindeutig mit Unentschiedenheit, schwankender Loyalität und potentiellem Vaterlandsverrat verbunden war, verlängerte sich aus jener Zeit in die Okkupationszeit und wurde dort unter den Bedingungen der Gewaltpolitik der Besatzung potenziert. Dies unterschied die Situation Czochralskis von der anderer Polinnen und Polen, die ebenfalls mit den Deutschen kooperierten – nicht alle von ihnen verloren nach 1945 ihre Arbeit und ihr (moralisches) Ansehen. Czochralski steckte in dem Dilemma, dass Teile der polnischen Gesellschaft von ihm eine klare Haltung einforderten, in der das Gute an eine eindeutig widerständige Haltung ohne Kompromisse gekoppelt wurde. Aufgrund der Vorkriegsdiskussionen um seine deutsche Staatsbürgerschaft, sein Wissen und seine Macht hätte sein Wirken nach 1939 eindeutiger ausfallen müssen

158 Wanda Wertenstein, Jan Michalewski, Wspomnienia i zapiski z lat 1939-1956 (Rocznik podkowiański 4), Pruszków 1999, S. 102. 159 Das Dokument stammt aus dem AAN und wurde mir von Paweł Tomaszewski zur Verfügung gestellt, allerdings ohne Angabe einer Signatur. Es ist bislang nicht gelungen, die Herkunft genau zu bestimmten. Unterschrieben wurde es von »Malcz«, ein Pseudonym, das Stanisław Thun von der Heimatarmee verwendete, aber dies heißt nicht, dass er dieses Dokument angefertigt hat. 160 Politechnika Warszawska 1939-1945, S. 151. 370 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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als bei anderen, die ebenfalls auf die eine oder andere Weise mit den Besatzern kooperierten. Wie viel Einfluss er auf seine eigene Haltung hatte, ist kaum zu rekonstruieren. Er verhielt sich so, wie es ihm möglich war und dies beinhaltete, Kompromisse einzugehen und unter anderem für die Wehrmacht zu produzieren, womit er seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weiterhin Arbeit verschaffte und sie vor Deportation schützte. Zudem wird es sein Ziel gewesen sein, weiter arbeiten und forschen zu können. Nicht zuletzt veränderte sich die Situation seiner deutschsprachigen Familie mit Beginn der Okkupation, die plötzlich dem Volk der ungeliebten Besatzer angehörte. Aufgrund dieser Tatsachen war Czochralski zu Kompromissen bereit. Unbesehen aller damit verbundenen Schwierigkeiten und Dilemmata muss er gleichwohl im Vergleich zu vielen anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Polen während der Okkupation als privilegiert gelten – dies impliziert aber wiederum kein moralisches Urteil. Für ihn gab es keine einfache Bipolarität von »Gehorsam-oder-Widerstand«, wie Alf Lüdtke dies genannt hat. Die Konstellation des Beherrschtseins unter der deutschen Okkupation kannte für Czochralski Loyalität mit dem polnischen Untergrund, widerständiges Verhalten in Form von Hilfe für Verfolgte und wissenschaftlicher Arbeit, die er trotz Verbots fortführte, genauso wie Kontakte zu und Kompromisse mit den deutschen Besatzern. Czochralski nutzte die Kompetenzen, die er sich im Verlauf seines transnationalen Lebens angeeignet hatte, sich in verschiedenen Kulturen und politischen Systemen zu bewegen und dort gleichermaßen intensiv als Experte nachgefragt zu sein. Er eignete sich zusätzlich verschiedene Kompetenzen unter den Bedingungen des Beherrschtseins an, die sowohl Widerstand als auch Kompromisse einschlossen und nur wenig eindeutig waren.161 Die Frage – aus der Sicht der polnischen Gesellschaft und seiner Kollegen, die ihn für sein Handeln nach 1945 verurteilten und aus ihrem Kreis ausschlossen –, ob er mit seinem Handeln zur Stabilisierung der nationalsozialistischen Herrschaftsverhältnisse beigetragen hat, oder der moralische Imperativ, er hätte Widersand leisten müssen, zielten womöglich an der Alltagserfahrung von Jan Czochralski in der Zwangssituation der Okkupation vorbei.

161 Lüdtke, Herrschaft, S. 49-50. 371 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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5.4 Aus dem Staatlichen Hygiene-Institut in die Zwangsgemeinschaft: Ludwik Hirszfeld im Warschauer Ghetto

Die Handlungsräume für Ludwik Hirszfeld waren während der Okkupation noch begrenzter als für Czochralski, weil seine jüdische Herkunft sein Leben ab 1939 determinierte. Für ihn ging es ums Überleben. Aber auch er versuchte, in dieser Zeit und unter widrigen Umständen zu arbeiten. Als Mediziner im Ghetto war er dabei einerseits sehr gefragt, andererseits aber auch mit zahlreichen ethischen Dilemmata konfrontiert – auch diese Konstellation, die im Folgenden dargestellt werden soll, entzog sich zuweilen allen Eindeutigkeiten. Ludwik Hirszfeld hätte Ende August 1939 an einem Kongress von Mikrobiologen als Vize-Präsident in den USA teilnehmen können, nahm diese Einladung aber nicht an, weil er der Auffassung war, im Angesicht des drohenden Krieges müsse er im Land bleiben.162 Während der Kampfhandlungen im September 1939 organisierte er zunächst im Ujazdowskie-Krankenhaus ein Zentrum für Blutspenden für verletzte Soldaten und Zivilpersonen. Dort richtete er in einem Gebäude, in dem vor dem Krieg die Bakteriologie untergebracht war, eine Blutspendestelle ein, in der mit Zofia Mańkowska, Róża Amzel und Stanisława Adamowiczowa auch Mitarbeiterinnen aus dem Hygiene-Institut arbeiteten.163 Über Radio und Presse rief Hirszfeld die Bevölkerung Warschaus, vor allem Frauen, die nicht in die Kampfhandlungen einbezogen waren, zur Blutspende auf. Hunderte folgten dieser Aufforderung, so dass die Versorgung für alle Krankenhäuser in Warschau gesichert werden konnte. Für seine Verdienste im Ujazdowski-Krankenhaus während der Belagerung wurde er von mehreren militärischen Stellen ausgezeichnet.164 Seine Arbeitsstätte, das Staatliche Hygiene-Institut, war während des Krieges erheblich beschädigt worden. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten es verlassen, ein Teil war mit ihrem Direktor Gustaw Szulc und Hirszfelds langjährigem Mitarbeiter Feliks Przesmycki in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939 Richtung Osten nach Łuck evakuiert worden. Nachdem sowjetische Truppen am 17. September 1939 in Ostpolen einmarschiert waren, erhielt die Gruppe am 2. Oktober 1939 die Erlaubnis zur Rückkehr. Die Gebäude konnten rasch instandgesetzt werden, und das Institut nahm am 1. November unter Gustaw Szulc seine 162 Miesięcznik informacyjny AM we Wrocławiu, X /6 (108), marzec 2006: Pamięci prof. Ludwika Hirszfelda. 163 T. Brzeziński, Służba zdrowia w obronie Warszawy we wrześniu 1939 roku, Łódź 1964, S. 85. 164 APAN LH III-157-95, Bl. 37, 38, Zaświadczenie. 372 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Arbeit wieder auf.165 Das PZH sollte nun wie die Technische Hochschule für die Ziele des deutschen Besatzungsregime ausgenutzt werden, in diesem Fall vor allem im Kampf gegen die Ausbreitung von Epidemien. Es wurde in »Staatliches Institut für Hygiene« umbenannt. Im April 1940 erhielt es einen ersten kommissarischen Leiter, Ernst Georg Nauck, ein langjähriger Mitarbeiter des Hamburger Tropeninstituts, der zeitweise in Russland gearbeitet hatte und sich in russischer Sprache mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Warschau verständigte.166 Ihm war kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs am Hamburger Tropeninstitut, dessen Ausrichtung kolonialrevisionistischen Zielsetzungen untergeordnet war, eine neu eingerichtete Fleckfieber-Forschungsabteilung unterstellt worden. Auch in Warschau errichtete er im ehemaligen PZH ein Institut für Impfstoffe gegen Flecktyphus.167 Bereits im Herbst 1940 übernahm der Mediziner Rudolf Kudicke die Institutsleitung, der wie Ludwik Hirszfeld am Krebsforschungsinstitut in Heidelberg gearbeitet hatte. Die Fleckfieberabteilung leitete ab 1942 der Arzt Rudolf Wohlrab, der zuvor im Gesundheitsamt des GG gearbeitet hatte. Die strukturelle Organisation des Instituts verblieb im Wesentlichen wie in der Vorkriegszeit – alle jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren aber entlassen worden. Forschungsarbeiten traten gegenüber der Arbeit mit und der Produktion von Impfstoffen erheblich in den Hintergrund. Wie an der Technischen Hochschule wird auch für das PZH von Improvisationen in der Okkupationszeit, beispielsweise der Schnapsbrennerei, berichtet. Produziert wurden auch Seife und ein Zuckeraustauschstoff.168 Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nahmen daneben eine geheime Produktion von Impfstoff gegen Fleckfieber auf, der in Gefängnissen, in Konzentrationslagern und in Ghettos verteilt wurde. Zudem erhielten sie Impfstoffe aus Lemberg aus dem dortigen Institut von Rudolf Weigl, das von den Deutschen zur Impfstoffproduktion eingerichtet worden war.169 Ludwik Hirszfeld verlor seine Position Anfang November 1939, als Gustaw Szulc ihm mitteilte, er müsse auf Anordnung der Deutschen alle Juden entlassen.170 Auf Empfehlung von Szulc, der bis zu seinem Tod im 165 Marta Gromulska, Państwowy Zakład Higieny w czasie wojny 1939-1944, in: Przegląd Epidemiologiczny 62 (2008), S. 719-725, S. 720. 166 APAN III-254-35, Materiały Feliksa Przesmyckiego. Moje wspomnienia, handschriftlich und unpaginiert. 167 Stefan Wulf, Nauck, Ernst in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 759 f. [Online-Version], URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd13212856X.ht mlndbcontent (Zugriff am 5. 6. 2020) 168 APAN III-254-35, Materiały Feliksa Przesmyckiego. Moje wspomnienia. 169 Ebd. 170 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 188. 373 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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April 1941 auf seinem Posten als Verbindungsmann zur deutschen Leitung verblieb, übernahm Feliks Przesmycki die Leitung der Abteilung für experimentelle Medizin und Bakteriologie, der Hirszfeld lange Jahre vorgestanden hatte.171 Erstmalig in seinem wissenschaftlichen Leben stand Hirszfeld ohne institutionelle Anbindung und ohne Einkommen da – eine Situation, die er als höchst schwierig für sich beschrieb. Gewöhnt, eine ganze Reihe von Mitarbeitern anzuleiten, fühlte er sich plötzlich wie ein »Feldherr ohne Armee«.172 Allein war er hingegen nicht: Das Haus der Hirszfelds im Warschauer Stadtteil Saska Kępa entwickelte sich während des Zeitraums vom September 1939 bis zum Februar 1941 zu einem Treffpunkt verschiedener Verwandter, Freunde, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Häuser zum Teil zerstört waren oder die aus unterschiedlichen Gründen von ihrem bisherigen Wohnort fliehen mussten. Weil deutsche Soldaten das Haus seines nach Dachau deportierten Schwagers Stanisław Kiełbasiński belegten, wohnten Hanna Hirszfelds Schwester Izabela Klocman (geb. Belin) sowie deren Tochter Hanna Klicka bei den Hirszfelds.173 Letztere war in Heidelberg geboren und in der Schweiz zur Schule gegangen, war also mit ihrem Onkel und ihrer Tante sehr vertraut. Hanna Klicka arbeitete zunächst noch in einer Textilfabrik in Warschau, in der ein entfernter Cousin ihres Vaters, der Ingenieur Bolesław Konorski, technischer Direktor war.174 Sie hatte ebenfalls Angebote, Polen zu verlassen, wollte aber ihre Familie nicht allein lassen und zog daher bei den Hirszfelds ein. Gleichzeitig behielt sie ihre Wohnung im Warschauer Stadtteil Wola – sie verblieb während der Okkupation auf der sogenannten arischen Seite und arbeitete für den polnischen Untergrund. Ludwik Hirszfeld forschte während der Zeit bis zum Februar 1941 mit Unterstützung seiner langjährigen Assistentin Róża Amzel, die als Jüdin das Hygiene-Institut ebenfalls hatte verlassen müssen, an der Vererbbarkeit der Übergangsformen der Blutgruppen sowie an einem Lehrbuch

171 APAN PAN III-254-35, Materiały Feliksa Przesmyckiego. Moje wspomnienia. 172 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 189. 173 Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 1308, Hanna Klicka vom 5. 7. 1959. Izabela Klocman trug den Nachnamen ihres ersten Mannes, Ludwik Klocman, der mit Ludwik Hirszfeld während des Ersten Weltkriegs in Serbien war. Klocman arbeitete im Anschluss als Militärarzt in Russland, wo er verstarb. Izabela Klocman und ihre Tochter Hanna kehrten dann 1920 von Moskau nach Warschau zurück, wo Izabela Klocman den Arzt und Chemiker Stanislaw Kiełbasiński heiratete. 174 Konorski setzte sich später beim Springer-Wissenschaftsverlag für eine Veröffentlichung von Hirszfelds Memoiren ein. 374 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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für Immunologie.175 Von Zeit zu Zeit suchte er zum Austausch mit ehemaligen Kollegen noch das Institut für Hygiene auf, jedenfalls solange Nauck noch nicht als Direktor eingesetzt war. Zudem schickte er zwei größere Arbeiten zur Publikation nach Paris. Er war überzeugt, dass dies die einzigen »wissenschaftlichen Arbeiten polnischer Gelehrter sind, die während der Besatzung Polens auf internationaler Ebene erschienen«. Hirszfeld, der auch in Zeiten tiefster Not wissenschaftlich arbeiten und seine epistemischen Ideale von Wahrheit und Objektivität verfolgen wollte, bemerkte dazu: »Vielleicht dürfen sie der Welt als Beweis gelten, dass wir uns geistig aufrecht gehalten haben.«176 Das Haus der Hirszfelds war ein offenes Haus. Die Hirszfelds erhielten in dieser Zeit viel Besuch, u. a. von der Schriftstellerin und Aktivistin Halina Krahelska, die für die Heimatarmee arbeitete und eine Chronik über die Zeit 1940-1943 verfasste.177 Weitere Besucher waren der Bildhauer Mieczysław Lubelski sowie die Mediziner Henryk Makower und Julian Birenzweig. Auch wer einen vorübergehenden Unterschlupf brauchte, fand ihn dort. Nachdem das Ghetto in Lodz eingerichtet worden war, kam die Mutter von Hanna Hirszfeld nach Saska Kępa. Außerdem kamen der Arzt und Professor Władysław Sterling, der Chirurg Julian Eisner aus Lodz, Róża Amzel mit ihrer Mutter, Mietek Frenkiel und die Familie Szenwic zeitweise dort unter. Viele von ihnen überlebten die Okkupation nicht. Das Haus der Hirszfelds sei damals zum Zentrum einer großen Familie geworden, was möglich war, so die Erinnerung von Hanna Klicka, weil es als »politisch relativ sauber« galt. Im Keller befanden sich zwar Waffen und ein Radio, die dort ein Mitglied der Heimatarmee deponiert hatte, aber davon hätten die Bewohnerinnen und Bewohner nichts gewusst.178 Als die deutschen Besatzer im Oktober 1940 allen Jüdinnen und Juden in Warschau befahlen, sich in das Gebiet des Ghettos zu begeben, zogen einige Bewohnerinnen und Bewohner des Hirszfeld’schen Hauses dorthin. Dazu gehörte seine langjährige Assistentin Róża Amzel, mit der er zusammen an dem Lehrbuch für Immunologie arbeitete und die im Ghetto in der Grzybowska-Straße unterkam, wo Hirszfeld sie gelegent175 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 189. 176 Ebd., S. 190. 177 Siehe Kate Lebow, Halina Krahelska’s Warsaw Chronicle (1940-1943). Documenting the Holocaust on the Other Side of the Wall, in: Regina Fritz, Éva Kovács, Béla Rásky (Hg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS -Massenmordes an den Juden, Wien 2016, S. 87-131. 178 Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 1308, Hanna Klicka vom 5. 7. 1959. 375 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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lich besuchte.179 Die Mutter von Hanna Hirszfeld war ebenfalls in das Ghetto umgezogen und wohnte dort bei Freunden – die Familie dachte vor der Abschließung des Ghettos, dass es sich um eine temporäre Konstellation handele und wähnte sie dort sicherer als außerhalb des sogenannten »jüdischen Wohnbezirks«.180 Die Hirszfelds konnten zunächst noch in ihrem Haus verbleiben. Hanna Hirszfeld hatte die Behörden gebeten, das Haus von der Konfiszierung auszunehmen, weil sie dort als Kinderärztin praktizierte, womit sie den Lebensunterhalt der Familie sicherte.181 Sie hatte als Ärztin bei einer Sozialversicherung in Warschau gearbeitet, war aber im November 1939 entlassen worden.182 Gleichzeitig dachten die Hirszfelds über Flucht nach, denn aufgrund ihrer vielfältigen Kontakte nach Deutschland und anderswo war ihnen das Schicksal der Juden in Österreich und in Deutschland bekannt. Gleichwohl schätzten sie, wie so viele andere auch, die Dimension der Gefahr, die von den Nationalsozialisten für sie ausgehen sollte, nicht realistisch ein. Zu Beginn der Okkupation hatte Hirszfeld eine Einladung erhalten, mit der Familie nach Zürich überzusiedeln, aber mit Rücksicht auf die kranke Mutter von Hanna Hirszfeld, die ohne ein Auskommen war, und den Schwager Stanisław Kiełbasiński, der in Dachau war, gingen sie darauf nicht ein. Nachdem Stanisław Kiełbasiński mithilfe von Bestechungsgeldern aus Dachau befreit worden war,183 bekam Hirszfeld von seinem Heidelberger Kollegen Coca aus New York das Angebot, ihm Visa zu besorgen – er bekam aber keine Ausreisegenehmigung.184 Dann bemühte sich die Familie darum, nach Jugoslawien zu fliehen. Am 14. November 1940 reichten sie ihr Gesuch um eine Ausreisebewilligung ein. An der Universität Belgrad hatte einer seiner Schüler den Lehrstuhl für Bakteriologie inne, und in Serbien war Hirszfeld aufgrund seines Einsatzes für das Land während des Ersten Weltkriegs gerne gesehen.185 Für die Erlaubnis, die notwendigen Gebrauchsgegenstände auszuführen, verlangte die Devisenstelle 1000 Złoty, 179 Henryk Makower, Pamiętnik z getta warszawskiego: październik 1940 – styczeń 1943, Wrocław 1987, S. 23. 180 Yad Vashem Testimonies Record Group 0.3, File 11130, Joanna Belin, 12. 3. 1999. 181 Siehe Główna Biblioteka Lekarska, Dział Zbiorów Specjalnych, Akta Personalne Izby Lekarskiej Warszawsko-Białostocka Sygn. 2/1/1920: Brief Hanna Hirszfelds an die Warschauer Ärztekammer, 15. 10. 1940. 182 Główna Biblioteka Lekarska, Dział Zbiorów Specjalnych I-1367. Hanna Hirszfeld. 183 So die Erinnerungen von Joanna Belin, Yad Vashem Testimonies Record Group 0.3, File 11130, 12. 3. 1999. 184 APAN LH III-157-109, Bl. 95 und 96, Arthur Coca an Ludwik Hirszfeld, 5. 7. 1940 und 14. 1. 1941. 185 Makower, Pamiętnik, S. 107. 376 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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die Hirszfeld sofort bezahlte. Später wurden noch einmal 3500 Złoty pro Person an Passgebühren verlangt – diese Summe hatte Hirszfeld nicht und bat mit Verweis auf seine Arbeitslosigkeit, sie ihm zu erlassen. Am 16. Januar 1941 wurden weitere Unterlagen und Fotografien angefordert, auch diese reichten die Hirszfelds ein.186 Bereits im Dezember 1940 hatte Hirszfeld, nachdem er persönlich mit Vertretern der Gesundheitsverwaltung zusammengetroffen war, von der Gesundheitskammer Warschau einen Ausweis erhalten. Die deutschen Ärzte hatten ihm versichert, sie wollten ihm als größtem zeitgenössischen Experten auf dem Gebiet der Hämatologie helfen, seien doch seine Arbeiten in Deutschland bekannt. Man schätze besonders, dass »die Rassenlehre mit Blutgruppen in Verbindung stehe«.187 Dieser Ausweis bestätigte ihm, er sei im Begriff, nach Jugoslawien auszuwandern, und die Einreisegenehmigung läge bereits vor. Und »da Prof. Hirszfeld keinerlei behandelnde ärztliche Tätigkeit ausübt, darf er bis zum Zeitpunkt seiner Ausreise nach Jugoslawien seine Wohnung ausserhalb des jüdischen Wohngebietes behalten«, hieß es in dieser Bescheinigung, die von Dr. Arnold Lambrecht, dem Leiter der Abteilung Gesundheitswesen, unterzeichnet worden war.188 Mit dieser »Protektion« im Rücken fühlte Hirszfeld sich relativ sicher. Er vertraute auf ein »normales« Funktionieren der deutschen Bürokratie und setzte zudem darauf, seine weltweite Bekanntheit und seine Verbindungen zu Deutschland würden sich trotz der nationalsozialistischen rassistischen Politik positiv für ihn auswirken.189 Während dieser Zeit ließen sich die Hirszfelds wie viele andere Christen jüdischer Herkunft beim Haupthilfeausschuss in Warschau (Rada Główna Opiekuńcza, RGO), einer 1940 gegründeten Organisation, die von den Deutschen genehmigt und beaufsichtigt wurde, registrieren. Sie war für Hilfeleistungen an Bedürftige der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung im GG gedacht und kooperierte mit jüdischen Verbänden der Selbsthilfe. Die RGO stellte 291 Christen jüdischer Herkunft in Warschau Bescheinigungen aus, die sie von der Kennzeichnungspflicht für Juden und dem Zwangsumzug in das Ghetto befreiten. Auch Hirszfeld erhielt eine dieser Bescheinigungen. Offenbar betrachtete er dies als eine

186 Siehe Główna Biblioteka Lekarska, Dział Zbiorów Specjalnych, Akta Personalne Izby Lekarskiej Warszawsko-Białostocka Sygn. 2/1/1909. Ludwik Hirszfeld an Gesundheitsverwaltung, 27. 2. 1941. 187 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 199. 188 APAN LH III-157-95, Bl. 68, Gesundheitskammer im GG an Ludwik Hirszfeld, Ausweis vom 3. 2. 1940. 189 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 199-202. 377 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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zusätzliche Absicherung.190 Initiiert hatte diese Bescheinigungen der Vorsitzende der RGO, Adam Ronikier, weil er der Meinung war, man sollte es den »unglücklichen« Getauften nicht zumuten, zu einer »Rückkehr zu den Juden« gezwungen zu werden. Vor allem in Warschau wurden sie von den Behörden zunächst anerkannt.191 Letztlich ebnete genau diese Initiative den Weg, die Christen jüdischer Herkunft in das Ghetto zu zwingen. Denn im Februar 1941 forderten die Deutschen von der RGO eine entsprechende Liste, aufgrund derer sie alle Getauften ins Ghetto verbrachten und deren Vermögen konfiszierten. Dies sei die Strafe dafür gewesen, dass man den Besatzern vertraut hatte, so bewertete Hirszfeld dies retrospektiv und kritisierte die dahinter stehende Leichtsinnigkeit und Gutgläubigkeit der RGO – der er allerdings auch vertraut hatte, im Gegensatz etwa zu seiner Nichte Hanna Klicka, die genau dies nicht getan hatte.192 Ob Hirszfeld tatsächlich in seinem Haus hätte verbleiben können, hätte er sich nicht an die RGO gewandt, wie Henryk Makower vermutet hat, lässt sich nicht beurteilen, es erscheint angesichts der rigorosen rassistischen Politik unwahrscheinlich.193 Als die Hirszfelds am 26. Februar 1941 von der lokalen polnischen Polizei aufgesucht und aufgefordert wurden, ins Ghetto zu ziehen, war der Schock groß. Die polnischen Polizisten aus Hirszfelds Stadtteil Saska Kępa, die ihnen bekannt waren und ihm nun den Befehl übergaben, in den »jüdischen Bezirk« zu ziehen, kommen in Hirszfelds Autobiographie außerordentlich gut weg – er nannte sie »vorbildlich«, kein Wort des Vorwurfes wegen der Kooperation mit den Deutschen.194 Dies steht im Einklang mit dem generellen Narrativ seiner Autobiographie, in der er – entsprechend seiner ganz persönlichen Erfahrungswelt – ein polnisches Mitwirken an den Praktiken der Besatzer nicht besonders akzentuierte. Die Hirszfelds wurden zunächst unter Hausarrest gestellt, weil Hirszfeld seinen »Ausweis« vorzeigte. Er wandte sich dann am 27. Februar 1941 an die deutsche Gesundheitsverwaltung, um den Gang in das Ghetto aufzuhalten. Seine Einweisung in das Ghetto konnte er nicht fassen, weil er alle behördlichen Anweisungen erfüllt hatte und fest davon überzeugt war, bald ausreisen zu dürfen – er hatte die Konstellation der absoluten Rechtlosigkeit von Menschen jüdischer Herkunft falsch eingeschätzt und auf ein »normales« behördliches Vorgehen seitens der deutschen Mediziner im Gesundheitsamt 190 Makower, Pamiętnik, S. 46. 191 Adam Ronikier, Pamiętniki 1939-1945, Kraków 2001, S. 76. 192 Bogdan Kroll, Rada Główna Opiekuńcza, Warszawa 1985, S. 225; Hirszfeld, Geschichte eines Lebens. S. 200. 193 Makower, Pamiętnik, S. 46. 194 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 200. 378 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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vertraut: »Ich kann doch unmöglich annehmen, dass die Behörde all diese Schritte tun liess ohne die Absicht oder wenigstens die Möglichkeit der Ausreisebewilligung und ich glaubte mich daher berechtigt Herrn Dr. Lambrecht gestern zu sagen, dass ich jeden Augenblick die Genehmigung zur Ausreise erwarte. […] Ich fühlte mich sicher in meiner Wohnung unter dem Schutz der mir erteilten Erlaubnis, nun befinde ich mich hinter den Mauern. Ich möchte Ihnen nicht meine gegenwärtige Situation schildern. Ich hoffe, dass die wissenschaftlichen Weltkreise alles tun werden, damit ich nicht zugrunde gehe und dass auch die deutsche Wissenschaft kein Interesse an meinem geistigen oder materiellen Tode hat. Für Ihre bisherige Hilfe spreche ich Ihnen meinen Dank aus.«195 Die Hoffnung auf eine Ausreisebewilligung war vergebens gewesen, Hirszfeld hatte telefonisch von dem gleichen Dr. Lambrecht, der seine Bescheinigung unterzeichnet hatte, die Auskunft bekommen, dass der ihm »gewährte Schutz gegenstandlos ist, da keine Reisebewilligung nach Jugoslawien erteilt werden kann«.196 Seine Bibliothek wurde umgehend »im Einvernehmen mit der Abteilung Umsiedlung für das Hygienische Institut am 4. 3. 1941 sichergestellt«, wie auf Hirszfelds Brief an die Gesundheitsverwaltung handschriftlich vermerkt wurde.197 Seine Möbel wurden ebenso wie seine Bücher konfisziert.198 In seinem Haus verblieben Hanna Klicka, Joanna Belin und Izabela Klocman, die dort für kürzere Zeiten Jüdinnen und Juden versteckten, bevor sie sich mit neuen Dokumenten neue Unterkünfte suchten.199 Die neue Zwangsbehausung für Hanna, Maria und Ludwik Hirszfeld befand sich fortan im Ghetto von Warschau, das im Bezirk Muranów rund um die Nalewki-Straße in der Zeit von Oktober 1940 bis zum 16. November 1940 eingerichtet und mit einer Mauer abgeriegelt worden war. In der Gegend hatten seit der Frühen Neuzeit viele Juden gelebt und gearbeitet, sie war aber bis zur Einrichtung des Ghettos eine gemischte Nachbarschaft, in der auch nichtjüdische Polen wohnten.200 1940 waren daher etwa 80.000 nichtjüdische Polen von dort ausgesiedelt und etwa 195 Siehe Główna Biblioteka Lekarska, Dział Zbiorów Specjalnych, Akta Personalne Izby Lekarskiej Warszawsko-Białostocka Sygn. 2/1/1909, Brief Hirszfeld an Gesundheitsverwaltung, 27. 2. 1941. 196 Ebd. 197 Główna Biblioteka Lekarska, Dział Zbiorów Specjalnych, L. 2879: Ludwik Hirszfeld. 198 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 201. 199 Yad Vashem Testimonies Record Group 0.3, File 11130, Joanna Belin, 12. 3. 1999. 200 Katrin Steffen, Nalewki-Straße, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 4, Stuttgart, Weimar 2013, S. 303-307; Dan Michman, Angst vor den »Ostjuden«, Frankfurt a. M. 2011. 379 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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140.000 Juden in das Gebiet umgesiedelt worden.201 Mit zahlreichen Flüchtlingen aus anderen Teilen des ehemaligen Polen und Zwangsumgesiedelten aus dem Deutschen Reich wurde das Warschauer Ghetto das größte Ghetto in den Ländern des besetzten Europas. Die Deutschen pferchten dort 450.000 bis 500.000 Menschen auf einem Territorium von 3,4 Quadratkilometern zusammen – es entstand ein deutlich ausgegrenztes, überbevölkertes Viertel mit unerträglichen Ernährungs- und Wohnverhältnissen, bei denen sich durchschnittlich 13 Personen ein Zimmer teilen mussten.202 Unter diesen Umständen breiteten sich Hunger und Krankheiten rapide aus. Die Hirszfelds lebten zunächst in der Grzybowska-Straße bei Freunden, eine Unterkunft, die Hirszfeld unter anderem wegen des Straßenlärms als Tortur empfand. Aber, wie er schrieb: »[I]ch hatte erneut relatives Glück«, denn im September 1941 konnten sie eine eigene Wohnung auf dem Gelände der Gemeinde der Allerheiligenkirche auf dem Plac Grzybowski beziehen.203 Dort, im »jüdischen Ghetto«, so Hirszfeld, sei er so nah in Kontakt zur katholischen Kirche getreten wie nie zuvor in seinem Leben.204 Die Kirchengemeinde, der Pater Marceli Godlewski vorstand, der vor dem Krieg ein erklärter Antisemit und an zahlreichen antisemitischen Aktionen und Publikationen beteiligt war,205 hatte das Pfarrhaus für zahlreiche Juden und Christen jüdischer Herkunft wie die Hirszfelds geöffnet206 – etwa 50 Getaufte kamen so an diesem Ort unter, der auch wegen einer besseren Versorgung mit Lebensmitteln als eine 201 Roland, Medical School, S. 401. 202 Reuben Ainsztein, Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges, Oldenburg 1993, S. 279. 203 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 266. 204 Ebd. Die Bezeichnung »jüdisches Ghetto« (oder »jüdischer Bezirk«), die Hirszfeld verwendete, ist nicht korrekt, weil es ein von Deutschen eingerichtetes Ghetto für Jüdinnen und Juden war und nicht, wie der Begriff suggeriert, einen jüdischen Raum oder eine gewachsene jüdische Ordnung darstellte. 205 Solche komplexen und widersprüchlichen Einstellungen waren nicht selten, erinnert sei an die Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczucka (1889-1968), die 1942 angesichts der Shoah einen Text veröffentlichte, mit dem sie ihre Landsleute dazu aufrief, den verfolgten Juden aus Christenpflicht zu helfen – und auch selbst half. Zugleich schrieb sie: »Unsere Gefühle in Bezug auf die Juden haben sich nicht geändert. Wir werden nicht aufhören, sie weiterhin als politische, wirtschaftliche und ideelle Feinde Polens zu betrachten.« Damit blieb sie ihrer Argumentation aus dem Jahr 1936 treu, dass Juden »uns [Polen] schrecklich fremd sind, fremd und unangenehm, weil sie eine andere Rasse sind«; siehe Maria Janion, Spór o antysemityzm. Sprzeczności, wątpliwości i pytania, in: Dies., Do Europy tak, ale razem z naszymi umarłymi, Warszawa 2000, S. 127-166, S. 165 f. 206 Barbara Engelking, Jacek Leociak, The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City, New Haven, London 2009, S. 652. 380 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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privilegierte Unterkunft im Ghetto galt; eine Einschätzung, die Hirszfeld teilte. Henryk Makower, der die Hirszfelds dort häufig besuchte, beschrieb diesen Ort als »so still und friedlich«, dass das Gefühl aufgekommen sei, dort sei kein Ghetto und kein Krieg.207 Der Wohnort der Hirszfelds stand fast paradigmatisch für eine Konstellation, die sich in wechselseitigen Fremdheitsgefühlen von Ghettobewohnerinnen und -bewohnern ausdrückte – der Kluft zwischen denjenigen polnischen Jüdinnen und Juden, die sich als jüdisch identifizierten, sich zur jüdischen Kultur und Religion bekannten und oftmals Jiddisch sprachen, und denjenigen, die diese Verbundenheit aufgelöst hatten. Sie hatten sich in verschiedenen Abstufungen der polnischen Kultur und Lebensweise angenähert, oftmals zunächst über die polnische Sprache. Die Option der Konversion hingegen war in Polen seltener gewählt worden als etwa in Deutschland – eine alltägliche jüdische Identifizierung war vor 1939 noch sehr verbreitet.208 Im Ghetto trafen die verschiedenen Gruppen zwangsweise aufeinander. Weil es hier zum Teil um diametral unterschiedliche Identitätsentwürfe ging, um die bereits vor dem Krieg hitzig gestritten worden war, blieben Konflikte nicht aus. Der Schriftsteller und Publizist Hillel Zeitlin etwa sah die grundlegende Aufgabe im Ghetto darin, der Jugend »diese lächerliche Schwäche für Polonisierung und karikaturhafte Assimilierung« auszutreiben. Polonisierung war für ihn eine bewusste Entscheidung, Jüdisches zurückzuweisen, und mit dieser Haltung stand er nicht allein.209 Die Mehrheit der Ghettobevölkerung begegnete assimilierten Jüdinnen und Juden mit Misstrauen.210 Adam Ronikier meinte sogar, sie hätten unter einer doppelten Verfolgung gelitten, durch die Behörden und im Ghetto und durch andere Jüdinnen und Juden.211 Von dieser Konstellation waren auch die Hirszfelds betroffen.212 So meinte die Ärztin Adina Blady Szwajgier, die Hirszfelds seien im Ghetto nicht beliebt gewesen, weil sie getauft waren, und die jüdische Gemeinschaft sei davon ausgegangen, Ludwik Hirszfeld habe sich ausschließlich für seine Karriere taufen lassen – denn Direktor des Staatlichen Hygiene-Instituts habe nur ein römischer Katholik werden kön207 Makower, Pamiętnik, S. 211. 208 Steffen, Jüdische Polonität, S. 385. 209 Justyna Majewska. »Czym wytłumaczy Pan …?« Inteligencja żydowska o polonizacji i asymilacji w getcie warszawskim, in: Zagłada Żydów. Studia i Materiały 11 (2015), S. 325-346, S. 346. 210 Katarzyna Person, Assimilated Jews in the Warsaw Ghetto, 1940-1943, Syracuse 2014, S. 36. 211 Ronikier, Pamiętniki, S. 94. 212 Engelking, Leociak, Warsaw Ghetto, S. 623 381 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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nen.213 Eine Taufe aus Überzeugung war den Hirszfelds in ihren Augen nicht zuzugestehen – gleichzeitig warf sie ihnen vor, sie seien »ostentative Katholiken« gewesen, und das verurteilte Blady Szwajgier moralisch mit scharfen Worten. Ihre Interviewerin Anka Grupińska hielt fest, die Haltung Hirszfelds sei typisch für das Verhalten eines getauften Juden, der während des Krieges eine Identifizierung mit der Judenheit ablehnte.214 Hirszfelds Nichte, Joanna Belin, verwahrte sich später gegen diese Lesart und hielt fest, Hirszfeld sei ein polnischer Patriot gewesen, der sehr mit der polnischen Kultur verbunden gewesen sei – und weil der Katholizismus in seinen Augen ein untrennbarer Teil dieser Kultur gewesen sei, habe er die Taufe angenommen. Sie verteidigte somit das Recht jedes Einzelnen und jeder Einzelnen auszuwählen, was am besten zu ihm oder ihr passe.215 Die Fremdheitserfahrung, um die es hier geht, war eine wechselseitige. Während die Hirszfelds von einigen Jüdinnen und Juden im Ghetto als fremd empfunden wurden, erzeugte das enge Zusammenleben mit Jüdinnen und Juden bei ihnen ebenfalls ein deutliches Gefühl von NichtZugehörigkeit: »Ich blieb […] ein Fremder für jenes Volk. Von der Menge als Christ zurückgewiesen. Ich hatte nur mein großes, grenzenloses Mitgefühl.«216 Hirszfeld legte eine deutliche Distanz zwischen sich selbst und »den« Juden, »jenes Volk«. Seine Tochter Maria Hirszfeld wiederum drückte in einem Brief vom 8. April 1941 ein Fremdheitsgefühl gegenüber der Konstellation »Ghetto« aus, die viele der dort Lebenden geteilt haben dürften. Nachdem sie, für sie völlig überraschend, »hinter die Mauern« umgesiedelt worden seien, statt ins Ausland zu flüchten, fühlte sie sich »völlig ausgelaugt, wie im Gefängnis, ich bin so nah und gleichzeitig so fern von allem, als wäre es in Australien. Und dieses Gefühl ist fürchterlich […] Es gibt hier nichts, wo man hingehen kann, weder ein Stück Grün noch einen Garten, nur die lärmende Straße und das mir so fremde Gedränge von Menschen. […] Ich sehe so viel Elend. Ich arbeite ein wenig im Waisenhaus bei Korczak. Jeder Besuch dort erfrischt mich, aber leider nicht für lang […] Ich bin in eine solche Hoffnungslosigkeit und Melancholie verfallen, dass es mir schwerfällt, das abzuschütteln.«217 213 Anka Grupińska, Ciągle po kole, Rozmowy z żołnierzami getta warszawskiego, 2., erw. Auflage, Warszawa 2013, S. 138-139. 214 Ebd., S. 276. 215 Joanna Belin, W sprawie Ludwika Hirszfelda, in: Gazeta Wyborcza, 21. 8. 2000, Listy. 216 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 212. 217 Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego (AŻIH) 221-31: Rada Żydowska w Warszawie. 1939-1945, [przed 1939, po 1945]. Das Waisenhaus, das Janusz 382 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Für Maria Hirszfeld – und das gilt für alle Ghettobewohnerinnen und -bewohner – war das Ghetto eine Zwangsgemeinschaft, die nicht aus sozialen, politischen, ökonomischen oder demographischen Prozessen erwachsen war, sondern mit dem Ziel der Isolation der Jüdinnen und Juden, ihrer Verarmung und letztlich ihrer Ermordung errichtet wurde. Terror und Gewalt waren allgegenwärtig. Dennoch mussten die Ghettobewohnerinnen und -bewohner eine alltägliche Routine entwickeln, sie mussten leben und möglichst Geld verdienen. Viele versuchten, etwas von ihrem alten Leben und ihren Erfahrungen als Individuen oder als Gemeinschaft zu retten. Das Leben im Ghetto bewegte sich damit in einem permanenten Spannungsfeld – auf der einen Seite enthielt es zahlreiche Ähnlichkeiten zu einem regulären Leben, auf der anderen widersprach es jeglichen Vorstellungen von »sozialer Normalität«, wie Dalia Ofer in Anlehnung an Emile Durkheim festgehalten hat. Im Rahmen einer sozialen Normalität ist demnach eine Routine von Alltagsleben und Erfahrungen vorhanden, die auf den Normen einer gegebenen Gesellschaft beruht, etwa in Fragen der Entlohnung, der Werte von Arbeit, des Anstands, der Solidarität der Familie, aber auch der sozialen Gerechtigkeit und des Rechts – weite Teile dieser Normen waren im Ghetto durch die Zwangssituation der Bewohner, durch Hunger und Elend, durch Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Krankheit aber außer Kraft gesetzt. Das Leben im Ghetto fand somit in einem stetigen Auspendeln zwischen dem Streben nach einer solchen Normalität und der Realität des Ghettos statt.218 Während Ludwik Hirszfeld durch seine Übersiedlung ins Ghetto bereits feststellen musste, dass die Okkupationsverwaltung nur noch ihren eigenen Regeln folgte, war er nun mit der Zwangsgemeinschaft des Ghettos konfrontiert. Beide Hirszfelds versuchten von Anfang an, nach genau dieser Normalität zu streben und ihre ärztliche, wissenschaftliche oder gesundheitspolitische Tätigkeit aus der Vor-Ghetto-Zeit fortzusetzen, auch wenn sich ihnen täglich die Grenzen ihrer Bemühungen offenbarten. Die medizinischen Dienste von Ärztinnen und Ärzten waren im Ghetto von großer Bedeutung: Denn sie sollten dazu beitragen, die Arbeitsfähigkeit der Menschen zu erhalten, galt doch Arbeit als eine der wichtigsten Überlebensstrategien überhaupt.219 Die Angaben über ihre czak leitete, befand sich in unmittelbarer Nähe der Grzybowska-Straße und des Pfarrhauses, in der Ulica Sienna. 218 Dalia Ofer, Ghetto Inmates: Their Perspectives and the Historian’s Craft, in: Hansen, Steffen, Tauber, Lebenswelt Ghetto, S. 52-70, S. 52. 219 Siehe dazu Hansen, Steffen, Tauber, Lebenswelt Ghetto, sowie Jürgen Hensel, Stephan Lehnstaedt (Hg.), Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos, Osnabrück 2013. 383 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Anzahl im Ghetto variieren: In der Literatur wird oft von 750 Ärztinnen und Ärzten im Warschauer Ghetto im November 1940 gesprochen, von denen etwa 200 in Krankenhäusern und anderen Institutionen unter der Ägide des Judenrates und der Gesellschaft für jüdischen Gesundheitsschutz (Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej, TOZ) gearbeitet hätten.220 Winick geht davon aus, 1939 seien noch 200 jüdische Ärztinnen und Ärzte in Warschau gewesen, dazu müsse man einige christliche Ärztinnen und Ärzte wie Ludwik und Hanna Hirszfeld zählen und einige, die nach Warschau deportiert worden seien, was letztlich weniger als 300 Ärztinnen und Ärzte für etwa 500.0000 Menschen bedeutet hätte.221 Ein Augenzeuge, der im Arbeitsamt im Ghetto arbeitete, Stefan Ernest, gab dagegen an, dass es im Warschauer Ghetto um die 1000 Ärztinnen und Ärzte aus ganz Polen gegeben habe. Viele davon seien allerdings keiner bezahlten Arbeit nachgegangen.222 In einem anderen Augenzeugenbericht wird wiederum ein großer Mangel an medizinischem Personal beschrieben, so dass auch falsche Ärztinnen und Ärzte praktiziert hätten.223 Unabhängig davon, wie hoch die Dichte medizinischer Fachkräfte tatsächlich war, konnten sie gegen die im Ghetto grassierenden Epidemien, den Hunger und die hohe Sterblichkeit angesichts des eklatanten Mangels an Vitaminen, Kalorien, Hygiene und Nahrung kaum etwas ausrichten.224 Auch die Krankenhäuser im Ghetto waren überfordert, denn wie alles andere in dieser Welt war das Krankenhaussystem des Warschauer Ghettos ineffizient und überlastet. Davon war das seit 1902 in Warschau bestehende jüdische Krankenhaus Czyste nicht ausgenommen, einst das modernste Hospital im Vorkriegswarschau mit einer guten Ausstattung und ausreichend Personal, das jüdische wie nichtjüdische Patienten und Patientinnen versorgte. Da es außerhalb der Ghettomauern lag, musste es im Februar 1941 seinen ursprünglichen Standort verlassen und ins 220 Engelking, Leociak, Warsaw Ghetto, S. 237; Charles G. Roland, Courage under Siege. Starvation, Disease, and Death in the Warsaw Ghetto, New York, Oxford 1992, S. 60. 221 Myron Winick, Jewish Medical Resistance in the Warsaw Ghetto, in: Michael A. Grodin (Hg.), Jewish Medical Resistance in the Holocaust, New York, Oxford 2014, S. 93-105, S. 93. 222 Stefan Ernest, O wojnie wielkich Niemiec z Żydami Warszawy 1939-1943, przedmowa, opracowanie, przypisy Marta Młodkowska, Warszawa 2003, S. 86. 223 Archiwum Ringelbluma 5. Getto warszawskie. Życie codziennie, bearb. von Katarzyna Person, Warszawa 2011; Stanisław Różycki, Sammlung von Berichten unter dem Titel »Straßenbilder des Ghettos«. Szenen aus dem Leben des Warschauer Ghettos, März 1942, S. 27-28. 224 Ebd. 384 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ghetto umziehen, mit dem Ergebnis, dass es sich auf mehrere Gebäude aufteilen musste. Keines davon war dafür gebaut worden, ein Krankenhaus zu beherbergen. Die jüdischen Ärztinnen und Ärzte versuchten, das Beste daraus zu machen, unter anderem indem sie Lebensmittel und Materialien ins Ghetto schmuggelten. Auch einiges an Laborausstattung und die pathologische Abteilung wurden in das Ghetto gebracht, ein Teil davon in ein Gebäude in der Stawki-Straße. Daneben arbeitete das Berson-Bauman-Kinderkrankenhaus, das sich bereits innerhalb der Ghettomauern befunden hatte.225 Ärztinnen und Ärzte im Ghetto waren allerdings nicht nur mit Hunger, Krankheiten und Elend konfrontiert, sondern auch mit schwerwiegenden moralischen und ethischen Dilemmata, Fragen der Selektion etwa oder der Euthanasie, der Frage, ob man Patientinnen und Patienten allein lassen konnte, sollte sich die Möglichkeit zur Flucht ergeben – Fragen, die von einem »normalen« ärztlichen Alltag weit entfernt waren.226 Gleichzeitig vermitteln Zeugenaussagen ein anderes Bild, nämlich das Bild eines aktiven professionellen Lebens – Ärztinnen und Ärzte praktizierten, sie unterrichteten, sie hielten Vorträge und diskutierten mit Kolleginnen und Kollegen. Aus vielen dieser Aussagen geht hervor, dass der Beruf des Arztes oder anderer Heilberufe im Ghetto von Vorteil sein konnte.227 Er verlieh einen Sinn, denn Ärztinnen und Ärzte wurden dringend gebraucht. Die Etablierung und Aufrechterhaltung des Krankenhauswesens und der Kampf gegen Epidemien gehörten zu den brennendsten Problemen des Alltags.228 Die Spannung zwischen der materiellen Unterversorgung und den zahlreichen Bedürftigen verursachte einen enormen Druck. Großes persönliches Engagement, lange Arbeitszeiten und ständige Bereitschaft gehörten zum medizinischen Alltag. Selbst wenn die Arbeit angesichts der nicht zu bewältigenden Aufgaben oft frustrierend war, schien sie den Ärztinnen und Ärzten Mut und die Energie zu geben, sie fortzuführen.229 Immerhin versetzte sie sie in die Lage, sich auf ein Ziel zu konzentrieren, was davor schützen konnte, in Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Mit ihrer fachlichen Expertise kamen 225 Aviv Livnat, »Non Onmis Moriar«. Die Forschung zu Hunger von jüdischen Ärzten im Ghetto Warschau, in: Nurinst. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte 6 (2012), S. 81-92, S. 85. 226 Miriam Offer, Ethical Dilemmas in the Work of Doctors and Nurses in the Warsaw Ghetto, in: Polin 25 (2013), S. 467-492. 227 Dalia Ofer, Another Glance through the Historian’s Lens: Testimonies in the Study of Health and Medicine in the Ghetto, in: Poetics Today 27/2 (2006), S. 331-351, S. 342 228 Ernest, O wojnie, S. 163. 229 Ofer, Glance, S. 344. 385 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ärztinnen und Ärzte mit vielen Menschen in Kontakt und konnten professionell helfen und damit soziale Kontakte herstellen und halten – beides waren wichtige Überlebensfaktoren. Sie hatten darüber hinaus Zugang zu Ressourcen und Gefälligkeiten – im Austausch, aus Dankbarkeit oder einfach, um die Arbeit zu unterstützen –, der Menschen mit weniger »nützlichen« Berufen verwehrt blieb. Gleichzeitig hatten sie, sofern sie in den Krankenhäusern angestellt waren, einen festen Ort, an dem sie ihrer Arbeit nachgehen und ihren Lebensunterhalt verdienen konnten.230 Und Ärztinnen und Ärzte verfügten vergleichsweise häufig über Kontakte zu nichtjüdischen Kolleginnen und Kollegen oder Patientinnen und Patienten auf der sogenannten arischen Seite, die es ihnen ermöglichten, zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren oder sogar zu fliehen und sich zu verstecken.231 Insgesamt gehörten Ärztinnen und Ärzte zu den privilegierten Berufsgruppen im Ghetto – und damit zu den wenigen Akademikern und Akademikerinnen, die ihren Beruf im Ghetto überhaupt ausüben und die über ihre Expertise sozialen Status und überlebenswichtige Ressourcen im Ghettoalltag generieren konnten. Ludwik Hirszfeld gehört zu denjenigen Überlebenden, die in ihrem autobiographischen Narrativ, aber auch in den Dokumenten in seinem Nachlass den Eindruck eines intensiven professionellen Lebens hinterlassen haben. Die Arenen, in denen er bereits in der Vorkriegszeit aktiv war, existierten im Ghetto fort, wenn auch unter gänzlich anderen Bedingungen, so dass er als Experte in der Gesundheitspolitik, als forschender und lehrender Wissenschaftler agieren konnte. In diesen Arenen, die im Folgenden näher vorgestellt werden, traf er wegen der erwähnten Wahrnehmung als »fremd« und nicht zur jüdischen Gemeinschaft zugehörig zum Teil auf gravierenden Widerstand gegen seine Person. Die Gesundheitspolitik war im Judenrat angesiedelt und wurde darüber hinaus von einem großen Netzwerk von Freiwilligen getragen, wobei die Handlungsräume der Beteiligten von der Politik der deutschen Besatzer abhängig waren und extrem begrenzt wurden. Die Gesundheitsabteilung des Judenrates leitete der Arzt Izrael Milejkowski, daneben war ein Beratergremium tätig, die Gesundheitskommission, der die Ärztin Anna Braude-Hellerowa und Hirszfelds ehemaliger Mitarbeiter Henryk Makower vorstanden. Im Herbst 1941, als die Fleckfieber-Epidemie im Ghetto ihre größte Ausdehnung erreichte, entstand mit dem Zentralen Gesundheitsrat (Rada Zdrowia) ein zusätzliches Koordinierungsgremium. Die 230 Ebd., S. 348. Siehe zur Kategorie der »privilegierten Juden« auch Adam Brown, Judging Privileged Jews. Holocaust Ethics, Representation, and the Grey Zone, New York 2013. 231 Ofer, Glance, S. 344; Dies, Ghetto Inmates, S. 492. 386 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Leitung dieses Gremiums, das zwei bis drei Mal wöchentlich zusammentrat, übernahm Ludwik Hirszfeld.232 Zwar hatte Hanna Hirszfeld ihm davon abgeraten, da sie meinte, ihm würde die Zeit für das fehlen, was am wichtigsten und wesentlich für ihn sei, nämlich die wissenschaftliche Arbeit. Sie warnte ihn auch davor, dass »jüdische Nationalisten« behaupten würden, er würde sich in ihre Reihen drängen, während polnische Nationalisten annehmen würden, er würde sich als Jude identifizieren, falls er diese Zusammenarbeit einginge.233 Er aber war der Meinung, er dürfe die Hoffnungen von Zehntausenden, die sich auf ihn konzentriert hätten, nicht enttäuschen – er war davon überzeugt, dass er selbst in der extremen Zwangssituation als Wissenschaftler und Experte etwas bewirken könne.234 Tatsächlich stieß seine Mitarbeit in dem Gremium nicht auf ungeteilte Zustimmung. Eine Bekannte hielt ihm Kooperation mit den Deutschen vor.235 Und in dem Gremium selbst erfuhren seine Ideen Widerstand seitens anderer Ärztinnen und Ärzte.236 Möglicherweise spielte hier auch die Rolle anderer Ärztinnen und Ärzte jüdischer Herkunft eine Rolle, die in Medizinfragen im Ghetto Prominenz erlangt hatten. Weil sie schnell an Einfluss und Prestige gewannen, hatten sie in der extrem unter Druck stehenden Ghettogesellschaft zum Teil eine schlechte Reputation.237 Der Vorsitzende des Judenrates, Adam Czerniaków, musste die Mitarbeit Hirszfelds im Gesundheitsrat jedenfalls rechtfertigen. Er tat dies mit dem Hinweis, das Ghetto sei kein jüdischer Staat, sondern ein Gebiet, auf dem auch getaufte Jüdinnen und Juden lebten, die genau wie alle anderen zu behandeln seien.238 Der Leiter der Gesundheitsabteilung des Judenrates Izrael Milejkowski pflegte gegenüber Hirszfeld offenbar eine tiefe Abneigung – er nannte ihn einen Verräter und beschimpfte ihn als Antisemiten.239 Der Zionist Milejkowski lehnte Konvertiten ab, für ihn waren sie Renegaten, »unverschämte Seelen mit einem doppelten Komplex, einem Überlegenheitsgefühl im Verhältnis zu Juden und einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber Nichtjuden«.240 Hirszfeld verkörperte das genaue Gegenteil seiner 232 233 234 235 236 237 238

Leociak, Engelking, Warsaw Ghetto, S. 236. Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 236. Ebd., S. 237. Ebd. Leociak, Engelking, Warsaw Ghetto, S. 235. Makower, Pamiętnik, S. 108. Marian Fuks (Hg.), Adama Czerniakowa dziennik getta warszawskiego, Warszawa 1982, S. 20. 239 Makower, Pamiętnik, S. 108. 240 Majewska, Inteligencja żydowska, S. 344. 387 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ideale.241 Das Verhältnis der beiden war somit von einem weltanschaulichen Antagonismus gekennzeichnet, der sich durch den persönlichen Kontakt noch verschärfte.242 Dennoch kooperierten sie miteinander und kamen zu Kompromissen.243 Die beiden waren in der medizinischen Welt des Ghettos Schlüsselfiguren. Von einer guten Arbeitsbeziehung, so Charles G. Roland, hätten viele Menschen profitieren können.244 Als Leiter des Gesundheitsrates erhielt Hirszfeld einen Passierschein, mit dem er das Ghetto verlassen durfte. Dieses Privileg genossen außerdem der Arzt Henryk Makower, der Chemiker Mieczysław Centnerszwer, der Historiker Majer Bałaban, der Vorsitzende des Judenrates, Adam Czerniaków, sowie Adolf Berman.245 Hirszfelds Aufgabe bestand darin, alle Institutionen im Gesundheitsbereich in den Kampf gegen ansteckende Krankheiten einzubeziehen, zu koordinieren und zu bewerten. Wie der Arzt und Leiter von TOZ im Warschauer Ghetto, Mojżesz Tursz, festhielt, habe der Rat dem Ghetto zwar letztlich nicht viel Gesundheit gebracht, aber wenigstens sei versucht worden, die sanitären und hygienischen Verhältnisse zu verbessern.246 Sitzungen des Gesundheitsrates wurden gemeinsam mit der Gesundheitsabteilung des Judenrates abgehalten. Das wichtigste Anliegen des Gesundheitsrates war die Bekämpfung der grassierenden Fleckfieber-Epidemie unter der jüdischen Bevölkerung Warschaus, die bereits vor der gänzlichen Abschließung des Ghettos begonnen hatte, als von Januar bis Juni 1940 bis zu 10.000 Fälle mit 5000 Toten gemeldet wurden. Zwar verursachte de facto im Ghetto die Tuberkulose die meisten Todesfälle, aber das Fleckfieber spielte eine größere Rolle in seiner Geschichte; es galt als der »Terror des Ghettos«. Die Furcht vor dem Fleckfieber war immens, weil es alle treffen konnte. Es wurde zu einem wirkmächtigen Symbol.247 Dies tritt in vielen Augenzeugenberichten deutlich hervor, etwa wenn der Alltag im Ghetto als das »miese Leben an der Grenze zu Irrsinn und Verwilderung, dessen Seele das Fleckfieber ist, des Wohnbezirks, der tötet wie die Pest«, interpretiert wurde.248 Daher arbeitete der Rat in erster Linie Methoden zur Bekämp241 242 243 244 245 246 247 248

Roland, Courage under Siege, S. 312. Makower, Pamiętnik, S. 108. Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 239. Roland, Courage under Siege, S. 312. Engelking, Leociak, Warsaw Ghetto, S. 149. Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 438: Dr. M. Tursz. Engelking, Leociak, Warsaw Ghetto, S. 280. Za naszą i waszą wolność. Ein Bewohner des Warschauer Ghettos schreibt im Dezember 1941 an einen polnischen Genossen über das Leben in Unfreiheit, Dok. 30, in: Susanne Heim u. a. (Hg.), Klaus Peter Friedrich (Bearb.), Die Verfolgung

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fung des Fleckfiebers aus; es bildete sich aber auch eine Liga im Kampf gegen die Tuberkulose.249 Von der Gesundheitspolitik der deutschen Besatzer durfte sich die jüdische Bevölkerung Warschaus keine Hilfe erhoffen. Die entsprechenden Ziele für das Generalgouvernement hatte das Rassenpolitische Amt der NSDAP darauf begrenzt, die ärztliche Betreuung »auf die Verhinderung der Übertragung von Seuchen in das Reichsgebiet zu beschränken«. Das »gesundheitliche Schicksal der Juden« sollte den deutschen Behörden nicht nur »gleichgültig« sein, vielmehr sollte ihre Vermehrung »auf alle mögliche Weise« verhindert werden.250 Auch die Vertreter der deutschen Gesundheitspolitik in Warschau verfolgten das Ziel, die Anzahl der Jüdinnen und Juden zu verringern. Schließlich sahen sie in Juden und Jüdinnen Träger von Krankheitskeimen und interpretierten sie als direkte Gefahr für die mit ihnen in Berührung kommende nichtjüdische Bevölkerung. Die Nationalsozialisten konstruierten eine Kausalität zwischen Krankheit und »Rasse« und forcierten die Zwangsghettoisierung unter »seuchenhygienischen« Gesichtspunkten mit der Argumentation, Jüdinnen und Juden würden das Fleckfieber verbreiten.251 Unter allen Umständen wollten sie das Übergreifen der Epidemie, vor der sie sich panisch fürchteten, auf die ganze Stadt verhindern. Einem vorab genau festgelegten Plan, die Juden mittels Ghettoisierung umzubringen, folgten sie nicht – einen solchen Plan habe es zwischen 1939 und 1941 nicht gegeben, so Christopher Browning. Aber gerade in Warschau spielten deutsche Ärzte eine entscheidende Rolle bei Einrichtung des Ghettos.252 Sie initiierten keine bewusste Tötungspolitik durch Hunger oder Krankheit, aber sie taten auch nichts dagegen – daher können die Epidemien im Ghetto auch als eine Methode der Ermordung der Jüdinnen und Juden aufgefasst werden.253 Der Leiter des Amtes Gesundheit im GG, Jost

249 250

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und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd. 9: Polen: Generalgouvernement August 1941-1945, München 2014, S. 167-171, S. 169. Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 2355, Józef Chaim-Gołębiowski, 21. 7. 1964. E. Wetzel, G. Hecht: Die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten, im Auftrag des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP vom 25. 11. 1939, in: Documenta occupationis V, Poznań 1952, S. 2-28, bes. S. 26-28. Christopher Browning, The Path to Genocide. Essays on Launching the Final Solution, New York 1992, S. 146; Michman, Angst vor den »Ostjuden«, S. 171. Browning, Path, S. 149-152. Isaiah Trunk, Epidemics and Mortality in the Warsaw Ghetto, in: YIVO Annual of Jewish Social Science VIII (1953), S. 82-122, S. 83. 389 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Walbaum, konstatierte bezüglich der »Lösung der Judenfrage« im Oktober 1941 in Bad Krynica: »Es gibt nur zwei Wege: Wir verurteilen die Juden im Ghetto zum Hungertode oder wir erschießen sie«, und betonte, dass der Effekt derselbe sei.254 Der Zeitzeuge Mojżesz Tursz sah es so: Die Ghettobewohner wurden zu »Versuchskaninchen gemacht, an denen man die Schnelligkeit und Qualität der sich ausbreitenden Epidemie beobachten konnte, nur mit dem Unterschied, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, das Versuchskaninchen zu foltern und unnötig auszuhungern.«255 Ähnlich urteilten die Verfasser des Black Book of Polish Jewry, das bereits im Herbst 1943 in den USA erschien: »The ultimate objectives of the Nazis with regard to the Jews in Poland are most clearly in evidence in the field of public health […] The Jewish Ghettos in Poland … were converted into vast experimental laboratories in which the process of torture was brought to a degree of monstrous perfection which the most diabolical imagination has ever conceived.«256 Die Autoren sahen die Bedingungen, die in den Ghettos geschaffen worden waren, als »hervorragende Möglichkeit« zur Ausbreitung von Infektionskrankheiten und damit einem gigantischen Anstieg in der Mortalität an.257 Die rassistischen Repräsentationen der Krankheit wurden in der Folge auch andernorts zum Vorwand zur Einrichtung von Ghettos als sogenannte »Seuchensperrbezirke«. Indem sie das Fleckfieber als »jüdische Krankheit« bezeichneten, wollten die Besatzer ihre eigene Verantwortung für den Ausbruch der Epidemie verringern und sie der jüdischen Bevölkerung zuschieben. Dabei lag auf der Hand, dass das überfüllte Ghetto mit seinen desolaten hygienischen und sonstigen Lebensverhältnissen genau die günstigen Bedingungen für Epidemien schaffte, die eigentlich verhindert werden sollten. Denn nach der Abriegelung der Ghettos stiegen die Fälle von Fleckfieber immens an.258 In Warschau hatten sich in der Zeit von Mai 1941 bis April 1942 100.000 Menschen infiziert, die Sterblichkeitsrate lag zeitweise bei bis zu 5000 Menschen im Monat – wobei die Dunkelziffer sie um einiges überstieg, 254 Vertreter der Gesundheitsverwaltung im Generalgouvernement sprechen Mitte Oktober 1941 über die Seuchenbekämpfung, Protokoll der Arbeitstagung der Abteilung Gesundheitswesen in Bad Krynica, Dok. 14, in: Heim, Friedrich, Polen, S. 93-101, S. 100. 255 Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 438, Dr. M. Tursz. 256 Jacob Appenszlak (Hg.), The Black book of Polish Jewry. An Account of the Martyrdom of Polish Jewry Under the Nazi Occupation, New York 1943, S. 177. 257 Ebd., S. 190. 258 Browning, Path, S. 152. 390 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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weil viele Menschen die Erkrankung aus Angst vor den drakonischen Maßnahmen der Deutschen verheimlichten.259 Zeitweise trug jedes dritte Haus die Aufschrift »Fleckfieber, Eintritt verboten«.260 Es war Ludwik Hirszfeld, der bereits im Mai 1940 die deutsche antijüdische Propaganda hinsichtlich der Manipulation mit der Angst vor der Krankheit entlarvt hatte. Als einer der weltweit führenden und auch in Deutschland bekannten Serologie-Experten war Hirszfeld im Prinzip in einer guten Position, die deutsche rassistische Epidemiologie zu kritisieren. Bereits im Mai 1940 hatte ihn das American Joint Distribution Committee gebeten, ein Gutachten über die angeblichen rassenpathologischen Erscheinungen bei Jüdinnen und Juden zu erstellen.261 Das Gutachten blieb anonym, weil Hirszfeld deutsche Repressionen befürchtete. Zu dem Zeitpunkt, als er es schrieb, hatte er noch keinen Kontakt zur deutschen Gesundheitsverwaltung aufgenommen. In der »Denkschrift über die Ursachen des Flecktyphus in Warschau und Vorschläge zu seiner Bekämpfung« vom 15. Mai 1940 argumentierte Hirszfeld unter Verweis auf die neuesten Forschungsergebnisse über das Fleckfieber aus den letzten Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, dass die Warschauer Jüdinnen und Juden in gesundheitlicher Hinsicht keineswegs hinter der nichtjüdischen Bevölkerung der Stadt zurückgestanden hätten – ihre Sterblichkeit war tatsächlich sogar geringer. Und sowohl beim Abdominaltyphus als auch beim Fleckfieber sei die Anfälligkeit der Warschauer Judenheit geringer gewesen als diejenige der nichtjüdischen Bevölkerung. Ebenso wies er nach, dass Fleckfieberherde, die von vielen Deutschen bereits seit dem Ersten Weltkrieg vor allem im Osten und eben bei »den Juden« lokalisiert wurden, unabhängig vom Osten und der Bevölkerungsgruppe existierten. Das habe dazu geführt, dass es unter der jüdischen Bevölkerung kaum eine Immunität gegen diese Krankheit gab, während deutsche Ärzte behaupteten, das Fleckfieber würde mehr Schaden unter den Deutschen anrichten als unter Jüdinnen und Juden, weil

259 Bolesław Rutkowski, Jakub Penson and his studies on acute renal failure during typhus epidemics in Warsaw Ghetto, in: Journal of nephrology 17/1 (2004), S. 175-179, S. 175; auch Roland, Medical School, S. 403. 260 Klaus Peter Friedrich, Einleitung, in: Heim, Friedrich, Polen, S. 13-49, 18. 261 Henryk Makower erinnerte sich, dass er damals auf Bitten von Józef Jaszuński, einem Architekten, der Mitglied des Judenrates war und eng mit Michał Weichert, dem Vorsitzenden der Jüdischen Sozialhilfe kooperierte, zu Hirszfeld gegangen und das Memorandum erbeten habe; siehe Makower, Pamiętnik, S. 107. Dieses war das erste von drei Memoranden, die Hirszfeld verfasste – zwei weitere folgten während seiner Zeit im Ghetto im Mai 1941 und im Juli / August 1941, auf die weiter unten eingegangen wird. 391 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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diese eine höhere Resistenz dagegen entwickelt hätten.262 Wissenschaftlich entlarvte Hirszfeld damit die Behauptung der Deutschen, Fleckfieber sei ein sogenanntes »Judenfieber«, als bloße Propaganda. Die Gründe für die seit September 1939 konstatierte Zunahme von Typhusfällen lagen laut Hirszfeld »nicht in den jüdischen Sitten, sondern ausschliesslich in der Änderung der Existenzbedingungen der jüdischen Bevölkerung in Warschau«. Damit meinte er vor allem die Überbevölkerung in den Wohnungen und die sinkende Widerstandsfähigkeit als Folge von Unterernährung, Mangel an Erwerbsmöglichkeiten sowie an Wäsche und Kleidung. Er kam zu dem Schluss, die Fleckfieberbekämpfung könne nur dann erfolgreich sein, wenn die Lebensbedingungen die Verlausung als soziales Phänomen verschwinden ließen. Daher hielt er es für gefährlich, die Bevölkerung mithilfe einer Mauer zu isolieren, weil dies den wirtschaftlichen und damit auch den gesundheitlichen Zustand verschlechtern würde; zudem machten Bazillen vor Warntafelnd und Stacheldraht keinen Halt. Hirszfeld entlarvte auch die Argumente der Deutschen, Ordnungsvorschriften würden den Gesundheitszustand der jüdischen Bevölkerung heben und die Seuchengefahr beseitigen. Er sprach sich klar gegen eine Evakuierung und die Umsiedlung, gegen eine weitere Ummauerung des sogenannten Seuchensperrgebietes, gegen die Benachteiligung von Jüdinnen und Juden beim Verteilen von Lebensmitteln, die Schließung ganzer Häuser wegen eines Fleckfieberfalls und gegen das zwangsweise Baden der Bewohnerinnen und Bewohner solcher Häuser aus, sei doch die Ansteckungsgefahr in diesen Fällen viel zu hoch. Stattdessen forderte er, die sanitären, hygienischen und vor allem die Verdienstmöglichkeiten zu verbessern.263 Hirszfeld zeigte, dass Programme zur Krankheitsbekämpfung frei von Zwang und Hierarchisierung des menschlichen Lebens auf einer »rassischen« oder biologischen Grundlage sein sollten.264 Mit diesem Gutachten war klar, wie kontraproduktiv und gefährlich die Einrichtung des Ghettos für die jüdische Bevölkerung und letztlich für die Stadt Warschau sein würde. Dies interessierte die deutsche Verwaltung nicht. Die Maßnahmen, die die Gesundheitsverwaltung in 262 Winick, Medical Resistance, S. 96; E. G. Nauck, Die Geissel »Fleckfieber«. Die Fleckfieberforschungsstelle des Hamburger Tropeninstituts im Staatlichen Institut für Hygiene in Warschau, in: Jost Walbaum (Hg.), Kampf den Seuchen! Deutscher Ärzte-Einsatz im Osten. Die Aufbauarbeit im Gesundheitswesen des Generalgouvernements, Krakau 1941, S. 83-92, S. 84. 263 APAN, LH III-157-71, Bl. 21-23, Denkschrift über die Ursachen des Flecktyphus in Warschau und Vorschläge zu seiner Bekämpfung, 15. 5. 1940. 264 Paul Weindling, Delousing and Resistance during the Holocaust, in: Grodin, Jewish Medical Resistance, S. 50-56, S. 51. 392 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Warschau gegen das Fleckfieber anordnete, waren nicht dazu geeignet, die Epidemie einzudämmen. Sie nutzten die Epidemie eher dazu, weitere Repressionsmaßnahmen wie Entlausung als Teil der genozidalen Praxis einzuleiten. Hirszfeld sah daher die Maßnahmen zur Epidemienbekämpfung als schlimmer als die Epidemie selbst an und kritisierte sie als »unnötig« und »undurchführbar«, zudem hätten sie zur Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung in die sanitären Maßregeln beigetragen.265 Dazu gehörte, dass die Bewohnerinnen und Bewohner ganzer Häuser, wobei Infizierte und Nicht-Infizierte in Kontakt kamen, stundenlang in Schlangen vor überfüllten Bädern stehen mussten, wo eine Desinfektion vorgenommen werden sollte. In den Desinfektionskammern erlitten die Läuse bei ungenügender Schwefelkonzentration keinen Schaden – wenn sie umkamen, dann vor Lachen, wie Hirszfeld mit bitterem Sarkasmus schrieb.266 Die Kleidung kam aus der Desinfektion oft schmutzig oder versengt zurück. Und wenn dann noch alle Lebensmittel in einem Haus vernichtet wurden, bedeutete eine Quarantäne von drei Wochen für Fleckfieberfälle den Tod ganzer Familien durch Verhungern.267 In der Badeanstalt wurden Frauen die Haare und Männern die Bärte abgeschnitten. Die gesamte Prozedur dauerte zuweilen 15 bis 20 Stunden und war eine Tortur.268 Das Bestechungsgeld für den Ordnungsdienst, um das Stehen in der Desinfektionsschlange zu vermeiden, um der Desinfektion ganz zu entgehen oder sie abzumildern, war eine zusätzliche Last für die Menschen. Aufgrund dieser Praktiken verheimlichten viele die Krankheit, was deren Bekämpfung nicht einfacher machte.269 Als Hirszfeld in der Gesundheitspolitik im Ghetto aktiv wurde, nahm er in zwei Denkschriften an die deutsche Gesundheitsverwaltung und den deutschen Stadtarzt Wilhelm Hagen erneut Stellung gegen die von den Deutschen angeordneten Maßnahmen und konstatierte noch einmal in aller Deutlichkeit: »Die sich stets verschlechternde epidemiologische Situation im jüdischen Viertel beweist, dass die von Virchow und anderen deutschen Gelehrten geäußerte Auffassung des Flecktyphus als Hunger- oder Gefängnistyphus zu Recht besteht. Der Flecktyphus ist die 265 APAN, LH-III-157-71, Bl. 11, Denkschrift über einige prophylaktisch-soziale Massnahmen zur Bekämpfung des Fleckfiebers im jüdischen Wohnbezirk in Warschau, o. D. [nach Juli 1941]. 266 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 231. 267 APAN, LH-III-157-71, Bl. 12, Denkschrift über einige prophylaktisch-soziale Massnahmen zur Bekämpfung des Fleckfiebers im jüdischen Wohnbezirk in Warschau, o. D. [nach Juli 1941]. 268 Abraham I. Katsh (Hg.), Buch der Agonie. Das Warschauer Tagebuch des Chaim A. Kaplan, Frankfurt a. M. 1967, S. 160. 269 Weindling, Delousing and Resistance, S. 51. 393 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Folge der Überbevölkerung, des Elends, der psychischen Depression, die zur abgeschwächten Reaktionsfähigkeit führt.«270 In seiner zweiten Denkschrift fasste er zusammen: »Tausende Flüchtlinge und zwar aus endemisch verseuchten Gebieten wurden zusammengepfercht […]. Die meisten Einwohner des jüdischen Wohnbezirks besitzen kein ordentliches Hemd, viele besitzen überhaupt keins. Ganze Familien sterben von Hunger […] Man kann ohne Übertreibung behaupten: eine Stadt von einer halben Million Menschen ist dem Hunger und dem Fleckfieber ausgeliefert.«271 Anschließend machte er konkrete Vorschläge auf der Grundlage moderner Hygienevorschriften und der Präventionsmedizin. Dazu gehörten etwa ein häufigerer Wäschewechsel und Wäschereinigung, die Versorgung mit mehr Seife, die Hebung des Lebensstandards und eine bessere Versorgung.272 Hirszfeld hatte deutlich erkannt, dass die Regeln der Deutschen nur zu kleinen und beginnenden Krankheitsherden passten, sich aber in dem überbevölkerten Ghetto als unpraktisch und überaus schädlich erwiesen. Die Denkschriften wurden angenommen und es kam zu einem Treffen mit dem deutschen Kommissar des Ghettos, Heinz Auerswald, und dem Vorsitzenden des Judenrats, Adam Czerniaków, im Staatlichen Hygiene-Institut, wo der erwähnte Leiter Robert Kudicke Mittel zur Bekämpfung der Epidemie erhalten hatte. Hirszfeld trug während dieses Treffens nicht die obligatorische Armbinde, wollte er doch sein »eigenes Institut« als christlicher Pole betreten. Das Treffen veränderte allerdings nichts: Von den Mitteln, die Kudicke für die Bekämpfung der Fleckfieber-Epidemie erhalten hatte, bekam der Judenrat nur eine winzige Summe, und es wurde kein einziges weiteres Krankenhausbett eingerichtet.273 Dennoch konnten die drakonischen Anweisungen im Laufe des Jahres 1941 in Details modifiziert werden. Die Entlausungs-Teams wurden in Hausbesuch-Teams umgewandelt, die sicherstellen sollten, dass die Bettwäsche gewechselt und gewaschen werde.274 Quarantänemaßnahmen wurden aufgegeben, die Kranken oft im Haus belassen, und durch eine 270 APAN LH-III-157-71, Bl. 1, Denkschrift über die prophylaktischen Massnahmen im jüdischen Viertel, Mai 1941. 271 APAN LH-III-157-71, Bl. 11, Denkschrift über einige prophylaktisch-soziale Massnahmen zur Bekämpfung des Fleckfiebers im jüdischen Wohnbezirk in Warschau, o. D. [nach Juli 1941]. 272 Ebd. 273 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 248. 274 APAN, LH III-75-71, Bl. 11, Denkschrift über einige prophylaktisch-soziale Massnahmen zur Bekämpfung des Fleckfiebers im jüdischen Wohnbezirk in Warschau, o. D. [nach Juli 1941]. 394 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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stärkere Kontrolle durch Blockärztinnen und -ärzte konnten Erkrankte von der Desinfektion ausgeschlossen werden.275 Hirszfeld hatte betont, dass das Duschen oder Baden in den Häusern effektiver seien als in öffentlichen Entlausungsstationen. Im Gesundheitsrat veränderten sie die Dekrete, um für mehr Sauberkeit zu sorgen, und nahmen dazu auch die Hilfe von Aleksander Szniolis, einem Sanitäts-Ingenieur aus dem PZH, in Anspruch.276 Ob die von Hirszfeld angeregten Maßnahmen letztlich neben dem symbolischen Erfolg auch eine greif bare Veränderung brachten, ist schwer einzuschätzen. Es liegt aber nahe anzunehmen, dass die Anzahl weiterer Ansteckungen durch die Modifikationen in der Praxis vermindert werden konnte.277 Aus Erinnerungen geht hervor, dass Propagandamaßnahmen zum Beispiel zu einer »Woche der Sauberkeit« auf ein erhebliches Echo in der jüdischen Gesellschaft getroffen seien und große Effekte erzielt hätten.278 Weil die politische Führung aber letztlich keine effektive Seuchenbekämpfung wünschte, konnten diese Maßnahmen keinen durchschlagenden oder nachhaltigen Erfolg haben.279 Die deutsche Gesundheitsverwaltung war nach wie vor hauptsächlich daran interessiert, ein Übertreten der Epidemie auf die sogenannte arische Seite zu verhindern, nicht daran, die Lage der eingepferchten Jüdinnen und Juden zu verbessern.280 Das Bekämpfen der Epidemie überließen sie dem Judenrat.281 Dies ließ Wilhelm Hagen, der im November 1940 als Stadtarzt nach Warschau gekommen war und Chef des dortigen Gesundheitswesens wurde, immer wieder selbst verlauten. Hagen, der vor 1933 Mitglied der SPD gewesen war, bemühte sich stets, die Okkupationspolitik der deutschen Machthaber mit seinen eigenen humanitären Bestrebungen in der Gesundheitspolitik zu kontrastieren. Hagen hatte sich tatsächlich als Tuberkulosebeauftragter für das Generalgouvernement für eine umfassende Bekämpfung der Krankheit eingesetzt – allerdings war ihm ledig275 Christian Schulze, Wilhelm Hagen und die Seuchenbekämpfung im Generalgouvernement 1941-1943 (Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Kiel 1994, S. 60. 276 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 240. 277 Winick, Medical Resistance, S. 97. 278 Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 438, Dr. M. Tursz. 279 Schulze, Wilhelm Hagen, S. 7. 280 Vgl. Ute Caumanns, Michael G. Esch, Fleckfieber und Fleckfieberbekämpfung im Warschauer Ghetto und die Tätigkeit der deutschen Gesundheitsverwaltung, in: Wolfgang Woelk, Jörg Vögele (Hg.), Geschichte der Gesundheitspolitik in Deutschland, Berlin 2002, S. 225-262, S. 261. 281 Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 438, Dr. M. Tursz. 395 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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lich an der Gesundheit der nichtjüdischen Bevölkerung gelegen, das jüdische Schicksal hingegen war ihm gleichgültig. Rückblickend schrieb er: »Das Fleckfieberproblem war isoliert, aber die Tuberkulose betraf das ganze Volk, arm und reich, Polen und Volksdeutsche, ja auch die im GG tätigen Reichsdeutschen und ihre Familien.«282 1943 verlor Hagen seinen Posten in Warschau auf Betreiben des SS - und Polizeiführers Ferdinand von Sammern-Frankeneggs, weil er angesichts einer geplanten Umsiedlungsaktion einen Brief an Hitler geschrieben und gefordert hatte, man solle verhindern, dass mit 70.000 Polen so verfahren werde wie mit den Juden, das heiße, sie zu töten. Mit der Verwendung des Wortes »töten« hatte er ein zentrales Tabu verletzt.283 In der Historiographie ist später die Ansicht vertreten worden, Hagen hätte die »Linie der nationalsozialistischen Polenpolitik grundsätzlich« missbilligt und habe jede »bevölkerungspolitisch« ausgerichtete Gesundheitspflege abgelehnt«.284 Noch 1991 erschien in Deutschland ein Aufsatz, in dem die Autoren meinten, die deutsche Gesundheitsverwaltung in Warschau habe versucht, »Seuchen und Infektionskrankheiten allgemein zu bekämpfen«.285 Sie gingen davon aus, Wilhelm Hagen habe versucht, sich mit allen Kräften den Vernichtungsabsichten entgegenzustellen, sei aber gescheitert. Diese Auffassung entspricht Hagens Darstellung und Entlastungsstrategie selbst – der spätere Präsident des Bundesgesundheitsamtes in Bonn stellte sich nach dem Krieg geradezu als Widerstandskämpfer dar, der sich auf dem Höhepunkt der Fleckfieberepidemie täglich mit den jüdischen Ärzten Milejkowski, Stein und Hirszfeld beraten und mit allen Mitteln gegen die Bekämpfungsmethoden im Warschauer Ghetto protestiert habe.286 Tatsächlich aber war Hagen an einer humanitären Hilfe für Jüdinnen und Juden nicht interessiert. Am Schauplatz Warschau ging es ihm einzig und allein darum, die Seuchengefahr für die nichtjüdische Bevölkerung zu verringern.287 Wie andere deutsche Ärzte im GG akzeptierte Hagen die rassistische Grundannahme, dass Jüdinnen und Juden besondere Träger des Fleckfiebers waren, obwohl er es als Mediziner hätte besser 282 Wilhelm Hagen, Auftrag und Wirklichkeit. Sozialarzt im 20. Jahrhundert, München-Gräfelfing 1978, S. 170. 283 Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991, S. 216-217. 284 Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945, Frankfurt a. M., Hamburg 1965, S. 161. 285 Willi Dreßen, Volker Drieß, Ausbeutung und Vernichtung. Gesundheitspolitik im Generalgouvernement, in: Norbert Frei (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS -Zeit, München 1991, S. 157-171, S. 163. 286 Hagen, Auftrag und Wirklichkeit, S. 181. 287 Schulze, Wilhelm Hagen, S. 59. 396 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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wissen können.288 In Detailfragen konnte Hagen zwar in Abstimmung mit dem Gesundheitsrat Verbesserungen erzielen, aber von der Richtigkeit der Ghettoisierung als Mittel zur Seuchenbekämpfung blieb er überzeugt und empfahl in diesem Zusammenhang, »vagabundierende Juden« erschießen zu lassen.289 Die Einschätzung von Martin Broszat, dass sich auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik nicht einfach nach dem Programm völkischer Zersetzung verfahren ließ, wenn man ein Gebiet einigermaßen sinnvoll verwalten wollte, wird durch die Verhältnisse und die Maßnahmen im Warschauer Ghetto widerlegt. Hagens Äußerungen, Anordnungen und Taten während der Okkupation zeigen, dass er grundsätzlich mit den Zielen der Besatzungspolitik übereinstimmte, die Unterwerfung, Umsiedlung, Ausbeutung und Vernichtung für die jüdische Bevölkerung bedeutete – dies war ein Programm »völkischer Zersetzung«. Zwar zeigte Hagen selbst keine Brutalität und keinen offenen Rassenhass, aber durch seine Anordnungen verstärkte er das Leiden der jüdischen Bevölkerung zweifellos.290 Wie gering das Interesse an einer Eindämmung der Fleckfieber-Epidemie im Ghetto war und, darüber hinaus, wie wenig die Bereitschaft vorhanden war, dies zuzugeben, zeigt die Aussage von Rudolf Wohlrab, bis 1942 Mitarbeiter von Hagen, der in einem Gespräch nach dem Krieg ernsthaft behauptete, es habe überhaupt keine Fleckfieberepidemie im Ghetto gegeben. Da sei furchtbar übertrieben worden.291 Zudem behauptete er, er habe die Ziele der nationalsozialistischen Mordpolitik nicht gekannt, sie hätten selbst nicht gewusst, was damals passiert sei. Und er verwendete das bekannte Entlastungsargument, diese Politik sei das Werk von nur wenigen Menschen gewesen.292 Dass sowohl Wohlrab als auch Hagen Mittäter und Teil der Herrschaftsarbeit waren, weil sie die Gestalter der mörderischen Gesundheitspolitik gegenüber der jüdischen Bevölkerung waren, verschwamm in ihrer Erinnerung.293 Am Rande sei hier angemerkt, dass die Verantwortung Wilhelm Hagens für die Gesundheitspolitik im Warschauer Ghetto in der Bundesrepublik zu einer auch gerichtlich geführten Auseinandersetzung zwischen dem polnisch-jüdischen Historiker Joseph Wulf, der seit 1955 in Deutschland mehrere Dokumentenbände über die Geschichte des »Drit288 289 290 291

Browning, Path, S. 155-156. Schulze, Wilhelm Hagen, S. 66. Caumanns, Esch, Fleckfieber, S. 260-261. Marta Balińska, Choroba jako ideologia. Tyfus plamisty w okupowanej Polsce (1939-1944), in: Zeszyty Historyczne 126 (1998), S. 212-221, S. 218. 292 Ebd., S. 220. 293 Dazu Lüdtke, Herrschaft, S. 44. 397 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ten Reiches« veröffentlicht hatte, Wilhelm Hagen und dem Institut für Zeitgeschichte in München führte. Da auch Ludwik Hirszfeld in dieser Kontroverse posthum eine Rolle spielte, soll die Kontroverse kurz dargestellt werden. Wulf hatte Hagen in seinem 1961 erschienenen Band »Das Dritte Reich und seine Vollstrecker. Die Liquidation von 500.000 Juden im Ghetto Warschau« unter die Täter und Helfershelfer eingeordnet. Konkret hielt er ihm vor, eine Milchzuteilung im Ghetto für Kinder abgelehnt und den jüdischen Ärztinnen und Ärzten mit der Todesstrafe gedroht zu haben, sofern sie nicht jeden einzelnen Typhusfall meldeten – dies wurde von Dr. Chaim Einhorn bestätigt, der aussagte, dass Dr. Hagen in einer Besprechung mit jüdischen Ärzten für diesen Fall mit einem Revolver gedroht habe, der auf dem Tisch gelegen habe.294 Wulf verortete Hagen unter anderem auf der Seite der Täter, weil er es Ludwik Hirszfeld verweigert hatte, seine schwerkranke Tochter aus dem Ghetto zu bringen, um einen Arzt in einem anderen Stadtteil zu Rate zu ziehen. »Es handelte sich also keineswegs darum, daß Professor Hirszfeld seiner Tochter das Ghetto ersparen wollte, sondern lediglich um die Konsultation eines Kollegen jenseits der Ghettomauern«, so Wulf.295 Hirszfeld hatte in seiner Autobiographie beschrieben, dass er sich über Milejkowski an Hagen gewandt habe, weil er seine Tochter einmal wöchentlich aus dem Ghetto herausbringen wollte, um einen Arzt zu sehen und um ihr ein wenig Erholung von den dortigen Umständen zu verschaffen. Hagen, der Hirszfelds Schriften kannte und sich positiv über sie geäußert hatte, lehnte ab. Das kommentierte Hirszfeld: »Glaubt ihr, dass er meinem Kind erlaubt hätte, sich auf der arischen Seite heilen zu lassen? Er war vielleicht kein schlechter Mensch, aber wie alle hatte er keinen Charakter und lehnte es ab. Es gebe doch genügend Ärzte hier im Viertel. […] Ich bin nicht rachsüchtig, ich wünsche Herrn Hagen nicht, dass er mit ansehen muss, wie das eigene Kind vor seinen Augen stirbt.«296 Hagen, der sich nicht auf der Seite der Täter und Helfershelfer verortet sehen wollte, verlangte nun von Wulf, die Aussage, er sei ein Täter, zu unterlassen, und bediente sich damals der Unterstützung des Instituts für Zeitgeschichte, dem er die Berichte zur Verfügung stellte, die er während der Okkupation geschrieben hatte. Das Institut stellte sich eindeutig auf die Seite von Hagen. Martin Broszat etwa kanzelte Joseph Wulf regelrecht mit den Worten ab: »Das, was Sie in Ihrem Buch an der angegebe294 Yad Vashem Testimonies Record Group 0.3, File 1836, Dr. Chaim Einhorn, Zeugenbericht vom 8. 5. 1961. 295 Joseph Wulf, Das Dritte Reich und seine Vollstrecker. Die Liquidation von 500.000 Juden im Ghetto Warschau, Berlin (West) 1961, S. 335. 296 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 222. 398 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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nen Stelle aus dem Ringelblum-Archiv oder dem Buch Hirszfeld zitieren, beweist demgegenüber u. E. gar nichts.« Broszat war nicht in der Lage und nicht willens, die Erfahrungswelt des jüdischen Überlebenden in seine Sicht der nationalsozialistischen Polenpolitik zu integrieren – den Ausschluss seiner Erfahrungswelt lernte Wulf mit der Zeit mehr und mehr als symptomatisch zu begreifen.297 Nachdem Wulf gerichtlich untersagt worden war, weiterhin über Hagen zu schreiben, ging die Angelegenheit im Jahr 1965 erneut vor Gericht. Dabei wurde Hagen zur Last gelegt, durch seinen Vorschlag vom 7. Juli 1941, »vagabundierende Juden« zu erschießen, innerhalb seines Wirkungskreises entscheidend dazu beigetragen zu haben, die Massenliquidierung von Juden einzuleiten. Dies bestritt Hagen. Während des Prozesses rechtfertigte er sich noch einmal wegen Hirszfelds Tochter: Der Bitte des Professors Hirszfeld, dessen kranke Tochter außerhalb des Ghettos behandeln zu lassen, habe er nicht entsprechen können, weil er keine Möglichkeit gehabt habe, einen Passierschein für die Tochter zu besorgen, und auf die strikte Einhaltung der Seuchenbekämpfungsmaßnahmen habe achten müssen.298 Hagen stellte sich hier erneut als jemand dar, dem die Hände gebunden gewesen seien. Für Joseph Wulf passten das Verhalten von Hagen als Amtsarzt von Warschau und eine angebliche Opposition zum NS -Regime einfach nicht zusammen – er schrieb in einem Brief an das Institut für Zeitgeschichte: »Bitte denken Sie doch an die Verhältnisse im Warschauer Ghetto ! Man kann doch unmöglich für all das mitverantwortlich sein und trotzdem zum ›anderen Deutschland‹ gehört haben wollen.« Er blieb davon überzeugt, dass Hagen »Rassenvorurteile« gegenüber der jüdischen Bevölkerung hatte, die er gegenüber nichtjüdischen Polen nicht zeigte. Hagen gehört für ihn damit nach wie vor zu den Tätern und Helfershelfern, dies durfte er aber als Ergebnis eines Vergleichs im Jahr 1968 in Neuauflagen seines Buches nicht mehr schreiben.299 Hagen wiederum trug ein reines Gewissen zur Schau. In den 1970er Jahren schrieb er eine Postkarte an seinen ehemaligen Mitar297 Zitiert nach Klaus Kempter, Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland, Göttingen 2013, S. 260. Der Konflikt, in dem es letztlich um unterschiedliche jüdische und nichtjüdische Gedächtnisse ging, ist von Nicolas Berg mit Fragen nach Affektfreiheit, Objektivität und Wissenschaftlichkeit, aber auch der Übernahme von Täterperspektiven und der Verwicklung weiter Teile der deutschen Gesellschaft in die Vernichtungspolitik dargestellt worden, siehe Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 594-615. 298 BA Ludwigsburg, B 162/2915, Prof. Dr. Wilhelm Hagen, Tatort: Warschau 1941. 299 Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 1836/a: Dr. Hagen, Wulf an Krausnick, 5. 5. 1963. 399 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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beiter Rudolf Wohlrab: »Gut, wenn wir Alten uns sagen können, dass das, was wir erlebt und gemacht haben, sich im Einklang mit unserem Gewissen befindet. Möge es weiterhin so sein.«300 Jüdisches Gedächtnis und nichtjüdische Entlastungsstrategie hätten nicht weiter auseinander liegen können. Neben der sehr anwendungsorientierten Arbeit im Gesundheitsrat versuchte Ludwik Hirszfeld, weiter zu Fragen der Blutgruppen und der Immunität zu forschen, während seine Frau Hanna in einer Filiale des Bersohn-und-Bauman-Kinderkrankenhauses die Abteilung für Pädiatrie leitete.301 Er verbrachte viel Zeit in einem von ihm begründeten bakteriologischen Labor, dessen Existenz auch außerhalb der Ghettomauern bekannt wurde. Dort organisierte er, der sich in dieser Frage auf seine Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und der Zweiten Republik verlassen konnte, auch die einzige Blutspendestelle im Ghetto und lobte später die große Spendenbereitschaft unter Jugendlichen.302 In dem Labor sah er sich als »Betreuer aller Bakteriologen«.303 Für seine Einrichtung bekam er fünf Räume im Krankenhaus Czyste in der Stawki-Straße, die er sich mit weiteren Ärztinnen und Ärzten und Bakteriologinnen und Bakteriologen teilte. Neben dem bakteriologischen Labor arbeitete am selben Ort eine physiologisch-chemische Untersuchungsstelle, die für Fragen der Lebensmittelhygiene zuständig war – ihr Leiter war der Chemiker Mieczysław Centnerszwer, und eine seiner Mitarbeiterinnen war Bronislawa Fejginówna, die aus dem PZH kam.304 Auch in der klinischen Arbeit wurde Hirszfeld zunächst mit Misstrauen begegnet, wie Chaim Einhorn sich erinnerte: »Eines Tages […] führte Dr. Milejkowski Dr. Hirszfeld in das Krankenhaus. Anfangs wollten wir, die jüngeren Ärzte, gegen Prof. Hirszfeld protestieren und fingen an zu streiken. Wir haben ihn für einen Fremden gehalten. Später jedoch haben sich unsere Beziehungen normalisiert und in der wissenschaftlichen Forschung haben wir sehr gut zusammengearbeitet.« Einhorn erinnerte, dass Hirszfeld die Forschungen geleitet und Róża Amzel ihm geholfen habe. Mit ihm hätten des Weiteren die Ärzte Fliederbaum, Kocen und Szejnman kooperiert, den er als sehr begabten jungen Arzt mit einer Spezialisierung in Blutuntersuchun-

300 Zitiert nach Balińska, Choroba jako ideologia, S. 221. Dies ist eine Rückübersetzung aus dem Polnischen, da es nicht gelungen ist, den deutschen Originaltext aufzufinden. 301 Engelking, Leociak, Warsaw Ghetto, S. 271. 302 Ebd., S. 245. 303 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 224. 304 Yad Vashem Testimonies Record Group 0.3, File 3647, Adam Drozdowicz. 400 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gen einschätzte. Diese Ärzte nennt Hirszfeld auch in seiner Autobiographie. Keiner von ihnen überlebte.305 Das bakteriologische Labor auszustatten stellte Hirszfeld und die anderen Forschenden vor große Schwierigkeiten. Der unter den Mangelbedingungen des Ghettos immens wichtige Transfer von Material, Ausstattung und Stoffen fand nur noch lokal oder regional statt – die Bedingungen hatten sich grundsätzlich verändert. Die Ausrüstung für Hirszfelds und auch für Centnerszwers Labor kam zum Teil von der sogenannten arischen Seite, etwa ein Brutschrank von einem Ingenieur namens Kurowski, der ursprünglich 12.000 Złoty kosten sollte, dann aber umsonst zur Verfügung gestellt wurde, was Hirszfeld als »Symbol der Opferbereitschaft der polnischen Gesellschaft« erinnerte. Mikroskope kamen von Ärztinnen und Ärzten, die er kannte, eines kaufte er selbst. An den Wänden, so Hirszfelds Erinnerung, hätten Tabellen und Diagramme gehangen, nebenan habe sich ein Unterrichtsraum befunden.306 Chemikalien, die für die Untersuchungen nötig waren, wurden von der sogenannten arischen Seite eingeführt, das Material für ihre Untersuchungen nahmen die Ärzte von den Patientinnen und Patienten. Die Forschungsarbeiten dort konnten nur mit großer Improvisationskunst durchgeführt werden, weil die Ausstattung unter den gegebenen Voraussetzungen dürftig blieb und bleiben musste. Zudem litten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wie so viele andere an Hunger und Krankheiten, so dass Hirszfeld konstatierte: »Ich hätte selbst nicht geglaubt, dass man unter derlei Bedingungen wissenschaftlich tätig sein kann.«307 Chaim Einhorn erinnerte, dass sowohl Izrael Milejkowski als auch Adam Czerniaków dafür gesorgt hätten, dass die persönliche Sicherheit derjenigen, die im Krankenhaus arbeiteten, höher war als an anderen Orten im Ghetto. Alle hätten Bescheinigungen über die Arbeit im Krankenhaus erhalten, und zu Einhorns Verwunderung hätten die Deutschen sich zu diesen Bescheinigungen mit einem gewissen Respekt verhalten, bis zur Liquidierung des Ghettos. Zudem setzten sich Milejkowski und Czerniaków für die Versorgung mit Lebensmitteln ein – die wissenschaftliche Arbeit fand eine breite Unterstützung, sie konnte aber wegen der mangelnden Infrastruktur und der Tatsache, dass Ärztinnen und Ärzte selbst Hunger litten und erkrankten, keine mit der Vorkriegszeit vergleichbaren Ergebnisse erzielen. Hirszfeld empfand es als ein Wunder, 305 Yad Vashem Testimonies Record Group 0.3, File 1836, Dr. Chaim Einhorn, Zeugenbericht vom 8. 5. 1961. 306 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 221. 307 Ebd., S. 225. 401 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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als sich wissenschaftliche Ergebnisse abzeichneten. Teilweise blieben es Fragmente, zum Teil führten sie zu neuen Erkenntnissen, fast alle wurden veröffentlicht: Vor dem Krieg hatte Hirszfeld beispielsweise mit Róża Amzel eine Forschungsarbeit zu bestimmten Formen und Merkmalen der Blutgruppe 0 angefangen und diese vorhergesehen, aber noch nicht präzisieren können – dies gelang ihm erst im Ghetto, wo er eine Art Protokoll über seine Blutuntersuchungen im Jahr 1941 führte.308 Trotz erschwerter Bedingungen publizierte er diese Arbeit im Jahr 1946 und posthum gemeinsam mit Róża Amzel, die nicht überlebt hatte.309 Weiter wies Hirszfeld mit seinen Forschungen im Ghetto nach, dass das Blut von Jüdinnen und Juden die Eigenschaften des Blutes der umgebenden Bevölkerungen annimmt.310 Damit wollte er, was er auch in einem Vortrag im Ghetto darlegte, die Rede von einer »jüdischen Rasse« als Propaganda entlarven. Zu einem der wichtigsten Themen seiner Forschungen war erneut das Fleckfieber geworden. Weil er keine Zentrifuge hatte, musste er improvisieren und züchtete Bakterienstämme auf andere Art und Weise. Es ergaben sich neue Möglichkeiten der Fleckfieberdiagnose aus dem Urin der Betroffenen – daran arbeitete er vor allem mit Tekla Epsteinówna, einer weiteren seiner Mitarbeiterinnen aus dem Staatlichen Hygiene-Institut.311 Noch 1942 trug Hirszfeld bei einem Treffen von Ärztinnen und Ärzten über die »serologisch-bakteriologische Identifizierung des Fleckfiebers« vor. Allerdings musste er diese Forschungen kurz darauf unterbrechen. Das Manuskript aber gelangte aus dem Ghetto zu Feliks Przesmycki, der es für den Fall, dass Hirszfeld nicht überleben sollte, aufbewahren sollte. Nach dem Krieg, im März 1946, veröffentlichte Hirszfeld es – erneut konnte seine Mitarbeiterin nur posthum als Mitautorin auftreten, denn Tekla Epsteinówna war im Ghetto bei einem Autounfall gestorben.312 Hirszfeld verwies in diesem Text auf Ludwik Fleck, der unabhängig von ihnen und auf etwas andere Art und Weise im Ghet-

308 Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 1074, H. Fenigstein. 309 Ludwik Hirszfeld, Róża Amzel, O postaciach przejściowych (podgrupach) w obrębie grupy 0. Doniesienie tymczasowe, in: Polski Tygodnik Lekarski 1 (1946), S. 1525-1527. 310 Ryszard Zabłotniak, Wydział Lekarski w getcie warszawskim, in: Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego 74 (1970), S. 81-85, S. 85. 311 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 270. 312 Ludwik Hirszfeld, Tekla Epsteinówna, Próby serologiczno-bakteriologicznego, in: Polski Tygodnik Lekarski 11 (1946), S. 329-330. 402 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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to von Lemberg ein Verfahren zur Diagnose und zur Herstellung von Fleckfieber-Impfstoff aus dem Urin Infizierter entdeckt hatte.313 Neben Hirszfeld arbeiteten weitere Ärzte zu Fragen des Fleckfiebers im Czyste-Hospital, unter anderem Hilary Lachs.314 Die Forschungen erfreuten sich einer hohen Wertschätzung innerhalb der Ghettomauern. So erinnerte sich der bereits erwähnte Mitarbeiter des Arbeitsamtes, Stefan Ernest: »Der Name der Professoren Ludwik Hirszfeld und Hilary Lachs sind als eine Gewähr für ein gewisses Niveau dieser Forschungen anzusehen.«315 Vor allem erfüllten sie eine wichtige Funktion für die beteiligten Ärzte selbst, denn sie verliehen ihrem Dasein einen Sinn und produzierten Normalität. Dazu trug beispielsweise bei, dass die wissenschaftlichen Arbeiten zu verschiedenen Aspekten des Fleckfiebers, aber auch zur Tuberkulose und der Hungerkrankheit ein bis zwei Mal in der Woche unter den Ärztinnen und Ärzten diskutiert wurden, manchmal gemeinsam mit dem Personal des Kinderkrankenhauses. Chaim Einhorn betonte, diese Zusammenkünfte hätten den Charakter von wissenschaftlichen Diskussionen gehabt und seien so geführt worden, »als würde man in normalen Zeiten leben. Man vergaß das ganze äußere Leben, alles, was schlecht und grausam war. Das ist eine schöne Erinnerung aus dem Ghetto.«316 Das Bemühen um eine schnellere Fleckfieber-Diagnostik war immer auch mit der Suche nach neuen Impfstoffen verbunden – angesichts der grassierenden Fleckfieber-Epidemie eine zentrale Frage für die Forschenden. Impfstoffe waren Mangelware, daher wurden sie erstens gefälscht und zweitens zu erhöhten Preisen angeboten. Das Internationale Rote Kreuz schickte Impfstoffe gegen das Fleckfieber und forderte von der deutschen Verwaltung, dass sie unter Hirszfelds Anleitung getestet würden. Gemeinsam mit dem Arzt Michał Szejnman begann Hirszfeld, die Impfungen durchzuführen und dazu eine statistische Erhebung anzulegen. Die Impfstoffe erwiesen sich weitgehend als unwirksam.317 Auch diese Aktion blieb außerhalb der Ghettomauern nicht unbemerkt. Der Geograph Stanisław Srokowski notierte: Im Ghetto »arbeitet auch ein spezielles Krankenhaus aus diesem Bereich […] sie probieren verschiede313

George M. Weisz, Andrzej Grabowski, Medical Discoveries in the Ghettos: The Anti-Typhus Battle, in: Israel Medical Association Journal 13 (2011), S. 261-265. 314 Rutkowski, Jakub Penson, S. 175-179. 315 Ernest, O wojnie, S. 125. 316 Yad Vashem Testimonies, Record Group 0.3, File 1836, Dr. Chaim Einhorn, Zeugenbericht vom 8. 5. 1961. 317 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 226; siehe auch Yad Vashem Testimonies, Record Gruop 0.3, File 3647, Adam Drozdowicz. 403 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ne Methoden der Fleckfieberbekämpfung an den Juden aus, ganz genau so wie bei Tieren. Der wunderbare Impfstoff von Dr. Weigl aus Lemberg könnte viel bewirken, aber ihn gibt es fast überhaupt nicht.«318 Weigl arbeitete am Institut für Fleckfieber und Virusforschung in Lemberg, das der Wehrmacht unterstand, weigerte sich aber, sich als Volksdeutscher registrieren zu lassen. Sein Impfstoff war und blieb in der Tat der wirksamste, der weiterhin schwierig zu produzieren und sehr teuer war.319 Während der Preis zu Beginn der Okkupation bei ca. 400 Złoty pro Dosis gelegen habe, so ein Zeitzeugenbericht, kostete er im freien Handel 1942 bereits 1000 Złoty. Oft wurde die Dosis auf zwei Personen aufgeteilt.320 Hirszfeld hatte offenbar Kontakt zu Weigl, aber der Charakter dieser Kontakte ist unklar: »Wir wissen nur aus den Erinnerungen ihrer Mitarbeiter, dass sie stattfanden, aber sie waren geheimnisumwoben.«321 Über seinen Mitarbeiter Henry Mosing schickte Weigl Impfstoff an Ludwik Hirszfeld, der ihn der Gesundheitsabteilung des Judenrats übergab. Für geringere Summen verkaufte der Rat die Dosen weiter – auf diese Weise sei ein gewisser Fonds zur Verfügung des Judenrats geschaffen worden.322 Nach der Weigl-Methode wurde auch am Staatlichen Hygiene-Institut in Warschau unter dem erwähnten Arzt Rudolf Wohlrab Impfstoff produziert.323 Dieser war ausschließlich für die deutsche Bevölkerung vorgesehen, so erinnerte sich Feliks Przesmycki: »Das Fleckfieber breitete sich aus und wir hatten keine Möglichkeit, die polnische Bevölkerung zu immunisieren.« Im Institut begann man daher auf Initiative von Jerzy Morzycki, einem Arzt und Bakteriologen, der nach 1944 kurzzeitig stellvertretender Gesundheitsminister wurde, Impfstoff im Untergrund zu produzieren. Dieser wurde in Konzentrationslager, zu Partisanen, in Gefängnisse und auch in das Ghetto verbracht.324 Und selbst wenn die Qualität nicht exzellent war und die Wirksamkeit schwer messbar, so hatte das widerständige Verhalten doch eine hohe symbolische Bedeutung.325

318 319 320 321

322 323 324 325

APAN II-22-119: Materiały Stanisława Srokowskiego, Wspomnienia.

Weisz, Grabowski, Medical Discoveries, S. 261. Archiwum Ringelbluma I /363, N. N. Walka z tyfusem, 11. 3. 1942. Bożena Płonka-Syroka, Elżbieta Lonc, Profesor Rudolf Weigl – niedokończona biografia. Problemy diagnostyki i terapii w ujęciu nauk przyrodniczych i społecznych, in: Studia Humanistyczne Wydziału Farmaceutycznego Uniwersytetu Medycznego we Wrocławiu 6 (2012), S. 391-405, S. 400. Ebd., S. 398. Auch Zabłotniak, Wydział Lekarski, S. 84. Balińska, Choroba jako ideologia, S. 219 APAN III-254-35, Materiały Feliksa Przesmyckiego. Moje wspomnienia. Weindling, Delousing and Resistance, S. 53.

404 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ebenfalls in dem bakteriologischen Labor erstellten Ärztinnen und Ärzte unter Leitung von Julian Fliederbaum und Emil Apfelbaum eine Studie zum Phänomen des Hungers und der Hungerkrankheit – an ihr scheint Hirszfeld selbst nicht unmittelbar beteiligt gewesen zu sein, obwohl er in seiner Autobiographie anmerkte, ein Labor sei eingerichtet worden, »in dem wir zu den Folgen der Mangelernährung forschen wollten«.326 In dieser Studie, die 1946 veröffentlicht werden konnte, weil sie aus dem Ghetto geschmuggelt und von Witold Orłowski, dem Vorsitzenden der medizinischen Abteilung des Universitätskrankenhauses von Warschau aufbewahrt wurde, untersuchten die Ärzte die Auswirkungen des Hungers auf den menschlichen Körper.327 Die Bedingungen, die im Warschauer Ghetto für eine solche Studie herrschten, waren einmalig. Da sie es allerdings aufgrund der mörderischen Politik der Nationalsozialisten waren, stellt sich die Frage nach den ethischen Standards dieser Forschung, denn letztlich könnte man sie auch als Menschenexperimente deuten. Die beteiligten Medizinerinnen und Mediziner waren aber bestrebt, aus der extremen Ausnahmesituation Wissen zu generieren, das den Menschen nützen und die Medizin voranbringen würde – sie wollten, dass die Opfer nicht vergeblich waren.328 Von den von den Nationalsozialisten durchgeführten Menschenexperimenten unterschieden sich diese Forschungen in jedem Fall dadurch, dass sie nicht unter Zwang stattfanden und kein weiteres Leid durch diese Untersuchungen erzeugt wurde. Sie verschlechterten die medizinische Lage der Patientinnen und Patienten nicht, sondern wurden mit Respekt vor ihnen und deren Lage durchgeführt.329 Letztlich stellten sie ein ethisches Dilemma unter den erwähnten vielen dar, mit denen die Ärztinnen und Ärzten in den Ghettos konfrontiert waren und auf die zurückzukommen sein wird. Insgesamt beschrieb Hirszfeld die Arbeit im Labor als »wichtigsten Inhalt meines Lebens« im Ghetto.330 Damit meinte er nicht nur seine Forschungen, sondern auch, dass er seinen dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Vertrauen und Hoffnung vermittelt habe: »Diesen Menschen, die zum Tode verurteilt waren, gab ich die erhabenste Möglichkeit, die das Leben bietet: eine Arbeit mit der Hoffnung auf Ernte.«331

326 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 221. 327 Emil Apfelbaum, Choroba głodowa: Badania kliniczne nad głodem wykonane w getcie warszawskim z roku 1942, Warszawa 1946. 328 Livnat, »Non Onmis Moriar«, S. 81-92. 329 Ofer, Ghetto Inmates, S. 490. 330 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 224. 331 Ebd., S. 227. 405 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ganz ähnlich sah Hirszfeld seine Rolle als Lehrer, war doch der Unterricht im Warschauer Ghetto die dritte wichtige Säule seiner Arbeit. Da die Deutschen eine große Furcht vor der Ausbreitung von Epidemien hatten, erlaubten sie die Gründung der sogenannten »Sanitären Ausbildungskurse zum Kampf gegen Epidemien« im Ghetto. Dahinter versteckten sich neunmonatige medizinische Kurse, die das Programm der ersten zwei Jahre eines regulären Medizinstudiums beinhalteten. Diese Kurse, die insgesamt über 15 Monate angeboten wurden, verstanden sich als integraler Bestandteil der medizinischen Fakultät der Warschauer Universität. Die Universität unterstützte diese Art der Hochschulausbildung anfänglich finanziell, allerdings wurde dies mit zunehmender Isolierung des Ghettos immer schwieriger.332 Als Gründer der Kurse gilt Juliusz Zweibaum, ein ehemaliger Professor für Zoologie an der Universität Warschau. Die Kurse begannen im akademischen Jahr 1940/41 – sie sollten nicht nur eine medizinische Ausbildung ermöglichen, sondern vor allem den Jugendlichen, die nichts zu tun hatten, eine Perspektive geben. Die Eröffnung fand im großen Saal der Jüdischen Gemeinde an der Grzybowska-Straße statt, während die Kurse im 5. Stock des ehemaligen Gymnasiums (Collegium) in der Leszno-Straße abgehalten wurden.333 Die erste universitäre Vorlesung war ein großes Ereignis im Ghetto, später wurden die Kurse dann, so Henryk Makower, zur Routine.334 Sie erfreuten sich einer so großen Beliebtheit, dass zwei parallel liefen – über 500 Teilnehmende kamen zusammen, und es hätten noch mehr sein können. Viele von ihnen waren ehemalige Studierende der Medizin, wobei Frauen leicht in der Mehrheit waren.335 Die Studierenden mussten 40 Złoty im Monat zahlen, konnten sich aber um Ermäßigungen und Stipendien bemühen. Einige der Professoren erhielten für ihre Arbeit in diesen Kursen über 1000 Złoty monatlich, was für die damalige Zeit ein sehr guter Lohn war; Ludwik Hirszfeld bezifferte das monatliche Gehalt auf 160 Złoty plus 12 Złoty für jede Unterrichtsstunde.336 Lehrmaterial war schwer zu bekommen, aber man unterhielt eine kleine Bibliothek und erhielt Tabellen, Diagramme und histologische Präparate von Kolleginnen und Kollegen der Warschauer Universität. Hier taten sich vor allem der erwähnte Witold Orłowski vom Universitätskrankenhaus in Warschau, seine Kollegin Bronisława Konopacka und 332 Zabłotniak, Wydział Lekarski, S. 81-82. 333 Ruta Sakowska, Menschen im Ghetto. Die jüdische Bevölkerung im besetzten Warschau 1939-1943. Aus dem Polnischen von Ruth Henning, Osnabrück 1999, S. 146. 334 Makower, Pamiętnik, S. 185. 335 APAN, LH-157-70, Bl. 4, Kurs przysposobienia sanitarnego do walk z epidemiani. 336 Ebd. 406 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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der Anthropologe Edward Loth hervor. Vor dem Krieg war Loth für seine antisemitischen Ansichten bekannt gewesen, jetzt aber unterstützte er seine ehemaligen Schüler im Ghetto, wie beispielsweise Ludwik Stabholz. Loth begründete dies damit, dass er sich den nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit widersetzen wollte.337 Die praktischen Übungen im Prosektorium fanden im Krankenhaus Czyste statt, allerdings nicht in der Stawki-Straße, sondern in der LesznoStraße, wohin ein Teil des Krankenhauses bei seinem Umzug verlegt worden war. Für die Übungen mangelte es nicht an Leichen, wohl aber an Mitteln zu ihrer Konservierung.338 Im Krankenhaus gab es einige Mikroskope, die Präparate mussten wiederum von der »arischen Seite« eingeschmuggelt werden. Die Bedingungen waren überall schwierig, es gab keine Heizungen, die Studierenden brachten zum Teil selbst Lampen mit oder der Unterricht fand bei Kerzenlicht statt. Angesichts dieser Verhältnisse sei »das Verhältnis der Studenten zum Lernen […] unglaublich ernsthaft, fast religiös« gewesen, so erinnerte sich Juliusz Zweibaum nach der Befreiung.339 Die Studierenden erhielten Skripte für den Unterricht ab 17 Uhr bis abends um 20 Uhr. Tagsüber mussten die Lehrenden anderen Verpflichtungen in den Krankenhäusern oder medizinisch-sozialen Einrichtungen nachkommen. Um 21 Uhr war polizeiliche Sperrstunde. Auch die Prüfungen fanden entweder abends oder am Wochenende statt; so erinnerte sich Barbara Feilhendler, dass sie eine Prüfung bei Hirszfeld an einem Sonntag ablegte.340 Zwischen 50 und 70 Absolventinnen und Absolventen der Sanitätskurse überlebten und ließen ihre Bescheinigungen nach dem Zweiten Weltkrieg an den Medizinischen Akademien in der Volksrepublik Polen anerkennen. Einige schlossen ihr Studium in den Jahren 1948 bis 1950 an der Universität Warschau ab.341 Der Lehrkörper der Sanitätskurse bestand aus Juliusz Zweibaum für Histologie, Mieczysław Centnerszwer für Chemie und Physik, Hilary Lachs für Physik und Chemie, Henryk Makower für Phyisologie, Ludwik Hirszfeld für Mikrobiologie, Stabholz für Anatomie und Berensztein für Biologie, Embryologie und Parasitologie. Die Lehrenden versammelten sich in einem Pädagogischen Rat der Medizinischen Fakultät, dane337 Zabłotniak, S. 83. Siehe zu Loth Natalia Aleksiun, Christian Corpses for Christians! Dissecting the Anti-Semitism behind the Cadaver Affair of the Second Polish Republic, in: East European Politics and Societies 25/393 (2011), S. 393-409, bes. S. 402-403. 338 Roland, Medical School, S. 409. 339 AŻIH 301/4108, Relacja Zweibaum. 340 AŻIH 301/4261. Relacja Barbara Feilhendler. 341 AŻIH 301/4108, Relacja Zweibaum. 407 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ben gab es noch einen Engeren Rat (Rada Ścisła) in dem nur die Universitätsprofessoren vertreten waren, nämlich Zweibaum, Centnerszwer, Hirszfeld und Lachs. Im Mai 1942 nahm Adam Czerniaków an einem Vortrag von Ludwik Hirszfeld im Rahmen der Kurse teil. Weil sie autark waren und das Budget des Judenrates nicht belasteten, unterstützte der Vorsitzende des Judenrates die Kurse mit 10.000 Złoty, wovon Lehrmaterial gekauft werden sollte.342 Für die älteren Semester organisierte Israel Milejkowski im Krankenhaus Czyste eine klinische Vortragsreihe. Diese wurde ausgeweitet, als Hirszfeld ins Ghetto kam. Unter seiner Mitarbeit systematisierten sie die Vorträge und arbeiteten sie programmatisch aus, wobei dies nicht ohne Schwierigkeiten ablief – denn erneut traf Hirszfeld auf Widerstand wegen seiner Konversion.343 Wie Henryk Makower erinnerte, habe Hirszfeld einen Kurs für Ärztinnen und Ärzte sowie Laborantinnen und Laboranten über ansteckende Krankheiten organisiert, unter anderem über das Fleckfieber, der aber nur unter Schwierigkeiten durchgeführt werden konnte, weil eine ziemlich große Gruppe von Ärztinnen und Ärzten gegen ihn als vermeintlichen Antisemiten agitiert habe.344 Die Vorträge fanden dennoch statt, und der Judenrat unterstützte sie auf einer regulären Basis, was Hirszfeld zu der Bemerkung veranlasste: »Wenn es um die Sache der Wissenschaft und Lehre ging, waren die Juden großzügig« – eine jener pauschalisierenden Einschätzungen über »die Juden«, die sich immer wieder in Hirszfelds Autobiographie finden und die zu einer ablehnenden Rezeption unter Teilen der Überlebenden in Polen geführt haben.345 Im Rahmen dieses Kurses hielten verschiedene Referentinnen und Referenten Vorträge, so etwa Józef Sztein, der Direktor des Krankenhaus Czyste, über Alter und Tod, Henryk Makower über Lungenentzündungen, Hanna Hirszfeld sprach über Keuchhusten und Ludwik Hirszfeld über Malaria.346 Neben den systematischen Kursen der medizinischen Ausbildung installierten die Dozentinnen und Dozenten einen ergänzenden, der Epidemienbekämpfung und Problemen der Sozialmedizin gewidmeten Vorlesungszyklus. In dieser Reihe konnten die Studierenden Vorträge aus der 342 343 344 345

APAN LH-157-70, Bl. 5, Kurs przysposobienia sanitarnego do walk z epidemiani.

Roland, Medical School, S. 416. Makower, Pamiętnik, S. 135. Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 220. Siehe dazu Katrin Steffen, »Die Welt will aber davon nichts wissen.« Die Rezeption der Memoiren Ludwik Hirszfelds und die Reaktionen auf seine Sicht des Lebens im Warschauer Ghetto, in: Ruth Leiserowitz u. a. (Hg.), Lesestunde/Lekcja czytania, Warszawa 2013, S. 351-369. 346 Makower, Pamiętnik, S. 201; auch APAN LH-157-70, Bl. 8, Kurs dla lekarzy z dziedziny chorób zakaznych i bakteriologii, maj-lipiec 1941.

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Epidemiologie und über ansteckende Krankheiten hören, über Fleckfieber, Tuberkulose, Epidemien in der Geschichte oder über »Krankenhauswesen und Sozialfürsorge in den Ghettos des früheren Polen« des bekannten Historikers Majer Bałaban.347 Solche Vorlesungen wurden abgehalten, um den offiziellen Namen der Kurse zu legitimieren und um den Besatzern die eigentliche Absicht der medizinischen Ausbildung zu verschleiern.348 Später wurde noch ein klinischer Kurs für Studierende des vierten und fünften Jahres eingerichtet, die im Krankenhaus als Laboranten und Krankenschwestern beschäftigt waren und wegen des hohen Arbeitsdrucks im Ghetto ihr Studium nicht hatten beenden können.349 Dieser Kurs begann am 10. Januar 1942, geplant waren 15 bis 20 Stunden wöchentlich mit einem theoretischen und einem klinischen Teil für 33 Studierende. Auch diesen Kurs finanzierte der Judenrat mit 1700 Złoty monatlich.350 Die Unterrichtsfächer waren breit gestreut und reichten über Krankheiten bei Kindern und Säuglingen über Bakteriologie, Chirurgie, Magenkrankheiten, Typhus-Bekämpfung, Serodiagnostik der Syphilis, aber auch neurologische Spezifika und Fragen der Pathologie.351 Darüber hinaus initiierte Hirszfeld pharmazeutische Kurse, denen die Deportationen von 1942 nach wenigen Monaten ein Ende setzten. Von den 44 Hörern in diesem Kurs waren 31 Frauen. An der Elektoralna-Straße gelang es, in einem Garten Heilkräuter zu kultivieren, die später den Krankenhäusern übergeben wurden.352 Zudem organisierte der Judenrat Kurse zur »Diagnostik, Therapie und Epidemiologie« von Fleckfieber, um einen Austausch der Ärztinnen und Ärzte untereinander über die grassierende Krankheit zu ermöglichen – ein solcher Kurs fand zum Beispiel in der Zeit vom 26.11. bis zum 8. 12. 1941 statt, und Hirszfeld hielt den Eröffnungsvortrag.353

347 Dieser Vortragstitel erstaunt, gab es doch im früheren Polen im engeren Sinne keine Ghettos, siehe Jürgen Heyde, Katrin Steffen, The »Ghetto« as Topographic Reality and Discursive Metaphor. Introduction, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Institutes / Simon Dubnow Institute Yearbook IV (2005), S. 423-430; sowie Jürgen Heyde, »Das neue Ghetto«? Raum, Wissen und jüdische Identität im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2019. 348 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 219. 349 Sakowska, Menschen im Ghetto, S. 147. 350 APAN LH-157-70, Bl. 2, Kurs Dokształcenia lekarskiego. 351 Ebd., Bl. 3: Program Wykładów Dokształcającego dla studentów szpitala »Czyste« za miesiąc czerwiec 1942. 352 APAN LH-157-70, Bl. 5, Kurs farmazeutyczny. 353 APAN LH-157-70, Bl. 10, Kurs Diagnostyki, terapii i epidemiologii duru plamistego zorganizowany przez Radę Zdrowia. 409 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Der Unterricht für die Studierenden der Medizin, der laut Henryk Makower sogar zur »Routine« geworden war, spiegelte sehr deutlich das Verlangen genau nach einer solchen »Routine« wider, in der sich die anfangs erwähnte soziale Normalität abbilden konnte. Dazu gehörte auch, dass Studierende des sanitären Ausbildungskurses einen akademischen Ball organisierten, bei dem die Stars der Kulturszene im Ghetto auftraten, die bekannte Sängerin Wiera Gran und die Brüder Rosenfeld.354 Ludwik Hirszfeld beobachtete neben dem Streben nach Normalität, zu dem zweifellos Freizeit gehörte, vor allem den Wissensdurst der Teilnehmenden, weil, so sein Eindruck, die Jugend im Ghetto nichts außer geistiger Arbeit habe. So seien die Vorlesungen zu einer Basis für intellektuelles Leben für Ärzte geworden.355 In einem wohl zeitgenössisch verfassten Text lobte er die Hoffnung der Jugend und deren Enthusiasmus, zu lernen und sich Wissen anzueignen, und kam zu dem Schluss: »Diese Jugend ist in dieser Zeit des Unglücks nicht gebrochen.«356 Scheinbar konnte Hirszfeld der spezifischen Situation im Ghetto sogar etwas Positives abgewinnen, eine Seite, die er retrospektiv und aus der Perspektive des Überlebenden »Lichtblick« nannte. Denn in der Atmosphäre des allgemeinen Unglücks könne das Unterrichten zu seinen ursprünglichen Aufgaben zurückkehren. Es sei nicht strikt auf einen Beruf ausgerichtet, sondern handele auch von Würde und Haltung. Schließlich könne man eine Sehnsucht erzeugen, an den zukünftigen Aufgaben der Wissenschaft und der Welt teilzunehmen. Hirszfeld lobte ein Gefühl von Opferbereitschaft und von Objektivität und akzentuierte, dass die Wissenschaft im Ghetto sich nicht den Anforderungen der Zeit unterordnen müsse. Im Ghetto, bei den leidenden Menschen, könne man die Losung vertreten, dass ein denkender Mensch nur der Wahrheit dienen soll.357 Aus diesen Überlegungen spricht Hirszfelds große, persönliche Enttäuschung über das Verhalten vieler deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich seiner Meinung nach eben genau den falschen Wahrheiten des Nationalsozialismus untergeordnet hätten. Dies konnte er ebenso wie die Tatsache, dass ihn die deutschen Ärzte in der Gesundheitsverwaltung in Warschau in das Ghetto vertrieben hatten, nicht nachvollziehen. Dagegen tritt sein epistemisches Ideal deutlich hervor: Er wollte der Wahrheit dienen, er verordnete sich im Wahren und dieser 354 AŻIH 301/4108, Relacja Zweibaum. 355 Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 266. 356 APAN LH-157-70, Bl. 35, Przemówienie na posiedzeniu Rady żydowskiej w sprawie szkolnictwa specjalnego, 28. 6. 1941. 357 Ebd. 410 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Maxime blieb er sein Leben lang treu. Ein Verständnis dafür, dass jegliche Wahrheit in der Wissenschaft sozial bedingt ist, auch wenn sie sich nicht politischen oder ideologischen Forderungen unterordnet, hat Hirszfeld nicht entwickelt. Zwar hatte er dies selbst immer wieder indirekt akzentuiert, etwa in seinem Nachdenken über die Generierung von Erkenntnis anhand des Rhesus-Faktors.358 Und auch seine Beschreibung der lokalen Bedingungen für die Generierung von Wissen und von Wissensvermittlung im Ghetto, in der er seiner Meinung nach ohne »Anforderungen der Zeit« authentisch unterrichten konnte, zielte in eine solche Richtung. Er brachte diese Konstellationen aber immer wieder mit Objektivität und Wahrheit in Verbindung, nicht mit der jeweiligen lokalen Bedingtheit von Wissen, die er gleichwohl selbst beschrieb. Glaubt man seinen Studierenden, so übertrug sich seine positive Einstellung zum Unterricht auf sie. Sie betonten vor allem, dass die Kurse ihrem Dasein einen Sinn verliehen: »In den Kursen fühlen wir uns gut. Hier haben wir eine Perspektive gewonnen, den Glauben, dass man noch Wissen akkumulieren kann, lernen und etwas im Leben erreichen kann. Das Verhältnis zu den Professoren war nah, freundschaftlich.«359 Ludwik Hirszfeld sei dabei als Lehrer unvergleichlich gewesen und habe ihnen Immunologie und Hämatologie beigebracht, in einer Umgebung, die als surreal und heroisch zugleich wahrgenommen wurde.360 Überlebende beschrieben ihn als talentierten Lehrer und spannenden Dozenten, als »Poeten seiner Wissenschaft«.361 Seine Anwesenheit trug auch zur Glaubwürdigkeit der Schule bei. Nun kann man die Frage stellen, warum die Lehrenden und Studierenden dieses gefährliche Unterfangen des geheimen Unterrichts im Warschauer Ghetto überhaupt auf sich genommen haben. Wie die Lebenswelten im Ghetto insgesamt, sind auch die Gründe dafür differenziert. Teilweise waren es pragmatische Gründe, teilweise idealistische. Eine zentrale Rolle spielte sicherlich, dass es eine große Gruppe von Studierenden gab, die keine andere intellektuelle Beschäftigung hatte. Zudem lieferten die vielen Patientinnen und Patienten im Ghetto umfangreiches Lehrmaterial.362 Für die Studierenden war dies der Versuch, ein normales Leben zu führen, konstatierte Hirszfeld: »Die Menschen sehnten sich nach Treffen, Vorlesungen, dem Austausch von Ideen, nach 358 359 360 361 362

Siehe dazu Kapitel 6.3. AŻIH 301/4261. Relacja Barbara Feilhendler.

Balińska, Medical School, S. 464. Roland, Medical School, S. 416. Ebd., S. 417. 411 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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allem, was ihrem Vorkriegsleben nahe kam.«363 Studierende bestätigten diese These: »Ich hatte das Gefühl, ich muss mich normal verhalten. Alles ist normal, anders kann ich nicht existieren.«364 Viele der Teilnehmenden waren gelangweilt und verzweifelt: »Wir hatten die Wahl zwischen totaler Verzweiflung, totaler Demoralisierung, Selbstmord, Eskapismus und dem Aufnehmen eines Studiums.«365 Ein anderer Überlebender erinnerte sich: »Wir bekamen eine Perspektive und den Glauben, dass wir uns Wissen aneignen können, lernen und etwas im Leben erreichen.«366 Einige Studierende schlossen die Ausbildung ab, die sie bereits vor dem Krieg begonnen hatten, andere wurden von ihren Eltern geschickt, die ebenfalls im Gesundheitswesen arbeiteten. Viele der Überlebenden berichteten, dass das Studieren für sie eine Form von Rebellion darstellte, einen Widerstand gegen die vollständige Fremdbestimmung ihrer Existenz durch die Deutschen. Schließlich glaubten bis 1942 viele an das Überleben und wollten sich auf eine Zukunft vorbereiten.367 Nach dem 22. Juli 1942, als die »Große Aktion« begann, in der Tausende von Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager, besonders nach Treblinka, geschickt wurden, war es mit diesem Glauben vorbei. Die Hirszfelds, die sich bereits zuvor Gedanken über Flucht gemacht hatten, sahen für sich nun keine andere Möglichkeit mehr, als ebenfalls zu fliehen – das ethische Dilemma, »Unglückliche im Stich zu lassen«, wie Hirszfeld es selbst formulierte, überwog nicht den Wunsch, Frau und Kind zu retten.368 Hirszfeld hatte die Flucht bereits vorbereitet, als er noch seinen Passierschein hatte und das Ghetto verlassen konnte. Es gelang ihnen, entweder kurz vor oder nach Beginn der Aktion im Sommer 1942 zu fliehen. Eine Reihe von nichtjüdischen Freunden und Freundinnen sowie Bekannten aus Kollegenkreisen half ihnen dabei. Zur Feier seines 40-jährigen Dienstjubiläums im Jahr 1947 zählte Hirszfeld einige von ihnen auf, weil er, so seine Worte, ihnen öffentlich die Ehre erweisen und seine Dankbarkeit ausdrücken wollte: »Und so muss ich daran erinnern, dass Przesmycki mir falsche Bescheinigungen ausstellte, dass Szniolis mir, wie er nur konnte, in der sanitären Organisation des Ghettos half, dass ich bei den Starkiewiczs und den Grabkowskis und bei Frau Kenigowa einen Zufluchtsort fand, dass Herr Potocki mir die Flucht

363 364 365 366 367 368

Ebd. Ebd. Zitiert bei Roland, Medical School, S. 417. Ebd. Ebd., S. 418. Hirszfeld, Geschichte eines Lebens, S. 296.

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organisierte, dass Zosia Ossowska mich gepflegt hat.«369 Das genaue Datum der Flucht ist unbekannt – im Vorwort der englischsprachigen Autobiographie ist von 1943 die Rede – dieses Datum ist allerdings zu spät angesetzt.370 Da Hirszfeld am 28. Juni 1942 noch einem Vortrag von Adam Czerniaków beiwohnte, muss die Flucht danach erfolgt sein – Henryk Makower gab an, die Hirszfelds seien rasch nach Beginn der »Aktion« geflohen.371 Sie verblieben zunächst einige Wochen in Warschau, bevor sie sich an verschiedenen Orten auf dem Land versteckten. Es gelang Hirszfeld allerdings nicht, seine Tochter zu retten, die in einem der Verstecke starb.372 Sie war an einer schweren Grippe mit hohem Fieber erkrankt, von der sie sich aufgrund eines allgemeinen Erschöpfungszustands nicht wieder erholte.373 In seinen Verstecken verfasste Hirszfeld seine Autobiographie, die 1946 erstmalig erschien und sogleich Kontroversen auslöste – vor allem wegen seiner Schilderung jüdischen Lebens im Ghetto, das von viele Jüdinnen und Juden in Polen als Anmaßung aufgefasst wurde, weil Hirszfeld dazu neigte, kollektive Urteile über »die Juden« zu fällen – die er aber doch laut seiner Selbstaussage gar nicht gekannt habe.374 Seine Stellung als getaufter Jude in der Ghettogemeinschaft war jedenfalls keine einfache, zumal er zusätzlich mit den erwähnten Privilegien von Ärztinnen und Ärzten versehen war: Er hatte Arbeit, er konnte seinem Dasein einen Sinn verleihen, er versuchte, seinen epistemischen Idealen besonders von »Wahrheit« unter den Ausnahmebedingungen treu zu bleiben und an den alten beruflichen Status anzuknüpfen. Aus dieser Position heraus und in der Retrospektive konnte er den lokalen Bedingungen des Unterrichtens im Ghetto, ohne unmittelbaren Leistungsdruck und ohne die »soziale Normalität« der Außenwelt, sogar Positives abgewinnen. Er nahm die Atmosphäre von leidenschaftlichem Lernen als ideal für eine der Wahrheit verpflichtete Wissenschaft wahr. Seine professionelle Arbeit aufrecht zu erhalten, gelang ihm unter den Bedingungen des Ghettos, so gut es eben ging: Er konnte unter den un369 APAN LH III-157-76, Bl. 12-17, Redemanuskript Ludwik Hirszfeld vom 25. 10. 1947. 370 Balińska, Schneider, Introduction, in: Dies., Ludwik Hirszfeld, S. xv-xxxii, S. xxiii. 371 Makower, Pamiętnik, S. 64. 372 Die Todesursache wird unterschiedlich beschrieben, Balińska schreibt von Anorexia, andere nennen Lungenentzündung, Tuberkulose und Entkräftung; siehe Balińska, Schneider, Introduction, S. xxvi. 373 Witold Bereś, Krzysztof Brunetko, Marek Edelman, Życie. Do końca, Warszawa 2013, S. 111. 374 Diese Kontroverse wird ausführlicher im Kapitel zur Rezeption Hirszfelds behandelt. 413 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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günstigsten Bedingungen sogar Forschungen fortführen und neue initiieren. Er kommunizierte mit den deutschen Besatzern und passte sich, weil er keine andere Wahl hatte, an die Strukturen im Ghetto und im Judenrat an. Er versuchte, die Prämissen und Handlungen der deutschen Gesundheitspolitiker als das zu entlarven, was sie waren, als Teil genozidalen Vernichtungswillens. Er war bemüht, die sinnlosen Anweisungen der Deutschen vor in allem der Fleckfieberbekämpfung zu verbessern und zu unterlaufen – an der herrschenden Gesamtsituation mochte dies wenig ändern, für die Bewohnerinnen und Bewohner des Ghettos aber zählte jeder nicht ausgebrochene Fall von Fleckfieber viel. Insofern waren sein Handeln in der Gesundheitspolitik, sein Unterrichten und seine Bemühungen, Forschungen fortzuführen und mit anderen Ärztinnen und Ärzten zu diskutieren, auch Akte widerständigen Handelns, die sein Leben gefährdeten. 5.5 Die Herstellung von Sinn in den Grauzonen der Okkupation

Das Ziel der deutschen Besatzer, die gesellschaftliche Rolle von Wissenschaft und einer wissenschaftlichen Ausbildung in Warschau und in Polen gänzlich auszuschalten, konnte insofern erreicht werden, als fast alle wissenschaftlichen Institutionen geschlossen und die Verdienstmöglichkeiten in diesem Feld extrem begrenzt worden waren. Nur dort, wo die Besatzer für die Kriegswirtschaft auf für sie nützliches Wissen und Fachkräfte angewiesen waren, ließen sie wissenschaftliche Ausbildung unter Beteiligung polnischer Hochschullehrerinnen und -lehrer zu und suchten sowohl Wissen als auch Ausstattung für ihre Zwecke auszunutzen. Davon profitierten zum Teil auch die Beherrschten, konnten sie doch in ihren Berufen bezahlten Arbeiten nachgehen, waren vor Verschleppung und Zwangsarbeit geschützt oder konnten eine Ausbildung beginnen bzw. beenden. Dies geschah nicht auf einer Ebene gleichberechtigter Partnerinnen und Partner – zwar konnten so etwa die verschiedenen Institute am Polytechnikum Warschau weiterarbeiten, sie hatten sich aber im Rahmen asymmetrischer Machtverhältnisse den Bedürfnissen der Besatzer unterzuordnen. Aufgrund des Widerstandswillens weiter Teile der polnischen Gesellschaft waren die deutschen Besatzer letztlich aber nicht in der Lage, das von ihnen begrenzt Zugelassene oder Verbotene gänzlich zu kontrollieren. Dies gilt für jegliche Formen von Wissenschaft und Bildung, die im Untergrund stattfand. Dazu muss man auch die medizinische Ausbildung im Warschauer Ghetto zählen, wiewohl die Bedingungen im Ghetto wegen der stets vorhandenen Todesdrohung für alle Jüdinnen und Juden noch erschwerter waren. 414 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Die Leben von Jan Czochralski und von Ludwik Hirszfeld waren von den Versuchen geprägt, ihrem Leben weiterhin Sinn zu verleihen und dafür einen wissenschaftlichen Alltag aufrecht zu erhalten. Dies gelang beiden begrenzt, aber es gelang. Während die Besatzer in Bezug auf die jüdische Gesellschaft keinerlei Strategien außer deren möglichst vollständige Ermordung verfolgten, strebten sie in Bezug auf die nichtjüdische Gesellschaft nach einer Herrschaft, die in den Feldern, wo es für sie wie in der Kriegswirtschaft nützlich war, auch auf »Fügsamkeit« (Max Weber) zielte – also eine Herrschaft, die zugleich akzeptiert wird und der zugestimmt wird. So jedenfalls traten die Besatzer an der Technischen Hochschule in Warschau auf.375 Czochralski und Hirszfeld wollten sich jeweils über die von den Herrschenden aufgestellten Regeln hinwegsetzen und verhielten sich in dem Rahmen, in dem sie dies konnten, auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität widerständig. Sie wollten forschen, wo Forschung verboten war, unterrichten, wo dieses mit dem Tod hätte geahndet werden können, anderen helfen, wenn sie dies konnten. Dies konnten sie vor allem deswegen, weil sie, abhängig von der Konstellation, in der sie sich während der Besatzung überwiegend befanden, jeweils privilegiert waren, wenngleich diese Privilegien als relativ einzuschätzen sind, und dies gilt besonders für das Leben im Warschauer Ghetto. Jan Czochralski hatte im Vergleich zu anderen Angehörigen der Intelligenz weiterhin Verdienstmöglichkeiten, er hatte Kontakt zu den Besatzern, obwohl wir den genauen Charakter dieser Kontakte nicht kennen, und er musste nicht täglich um sein Leben fürchten. Seine Expertise war nach wie vor gefragt, und zwar sowohl von den deutschen Besatzern als auch dem polnischen Untergrund. In dieser Situation ist er den fundamentalen Kompromiss eingegangen, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten – es war eine Situation von Hinnehmen und Mitmachen, die für ihn einen Sinn ergeben hat, wenngleich wir nicht wissen, zu was Czochralski möglicherweise gezwungen wurde. Es scheint, als habe er sich mit den Besatzern genau in dem Maße eingelassen, wie er es musste, während er gleichzeitig seine eigenen Ziele von Forschung, Verdienst und einem weitgehend unbehelligten Leben so weit verfolgte, wie die Besatzungssituation es zuließ. Die Expertise von Ludwik Hirszfeld hingegen wollten die Herrschenden nicht nutzen und stellten ihre Rassenideologie über sein Wissen, von dem sie letztlich nur hätten profitieren können. Gefragt war seine Expertise gleichwohl im Ghetto, wo er versuchte, sie in der eng begrenzten und 375 Lüdtke, Herrschaft, S. 58. 415 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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als Zwangsgemeinschaft begründeten Gesellschaft in den Arenen anzuwenden, mit denen er aus den Vorkriegsjahren vertraut war. Im Vergleich zu anderen Ghettobewohnerinnen und -bewohnern war auch Ludwik Hirszfeld privilegiert, als Christ hatte er einen vergleichsweise guten Wohnort, er hatte eine »Arbeitsstelle« in seinem bakteriologischen Labor, er konnte sich als Arzt, Experte und Lehrer gebraucht fühlen, während so viele andere in dieser Zeit jeglicher Beschäftigungsmöglichkeiten und damit auch einer Sinnstiftung beraubt worden waren. Er fühlte sich zwar als Objekt der Besatzungspolitik, war aber gleichfalls stets bemüht, als Subjekt zu agieren, eben nicht passiv sein Schicksal zu ertragen. Für ihn gilt weitaus stärker als für Czochralski: Diese Privilegierung war ausgesprochen relativ, denn im Ghetto waren die asymmetrischen Machtverhältnisse noch ausgeprägter als außerhalb der Ghettomauern, und soziale Normalitäten aus der Vorkriegszeit waren weitgehend außer Kraft gesetzt, ganz unabhängig davon, wie sehr sich die Bewohnerinnen und Bewohner bemühten, sie aufrecht zu erhalten. Selbst wenn Ludwik Hirszfeld privilegiert war, die Ghettomauer setzte diesen Privilegien eine enge Grenze, mit der er immer wieder konfrontiert war. Auf je unterschiedliche Weise begegneten ihre Landsleute den beiden Wissenschaftlern wegen ihrer beschränkt privilegierten Stellungen während der Okkupation mit Misstrauen, obwohl beide ihre Stellungen auch dafür einsetzten, anderen zu helfen und sich nicht nur rücksichtslos Vorteile für sich selbst verschafften – wie ihnen verschiedentlich vorgehalten worden ist. Czochralski Kontakte zu den Okkupanten führten dazu, dass ihm einige seiner Landsleute mit Reserviertheit begegneten. Sie trauten ihm nicht, weil sein eigensinniges Verhalten nicht nur als Objekt der Besatzer, sondern auch als Subjekt in der Besatzungsgesellschaft als uneindeutig und damit potentiell als rücksichtslos und schädlich angesehen wurde – eine Vielfarbigkeit seiner Person unter den Bedingungen von Besatzung sollte ihm nicht zugestanden werden. In Hirszfelds Fall weckte seine Stellung als getaufter Jude Misstrauen, weil sie ihm Kontakte zur sogenannten arischen Seite verschaffte und diese Kontakte Privilegien wie eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln bedeuteten oder auch die Möglichkeit zur Flucht.376 Denn die Flucht war vor allem für diejenigen möglich, die gute Kontakte auf der »arischen Seite« hatten oder, wie Marek Edelman festgehalten hat, sehr viel Geld.377 Diese Kontakte hatte Hirszfeld zweifellos. Zudem hatte er Zugang zu Lebensmitteln und durch seine Mitarbeit im Judenrat zu weiteren Vorteilen wie etwa dem Passier376 Person, Assimilated Jews, S. 36. 377 Edelman, Życie, S. 260. 416 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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schein, die anderen Jüdinnen und Juden nicht gegeben waren. Solche Vorteile konnten im Ghetto Leben retten.378 In beiden Fällen verlängerte sich das in der Okkupation herrschende Misstrauen in die Nachkriegszeit. Czochralski wurde moralisch verurteilt, weil er den vor allem retrospektiv erschaffenen Konsens verletzt hatte, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Die Schattierungen seines Handelns wurden ausgeblendet, stattdessen verlagerten sich die Konflikte aus der Zeit unmittelbar vor dem Krieg in den Krieg hinein und darüber hinaus. Zudem kollidierten die Erfahrungen von Czochralski unter fremder Besatzung mit denjenigen anderer Polinnen und Polen, die Gewalt, Ohnmacht, ökonomischem Zwang und ein Gefühl des Ausgeliefertseins an Obrigkeiten erdulden mussten. Diese unterschiedlichen Erfahrungen wurden dann in symbolischen Erinnerungspraktiken an das Leiden wie an den Widerstand aufgerufen – in diese Praktiken konnten Czochralskis Erfahrungen als zu wenig eindeutig nicht eingefügt werden. Und auch in Hirszfelds Fall vermisste ein Teil der polnischen Gesellschaft eine solche Eindeutigkeit: Er stieß bei vielen Juden und Jüdinnen in Polen besonders nach der Veröffentlichung seiner Autobiographie, in der er eine Trennung von »Ihr« (Juden) und »Wir« (Nichtjuden) beibehielt und zuweilen in einem mitleidigen Ton über »die Juden« sprach, auf ein moralisches Urteil.379 Zudem gab es das ethische Problem, das durch die Flucht der Hirszfelds entstanden war, nämlich die Frage, ob es Ärztinnen und Ärzten im Ghetto erlaubt gewesen sei, ihre Patientinnen und Patienten allein zurückzulassen. Hirszfeld erklärte sein Handeln damit, er habe sowohl seine kranke Tochter als auch seine Würde retten wollen. Dies wurde nicht von allen seinen Landsleuten und anderen Überlebenden akzeptiert. Der Vorwurf lautete: Man rettete die Würde, wenn man im Ghetto verblieb.380 Es fand also eine moralische Verurteilung Hirszfelds statt, obwohl auch er sich in der Zwangssituation befunden hatte. Primo Levi hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Grauzone geprägt, der das Dilemma beschreibt, in der Zwangssituation von Lager und Ghettos mit den Autoritäten zusammenzuarbeiten und Dinge zu tun, die anderen schaden, wieder anderen und/oder einem selbst aber nutzen und das Überleben sichern konnten. Diese Form der Zwangskooperation schien die Grenzen zwischen »Tätern« und »Opfern« zu verwischen, was dazu führte, dass die Beteiligten nach dem Krieg moralisch verurteilt wurden. Levi selbst stellte in Frage, ob ein solches 378 Brown, Judging Priviliged Jews, S. 6. 379 Hirszfeld, Story of one life, S. 196-197. 380 Grupińska, Ciągle po kole, S. 139. 417 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Handeln angesichts der unvorstellbaren Zwangssituation, die von den Herrschenden geschaffen wurde, überhaupt be- oder verurteilt werden darf und vor allem, wer berechtigt sein sollte, ein solches Urteil zu fällen.381 Anhand beider Lebensläufe lassen sich statt moralischer Urteile eher unterschiedliche Handlungsräume, Zwänge und Widersprüchlichkeiten des sozialen Lebens unter den Bedingungen von Besatzung herausstellen. Die Verhaltensformen und -normen einer besetzten Gesellschaft waren wenig eindeutig und beinhalteten sowohl Kooperation wie auch Differenz und Reibung, Hinnehmen, Ausweichen und Ausnutzen.382 Verwunderlich ist dies nicht, denn Besatzungsherrschaft ist immer als soziale Praxis zu sehen, als ein Kräftefeld, in dem Macht durchgesetzt und Herrschaft begründet oder bezweifelt werden. Zwischen Herrschenden und Beherrschten, aber auch zwischen den Beherrschten untereinander offenbaren sich Widersprüche und Ungleichheiten, die sich, bei allen gravierenden Unterschieden, auch in den Leben von Hirszfeld und Czochralski wiederfinden.383

381 Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn, München 1993. 382 Lüdtke, Herrschaft, S. 13. 383 Ebd., S. 14. 418 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

6 Neu anfangen, absteigen und wieder aufsteigen Als mit dem Vorrücken der Roten Armee im Verlauf des Jahres 1944 das Ende des Zweiten Weltkriegs nahte, erhofften sich viele Menschen auf dem europäischen Kontinent eine klare Zäsur zu den Erfahrungen einer gewalttätigen, grausamen Besatzungspolitik hin zu einem friedlichen Zusammenleben in eigenen staatlichen Strukturen. Dies blieb in zahlreichen Ländern Europas in vielerlei Hinsicht eine unerfüllte Hoffnung. Zwar unterliegt es keinem Zweifel, dass sich das Leben für die Menschen in vielen Orten Europas nach dem Rückzug und schließlich der Kapitulation der Deutschen verbesserte, weil unmittelbare Kriegshandlungen, nationalsozialistischer Terror, Verfolgungen und Repressionen aufhörten und einen Neuanfang ermöglichten – dies gilt zum Beispiel für Ludwik Hirszfeld, der mit dem Vorrücken der Armee sein Versteck verlassen und seinen beruflichen Wiederaufstieg beginnen konnte. Gleichzeitig aber bedeutete das Kriegsende für eine große Anzahl der Bewohnerinnen und Bewohner des europäischen Kontinents keine rasche Rückkehr zum ersehnten Frieden. An kaum einem Ort in Europa kehrte wirklich Ruhe ein. Überall herrschten Hunger und Not, es gab mancherorts trotz des vermeintlichen Friedens mehr Gewalt als zuvor, das Geld war nichts mehr wert, die Schwarzmärkte blühten. Angesichts der grausamen Taten, die Menschen anderen Menschen während des Krieges angetan hatten, bahnten sich vielerorts Rachegefühle ihren Lauf.1 Im östlichen Teil des Kontinents führte die allmähliche Übernahme der Macht durch sowjet-

1 Siehe zu dieser Zeit für Europa Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006 sowie populärer Keith Lowe, Der wilde Kontinent: Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950, Stuttgart 2014; für Polen vor allem Marcin Zaremba, Wielka trwoga: Polska 1944-1947: Ludowa reakcja na kryzys, Kraków 2012 (auf Deutsch als: Die große Angst. Polen 1944-1947: Leben im Ausnahmezustand, Paderborn 2016), wenngleich die in dem Buch enthaltene These von Angst als dem leitenden Handlungsmotiv unter anderem für Gewalt in der Nachkriegszeit auch kritisch zu betrachten ist, da sich zum Beispiel im Vorgehen gegenüber Juden, Deutschen oder Ukrainern nicht nur unmittelbar mit dem Krieg oder der Nachkriegszeit zusammenhängende Emotionen entluden, sondern auch seit langem existierender Antisemitismus und Chauvinismus. Darauf, dass Gewalt kein zwingendes Phänomen im Nachkrieg ist, sondern eine situationsbezogene Handlungsoption, die zugleich in enger Verbindung mit vorherigen Konflikten und mit erwarteten neuen Machtkonstellationen steht, verweist Claudia Kemper, Wann ist der Krieg vorbei? Gewalterfahrungen im Übergang vom Nachkrieg zum Frieden, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 15/2 (2018), URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2018/id=5596 (Zugriff am 10. 11. 2020), Druckausgabe: S. 340-357. 419 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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treue Regierungen darüber hinaus zu gewalttätigen Repressionen gegenüber den Gegnerinnen und Gegnern dieser Regime. Zudem waren in ganz Europa infolge des Krieges Millionen von Menschen entwurzelt, Menschen, die aufgrund von Verschleppung oder Flucht während des Krieges oder aufgrund der Grenzverschiebungen und der neuen politischen Ordnungen nach dem Krieg Teil gigantischer Migrationsprozesse wurden. In Polen war das Leben bereits während des Krieges von zahlreichen, rassistisch motivierten Massenvertreibungen der polnischen jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung und Umsiedlungen sogenannter Volksdeutscher gekennzeichnet gewesen. Seit 1944 musste Polen im Zuge seiner Westverschiebung und des Zugewinns von Territorien in Ostpreußen, Pommern und Schlesien einen großen Teil seiner ostpolnischen Gebiete an die Sowjetunion abtreten, darunter die Stadt Lemberg mit ihrer Universität und dem Polytechnikum ebenso wie Wilna mit der dortigen Universität. Während die deutsche Bevölkerung aus den neuen polnischen Nord- und Westgebieten floh oder sie ab 1946 zwangsweise verlassen musste, kamen etwa 1,7 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner Ostpolens in das neue Polen und siedelten sich in Zentralpolen oder den West- und Nordgebieten an. Darunter befanden sich auch Hunderttausende polnischer Jüdinnen und Juden, die den Krieg als Flüchtlinge in der Sowjetunion überlebt hatten. Kamen sie an ihre alten Wohnorte vor allem in den östlichen und zentralen Landesteilen, trafen sie zum Teil auf einen gewalttätigen Antisemitismus. Obwohl sich antisemitische Gewalt oft an Eigentumsfragen entzündete, war doch das private Eigentum von geflohenen Juden nicht selten von neuen Besitzerinnen und Besitzern angeeignet worden, dürften langlebigere Einstellungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung eine größere Rolle für diese Gewalt gespielt haben, wie Joanna Tokarska-Bakir in ihrer Studie über das Pogrom in Kielce im Jahr 1946 dargelegt hat.2 Dazu gehörte zum Beispiel die tief verwurzelte, antijudaistische Überzeugung, dass Juden christliches Blut benötigten – in der Argumentation nach dem Krieg tauchte in der antisemitischen Imagination das Bild auf, das christliche Blut solle für Bluttransfusionen genutzt werden, um die aus dem Leben in Lagern und in Verstecken geschwächte jüdische Bevölkerung zu stärken. Diese Mär scheint im Nachkriegspolen weit verbreitet gewesen zu sein – und weil Ludwik Hirszfeld, wie geschildert, stets versuchte, das Blutspendewesen in Polen stärker zu etablieren, spielte er in Konversationen über dieses Thema eine Rolle. In den Erinnerungen des Mathematikers Hugo Stein2 Joanna Tokarska-Bakir, Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego, Warszawa 2018. 420 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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haus findet sich dazu folgende Passage aus dem September 1946: »Prof. Kowarzyk versicherte mir nach seiner Rückkehr aus Krakau, dass ein Teil der sog. Intelligenz an den vervollkommneten Ritualmord glaubt, mit der er die Vorkommnisse in Kielce erklärt. Wie bekannt, ist die Transfusion (eine Erfindung des Juden Hirszfeld) von kindlichem Blut für die Rettung ausgezehrter Juden in Russland erforderlich.«3 Antisemitische Gewalt erwuchs aber auch aus der Nachkriegssituation, in der Jüdinnen und Juden im Gegensatz zur Vorkriegszeit Positionen in der staatlichen und lokalen Verwaltung oder den Sicherheitskräften übernahmen, weil das neue Regime es ihnen gestattete – damit wurde ein sozialer Konsens aus der Vorkriegszeit verletzt, in denen der jüdischen Bevölkerung solche Posten weitgehend vorenthalten worden waren. Aufgrund dieser Gewaltkonstellation im östlichen und zentralen Polen lenkte die Regierung Jüdinnen und Juden gezielt in die neuen Nord- und Westgebiete. Dort sollten sie über die Besiedlung die neue Staatsmacht und die Polonität in diesen Gebieten stärken – eine fast paradox anmutende Situation, war ihnen doch vor dem Krieg häufig jegliche Fähigkeit abgesprochen worden, an einem national eng definierten Konzept von Polonität zu partizipieren und es mitzugestalten. Nun aber sollten sie, neben weiteren polnischen Siedlerinnen und Siedlern, die Polonität in den neuen Gebieten manifestieren und vollendete Tatsachen schaffen.4 Die Nachkriegszeit verkörperte insgesamt eine Zeit extrem hoher Mobilität mit weitreichenden Folgen. Häufig erfolgte diese Mobilität unter Anwendung von direktem Zwang und Gewalt, zum Teil resultierte sie aus situativen Zwangssituationen wie Hunger, mangelndem Wohnraum, fehlenden Arbeitsmöglichkeiten oder Stigmatisierung; nur in wenigen Fällen kann man von freiwilliger Migration sprechen. Nicht nur wegen dieser Migrationsprozesse war die Nachkriegszeit von erheblichen sozialen Verschiebungen und demographischen Veränderungen gekennzeichnet. Die jüdische Bevölkerung Polens war zu einem großen Teil ermordet worden. Damit fehlten 40-50 Prozent der Handwerker und 60 Prozent der im Handel tätigen Personen in Polen.5 Die jüdische und die nichtjüdische polnische Intelligenz war ebenfalls erheblich dezimiert – ein Viertel aller 3 Hugo Steinhaus, Erinnerungen und Aufzeichnungen, Bd. II, Dresden 2010, S. 123. 4 Siehe zum Beispiel Kamil Kijek, Aliens in the Land of Piast: The Polonization of Lower Silesia and Its Jewish Community in the Years 1945-1950, in: Tobias Grill (Hg.), Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories, Oldenburg 2018, S. 234-255. 5 Siehe Janusz Żarnowski, State, society and intelligentsia. Modern Poland and its regional context, darin Kap. XVII: Die Folgewirkungen von Krieg und Okkupation und die Entwicklung der sozialen Klassen in Polen 1945-1948 (zuerst 1995), Aldershot 2003, S. 4. 421 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Akademikerinnen und Akademiker war ermordet worden, und die freien Berufe hatten Verluste von bis zu 50-60 Prozent zu beklagen.6 Viele Polinnen und Polen hatten darüber hinaus als Angehörige des Widerstands und vor allem im Warschauer Aufstand ihr Leben verloren. Keine Schicht in Polen war von den Folgen des Krieges unberührt geblieben, wobei die Verluste unter der Landbevölkerung am niedrigsten waren.7 Das überwiegend städtische jüdische und deutsche Bürgertum, das im Handel und in der Industrie tragende Rollen eingenommen hatte, fiel ebenfalls weg. Die vormals eingenommenen Rollen als Industrielle, Händler oder Mittelständler mussten von anderen übernommen werden, die zum Teil auf diese Aufgabe nur schlecht vorbereitet waren.8 Viele vormals in ländlichen Gebieten angesiedelte Polinnen und Polen strebten in die Städte, in denen zum Teil die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner neu Zugezogene stellten. Dies gilt nicht nur für die neuen Gebiete und deren Großstädte wie Danzig, Stettin oder Breslau, sondern zum Beispiel auch für Warschau. Diese sozialen Verschiebungen veränderten die Städte im Vergleich zur Vorkriegszeit maßgeblich.9 Insgesamt stand Polen nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen materiellen und menschlichen Verlusten erneut vor einem erheblichen Umbruch – in neuen staatlichen Grenzen und mit einem neuen politischen und wirtschaftlichem System, dem Staatssozialismus, dessen Repräsentanten wie in der Sowjetunion den Anspruch erhoben, die Gesellschaft und damit auch die Wissenschaft in Polen umfassend beeinflussen und kontrollieren zu wollen. Politisch bestimmte die allmähliche Machtübernahme des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego, PKWN), des sogenannten Lubliner Komitees, die Atmosphäre und den Wiederaufbau staatlicher, wirtschaftlicher und kultureller Strukturen in Polen. Dieses von der Sowjetunion gestützte kommunistische Komitee regierte seit Juli 1944 von Lublin aus das von der Roten Armee besetzte Gebiet zwischen Weichsel und Bug. Es behauptete, von Warschau »berufen« worden zu sein, nämlich durch den am Jahreswechsel 1943/44 entstandenen Landesnationalrat (Krajowa Rada Narodowa, KRN), einer parlamentsähnlichen politischen Einrichtung. Sie vereinigte unter kommunistischer Führung einige Personen und Gruppierungen, die nicht Mitglied der Polnischen Arbeiterpartei 6 Ebd., S. 6 7 Ebd., S. 8. 8 Andrzej Leder, Prześniona rewolucja. Ćwiczenia z logiki historycznej, Warszawa 2014; auf Deutsch als: Polen im Wachtraum. Die Revolution 1939-1956 und ihre Folgen, Osnabrück 2019. 9 Antoni Libera, Czy Warszawa da się lubić?, in: Więż 4/570 (2006), S. 25-28, S. 26. 422 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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(Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) waren, sollte aber die Übernahme der Macht durch die polnischen Kommunisten vorbereiten. Das Komitee vermied daher das Wort »kommunistisch« und betonte die nationale Solidarität der Polen im Kampf gegen die Deutschen.10 Es stand in scharfer Opposition zur polnischen Exilregierung in London, der jegliche Legitimation einer politischen Vertretung in Polen abgesprochen wurde – das Komitee bezeichnete sich, obwohl die Kommunistinnen und Kommunisten mit ihren Verbündeten eine kleine Minderheit darstellten, die sich vor allem auf die Rote Armee stützte, als »einzige legale Quelle der Macht in Polen«.11 Am 1. Januar 1945 wurde das Komitee in die Polnische Provisorische Regierung (Rząd Tymczasowy Rzeczypospolitej Polskiej) und wenig später in die Provisorische Regierung der Nationalen Einheit (Tymczasowy Rząd Jedności Narodowej) umgebildet. Andere politische Kräfte und Parteien unterlagen einer allmählichen Marginalisierung und Ausschaltung. Die Sowjetisierung Polens als Teil eines größeren Plans der Sowjetunion, sich im östlichen Europa Satellitenstaaten zu schaffen, nahm mit tatkräftiger Hilfe polnischer Kommunisten an Fahrt auf. Dies ging nicht ohne Gewalt vonstatten: Die Mitglieder der national-bürgerlichen Heimatarmee und Widerstandskämpfer wurden nun als Verräter diskreditiert und verfolgt. Die Gewalt zwischen diesen Gruppen und ihren Anhängern, die sich unversöhnlich gegenüberstanden und die Gesellschaft spalteten, hielt noch lange Jahre nach 1945 an. Symptomatisch für diese Atmosphäre war, dass Ludwik Hirszfeld ein Kapitel seiner Autobiographie, das seine Flucht aus dem Ghetto mithilfe der Heimatarmee behandelte, vor der Veröffentlichung im Jahr 1946 wieder strich.12 Offenbar befürchtete er politische Konsequenzen. Wie Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld unter diesen Bedingungen ihr Leben nach 1944/45 aktiv gestalten konnten, welche Handlungsräume sie hatten oder wie diese nunmehr vom staatssozialistischen System begrenzt wurden, ist das Thema des folgenden Kapitels. Beide erlebten zum wiederholten Male einen Regimewechsel in ihrem Leben. Daher wird zu fragen sein, inwiefern sie erneut ihre Expertise zum Nutzen der Nation oder des Staates einbringen konnten oder wollten und inwieweit sie unter den Bedingungen des beginnenden Kalten Kriegs an ihren alten, transnationalen Netzwerken partizipieren konnten. Es geht also erneut darum, ob Kontinuität oder Diskontinuität ihr Leben bestimmten. 10 Borodziej, Geschichte Polens, S. 248. 11 Ebd. 12 Balińska, Schneider, Introduction, S. xxiii. 423 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Für die notwendige Kontextualisierung beider Lebenswege soll zuvor die Situation der Wissenschaften in Polen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Anfang der 1950er Jahre skizziert werden. 6.1 Wissenschaft im Spannungsfeld von Kontinuität und sowjetischer Neuausrichtung

Der erneute Aufbau einer funktionierenden Wissenschaftslandschaft mit Universitäten, wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien stellte eine große Herausforderung dar. Die Dezimierung der polnischen Eliten während des Zweiten Weltkriegs machte sich erheblich bemerkbar – so waren etwa an Hirszfelds alter Arbeitsstätte, dem Staatlichen HygieneInstitut, alle jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermordet worden; dies war mit ein Grund, warum Hirszfeld nicht nach Warschau in das Hygiene-Institut zurückkehren wollte. Insgesamt waren etwa 30 Prozent aller Gelehrten in Polen vor allem dem deutschen, aber auch dem sowjetischen Terror zum Opfer gefallen.13 Ähnlich wie 1918 befanden sich darüber hinaus zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Exil. Angesichts der politischen Situation in Polen zogen es nun viele vor, dort zu verbleiben.14 Aber es gab auch andere Konstellationen: Der bekannte Biochemiker Jakub Karol Parnas, mit dem Ludwik Hirszfeld befreundet war, durfte nicht nach Polen zurückkommen. Parnas war 1939 als Lehrender im ostpolnischen Lemberg unter die Herrschaft der Sowjetunion gekommen, hatte mit den neuen Machthabern kooperiert und war an der dortigen Universität verblieben. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wurde er in das Innere der Sowjetunion verbracht, bevor er 1943 nach Moskau geschickt wurde. Von dort ließen die Sowjets ihn nicht mehr nach Polen zurück.15 Hirszfeld setzte sich vergeblich für seine Rückkehr ein.16 Trotz der großen personellen Engpässe fingen die Hochschulen rasch wieder an zu arbeiten, oftmals auf den Trümmern der von Kampfhandlungen beschädigten Gebäude und ohne entsprechendes Lehrmaterial. Die von den Deutschen übernommene Universität in Breslau wurde 13 Piotr Matusak, Inteligencja techniczna w Polsce 1944-1956, in: Rocznik Historyczny Muzeum Historii Polskiego Ruchu Ludowego 24 (2008), S. 87-111, S. 88. 14 Stanisław Kunikowski, Towarzystwa naukowe ogólne w Polsce w XIX i XX wieku, Włocławek 1999, S. 87. 15 Jolanta Barańska, Andrzej Dżugaj, Janina Kwiatkowska-Korczak, Życie i tragiczna śmierć Jakuba Karola Parnasa, wybitnego polskiego biochemika, współodkrywcy glikolizy, in: Kosmos 57/1-2 (2008), S. 1-17 16 Balińska, Schneider, Introduction, S. xxvi. 424 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ebenso schnell wieder in Betrieb genommen, wie die Universitäten in Posen und Warschau aufgebaut und Neugründungen in Thorn und Lublin forciert wurden.17 Der Bedarf an Bildung war hoch und wuchs rasch. Die Hochschulen öffneten sich für breite soziale Schichten aus der Landbevölkerung und der Arbeiterschaft – diese Studierenden, die nicht selten mit großem Enthusiasmus zu Werke gingen, sollten zu Trägerinnen und Trägern des neuen Systems ausgebildet werden. Die Zahl der Studierenden verdoppelte sich bis zum Ende der 1940er Jahre, in der Medizin verdreifachte sie sich sogar fast.18 Der neue Rektor der Universität Breslau, Stanisław Kulczyński, ein Botaniker und ehemaliger Rektor der Jan-Kazimierz-Universität in Lemberg, der 1937 aus Protest gegen antisemitische Exzesse von diesem Posten zurückgetreten war, erklärte im Einklang mit den Vorgaben des neuen Regimes: »Die Universität hört auf, ein von der Welt abgeschlossener Wissenstempel zu sein, und sucht stattdessen eine Annäherung an die Gesellschaft, an breite Schichten.«19 Das sowjetische Modell der Hochschulbildung, das eine solche breite Öffnung propagierte, aber auch die Autonomie der Universitäten beschnitt, sie der Staatsmacht unterstellte und einer zentralen Planung unterwarf, konnte wegen Mangels an entsprechend politisch-ideologisch ausgerichtetem Personal nicht rasch umgesetzt werden. Daher stand zunächst im Vordergrund, die vorhandene akademische Substanz zu retten und die Strukturen der alten akademischen Wissenschaft mit denen der neuen Wirklichkeit des Staatssozialismus zu verbinden.20 Die Machthaber waren auf die Vertreter der älteren Professorenschaft angewiesen: Gerade in den technischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten war die Kontinuität der Lehrenden hoch, brauchte der Staat doch dringend – und dies ähnelte der Situation von 1918 – Experten und Expertinnen in diesen Wissensfeldern. Sie sollten die rasche Ausbildung derjenigen betreiben, die das teils verwüstete und von Deutschen und Sowjets ausgeplünderte Land als Ingenieurinnen und Ingenieure auf bauen, technologischen Fortschritt voranbringen und seine kranken Einwohnerinnen und Einwohner heilen konnten.21 Die Führung setzte daher auf einen evolutionären Ablösungsprozess der älteren Professoren 17 Vykoukal, Polnische Universitäten, S. 127. 18 Borodziej, Geschichte Polens, S. 275. 19 Piotr Hübner, Neue Universitäten in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte Bd. 4 (2001): Universitätsgeschichte in Osteuropa, S. 28-41, S. 40. 20 Hübner, Neue Universitäten, S. 28. 21 John Connelly, Captive University. The Sovietization of East German, Czech, and Polish Higher Education, 1944-1956, Chapel Hill, London 2000, S. 71. 425 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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durch Ausbildung neuer, systemtreuer Kräfte.22 Dies bedeutete, dass die ältere Professorenschaft nicht wegen ihrer Herkunft oder ihrer Verbindungen zum vormaligen System physisch bedroht oder umgebracht wurde, wie es andernorts im östlichen Europa während des Stalinismus geschah. Obwohl zuweilen »verdächtigen« Professoren der Lehrstuhl oder die Lehrerlaubnis entzogen wurde, und möglicherweise auch Jan Czochralski zum Opfer einer solchen Praxis der neuen Machthaber wurde, konnten die meisten von ihnen weiterarbeiten.23 Wie aber standen die Professoren selbst der neuen Konstellation gegenüber, die eine zunehmende Ideologisierung von Wissenschaft bedeutete, jedenfalls dort, wo staatliche Interessen berührt waren (und sie waren in so gut wie jedem Wissenschaftszweig berührt)?24 Unter denjenigen, die sich 1944/45 in Polen befanden, gab es eine große Bandbreite an Haltungen gegenüber der neuen Ordnung, die zum Teil generationell begründet waren: Ein großer Teil der Professorenschaft war bereits während der Zweiten Republik wissenschaftlich fest verankert und überwiegend konservativ eingestellt. In den Augen der neuen Machthaber galt diese ältere, professionelle Elite tendenziell als »reaktionär« und »feindlich«. Sie wurde, obwohl sie eine tragende Rolle im Aufbau von Wissenschaft spielen sollte, einer besonderen Kontrolle unterzogen.25 Ihr gegenüber stand eine Gruppe von Lehrenden, die sich mit der PZPR verband und nicht selten rasch hohe Funktionen im neuen Wissenschaftssystem übernahm – dazu gehörten sowohl ältere Gelehrte, die mit dem Kommunismus sympathisiert hatten, als auch jüngere, aufstrebende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diese Gruppe sollte die neue, kommunistisch geprägte Inteligencja bilden, wobei die Unterscheidung in »neu« und »alt« in Polen nicht ganz so scharf gezogen wurde wie in anderen Ländern des sozialistischen Lagers.26 Die neue Inteligencja sollte die Verwirklichung des von der 22 Markus Krzoska, Ein Land unterwegs. Kulturgeschichte Polens seit 1945, Paderborn 2015, S. 68. 23 Borodziej, Geschichte Polens, S. 281. 24 Auch wenn hier nicht näher darauf eingegangen werden kann, soll nicht unerwähnt bleiben, dass nicht nur die Wissenschaft im östlichen Europa von einer wachsenden Ideologisierung betroffen war, sondern im Zuge des Kalten Krieges ebenso die Wissenschaften in den USA und vielen westlichen Ländern, waren doch Wissen und Wissenschaft zentrale Kategorien in Zeiten der Systemkonfrontation; siehe dazu Christian Forstner, »Kalter Krieg«, in: Marianne Sommer, Staffan MüllerWille, Carsten Reinhardt (Hg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, S. 312-324; siehe auch Paul Erickson u. a. (Hg.), How Reason Almost Lost its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality, Chicago 2013. 25 Matusak, Inteligencja techniczna, S. 91. 26 Krzoska, Kulturgeschichte Polens, S. 68. 426 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Partei angestrebten Umbruchprozesses garantieren, unabhängig davon, ob sie die Fähigkeiten dazu in einer formalen Ausbildung oder in der Praxis erworben hatte.27 Nicht zuletzt waren viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber weder besonders konservativ, noch setzten sie sich für die Verwirklichung kommunistischer Ideen in Polen ein, sondern waren bereits in der Zwischenkriegszeit eher unpolitisch gewesen, wenngleich ihre Sympathien mehrheitlich der politischen Linken gehörten. Diese Gruppe, der auch Ludwik Hirszfeld zuzurechnen ist, spielte nach 1945 eine wichtige Rolle als Mediatoren zwischen der konservativ eingestellten Professorenschaft und den Repräsentanten der PZPR .28 Das Regime versuchte, die entstandene Konstellation für sich zu nutzen, um sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterzuordnen. So schrieb ein Mitarbeiter des Bildungsministeriums bereits im März 1945 in einem Memorandum: »Die Professoren sind im allgemeinen älter, ihre Gesundheit und ihre Nerven sind durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen, sie werden schlecht bezahlt. […] Dieser Zustand führt nicht dazu, dass sie sich in Opposition zu der Regierung begeben, sondern eher zum Kompromiss bereit sind. Sie haben jedoch ein gemeinsames Gefühl, ihre Ehre zu erhalten und es scheint, als wären sie bereit, die Freiheit der Wissenschaft zu verteidigen, selbst um den Preis persönlicher Unannehmlichkeiten. Diese Freiheit ist eine Fiktion, dennoch hat sie den Charakter eines Fetischs. Zur Verteidigung dieses Fetischs – was für uns sehr günstig ist – sind die Professoren bereit, weitreichende Konzessionen zu machen.«29 Obwohl die Mehrheit der polnischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler also kommunistische Ideen ablehnte, konnten ihre Interessen in partikularen und konkreten Angelegenheiten mit denen des Staates übereinstimmen – die Interessen drifteten zum Teil erst später auseinander. Dies galt etwa, wenn es um Fragen ging, die als existentiell für die Wiedererrichtung von Staatlichkeit erachtet wurden, etwa um die Ausbildung von Expertinnen und Experten in den neuen West- und Nordgebieten Polens und um die dortige Propaganda und Demonstration von Polonität. Es galt ebenso für Reformen im Wissenschaftssystem, denen sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht verschließen wollten. In der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war es daher zu relativ offen geführten Diskussionen darüber gekommen, wie Wissenschaft in Polen zukünftig zu organisieren sei – dies ent27 Ebd. 28 Connelly, Captive University, S. 83. 29 Zitiert nach Ryszard Herczyński, Spętana nauka. Opozycja intelektualna w Polsce 1945-1970, Warszawa 2008, S. 55-56. 427 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sprach der Tatsache, dass auch über das politische System in Polen noch debattiert wurde, ging man doch zumindest bis zur ersten Hälfte 1946 nicht davon aus, die künftige Entwicklung hin zu einem sowjetisierten Polen sei bereits besiegelt.30 Zum Teil gingen die Diskussionen von der Wissenschaft selbst aus, zum Teil initiierte die Regierung sie, weil sie das Milieu der Wissenschaft gewinnen wollte. Bolesław Bierut, der Vorsitzende des Landesnationalrates, wandte sich zum Beispiel an Stanisław Kutrzeba, den bekannten Krakauer Rechtswissenschaftler und gleichzeitigen Präsidenten der allpolnischen Krakauer Akademie der Gelehrsamkeit. Er sollte ein Projekt über die Organisation der Wissenschaft in Polen ausarbeiten.31 Kutrzeba verfasste ein Memorandum, in dem er die führende Rolle der Krakauer Akademie in der wissenschaftlichen Landschaft Polens betonte und sich gegen zu viel Planung und für die Freiheit der Wissenschaft aussprach.32 Gleichzeitig richteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Krakauer Universität und der Akademie im Januar 1946 eine Konferenz zu den Bedürfnissen der Wissenschaft in Polen aus.33 Auf dieser Konferenz forderten sie erneut die Unabhängigkeit der Wissenschaft von staatlichen Einflüssen: Sie wollten die Autonomie der Hochschulen und die Freiheit der Wissenschaften erhalten. Gleichzeitig erfolgten bereits Angriffe auf die Identität der »geistigen Arbeiter«, etwa durch einen der führenden Soziologen dieser Jahre, Józef Chałasiński, einen Schüler des bekannten Soziologen Florian Znaniecki, der die Inteligencja der Vorkriegsjahre und den verarmten Kleinadel als dekadente und engstirnige Elite anprangerte.34 Die Regierung arbeitete derweil eigene Pläne aus. Ein Dekret vom 28. Oktober 1947 regelte die rechtlichen Grundlagen der Universitäten und schränkte die Autonomie der Hochschulen ein. Die Regierung begründete diese Maßnahme als eine notwendige Modernisierung der polnischen Hochschulen, in der zentrale Planung das Zeichen der Zeit sei. Gegen eine Modernisierung der Hochschulen hatten viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nichts einzuwenden – gegen die Beschränkung der akademischen Freiheit aber sehr wohl.35 Das Dekret sah vor, die Hochschulen dem Bildungsminister zu unterstellen. Der Präsident der 30 31 32 33

Krystyna Kersten, Narodziny systemu władzy, Warszawa 1988, S. 207. Hübner, Siła przeciw rozumowi, S. 13 Ders., Last Flight, S. 81-85. Waldemar Rolbiecki, Geneza Polskiej Akademii Nauk (1930-1952), Wrocław u. a. 1990, S. 30-35; Hübner, Last Flight, S. 84-88. 34 So in seinem Essay Społeczna genealogia inteligencji polskiej, Warszawa 1946, deutsch in Ders.: Vergangenheit und Zukunft der polnischen Intelligenz, Marburg 1965, S. 52-147. 35 Connelly, Captive University, S. 111-112.

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Volksrepublik Polen sollte die Professorinnen und Professoren berufen, die Rektoren die Hochschulen lediglich im Namen des Bildungsministers leiten. Die traditionelle Struktur der Universität blieb zwar noch erhalten und das Dekret enthielt die Passage, dass wissenschaftliche Forschung frei sei. Die Selbstverwaltungsorgane der Hochschulen hatten aber kaum noch Entscheidungskompetenzen.36 Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler protestierten gegen diese Veränderungen, und intensiv geführte Diskussionen hielten bis Ende 1949 an. Das Dekret blieb nur bis 1951 in Kraft.37 Es wurde durch ein in jenem Jahr verabschiedetes Gesetz über das Höhere Schulwesen ersetzt, das die Universitäten zu Verwaltungseinheiten machte, die dem Minister unterstanden. So, wie sich die PZPR im Kampf um die Macht allmählich gegen alle anderen politischen Kräfte durchgesetzt hatte, so setzte sie nun auch ihr Ziel einer radikalen Diskontinuität in Bezug auf die Hochschulpolitik durch. De facto war die Autonomie der Universitäten abgeschafft – die Universitäten unterschieden sich kaum noch von anderen Arbeitsstätten, die ebenfalls dem Diktat von Planung unterworfen waren. Sie sollten nun Massenausbildung im Sinne von Planerfüllung leisten.38 Die Suche nach einer Verbindung zwischen dem alten und dem neuen Verständnis der Universität war unter den politischen Bedingungen nicht mehr möglich – die Zeit der Diskussionen über verschiedene Konzepte für die Universitäten hatte nur etwa zwei Jahre angehalten.39 Sie fanden um den Jahreswechsel 1948 /49 allmählich ein Ende, als die Regierung das wissenschaftliche Leben in Polen immer mehr kontrollierte.40 »Der Stalinismus brauchte Ingenieure und Ärzte, hingegen keine Debatten über deren Artikulationsmöglichkeiten jenseits professioneller Belange«, so Włodzimierz Borodziej, der hier en passant die bereits gezeigte Bedeutung der wissenschaftlichen Felder von Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld für Staatsauf bau und Machterhalt akzentuierte – wie dies in den vorherigen politischen Formationen schon gegolten hatte, so galt es auch im Staatssozialismus.41 Neben den »alten« Universitäten geriet die traditionsreiche Krakauer Akademie der Gelehrsamkeit immer stärker ins Kreuzfeuer der staats36 Vykoukal, Polnische Universitäten, S. 143. 37 Jan Lewandowski, Rodowód społeczny powojennej inteligencji polskiej (19441949), Szczecin 1991, S. 46-47. 38 Twierdza uniwersytet, czyli jak komuniści przejmowali władzę na uczelniach, Interview mit dem Historiker Błażej Brzostek, in: Newsweek Historia 2/2014. 39 Hübner, Neue Universitäten, S. 41. 40 Kunikowski, Towarzystwa naukowe, S. 93. 41 Borodziej, Geschichte Polens, S. 275. 429 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sozialistischen Kritik, erschien sie doch als ein »Asyl reaktionärer und konservativer Elemente«. Bemängelt wurde, dass sie keine eigenen Forschungsarbeiten durchführe und die Arbeit anderer Institute nicht koordiniere.42 Solche Aufgaben sollte eine neue »Akademie der Wissenschaften« nach sowjetischem Vorbild übernehmen. Unter anderem zu diesem Zweck fand im Jahr 1951 ein Kongress statt, der das Schicksal der Krakauer Akademie besiegeln sollte. Im Juni und Juli jenes Jahres versammelten sich in Warschau unter der aktiven Teilnahme von Ludwik Hirszfeld fast 2.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Ersten »Kongress der Polnischen Wissenschaft«. Sie zogen eine Bilanz des bisherigen Wiederaufbaus: 113.000 Studierende befanden sich an den Hochschulen, während 1938/39 nur etwa 50.000 Studierende eingeschrieben waren. Und an 86 Forschungseinrichtungen waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Teil in enger Zusammenarbeit mit der Industrie tätig.43 Führende Politiker Polens bestimmten auf dem Kongress den Standort der polnischen Wissenschaft. So verkündete Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz, Wissenschaft könne sich nur in enger Verbindung mit der Nation entwickeln. Zwar sei Wissenschaft auch international, sei doch ein guter Patriot ohnehin immer ein wahrhaftiger Internationalist. Daher diene die polnische Wissenschaft der polnischen Nation und gleichzeitig dem Wohl der ganzen Menschheit.44 Der Kosmopolitismus aber, der behaupten würde, dass Wissenschaft etwas Übernationales sei, führe zu ihrem Auslaugen und schneide sie von ihrer nationalen Grundlage ab.45 Hier gab sich der Vertreter des staatssozialistischen Regimes betont national und spielte mit dem »Kosmopolitismus« auf die antisemitische Kampagne in der UdSSR seit 1949 an. Darüber hinaus erinnerten seine Argumente auffallend an jene aus der Zwischenkriegszeit, in der ebenfalls die Bedeutung der Nation für die Entwicklung »eigener« Wissenschaft akzentuiert worden war. Offenbar erhoffte man sich, mit einem nationalen Kitt eine Kontinuität der Argumentation herzustellen, um das Wissenschaftsmilieu an das Regime zu binden und Akzeptanz zu erschaffen. Dies funktionierte in anderen gesellschaftlichen Feldern ebenso wie in der Wissenschaft. Während offiziell Internationalismus und Völkerfreundschaft verkündet wurden, stellte sich der Nationalismus der 42 Hübner, Siła przeciw rozumowi …, S. 176. 43 Edward Hałoń, Towarzystwa Naukowe w Polsce. Przeszłość i teraźniejszość, Warszawa 2003, S. 30; auch Jan Dembowski, Science in New Poland, London 1952, S. 21. 44 Z przemówienia Premiera Józefa Cyrankiewicza, in: Kwartalnik Historyczny 3-4 (1950/51), S. 246. 45 Kongres Nauki Polskiej, Warszawa 1953, S. 19. 430 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Kommunisten, der ihre Macht stabilisieren sollte, als überaus traditionell, fremdenfeindlich und antisemitisch dar.46 Offiziell grenzte sich der Kongress von den Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit ab. Denn die immer größere Abhängigkeit von ausländischem Kapital, eine faschistische Entwicklung des Landes, Rassismus sowie eine imperialistische Politik hätten eine ungünstige Atmosphäre für die Entwicklung der Wissenschaft geschaffen. Zudem kritisierte der Biologe Jan Dembowski, der Vorsitzende des Kongresses und später Vorsitzender der Akademie der Wissenschaften, dass die polnische Jugend nach deutschem Vorbild ausgebildet worden sei – die deutsche Wissenschaft habe man als höchste Autorität erachtet, sie sei aber eine Fessel gewesen, die allmählich von der amerikanischen ersetzt worden sei. Die fortschrittliche sowjetische Wissenschaft habe man hingegen vernachlässigt.47 Das antideutsche Argument war, wie bereits gezeigt, alles andere als neu, es hatte sich bereits in der Zweiten Republik in national ausgerichteten Kreisen einer gewissen Popularität erfreut. Neu war, dass es nach den Erfahrungen des Terrors des Zweiten Weltkriegs für viele noch überzeugender als in der Zweiten Republik war. In der antideutschen Stoßrichtung konnten sich nach den Erfahrungen des Krieges auch viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wiederfinden. Und so betonte auch Ludwik Hirszfeld 1947, seine Autobiographie repräsentiere »eine antideutsche und proslawische Richtung, und damit die Richtung der aktuellen polnischen Politik«.48 Trotz aller offiziellen Distanz bewegte sich Jan Dembowski in seiner Argumentation zum Teil erstaunlich nah an der Zwischenkriegszeit. Er rekapitulierte, die Wissenschaftler hätten nach 1918 Wissen häufig aus anderen Ländern und aus einer vergangenen Ära mit sich gebracht. Die weitere Entwicklung hingegen sah er keineswegs als positiv an, sei es doch nicht gelungen, Nachfolger für dieses Wissen hervorzubringen – die Errungenschaften der Zweiten Republik waren für ihn Errungenschaften einer vorherigen Epoche. Aus diesem Grund hätten sich junge Menschen von der Wissenschaft abgewandt. Dieses Argument verband er mit der mangelnden sozialen Befreiung in der Zweiten Republik, womit er die ausgebliebene Sozialreform meinte.49 Er behauptete weiterhin eine komplette Abhängigkeit von westlicher Wissenschaft, nutzte ebenfalls das Argument des »Kosmopolitismus« und kritisierte einen man46 Marcin Zaremba, Komunizm, legitymizacja, nacjonalizm. Nacjonalistyczna legitymizacja władzy komunistycznej w Polsce, Warszawa 2001, S. 399. 47 Kongres Nauki Polskiej, S. 50-53. 48 Privatarchiv von Jerzy W. Borejsza, Ludwik Hirszfeld an Jerzy Borejsza, 28. 10. 1947. 49 Dembowski, Science, S. 14-15. 431 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gelnden Glauben an die eigenen Fähigkeiten und eine Angst vor Risikobereitschaft – das alles habe sich ungünstig auf die Wissenschaft ausgewirkt. Auch diese Argumente waren bereits während der Zweiten Republik vorgebracht worden, nur nicht von kommunistischen Wissenschaftlern, sondern von national gesinnten. Im Unterschied zu jenen strebte das neue Regime nun nach mehr Planung und Koordination. So sollte eine immer wieder postulierte »Trennung der Wissenschaft vom Leben« aufgehoben werden, die als reaktionäres und elitäres Überbleibsel der Vorkriegszeit galt.50 Im Gegensatz setzte das System nun auf eine breite Öffnung der Wissenschaften, um sie stärker mit der Gesellschaft zu verknüpfen. Als Königsweg zur Umsetzung der neuen Idee von Wissenschaft galt die neue »Polnische Akademie der Wissenschaften«. Deren Gründung kam den Zentralisierungsbestrebungen der Regierung der Volksrepublik Polen entgegen. Im Oktober 1951 stimmte der Sejm dem Gesetz über die Errichtung der Akademie zu, und im Juni 1952 berief Staatspräsident Bolesław Bierut die ersten Mitglieder – darunter Ludwik Hirszfeld, der von 1952 bis 1954 in ihrem Präsidium saß. An dieser Akademie nach sowjetischem Vorbild sollten nicht nur zahlreiche Forschungsinstitute aktiv werden, sie sollte ebenso das Konzept des Marxismus-Leninismus in allen Wissenschaftszweigen durchsetzen und eine erzieherische Aufgabe für die gesamte Gesellschaft übernehmen. Die bisherigen regionalen wissenschaftlichen Gesellschaften galten dem Wissenschaftsministerium nun als überflüssig.51 Ein Teil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begrüßte die Etablierung der Polnischen Akademie der Wissenschaften, weil sie ihrem Wunsch nach einer organisatorischen Verbesserung entsprach – ein anderer Teil der scientific community stand dieser Gründung und vor allem dem eindeutigen staatlichen Einfluss, der nun ausgeübt wurde, sehr skeptisch gegenüber, verbanden sich doch auch Wahrheitsansprüche in der Wissenschaft mit ihr, die von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nur schlecht akzeptiert werden konnten. Erneut, unter vollkommen anderen Vorzeichen, erwies sich die enge Verflechtung von Wissenschaft und Staat als komplex – es verwundert daher nicht, dass der Historiker Waldemar Rolbiecki festgehalten hat, dass die Geschichte der Akademie in der Historiographie entweder glorifiziert oder als Ergebnis teuflischer Aktionen des Staates und der Partei, die gegen die Freiheit der

50 Ebd., S. 18. 51 Kunikowski, Towarzystwa Naukowe, S. 95. 432 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Wissenschaft gerichtet gewesen seien, kompromittiert werde.52 In jedem Fall trieb sie die Sowjetisierung des polnischen Wissenschaftssystems weiter voran. Für die Wissenschaft war die Zeit nach dem erwähnten Dekret über die Hochschulen und nach der Gründung der Akademie von wachsender Kontrolle geprägt. Diejenigen, die das Ideal der akademischen und wissenschaftlichen Freiheit aus der Zwischenkriegszeit noch im Hinterkopf hatten, danach zu handeln versuchten und ihre epistemischen Ideale nicht aufgeben wollten, standen vor einer Zeit, in der sie die Inhalte von Forschung und Lehre permanent aushandeln mussten. Dies beinhaltete ständige Kompromisse, war doch das Ideal der Freiheit von den neuen Machthabern verächtlich als »Fetisch« gebrandmarkt worden. Diese Forschenden versuchten sich in eigensinnigem Verhalten, das sich weder als klarer Widerstand noch als vollständige Anpassung beschreiben lässt – sie suchten nach Räumen, in denen sie so manövrieren konnten, dass sie Wissenschaft weiter möglichst unbeeinflusst von Ideologie betreiben und Studierende unterrichten konnten.53 Dies gelang zu unterschiedlichen Phasen des neuen Systems mal besser, mal weniger gut. Dies lässt sich vor allem am Leben Ludwik Hirszfelds nachzeichnen, während Jan Czochralskis Möglichkeiten, wie bereits erwähnt, nach 1944 extrem limitiert waren. 6.2 Jan Czochralski: Der Abstieg des Experten, der Aufstieg der Expertise

Ob Jan Czochralski die Diskussionen und Entwicklungen des Wissenschaftssystems aktiv verfolgte, ist zwar nicht bekannt, darf aber bezweifelt werden. Er hatte sich während des Krieges in einer äußerst komplexen Situation befunden, in der ihn die deutschen Besatzer für sich nutzen wollten, er aber auch mit dem polnischen Untergrund kooperierte. Diese wurde zum Ausgangspunkt eines tiefen Falls. Er verlor alle seine Ämter und Funktionen und geriet rasch komplett in Vergessenheit, obwohl er gerichtlich vom Vorwurf der Kollaboration freigesprochen wur52 Rolbiecki, Geneza, S. 5. 53 Zu dem Begriff der Räume zum Manövrieren unter den Bedingungen von Diktatur siehe Alf Lüdtke, Ordinary People, Self-Energising, and Room for Manoeuvring: Examples from 20th Century Europe, in: Ders. (Hg.), Everyday Life in Mass Dictatorship. Collusion and Evasion, Basingstoke 2016, S. 13-29; Claudia Kraft, Jerzy Kochanowski (Hg.), Wolne przestrzenie: marginesy swobody w realnym socjalizmie/ Room for Manoeuvre in State Socialism. Themenheft des Przegląd Historyczny 109/4 (2018). 433 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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de.54 Warum Czochralski aus allen seinen Ämtern entfernt wurde, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Unklar ist etwa, welche Rolle die politische Situation der allmählichen kommunistischen Machtübernahme spielte. Czochralskis bisheriges Leben als wohlhabender Mäzen und Wissenschaftler, der mit großen Firmen kooperiert und mit den Repräsentanten des Sanacja-Regimes wie Ignacy Mościcki verkehrt hatte, passte nur schlecht in die Ideologie des neuen Systems. Seine Kontakte zur Heimatarmee als großem Gegenspieler der Kommunisten dürften seine prekäre Situation nach 1944 zusätzlich verschärft haben – einer seiner Mitarbeiter, Ludwik Szenderowski, war noch während des Krieges für seine Mitgliedschaft in der Heimatarmee verhaftet worden und hatte so nicht für Jan Czochralski als Zeuge aussagen können. Auch einige andere Wissenschaftler des Polytechnikums wie zum Beispiel Roman Stanisław Płużański konnten nicht mehr an ihre Rollen aus der Vorkriegszeit anknüpfen. Płużański hatte in der Zweiten Republik den Ingenieursverband SIMP mitbegründet und war Vizepräsident der Militärisch-Technischen Gesellschaft, beides Gesellschaften, in denen Jan Czochralski ebenfalls Mitglied war. Nach 1929 hatte Płużański am Polytechnikum Warschau den Lehrstuhl von Henryk Mierzejewski übernommen. Im August 1939 war er nach Großbritannien delegiert worden, um sich um den Einkauf von Werkzeugmaschinen für die Bedürfnisse der polnischen Rüstungsindustrie zu kümmern. Nach Kriegsausbruch blieb er in London. Dort organisierte er die Ausbildung polnischer Techniker und Ingenieure und arbeitete ein Programm für die Reorganisation der Polytechnika in einem freien Polen aus – allein, seine Expertise war in diesem »freien« Polen nicht mehr gefragt. Zwar kehrte er nach Polen zurück und erhielt erneut einen Lehrstuhl am Polytechnikum – wegen seiner Verankerung in der Vorkriegspolitik, seiner guten Verbindungen zum Sanacja-Regime sowie seiner Kontakte zur Exilregierung waren ihm aber alle weiteren Funktionen im Staatsapparat oder der Rüstungsindustrie, die er zuvor innehatte, verstellt.55 In den Erinnerungen galten Czochralskis Kooperation oder Zuarbeit für die Wehrmacht in Warschau als Grund für seine Degradierung. Eine solche Zuarbeit wurde aber auch von zahlreichen anderen Betrieben in Polen geleistet, deren Leiter oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kein vergleichbares Schicksal wie das von Czochralski traf. Sicherlich spielte für seinen Fall eine Rolle, dass sein Institut mehr oder weniger unabhän54 Archiwum Państwowe Łodź, Sygn. 597: Prokuratura Sądu Specjalnego Karnego w Łodzi. 55 Matusak, Inteligencja techniczna, S. 111. 434 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gig gearbeitet und Czochralski sich nicht an der Lehre im Untergrund des Polytechnikums beteiligt hatte. Auch sollten persönliche Animositäten nicht unterschätzt werden – zwar war Czochralskis wichtigster Gegenspieler Witold Broniewski bereits im Januar 1939 verstorben, aber dessen damalige Verbündete waren weiterhin am Polytechnikum aktiv. Die Vorkriegsdiskussionen um Czochralski waren in diesen Kreisen nicht vergessen und die damit verbundenen Themenkomplexe von Staatsbürgerschaft, Loyalität, Prestige, Moral, Vermögen und Machtfülle ebenfalls nicht. Da die Atmosphäre und politische Stimmung im Polen der Nachkriegszeit darüber hinaus dezidiert antideutsch war, dürften ihn seine frühere Verankerung im deutschsprachigen wissenschaftlichen Milieu und die Frage seiner deutschen Staatsbürgerschaft in den Augen seiner Kolleginnen und Kollegen nach wie vor bzw. noch stärker als zuvor diskreditiert haben. Auf einer Liste aller Lehrstühle des Polytechnikums Warschau und deren Inhaber vom 15. April 1945, auf der sich neben etlichen Namen die Einträge »verstorben« oder »unbekannter Verbleib« oder »in Amerika« findet, meist mit dem Namen des ehemaligen Lehrstuhlinhabers, steht bei Czochralskis Lehrstuhl lediglich »Reichsdeutsch«: Nicht einmal sein Name wird erwähnt – noch bevor er offiziell verhaftet worden war.56 Die Kategorie »reichsdeutsch« wurde nur für ihn verwendet und war zu jener Zeit selbsterklärend – sie bedeutete nicht nur den Ausschluss aus der Gemeinschaft der Forschenden und Lehrenden, sondern auch aus der Nation. Am 18. April 1945 wurde Jan Czochralski in der südlich von Lodz gelegenen Kleinstadt Piotrków Trybunalski in Haft genommen – dorthin war er nach dem Warschauer Aufstand, währenddessen die Deutschen die Stadt dem Erdboden gleichgemacht hatten, über eine Zwischenstation in Milanówek gekommen. Die Anklage lautete, mit den deutschen Besatzern zum Schaden von Menschen aus der Zivilbevölkerung bzw. des polnischen Staates zusammengearbeitet zu haben. Im August 1945 erfolgte aber bereits ein Freispruch – in der Urteilsbegründung des Sonderstrafgerichts Lodz wurde festgehalten, sein Institut habe tatsächlich während der Okkupation als industrieller Handelsbetrieb gearbeitet und unter anderem Kolben für einen Reparaturbetrieb für Fahrzeuge hergestellt. Während dieser Zeit habe Czochralski Kontakte zur deutschen Besatzungsmacht unterhalten und dies sei sicher der Anlass gewesen, anzunehmen, er habe zum Schaden des polnischen Staates bzw. der polnischen Zivilbevölkerung gehandelt. Das Material, das im Zuge der Ermittlungen gesammelt worden sei, könne diese Annahme jedoch nicht 56 Siehe AAN, Ministerstwo Oświaty 2966, Politechnika Warszawska 1945, Bl. 18. 435 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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bestätigen. Im Gegenteil habe sich aus den Akten ergeben, dass dank Czochralskis Beziehungen einige Menschen aus Konzentrationslagern und Gefängnissen hätten gerettet werden können. Dies bezog das Gericht ausdrücklich auch auf Czochralskis Tochter Leonie CzochralskaWojciechowska und deren Mann Mieczysław Wojciechowski, die ebenfalls angeklagt waren.57 Seine Kollegen am Polytechnikum ließen sich davon gleichwohl nicht beeindrucken: Am 19. Dezember 1945 beschloss der Senat des Polytechnikums trotz des Freispruchs für Czochralski und seine Familie, »dass Dr. Jan Czochralski seit Ende 1939 von den Professoren nicht mehr für einen Professor des Polytechnikums gehalten« wird – somit hatte er seine Stelle verloren. Das Datum »Ende 1939« dürfte sich auf das Datum beziehen, als Czochralski sein Institut nach den Kampfhandlungen wiedereröffnet hatte. Czochralski zog daraufhin in das Dorf seiner Jugend zurück und spielte keine Rolle mehr im öffentlichen oder wissenschaftlichen Leben der Volksrepublik Polen. 1947 beschloss der Fakultätsrat der Chemischen Fakultät des Polytechnikums Warschau, seinen Lehrstuhl für Metallurgie und Metallkunde umzuwandeln bzw. unbesetzt zu lassen, weil nicht erwartet wurde, dass er in den nächsten Jahren neu besetzt werden könne – man war der Meinung, die Anforderungen der Fakultät könnten auch von den Vorlesungen der Abteilung für Mechanik mit abgedeckt werden.58 Bedenkt man, mit welchem Aufwand die Ausstattung des Lehrstuhls und des Instituts für Metallkunde betrieben und wie sehr die metallkundliche Expertise noch 1928/29 als geradezu unabdingbar für den Aufbau der Nation gepriesen worden war, wird einmal mehr deutlich, wie sehr die Mobilisierung oder der Bedeutungsverlust von Expertise bis hin zur vollständigen Degradierung ihrer Trägerinnen und Träger mit politischen und kulturellen Bedingungen zusammenhängten. Expertise war nicht einmal erworben und dann akzeptiert – im Gegenteil konnte ihr gesellschaftlicher Status erheblich schwanken. Zurück in seinem Heimatdorf Kcynia fing Czochralski neu an und re-etablierte die kosmetische Firma Bion, die er offenbar bereits während der Okkupation betrieben hatte. Er meldete sie als Gewerbebetrieb auf den Namen des Chemikers Mieczysław Wojciechowski, des Ehemanns seiner Tochter Leonie, an.59 Auf bescheidene Art und Weise und mit äußerst begrenzten Mitteln machte er die Zusammensetzung von Stof57 Archiwum Państwowe Łodź, Sygn. 597, Prokuratura Sądu Specjalnego Karnego w Łodzi. Wniosek o umorzenie dochodzenia, 13. 8. 1945. 58 AAN, Ministerstwo Oświaty 2968, Bl. 47, Rektor Polytechnika do Ministerstwa Oświaty, 16. 6. 1947. 59 Tomaszewski, Powrót, S. 224. 436 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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fen, mit der er sich sein Leben lang beschäftigt hatte, erneut zur Grundlage seines Lebensunterhalts. Er stellte verschiedene kosmetische Produkte und Drogerieartikel her, unter anderem Schuhcreme, Kerzen und ein populäres Mittel gegen Schnupfen. Das berufliche Leben des ehemals so gefragten Experten endete somit dort, wo es angefangen hatte: in einem Umfeld, das den kleineren Laboren in Drogerien und Apotheken ähnelte, in denen Czochralski seine Ausbildungszeit begonnen hatte. Wie damals experimentierte er mit verschiedenen pharmazeutischen Substanzen und Stoffen, wozu nun auch verschiedene Heilkräuter zählten. Daneben arbeitete er offenbar an einer Aktualisierung und Übersetzung seiner »Modernen Metallkunde«, die aber nicht erschien; Kontakte in sein ehemaliges wissenschaftliches Milieu sind nicht überliefert. Jan Czochralski starb am 22. April 1953 an einem Herzinfarkt. Sein Grabstein sollte 45 Jahre lang namenlos bleiben.60 Einige der epistemischen Dinge, die in den Welten von Wissenschaft und Wirtschaft mit dem Namen Czochralski assoziiert waren, darunter das Czochralski-Verfahren oder die Legierung des Bahnmetalls, gingen einen umgekehrten Weg – sie stiegen nicht ab, sondern auf. Besonders das Czochralski-Verfahren erlebte einen ungeahnten Aufschwung. Bereits in den 1920er Jahren hatte das Verfahren als Methode, die Kristallisationsgeschwindigkeit der Metalle zu messen und damit Rückschlüsse auf die Eigenschaften des Materials zu erhalten, Aufmerksamkeit unter verschiedenen Metallkundlern erfahren. Sie nannten es wahlweise »Ziehverfahren von Czochralski«, »Czochralski’sche Methode« oder »Verfahren von Czochralski«.61 Der Aufstieg des Czochralski-Verfahrens zur Grundlage für Anwendungen in der Mikroelektronik, zur Basistechnologie des digitalen Zeitalters, die das alltägliche Leben der Menschen bis heute drastisch verändern sollten, erfolgte Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre, als einige Aufsätze zur Czochralski-Methode erschienen.62 Zu jener Zeit benutzte der amerikanische Chemiker Gordon Teal die Methode, um Einkristalle aus Germanium und Silizium zu erzeugen.63 Teal arbeitete in den berühmten Bell Labs, dem Forschungsinstitut der Telefongesellschaft AT & T. Seine Technik kam zur rechten Zeit, um die Abteilung für Transistorentwicklung zu versorgen. Die Bell-Labs-Forscher William Shockley, John Bardeen und Walter Brattain hatten 1947 60 Ebd., S. 227. 61 Tomaszewski, Powrót, S. 57. 62 Evers, Möckl, Wichard von Moellendorff, S. 237. Siehe dazu auch Keshra Sangwal, Czochralski method of crystal growth in the scientific literature. An infometric study, in: Acta Physica Polonica. Seria A, 124/2 (2013), S. 173-178. 63 Tomaszewski, Powrót, S. 51. 437 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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entdeckt, dass sich mit Germanium-Kristallen schwache Ströme verstärken ließen – damit war der Transistor geboren. 1953 ging Gordon Teal nach Dallas zur Firma Texas Instruments. Hier fertigte er 1954 den ersten Silizium-Transistor an und startete ein neues Zeitalter der Elektronik.64 Das Material für Transistoren und Computerchips stammte anschließend fast ausschließlich aus Anlagen, die mit dem Czochralski-Verfahren arbeiteten, keine andere Methode konnte in Effektivität oder Wirtschaftlichkeit mithalten. Der wachsende Bedarf an Halbleitern führte zu einer intensiven Nutzung der Czochralski-Methode vor allem für das Ziehen von Silizium-Kristallen. Dabei wird unregelmäßiges polykristallines Silizium geschmolzen. Bei dem langsamen Hochziehen und gleichzeitigen Rotieren des Kristalls steigt eine längliche glühende Struktur aus der Schmelze. Das Endresultat ist der hochreine Silizium-Einkristall in Form einer Säule. Nach der Abkühlung wird diese Siliziumsäule in dünne Scheiben geschnitten, den Wafern, die grundlegend für mikroelektronische Bauelemente der Informationstechnologie und der Mikrosystemtechnik sind. Sie dienen als Ausgangsmaterial für die Chipfertigung. Heute liefern Firmen wie die Münchner Siltronic AG Silizium-Einkristalle mit 300 mm Durchmesser und zwei Metern Länge für die moderne Mikro- und Nanotechnologie.65 Der nächste Technologiesprung mit 450 mm-Wafern stand im Jahr 2016 bereits an und wurde breit diskutiert, dann aber wegen der hohen Kosten im Vergleich zum Nutzen zunächst auf Eis gelegt. Eine weitere seiner im Team gemachten Erfindungen, die letztlich weniger bedeutend war als die Czochralski-Methode, aber ihn zu Lebzeiten sehr viel intensiver begleitet hatte, war das Bahnmetall. Während Czochralski noch in den 1930er Jahren relativ erfolglos versucht hatte, die Legierung auf breiter Basis in Polen einzuführen, kam sie in leicht veränderter Form nach dem Zweiten Weltkrieg doch noch zum Einsatz. Dafür musste sie einen Umweg in Kauf nehmen: Das Patent auf Bahnmetall war im Zuge einer umfassenden Militarisierung in den 1930er Jahren in der Sowjetunion auf breiterer Basis zum Einsatz gekommen, und zwar in leicht veränderter Zusammensetzung, da man dort auf Lithium verzichtete. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs wurden dann fast alle sowjetischen Radlager in Loks und Waggons mit der Bleilegierung hergestellt. Nach dem Krieg arbeitete man in Polen zunächst mit Zinnlegierungen weiter. Zu Beginn der 1950er Jahre aber leiteten die Sowjets im Zuge des 64 Ebd. 65 Dazu vor allem Evers u. a., Vom Spreeknie ins Silicon Valley; auch Evers, Möckl, Wichard von Moellendorff, S. 237. 438 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Kalten Krieges erneut einen Ausbau und eine weitere Militarisierung von Industrie und Infrastruktur ein, wofür man erneut nach Einsparmöglichkeiten suchte. In dieser Zeit begann man auch in Polen, Bleilegierungen zu verwenden. Ende 1952 wurden Normen für eine Blei-Calzium-Natrium-Legierung eingeführt, die eine polnische Entsprechung der sowjetischen zinnfreien Legierung mit fast derselben chemischen Zusammensetzung war. So kehrte die Legierung, die in den 1930er Jahren in der Sowjetunion auf der Basis der deutschen Rezeptur von Czochralski ausgearbeitet worden war, 20 Jahre später als Erfindung der sowjetischen Technik wieder nach Polen zurück.66 Damit reihte sich das Bahnmetall in eine Art von Wissenszirkulation ein, die gar nicht unüblich war: Während der stalinistischen Industrialisierung kam es häufig dazu, dass Patente, die die UdSSR in den 1930er Jahren in den USA , Deutschland und anderswo erworben hatte, in den 1950er Jahren nach Polen transferiert wurden. Die Karriere von Bahnmetall und seinen verwandten Legierungen in Polen blieb aber eine kurze – bereits nach 1956 verwendete man in Polen wieder bevorzugt zinnhaltige Legierungen.67 6.3 Ludwik Hirszfeld: Der Wiederaufstieg des Experten

Ludwik Hirszfelds Leben stellte sich in der Nachkriegszeit gegenüber dem von Jan Czochralski als ungleich facettenreicher dar. Nachdem die seit September 1939 in Polen herrschenden Nationalsozialisten seine wissenschaftliche Expertise wegen seiner jüdischen Herkunft, also aus ideologisch-politischen und rassistischen Gründen abgelehnt hatten, sollte er in der Volksrepublik Polen erneut zu einem der wichtigsten Wissenschaftler des Landes aufsteigen. Seine Expertise war zumindest bis zur Spätphase des Stalinismus äußerst gefragt. Konflikte mit Vertreterinnen und Vertretern des Systems konnten aber unter anderem vor dem Hintergrund von Hirszfelds epistemischen Idealen von der Freiheit der Wissenschaft oder »Wahrheiten« in der Wissenschaft, die keiner ideologischen Interpretation unterliegen konnten, kaum ausbleiben. Neuanfang in Lublin und in Breslau

Nachdem Ludwik Hirszfeld im Jahr 1944 in seinem Versteck von der beginnenden Befreiung Polens durch die Rote Armee gehört hatte, begab er sich sogleich in das schon befreite Lublin. Dort traf er unter anderem 66 Zbigniew Tucholski, Bahnmetall – wynalazek Czochralskiego, in: Mówią Wieki 10/ 693 (2017), S. 77-80, S. 80. 67 Ebd. 439 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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seinen ehemaligen Mitarbeiter aus dem Staatlichen Hygiene-Institut, Feliks Przesmycki. Hirszfeld teilte ihm mit, dass er nach den traurigen Ereignissen in Warschau nicht daran denke, an das Hygiene-Institut zurückzukehren – alle seine jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren von den Nationalsozialisten ermordet worden. So stimmte er zu, dass Przesmycki als Direktor des Instituts kandidieren sollte – jener wiederum war, wie zum Beispiel auch der Gründer des Instituts, Ludwik Rajchman, zunächst wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Hirszfeld diesen Posten würde übernehmen wollen.68 Die Stadt Lublin war damals Anlaufpunkt für viele Menschen aus Kunst und Wissenschaft, die den Krieg überlebt hatten. Sie kamen unter anderem aus den im Zuge der Westverschiebung Polens verloren gegangenen Universitätsstädten Lemberg und Wilna. In Hirszfelds Augen fand in Lublin nicht nur die Wiedergeburt des Landes statt, sondern auch seine ganz persönliche »Rückkehr zu einem relativen Gleichgewicht«.69 Er grub seine verborgenen Manuskripte aus, öffnete sie, gab sie in den Druck und begann nach der Zeit im Versteck allmählich wieder mit, wie er es nannte, geistigen Anstrengungen.70 Über den Verbleib seiner Manuskripte hatte er seine Kollegen und Freunde Marcin Kacprzak, Feliks Przesmycki und Zygmunt Szymanowski für den Fall seines Todes oder eines Aufenthaltes im Ausland im März 1940 informiert. Er hatte 600 Seiten Maschinenschrift »Wissenschaft über die Immunität« (Nauka o odporności) verfasst sowie die zweite Auflage seines Buches über die Blutgruppen (Grupy krwi) – darüber hinaus lag seine Autobiographie bereits bei der Verlags-Genossenschaft Czytelnik (Leser), die von Jerzy Borejsza gegründet worden war, einem der führenden Kulturfunktionäre der Polnischen Arbeiterpartei nach 1945, der den Intellektuellen in Polen nach dem Krieg das Angebot einer Mitarbeit beim kulturellen Aufbau des Landes gemacht hatte. Zu diesem Zweck hatte er neben der Genossenschaft Czytelnik, die eine sehr mächtige Position im Kulturleben der Nachkriegszeit einnehmen sollte, auch die Zeitschrift Odrodzenie (Wiedergeburt) gegründet. Bereits im Februar 1945 erwartete Hirszfeld ungeduldig die Korrekturen seiner Autobiographie durch Borejsza bzw. den Verlag.71 68 Archiwum PAN III-254-35: Materialy Feliksa Przesmyckiego. Moje wspomnienia, sowie RF RG 1. 1. 789 A, Box 3, Folder 25, Ludwik Rajchman an G. K. Strode, September 1945. 69 APAN LH III-157-76, Bl. 12-17, Bl. 15, Redemanuskript Ludwik Hirszfeld vom 25. 10. 1947. 70 Ebd. 71 Privatarchiv von Jerzy W. Borejsza, Ludwik Hirszfeld an Jerzy Borejsza, 2. 2. 1945. 440 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Inzwischen hatten ihm ehemalige Kollegen aus der Schweiz, nämlich die Familie Silberschmidt, angeboten, dorthin überzusiedeln. Aber, so Hirszfeld in einem Brief an seinen Schweizer Kollegen und Freund Willi von Gonzenbach: »Das Leben ist hart. Man muss alles von Anfang beginnen. Ich denke nicht an Rücktritt solange wie meine Kräfte es erlauben.« Hirszfeld bedauerte es nicht, »nach Polen zurückgekehrt zu sein. In der Schweiz hätte ich ein leichteres Leben, aber kleinere Aufgaben.«72 Dort war nun zunächst vor allem sein Können als Organisator gefragt. Im Oktober 1944 begann Hirszfeld, in Lublin als Prorektor die neue, staatliche Marie Curie-Skłodowska Universität (Uniwersytet Marii CurieSkłodowskiej, UMCS) einzurichten, die das Lubliner Komitee als Gegenpart zur renommierten Katholischen Universität Lublin (Katolicki Uniwersytet Lubelski, KUL) etablieren wollte.73 Die Bedingungen waren sehr schwierig, es gab kaum Ausrüstung, keine Räume und keine Heizungen. Geräte und Bibliotheken in der Stadt und anderswo waren zerstört oder abtransportiert. Das Rote Kreuz gab Essen für die Professoren aus, zahlreiche Gebäude und Bibliotheken waren nur noch als Ruinen vorhanden.74 Neben Lebensmitteln mangelte es vielen auch an Kleidung für öffentliche Auftritte.75 Das institutionelle Leben in Lublin war ebenfalls weitgehend zerstört, der Enthusiasmus für den wissenschaftlichen Wiederauf bau aber war groß. Vor allem für die Professorenschaft aus der Vorkriegszeit war die Wiederherstellung universitären Lebens ein wichtiges Ziel, daher waren sie engagiert und bemüht, ihren Unterricht fortzusetzen.76 Am 31. Oktober 1944 erhielt Hirszfeld als einer von zwölf Wissenschaftlern von Bolesław Bierut, dem Vorsitzenden des Landesnationalrates (Krajowa Rada Narodowa), seine Ernennung zum Professor an der UMCS.77 Aber die Hirszfelds blieben nicht lange in Lublin. Zwar traf Hirszfeld dort einige Schüler und Kollegen aus der Vorkriegszeit und habilitierte vier Kollegen. Auch Hanna Hirszfeld schloss dort ihre Habilitation ab. Aber die Befreiung weiterer Gebiete Polens führte dazu, dass viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Standort Lublin wieder verließen und, wenn möglich, an ihre Heimatuniversitäten zurückkehrten. Es war zum damaligen Zeitpunkt unklar, wie sich die neue Lubliner Universität 72 Wissenschaftshistorische Sammlungen der ETH-Bibliothek, HS 1165:639: Ludwik Hirszfeld an Willi von Gonzenbach, 22. 11. 1947. 73 Siehe Connelly, Captive University, S. 101. 74 Herczyński, Spętana nauka, S. 55. 75 Krasiewicz, Odbudowa szkolnictwa wyższego, S. 51. 76 Twierdza uniwersytet. 77 Krasiewicz, Odbudowa szkolnictwa wyższego, S. 61. 441 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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in Zukunft entwickeln würde. Manche Lehrende standen der Neugründung mit Skepsis gegenüber und fühlten sich den bereits etablierten Universitäten verbunden.78 Auch Ludwik Hirszfeld ergriff die Chance, Lublin wieder zu verlassen: Als er vom zuständigen Ministerium gebeten wurde, die medizinische Fakultät in Breslau, das nun Wrocław hieß, aufzubauen, erschien ihm diese Herausforderung in dem Gebiet, das neu zum polnischen Staat gekommen war, als größer und wichtiger.79 Kurz vor seinem Arbeitsbeginn in Breslau war Hirszfeld noch mit einer Gruppe von Vertreterinnen und Vertretern der »alten Wissenschaft« nach Moskau für 14 Tage zu den 220-Jahr-Feierlichkeiten der dortigen Akademie der Wissenschaften eingeladen worden. Die Reise verdeutlichte, dass man, wie erwähnt, auf diese Gruppe beim Auf bau der neuen Universitäten nicht verzichten wollte oder konnte.80 Das Profil der neuen Universität in Breslau wurde stark von dem ehemaligen Rektor der Lemberger Universität, Stanisław Kulczyński, geprägt. Er erhielt am 20. April 1945 ein Mandat als Vertreter des Bildungsministeriums mit der Aufgabe, den Besitz der ehemals deutschen wissenschaftlichen Einrichtungen in der Stadt Breslau zu sichern. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass dort eine Union von Universität und Polytechnikum entstand.81 Und er repräsentierte, wie bereits erwähnt, eine umfassende Demokratisierung und Öffnung der Hochschulen.82 Kulczyński war mit einer großen Gruppe von Professoren aus dem ehemaligen Lemberg gekommen – die Idee der Hochschulverlagerung von Lemberg nach Breslau wurde dort konsequenter als etwa in Thorn umgesetzt, das die Universität von Wilna fortsetzen sollte. Kulczyński meinte, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen fühlten sich als »materielle Erben der Ruinen der deutschen Universität und des Polytechnikums in Breslau und als geistige Erben der ostpolnischen Kultur Lembergs«.83 Ludwik Hirszfeld war sogar der Meinung, Breslau habe fünf verlorene Universitäten ersetzen müssen, denn er zählte noch die zerstörten Hochschulen von Warschau und Posen dazu – er maß dem Standort also große Bedeutung zu und formulierte seine Ziele dementsprechend. Dort, in 78 APAN LH III-157-76, Bl. 12-17, Bl. 16, Redemanuskript Ludwik Hirszfeld vom 25. 10. 1947. 79 Kozuschek, Hirszfeld, S. 156-157. 80 Piotr Hübner, Polityka naukowa w Polsce w latach 1944-1953, Wrocław u. a. 1992, S. 70. 81 Hübner, Neue Universitäten, S. 39. 82 Ebd., S. 40. 83 Ebd., S. 38. 442 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Breslau, sah er den »angemessenen Ort, eine medizinische Ausbildung auf einer modernen Grundlage wieder aufzubauen«; er wollte eine moderne Sozialmedizin etablieren.84 Obwohl sowohl für Kulczyński als auch für Hirszfeld die Arbeit in Breslau schon allein durch den Ortswechsel einen erheblichen Neuanfang bedeutete, so dachten doch beide vor allem in Kategorien von Kontinuität und nicht, wie die neuen Machthaber, von radikaler Diskontinuität. Hirszfeld begann im August 1945 mit der Einrichtung und Erweiterung der medizinischen Fakultät, auch dort auf den Ruinen, die der Krieg hinterlassen hatte: Die ehemaligen Breslauer medizinischen Institute und Kliniken waren zu über 50 Prozent zerstört und ihr Inventar teils von den Nationalsozialisten weggeschafft worden, das ehemalige Institut für Hygiene war zu 30 Prozent zerstört. Während der Zeit von Februar bis Mai 1945, als Breslau zur »Festung« erklärt worden war, bevor die Stadt schließlich von der Roten Armee befreit wurde, waren Geräte in Bunkern versteckt worden, zum Teil wurden sie aber auch von Studierenden, Lehrenden und anderen Menschen geraubt.85 Und obwohl dem Vormarsch der Roten Armee eine Fluchtwelle der deutschen Bevölkerung folgte, dominierte sie zu dem Zeitpunkt, als Hirszfeld in die Stadt kam, noch das öffentliche Stadtbild. Ihre offizielle Vertreibung sollte erst Anfang 1946 einsetzten – vor diesem Hintergrund merkte Hirszfeld an, sei es nicht leicht gewesen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen, da Fragen von Sicherheit, Wohnraum und Lebensmittelversorgung in den ersten Nachkriegsjahren eine immense Herausforderung darstellten: »In der Praxis hängt alles von der Wohnungsfrage ab«, resümierte der Mathematiker Hugo Steinhaus die Frage, welche Lehrende nach Breslau kamen.86 Darüber hinaus erinnerte er die erste Zeit an der Universität als intensiv: »Der Strudel der Ereignisse wirft mich um – ständig Umfragen, Sitzungen, Budgets, Umzüge.«87 Am 6. September 1945 hielt Hirszfeld seinen ersten Vortrag vor Kandidatinnen und Kandidaten für das Medizinstudium.88 Er übernahm den Lehrstuhl für Mikrobiologie der Medizinischen Akademie sowie den Posten eines Dekans der Medizinischen Akademie. Als solcher bereitete er im Oktober 1945 die Habilitation von Ludwik Fleck vor und leitete das 84 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25, Hirszfeld an Charles W. Leach, 18. 6. 1946. 85 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego (AUW ), Uniwersytet Wrocławski po 1945 roku, R. 52, Ludwik Hirszfeld, Sprawozdanie z prac organizacyjnych Wydziału Lekarskiego we Wrocławiu. 86 Steinhaus, Erinnerungen II, S. 87. 87 Ebd., S. 95. 88 Krasiewicz, Odbudowa szkolnictwa wyższego, S. 187. 443 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Verfahren, für das Fleck im Oktober 1946 nach Breslau kam. Anschließend empfahl Hirszfeld ihn auf einen Lehrstuhl in Lublin – in den Erinnerungen von Hugo Steinhaus habe Hirszfeld Fleck nach Lublin »gesteckt«, wo es weder Menschen noch Bücher gebe, weil er nicht »zwei Sonnen« in Breslau haben wollte.89 Darüber hinaus gründete Hirszfeld das erste Institut für Immunologie in Polen, das auf dem vorherigen deutschen Institut für Hygiene auf baute und davon profitierte, dass die Deutschen das Inventar des staatlichen Hygiene-Instituts aus Warschau vor dem Warschauer Aufstand von 1944 nach Breslau geschafft hatten, wähnten sie es dort doch in Sicherheit. In dem Institut fing er 1945 mit sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an, diese Zahl war 1953 auf 80-100 angewachsen.90 Mit ihnen verfasste er bis 1953 etwa 300 Publikationen.91 Mit Unterstützung des Gesundheitsministeriums konnte er das Institut in der Zeit von 1951 bis 1953 erheblich ausbauen.92 Es wurde am 7. Februar 1954 offiziell in die Strukturen der neu gegründeten Polnischen Akademie der Wissenschaften eingegliedert und in Institut für Immunologie und Experimentelle Therapie der Polnischen Akademie der Wissenschaften umbenannt – heute trägt es zusätzlich Hirszfelds Namen im Titel: Instytut Immunologii i Terapii Doświadczalnej im. Ludwika Hirszfelda. Hanna Hirszfeld sorgte derweil dafür, dass bereits im Oktober 1945 ein Lehrstuhl und eine Kinderklinik an der medizinischen Fakultät unter ihrer Leitung eingerichtet wurden, und zwar im ehemaligen Haus des Kindes, wo schon seit Juli 1945 ein Kinderkrankenhaus untergebracht war. Diese Kinderklinik sollte für die kommenden zwanzig Jahre ihr Arbeitsort werden, für deren Auf bau und Erhalt sie sich immer wieder aufs Neue energisch einsetzte. Am 15. November 1945 hielt Hirszfeld als erster Dekan der medizinischen Fakultät bei der feierlichen Eröffnung des ersten akademischen Jahres der beiden polnischen Hochschulen in Breslau, der Universität 89 Steinhaus, Erinnerungen II, S. 87 und 102. Auch wenn hier ein Konkurrenzverhältnis anklingt, war das Verhältnis von Hirszfeld und Fleck auch von gegenseitiger Wertschätzung und Hilfestellung gekennzeichnet, zudem bezeichnete Fleck sich als Schüler Hirszfelds, unter dessen Einfluss er gestanden habe; siehe APAN LH III-157-109, Bl. 143, Ludwik Fleck an Ludwik Hirszfeld, 14. 10. 1945. Als es Ludwik Flecks Sohn in Israel, wo er seit 1946 lebte, an Mitteln für ein Studium fehlte, versuchte Hirszfeld noch kurz vor seinem Tod seine Netzwerke zu mobilisieren, um dem Sohn zu helfen, siehe APAN LH III-57-86, Ludwik Hirszfeld an Prof. Stefan Minkowski in Zürich, 9. 1. 1954. 90 Siehe auch Ludwik Hirszfeld, Zakład Mikrobiologii Lekarskiej Adademii Medycznej Wrocław 1945-1952, in: Kosmos II /1 (1953), S. 90-92, S. 90. 91 Hanna Hirszfeld, Historia, S. 22. 92 Siehe Hirszfeld, Zakład Mikrobiologii, S. 99. 444 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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und des Polytechnikums, den Festvortrag. Viele der 3500 Studierenden, die im Anschluss ein Studium in Breslau aufnahmen, waren zuvor daran beteiligt gewesen, einen Teil der Gebäude instandzusetzen.93 Erneut beobachtete Hirszfeld eine große Opferbereitschaft der Jugend und akzentuierte deren Sehnsucht nach Wissenschaft und Arbeit.94 Um sie zu unterstützen, gründete er mit seiner Frau gemeinsam einen Fonds für Stipendien für Studierende, dem sie den Namen ihrer verstorbenen Tochter Maria Hirszfeld gaben.95 Der Andrang von Studierenden in der medizinischen Fakultät war groß: Bei der ersten Registrierung meldeten sich 800 Kandidatinnen und Kandidaten – mehr als die Universität hätte aufnehmen können. Daher führten sie eine Art Eingangsexamen ein (mit der Zusammenfassung eines Vortrags und die Beantwortung einiger Fragen) – am Ende blieben 312 Kandidatinnen und Kandidaten für das erste Studienjahr übrig.96 Später versuchten die Sicherheitsorgane Einfluss darauf zu nehmen, wer zum Medizinstudium zugelassen werden sollte – eine solche Einmischung lehnte die medizinische Fakultät im Jahr 1947 aber noch ab.97 In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als zahlreiche Menschen migrierten, die Nord- und Westgebiete noch von der Roten Armee besetzt waren und sexuelle Übergriffe zum Alltag gehörten, verbreiteten sich erneut zahlreiche Krankheiten in Polen, vor allem Geschlechtskrankheiten. Aus diesem Grund engagierte sich Hirszfeld wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg intensiv, Krankheiten zu bekämpfen und die Lebensbedingungen für die Bevölkerung zu verbessern. So initiierte er einen Massentest für Syphilis, den etwa 200.000 Menschen absolvierten. Dies zog die Behandlung von 1000 Patienten nach sich.98 Daneben schenkte Hirszfeld erneut den Bluttransfusionen große Aufmerksamkeit und baute ein entsprechendes Zentrum dafür auf. Mit diesen Tätigkeiten knüpfte er an seine Vorstellungen von einer praxisorientierten Sozialmedizin und von einem breit ausgebauten öffentlichen Gesundheitswesen aus der Vorkriegszeit an. Und er führte seine Forschungen zur Seroanthropologie, Epidemiologie und zahlreichen anderen Zweigen der Bakteriologie und Mikrobiologie unter den neuen Bedingungen fort, oft im Team und 93 Vgl. Gregor Thum, Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003, S. 222. 94 AUW, Sprawozdanie. 95 Siehe unter anderem APAN LH III-157-95, Bl. 105, Dziekan Wydziału Medycznego an: Ludwika Hirszfeld, 8. 7. 1949. 96 Siehe Hirszfeld, Zakład Mikrobiologii, S. 99. 97 Archiwum Wrocławskiej Akademii Medycznej (AWAM), Protokoły Posiedzeń Rady Wydziału Lekarskiego, Protokół 10/47. 98 Anna Kuchment, The Forgotten Cure, The Past and Future of Phage Therapy, New York 2012, S. 66. 445 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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zuweilen gemeinsam mit Hanna Hirszfeld. In einigen Forschungsfragen kooperierte Hirszfeld nun mit dem Mathematiker Hugo Steinhaus, der von der Universität Lemberg nach Breslau gekommen war. Gemeinsam erprobten sie die Einführung von statistischen Methoden in Hirszfelds Forschungen, vor allem in der Ermittlung der Vaterschaft. Des Weiteren arbeitete Hirszfeld an der Erforschung der Tuberkulose, an der Bekämpfung von Viruskrankheiten und Krebs sowie an Transplantaten. Ein weiterer Fokus seiner Arbeit waren die Blutgruppentypen von Schwangeren und deren Kindern.99 Diese Forschungen erhielten noch einmal einen erheblichen Schub durch die Reise in die USA , die die Hirszfelds im Frühjahr und Sommer 1946 auf Einladung der Rockefeller-Stiftung unternehmen konnten. Transnationale Netzwerke und Wissenszirkulation: Reise in die USA, der Rhesus-Faktor und das Entstehen von Erkenntnis

Nach der Isolation während der Okkupation war Hirszfeld die Wiederaufnahme von Kontakten zur internationalen Welt der Wissenschaft besonders wichtig – er wollte schnellstmöglich Anschluss an die wissenschaftlichen Diskussionen seiner Zeit finden und an seinen alten Netzwerken partizipieren, die sich zum Teil seit 1933 aus Deutschland und Österreich in die USA verlagert hatten. Zum Wissensraum Deutschland, dem Land, das er vor dem Ersten Weltkrieg und auch danach noch sehr geschätzt hatte, vollzog er eine scharfe Trennung, denn er war davon überzeugt: »Es ist schändlich, wie niedrig die Gesinnung der Mehrzahl der deutschen Gelehrten war.«100 Er grenzte sich nicht zum Beispiel von seinem alten Lehrer von Dungern ab, dem er weiterhin »Liebe und Achtung« entgegen brachte, aber von denjenigen deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die das nationalsozialistische System getragen hatten. Seiner Meinung nach waren diese in der Mehrheit. Bereits 1946 hatte er in einem Brief an das American College of Allergists dagegen protestiert, dass auf einem von dieser Institution ausgerichteten Abendessen in New York der Bakteriologe Robert Doerr aus Basel dafür plädieren durfte, deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erneut – wie nach dem Ersten Weltkrieg – mit der Welt der Wissenschaft zu versöhnen. Dies stieß bei Hirszfeld auf Unverständnis. Er rief in seinem Protestschreiben die Beteiligung deutscher Gelehrter an Humanexperimenten während des Zweiten Weltkriegs ebenso wie ihr brutales Vorgehen gegenüber Polen insgesamt und gegenüber der polnischen 99 Kozuschek, Hirszfeld, S. 161. 100 APAN LH III-157-104, Bl. 18, Ludwik Hirszfeld an American College of Allergists, New York, 18. 6. 1946. 446 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Professorenschaft im Speziellen ins Gedächtnis, von denen zahlreiche ermordet worden waren. Er betonte darüber hinaus, dass die während der Okkupation in Polen lebenden deutschen Wissenschaftler nicht den leisesten Protest gegen dieses Verhalten geäußert hätten – dies hatte er durch Ärzte und Wissenschaftler wie Wilhelm Hagen, die in Warschau ihren Dienst im Gesundheitswesen versahen, am eigenen Leib erfahren.101 Ebenso schändlich hätten sie sich in Deutschland gegenüber ihren jüdischen Kolleginnen und Kollegen verhalten und deren Vertreibung oder Ermordung mit ermöglicht. Vor diesem Hintergrund kam er zu dem Schluss, »dass ihre Einstellung zu menschlichen Problemen nicht […] den Prinzipien von internationaler Wissenschaft entspricht«. Er fand es daher entschieden zu früh, Deutschen die Hand zu reichen, und nannte diese Geste, für die Doerr sich eingesetzt hatte, schädlich und gefährlich und schloss seinen Brief: »I cannot so soon forget.«102 Als er im September 1947 von demselben Robert Doerr gebeten wurde, sich an einem deutschsprachigen Sammelband über die Blutgruppenforschung zu beteiligen, lehnte er dies ab. Doerr selbst hatte schon eingestanden, dass er es für eine Zumutung halte, »dass Sie sich an einem in deutscher Sprache erscheinenden Werke beteiligen sollen«. Hirszfeld antwortete erneut mit einem langen Brief, in dem er den Massenmord an Juden und Nichtjuden in Polen thematisierte. Er kam zu dem Schluss: »Dieser Mord verlangte eine technische, aber auch eine seelische Vorbereitung. Ein Teil der deutschen Intellektuellen nahm an dieser Vorbereitung teil, ein anderer schwieg dazu. Ich weiß, dass nicht alle den Massenmord gebilligt haben; zu viele aber haben aus Gründen persönlicher Sicherheit und Ruhe geschwiegen.« Weiter verwies er auf die Tatsache, dass die polnischen Bakteriologen wie Henryk Meisel oder Ludwik Fleck dazu gezwungen worden seien, in Lagern wissenschaftlich zu arbeiten und ihre Forschungsergebnisse deutschen »Wissenschaftlern« zur Verfügung zu stellen. Er hielt es für unmöglich, dass »die deutschen Fakultäten nichts von den an meinen Landsleuten geübten Operationen wussten«. Also trat er dafür ein, »dass die Intellektuellen der Welt, und zwar für längere Zeit, mit offiziellen Vertretern der deutschen Intelligenz jede Verbindung vermeiden sollten, um zu betonen, dass die Intelligenz für die Weltanschauung eines Volkes verantwortlich ist. Um den Intellektuellen dieses Verantwortungsgefühl einzuprägen, ist ein Boykott der Intellektuellen desjenigen Volkes notwendig, welches die Vernichtung der 101 Siehe Kapitel 5.4. 102 APAN LH III-157-104, Bl. 18, Ludwik Hirszfeld an American College of Allergists, New York, 18. 6. 1946. 447 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Völker oder ihrer Intelligenz auf seinem Gewissen hat.« Er plädierte für einen lang währenden Boykott deutscher Wissenschaftler und verweigerte den Beitrag – in deutscher Sprache publizierte er dann in den 1950er Jahren wieder, aber nur in Schweizer Zeitschriften.103 1953 plante er für den Basler Verleger S. Karger, den größten wissenschaftlichen und medizinischen Fachverlag der Schweiz, ein Buch über Blutgruppenforschung zu schreiben.104 Warum er in der Schweiz nicht erschien, ist nicht bekannt – der Band kam dann als »Probleme der Blutgruppenforschung« erst nach seinem Tod in der DDR auf den Markt. 1960 veröffentlichte ihn der Jenaer Verlag G. Fischer mit einem Geleitwort von Otto Prokop, dem Leiter des Instituts für Gerichtsmedizin an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin.105 Seine internationalen Kontakte pflegte Hirszfeld nun vornehmlich in der Schweiz und in den USA – Kontakte in die Sowjetunion sind hingegen nur spärlich belegt. Dies zeugt davon, dass Hirszfeld versuchte, sich in seinen ihm bereits bekannten Netzwerken zu bewegen, deren Mitgliedern er vertraute. In den USA hatte er seit 1943 offiziell als verstorben gegolten, weil seinen Freund Arthur Coca in New York eine Mitteilung des Roten Kreuzes erreicht hatte, dass er und seine Familie Selbstmord begangen hätten.106 Aber bereits im Dezember 1944 hatte sein Cousin Ludwik Rajchman Vertretern der Rockefeller-Stiftung mitgeteilt, dass Hirszfeld lebte, in Lublin aufgetaucht sei und sich in einer »perfekten Form« befinde, physisch, moralisch und intellektuell. Rajchman regte an, ihn in die USA einzuladen, denn um einen erneuten Austausch über Hygiene-Fragen und weitere Forschung zu ermöglichen, sei die »Wiederaufnahme von Kontakten mit der westlichen Welt der Wissenschaft« doch das Wichtigste für die polnischen Forscher.107 Arthur Coca befürwortete daraufhin die Reise, woraufhin ihm die Vertreter der Stiftung versicherten, sie würden Hirszfeld gut kennen und wollten Polen gerne helfen – nur über den Status der Universität Lublin, an der Hirszfeld zu jener Zeit noch unterrichtete, sei man sich nicht im Klaren.108 Wie bereits in der Zeit nach 1918 hielten die Vertreter der Stiftung an dem Prinzip fest, sich erst ein Bild vor Ort zu machen, bevor sie einzelne 103 104 105 106 107

Ebd., Bl. 117 und 118. Hanna Hirszfeld, Historia, S. 4. Hirszfeld, Probleme der Blutgruppenforschung. RA RG 1. 1. 789 A, Box 3, Folder 26. RA RG 1. 1. 789 A, Box 3, Folder 25, Ludwik Rajchman an Georg Strode, 8. 9. 1945, sowie RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25, Excerpt from Georg Strode diary. 108 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25, Andrew J. Warren an Arthur F. Coca, 17. 7. 1945. 448 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Personen oder Institutionen unterstützten. Daher schickten sie einen ihrer Vertreter, Johannes Bauer von der International Health Division (IHD), nach Polen, der die Hirszfelds jedoch nicht mehr in Lublin, sondern bereits in Breslau antraf. Von dem Wiederaufbau der dortigen medizinischen Fakultät zeigte Bauer sich sehr beeindruckt.109 Hirszfelds wissenschaftliche Verdienste und »die schrecklichsten Erfahrungen während des Krieges« zusammengenommen, wollte die Stiftung ihm die Reise in die USA ermöglichen. Schwierigkeiten bereitete ihr, dass Hanna Hirszfeld ihren Mann in die USA begleiten wollte, denn, so Georg K. Strode, der damalige Direktor der International Health Division der Stiftung, es sei langjährige Praxis der Stiftung, keine Mittel für die Ehefrauen von Fellows zur Verfügung zu stellen.110 Offenbar war Strode entgangen, dass Hanna Hirszfeld ebenfalls Wissenschaftlerin war. Dies konnte korrigiert werden, Hanna Hirszfeld erhielt eine Einladung als eigenständige Wissenschaftlerin und sollte ebenfalls das Pflichtprogramm, das mit einer solchen Einladung verbunden war, absolvieren und eine Vorlesung in den USA halten. Zudem konnte die Stiftung davon überzeugt werden, dass es in der Verantwortung beider Hirszfelds lag, die Medizinische Akademie in Breslau im Sinne einer modernen Sozialmedizin aufzubauen.111 Das Stipendium der Medical Science Divison der Rockefeller-Stiftung für die Hirszfelds war das erste Stipendium überhaupt für Forscherinnen und Forscher aus Polen nach dem Krieg und stellte für die Stiftung eine Art Testfall dar, ob und wie schnell es in der politischen Situation möglich war, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Polen herauszubekommen – dass die Hirszfeld rasch nach der Bewilligung des Stipendiums würden kommen können, wurde in der Stiftung jedenfalls bezweifelt.112 Seitens der polnischen Regierung, die sich zu jener Zeit noch in einer intensiven Auf bauphase befand, standen der Reise jedoch keine politischen Hindernisse entgegen. Denn zu jener Zeit war Hirszfeld ein gern gesehener Berater für das Bildungs- und das Gesundheitsministerium, man war auf seine Expertise angewiesen und glaubte seinen Zusagen, grundsätzlich in Polen bleiben zu wollen. Im Mai 1946 kamen die Hirszfelds in den USA an, nachdem ihr Schiff statt nach New York nach Houston geschickt worden war. Von dort gelangten sie mithilfe eines jungen Mediziners, den sie auf dem Schiff ge109 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25, Johannes Bauer an Georg Strode, 7. 10. 1945. 110 Ebd., Georg Strode an Ludwik Rajchman, 9. 10. 1945. 111 RA , RG 1. 1. 789 A, Box 3, Folder 23, Ludwik Rajchman an Georg Strode, September 1945. 112 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25, Robert Lambert an Charles Leach, London, 14. 12. 1945. 449 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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troffen hatten, Lloyd Olsen, der für die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) arbeitete, mit dem Auto nach New York. Dort lernten die Rockefeller-Vertreter wie Robert A. Lambert die Hirszfelds kennen und machten sich mit den großen Schwierigkeiten vertraut, die Polen beim Aufbau eines wissenschaftlichen Lebens hatte – darüber hinaus interessierten sie sich sehr für die Erfahrungen, die die Hirszfelds während des Krieges machen mussten. Die ersten beiden Monate des Aufenthaltes verbrachte Hirszfeld mit seinem Heidelberger Kollegen Arthur Coca in den Lederle Laboratories in Pearl River im Staat New York, um an Methoden für Viruskulturen zu arbeiten. Damit lernte er Industrieforschung im großen Stil kennen, denn die Lederle Laboratories waren eines der größten pharmazeutischen Labore in den USA , in dem Impfstoffe entwickelt, produziert und getestet wurden – ein Komplex, der heute zum Unternehmen Pfizer gehört. Coca hatte dort die Leitung der Abteilung für Blutgruppen inne, war aber auch für Impfstoffe und Virusforschung verantwortlich.113 Hanna Hirszfeld blieb derweil in New York und arbeitete in der Pädiatrie im New York Hospital – an der Columbia University hielt sie ihre für das Stipendium obligatorische Vorlesung, in der sie über die polnischen Universitäten im Nachkriegspolen sprach. In den Augen der Vertreter der Stiftung zeigten die Hirszfelds durchaus Ermüdungserscheinungen durch den Krieg – zudem vertrugen sie die Hitze nicht gut , weshalb die Stiftung beschloss, dass sie zunächst an einem Ort bleiben sollten.114 Nach ihrer Akklimatisierungsphase besuchten sie Boston mit der dortigen Medical School und einem Blood Center, das Women’s Medical College in Philadelphia, die Universität Ann Arbor, die Cornell Medical School in Richmond, Albany, das Bethesda Institute in Washington und die Medical School der Johns Hopkins University und fuhren nach Toronto, wo Hirszfeld sich besonders über die dortige Forschung zu Bakteriophagen, also zu virenartigen Kleinstlebewesen, die Bakterien angreifen und auffressen können, informieren wollte.115 Aber auch mit der amerikanischen Lehre machte sich das Paar vertraut – geradezu enthusiastisch berichtete Hirszfeld nach Polen im Juni 1946 über fortgeschrittene Lehrmethoden, die sich »bei uns nicht anwenden lassen,

113 Ebd. 114 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25, Robert A. Lambert (RAL) Diary, 25. 5. 1946. 115 Siehe auch Ludwik Hirszfeld, Wrażenia z podróży do Stanów Zjednoczonych i do Kanady, in: Polski Tygodnik Lekarski (PTL) 2/4 (1947), S. 124-126, sowie PTL 2/5 (1947), S. 157-150, PTL 2/6 (1947), S. 188-191, PTL 2/7 (1947), S. 220-224 und PTL 2/8 (1947), S. 252-254. 450 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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weil die Lebensbedingungen so fundamental andere sind als bei uns«.116 Die Hirszfelds trafen in den drei Monaten ihres Aufenthaltes viele Kollegen aus ihren alten, deutschsprachigen Netzwerken, die Deutschland nach 1933 verlassen hatten und im Exil geblieben waren, darunter zum Beispiel auch Hirszfelds alten Lehrer aus Berliner Zeiten, Ulrich Friedemann. In Buffalo kontaktierte Hirszfeld mit dem Immunologen Ernst (oder Ernest) Witebsky einen weiteren Kollegen aus seinen Zeiten in Deutschland – von dessen Labor an der Medical School zeigte er sich allerdings wegen mangelnder Ausstattung geschockt. Ein Vertreter der Rockefeller Stiftung meinte daraufhin: »Wir sollten alle unsere europäischen Besucher in Labore wie Buffalo schicken, die in die zweite oder dritte Kategorie fallen …«117 Beide Hirszfelds studierten intensiv die während des Krieges entwickelten Techniken, besonders in der Virusund der Blutgruppenforschung. Der USA-Aufenthalt setzte in ihrem Leben große Energien und ambitionierte Ziele frei. Voller Enthusiasmus informierten sie die Vertreter der Stiftung von ihren Plänen für Breslau, wo sie dreierlei einrichten wollten: ein Laboratorium für Virusforschung, eine Schule für Krankenschwestern und ein Institut für Hygiene, um diese als Ausbildungsgegenstand an den medizinischen Fakultäten der Universität zu etablieren – Hirszfeld nannte diesen Zweig der Ausbildung in Europa »archaisch«. Auch damit verfolgte er ein Ziel aus der Vorkriegszeit.118 Die Ausstattung für diese neuen Einrichtungen sollte nun aus den USA kommen. Die Zeiten, in denen Hirszfeld oder andere Forscherinnen und Forscher ihre Labore mit Geräten aus Deutschland ausstatteten, waren vorläufig zumindest vorbei – mit der Vertreibung vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die USA hatte Deutschland seine führende Rolle in vielen Feldern der medizinischen Forschung zunächst verloren. Zudem mieden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Hirszfeld aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen Deutschland, wie oben bereits dargestellt. Für das geplante Zentrum für Virusforschung veranschlagte Hirszfeld Kosten in Höhe von 30.000 bis 40.000 Dollar. Außerdem prognostizierte er monatliche 500 Dollar an erforderlicher institutioneller Unterstützung.119 Allerdings konnten die Hirszfelds die Voraussetzungen für eine solche Unterstützung, nämlich politische und ökonomische Stabilität, nicht garantieren – wie bereits nach dem Ersten 116 AWAM 0/5, Ludwik Hirszfeld an den Rektor der Medizinischen Akademie, 16. 6. 1946. 117 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25, RAL Diary, 10. 7. und 12. 8. 1946. 118 RA , RG 12, Diaires of Georg K. Strode, 1946, S. 117 f. 119 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25, Hirszfeld an Leech, 18. 6. 1946. 451 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Weltkrieg, als die Mittel für die Schule für Hygiene verzögert wurden, blieb die Stiftung diesem Prinzip treu.120 Die Hirszfelds erklärten zwar, dass ihr Vertrauen in das System in Polen so hoch sei, dass sie dort auf jeden Fall bleiben wollten. Dies reichte den Vertretern der Stiftung nicht, obwohl sie sich davon überzeugt zeigten, dass Polen von allen alliierten Ländern vom Krieg am härtesten betroffen war. Ludwik Hirszfeld hatte sich in den Kreisen der Stiftung inzwischen den Ruf einer »herausragenden wissenschaftlichen Führungspersönlichkeit« erarbeitet, daher war die Stiftung gleichwohl bereit, ihn vor allem auf dem Gebiet von medizinischer Ausbildung und Forschung, den damaligen Hauptinteressen der Stiftung, jenseits einer institutionellen Förderung zu unterstützen.121 So erhielten die Hirszfelds vor ihrer Abreise 1500 Dollar für den Kauf von Geräten, Zentrifugen, Kühlschränken, Mikroskopen und vielem mehr. Diese Dinge suchten sie in New York selbst aus. Mithilfe der UNRRA sollte diese Ausrüstung nach Warschau gebracht werden. Wieder in Breslau angekommen, orderten sie noch eine Ultrazentrifuge für die Virusforschung – auch dafür bekamen sie noch einmal 1000 Dollar. Des Weiteren erhielt Hirszfeld die Zusage für ein Stipendium für seinen Mitarbeiter Henryk Makower, der sich in den USA in Virusforschung spezialisieren sollte.122 Darüber hinaus verschifften die Hirszfelds große Mengen an Fachliteratur nach Polen. Nicht alles, was sie selbst auf Reisen schickten oder anforderten, kam auch an: Laufende Fachzeitschriften aus den USA , die Hirszfeld sehr wichtig waren, um über neue Forschungsergebnisse informiert zu sein, wurden zum Beispiel durch die polnische Post im Juni 1946 zurückgeschickt – hier bat er die Universität um Intervention.123 Die Versendung von Materialien und Zeitschriften verursachte in den Folgejahren immer wieder Probleme, wobei nicht klar ist, ob dies der Zensur oder strukturellen Unzulänglichkeiten geschuldet war. Nachdem die Hirszfelds wieder in Breslau angekommen waren, zeigte sich Hirszfeld nach wie vor beeindruckt von der Reise, die es ihm ermög120 Zur Arbeit der Rockefeller-Stiftung im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg liegt kaum Literatur vor, anders für Deutschland, siehe Sabine Schleiermacher, ›Importance of Germany to Countries around and to World Economy makes it impossible to ignore‹ – The Rockefeller Foundation and Public Health in Germany after WWII, in: Business History 60 (2018), S. 1-17. 121 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 25. 122 Als Makower im Oktober 1947 in den USA weilte, hinterließ er keinen guten Eindruck: »he is a most demanding and insiting person …«; siehe RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 27, Diary of Robert R. Struthers, 4. 10. 1947. 123 AWAM 0/5, Ludwik Hirszfeld an den Rektor der Medizinischen Akademie, 16. 6. 1946. 452 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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licht habe, rasch wissenschaftlichen Anschluss an die Forschungen in den USA zu finden und seine weiteren Forschungen in Breslau erheblich voranzubringen.124 Begeistert berichtete er von der amerikanischen Wissenschaft, von der Freiheit des Denkens, einer bestimmten Psychologie des Arbeitens, der Verantwortung der Forschenden für ihre Entdeckungen (dies schloss kritische Reflexionen etwa über den Bau der Atombombe ein) und der Entdeckerfreudigkeit, gepaart mit Mut.125 Er war voller Tatendrang, das Beobachtete und Ausprobierte in Polen zu implementieren und möglichst viele polnische Bakteriologen mit den Entwicklungen in den USA vertraut zu machen. Da er diese aufgrund seiner eigenen Forschungen zur Konstitutionsserologie aus der Zeit vor dem Krieg sehr gut nachvollziehen konnte, fiel es ihm relativ leicht, seine eigenen Erkenntnisse mit den neuen, die in den USA entstanden waren, zu verbinden. Er etablierte ein Zentrum für Virusforschung und setzte die Arbeit an den Bakteriophagen fort. In dieser Zeit, in die auch sein 40-jähriges Dienstjubiläum fiel, fühlte er sich augenscheinlich in Breslau wohl und berichtete an den alten Kollegen Fritz Verzár nach Basel, dass die Stimmung bei diesem Jubiläum sehr herzlich gewesen sei: »Ich war sehr gerührt. Das menschliche Wohlwollen tat mir wohl.«126 Wissenschaftlich entpuppte sich in dieser Zeit das Wissen über den sogenannten RhesusFaktor als entscheidend, dessen Entdeckung eine der bedeutendsten in der Blutgruppenforschung darstellte, bezeichnet doch das Rhesus-Blutgruppensystem – nach dem AB0-System – das zweitwichtigste Blutgruppensystem des Menschen. Der Rhesusfaktor ist ein dominant erblicher Faktor der roten Blutkörperchen, dessen Vorhandensein oder Fehlen neben der Blutgruppe ein wichtiges Bestimmungsmerkmal beim Menschen ist, um Komplikationen etwa bei Transfusionen und Schwangerschaften vorzubeugen. Erstmalig hatten ihn Karl Landsteiner, der Entdecker der Blutgruppen, Alexander Wiener und Landsteiners Assistent Philip Levine während des Krieges in den USA beschrieben – diese Erkenntnisse, mit denen Hirszfeld in den USA in Kontakt kam, konnte er nach 1946 sofort in seine Forschungen in Polen integrieren. Es ging ihm hier besonders um einen seiner Forschungsschwerpunkte, nämlich die Blutgruppentypen von Schwangeren und ihren Kindern. Hirszfeld hatte herausgefunden, dass die Wahrscheinlichkeit von Fehlgeburten als Folge von konfligierenden Blutgruppen zwischen Mutter und Kind entstehen konnten.127 Dieses Forschungsergebnis hatte Hirszfeld bereits in seiner 124 125 126 127

RA , RG 12, Diary of Georg K. Strode, 1946, S. 141. Hirszfeld, Wrażenia, in: PTL 2/6 (1947), S. 188-191, S. 189. APAN LH III-157-108, Bl. 98, Ludwik Hirszfeld an Fritz Verzár, 17. 11. 1947. Kozuschek, Hirszfeld, S. 161.

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Konstitutionsserologie von 1928 vorausgesehen, hatte aber damals noch angemerkt, die Frage, warum Kinder mit einer anderen Blutgruppe als die Mutter am Leben blieben, sei bislang ungelöst. Bis auf einige Vermutungen konnte er keine Beweise für seine These erbringen, dass die Kinder durch einen Mantel von Gruppensubstanzen vor den Antikörpern der Mutter geschützt seien, diese aber manchmal versagen würden.128 Die Frage geriet damals zunächst in Vergessenheit.129 Dies bestätigte Philip Levine, der 1946 an Hirszfeld schrieb, sie hätten vor nunmehr 16 Jahren nicht an den serologischen Konflikt zwischen Mutter und Fötus geglaubt – nun aber seien sie eines Besseren belehrt worden.130 Mit der Entdeckung des Rhesus-Faktors nahm diese Forschung eine neue Richtung, denn es stellte sich heraus, dass die serologischen Konflikte zwischen Mutter und Kind auf dem Rhesus-Faktor beruhten: Wenn das Blut einer Schwangeren Rh-negativ ist, das vom Vater hingegen Rhesuspositiv, kann das Kind ebenfalls den Rh-positiv-Faktor aufweisen und dann Antikörper gegen die Rh-positiven Zellen ausbilden, was eine bedrohliche Abwehrreaktion zur Folge haben kann. Um solche Erkenntnisse in Polen verbreiten und die neuen Eigenschaften des Blutes diagnostizieren zu können, benötigte Hirszfeld Serum, das ihm in Polen nicht zur Verfügung stand. Es musste aus den USA geschickt werden – erneut musste sich Material auf Reisen begeben, um weitere Erkenntnisse generieren und letztlich Leben retten zu können.131 Mit diesem Serum war Hirszfeld der erste Wissenschaftler in Polen, der in der Lage war, den Rhesus-Faktor zu markieren. Darüber hinaus gelang es ihm, 1949 eine Methode der Bluttransfusion einzuführen, die das Leben von Neugeborenen bei einer Unverträglichkeit mit dem Rh-Faktor retten konnte.132 Für diese Forschungen, mit denen Hirszfeld im Jahr 1950 unter dem Titel »Frühgeburten und Aborte im Lichte der Serologie und der Genetik« auf einem Kongress für Pädiatrie in Zürich auftreten sollte, interessierten sich Kollegen von Hirszfeld weltweit.133 Sie waren in 128 Ludwik Hirszfeld, Serologische Konflikte zwischen Mutter und Frucht im Lichte der Immunologie und der Genetik, in: Pathologie und Bakteriologie 14 (1951), S. 133-145, S. 134. 129 Hanna Hirszfeld, Historia II, S. 4. 130 Ebd., S. 4. 131 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 2, Hirszfeld an Lambert, 21. 4. und 23. 6. 1947. 132 Hirszfeld, Serologische Konflikte; Jan Trzynadlowski (Hg.), Nauka Polska we Wrocławiu w latach 1945-1965 i jej znaczenie społeczne, Wrocław 1965, S. 160-162; auch Hanna Hirszfeld, Historia, S. 22. 133 Siehe etwa APAN LH III-157-109, Bl. 8: Chefarzt des Martin-Luther-Krankenhauses in Berlin an L. Hirszfeld, 23. 9. 1950. Jener Arzt bat Hirszfeld um die Zusendung seiner Ergebnisse. 454 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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interdisziplinärem Austausch mit dem Mathematiker Steinhaus in Breslau entstanden, um die statistischen Probleme des Antagonismus zwischen der Mutter und dem Fötus klären zu können. Für diese Forschungen wurde Hirszfeld im Jahr 1950 für den Nobelpreis vorgeschlagen, die Begründung schrieb der erwähnte Ernst Witebsky aus Buffalo.134 Die Frage, aus welchem Grund er und sein Team in Polen vor dem Krieg nicht in der Lage waren, den Rhesus-Faktor zu beschreiben, obwohl die Wissenschaft doch der Lösung bereits sehr nahe gewesen sei, beschäftigte Hirszfeld intensiv – letztlich ging es dabei um nichts Geringeres als die Frage, wie Erkenntnis entsteht. Darüber dachte Hirszfeld öffentlich in einem langen Bericht über seine Reise in die USA nach, den die Fachzeitschrift Polski Tygodnik Lekarski (Polnische Ärztliche Wochenschrift) veröffentlichte.135 Er kam zu dem Ergebnis, dass nicht das Material oder die Ausstattung von Laboren in den USA diese Entdeckung ermöglicht hätten. Er schrieb dies eher immateriellen Umständen zu, nämlich der Tatsache, dass Bluttransfusionen in den USA häufiger erprobt worden seien, dass sie in den USA stets unter der Kontrolle von Serologen stattfänden und dass ein theoretischer Austausch dort an der Tagesordnung sei – kurzum, nicht die Größe des Labors sei entscheidend gewesen, sondern das »wissenschaftliche Klima« und die Art zu denken und zu arbeiten.136 Philip Levine bestätigte später die Annahme, dass die Entdeckung neuer Blutgruppenmerkmale unter anderem von einer hohen Anzahl von Bluttransfusionen stimuliert worden sei.137 Deutlicher hätte Hirszfeld die lokale Bedingtheit von Wissensgenerierung und deren Abhängigkeit von nicht nur materiellen, sondern auch epistemischen, kulturellen und sozialen Faktoren, aus denen lokal geteilte Praktiken erwachsen können, nicht machen können. Umso erstaunlicher ist es, dass Hirszfeld nach wie vor mit großer Verve an der Überzeugung festhielt, dass »die Wahrheit« in seinem Wissensfeld stets verifizierbar sei, worauf weiter unten eingegangen wird. Jedenfalls beschäftigte ihn die Tatsache, dass es ihm in Polen eben nicht gelungen war, diese »Entdeckung« bereits in den 1920er Jahren zu machen, auf ganz grundsätzliche Art und Weise – im Jahr 1953 schrieb er an seinen ehemaligen Kollegen 134 Siehe Balińska, Schneider, Introduction, S. xxvii; Steinhaus, Erinnerungen II, S. 170 und 184. 135 Dass Hirszfeld den Bericht veröffentlichen konnte, ohne auf das damals virulente Problem biologischer Waffen in den USA einzugehen, was Kritik in Polen hervorrief, dürfte seinen Netzwerken zu verdanken sein, denn viele der Vorkriegs-Ärzte besetzten noch die Redakteursstellen der Fachzeitschriften. 136 Hirszfeld, Wrażenia, in: PTL 2/7, S. 220. 137 Philip Levine, The Genetics of the Newer Human Blood Factors, in: Advances in Genetics 4 (1954), S. 184-234, S. 226. 455 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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aus dem Staatlichen Hygiene-Institut, Marcin Kacprzak, dass in den 1920er Jahren seine weiteren Forschungen auch von polnischen Kolleginnen und Kollegen – und damit vom wissenschaftlichen Klima in Polen – verhindert worden seien, weil sie eben nicht mutig genug auf dem Weg neuer Forschung vorangeschritten seien. Er beklagte, dass die polnische Wissenschaft generell durch das Fehlen eigenständigen Denkens, von Feigheit und von mangelnder Risikobereitschaft gekennzeichnet sei. Mit Bitterkeit, wie er selbst vermerkte, sehe er immer noch eine Antipathie gegen neue Gedanken, die dazu führe, dass polnische Ärztinnen und Ärzte, wissenschaftliche Beiräte, Kommissionen und Komitees auch weiterhin an der Peripherie des wahren wissenschaftlichen Lebens stünden – dieses Leben verortete er eher in den USA mit all ihren erwähnten Attributen.138 Er selbst, der sich in dieser Korrespondenz ironisch attestierte, etwas eingebildet zu sein, wogegen er aber nichts tun könne, war wohl auch aus diesem Grund bemüht, nach seinem USA-Aufenthalt den Kontakt zu seinen Kollegen in den USA und der Rockefeller-Stiftung zu halten. Im Oktober 1947 besuchte Robert R. Struthers, der Direktor des Europäischen Büros der Stiftung in Paris, erneut Hirszfeld und sein Institut und hielt fest: »In general, the medical school of Wroclaw seems better housed, somewhat better equipped, and doing better scientific work than either Warsaw or Cracow; no doubt due to the scientific enthusiasm of the Hirszfelds. They seem to stand head and shoulders above the rest of the group and are regarded with great veneration and respect, and treated with great kindness. Both seem fatigued, rather falsely cheerful and are at times absentminded and vague. It is rather pitiful to watch two such charming people, carrying on under such difficult circumstances, living in a very small and modest flat, without telephone or service, yet doing scientific work, guiding and stimulating others to follow on. They speak constantly of the benefits of RF aid, and of their recent voyage to America and the unusual kindness showed them by RAL and O’B.«139 Seine positive Einstellung zu den USA behielt Hirszfeld auch in späteren Jahren bei, als die USA im Zuge der sich verhärtenden Blockkonfronta138 APAN LH III-57 105, Bl. 75, L. Hirszfeld an Marcin Kacprzak, 3. 7. 1953. 139 RA RG 1. 1. 789 A, 3, 26. From Robert R. Struthers diary, 3. 10. 1947, Wroclaw. Die Abkürzungen RAL und O’B stehen ebenfalls für Vertreter der Rockefeller-Stiftung, für Robert A. Lambert and Daniel P. O’Brian, die die Hirszfelds in den USA betreuten. Aufgrund der charakteristischen Sprache wird hier das Original angeführt. 456 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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tion in der Sowjetunion und den Ländern unter ihrem Einfluss immer mehr zum obersten Feind erklärt wurden. So beteiligte er sich auch nicht an der Propagandakampagne der kommunistischen Welt gegen die USA , denen man 1952 den Einsatz biologischer Waffen im Korea-Krieg vorhielt, womit er sich den Erwartungen der polnischen Regierung widersetzte.140 Angesichts der materiellen und infrastrukturellen Situation in Polen ersuchte er die Rockefeller-Stiftung auch immer wieder, solange dies möglich war, um Unterstützung. Er bat um Ausstattung, um Seren und um Literatur. Im Dezember 1949 etwa forderte er einige Geräte an, darunter ein Viskosimeter, acht Ultraviolett-Lampen und einen Apparat zur Gefriertrocknung von Bakterien. Die Reaktion der Rockefeller-Stiftung war nun nicht mehr ganz so entgegenkommend wie in den Jahren zuvor: »I regret that I have the impression that H. is becoming like most Eastern Europeans ›endless‹ in his demands for assistance. He concludes his letter by asking for ten past volumes of the ›Journal of Experimental Medicine‹, though I have repeatedly told him that the supplying of journals is not in our program«, liest sich dies in einer Notiz von Robert R. Struthers.141 Einige Geräte sollten noch ausgeliefert werden, wenngleich nicht alle seine Wünsche erfüllt wurden.142 Im Jahr 1950 kam es in der Stiftung zu Überlegungen, die Hilfen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die hinter dem sogenannten »Eisernen Vorhang« arbeiteten, einzuschränken. Zwar wollte Struthers die Zusammenarbeit mit Ländern wie Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien weiterführen, solange die Sicherheit der dortigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dadurch nicht gefährdet sei. Aber angesichts von Gerüchten, dass ihnen diese Zusammenarbeit schadete, wollte er keine Ausweitung von Korrespondenzen und Kontakten.143 Auf der anderen Seite war die Stiftung bestrebt, die medizinischen Standards, in die sie jahrelang investiert hatte, trotz der Systemkonfrontation zu erhalten, so dass der Kontakt vorläufig nicht gänzlich abriss.144 Diese Systemkonfrontation führte in Polen dazu, dass die Internationalität von Wissenschaft, die in den 1940er Jahren noch gewährleistet 140 Siehe Mary Rolicka, Ludwik Hirszfeld’s Role in Polish Microbiology. in: American Society for Microbiology News 58/3 (1992), S. 145-147, S. 147. 141 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 26, Struthers am 15. 5. 1950. 142 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 26, Notiz vom 13. 4. 1950. 143 RA RG 1. 1. 789A, Box 3, Folder 26, Robert S. Morison, 26. 5. 1950. 144 Rockefeller Foundation, Transatlantic Perspectives, 2018, Transatlantic Perspectives, URL: http://www.transatlanticperspectives.org/entry.php?rec=96 (Zugriff am 25. 9. 2020). Die Korrespondenz von Hirszfeld mit der Stiftung reißt zu Beginn der 1950er Jahre ab – inwieweit sie über diese Jahre hinaus noch Kontakt zu medizinischen Kreisen in Polen hatte, ist nicht bekannt. 457 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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war, immer mehr kontrolliert bzw. begrenzt wurde. Es gab Verbote, Kongressbeiträge polnischer Forscherinnen und Forscher auf ausländischen Kongressen international zirkulieren zu lassen.145 Veröffentlichungen in ausländischen Zeitschriften mussten jeweils durch die Hand entsprechender Ministerien gehen, und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wie Hirszfeld mussten eine Druckfreigabe jeweils nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Assistentinnen und Assistenten beantragen.146 Die Mitgliedschaft in internationalen Gesellschaften wie etwa der International Society of Hematology war nur möglich, wenn diese Gesellschaften auf die Mitgliedsbeiträge verzichteten.147 Hirszfeld beklagte darüber hinaus immer wieder Verzögerungen seiner Veröffentlichungen in Polen, was zur Folge hatte, dass er die Manuskripte nicht ins Ausland schicken konnte. Er befürchtete, dass dadurch seine Forschungsergebnisse ihre Originalität verlieren könnten.148 Zudem war es für seine Arbeit (und nicht nur für seine) immens wichtig, Forschungsergebnisse mit denen anderer zu vergleichen, um etwa herauszufinden, ob die Eigenschaften des Blutes, die er für Polen beschrieb, anderswo ähnlich analysiert wurden – dies wurde vor allem in den 1950er Jahren immer schwieriger, weil jeglicher (internationaler) Austausch genehmigt werden musste und oft verzögert wurde. Für seine Forschungen brauchte er, wie erwähnt, regelmäßig Seren aus dem Ausland, nicht nur aus den USA , sondern etwa auch aus der Schweiz. Manchmal wurden sie ihm auch persönlich auf Kongressen übergeben – dies schien die sicherere Variante. Weil Hirszfeld wollte, »das[s] Polen im Sinne der Direktiven unserer Regierung aufhört, nur eine Empfängerin von fremden Gedanken und fremden Seren zu sein, sondern sich bei den Staaten einreiht, die eigene Gedanken haben, neue Wege beschreiten und sich für eingesandte Seren revanchieren«, wollte auch er die von ihm produzierten Seren ins Ausland schicken – die bürokratischen Hürden der ministerialen Genehmigung dafür erwiesen sich aber als immens hoch.149 Diese Einschränkungen konnten einem so transnational ausgerichteten Forscher wie Hirszfeld nicht gefallen. Er kritisierte diese Entwicklungen immer wieder, etwa auf den Sitzungen des Wissenschaftlichen Rates 145 APAN LH III-157-76, Bl. 106, Przemówienia okolicznościowe. 146 Siehe etwa APAN LH III-57, Bl. 93, Ludwik Hirszfeld an das Gesundheitsministerium, o. D. 147 APAN LH III-157-110, Bl. 60, Joseph M. Hill an Hirszfeld, 19. 9. 1947, auch III157-110, Bl. 52. 148 APAN LH III-157-110, Bl. 106, Ludwik Hirszfeld an das Gesundheitsministerium, o. D. [1950er Jahre]. 149 Ebd. 458 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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beim Gesundheitsministerium. Am 12. Januar 1953 akzentuierte er zum Beispiel, dass die Gelehrten in den Volksdemokratien doch die Pflicht hätten zu zeigen, dass die Wissenschaft im sozialistischen Staat Entwicklungspotentiale aufweise und weitgesteckte gesellschaftliche Ziele verfolge.150 Aber trotz der politischen Umstände war Hirszfeld bis Anfang der 1950er Jahre weiterhin in der Lage, die Auszeichnungen entgegen zu nehmen, die er nun auch international für sein Lebenswerk erhielt, unter anderen eine Ehrendoktorwürde der Karls-Universität in Prag im Jahr 1950. Im folgenden Jahr schlugen ihn Arthur Grumbach, Direktor des Hygiene-Institutes und Extraordinarius für Hygiene und Bakteriologie an der Universität Zürich, sowie Wilhelm Löffler, Professor und Direktor der Medizinischen Klinik der Universität Zürich, anlässlich des 1. Internationalen Allergiekongresses in Zürich für die Ehrenpromotion vor.151 Diese Auszeichnung sollte er »für seine unvergänglichen Verdienste auf dem Gebiet der Blutgruppenforschung« erhalten. In der Begründung wurde hervorgehoben, Hirszfeld habe richtig vorhergesehen, dass die Anthropologie und die Genetik der Blutgruppenforschung bis zum heutigen Tag Wesentliches zu verdanken hätten. Ebenso vorausgesehen habe er die Mutter-Fötus-Inkompatibilität in ihren Grundzügen, hieß es in der Begründung: »In den neuesten Arbeiten, über die er auch am Kongress referieren wird, führt er den habituellen Abort als Grund von 100 genetisch durchuntersuchten Fällen auf eine zellständige Rhesussensibilisierung zurück.« Die Ehrenpromotion fand am 23. September 1951 statt.152 Als in ihrem Vorfeld in der Medizinischen Fakultät im Juli 1951 in Zürich über diese Ehrenpromotion abgestimmt werden sollte, kam es zu folgender Diskussion: Der Mikrobiologe Hermann Mooser merkte in durchaus kritischer Absicht an, Hirszfeld sei ein aktiver Kommunist. Nachdem Arthur Grumbach einen Beleg dafür verlangt hatte, blieb Mooser diesen schuldig. Der polnisch-schweizerische Neurologe Mieczyslaw Minkowski stellte wiederum klar, man könne in Hirszfelds Biographie keine Spur von Kommunismus finden, er sei stets ein polnischer Patriot gewesen und geblieben. Daraufhin war die Diskussion schnell beendet und die Ehrenpromotion für Hirszfeld beschlossen.153 Aufgrund 150 APAN LH III-157-76, Bl. 106, Przemówienia okolicznościowe. 151 Arthur Grumbach, In memoriam Ludwik Hirszfeld, 1884-1954, in: Schweizerische Zeitschrift für Allgemeine Pathologie und Bakteriologie 17 (1954), S. 123-127, S. 127. 152 Universität Zürich Archiv AF 1.207, Ehrendoktoren: Personaldossiers. Ludwik Hirszfeld. 153 Staatsarchiv Zürich Z 70.2882, Protokolle der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich vom 3. 5. 1950-20. 2. 1952, Sitzung vom 4. 6. 1951. 459 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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welcher Überlegungen oder Informationen ihn Mooser in Zürich als Kommunisten eingeschätzt hatte, ist nicht bekannt. Im folgenden Abschnitt soll dieser Frage aber genauer nachgegangen und analysiert werden, wie Hirszfeld sich gegenüber dem neuen System verhielt, welche Handlungsräume ihm eingeräumt wurden bzw. welche er sich selbst schaffen konnte und wollte und an welche Grenzen er stieß. {āĞÏĚƒďåüƨĚĮƐƣĻÚƐ)ĞďåĻžĞĻĻ×Ɛ)ŤĞžƒåķĞžÏĚåƐFÚå±ĮåƐƽåŹžƣžƐžƒ±ĮĞĻĞžƒĞžÏĚåƐ FÚåŇĮŇďĞžĞåŹƣĻďƐƽŇĻƐœĞžžåĻžÏ̱üƒ

Ludwik Hirszfeld war in der Nachkriegszeit zweifellos von einem Pflichtund Ehrgefühl erfüllt, etwas aus der alten Welt der akademischen Freiheit und Autonomie in die Dynamik des Neuanfangs zu retten – er wollte die Rolle eines public intellectual im neuen Polen übernehmen.154 Wie er eine solche Rolle verstand, hatte er in dem erwähnten Brief an Robert Doerr beschrieben: Er hielt die Angehörigen der Inteligencja für mitverantwortlich dafür, welche Anschauungen es in einem Volk gebe und wie es sich in Konflikt- oder Krisensituation verhalte. Aus Sorge um das Land engagierte sich Hirszfeld, wie bereits erwähnt, in der unmittelbaren Nachkriegszeit umfangreich in praktischer medizinischer Arbeit, etwa in der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Erneut betrachtete er die Verteidigungsfähigkeit des Landes, die er bereits in der Zwischenkriegszeit mit Gesundheitsfragen und Fragen des Blutes verbunden hatte, unter dem Gesichtspunkt von ausreichenden Kapazitäten für Bluttransfusionen – in dieser Hinsicht war Polen für ihn weiterhin »sehr rückständig, trotz meiner langjährigen Bemühungen in dieser Richtung«.155 Sein Wissen und seine Expertise brachte Hirszfeld nach dem Krieg wieder in wissenschaftliche Gesellschaften und Fachverbände ein, unter anderem in die Polnische Gesellschaft der Mikrobiologen (Polskie Towarzystwo Mikrobiologów), deren Vorsitz er in den Jahren 19471951 übernahm. Man ernannte ihn zum Mitglied des Präsidiums der Polnischen Akademie der Wissenschaften, und er wirkte als Berater im Nationalen Gesundheitsrat mit; auf diese Weise stand er in ständigem Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern der neuen Regierung in Fragen der Gesundheitspolitik sowie der materiellen und personellen Ausstattung der medizinischen Fakultäten in Polen. Im Ausland ernannte man ihn zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften von New York. 154 Siehe auch Eryk Krasucki, Międzynarodowy komunista. Jerzy Borejsza. Biografia polityczna, Warszawa 2009, S. 124. 155 APAN LH III-157-55, Ludwik Hirszfeld an den Vize-Gesundheitsminister Bednarski, o. D. (1952). 460 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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In den Gremien und Gesellschaften wie zum Beispiel der Breslauer Wissenschaftlichen Gesellschaft (Wrocławskie Towarzystwo Naukowe), in deren Rahmen Hirszfeld Vorträge hielt und mit Kolleginnen und Kollegen über die Ermittlung der Vaterschaft diskutierte, pflegte er, sofern dies möglich war, vor allem einen intensiven Kontakt zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Vorkriegszeit. In diesen Netzwerken konnte, so erinnerte es Hugo Steinhaus, auch im Jahr 1951 noch »recht frei«, also ohne ideologische Einflüsse, diskutiert werden.156 Zu Hirszfelds Netzwerk gehörten etwa der Mikrobiologe Zygmunt Szymanowski von der Universität Warschau, jetzt Lodz, Hugo Steinhaus, der Mathematiker aus Lemberg, jetzt Breslau, oder Feliks Przesmycki, sein ehemaliger Kollege am staatlichen Hygiene-Institut. Hirszfeld verkehrte aber auch mit den Vertretern der »neuen Wissenschaft« in Polen, wie etwa dem Biologen Jan Dembowski, die danach strebten, die wichtigen Posten sowohl an den Universitäten als auch in Fachgesellschaften oder Redaktionen von Fachzeitschriften zu übernehmen oder mit ihrer Gefolgschaft zu besetzen. Aber zunächst dominierten noch die Vertreter der älteren Professorenschaft – gut lässt sich dies etwa am Redaktionskomitee der Zeitschrift Medycyna doświadczalna i Mikrobiologia (Experimentelle Medizin und Mikrobiologie) beobachten. Ihre Wiedergründung im Jahr 1949 knüpfte an die Zeitschrift Medycyna doświadczalna i społeczna (Experimentelle und soziale Medizin) aus der Vorkriegszeit an. Sie wurde gemeinsam vom Staatlichen Hygiene-Institut und der erwähnten Polnischen Gesellschaft für Mikrobiologie von Ludwik Hirszfeld herausgegeben, gemeinsam mit alten Weggefährten wie dem erwähnten Karol Jakub Parnas in Moskau, Feliks Przesmycki, Ludwik Rajchman zunächst in Washington, dann in Paris, Zygmunt Szymanowski in Lodz und Rudolf Weigl in Posen – die Dominanz der älteren Professorenschaft war sehr deutlich. In Hirszfelds Schriften oder der Korrespondenz mit jenen älteren Professoren sowie seinen Reden aus dieser Zeit fällt denn auch ein häufiger Bezug auf die Tradition auf, auf die Tradition des Staatlichen Hygiene-Instituts oder auf die Sozialmedizin in Polen vor dem Krieg – Hirszfeld wollte verhindern, dass diese Traditionen vernachlässigt oder verschwiegen wurden, neigten doch die neuen Machthaber dazu, jegliche von ihnen übernommenen Institutionen und Errungenschaften als neu oder von ihnen initiiert darzustellen oder ihre Vorkriegsvariante zu verdammen. Dieses Schicksal traf auch das Staatliche Hygiene-Institut, dem

156 Steinhaus, Erinnerungen II, S. 207. 461 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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eine elitäre Haltung und Antisemitismus vorgeworfen wurden; es galt als reaktionär.157 Aus der Korrespondenz mit Zygmunt Szymanowski lässt sich herauslesen, wie Hirszfeld seine Rolle nach dem anfänglichen Enthusiasmus des Wiederaufbaus im stalinistischen Alltag in Polen sah und welche Grundhaltung er zu dem sich etablierenden System einnahm. Szymanowski wollte 1951 vom Vorsitz der Gesellschaft der Mikrobiologie, die zuvor Hirszfeld geleitet hatte, zurücktreten. Dies galt es in Hirszfelds Augen unbedingt zu verhindern. Hirszfeld zählte sich und Szymanowski zu einer »alten Garde«, deren Aufgabe es sei, die Einheit der Gesellschaft zu erhalten. Diese sah er von mehreren Seiten bedroht: zum einen von den Machtgelüsten der »Endeken aus Lemberg«, womit er ehemalige Anhänger der rechtsnationalistischen Nationaldemokratie, der sogenannten Endecja, meinte; von den Machtgelüsten der »kommunisierenden Primitiven« (also Vertretern aufstrebender Schichten aus der Arbeiterschaft oder den Bauern, die mit der Parteienherrschaft sympathisierten) und den »Machtgelüsten der Kinder«, die glaubten, sie könnten mit einer »oberflächlichen Kenntnis des Marxismus die Kenntnis von Leben und Wissenschaft ersetzen«. Eine unparteiische und autonome Wissenschaft erhalten zu können, erfordere hingegen »Maß, Takt und Autorität« gegenüber den Mitgliedern der Gesellschaft und dem Ministerium, so Hirszfeld. So habe er es in den letzten fünf Jahren gehalten, und Hirszfeld appellierte an Szymanowski, den Vorsitz im »Namen einer Sache, die uns beiden wichtig ist und für die wir Senioren gegenüber kommenden Generationen verantwortlich sind«, zu behalten.158 Szymanowski tat ihm den Gefallen und blieb bis 1952 Vorsitzender. Das Pflichtgefühl der »alten Garde« war stärker als der Wunsch, sich den damit verbundenen Unannehmlichkeiten und Angriffen der verschiedenen Gruppen zu entziehen, die Hirszfeld hier auflistete. Gleichzeitig wird in der von ihm akzentuierten Trias »Maß, Takt und Autorität« deutlich, dass er zwar zu Kompromissen bereit, aber ebenso von seiner eigenen »Autorität« überzeugt war, mit der er gegenüber der Regierung auftreten konnte. Denn er spielte für diese Regierung und deren Pläne auch eine Rolle – erneut griffen Politik und Wissenschaft aufeinander zu. Diese Rolle nahm er zum Beispiel im Umfeld des erwähnten Ersten Kongresses der Wissenschaften in Polen, der die Errichtung der Akademie der Wissenschaften vorbereiten sollte, ein. Im Vorfeld des Kongresses ließ Hirszfeld 157 APAN LH III-157-108, Bl. 57-58, Ludwik Hirszfeld an Zygmunt Szymanowski, 28. 7. 1951. 158 Ebd. 462 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sich für die polnische Wochenschau in einer kleinen Filmsequenz in seinem Institut porträtieren, in der seine Verdienste um die Erforschung von ansteckenden Krankheiten und Resilienzen herausgestellt wurden – die Filmchronik betonte sodann, dass aus der Arbeiter- und Bauernjugend mithilfe von so renommierten Wissenschaftlern wie Hirszfeld »neue Kader« von Ärztinnen und Ärzten entstehen würden. Auf diese Weise partizipierte Hirszfeld nicht nur an einer breiten Popularisierung seiner Disziplin und der Naturwissenschaften, die die Regierung auf diese Weise dem Volk nahebringen wollte.159 Er signalisierte deutlich: Ich arbeite gemeinsam mit dieser Regierung zum Wohle der Nation, ich stehe für die immer wieder formelhaft vorgetragene Verbindung von Wissenschaft und Leben. Abgesehen von solch populären Auftritten hatte Hirszfeld auch die medizinische Sektion zur inhaltlichen Vorbereitung auf den Kongress geleitet.160 Bei deren Sitzungen ging es weniger um den öffentlichen Auftritt als vielmehr um die tatsächlichen Probleme der einzelnen Disziplinen, die auf dem Kongress verhandelt werden sollten. So sprachen die teilnehmenden Professorinnen und Professoren aus ganz Polen über die Schwierigkeiten und Entwicklungspotentiale verschiedener Zweige der Medizin im Vorfeld des Kongresses, auf dem solche Fragen dann in komprimierter Form verhandelt werden sollten. Gemäß den Ausrichtungen der staatssozialistischen Wissenschaftspolitik ging es dabei ausführlich um mangelnde Planung und ebenso mangelnde Kommunikation mit den sowjetischen Kolleginnen und Kollegen. Die Entwicklung der Mikrobiologie stellte Ludwik Hirszfeld als sehr positiv dar, weil die wichtigen Forschungsfragen, die auf der Welt diskutiert würden, auch in polnischen Laboratorien zur Alltagsarbeit gehörten. Er akzentuierte, dass die Mikrobiologie für gesellschaftliche Bedürfnisse arbeite, daher müsse jedes medizinische Institut in Polen ein bakteriologisches Labor erhalten, seien doch Antibiotika und Viren ausgesprochen gesellschaftliche Probleme, was erkannt werden müsse – auch in der Akzentuierung der Bakteriologie blieb Hirszfeld seinen Vorkriegsidealen treu. Weiter betonte er auf diesen Sitzungen, dass in der konzeptionellen Arbeit stets Freiheit herrschen müsse. Seine Worte erhielten ein sehr positives Echo – die Planung von Forschung in der Mikrobiologie wurde von den anwesenden Professoren für vorbildlich gehalten, wobei Zygmunt Szymanowski betonte, dass die Grundlagen für diese gute Ausgangslage der Arbeit von 159 Polska Kronika Filmowa 23/51 vom 30. 5. 1951: Przed Kongresem Nauki, Repozytorium Cyfrowe Filmoteki Narodowej. 160 Archiwum AM 02/5, Sprawozdanie z 3-go posiedzenia Podsekcji Podstawowych Nauk Lekarskich na I. Kongresie Nauki w 1950 r., 3.-4. 7. 1950. 463 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ludwik Rajchman aus der Vorkriegszeit zu verdanken sei – denn dieser habe bereits vor dem Krieg im PZH auf Planung bestanden.161 Das Milieu der Medizinerinnen und Mediziner erscheint in diesen Sitzungen als offen gegenüber Veränderungen und gleichzeitig als traditionsbewusst, in der Vorkriegszeit verwurzelt und nicht gewillt, diese Kontinuität zu verleugnen oder aufzugeben. In diesem Sinne und in Wahrnehmung seiner Mediatorenrolle zwischen »alt« und »neu« setzte sich Ludwik Hirszfeld dafür ein, dass Angriffe gegen das ehemalige Staatliche Hygiene-Institut auf dem Kongress ausblieben. Und so akzentuierte der Biologe Jan Dembowski, dass in jener Zeit die Schule des Serologen Hirszfeld entstanden sei und das PZH eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Wissenschaft gespielt habe.162 Diese Bemerkung war einzig und allein einer Intervention Hirszfelds im Vorfeld geschuldet. Ansonsten ließ Dembowski, wie erwähnt, an dieser Zeit kein gutes Haar, und das PZH geriet an anderer Stelle erheblich unter Beschuss.163 Während des Kongresses saß Hirszfeld im Präsidium und er war es auch, der einen Brief verlas, den der Kongress an den damaligen Staatspräsidenten Polens, Bolesław Bierut, verfasst hatte. Darin akzentuierten die Forscherinnen und Forscher ihre Arbeit im Dienste der Nation, die Verbindung der Wissenschaft mit dem Leben und versicherten, dass die Wissenschaftler aus Polen die Zusammenarbeit mit allen fortschrittlichen Gelehrten der Welt anstrebten, besonders aber mit den Gelehrten der UdSSR sowie der Volksdemokratien.164 Hirszfeld schrieb dem Kongress im Anschluss den Verdienst zu, die polnische Wissenschaft »aus dem Gefühl der Abgeschiedenheit und dem Gefühl der Wertlosigkeit und Demut« herausgeholt zu haben, das heißt, er war davon überzeugt, dass von dem Kongress tatsächlich Reformanstöße ausgegangen waren. Nun müsse man weiter gehen und »den polnischen Wissenschaftlern sagen, dass die polnische Wissenschaft zu Eroberungsexpeditionen fähig ist, dass sie etwas zu geben hat und nicht nur ewig lernt«. Diese Expeditionen sollte die Akademie der Wissenschaften leiten, so Hirszfeld in einem Brief an Jan Dembowski, mit dem er gemeinsam im Organisationskomitee für deren Errichtung saß.165 Hirszfeld dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass die Gründung der Akademie der Wissenschaften den 161 162 163 164

Ebd. Kongres Nauki Polskiej, Warszawa 1953, S. 48-49. APAN LH III-157, Bl. 108, Ludwik Hirszfeld an Zygmunt Szymanowski, 28. 7. 1951. List uczestników I Kongresu nauki polskiej do prezydenta R. P. Bołesława Bieruta, przedłożony przez prof. L. Hirszfeld, in: Kwartalnik Historyczny, Heft 3-4 (1950/51), S. 441-442. 165 APAN LH III-157-104, Bl. 108, Ludwik Hirszfeld an Jan Dembowski, 22. 2. 1952.

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Zielen des Regimes entsprach, sich die Unterstützung der Wissenschaft zu sichern und diese gleichzeitig besser kontrollieren zu können. Aus seinen Briefen spricht aber auch Begeisterung, die er für die Idee einer zentralen Institution entwickelte, weil er tatsächlich der Ansicht war, die Akademie könne die Wissenschaftsentwicklung fördern. Zudem hatte er die Absicht, an der Akademie ein Institut für Immunologie zu begründen – sein Engagement dürfte daher auch damit zu tun gehabt haben, dass er sich von der Institution etwas erwartete. Weitere Beispiele dafür, wie Hirszfeld das Regime direkt oder indirekt unterstützte, sind die Interviews, die er Zeitungen zu verschiedenen Themen gab, sowie die Akzeptanz hoher staatlicher Auszeichnungen wie des höchsten Ordens der Wiedergeburt Polens im Jahr 1951, den auch Hanna Hirszfeld 1954 erhielt.166 Darüber hinaus nahm er an Propagandaveranstaltungen wie dem Weltkongress der Intellektuellen zur Verteidigung des Friedens (Światowy Kongres Intelektualistów w Obronie Pokoju) teil, der in Breslau 1948 im Rahmen der Ausstellung »Wiedergewonnene Gebiete« (Wystawa Ziem Odzyskanych) stattfand. Die Ausstellung sollte der Welt die Polonität der neuen Westgebiete demonstrieren. Der Kongress, den zahlreiche Intellektuelle aus West- und Osteuropa wie Pablo Picasso, Paul Éluard, Max Frisch und Ilja Ehrenburg besuchten, war auf Anregung von Jerzy Borejsza zustande gekommen, dem bereits erwähnten Kulturfunktionär der PZPR , der Hirszfelds Autobiographie verlegte. Hirszfeld und Borejsza waren gut miteinander bekannt – aus den Erinnerungen seines Sohnes geht hervor, dass Hirszfeld ein häufiger Gast im Hause Borejsza in Warschau war.167 Auch auf dem Kongress der Wiedergewonnenen Gebiete (Kongres Ziem Odzyskanych) im Jahr 1952 in der Jahrhunderthalle in Breslau trat Hirszfeld auf. Die polnische Regierung nutzte Hirszfelds Renommee, um ihre Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen, daher übte sie teilweise Druck auf den Wissenschaftler aus, bei solchen Veranstaltungen Präsenz zu zeigen. Seine Teilnahme an dem Kongress der Intellektuellen erfolgte zumindest nicht ganz freiwillig. Denn zur gleichen Zeit wie der Kongress, vom 23. bis 26. August 1948, war Hirszfeld als Vertreter des Membership Comittee und als Redner mit dem Thema »The Pleiades Concept of the AB Blood Group Antigens« auf dem Internationalen Kongress der Hämatologen in Buffalo in den USA vorgesehen.168 Das Manuskript hatte er 166 Siehe Monitor Polski 96 (1954), Pos. 1213: Uchawala rady Państwa Nr. 0/396, S. 1327. 167 Mündliche Mitteilung von Jerzy W. Borejsza im Jahr 2014. 168 Convention Notes. International Society of Hematology Buffalo, N. Y., August 23-26, 1948, in: Blood 3 (1948), S. 720-727. 465 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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bereits zwei Monate vor dem Kongress eingereicht. Aber der Rektor der Universität zog die Erlaubnis für Hirszfeld, dort hinzufahren, zugunsten der Propagandaveranstaltung zurück.169 Somit verweigerte er Hirszfeld das, was diesem so sehr am Herzen lag, nämlich polnische Wissenschaft international zu vertreten. Der Vorfall veranlasste Hirszfeld zwei Monate später, in einem Brief an seinen Kollegen Ernst Witebsky in Buffalo, der das Programmkomitee des Kongresses geleitet hatte, zu klagen: »Ich habe kein persönliches Leben. Ich muss ständig auf viele Dinge verzichten, die für meine wissenschaftliche Arbeit und mein persönliches Leben wichtig sind.«170 Insofern kann man nicht davon ausgehen, dass alle Aktivitäten von Hirszfeld, die nach einer eindeutigen Unterstützung des Systems aussehen, auch als solche zu werten sind. Es kam immer wieder zu Aushandlungen in den (Wissens-)Räumen, in denen Hirszfeld aktiv war, den Räumen seiner alten Netzwerke, den Räumen der sich als »neu« inszenierenden staatssozialistischen Wissenschaft und den Räumen, in denen beide Welten aufeinandertrafen. Das Regime beschränkte Hirszfelds Handlungsräume ebenso, wie es sie ermöglichte. In diesen Räumen hatte auch Dankbarkeit gegenüber der Roten Armee für die Befreiung Polens und Hirszfelds ihren Platz. So verwundert es nicht, dass Hirszfeld in einer Radiosendung zum Tod von Josef Stalin eine Huldigung auf den Diktator ausbrachte, über die großen Errungenschaften des »Generalissimus« für die Welt der Wissenschaft sprach und der Sowjetunion persönlich für die Befreiung des Landes dankte. So sind seine Auftritte für und Kooperationen mit dem Regime auch als Teil einer ehrlichen Überzeugung zu werten und einer Hoffnung, nach 1945 in eine bessere Welt einzutreten.171 In der Öffentlichkeit trug er damit unzweifelhaft zum Bild einer Professorenschaft bei, die das neue System guthieß. Der Lysenkoismus und seine Auswirkungen

Sobald Hirszfeld seine epistemischen Ideale erheblich verletzt sah, kannte seine Kooperationsbereitschaft mit dem Regime Grenzen. Als er zum Beispiel aufgefordert wurde, seine Expertise für die Landesverteidigung zur Verfügung zu stellen, lehnte er dies ab, weil die Arbeiten geheim bleiben sollten – dies widersprach Hirszfelds Verständnis von öffentlicher, transparenter und letztlich demokratischer Wissenschaft.172 Viel 169 170 171 172

APAN LH III-157-108, Bl. 116, Ludwik Hirszfeld an Ernst Witebsky, 25. 10. 1948.

Ebd. Narodowe Archiwum Cyfrowe w Warszawie, 33-T-1026. APAN LH III-157-40, Bl. 26, Ludwik Hirszfeld an das militärisch-technische Institut, 8. 4. 1949.

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gravierender wirkte sich seit 1952 der sogenannte Lysenkoismus auf sein Leben aus. Zu dieser Zeit war Polen in hohem Maße von dieser pseudowissenschaftlichen Doktrin erfasst, die in der Sowjetunion als neu und verbindlich große Triumphe feierte. Der von Trofim D. Lysenko begründete Gegenentwurf zur modernen Genetik, basierend auf Jean-Baptiste Lamarcks Lehre der Vererbung erworbener Eigenschaften, postulierte, dass allein die Gesellschaft das Individuum präge. Die moderne Genetik wurde als »faschistisch« und »bourgeois« diskreditiert und als Ausdruck des kapitalistischen Individualismus verteufelt. Zahlreiche ihrer akademischen Vertreter wurden in Schauprozessen der Jahre 1937/38 zu mehrjährigen Strafen in Arbeitslagern verurteilt. Der Zweite Weltkrieg und der damit verbundene Zwang zur Kriegsrationalität hatten die politische Einflussnahme auf die Wissenschaften zwar kurz unterbrochen, so dass der Lysenkoismus kurzfristig in der Versenkung verschwand. Diese Verbindung flammte aber nach dem Krieg wieder auf und mündete in einem Verbot der Genetik und der Annahme des Lysenkoismus als Staatsdoktrin.173 In den Jahren 1949 bis 1953 schwappte die LysenkoKampagne nach Polen über. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die dem System nahestanden, wie der Biologe Dembowski, übernahmen sie eilfertig.174 Der Lysenkoismus in Polen war zwar eher kurzlebig, aber auch dort war er ein Signal für Konformität und Loyalität gegenüber der Sowjetunion. Eine offene Zurückweisung hätte eine Gefahr für die polnische Souveränität sein können. Nach Stalins Tod wurde von der »Theorie« überwiegend wieder abgegangen.175 Wie war Ludwik Hirszfeld davon betroffen? Eine seiner wesentlichen Entdeckungen, die Vererbbarkeit der Blutgruppen, entsprach mit der Übernahme der Ideen Lysenkos so gar nicht mehr den Kriterien der Parteiideologie – die Vererbbarkeit nach den Mendel’schen Vererbungsregeln kam im Lysenkoismus nicht vor. Denn ein Kernargument dieser »Theorie« war ja, dass die Eigenschaften von Organismen nicht durch Gene, sondern durch Umweltbedingungen bestimmt würden, wodurch sie den bekannten Grundlagen der Genetik widersprach. Sein gesamtes wissenschaftliches Leben hatte Hirszfeld damit verbracht, das Gegenteil dessen zu erforschen, was nun verkündet wurde. So konnte eine solche vermeintlich wissenschaftliche Auffassung für ihn nur grober Unfug 173 Forstner, Kalter Krieg, S. 314. 174 Wacław Gajewski. Lysenkoism in Poland, in: The Quarterly Review of Biology 65/4 (1990), S. 423-434, S. 428; siehe zum Beispiel Jan Dembowski, O nowej genetyce i dyskusja uczonych polskich o teorii Miczurina-Łysenki, Warszawa 1949. 175 William Dejong-Lambert, Lysenkoism in Poland, in: Journal of the History of Biology 45 (2012), S. 499-524, S. 520. 467 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sein – sein damaliger Mitarbeiter Feliks Milgrom erinnerte sich, wie Hirszfeld ihm erzählt habe, er sei zu jeder Art von Märtyrertum bereit, könnte er, indem er sich selbst opferte, die Sowjetunion und die Volksrepublik Polen von der Verbindung zu Lysenkos Biologie befreien.176 Dies stand aber nicht zur Debatte, im Gegenteil: Wer sich öffentlich nicht zu Lysenko bekannte, riskierte, seine berufliche Stellung zu verlieren oder anderweitig Schaden zu nehmen, und dies erfuhr Hirszfeld am eigenen Leib.177 Denn er und sein Team lehrten weiter die Genetik der Blutgruppen und ignorierten Lysenko mehr oder weniger, woraufhin Hirszfeld stärker in den Blick von Parteifunktionären geriet.178 1952 ereignete sich ein Vorfall, der von Hirszfelds eigensinnigem Verhalten zeugt und für ihn sehr negative Konsequenzen hatte. Hirszfeld sprach auf dem Zweiten Polnischen Hämatologie-Kongress in Danzig über »50 Jahre Blutgruppenforschung«, eine Art Bilanz seines Lebenswerkes.179 Er zeigte dort unter anderem das Diagramm mit dem »Biochemischen Rassenindex«, das er nach seinen seroanthropologischen Studien während des Ersten Weltkriegs erstellt hatte.180 Einige seiner in Danzig anwesenden Kollegen waren davon überzeugt, dass Hirszfelds Lebenswerk keine Bedeutung mehr in der neuen Zeit haben sollte: Sie hielten ihm Rassismus, Antisemitismus und Pseudowissenschaft vor.181 Während Hirszfeld vortrug, saß seine Frau Hanna in der ersten Reihe, in der Nähe von zwei führenden sowjetischen Hämatologen, G. A. Alekseyev and A. S. Kiselov, die als Gastredner nach Danzig gekommen waren. Sie hörte einen von ihnen sagen: »Seht Ihr, wie dieser Reaktionär und Antisemit die Russen neben die Juden platziert hat !«182 Felix Milgrom, einer von Hirszfelds Assistenten an der Medizinischen Akademie in Breslau, erinnerte sich, dass die sowjetischen Wissenschaftler von Hirszfelds Diagramm entsetzt gewesen sein. Sie sahen in ihrer Position auf diesem Diagramm, nämlich ziemlich weit rechts, neben den Juden und in der Nähe der Indochinesen und Inder eine »Beleidigung der rus176 Felix Milgrom, My Association with Ludwik Hirszfeld, Wroclaw 1945-1954, in: Archiwum Immunologiae et Therapiae Experementalis 46 (1998), S. 201-212, S. 208. 177 Kuchment, The Forgotten Cure, S. 67. 178 Milgrom, Association with Ludwik Hirszfeld, S. 208. 179 Ludwik Hirszfeld, 50-lecie badań nad grupami krwi, in: Polskie Archiwum Medycyny Wewnętrznej 23 (1953), S. 887-896. 180 Abgebildet in Kapitel 3.5. 181 Siehe Hirszfelds Bericht über diese Ereignisse in APAN LH III-157-76, Bl. 59-66, Przemówienie na posiedzeniu plenarnym Rady Naukowej przy Ministrze Zdrowia, 12. 1. 1953. 182 Hanna Hirszfeld, Historia II, S. 1. 468 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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sischen Nation«.183 Auf Einladung von Hirszfeld besuchten die beiden Wissenschaftler ihn im Anschluss in Breslau, wo sie unter anderem die Blutspendestelle besichtigten. Dort hing eine Tabelle an der Wand, die die Ausdifferenzierung der Blutgruppen auf der Welt zeigte und von Hirszfeld angefertigt worden war. Daraufhin nannten sie ihn erneut einen Reaktionär und Antisemiten.184 Für Hirszfeld waren diese Anschuldigungen gänzlich unbegründet, denn in seinen Augen hatte er lediglich eine »objektive Tatsache« präsentiert, nämlich die »biochemischen Unterschiede« zwischen den Menschen. Er hinterfragte die Aufteilung von Menschen in verschiedene »Typen« oder »Rassen« weiterhin nicht und war keineswegs bereit, angesichts politischen Drucks seine Forschungsergebnisse aus der Seroanthropologie zu widerrufen.185 Die Annahme, dass er eine Gegenüberstellung von höheren »Rassen« gegenüber niedrigeren »Rassen« vorgenommen habe und er daher ein Antisemit und Rassist sei, führte er darauf zurück, dass der sogenannte »Hitlerismus« tiefe Spuren hinterlassen habe. Hirszfeld berichtete über den Vorfall auch an die staatlichen und die Parteiorgane – er schrieb einen Brief an den Gesundheitsminister Jerzy Sztachelski, zu dem er ein gutes Verhältnis pflegte, und zog dort folgenden Vergleich: »Die Meinungen der Hitleristen, die ich bekämpft habe, indem ich mein Leben riskiert habe, werden derzeit bei uns wiederholt. Gleichgültig, dass dies unter anderen Voraussetzungen geschieht.«186 Hirszfeld hatte der Vorwurf des »Rassismus« hart getroffen. Er hielt aber daran fest, dass seine Forschungen auf der ganzen Welt anerkannt seien: »Nur Analphabeten oder Menschen bösen Willens könnten das falsch verstehen«, so seine Überzeugung und akzentuierte in einem Redemanuskript für den Wissenschaftlichen Beirat beim Gesundheitsministerium, Wissenschaft sich nur in einer Atmosphäre der Freiheit entfalten könne, und: »Die Wahrheit in der Biologie ist überprüfbar.« Hirszfeld sah sein Lebenswerk, das auf diesem Grundsatz aufbaute, massiv bedroht.187 In einem Aufsatz, den er im Anschluss an den Kongress veröffentlichte, nahm er noch einmal Stellung: Seine und Hanna Hirszfelds Forschungsergebnisse aus dem Ersten Weltkrieg seien deswegen kein Rassismus, weil die Feststellung von anthropologischen oder serologischen Merkmalen 183 Milgrom, Association with Ludwik Hirszfeld, S. 209. 184 Hanna Hirszfeld, Historia II, S. 2. 185 APAN LH III-157-76, Bl. 59-66, Przemówienie na posiedzeniu plenarnym Rady Naukowej przy Ministrze Zdrowia, 12. 1. 1953. 186 APAN LH III-57-76, Bl. 121, Ludwik Hirszfeld an Jerzy Stachelski, 28. 7. 1952. 187 APAN LH III-157-76, Bl. 59-66, Przemówienie na posiedzeniu plenarnym Rady Naukowej przy Ministrze Zdrowia, 12. 1. 1953, Hervorhebung im Original. 469 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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noch kein Rassismus sei, sondern erst ihre »gesellschaftliche Bewertung«. Er bestand darauf, biologische Unterschieden zwischen den Menschen festzustellen, denn ohne diese wäre keine Systematik möglich.188 Hirszfeld wies in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass allein in der Sowjetunion über 200.000 Forschungsarbeiten in der Seroanthropologie entstanden seien.189 Wie erwähnt, gehörten tatsächlich Forscherinnen und Forscher aus der Sowjetunion nach 1918 zu den eifrigsten Rezipienten der Forschungsergebnisse der Hirszfelds von der mazedonischen Front. Obwohl Hirszfelds Ansichten deutlich gegen die Parteilinie verstießen, konnte sein Aufsatz in einer polnischen Fachzeitschrift erscheinen, in diesem Fall nicht in einer medizinischen, sondern einer anthropologischen. Ihr Chefredakteur war Hirszfelds Breslauer Kollege, der Anthropologe Jan Mydlarski, der bereits seit den 1920er Jahren ein Anhänger von Hirszfelds Seroanthropologie war und selbst die anthropologische Reihenuntersuchung zu Beginn der polnischen Staatlichkeit nach 1918 mit der Serologie verbunden hatte. Hier zeigt sich erneut, dass es auch in der Hochphase des Stalinismus Räume gab, in denen manövriert werden konnte. Die Möglichkeiten von Akteuren wie Hirszfeld waren zwar begrenzt, aber er fand noch immer Räume, in denen er seine von der Parteilinie abweichenden Erkenntnisse veröffentlichen konnte. Wenn ihm in medizinischen Kreisen ein Maulkorb umgehängt werden sollte, wandte er sich an Mitglieder seiner Netzwerke in anderen Disziplinen, in diesem Fall der Anthropologie. Zudem handelte Hirszfeld weiterhin so, wie er es für angemessen hielt: mit Takt oder auch taktisch. Der Mathematiker Hugo Steinhaus kommentierte 1952 die Tatsache, dass Ludwik Hirszfeld auf einer Sitzung im Rahmen der Gründung der Akademie der Wissenschaften einen Brief an Stalin verfasste, wie folgt: »Hirszfeld, der Mitglied des Präsidiums der Akademie ist, glaubt, dass man ihm gestatten wird, klassische Genetik zu betreiben, wenn er solche Briefe verfasst. Und sie werfen ihm umso mehr Rassismus vor, weil sie erkennen, was sie davon für Freude an ihm haben.«190 Hier hatte sich Hirszfeld offenbar geirrt und auf eigensinnige Verhaltensstrategien gesetzt, die in den Jahren zuvor noch funktioniert hatten, jetzt aber nur noch begrenzt eingesetzt werden konnten. Es gelang ihm auch nicht mehr, ein großes Symposium über die Blutgruppen auszurichten, um seinen Standpunkt zu verdeut188 Ludwik Hirszfeld, Wspólczesna problemtyka grup krwi w zastosowaniu do antropologii, biologii, medycyny i zootechniki, in: Przegląd Antropologiczny XXI /4 (1954), S. 1273-1295, S. 1287. 189 Hanna Hirszfeld, Historia, S. 10. 190 Steinhaus, Erinnerungen II, S. 211. Eintrag vom 11. 7. 1952. 470 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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lichen, obwohl er zu diesem Zweck persönlich bei Gesundheitsminister Jerzy Sztachelski vorstellig wurde. Der Minister war dieser Idee gegenüber nicht abgeneigt, aber der wissenschaftliche Sekretär für die Abteilung II (Biologische Wissenschaften) der Polnischen Akademie der Wissenschaften, der Biologe Kazimierz Petrusewicz, blockierte diesen Versuch. Petrusewicz hatte zuvor die Abteilung Wissenschaft und Hochschulwesen der Polnischen Arbeiterpartei geleitet und war, wenig überraschend, ein Anhänger des Lysenkoismus und blieb dies bis in die 1960er Jahre hinein.191 1949 hatte Petrusewicz eigens eine Professur mit dem Ziel erhalten, den Lysenkoismus zu verbreiten.192 Jener Petrusewicz war es auch, der Hirszfelds Pläne durchkreuzte, im Jahr 1952 ein Institut für Immunologie an der neu gegründeten Akademie der Wissenschaften einzurichten und somit sein Institut von der Universität an die Akademie zu verlagern – davon versprach sich Hirszfeld vor allem einen Zugewinn an Prestige für eine große Forschungseinheit und bessere Bedingungen für die Forschung. Wie Hanna Hirszfeld nach den Erinnerungen ihres Mannes notierte, habe Petrusewicz Hirszfeld ins Gesicht gesagt, dass er ihn für einen versteckten Rassisten halte, weil er ein »Mendlist« sei, also ein Anhänger der Mendel’schen Vererbungsgesetze.193 Hirszfeld konterte, die Tatsache der Vererbung nicht zu beachten, käme in der Medizin einem Verbrechen gleich. Er hielt Petrusewicz vor, er verstehe nichts von medizinischen Fragen und es sei nicht die Aufgabe eines Sekretärs, ihn mit seiner schädlichen Einmischung in seiner wissenschaftlichen Arbeit zu behindern.194 Die Kontroverse war zusätzlich davon befeuert worden, dass Hirszfeld eine Broschüre des 1951 nach sowjetischem Vorbild gegründeten Instituts für Hämatologie (Instytut Hematologii) kritisiert hatte, die seiner Auffassung nach mehrere gefährliche Fehler in der Beschreibung von Bluttransfusionen enthielt. Als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts bot Hirszfeld an, diese Fehler zu korrigieren. Während Gesundheitsminister Sztachelski in dieser Frage den Standpunkt einnahm, zwei Broschüren könnten nebeneinander existieren, verhinderte Petrusewicz die Herausgabe der Hirszfeld’schen Korrekturen – die Einmischung des Vertreters der »älteren« Wissenschaft war an dieser Stelle unerwünscht. Dass der lokale Sicherheitsapparat in Breslau Hirszfeld im Jahr 1952 als 191 Hanna Hirszfeld, Historia II, S. 2. 192 Anna Bikont, Sławomir Zagórski, Burzliwe dzieje gruszek na wierzbie, in: Gazeta Wyborcza, 1. 8. 1998. 193 Hanna Hirszfeld, Historia, S. 11. 194 Ebd., S. 12. Auch APAN LH III-157-95, Bl. 130-133. Zarzuty stawiane przez członka Prezydium PAN Ludwika Hirszfelda w stosunku do Sekretariatu Wydziału II-go. 471 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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einen Wissenschaftler charakterisierte, der nicht in der Lage sei, im Team zu arbeiten, eine intensive Verbindung zur Wissenschaft in den USA pflege und gleichzeitig eine »negative Einstellung zur Volksrepublik Polen und besonders zur UdSSR« habe, kann daher nicht überraschen.195 Hirszfeld suchte aber weiter nach Unterstützung für seine Pläne: Am 27. Februar 1953 schrieb er einen Brief an den damaligen Vizepremier Józef Cyrankiewicz, dem er für dessen freundliche Haltung gegenüber seinem Institut dankte, ihm eine Liste von dessen Veröffentlichungen schickte und ihm versicherte, die Mitglieder der Regierung könnten sich nun vergewissern, dass sein Institut in der Zukunft voll und ganz nach der Devise »Die Wissenschaft dient dem Leben« agieren werde. Seine Aufgabe sei nicht nur das Erkennen der Welt, sondern deren Umgestaltung, akzentuierte Hirszfeld ganz im Duktus der Parteifunktionäre.196 Zu jener Zeit wurde Hirszfeld in diversen Aufsätzen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Fachzeitschriften wie Kosmos wegen seiner Forschungen kritisiert – deren Redaktion hatten bereits linientreue Kader wie Włodzimierz Michajłow übernommen, ein Parasitologe, Zoologe und Lysenko-Anhänger, der im Bildungsministerium gearbeitet hatte und daneben wissenschaftliche Funktionen in der Akademie der Wissenschaften innehatte. An Michajłow, den Hugo Steinhaus gemeinsam mit Petrusewicz als »Klugredner von der PAN« kennzeichnete,197 schrieb Hirszfeld in deutlichen Worten, nachdem er in Kosmos kritisiert worden war, dass die »neuen Ideen« schädlich für die polnische Wissenschaft und für die Gesundheit der Menschen seien. Er nannte sie obskur, rückständig und ungebildet.198 Er hielt es für seine Pflicht, die moderne polnische Medizin zu verteidigen – dies war zu dieser Zeit aber kaum noch möglich, weil Vernunft und Erkenntnis in Parteikreisen einer dogmatischen Ideologie gewichen waren. Erst nach Stalins Tod im Jahr 1953 konnte Hirszfeld das geplante Institut eröffnen. Offiziell geschah dies im Januar 1954. Zu diesem Zeitpunkt war Hirszfeld bereits ernsthaft erkrankt. Er verstarb im März 1954. Zuvor hatte er noch versucht, seine Nachfolge zu regeln, um das nunmehr gegründete Institut in kompetente Hände zu legen und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weiterhin eine Beschäftigung garantieren zu können. Es kam allerdings anders – die Netzwerke von Hirszfeld funktionierten gegen die Macht der neuen Eliten nicht mehr. Diese 195 196 197 198

Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej Wrocław, sygn. IPN Wr 053/3431. APAN LH III-57-106, Bl. 23, Ludwik Hirszfeld an Józef Cyrankiewicz, 27. 2. 1953. Steinhaus, Erinnerungen II, S. 260. APAN, LH III-57-106, Bl. 56-58, Ludwik Hirszfeld an Włodzimierz Michajłow, 12. 6. 1953.

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Ereignisse hat Hanna Hirszfeld in einer unveröffentlichten Schrift geschildert, die sie in Anlehnung an den Titel von Ludwik Hirszfelds Autobiographie »Geschichte eines Todes« genannt hat. Darin legte sie dar, wie sie und andere um Hirszfelds wissenschaftliches Testament kämpften.199 Hirszfeld hatte seinen engen Mitarbeiter Feliks Milgrom als seinen Nachfolger vorgesehen, und Władysław Mański, mit dem Hirszfeld ebenfalls eng zusammengearbeitet hatte, sollte sein Stellvertreter werden. Im Januar 1954 hatte Hirszfeld mit mehreren leitenden Professoren und mit dem Rektor der Medizinischen Akademie, Zygmunt Albert, gesprochen, um diese Nachfolge vorzubereiten.200 Dies aber stieß auf wenig Gegenliebe, und Hirszfelds Vorschläge wurden nicht berücksichtigt. Stattdessen kam der Mikrobiologe und Immunologe Stefan Ślopek von der Medizinischen Akademie in Kattowitz als Direktor zum Zuge. Für Hugo Steinhaus stellte sich dieser Vorgang so dar: »Im Laufe dieses Sommers ist es Petrusewicz, dem Verantwortlichen für die Wissenschaft im ZK [Zentralkomitee, K. S.], gelungen, Hirszfelds Institut zu zerstören. […] Leiter des Instituts wurde der Rektor der Medizinischen Akademie von Rokitnica, Ślopek. Dies geschah noch bevor Hirszfelds Grab mit Gras zugewachsen war, nur ein halbes Jahr nach seinem Tod. In diesem halben Jahr veröffentlichten Hirszfelds Schüler so viele Arbeiten wie Ślopeks ganze Schule seit ihrer Entstehung.«201 Steinhaus war überzeugt, hier werde ein Krieg gegen die Schule Hirszfelds geführt, dessen Organisator Petrusewicz sei.202 Tatsächlich hatten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts massiv gegen die Entscheidung protestiert, nicht Milgrom, sondern Ślopek zum neuen Vorsitzenden zu machen. Neun von ihnen waren Hirszfelds Schüler, und letztlich verließen sieben von ihnen das Institut – in ihren Augen hatte diese Entscheidung die polnische immunologische Schule, die Hirszfeld begründet hatte, zerschlagen.203 Das Institut war radikal umgestaltet worden, eine große Gruppe von neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschäftigte sich nicht mit Immunologie, setzte also seine Forschungen nicht fort. Entschiedener Protest gegen diese Entscheidung kam von verschiedenen Kollegen Hirszfelds, darunter Ludwik Fleck und Hugo Steinhaus, sowie von Hanna Hirszfeld, die sich in der Rolle sah, Hirszfelds Lebenswerk zu retten, und sich mit Briefen und Eingaben bemühte, den Verlauf der Ereignisse 199 200 201 202 203

Hanna Hirszfeld, Historia. Ebd., S. 7. Steinhaus, Erinnerungen II, S. 235. Ebd., S. 243. Hanna Hirszfeld, Historia., S. 17. 473 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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im Sinne ihres verstorbenen Mannes zu beeinflussen. Sie konnte aber letztlich nichts bewirken.204 Die Zerschlagung des Instituts fand ihren Weg auch in die allgemeine Öffentlichkeit. Der bekannte Journalist Paweł Jasienica, der im Jahr 1952 auf Anregung des Schriftstellers Jerzy Putrament eine Reportage über Hirszfeld und dessen Institut in Breslau begonnen hatte, die er 1954 als »Geschichten über einen lebendigen Stoff« (Opowieści o żywej materii) veröffentlichte, nahm in zwei längeren Zeitungsartikeln eine ablehnende Haltung ein.205 Die Angelegenheit hatte inzwischen so hohe Wellen geschlagen, dass das wissenschaftliche Sekretariat der Akademie der Wissenschaften am 24. Februar 1955 selbst einen Beschluss fasste, in dem Missfallen gegenüber den Verhältnissen in Breslau geäußert wurde, weil sie der Wissenschaft großen Schaden zufügten. Ślopek wurde im Folgenden aufgefordert, das Institut im Einklang mit den Richtungen, die durch Hirszfeld eingeführt worden seien, neu auszurichten.206 Es gelang aber nicht, zu einem Einvernehmen zwischen dem Institut und dessen neuen Leitung und den Ehemaligen oder Hanna Hirszfeld zu kommen, worin Steinhaus einen moralischen und wissenschaftlichen Skandal sah. Auch dem Wunsch von Hanna Hirszfeld, die Abteilung für Schwangerschaftspathologie, also die Forschungen, mit denen Hirszfeld sich nach 1945 besonders intensiv befasst hatte, in die Medizinische Akademie zu verlegen, wurde nicht stattgegeben.207 Währenddessen und nachdem der Kampf verloren war, korrespondierte Hanna Hirszfeld mit den verschiedenen Mitarbeitern ihres Mannes, von denen viele Polen verlassen hatten. So schrieb ihr etwa Andrzej Kelus im September 1962, der an die Universität Birmingham gewechselt war: »Ich mache mir Sorgen, dass Sie sich nicht genügend ausruhen und weiterhin so viel arbeiten. Ist das gut? Oder ist das einfach diese unheilbare ›Hirszfeld’s Hyperactivity‹?«208 Es scheint, als erfasste er das Arbeitsethos der Hirszfeld’schen Arbeitsgemeinschaft, das Hanna Hirszfeld auch nach ihrer Emeritierung im Jahr 1962 bis zu ihrem Tod 1964 noch fast täglich in die Kinderklinik gehen ließ, damit sehr treffend. Nicht nur Andrzej Kelus hatte im Zuge der Zerschlagung des Instituts Polen verlassen: Feliks Milgrom wurde Professor für Immunologie in Buffalo in den USA , Wladyslaw Mański ging 204 Ebd., S. 19. 205 Paweł Jasienica, Losy działa po śmierci twórcy, in: Świat V/48 (1955); sowie Ders, Mistrz, który nie bał się uczniów, in: Nowa Kultura 212/16 (1954). Siehe auch LH III-157-109, Bl. 39, Paweł Jasienica an Ludwik Hirszfeld, 8. 5. 1952. 206 Hanna Hirszfeld, Historia, S. 34-36. 207 Steinhaus, Erinnerungen II, S. 248. 208 APAN, HH III 157-174, Bl. 47, Andrzej Kelus an Hanna Hirszfeld, 7. 9. 1962. 474 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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an die Columbia University in New York und Adam Bekierkunst wurde Professor für Bakteriologie in Jerusalem. Henryk Makower hingegen verblieb im Institut – in den Erinnerungen von Hanna Hirszfeld hatte er sich in der Frage der Besetzung der Nachfolge von Hirszfeld übergangen gefühlt und sei dementsprechend unzufrieden gewesen.209 Inwieweit sich die antisemitische Kampagne gegen Ärztinnen und Ärzte jüdischer Herkunft in der Sowjetunion in den Jahren 1949-1954, die sogenannte »Ärzteverschwörung«, auch auf die Institutsgründung und auf Hirszfelds Stellung im Wissenschaftssystem negativ auswirkte, ist nicht bekannt. Da viele seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenfalls jüdischer Herkunft waren, fürchteten sie Auswirkungen der Kampagne auf Polen.210 Dies beobachtete auch Hirszfeld sehr genau, kannte er doch das Schicksal seines Kollegen Parnas in der Sowjetunion, der 1949 sowohl wegen seiner Anti-Lysenko-Haltung als auch im Zuge der antisemitischen Kampagne von den Sicherheitskräften verhaftet wurde und – so jedenfalls die offizielle Version – an einem Herzinfarkt während des Verhörs im Lubianka-Gebäude des Geheimdienstes verstarb.211 Hugo Steinhaus vermerkte in seinen Erinnerungen, dass die Furcht unter Polen jüdischer Herkunft groß gewesen sei, so dass Felix Milgrom, Adam Bekierkunst oder auch Ludwik Fleck die Ausreise erwogen hätten – er nannte dies einen Exodus.212 Im insgesamt sehr ereignisreichen Jahr 1952 trat Hanna Hirszfeld an das Präsidium des Polnischen Ministerrates mit der Bitte heran, die jüdisch klingenden Namen ihrer Eltern Saul und Sara in »Paweł und Sabina« ändern zu dürfen – die Erlaubnis erhielt sie am 13. Mai 1952.213 Dieser Schritt erscheint ungewöhnlich – da es in Polen aber üblich ist, die Namen der Eltern in Dokumenten anzugeben bzw. diese auch veröffentlicht werden, etwa bei der Verleihung von Orden oder Preisen, ist dies ein Hinweis darauf, dass Hanna Hirszfeld ihre jüdische Herkunft verbergen wollte oder musste. Damit deutet der Schritt auf eine potentiell antisemitische Umgebung hin, andernfalls wäre er kaum erforderlich gewesen. Mit der Thematisierung ihrer jüdischen Herkunft bzw. mit Antisemitismus waren die Hirszfelds insgesamt nach dem Krieg noch mehrfach konfrontiert. Dies zeigen vor allem die Reaktionen auf seine Autobiographie, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird. 209 210 211 212 213

Hanna Hirszfeld, Historia, S. 34-36. Milgrom, Association with Ludwik Hirszfeld, S. 208. Siehe auch Balińska, Schneider, Introduction, S. xxiv. Steinhaus, Erinnerungen II, S. 276 und 285. Das entsprechende Dokument ist abgedruckt in Ubysz, Życie i działalność, S. 12. 475 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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6.4 Grenzen und Grauzonen im Staatssozialismus

Die Konstellation, die nach 1944 mit dem Auf bau des Staatssozialismus in Polen entstand und zu einer immer stärker werdenden Kontrolle des Alltagslebens und damit auch der Wissenschaft führte, war nicht allein von Repression, Angst und Konformismus geprägt, sondern von zahlreichen Wissensräumen, die voller Grauzonen waren. Dies galt für Jan Czochralski allerdings nur eingeschränkt – er lernte vor allem die repressive Kraft des neuen Regimes kennen und musste sich damit arrangieren, dass es seine Handlungsräume und damit seinen Radius zum Manövrieren erheblich begrenzt hatte. Gleichwohl war Repression nicht allein bestimmend für sein Leben, das nicht ausschließlich abhängig von der »Gegenseite« war. Er konnte in sein Heimatdorf Kcynia in sein eigenes Haus zurückkehren, eine kleine Firma gründen und in bescheidenem Ausmaß mit Stoffen und Materialien experimentieren. Im Vergleich zu seinem vorherigen Leben bedeutete dies allerdings einen sehr tiefen Einschnitt. Für Ludwik Hirszfeld hielt die neue Ordnung ganz andere Möglichkeiten bereit. Er gehörte zu denjenigen polnischen Professorinnen und Professoren, von denen die meisten in der Vorkriegszeit bereits stabile berufliche (und gesellschaftliche) Positionen erlangt hatten. Sie hatten unterschiedliche Haltungen zu dem neuen System entwickelt. Viele waren sowohl in der Lage als auch gewillt, mit dem neuen System zu kooperieren. Sie ließen sich von dem Erneuerungswillen nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors und einem Enthusiasmus für den Neuanfang anstecken, der mit reformerischen Ansätzen wie einer breiten Öffnung der Hochschulen einherging. Die nationale Rhetorik des neuen Regimes trug ebenfalls dazu bei, dass es Unterstützung in der Professorenschaft erfuhr, selbst wenn die Beteiligung am Wiederaufbau zur Stabilisierung der Ordnung führte, die die neue Macht einführen wollte.214 Spätestens mit der Einführung der Gesetze, die die Hochschulautonomie abschafften und die zentralisierende Akademie der Wissenschaften einsetzten, mussten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Hirszfeld aber erkennen, dass das neue System zwar die ersehnte Befreiung vom Nationalsozialismus gebracht hatte, seine Ideale von einer demokratischen und freien Wissenschaft aber immer mehr einschränkte. Die staatsozialistischen Wissenschaftsfunktionäre und –funktionärinnen waren dabei zunächst noch auf die ältere Professorenschaft angewiesen. Deren Vertreter und wenige Vertreterinnen, die die Wissenschaft in 214 Vykoukal, Polnische Universitäten, S. 129. 476 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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der Übergangszeit nach 1945 deutlich dominierten, waren wegen ihrer wissenschaftlichen Expertise unverzichtbar. Sie sollten auf der einen Seite eine neue Generation von möglichst regimetreuen Ärzten und Ärztinnen und Ingenieuren und Ingenieurinnen ausbilden und auf der anderen Seite über ihre Partizipation am Auf bau des Landes in der Wissenschaft Akzeptanz für das neue Regime erzeugen. Die Professorenschaft versuchte, diese Konstellation für die Wahrung ihrer Netzwerke und Milieus ebenso zu nutzen wie das Regime umgekehrt bestrebt war, die Kompromissbereitschaft der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für sich einzusetzen – hier griffen, gleichwohl unter asymmetrischen Machtverhältnissen, Politik und Wissenschaft erneut in einem wechselseitigen Beziehungsgeflecht aufeinander zu. Die ältere Professorenschaft war dabei vor allem daran interessiert, Kontinuität zu wahren und sich in ihren persönlichen Netzwerken etwas von ihren wissenschaftlich-epistemischen Idealen und akademischer Freiheit bewahren zu können.215 Sie schützte ihre Beziehungen in kleinen Gruppen ähnlich Denkender und stimmte im Namen der Bewahrung des Milieus zu, bestimmte Rollen auf den Bühnen des Stalinismus zu spielen.216 Die gemeinsame Erfahrung, die Okkupation des Nationalsozialismus überlebt zu haben, und der kollektive Mythos, zu einer Gruppe (der Inteligencja) zu gehören, die erneut – wie bereits nach 1918 – die Mission einer nationalen Führung übernehmen sollte, schweißten dieses Milieu zusätzlich zusammen.217 Diese Art der Mission, mit dem ein bestimmtes Ehr- und Pflichtgefühl einer »alten Garde« einherging, war für Ludwik Hirszfeld nach 1944 handlungsleitend. Zu erfüllen suchte er sie nicht nur an der Universität und in seinem Institut, sondern vor allem auch in seinen alten Netzwerken, die sich sowohl um Institutionen wie dem PZH gruppierten als auch um Fachzeitschriften oder Fachgesellschaften wie die Polnische Mikrobiologische Gesellschaft, deren Vorsitzender er von 1947 bis 1951 war. Der Eigensinn dieser Netzwerke machte das Leben unter den Bedingungen des Stalinismus erträglicher; und es schränkte gleichzeitig die Kontrollmöglichkeiten der Machthaber ein. Daher waren jene bemüht, diese Netzwerke allmählich mit regimetreuen Gefolgsleuten zu besetzen, was jedenfalls in Hirszfelds Fall mit Beginn der 1950er Jahre immer besser gelang. Letztlich führte dieses Vorgehen dazu, dass sich trotz allen Protestes die Strukturen, die er aufgebaut hatte, auflösten.

215 Connelly, Captive University, S. 144. 216 Twierdza uniwersytet. 217 Connelly, Captive University, S. 284. 477 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ludwik Hirszfelds Leben war nach 1944 von den Grenzen und den Grauzonen geprägt, die das staatssozialistische System für viele weitere Lehrende und Forschende ausmachte. Die Zeit nach 1944 war für ihn von mehrdeutigen Gleichzeitigkeiten geprägt: von Folgsamkeit und Widersetzlichkeit, von Zustimmung, einer großen Portion »Hinnehmen« und von Distanzierung von der vorgegebenen Parteilinie.218 Er agierte in einem Kräftefeld, in dem er bestimmte Einschränkungen hinnahm, wenn er etwa bestimmte Kongresse nicht besuchen konnte, weil er stattdessen dem Gebot folgte, auf Propagandaveranstaltungen aufzutreten. Dies schränkte ihn in seinen wissenschaftlichen Ambitionen erheblich ein, ermöglichte ihm aber gleichzeitig, zu anderen Zeiten in die USA , nach Zürich oder Prag zu reisen. Er verhielt sich systemkonform und ging Kompromisse ein, weil er in Polen arbeiten wollte und er in manchen Aspekten wie einer verstärkten Planung, einer vermehrten Abstimmung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern untereinander sowie einer Stärkung der Sozialmedizin einen Sinn sah, der mit seinen Idealen korrespondierte, selbst wenn dies unter der Prämisse von immer stärkerer Kontrolle und Zensur stand. Er partizipierte an zahlreichen (Propaganda-)Aktivitäten seitens des Staates. Die vermeintliche Nähe der Professorinnen und Professoren zum Regime wollte dieses nutzen, um die Legitimation der neuen Ordnung und deren Akzeptanz in der Gesamtgesellschaft zu stärken. Indem er daran partizipierte, trug Hirszfeld in der Öffentlichkeit unzweifelhaft zum Bild einer Professorenschaft bei, die das neue System guthieß. Im Austausch für diese Art von Loyalität konnte er sich in den neuen Wissensräumen eine lange Zeit relativ frei bewegen, in Räumen, in denen sowohl Anpassung nötig als auch eigensinniges Verhalten möglich war. Der Radius für das Manövrieren in solchen Räumen variierte – er war aber bis zu Hirszfelds Tod im Jahr 1954 vorhanden, denn auch als Kontrolle, Repressionen und Ideologisierung in der Wissenschaft erheblich zunahmen, fand Hirszfeld immer noch Räume, in denen er sich artikulieren und handeln konnte. Dabei war er niemals bereit, Forschungsergebnisse zu widerrufen oder seine Ideale von Freiheit und Transparenz in der Wissenschaft gänzlich aufzugeben und stattdessen den ideologischen Vorgaben der Vertreterinnen und Vertreter des staatssozialistischen Systems zu folgen. Wie viele andere Professorinnen und Professoren nahm er in der Phase des späten Stalinismus eine zunehmend reservierte und ablehnende Haltung gegenüber den massiven politisch-ideologisch motivierten Eingriffen etwa durch den Lysenkoismus in die Wissen218 Lüdtke, Herrschaft, S. 18. 478 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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schaft ein und hielt seine Meinung in dieser Frage trotz aller Konsequenzen nicht zurück. Hirszfeld bewegte sich gemäß der von ihm selbst beschriebenen Trias »Maß, Takt, Autorität«: Er versuchte sich nicht in Fundamentalopposition, sondern suchte den Kontakt zu den neuen Kreisen der Wissenschaft, was ihm eine Mediatorenrolle verschaffte; er vertraute wie sein gesamtes Leben auf seine Autorität, die auf seinen Forschungen beruhte; und er taktierte so, wie er es für notwendig hielt, um sein maßgebliches Ziel, seine Forschungen fortzuführen und eine moderne Sozialmedizin einzuführen, durchzusetzen. Zu diesem Zweck versuchte er auch, seine bereits lange vor dem Krieg aufgebauten transnationalen Netzwerke wieder zu aktivieren. Dies gelang in der unmittelbaren Kriegszeit weitgehend unbehelligt von ideologischen Einschränkungen. Menschliche wie nichtmenschliche Akteure wie Ideen, Seren und Ausrüstungen konnten wie in der Vorkriegszeit in Polen und über Polen hinaus zirkulieren. Diese Aktivitäten wurden durch die zunehmende Kontrolle des staatssozialistischen Systems immer mehr eingeschränkt. Dies führte bei Ludwik Hirszfeld zu einer gewissen Verbitterung, die sich in seinen Gedanken über die eingeschränkten Möglichkeiten der Generierung von Erkenntnis in Polen ablesen lässt. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Einschränkung der internationalen Forschung und die Steine, die Hirszfeld vor allem am Ende seines Lebens in den Weg gelegt wurden, dazu geführt haben, dass das wissenschaftliche Zentrum, das er in Breslau nach dem Krieg unter anderem mithilfe der Rockefeller-Stiftung aufgebaut hatte, rasch wieder an Bedeutung verlor, zumal nach seinem Tod. Ideologische Vorgaben waren den zu dieser Zeit nicht mehr ganz so neuen Machthabern wichtiger als Fortschritte der Forschung – der »Osten«, wie er im Westen als abhängig von dem vermeintlich zivilisierteren »Westen« erfunden worden war, war durch ideologische Vorgaben auf sich zurückgeworfen worden – eine Entwicklung, die Hirszfeld nur als rückständig und schädlich empfinden konnte.

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7 Vergessen, erinnern, wiederaneignen: Rezeptionen Die Leben beider Wissenschaftler verliefen im Zweiten Weltkrieg und im staatssozialistisch regierten Nachkriegspolen, wie gezeigt, denkbar unterschiedlich. Ihre Nachwirkung und Rezeption folgten diesem Muster: Für lange Zeit hätten diese – nach ihrem Tod in den 1950er Jahren, der im Abstand von nur einem Jahr eintrat – unterschiedlicher nicht sein können. Da Hirszfeld in Polen zu seinen Lebzeiten anerkannt war und in Breslau wahrgenommen wurde, verschwand er nicht aus der Rezeption seiner Landsleute – im Gegenteil. Sein Begräbnis besuchten Tausende, und seine Autobiographie erschien bis 2011 in fünf Auflagen. Weniger erfolgreich waren seine Bemühungen, die Autobiographie in andere Sprachen, besonders ins Englische und ins Deutsche, übertragen zu lassen, was nach seinem Tod auch seine Frau Hanna versuchte – die englische Version erschien im Jahr 2010, die deutsche erst im Jahr 2018. Nachdem zunächst eine kurze Rekapitulation erfolgt, wie Jan Czochralski nach 1944 allmählich einen Prozess der Wiederentdeckung und Aneignung durchlief, soll im Anschluss die Geschichte der ausgebliebenen Rezeption von Hirszfelds Autobiographie kurz nachgezeichnet werden. 7.1 Die Wiederaneignung von Jan Czochralski

Obwohl die Czochralski-Methode seit den 1950er Jahren einen steilen Aufstieg in der Welt der Halbleiter-Produktion erlebte, wussten nur die wenigsten, die mit dem Verfahren arbeiteten oder es weiterentwickelten, wer eigentlich der Mensch hinter dem Verfahren war – es gab ja auch so gut wie keine Literatur über seine Person. In Polen begann man sich etwa seit den 1980er Jahren allmählich wieder mit ihm zu beschäftigen.1 So verfasste der Regisseur Jan Kidawa-Błoński in den 1980er Jahren ein Drehbuch zu einem Film über Czochralski und suchte über den Verein des Berliner Kunstforums Kontakt zur Metallgesellschaft, die daraufhin ein Exemplar der »Materialien zur Lebensgeschichte« zur Verfügung stellte.2 Der Film wurde allerdings nicht gedreht – die Zeit war dafür noch nicht reif. Bereits zuvor, im Jahr 1957, soll Czochralskis Kollege vom Polytechnikum in Warschau, Kazimierz Gierdzejewski, einen ersten biographischen Lebenslauf ausgearbeitet haben – dieser liegt aber ebenso 1 Dies ist vor allem dem erwähnten Physiker Dr. Pawel Tomaszewski in Breslau zu verdanken. Dr. Tomaszewski besitzt inzwischen ein großes Privatarchiv zu Jan Czochralski. 2 Siehe HWA Abt. 119, Nr. 8: Metallgesellschaft an Berliner Kunstforum, 6. 5. 1985. 481 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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wenig vor wie die Materialien, die Gierdzejewski gesammelt hatte.3 Im gleichen Jahr entstanden die »Materialien zur Lebensgeschichte von Johann Czochralski« in der Metallgesellschaft – diese blieben aber in ihrer Art als kommentierte Auflistung unveröffentlicht. In den 1970er Jahren erschienen nur wenige vereinzelte Artikel in Polen, die sich eher auf die Methode als auf die Person dahinter konzentrierten.4 Diese Nicht-Rezeption hielt in Polen bis in die 1980er Jahre an, während in Deutschland an Czochralski bis in die allerjüngste Zeit kaum jemand erinnerte. In Warschau beschäftigte sich im Jahr 1984 die erwähnte »Kommission für Geschichte und Tradition der Hochschule« des Polytechnikums Warschau erstmalig mit der Frage einer Bewertung von Jan Czochralski, ohne jedoch zu einer Einschätzung zu kommen – seine Gegnerinnen und Gegener und seine Befürworterinnen und Befürworter standen sich noch relativ unversöhnlich gegenüber, und die Beratungen blieben ohne Ergebnis.5 Seit 1989 findet eine allmähliche Wiederaneignung des Wissenschaftlers statt, bei der auf der einen Seite nicht nur für die Fachwissenschaften, sondern auch für eine breitere Öffentlichkeit versucht wird, ihn als einen berühmten und wissenschaftlich erfolgreichen Polen zu präsentieren. Er blieb wegen des Kollaborationsvorwurfes in der Zeit des Zweiten Weltkriegs aber zunächst noch eine umstrittene Persönlichkeit. Die Wiederentdeckung begann auf der lokalen Ebene, auf der Czochralskis Wirken eher anerkannt (oder weniger umstritten) war als in der Hauptstadt. In seinem Heimatort wurde 1990 die Initiative für die einer Gedenktafel ergriffen, und im Jahr 1999 erhielt eine Schule in Kcynia seinen Namen. In Kcynia entstand auch eine Büste von Czochralski, die im Jahre 2003 anlässlich einer Feier zum 50. Jahrestag seines Todes enthüllt wurde.6 Die »Polnische Gesellschaft für Kristallwachstum« ernannte ihn 1998 zu ihrem Patron, und es erschienen mehrere Zeitungsartikel über ihn.7 Die European Materials Research Society entschied, einen Czochralski-Preis für Verdienste in der Materialwissenschaft auszuloben, um Czochralskis Namen bekannter zu machen. Aus der Zusammen-

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Siehe Tomaszewski, Powrót, S. 281. Ebd., S. 282. AAN A /771/85, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego. Siehe Tomaszewski, Powrót, S. 243-245. Vor allem und einer der ersten und wichtigsten: Magazyn Gazety Wyborczej 19. - 20. 6. 1998: Uczony, którego nie ma, danach auch Nasz Dziennik 24. - 26. 12. 2005: Genialny Polak. Sukcesy i tragedia profesora Jana Czochralskiego; »Focus Poznać i zrozumieć świat« 10/2005: Wyklęty odkrywca.

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arbeit mit polnischen Institutionen ging daraus eine Goldene JanCzochralski-Medaille hervor, die seit 2006 verliehen wird.8 In Warschau wirkten die umstrittenen Seiten seines Lebens aber weiter nach. So hob der Senat des Warschauer Polytechnikums im Jahr 1993 zwar sein »wissenschaftliches Werk« und seine »moderne Sichtweise der Verbindungen von Wissenschaft und Technik mit der wirtschaftlichen Praxis« hervor, die der Hochschule Ansehen eingebracht hätten, aber er verzichtete darauf, den Wissenschaftler vollständig zu rehabilitieren, also den Senatsbeschluss aus dem Jahre 1945 aufzuheben.9 Denn, so hieß es in der Stellungnahme der Ethikkommission des Senates, man könne ihn zwar nicht der Kollaboration bezichtigen, ihm aber ebenso wenig eine patriotische Haltung zuschreiben. Während der Zeit des Zweiten Weltkrieges habe die Gesellschaft von ihren herausragenden Vertretern eine eindeutige Haltung erwartet und eine klare Erklärung zur Staatsbürgerschaft – eine solche Haltung habe Czochralski nicht eingenommen.10 Die Erklärungsmuster aus dem Jahr 1945 bzw. aus der Vorkriegszeit waren noch immer wirksam. Es sollte noch 18 Jahre dauern, bis der Senat des Polytechnikums in Warschau im Jahr 2011 seinen Beschluss aus dem Jahr 1945 aufhob, in dem festgehalten worden war, »dass Dr. Jan Czochralski seit Ende 1939 von den Professoren nicht mehr für einen Professor des Polytechnikums gehalten« wurde.11 Jetzt waren Dokumente in den Beständen der Heimatarmee im Archiv Neuer Akten in Warschau aufgetaucht, die eine Zusammenarbeit Czochralskis mit der Heimatarmee belegten. Eine hundertprozentige Kehrtwende war die Folge: Der Verfemte und Umstrittene sollte plötzlich eine ganz neue Rolle einnehmen. Das Polytechnikum wurde durch den Senatsbeschluss aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass an Jan Czochralski gebührend erinnert werde, ihm solle ein angemessener Platz in der Geschichte des Polytechnikums und der Wissenschaft in Polen eingeräumt werden. Diese Bemühungen gipfelten rasch darin, dass das polnische Parlament das Jahr 2013 zum »Czochralski-Jahr« ausrief. Czochralski avancierte so plötzlich, wie er 1944 verschwunden war, zu einem der wichtigsten Vertreter der polnischen Wissenschaft in 8 John R. Blizzard, Professor Jan Czochralski and the Czochralski award, in: Physica Status Solidi B 248/7 (2011), S. 1559-1562. 9 Siehe Uchwała nr. 134/XLI /93 Senatu Politechniki Warszawskiej z dnia 23 czerwca 1993. 10 Senacka Komisja d/s etyki zawodowej. Stanowisko w sprawie Dr. Jana Czochralskiego, 13. 6. 1993. 11 Der Beschluss vom 29. Juni 2011 ist hier auf Polnisch nachzulesen: http://www. bip.pw.edu.pl/var/pw/storage/original/application/c1530c9b1a33e2536f6a93ee648ebb5e.pdf (Zugriff am 7. 3. 2015). 483 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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der Geschichte des Landes, neben Kopernikus und Marie CurieSkłodowska, die übrigens beide ebenso wie Czochralski als transregionale oder transnationale Wissensakteure bzw. Wissensakteurin charakterisiert werden können. Denn wie Czochralski waren sie in mehr als einer Region, später Nation und Sprache zuhause, sei es nun Latein, Deutsch, Polnisch oder Französisch.12 Mit der Ehrung erhöhte sich Czochralskis Bekanntheitsgrad in Polen erheblich – es erfolgten Straßenumbenennungen, Symposien und Konferenzen, Schulen wurden mit Material versorgt, und es entstanden mehrere Filme über ihn.13 Ein Roman für Kinder und Jugendliche sollte seinen Namen auch in dieser Gruppe der Gesellschaft bekannt machen – sowohl Akteure und Akteurinnen aus der Wissenschaft als auch die Regierung in Polen unternahmen einiges, um seinen Namen zu popularisieren.14 Czochralskis Biographie erfährt dabei seit 1989 in Polen eine Deutung, die vor allem vom Nationalstaat als dem entscheidenden Referenzpunkt ausgeht. Die Tatsache, dass für Czochralski vielleicht der zentrale Raum seines Lebens nicht der Nationalstaat war, sondern ein funktionierendes Labor, wird weniger reflektiert. Sein Leben in Deutschland gilt als Vorbereitungszeit auf die Rückkehr eines verlorenen Sohnes in den Schoß der Nation. Zwar wird er auch als ein Europäer beschrieben, aber als einer, der nie vergessen habe, dass sein Platz in Polen, im »Land der Väter«, gewesen sei. So fand und findet zum Teil erneut eine nationale Vereinnahmung bzw. eine Nationalisierung von Czochralski statt, der er sich schon zu seinen Lebzeiten nicht immer entziehen konnte: In Deutschland galt er zu nationalistischen Zeiten als Pole, in Polen als Deutscher, in beiden Ländern stilisierte er sich jeweils zu einem Patrioten, der seine Expertise gerne in den Dienst der Nation stellen wollte, und wurde in beiden Ländern als solcher anerkannt. Während der asymmetrischen Herrschaftssituation des Zweiten Weltkriegs wollten die Deutschen ihn ebenso wie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Polytechnikum für sich nutzen. Czochralski aber war als Metallforscher zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens sowohl Teil deutscher als auch polnischer Wissenschaftsstrukturen und Teil einer transnationalen Wissenskommu12 Auf der Homepage des Polnischen Ministeriums für Wissenschaft und Höhere Bildung war 2013 zu lesen: »He is ranked among the greatest Polish scientists, next to Maria Skłodowska-Curie and Nicolas Copernicus. An eminent chemist, metallurgist and crystallographer, he is known as ›the father of electronics‹.« 13 Zu Beginn des Jahres 2013 galt er noch als »großer Unbekannter«, siehe Marek Henzler, Wielki nieznajomy, in: Polityka 1/2013. 14 Siehe Anna Czerwińska-Rydel, Krzyształowe odkrycie. Powieść o Janie Czochralskim, Warszawa 2013. 484 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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nikation. Sein wissenschaftlicher Ertrag kann weder als ausschließlich »deutsch« noch allein »polnisch« bezeichnet werden. Sowohl in Deutschland als auch in Polen wurde von Czochralski erwartet, über seine Expertise am Aufbau und der Stärkung der jeweiligen Nation im internationalen Kontext mitzuarbeiten – dafür erhielt er die entsprechenden Positionen. Dies deckte sich in den jeweiligen Ländern mit seinen eigenen Zielen einer engen Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft, von Theorie und Praxis, und er erhielt die entsprechende staatliche Unterstützung – und dabei ging er auch Kompromisse ein. Die multiple Zuordnung, die er bei allen Bekenntnissen zu seiner polnischen Herkunft und Verankerung eben auch verkörperte, war im Zeitalter eines erstarkenden Nationalismus immer weniger duldbar und verstehbar und führte sowohl zu seinem Fall als auch dazu, dass seine Existenz verdrängt und vergessen wurde: Aspekte von europäischen Verflechtungsgeschichten zwischen West und Ost, in denen sich das Eigene und Fremde nicht klar voneinander scheiden lassen, spielten während des Kalten Krieges in der Geschichtswissenschaft kaum eine Rolle. Das fast gleichzeitige Dasein in einem »hier« und »dort« jenseits national begrenzter Räume generierte zwar Konfliktpotential, wie im Fall von Czochralski deutlich erkennbar, es setzte aber auch Dynamiken frei, von denen Jan Czochralski wissenschaftlich profitiert hat. Sichtbar werden solche Dynamiken vor allem dann, wenn die Nation nicht mehr die alleinige Einheit und die einzige Zeitachse der historischen Betrachtung bildet. In Deutschland kommt es erst in jüngster Zeit zu einer Beschäftigung mit Czochralskis Person. Dazu beigetragen hat vor allem ein Kreis um Ruth Keller, die einen Lehrstuhl für Restaurierung und Konservierung an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin innehat. An dieser Hochschule ist auch eine Masterarbeit zur »Konzeptentwicklung zur Erinnerung an den Wissenschaftler Jan Czochralski« entstanden.15 Diese Hochschule ist mit ihrem Campus Wilhelminenhof auf dem Gelände des ehemaligen Kabelwerks Oberspree in Oberschöneweide in Berlin untergebracht, dort wo seit 1897 die AEG mit verschiedenen Firmenteilen ihren Sitz hatte. Im Jahr 2016 fand dort ein Symposium zum Thema »100 Jahre Czochralski-Verfahren« statt, bei dem erstmalig der »Czochralski-Preis« an Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler vergeben wurde. Gestiftet hat den Preis die Firma Siltronic AG – in der Firma wird das von Czochralski 1916 publizierte sogenannte Tiegelziehverfah15 Sandra Lodde, Konzeptentwicklung zur Erinnerung an den Wissenschaftler Jan Czochralski, unveröff. Masterarbeit aus dem Jahr 2013. Ich danke der Autorin für die Überlassung der Arbeit. 485 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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ren für die Herstellung hochreiner Silizium-Kristalle eingesetzt. Die Siltronic AG stellt die bereits erwähnten Wafer als Grundlage für die moderne Mikro- und Nanotechnologie her.16 Im Zuge der Preisverleihung konnte ein nach dem Czochralski-Verfahren hergestellter Einkristall ausgestellt werden. Abgesehen davon bleibt die Rezeption in Deutschland aber weit hinter der in Polen zurück – ein angenommener Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung Treptow-Köpenick im Jahr 2016 über die »Benennung des Schöneweider Uferwegs nach Jan Czochralski« scheiterte letztlich daran, dass der Bezirk ebenso beschlossen hatte, Uferwege prinzipiell nicht nach Personen zu benennen.17 7.2 Die Rezeption von Ludwik Hirszfeld und seiner Autobiographie

Als Ludwik Hirszfeld unter großer Anteilnahme der Breslauer Bevölkerung verstarb, war die erste Auflage seiner Autobiographie »Geschichte eines Lebens« bereits vergriffen. Bei seinem Erscheinen im Jahr 1946 stieß das Buch auf gemischte Reaktionen. Ein Rezensent bescheinigte Hirszfeld in der katholischen Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny (Allgemeine Wochenzeitung) eine »zutiefst christliche moralische Haltung«. Die Zeitung der linkszionistischen Gruppierung Poale-Zion, Nasze Słowo (Unser Wort), hielt ihm hingegen im Zusammenhang mit dem gleichen Werk »Megalomanie« vor.18 In der Monatszeitschrift Odra (Oder) wiederum galt das ganze Buch als »zutiefst christlich«, während die jüdische Wochenzeitung Opinia (Meinung) in dem Buch »Ignoranz«, »Boshaftigkeit«, »derbe Verleumdung«, »historische Unwahrheiten« und »Widersprüche« ausmachte. Auch das Organ des jüdischen Arbeiterbundes Głos Bundu (Stimme des Bundes) vermochte nichts Positives über das Buch zu berichten. Stattdessen wurde Hirszfeld energisch aufgefordert, die Stille über den Gräbern der ermordeten Warschauer Juden zu wahren und keine Verallgemeinerungen über »die Juden« zu verbreiten, die er doch gar nicht kenne.19 Der Dichter und Journalist Jerzy Wyszomirski aber nannte das 16 https://idw-online.de/de/news6636, 23 (Zugriff am 20. 9. 2020). 17 https://www.linksfraktion-treptow-koepenick.de/aktuelles/detail/news/status-desuferweges-an-der-spree-im-plaenterwald (Zugriff am 2. 7. 2021). 18 Jerzy Cichocki, Człowiek – pojęcie najtrudniejsze, in: Tygodnik Powszechny, Nr. 41/134 (1947); sowie F. Hercberg, Historia jednego życia. Uwagi o książce prof. Ludwika Hirszfelda, in: Nasze Słowo 4 (1947). 19 Wilhelm Szewczyk, Sprawa Żydów, in: Odra 16/73 (1947); Szymon Rogoziński, »Historia naszego życia«, Opinia 11 (1947); Itzhak Samsonowicz, O ciszę nad grobami, in: Głos Bundu 3/7 (1947). 486 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Buch »klug« und wünschte ihm eine breite Leserschaft.20 Und die Schriftstellerin Maria Dąbrowska notierte in ihren Tagebüchern im Februar 1949: »Mit der größten geistigen Erschütterung habe ich die ›Geschichte eines Lebens‹ von Ludwik Hirszfeld gelesen. Das ist ein großes Werk.«21 Über die lebhaft in der jüdischen und nichtjüdischen Presse geführten Diskussionen zu Inhalt und moralischem Wert der Autobiographie hinaus fand das Buch Eingang in die breitere politische Diskussion unter den Juden in Polen: Auf einer Sitzung des Plenums des Zentralkomitees der Polnischen Juden am 6. Februar 1947 meinten die Anwesenden, man müsse einen offiziellen Standpunkt zu diesem Buch einzunehmen, da es ein Pamphlet gegen das jüdische Volk sei. Man war überzeugt, das Buch werde bei seiner Verbreitung im Ausland Schaden anrichten. Daher wurde beschlossen, die Abteilung für Kultur und Propaganda zu ermächtigen, bei Verlagen zu intervenieren, damit diese das Buch nicht für den ausländischen Buchmarkt zuließen.22 Das Buch erfuhr also unmittelbar nach dem Krieg eine gespaltene Reaktion in der polnischen Öffentlichkeit. Von polnisch-nichtjüdischer Seite wurde es gelobt, und die Abteilung für Literatur des polnischen Ministeriums für Kultur und Kunst empfahl die Übersetzung des Buches in andere Sprachen. Von jüdischer Seite wurde es oft und über politische Grenzen hinweg abgelehnt. Wie kam es zu dieser gespaltenen Reaktion? Es waren vor allem seine Beschreibungen der Kriegsereignisse und Beobachtungen über die Jüdinnen und Juden in Polen und das polnischjüdische Verhältnis während des Krieges, die die Öffentlichkeit in Polen aufwühlten. An mehreren Stellen der Autobiographie versuchte Hirszfeld sich in einer Art Charakterologie von Jüdinnen und Juden, die er, so sein eigenes Bekenntnis, erst im Warschauer Ghetto näher kennengelernt habe; er akzentuierte in der Autobiographie die erwähnte Fremdheitserfahrung und schuf eine Distanz zwischen sich selbst und »den Juden«. Dabei schreckte er nicht vor sehr verallgemeinernden Äußerungen zurück, unterstellte der jüdischen Bevölkerung zum Beispiel, sie hätten an kaum etwas anderem Interesse als an Geschäften und würden sich zwar als auserwähltes Volk fühlen, gleichzeitig aber die eigenen Glaubensbrüder verachten. Er sprach ihnen die Fähigkeit zum Mitgefühl ebenso ab wie eine heldenhafte Einstellung. Zudem konstatierte er, dass der »jüdische Pöbel der rückständigste Pöbel in ganz Europa« sei.23 Hirszfeld versuchte, diese Einschätzungen jeweils historisch zu erklären – sehr 20 21 22 23

Jerzy Wyszomirski, Krwią serdeczną, in: Tydzień 8 (1947). Maria Dąbrowksa, Dzienniki powojenne 1945-1949, Bd. 1, Warszawa 1996, S. 398. AŻIH 303/I /20, CKŻP, Prezydium i Sekretariat. Ludwik Hirszfeld, Historia jednego życia, Warszawa 2000, S. 369, 373-374. 487 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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überzeugend gelang ihm dies nicht. So blieben die Verallgemeinerungen als pauschale Urteile stehen. Die Gefahr, dass Hirszfeld in seiner Autobiographie auf diese Art und Weise Antisemitismus plausibilisierte, war ebenso gegeben wie die, nichtjüdische Polinnen und Polen pauschal für ihr Verhalten vor, während und nach der Okkupation zu entlasten. Denn Hirszfeld hatte nichtjüdischen Polinnen und Polen bei aller Kritik, die er auch an ihnen übte und über deren Antisemitismus er sich weder Illusionen machte noch ihn verschwieg, kollektiv ein eher positives Zeugnis über ihr Verhalten gegenüber der jüdischen Bevölkerung in der Kriegszeit ausgestellt. Dies machte er an der Hilfe für Jüdinnen und Juden fest. So kam er zu dem Schluss, dass sein Volk, womit er Polen meinte, »gut« sei, obwohl die Weltöffentlichkeit diesem Antisemitismus vorwerfe, obwohl Helfern die Todesstrafe gedroht und obwohl eine ewige Antipathie gegenüber Jüdinnen und Juden geherrscht habe – über all das aber habe sich die polnische, helfende Bevölkerung hinweggesetzt. Seine Memoiren erschienen in der erwähnten Verlagsgenossenschaft Czytelnik mit einer gewissen Verzögerung, die Ludwik Hirszfeld immer wieder beklagte und die der Verlag mit Papiermangel begründete. Das Buch war in Polen ausgesprochen erfolgreich – die erste Auflage von 10.000 Stück war innerhalb von anderthalb Jahren ausverkauft.24 Seine jüngste und fünfte Auflage erschien im September 2011 im ebenso renommierten polnischen Verlagshaus Wydawnictwo Literackie (Literarischer Verlag). Ein Buch von langanhaltender Aktualität also, ein fast zeitloses Buch, so scheint es, das seinem Autor eine weit über seinen Tod im Jahr 1954 hinausgehende Präsenz in der lesenden Öffentlichkeit verschaffte. Verfasst hatte Hirszfeld die Erinnerungen, nachdem er 1943 aus dem Warschauer Ghetto geflohen war. Das Schreiben stellte eine Strategie dar, das grausame Geschehen im Ghetto zu verarbeiten und die Möglichkeit zu nutzen, zu einer erinnernden und somit historischen und gesellschaftlichen Selbstverortung zu gelangen.25 Hirszfeld musste den Verlust seiner einzigen Tochter ertragen, die er nicht davor hatte retten können, dass sie im Laufe des Krieges an Krankheit und Erschöpfung starb, was er in der Rückschau zusammenfasste: »Wir haben Entsetzliches erlebt und was das

24 APAN, LH III-157-88, Bl. 70. 25 Heinz Peter Preußer, Helmut Schmitz, Autobiografik zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.) Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Heidelberg 2010, S. 7-20, S. 15. Nicht selten erscheinen Autobiographien daher nach Krisen und epochalen Ereignissen, zu denen der Zweite Weltkrieg zweifellos zählt. 488 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Grässlichste ist, unser einziges Kind überlebt.«26 Er sah seine Autobiographie als eine Art Mission an und schrieb im Dezember 1945 an seinen alten Freund und Kollegen Willi von Gonzenbach nach Zürich: »In tiefstem Unglück und in größter Not hat mir eine Idee Kraft eingeflößt, dass es meine Aufgabe ist, der Welt über [die] Leiden der Völker zu berichten, die die Deutschen als zu ihrem Lebensraum gehörig bezeichneten.«27 Es ging ihm also von Anfang an darum, nicht nur den Polen von seinen Erfahrungen zu berichten, sondern »der Welt«.28 Und so bemühte er sich seit 1945 intensiv, das Buch auf Deutsch, auf Englisch, auf Französisch und auf Russisch erscheinen zu lassen, aber nur eine serbokroatische Ausgabe erschien im Jahr 1963. Nach seinem Tod im Jahr 1954 setzte seine Frau Hanna die Bemühungen fort, aber auch ihr war kein Erfolg beschieden. Woran lag es, dass das Buch, das in Polen so erfolgreich war, im Ausland keinen Verleger fand? Das Manuskript war bereits im Jahr 1946 von dem Verlagshaus Little, Brown & Company aus New York akzeptiert und übersetzt worden. Im November 1947 aber ließ der Verlag Hirszfeld wissen, dass er das bereits übersetzte Manuskript nicht drucken werde. Er begründete dies mit einer Krise auf dem amerikanischen Buchmarkt, weshalb das Buch sich nicht verkaufen werde. Angeblich fehlten dem Buch »die dramatischen Qualitäten, die notwendig sind, um die Phantasie des amerikanischen Lesers zu beflügeln«. Zudem hätten die Leser in den USA einen Sättigungspunkt erreicht, wenn es um Berichte über den Krieg und das damit verbundene Elend gehe.29 Hirszfeld reagierte ungehalten auf die Absage des amerikanischen Verlages und fragte seinen Übersetzer, ob es hier nicht eher darum ginge, ein Erscheinen zu verhindern, weil nicht allen sein Buch gefallen habe.30 Sein amerikanischer Kollege Arthur Coca bestätigte ihm teilweise die Ansichten des Verlegers Brown – das Land befinde sich in einer finanziell schwierigen Situation, die Lebenshaltungskosten seien hoch und die Menschen eher mit den Problemen der Zukunft beschäftigt.31 26 Wissenschaftshistorische Sammlungen der ETH-Bibliothek, HS 1165:639, Ludwik Hirszfeld an Willi von Gonzenbach, 25. 12. 1945. 27 Ebd. 28 Ähnlich formulierte Hirszfeld in einem Brief an seinen Kollegen und Freund aus Heidelberger Tagen, den amerikanischen Immunologen Arthur Coca: »The idea that now also the world will know and believe it is felt by us as […] a duty and of a mission. […] We hope that it will be of some use for humanity.« APAN LH III157-88, Bl. 69. 29 APAN, LH III-157-88, Bl. 53, James Brown an Ludwik Hirszfeld, 3. 11. 1947. 30 Ebd., Bl. 56, Ludwik Hirszfeld an James Brown, 23. 11. 1947. 31 Ebd., Bl. 65, Arthur Coca an Ludwik Hirszfeld, 1. 12. 1947. 489 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Ludwik Hirszfeld aber war davon überzeugt, dass vor allem »deutschfreundliche Tendenzen« in den USA das Erscheinen des Buches verhindert hätten.32 Ähnlich hatte er sich bereits im Januar 1947 gegenüber Jerzy Borejsza geäußert, dem er vorhielt, wegen der Verzögerung bei der Herausgabe in Polen könne man in den USA nicht mehr mit einem Erfolg des Buches rechnen, weil dort zunehmend eine positive Einstellung zu Deutschland eingenommen werde – davon hatte sich Hirszfeld selbst auf seiner Reise in die USA im Jahr 1946 überzeugen können, und diese Beobachtung war im beginnenden Kalten Krieg alles andere als falsch. In einem Brief aus dem Jahr 1947 an seinen Kollegen Hilaire GliksmanGlimet in Frankreich fasste Hirszfeld die Situation wie folgt zusammen: »Die jüdischen Parteien […] repräsentieren nur einen kleinen Teil der jüdischen Bevölkerung […] Gleichzeitig nehmen diese Kreise im Land und im Ausland einen ausgesprochen antipolnischen Standpunkt ein, wovon man sich persönlich in den USA überzeugen kann. Einer der Vertreter des Joint sagte mir, nach ihren Informationen seien mehr Juden durch Polen ermordet worden als durch Deutsche. Ich weiß nicht, ob bewusst oder unbewusst, aber das ist die von mir vorhergesehene Wendung hin zu einer Übereinkunft mit den Deutschen. Sie verstehen nicht, dass sie, indem sie über mein Buch herfallen, den antideutschen Keil schwächen […].«33 Da Hirszfeld persönlich während der Okkupation von nichtjüdischen Polinnen und Polen überwiegend Hilfe erfahren hatte, konnte er solche Ansichten wie die des Joint-Vertreters ganz und gar nicht nachvollziehen. Es scheint, als habe Hirszfeld neben der englischen eine deutsche Ausgabe seiner Autobiographie besonders am Herzen gelegen. Als er das Manuskript im August 1948 an der Verlag Bermann-Fischer in Stockholm schickte, notierte er: »Ich würde es persönlich für wichtig halten, wenn die Deutschen von einem Augenzeugen, der mit der deutschen Wissenschaft verbunden war, erfahren würden, wie schlecht die HitlerRegierung hier gehandelt hat, da der Bericht von einem Gelehrten geschrieben ist, der früher […] gerade für die Versöhnung der Gelehrten eintrat.«34 Bereits im November 1945 wusste der Züricher Verlag Oprecht / Europa-Verlag von der Existenz der Erinnerungen. Hirszfelds ehemaliger Kollege in Zürich, der Hygieniker und Bakteriologe Professor William Silberschmidt, hatte dem Verlag von ihnen erzählt. Dieser ließ Hirszfeld folgende Nachricht zukommen: »Selbstverständlich würde es 32 Ebd., Bl. 62, Ludwik Hirszfeld an Arthur Coca, 26. 11. 1947. 33 Ebd., Bl. 45. 34 Ebd., Bl. 70-71, Ludwik Hirszfeld an den Bermann-Fischer Verlag, 25. 10. 1948. 490 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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uns sehr freuen, wenn Sie uns Ihr Manuskript zur Lektüre zukommen lassen könnten; Ihre Arbeit interessiert uns an und für sich sehr.« Der Verlag behielt sich sodann die Prüfung des Manuskriptes vor.35 Hirszfeld hatte das von ihm mit übersetzte und autorisierte Manuskript im Dezember 1945 in die Schweiz geschickt und den ihm gut bekannten Physiologen Fritz Verzár von der Universität Basel gebeten, einen Verlag zu finden.36 So kam das Buch zu dem erwähnten Verlag Oprecht, der es im März 1946 noch immer prüfen ließ. Im September 1951 fuhr Hirszfeld aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Zürich in die Schweiz. Dort wurde er gemeinsam mit Paul Silberschmidt, dem Sohn seines nun bereits verstorbenen Kollegen William Silberschmidt, bei jenem Verlag vorstellig. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Buch auch dem Kohlhammer Verlag und der Büchergilde Gutenberg zur Prüfung vorgelegen – aber der Verlag Oprecht konstatierte: »Wir können uns aber für eine Herausgabe auch jetzt nicht entscheiden, denn offen gesagt sehen wir heute noch weniger die Absatzmöglichkeiten als zurzeit unserer ersten Verhandlungen.«37 1952 kam es zu einem dreiteiligen Abdruck von Teilen der Memoiren in der »Neuen Zürcher Zeitung«. Paul Silberschmidt nahm dies als Anlass zur Hoffnung, dass das Buch nun publiziert werde, und schrieb an Hirszfeld: »Was das Buch anbetrifft, so hat uns der Verlag Oprecht definitiv im Stich gelassen.« Sie hätten das Buch nach Deutschland zur Beurteilung geschickt und, so Silberschmidt, »sie bekamen natürlich die Antwort, dass nicht genügend Interesse vorhanden sei für solche weltanschaulichen Auseinandersetzungen und dass der Höhepunkt für autobiographische Werke überschritten sei«. Silberschmidt war zu diesem Zeitpunkt noch zuversichtlich, allerdings erfüllten sich seine Hoffnungen nicht.38 1954 und damit bereits nach Hirszfelds Tod kam es zu einer erneuten Initiative für eine deutsche Ausgabe der Memoiren. Über die Familie von Gonzenbach gelangte das deutsche Manuskript an Benjamin Sagalowitz, den Leiter der Juna (Jüdische Nachrichten) in Zürich.39 Sagalowitz hatte Ludwik Hirszfeld 1951 in Zürich persönlich kennengelernt. Sagalowitz 35 Ebd., Bl. 75, Emil Oprecht an Ludwik Hirszfeld, 24. 11. 1945. 36 Wissenschaftshistorische Sammlungen der ETH-Bibliothek, HS 1165, Bl. 639, Ludwik Hirszfeld an Willi von Gonzenbach, 25. 12. 1945. 37 APAN, LH III-157-174, Bl. 195, Europa-Verlag Oprecht an Dr. Hermann Schüssler, 22. 1. 1959. 38 APAN, LH III-157-112, Bl. 72, Paul Silberschmidt an Ludwik Hirszfeld, 6. 4. 1952. 39 Die Juna wurde 1936 als Pressestelle des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes geschaffen – ihr Ziel war es, dem zunehmenden Antisemitismus der deutschen Nationalsozialisten und der schweizerischen Frontenbewegung entgegenzutreten. Benjamin Sagalowitz leitete die Juna von 1938 bis 1964. 491 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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war der Ansicht, der hervorzuhebende Schwerpunkt von Hirszfelds Werk liege darin, dass es die Anklage eines »hervorragenden jüdischen Wissenschaftlers gegen die deutschen Wissenschaftler seiner Zeit, sei es wegen ihres menschlichen Versagens, sei es wegen ihrer aktiven Mitwirkung an den Verbrechen, darstellt«.40 Über Sagalowitz gelangte das Manuskript im Oktober 1957 an die Wiener Library in London. Dort nahm sich Eva Gabriele Reichmann seiner an, die für die Forschungsabteilung der Wiener Library Augenzeugenberichte der Shoah sammelte. Eva Reichmann schrieb an Sagalowitz, ihr sei schon beim Durchblättern und Lesen einzelner Kapitel klargeworden, »dass es sich um einen ganz außergewöhnlich bedeutsamen Bericht eines Augenzeugen der polnischen Verfolgungszeit handelt«. Sagalowitz regte daraufhin an, sich wegen einer Herausgabe der Memoiren mit der Bundeszentrale für Heimatdienst in Bonn, der späteren Bundeszentrale für politische Bildung, in Verbindung zu setzen. Vorher ließ die Wiener Library noch ein »strikt vertrauliches« und anonymes Gutachten zu dem Manuskript erstellen. Dieses führte dazu, dass man sowohl in London als auch in Zürich Abstand von einer Veröffentlichung nahm. Denn das Gutachten nahm eindeutige Wertungen vor: »Dass man sich, wozu ihn die medizinische Herkunft vielleicht verleitete, mit den ›Blutgruppen‹ der Juden auseinandersetzt, ist sicher für jeden, der in der Abwehr des Antisemitismus seinen Mann gestanden hat, grotesk.« Weiter kritisierte es, Hirszfeld habe sich naiv zum Antisemitismus verhalten: »Wenn […] über den ›Parasitismus‹ gesagt wird, dass dieser ›Vorwurf zu einem gewissen, wenn auch geringen Teil berechtigt‹ sei, so kann man solche Sätze nicht auf ein deutsches Publikum (überhaupt auf kein Publikum) loslassen. Die Wirkung kann man sich leicht ausmalen, das ›Aha, sie sagen es selber‹. […] Das ist unerträglich, offensichtlich eine Konzession an den Druck der Umgebung.«41 Und so erschien das Buch aufgrund dieses Gutachtens nicht. Eine gewisse Bekanntheit erlangte Hirszfelds Buch in Deutschland daher nur, weil, wie erwähnt, Joseph Wulf die Memoiren als Dokument eines Augenzeugen in seinen Publikationen verwendete. Daher verwundert es nicht, dass Wulf, der ebenfalls in Kontakt zu Benjamin Sagalowitz stand, in einer Korrespondenz mit diesem

40 ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte, IB JUNA-Archiv/1613, Ludwik Hirszfeld: Die Geschichte eines Lebens III, unpaginiert. 41 Ebd. Bislang ließ sich nicht feststellen, wer das Gutachten verfasst hat. Eva Reichmann spricht in ihrem Brief vom 6. 12. 1957 davon, dass sie das Manuskript von einer »uns maßgeblichen Persönlichkeit« begutachten ließen. 492 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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am 1. Dezember 1963 meinte, man solle alles tun, damit das deutsche Manuskript erscheint – Wulf hielt es für ein einmaliges Dokument.42 Insgesamt ist die Rezeptionsgeschichte der Memoiren von Ludwik Hirszfeld Teil einer komplexen polnisch-deutsch-jüdischen und transnationalen Verflechtungsgeschichte. Sowohl Hirszfeld selbst als auch unterschiedliche nationale und internationale Milieus richteten verschiedene, eminent politisch und erinnerungskulturell motivierte Erwartungen und Zuschreibungen an diese Memoiren. Diese Konstellation beginnt mit der anfänglich strittigen, aber letztlich sehr erfolgreichen Rezeption in Polen. Der dortige Erfolg des Buches war und ist in seiner nicht immer eindeutigen narrativen Anlage begründet: Hirszfeld beschrieb die Situation während des Krieges unter anderem so, dass sich nichtjüdische Polinnen und Polen sowohl als Opfer der Nationalsozialisten als auch als »Retter« gegenüber Jüdinnen und Juden fühlen konnten. Das Buch bot damit in der ungewissen Nachkriegszeit sowohl Orientierungshilfe als auch ein Angebot zur Entlastung von einem Kriegsgeschehen, das nicht nur »Retter« hervorgebracht hatte, sondern auch Verhaltensweisen wie Erpressung, Denunziation oder direkte Beteiligung an der Shoah. Zudem fiel das Erscheinen des Buches in eine Zeit, in der Antisemitismus in Polen erneut virulent war und viele Jüdinnen und Juden zur Flucht zwang. Für ihr Verhalten während des Krieges und nach dem Krieg werden nicht wenige Polinnen und Polen in der Nachkriegszeit unbewusst oder bewusst Schuld oder Scham empfunden haben.43 Bei Hirszfeld aber konnten sie lesen, dass »die Polen« als Kollektiv anders gehandelt und Jüdinnen und Juden geholfen hätten. Die Alltagsgeschichte des Krieges machte Hirszfeld so zu einem Terrain der Verständigung und des Austausches der Polinnen und Polen mit sich selbst und, aus seiner Sicht, auch mit der jüdischen Bevölkerung.44 Dass er seine Autobiographie im Versteck bei denjenigen Polinnen und Polen schrieb, die ihm persönlich geholfen hatten, erhob sie zu einem performativen Akt autobiographischen Schreibens und zu einem Teil einer aktiv betriebenen Erinnerungspolitik. Hirszfeld wollte eine Gegenerzählung zum polnischen Antisemitismus liefern. Jüdische Leserinnen und Leser in und außerhalb Polens konnten sich seinem Narrativ 42 Nachlass Joseph Wulf, Heidelberg: Zentralarchiv, B. 2/1, Zugang 92/21, Nr. 32 »Hagen II«, Wulf an Sagalowitz, 1. 12. 1963. Ich danke Klaus Kempter, dass er mir Auszüge aus der Korrespondenz von Joseph Wulf aus dessen Nachlass zur Verfügung gestellt hat. 43 Kazimierz Wyka, Życie na niby, Warszawa 1957. 44 Zu dieser Funktion von Autobiographien Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000. S. 11. 493 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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aber nicht uneingeschränkt anschließen. Denn für diejenigen Jüdinnen und Juden in Polen, die das Warschauer Ghetto ebenfalls erlebt und möglicherweise im Ghettoaufstand gekämpft hatten, galt Hirszfelds Narrativ nur in Teilen bzw. stellte für einige von ihnen geradezu ein Gegennarrativ dar. Sie hatten zweifellos vor, während und nach der Okkupation ganz andere Erfahrungen mit ihren polnischen Nachbarinnen und Nachbarn als Hirszfeld gemacht. Diese Pluralität von Erfahrungen hat sich Hirszfeld offenbar nicht erschlossen. Als sein Verlag Czytelnik von einer zweiten Auflage des Buches absah und dies unter anderem damit begründete, Hirszfeld habe »schlecht über die Juden geschrieben«, empfand er dieses als Unrecht und als »persönliche Beleidigung«.45 Die apodiktischen Verallgemeinerungen, die Hirszfeld vornahm, erschwerten eine positive Rezeption des Werkes als Ganzes. Die Gefahr, dass seine Memoiren Antisemitismus plausibilisieren konnten, war einer der Gründe, warum die Erinnerungen auch im Deutschland der 1950er Jahre nicht erschienen, obwohl die Zeit dafür günstiger war als zuvor, war es doch auch 1955, als Joseph Wulfs erstes Werk über das »Dritte Reich und die Juden« erschien. Denn unmittelbar nach dem Krieg herrschte vielerorts ein Trend, Stimmen von Überlebenden oder Berichte aus den Lagern und Ghettos nicht wahrnehmen zu wollen. Fast überall in Europa standen die eigenen, nichtjüdischen Opfer des Krieges im Zentrum des Erinnerns – das gilt für Deutschland ebenso wie für Polen und für andere Nationen. Hätte man die Spezifik des jüdischen Leidens, das sich fast überall von dem Leiden der Nichtjuden unterschieden hatte, anerkannt, hätte dies die Selbstwahrnehmung als Opfer erheblich gestört. Auch in Italien zum Beispiel war die Öffentlichkeit nicht unmittelbar bereit, das spezifische jüdische Leid überhaupt nur anzuhören – Primo Levis berühmtes Buch »Bin ich ein Mensch?« wurde 1947 von einem der einflussreichsten italienischen Verlagshäuser, Einaudi, abgelehnt und musste zunächst auf den kleinen Verlag Da Silva ausweichen.46 So hatten es auch Ludwik Hirszfelds Memoiren, die zweifellos jüdisches Leiden beschrieben, schwer, in Deutschland oder anderswo in Europa Gehör zu finden. Die ausgebliebenen Übersetzungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren zum einen diesem allgemeinen Trend geschuldet, zum anderen aber der narrativen Anlage des Buches selbst, 45 APAN, LH III-157-89, Bl. 93-94, Ludwik Hirszfeld an Zofia Dembinskiej, Czytelnik, 9. 3. 1949. 46 Manuela Consonni: The Written Memoir: Italy 1945-1947, in: David Bankier (Hg.), The Jews are coming back, The Return of the Jews to Their Countries of Origin after World War II, Jerusalem 2005, S. 169-185, S. 178. 494 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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die Widerspruch hervorrief und nicht eindeutig war: Denn Hirszfeld brachte für jüdisches Leiden ebenso Empathie auf, wie er Jüdinnen und Juden kollektive Negativeigenschaften unterstellte; er entlastete Polinnen und Polen pauschal als Helfende ebenso, wie er ihren Antisemitismus kritisierte. Den erinnerungskulturell und politisch motivierten Erwartungen in Polen, Deutschland, den USA und der jüdischen Bevölkerung konnte Hirszfeld kaum gerecht werden. Die fast zwanzigjährige Geschichte der dokumentierbaren Bemühungen, die Memoiren auf Englisch und Deutsch zu drucken, konnte so erst seit der Jahrtausendwende zu einem Erfolg werden.

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8 Fazit Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld gehörten in der Metallkunde und der Technologie der Metalle sowie der Serologie und Immunologie zu den führenden Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Sie beschritten in den Forschungen zu »ihren« Stoffen, zu Blut und Metall, die sie in variablen Wissensräumen unternahmen, jeweils ganz neue Wege. Sie und die Teams, mit denen sie arbeiteten, hinterfragten etablierte Lehrmeinungen, antizipierten Zukunftswissen und stellten zum Teil provokante Thesen auf, die sich nicht alle als haltbar erwiesen, aber auf diese Weise zu Diskussionen anregten, weitere Forschungen initiierten und zur Entwicklung der jeweils noch jungen Disziplinen beitrugen. Sie verorteten sich selbstbewusst in der Moderne, der Zeit einer antizipierten Zukunft, die sie mittels ihrer Forschung und ihrer Stellung in der Gesellschaft auf den Weg bringen und an der sie partizipieren wollten. Sie hielten ihre Wissensfelder (und damit auch sich selbst) für entscheidend, ja geradezu für leitend auf diesem Weg, der umfassende Verbesserungen für die Menschheit bereithalten sollte. Czochralski behauptete im Oktober 1927, neue Technologien hätten infolge »gewaltiger Umwälzungen von Leben und Kultur im Zusammenhang mit den Errungenschaften moderner Technik« Ungeheuerliches geleistet und dem Leben der ganzen Welt ein neues Gepräge gegeben. Er bewertete die »neue technische Glanzzeit« als »das wichtigste Mittel des technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus und […] der Menschheitserhaltung, der Menschheitsbefreiung«. Er sah sich als Teil dieser Zeit. Etwas später zeigte sich Ludwik Hirszfeld davon überzeugt, dass seine Untersuchungen über das Blut ebenfalls nicht auf strikt medizinische Fragen beschränkt waren. Er fragte 1934: »Erkennen wir nicht den schöpferischen Rhythmus unserer Epoche, wenn wir den Grad der Veränderung der Blutgruppen an verschiedenen Orten untersuchen?«1 Entsprechend ihrer Selbstwahrnehmung avancierten sie wie viele anderen Expertinnen und Experten in dieser Zeit zu Schlüsselressourcen für Nationalstaaten in Krieg und Frieden, für Unternehmen, Industrie und Gesellschaften. Sie übersetzten ihre hochgesteckten Ziele universaler Wissenschaftsentwicklung zum Wohle der Menschheit auf die lokale und nationale Ebene, von wo aus sie wiederum neue Impulse erhielten – 1 Jan Czochralski, Neues und Altes aus der Technologie und Technik, in: Zeitschrift für angewandte Chemie 40/47 (1927), S. 1402-1406, S. 1402; Ludwik Hirszfeld, Les groupes sanguines. Leur application a la biologie, a la médicine et au droit, Paris 1934, S. 163. 497 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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diese Ebenen ergänzten sich, sie standen sich nicht diametral gegenüber. Beide gehörten zu Expertengruppen, mit deren Etablierung neue und erweiterte Formen staatlicher Aktivität und öffentlicher Finanzierung einhergingen.2 Beide wurden öffentlich gefördert, und sie waren keine isolierten Experten oder Teil abgeschotteter nationaler und internationaler epistemische Gemeinschaften. Sie betraten vielfach öffentliche Bühnen, auf denen sie ihre Fachsprachen in einen allgemein verständlichen Duktus übersetzten, und müssen daher in einer breiteren Perspektive verortet werden. Sie waren Teil der Inteligencja, Teil einer technischen Elite, die nicht weniger als eine künstlerisch-literarische Elite eine politisch-kulturelle Agenda hatte, wie sie unter anderem in den obigen Zitaten zum Ausdruck kommt.3 Ihr Wissen war wie jegliches Wissen, trotz seiner intrinsischen Verbindung mit zumeist akademisch bzw. universitär verfasster Wissenschaft, integraler Bestandteil eines gesellschaftlichen Kräftefelds, in dem die Wissenschaft Ressourcen für andere Subsysteme von Gesellschaft bereitstellte und ihrerseits von denjenigen aus anderen Systemen profitierte.4 Wissenschaft, Wirtschaft und Militär, Kultur, Öffentlichkeit und Politik waren intensiv miteinander verflochten und beeinflussten sich, das Wissen zirkulierte innerhalb dieser Systeme. Vielfach entstanden wissenschaftliche Ergebnisse in dieser Zeit auf Verlangen von Repräsentanten gesellschaftlicher Systeme wie dem Militär, der Industrie und der in ihren Diensten gedachten Biopolitik – Wissen war für diese Repräsentanten und Interessengruppen zu einer Ressource für gezielte Gestaltung geworden. Für das Zusammenspiel dieser Systeme mit der Wissenschaft schuf der jeweilige Staat die entsprechenden Rahmenbedingungen. Politikerinnen und Politiker wie Polens Staatspräsident Ignacy Mościcki setzten sich tatkräftig dafür ein, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die entsprechenden Forschungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt wurden. Und so resultierten auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Hirszfeld und Czochralski aus Verhandlungs- und Kommunikationsprozessen, die nicht vom sozialen, politischen und kulturellen Umfeld unabhängig

2 Scott, James C. Seeing like a state. How certain schemes to improve the human condition have failed, New Haven, Conn. 1998. 3 Martin Strickmann, Scientists as Intellectuals: The Sociopolitical Role of French and West German Nuclear Physicists in the 1950s, in: Helmuth Trischler, Mark Walker (Hg.), Physics and Politics. Research and Research Support in Twentieth Century Germany in International Perspective, Stuttgart 2010, S. 131-159, S. 155. 4 Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36/1 (2011), S. 159-172, S. 166. 498 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gedacht werden können – ihre Innovationen waren wie ihr Expertenstatus ein Ergebnis von Zuschreibung und sozialen Aushandlungsprozessen. Dies konnte in dieser Doppelbiographie anhand des Verlaufes ihrer Leben und ihrer konkreten, lokal verankerten Forschungen mehrfach gezeigt werden: Das Umfeld, in dem Czochralskis Aufstieg begann, war geprägt vom Aufstieg der industriellen Forschungslabore als einem engen Zusammenspiel von Wirtschaft, Wissenschaft und Militär, von technokratischen Visionen, aber auch von Rohstoffknappheit und dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Diese Faktoren haben die Gesellschaft des Deutschen Reiches in jeglicher Hinsicht immens geprägt. Sie führten zu der politischen Konstellation, in der sich Czochralski nach dem Ersten Weltkrieg in einem nationalen Innovationssystem etablieren konnte, das sich in zunehmend nationalistischer Manier von den »Ersatzstoffen« befreien wollte und mit »deutschen« Metallen imperiale Großmachtansprüche verband. Ludwik Hirszfeld wiederum begann seinen Weg dort, wo die hochaktuellen Fragen der Vererbung mit der Serologie und dem Nachdenken über die menschliche Diversität verknüpft wurden, was damals bedeutete, die Frage menschlicher »Rassen« zu diskutieren – auch dies war ein Themenkomplex, der biowissenschaftliche oder anthropologische Expertenzirkel verließ und gesellschaftlich verhandelt wurde. Der Stoff »Blut« erfuhr in diesem Kontext eine enorme kulturelle Aufladung und wirkte im Gegenzug auf viele gesellschaftliche Diskurse oder soziale Prozesse etwa von Integration oder Exklusion zurück, denn mit Blut war »das Ganze des Menschen« gemeint.5 Demgegenüber waren Metalle, mit denen viele Menschen gleichwohl in ihrem Alltag täglich zusammenkamen, weniger kulturell aufgeladen. Aber auch sie ließen sich, wie das Beispiel Bahnmetall zeigt, in kulturelle und nationale Kontexte stellen. Zudem verband man mit ihnen, wie das Beispiel der Werkstoffschau demonstriert hat, nationale Größe und Macht, Metalle werteten auf und schufen Selbstbewusstsein. So wirkten auch sie dank ihrer vielseitigen Verwendung und dank der Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben wurden, auf die Gesellschaft ein und demonstrierten die außerwissenschaftliche Wirkungskraft des metallkundlichen Wissens. Das Wissen von Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld, das sie sich im deutschen Sprachraum angeeignet hatten und dessen Entstehung somit an Zeit und Raum gebunden war, suchten sie nach 1918 in Polen zu implementieren. Der »Kult des Konkreten«, den der Journalist Melchior Wańkowicz als Strategie der Abgrenzung gegen die romantisch konno5 Sarasin, Feind im Blut, S. 306. 499 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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tierten historischen Traditionen ausgerufen hatte, kam ihnen und der Verankerung ihrer Expertise sehr entgegen. Dennoch war die Implementierung ihres Wissens eine große Herausforderung – nicht nur wegen der Infrastrukturen, die vielfach erst aufgebaut werden mussten, und des gleichzeitig herrschenden großen Kapitalmangels, sondern vielmehr noch aufgrund vielfältiger politischer, kultureller und epistemologischer Konstellationen, die neu, anders und komplex waren. Zum einen erwiesen sich vor allem in Czochralskis Fall die Stoffe und epistemischen Dinge wie das Bahnmetall als sperrige Zirkulationsobjekte. In diesem Fall stimmten die Voraussetzungen zu seinem Einsatz nicht, weder materiell noch kognitiv. Stoffe, die mit ihren ganzen chemischen und mechanischen Reaktionsmöglichkeiten ihre eigene agency hatten, reagierten in Polen anders, als Czochralski es gewohnt war, weil sie anders zusammengesetzt waren oder weil es ihnen an Reinheit mangelte. Zuweilen waren sie schlicht nicht vorhanden, so dass Legierungen einzelne Bestandteile fehlten, oder sie mussten in aufwändigen Prozessen transferiert werden. Ebenso hatte Czochralski es mit einer Ausbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu tun, die selten so geschult waren, wie er es gewohnt war. Anders in Bezug auf Habitus und Kommunikationsformen war auch das Forschungsmilieu unter zahlreichen Militärs, für die und mit denen Czochralski arbeitete – all dies zusammen schuf für ihn einen Wissensraum Warschau, in dem er auf nicht zu unterschätzende Widerstände kognitiver und materieller Natur für seine Arbeit traf. Ebenso erging es Ludwik Hirszfeld, dem es nicht gelang, das bakteriologische Wissen in die Fläche des gesamten polnischen Staates auszudenken oder den Rhesus-Faktor zu finden, obwohl er kurz vor dessen Entdeckung gestanden hatte. Auch hier spielten Fragen von Erfahrung, von Praktiken im Umgang mit dem Stoff »Blut«, die einen großen Einfluss darauf hatten, wie der Stoff wirken oder verstanden werden konnte, und von Wissenskulturen, also geteilten Praktiken vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen, eine große Rolle: Die lokale Bedingtheit von Wissensgenerierung -und implementierung war manifest. Auf der anderen Seite gelang es beiden Wissenschaftlern vielfach, ihr bereits stabilisiertes Wissen etwa über die Vererbung der Blutgruppen, den Stellenwert der Hygiene oder die komplexe Zusammensetzung von Blei- und Aluminiumlegierungen in eine produktive Mischung mit den Wissensbeständen vor Ort zu bringen und somit den Anforderungen und Möglichkeiten des neuen polnischen Staates anzupassen. Bereits zuvor in transnationalen Netzwerken stabilisiertes Wissen veränderte sich in den neuen Räumen aber auch – mit einer Mischung aus Aneignung und Abwehr dessen, was nicht zum neuen Kontext passte, wussten 500 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Hirszfeld und Czochralski zu überzeugen, Dass dies nicht immer gelang, zeigt das Beispiel des Bahnmetalls, das Czochralski gegen Widerstände einzuführen versuchte. Beide nutzten dazu nicht nur ihre Institutionen wie das staatliche Hygiene-Institut oder das Institut für Metallurgie und Metallkunde, sondern vor allem die vielen öffentlichen Bühnen, die sich ihnen in den Fachverbänden und wissenschaftlichen Gesellschaften, aber etwa auch vor Gericht boten. Sie engagierten sich für den Auf bau eines neuen, post-imperialen Staatswesens mit großem Bedarf an funktionalem Expertenwissen sowohl in der Wissenschaft als auch der Wirtschaft. Es war eine gemeinsame Erfahrung der polnischen Inteligencja, dass sie den polnischen Nationalstaat erleben, als den ihren empfinden und seinen Kern bilden konnte. Ihre führende Rolle, zu der die Staatspräsidenten wie der Ingenieur Gabriel Narutowicz oder der Chemiker Ignacy Mościcki beitrugen, aber eben auch Experten wie Hirszfeld und Czochralski, wurde im öffentlichen Bewusstsein in dieser Epoche unzweifelhaft festgelegt.6 Die in diesem Zusammenhang erhobenen Forderungen und Praktiken der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (und nicht nur von ihnen), etwas »Eigenes« in der Wissenschaft zu schaffen, das dann als etwas »Polnisches« in der Welt sichtbar sein sollte, scheinen dabei auch eine Strategie gewesen zu sein, Polen in den Zwischenkriegsjahren Selbstvertrauen im internationalen Wettbewerb der neuen Staatenwelt zu geben, das den Mangel an Infrastrukturen, die Frustration eines mühseligen Wiederaufbaus oder fehlende finanzielle Mittel kompensieren sollte. Nicht nur Hirszfeld und Czochralski imaginierten eine ideale Zukunft, eine Zukunft, die für Polen nie ganz erreichbar war, aber von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern angestrebt wurde. Sie wollten Polen von der Rolle als ewig lernendem Schüler auf dem Weg in die als westlich markierte Zivilisation befreien.7 Die Debatten über diese Zukunft und die Versuche, sie in praktisch-konkreter Anwendung von Forschung zu installieren, stellten ein Mittel dar, um die imperialen Diskurse der anderen, vor allem der ehemaligen Teilungsmächte, und das zweifellos vorhandene imperiale Erbe in den Köpfen, in Normen und Infrastrukturen der polnischen Republik, zu konterkarieren. Es war ein 6 Sdvižkov, Zeitalter der Intelligenz, S. 135-136. Siehe auch Marta Alexandra Balińska, Ludwik Hirszfeld: Scientist and Humanist, in: Science and Engineering Ethics 8 (2002), S. 269-271, S. 270. 7 Zu dieser Rolle des »Ostens« Andreas Kappeler, Die Bedeutung der Geschichte Osteuropas für ein gesamteuropäisches Geschichtsverständnis, in: Gerald Stourzh (Hg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, S. 4355, S. 45. 501 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Mittel, um Selbstvertrauen in einem umkämpften, unsicheren und von Schwierigkeiten geprägten Umfeld zu schaffen. Man konnte auf das imperiale Erbe (noch) nicht verzichten, weil man davon, zumal von den daraus erwachsenden Wissensbeständen, noch abhängig war. Für lange Zeit konnte man die Spuren der Herkunft, der kulturellen, politischen oder sozialen Existenzbedingungen und der spezifischen Verwendungsweisen dieses Wissens noch spüren. Indem man es inkorporierte und veränderte, wollte man sich davon gleichzeitig emanzipieren. In der praktischen Umsetzung gelang dies vielfach. Das Staatliche Hygiene-Institut etwa ist ein Beispiel dafür: Die Gesundheitspolitik in Polen und ihre Institutionen waren keineswegs ein passiver Rezipient westlicher Muster – die Sozial- und Gesundheitspolitik in Polen galt als progressiv, innovativ und dynamisch, weil sie die Muster aus der Diaspora mit den konkreten Anforderungen vor Ort vereinte. Viele Akteurinnen und Akteure der Wissensproduktion scheinen in dieser Hinsicht ein gewisses »symbolisches Kapital« geteilt zu haben, das mit der Idee verbunden war, ein vielleicht kleineres und jüngeres, aber gleichberechtigtes und akzeptiertes Mitglied einer imaginären modernen nationalen wie globalen Gemeinschaft zu sein oder zu werden8 – dies trifft zweifellos auch auf Hirszfeld und Czochralski zu, die sowohl Schwierigkeiten benannten, gleichwohl immer davon überzeugt waren, dass die polnische Wissenschaft mit ihrer Hilfe genau auf diesem Weg hin zu einem anerkannten Mitglied der Weltgemeinschaft sei. Und so formulierte es auch der Bakteriologe Odo Bujwid, der die verschiedenen Aspekte dieser Konstellation so zusammenfasste: »Die polnische Wissenschaft […] tritt immer mehr auf den Gebieten der Welt hervor. Es gibt große Schwierigkeiten, besonders fehlen Mittel für Forschung. Aber der Glaube an das Ideal und die Zukunft der Nation und des Staates auf dem Gebiet der gesamtmenschlichen Arbeit wird zweifellos siegen und diese Schwierigkeiten überwinden […]. Ich zweifele nicht, dass auch wir, die wir in uns die Flamme Gottes tragen, mit den Schwierigkeiten fertig werden und weiter auf diesem Weg gehen werden.«9 Die Teilhabe an diesen Prozessen erlebten Hirszfeld und Czochralski möglicherweise als eine berauschende Erfahrung, obwohl, wie gezeigt, für ihren Umzug nach Polen nicht emotional-patriotische, sondern pragmatische Gründe eine wesentliche Rolle gespielt haben.10 Sie waren beide Teil einer Generation, die die Teilung Polens noch sehr bewusst erlebt 8 Siehe dazu auch Rohdewald, Mimicry. 9 Pamiętnik zjazd mikrobiologów i epidemiologów Polski, Warszawa 1-3. 11. 1931, in: Medycyna doświadczalna i społeczna XIV (1932), S. 864. 10 Balińska, Ludwik Rajchman, international health leader, S. 464. 502 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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hatte – diese Erfahrung übersetzte sich in die geschilderten Parallelitäten der beiden Wissenschaftler.11 Sie erlebten zuerst Fremdherrschaft, dann Leben im deutschen Sprachraum, dann den neuen Nationalstaat – dieser Wandel der Staatenordnungen strukturierte ihr Leben erheblich. Es ist davon auszugehen, dass diese Erfahrung in jener Generation als Gemeinsamkeit empfunden wurde – dies lässt sich im Fall von Ludwik Hirszfeld auch daran ablesen, welch hohe Bedeutung er dem pionierhaften Auf bau des Gesundheitswesens nach 1918 in seinen retrospektiven Betrachtungen nach 1945 verlieh.12 Dies konnten jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den 1950er Jahren schon nicht mehr nachvollziehen. Das generationelle Erlebnis der Neugründung des polnischen Staates und die damit verbundene, anfängliche Euphorie trugen viele durch die Zeit bis 1939. Trotz aller Enttäuschungen über die Unzulänglichkeiten der Entwicklung des politischen Systems in Polen, das sich immer mehr in einen autoritären Staat verwandelte, unterstützten sie die Republik bis zum September 1939 – dies gilt trotz des zunehmenden Antisemitismus, den Ludwik Hirszfeld zu spüren bekam, und einer Atmosphäre, in der nationalistische Engführungen und Ausgrenzungen eine immer größere Rolle zu spielen begannen. Die damit einhergehende Tatsache, dass die euphorische Propagierung von technologischem und sozialem Fortschritt zu jener Zeit europaweit vielerorts mit illiberalen Konzepten von Moderne und Politik verbunden wurde, hat besonders Ludwik Hirszfeld mit Sorge betrachtet. So jedenfalls liest es sich in seiner Autobiographie, in der er sich bescheinigt, nicht indifferent gegenüber dem politischen Kontext gewesen zu sein, in dem die eigene Arbeit stattfand.13 Aktiv geworden gegen diese Entwicklungen ist er ebenso wenig wie Jan Czochralski. Friedrich Glum, bis 1937 Generaldirektor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, hat in diesem Zusammenhang rückblickend notiert: Viele Naturwissenschaftler gingen »so ganz und gar in ihrer Arbeit auf, daß es ihnen gleichgültig ist, unter welchem Regime und in welchem Land sie arbeiten«.14 Es ist aufgrund der vorliegenden Quellen kaum möglich, eine solche Gleichgültigkeit für Hirszfeld und Czochralski in dieser Deutlichkeit anzunehmen, fest steht nur, 11 Levke Harders, Veronika Lipphardt, Kollektivbiografie in der Wissenschaftsgeschichte als qualitative und problemorientierte Methode, in: Traverse 13/2 (2006), S. 81-91, S. 82. 12 Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 8-13. 13 Zu einer solchen Haltung deutscher Wissenschaftler siehe Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik unter dem Hakenkreuz, in: Barricelli, Jung, Schmiechen-Ackermann (Hg.), Ideologie und Eigensinn, S. 24-48, S. 26. 14 Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, S. 555. 503 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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dass sie ihre Arbeit unter den Bedingungen des deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der Zweiten Polnischen Republik relativ problemlos ausführen konnten – von diesen politischen Konstellationen ließen sie sich in ihrer Arbeit nicht behindern. Sie begegneten ihnen, soweit dies eben ging, mit einer relativen Ignoranz. Spätestens nach der deutschen Okkupation Polens war die Möglichkeit von Gleichgültigkeit verstellt – unter den asymmetrischen Bedingungen der Besatzungsgesellschaft, die für die jüdische Bevölkerung bzw. diejenigen, die die deutschen Besatzer dafür hielten, ganz andere waren als für die nichtjüdische Welt, versuchten beide Wissenschaftlern unter den geschilderten Bedingungen ihren Arbeitsalltag aufrechtzuerhalten. Innerhalb ihrer jeweiligen Lebenswelten waren sie dabei als jeweils begrenzt Privilegierte in der Lage, eigensinniges Verhalten zu entwickeln, das ihnen nützte und nicht allein in einer Dichotomie von Widerstand oder Kooperation aufging. Beide leisteten im Rahmen ihrer Möglichkeiten Widerstand; während Ludwik Hirszfeld aber zur Kooperation in der Konstellation des Judenrats im Warschauer Ghetto gezwungen wurde, begann Czochralski seine Kooperation vor allem mit der Wehrmacht unter anderen Umständen, galt seine Arbeit in den Augen der Besatzer doch als nützlich für deren Ziele. Beider Verhalten sorgte in Teilen der Nachkriegsgesellschaft Polens für moralische Urteile, die nicht die ganze Alltagserfahrung der beiden Wissenschaftler in den Blick nahmen und somit an deren Lebenswirklichkeiten vorbeizielten. Dies resultierte wiederum auch daraus, dass die Selbst- und Fremdwahrnehmungen beider Wissenschaftler nicht zusammenfielen. Den zum Katholizismus konvertierten Ludwik Hirszfeld hielten Teile der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung nach wie vor für einen Juden und behandelten ihn so und nicht anders, während Czochralski zu einem »Reichsdeutschen« gemacht worden war, obwohl er seine polnische Herkunft nie verleugnet hatte. Für Jan Czochralski bedeutete der Zweite Weltkrieg mit der anschließenden Verlagerung seiner Lebenswelt in die geographische und berufliche Peripherie eine radikale Zäsur, während sich Ludwik Hirszfeld mit dem neuen, staatssozialistischen Regime arrangierte und vor allem versuchte, Kontinuität zu wahren. Dies bedeutete, an die alten, transnationalen Netzwerke anzuknüpfen, die sich infolge des Nationalsozialismus in die USA verlagert hatten, weiterhin den Stoff »Blut« mit den eingeübten Praktiken und neuen Erkenntnissen zu erforschen und erneut die Rolle als öffentlich agierender Intellektueller mit einer gesellschaftlichen Verantwortung einzunehmen – diesen Aktivitäten setzte das Regime aber zunehmend Beschränkungen ideologischer und praktischer Natur 504 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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gen. Was es nicht vermochte, und dies gilt auch für alle vorherigen Regierungsformen, war, Hirszfelds epistemische Ideale vom »Wahren« zu brechen, die er seiner Meinung nach losgelöst von gesellschaftlicher Bewertung aufrechterhalten konnte. Dabei übersah er, dass der Themenkomplex »Rasse« und Rassismus von komplexen und verwickelten Verhältnissen handelt, in denen politische und biologische Bedeutungen nicht zu trennen sind, weil sie sich erst gegenseitig Sinn verleihen und es dementsprechend schwer ist, sie so strikt auseinander zu dividieren, wie Hirszfeld es tat. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass das Leben der beiden Wissenschaftler und Experten in ihren deutschen, polnischen und globalen Wissenschaftswelten entscheidend von den großen Brüchen des 20. Jahrhunderts, dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, und den miteinander wetteifernden politischen Ordnungen des 20. Jahrhunderts, den demokratischen, autoritären und diktatorischen Regimen, geprägt war. Als Experten und Wissenschaftler waren sie in diesen Ordnungen und unabhängig von der Nation gefragt – sie vermochten es, ihre Expertise als handlungsleitendes Wissen an die jeweiligen Anforderungen in spezifischen Konstellationen, Strukturen und Dispositionen anzupassen, sofern die kulturellen, epistemologischen und materiellen Voraussetzungen dafür gegeben waren. Die Formierung und die Anerkennung ihrer Expertise waren in hohem Maße von solchen Voraussetzungen abhängig – unter deren Berücksichtigung konnte hier eine transnationale Wissenschaftsgeschichte in zwei Biographien geschrieben werden, die die zeitlichen, räumlichen, materiellen und epistemologischen Entstehungsbedingungen von Expertise in unterschiedlichen institutionellen, nationalen und politischen Kontexten einbezogen hat. Die internationalen Verflechtungen und die Kontakte, von deren Dynamik beide aufgrund von Migration und Wissenstransfer profitierten, haben ihr Leben und ihre Wissenschaft erheblich konturiert. Ebenso wichtig aber für ihr Fortkommen waren die Stoffe und die Materialitäten, mit denen sie sich beschäftigten, und das kulturelle Kapital, das sie sich erarbeiteten, um in verschiedenen epistemischen und nationalen Gemeinschaften als Experten und Wissenschaftler anerkannt zu werden – denn selbstverständlich war dies ganz und gar nicht. Beide waren von Außenseiterpositionen in ihre Lauf bahnen gestartet: Czochralski hatte den »Makel« einer in damaligen Zeiten nicht standesgemäßen Herkunft und vor allem einer mangelnden Ausbildung, die institutionell durch akademische Titel abgesichert worden wäre und damit sein inkorporiertes Kapital hätte legitimieren können – diese Situation verstellte ihm in Preußen / Deutschland zeitweilig seinen Aufstieg. Welche Rolle sie 505 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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bei seinem Fall in Polen spielte, darüber lässt sich nur spekulieren. Dort erwies sich seine »deutsche Verankerung« als ein weiterer »Makel«, den ihm seine Gegner anhefteten. Ludwik und Hanna Hirszfeld wiederum hatten den vermeintlichen Nachteil, als »jüdisch« markiert zu sein, dies könnte ihm im Deutschen Reich die Habilitation verstellt haben. Nach 1918 führte diese Markierung dazu, dass er nicht Direktor des Staatlichen Hygiene-Instituts werden konnte; von den Folgen für das Leben des Ehepaars nach 1939 ganz zu schweigen. Gleichwohl vermochten es sowohl Hirszfeld als auch Czochralski, gegen diese vor allem in der Fremdwahrnehmung mit Bedeutung aufgeladenen Merkmale Resilienzen zu entwickeln und ihr wissenschaftliches und damit kulturelles Kapital erfolgreich dagegen zu positionieren. Für Ludwik Hirszfeld spielte seine Ehefrau Hanna Hirszfeld, die er 1952 als seine engste Mitarbeiterin charakterisierte, dabei eine tragende Rolle.15 In der Rezeption konnte sie aber weder mit ihren eigenen, vor allem pädiatrischen Forschungen noch als Co-Autorin der Arbeiten von Ludwik Hirszfeld einen ähnlich hohen Bekanntheitsgrad wie er erlangen. Sie wurde damit zum Opfer des sogenannten »Matilda-Effekts«, der beschreibt, dass wissenschaftliche Arbeiten häufig männlichen Kollegen zugeschrieben werden, während der Anteil der Frauen daran verdrängt oder geleugnet wird.16 Dies verweist auf eine Welt, in der Männer die Hoheit über wissenschaftliches Wissen und die Institutionen, die es generieren, ausübten und es für Frauen nicht leicht war, sich zu behaupten und letztlich als Wissenschaftlerinnen ernst genommen und rezipiert zu werden. Dazu mag im Fall von Hanna Hirszfeld intersektionale Diskriminierung als Frau jüdischer Herkunft beigetragen haben. Unbewusst oder bewusst potenzierte aber auch die Haltung der Ehemänner diese Marginalisierung. Denn auch wenn Ludwik Hirszfeld seine Frau oft als Wissenschaftlerin bezeichnete und sie nicht vollständig auf die Rolle der Ehefrau reduzierte, so verortete er sie doch hauptsächlich in einer Beziehung zu sich selbst und nicht als selbständige Wissenschaftlerin. Er sprach von ihr, wie oben erwähnt, als seiner engsten Mitarbeiterin oder wie folgt: »Dann verdanke ich das meiste meiner Frau. Es ist nicht leicht, die Frau eines Gelehrten zu sein. In den Augenblicken der Depression muss sie seine Dynamik, in Momenten der Überschätzung seiner Ideen – seine Kritik erhalten. Meine Frau verstand es, gleichzeitig 15 APAN, LH 157-III-104, Bl. 108, Ludwik Hirszfeld an Jan Dembowski, 22. 2. 1952. 16 Margaret W. Rossiter, Der Matilda-Effekt in der Wissenschaft, in: Theresa Wobbe (Hg.), Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2003, S. 191-210. 506 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Lebensgefährtin, Mitarbeiterin, Mutter und Frau zu sein. Im Kriege, und während der Okkupation, und während der Belagerung, war sie die Tapferste der Tapferen.«17 Hierin spiegelt sich zum einen die Bescheidenheit von Hanna Hirszfeld wider, es wird aber zum anderen auch deutlich, dass es gilt, den Anteil von Hanna Hirszfeld an Ludwik Hirszfelds Arbeiten in einer von Männlichkeit geprägten Welt von Wissenschaft wahrzunehmen und ins Bewusstsein zu rücken. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in dieser Studie forderten in einer Zeit, in der der Nationalismus den Staat erobert hatte, das Territorialitätsprinzip heraus. Eine Verankerung in mehreren nationalen oder imperialen und post-imperialen Kulturen konnte ein produktives Element darstellen und stellte es ja auch dar – nicht nur Czochralski und Hirszfeld, sondern zahlreiche andere Wissenschaftler, die mit Erfahrungen aus deutschen, russischen oder österreichisch-ungarischen Wissenschaftswelten nach Polen kamen, profitierten von ihrer eigenen, persönlichen Verankerung in mehreren Kulturen, an denen sie partizipiert und die sie mitgestaltet hatten. Dass diese Dynamik, die sich aus den fragmentierten Leben in je spezifischen Räumen und zu spezifischen Zeiten ergab, aber auch erhebliches Konfliktpotential freisetzen konnte, zeigt das Beispiel von Czochralski, dem seine grenzüberschreitenden Kontakte mit Beginn des Zweiten Weltkriegs zum Verhängnis wurden, nachdem der internationale Raum, aus dem er kam, bereits zuvor dichotomisch gegen den nationalen Raum Polen ausgespielt worden war. Der Staat diente Experten wie Hirszfeld und Czochralski als Sprungbrett – gleichzeitig konnte er die geschaffene Autonomie wieder bedrohen und herausfordern. Expertise war nicht einmal erworben und immer akzeptiert. Transnationale Biographien gefielen in den Nationalstaaten nicht allen, die diese Staaten repräsentierten. Durch einen alltäglich gelebten Transnationalismus, der durch den Zerfall der Imperien und vielfache Migrationsbewegungen nach 1918 nicht nur ein Elitenphänomen war, sahen sie nationale Identitätskonstruktionen als gefährdet oder zumindest verunsichert an. Als Antwort versuchten Staaten (und im Folgenden auch Historikerinnen und Historiker), transnationale Biographien zu unterdrücken oder zu ignorieren. Dies funktionierte über gesetzliche Regulierungen von Migration, Reemigration und Staatsbürgerschaft, was nicht selten das Phänomen von Staatenlosigkeit hervorrief, ein für den Übergang von Imperien zu postimperialen Staaten sehr relevantes Thema. Aber nicht nur Staatenlosigkeit, sondern auch eine nicht in den

17 Archiv der Universität Zürich, AF.1.207. Ehrendoktoren: Personaldossiers. 507 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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neuen nationalen Duktus passende Staatsbürgerschaft konnte einen gravierenden Makel darstellen, wie das Beispiel von Czochralski zeigt. Die Lebensläufe von Menschen wie Czochralski und Hirszfeld, deren Leben mobil verlief, die das Prinzip von Territorialität herausforderten und in zwei oder mehreren Nationalstaaten oder anderen politischen Einheiten lebten und somit politisch definierte Grenzen überwanden, waren teilweise gebrochen und flexibel. Deswegen konnten solche Lebensläufe in die nun nationalstaatliche Gegenwart hineinragen und dort für Verunsicherungen sorgen. Dies ist eine Konstellation, die bis heute in vielen Diaspora-Gemeinschaften weltweit nicht an Aktualität verloren hat. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – gilt, dass fragmentierte Lebensgeschichten transnationaler Biographien, Mobilität und solche grenzüberschreitenden Kontakte, die nicht nur Czochralski und Hirszfeld ihr Leben lang begleiteten und von denen Wandlungsprozesse initiiert und Innovationen angestoßen werden, als ein grundlegendes Element der Moderne und als ein unveränderliches Element menschlicher Erfahrung zu betrachten sind. Sichtbar wird dies vor allem dann, wenn die Nation nicht mehr die alleinige Bezugsebene und die alleinige Zeitachse der historischen Betrachtung bildet. Hier scheinen in den Biographien kosmopolitische Dimensionen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auf, die von allein national ausgerichteten Historiographien vergessen wurden.18 An dieser Stellte wird ein dreifacher Mehrwert von zäsur- und grenzüberschreitenden Perspektiven auf Biographien und damit auf die Lebenswege von Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld deutlich: Zum einen werden Aspekte von Mobilität, von Netzwerken und von Prozessen von Zirkulation und Transfer in den Vordergrund gerückt, ohne die gleichzeitigen Verortungen in Imperien oder Nationen gänzlich zu vernachlässigen. So lässt sich erkennen, dass Fragmente von Lebenswegen zu wechselnden Zeiten und an wechselnden Orten produziert werden können, mit denen sich das Wissen verband, das Czochralski und Hirszfeld als Wissensakteure zirkulieren ließen. Und an diesen wechselnden Orten haben sie in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Rollen gespielt und unterschiedliche performative Strategien und Techniken eingesetzt – daher werden sie als »ganzes biographisches Subjekt« nur in einem konstruierten Narrativ fassbar.

18 Pierre Yves Saunier, Going transnational? News from down under, URL: http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?type=artikel&id=680&view=pdf&pn =forum (Zugriff am 23. 12. 2018). 508 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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Zweitens bestätigt sich, dass es sinnvoll ist, die vermeintlich harten Epochengrenzen von 1918 und auch von 1945 in der Betrachtung von Biographien zu überschreiten, weil sich in den Lebensläufen eben nicht nur der Wandel oder der Bruch widerspiegelt, der durch die mit den Zeitenwenden verbundenen Krisen- oder auch Rauscherfahrungen hervorgerufen wird, sondern sich gerade in der Betrachtung der Entwicklung von Wissen zahllose Kontinuitätslinien finden lassen, die sich bei einer alleinigen Betrachtung der Imperien ohne ihr Nachleben genau so wenig erschließen wie bei einer isolierten Betrachtung der neuen politischen Entitäten ohne ihr imperiales Vorleben. Und drittens hat die doppelbiographische Betrachtung zweier Akteure, die sich über ihr Wissen definierten und grenz- und zäsurüberschreitend sowohl diskursive als auch praktische Forschungsmacht erlangen konnten, einen multiperspektivischen Blick auf die verschiedenen Handlungsoptionen, Entwicklungsmöglichkeiten und Grenzen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im 20. Jahrhundert ergeben. Die Leben beider Akteure sind eng mit der Entwicklung der Wissenschaft auf dem Weg in die Moderne verbunden, aber auch mit dem Wandel, den die Gesellschaften erfuhren, in denen sie lebten, sowie mit den politischen, wirtschaftlichen und vielfach auch kulturellen Veränderungen, von denen das Jahrhundert geprägt war. Ihre Analyse ist damit ein Beitrag zur Geschichte der Moderne als einer Geschichte des Wissens, die gleichwohl als eine Geschichte von Gesellschaften verstanden werden muss.

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Dank Bevor dieses Buch im Jahr 2019 zuerst als Habilitationsschrift von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) angenommen wurde, ist es an verschiedenen Orten in Polen, in Deutschland und in England zu einem Ganzen zusammengewachsen. Dies war ein spannender Prozess, der in Manchem den hier beschriebenen Vorgängen der transnationalen Wissensgenerierung ähnelte. Wie auch die beiden Hauptprotagonisten meines Buches Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld ihre Netzwerke schätzten und von ihnen profitierten, so konnte auch ich meine Gedanken im Austausch mit Wissensakteurinnen und -akteuren in verschiedenen Ländern weiterentwickeln und schärfen, wofür ich überaus dankbar bin: Begonnen hat die Reise am Deutschen Historischen Institut in Warschau, wo HansJürgen Bömelburg mein Interesse für die Wissenschaftsgeschichte in einem polnisch-deutsch-europäischem Kontext geweckt hat, zudem konnte ich mich dort mit Martin Kohlrausch und Stefan Wiederkehr sehr gewinnbringend über Expertenkulturen austauschen. In Halle, wo ich dank eines Stipendiums der Max-Weber-Stiftung ein Jahr an der MLU verbringen durfte, hat Michael G. Müller mich mit wichtigen Impulsen zu transnationalen Räumen und den Herausforderungen einer transnationalen Wissensgeschichte weiter motiviert und mein Projekt bis zur Begutachtung ungemein kenntnisreich begleitet, wofür ich ihm sehr dankbar bin. In Lüneburg habe ich mit David Feest intensiv über das Biographische diskutiert – ihm und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Nordost-Instituts danke ich sehr herzlich für die anregende Zusammenarbeit und die viele Unterstützung, die ich dort erfahren habe. Mein besonderer Dank gilt Andreas Lawaty für seine Ideen, die damit stets verbundene intellektuelle Bereicherung, und freundliche Ermutigung in allen Lebenslagen. Für die Möglichkeit, meine Gedanken in Paris während einer Gastprofessur an der EHESS in verschiedenen Kontexten vorzustellen und so noch einmal zu schärfen, bin ich Morgane Labbé überaus dankbar. Insgesamt hat das Projekt vom Austausch mit Kolleginnen und Kollegen enorm profitiert. Für die kompetenten Hinweise und die wertvolle Kritik, die ich in verschiedenen Kontexten erhalten habe, danke ich Mitchell Ash, Friedrich Cain, John Connelly, Iwona Dadej, Jürgen Evers, Karsten Holste, Maciej Górny, Ruth Keller, Katharina Kreuder-Sonnen, Olga Linkiewicz, Veronika Lipphardt, Helmut Maier, Kärin Nickelsen, Myriam Spörri, Katrin Stoll, Jan Surman, Paweł Tomaszewski, Robert Traba, Justyna Turkowska, Mateusz Werner und Paweł Wysoczański. Ausgesprochen erkenntnisfördernd waren auch die in stets anregender Atmosphäre geführten Diskussionen mit den Mitgliedern des von der DFG ge511 https://doi.org/10.5771/9783835347304 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

förderten Netzwerkes »Gesundheit und Sozialfürsorge in Ost- und Südosteuropa im langen 20. Jahrhundert« an der Universität Regensburg. Danken möchte ich darüber hinaus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), das mir einen Gastwissenschaftlerinnen-Aufenthalt ermöglicht hat, sowie jenen am DHIW, mit denen ich während eines HabilitationsStipendiums diskutieren konnte. Große Unterstützung und wertvolle Hinweise habe ich von meiner Habilgruppe erhalten, in der Andrea Genest, Dietlind Hüchtker, Yvonne Kleinmann und Alfrun Kliems Teile des Manuskripts gelesen und konstruktiv diskutiert haben. Sehr herzlich bedanken möchte ich mich außerdem bei Patrick Wagner und Włodzimierz Borodziej für ihre Gutachten und die darin enthaltenen Kritikpunkte und Reflexionen. Von Włodek Borodziej habe ich seit dem Beginn meiner Beschäftigung mit der polnischen Geschichte auf alle Fragen immer eine freundliche und engagierte Antwort bekommen – sein viel zu früher Tod ist ein immenser Verlust. Zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen Bibliotheken und Archiven waren mir eine große Hilfe bei der Beschaffung von Quellen und Literatur, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Dem Wallstein Verlag und Hajo Gevers danke ich sehr für die Aufnahme des Buches in ihr Verlagsprogramm und Christoph Roolf für das Korrektorat. Ermöglicht wurde dies durch einen Druckkostenzuschuss des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort sowie einen Zuschuss vom Nordost-Institut, für den ich Joachim Tauber sehr herzlich danke. Für die Lektüre des gesamten Manuskriptes hätte ich mir keine besseren Leserinnen als Claudia Kraft und Dietlind Hüchtker vorstellen können. Mit ihrer intellektuell präzisen Kritik und ihren wertvollen Beobachtungen und Impulsen haben sie sehr zur Strukturierung meiner Argumente und damit zu Klarheit beigetragen. Ebenso kenntnisreich und genau hat Imke Hansen das Kapitel zum Zweiten Weltkrieg kommentiert. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank für ihre engagierte Unterstützung und ihre langjährige Freundschaft. Diese Arbeit hätte ich nicht ohne die Unterstützung und das Wohlwollen meiner Familie und meiner Freundinnen und Freunde schreiben können – ich danke ihnen sehr dafür, dass sie mich auch in schwierigen Zeiten immer wieder motiviert und es mir verziehen haben, wenn ich keine Zeit für andere Unternehmungen hatte. Meine Eltern Bärbel Steffen und Kristian Steffen haben mich in diesem Projekt immer vorbehaltlos unterstützt. Meine Mutter konnte das von ihr mit großer Zuversicht und Spannung erwartete Ergebnis leider nicht mehr in den Händen halten – ihr ist dieses Buch gewidmet. 512 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

Quellen und Literatur

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Archiv des Instituts für Nationales Gedenken (Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej AIPN), Breslau IPN Wr 053/3431, Członkowie Wojewódzkiego Komitetu Frontu Narodowego Archiv des Jüdischen Historischen Archivs (Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego, AŻIH), Warschau 221-31: Rada Żydowska w Warszawie. 1939-1945, [przed 1939, po 1945] Archiwum Ringelbluma I /363, N. N. Walka z tyfusem, 11. 3. 1942 303/I/20, CKŻP, Prezydium i Sekretariat 301/4108, Relacja Zweibaum 301/4261, Relacja Barbara Feilhendler Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich IB JUNA-Archiv/1611-1614, Ludwik Hirszfeld: Die Geschichte eines Lebens I-IV, 1958-1963 Archiv Neuer Akten (Archiwum Akt Nowych, AAN), Warschau Ministerstwo Spraw Wewnetrznych 746 Ministerstwo Opieki Społecznej 962 Ministerstwo Oświaty 2966 Ministerstwo Oświaty 2968 Archiwum Zakladu Historii II Wojny Swiatowej Instytutu Historii Pan, A /771/85 Regierung des Generalgouvernements, Hauptabteilung Finanzen Armia Krajowa, Komenda Główna, 203/III-6 Armia Krajowa, Komenda Główna, 203/III-7 Armia Krajowa, Komenda Główna, 203/III-8 Ärztliche Hauptbibliothek, Abteilung für Spezialsammlungen (Główna Biblioteka Lekarska, Dział Zbiorów Specjalnych), Warschau 2/1/1920, Akta Personalne Izby Lekarskiej Warszawsko-Białostocka I-1367, Hanna Hirszfeld 2/1/1909, Akta Personalne Izby Lekarskiej Warszawsko-Białostocka L. 2879, Ludwik Hirszfeld 1/166/64, Hanna Hirszfeld Bayerisches Hauptstaatsarchiv München MK 54508, Walther Gerlach Bibliothek des Zentrums für Historische Forschung Berlin (Centrum Badań Historycznych) Hanna Hirszfeld, Historia jednej śmierci, unveröffentlichtes Manuskript

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Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BA Lichterfelde) R 3, Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion R 5, Reichsverkehrsministerium R 2201, Reichsschatzministerium R 3101, Reichwirtschaftsministerium R 4901, Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung R 8752, Kriegsmetall-AG. Metallmeldestelle R 8751, Kriegsmetall-AG. Metallfreigabestelle Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz) N 1158, Nachlass Wichard von Moellendorff. Bundesarchiv Ludwigsburg (BA Ludwigsburg) B 162/2915: Prof. Dr. Wilhelm Hagen, Tatort: Warschau 1941 Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek der Universität Warschau (Dział Rękopisów Biblioteki UW ) 2586, Spuścizna Stanisława Pieńkowskiego Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt Abteilung 119, Metallgesellschaft Abteilung 2000, Nachlass Robert Merton Museum für Wirtschaft und Technik Berlin, Historisches Archiv I.2.060, PA 02085. Personalakten Nationales Digitalarchiv (Narodowe Archiwum Cyfrowe), Warschau 33-T-7118, Życie i działalność okupacyjna Prof. Jana Czochralskiego. Dyskusja na posiedzeniu Senackiej Komisji Historii i Tradycji Uczelni PW w dniu 26.III.1984 33-T-1026, Ludwik Hirszfeld jako Delegat na Kongresie Ziem Odzyskanych 33-T-2034, Wspomnienie o Hannie Hirszfeldowej, 1964 Privatarchiv von Jerzy W. Borejsza Schriftwechsel Ludwik Hirszfeld mit Jerzy Borjesza, 1945-1954 Stadtarchiv Frankfurt a. M. S 1578, Akten des Magistrats der Stadt Frankfurt a. M., Institut für Metallforschung Staatsarchiv der Stadt Warschau (Archiwum Państwowe w Warszawie, APW ) Amt des Distriktchefs Warschau 1939-1945

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Staatsarchiv Lodz (Archiwum Państwowe Łodź, APL) 597, Prokuratura Sądu Specjalnego Karnego w Łodzi Staatsarchiv Zürich Z 70.2882, Protokolle der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich Universitätsarchiv Heidelberg Dekanatsakten. Decanat des Herrn Prof. W. Nissl 1910-1911, Band 1 Wissenschaftshistorische Sammlungen der ETH-Bibliothek, Zürich HS 1165:639, Nachlass Willi von Gonzenbach (1880-1955) Yad Vashem Archives Record Group 03, Testimonies: File 11130, Joanna Belin File 438, Dr. M. Tursz File 2355, Józef Chaim-Gołębiowski File 1836, Dr. Chaim Einhorn File 1074, H. Fenigstein File 1836/a, Dr. Wilhelm Hagen File 3647, Adam Drozdowicz File 1308, Hanna Klicka Zentrales Militärarchiv (Centralne Archiwum Wojskowe, CAW ), Warschau CAW I. 342. 1. 29, Instytut Technicznego Uzbrojenia CAW I. 300. 56. 87, MSWojsk Biuro Przemysłu Wojennego CAW I. 300. 56. 41, MSWojsk Biuro Przemysłu Wojennego CAW I. 303. 13. 106, Korpus Kontrolerów CAW I. 303. 3. 559, Oddzial I Sztabu Głównego CAW I. 342.4.5, Biuro Bad. Tech. Broń Pancernych CAW I. 302. 4. 1882, Generalny Inspektorat Sił Zbrojnych CAW I. 342. 1. 17, Instytut Technicznego Uzbrojenia AP 2496, Ludwik Hirszfeld Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Historische Sammlungen Archiv Julius Springer-Verlag, Ludwik Hirszfeld, C/441 Archiv Julius Springer-Verlag, Ludwik Hirszfeld, B/H/272 Archiv Julius Springer-Verlag, Korrespondenz Jan Czochralski

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Abkürzungsverzeichnis AAN AEG AHR AMPG ANT APAN APW AUW AWAM AŻIH BA BayHsta Bl. CAW ChIB COP D.R.P. DFG DGB DGM EGO ETH GG HH HWA IBI IBMU IBTL IMM IRC ITU k.u.k. KRA

Archiwum Akt Nowych [Archiv Neuer Akten] Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft American Historical Review Archiv der Max-Planck-Gesellschaft Akteur-Netzwerk-Theorie Archiwum Polskiej Akademii Nauk [Archiv der Polnischen Akademie der Wissenschaften] Archiwum Państwowe w Warszawie [Staatsarchiv Warschau] Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego [Archiv der Universität Breslau] Archiwum Wrocławskiej Akademii Medycznej [Archiv der Breslauer Medizinischen Akademie] Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego [Archiv des Jüdischen Historischen Instituts] Bundesarchiv Bayerisches Hauptstaatsarchiv Blatt Centralne Archiwum Wojskowe [Zentrales Militärarchiv] Chemiczny Instytut Badawczy [Chemisches Forschungsinstitut] Centralny Okręg Przemysłowy [Zentraler Industriebezirk] Deutsches Reichspatent Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsche Gesellschaft für Blutgruppenforschung Deutsche Gesellschaft für Metallkunde Europäische Geschichte Online Eidgenössische Technische Hochschule (Zürich) Generalgouvernement Hanna Hirszfeld Hessisches Wirtschaftsarchiv Instytut Badań Inżynierii [Forschungsinstitut für das Ingenieurwesen] Instytut Badań Materiałów Uzbrojenia [Institut zur Erforschung von Rüstungsmaterial] Instytut Badań Technicznych Lotnictwa [Institut zur technologischen Erforschung des Flugzeugbaus] Instytut Metalurgii i Metaloznawstwa [Institut für Metallurgie und Metallkunde] International Research Council Instytut Technicznego Uzbrojenia [Institut für Rüstungstechnik] Kaiserlich und königlich Kriegsrohstoffabteilung

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KUL KWG KWI KWO LH MG MOS MSW MSWojsk NAC NSDAP PAN PAU PKP PKWN PTL PW PWST PZH PZPR RA RF RG RGO RM SIMP

SPD SS TH TOZ TU TWT UMCS UNRRA UW

Katolicki Uniwersytet Lubelski [Katholische Universität Lublin] Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Kaiser-Wilhelm-Institut Kabelwerk Oberspree Ludwik Hirszfeld Metallgesellschaft Ministerstwo Opieki Społecznej [Ministerium für Soziales] Ministerstwo Sprach Wewnętrznych [Ministerium für Inneres] Ministerstwo Wojskowe [Heeresministerium] Narodowe Archiwum Cyfrowe [Nationales Digitalarchiv] Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Polska Akademia Nauk [Polnische Akademie der Wissenschaften] Polska Akademia Umiejętności [Polnische Akademie der Gelehrsamkeit] Polskie Koleje Państwowe [Polnische Staatsbahnen] Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego [Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung] Polski Tygodnik Lekarski [Polnische Ärztliche Wochenschrift] Polytechnika Warszawska [Polytechnikum Warschau] Państwowa Wyższa Szkoła Techniczna [Staatliche Höhere Technische Fachschule] Państwowy Zakład Higieny [Staatliches Hygiene-Institut] Polska Zjednoczona Partia Robotnicza [Polnische Vereinigte Arbeiterpartei] Rockefeller Archives Rockefeller Foundation Record Group Rada Główna Opiekuńcza [Haupthilfeausschuss] Reichsmark Stowarzyszenie Inżynierów i Techników Mechaników Polskich [Gesellschaft der polnischen Ingenieure, Techniker und Mechaniker] Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Technische Hochschule Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej [Gesellschaft für jüdischen Gesundheitsschutz] Technische Universität Towarzystwo Wojskowo-Techniczny [Militärtechnische Gesellschaft] Uniwersytet Marii Curie-Skłodowskiej [Marie Curie-Skłodowska Universität] United Nations Relief and Rehabilitation Administration Uniwersytet Warszawski [Universität Warschau] 561 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.12.2022, 19:53:38.

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VDI VEB WHO WuMBA ZfM

Verein Deutscher Ingenieure Volkseigener Betrieb World Health Organization Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt Zeitschrift für Metallkunde

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Personenregister Adamowiczowa, Stanisława 372 Albert, Zygmunt 473 Aldershoff, Hendrik 144 Alekseyev, G.A. 468 Amzel, Róża 264, 372, 374 f., 400, 402 Anczyc, Stanisław 50 Apfelbaum, Emil 405 Aschoff, Ludwig 87 Ash, Mitchell 16 Askenazy, Szymon 45 Auerswald, Heinz 394 Bais, W. 144 Bałaban, Majer 388, 409 Batut Jovanović, Milan 109 Baudouin de Courtenay, Jan 44, 224 Bauer, Johannes 449 Bauer, Oswald 62, 91 f., 178, 185, 189, 193-195, 197, 204, 210, 329 Bekierkunst, Adam 101, 251, 475 Belin, Joanna 247, 379, 382 Berg, Nicolas 399 Berman, Adolf 388 Bernstein, Felix 140 f., 144, 150 ff., 157, 267 Bierut, Bolesław 432, 441, 464 Birenzweig, Julian 375 Blady Szwajgier, Adina 381 f. Bloch, Joseph Samuel 224 Boas, Franz 72, 130 Borchers, Wilhelm 195 Borejsza, Jerzy 440, 465 Borodziej, Włodzimierz 40, 429 Böß, Gustav 203 Bourdieu, Pierre 18 Braude-Hellerowa, Anna 386 Broniewski, Witold 211, 329 f., 332 Broszat, Martin 397 ff. Browning, Christopher 389 Bryła, Stefan 236 Brzazgacz, Aleksander 312 Bujak, Franciszek 234 Bujwid, Odo 50 f., 73, 254 f., 275, 502 Bunka, V. 144 Burkhardt, Arthur 169, 178 Buschan, Georg 88

Celarek, Józef 259 Centnerszwer, Mieczysław 388, 400 f., 407-408 Chałasiński, Józef 428 Chateau, Fernand 156 Chodźko, Witold 252, 257, 286 Coca, Arthur Fernandez 68 f., 141, 267, 291, 376, 448, 450, 489 Conrad, Joseph 56, 58 Curie-Skłodowksa, Marie 484 Curtius, Julius 204 Cyrankiewicz, Józef 430, 472 Czekanowski, Jan 134, 136 f., 227, 230, 236, 269 Czerniaków, Adam 387, 388, 394, 401, 408, 413 Czerny, Vinzenz 68, 74 ,87 Czochralska-Wojciechowska, Leonie 37, 61, 159, 206, 436 Czochralski, Borys 159 Czochralski, Cecylia 159 Czochralski, Jan 9-14,16-17, 21-34, 36-39, 42, 49, 50, 52 f., 57, 59, 61-65, 67, 76 f., 79 f., 82-85, 87, 91 f., 94 ff., 111-114, 116, 118-122, 125 ff., 159-163, 165-168, 170-174, 176 ff., 180-185, 187-197, 200-204, 206219, 222 f., 225, 229 f., 238, 241 f., 244 ff., 260, 262 f., 291-294, 297 f., 300, 302-315, 317-339, 341 f., 345, 349 f., 354, 356-361, 364-372, 415-418, 423 f., 429, 433 ff., 436439, 476, 481-486, 497-500, 502-509 Czochralski, Kornel 345 Czuruk, Otton 312 Dąbrowska, Maria 487 De Lesseps, Ferdinand 242 Debré, Robert 248 Debye, Peter 312 Dembowski, Jan 431, 461, 464 Deutsch, Walther 83-84, 113 Doerinckel, Friedrich 193 Doerr, Robert 446-447, 460 Drewnowski, Kazimierz 352, 360, 365 Dungern, Emil von 10, 68, 69, 71-74, 77, 104 f., 140, 146, 150, 267, 286, 446 563

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Edelman, Marek 416 Ehrenburg, Ilja 465 Ehrlich, Paul 60, 69 Eickstedt, Egon von 89 Einhorn, Chaim 398, 400 f., 403 Einstein, Albert 108, 228 Eisner, Julian 375 Epsteinówna, Tekla 402 Ernest, Stefan 384 Eschenbach, Wolfram 353 Estreicher, Tadeusz 325 Feer, Emil 74 Feilhendler, Barbara 407 Fejginówna, Bronisława 264 Ficker, Martin 60, 73 Fischer, Ludwig 342 f., 354, 364 Fleck, Ludwik 20 f., 25, 28, 276, 278 f., 402, 443 f., 447, 473 Flick, Friedrich 324 Fliederbaum, Julian 400, 405 Ford, Henry 180 Foucault, Michel 25, 250 Frank, Hans 347, 348, 355 Frenkiel, Mietek 375 Frey, Gottfried 258 Friedemann, Ulrich 60, 75, 451 Friedrich, K. 188 Frisch, Max 465 Funk, Kazimierz 229, 259 f. Furukawa, Takeji 146 Genčić, Lazar 108 f. Gerlach, Walther 92, 183, 296, 311 Gierdzejewski, Kazimierz 332, 481 Gliksman-Glimet, Hilaire 490 Glum, Friedrich 193, 503 Godlewski, Marceli 380 Goebel, Otto 93 Goerens, Paul 193, 196 Goetel, Ferdynand 243, 368 Gonzenbach, Wilhelm (Willi) von 35, 75, 441, 489 Gorgonowa, Rita 288 Gottong, Heinrich 149 Gran, Wiera 410 Groeck, Hans 166 Grotjahn, Alfred 258 Grumbach, Arthur 459 Grüneisen, Eduard 193, 194, 196

Grupińska, Anka 382 Grzegorzewski, Edward 259 Guertler, William 91, 187 f., 193, 195, 197, 205 Gunn, Selskar M. 239, 245, 256 f., 262, 286 Günther, Hans F.K. 148 Güttinger, Albert 365, 368 Haase, Marguerita (Czochralska) 38 Haber, Fritz 37, 182, 186, 194, 196 Hagen, Wilhelm 393, 395-400, 447 Hahn, Robert 170, 177 Halban, Hans (Senior) von 178 Halber, Wanda 130, 134 f., 138 f., 147, 265 Harmjanz, Heinrich 350-354 Harnack, Adolf von 188, 192, 198 Hellmich, Waldemar 192, 198 Herbrand, August 63 Hesch, Michael 151 Heyn, Emil 91 f., 161, 187, 193-195, 197 f. Hindenburg, Paul von 206 f. Hirszfeld, Hanna 11, 22, 34 ff., 74, 76, 96, 97, 100 f., 104 f., 107, 109 f., 120, 122, 125, 128-132, 140 f., 144, 155 f., 247 ff., 264, 267, 279 ff., 340, 345, 375-384, 387, 400, 408, 412 f., 441, 444 f., 449, 450 ff., 469, 471, 473 ff., 481, 489, 506 f. Hirszfeld, Ludwik 9-14,16 f., 20-31, 33-36, 38 f., 42, 46, 48 f., 52 ff., 59 ff., 64 f., 6777, 84 f., 87 f., 90, 96-105, 107-110, 114, 120 ff., 125, 127-133, 137-147, 150, 152-158, 163, 172, 214 f., 218 f., 222 f., 225, 229 f., 233, 238, 241 f., 244-249, 251 f., 254 ff., 259-279, 281-292, 298, 321, 327, 334-337, 339-343, 345, 372-384, 386 ff., 391-396, 398-421, 423 f., 427, 429 ff., 433, 439-479, 481, 486-495, 497-500, 502-509 Hirszfeld, Maria 247, 340, 379, 382 f., 398 f., 413, 445 Hitler, Adolf 343 Huber, Maksymilian Tytus 181, 210, 324 Iriye, Akira 27 Jackowski, Kazimierz 211, 332 Jaenicke, Johannes 37, 162, 167, 197, 204, 213 Jakubowski, Władysław 312 Janiszewski, Tomasz 133, 253 f., 281

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Jasienica, Paweł 474 Jaszuński, Józef 391 Joteyko, Józefa 231 Kacprzak, Marcin 259, 440, 456 Kalinowski, B. 331 Kammerer, Otto 167 Karanović, Sima 109-110 Kasman, Hanna s. Hirszfeld, Hanna Kasman, Sara (Sabina) 475 Kasman, Saul (Paweł) 475 Keller, Ruth 485 Kelus, Andrzej 96, 158, 474 Kidawa-Błoński, Jan 481 Kiełbasińska, Izabela 345, 379 Kiełbasiński, Stanisław 245, 374, 376 Kimata, Hara 146 Kiselov, A.S. 468 Klicka, Hanna 374 f., 378 f. Klinger, Rudolf 75 Klocman, Izabela s. Kiełbasińska, Izabela Klocman, Ludwik 97, 374 Klopstock, Alfred 68 Koc, Adam 245 Kocen, Mieczysław 400 Koch, Ernst 170 Koch, Robert 50 f., 60, 69 Koeth, Josef 93 König, Wolfgang 198 Konopacka, Bronisława 406 Konopczyński, Władysław 239 Konorski, Bolesław 374 Kopernikus, Nikolaus 484 Korczak, Janusz 382 Korzeniowski, Józef s. Conrad, Joseph Köster, Werner 338 Krahelska, Halina 375 Kraushar, Aleksander 44 Krauze, Leonard 323 f., 332 Kreuder-Sonnen, Katharina 264 Kroll, Wilhelm 165, 167, 170, 173, 369 Kudicke, Rudolf 373, 394 Kulczyński, Stanisław 425, 442 f. Kutrzeba, Stanisław 239, 428 Kwiatkowski, Eugeniusz 230, 314 Labbé, Morgane 232 Lachs, Hilary 403, 407 Lambert, Robert A. 450 Lambrecht, Arnold 377, 379

Landsteiner, Karl 70, 76, 147, 150, 152, 267, 453 Latour, Bruno 32 Lattes, Leone 141, 144, 150 f., 267 Le Corbusier 64 Lehman, Otto 187 Levi, Primo 417, 494 Levine, Philip 453 f. Levy, Paul 172 Liliental, Antoni 310 Lipphardt, Veronika 129, 335 Litwinowicz, Aleksander 320 Löffler, Wilhelm 459 Łomnicki, Antoni 234 Loria, Stanisław 232 Loth, Edward 229, 406 Lubelski, Mieczysław 375 Lüdtke, Alf 17, 153, 341, 371 Ludwik, Paul 193, 196 Lührs, Wilhelm 360 ff. Lundborg, H. 267 Lutosławski, Wincenty 56 f., 59 Lysenko, Trofim D.. 467 Maier, Helmut 94, 163 Makower, Henryk 375, 378, 381, 386, 388, 391, 406 ff., 410, 413, 452, 475 Makowiecki, Tadeusz 226 Malinowski, Bronisław 228 Mańkowska, Zofia 372 Mański, Władysław 473 f. Manteuffel, Tadeusz 355 Mark, Hermann 182 f. Marks, Jonathan 107 Masing, Georg 185 Mathesius, Walther 165, 168 ff. Matschoß, Conrad 26 Mehrtens, Johann 181 Meisel, Henryk 447 Mense, Carl 87 Mentzel, Rudolf 348, 350 Merton, Alfred 160 f., 188, 190 ff., 198, 213 Merton, Richard 161, 188, 190, 192 Merton, Wilhelm 160 f. Mężyk, Eugeniusz 300 Mianowski, Józef 44 Michajłow, Włodzimierz 472 Michalski, Stanisław 64 Mierzejewski, Henryk 181, 210 f., 233, 242, 293, 295, 301, 304, 321, 333, 434 565

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Mies van der Rohe, Ludwig 64 Milanović, Jasmina 109 Milejkowski, Izrael 386 f., 396, 398, 400 f., 408 Milgrom, Feliks 468, 473 f. Minkiewicz, Romuald 234 Minkowski, Mieczyslaw 459 Mišić, Živojin 100, 103 Modrzewska, Zofia 264 Moellendorff, Wichard von 77 f., 80 f., 111 f., 119, 161, 168, 183 f., 187 f., 191, 193 f., 196 Mooser, Hermann 459 f. Morzycki, Jerzy 404 Mościcki, Ignacy 212, 229, 241, 296, 301, 303, 314, 320, 434, 498, 501 Mosing, Henry 404 Mourant, Arthur 158 Mozorowicz, Józef 234 Mydlarski, Jan 130, 133-139, 144, 147, 149 f., 158, 270, 281 f., 470 Naramowski, Mieczysław 283 f. Narutowicz, Gabriel 229, 501 Nauck, Ernst Georg 373, 375 Nikolaus I. Pavlovič 48 Nowakowski, Brunon 259 O’Brian de Lacy, Patryk 312 Oberhoffer, Paul 193 Ofer, Dalia 383 Olbrycht, Jan Stanisław 289 Olsen, Lloyd 450 Orlicz-Dreszer, Gustaw 245 Orłowski, Witold 405 f. Orzeszkowa, Eliza 55-58, 237 Ossowska, Zofia 413 Ossowski, Maria 231 Ossowski, Stanisław 231, 240 Osten, Philipp 74 Ostwald, Wilhelm 297 Owen, Harry Collison 102 Pácz, Aladár 174, 369 Padlewski, Leon 268 Paluch, Emil 259 Parnas, Jakub Karol 424, 461, 475 Pasteur, Louis 50 f., 69 Patel, Kiran 335 Paulsen, Peter 350 f.

Petersen, Alfred 37, 160, 168, 191 Petersen, Cord 37 Petrusewicz, Kazimierz 471, 473 Picasso, Pablo 465 Pieńkowski, Stefan 229 Piłsudski, Józef 219, 220, 240, 245 Pittard, Eugène 142 Plutarch 22 Płużański, Stanisław 434 Polanyi, Michael 182 Porejko, Stanisław 368, 370 Prokop, Otto 448 Prus, Bolesław 44, 47 Przesmycki, Feliks 259, 265, 372, 374, 402, 404, 412, 440, 461 Putrament, Jerzy 474 Rabinowiczówna, Helena 264 Rajchman, Ludwik 73, 229, 254-257, 259, 263, 267, 279, 285, 286, 440, 448, 461, 464 Râmneanţu, Petru 145 Ranković, Milutin 104 Rathenau, Emil 111 Rathenau, Walther 77 f., 93, 111 f. Reche, Otto 147 ff., 151 f. Reichmann, Eva Gabriele 492 Retinger, Józef 58 Rheinberger, Jörg 32 Rival, Paul 108 Roelcke, Volker 16 Rolbiecki, Waldemar 432 Ronikier, Adam 378, 381 Rotblat, Joseph 272 Rouppert, Stanisław 284 Rubaschkin, W. 150, 267 Rubner, Max 60, 64, 87 Runge, Iris 198 Rylke, Aleksander 312 Sachs, Hans 68, 152, 267 Sagalowitz, Benjamin 491 f. Salamonówna, E. 264 Sammern-Frankenegg, Ferdinand von 396 Sauerland, Henryk 332 Saunier, Pierre-Yves 27 Savić, Aleksa 100, 104 Schenck, Rudolf 91 Schiff, Fritz 141, 150 ff., 267, 269

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Schiffner, Carl 195 Schlaginhaufen, Otto 144 Schmid, Erich 182 Schneider, William H. 128 Schuhmann, Erich 350, 353 Schulz, Ernst Hermann 193 Schwarzmaier, Sophie 231 Scurla, Herbert 351 Seydel, Julia 264 Siemens, Werner 64 Sienkiewicz, Henryk 44 Sierakowski, Stanisław 259 Silberschmidt, Paul 441, 491 Silberschmidt, William 75, 108, 263, 441, 490 f. Simmel, Georg 60 Ślopek, Stefan 473 f. Śmiałowski, Michał 310 Smoleński, Kazimierz 368 Snyder, Laurence 144 Sparrow, Helena 264 Spiro, Ernst 172 Spörri, Myriam 140, 156 Srokowski, Stanisław 403 Stabholz, Ludwik 406 f. Stalin, Josef 466, 472 Štampar, Andrija 258 Steffan, Paul 147 f., 152 f. Stein, Józef (Sztein) 296, 408 Steinhaus, Hugo 243, 420, 443 f., 446, 461, 470, 472 f., 475 Sterling, Władysław 375 Stojanowski, Karol 137, 138, 281 f. Stołyhwo, Kazimierz 145 Streng, Werner Oswald 150 Strode, Georg K. 260, 449 Struthers, Robert R. 456 f. Świętochowski, Aleksander 44, 47 Świętosławski, Wojciech 212, 229, 237, 294, 304, 314, 331, 333 Szczepanik, Adam 210 f., 333 Szczygiel, Aleksander 259 Szejnman, Michał 400, 403 Szenderowski, Ludwik 357, 367, 434 Szniolis, Aleksander 259, 395, 412 Sztachelski, Jerzy 469, 471 Szulc, Gustaw 276, 281, 284 ff., 327, 372 f. Szyllar, Irena 367 Szyller, Stefan 47 Szymanowski, Zygmunt 440, 461 ff.

Tammann, Gustav 80, 91, 187 f., 194, 196, 198 Teal, Gordon 437 f. Thompson, Charles T. 102 Thomsen, Andreas 250 Thun, Stanisław (Malcz) 370 Todorović, Kosta 104 Tokarska-Bakir, Joanna 420 Tomaszewski, Paweł E. 9, 370, 481 ff. Trendelenburg, Ernst 188 Turda, Marius 145 Tursz, Mojżesz 388, 390 Tzschaschel, Werner 355, 359 Valentini, Rudolf von 188 Verhoef, A. 144 Verzár, Frigyes (Fritz) 139, 142 f., 147 f., 150, 267, 453 Volkov, Shulamit 284 Walbaum, Jost 389-399 Walter, Franciszek 284 Wańkowicz, Melchior 26, 334, 499 Warburg, Heinrich Otto 68 Warburg, Max 190 Wasielewski, Theodor von 68, 151 Wassermann, Günter 37 Weber, Max 415 Weigl, Rudolf 264, 373, 404, 461 Welter, Georg (Georges) 167, 170, 173, 177 f., 180, 191, 213 f., 292, 369 Werner, Richard 68 Wertenstein, Ludwik 369 Wertenstein, Wanda 369 Weszeczky, Oscar 139, 147 f. Wieland, Philipp 209 Wiener, Alexander 453 Wincierz, Peter 37 Wischnewski, Boris 150 Witebsky, Ernst 68, 451, 455, 466 Witkowski, Stanisław 312 Witoczyński, Czesław 210 Witte, Wilhelm 347 Wohlrab, Rudolf 373, 397, 400, 404 Wojciechowski, Mieczysław 436 Wolfke, Mieczysław 228, 356, 358, 369 Wroczyński, Czesław 259 Wrzosek, Adam 136 Wulf, Joseph 397 ff., 492 ff. Wunder, Wilhelm 112 f. 567

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Wüst, Fritz 187, 195 Wyszomirski, Jerzy 486 Zamorski, Kordian Józef 314 Zaremba, Henryk 288

Zeitlin, Hillel 381 Zernack, Klaus 42 Żeromski, Stefan 224 Znaniecki, Florian 428 Zweibaum, Juliusz 406 ff.

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